Literarische Mehrsprachigkeit: Sprachwechsel bei Elias Canetti und Ingeborg Bachmann 9783050053592, 9783050051093

Mehrsprachigkeit ist kein literarisches Randphänomen: In allen literarischen Epochen, Gattungen und Traditionen gibt es

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Literarische Mehrsprachigkeit: Sprachwechsel bei Elias Canetti und Ingeborg Bachmann
 9783050053592, 9783050051093

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Literarische Mehrsprachigkeit

Deutsche Literatur. Studien und Quellen Band 3 Herausgegeben von Beate Kellner und Claudia Stockinger

Giulia Radaelli

Literarische Mehrsprachigkeit Sprachwechsel bei Elias Canetti und Ingeborg Bachmann

Akademie Verlag

Bonn, Univ., Phil. Fak., Diss., 2009. Gedruckt mit freundlicher Hilfe der Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 Akademie Verlag GmbH, Berlin Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: hauser lacour unter Verwendung eines Fotos: Johann Wolfgang Goethe an Johann Gottfried Herder, wahrscheinlich zwischen Mitte Januar und Mitte Februar 1786 Druck & Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer« GmbH, Bad Langensalza Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-05-005109-3

A mio padre a mia madre

Dank

Diese Studie ist die leicht überarbeitete Fassung der Dissertation, die ich 2009 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn eingereicht habe. Dem Erstgutachter, Jürgen Fohrmann, danke ich dafür, dass er auf stets freundliche und unkomplizierte Art meine Arbeit betreut hat. Der Zweitgutachterin, Rita Svandrlik, danke ich für ihre Unterstützung aus und in Florenz. Ich danke außerdem der Universität Bonn, die mich im Rahmen des Deutsch-Italienischen Promotionskollegs und mit einem Stipendium des Maria-von-Linden-Programms gefördert hat. Der Fazit-Stiftung in Frankfurt am Main danke ich für das Stipendium, das die Fertigstellung der Dissertation ermöglicht hat. Ich danke denjenigen, die mir lesend und stärkend zur Seite gestanden sind. Jochen Thermann hat von Beginn an jede Mehrsprachigkeit mitgedacht und mich unermüdlich daran erinnert, worum es eigentlich geht. Die Gespräche mit ihm sind unvergessen. Lars-Thade Ulrichs hat mit mir die schwierige Endphase durchgelitten und mich mit seinem immensen Wortschatz bereichert. Sein belesener, strenger, stets wohlwollender Blick hat oft meinen Gedanken klarere Umrisse gegeben. Johanna Schumm hat mit ihren klugen Hinweisen und resoluten Aufmunterungen dazu beigetragen, dass ich zum Abschluss gekommen bin. Marco Cipriani hat mir erneut beim Umgang mit den alten litterae geholfen. Bei der Überarbeitung für den Druck haben mich Wolfgang Braungart und seine Arbeitsgruppe immer wieder mittelbar und unmittelbar unterstützt: Ihnen allen danke ich. Der Geschwister Boehringer Stiftung in Ingelheim danke ich für den gewährten Druckkostenzuschuss, der die Veröffentlichung möglich gemacht hat. Den Herausgeberinnen danke ich für die Aufnahme des Bandes in die Reihe. Wenn schließlich einer Sprache gedankt werden kann, so möchte ich der deutschen Sprache danken. Giulia Radaelli, April 2011

Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

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1.1. Ein Turm, viele Sprachen .

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1.2. Gegenstandsbestimmung und Erkenntnisinteresse .

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1.3. Mehrsprachigkeit und Sprachwahl, am Beispiel der ,deutschsprachigen‘ Literatur .

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1.4. Zu den Fallstudien .

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2. Beschreibungsmodell .

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2.1. Einführung

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2.2. Fokus .

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2.2.1. Mehrsprachiges Gesamtwerk und mehrsprachiges Einzelwerk .

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2.3.1. Manifeste Mehrsprachigkeit: Sprachwechsel und Sprachmischung .

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2.3.2. Latente Mehrsprachigkeit: Übersetzung, Sprachverweise und Sprachreflexion .

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2.3. Wahrnehmbarkeit .

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2.4.1. Einzelsprachen, Nationalsprachen, Sprachvarietäten

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2.4.2. Erfundene Sprachen .

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2.4. Sprachen .

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3. Fremdenverkehrssprachen: Elias Canettis Aufzeichnungen Die Stimmen von Marrakesch . . . . . . . . . . 3.1. Einführung

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3.2. In Marrakesch – nach Marrakesch: Aufzeichnung, Übersetzung und Mehrsprachigkeit .

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3.3. Auf Arabisch, auf Französisch, auf Deutsch .

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3.4. O-Ton: Stimmen im Wortlaut

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3.5. Ohrmacht: Stimmen „jenseits von Worten“ .

Inhaltsverzeichnis

10 4. Mehrsprachigkeit, Stimme und Redewiedergabe .

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4.2. Stimmen und Sprachwechsel lesen .

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4.1. Einführung .

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4.3.2. Mimesis der Stimmen .

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4.3.3. Erinnerte Stimmen .

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4.3.4. Authentische Stimmen?

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4.3.5. Mehrstimmigkeit

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4.3. Stimmen und Sprachwechsel schreiben 4.3.1. Direkte Rede .

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5. Schaltmechanismen: Ingeborg Bachmanns Erzählung Simultan .

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4.4. Stimme und Sprachwechsel zwischen Erzähler und Figur

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5.2. Die mehrsprachige Oberfläche der Rede .

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5.3. Ermittlung im Kauderwelsch .

5.1. Einführung

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5.4. Muttersprache als Mundart und Tonfall

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5.5. Die Sprache der Liebe .

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5.5.1. Einsprachigkeiten .

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5.5.2. Zur Bedeutung der Namen

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5.7. Scheiternde und gelingende Übersetzung .

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5.8. Abgrundwärts

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5.9. „kleine Närrin“: Sprachlosigkeit, Mehrsprachigkeit und Freuds Psychoanalyse .

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5.5.3. Verzweiflung und Utopie: Simultaneität . 5.6. Über Grenzen

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6. Für und gegen das Primat der Muttersprache .

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6.2. Muttersprache und Nativität .

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6.3. Fremde Sprache, Fremdsprache: Metaphern der Literatur . 6.4. Muttersprache und Mehrsprachigkeit .

6.1. Einführung

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6.2.1. Eroberung der Muttersprache 6.2.2. „Muttersprache nirgends“?

7. Epilog .

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Literaturverzeichnis .

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1. Einführung

1.1. Ein Turm, viele Sprachen Das Nachdenken über Mehrsprachigkeit hat einen Topos, einen biblischen Ort, an dem kein Weg vorbeiführt: Babel. In nur neun Versen erzählt die Geschichte des Turmbaus zu Babel vom Ursprung der Sprachverwirrung und vom Ende der Einsprachigkeit: Über die Erde allhin war eine Mundart und einerlei Rede. Da wars wie sie nach Osten wanderten: sie fanden ein Gesenk im Lande Schinar und setzten sich dort fest. Sie sprachen ein Mann zum Genossen: Heran! backen wir Backsteine und brennen wir sie zu Brande! So war ihnen der Backstein statt Bausteins und das Roherdpech war ihnen statt Roterdmörtels. Nun sprachen sie: Heran! bauen wir uns eine Stadt und einen Turm, sein Haupt bis an den Himmel, und machen wir uns einen Namen, sonst werden wir zerstreut übers Antlitz aller Erde! ER fuhr nieder, die Stadt und den Turm zu besehen, die die Söhne des Menschen bauten. ER sprach: Da, einerlei Volk ist es und eine Mundart in allen, und nur der Beginn dies ihres Tuns – nichts wäre nunmehr ihnen zu steil, was alles sie zu tun sich ersännen. Heran! fahren wir nieder und vermengen wir dort ihre Mundart, daß sie nicht mehr vernehmen ein Mann den Mund des Genossen. ER zerstreute sie von dort übers Antlitz aller Erde, daß sie es lassen mußten, die Stadt zu bauen. Darum ruft man ihren Namen Babel, Gemenge, denn vermengt hat ER dort die Mundart aller Erde, und zerstreut von dort hat ER sie übers Antlitz aller Erde.1

Die Babelerzählung soll weder einer Rhetorik des Anfangs dienen noch einer erneuten Exegese unterzogen werden; sie wird deshalb zitiert, weil sie unmittelbar in die Fragestellung der vorliegenden Studie einführt. Denn bereits an dieser ersten, immer wieder 1

Die Schrift. Verdeutscht v. Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. 9., abermals durchges. u. verbess. Aufl. der neubearb. Ausg. von 1954, Bd. 1. Heidelberg: Verlag Lambert Schneider, 1976, S. 33 f.

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Einführung

aufgesuchten Stelle2 ist nicht eindeutig zu verstehen, was Einsprachigkeit und was Mehrsprachigkeit sind; vielmehr lässt der Text verschiedene Deutungen und Übersetzungen zu. Die angeführte ,Verdeutschung‘ macht dies besonders deutlich, wenn man Luthers Bibel im Ohr hat; sie spricht von Babel als „Gemenge“ und vom Vermengen der Sprache(n) und weicht damit von der feststehenden Redewendung der babylonischen Sprachverwirrung ab. Vor Gen 11 berichtet schon Gen 10, dass die Menschen nicht nur an verschiedenen Orten, zerstreut, sondern auch in und mit verschiedenen Sprachen leben. Dies widerspricht der durch Gen 11,1 gesetzten sprachlichen Einheit. Je nach Interpretation lässt sich dieser Widerspruch zwischen den beiden Genesis-Kapiteln mehr oder weniger hervorheben. Er kann entschärft werden, indem man ihn als „bestätigende Doppelung“, als zweifache Erklärung der Vielfalt betrachtet: Die Vielfalt wäre demnach zum einen, der „narrative[n] Ätiologie“ der Babelerzählung in Gen 11 zufolge, das „Resultat einer besonderen Intervention JHWHS“ und zum anderen, in der Völkertafel in Gen 10, ein „weltordnungsgemässe[r], aus genealogischer Abstammung und Verzweigung entstandene[r] Zustand“.3 Gerade in Gen 10, wo die Vielfalt nicht auf einer Strafe, sondern auf „natürlichen“ Entwicklungen beruht, sieht aber Umberto Eco „ein explosives Potential“ – er spitzt dies auf die Frage zu: „Wenn die Sprachen sich nicht aufgrund einer göttliche[n] Züchtigung differenziert haben, sondern aufgrund ihrer natürlichen Tendenzen, warum ist dann die Verwirrung als ein Unglück zu verstehen?“4 Doch dieser Frage geht die grundsätzliche Frage voraus: Was ist überhaupt unter Sprachverwirrung zu verstehen? Was heißt „eine Mundart und einerlei Rede“ oder, wie Luther übersetzt, „einerley Zungen und Sprache“?5 Die vor Gottes Eingriff in Babel herrschende Einsprachigkeit kann als eine Übereinstimmung, als ein Sich-Verstehen-Können der Menschen gedeutet werden, und zwar ohne dass sie alle ein und dieselbe Sprache sprechen. Durch die Konfusion der Sprache nimmt Gott den Menschen diese Möglichkeit der Einheit und Verständigung in der Kommunikation.6 Sprache bzw. Einsprachigkeit wird also im übertragenen Sinn ver2

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Dies auch in der Forschung zur literarischen Mehrsprachigkeit; vgl. u. a. Monika Schmitz-Emans: „Literatur und Vielsprachigkeit: Aspekte, Themen, Voraussetzungen“, in: Literatur und Vielsprachigkeit. Hrsg. v. Monika Schmitz-Emans. Heidelberg: Synchron, 2004, S. 11–26, hier S. 22–25; Monika Schmitz-Emans: Die Sprache der modernen Dichtung. München: Fink, 1997, S. 45–105. Christoph Uehlinger: Weltreich und „eine Rede“. Eine neue Deutung der sogenannten Turmbauerzählung (Gen 11,1-9). Freiburg, Schweiz: Universitätsverlag/Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1990, S. 576 f. Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache. München: Beck, 1995, S. 23. Vgl. dazu „das glückliche Babel“ der Literatur in Roland Barthes: Die Lust am Text. Aus dem Französischen v. Traugott König. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1974, S. 8. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe. Hrsg. v. Hans Volz unter Mitarb. v. Heinz Blanke. Bonn: Edition Lempertz, 2008, Bd. 1, S. 41. Gott „zwingt das Übersetzen auf und verbietet es zugleich“, indem er es unmöglich macht; Jacques Derrida spricht von „einer notwendigen und unmöglichen Übersetzung“ (Jacques Derrida: „Baby-

Ein Turm, viele Sprachen

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standen; eine nähere Bestimmung der Sprache(n) erübrigt sich. In wissenschaftlichen Bibelkommentaren ist eine solche, den Genesistext gleichsam plausibilisierende Deutung mittlerweile gängig.7 Im Gegensatz dazu ist in der Auseinandersetzung mit Babel, über die Jahrhunderte hinweg, die verlorene Einsprachigkeit immer wieder als eine bestimmte Sprache, gar als die Ursprache aufgefasst worden.8 Die Probleme, mit denen sich ältere Babel-Lesarten konfrontiert sahen, sind nicht zu unterschätzen. Dante musste zum Beispiel darlegen, wie das Hebräische als heilige Sprache die Sprachverwirrung überdauern konnte, um später dann die Sprache Jesu zu werden. Dieses Kontinuitätsproblem löste er mit einem denkbar einfachen Kniff; er behauptet nämlich, einige Menschen „de semine Sem“, wie es paronomastisch für die Söhne Schems heißt, seien beim Turmbau nicht dabei gewesen, da sie mit der Unternehmung nicht einverstanden waren, sie hätten die Torheit der Bauenden sogar ausgelacht.9 Andererseits beschreibt Dante, wie auf der Baustelle durch die confusio die eine Sprache in lauter Fach- oder Zunftsprachen zerfallen sei, ohne dass zwischen ihnen je wieder über eine Metasprache hätte vermittelt werden können.10 Damit nimmt er eine moderne Lesart vorweg, die in der Babelerzählung die „mythische Darstellungsweise eines fundamentalen anthropologischen und sozialen Strukturproblems“ erkennt, insofern „der sprachliche Verwirrungsprozess schon immanent in zivilisatorischen Differenzierungsprozessen angelegt ist.“11 Die Differenzierung als Zerstreuung stellt bezeichnenderweise die Folge des Turmbaus und zugleich dessen Anlass dar.12 Die Menschen werden von Gott wegen ihres Bauwerks zerstreut, den Turm bauen sie aber bereits, um nicht zerstreut zu werden. Dieses paradoxe Element des babylonischen Narrativs hat Franz Kafka in Das Stadtwappen aufgegriffen und fortgeführt: Man ist in Babel „schon viel zu sehr miteinander verbunden, um die Stadt zu verlassen“; es gibt Übersetzer vor Ort, doch dies kann nicht verhindern, dass die Menschen sich ständig streiten und den Bau, den man ohnehin nie fertigstellen wird, ruhen lassen. In all ihren „Sagen und Liedern“ ist von einem herbei-

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lonische Türme. Wege, Umwege, Abwege“, in: Übersetzung und Dekonstruktion. Hrsg. v. Alfred Hirsch. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1997, S. 119–165, hier S. 124 u. 129). Zur Semantik des hebräischen Textes vgl. Uehlinger: Weltreich und „eine Rede“, S. 344–360; Uehlinger spricht sich gegen eine „rein linguistisch-idiomatische Deutung“ von Gen 11,1a aus und versteht „eine Rede“ nicht als „eine Sprache“; die „Präzisierung“ dieser Rede in Gen 11,1b (nämlich „gleich(artig)e/einerlei Wörter“) unterstreiche „gleichzeitig den Aspekt der ,Gleichartigkeit‘ der Wörter als auch denjenigen ihrer dennoch bestehenden, eindeutige Verständigung ermöglichenden relativen Unterscheidbarkeit“ (ebd., S. 350 u. 360). Vgl. dazu Arno Borst: Der Turmbau zu Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker. Stuttgart: Hiersemann, 1956 ff. Dante: De vulgari eloquentia, I, vii, 8 (zit. n. Dante Alighieri: Opere minori, Bd. II. Hrsg. v. Pier Vincenzo Mengaldo, Bruno Nardi, Arsenio Frugoni u. a. Milano/Napoli: Ricciardi, 1979, S. 62). Vgl. Dante: De vulgari eloquentia, I, vii, 6–7. Wilhelm Köller: Narrative Formen der Sprachreflexion. Interpretationen zu Geschichten über Sprache von der Antike bis zur Gegenwart. Berlin u. a.: de Gruyter, 2006, S. 93 u. 98. Vgl. ebd., S. 100; Köller verweist hier auf Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, der den Turmbau als „Anfang und Anlaß der Völkertrennung“ bezeichnet.

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Einführung

gesehnten Tag die Rede, „an welchem die Stadt von einer Riesenfaust in fünf kurz aufeinander folgenden Schlägen zerschmettert werden wird.“13 Während Kafkas Text das traumatische Moment der Strafe in Sehnsucht verwandelt (vielleicht sogar als Erlösung erwartet),14 weil seine Stadtbewohner anscheinend nichts zu verlieren haben, bedeutet Babel den meisten literarischen Interpreten den Verlust der Einsprachigkeit bzw. einer Ursprache. So nimmt Elias Canetti in einer seiner vielen Aufzeichnungen über Babel explizit Bezug auf die adamitische Sprache: Die Geschichte vom Turm zu Babel ist die Geschichte des zweiten Sündenfalls. Nachdem die Menschen ihre Unschuld und das ewige Leben verloren hatten, wollten sie kunstvoll bis in den Himmel wachsen. […] Dafür wurde ihnen das genommen, was sie nach dem ersten Sündenfall noch behalten hatten: die Einheitlichkeit der Namen. Gottes Tat war die teuflischste, die je begangen wurde. Die Verwirrung der Namen war die Verwirrung seiner eigenen Schöpfung, und es ist nicht einzusehen, wozu er überhaupt noch etwas aus der Sintflut rettete.15

Ob nicht bereits der ,erste‘ Sündenfall – als „Sündenfall des Sprachgeistes“ – durch die „Mittelbarmachung der Sprache den Grund zu ihrer Vielheit gelegt hatte“,16 sei dahingestellt; jedenfalls bedeutet für Canetti die Verschiedenheit der Namen, dass diese nicht mehr mit den Dingen identisch sind. So heißt es weiter: „Die Tatsache, daß es verschiedene Sprachen gibt, ist die unheimlichste Tatsache der Welt. Sie bedeutet, daß es für dieselben Dinge verschiedene Namen gibt; und man müßte daran zweifeln, daß es dieselben Dinge sind.“17 Indem er sich für den Zweifel ausspricht, bezieht Canetti hier eine sprachrelativistische Position, die in letzter Konsequenz zu der Erkenntnis führen muss, 13

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Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley u. a. Frankfurt/M.: Fischer, 1982 ff., Bd. 5,II/1, S. 323. Vgl. dazu George Steiner: Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2004, S. 71–74; Bettine Menke: „… beim babylonischen Turmbau“, in: Odradeks Lachen. Fremdheit bei Kafka. Hrsg. v. Hansjörg Bay u. Christof Hamann. Freiburg/Br.: Rombach, 2006, S. 89–114. Dabei wird die in Gen 11 nicht geschilderte Zerstörung des Turmes bzw. der Stadt imaginiert. Elias Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 4. München/Wien: Hanser, 1993, S. 18 f. Vgl. dazu Susanna Engelmann: Babel – Bibel – Bibliothek. Canettis Aphorismen zur Sprache. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1997. Walter Benjamin: „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, in: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirk. v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1972 ff., Bd. II/I, S. 140–157, hier S. 153 f. Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 18. Die Frage nach den Dingen und ihren Namen stellt sich nicht nur nach Babel; sie ist eine der Grundfragen der Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie. Schon bei Aristoteles heißt es: „Und wie nicht alle (Menschen) mit denselben Buchstaben schreiben, so sprechen sie auch nicht alle dieselbe Sprache. Die seelischen Widerfahrnisse aber, für welche dieses (Gesprochene und Geschriebene) an erster Stelle ein Zeichen ist, sind bei allen (Menschen) dieselben; und überdies sind auch schon die Dinge, von denen diese (seelischen Widerfahrnisse) Abbildungen sind, (für alle) dieselben.“ (Aristot. De int. 1, 16a, 5–8; zit. n. Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung. Begründet v. Ernst Grumach. Hrsg. v. Hellmut Flashar. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1984 ff., Bd. 1/II, übersetzt u. erläutert v. Hermann Weidemann, S. 3).

Ein Turm, viele Sprachen

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dass die einzelnen Sprachen inkommensurabel sind und dass also zwischen ihnen keine vollständige, restlose Übersetzung möglich ist. Freilich gibt es im Gegensatz dazu die Vision einer wiederherzustellenden, vollkommenen und universalen Sprache,18 nicht zuletzt in den vielen sprachutopischen Entwürfen der Literatur. Bei Ingeborg Bachmann findet sich immer wieder die Vorstellung einer auch sprachlichen Utopie, die als solche nicht einzulösen ist und die doch der einzige Antrieb sein kann, sich irgendeiner gegebenen Sprache zu bedienen. Dass aber auch die utopische Sprache, ja schon jede Einsprachigkeit und überhaupt jede menschliche Sprache nicht von Hoffnung ohne Verzweiflung, nicht von Glück ohne Unglück sprechen kann, legt etwa die Erzählung Alles nahe, deren Protagonist auf eine Sprache unterhalb der vielen Sprachen der babylonischen Sprachverwirrung stößt: Und ich wußte plötzlich: alles ist eine Frage der Sprache und nicht nur dieser einen deutschen Sprache, die mit anderen geschaffen wurde in Babel, um die Welt zu verwirren. Denn darunter schwelt noch eine Sprache, die reicht bis in die Gesten und Blicke, das Abwickeln der Gedanken und den Gang der Gefühle, und in ihr ist schon all unser Unglück.19

Während heutzutage die Frage nach dem Ursprung der Sprache eher Spezialgebieten wie der Evolutionsbiologie oder den Neurowissenschaften überlassen wird, taugt Babel nach wie vor als Sinnbild der modernen Welt,20 insofern sich diese im Zuge der Globalisierung als potentiell immer vermengter, verwirrter und mehrsprachiger wahrnimmt. In der Sprachvielfalt liegt stets auch etwas Bedrohliches; sie kann Entgrenzung, Fremdheit, Unverständlichkeit, Zwietracht hervorrufen. Dadurch wird Kommunikation zu einer wirklichen Herausforderung. Da sich die Menschen in vielen verschiedenen Sprachen artikulieren, befinden sie sich in der permanenten Notlage einander übersetzen zu müssen; die enorme Bedeutung der Übersetzung als einer zusammenführenden und vermittelnden Tätigkeit tritt deutlich zu Tage. Jede Übersetzung führt jedoch keineswegs zu einer Aufhebung oder Überwindung der Mehrsprachigkeit, sondern vielmehr zu deren unaufhörlicher Fortsetzung.

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Zu alten und neuen Visionen vgl. Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, passim. Das immer wieder als Erlösung von der babylonischen Sprachverwirrung gedeutete Pfingstwunder in Apg 2, 4 erzählt eher von der Mehrsprachigkeit als von der Einsprachigkeit, insofern die Jünger jeden Menschen in seiner Sprache adressieren. Auch wenn nicht alle Menschen erreicht werden (einige von ihnen spotten oder halten die Jünger für betrunken), ist die Zungenrede in ihrer Mehrsprachigkeit einsprachig. Vgl. dazu Thomas Macho: „Glossolalie in der Theologie“, in: Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme. Hrsg. v. Friedrich Kittler, Thomas Macho u. Sigrid Weigel. Berlin: Akademie-Verlag, 2002, S. 3–17. Ingeborg Bachmann: „Alles“, in: Werke. Hrsg. v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum u. Clemens Münster. München/Zürich: Piper, 1978, Bd. 2, S. 143. Vgl. auch Babel als „eines der Denkbilder, die als Embleme der literarischen Moderne gelten können“ (Schmitz-Emans: „Literatur und Vielsprachigkeit“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 22).

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Einführung

Über Mehrsprachigkeit nachzudenken, heißt allerdings nicht, jegliche Einsprachigkeit zu verabschieden. Im Gegenteil, es bedeutet, immer wieder auf eine Frage zurückzukommen, die Ferdinand de Saussure folgendermaßen formulierte: „Die Sprache [›langue‹], dieses Wort in der Einzahl, wie rechtfertigt es sich?“21 Ausgehend von den einzelnen Sprachen will Saussure zur Sprache, zum System der Sprache, durchdringen; in einer Mitschrift aus seinem Cours heißt es: „Die Sprachen [›langues‹]: konkreter Gegenstand, auf der Oberfläche der Erde. Die Sprache [›langue‹]: was der Linguist vor sich haben wird nach der Abstraktion, nach dem Studium durch Zeit und Raum.“22 Die „langue“ ist dabei nur eines von vielen Konzepten der Einsprachigkeit; ihnen allen ist aber gemeinsam, dass sie sich nur in und an einzelnen Sprachen entwickeln lassen.23 So erscheint die Sprache auch in ihrer theoretischen Bestimmung immer als ein singulare tantum. Die vorliegende Studie wird stets von neuem fragen und reflektieren müssen, „was eine Sprache ist und ein Verhältnis zwischen Sprachen, vor allem aber, was in bezug auf Sprache Identität und Differenz bedeuten.“24 Anhand zweier literarischer Fallstudien und über diese hinaus widmet sie sich der Mehrsprachigkeit als Differenz der Sprachen, mit dem Ziel, Prolegomena zu einer Theorie und Poetologie literarischer Mehrsprachigkeit zu entwickeln. Was aber unter literarischer Mehrsprachigkeit zu verstehen sei, legt das folgende Kapitel dar, in dem das eigene Erkenntnisinteresse im Kontext der bestehenden Forschung formuliert wird.

1.2. Gegenstandsbestimmung und Erkenntnisinteresse Diese Studie versteht unter literarischer Mehrsprachigkeit mehrsprachige literarische Texte. Während in der literaturwissenschaftlichen Forschung der „Begriff der ‚Mehrsprachigkeit‘ […] nicht allein für gemischtsprachige Texte und textimmanente Überschreitungen von Sprachgrenzen reserviert“ ist,25 wird er hier genau in diesem Sinn 21 22 23

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Ferdinand de Saussure: Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nachlaß. Texte, Briefe und Dokumente. Gesammelt, übersetzt u. eingeleitet v. Johannes Fehr. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1997, S. 63. Ebd., S. 82. Dies gilt etwa auch für die Sprachfähigkeit des Menschen (d. h. die universelle Tatsache, dass der Mensch spricht und Sprachen lernt); für ,die Sprache vor den Sprachen‘ der Universalgrammatik; für das Wesen der Sprache bei Martin Heidegger; für die reine Sprache, auf die Benjamin zufolge alle Übersetzungen abzielen – denn „sie zielen auf die Sprachlichkeit der Sprache, auf die Sprache als solche, sie zielen auf jene Einheit ohne Selbst-Identität, die bewirkt oder bedingt, daß es Sprachen gibt und daß jenes, was es gibt, eine Vielfalt von Sprachen ist.“ (Derrida: Babylonische Türme, S. 159). Ebd., S. 128. So heißt es in der Einleitung zum Band Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Manfred Schmeling u. Monika Schmitz-Emans. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002, S. 7–35, hier S. 23.

Gegenstandsbestimmung und Erkenntnisinteresse

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eingegrenzt. Diese Definition mag auf den ersten Blick eng erscheinen;26 umgekehrt aber weitet sie den bezeichneten Gegenstand aus, insofern sie Mehrsprachigkeit nicht notwendigerweise an literarische Diskurse, die als besonders anfällig für Mehrsprachigkeit gelten, etwa diejenigen der postkolonialen Literatur oder der Exilliteratur,27 oder an mehrsprachige Autoren koppelt. Das Hauptaugenmerk der Forschung liegt in der Tat auf diesen beiden Untersuchungsfeldern: zum einen auf den „Literaturen vielsprachiger Nationen, Staaten, Regionen und Kulturen“, zum anderen auf den „literarische[n] Werke[n] vielsprachiger Autoren“.28 Freilich lassen sich mehrsprachige Texte häufig auf eine solche kollektive oder individuelle Mehrsprachigkeit zurückführen; es ist also nachvollziehbar, dass die Forschung überwiegend „gemischtsprachige Länder oder Regionen und ihre Literaturen“ oder „Autoren, die durch mehr als eine Sprache geprägt sind und sich innerhalb ihres Gesamtœuvres verschiedener Sprachen bedienen“,29 behandelt. Was es jeweils heißt, „durch mehr als eine Sprache geprägt“ zu sein, lässt sich gerade am Beispiel von Elias Canetti und Ingeborg Bachmann fragen.30 Fragwürdig erscheint jedoch vor allem die in der Forschung mehrfach vorgenommene Unterscheidung zwischen Autoren mit einem und Autoren ohne einen mehrsprachigen Hintergrund, die dann auf deren Werk projiziert wird: Im ersten Fall habe die Mehrsprachigkeit des Textes „interkulturelle Funktion“, im zweiten Fall dagegen „zumeist ,nur‘ stilistische, klangästhetische, ethnopoetische oder auch folkloristisch-colorithafte Funktion“.31 Indem die Herkunft mehrsprachiger Literatur, d. h. deren Verfasser bzw. 26 27

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Eine ähnlich „restriktive Definition“ findet sich in Manfred Schmeling: „Multilingualität und Interkulturalität im Gegenwartsroman“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 221–235, hier S. 221 f. Vgl. Dieter Lamping: „‚Linguistische Metamorphosen‘. Aspekte des Sprachwechsels in der Exilliteratur“, in: Germanistik und Komparatistik. Hrsg. v. Hendrik Birus. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1995, S. 528–540, bes. S. 529. Schmitz-Emans: „Literatur und Vielsprachigkeit“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 11–14. Zudem nennt Schmitz-Emans als weitere Untersuchungsfelder „[m]ehrsprachige Texte“, „Integrationsformen nonverbaler Sprachen“ und „Vielsprachigkeit inmitten der Sprachen“ (ebd., S. 14– 16). Letztere wird auch in dieser Studie berücksichtigt (vgl. Kap. 2.3.1., 3.4. und 4.3.5.), wohingegen eine Erweiterung des Sprachbegriffs auf nonverbale Sprachen und eine entsprechende Definition von Mehrsprachigkeit als Intermedialität nicht sinnvoll erscheint. Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, S. 24. Bei individueller und kollektiver Mehrsprachigkeit gilt allerdings grundsätzlich: „a situation of languages in contact can occur at the societal level without implying the bilinguality of individuals, and conversely, individuals can be bilingual without the existence of collective bilingualism“ (Josiane F. Hamers/Michel H. A. Blanc: Bilinguality and Bilingualism. Cambridge: Cambridge University Press, 2000, S. 49). Vgl. dazu Kap. 1.4. Johann Strutz: „Regionale Mehrsprachigkeit und Interkulturalität“, in: Literarische Mehrsprachigkeit. Hrsg. v. Heinrich Stiehler. Iaşi: Editura Universităţii Al. I. Cuza/Konstanz: Hartung-Gorre Verlag, 1996, S. 181–201, hier S. 192 u. 189. Analog dazu: Anna Scannavini: Per una poetica del bilinguismo. Lo spagnolo nella letteratura portoricana in inglese. Roma: Bulzoni, 1994; Rainier Grutman: „Le bilinguisme littéraire comme relation intersystémique“, in: Canadian Review of Comparative Literature 17 (1990), S. 198–212; Peter Firchow: „Literary Multlingualism and Modernity. The Anglo-American Perspective“, in: Literatur im Zeitalter der Globalisierung. Hrsg. v.

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Einführung

deren Ursprungsort, in den Mittelpunkt gerückt wird, werden die Ursachen der Mehrsprachigkeit hauptsächlich außerhalb der jeweiligen Texte gesucht, so dass nur selten erschöpfende textimmanente Interpretationen zu finden sind. Im Gegensatz dazu und in der Überzeugung, dass literarische Texte, mehr oder weniger explizit, letztlich aber selbst auf die Ursachen ihrer Sprachvielfalt hinweisen, wählt die Studie das methodische Verfahren des close reading. In zwei ausführlichen Falluntersuchungen exemplarischer Werke, Elias Canettis Die Stimmen von Marrakesch (Kap. 3) und Ingeborg Bachmanns Simultan (Kap. 5), geht sie der Bedeutung, Funktion und Wirkung literarischer Mehrsprachigkeit auf der Grundlage genauer Beobachtungen am Text nach. Die zwei ausgewählten Werke ergänzen sich auf hervorragende Weise, insofern in den Reiseaufzeichnungen Canettis die kollektive Mehrsprachigkeit eines sozialen Raums, nämlich der Stadt Marrakesch, im Mittelpunkt steht, während Bachmanns Erzählung vornehmlich die individuelle Mehrsprachigkeit und das besondere Verhältnis des mehrsprachigen Individuums zur Sprache thematisiert. Die Befunde aus den zwei Textanalysen werden in den jeweiligen Folgekapiteln systematisch vertieft: Es handelt sich dabei um den Zusammenhang zwischen Sprachwechsel, Redewiedergabe und Stimme (Kap. 4) und zwischen Muttersprache und Mehrsprachigkeit (Kap. 6). In diesen beiden Kapiteln wird ausgelotet, inwieweit über die zwei Fallstudien hinausgehend Einsichten zu gewinnen sind, die allgemein für mehrsprachige Literatur Gültigkeit beanspruchen können. In systematischer Perspektive wird zudem das Ziel verfolgt, „das weitläufige Gelände des literarischen Multilingualismus endlich einmal [zu] kartier[en]“, indem unabhängig von „Gattungen oder […] (gattungsübergreifenden) literarisch-poetischen Impulsen und ästhetischen Grundmotivationen“32 ein allgemeines Beschreibungsmodell mehrsprachiger Texte entwickelt wird (Kap. 2). Angesichts der Tatsache, dass literarische Mehrsprachigkeit weder als Forschungsgegenstand noch im Hinblick auf die Terminologie einheitlich festgelegt ist,33 möchte das Beschreibungsmodell eine klare Begrifflichkeit prägen und mit möglichst präzisen Unterscheidungen operieren. So lassen sich heterogene Texte in ihren sprachlichen bzw. mehrsprachigen Verfahren miteinander vergleichen und deren spezifische Merkmale auf der Basis einer solchen Vergleichbarkeit schärfer herausarbeiten. Diejenige Form literarischer Mehrsprachigkeit, die im

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Manfred Schmeling, Monika Schmitz-Emans u. Kerst Walstra. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000, S. 59–67. Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, S. 20; auch für diesen Sammelband bedeutet allerdings die Kartierung nichts weiter als die Benennung verschiedener Untersuchungsfelder – im Grunde dieselben, die Schmitz-Emans in Literatur und Vielsprachigkeit aufgreift und die oben erwähnt worden sind –, zu denen dann recht disparate Einzelbeiträge versammelt werden. Zur Terminologie vgl. K. Alfons Knauth: „Multilinguale Literatur“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 265–289, hier S. 266 f. Knauth entscheidet sich für den „neutralen Begriff des Multilingualismus“ (ebd., S. 266). Im Deutschen ist die Terminologie u. a. deshalb uneinheitlich, weil sich stets die Alternative eines Fremdworts anbietet, das auch als Neologismus geprägt werden kann, so bspw. Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur. Hrsg. v. Susan Arndt, Dirk Naguschewski u. Robert Stockhammer. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2007.

Gegenstandsbestimmung und Erkenntnisinteresse

19

Zentrum des Erkenntnisinteresses steht, nämlich der Sprachwechsel, wird im Beschreibungsmodell definiert und erläutert. Mit Elias Canettis Die Stimmen von Marrakesch (1967) und Ingeborg Bachmanns Simultan (1972) liegt der Schwerpunkt der Studie auf der deutschsprachigen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Von ,deutschsprachiger‘ und von ,deutscher‘ Literatur zu sprechen, ist jedoch im Zusammenhang mit literarischer Mehrsprachigkeit nicht selbstverständlich. Deshalb skizziert das folgende Kapitel die Entwicklung der deutschen Sprache als Literatursprache, indem es nach der Sprachwahl angesichts der Mehrsprachigkeit fragt – eine Frage, die sich durch die Herausbildung der europäischen Nationalsprachen keineswegs erledigt hat. Daran anschließend ist zu diskutieren, ob und inwiefern besonders die Literatur der Moderne mehrsprachig sei bzw. die Literatur in der Moderne besonders mehrsprachig werde. Denn, wie richtig bemerkt worden ist, scheint es bisweilen die literaturwissenschaftliche Forschung selbst zu sein, die sich der Mehrsprachigkeit als „Interpretament eines spezifisch modernen Alteritätsverlangens“ annimmt und daraus einen weit gefassten, „schillernden Begriff“ macht, „von dem nicht immer klar ist, ob er noch einen phänomenalen Gegenstand der historischen Textpraxis […] bezeichnet.“34 In der Tat ist die Mehrsprachigkeit (in) der Literatur im Zuge des cultural turn der Literaturwissenschaft zu einem beliebten Forschungsthema avanciert. Es sind zwar zahlreiche Einzelstudien und Sammelbände erschienen, doch fehlt bisher eine monographische Untersuchung, die sich mit diesem komplexen und geradezu allgegenwärtigen Phänomen eingehend auseinandersetzt. Die vorliegende Studie möchte dazu beitragen, dieses dringende Desiderat zu beheben. Dabei nimmt sie Bezug auf neuere, kulturwissenschaftlich ausgerichtete Forschungsbeiträge, die in der sprachlichen Pluralität der literarischen Texte eine Artikulationsweise kultureller Differenz erkennen. Das ausgeprägte Interesse für eine Hermeneutik der Fremde und die Betonung von Differenz und Übersetzung angesichts einer irreduziblen Pluralität geht nicht zuletzt auf die französische Literatur- und Kulturtheorie zurück, insbesondere auf die Dekonstruktion, die Jacques Derrida schlichtweg als Mehrsprachigkeit definierte.35 Noch gänzlich unberührt von die34

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Christoph Hoch: „Mehrsprachigkeit als Reflexionsfigur. Mittelalter-Anschluss und Kanon-Kommentar in der polyglotten Lyrik des Siglo de Oro“, in: Mehrsprachigkeit in der Renaissance. Hrsg. v. Christiane Maass u. Annett Vollmer. Heidelberg: Winter, 2005, S. 91–112, hier S. 91. Hoch bezieht sich auf Gilles Deleuze/Félix Guattari: Mille plateaux. Capitalisme et schizophrénie. Paris: Minuit, 1980. Zu deren Konzept von Mehr- bzw. Fremdsprachigkeit in der Literatur vgl. vor allem Kap. 1.3. und 6.3. „Wenn ich das Risiko eingehen müßte – Gott behüte mich davor –, eine einzige knappe, elliptische und sparsame Definition der Dekonstruktion als ein Losungswort auszugeben, so würde ich einfach, ohne einen Satz zu bilden, sagen: mehr als eine Sprache/nichts mehr, was einer Sprache angehört (plus d’une langue).“ (Jacques Derrida: Mémoires. Für Paul de Man. Aus dem Französischen v. Hans-Dieter Gondek. Wien: Passagen, 1988, S. 31). Es handle sich bei der Dekonstruktion um „ein Denken der Übertragung(en), in der Summe aller Bedeutungen, den dieses Wort in mehr als einer Sprache annimmt, und an erster Stelle Übertragung(en) zwischen den Sprachen.“ (Ebd.; Hvh. d. Vf.). Zur Mehrsprachigkeit und Einsprachigkeit vgl. vor allem Jacques Derrida: Le monolinguisme de l’autre. Paris: Galilée, 1996; auf dieses Werk wird in Kap. 6.2.1. eingegangen.

Einführung

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sen theoretischen Konzepten ist Leonard Forsters The Poets’ Tongues (1970), nach wie vor ein Referenztext in der Forschung, inzwischen aufgrund seines Ansatzes aber auch kritisiert.36 Allgemein erweisen sich einige ältere Untersuchungen bis heute als durchaus anschlussfähig, so etwa Leo Spitzers Aufsatz Sprachmengung als Stilmittel und als Ausdruck der Klangphantasie (1923) oder Michail Bachtins Schriften über Mehrstimmigkeit und Dialogizität, die zwar erst über den Poststrukturalismus in den Kanon der Literatur- und Kulturwissenschaften gelangt, zum Teil jedoch bereits vor dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind.37 Anstatt eines allgemeinen Forschungsüberblicks soll in den einzelnen Kapiteln eine an konkrete Fragestellungen gebundene Forschungsdiskussion erfolgen. An dieser Stelle sei schließlich auf die interdisziplinäre Ausrichtung der Studie hingewiesen; aufgrund ihres Gegenstands ist es unerlässlich, die Grenzen der Literaturwissenschaft zu überschreiten und sowohl auf die Sprachphilosophie als auch auf die Sprachwissenschaft Bezug zu nehmen. Der Begriff ‚literarische Mehrsprachigkeit‘ wird hier nämlich nicht so verstanden, als bezeichne er eine besondere Art von Mehrsprachigkeit, die sich wesentlich von der allgemeinen Mehrsprachigkeit des Menschen38 unterscheide.

1.3. Mehrsprachigkeit und Sprachwahl, am Beispiel der ‚deutschsprachigen‘ Literatur Das Beispiel der ,deutschsprachigen‘ Literatur ist besonders aufschlussreich, weil in diesem Fall Sprache, Sprachraum und Ländergrenzen nicht übereinstimmen. Deutsche 36

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Leonard Forster: The Poets’ Tongues. Multilingualism in Literature. Cambridge: Cambridge University Press, 1970. Die Herausgeber des Bandes Exophonie merken kritisch an, Forster präsentiere die von ihm untersuchten Werke und Autoren als eine „Sammlung von Ausnahmen“, während heutzutage, in einer globalisierten Welt, „Anderssprachigkeit schwerlich noch als Ausnahme von der Regel zu beschreiben“ sei (Robert Stockhammer/Susan Arndt/Dirk Naguschewski: „Einleitung. Die Unselbstverständlichkeit der Sprache“, in: Exophonie, S. 7–28, hier S. 7 f.). Für eine knappe Darstellung von Forsters Studie vgl. Schmitz-Emans: „Literatur und Vielsprachigkeit“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 20 f. Leo Spitzer: „Sprachmengung als Stilmittel und als Ausdruck der Klangphantasie“, in: Stilstudien, Bd. 2. 2., unveränderte Aufl. München: Max Hueber Verlag, 1961, S. 84–124. Bachtin rechnet es der „deutschen romanistisch-germanistischen Philologie“ und „allen voran Leo Spitzer“ an, „das Problem der künstlerischen Abbildung der fremden Rede […] weitgehend erfasst“ zu haben (Michail Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. u. eingeleitet v. Rainer Grübel. Aus dem Russischen übersetzt v. Rainer Grübel u. Sabine Reese. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1979, S. 224 f.). Zur Polyphonie vgl. vor allem Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Aus dem Russischen v. Adelheid Schramm. München: Hanser, 1971 sowie Michail Bachtin: Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit. Hrsg. v. Rainer Grübel, Edward Kowalski u. Ulrich Schmid. Aus dem Russischen v. Hans-Günter Hilbert u. a. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008. Vgl. Mario Wandruszka: Die Mehrsprachigkeit des Menschen. München u. a.: Piper, 1979.

Mehrsprachigkeit und Sprachwahl

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Literatur ist demnach ,deutschsprachige‘ Literatur. Die Bestimmung von Literatur(en) jenseits der Konzepte von Nationalsprache und Nationalliteratur ist nach wie vor eine der großen Herausforderungen der heutigen Literaturwissenschaft; bemerkenswert ist, dass gerade die Geschichte der Germanistik eine „wissenschaftsgeschichtliche Pointe“ aufweist, insofern diese Wissenschaft „in der Phase ihrer nationalen Institutionalisierung grundsätzlich transnational gedacht“ war.39 Da aber in komparatistischer Perspektive, nämlich im Vergleich mit der Romania, die deutsche Sprache und die deutschsprachige Literatur ihren Höhepunkt spät erreichen, beginnen die folgenden Ausführungen mit dem Verhältnis von europäischer Literatur und lateinischem Mittelalter.40 Sie liefern insgesamt keine Rekonstruktion oder Analyse, sondern verweisen überblickshaft und kursorisch auf ausgewählte Kontexte von Mehrsprachigkeit und Sprachwahl. „Europa beginnt mit der Geburt seiner Volkssprachen“, schreibt Eco41 – eine These, mit der kein genaues Geburtsdatum festgelegt werden kann, weil es um eine allmähliche Entwicklung geht, die jede Volkssprache im eigenen Tempo und mit eigenen Zäsuren durchmacht. Im Gegensatz zur „massiven Einheit des römischen Reiches“ erscheint das mittelalterliche Europa „als ein Babel von neuen Sprachen“, noch lange nicht aber als „ein Mosaik von Nationen“.42 Indem diese „neuen Sprachen“ zu Schrift- und Literatursprachen heranwachsen, stellen sie sich an die Seite der immer noch allgegenwärtigen lateinischen Sprache. Die dadurch zustandegekommene Mehrsprachigkeit prägt die europäische Literatur bis weit über das Mittelalter hinaus; sie stellt Dichter und Schriftsteller vor die Wahl zwischen dem Lateinischen und der jeweiligen Volkssprache.43 Man kann von einer diglossischen Situation sprechen, insofern Latein und Volkssprache ein unterschiedliches Prestige besitzen und dementsprechend in funktional getrennten Bereichen eingesetzt werden; allerdings bezeichnet der linguistische Begriff der Diglossie zwei Sprachen, die jeweils Muttersprachen sind.44 Dies gilt jedoch nicht für

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Angelika Redder: „Faszination mehrsprachigen Sprachwissens“, in: Germanistik in und für Europa. Fazination – Wissen. Hrsg. v. Konrad Ehlich. Bielefeld: Aisthesis, 2006, S. 69–91, hier S. 80. Vgl. dazu Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter. 7. Aufl. Bern/ München: Francke, 1969. Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, S. 32. Ebd. Zur Mehrsprachigkeit der Literatur in der Frühen Neuzeit vgl. Ann Moss: „Being in Two Minds. The Bilingual Factor in Renaissance Writing“, in: Acta Conventus Neo-Latini Hafniensis. Hrsg. v. Rhoda Schnur, Ann Moss, Philip Dust u. a. Binghampton, NY: Medieval Renaissance Text and Studies, 1994, S. 61–74; Giuseppe Tavani: Bilinguismo e plurilinguismo romanzo dal XII al XVI secolo. Roma: Edizioni De Santis, 1969; Franz Lebsanft: „Die eigene und die fremden Sprachen in romanischen Texten des Mittelalters und der frühen Neuzeit“, in: Schreiben in einer anderen Sprache. Zur Internationalität romanischer Sprachen und Literaturen. Hrsg. v. Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer u. a. Tübingen: Narr, 2000, S. 3–20. Zur Diglossie vgl. die Standardbeiträge von Charles A. Ferguson: „Diglossia“, in: Word. Journal of the Lingustic Circle of New York 15 (1959), S. 325–340; „Epilogue: Diglossia Revisited“, in: The Southwest Journal Linguistics 10/1 (1991), S. 214–234. Vgl. ferner Joshua Fishman: „Bilingualism

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Einführung

das Lateinische als Sprache der Literatur, denn weder das mittelalterliche noch das am Vorbild der Antike orientierte klassische Latein sind Muttersprachen; und auch die Bestimmung der literarisch verwendeten Volkssprache als Muttersprache trifft nicht ganz zu. Um die nötigen Differenzierungen vorzunehmen, lässt sich auf Dantes Traktat De vulgari eloquentia zurückgreifen. Dante unterscheidet zum Einen zwischen dem Lateinischen als einer unveränderlichen Sprache – einer „gramatica“ – und den im ständigen Wandel begriffenen Volkssprachen.45 Zum Anderen bestimmt er die „vulgarem locutionem“ als diejenige Sprache, die „sine omni regula nutricem imitantes accipimus“ (wir ohne jede Regel empfangen, indem wir die Amme nachmachen). Im Gegensatz zu dieser ,natürlichen‘ Erstsprache ist das Lateinische eine „locutio secundaria“, eine sekundär erworbene und artifizielle Sprache, jene „gramatica“, deren Regeln mühsam erlernt werden müssen.46 Schließlich und hauptsächlich geht es Dante um die Ausdruckskraft, die eloquentia der Volkssprache, die zwar ausgehend von der Volkssprache als Muttersprache zu erreichen ist, diese jedoch übersteigt, übersteigen muss, wenn sie literaturfähig und literaturwürdig sein soll. So wird in der Göttlichen Komödie der Minnesänger Arnaut Daniel als „miglior fabbro del parlar materno“, der beste Schmied der Muttersprache, bezeichnet, weil er auf kunstvolle Weise das Altokzitanische zum Ausdrucksmittel einer nicht-lateinischen und dennoch hohen Lyrik formte.47 Und so sucht Dante in De vulgari eloquentia nach dem volgare illustre, das aber keiner gegebenen Sprache entspricht, sondern vielmehr als eine Kunstsprache oder eine Metasprache zu verstehen ist: Der Dichter jagt es wie einen Panther, der überall zu riechen und nirgends zu sehen ist („redolentem ubique et necubi apparentem“).48 Das volgare illustre ist letztlich Dantes eigene Sprache – diejenige, die er maßgeblich in und mit der Commedia prägt. Zu sehen ist darin „die Art und Weise, wie ein moderner Dichter die

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with and without Diglossia; Diglossia with and without Bilingualism“, in: Journal of Social Issues 23 (1967), S. 29–38. Vgl. Dante: De vulgari eloquentia I, ix, 6–11 (zit. n. Dante: Opere minori, Bd. II, S. 74–80). Zur „gramatica“ vgl. auch Curtius: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, S. 36. Dante: De vulgari eloquentia, I, i, 2–5 (zit. n. Dante: Opere minori, Bd. II, S. 28–32). Vgl. dazu auch Kap. 6.2. Dante: Purg. XXVI, 117 (zit. n. Dante Alighieri: La Commedia secondo l’antica vulgata. Testo critico stabilito da Giorgio Petrocchi per l’edizione nazionale della Società Dantesca Italiana. Torino: Einaudi, 1975, S. 248). Als „il miglior fabbro“ wird T. S. Eliot in The Waste Land Ezra Pound (einen großen Verehrer Arnaut Daniels) bezeichnen; vgl. The Complete Poems and Plays of T. S. Eliot. London: Faber & Faber, 1969, S. 59. Petrarca spricht von Daniels „dir novo e bello“; „novo“ ersetzt er später durch „strano“ (Francesco Petrarca: Triumphi, in: Trionfi, Rime estravaganti, Codice degli abbozzi. Hrsg. v. Vinicio Pacca u. Laura Paolino. Milano: Mondadori, 1996, S. 192 f.). Dante: De vulgari eloquentia, I, xvi, 1 (zit. n. Dante: Opere minori, Bd. II, S. 126). Die Toskaner hätten kein Recht, ihre eigene sprachliche Varietät für den volgare illustre zu halten, obgleich es in ihr einschlägige literarische Beispiele für die „excellenti[a] vulgaris“ gäbe (Dante: De vulgari eloquentia, I, xiii, 4; zit. n. Dante: Opere minori, Bd. II, S. 110).

Mehrsprachigkeit und Sprachwahl

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Wunde nach Babel heilt“;49 weniger modern ist jedoch der Umstand, dass Dante die Verwendung seiner Volkssprache noch rechtfertigen muss.50 Die Wahl zwischen Latein und Volkssprache ist zu seiner Zeit und darüber hinaus nicht freigestellt, sondern erfolgt nach allgemein geltenden Konventionen, die etwa bei hohen Gattungen oder religiösen Inhalten weiterhin den Gebrauch der lateinischen Sprache vorschreiben. Petrarca weist implizit auf den niedrigeren Stellenwert seiner gemeinsprachlichen Gedichte im Vergleich zu seinen lateinischen Schriften hin, indem er seinem mit Abstand wirkungsmächtigsten Werk den Titel Rerum vulgarium fragmenta gibt.51 Die Diglossie der europäischen Literatur zwischen Mittelalter und Renaissance belegen zahlreiche mehrsprachige Texte; zwei Spielarten dieser Mehrsprachigkeit sind zu erwähnen, bevor der Blick sich von der Romania zum deutschsprachigen Raum wendet. Ein in besonderem Maße mehrsprachiges Zeugnis der diglossischen Situation, in der sich auch Italien gerade aufgrund seiner Nähe zum Lateinischen befindet, stellt die sogenannte makkaronische Dichtung dar. Es lässt sich „nicht wohl sagen, ob diese Gedichte Italiänisch oder Lateinisch sind“;52 die Differenz zwischen beiden Sprachen ist weitgehend aufgehoben, da die italienischen Wörter wie lateinische flektiert und in ein lateinisches Versmaß gefügt werden. Durch diese Sprachmischung wird gleichsam „ein rauschendes Gelächter der Sprachen über einander“53 erzeugt, mit einer klaren parodistischen Absicht: Die Macaronische Poesie […], welche ihren Namen von dem Lieblingsgerichte der Italiäner, den Macaroni, hat, um sie gleich durch den Namen als eine sehr ergetzliche und lustige Dichtung zu bezeichnen, ward in dem funfzehnten Jahrhundert, wo die Sucht, die Muttersprache

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Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, S. 58. Außerdem verfasst Dante seine unvollendete „Apologie der Volkssprache“ (ebd., S. 48) auf Latein. Vgl. dazu auch Curtius: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, S. 358–360. Von einer Bescheidenheitsgeste kann angesichts des vollständigen Titels Francisci Petrarche laureati poete Rerum vulgarium fragmenta kaum die Rede sein. Die bekannte These Gianfranco Continis, Dante sei ein mehrsprachiger, Petrarca dagegen ein einsprachiger Dichter gewesen, zielt auf die Sprachregister innerhalb des volgare ab (vgl. Gianfranco Contini: „Preliminari sulla lingua del Petrarca“, in: Paragone 16 (1951), S. 3–26). In der Tat wird in der Tradition Petrarcas „die Sprache der italienischen Lyrik […] bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein in einem sonst nirgendwo in Europa anzutreffenden Maße ‚Distanzsprache‘ bleiben.“ (Karl Maurer: „Dichten in fremden Sprachen zwischen Gattungskonvention und Autoridentität, oder: Über die Leichtigkeit des Dichtens in fremden Sprachen und die Schwierigkeiten des Schreibens in der eigenen (Dante – Friedrich der Große – Fernando Pessoa)“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 27–47, hier S. 32). Friedrich Wilhelm Genthe: Geschichte der Macaronischen Poesie, und Sammlung ihrer vorzüglichsten Denkmale. Leipzig: Meissner, 1836 (Nachdruck Wiesbaden: Sändig, 1966), S. VI; hier zitiert Genthe die deutsche Übersetzung von Jean Charles Léonard de Sismondis De la littérature du midi de l'Europe (vgl. ebd., S. VII). Zu Genthe vgl. auch Schmitz-Emans: „Literatur und Vielsprachigkeit“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 20; K. Alfons Knauth: „Weltliteratur: von der Mehrsprachigkeit zur Mischsprachigkeit“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 81–110, hier S. 82. Genthe: Geschichte der Macaronischen Poesie, S. 10.

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Einführung mit fremden zu vermischen, den höchsten Gipfel erreicht hatte, zur Verspottung der Pedanten, als Parodie der Pedantesca, erfunden […].54

Das Lustige und der Spott bestehen in der Sprachmischung; die komische Wirkung liegt in der „Amphibiennatur des Wortes“55 begründet. Die Figur des Pedanten, der mit Latein oder latinisierenden Wendungen um sich wirft, also makkaronisch spricht, wird Karriere machen, vor allem auf der Bühne (Doctor Caius in The Merry Wives of Windsor und Holofernes in Love’s Labour’s Lost bei Shakespeare, Molières Doktor in Le malade imaginaire). Ob mit oder ohne parodistische Intention lässt sich die makkaronische Traditionslinie bis ins 20. Jahrhundert verfolgen, bis hin zu so sprachgewaltigen Autoren wie James Joyce oder Carlo Emilio Gadda.56 Auch in der Moderne und Postmoderne hat der sprachmischende literarische Text jene komische Wirkung nicht ganz verloren, auf die er in früheren Jahrhunderten beschränkt gewesen war. Dagegen dient die zweite Spielart literarischer Mehrsprachigkeit, diejenige nämlich, die „den Normen mehrmaliger Einsprachigkeit entspricht“, kaum komischen Zwecken; schon in der Renaissance wird sie als „hohes Gut“ gewürdigt.57 Dies zeigt die romanische Lyrik deutlich, in der anstelle der Mischung der abwechselnde Gebrauch verschie54

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Ebd., S. 72. Dazu schreibt Michail Bachtin: „Das Latein der Makkaroniker ist eine Reaktion auf den Purismus der Humanisten. Es ist keineswegs Parodie auf das Küchenlatein, syntaktisch ist es völlig korrekt, der Wortschatz jedoch ist durchsetzt mit volkssprachlichen Wörtern mit lateinischen Endungen. In die lateinische Satzkonstruktion ergießt sich die der antiken und klassischen Welt völlig fremde Welt der neuen Gegenstände und Begriffe.“ (Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Hrsg. v. Renate Lachmann. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987, S. 546). Zur Mehrsprachigkeit in der Renaissance vgl. allgemein C. Grayson: „Le lingue del Rinascimento“, in: Il Rinascimento. Aspetti e problemi attuali. Hrsg. v. Vittore Branca, Claudio Griggio u. a. Florenz: Olschki, 1982, S. 335–352; Gianfranco Folena: Il linguaggio del caos. Studi sul plurilinguismo rinascimentale. Torino: Bollati Boringhieri, 1991; Mehrsprachigkeit in der Renaissance. Hrsg. v. Christiane Maass u. Annett Vollmer. Heidelberg: Winter, 2005. Genthe: Geschichte der Macaronischen Poesie, S. 73. Übertragen auf das Deutsche ist zu konstatieren: „Schon durch deutsche Biegung wird das ernste lateinische Wort uns lächerlich.“ (Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, in: Werke. Hrsg. v. Norbert Miller. München: Hanser, 1960 ff., Bd. 5, S. 163). Bachtin redet allgemein vom „Faktum der Entstehung und Entwicklung der komischen Formen an der Grenze verschiedener Sprachen“ (Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 517 f.). Zu anderen makkaronischen Autoren des 20. Jahrhunderts vgl. Knauth: „Weltliteratur“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 96 sowie Knauth: „Multilinguale Literatur“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 268. Zu Joyce als Makkaroniker vgl. Curtius: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, S. 249; Vivian Mercier: „James Joyce and the Macaronic Tradition“, in: Twelve and a Tilly. Essays on the Occasion of the 25th Anniversary of Finnegans Wake. Hrsg. v. Jack P. Dalton u. Clive Hart. London: Faber & Faber, 1966, S. 26–39. Zu Gadda als Makkaroniker vgl. Gianfranco Contini: „C. E. Gadda o del ‚pastiche‘“, in: Solaria 9 (1934), S. 88–93; Cesare Segre: „La tradizione macaronica da Folengo a Gadda (e oltre)“, in: Semiotica filologica. Testi e modelli culturali. Torino: Einaudi, 1979, S. 169–183; Albert Sbragia: Carlo Emilio Gadda and the Modern Macaronic. Gainesville, FLA: University Press of Florida, 1996. Jürgen Erfurt: „de même I hope j’te bother pas. Transkulturalität und Hybridität in der Frankophonie“, in L’espace francophone als Grenzerfahrung des Sprechens und Schreibens. Hrsg. v. Jürgen Erfurt. Frankfurt/M.: Lang, 2005, S. 9–36, hier S. 20 f.

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dener Sprachen überwiegt. Die Dichter verfassen mehrsprachige Texte, weit häufiger noch übersetzen sie; diese Übersetzungen eigener und fremder Werke, wie auch die mehrsprachigen Texte, stehen noch im Rahmen einer Poetik von imitatio und aemulatio, bei der bestimmte literarische Topoi immer wieder durchgespielt und überboten werden sollen. Der Sprachwechsel innerhalb eines Gedichts „bezeugt das lebendige Bewußtsein von einer einheitlichen Romania. Man findet solchen Wechsel als Kunstmittel in Spanien gelegentlich in Sonetten Góngoras oder Lopes wieder.“58 Als Beispiele lassen sich zwei viersprachige Sonette anführen: Góngoras Las tablas de el baxel despedaçadas und Lopes Le donne, i cavalier, le arme, gli amori.59 Das letztgenannte Sonett macht gerade durch seine Mehrsprachigkeit jene für die frühneuzeitliche Dichtung kennzeichnende Form von Intertextualität evident. Zum einen zirkulieren die dichterischen Texte durch ganz Europa, als Übersetzung wie als Original, und nehmen dabei oft Bezug aufeinander, auch über Sprachgrenzen hinweg; zum anderen resultiert die intertextuelle Sättigung dieser Dichtungssprache(n) aus deren enger Rückbindung an die Literatur der Antike.60 Noch im 16. Jahrhundert fordert Martin Opitz, jeder Dichter müsse nicht nur in der Volkssprache, sondern auch in lateinischer Sprache schreiben können. In diesem Zusammenhang verweist Opitz auf den Pléiade-Lyriker Pierre de Ronsard, der, „damit er sein Frantzösisches desto besser außwürgen köndte / mit der Griechen schrifften gantzer zwölff jahr sich vberworffen habe“.61 Demjenigen Dichter, der „in den griechischen vnd Lateinischen büchern nicht wol durchtrieben ist / vnd von jhnen den rechten grieff erlernet hat“,62 könne auch kein Buch von der Deutschen Poeterey helfen. Angesichts dieser Praxis von Nachahmung und Überbietung sowohl antiker als auch zeitgenössischer Literatur kann man von einer grundsätzlich mehrsprachigen Ausrichtung des frühneuzeitlichen literarischen Diskurses reden, die immer wieder zur Entstehung von Texten in oder mit anderen Sprachen führt. 58 59

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Curtius: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, S. 42. Dieses italienisch-portugiesisch-lateinisch-spanische Sonett besteht nur aus Zitaten von Horaz, Ariost, Petrarca, Camoes, Tasso, Serafíno, Boscán und Garcilaso; vgl. Lope de Vega: Rimas, Bd. 1. Hrsg. v. Felípe B. Pedraza Jiménez. Ciudad Real: Universidad Castilla la Mancha, 1993, S. 429. Vgl. dazu Hoch: „Mehrsprachigkeit als Reflexionsfigur“, in: Mehrsprachigkeit in der Renaissance, S. 94 f. Knauth spricht von einer „impliziten Fremd- und Mehrsprachigkeit“ – „der anderssprachige Intertext [war] als Palimpsest stets lesbar und manifestierte sich bisweilen auch als lateinisches oder griechisches Zitat an der Textoberfläche.“ (Knauth: „Weltliteratur“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 85). Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, in: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. George Schulz-Behrend. Stuttgart: Hiersemann, 1978 ff., Bd. II/1, S. 358. Im Klassizismus wird dann der Einfluss des Lateinischen und auch des Griechischen auf die Sprache Ronsards missbilligt; diese wurde sogar „zu satirischen Zwecken in die Nähe des Makkaronesken gerückt“ (Knauth: „Weltliteratur“, in Literatur und Vielsprachigkeit, S. 83, Anm. 4). Aufgrund der Nachahmung der antiken Sprachen bezeichnet Knauth die Dichtung der Pléiade als „sublime Kehrseite der Makkaroneske“ (Knauth: „Multilinguale Literatur“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 271). Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, in: Gesammelte Werke, Bd. II/1, S. 359.

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Das Dichten in lateinischer Sprache lässt sich zwar bis ins 19. Jahrhundert hinein belegen,63 doch insgesamt betrachtet scheint das Lateinische in der Literatur eher als in anderen Bereichen abgelegt zu werden. Der Dichter ist „der erste […], welcher der Nation gleichsam den Mund öffnet“,64 und es sind die Schriftsteller, die „das Glück einer Sprache machen“.65 Schriftsteller und Dichter liefern in der Tat einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der modernen Volkssprachen, während das Lateinische als lingua franca der Wissenschaften und der Philosophie, wie auch der Diplomatie, erst im 18. Jahrhundert vom Französischen weitgehend abgelöst wird.66 So verfasst Gottfried Wilhelm Leibniz viele seiner Schriften bereits in französischer Sprache; er richtet aber zugleich eine Ermahnung an die Teutschen, ihren Verstand und ihre Sprache besser zu üben. In der gleichnamigen Schrift bedauert Leibniz, dass, während im Ausland die „wohlausgeübte Muttersprach wie ein rein polirtes glas gleichsam die scharffsichtigkeit des gemüths befördert, und dem verstand eine durchleuchtende clarheit giebt“, die Deutschen in eine „Slaverey gerathen“ seien: Durch die eigene „blindheit“ seien sie nämlich gezwungen, ihre „art zu leben, zu reden, zu schreiben, ja so gar zu gedencken, nach frembden Grillen einzurichten.“67 Und dies obwohl Luther mit der 63

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Solche späten Erscheinungen finden sich prominent in Italien: So dichtete Giovanni Pascoli noch nach 1900 auf Lateinisch und betrachtete sich als Schriftsteller in einer toten Sprache (vgl. dazu Alfonso Traina: Il latino del Pascoli. Saggio sul bilinguismo poetico. Firenze: Le Monnier, 1971). Zum Tod des Lateinischen vgl. die These Hermann Pauls: „Indem die Humanisten die lebendige Entwickelung der lateinischen Sprache abschnitten und die antiken Muster wieder zu ausschliesslicher Geltung brachten, versetzten sie eben damit ganz wider ihre Absicht der lateinischen Weltliteratur den Todesstoss, machten sie unfähig fortan noch den allgemeinen Bedürfnissen des wissenschaftlichen und geschäftlichen Verkehrs zu dienen.“ (Hermann Paul: Prinzipien der Sprachgeschichte. 10., unveränderte Aufl. Tübingen: Niemeyer, 1995, S. 409). Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, in: Werke. Hrsg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1971 ff., Bd. 15, S. 286. Johann Carl Wezel: [Preisschrift über die Universalität des Französischen], zit. n. Jürgen Storost: Langue française – langue universelle? Die Diskussion über die Universalität des Französischen an der Berliner Akademie der Wissenschaften. Zum Geltungsanspruch des Deutschen und Französischen im 18. Jahrhundert. 2. verbesserte, überarbeitete, ergänzte u. vermehrte Auflage. Hamburg: Verlag Dr. Kovač, 2008, S. 220. Vgl. Harald Burger: „Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte der Philosophie“, in: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 1. Halbbd. Hrsg. v. Werner Busch u. a. Berlin/New York: de Gruyter, 1984, S. 101–112. Wichtige Ausnahmen in der Philosophie sind Christian Thomasius und Christian Wolff, insofern der erste bereits Ende des 17. Jahrhunderts seine Vorlesungen auf Deutsch hielt, während der zweite in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine deutschsprachige philosophische Terminologie prägte und großen Einfluss auf die Entwicklung einer deutschen Wissenschaftssprache hatte. Gottfried Wilhelm Leibniz: „Ermahnung an die Teutsche, ihren verstand und ihre Sprache beßer zu üben, sammt beygefügten vorschlag einer Teutsch gesinten Gesellschaft“, in: Wissenschaftliche Beihefte zur Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins 29 (1907), S. 290–312, hier S. 292 f. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch die sprachpflegende und sprachreinigende Funktion der barocken Sprachgesellschaften.

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deutschen Sprache einen Anfang von „Virgilianische[r] Majestät“68 gemacht hatte. Leibniz fordert vor allem, dass das Deutsche zur Sprache der Wissenschaft werde.69 Zudem erkennt er, dass „gleich wie der Mond und das Meer […] auch der Völcker und der Sprachen ab= und aufnehmen eine verwandnüß“70 aufzeigt. Eben in diesem Sinn ist der Aufstieg der französischen Sprache zur europäischen Verkehrssprache zu verstehen. Das bedeutet nicht nur, wie Leibniz argumentiert, dass „die ehre der Nation“ eine allgemeine „fließende Sprachrichtigkeit“71 zur Folge habe, sondern umgekehrt auch, dass Frankreich durch die Ausarbeitung und Pflege der Sprache selbst zur grande nation erhoben worden sei. Dieses glanzvolle Sprachprojekt beginnt schon mit der Pléiade, vornehmlich mit Joachim Du Bellays Schrift La Deffence et Illustration de la Langue Francoyse (1549); das Französische soll den belles lettres als ein vollwertiges Idiom dienen und sich dabei am Beispiel der Antike und der italienischen Sprache orientieren. Zur Zeit des Absolutismus werden wichtige Maßnahmen zur Standardisierung der Sprache ergriffen, u. a. die Gründung der Académie française (1635) und die Erstellung des Akademie-Wörterbuchs (1694).72 Bereits im Ancien Régime avanciert das Französische zur ersten Nationalsprache Europas, insofern sie als koiné eines zentralistisch organisierten Territorialstaates dient. Während man in Ländern wie Italien und Deutschland über das Fehlen eines Sprachzentrums klagt, das die sprachliche Vereinheitlichung befördern könnte, ist die Bedeutung von Paris als Zentrum der französischen Sprache und Sprachpolitik bis heute maßgeblich. Die Geschichte Frankreichs im 17. und 18. Jahrhundert, so grundlegend sie sich in dieser Zeit wendet, zeigt insgesamt sehr deutlich, wie Sprache, Staats-

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Leibniz: „Ermahnung an die Teutsche, ihren verstand und ihre Sprache beßer zu üben“, S. 294. Über hundert Jahre später schreibt Friedrich Schlegel: „Es ist leicht möglich, daß unsre deutsche Sprache, ehe noch ein halbes Jahrhundert vergeht, die allgemeine wissenschaftliche Sprache für ganz Europa seyn wird […]. Ich halte dieß sogar für sehr wahrscheinlich. Wenn es aber geschieht, so wird es bloß durch die Gewalt des Geistes bewirkt seyn. Wenigstens thun wir von Seiten der Sprache alles nur Ersinnliche, um es zu verhindern oder gar unmöglich zu machen. […] Das Ding oder Wesen, wie man es sonst nennen will, was viele unserer Schriftsteller schreiben, ich meyne auch solche die ich selbst an Geist und Gehalt zu den Bessern und Besten zähle; das kann ich wenigstens für Deutsch gar nicht anerkennen. Ein unnatürliches Zwitterwesen ist es, ein widerartiger Mischling, aus dem Abfall aller andern Sprachen, besonders der französischen, durch einander gerührt.“ ([Ueber die deutsche Litteratur, aus einem Briefe vom Apellationsrath Körner in Dresden, nebst der Antwort des Herausgebers], in: Deutsches Museum. Hrsg. v. Friedrich Schlegel. Bd. 2. Nachdruck Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1975, S. 252–283, hier S. 267 f.). Leibniz: „Ermahnung an die Teutsche, ihren verstand und ihre Sprache beßer zu üben“, S. 295. Ebd., S. 297. Zu einer der Académie Française ähnlichen Akademie in Deutschland vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: „Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache“, in: Wissenschaftliche Beihefte zur Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins 30 (1908), S. 313–371.

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macht und Selbstbewusstsein bzw. „Souveränitätsbewußtsein“73 einer Nation in einem engen wechselseitigen und höchst produktiven Verhältnis zueinander stehen. So wird die französische Klassik „Weltstil“,74 in der europäischen Literatur wird die französische Art imitiert oder integriert, ja man schreibt unter Umständen ganz auf Französisch. Deutschland ist dem französischen Einfluss besonders ausgesetzt; umso größer sind aber in der Folge die Bestrebungen, jede Gallomanie zugunsten einer eigenständigen sprachlichen Artikulation abzustreifen. Als 1783 die Académie de Berlin Antoine de Rivarols Schrift De l’universalité de la langue française auszeichnet, ist die Universalität des Französischen bereits fragwürdig geworden; tatsächlich wird in der Preisausschreibung unter anderem nach derjenigen Sprache gefragt, die das Französisch beerben würde.75 Schon 1780 beendet Friedrich der Große, unter dessen Ägide die Berliner Akademie der Wissenschaften ab 1745 beinahe ausschließlich auf Französisch arbeitet und veröffentlicht und dessen Tod das Ende dieser Frankophonie einläutet, seine umstrittene Schrift De la littérature allemande (1780) mit der Vision eines verheißenen Landes: eines deutschsprachigen Europas samt deutschen „auteurs classiques“.76 Zwar gesteht der Philosoph von Sanssouci, die angebliche Rückständigkeit des Deutschen sei keineswegs durch einen Mangel an „Geiste und Genie der Nation“ verursacht.77 In seiner Abhandlung scheint er jedoch zu verkennen, wer zu jener Zeit „Geist und Genie“ tüchtig verkörpert: Wieland, Kant und Goethe etwa, aber auch Gottsched, Lessing, Klopstock und Herder. Ausgerechnet den von Friedrich dem Großen als „unerträglich“78 bezeichneten Götz von Berlichingen lobt Wieland in einem seiner Briefe an einen jungen Dichter (1784); die „dramatisch[e] Muse“ der Deutschen soll den französischen Geschmack mit der „schönen Einfalt“ der Griechen und dem Naturhaften der Engländer verbinden.79 Nicht 73 74 75

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Ernst Robert Curtius: Die französische Kultur. Eine Einführung. 2. Aufl. Bern/München: Francke, 1975, S. 88. Ebd., S. 89. Dass der Zenit der französischen Literatur und Schriftkultur bereits überschritten sei, ist zu diesem Zeitpunkt eine gängige Meinung. So behauptet etwa Wezel, dass, nachdem die letzte schriftstellerische „Schöpferkraft“ (Voltaire, Rousseau) verbraucht sei, die französische Sprache vermutlich erst einmal „still stehen“ werde (Wezel: „Ueber Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Teutschen“, zit. n. Storost: Langue française – langue universelle?, S. 191). Wezel nimmt an der von Rivarol gewonnenen Preisfrage ebenfalls teil; er hält jedoch die Frage nach der zukünftigen Universalsprache für sinnlos, weil rein spekulativ; vgl. dazu Storost: Langue française – langue universelle?, S. 33–82. Friedrich der Große: De la littérature allemande. Mit der Möserschen Gegenschrift. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Christof Gutknecht u. Peter Kerner. Hamburg: Buske, 1969, S. 76. Ebd., S. 95. Ebd., S. 100. Christoph Martin Wieland: „Briefe an einen jungen Dichter“, in: Sämmtliche Werke. Nachdruck der Göschen-Ausgabe. Hrsg. v. der Hamburger Stiftung zur Förderung v. Wissenschaft u. Kultur in Zusammenarbeit mit dem Wieland-Archiv Biberach u. Hans Radspieler. Hamburg: Greno, 1984, Bd. XIV, S6, S. 282 f.

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nur auf der Bühne sollen die deutsche Kunst und Sprache kosmopolitisch werden; Wieland prägt später den Begriff der Weltliteratur als Ideal urbaner Gelehrsamkeit, das sich zwar an der Kultur der Antike orientiert, zugleich aber gegen eine rückwärtsgewandte, nicht progressive Nationaldichtung der Deutschen gerichtet werden kann.80 Auch nach Ansicht Goethes soll sich die deutsche Sprache nicht so sehr auf mythische Ursprünge besinnen als vielmehr nach außen hin öffnen, um über die eigenen Grenzen hinaus wirksam zu werden. In einem Entwurf zu jenen serbischen Volksliedern, die selbst ein Teil seines Programms der Weltliteratur bilden, schreibt Goethe, die deutsche Sprache müsse „sich nach und nach zur Weltsprache erheben“ und „immer mehr Vermittlerin werden, dass alle Literaturen sich vereinigen“.81 Aufgrund ihrer besonderen „Biegsamkeit“82 und „Fügsamkeit“83 sei sie nämlich zum Übersetzen „besonders geeignet“.84 Die Rolle der Übersetzungen aus anderen Sprachen, die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts und bis zur Fertigstellung des deutschen Shakespeare in den 1830er Jahren entstehen, kann für die Vervollkommnung des Deutschen als Literatursprache kaum hoch genug eingeschätzt werden. In überaus starkem Maße zieht die deutsche Sprachnation aus diesen Übertragungen – man denke nur an Voßens Homer – ihr eigenes Sprachbewusstsein.85 Schon Herder hatte die Literatur zum ausgezeichneten Ort erklärt, an dem sich 80

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Zum Begriff der Weltliteratur beim späten Wieland vgl. Hans-Joachim Weitz: „,Weltliteratur‘ zuerst bei Wieland“ in: arcadia 22 (1987), S. 206–208. Zum Begriff der Weltliteratur beim späten Goethe vgl. Hendrik Birus: „Goethes Idee der Weltliteratur. Eine historische Vergegenwärtigung“, in: Weltliteratur heute: Konzepte und Perspektiven. Hrsg. v. Manfred Schmeling. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1995, S. 5–28; Manfred Koch: Weimaraner Weltbewohner. Zur Genese von Goethes Begriff ‚Weltliteratur‘. Tübingen: Niemeyer, 2002. Johann Wolfgang Goethe: Lesarten zu Volkslieder der Serben, zit. n. Wert und Ehre deutscher Sprache. Gedanken einiger deutscher Männer über die deutsche Sprache. In Zeugnissen hrsg. v. Hugo von Hofmannsthal. München: Verlag der Bremer Presse, 1927, S. 113 f. Ebd., S. 113. Johann Wolfgang Goethe: Gespräch mit Eckermann, zit. n. Wert und Ehre deutscher Sprache, S. 114. Johann Wolfgang Goethe: „Über Kunst und Altertum“ [Serbische Lieder], in: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u. a. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1985 ff., I. Abt., Bd. 22, S. 124–135, hier S. 134. An anderer Stelle schreibt Goethe: „Wer die deutsche Sprache versteht und studirt, befindet sich auf dem Markte, wo alle Nationen ihre Waaren anbieten, er spielt den Dolmetscher, indem er sich selbst bereichert.“ (Goethe: „Über Kunst und Altertum“ [German Romance], in: Sämtliche Werke, I. Abt., Bd. 22, S. 432–434, hier S. 434). Dass in Deutschland die Klassiker der alten und neuen Sprachen „eifrig“ übersetzt werden müssten, hatte bereits Friedrich II. gefordert (Friedrich der Große: De la littérature allemande, S. 87 f.); doch die übersetzerische Auseinandersetzung mit fremden Literaturen hatte zu seiner Zeit noch nicht ihren Höhepunkt erreicht. An Voß schreibt Hegel: „Luther hat die Bibel, Sie den Homer deutsch reden gemacht, – das größte Geschenk, das einem Volke gemacht werden kann; denn ein Volk ist so lange barbarisch und sieht das Vortreffliche, das es kennt, so lange nicht als sein wahres Eigentum an, als es [es] nicht in seiner Sprache kennen [lernt]; – wenn Sie diese beiden Beispiele vergessen wollen, so will ich von meinem Bestreben sagen, daß ich die Philosophie versuchen will, deutsch sprechen zu lehren. Ist es einmal so weit gekommen, so wird es unendlich schwerer, der

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kulturelle Überlegenheit entfalte: Innerhalb der deutschen Literatur sollte in diesem Sinn die „übertriebene Nachahmungssucht anderer Nationen“ zu einer „Nacheiferung“ werden.86 In der Tat schien die deutsche Sprache einiges übertreffen zu können, sogar die Griechen; es war nicht ungewöhnlich, die Meinung zu vertreten, einige deutsche Übersetzungen „seien so gelungen, dass sich aus ihnen der Urtext, wenn er abhanden käme, herstellen lassen würde“.87 Ausdrücklich erwähnt Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik, wie viel die Übersetzer „für Klang, Fülle, Reinheit der Sprache, oft sogar mehr als selber der Urschriftsteller zu leisten vermögen, da ihnen, wenn dieser über die Sache zuweilen die Sprache vergißt, die Sprache eben die Sache ist.“88 Nationalbildung durch Aneignung des „Ausheimische[n]“89 – zu diesem groß angelegten Projekt gibt es freilich auch Gegenstimmen, die eine Selbstbehauptung der deutschen Sprache nur unter Ausschluss fremder Elemente und im Rückgriff auf eine stark patriotisch bis fremdenfeindlich beanspruchte Eigentümlichkeit realisiert sehen wollen.90 Hierzu ließe sich wiederum ein Ausspruch Goethes zitieren: „Die Gewalt einer Sprache ist nicht, dass sie das Fremde abweist, sondern dass sie es verschlingt.“91 Es kommt aber nicht bloß auf eine solche gewalttätig-gierige Integration des Fremden an, vielmehr soll dieses als Korrektiv eigener Unzulänglichkeiten dienen. Der internationale geistige Verkehr, dem die Übersetzung als Medium kongenial zur Seite steht, sollte für Wilhelm von Humboldt in einem dialektischen Ausgleich von Nachgeben gegenüber dem Fremden und Bewahren des Eigenen bestehen:

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Plattheit den Schein von tiefem Reden zu geben.“ (Briefe von und an Hegel. Hrsg. v. Johannes Hoffmeister. Hamburg: Meiner, 1952 ff., Bd. 1, S. 99 f.). Johann Gottfried Herder: „Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands“, in: Werke. Hrsg. v. Günter Arnold, Martin Bollacher, Jürgen Brummack u. a. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1985 ff., Bd. 9/2, S. 565–580, hier S. 570. Das Institut, auf das der Titel dieser Schrift Herders von 1797 anspielt, ist eine von Maria Theresia zu gründende Wiener Sprach- und Wissenschaftsakademie. Jacob Grimm: „Über das Pedantische in der deutschen Sprache“, zit. n. Wert und Ehre deutscher Sprache, S. 256. Grimm selbst vertritt diese Meinung nicht. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, in: Werke, Bd. 5, S. 304. Goethe: „Über Kunst und Altertum“ [Serbische Lieder], in: Sämtliche Werke, I. Abt., Bd. 22, S. 135. So etwa Ernst Moritz Arndt und Achim von Arnim sowie Johann Gottlieb Fichte in den Reden an die deutsche Nation. Vgl. dazu auch folgende ‚sprachpuristische‘ Stelle bei Herder: „So sehr man Ursache hat, Übersetzungen zur Bildung der Sprache anzupreisen: so hat doch die Sprache größere Vorzüge, die sich vor aller Übersetzung bewahret. Eine Sprache vor allen Übersetzungen, ist wie eine Jungfrau, die sich noch mit keinem fremden Manne vermischet, um aus zweierlei Blut Frucht zu gebären: zu der Zeit ist sie noch rein, und im Stande der Unschuld, ein treues Bild von dem Charakter ihres Volks. Sie sei voll Armut, Eigensinn und Unregelmäßigkeit: wie sie ist, ist sie Original- und Nationalsprache.“ (Johann Gottfried Herder: „Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Fragmente“, in: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Bernhard Suphan. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1877 ff., Bd. 2, S. 106). Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen, zit. n. Werte und Ehre deutscher Sprache, S. 112.

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Es wäre durchaus ungerecht, die Nationen […] einer tadelhaften Nachgiebigkeit gegen das Fremde zu beschuldigen. Das Bewahren der Nationalitaet ist nur dann wahrhaft achtungswürdig, wann es zugleich den Grundsatz in sich fasst, die scheidende Gränze immer feiner, und daher immer weniger trennend zu machen, sie nie zu beengender Schranke werden zu lassen. Denn nur dann fliesst es aus einem wirklichen Gefühl für die Veredlung des Individuums und der Menschheit her, welche das letzte Ziel alles Strebens sind.92

Auch in diesem Sinn vertritt Humboldt die sprachliche Treue als Grundsatz jeder Übersetzung. Das bedeutet gerade nicht, dass „der Uebersetzer schreiben müsse, wie der Originalverfasser in der Sprache des Uebersetzers geschrieben haben würde“; diese Auffassung verkennt nämlich die schlichte, aber wesentliche Tatsache, dass „kein Schriftsteller dasselbe und auf dieselbe Weise in einer andern Sprache geschrieben haben würde“.93 Eine radikale Weiterführung dieses Gedankens Humboldts, der auf eine treue – und d. h. gleichsam verfremdende – Übersetzung abzielt, würde die Unübersetzbarkeit der Sprachen ineinander postulieren, allemal wenn es sich dabei um Werke der Literatur handelt. Ein literarisches Werk ließe sich demnach nur in der Originalsprache verstehen und nachempfinden. So fordert etwa Madame de Staël die Franzosen auf, sich mit der deutschen Literatur, deren Blüte sie in De l’Allemagne (1810) schildert, auseinanderzusetzen, wozu das Erlernen des Deutschen Voraussetzung sei, da „die Schönheiten dieser Sprache, vorzüglich ihrer Dichtkunst, im Französischen nicht wiedergegeben werden können“.94 Die Vorstellung der Unübersetzbarkeit der Sprachen steht aber nicht einfach im Widerspruch zum „Übersetzervolk“95 und dessen fleißigem Treiben im Jahrhundert Goethes. Denn die individuelle oder nationale Eigentümlichkeit einer Sprache – ihr ‚Geist‘, ‚Genius‘ oder ‚Charakter‘ – wird vom Ideal des ‚Allgemein-Menschlichen‘ überwölbt. Dieses Ideal macht die Übersetzung möglich und zugleich notwendig, und zwar trotz oder gerade wegen der emphatischen Aufwertung der Muttersprache. Die deutsche Sprache und Literatur konstituieren und konsolidieren sich, indem sie ihre Grenzen 92

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Wilhelm von Humboldt: „Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues“, in: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Königlisch Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Behr’s Verlag, 1903 ff. (Nachdruck Berlin: de Gruyter, 1968), 1. Abt, Bd. VI, S. 225. Wilhelm von Humboldt: „Aeschylos Agamemnon“ [Einleitung], in: Gesammelte Schriften, 1. Abt., Bd. VIII, S. 132. Vgl. analog dazu Friedrich Schleiermacher: „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens“, in: Das Problem des Übersetzens. Hrsg. v. Hans Joachim Störig. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1969, S. 38–70, hier S. 59–61 u. 65–69. Anne Louise Germaine de Staël-Holstein: Über Deutschland. In der Gemeinschaftsübers. v. Friedrich Buchholz u. a. Hrsg. u. mit einem Nachwort versehen v. Monika Bosse. Frankfurt/M.: Insel, 1997, S. 135. Im Gespräch äußert sich Goethe: „Die andern Nationen werden bald schon deshalb Deutsch lernen, weil sie inne werden müssen, dass sie sich damit das Lernen fast aller andern Sprachen gewissermaßen ersparen können; denn von welcher besitzen wir nicht die gediegensten Werke in vortrefflicher deutscher Übersetzung?“ (Johann Wolfgang Goethe: Gespräch mit dem Fürsten von Pückler, zit. n. Wert und Ehre deutscher Sprache, S. 114). Robert Musil: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Adolf Frisé. Hamburg: Rowohlt, 1978, Bd. 7, S. 816 u. 836.

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immer wieder überschreiten; die verspätete Nation96 bildet ihre (bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts noch nicht in einem solchen Maße ausgeprägte) Identität, indem sie sich mit fremden, nahen und fernen Kulturen intensiv auseinandersetzt. Während es eine politische Nation in Deutschland nicht gibt, strebt man diese Identitätsbildung noch nach 1800 in der Schaffung einer Kulturnation an. Humanität und Weltbürgertum sind dabei das hohe Ziel. Dies gerät allerdings im Nationalismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend in den Hintergrund. Im Kaiserreich gilt auch die eigene Nationalliteratur als ein Sieg: „Der Auswicklungsprozeß der deutschen Poesie endet […] in der Vereinnahmung der anderen Nationalliteraturen als triumphale Heimkehr und begründet die besondere Stellung der Deutschen als Kulturnation der Gegenwart.“97 Als Produkt der Nationalliteratur ist die deutsche Nationalsprache vor der deutschen Nation da. Im Zuge der Reichsgründung scheint die Verwendung der Muttersprache in der Literatur selbstverständlich geworden zu sein, wenn man von den Peripherien des deutschen Sprachraums absieht, die an andere Sprachen grenzen oder gar mehrsprachig sind. Aber auch dort wirkt sich die neue politische Ordnung aus, wie das Beispiel des Schweizers Conrad Ferdinand Meyer zeigt. Dieser bekennt sich zum Deutschen Reich und zu dessen Sprache, nachdem er aufgrund seiner „von Haus aus vorwiegend französische[n] Bildung“98 die Möglichkeit erwogen hatte, französischer Schriftsteller zu werden, zumal ihm „die französische Schweiz von jeher eine zweite Heimat“99 gewesen war. Doch der preußisch-französische Krieg „entschied auch einen Krieg in meiner Seele“, heißt es in einer autobiographischen Notiz,100 und „es mußte in Gottes Namen ein Entschluß gefaßt sein, da voraussichtlich der deutsch-französische Gegensatz Jahrzehnte beherrschen und literarisch jede Mittelstellung unhaltbar machen wird“.101 Ab 1871 schreibt Meyer nur noch auf Deutsch. Vor allem Bismarck hatte ihn also „seiner

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Vgl. Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. Stuttgart: Kohlhammer, 1959. 97 Jürgen Fohrmann: „Deutsche Literaturgeschichte und historisches Projekt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in: Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp. München: Fink, 1991, S. 205–215, hier S. 212. 98 Conrad Ferdinand Meyer: „[Autobiographische Aufzeichnungen]“, in: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 15. Besorgt v. Hans Zeller u. Alfred Zächt. Bern: Benteli-Verlag, 1985, S. 127. In derselben Aufzeichnung merkt Meyer an, dass ihm die französische „Sprache und Literatur aufs genauste vertraut“ (ebd.) seien. 99 Ebd., S. 132. 100 Ebd., S. 134. 101 Brief an Georg v. Wyß vom 16. Januar 1871, in: Briefe Conrad Ferdinand Meyers nebst seinen Rezensionen und Aufsätzen, Bd. 1. Hrsg. v. Adolf Frey. Leipzig: H. Haessel Verlag, 1908, S. 33. Meyer soll sogar all seine französischen Romane verkauft haben, um sich dem Einfluss der französischen Sprache und Literatur zu entziehen.

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deutschen Natur völlig bewußt“102 werden lassen; die deutsche Sprache sollte nun unmittelbar zum Ausdruck bringen, auf welcher Seite er stand. Während es Meyer im Grunde frei steht, sich zwischen den zwei großen europäischen Sprachen Französisch und Deutsch zu entscheiden,103 stellt sich die Frage der Sprachwahl unter anderen Bedingungen, wenn das Verhältnis der Sprachen grundsätzlich asymmetrisch ist. Der am Ende des 19. Jahrhunderts aufflammende Imperialismus trägt das alte Prinzip cuius regio, eius lingua in die ganze Welt hinaus – mit der Konsequenz, dass in den kolonialisierten wie auch später in den vermeintlich entkolonialisierten Gebieten sich indigene und exogene, hegemoniale und unterdrückte Sprachen gegenüberstehen.104 Innerhalb der afrikanischen Literatur, um nur ein Beispiel zu nennen, ist die Frage der Sprachwahl noch heute aktuell und Gegenstand hitziger Debatten. Das writing back aus den ehemaligen Kolonien könne nur in der Sprache der Kolonisierer stattfinden, lautet die eine Position, denn in der eigenen Sprache fände man nicht hinreichend Leser; die andere Position sieht wiederum im Gebrauch der eigenen Sprache das einzige Mittel, um der auch geistigen Unterwerfung durch die Kolonialherren ein Ende zu setzen.105 In beiden Fällen gilt jedoch, wie Rainier Grutman im Hinblick auf die Mehrsprachigkeit der kanadischen Literatur anmerkt: „En choisissant sa langue, l’écrivain choisit ses armes.“106 Die symbolische Waffe der Sprache wird allerdings nicht nur im (post-)kolonialen Raum eingesetzt, sondern beispielsweise auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Prag, wo Franz Kafka vor der Wahl zwischen einer ‚kleinen‘

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So „wurde er wieder in seiner Muttersprache heimisch“ (Meyer: „[Autobiographische Aufzeichnungen]“, in: Sämtliche Werke, Bd. 15, S. 127), „seiner in ihrer Fülle der französischen Knappheit entgegengesetzten Muttersprache“ (ebd., S. 130). Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Kaiser Wilhelm II. sich 1891 gegen eine Nominierung Meyers für den Schiller-Preis engagiert, da Meyer kein Deutscher war. 103 Zur Wahl zwischen Deutsch und Französisch vgl. die in Kap. 2.1. angeführten Beispiele Rainer Maria Rilkes und Stefan Georges. 104 Der Sprachkontakt zwischen der Sprache des kolonialen Imperiums und der lokalen Sprache führt dabei zur Entstehung hybrider Sprachformen und regelrechter Mischsprachen wie Pidgins bzw. Kreols. Bereits 1492 formuliert Antonio de Nebrija in seiner vor der Entdeckung Amerikas der spanischen Königin Isabella gewidmeten Gramática de la lengua castellana den Satz: „siempre la lengua fue compañera del imperio“ (zit. n. Jürgen Trabant: Traditionen Humboldts. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1990, S. 17). 105 Vgl. die breit rezipierte Schrift, mit der sich der kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiong’o von der englischen Sprache verabschiedete; Ngugi wa Thiong’o: Decolonising the Mind. The Politics of Language in African Literature. London: Currey/Portsmouth, NH: Heinemann, 1986. Vgl. auch Chinua Achebe: „The African Writer and the English Language“, in: Morning Yet on Creation Day. Essays. London: Heinemann/Garden City, NY: Anchor Press/Doubleday, 1975, S. 55–62. 106 Rainier Grutman: „La textualisation de la diglossie dans les littératures francophone“, in: Des cultures en contact. Visions de l’Amérique du Nord francophone. Hrsg. v. Jean Morency, Hélène Destrempes, Denise Merkle u. a. Cap-Saint-Ignace: Éditions Nota Bene, 2005, S. 201–222, hier S. 207. In Kanada geht es freilich nicht bloß um die französische Minderheit im Québec, sondern auch um die sprachliche Unterdrückung der indigenen Bevölkerung.

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und einer ‚großen‘ Sprache steht: zwischen dem Tschechischen (oder gar dem Jiddischen) und dem Deutschen.107 Kafkas Entwurf einer ,kleinen‘ Literatur108 in der Sprache einer ,großen‘ Literatur wird durch Gilles Deleuze und Félix Guattari aufgegriffen. Aus ihrer Auseinandersetzung mit Kafkas besonderem Sprachgebrauch leiten sie eine allgemeine Forderung an den Schriftsteller ab: Dieser solle nämlich, wenn er „das Unglück hat, in einem Land mit großer Literatur geboren zu sein“, nach Kafkas Vorbild „in seiner Sprache schreiben wie ein tschechischer Jude im Deutschen“109 und sich darum bemühen, „in der Sprache eine Art Fremdsprache auszuheben“.110 Es ist klar, dass hierbei nicht im engen Sinn von Mehrsprachigkeit die Rede ist, etwa von Sprachmischung; Deleuze schreibt in der Tat, dass es sich um „keine zwei- oder mehrsprachigen Verhältnisse“ handele, und nur am Rande wird darauf hingewiesen, dass Kafkas Werk tschechische oder jiddische Elemente enthält.111 Kafka selbst erwähnt zwar in einem Brief an Milena die deutsche Sprache als seine Muttersprache, nennt sich jedoch an anderer Stelle einen „Halbdeutsche[n]“.112 Literarisch bedient er sich des Prager Deutschen, das als papierne, ausgetrocknete Sprache eine kleine Insel an der Peripherie des deutschen Sprachraums bildet. Die Armut dieser Sprache wird von Kafka aber derart intensiviert,113 dass er ihr einen unverkennbaren Ton und großartige, vielfältige Bedeutungseffekte abgewinnt. Aus dem mehrsprachigen Vielvölkerstaat der Habsburgermonarchie ließen sich weitere Zeugnisse einer anderen Verwendung des Deutschen anführen, die man heute u. a. der österreichischen Literatur zuordnen würde. Denn, wie Karl Kraus gesagt haben soll: „Die gleiche Sprache ist es, die den Österreicher von den Deutschen unter107

Vgl. dazu David Suchoff: „Kafka’s Canon. Hebrew and Yiddish in the Trial and Amerika“, in: Bilingual Games. Some literary investigations. Hrsg. v. Doris Sommer. New York: Palgrave Macmillian, 2003, S. 251–274; Marek Nekula: Franz Kafkas Sprachen. „…in einem Stockwerk des innern babylonischen Turmes“. Tübingen: Niemeyer, 2003; Franz Kafka im sprachnationalen Kontext seiner Zeit. Sprache und nationale Identität in öffentlichen Institutionen der böhmischen Länder. Hrsg. v. Marek Nekula, Ingrid Fleischmann u. Albrecht Greule. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2007. 108 Vgl. den Tagebucheintrag vom 25. Dezember 1911 in Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 3/1, S. 312–315. 109 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1976, S. 27. 110 Gilles Deleuze: Kritik und Klinik. Aus dem Französischen v. Joseph Vogl. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2000, S. 100. Zur Metapher der Sprache des Schriftstellers als Fremdsprache vgl. Kap. 6.3. 111 Deleuze/Guattari: Kafka, S. 28. 112 Franz Kafka: Briefe an Ottla und die Familie. Hrsg. v. Hartmut Binder u. Klaus Wagenbach. Frankfurt/M.: Fischer, 1974, S. 67. 113 Deleuze/Guattari: Kafka, S. 131 (ähnliche Schreibweisen beobachten Deleuze und Guattari auch bei „black-english“ und „québécois“). Bei Kafka spielt vor allem die Wiederholung eine wichtige Rolle. Das Prager Deutsch galt vielen innerhalb der Habsburgermonarchie als eine der schönsten Varianten des Hochdeutschen; als solche wurde sie als Bühnensprache verhandelt (vgl. dazu Peter Wiesinger: „Nation und Sprache in Österreich“, in: Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. v. Andreas Gardt. Berlin/New York: de Gruyter, 2000, S. 525–562, hier S. 540).

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scheidet.“114 Auch an einem solchen Abgrenzungsbestreben von Seiten Österreichs ist die Vormachtstellung des preußischen Deutschen Reiches abzulesen, das als Kulturnation bis zum Ersten Weltkrieg seinen Einfluss ausbaut. Zeitgleich zu dem in ganz Europa aufgenommenen Kulturkampf, also auf dem Gipfel des Nationalismus, wird durch die Avantgardebewegungen die Bindung von sprachlicher und nationaler Identität häufig in Frage gestellt. Als stark sprachmischende und sprachwechselnde Texte sind die Experimente der Avantgardisten nicht mehr eindeutig einem Sprachraum zuzuweisen. So schreibt Guillaume Apollinaire 1913 dem Manifest L’antitradition futuriste das Wort „Polyglottisme“ an zentraler Stelle ein.115 Und Dada führt allen Sprachnationalismus ad absurdum, indem es viele Sprachen des Unsinns prägt. Der kosmopolitische Anspruch dieser heterogenen literarischen Strömungen zeichnet nach dem Zweiten Weltkrieg auch die sogenannten Neo-Avantgarden aus.116 Durch die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs sehen sich zahlreiche Schriftsteller zu einem radikalen Sprachwechsel bewegt. Vor allem in Frankreich nehmen viele Exilschriftsteller die Sprache der zweiten Heimat an und werden der französischen Literatur assimiliert. Gerade anhand der Exilliteratur lässt sich die Vorstellung von Nationalliteratur, aber auch von Nationalsprache, problematisieren.117 Auf Deutsch schreiben ist nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten – im Exil oder in der inneren Emigration und im Grunde auch nach 1945 – für viele Autoren Anlass zu einer oft schmerzhaften Reflexion über die Gründe dieser Sprachwahl und über die Beziehung zum eigenen Ursprungsland.118 Sprachtreue und Sprachloyalität gilt es angesichts der Schrecken des Nationalsozialismus und dessen Missbrauchs der deutschen Sprache und Kultur zu rechtfertigen. Zwei Autoren jüdischer Abstammung, die aufgrund ihrer Herkunft mehrere Sprachen zur Auswahl hatten und die beide im Exil lebten, halten ihr Leben lang an der deutschen Sprache fest: Paul Celan und Elias Canetti. „Die Sprache meines Geistes wird die deutsche bleiben, und zwar weil ich Jude bin. Was von dem auf jede Weise 114

Das Zitat kann bei Kraus nicht nachgewiesen werden, ist ihm aber mehrfach zugeschrieben worden. Ähnlich lautet ein von Oscar Wilde überlieferter, aber von George Bernard Shaw stammender Spruch: „England and America are two countries separated by the same language“ (vgl. dazu Grutman: „La textualisation de la diglossie dans les littératures francophone“, in: Des cultures en contact, S. 201). Zum Österreichischen als Sprache und geistige Tradition vgl. etwa Robert Musils Glosse Buridans Österreicher (Robert Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. Hrsg. v. Adolf Frisé. Hamburg: Rowohlt, 1955, S. 835–837) sowie die Ausführungen zu Ingeborg Bachmann in Kap. 5.4. und 5.6. 115 Vgl. dazu K. Alfons Knauth: „Il poliglottismo futurista“, in: Italienisch. Zeitschrift für italienische Sprache und Literatur 41 (1999), S. 16–34. 116 In diesem Kontext sind die Lyriker Eugen Gomringer, Ernst Jandl und Oskar Pastior zu erwähnen, deren Werk zum Teil extrem mehrsprachig ist. 117 Vgl. Lamping: „‚Linguistische Metamorphosen‘“, in: Germanistik und Komparatistik, S. 539. 118 So etwa bei Bertolt Brecht und Thomas Mann. Zu den Sprachen deutscher Exilschriftsteller von Karl Marx und Friedrich Engels bis zu Klaus Mann vgl. Stuart Ferguson: Language Assimilation and Cross-Linguistic Influence. A Study of German Exile Writers. Tübingen: Narr, 1997.

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verheerten Land übrig bleibt, will ich als Jude in mir behüten“, schreibt Canetti 1944.119 Auch für Celan kommt nur eine einzige Sprache in Frage: „In der Fremdsprache lügt der Dichter“, behauptet er; das Schreiben in zwei Sprachen sei demnach „Doppelzüngigkeit“ und widerspreche der Einmaligkeit der Dichtung.120 Nur in der deutschen Sprache als Dichtungssprache ist die bisweilen verzweifelnde, nie abschließbare Erinnerungs- und Trauerarbeit nach Auschwitz zu leisten. Die deutsche Lyrik sollte bzw. wollte dabei „ihre ,Musikalität‘ an einem Ort angesiedelt wissen […], wo sie nichts mehr mit jenem ,Wohlklang‘ gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönt“.121 Während also Celan sich zum Deutschen als einer „durch die tausend Finsternisse todbringender Rede […] angereicherten“122 Sprache bekennt, begründet Theodor W. Adorno seine Rückkehr aus dem Exil u. a. damit, dass für seine Arbeit allein die deutsche Sprache in ihrer „Wahlverwandtschaft zur Philosophie“ angemessen sei.123 Diese „spezifische, objektive Eigenschaft“ werde durch ein offenkundiges Übersetzungsproblem bezeugt, nämlich durch die „Unmöglichkeit, nicht nur hoch ausgreifende spekulative Gedanken, sondern sogar einzelne recht genaue Begriffe […] ohne Gewaltsamkeit in eine andere Sprache zu transponieren.“124 Ohnehin heißt es bei 119

Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 76. Zum Schriftsteller im Exil vgl. auch ebd., S. 59. Die jüdische Identität begründet nicht nur die sprachliche Zugehörigkeit, sondern auch die kulturelle als gleichsam plurinationale Zugehörigkeit, insofern Canetti stets „allen [Völkern] gehören“ und „Jude sein“ wollte (ebd., S. 74). Zu Canettis jüdischer Identität vgl. auch Kap. 3.4. und 3.5. 120 Paul Celan: [Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker], in: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Beda Allemann u. Stefan Reichert unter Mitwirk. v. Rolf Bücher. Frankfurt/M.: Suhrkamp, Bd. 3, S. 167 f., hier S. 167. Im Falle Celans wäre nicht nur das umfangreiche übersetzerische Werk, sondern auch die poetologisch angestrebte Erfahrung sprachlicher Einmaligkeit in einen Zusammenhang mit den oft mehrsprachigen Gedichten zu bringen. Gegen das Dichten in der Fremd- oder Zweitsprache haben sich neben Celan mehrere andere Dichter geäußert; vgl. etwa T. S. Eliot: „I don’t think that one can be a bilingual poet. I don’t know any case in which a man wrote great poetry or even fine poems equally well in two languages. I think one language must be the one you express yourself in in poetry, and you’ve got to give up the other for that purpose.“ (T. S. Eliot: [Interview by Donald Hall], in: Writers at Work: The „Paris Review Interviews“. Hrsg. v. George Plimpton. New York: Penguin, 1963, S. 89–110, hier S. 99) und William Butler Yeats: „Nobody can write with music and style in a language not learned in childhood and ever since the language of his thought.“ (Zit. n. Steven G. Kellman: The translingual imagination. Lincoln, NE u. a.: University of Nebraska Press, 2000, S. X). 121 Celan: [Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker], in: Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 167. 122 Paul Celan: [Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen], in: Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 185 f., hier S. 186. 123 Theodor W. Adorno: „Auf die Frage: was ist deutsch“, in: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirk. v. Gretel Adorno, Susan Buck-Morss u. Klaus Schultz. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998, Bd. 10/2, S. 691–701, hier S. 699. Die Rückkehr erfolgt außerdem aufgrund von „Heimweh“ als einem „subjektiven Bedürfnis“ (ebd., S. 696). 124 Ebd., S. 700. Es ist von der „fast prohibitiven Schwierigkeit“ (ebd.) die Rede, philosophische Texte wie etwa Hegels Phänomenologie des Geistes oder Wissenschaft der Logik in eine andere Sprache zu übertragen.

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Adorno, dass grundsätzlich in keiner Sprache, die „nicht zweite Natur“ ist, sich dieselbe „Kraft zum Ausdruck“125 finden und sich „das Gemeinte so genau treffen“ lasse „wie in der eigenen“, „mit allen Nuancen und mit dem Rhythmus der Gedankenführung“.126 Der „metaphysisch[e] Überschuß“ der deutschen Sprache zeige sich aber als „der immanente Hang ihrer Worte, mehr zu sagen, als sie sagen“, und es gilt dabei, „dies Mehr zu denken und womöglich kritisch einzuschränken, anstatt mit ihm zu plätschern.“127 Den Zusammenhang zwischen Metaphysik und deutscher Sprache hat Adornos Nachbar im amerikanischen Exil nicht nur im Doktor Faustus als besonders verhängnisvoll geschildert.128 Thomas Mann spricht von einer „aktive[n] Treue zur deutschen Sprache“, die sein Werk im „Bestreben nach Rekapitulation zugleich und Vorwärtstreibung deutscher Sprachzustände und Ausdrucksmöglichkeiten deutscher Prosa“ zeigt. Das Deutsche erweist sich aber für ihn nicht nur als die „wahr[e] und unverlierbar[e] Heimat“;129 sein Bruder Heinrich „hörte ihn […] das Deutsche seine ‚sakrale‘ Sprache nennen.“130 Das Beispiel des Deutschen und der deutschsprachigen Literatur zeigt auf extreme Weise, wie tiefgehend und wie implikationsreich die Sprachzugehörigkeit bzw. die Wahl einer Sprache sein kann. Verglichen mit früheren Epochen scheint sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Frage nach der Sprachwahl deshalb verschärft zu stellen, weil einerseits (sprach-)nationalistische Ideologien keineswegs ausgedient haben, andererseits jedoch durch die Globalisierung und die damit einhergehenden neuen Migrationen neue mehrsprachige Lebensformen und -orte entstehen. Wenn es also heutzutage heißt, die deutsche Sprache solle angesichts der scheinbar nicht aufzuhaltenden Ausbreitung des Englischen bzw. Amerikanischen gerettet und gepflegt werden,131 so kann man in der Literatur auf mehrere Autoren verweisen, die als Nicht-Muttersprachler auf

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Ebd. Ebd., S. 699. 127 Ebd., S. 701. Adorno verweist hier auf seinen Jargon der Eigentlichkeit. Heidegger selbst betrachtete das Deutsche, neben dem klassischen Griechisch, ebenfalls als die eigentliche Sprache des Denkens. Diese Auffassung kann auf eine lange Tradition zurückblicken – nämlich, wie oben erwähnt, zumindest bis Leibniz und Wolff. 128 Vgl. Thomas Mann: „Deutsche Hörer! Fünfundfünfzig Radiosendungen nach Deutschland“ u. „Deutschland und die Deutschen“, in: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Frankfurt/M.: Fischer, 1960, Bd. 11, S. 983–1123 u. 1126–1148. 129 Thomas Mann: „Ansprache im Goethejahr 1949“, in: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 11, S. 481–497, hier S. 483. 130 Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt. Düsseldorf, Claassen, 1974, S. 220. „Es ist erstaunlich“, bemerkt Heinrich Mann weiter, „wie viele zugereiste Autoren nach kurzer Pause ihre Gedanken jetzt Englisch äußern – ein ungefähres Englisch und ungefähre Gedanken. Der geachteste aller Schriftsteller bleibt deutsch und wird sakral.“ (Ebd.) 131 Vgl. etwa Jutta Limbach: Hat Deutsch ein Zukunft? Unsere Sprache in der globalisierten Welt. München: Beck, 2008; Wolf Schneider: Speak German! Warum Deutsch manchmal besser ist. Hamburg: Rowohlt, 2008. 126

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Deutsch schreiben und durch ihre eigene sprachliche und kulturelle Prägung die deutsche Sprache erweitern und bereichern.132 Die Frage, ob nun literarische Mehrsprachigkeit eine „charakteristische Errungenschaft der Moderne“ und Postmoderne sei, lässt sich insofern vorsichtig bejahen, als diese Epochen eine „noch nie dagewesene Ausweitung der dichterischen Ausdrucksmittel mit sich gebracht“ haben,133 und zwar durchaus auch im Sinn einer sprachlichen Entgrenzung. Zudem ist in der Tat zu beobachten, wie „erst im Zuge der politischen, technologischen, wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung sowie der ästhetischen Avantgardebewegungen des 19. und des 20. Jahrhunderts“ Mehrsprachigkeit eine „programmatische“ Rolle im literarischen Diskurs erhalten konnte.134 Schließlich ist die Mehrsprachigkeit der literarischen Moderne und Postmoderne stets Zeichen einer hohen Sprachreflexivität und eines „vertieften Bewußtseins von der Kontingenz und Umgestaltbarkeit sprachlicher und anderer Zeichen- und Regelsysteme“;135 dieses entfaltet sich aber maßgeblich in der Sprachkrise der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Insgesamt vollzieht also die Mehrsprachigkeit literarischer Texte einen qualitativen Sprung. Dem scheint aber keine quantitative Zunahme der Mehrsprachigkeit zu entsprechen, denn frühere Epochen sind nicht weniger mehrsprachig als die Moderne und Postmoderne. Karl Maurer behauptet in diesem Zusammenhang, dass „die Mehrsprachigkeit am Anfang aller Dichtung steht“;136 er bezeichnet das Dichten in fremden Sprachen“ (nicht gleichbedeutend mit dem Verfassen mehrsprachiger Texte) als die „natürlichste Sache der Welt“,137 da der Dichter stets eine – fremde – Sprache „vorfindet“,138 die eben nicht seine eigene ist. Ergänzend und zugleich abschließend lässt sich als These formulieren, dass der Dichter vor lauter Sprachen keine vorfindet, d. h., dass seine Aufgabe darin besteht, sich mit dem Überlieferten und Vorhandenen auseinanderzusetzen, um so eine eigene Sprache zu begründen.139

132

So etwa Yoko Tawada, Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoglu. Maurer: „Dichten in fremden Sprachen“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 27. 134 Knauth: „Multilinguale Literatur“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 273. Dementsprechend stellt Knauth fest, mehrsprachige Texte hätten erst in der Moderne ihre Aufwertung gefunden: „Erst im Lauf des 20. Jahrhunderts konnte sich die mischsprachige Literatur als eine der einsprachigen Literatur gleichwertige, wenn nicht überlegene, ästhetische Option etablieren.“ (Knauth: „Weltliteratur“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 81). Auch Schmitz-Emans bezeichnet „Brüche mit sprachlichen Konventionen, wie sie im Gebrauch gleich mehrerer Sprachen innerhalb eines Textes liegen“, als eine „charakteristische Verfahrensweise der Moderne“ (Schmitz-Emans: „Literatur und Vielsprachigkeit“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 19). 135 Ebd., S. 16. 136 Maurer: „Dichten in fremden Sprachen“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 27. 137 Ebd., S. 45. 138 Ebd., S. 27. 139 Vgl. dazu Kap. 6.3. 133

Zu den Fallstudien

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1.4. Zu den Fallstudien Wie das vorangehende Kapitel gezeigt hat, ist Mehrsprachigkeit kein literarisches Randphänomen: In allen Epochen, Gattungen und Traditionen gibt es mehrsprachige Texte. Dies bedeutet aber, dass der Textkorpus für eine systematische Untersuchung literarischer Mehrsprachigkeit in seiner Vielfalt wie in seinem Umfang unüberschaubar ist. Bei der Fokussierung des Sprachwechsels erweisen sich Elias Canettis Die Stimmen von Marrakesch und Ingeborg Bachmanns Simultan als repräsentative Fälle. Außerdem ist die Textauswahl darin begründet, dass Die Stimmen von Marrakesch und Simultan, wie bereits erwähnt, komplementäre Texte darstellen, die jeweils unterschiedliche Aspekte der Mehrsprachigkeit hervorheben.140 Während Canettis Aufzeichnungen einen mehrsprachigen sozialen Raum erkunden, schildert Bachmanns Erzählung vor allem die mehrsprachige innere Welt der zwei Hauptfiguren und belauscht gleichsam deren Artikulation. In Marrakesch erklingen also die mehrsprachigen Stimmen von Außen, in Simultan dagegen vornehmlich von Innen. Die dabei stattfindenden Sprachwechsel sind bei Canetti stets durch eine bestimmte Kommunikationssituation bedingt und insofern nachvollziehbar; sie werden zudem oft durch die Instanz des Aufzeichners vermittelt. Im Gegensatz dazu erscheinen bei Bachmann die meisten Sprachwechsel als weder motiviert noch nachvollziehbar, zumal sie nur selten reflektiert oder kommentiert werden. So ergänzen sich die zwei Texte auch aufgrund ihrer Erzählverfahren bzw. aus erzähltheoretischer Sicht. Gemeinsam haben Die Stimmen von Marrakesch und Simultan, dass ihre Verfasser sie als Nebenwerke präsentieren. So äußert sich Canetti in einem Brief über Die Stimmen von Marrakesch: […] es ist so, daß es eine ganze Reihe solcher Sachen von mir gibt, die ich verstecke, weil sie leicht und rasch entstanden sind; so erscheinen sie mir selbstverständlich und ohne rechtes Gewicht. Ich achte nur, was mich viel Zeit und auch viel Vorbereitung kostet.141

Das Werk wird angeblich zügig und für die Schublade geschrieben, kurz nach der Rückkehr aus Marokko im Jahr 1954; erst 1967, nachdem er dazu gedrängt wird, veröffentlicht Canetti seine Reiseaufzeichnungen als ersten Band der neuen Reihe Hanser. Etwa zeitgleich, im Winter 1967/68, beginnt Bachmann die Arbeit an denjenigen Erzählungen, die 1972 unter dem Titel Simultan im Piper Verlag erscheinen; sie muss 140

Diese Aspekte der Mehrsprachigkeit werden im Anschluss an die Textanalysen jeweils vertieft: Nach der Untersuchung der Stimmen von Marrakesch geht es um den Zusammenhang von Stimme und Sprachwechsel in literarischen Texten; auf die Interpretation von Simultan folgt eine Auseinandersetzung mit dem mehrsprachigen Individuum inner- und außerhalb der Literatur, unter besonderer Berücksichtigung der Muttersprache. 141 Brief an Herbert Göpfert aus dem Jahr 1969, zit. n. Herbert G. Göpfert: „Zu den ‚Stimmen von Marrakesch‘“, in: Elias Canettis Anthropologie und Poetik. Hrsg. v. Stefan H. Kaszyński. München: Hanser, 1984, S. 135–150, hier S. 135. Zur Entstehung der Aufzeichnungen über Marrakesch und zum Status der Aufzeichnungen überhaupt in Canettis Werk vgl. Kap. 3.2.

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diesen Band unbedingt publizieren, da sie vertraglich noch mit einem Werk an Piper gebunden ist.142 „Erzählungen, obwohl ich sie lieber nicht so nennen möchte. Mein Verlag wird sie so nennen. Es sind Skizzen, mehr nicht, am Rand.“143 Diese ist eine der Äußerungen Bachmanns, die den Stellenwert der Simultan-Texte im Kontext des Gesamtwerks deutlich machen. Während die Autorin „finster und angestrengt versuch[t], mit dem Buch Todesarten zurechtzukommen“,144 sorgen die von ihr sogenannten „Wienerinnen“ – jene „Randfiguren aus Wien“,145 welche die Protagonistinnen der Simultan-Erzählungen darstellen – auf unerwartete Weise für „Vergnügen und Entspannung“146 und wirken „erleichternd“.147 Auf der einen Seite gibt es also den geistigen Kampf um die Hauptsachen, auf der anderen Seite die erholsame Beschäftigung mit dem Nebensächlichen, Vernachlässigten, Minderwertigen: Die Wienerinnen sind mein[e] hommage an etwas, das ich sehr vernachlässigt habe, also an die Frauen, die auch existieren, während ich mich beschäftige mit den Kontroversen, den Ideen, den Männern also, die sie haben, in diesen letzten Jahrzehnten. […] Ich habe mich ein wenig verliebt in diese jungen und älteren Frauen aus Wien, die mir zu meinen Sonntagen verholfen haben, zu meinem Abschied vom Denken, der auch manchmal notwendig ist. Die Geschichten nenne ich darum meine ‚Abfälle‘, aber da ich von den Figuren belehrt worden bin, daß auch der Abfall sein Recht auf Existenz hat, gebe ich [sie] der Gesellschaft zurück.148

Ausgerechnet die Erzählung Simultan schreibt Bachmann, weil sie „etwas dran hinderte“, an Malina weiterzuschreiben.149 Ähnlich verhält es sich mit den Stimmen von Marrakesch, die sich ebenfalls als „Abschied vom Denken“ betrachten lassen, da sie für Canetti Regeneration während der langwierigen Arbeit an Masse und Macht bedeuten. Nicht nur sind Umfang und Anspruch der Reiseaufzeichnungen gering; sie sollen dem Autor zudem ermöglichen, „etwas wie eine neue Stadt in mir [zu] erbauen, in der das 142

Zur Datierung vgl. Ingeborg Bachmann: „Todesarten“-Projekt. Kritische Ausgabe. Unter Leitung v. Robert Pichl hrsg. v. Monika Albrecht u. Dirk Göttsche. München/Zürich: Piper, 1995, Bd. 4, S. 549. Für ihren Roman Malina (1970) hat Bachmann schon ein Abkommen mit dem Suhrkamp Verlag, der in Person Siegfried Unselds schon seit den fünfziger Jahren um sie wirbt. 143 Ingeborg Bachmann: „[Brief an den Verlag, Textstufe II]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 11. 144 Ingeborg Bachmann: „[Vorrede-Entwurf zur Erzählung Simultan]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 3. Bachmann bezeichnet die Arbeit an den Todesarten in jedem ihrer Einzelteile als „schwierig“ – „nur Mühe […] und so wenig Freude“ (Ingeborg Bachmann: „[Statt einem Klappentext]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 16). 145 Bachmann: „[Brief an den Verlag, Textstufe II]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 10. 146 Ingeborg Bachmann: „[Brief an den Verlag, Textstufe III]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 13. Die Figuren aus dem Erzählband Simultan, die „am Rande vo[m] […] Hauptbuch lebten, aber dort keinen Platz fanden“ (ebd.), treten in der Tat teilweise im Zyklus der Todesarten auf. 147 Bachmann: „[Brief an den Verlag, Textstufe II]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 10. 148 Bachmann: „[Statt einem Klappentext]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 16 f. 149 Bachmann: „[Brief an den Verlag, Textstufe III]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 13. Ob eine Schreibblockade oder eher äußere Umstände die Arbeit am Roman verhindern, ist ungeklärt.

Zu den Fallstudien

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stockende Buch über die Masse wieder gedeihen wird“.150 Diese „neue Stadt“ hat nur mittelbar etwas mit Marrakesch zu tun – als Metapher für „einen anderen, unerschöpften Raum“151 steht sie im Dienst von Masse und Macht. Das Aufzeichnen der Reiseerlebnisse fungiert als „Ventil“152 bei der schwerfälligen Niederschrift des theoretischen Hauptwerkes. Ferner sind die Aufzeichnungen nach einer Reise deshalb wichtig, weil die für Canetti typische Gattung der Aufzeichnungen um die Dimension des Erzählerischen, genauer, um die autobiographische Narration erweitert wird. In dieser Hinsicht erscheinen Die Stimmen von Marrakesch nicht nur als endgültige Abkehr von der Prosa des Romans Die Blendung, sondern auch bereits als Vorläufer der dreibändigen Autobiographie. Seine Lebensgeschichte lässt Canetti bezeichnenderweise mit der Rettung seiner Zunge in einer multilingualen Kindheit beginnen. Die Erinnerung, und damit die Autobiographie selbst, ist von mehreren Sprachen durchzogen. Zwischen diesen Sprachen finden zum Teil geheimnisvolle Übersetzungen statt, wie das Beispiel des Bulgarischen in Die gerettete Zunge zeigt: Die Bauernmädchen zuhause konnten nur Bulgarisch, und hauptsächlich mit ihnen wohl habe ich es auch gelernt. Aber da ich nie in eine bulgarische Schule ging und Rustschuk mit sechs Jahren verließ, habe ich es sehr bald vollkommen vergessen. Alle Ereignisse jener ersten Jahre spielten sich auch spanisch oder bulgarisch ab. Sie haben sich mir später zum größten Teil ins Deutsche übersetzt.153

Die Tatsache, dass das „Bulgarische“ – nicht als Sprache, denn diese wird vergessen, sondern als Ereignis in einer Sprache – das Vergessen überlebt, indem es „sich […] ins Deutsche übersetzt“, ist besonders bemerkenswert, weil Canetti als Erwachsener auf die von jenen bulgarischen Bauernmädchen erzählten Balkanmärchen stößt, nämlich in (wahrscheinlich deutschsprachigen) Büchern: Sie [die Märchen] sind mir in allen Einzelheiten gegenwärtig, aber nicht in der Sprache, in der ich sie gehört habe. Ich habe sie auf bulgarisch gehört, aber ich kenne sie deutsch, diese geheimnisvolle Übertragung ist vielleicht das Merkwürdigste, was ich aus meiner Jugend zu berichten habe […]. […] [D]as meiste, und ganz besonders alles Bulgarische, wie die Märchen, trage ich deutsch im Kopf.154

Wie und wann diese Übersetzung erfolgt ist, weiß Canetti nicht; es handelt sich jedenfalls nicht um einen gesteuerten, bewussten Prozess: 150

Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 198. Ebd. 152 So ist in der Vorbemerkung zu den Aufzeichnungen aus den Jahren 1942–1985 zu lesen (ebd., S. 5). Vgl. auch Elias Canetti: „Dialog mit dem grausamen Partner“, in: Gesammelte Werke, Bd. 6. München/Wien: Hanser, 1995, S. 142–158, hier S. 143 f. 153 Elias Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 7. München/Wien: Hanser, 1994, S. 17. Über das Spanische heißt es: „ich hörte es auch später oft und habe es nie verlernt.“ (Ebd.). 154 Ebd. 151

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Einführung Wie das genau vor sich ging, kann ich nicht sagen. Ich weiß nicht, zu welchem Zeitpunkt, bei welcher Gelegenheit dies oder jenes sich übersetzt hat. Ich bin der Sache nie nachgegangen, vielleicht hatte ich eine Scheu davor, das Kostbarste, was ich an Erinnerung in mir trage, durch eine methodisch und nach strengen Prinzipien geführte Untersuchung zu zerstören. Ich kann nur eines mit Sicherheit sagen: die Ereignisse jener Jahre sind mir in aller Kraft und Frische gegenwärtig – mehr als sechzig Jahre habe ich mich von ihnen genährt –, aber sie sind zum allergrößten Teil an Worte gebunden, die ich damals nicht kannte. Es scheint mir natürlich, sie jetzt niederzuschreiben, ich habe nicht das Gefühl, daß ich dabei etwas verändere oder entstelle. Es ist nicht wie die literarische Übersetzung von einer Sprache in die andere, es ist eine Übersetzung, die sich von selbst im Unbewußten vollzogen hat, und da ich dieses durch übermäßigen Gebrauch nichtssagend gewordene Wort sonst wie die Pest meide, mag man mir seinen Gebrauch in diesem einen und einzigen Falle nachsehen.155

In dieser Reflexion taucht ein bei Canetti (etwa im nächsten Zitat) wiederkehrender Gedanke auf – man solle das „[G]eheimnisvolle“ nicht aufzuklären versuchen, sondern als solches stehen lassen. Ähnlich gilt für die Erinnerung, dass sie intakt zu bewahren sei, ohne sie durch systematische, spekulative oder experimentelle „Untersuchung[en] zu zerstören.“ Dieses wichtige erinnerungspoetische Prinzip wird auch in bzw. nach Marrakesch greifen.156 Außerdem weist Canetti darauf hin, dass die „Ereignisse“, die er auf Deutsch niederschreibt bzw. auf Deutsch erinnert, aus einer Zeit stammen, in der er noch gar kein Deutsch konnte. Ihnen ist aber die deutsche Sprache nah, „natürlich“, treu, auch wenn sie selbst nur die Zielsprache einer Übersetzung ist – eine nachträgliche und „spät[e]“ und deshalb eine besondere Muttersprache.157 Die Übersetzung der spanischen „Ereignisse“ ins Deutsche erscheint damit als eine Übersetzung von einer Muttersprache in eine andere Muttersprache. Im Gespräch erläutert nämlich Canetti: Meine Vorfahren haben 1492 Spanien verlassen müssen und ihr Spanisch in die Türkei mitgenommen, wo sie sich niederließen. Dieses Spanisch haben sie über vierhundert Jahre in ihrer neuen Heimat rein gehalten, und es war auch meine Muttersprache. Ich lernte Deutsch mit acht und wuchs immer mehr in diese Sprache hinein. Mit dreiunddreißig mußte ich Wien verlassen und nahm Deutsch so mit, wie sie damals ihr Spanisch. Vielleicht bin ich die einzige literarische Person, in der die Sprachen der beiden großen Vertreibungen so eng beieinanderliegen. Eine so kuriose Konstellation soll man nicht stören. Es ist klüger und vielleicht ergiebiger, sie sich auswirken zu lassen. Manchmal komme ich mir vor wie ein spanischer Dichter in deutscher Sprache. Wenn ich die alten Spanier, etwa die Celestina oder die Sueños von Quevedo lese, glaube ich, ich spreche aus ihnen.158

Beide Muttersprachen, die deutsche und die spanische, sind Sprachen der vertriebenen Juden. Eine weitere Gemeinsamkeit scheint darin zu bestehen, dass beide Sprachen von ihren Sprechern „in ihrer neuen Heimat rein gehalten“ werden. So hält Canetti im Jahr 155

Ebd., S. 18. Zu dieser Übersetzung vgl. auch ebd., S. 104 f. Vgl. dazu vor allem Kap. 3.2., 3.3. und 3.4. sowie Kap. 4.3.2. und 4.3.3. 157 Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 90. Vgl. dazu auch Kap. 6.2. 158 Elias Canetti: „Gespräch mit Horst Bienek“, in: Gesammelte Werke, Bd. 10. München/Wien: Hanser, 2005, S. 164–173, hier S. 173.

156

Zu den Fallstudien

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1945 fest: „Wer immer sie [die deutsche Sprache] rein gehalten hat, in den Jahren des schärfsten Wahns, wird damit herausrücken müssen.“159 Das Rein-Halten entspricht hier aber keinem Sprachpurismus im Sinn einer konservierenden oder konservierten Einsprachigkeit; „rein“ bedeutet vielmehr von keiner Schuld befleckt. Als Dichter und als Jude, der ins Exil gehen musste, ist Canetti „den Deutschen ihre Sprache schuldig; er hat sie sauber gehalten, aber er muß jetzt damit auch herausrücken, mit Liebe und Dank, mit Zins und Zinseszinsen.“160 Der Dichter im Exil erweist sich also als der „Hüter“161 der Sprache; Canettis Aussage, er sei aufgrund seiner Herkunft nur ein „Gast in der deutschen Sprache“,162 gewinnt dadurch eine neue Akzentuierung. Das Exil und nach diesem die Umsiedlung nach Zürich, jeder dauerhafte Ortswechsel bedingt eine „Umlagerung in der Dynamik der Worte“,163 sofern sich dabei die Sprache des Lebensorts und damit die Sprache des Alltags ändert. Canetti schildert dies eindringlich in seiner Ansprache über die Wortanfälle; aber auch im Aufzeichnungswerk wird immer wieder die Besonderheit eines Wortes oder einer Reihe von Worten in einer bestimmten Sprache reflektiert, die sich dem Aufzeichnenden aufdrängen, wobei sich explizit oder implizit die Frage nach der Übersetzbarkeit stellt.164 Obgleich weniger extrem als bei Canetti, gibt es auch bei Bachmann einen prägenden mehrsprachigen biographischen Hintergrund. Allerdings sei sie bekanntlich keine zwei- oder mehrsprachige Autorin; das Grenz-, Kultur- und Sprachenüberschreitende, dieses ‚Herzland‘ ihres Œuvres, schöpft sie indes aus der bewußten Zugehörigkeit zum ‚Dreiländereck‘ zwischen Österreich-Italien-Slowenien.165

Bachmann wächst an der Grenze zwischen Österreich und Slowenien, auf österreichischer Seite, auf; doch die sprachliche Grenze verläuft, wie oft der Fall, anders als die geographische. In einer autobiographischen Notiz heißt es: Ich habe meine Jugend in Kärnten verbracht, im Süden, an der Grenze, in einem Tal, das zwei Namen hat – einen deutschen und einen slowenischen. Und das Haus, in dem seit Generationen meine Vorfahren wohnten – Österreicher und Windische –, trägt noch heute einen fremdklingenden Namen. So ist nahe der Grenze noch einmal die Grenze: die Grenze der Sprache – und ich war hüben und drüben zu Hause, mit den Geschichten von guten und bösen Geistern zweier oder dreier Länder; denn über den Bergen, eine Wegstunde weit, liegt schon Italien.

159

Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 91. Ebd. 161 Elias Canetti: „Der Beruf des Dichters“, in: Gesammelte Werke, Bd. 6. München/Wien: Hanser, 1995, S. 360–371, hier S. 364. 162 Elias Canetti „Wortanfälle“, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 254–258, hier S. 158. 163 Ebd., S. 160. 164 Vgl. dazu Kap. 3.4. In Wortanfälle beschreibt Canetti, wie das Deutsche im Exil – wie schon in der Kindheit, aber in einem anderen Sinn – zur Geheimsprache werde (Canetti: „Wortanfälle“, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 158). 165 Neva Šlibar: „Zungenfertigkeit, Zungenlosigkeit oder Doppelzüngigkeit?“, in: Literarische Mehrsprachigkeit [1996a], S. 168–180, hier S. 168. 160

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Einführung

Das Tal im Dreiländereck ist mehrsprachig, es werden Deutsch, Slowenisch und Italienisch gesprochen (jedenfalls war es aufgrund der Nähe zur italienischen Grenze für Bachmanns Vater „selbstverständlich italienisch zu sprechen“166). Außerdem wird in der Jugenderzählung Das Honditschkreuz auf eine weitere Sprache verwiesen, das Windische: Die Windischen leben im Gailtal, ebenso wie überall im Süden Kärntens inmitten von Deutschen, sie haben ihre eigene Sprache, die weder von Slowenen noch von Deutschen so richtig verstanden wird. Mit ihrem Dasein ist es, als wollten sie die Grenze verwischen, die Grenze des Landes, aber auch der Sprache, der Bräuche und Sitten. Sie bilden eine Brücke, und ihre Pfeiler sitzen gut und friedlich drüben und herüben.167

Dadurch, dass sie als friedliches ‚Brückenvolk‘ auf beiden Seiten der Grenze leben, heben die Windischen die Grenzziehung gleichsam auf. Dennoch werden auch die erwähnten windischen Vorfahren ihren Beitrag zu Bachmanns „Bewußtsein der Grenze“168 geleistet haben. In der Tat schöpft das Werk der Autorin immer wieder aus den Orten der Jugend, indem es die Grenze(n) aufsucht und „das Komplizierte“169 Österreichs beschreibt, u. a. dessen wiederholtes Vielvölkerstaat-Experiment: Im Grunde [...] beherrscht mich noch immer die mythenreiche Vorstellungswelt meiner Heimat, die ein Stück wenig realisiertes Österreich ist, eine Welt, in der viele Sprachen gesprochen werden und viele Grenzen verlaufen.170

Zur österreichischen Identität gehört darüber hinaus das Bewusstsein für die nach dem Ende der königlich-kaiserlichen Monarchie enorm geschrumpften Landesgrenzen. Das einstige, „verhasste, aber mehr noch geliebte sinnlose Riesenreich“171 („der wirkliche Name war immer ‚Haus Österreich‘“172) ist nun ein „amputierte[r] Staat“,173 ein kleines, zur „Untätigkeit [...] gezwungen[es]“,174 „verweste[s]“175 Land. Immer noch wirkt sich diese Untergangsgeschichte auf Österreich aus, denn „das Gefühl dafür ist unbewusst in 166

Bachmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Monika Albrecht u. Dirk Göttsche. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2002, S. 205. 167 Ingeborg Bachmann: „Das Honditschkreuz. Eine Erzählung aus dem Jahre 1813“, in: Werke, Bd. 2, S. 49. 168 Ingeborg Bachmann: „Biographisches“, in: Werke, Bd. 4, S. 301. Zur Grenze im Werk Bachmanns und vor allem in Simultan vgl. Kap. 5.6. 169 Ingeborg Bachmann: „Drei Wege zum See“, in: Werke, Bd. 2, S. 427. 170 Bachmann: „Biographisches“, in: Werke, Bd. 4, S. 302 171 Bachmann: „Drei Wege zum See“, in: Werke, Bd. 2, S. 445. 172 Ingeborg Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. Hrsg. v. Christine Koschel u. Inge von Weidenbaum. München/Zürich: Piper, 1983, S. 79. 173 Bachmann: „Drei Wege zum See“, in: Werke, Bd. 2, S. 427. 174 Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, S. 106 f. So heißt es auch: „Österreich ist aus der Geschichte ausgetreten [...]. Was auch zu denken gibt: Die bedeutenden Werke aller Art sind bei uns im oder nach dem Untergang entstanden.“ (Ebd., S. 80). Im Gespräch zitiert Bachmann außerdem aus Malina, Wien sei jene „Stelle der Welt, an der nichts mehr stattfindet“ und überall „Untergang ist“ (ebd., S. 117). 175 Ebd.

Zu den Fallstudien

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allen da“, und es „führt zu diesen Abarten von Melancholie, Pessimismus und zu diesem scharfen, manchmal so bösen Blick und einer fatalistischen Haltung.“176 Zudem grenzt Bachmann ihr Heimatland nach Außen ab, oftmals gegenüber Deutschland; diese Gegenüberstellung wird nur dann hinfällig, wenn es um das Dritte Reich geht, denn spätestens mit dem Anschluss wird auch Österreich zum Land der Täter.177 Die Differenz zwischen Österreich und Deutschland ist dennoch für Bachmanns Denken und Selbstverständnis von großer Bedeutung, und sie betrifft auch die Sprache: Für mich selber habe ich lange Zeit die Schwierigkeit darin gesehen, daß ich deutsch schreibe, zu Deutschland nur durch diese Sprache in Beziehung gesetzt bin, angewiesen aber auf einen Erfahrungsfundus, Empfindungsfundus aus einer anderen Gegend. Ich bin aus Österreich, aus einem kleinen Land, das, um es überspitzt zu sagen, bereits aus der Geschichte ausgetreten ist und eine übermächtige, monströse Vergangenheit hat.178

Das Verhältnis der Autorin zu Österreich und speziell zum Wienerischen, aber auch zur deutschen Kultur, Geschichte und Sprache und zur deutschsprachigen Literatur werden anhand von Simultan weiter erläutert. An dieser Stelle ist wichtig festzuhalten, dass die Wahl des Deutschen, obwohl sie „Schwierigkeit[en]“ mit sich führt, auch für Bachmann die einzig mögliche ist. Allgemein gelten ihre Italienischkenntnisse als gut, auch wenn sie angeblich ihren deutschsprachigen Akzent nie ganz ablegen konnte; schon vor ihrer Niederlassung in Rom war ihr das Italienische eine vertraute Sprache. Doch die Sprache ihrer Wahlheimat ist auch nach Jahren nicht vollkommen verinnerlicht: Zugegeben, daß man schon in einer anderen Sprache träumt, aber angeblich bedeutet das gar nichts; man muß nämlich zählen können in einer anderen Sprache, eben das kann ich nicht, ich kann nicht multiplizieren oder dividieren oder addieren auf italienisch, einfach die kleinsten Operationen auf italienisch, die werde ich nie erlernen.179

Bachmann selbst weist im Zusammenhang ihrer Ungaretti-Übersetzungen auf ihr „fehlerhaftes Italienisch“ hin.180 Einen lebendigen Eindruck ihres geschriebenen Italienisch 176

Ebd., S. 106 f. Ferner schreibt Bachmann den Österreichern „sublime Serenität“, „Trauer“ und „manche unheimliche Züge – die manchmal vernünftig, manchmal wahnsinnig aussehen und ihren Grund in tragischen Erfahrungen haben.“ (Ebd., S. 12). 177 In Drei Wege zum See behauptet Trotta, das „Operettenland“ Österreich werde zwar häufig für ein Opfer des Nationalsozialismus gehalten, doch hätten die Österreicher – als „Operettenfiguren“ – in Wahrheit das Morden weit mehr genossen als die Deutschen: Diesen war jeder Befehl „ein Befehl“, jenen „ein willkommener Vorwand“ (Bachmann: „Drei Wege zum See“, in: Werke, Bd. 2, S. 427). Zu Österreich als Land von Nazi-Verbrechern vgl. vor allem Ingeborg Bachmann: „Unter Mördern und Irren“, in: Werke, Bd. 2, S. 159–186. 178 Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, S. 63 f. 179 Ingeborg Bachmann: „Zugegeben“, in: Werke, Bd. 4, S. 340. 180 Ingeborg Bachmann: „[Giuseppe Ungaretti: Entwurf]“, in: Werke, Bd. 4, S. 331. Die erste Auflage der Ungaretti-Übersetzung enthält in der Tat mehrere Fehler. Die wichtigste Voraussetzung für das Übersetzen von Gedichten sei aber nicht die perfekte Beherrschung der Ausgangssprache, sondern „in der eigenen Sprache zuhause“ (ebd.) zu sein. Inwiefern Bachmann beim Schlusswort der Erzählung Simultan möglicherweise ein Übersetzungsfehler unterläuft, wird in Kap. 5.8. erläutert.

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Einführung

vermittelt der Briefwechsel mit Hans Werner Henze, der sich durch häufige Sprachwechsel auszeichnet.181 Im Hinblick auf die in den Fallstudien untersuchten Werke lässt sich zusammenfassend sagen, dass ihr Status bzw. ihre Stilisierung als Nebenwerke nicht von Nachteil ist, im Gegenteil. Literarische Mehrsprachigkeit bei Canetti anhand der Stimmen von Marrakesch zu analysieren, heißt zwar, gleichsam eine Randposition einzunehmen – am Rand des groß angelegten autobiographischen Projekts und entlastet von dem besonders in Die gerettete Zunge spürbaren Gewicht der Muttersprache. Dafür finden sich aber viele der für Canettis Werk kennzeichnenden Themen in den Stimmen von Marrakesch zu spannungsreichen Konstellationen gefügt: Autobiographie und Selbstinszenierung, Masse und Macht, Leben und Überleben, Tiere und Menschheit, Fremderfahrung und Judentum, Gehör und Stimmen, Sprache und Sprachen. In vergleichbarer Weise enthält Simultan viele der „Problemkonstante[n]“182 aus Bachmanns Werk, etwa die Liebe und das Verhältnis zwischen Mann und Frau, die problematische bzw. traumatische Beziehung zur Vergangenheit und die psychische Zerrüttung der Figuren, den Umgang mit der Krankheit und dem Tod, die Grenze, die Utopie und nicht zuletzt die Sprache(n) als Vehikel der Gedanken und Gefühle, gleichsam als deren Übersetzung. Wie bei Canettis Aufzeichnungen gestattet auch im Fall der Erzählung Bachmanns die Perspektive vom Rande her, zentrale Themenkomplexe des Gesamtwerks aufzugreifen, wobei jedoch stets ein großer Spielraum für die Untersuchung der Mehrsprachigkeit gewahrt bleibt.

181

Vgl. Ingeborg Bachmann/Hans Werner Henze: Briefe einer Freundschaft. Hrsg. v. Hans Höller. Mit einem Vorwort v. Hans Werner Henze. München/Zürich: Piper, 2004. 182 Ingeborg Bachmann: „Frankfurter Vorlesungen. Probleme zeitgenössischer Dichtung [Fragen und Scheinfragen]“, in: Werke, Bd. 4, S. 193.

2. Beschreibungsmodell

2.1. Einführung Mit dem Versuch, ein Beschreibungsmodell für mehrsprachige literarische Texte zu entwickeln, möchte die vorliegende Studie eine (oftmals gar nicht wahrgenommene) Forschungslücke schließen. Das Unternehmen, „auf dem Gelände der WortsprachenMischungen verbindliche Koordinaten zu finden“,1 ist in der bisherigen Forschung tatsächlich nicht dezidiert genug verfolgt worden. So begnügt man sich zumeist mit einer bloßen Aufzählung verschiedener Arten von literarischer Mehrsprachigkeit, die sich beispielsweise wie folgt ausnimmt: Insgesamt hat die Vielsprachigkeit als poetisch-literarisches Kompositionsprinzip viele Gesichter: Die Möglichkeiten reichen von der Einbeziehung einzelner fremdsprachiger Partikel in den ansonsten sprachlich homogenen Text bis zur Amalgamierung unterschiedlichster Elemente zu einem neuartigen Idiom, von der Verwendung an sich korrekter heterogener Sprachbausteine über deren Verfremdung bis hin zum Neologismus, wobei auch hier wieder ein Spielraum besteht: von einer feierlichen Überhöhung der Diktion durch das zelebrierte FremdWort bis hin zum munteren Pidgin à la Jandl.2

Derartige Listen geben zwar einen ersten Überblick, sie ermöglichen aber keine systematische Einteilung und Differenzierung. Im Gegensatz dazu werden im Folgenden drei heuristische Grundkriterien vorgeschlagen, die es erlauben, den jeweils vorliegenden Fall literarischer Mehrsprachigkeit anhand von grundlegenden Unterscheidungen einzuordnen und deskriptiv zu erfassen: Erstens geht es um den Fokus, in dem das mehrsprachige Werk eines Autors betrachtet wird, zweitens um die Wahrnehmbarkeit der im Text enthaltenen Sprachen und um die dadurch jeweils geprägten Formen literarischer Mehrsprachigkeit, drittens schließlich um die Sprachen selbst. Zur Veranschaulichung werden jeweils Textbeispiele angeführt, allerdings nicht aus Canettis Die Stimmen von Marrakesch und Bachmanns Simultan, sondern aus dem offenen Beispielfeld mehrsprachiger Literatur.

1 2

Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, S. 30. Schmitz-Emans: Die Sprache der modernen Dichtung, S. 92 f.

Beschreibungsmodell

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2.2. Fokus Zur Beschreibung literarischer Mehrsprachigkeit gilt es zunächst festzustellen, in welchem Fokus jeweils Mehrsprachigkeit beobachtet wird. In den Blick nehmen lässt sich entweder das Gesamtwerk eines Autors, in dem verschiedene Sprachen „nacheinander“ oder „abwechselnd“ verwendet werden, oder aber ein mehrsprachiges Einzelwerk.3 Diesem zweiten Fall, dem „Nebeneinander verschiedensprachiger Textteile im gleichen Werk“,4 ist die Studie gewidmet; sie verfolgt in diesem Sinn einen werkimmanenten Ansatz. Der Fall mehrsprachiger Gesamtwerke wird jedoch, auch vor dem Hintergrund der Ausführungen zur Sprachwahl im vorangehenden Kapitel, ebenso diskutiert. Denn wenn Autoren in mehreren Sprachen, etwa auch in einer Zweit- oder Drittsprache, schreiben, entstehen zwar häufig, aber nicht notwendigerweise mehrsprachige Texte.

2.2.1. Mehrsprachiges Gesamtwerk und mehrsprachiges Einzelwerk Betrachtet man das Gesamtwerk eines Autors unter dem Aspekt der Mehrsprachigkeit, ist die quantitative Verteilung der Texte auf die jeweiligen Sprachen zu beachten. Als Beispiel für einen Autor, der zwei Sprachen „abwechselnd“ gebraucht, wird von Schmitz-Emans Samuel Beckett genannt; er ist hierfür ein dankbares Beispiel, da aufgrund seiner Selbstübersetzungen in der Tat eine Balance zwischen englischsprachigen und französischsprachigen Texten gegeben ist.5 Ansonsten erweist sich die Bezeichnung „abwechselnd“ als irreführend, insofern sie suggeriert, ein Autor würde mal in dieser, mal in jener Sprache schreiben, doch stets mit dem Ergebnis einer ungefähr gleichgewichteten Zweisprachigkeit des Gesamtwerks. Diese liegt aber nur selten vor;

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4

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Schmitz-Emans: „Literatur und Vielsprachigkeit“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 21. Eine ähnliche Differenzierung nimmt Knauth vor, der unter Mehrsprachigkeit „sowohl die in verschiedenen an sich einsprachigen Texten desselben Autors vorliegende Sprachenvielfalt als auch die Mischsprachigkeit einzelner Texte“ versteht, während er „die in einem Text vorkommende Mischung verschiedener Sprachen“ als „Mischsprachigkeit“ bezeichnet. Damit soll der „begrifflich[e] Unterschied von intertextuellem und innertextlichem Multilingualismus“ erfasst werden (Knauth: „Multilinguale Literatur“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 266 f.). Lamping fasst unter „literarischer Zweisprachigkeit“ Autoren auf, die „in zumindest zwei Sprachen Werke geschrieben haben – sei es gleichzeitig oder nacheinander, sei es dauerhaft oder vorübergehend.“ (Lamping: „‚Linguistische Metamorphosen‘“, in: Germanistik und Komparatistik, S. 529). András Horn: „Ästhetische Funktionen der Sprachmischung in der Literatur“, in: arcadia 16 (1981), S. 225–241, hier S. 225. Horn unterscheidet zudem zwischen dem „Nebeneinander verschiedensprachiger Werke innerhalb der gleichen Nationalliteratur“ und dem „Nebeneinander verschiedensprachiger Werke im Œuvre des gleichen Dichters“ (ebd.). Zu Samuel Beckett als Übersetzer seiner eigenen Texte vgl. u. a. Mihály Szegedy-Mászak: „Bilingualism and Literary Modernity“, in: Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, S. 97–104.

Fokus

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in den meisten Fällen besteht ein – zum Teil sehr großes – Missverhältnis zwischen dem Werk in der einen und dem in der anderen Sprache.6 Es stellt sich sodann die Frage, ob die Quantität anderssprachiger Texte zugleich etwas über deren Qualität oder, vorsichtiger formuliert, über deren Stellenwert aussagt. In der Regel kann man diese Frage bejahen. Bei den meisten „Sprachkonvertiten“7 lässt sich das (zumeist wenig beachtete) Frühwerk in der einen Sprache vom ,eigentlichen‘ Werk in der anderen Sprache absondern; in diesem kann jedoch der Sprachwechsel durchaus noch Spuren hinterlassen.8 Bei ausgewanderten Schriftstellern kommt es nach Verlassen des Heimatlandes und des muttersprachlichen Umfelds, sofern sie auch dessen Sprache verlassen, häufig zu einem Überhang der Textproduktion in der neuen Sprache. Ferner veranschaulicht das bereits angeführte Beispiel C. F. Meyers, wie ein Schriftsteller in einer bestimmten Sprache zu schreiben beginnt, diese aber nach einer relativ kurzen Schaffensphase wieder ablegt.9 Wenn dagegen der junge Goethe einige Gedichte in französischer und englischer Sprache zu Papier brachte, dann sicherlich nicht deshalb, weil er ernsthaft mit dem Gedanken spielte, kein Dichter deutscher Sprache zu werden; es handelte sich vielmehr um bloße Fingerübungen.10 6 7

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9

10

So zählt Forster Yvan Goll zu „den seltenen, wahrhaft gleichsprachigen Dichtern“ (Forster: Dichten in fremden Sprachen, S. 119); seine zwei Sprachen waren Deutsch und Französisch. Die Bezeichnung findet sich in Georg Rudolf Lind/Ulrich Suerbaum: „Dichten in fremden Sprachen. Zu bisher unveröffentlichten englischen Gedichten Fernando Pessoas“, in: Poetica 2 (1968), S. 237–271, hier S. 237. Bei Pessoa wäre der Zusammenhang zwischen Sprachwechsel und Heteronymie genauer darzulegen. Ein weiteres Beispiel eines „Sprachkonvertiten“ ist Joseph Conrad, der zunächst auf Französisch schrieb, dann auf Englisch, während polnische Texte (mit der Ausnahme einiger Briefe) nicht überliefert sind (zum Einfluss des Polnischen auf Conrads Sprache vgl. Irmina Pulc: „The Impact of Polish on Conrad’s Prose“, in: Joseph Conrad. Theory and World Fiction. Hrsg. v. Wolodymyr T. Žyla u. Wendell M. Aycock. Lubbock, TX: Texas, Tech University, 1974, S. 117–139). Obendiek behauptet, Conrads „französisch[e] Schriftsätze wirkten eher gestelzt“; er führt außerdem an, der Schriftsteller habe nach eigener Aussage „wie ein Bergmann in seinem Kohlebergwerk arbeiten müssen, um alle seine englischen Sätze aus schwarzer Nacht zutage zu fördern.“ (Edzard Obendiek: Der lange Schatten des babylonischen Turmes. Das Fremde und der Fremde in der Literatur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000, S. 70 u. 76). Bemerkenswerterweise bezeichnet Conrad das Englische als „foreign language“, zugleich jedoch das Schreiben auf Englisch als „as natural as any other aptitude with which I might have been born“ (Joseph Conrad: A Personal Record. London: Heinemann, 1921, S. VII). Analog dazu ist der Fall Pessoas, der frühe Gedichte auf Englisch verfasste. Vgl. dazu Maurer: „Dichten in fremden Sprachen“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 42–44. Indem Maurer behauptet, Pessoas englische Gedichte seien altmodisch, ja epigonal, bekräftigt er eine These, die sich schon bei Forster findet: dass nämlich beim Dichten in fremden Sprachen oft eine zeitliche Verzögerung eintritt, die am Stil, also letztlich an der Sprache selbst, erkennbar wird – so sei „Miltons italienische Lyrik […] [n]ach italienischen Maßstäben […] fast fünfzig Jahre hinter der Mode zurück.“ (Forster: Dichten in fremden Sprachen, S. 79). Ebd., S. 81 f. Hier verweist Forster darauf, dass „[n]och während seiner Schulzeit Goethe und seine Schwester einen vielsprachigen Roman geplant [hatten].“ Zu Goethe und dem Schreiben in fremden Sprachen vgl. Kap. 6.3.

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Beschreibungsmodell

Ausreichende Sprachkenntnisse vorausgesetzt, kann das Schreiben in einer anderen Sprache außerdem als (bewusster oder unbewusster) Versuch gelten, eine Schreibkrise in der eigenen Sprache zu überwinden. So verfasste T. S. Eliot im Jahre 1917 plötzlich vier Gedichte auf Französisch und sagte dazu im Nachhinein: I thought I’d dried up completely. I hadn’t written anything for some time and I was rather desperate. I started writing a few things in French and found I could… I think it was that when I was writing in French I didn’t take the poems so seriously, and that not taking seriously, I wasn’t so worried about not being able to write. I did these things as a sort of tour de force to see what I can do.11

Oftmals sind es gerade die Leichtigkeit und auch das Dilettantische im Umgang mit einer anderen Sprache, die das Selbstbewusstsein des Schreibenden zu stärken vermögen. Obgleich ausgerechnet die französische Wendung in Eliots Rede – „tour de force“ – verrät, dass der Sprachwechsel eine große Herausforderung darstellt, kann in einer anderen Sprache eine andere Schreibweise, die von den Zwängen und hohen Ansprüchen der gewohnten Sprache weitgehend frei ist, zumindest erprobt werden. Die Kehrseite dessen ist unter Umständen der Verlust der Muttersprache als der vertrauten, naheliegenden und nahegehenden Sprache, die sich dem Schreibenden unter allen Sprachen am ehesten fügt. Einen solchen Verlust beklagt beispielsweise Vladimir Nabokov: My private tragedy, which cannot, indeed should not, be anybody’s concern is that I had to abandon my natural language, my natural idiom, my rich, infinitely rich and docile Russian tongue, for a second-rate brand of English.12

So wenig Nabokovs Englisch als zweitklassig gelten kann und so sehr hier durch die abschätzige Bescheidenheitsgeste das große sprachliche Selbstbewusstsein hindurchscheint, so ist es doch wahr, dass ein Sprachwechsel zunächst bedeutet, weniger zu können als in der Muttersprache. Hinzu kommt, dass ein endgültiger oder zumindest über längere Zeit anhaltender Sprachwechsel stets auch bedeutet, sich in eine andere (anderssprachige) literarische Tradition einzuschreiben, von dieser beeinflusst zu werden und auf diese Einfluss zu nehmen.

11 12

T. S. Eliot: [Interview by Donald Hall], in: Writers at Work, S. 89. Vladimir Nabokov: Strong Opinions. New York u. a.: McGraw-Hill, 1973, S. 15. Der Wechsel vom Russischen zum Englischen wird als „exceedingly painful“ beschrieben, „like learning anew to handle things after losing seven or eight fingers in an explosion“ (ebd., S. 54). In seiner Autobiographie schildert Nabokov, wie er im ersten Exil, in Cambridge, sein Russisch dadurch zu bewahren und zu pflegen versuchte, dass er ein russisches Wörterbuch las (mindestens zehn Seiten am Tag); ferner heißt es: „My fear of losing or corrupting, through alien influence, the only thing I had salvaged from Russia – her language – became positively morbid and considerably more harassing than the fear I was to experience two decades later of my never being able to bring my English prose anywhere close to the level of my Russian.“ (Vladimir Nabokov: Speak, Memory. An Autobiography Revisited. New York: Vintage International, 1989, S. 265).

Fokus

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Von der deutschen gänzlich in die französische Literatur überzutreten – mit diesem Gedanken spielte Stefan George ernsthaft. Zu Ernst Robert Curtius soll er gesagt haben: „Es gab einen Moment, da stand ich vor der Entscheidung, ob ich deutscher oder französischer Dichter werden wollte“;13 seinerseits schreibt Curtius, George sei zwanzigjährig „mit dem Bewußtsein des Erben“ nach Frankreich gegangen.14 Gedichte auf Französisch und in anderen Sprachen schrieb er in jungen Jahren angeblich oft;15 überliefert sind allerdings nur wenige der „Gedichte in fremden Sprachen“, sie befinden sich im Anhang zum letzten Band der Werkausgabe.16 Während seines Pariser Aufenthalts waren es vor allem die Bekanntschaft mit dem von ihm verehrten Stéphane Mallarmé und der Verkehr in symbolistischen Kreisen, die den Gedanken aufkommen ließen, französischsprachiger Dichter zu werden – ein Gedanke, den George 1893, nach mehreren Textversuchen, jedoch aufgab. „Es war am schlimmsten kreuzweg meiner fahrt“, lautet der erste Vers des Gedichts Franken, der so auf die Wahl zwischen der französischen und der deutschen Dichtungssprache anspielen könnte.17 Das Motiv der Fahrt taucht auch in einem Brief Georges an Hugo von Hofmannsthal aus dem Jahr 1893 auf, in dem es heißt: „Die Wintergeister, die immer das übergrosse und tolle ein13 14

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17

Ernst Robert Curtius: Kritische Essays zur europäischen Literatur. 2., erw. Aufl. Bern: Francke, 1954, S. 154. Ernst Robert Curtius: „George und Hofmannsthal“, in: Helmut A. Fiechtner: Hugo von Hofmannsthal. Die Gestalt des Dichters im Spiegel der Freunde. Wien: Humboldt Verlag, 1949, S. 309–312, hier S. 309. Von einem „Erben“ ist insofern die Rede, als Georges Großvater väterlicherseits noch französischer Staatsbürger gewesen war. Curtius berichtet außerdem: „Noch in Georges Elternhaus hatte sich der Gebrauch französischer Sprache erhalten, wie es ihm selbst noch in seinen reifen Jahren natürlich war, im vertraulichen Gespräch französische Worte in seine rheinhessische Sprache zu mischen.“ (Ebd.). André Gide urteilte über George in einem Brief: „Il s’exprime dans notre langue sans faute aucune.“ (Zit. n. Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George. 2. ergänzte Aufl. Düsseldorf/München: Helmut Küpper, 1967, S. 257). Vgl. Forster: Dichten in fremden Sprachen, S. 87–89. Anderssprachige Gedichte sollen George zumeist als Entwürfe oder Vorlagen für Gedichte auf Deutsch gedient haben. Da die meisten dieser anderssprachigen Texte nicht veröffentlicht bzw. vernichtet worden sind, nimmt Forster an, dass es George nicht darum ging, als polyglotter Dichter aufzutreten. Stefan George: Gesamtausgabe der Werke. Endgültige Fassung. Berlin: Georg Bondi, 1927 ff., Bd. 18, S. 129–137. Der Dichter habe „nicht mehr endgültig entschieden“, ob die „fremdsprachlichen Versuche“ in die Werkausgabe aufgenommen werden sollten (ebd., S. 138). Georges Erbe Robert Boehringer bezeugt an anderer Stelle: „[Karl] Wolfskehl wußte, daß vom Gedicht ‚Südlicher Strand: Bucht‘, im Siebenten Ring, vor der deutschen Fassung eine italienische existierte, deren letzter Vers gelautet habe: ‚Tanto m’incresce il camminare solo.‘ Vollständige Gedichte in fremden Sprachen – Lingua Romana, Französisch, Englisch – sind aus dem Schlussbande bekannt.“ (Boehringer: Mein Bild von Stefan George, S. 59). Stefan Breuer stellt gar eine „obsessive Beschäftigung mit fremden Sprachen“ fest, denen „ähnliche Funktionen der Distanzierung“ zukommen wie Georges Geheimsprache (Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995, S. 31). Zur Lingua Romana und zur Geheimsprache Georges vgl. weiter unten. Stefan George: „Franken“, in: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hrsg. v. der Stefan George-Stiftung, bearb. v. Georg Peter Landmann u. Ute Oelmann, Stuttgart: Klett-Cotta, 1981 ff., Bd. 6/7, S. 18 f.

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Beschreibungsmodell

geben, trieben mich zur französischen dichtung. […] Nun ist der plan verlassen und ich will wieder auf goldnem kahn heimfahren.“18 Dagegen vollzog Rainer Maria Rilke den Übergang zur französischen Sprache durchaus erfolgreich, und ohne die deutsche Sprache aufzugeben. Während Rilkes italienische und russische Gedichte gering an Zahl sind und im Allgemeinen als schwach gelten,19 zeigt seine französischsprachige Dichtung, die insgesamt weit über vierhundert Texte umfasst, eine bemerkenswerte Entwicklung. Zeugen die frühen Gedichte und Briefe von einem noch unsicheren, oft fehlerhaften Gebrauch des Französischen, so absolvierte Rilke 1921 gleichsam einen Intensivkurs ‚Französisch für Symbolisten‘, indem er Paul Valérys Dichtung Le cimitière marin ins Deutsche übersetzte. Ab 1923 entfaltete sich das Französische allmählich zu einer vollwertigen zweiten Dichtungssprache; zu Rilkes Spätwerk gehören vier Bände französischsprachiger Gedichte.20 Kennzeichnend für die zwischen 1923 und 1925 entstandenen französischen Gedichte ist die Betonung vor allem des Klangs, aber auch des Wortmaterials der für den Dichter – im Vergleich zum Deutschen – neuen Sprache. Rilke konzentrierte sich vermutlich auch deshalb so sehr auf diese eigentümlichen Aspekte der französischen Sprache, weil er nicht in die Falle der Selbstübersetzung gehen wollte. Erst ab 1925 lockerte sich der „selbstauferlegte Abgrenzungszwang zur deutschsprachigen Lyrik“.21 Es entstanden dann die sogenannten Doppeldichtungen: Zu einem bestimmten Motiv oder Thema schrieb Rilke jeweils ein französisches und ein deutsches Gedicht; dabei konnte er beobachten, wie die zwei Versionen oft ganz unterschiedlich ausfielen. Die Abgrenzung ergab sich nunmehr von selbst, d. h. aus den jeweiligen Sprachen heraus, die dem Dichter das Gedicht gleichsam diktierten. So sind Rilkes Doppeldichtungen als eigenständige und, ungeachtet der Reihenfolge ihrer Entstehung, als grundsätzlich gleichwertige Texte zu betrachten. Während Rilke die Selbstübersetzung zu vermeiden versuchte, stellte sie Joseph Conrad, ein anderer „der stets genannten großen Heroen des Schreibens in der Zweitsprache“,22 grundsätzlich in Frage: „Is it thinkable that anybody possessed of some 18

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Zit. n. Boehringer: Mein Bild von Stefan George, S. 34. In diesem Kontext ist auch das Gedicht Rückkehr zu sehen, das mit dem Vers beginnt: „Ich fahre heim auf reichem kahne“ (George: „Rückkehr“, in: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 59). Vgl. Forster: Dichten in fremden Sprachen, S. 96 f. Es handelt sich um die Bände Vergers, Les Quatrains Valaisans, Les Roses und Les Fenêtres. Unter anderen behaupten Valéry und Gide, das französische Werk Rilkes habe großen Einfluss auf die moderne französische dichterische Sprache ausgeübt. In der Tat kann man sagen, dass Rilke die deutsche Tradition der Elegie in den französischen Sprachraum exportierte. In der Widmung des Petit Cahier bezeichnet Rilke 1922 das Französische seiner Gedichte als „langue empruntée“, später als eine „nicht ursprünglich meinig[e] Sprache“, der er „ein Eigenes und Eigentümliches abzuringen“ versucht habe (Brief an Eduard Korrodi vom 26. März 1926; beides zit. n. Maurer: „Dichten in fremden Sprachen“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 43, Anm. 36). Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Manfred Engel, unter Mitarb. v. Dorothea Lauterbach. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004, S. 438. Stockhammer/Arndt/Naguschewski: „Einleitung. Die Unselbstverständlichkeit der Sprache“, in: Exophonie, S. 11.

Wahrnehmbarkeit

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effective inspiration should contemplate for a moment such a frantic thing as translating it into another tongue?“23 Mag das Übersetzen des eigenen Werks in eine andere Sprache in der Tat ein wenig „frantic“ sein, Inspiration schließt es nicht notwendigerweise aus, vielmehr kann diese durch die Zielsprache oftmals erneut angeregt werden.24 Freilich rüttelt die Selbstübersetzung aufgrund der radikalen Ambivalenz – im wörtlichen Sinne von ,Beidgültigkeit‘ – der verwendeten Sprachen am gemeinen Werkverständnis: „Self-translation is a phenomenon unique to multilingualism; it requires readers to have a pragmatically flexible notion of what makes a work or what counts as an original.“25 Ein Original gibt es bei Selbstübersetzung nicht mehr, denn beide Textversionen können kraft derselben Autorschaft als Originale gelten. Mit der Selbstübersetzung hat sich der Fokus vom Gesamtwerk bereits auf ein in zwei Sprachen vorliegendes, zweifaches Einzelwerk gerichtet. Das Beschreibungsmodell konzentriert sich im Folgenden nur mehr auf mehrsprachige Einzelwerke und auf die verschiedenen Formen von Mehrsprachigkeit, die darin zu unterscheiden sind.

2.3. Wahrnehmbarkeit Die Mehrsprachigkeit eines Einzelwerks ist zunächst quantitativ – als quantitative Verteilung der Sprachen im Text – zu bestimmen. In qualitativer Hinsicht spielt dagegen vor allem das Kriterium der Wahrnehmbarkeit eine wichtige Rolle; anhand dessen lässt sich grundsätzlich zwischen einerseits manifester und andererseits latenter Mehrsprachigkeit unterscheiden.26 Eine solche quantitative wie qualitative Beschreibung setzt keine (jedenfalls keine umfassende) Interpretation des jeweiligen Textes voraus, auch wenn die Beschreibung eines Textes immer schon zumindest ein Teil von dessen Interpretation darstellt.27 Die im Folgenden angeführten Beispiele können nur kursorisch ge23 24

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Joseph Conrad: Life and Letters. Hrsg. v. G. Jean-Aubry. Garden City: Doubleday, 1927, Bd. 2, S. 206. So hat Nabokov bei seinen Selbstübersetzungen nicht das strenge Verfahren angewendet, das er bei seiner Übersetzung von Alexander Puschkins Eugene Onegin ins Englische für das einzig mögliche hielt. Kenneth Haynes: English Literature and Ancient Languages. Oxford: Oxford University Press, 2003, S. 21. Zur Selbstübersetzung vgl. auch Michaël Oustinoff: Bilinguisme d’écriture et autotraduction. Julien Green, Samuel Beckett, Vladimir Nabokov. Paris u. a.: L’Harmattan, 2001. Zur latenten und manifesten Präsenz von Sprachen vgl. auch Gary D. Keller: „Toward a Stylistic Analysis of Bilingual Texts: From Ernest Hemingway to Contemporary Boricua and Chicano Literature“, in: The Analysis of Hispanic Texts: Current Trends in Methodology. Hrsg. v. Mary Ann Beck, Lisa E. Davis, José Hernández u. a. New York: Bilingual Press, 1976, S. 130–149. Die qualitative Bestimmung literarischer Mehrsprachigkeit scheint erkenntnisreicher als die quantitative zu sein. Haynes setzt dennoch auf das quantitative Kriterium und entwirft eine „taxonomy arranged according to the proportions of the languages in the works“ (Haynes: English Literature and Ancient Languages, S. 20); doch am Ende kommt er nicht umhin, den rein quantitativen An-

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Beschreibungsmodell

lesen werden; eine verweilende Lektüre mehrsprachiger Texte betreiben die Fallstudien zu Canetti und Bachmann.

2.3.1. Manifeste Mehrsprachigkeit: Sprachwechsel und Sprachmischung Literarische Mehrsprachigkeit ist dann manifest, wenn sie bei der Lektüre eines Textes unmittelbar wahrzunehmen ist. Dabei kann sie sich wiederum in zwei Formen zeigen: Entweder vollzieht der Text einen Sprachwechsel, oder er weist eine Sprachmischung auf und vermengt Elemente aus verschiedenen Sprachen.28 Aufgrund dieser Unterscheidung eröffnet sich ein breites Spektrum, das von einer extremen Trennung bis zu einer extremen Mischung der Sprachen bzw. vom seltenen, punktuellen Vorkommen bis zu einer sich häufenden oder gar durchgehenden manifesten Mehrsprachigkeit reicht. Ein Beispiel für extreme Sprachmischung ist die von James Joyce in Finnegans Wake geprägte Mischsprache; eine extreme Trennung der Sprachen kennzeichnet dagegen Heinrich Manns Roman Die Jugend des Königs Henry Quatre, in dem sich am Ende jedes Kapitels eine auf Französisch verfasste „Moralité“ findet. Sowohl Sprachwechsel als auch Sprachmischung können durch typographische Markierung (zumeist Kursivsetzung) zusätzlich hervorgehoben werden; außerdem können sie zur Bildung von Paratexten wie Anmerkungen, Glossaren und Übersetzungen führen, welche ebenfalls die Mehrsprachigkeit augenfälliger machen.29 Sprachwechsel ist wahrscheinlich die in der Literatur am häufigsten auftretende Form von manifester Mehrsprachigkeit. Im Minimalfall umfasst er nur ein einzelnes Wort, wie beispielsweise an folgender Stelle aus W. G. Sebalds Die Ausgewanderten: „Der Wind treibt den Sand über die Fahrbahn und unter die sidewalks hinein. Die Dü-

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satz durch eine Interpretation der Mehrsprachigkeit zu ergänzen, die mit der Verteilung der Sprachen in den einzelnen Werken kaum noch etwas zu tun hat. In der Forschung stellen Sprachwechsel und vor allem Sprachmischung keine einheitlich definierten Begriffe dar. So ist bspw. allgemein von „Sprachmischung“ die Rede, wenn „ein Text ganze Sätze, Verse oder gar Abschnitte enthält, die hinsichtlich ihrer Sprachzugehörigkeit offenkundig mit anderen Abschnitten kontrastieren.“ (Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, S. 18). Lamping verwendet den Begriff „Sprachwechsel“ mit Bezug auf Autoren und „Sprachmischung“ mit Bezug auf deren mehrsprachige Werke (Lamping: „‚Linguistische Metamorphosen‘“, in: Germanistik und Komparatistik, bes. S. 537–540). Dagegen unterscheidet Knauth zwischen einem „mischsprachigen“ und einem „sprachtrennenden Multilingualismus“ (Knauth: „Multilinguale Literatur“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 265). Analog dazu findet sich bei Schmitz-Emans die Unterscheidung zwischen „synthetische[r]“ und „additive[r]“ Mehrsprachigkeit (Schmitz-Emans: Die Sprache der modernen Dichtung, S. 67). So werden etwa im Ulysses die anderssprachigen Elemente kursiviert. Ein Beispiel für durch Mehrsprachigkeit bedingte Paratexte ist Thomas Manns Der Zauberberg.

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nen, sagte der Onkel, erobern die Stadt.“30 Der Text kann ferner mit einer Wortwendung, einem Nebensatz oder einem ganzen Satz in eine andere Sprache wechseln: Zum letztenmal besuchte ich den Adelwarth-Onkel im November. Als ich aufbrechen mußte, bestand er darauf, mit mir vors Haus zu treten. Und zu diesem Zweck legte er eigens mit vieler Mühe seinen Paletot mit dem schwarzsamtenen Kragen an und setzte sich einen Homburg auf. I still see him standing there in the driveway, sagte die Tante Fini, in that heavy overcoat looking very frail and unsteady. Es war ein eisiger, lichtloser Morgen, als ich Cedar Glen West wieder verließ.31

Mit Bezug auf den deutschen Text stellen sowohl der englische Satz der Tante als auch die „sidewalks“ einen Fall von Sprachwechsel dar, wobei die englischen Textelemente im Rahmen des Deutschen eingebettet werden.32 Doch es müsste ferner geklärt werden, ob auch mit Bezug auf die hier wiedergegebene Rede ein Sprachwechsel stattfindet.33 Kurz davor heißt es nämlich: „Ich weiß noch wie heut, sagte die Tante Fini, wie ich mit dem Adelwarth-Onkel an seinem Fenster gestanden bin an einem glasklaren Altweibersommertag“, und sie redet dann weiter, auf Deutsch. Entweder redet also die Tante mal Englisch, mal Deutsch, oder aber sie redet immer nur Englisch, wobei der Text das Englische nur zuweilen anführt und so die auf Deutsch wiedergegebene Rede implizit als eine ins Deutsche übersetzte Rede ausweist. Der Satz „Der Wind treibt den Sand über die Fahrbahn und unter die sidewalks hinein“ scheint dagegen vom beobachtenden Erzähler selbst zu stammen. Doch das Wort „sidewalks“ erweist sich als ein Zitat aus der Rede eines anderen Onkels, Onkel Kasimir, der dem Erzähler über die jüdischen Einwanderer in Amerika berichtet hatte: […] sie schliefen auch auf den Dächern und auf den sidewalks und auf den eingezäunten kleinen Grasplätzen in der Delancey Street und im Seward Park. The whole of the Lower East Side was one huge dormitory. Und doch sind die Einwanderer erfüllt gewesen von Hoffnung in jener Zeit, und auch ich war keineswegs niedergeschlagen, als ich mich Ende Februar 28 auf Arbeitssuche machte.34

Der Onkel redet hier abwechselnd Englisch und Deutsch.35 Dabei ist „sidewalks“ das einzige englische Wort innerhalb eines deutschen Satzes: Könnte es nicht gleichermaßen heißen, die Juden „schliefen auch auf den Dächern und auf den“ – Bürgersteigen? 30 31 32

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W. G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen. Frankfurt/M.: Fischer, 2003, S. 127 (Hvh. im Original). Ebd., S. 151 f. Dieser Rahmen ist jedoch durchlässig, insofern die anderssprachigen Textelemente und der deutsche Text wechselseitig aufeinander einwirken können. Genau diese Wechselwirkung gilt es bei der Untersuchung sprachwechselnder Texte zu erfassen; vgl. dazu die Fallstudien (Kap. 3 und 5). Es sei auch hierzu auf die zwei Fallstudien verwiesen; den Zusammenhang von Sprachwechsel, Figurenrede und Übersetzung untersucht auch Kap. 4. Sebald: Die Ausgewanderten, S. 122. Weil eine entsprechende Markierung der Rede fehlt, ist allerdings hier, wie schon bei der Tante Fini, nicht entscheidbar, ob und inwieweit die Rede des Onkels selbst zweisprachig ist oder vom Erzähler teilweise ins Deutsche übersetzt wird.

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Man hört unmittelbar, dass der deutsche Ausdruck nicht passt, vor allem nicht im Plural, aber die Mehrzahl ist notwendig, denn es sind „Hunderte und Tausende von Menschen“ gewesen, die im Sommer aufgrund der Hitze draußen schliefen.36 Es geht jedoch an dieser Stelle nicht darum zu bestimmen, warum das Wort „sidewalks“ besonders treffend oder gar unübersetzbar ist, vielmehr sollte zunächst nur gezeigt werden, dass der Sprachwechsel auch als pars pro toto funktioniert: So kann ein anderssprachiges Wort für einen ganzen anderssprachigen Satz, ein anderssprachiger Satz für eine ganze anderssprachige Rede stehen. Mit anderen Worten zeugt gerade der Sprachwechsel von einem im Text stattfindenden Übersetzungsprozess. Darüber hinaus veranschaulichen die aus Sebalds Die Ausgewanderten zitierten Stellen, wie auf engstem Raum ein mehrfacher Sprachwechsel auftreten kann, jeweils in unterschiedlichem Umfang und auf unterschiedlichen Ebenen. Ein ständiger Wechsel zwischen zwei Sprachen innerhalb eines einzigen Satzes wäre aber bereits als Sprachmischung zu betrachten. Dies lässt sich anhand einer der schönsten mehrsprachigen Szenen der Literatur zeigen, dem zweiten Auftritt im fünften Akt von Shakespeares King Henry V. Henry, König von England, hat Frankreich besiegt, und seine „erste Forderung“37 beim Friedensvertrag von Troyes ist die Tochter des französischen Königs, Katharine von Valois. Seine Liebe zu Katharine hat, obwohl die französische Hofdame Alice als Dolmetscherin dient, einige Sprachbarrieren zu überwinden. Dennoch will Henry Katharine heiraten und mit ihr Henry VI. zeugen: K. Hen.: Shall not thou and I, between Saint Denis and Saint George, compound a boy, half French, half English, that shall go to Constantinople and take the Turk by the beard? shall we not? what sayest thou, my fair flower-de-luce? Kath.: I do not know dat. K. Hen.: No; ’tis hereafter to know, but now to promise: do but now to promise, Kate, you will endeavour for your French part of such a boy, and for my English moiety take the word of a king and a bachelor. How answer you, la plus belle Katharine du monde, mon très cher et devin deesse? Kath.: Your majesté ’ave fause French enough to deceive de most sage damoiselle dat is en France.38

Dieser letzte Satz Katharines, mit dem sie den englischen König auf sein unbeholfenes Französisch hinweist („mon très cher et devin deesse“), ist selbst „half French“ und „half English“ – „fause“ könnte man als Mischung von ,false‘ und ,faux‘ lesen; „sage“ und „France“ sind sowohl englische als auch französische Wörter; einige der englischen Wörter werden schließlich so geschrieben, wie Katharine sie etwa aussprechen mag („’ave“, „de“, „dat“). In vergleichbarer Weise führt der häufige Sprachwechsel zu 36 37 38

Sebald: Die Ausgewanderten, S. 121 f. Auch die Ausdrücke ‚Gehwege‘ oder ‚Trottoirs‘ stellen kaum eine Alternative zu den „sidewalks“ dar. William Shakespeare: Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 2. Übers. v. August Wilhelm von Schlegel u. Ludwig Tieck. Darmstadt: Wisseschaftliche Buchgesellschaft, 2005, S. 418. The Arden Edition of the Works of William Shakespeare: King Henry V. Hrsg. v. J. H. Walter. London: Methuen & Co., 1954, S. 150.

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einer Sprachmischung, als die Dolmetscherin Alice sagt: „Your majesty entendre bettre que moi“.39 Der Satz beginnt auf Englisch und endet auf Französisch, in der Mitte wird gemischt: „entendre“ steht wie ein englisches Verb im Infinitiv, ,better‘ ist als „bettre“ gleichsam in Schrift- und Lautbild französisch. Alice selbst redet (von) „Anglish“.40 Zudem wird ausdrücklich betont, dass Katharine nur gebrochen Englisch spricht: K. Hen.: Fair Katharine, and most fair, Will you vouchsafe to teach a soldier terms Such as will enter at a lady’s ear And plead his love-suit to her gentle heart? Kath.: Your majesty shall mock at me; I cannot speak your England. K. Hen.: O fair Katharine! if you will love me soundly with your French heart, I will be glad to hear you confess it brokenly with your English tongue. Do you like me, Kate? Kath.: Pardonnez-moi, I cannot tell vat is ‚like me‘. K. Hen.: An angel is like you, Kate, and you are like an angel.41

So fordert der König Katharine zu einer Antwort auf: „Come, your answer in broken music; for thy voice is music and thy English broken“.42 Henrys Französisch mag zwar den Eindruck einer besseren Aussprache erwecken, doch es ist ebenfalls gebrochen – und zudem unterbrochen durch einen englischen Ausruf, der die Schwierigkeit des Königs zeigt, einen vollständigen französischen Satz zu bilden: K. Hen.: I will tell thee in French; which I am sure will hang upon my tongue like a newmarried wife about her husband’s neck, hardly to be shook off. Je quand sur le possession de France, et quand vous avez le possession de moi – let me see, what then? Saint Denis be my speed! – donc votre est France et vous êtes mienne. It is as easy for me, Kate, to conquer the kingdom as to speak so much more French: I shall never move thee in French, unless it be to laugh at me. Kath.: Sauf votre honneur, le Français que vous parlez, il est meilleur que l’Anglais lequel je parle.43

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Ebd., S. 152. Ebd. Ebd., S. 146. Trotz ihrer Verständnisschwierigkeiten bringt Katharine Henrys Rede auf den Punkt, indem sie ausruft: „O bon dieu! Les langues des hommes sont pleines de tromperies.“ (Ebd., S. 147). Denn Henry spielt hier mit der doppelten Bedeutung von ‚like‘/‚to like‘. Ebd., S. 151. Zum broken English device bei Shakespeare vgl. u. a. Paula Blank: Broken English. Dialects and the Politics of Language in Renaissance Writings. London/New York: Routledge, 1996. „Das englische Drama der elisabethanischen und jakobäischen Zeit hat Freude am gebrochenen Englisch des Ausländers, eine Freude, die in die hämische Karikatur und groteske Charakterisierung des Fremden umschlagen kann.“ (Paul Goetsch: „Fremdsprachen in der Literatur. Ein typologischer Überblick“, in: Dialekte und Fremdsprachen in der Literatur. Hrsg. v. Paul Goetsch. Tübingen: Narr, 1987, S. 43–68, hier S. 56). Allgemein ließe sich von einer „gleichsam makkaronische[n] Sonderspielart“ von Mehrsprachigkeit sprechen, wenn „die Figuren die Hauptsprache des Textes nur gebrochen beherrschen und damit eine unfreiwillige komische Sprachenmischung erzeugen“ (Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, S. 18 f.). The Arden Shakespeare: King Henry V., S. 149.

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Henry erkennt, dass er die Geliebte in seiner gebrochenen Sprache nicht gut überzeugen kann, und er fürchtet sogar, sich damit lächerlich zu machen. Zu Katharine sagt er dann aber, dass ihrer „beiden höchst wahrhaft falsches Reden der Sprache des andern ziemlich auf eins hinausläuft“.44 Denn solange die Liebe perfekt beherrscht wird, ist es nicht wesentlich, die Sprache(n) perfekt zu beherrschen: Durch die Liebe wird jede Sprache gut und verständlich, kein Radebrechen auf „Anglish“ oder „Anglois“ wirkt für die Liebenden lächerlich.45 In diesem Sinne gibt der König auf Burgundys Frage „teach you our princess English?“ die Antwort: „I would have her learn […] how perfectly I love her; and that is good English.“46 Während der gebrochene Gebrauch einer Sprache ein Zeichen von geringer Sprachkompetenz ist, welche sich hauptsächlich auf syntaktischer Ebene (etwa durch eine falsche bzw. stark parataktische Anordnung der Satzteile), aber auch auf lexikalischer Ebene zeigt, deutet ein fremdsprachiger Akzent nicht notwendigerweise – oder nicht in gleichem Maße – auf beschränkte Sprachkenntnisse hin. Wie das gebrochene Englisch bzw. Französisch stellt auch der im Text wiedergegebene französische Akzent, wie ihn Katharine und Alice aufweisen, eine Form von manifester Sprachmischung dar. Dabei kann die phonetische Mischung im fremdsprachigen Akzent zusammen mit Mischungen auf syntaktischer und lexikalischer Ebene auftreten. Dies lässt sich beispielsweise anhand von Conrads Lord Jim zeigen, in dem der Kapitän der Patna, ein nach Australien ausgewanderter Deutscher – „a sort of renegade New South Wales German“47 – Englisch mit deutschem Akzent spricht: ‚You Englishmen are all rogues […]. You no better than other people, and that old rogue he make Gottam fuss with me. […] That’s what you English always make – make a tam’ fuss – for any little thing, because I was not born in your tam’ country. Take away my certificate.

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Shakespeare: Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 2, S. 420. Lächerlich, komisch (nicht unverständlich allerdings) soll diese Sprache auf das Publikum wirken. Vgl. auch die Unterrichtsszene im dritten Akt, in der Alice Katharine einige englische Wörter beizubringen versucht; in diesem französischen Dialog kommentiert Alice an einer Stelle: „Sauf votre honneur, en vérité, vous prononcez les mots aussi droit que le natifs d’Angleterre.“ (The Arden Shakespeare: King Henry V., S. 70). Dabei ist Katharines Aussprache keineswegs native. Ebd., S. 153. Vgl. dazu Helen Ostovich: „‚Teach you our princess English?‘ Equivocal Translation of the French in Henry V“, in: Gender Rhetorics. Postures of Dominance and Submission in History. Hrsg. v. Richard Trexler. Binghamton, NY: Medieval & Renaissance Texts & Studies, 1994, S. 147–161. Joseph Conrad: Lord Jim. Hrsg. v. Cedric Watts u. Robert Hampson. London: Penguin, 2000, S. 53. Conrad selbst vermochte offenbar zeit seines Lebens kein akzentfreies Englisch zu sprechen; vgl. Kellman: The Translingual Imagination, S. 10. Obendiek führt Zeugnisse dafür an, dass Conrad Englisch mit Akzent sprach und sogar öfters Wörter falsch aussprach (Obendiek: Der lange Schatten, S. 56). Dies sei damit zu erklären, dass er Englisch primär aus Büchern und als eine reine Schriftsprache gelernt habe; so berichtet Bertrand Russel, dem Conrad aus An Outcast of the Islands vorlas, dass dieser einzelne Wörter deshalb falsch aussprach, weil er sie nie gehört hatte.

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Take it. I don’t want the certificate. A man like me don’t want your verfluchte certificate. I shpit on it.‘ He spat. ‚I vill an Amerigan citizen begome‘, he cried […].48

In diesem letzten Satz bestimmt die deutsche Sprache die syntaktische Ordnung, indem sie das Verb in Endstellung bringt. Zuvor schleicht sich bereits – „Gottam“ und „tam’“ zum Trotz – das deutsche Wort „verfluchte“ ein. Das Fluchen des Kapitäns kommt schon an einer früheren Stelle vor, an der es heißt: „From the thick throat of the commander of the Patna came a low rumble, on which the sound of the word schwein fluttered high and low like a capricious feather in a faint stir of air.“49 Gerade das Fluchen in einer Fremdsprache ist bekanntlich ein schweres Unterfangen, und so mag der Wechsel ins Deutsche an den zitierten Stellen nachvollziehbar sein. Darüber hinaus haben linguistische Untersuchungen gezeigt, dass „non-native accent and the choice of a wrong word (perhaps a loan translation from the other language) are more likely to be detected in bilinguals when they are fatigued or excited“.50 In der Linguistik ist hierbei oft von einer Interferenz die Rede. Der Begriff wurde von Uriel Weinreich geprägt und als „deviation from the norms of either language“ definiert.51 Die Bedeutung von Abweichung im Sinne von Störung, Regelverstoß und Fehler hat der Interferenzbegriff bis heute nicht gänzlich abgelegt; deshalb wird in dieser Studie bei Sprachmischungen eher von Hybridität als von Interferenz die Rede sein. Bezüglich des Sprachwechsels ist die code-switching-Forschung von Relevanz, insbesondere soziolinguistisch orientierte Untersuchungen.52 Darin erscheint Sprachwechsel als ein Zeichen mehrsprachiger Kompetenz, das von den Sprechern gezielt, d. h. zu expressiven und kommunikativen Zwecken eingesetzt wird. Innerhalb der Rede mehrsprachiger Individuen genießen Sprachkontaktphänomene eine hohe Akzeptabilität; in der Forschung werden sie nicht länger auf die Unfähigkeit der Sprecher zurückgeführt, verschiedene Sprachsysteme voneinander zu trennen, sondern gelten z. T. umgekehrt als Sprachleistungen oder -lösungen, die von einer Differenzierung bzw. von einer 48

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Conrad: Lord Jim, S. 73 f. Im Werk Conrads kommen mehrere Deutsche vor, die Englisch oder andere Sprachen mit deutschem Akzent sprechen; vgl. etwa die Erzählung Falk, in der Hermanns Flüche und Ausrufe denjenigen in Lord Jim sehr ähneln. Conrad: Lord Jim, S. 60. Charlotte Hoffmann: An Introduction to Bilingualism. London/New York: Longman 1991, S. 94 f. Dies bestätigt auch Derrida, wenn er schreibt, sein „accent de ,Français d’Algérie‘“ sei „plus apparente dans certaines situations ,pragmatiques‘ (la colère ou l’exclamation en milieu familial ou familier, plus souvent en privé qu’en public […])“ (Derrida: Le monolinguisme de l’autre, S. 77). Obendiek weist darauf hin, dass dem Patna-Kapitän „bei wachsender Erregung mehr und mehr muttersprachliche Interferenzen [unterlaufen]“ (Obendiek: Der lange Schatten, S. 69). Uriel Weinreich: Languages in Contact. Findings and Problems. The Hague/Paris: Mouton, 1953, S. 1. Eine umfassende Begriffsdiskussion, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann, müsste vor allem die linguistische Forschung zum Zweitsprachenerwerb einbeziehen. Vgl. etwa Jan Petter Blom/John J. Gumperz: „Social Meaning in Linguistic Structure: CodeSwitching in Norway“, in: Directions in Sociolinguistics. Hrsg. v. John J. Gumperz u. Dell Hymes. New York: Holt, Rinehart and Winston, 1972, S. 407–434; Code-Switching in Conversation: Language, Interaction and Identity. Hrsg. v. J. C. Peter Auer. London: Routledge, 1998.

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darauf basierenden Synthese der Sprachen zeugen.53 Insofern stimmt zwar einerseits, dass „one of the specific mechanisms developed by a balanced bilingual is precisely the use of strategies to avoid interference“;54 andererseits steigt jedoch bei zunehmender Kompetenz die Möglichkeit bzw. die Fähigkeit, die entsprechenden Sprachen aufeinander zu beziehen und zu kombinieren. Ferner wird code-switching hinsichtlich seiner Grammatik erforscht.55 Die grammatisch bedingten Regelmäßigkeiten des Sprachwechsels lassen sich auch anhand literarischer Texte beobachten.56 Der Sprachwechsel findet (1) an bestimmten syntaktischen Stellen statt, an denen sich der Übergang bzw. der Bruch zwischen den Sprachen vergleichsweise unproblematisch gestaltet, und lässt sich (2) zumeist auf eine lexikalische Motivation zurückführen. So hat die Praxis der language alternation oftmals das Ziel, eine Bezeichnungslücke zu schließen.57 In Sprache B wird ein Ausdruck gefunden, für den es in Sprache A keine Entsprechung zu geben scheint: entweder weil der Sprecher diese nicht kennt oder weil sie tatsächlich nicht vorhanden ist oder weil sie vorhanden ist, aber nicht verwendet werden soll, etwa wie bei Sebalds „sidewalks“. Allgemein ist in der Literatur der Sprachwechsel ebenso wie die Sprachmischung nicht vordergründig als Normbruch zu deuten, sondern vielmehr als Mittel, um die Ausdrucksstärke des Textes zu steigern. Auf welche Weise diese durch die Mehrsprachigkeit erzeugte Potenzierung zustandekommt, wird in den zwei Fallstudien ausführlich zu zeigen sein. Abschließend sollen noch zwei Formen von manifester Mehrsprachigkeit erwähnt werden, die bereits an der Grenze zur latenten Mehrsprachigkeit stehen. Es handelt sich 53

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Zur mehrsprachigen diskursiven Praxis und zu deren empirischer Erforschung vgl. Redder: „Faszination mehrsprachigen Sprachwissens“, in: Germanistik in und für Europa, S. 84 f. Zum Sprachkontakt im multilingual mind vgl. Kap. 6.4. Hamers/Blanc: Bilinguality and Bilingualism, S. 41. Vgl. etwa Suzanne Romaine: Bilingualism. Oxford: Basil Blackwell, 1989, S. 112 f.; Shana Poplack: „Sometimes I’ll start a sentence in Spanish y termino en español. Toward a typology of codeswitching“, in: Linguistics 18 (1980), S. 581–618. Im Rückbezug auf William Labov stellen Deleuze und Guattari die grammatischen Regeln des code-switching in Frage: „ne faut-il pas convenir que tout système est en variation, et se définit, non par ses constantes et son homogénéité, mais au contraire par une variabilité qui a pour caractères d’être immanente, continue, et réglée sur un mode très particulier (règles variables ou facultatives)?“ (Deleuze/Guattari: Mille Plateaux, S. 118 f.). Dies behauptet auch Keller in seiner Untersuchung zum Spanischen in Hemingways For Whom the Bell Tolls; doch damit widerspricht er seiner Hauptthese, dass aufgrund einer prinzipiellen Differenz zwischen literarischer Sprache und ordinary language literarische Mehrsprachigkeit anders funktioniere als die alltägliche Mehrsprachigkeit, die in den Äußerungen mehrsprachiger Individuen zum Ausdruck kommt (vgl. Keller: „Toward a Stylistic Analysis of Bilingual Texts“, in: The Analysis of Hispanic Texts, S. 130–149). Vgl. auch John Lipsky: „Spanish-English Language Switching in Speech and Literature: Theories and Models“, in: The Bilingual Review 9/3 (1982), S. 191–212; Georges Lüdi: „‚Parler bilingue‘ et discours littéraires métissés. Les marques transcodiques comme traces d’experiénce interculturelles“, in: Des cultures en contact, S. 173–200, bes. S. 183 u. 186. Dies zunächst auf der Ebene der parole; auf der Ebene der langue würde man von Entlehnung sprechen; vgl. dazu u. a. Weinreich: Languages in Contact, S. 11.

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um Übersetzungen, bei denen an der Oberfläche des Textes mehrere Sprachen auftauchen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ein übersetzender Sprachwechsel bzw. ein Sprachwechsel als Übersetzung vorliegt. So sagt beispielsweise der Leutnant der Victorieuse in Conrads Lord Jim: „‚Ah, yes. A little craft painted black – very pretty – very pretty (très coquet).‘ After a time he twisted his body slowly to face the glass door on our right. ‚A dull town (triste ville),‘ he observed, staring into the street.“58 In Klammern wird hier die Rede des Leutnants im Originalzitat angeführt, denn er redet eigentlich Französisch – er übersetzt nicht selbst, sondern er wird übersetzt.59 Durch den manifesten Sprachwechsel wird diese Übersetzung im Text offengelegt. Conrad rekurriert jedoch auch auf weniger manifeste, nämlich auf verfremdende Übersetzungen. Diese sind insofern als Sprachmischungen zu betrachten, als sie idiomatische, lexikalische oder syntaktische Merkmale der Ausgangssprache aufweisen.60 Vor allem die Einheimischen sprechen in Conrads Werken häufig ein verfremdetes und sprachmischendes Englisch, etwa Englisch mit Malay-Syntax. Auf diese Weise soll dem Leser signalisiert werden, dass die Einheimischen gerade kein Englisch, auch kein verfremdetes, sondern ihre eigene Sprache sprechen.61 Je nach Grad der Verfremdung wäre im Einzelfall zu bestimmen, inwieweit manifeste oder nur mehr latente Mehrsprachigkeit vorliegt.

2.3.2. Latente Mehrsprachigkeit: Übersetzung, Sprachverweise und Sprachreflexion Latente Mehrsprachigkeit dürfte die häufigste Form von literarischer Mehrsprachigkeit überhaupt sein. Ein Text ist immer dann latent mehrsprachig, wenn andere Sprachen nur unterschwellig vorhanden und nicht unmittelbar wahrnehmbar sind; er weist also auf den ersten Blick eine einsprachige Oberfläche auf. Dies trifft (1) bei den meisten Übersetzungen zu, (2) wenn – ohne dass dabei ein impliziter Übersetzungsvorgang 58 59

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Conrad: Lord Jim, S. 149. Insofern es korrekter ‚ville triste‘ hätte heißen müssen, ist hier die Übersetzung leicht verfremdend. Auf diese von Marlow in Lord Jim mehrfach angewendete Authentifizierungsstrategie kann hier nicht eingegangen werden. Die folgende Stelle zeigt, dass die Übersetzung auch kommentiert wird: „,And so that poor young man ran away along with the others,‘ he said, with grave tranquillity. I don’t know what made me smile: it is the only genuine smile of mine I can remember in connection with Jim’s affair. But somehow this simple statement of the matter sounded funny in French […]. ,S’est enfui avec les autres,‘ had said the lieutenant.“ (Ebd., S. 150). Statt von verfremdenden ließe sich auch von hybriden Übersetzungen sprechen; zu diesem Begriff und zu einer genaueren Differenzierung vgl. Anne Bohnenkamp: „Hybrid statt verfremdend? Überlegungen zu einem Topos der Übersetzungstheorie“, in: Linguistik in der Übersetzungswissenschaft. Hrsg. v. Peter Colliander, Doris Hansen u. Ingeborg Zint-Dyhr. Tübingen: Groos, 2003, S. 9–26. Daher die These, Conrad gehe mit der Anderssprachigkeit seiner Figuren unterschiedlich um, je nachdem, ob er deren Sprache beherrsche oder nicht; vgl. Amy Houston: „Implicit Translation in Joseph Conrad’s Malay Trilogy“, in: English Literature and the Other Languages, S. 109–122.

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stattfände – auf andere Sprachen verwiesen wird und (3) wenn der Text eine Sprachreflexion beinhaltet, die seiner eigenen (auch nur potentiellen) oder einer geschilderten Mehrsprachigkeit gilt. Übersetzungen aus anderen Sprachen können im latent mehrsprachigen Text explizit oder implizit erfolgen. In beiden Fällen taucht die Ausgangssprache der Übersetzung, gleichsam das Original, nicht auf.62 Bei expliziten Übersetzungen wird entweder auf das Übersetzen selbst oder auf die jeweils übersetzte bzw. übersetzende Sprache hingewiesen. Solche Hinweise fehlen dagegen bei impliziten Übersetzungen, so dass die unterschlagenen Übersetzungsvorgänge den meisten Lesern gar nicht bewusst werden. Wie unbemerkbar ein Übersetzungsprozess stattfinden kann, zeigt die folgende Stelle aus Lord Jim: Mr. Stein called him [Doramin] ,war-comrade.‘ War-comrade was good. Wasn’t it? And didn’t Mr. Stein speak English wonderfully well? Said he had learned it in Celebes – of all places! That was awfully funny. Was it not? He did speak with an accent – a twang – did I notice?63

Mr. Stein, ein Deutscher, überträgt hier das deutsche Wort ‚Kriegskamerad‘ ins Englische. Dieses Wort kann als eine Spur der Muttersprache aufgefasst werden; auf den merkwürdigen Ausdruck „war-comrade“ wird zwar aufmerksam gemacht, die deutsche Sprache ist aber nur latent vorhanden. Auch findet sich keinerlei expliziter Hinweis auf irgendeine Übersetzung; diese erfolgt also implizit. Ein prominentes Beispiel für explizite Übersetzung liefert Goethes Wilhelm Meister. Nachdem Wilhelm Mignons Lied das erste Mal gehört hat, heißt es nämlich: Melodie und Ausdruck gefielen unserm Freunde besonders, ob er gleich die Worte nicht alle verstehen konnte. Er ließ sich die Strophen wiederholen und erklären, schrieb sie auf und übersetzte sie ins Deutsche. Aber die Originalität der Wendungen konnte er nur von ferne nachahmen. Die kindliche Unschuld des Ausdrucks verschwand, indem die gebrochene Sprache übereinstimmend und das Unzusammenhängende verbunden ward. Auch konnte der Reiz der Melodie mit nichts verglichen werden.64

Übersetzt wird die „gebrochene Sprache“ der Sehnsucht, und sie scheint untrennbar von Mignons Stimme und Melodie zu sein. Genau dies macht die Schwierigkeit der Übersetzung aus, nicht etwa die Tatsache, dass Mignon nicht auf Deutsch, sondern (wie der Text suggeriert) auf Italienisch singt. Wilhelms Übersetzung ist dabei, wie Robert Stockhammer richtig bemerkt,

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Übersetzungen aus im Text präsenten Sprachen zählen dagegen zur manifesten Mehrsprachigkeit. Conrad: Lord Jim, S. 214 f. Dabei spricht Stein nicht nur mit Akzent, sondern gibt seinem Englisch oft eine pseudo-deutsche Syntax; gelegentlich wechselt er sogar vom Englischen ins Deutsche. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: Sämtliche Werke, I. Abt., Bd. 9, S. 504.

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nicht etwa deswegen defizitär, weil sie einen geschlossenen Zusammenhang, der dem Original eignen würde, zerbräche, sondern weil sie eine solche Übereinstimmung erst herstellt: Das Original ist das Gebrochne, die Nachahmung das Ein-Sprachige.65

Bemerkenswert ist ferner, dass das Lied, bevor Wilhelm es zum zweiten, ja auch schon zum ersten Mal hört, bereits aufgezeichnet worden ist: „Wilhelm öffnete die Türe, das Kind trat herein und sang das Lied, das wir soeben aufgezeichnet haben.“66 Ob aber Mignon das Lied „Kennst Du das Land? wo die Zitronen blühn“ möglicherweise schon beim ersten Mal auf Deutsch gesungen hat, bleibt unaufgeklärt. Denn auf welche Sprache der Ausdruck „gebrochene Sprache“ referiert – ob aufs Deutsche, Italienische oder gar auf eine ‚Ursprache‘ – ist nicht zu entscheiden, und es wird vom Erzähler offen gehalten, um das Fremdartige von Mignons Gesang zu unterstreichen, das diesen auf Wilhelm so „geheimnisvoll“, „treibend und vielversprechend“ wirken lässt.67 Auch die Tatsache, dass beim zweiten Liedvortrag Mignons einzelne Elemente wie etwa „ihr [Mignons]: Laß uns ziehn!“ auf Deutsch zitiert und kommentiert werden, ist kein eindeutiger Beleg dafür, dass Mignon nunmehr Wilhelms deutschsprachige Liedversion singt; vielmehr wird die Frage der Sprachwahl auch hier in der Schwebe gehalten – so als ob nicht nur Mignon, sondern auch der Erzähler damit „auf etwas sonderbares aufmerksam machen“ will.68 Dieses Sonderbare und Geheimnisvolle der Sprache Mignons, in dem Wilhelm „eine unwiderstehliche Sehnsucht“ erkennt, kann jedoch nur durch latente Mehrsprachigkeit erzeugt werden; ein manifester Sprachwechsel würde die Wirkung sofort aufheben. Einsprachige Textur und explizite Übersetzung finden sich darüber hinaus oftmals im Rahmen von Herausgeberfiktionen. Der Herausgeber stellt sich dabei als derjenige vor, der den Text aus einer anderen Sprache (zu) übertragen habe. Danach erfolgt die Übersetzung aber meistens implizit, und der Text ist entsprechend einsprachig; wenn der Herausgeber auch immer wieder auf den Übersetzungsvorgang zurückkommen mag, taucht die übersetzte Sprache nicht auf. Dies ist beispielsweise beim Don Quijote von Cervantes, bei Voltaires Candide und bei Wielands Geschichte des Agathon der Fall. Im Gegensatz dazu integriert Arno Schmidts Gelehrtenrepublik, dessen Erzähler vorgibt, eine englische Textvorlage zu übersetzen, immer wieder Elemente aus der übersetzten Sprache in die Übersetzungssprache Deutsch und kommentiert dies in ausführlichen Fußnoten.69 65

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Robert Stockhammer: „Die gebrochene Sprache des Literarischen. Goethe gegen Searle“, in: Exophonie, S. 137–148, hier S. 146. Stockhammer verweist dabei auf Peter Szondis bekannte These, das Naive sei das Sentimentalische. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: Sämtliche Werke, I. Abt., Bd. 9, S. 504. Ebd. Ebd. Interessanterweise ist das Deutsche in diesem in der Zukunft spielenden Roman eine tote Sprache, in die übersetzt wird, um die (vorgeblich) pornographischen und politisch wie moralisch unkorrekten Aussagen und Handlungen des englischsprachigen Erzählers unschädlich zu machen.

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Schließlich findet eine Übersetzung auch dann explizit statt, wenn der Text auf die übersetzte oder übersetzende Sprache verweist. Dies lässt sich beispielsweise an der sprachlichen Konstellation in Kafkas Erzählung In der Strafkolonie zeigen. Auch wenn seine Rede im Text stets Deutsch ist, also offenbar ins Deutsche übersetzt wird, erfährt man, dass der Offizier mit dem Reisenden Französisch redet. Doch „französisch verstand gewiß weder der Soldat noch der Verurteilte“.70 Der Soldat ist dementsprechend teilnahmslos; der Verurteilte aber „schien alle Kraft des Gehörs anzuspannen, um etwas zu erfahren“,71 und „bemühte [sich], den Erklärungen des Offiziers zu folgen“.72 Als später der Offizier den Verurteilten anspricht und dabei die Sprache wechselt, wird deutlich, wie wenig der Verurteilte von der französischen Rede des Offiziers hatte begreifen können, obgleich der Anblick des Apparats und die erläuternden Gesten des Offiziers eine sehr verständliche Sprache gesprochen haben. „‚Du bist frei‘, sagte der Offizier zum Verurteilten in dessen Sprache. Dieser glaubte es zuerst nicht. ‚Nun, frei bist du‘, sagte der Offizier. Zum erstenmal bekam das Gesicht des Verurteilten wirkliches Leben.“73 Leben bedeutet hier Befreiung von der Strafe, doch der Verurteilte zeigt auch deshalb ein strahlendes Gesicht, weil er endlich in seiner Sprache erfahren hat, was sein Schicksal ist: Nur in dieser Sprache kann er den Freispruch wirklich verstehen. Die Sprache, auf welche verwiesen wird, wird allerdings nur deiktisch markiert, nicht benannt. Ähnlich dazu berichtet Vergil in der Göttlichen Komödie, wie Beatrice aus dem Himmel zu ihm kam, um ihn als Dantes Begleiter durch die Hölle zu bestimmen – „e cominciommi a dir soave e piana, / con angelica voce, in sua favella“, mit engelhafter Stimme spricht Beatrice ,in ihrer Sprache‘, der Sprache der Liebe.74 Durch solche Sprachverweise wird explizit auf einen (latenten) Übersetzungsvorgang hingedeutet, wobei „sich der Leser den Wechsel in eine andere Sprache vorstellen muß“.75 Sprachwechsel und Sprachverweis schließen sich dabei fast immer gegenseitig aus, da sie im Grunde dieselbe Funktion erfüllen. Zur besonderen Hervorhebung kann der Text freilich auf diejenige Sprache verweisen, in der er selbst verfasst ist, doch dann wäre jeweils zu fragen, ob er überhaupt noch mehrsprachig ist. Dies lässt sich anhand der Begegnung mit Goethe in der Romantischen Schule veranschaulichen; Heine schreibt: „Ich war nahe daran, ihn [Goethe] Griechisch anzureden; da ich aber merkte, daß er Deutsch verstand, so erzählte ich ihm auf deutsch: daß die Pflaumen auf dem

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Franz Kafka: „In der Strafkolonie“, in: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 6/1, S. 203–248, hier S. 207. Ebd., S. 211. Ebd., S. 207. Ebd., S. 237; Hvh. d. Vf. Inf. II, 56–57 (zit. n. Dante: La Commedia secondo l’antica vulgata, S. 10; Hvh. d. Vf.). Vgl. dazu Inf. II, 72: „amor mi mosse, che mi fa parlare“. Goetsch: „Fremdsprachen in der Literatur“, in: Dialekte und Fremdsprachen in der Literatur, S. 45.

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Wege zwischen Jena und Weimar sehr gut schmeckten.“76 Der Sprachverweis „auf deutsch“ soll überdeutlich machen, dass sich Heine am Ende doch dagegen entscheidet, den als griechischen Gott beschriebenen Goethe auf Griechisch anzusprechen. Auf diese Weise soll letztlich die Selbstverständlichkeit umso stärker ironisch betont werden, dass Goethe „Deutsch verstand“. Zudem wird das ebenfalls ironische Kompliment, mit dem Jena und Weimar anstatt auf Kunst oder Klassik auf die Qualität der „sächsischen Pflaumen“77 gebracht werden, durch die Sprachankündigung besonders unterstrichen. Goethe ist ebenso griechisch-göttlich wie menschlich-deutsch; dies zeigt seine Reaktion auf Heines Spruch: „Er lächelte mit denselben Lippen, womit er einst die schöne Leda, die Europa, die Danae, die Semele und so manche andere Prinzessinnen oder auch gewöhnliche Nymphen geküßt hatte“ – er fordert also von seinem Gast nichts „Erhabenes und Tiefsinniges“ und lässt sich auf das Sinnliche und Lustige seiner leichtsinnigen Bemerkung ein.78 Über die Übersetzung bzw. den Sprachverweis hinaus können literarische Texte auf eine andere Sprache oder auf Mehrsprachigkeit Bezug nehmen, indem sie mehrsprachige Begegnungen und mehrsprachige Räume schildern. Exemplarisch dafür sind etwa die Hotels im Werk Thomas Manns; so heißt es in Der Tod in Venedig über die Halle des Bäder-Hotels: Gedämpft vermischten sich die Laute der großen Sprachen. […] Man sah die trockene und lange Miene des Amerikaners, die vielgliedrige russische Familie, englische Damen, deutsche Kinder mit französischen Bonnen. Der slawische Bestandteil schien vorzuherrschen. Gleich in der Nähe ward Polnisch gesprochen.79

Aufenthalte im Ausland oder an mehrsprachigen Orten, Reise oder Auswanderung stellen Topoi mehrsprachiger Literatur dar.80 Ein prägnantes Beispiel hierfür ist Kafkas Der Verschollene, dem immer wieder latente Formen von Mehrsprachigkeit eingeschrieben sind, wie etwa das Gespräch des Protagonisten Karl Rossmann mit der Oberköchin des Hotels Occidental zeigt. Zu Beginn findet offenbar ein Sprachwechsel vom Englischen ins Deutsche statt, auch wenn dieser an der Textoberfläche nicht sichtbar wird – es findet sich nur mehr ein Verweis auf die Sprache: ‚Entschuldigen Sie, bitte‘, sagte er, ‚daß ich mich noch gar nicht vorgestellt habe, ich heiße Karl Rossmann.‘ ‚Sie sind ein Deutscher, nicht wahr?‘ ‚Ja‘, sagte Karl, ‚ich bin noch nicht 76 77 78 79

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Heinrich Heine: Die romantische Schule, in: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. v. Manfred Windfuhr. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1973 ff., Bd. 8/1, S. 163; Hvh. d. Vf. Ebd. Ebd. Thomas Mann: „Der Tod in Venedig“, in: Stockholmer Gesamtausgabe der Werke von Thomas Mann. Stockholm: Bermann-Fischer/Frankfurt/M.: Fischer, 1939 ff., Bd. 6, S. 469. Vgl. auch das Badehotel in Alsgaard in Tonio Kröger sowie das Sanatorium Berghof im Zauberberg. Weitere Topoi sind Übersetzen und Dolmetschen, Spracherwerb, sprachliche Ohnmacht, Missverständnisse in der Sprache. So bestimmt Bachtin (etwas paradox) den „Grenzwert des wechselseitigen Mißverstehens von Menschen […], die verschiedene Sprachen sprechen“, als extreme Mehrstimmigkeit bzw. Dialogizität im Roman (Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 242).

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Beschreibungsmodell lange in Amerika.‘ ‚Von wo sind Sie denn?‘ ‚Aus Prag in Böhmen‘, sagte Karl. ‚Sehn Sie einmal an‘, rief die Oberköchin in einem stark englisch betonten Deutsch und hob fast die Arme, ‚dann sind wir ja Landsleute, ich heiße Grete Mitzelbach und bin aus Wien.‘81

Kurz darauf rückt die Mehrsprachigkeit noch stärker in den Vordergrund. Das Gespräch dreht sich nun um Sprachkenntnisse und Spracherwerb und schließlich um die verlassene Muttersprache: ‚Sind nicht Sprachkenntnisse erforderlich?‘ fragte er noch. ‚Sie sprechen Deutsch und ein schönes Englisch, das genügt vollkommen.‘ ‚Englisch habe ich erst in Amerika in zweieinhalb Monaten erlernt‘, sagte Karl, er glaubte, seinen einzigen Vorzug nicht verschweigen zu dürfen. ‚Das spricht schon genügend für Sie‘, sagte die Oberköchin. ‚Wenn ich daran denke, welche Schwierigkeiten mir das Englisch gemacht hat. Das ist allerdings schon seine dreißig Jahre her. Gerade gestern habe ich davon gesprochen. Gestern war nämlich mein fünfzigster Geburtstag.‘ […] ‚Dann wünsche ich Ihnen viel Glück‘, sagte Karl. ‚Das kann man immer brauchen‘, sagte sie, schüttelte Karl die Hand und wurde wieder halb traurig über diese alte Redensart aus der Heimat, die ihr da im Deutschsprechen eingefallen war.82

Grete Mitzelbach, die aus Wien stammt, aber bereits Deutsch mit englischem Akzent spricht, stößt plötzlich auf eine „alte Redensart aus ihrer Heimat“. Ihr „Das kann man immer brauchen“ klingt zwar wie eine Floskel, doch gerade diese verrät, wie dringend der von Rossmann ausgesprochene Glückwunsch nötig ist. Das „Deutschsprechen“ fördert einen vergessenen Ausdruck zutage, den es auf Englisch nicht gibt und der die Erinnerung an die Heimat weckt.83 Indem sie Deutsch spricht, wird also die Oberköchin „halb traurig“ – über ihr halb in Wien, halb in Amerika verortetes Leben. Derartige Sprachreflexionen sind eine häufig auftretende Form latenter Mehrsprachigkeit. Sie erreichen einen Höhepunkt in den (Selbst-)Beobachtungen Nabokovs, der in seiner Autobiographie dem Leser Zugang zu seinem multilingual mind gewährt: Just before falling asleep, I often become aware of a kind of one-sided conversation going on in an adjacent section of my mind, quite independently from the actual trend of my thoughts. It is a neutral, detached, anonymous voice, which I catch saying words of no importance to me whatever – an English or a Russian sentence, not even addressed to me, and so trivial that I hardly dare give examples […].84

Diese belanglosen, trivialen Gedanken ohne Urheber führen in einen dunklen Bereich der Mehrsprachigkeit, in dem sich die Sprachen von ihrem Sprecher nahezu ablösen, ja

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Franz Kafka: Der Verschollene, in: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 2/1, S. 171 f.; Hvh. d. Vf. Ebd., S. 173; Hvh. d. Vf. Die Oberköchin hat offenbar im Laufe ihres Gesprächs mit Rossmann die Gelegenheit gehabt, dessen „schönes Englisch“ zu hören. Außerdem wird bestätigt, dass die beiden Deutsch geredet haben bzw. gerade Deutsch reden. Später heißt es über Rossmann: „er rief über Menschenmauern sein noch immer etwas überspitztes, aus hundert Stimmen leicht herauszuhörendes Englisch hin“ (ebd., S. 195). Zum „Deutschsprechen“ in Simultan vgl. v. a. Kap. 5.4. Nabokov: Speak, Memory, S. 33.

Sprachen

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diesen nicht einmal adressieren: Sie sind seiner mächtig, nicht verfügt er umgekehrt über sie. Nabokovs anonyme, sprachwechselnde Stimme wäre nicht nur im Rahmen eines psychologischen, psycholinguistischen oder psychoanalytischen Diskurses genauer zu belauschen, sondern auch mit der manifesten Mehrsprachigkeit von Speak, Memory in Verbindung zu bringen. Wenn der Autor mit diesem Titel seine Erinnerung – Memory ist aber auch das Gedächtnis – auffordert zu sprechen und zu erzählen, so tut er dies, um den „disintegrating process“ des Vergessens aufzuhalten. Das Vergessene ist jedoch nicht vergessen, sondern latent aufgehoben: in dem Sinne, in dem alte Kartenzeichner die „terra-incognita maps“ als „sleeping beauties“ bezeichneten.85

2.4. Sprachen Sowohl in sprachwechselnden als auch in sprachmischenden literarischen Texten überwiegt fast immer eine Sprache. Es stellt sich die Frage, wie man diese Hauptsprache oder Grundsprache – sowie die andere(n) Sprache(n) – bezeichnen kann und soll. Es gibt auch hierfür keine festgelegten und keine neutralen Begriffe. Spricht man von einer dominierenden oder vorherrschenden Sprache, so bedient man sich einer Metaphorik der Hegemonie, deren übertragene Bedeutung den komplexen Verhältnissen zwischen den Sprachen nicht gerecht wird; dies gilt allerdings auch für die gegensätzliche Metaphorik der Gastlichkeit, bei der die eine Sprache als „host language“86 eine oder mehrere andere aufnimmt. Bei code-switching ist bisweilen von „embedded language“ und „matrix language“ die Rede,87 was sachlich anmutet, solange man nicht nach der Etymologie von „matrix“ fragt, die zu Mutter und Muttersprache zurückführt. Die Bezeichnung ‚Muttersprache‘ stellt ihrerseits keine Alternative dar, insofern dann die anderen Sprachen umgekehrt als Fremdsprachen erschienen. Man müsste dabei stets explizit machen, dass es sich um die Muttersprache bzw. um eine Fremdsprache des Textes handelte. Denn mit Bezug auf die sich im Text artikulierenden Figuren könnten sich Widersprüche ergeben, da Muttersprache und Fremdsprache jeweils nur deiktisch zu bestimmen sind. Außerdem können sich die durch Muttersprache und Fremdsprache bedingten Ein- und Ausschlussmechanismen im Textverlauf verändern.88 Schließlich sagt die Bezeichnung ‚Fremdsprache‘ mit ihren Konnotationen von Fremde, Fremdheit 85 86

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Ebd., S. 136. Zit. n. Scannavini: Per una poetica del bilinguismo, S. 196. Zur Gastlichkeit vgl. Jacques Derrida: De l’hospitalité. Paris: Calmann-Lévy, 1997; zur Gastlichkeit (in) der Sprache im Zusammenhang mit dem Übersetzen vgl. Paul Ricœur: Sur la traduction. Paris: Bayard, 2004, S. 19 f. Vgl. Carol Myers-Scotton: Social Motivations for Code-Switching. Evidence from Africa. Oxford: Oxford University Press, 1993. So verweist Scannavini auf die von Gumperz vorgeschlagene Unterscheidung zwischen „welanguage“ und „they-language“ und merkt dazu an: „la lingua che indica l’identificazione e l’inclusione può oscillare“ (Scannavini: Per una poetica del bilinguismo, S. 63).

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oder Verfremdung in einigen Zusammenhängen schon zu viel aus;89 in diesen Fällen wäre die allgemeinere Bezeichnung ‚andere Sprachen‘ bzw. Anderssprachigkeit vorzuziehen.

2.4.1. Einzelsprachen, Nationalsprachen, Sprachvarietäten Ein Rückblick auf die angeführten Beispiele von manifester Mehrsprachigkeit zeigt, dass Sprachwechsel zwischen zwei oder mehreren Einzelsprachen wie etwa Deutsch, Englisch oder Französisch stattfindet, während bei Sprachmischung eine Mischsprache entsteht. Mischsprachen wie etwa das Französisch-Englische Katharines in Henry V. sind unmittelbar als mehrsprachig zu erkennen.90 Umgekehrt geht man bei Einzelsprachen davon aus, dass sie irgendwie einsprachig seien. In Wirklichkeit fasst man jedoch unter einem Begriff wie Einzelsprache – oder auch Nationalsprache – eine Vielzahl von Sprachen zusammen. Denn so wenig wie es ein „streng ‚einsprachiges‘ Individuum“91 gibt, gibt es eine einsprachige Sprache; vielmehr lassen sich in jeder Sprache Varietäten unterscheiden. Die Linguistik unterscheidet „drei Haupttypen innerer Verschiedenheit“, nämlich die „diatopische“, die „diastratische“ und die „diaphasische“.92 Die Verschiedenheit in der Sprache geht jedoch noch weiter, so dass letztlich zwischen den verschiedenen Diskursen ein und desselben Individuums differenziert werden kann.93 Zur Sprachkompetenz jedes Sprechers gehört die mehr oder weniger ausgeprägte, doch intuitiv stets vorhandene Fähigkeit, Sprachen zu unterscheiden. Diese Differenzierung kann aber nur so funktionieren, dass wir dabei gleichsam „Kristallisierungen“94 von Sprache wahrnehmen, also sprachliche Zusammenhänge, Ähnlichkeiten, Homogenitäten, ja, man könnte sogar sagen: Einsprachigkeit bzw. Einsprachigkeiten. Dies bezeugt gerade die Lektüre mehrsprachiger Literatur. Wenn wir nicht wüssten oder nicht 89

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Die Frage der Fremdheit der Sprache bzw. Fremdsprachigkeit in mehrsprachigen literarischen Texten wird von Haynes diskutiert, der vier mögliche Beziehungen zwischen „foreign“ und „native“ unterscheidet (Haynes: English Literature and Ancient Languages, S. 74–78). Goetsch definiert Fremdsprachen als „die tatsächlich existierenden oder die von Schriftstellern erfundenen Sprachen, die – von der dominanten Sprache des jeweiligen Werkes her gesehen – als fremd erscheinen oder so hingestellt werden. Auf die Fiktion der Fremdheit kommt es deshalb an, weil Schriftsteller die andere Sprache mit Hilfe von Mitteln erzeugen können, die demjenigen völlig geläufig sind, der die dominante Sprache des Werkes, die ‚Eigensprache‘, kennt.“ (Goetsch: „Fremdsprachen in der Literatur“, in: Dialekte und Fremdsprachen in der Literatur, S. 43 f.). Allenfalls ein Text wie Finnegans Wake, der durchgehend in einer Mischsprache vefasst ist, kann in seiner Mehrsprachigkeit wiederum einsprachig wirken. Eugenio Coseriu: Sprachkompetenz. Grundzüge der Theorie des Sprechens. Bearb. u. hrsg. v. Heinrich Weber. Tübingen: Francke, 1988, S. 265. Ebd., S. 141. Vgl. dazu Deleuze/Guattari: Mille plateaux, S. 119 sowie Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 187. Vgl. auch Kap. 6.2.2 und 6.3. Coseriu: Sprachkompetenz, S. 145.

Sprachen

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davon ausgingen, dass es die zwei Einzelsprachen Englisch und Deutsch gibt, könnten wir gar nicht erkennen, dass im Satz „Der Wind treibt den Sand […] unter die sidewalks hinein“ ein Sprachwechsel erfolgt. Dies mag zwar trivial erscheinen; angesichts mancher vorschnellen Entledigung von Einsprachigkeit als einer abstrakten, „heuristische[n] Fiktion der Linguisten“95 gilt es jedoch hervorzuheben, dass diese Fiktion in der alltäglichen Realität wie in der Literatur äußerst wirksam ist und unsere Wahrnehmung wie unser Verständnis von Sprache weitgehend bestimmt. Analog dazu ist die Behauptung, das Konzept des Nationalen habe im globalisierten Zeitalter auch mit Bezug auf die Sprache ausgedient, zumindest zu problematisieren.96 Die vorliegende Studie konzentriert sich auf den Sprachwechsel zwischen Einzelsprachen; dabei werden sprachliche Grenzen überschritten, die besonders deutlich markiert sind und einen implikationsreichen Differenzdiskurs begründen, da Einzelsprachen oft als Nationalsprachen aufgefasst werden. Dieser Grenzfall von Mehrsprachigkeit stellt auch deshalb das primäre Erkenntnisinteresse dar, weil er als besonders sichtbarer Fall von Mehrsprachigkeit gelegentlich in den toten Winkel geraten ist. Die Forschung hat sich nämlich immer wieder vermeintlich subtileren – und subversiveren? – Formen von Mehrsprachigkeit gewidmet, vor allem in der Folge von Bachtins Thesen über die Heteroglossie jeder Sprache und über den polyglotten Roman.97

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Schmitz-Emans: „Literatur und Vielsprachigkeit“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S 15. Michael Holquist stellt fest: „there is ample evidence that […] ‚monolingualism‘ has a fictive quality about it insofar as it lacks a firm basis in what we have learned about language itself.“ (Michael Holquist: „What Is the Ontological Status of Bilingualism?“, in: Bilingual Games, S. 21–34, hier S. 24). Die Fiktion der Einsprachigkeit ließe sich genauer mit Luhmann als eine „Unterstellung, die dann als operative Fiktion sich aufzwingt und zur Realität wird“, beschreiben (Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. 5. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009, S. 367; Hvh. d. Vf.). Vgl. etwa die These: „Zusammen mit dem historisch stark belasteten Konzept wohldefinierter nationaler Identitäten ist im Laufe des 20. Jahrhunderts das der Nationalsprachen und Nationalliteraturen obsolet geworden.“ (Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, S. 27). Von „obsolet“ kann natürlich nicht ernsthaft die Rede sein. Zur Nationalsprache vgl. Kap. 6.2., 6.2.2. und 6.3.; vgl. auch Jürgen Fohrmann: „Grenzpolitik. Über den Ort des Nationalen in der Literatur, den Ort der Literatur im Nationalen“, in: Nationale Literaturen heute – ein Fantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem. Hrsg. v. Corina Caduff u. Reto Sorg. Zürich: Verlag NZZ/München: Fink, 2004, S. 23–33. Für Obendiek sind Bachtins Thesen auf Nationalsprachen übertragbar: „Bachtin hält vor der großen Vielfalt der eigentlichen, nationalen Sprachen an; man möchte aber hinzufügen, daß sie ständig mitgedacht ist. […] Bachtins zentrale Thesen und seine bevorzugten Begriffe sind von der Art, daß es nur eines kleinen Schrittes bedarf, und schon lassen sich seine Aussagen nahtlos auf jenen Extremfall von ,Polyphonie‘ und ,Heteroglossie‘ übertragen, wo im literarischen Text tatsächlich verschiedene Nationalsprachen auftauchen. Man müßte lediglich sein eher metaphorisch gebrauchtes Wort ,Sprachen‘, mit dem er Stimmen innerhalb einer Nationalsprache, die Kontrapunktik verschiedener Sprecher in einer Situation meint, wörtlich nehmen“ (Obendiek: Der lange Schatten, S. 36 f.).

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Beschreibungsmodell

Welche Bedeutung den jeweiligen Sprachen im mehrsprachigen Text zukommt, lässt sich kaum von vornherein und allgemein sagen; dies muss vielmehr die Interpretation zu bestimmen versuchen. Bisweilen wird die Sprache an einen bestimmten topischen bzw. stereotypen Inhalt gekoppelt, wie beispielsweise bei der Darstellung von Nationalcharakteren durch die jeweilige Sprache oder im Falle des Lateinischen als Sprache des Pedanten.98 Gerade das Lateinische wird aber vielfältiger eingesetzt als vielleicht gemeinhin vermutet, wobei auch für diese Sprache gilt: „to know why writers switch to another language […] we need to know something of the political, cultural, social, economic, and religious status of the languages at a particular time.“99 Neben den Einzelsprachen bzw. Nationalsprachen ist im Sinne des Beschreibungsmodells auch auf andere Sprachen hinzuweisen (auf erfundene Sprachen wird gesondert eingegangen). Varietäten wie Dialekte, Idiolekte, Soziolekte bzw. Ethnolekte spielen in der Literatur eine wichtige Rolle. Diese Varietäten zeichnen sich oft durch ihr im Vergleich zur Hochsprache niedrigeres Prestige aus: Languages and varieties of language (accents, dialects, sociolects, codes) have a recognised value on the linguistic market and can be placed on a hierarchical scale according to their distance from the official, legitimate norm.100

Was als vorgeblich high und low auf einer solchen „hierarchical scale“ festgelegt wird, kann jedoch im literarischen Text neu verhandelt werden, indem sich Varietäten als durchaus literaturfähige Sprachen erweisen. Ein anschauliches Beispiel stellt die dialektale Literatur dar; diese ist freilich nicht an sich mehrsprachig, sondern nur in Kombination mit einer anderen Sprache wie etwa der Standardsprache. Wenn nun ein literarischer Text von der Standardsprache in den Dialekt wechselt, überschreitet er eine weniger deutlich markierte Grenze, als wenn er zwischen zwei Nationalsprachen wechselt – in diesem Zusammenhang schreibt Bachtin über die Mehrsprachigkeit in der Renaissance: Wenn das Wechselverhältnis der großen Sprachen das Gefühl für die Zeit konkretisierte, so schärfte die gegenseitige Erhellung der Dialekte innerhalb einer Nationalsprache das Gefühl für den historischen Raum und für lokale Eigenständigkeit.101

Diese Betonung des Lokalen ist für die Verwendung des Dialekts in Werken wie Thomas Manns Buddenbrooks oder Uwe Johnsons Jahrestage – gerade in Abgrenzung von 98

Vgl. dazu u. a. Forster: Dichten in fremden Sprachen, S. 32 f. u. 74. Haynes: English Literature and Ancient Languages, S. 37. Haynes fährt fort: „Latin, for example, may be used to lay a claim to religious orthodoxy, but also to suggest blasphemy or mysticism; it may announce stylistic correctness, but also sterile pedantry; it may reflect chaste censorship, but also excite prurience; it may be the professional language of the doctor, lawyer, or scholar, but also the amateur language of the gentleman. It may intimate, as it may embody, both proper authority and authoritarian fraud.“ (Ebd., S. 37 f.). 100 Hamers/Blanc: Bilinguality and Bilingualism, S. 20 f. Vgl. dazu Pierre Bourdieu: Ce que parler veut dire. L’économie des échanges linguistiques. Paris: Fayard, 1982. 101 Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 515. 99

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Weltsprachen und vom weltweiten Geschehen – ausschlaggebend; dabei ist allerdings auch der zeitliche Aspekt des Plattdeutschen nicht zu übersehen, insofern diese Varietät vor dem Hintergrund der Generationenabfolge als Sprache der Vergangenheit bzw. als Sprache der Kontinuität eingesetzt wird. „Der Stil eines Schriftstellers ist letzten Endes und bei genauerem Hinhorchen die Sublimierung des Dialektes seiner Väter“, schreibt Thomas Mann in Lübeck als geistige Lebensform.102 Während das gesellschaftliche und literarische Prestige von Dialekten keineswegs grundsätzlich niedrig ist, zeigt das Beispiel von Feridun Zaimoglus Kanak Sprak wie sogar Mißtöne vom Rande der Gesellschaft Eingang in den literarischen Diskurs finden.103 Zaimoglu zeichnet dabei ein „hybride[s] Gestammel“ auf, „eine Art Creol oder Rotwelsch“ zwischen Deutsch und Türkisch, bestehend „aus verkauderwelschten Vokabeln und Redewendungen […], die so in keiner der beiden Sprachen vorkommen.“104 Hybridität bedeutet in der Tat, […] aus der Koexistenz mehrerer Sprachen neue Ausdrucksmöglichkeiten zu schaffen, die keine der Sprachen alleine bereit gestellt hätte. Mit dieser poetischen Praxis werden die produktiven Aspekte von Mehrsprachigkeit gekonnt in Szene gesetzt, womit zugleich die Exklusivität und Reinheit einer einzigen Sprache als erstrebenswertes Ziel zurückgewiesen wird.105

Hybridsprachen entstehen oft auf mehrsprachigem Gebiet, so etwa bei den Chicanos an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten. Deren Literatur verwendet eine hybride, weil sprachmischende und sprachwechselnde Sprache; diese entstammt aufgrund der gegebenen kollektiven Mehrsprachigkeit einem sprachlichen, expressiven Bedürfnis.106 Allerdings bemerkt Bachtin zu Recht, dass Sprachen inner102

Thomas Mann: „Lübeck als geistige Lebensform“, in: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 11, S. 376–398, hier S. 390. In dieser Ansprache bestimmt Thomas Mann den Dialekt als Landschaft; der Zusammenhang von Sprache, Mundart und Landschaft wird anhand von Bachmanns Simultan näher zu erläutern sein; vgl. dazu Kap. 5.4. 103 Vgl. Klaus-Michael Bogdal: „Wo geht’s denn hier nach Kanakstan? Deutsch-türkische Schriftsteller auf der Suche nach Identität“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 237–247; Monika SchmitzEmans: „‚Die Wortgewalt des Kanaken‘. Formen und Funktionen literarischer Mehrsprachigkeit“, http://www.iablis.de/iablis_t/2002/schmitz-emans.htm. Es wäre darüber hinaus genau zu untersuchen, wie sich Zaimoglus Sprache seit dem Kanakendebüt weiter entwickelt hat. 104 Feridun Zaimoglu: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. Hamburg: Rotbuch Verlag, 1995, S. 13. 105 Iris Bachmann: „Natürlich Sprache: Jacques Derrida und Leo Spitzer über Muttersprache“, in: Lateinamerika. Orte und Ordnungen des Wissens. Festschrift für Birgit Scharlau. Hrsg. v. Sabine Hofmann u. Monika Wehrheim. Tübingen: Narr, 2004, S. 193–207, hier S. 195. 106 Vgl. dazu Gloria Anzáldua: Borderlands/La Frontera: The New Mestiza. San Francisco: Aunt Lute, 1987; Reinhold Görling: „‚Stubborn chunks in the menudo chowder.‘ Sprachliche Hybridisierung und ‚grotesker Leib‘ am Beispiel der Literatur und Kunst der Chicana/os“, in: Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, S. 273–282. Eine weitere Hybridsprache erwähnt Knauth, nämlich die im Werk Horacio Quirogas vorkommende Mischung aus Spanisch, Portugiesisch und der indigenen Sprache Guaraní (vgl. Knauth: „Multilinguale Literatur“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 284).

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halb von literarischen Texten „zu künstlerischen Bildern von Sprachen geformt“ werden und „keine rohen linguistischen Gegebenheiten“,107 d. h. keine „genaue und vollständige Nachbildung der Empirie der fremden Sprachen“108 darstellen. Eine entsprechende Rücksicht auf sprachliche „Empirie“ wird angesichts erfundener Sprachen hinfällig.

2.4.2. Erfundene Sprachen Unter erfundenen Sprachen sind Verbalsprachen zu verstehen, die es in Wirklichkeit nicht gibt: Sie sind artifiziellen Ursprungs, im Gegensatz zu den natürlich erwachsenen Sprachen. Erfunden sind in der Literatur so viele Sprachen, dass man sie inzwischen in einem Lexikon versammelt hat.109 Bei diesen in literarischen Texten erfundenen Sprachen spielt das Kriterium der Verständlichkeit eine wichtige Rolle. Man kann zwischen Sprachen, die verstanden werden sollen, und solchen, die nur fremd und unverständlich wirken sollen, unterscheiden: Texte in frei erfundenen, dem Leser völlig unverständlichen Sprachen erfüllen in aller Regel die ihnen zugedachten Funktionen, wenn sie wenige Sätze oder Verse umfassen. Länger können hingegen Texte ausfallen, deren Sprache zwar konstruiert, aber noch in einer erkennbaren Beziehung zur Eigensprache des Werkes steht.110

Jeweils nur einen Satz sprechen in Dantes Commedia Pluto („Pape Satàn, pape Satàn aleppe!“111) und der Gigant von Babel Nimrod („Raphèl maí amècche zabì almi“112); immer wieder versucht die Forschung, diese Sätze vollständig zu entziffern und ihnen einen Sinn zu geben. Deutungsversuche gibt es auch dann, wenn die erfundene Sprache offenbar als non-sense113 oder als „gibberish“ intendiert war – so etwa bei Jonathan 107

Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 295. Bachtin entwirft zwar eine allgemeine Sprachtheorie, betont allerdings stets die Literarizität der literarischen Mehrsprachigkeit. ,Bild‘ (russ. obraz) bedeutet in diesem Zusammenhang sowohl ‚Mittel‘ als auch ‚Gegenstand‘ (vgl. ebd., S. 244). 108 Ebd., S. 251. 109 Vgl. Paolo Albani u. Berlinghiero Buonarroti: Aga Magéra difúra. Dizionario delle lingue immaginarie. Bologna: Zanichelli, 1994. 110 Goetsch: „Fremdsprachen in der Literatur“, in: Dialekte und Fremdsprachen in der Literatur, S. 52. Als Beispiel führt Goetsch „Nadsat“ an, die Sprache der Protagonisten von Anthony Burgess’ Roman A Clockwork Orange. 111 Dante: Inf. VII, 1 (zit. n. Dante: La Commedia secondo l’antica vulgata, S. 29). Vgl. dazu kurz Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, S. 50. 112 Dante: Inf. XXXI, 67 (zit. n. Dante: La Commedia secondo l’antica vulgata, S. 126). Vergil erläutert: „questi è Nembrotto per lo cui mal coto / pur un linguaggio nel mondo non s’usa. / Lasciànlo stare e non parliamo a vòto; / ché cosí è a lui ciascun linguaggio / come ’l suo ad altrui, ch’a nullo è noto.“ (Ebd., S. 127). 113 Etwa in der ersten Szene im vierten Akt von Shakespeares All’s Well That Ends Well (The Arden Edition of the Works of William Shakespeare: All’s Well That Ends Well. Hrsg. v. G. K. Hunter. London: Methuen & Co., 1962, S. 99 f.).

Sprachen

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Swift, der A Tale of a Tub den Satz voranstellte: „Basma eacabasa eanaa irraurista, diarba da ceatotaba sobor camelanthi“.114 Bekannt ist Swift jedoch weder für diesen Satz noch für die Privatsprache aus dem Journal to Stella, sondern für Gulliver’s Travels, die nicht zuletzt Reisen in ganz fremde, erfundene Sprachwelten sind.115 In jedem der vier Teile des Werks, am deutlichsten aber in A Voyage to the Country of the Houyhnhnms, wird beschrieben, wie Gulliver die jeweilige Sprache nicht versteht bzw. lernen muss; diese wird oft im Text zitiert, gegebenenfalls übersetzt oder auf andere Weise vermittelt, an sich bleibt sie aber für den Leser weitgehend unverständlich. Wenn im Gegensatz dazu Sprachen aus Elementen vorhandener Sprachen gebildet werden, sind sie dem Verständnis zugänglicher. Man erfindet etwa Wörter, ordnet sie dann aber gemäß der Grammatik einer bestimmten Sprache an: Bei gewissen französischen Dichtern, z. B. bei Jacques Prévert und Henri Michaux, treten Sätze auf, die zwar grammatisch wohlgeformt sind, aber konstruierte Wörter enthalten, die es im Französischen nicht gibt und die darum unverständlich sind. Obwohl man die Wörter nicht versteht, akzeptiert man aber die Texte als gut konstruiertes Französisch.116

Ähnliches ließe sich über einige Gedichte Oskar Pastiors behaupten, der u. a. die Sprache „Krimgotisch“ prägte.117 Während solche Spracherfindungen, gerade in der Lyrik, oft als spielerisches oder avantgardistisches Experiment betrachtet werden, verwendete Friedrich Hölderlin eine andere Art der Privatsprache – in seiner geistigen Umnachtung artikulierte er sich in einer Glossolalie, aus der einzelne Fügungen überliefert sind.118 114

„Swift had a good laugh when William Wotton earnestly tried to decipher the gibberish on the title page of A Tale of a Tub […] identifying it as ‚a Form of Initiation used antiently by the Marcosian Hereticks‘.“ (Ann Cline Kelly: Swift and the English Language. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 1988, S. 110). 115 Zu François Rabelais als Vorläufer Swifts vgl. E. Pons: „Rabelais and Swift, à propos du lilliputien“, in: Mélanges offerts à M. Abel Lefranc. Paris, 1936. Aus Rabelais’ Gargantua et Pantagruel vgl. v. a. das 9. Kapitel im 2. Buch, als Pantagruel Panurge begegnet und dieser ihm in verschiedenen Sprachen antwortet, u. a. in der erfundenen „langaige des Antipodes“ (Rabelais: Œuvres complètes. Hrsg. v. Pierre Jourda. Paris: Éditions Garnier Frères, 1962, Bd. 1, S. 265; vgl. dazu Knauth: „Weltliteratur“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 83); vgl. ferner die Kapitel 55 und 56 im 4. Buch über die aufgetauten und gefrorenen Wörter (Rabelais: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 203–208). Zu Fremdsprachen und erfundenen Sprachen in der Reiseliteratur vgl. u. a. Paul Goetsch: „Linguistic Colonialism and Primitivism: The Discovery of Native Languages and Oral Traditions in Eighteenth-Century Travel Books and Novels“, in: Anglia 106/3 (1988), S. 338–359. Erfundene Länder und erfundene Sprachen finden sich auch mehrfach bei Nabokov; vgl. dazu Kellman: The translingual imagination, S. 63–72; Ronald E. Peterson: „Zemblan: Nabokov’s Phony Scandinavian Language“, in: Vladimir Nabokov Research Newsletter 12 (1984), S. 29–37; John R. Krueger: „Nabokov’s Zemblan: A Constructed Language of Fiction“, in: Linguistics 31 (1967), S. 44–49. 116 Coseriu: Sprachkompetenz, S. 221. 117 Vgl. dazu Schmitz-Emans: „,Die Wortgewalt des Kanaken‘“, o. S. 118 Vgl. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. Hrsg. v. Friedrich Beissner. Stuttgart: Kohlhammer, 1946 ff., Bd. 2/1, S. 340. Schmitz-Emans verweist zudem auf das Wort „Pal-

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Eine neue, eigene, gänzlich unbeschriebene Sprache kann schließlich als radikales Mittel angewendet werden, um eine Schreibkrise zu überwinden. Dies ist etwa der Fall bei Stefan George, der im Jahr 1889 aus verschiedenen romanischen Sprachen die „Lingua romana“ zusammensetzte. Die Schreibkrise war so tiefgreifend, dass der Dichter vorgab, auch deshalb nicht mehr schreiben zu können, weil „ich ganz einfach nicht weiss in welcher sprache ich schreiben soll.“119 So entwarf George „aus klarem romanischem material eine eben so klingende wie leicht verständliche literatur sprache für [s]einen eigenen bedarf“.120 Es scheint sich also nicht um eine esoterische Geheimsprache gehandelt zu haben, etwa wie diejenige, die George bereits als Schüler geprägt haben soll.121 Ein Brief an Arthur Stahl vom 2. Januar 1890 beginnt mit den Zeilen: Amico de meo cor! El tono elegico con que parlas en tu letra de nostra corespondencia longamente interrompida me ha magio commovido que el vituperio fortisimo. Um gottes willen wirst du ausrufen in welcher sprache schreibt denn der mensch hier, die hauptsache ist dass Du die verstehst – vom anderen später.122

Diese Sprache sollte „klingen[d]“ und zugleich verständlich sein. Deutlich erkennbar ist, dass auf sie „das Spanische seinen einfluss gehabt“ hat, wie George selbst rückblickend schreibt.123 Sie erinnert ferner an die romanische Plansprache Interlingua, und sie konnte sich ebensowenig durchsetzen: Die in der „Lingua romana“ verfassten und überlieferten Gedichte sind nur zwei; das Projekt, eine eigene romanische Sprache zu begründen, wird nicht weiter verfolgt. Trotzdem zeigt das Beispiel Georges nicht nur, wie Dichter und Schriftsteller um eine eigene Sprache ringen, sondern auch, dass sie angesichts von vielen vorhandenen Einzelsprachen, zumindest vorübergehend, sprachlos werden können. Bemerkenswert laksch“, das zugleich ja und nein bedeutet haben soll (vgl. Schmitz-Emans: Die Sprache der modernen Dichtung, S. 63). 119 Zit. n. Boehringer: Mein Bild von Stefan George, S. 38. 120 Ebd. 121 Vgl. dazu die Schlussverse des Gedichts Ursprünge: „CO BESOSO PASOJE PTOROS / CO ES ON HAMA PASOJE BOAÑ.“ (George: „Ursprünge“, in: Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 116 f., hier S. 117). Ute Oelmann schreibt im Gedichtkommentar: „Es ist das einzig überlieferte Beispiel jener von George geschaffenen Geheimsprache, in die er den 1. Gesang der Odyssee übersetzte.“ (Ebd., S. 220). Boehringer „hat später bedrückt gestanden, im Besitze eines Heftes gewesen zu sein, das eine Übertragung des ersten Gesangs der Odyssee in die Geheimsprache enthielt. Auf Betreiben der anderen beiden Nachlaßverwalter sei es verbrannt worden, weil man daraus die beiden Schlußzeilen der ,Ursprünge‘ erschließen könne – offenbar in der Annahme, es handle sich um eine Spezifizierung jener Wollust, die dort im Schilfpalaste getrieben worden sei.“ (Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus, S. 31; vgl. dazu Boehringer: Mein Bild von Stefan George, S. 17). Zur Deutung der beiden Verse vgl. Benjamin Bennett: „,Ursprünge‘; The Secret Language of George’s Der Siebente Ring“, in: The Germanic Review 55 (1980), S. 74–81; Armin Schäfer: Die Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2005, S. 72 f. 122 Zit. n. Boehringer: Mein Bild von Stefan George, S. 37. 123 George: Gesamtausgabe, Bd. 3, S. 127.

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ist ferner, wie sich George über den Sprachwechsel äußert, der zum Schreiben in einer anderen Sprache führt; „[n]icht die anregung von gedichten allein“, heißt es, sondern der intensive Gebrauch einer bestimmten Sprache, die nicht Muttersprache ist, „muss als ursprung gelten.“124 Damit wird auf die Erfahrung einer Nähe, einer Vergleichbarkeit, vielleicht gar einer Substitution von Muttersprache und Fremdsprache in der Dichtung – entscheidend sind hier wieder die „klänge“ – angespielt: Das dichten in fremdem sprachstoff · das der laie leicht für spielerische laune nehmen kann · hat aber seine notwendigkeit. In der fremden sprache in der er fühlt sich bewegt und denkt fügen sich dem Dichter die klänge ähnlich wie in der muttersprache.125

Wie sich das Verhältnis von Muttersprache und Fremdsprache bzw. fremder Sprache als Sprachen, in denen ein Individuum jeweils „fühlt sich bewegt und denkt“, gestaltet, wird genauer zu beleuchten sein.

124 125

Ebd. Ebd.

3. Fremdenverkehrssprachen: Elias Canettis Aufzeichnungen Die Stimmen von Marrakesch

3.1. Einführung „Die Laute von Marrakesch“ – diesen Titel wollte Elias Canetti ursprünglich seinen Reiseaufzeichnungen geben. Weil man sich aber darunter „auch ein Zupfinstrument unter Serailfenstern vorstellen“ könnte, entschied er sich schließlich für Die Stimmen von Marrakesch.1 Besonders aufschlussreich ist jedoch der Untertitel Aufzeichnungen nach einer Reise; er stellt die marokkanische Stadt als den Ort eines Reiseaufenthalts und zugleich als den Gegenstand eines Reiseberichts dar, so dass die Stimmen zum einen in Marrakesch, zum anderen in den Aufzeichnungen zu verorten sind.2 Die ‚Echtzeit‘ der Stimmen erscheint also bereits in der Perspektive des Aufzeichnens als einer sekundären Zeit der Erfahrung. Erst nach der Reise kommt die Zeit der Schrift, der Verschriftlichung der Stimmen, die auf diese Weise vergegenwärtigt werden sollen. Inwieweit diese für den Entstehungsprozess kennzeichnende Verbindung temporaler und medialer Aspekte mit der Mehrsprachigkeit der Aufzeichnungen zusammenhängt, wird zu zeigen sein. Das Zusammenspiel zwischen Titel und Untertitel lässt allerdings bereits mutmaßen, welche Art von Mehrsprachigkeit die Stimmen von Marrakesch aufweisen. Die Gattung des Reiseberichts impliziert fast immer eine Überschreitung sprachlicher Grenzen und das Betreten anderssprachiger Räume. Indem diese Anderssprachigkeit mit der Sprache des Reisenden bzw. Schreibenden in Berührung kommt, können sich im Text verschiedene Formen von Mehrsprachigkeit ergeben. Belauscht werden nicht die eigenen, inneren mehrsprachigen Stimmen; es wird vielmehr ein mehrsprachiger sozialer Raum erkundet, der sich mit seiner Vielstimmigkeit dem Reisenden und Aufzeichner geradezu aufzudrängen scheint. Wenn im Folgenden von ,Canetti‘ als dem Aufzeichner oder dem 1 2

Sven Hanuschek: Elias Canetti. Biographie. München/Wien: Hanser, 2005, S. 529. Zur Spannung zwischen Lauten und Stimmen vgl. Kap. 3.5. Für Anne Fuchs deutet der Untertitel darauf hin, dass „der Text nicht als Dokument, sondern als fiktionalisierter Erinnerungsbericht verstanden sein will.“ (Anne Fuchs: „Der touristische Blick: Elias Canetti in Marrakesch. Ansätze zu einer Semiotik des Tourismus“, in: Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Hrsg. v. Anne Fuchs u. Theo Harden. Heidelberg: Winter, 1995, S. 71–86, hier S. 77).

Aufzeichnung, Übersetzung und Mehrsprachigkeit

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Erzähler der Stimmen von Marrakesch die Rede ist, dann ist damit freilich nicht der empirische, ,reale‘ Canetti gemeint, sondern seine „Werk-Persona“,3 die sich im autobiographischen Diskurs wie im autoreflexiven Diskurs der Aufzeichnungen konstituiert und stilisiert.

3.2. In Marrakesch – nach Marrakesch: Aufzeichnung, Übersetzung und Mehrsprachigkeit Die Stimmen von Marrakesch sind vor allem die Stimmen von Fremden, von zufälligen Begegnungen; es sind aber auch die Klänge und Geräusche der Stadt. Nach Canettis Rückkehr nach London erklingen sie wieder, indem Marrakesch als sozialer Raum vielfältiger Stimmen in einem Erinnerungsraum wieder hervorgerufen wird. Dieser Erinnerungsraum ist weder der Ort, an dem erinnert wird – der Schreibort nach der Rückkehr: London –, noch der Ort, der erinnert wird, nämlich Marrakesch. Vielmehr entsteht ein hybrider Raum, in dem die Erfahrungen der Reise fortwirken und in dem Gegenwart und Vergangenheit, Hören und Schreiben, Stimme und Stille aufeinandertreffen. So prägt Canetti die Formel „London nach Marrakesch“ und deutet damit auf die in Folge der Reise veränderte Wahrnehmung der englischen Stadt hin.4 Er bemerkt zudem, wie Marrakesch in seiner Erinnerung, trotz zeitlicher und räumlicher Distanz, nicht verblasst – im Gegenteil: Es hat sich auch hier, seit ich zurück bin, nichts verwischt. Es nimmt alles an Leuchtkraft noch zu. Ich glaube, durch eine einfache Darstellung des Geschehenen, ohne jede Veränderung, Erfindung, Übertreibung, kann ich etwas wie eine neue Stadt in mir erbauen, in der das stockende Buch über die Masse wieder gedeihen wird. Es ist mir nicht um das Unmittelbare zu tun, das ich jetzt niederzuschreiben gedenke, sondern nur um eine neue Grundlegung: einen anderen, unerschöpften Raum, in dem ich sein darf; einen neuen Atem, ein ungenanntes Gesetz.5

Das Geschehene soll unverändert in die Aufzeichnungen eingehen; es ist wichtig, dass es nicht durch Erfindungen seine ursprüngliche Gestalt verliert. Die Unterscheidung zwischen „Erinnerung“ und „Einfälle“,6 also zwischen ,erlebt‘ und ,erfunden‘, ist für 3

4 5 6

Rüdiger Zymner: „Canettis Beitrag zur jüdischen Literatur in deutscher Sprache“, in: Identität und Gedächtnis in der jüdischen Literatur nach 1945. Hrsg. v. Dieter Lamping. Berlin: Erich Schmidt, 2003, S. 46–61, hier S. 50. Zymner definiert „Werk-Persona“ als „die Instanz, die wir als das sprechende bzw. schreibende Subjekt der Canettischen Schriften erkennen können und die sich zumal in den autobiographischen Schriften als ,Elias Canetti‘ zu erkennen gibt bzw. sich sogar so nennt“ (ebd.). Vgl. dazu Kap. 3.4. Anders als in den Stimmen von Marrakesch verwendet Canetti allerdings im Aufzeichnungswerk häufig die dritte Person, also ,er‘ statt ,ich‘. Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 197. Ebd., S. 198. Diese Unterscheidung trifft Canetti in einer Aufzeichnung aus Die Fliegenpein (Elias Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 5. München/Wien: Hanser, 2004, S. 80). Vgl. ferner folgende Stelle aus

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Die Stimmen von Marrakesch

Canetti von grundlegender Bedeutung, und Die Stimmen von Marrakesch sind dem Erlebten und dessen Erinnerung verpflichtet, wie in dem vom Autor verfassten Klappentext zur Erstausgabe zu lesen ist: Es handelt sich bei mir in solchen Niederschriften nicht darum, neue Figuren zu erfinden wie in einem Roman, wo die ‚Wirklichkeit‘ nur als Vorwand zu Gebilden ganz anderer Art dient, wo es um eine neue, ihren eigenen Gesetzen gehorchende Welt geht. Die Aufzeichnungen halten sich ans Erlebte, sie suchen es nicht zu verändern und bestehen auf seinem besonderen Sinn. Darum ist es auch richtig, sie in ihrer ursprünglichen Form zu belassen, und man bricht die Niederschrift dort ab, wo ihre Verlockung zu einem neuen Werk dringlich zu werden scheint.7

Unmittelbar nach der Marokko-Reise, also während der Niederschrift der Stimmen von Marrakesch, bekennt sich Canetti zu einer anderen Art des Schreibens und Erzählens, mit der er sich vorläufig von der Erfindung abwendet: „Für den Liebhaber der Erfindung ist es wunderbar, plötzlich ganz schlicht und erinnerungstreu zu werden und sich jede Erfindung zu versagen.“8 Wie aber sieht Erinnerungstreue aus, wenn Erinnerungen in und aus anderen Sprachen dargestellt werden? Diese Frage hat sich auch Canetti gestellt: „In einer anderen Sprache würde man sich anders erinnern. Das wäre genauer zu untersuchen, und bist du nicht eben der Richtige, es zu tun?“9 Offenbar sieht sich Canetti von der Möglichkeit einer anderssprachigen Erinnerungsarbeit betroffen; seine

7

8 9

Die Fackel im Ohr, an der Canetti behauptet, als Erinnerung könne nur das in die Literatur eingehen, was noch „seine erkennbare Gestalt behalten hat und nicht ganz in die geheimen Irrgänge verschwand, aus denen ich es erst herausgraben und neu bekleiden müsste.“ (Elias Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 8. München/Wien: Hanser, 1993, S. 288). In diesem Sinne fährt er fort: „Ich bin im Gegensatz zu vielen, besonders solchen, die einer redseligen Psychologie erlegen sind, nicht der Überzeugung, daß man die Erinnerung drangsalieren, kujonieren und erpressen oder der Wirkung wohlberechneter Lockmittel aussetzen soll, ich verneige mich vor der Erinnerung, vor jedes Menschen Erinnerung. Ich will sie so intakt belassen, wie sie dem Menschen, der für seine Freiheit besteht, zugehört, und verhehle nicht meinen Abscheu vor denen, die sich herausnehmen, sie chirurgischen Eingriffen so lange auszusetzen, bis sie der Erinnerung aller übrigen gleicht. Mögen sie an Nasen, Lippen, Ohren, Haut und Haaren herumoperieren, soviel sie wollen, mögen sie ihnen, wenn es denn sein muß, andersfarbige Augen einsetzen, auch fremde Herzen, die ein Jährchen länger schlagen, mögen sie alles betasten, stutzen, glätten, gleichen, aber die Erinnerung sie sollen lassen stân.“ (Ebd., S. 288 f.). Elias Canetti: Die Stimmen von Marrakesch. Aufzeichnungen nach einer Reise. München: Hanser, 1967 [Klappentext]. Zu Wirklichkeit und Erinnerung vgl. wiederum Die Fackel im Ohr, in der es heißt: „Wirklich wird erst das Erkannte, das man zuvor erlebt hat. Ohne daß man es nennen könnte, ruht es erst in einem, dann steht es plötzlich da als Bild, und was anderen geschieht, erschafft sich in einem selbst als Erinnerung: jetzt ist es wirklich.“ (Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 114). Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 198. So das eindringliche Schlusswort einiger Überlegungen zur Erinnerung in Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 5, S. 81. Über autobiographische Erinnerung und Mehrsprachigkeit behauptet Derrida: „le je de l’anamnèse dite autobiographique, le je-me du je me rappelle se produit et se profère différemment selon les langues.“ (Derrida: Le monolinguisme de l’autre, S. 54). Zur Erinnerung und Selbstnarration in anderen Sprachen vgl. Kap. 5.4., 5.5.2. und 5.9.

Aufzeichnung, Übersetzung und Mehrsprachigkeit

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Autobiographien können als literarische Versuche betrachtet werden, dies „genauer zu untersuchen“. Von welchen Sprachen die Marokkanische[n] Erinnerungen10 getragen werden und wie diese Sprachen in die Aufzeichnungen eingehen, wird nun dargelegt, indem zunächst der Zusammenhang zwischen Sprache der Aufzeichnung und Sprache des aufgezeichneten (erinnerten) Erlebnisses rekonstruiert wird. Dabei stößt man bald an die Grenze zwischen Übersetzbarkeit und Unübersetzbarkeit; und hier ist bereits Mehrsprachigkeit am Werk. Die von Canetti angestrebte unmittelbare Nähe zum Erlebten ist stets in Bezug zur Nachträglichkeit der Aufzeichnungen zu setzen. Denn aufgezeichnet wird nicht in Marrakesch, sondern nach Marrakesch. Hinzu kommt die zeitverzögerte Veröffentlichung – die 1954 enstandenen Aufzeichnungen werden erst 1967 publiziert –, die als zweite Nachträglichkeit erneut eine Trennung des Belanglosen vom Sinnträchtigen (in) der Erinnerung ermöglicht. Ohne sich ausdrücklich auf Die Stimmen von Marrakesch zu beziehen, hält Canetti im Dialog mit dem grausamen Partner allgemein fest: Es ist mir noch nie gelungen, während einer Reise in ein neues Land ein Tagebuch zu führen. Von der Zahl unbekannter Menschen, mit denen man, ohne sich zu verstehen, spricht, sei es in Zeichen, sei es in vermeintlichen Worten, bin ich so sehr erfüllt, daß ich den Bleistift gar nicht in die Hand nehmen könnte. Die Sprache, sonst ein Instrument, das man zu handhaben glaubt, wird plötzlich wieder wild und gefährlich. Man überläßt sich ihrer Verführung und wird nun von ihr gehandhabt. Unglaube, Vetrauen, Zweideutigkeit, Prahlerei, Kraft, Drohung, Zurückweisung, Ärgernis, Betrug, Zartheit, Gastlichkeit, Staunen, alles ist da, und so unmittelbar, als hätte man es früher noch nie bemerkt. Darüber ein geschriebenes Wort liegt auf dem Papier wie seine eigene Leiche. Ich hüte mich, mitten unter solchen Herrlichkeiten, zum Totschläger zu werden. Aber kaum bin ich wieder zu Hause, hole ich jeden Tag nach. Aus der Erinnerung, manchmal mit Mühe, teile ich den Tagen das ihre zu. Es hat Reisen gegeben, deren nachträgliches Tagebuch dreimal soviel Zeit in Anspruch nahm wie sie selber.11

Dieses Zitat ist für das Verständnis der Stimmen von Marrakesch von zentraler Bedeutung, wie die folgenden Kapitel zeigen werden. Im Klappentext zur Erstausgabe heißt es analog dazu, die Wochen in Marrakesch seien einer der wenigen Zeiträume gewesen, in dem der Autor wegen der Dichte und Intensität der Erlebnisse im neuen Land seine täglichen Aufzeichnungen habe unterbrechen müssen: Es stürzt zu viel auf einmal über einen her, die Bestimmtheit und Kraft der neuen Eindrücke macht ihre schriftliche Fixierung unmöglich. […] Kaum ist man wieder zu Hause, in der vert[r]auten alten Umgebung, findet das Neue zu seinem Sinn, es beginnt der zweite, vielleicht interessantere Teil der Reise. In einer raschen, durch nichts unterbrochenen Niederschrift befreit man sich von seiner schweren Betäubung.12

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Canettis erste Sprechplatte aus dem Jahr 1967 trägt bezeichnenderweise noch diesen Titel. Canetti: „Dialog mit dem grausamen Partner“, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 151 f. Dieser Text stammt aus dem Jahr 1965, also nach der Marrakescher Reise, aber noch vor der Publikation der Stimmen von Marrakesch; darin legt Canetti u. a. den Unterschied zwischen Aufzeichnungen, Merkbüchern und Tagebüchern dar. Canetti: [Klappentext].

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Die Stimmen von Marrakesch

Der „vielleicht interessantere Teil der Reise“ ist die ‚Schreibreise‘. Sie verläuft aber nicht immer ungestört und „durch nichts unterbroche[n]“; wie Canetti selbst gesteht, treten bei der Wiedergabe des Geschehenen immer wieder Schwierigkeiten auf. Die Stadt entzieht sich dem nachträglichen Zugriff des Aufzeichners. Dieser trifft nach seiner Heimkehr auf Worte, die aus der Ferne, außerhalb von Marrakesch, nicht mehr jene besondere Bedeutung entfalten können, die sie durch die Reise erhalten haben: Seit meiner Reise sind manche Worte mit so viel neuer Bedeutung geladen, daß ich sie nicht aussprechen kann, ohne die größten Störungen in mir hervorzurufen. Ich sage zu jemand etwas über ‚Bettler‘ und kann am nächsten Tag keine Silbe mehr über Bettler schreiben. Ich lese in einem fremden Buch den Namen ‚Marrakesch‘ und die Stadt verhüllt sich und will mir nicht mehr erscheinen. Es ist mir unangenehm, über ‚Juden‘ zu sprechen, weil sie dort so eigentümlich waren. In allem, was ich sah, ist eine Energie, die sich sparen will, um sich dann auf eine einzig mögliche und bestimmte Weise zu entladen.13

Diese neue Kraft der Bedeutung, die „manche Worte“ erhalten haben, begründet keine gesteigerte Produktivität, vielmehr scheint sie das Schreiben zu verhindern, wie schon vor Ort jene „schwer[e] Betäubung“. Die Worte entfernen und entfremden ihren Sprecher von dem, was sie benennen. Die Undarstellbarkeit des Erlebten ergibt sich jedoch nicht nur daraus, dass das Erlebte an bestimmte Worte gebunden, sondern umgekehrt auch daraus, dass es von der Sprache gleichsam getrennt ist. Die Aufzeichnung Die Rufe der Blinden beginnt mit den selbstreflexiven Zeilen: Ich versuche, etwas zu berichten, und sobald ich verstumme, merke ich, daß ich noch gar nichts gesagt habe. Eine wunderbar leuchtende, schwerflüssige Substanz bleibt in mir zurück und spottet der Worte. Ist es die Sprache, die ich dort nicht verstand, und die sich nun allmählich in mir übersetzen muß? Da waren Ereignisse, Bilder, Laute, deren Sinn erst in einem entsteht; die durch Worte weder aufgenommen noch beschnitten wurden; die jenseits von Worten, tiefer und mehrdeutiger sind als diese.14

Die Worte sind unzulänglich, und mit ihnen verstummt der Schreiber. Indem er mit den Gegenüberstellungen „dort“/„nun allmählich“ und „da“/„erst“ die räumliche und zeitliche Distanz zwischen Marrakesch und London explizit macht,15 führt Canetti in Frageform den Gedanken ein, dass in ihm selbst eine Übersetzung aus einer unverständlichen Sprache stattfinde müsse. Diese unverständliche Sprache ist das Arabische.16 Als Übersetzung wird auch der zeitverzögert und „jenseits von Worten“ erfolgende Erkenntnisprozess bezeichnet, bei dem das Erlebte in Sinn überführt wird. Darüber hinaus findet aber auch eine interlinguale Übersetzung statt, und sie ist für die Mehrsprachigkeit der Aufzeichnungen konstitutiv. In den Stimmen von Marrakesch redet niemand Deutsch, auch der Erzähler nicht, dessen Sprachen auf der Reise Französisch und Englisch sind. Die deutsche Sprache 13 14 15 16

Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 199. Elias Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 21. Insgesamt sind in den Stimmen von Marrakesch nur wenige solche Hinweise zu finden. Zum Arabischen und dessen Unverständlichkeit vgl. Kap. 3.5.

Aufzeichnung, Übersetzung und Mehrsprachigkeit

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wird erst beim Aufzeichnen verwendet; sie ist für das erzählte bzw. erlebende Ich nicht vorhanden, wird aber dann vom erzählenden Ich als Sprache der Aufzeichnungen gewählt.17 Der Aufzeichnungsvorgang geht also einher mit einer Übersetzung aus den verschiedenen Sprachen, die in Marrakesch zu hören waren, ins Deutsche. Zugleich vollzieht sich eine mediale Übertragung der Marrakescher Stimmen: von deren Nachklang in der Erinnerung in eine schriftlich inszenierte Mündlichkeit.18 Insofern aber die Übersetzung ins Deutsche nicht lückenlos erfolgt, ist der Aufzeichnungstext manifest mehrsprachig. An der Oberfläche der deutschen Stimmen von Marrakesch tauchen bisweilen andere Sprachen auf, vor allem Französisch. Diesen Sprachwechsel veranschaulicht bereits ein einfacher Satz wie: „Er sagte sehr wohlerzogen: ‚Oui, Monsieur.‘“19 Auf unmittelbare Weise führt hier der Sprachwechsel eine Differenz ein bzw. vor, nämlich diejenige zwischen einem deutschen und einem anderssprachigen, einem übersetzten und einem unübersetzten Text. Gleichzeitig wird aber durch den Sprachwechsel eine andere Differenz gleichsam aufgehoben: diejenige zwischen ‚in Marrakesch‘ und ‚nach Marrakesch‘. Zwischen diesen beiden zeitlich wie räumlich differenten Dimensionen des Erlebten bleibt nämlich eine sprachliche Identität aufrechterhalten. Dabei können die Marrakesch-Sprache und die Sprache der Aufzeichnung – ebenfalls eine Form manifester Mehrsprachigkeit prägend – in einer ‚Sofortübersetzung‘ auch hintereinandergeschaltet werden: „Entrez! Treten Sie ein!“20 Außerdem finden sich in den Stimmen von Marrakesch immer wieder latente Formen von Mehrsprachigkeit. Obwohl bei der schriftlichen Fixierung der Stimmen die in Marrakesch verwendeten Sprachen durch die deutsche Übersetzung weitgehend verdeckt werden, sind sie als Spuren im Text weiterhin aufzuspüren. Denn eine Übersetzung, die als solche erkennbar wird, kann als mehrsprachig gelten, da in ihr eine andere – eigentlich abwesende – Sprache anwesend wird.21 In den Stimmen von Marrakesch gibt es 17

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Auf die Frage, ob er auch auf Englisch schreibe, antwortet Canetti: „Nein, ich habe immer nur deutsch geschrieben und werde es nie anders halten“ (Canetti: „Gespräch mit Horst Bienek“, in: Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 173). Sein Verhältnis zur deutschen Sprache hat der Autor aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert; vgl. etwa das Erlernen der deutschen Sprache von der Mutter im Kapitel Deutsch am Genfersee aus Die gerettete Zunge (Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 84–95, bes. S. 86–89) und den Gebrauch der deutschen Sprache im Exil und angesichts der deutschen Geschichte (Canetti „Wortanfälle“, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 254–258, sowie Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 76 u. 90 f.). Darüber hinaus stellt auch das Vorlesen eine besondere Inszenierung von Mündlichkeit dar; vgl. Elias Canetti liest „Die Stimmen von Marrakesch“. München: HörVerlag, 2005. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 34. Ebd., S. 48. Vgl. analog dazu: „‚C’est un pauvre‘, sagte er, ‚ein Armer.‘“ (Ebd., S. 59). Die ,Sofortübersetzung‘ entstammt nicht der Figur, sondern dem Erzähler, der hier innerhalb der direkten Rede der Figur spricht; zu diesem Phänomen vgl. Kap. 3.4. sowie Kap. 4.3.5. und 4.4. Diese abwesende Anwesenheit kennzeichnet für Wolfgang Iser die Dynamik der Vergegenwärtigung im literarisch Fiktiven: „Jedes Wort wird dialogisch, jedes semantische Feld ist durch ein anderes gedoppelt. Diese ‚Zweistimmigkeit‘ bringt in allem Gesagten immer auch ein Anderes mit zur Geltung, so daß sich der Akt der Kombination zu einem Spiel entfaltet, in welchem Anwesen-

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Die Stimmen von Marrakesch

vor allem implizit ausgeführte Übersetzungen; diese erfolgen etwa dann, wenn auf die übersetzte Sprache verwiesen wird: „Ich entgegnete auf französisch: ‚Ist das eine Schule hier?‘“22 Wenn hingegen ein solcher Verweis fehlt, kann man nur aus dem jeweiligen Kontext erschließen, ob bestimmte auf Deutsch wiedergegebene Worte oder Äußerungen als Übersetzungen aus einer anderen Sprache zu lesen sind oder nicht. So ist beispielsweise davon auszugehen, dass der Erzähler und sein englischer Freund in Marrakesch miteinander Englisch reden;23 ihre Gespräche werden jedoch stets auf Deutsch wiedergegeben. Um diesen impliziten Übersetzungsvorgang auszustellen, werden im folgenden Satz zwei Sprachverweise kursiv ergänzt: „‚Das ist meine Tante, wirklich‘, sagte mein englischer Freund [auf Englisch], den ich [auf Englisch] taktvoll auf die Ähnlichkeit [der Kamele] mit seinen Landsleuten aufmerksam machte“.24 Man kann also Übersetzungen auch dort entdecken, wo ein entsprechender Verweis fehlt. Auch solche gleichsam unterschlagenen Übersetzungen gehören aber zur Mehrsprachigkeit von Canettis Text. Diese zeichnet sich in der Tat dadurch aus, dass auf engem Raum verschiedene, latente und manifeste Formen von Mehrsprachigkeit zu finden sind, die sich gegenseitig aus- und ablösen und miteinander vernetzen: Er blieb vor mir stehen, blickte mich ernst und prüfend an und fragte mich auf arabisch nach meinem Begehr. Ich entgegnete auf französisch: ‚Ist das eine Schule hier?‘ Er verstand mich nicht, zögerte etwas, sagte ‚Attendez!‘ und wandte sich von mir ab. Es war nicht das einzige Wort Französisch, das er sprach, denn als er mit einem jüngeren Menschen wiederkehrte, der auf französische Art herausgeputzt war, in einem besten europäischen Anzug und so als ob es ein Festtag wäre, sagte er noch ‚mon frère‘ und ‚parle français‘.25

An dieser Stelle zeigt sich mehrfach eine für Die Stimmen von Marrakesch typische, latente Form von Mehrsprachigkeit. Es handelt sich um jene Sprachverweise, die im Beschreibungsmodell bereits erläutert worden sind und die anhand von Canettis Aufzeichnungen im Hinblick auf Verfahren der Redewiedergabe näher zu betrachten sind.

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des immer durch Abwesendes gedoppelt ist, und das geschieht oftmals bis zur Umverteilung der Gewichte, indem das Anwesende ganz in den Dienst des Abwesenden tritt; das Gesagte hört auf, sich zu meinen, um Ungesagtes gegenwärtig machen zu können.“ (Wolfgang Iser: „Die Doppelungsstruktur des literarisch Fiktiven“, in: Funktionen des Fiktiven. Poetik und Hermeneutik, Bd. X. Hrsg. v. Dieter Henrich u. Wolfgang Iser. München: Fink, 1983, S. 496–510, hier S. 501). Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 48. Vgl. ebd., S. 9, 11 u. S. 29 f. Zum Zeitpunkt seiner Reise nach Marrakesch war Englisch die Sprache, in der Canetti „seit fünfzehn Jahren […] lebte“ (ebd., S. 75). Ebd., S. 11. Das nachgestellte „wirklich“ könnte ein Echo des hier vermutlich übersetzten englischen Satzes sein: ‚That is my aunt, indeed‘. Ebd., S. 47 f.

Auf Arabisch, auf Französisch, auf Deutsch

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3.3. Auf Arabisch, auf Französisch, auf Deutsch Auffällig oft gibt der Erzähler die Sprache an, die in Marrakesch in einer bestimmten Gesprächssituation verwendet wird. Durch das ausdrückliche Erwähnen der Sprache wird innerhalb des deutschen Textes immer wieder ein mehrsprachiger Rahmen eröffnet. Dabei beziehen sich die Sprachverweise stets auf die Rede einer bestimmten Figur;26 sie wirken, insofern sie der Redewiedergabe vorgeschaltet sind, gleichsam als Sprachankündigungen: „Er […] fragte mich auf arabisch nach meinem Begehr. Ich entgegnete auf französisch: ‚Ist das eine Schule hier?‘“27 Sowohl das Arabische als auch das Französische werden hier angekündigt, aber nicht geschrieben bzw. gesprochen, was im Fall der direkten Rede besonders deutlich wird. Nach dem Verweis „auf französisch“ erwartet man, dass der Text ins Französische wechselt, gerade weil der Erzähler seine Frage in direkter Rede, also wörtlich, wiedergibt. Stattdessen heißt es aber auf Deutsch: „‚Ist das eine Schule hier?‘“ Beide Sprachen, die deutsche und die französische, nehmen die Äußerung für sich in Anspruch, so dass die Rede ambivalent wird: Es gibt einerseits eine übersetzende, gleichsam überschreibende Rede, die sich an der Textoberfläche durchsetzt, und andererseits eine übersetzte Rede, die durch den Sprachverweis evoziert und so auf latente Weise präsent ist. Der tatsächlich vollzogene Sprachwechsel in der Figurenrede – als manifeste Mehrsprachigkeit – und der ledigliche Sprachverweis – als latente Mehrsprachigkeit – ließen sich mit den zwei Möglichkeiten vergleichen, die nach Deleuze der Schriftsteller hat, um „Intonationen“ wiederzugeben; nämlich einerseits „es machen (so ließ etwa Balzac den Vater Grandet tatsächlich stottern, wenn er ein Geschäft verhandelte, oder er ließ Nucingen einen entstellenden Dialekt sprechen; und immer spürt man dabei Balzacs eigenes Vergnügen)“ und andererseits „es sagen, ohne es zu tun, sich mit einer bloßen Angabe begnügen, deren Verwirklichung man dann dem Belieben des Lesers überlässt“.28 Bei mittelbarer Redewiedergabe (also bei indirekter, erlebter oder erzählter Rede) fallen der Sprachverweis und die davon abweichende realisierte Sprache weniger offensichtlich auseinander, weil dabei keine Wörtlichkeit erzeugt wird. Stattdessen geht der 26 27

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Zur Figurenrede als Trägerin der Mehrsprachigkeit vgl. Kap. 3.1., 3.4. und 3.5. sowie Kap. 4. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 47 f. Die meisten Sprachankündigungen weisen die folgende syntaktische Struktur auf: verbum dicendi/Ankündigung/Redewiedergabe. Allgemein können Sprachverweise nicht nur die von ihnen unmittelbar betroffene Stelle, sondern implizit auch den weiteren Textverlauf als Übersetzung markieren (vgl. z. B. ebd., S. 11–13). Deleuze: Kritik und Klinik, S. 145. Deleuzes Unterscheidung entspricht der Unterscheidung zwischen „to use“ und „to mention“, die für die Pragmatik des Zitats von zentraler Bedeutung ist (vgl. Andreas Böhn: Das Formzitat. Bestimmung einer Textstrategie zwischen Intertextualitätsforschung und Gattungstheorie. Berlin: Erich Schmidt, 2001, S. 21). Zum Sprachwechsel in der Figurenrede als Lust und Fertigkeit des Schriftstellers vgl. Kap. 4.3.2.

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Die Stimmen von Marrakesch

genaue Wortlaut in die Rede des Erzählers ein bzw. in ihr unter: „[er] fragte mich auf arabisch nach meinem Begehr“.29 Das Arabische kommt in den Stimmen von Marrakesch nur in solchen mittelbaren Formen der Redewiedergabe vor, da der Erzähler es weder schreiben noch sprechen kann. Offenbar gelingt es ihm manchmal, die Bedeutung bestimmter arabischer Sätze aus dem Zusammenhang zu erschließen: „Élie erklärte auf arabisch, dass ich aus London sei. […] Er fragte den Sohn auf arabisch nach meiner Herkunft und meinem Namen.“30 Doch in den meisten Fällen kann der Erzähler das Arabische zwar als Sprache identifizieren, aber nicht verstehen; ohne Dolmetscher entfällt die Möglichkeit einer Wiedergabe arabischer Rede auf Deutsch. Er kann lediglich feststellen, dass um ihn herum Arabisch gesprochen wird, ohne den Lauten eine Bedeutung entnehmen zu können.31 So heißt es beispielsweise: „Dann sprach er zum Marabu auf arabisch“;32 er „rief ihnen auf arabisch etwas zu“;33 „er sagte einen arabischen Satz“.34 Die Sprachverweise werden in den Stimmen von Marrakesch immer wieder hinsichtlich der jeweiligen Kompetenz des Sprechers präzisiert. In einer der wenigen (latent) englischen Konversationen in Marrakesch scheint der Erzähler überrascht zu sein, einen Briten zu treffen, der nicht aus Großbritannien stammt und trotzdem gutes Englisch spricht: Ein Herr mit einem europäischen Straßenhut auf dem Kopf, den ich für einen Käufer gehalten hatte, trat zwei Schritte auf mich zu und sagte auf englisch: ‚Ich bin britisch.‘ Er war ein Jude aus Gibraltar und sprach sein Englisch gar nicht schlecht. Er erkundigte sich nach meinen Geschäften […].35

Eine geringe Sprachkompetenz kann umgekehrt den kommunikativen Austausch einschränken. Als der Erzähler und sein Freund mit einem jungen Kameltreiber ins Gespräch kommen, führt dieser sie zu einem älteren Mann mit besseren Kenntnissen des Französischen: Wir versuchten, von unserem jungen Treiber […] einiges über die Karawane zu erfahren. Aber er beherrschte nur wenige Worte Französisch: Sie kämen von Gulimin und seien seit fünfundzwanzig Tagen unterwegs. Das war alles, was wir verstanden. Gulimin war weit im 29

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Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 48. Analog dazu: „Er sprach wirklich Französisch und fragte mich, was ich wünsche“ (ebd.) und „ich fragte ihn auf Französisch, ob er lesen könne“ (ebd., S. 34). Ebd., S. 63. Zum Nicht-Verstehen des Arabischen als wichtige Erfahrung der Sprache in Marrakesch vgl. Kap. 3.5. Darin wird gezeigt, wie die Unkenntnis der Sprache nicht notwendigerweise einen Ausschluss aus dem Kommunikations- bzw. Signifikationsprozess bedeutet, sondern vielmehr andere Sprachzugänge möglich macht, etwa über die Wahrnehmung von Intonation und Klang. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 27. Ebd., S. 44. Ebd., S. 64. Ebd., S. 63. Hier zeigt sich erneut die ambivalente Struktur von Sprachankündigung und direkter Rede (er „sagte auf englisch: ‚Ich bin britisch.‘“).

Auf Arabisch, auf Französisch, auf Deutsch

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Süden unten, in der Wüste, und wir fragten uns, ob die Kamel-Karawane den Atlas überquert habe. Wir hätten auch gern gewußt, was ihr weiteres Ziel sei, denn hier unter den Mauern der Stadt konnte die Wanderung nicht gut zu Ende sein und die Tiere schienen sich für kommende Strapazen zu stärken. Der dunkelblaue Bursche, der uns nicht mehr sagen konnte, gab sich Mühe, uns gefällig zu sein und führte uns zu einem schlanken, großgewachsenen alten Mann, der einen weißen Turban trug und mit Respekt behandelt wurde. Er sprach gut Französisch und entgegnete fließend auf unsere Fragen. Die Karawane kam von Gulimin und war wirklich seit fünfundzwanzig Tagen unterwegs.36

Der alte Mann setzt sich durch seine Französischkenntnisse von den anderen beiden Gesprächspartnern des Erzählers auf dem Kamelmarkt ab. Auf die Frage nach seiner Herkunft antwortet er mit Stolz: „von Marrakesch“.37 Als Städter ist er des Französischen mächtig und behauptet aus seiner sozial höheren Stellung heraus (er ist Kamelhändler) über den jungen nomadischen Treiber: „,Der weiß nichts.‘“38 Auf dem Kamelmarkt meldet sich noch ein dritter Mann zu Wort, der den Erzähler und seinen englischen Begleiter zweimal anspricht und dessen Anrede jedes Mal durch die gleiche Formel eingeleitet wird: Ein Mann, den wir nicht bemerkt hatten, trat hinter die Kinder, die unseren Wagen umstanden, schob sie beiseite und erklärte uns in gebrochenem Französisch: ‚Das Kamel hat die Tollwut. Es ist gefährlich. Man führt es ins Schlachthaus. Man muß sehr achtgeben.‘ […] Die Leute gaben sich alle erdenkliche Mühe, es [das Kamel] zu bändigen, und sie waren noch damit beschäftigt, als jemand an uns herantrat und in gebrochenem Französisch sagte: ‚Es riecht. Es riecht den Schlächter. Es ist zum Schlachten verkauft worden. Es kommt jetzt ins Schlachthaus.‘39

Die auf die Sprachankündigung folgende direkte Rede weist hier eine Besonderheit auf. Die angekündigte Sprache (gebrochenes Französisch) ist noch in der deutschen Übersetzung wahrnehmbar, insofern sich diese durch kurze und einfache, asyndetisch angeordnete, wenn auch grammatisch korrekte Sätze auszeichnet. Man könnte dabei von einer verfremdenden Übersetzung sprechen. Das Deutsche ersetzt das Französische und macht es zugleich nach; indem ein Zeichen der getilgten französischen Rede bestehen bleibt, wird der übersetzerische Vorgang ausgestellt. Die deutsche Rede der Figur wirkt gebrochen, weil sie – zwar nicht so extrem wie etwa das „Anglois“ bei Shakespeare, aber dennoch – sprachmischend ist: Hier wird das Tempo des gebrochenen Französisch durch die Syntax und die Wortwiederholungen auch in der deutschen Aufzeichnung übernommen. An einer ähnlichen Stelle wird der stockende Sprachfluss einer französischen Rede wiedergegeben, der allerdings weniger der mangelnden Kompetenz als vielmehr der Wortkargheit des Sprechers geschuldet ist: 36 37 38 39

Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Ebd. Ebd., S. 10 u. 14.

Die Stimmen von Marrakesch

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Er war ein hagerer, kleiner Mann, bleich und traurig, der wenig Worte machte. […] Auf meine Fragen antwortete er in korrektem, aber etwas einsilbigem Französisch. Das Geschäft ging sehr schlecht. Niemand kaufte etwas. Man hatte kein Geld. Fremde kamen nicht wegen der Attentate. Er war ein leiser Mann und Attentate waren ihm zu laut. Seine Klage war weder scharf noch heftig: Er gehörte zu den Leuten, die immer daran denken, daß fremde Ohren sie hören könnten, und seine Stimme war so gedämpft, dass ich ihn fast nicht verstand.40

Durch die Sprachverweise, so lässt sich zusammenfassen, wird dem Text (nicht nur im Zusammenhang mit direkter Rede, sondern überhaupt) eine Mehrzahl von Sprachen zugeschrieben und zugleich ‚abgesprochen‘. Über die anderssprachige Rede wird, wie im voice-over bei Ton- oder Filmaufnahmen, die Übersetzung geblendet. Doch auch wenn die andere Sprache nicht angeführt wird, aktualisieren die Sprachverweise die potentielle Mehrsprachigkeit des Textes; sie verweisen auf dessen latente Anderssprachigkeit. Canettis Aufzeichnungen stehen und entstehen unter einem impliziten Sprachverweis, nämlich ‚auf Deutsch‘. Die Verweise auf andere Sprachen sind eine diskursive Eigenschaft des nachträglichen Schreibprozesses, in dem erst möglich wird, der Sprache der Aufzeichnung eine Sprache des Aufgezeichneten gegenüberzustellen.

3.4. O-Ton: Stimmen im Wortlaut Während bei den Sprachverweisen kein Sprachwechsel stattfindet, geht es im Folgenden um das unmittelbare Auftreten anderer Sprachen innerhalb des deutschen Textes. Diese zwei Formen von Mehrsprachigkeit scheinen sich gegenseitig auszuschließen: Die Sprachverweise haben sich als Markierungen des übersetzenden Diskurses herausgestellt und sind deshalb mit anderen, unübersetzten Sprachen nicht kompatibel.41 Beiden Formen ist jedoch gemeinsam, dass sie jeweils im Zusammenhang der Redewiedergabe erscheinen. Die Präsenz anderer Sprachen ist meistens auf die wiedergegebene Rede der Figuren zurückzuführen, und dabei handelt es sich fast ausschließlich um direkte Rede. In den gesamten Aufzeichnungen wird nur an einer einzigen Stelle ein Sprachwechsel innerhalb der direkten Rede des Erzählers vollzogen. Dieser kommt auf einem seiner Streifzüge durch Marrakesch mit einem kleinen Jungen ins Gespräch, auf Französisch: Als die Jungen sich alle daran [an dem Stofflappen] sattgeküßt hatten, kamen sie mir nach und umringten mich. Einer von ihnen fiel mir durch sein kluges Gesicht auf und ich merkte, daß er gern mit mir gesprochen hätte. Ich fragte ihn auf französisch, ob er lesen könne. Er sagte sehr wohlerzogen: ‚Oui, Monsieur.‘ Ich trug ein Buch unterm Arm, ich schlug es auf und hielt es ihm hin; er las langsam, aber fehlerlos die französischen Sätze herunter. Das Buch war ein Werk über die Glaubensitten der Marokkaner, und die Stelle, die ich aufgeschlagen hatte, 40 41

Ebd., S. 59 f. Eine denkbare Doppelmarkierung durch einerseits Referenz auf die Sprache und andererseits Realisierung der Sprache findet sich in den Stimmen von Marrakesch jedenfalls nicht.

O-Ton: Stimmen im Wortlaut

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handelte von der Verehrung der Heiligen und ihren Kubbas. Man mag einen Zufall darin sehen oder nicht, er las mir jetzt vor, was er mir soeben mit seinen Kameraden vorgeführt hatte. Er ließ sich aber nichts davon anmerken; vielleicht faßte er im Eifer des Lesens die Bedeutung der Worte gar nicht auf. Ich lobte ihn, er nahm meine Anerkennung mit der Würde eines Erwachsenen entgegen. Er gefiel mir so gut, daß ich ihn unwillkürlich mit der Frau am Gitter in Verbindung brachte. Ich zeigte in die Richtung des verfallenen Hauses und fragte: ‚Diese Frau dort am Gitter oben – kennst du sie?‘ ‚Oui, Monsieur‘, sagte er und sein Gesicht wurde sehr ernst. ‚Elle est malade?‘ fragte ich weiter. ‚Elle est très malade, Monsieur.‘ Das ‚sehr‘, das meine Frage verstärkte, klang wie eine Klage, aber eine Klage über etwas, in das er ganz ergeben war. Er war vielleicht neun Jahre alt, aber er sah nun aus, als hätte er schon zwanzig Jahre mit einer Schwerkranken zusammengelebt, wohl wissend, wie man sich da aufführen müsse. ‚Elle est malade dans sa tête, n’est-ce pas?‘ ‚Oui, Monsieur, dans sa tête.‘ Er nickte, als er ‚im Kopf‘ sagte, aber er zeigte statt auf seinen eigenen Kopf auf den eines anderen Jungen, der von besonderer Schönheit war: Er hatte ein langes, mattes Gesicht mit weit aufgerissenen, schwarzen, sehr traurigen Augen. Keines der Kinder lachte. Sie standen schweigend da. Ihre Stimmung hatte sich im Nu verändert, sobald ich von der Frau am Gitter zu sprechen begann.42

Im ersten Teil des Dialogs ist das Französische nur latent vorhanden. Es wird zwar ausdrücklich erwähnt, der Erzähler rede mit dem Jungen „auf französisch“, seine französischen Worte werden jedoch nicht direkt wiedergegeben. Stattdessen findet man indirekte Rede („ich fragte ihn […], ob er lesen könne“), erzählte Rede („ich lobte ihn“) und schließlich eine ins Deutsche übersetzte Frage: „Diese Frau dort oben am Gitter – kennst du sie?“ An dieser Stelle wechselt der Text zur direkten Rede, und unmittelbar darauf, nämlich mit der Antwort des Jungen („‚Oui, Monsieur.‘“), wechselt der nun wörtlich wiedergegebene Dialog ins Französische. Es ist dabei signifikant, dass mit dem Wechsel des Gesprächsgegenstands – nun ist von der „Frau am Gitter“ die Rede – ein Wechsel des Gesichtsausdrucks und der Stimmung, ein Wechsel der Redewiedergabe und nicht zuletzt ein Wechsel der Sprache einhergehen. Die wiederholte Replik des Jungen „‚Oui, Monsieur.‘“ wird als Zeichen seiner guten Erziehung gedeutet; sie kann aber auch gleichsam als die Formel seiner Rede gelten, die darin besteht, die Fragen des Erzählers zu bejahen und bestätigend zu wiederholen. Das Vorlesen der „französischen Sätze“ kann ebenfalls als höflich-gehorsame Geste der Wiederholung fremder Rede gesehen werden.43 Außerdem wiederholt der Junge beim 42

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Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 34 f. Kubbas „heißen die Heiligengräber in diesem Land, zu denen die Menschen mit ihren Wünschen pilgern.“ (Ebd., S. 33). Die Schuljungen haben gerade jene Stofflappen geküsst, die in der Kubba als „Fetzen vom Gewand des Heiligen selbst“ hängen (ebd., S. 34). Zur „Frau am Gitter“ vgl. Kap. 3.5. Zum „Eifer des Lesens“ (Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 34), der stets die Sympathien des Erzählers erweckt, vgl. auch die aus einem Buch rezitierenden Schulkinder (ebd., S. 41 f.) und den Vater der Familie Dahan als leidenschaftlichen Leser (ebd., S. 65). Canetti beschreibt sich selbst als frühreifen Büchermenschen und „reißende[n] Wolf des Le-

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Die Stimmen von Marrakesch

Lesen seine eigenen Handlungen: „Man mag einen Zufall darin sehen oder nicht“, er liest aus dem Buch des Erzählers ausgerechnet eine Passage über diejenige Heiligenverehrung vor, die er gerade selbst vollführt hat. Obwohl oder gerade weil er fehlerlos vorliest, bleibt dem Jungen „die Bedeutung der Worte“ möglicherweise verschlossen. Und durch die Unverständlichkeit der Worte dürfte ihm das aufgeschlagene Buch, ja selbst die eigene vorlesende Stimme, umso fremder vorkommen. Besonders deutlich zeigt sich aber die Sprechhaltung des Jungen im zweiten Teil des Gesprächs. Seine Antworten wiederholen wörtlich, mit nur kleinen Abweichungen, die Fragen des Erzählers. Der lakonische Ton ist nicht nur Ausdruck der Klage und der Trauer um die kranke Frau; indem er die Worte seines Gesprächspartners wieder aufgreift, beschränkt der Junge seinen Redebeitrag auf ein Minimum. Diese Knappheit, die nahezu Mimikry wird, mag seine Unsicherheit im Französischen verraten, vielleicht aber auch seinen Wunsch, die andere Sprache, die Sprache des Fremden, durch Nachahmung möglichst fehlerlos zu sprechen. Umgekehrt wiederholt auch der Erzähler die Rede des Jungen, und zwar auf bemerkenswerte Weise. An zwei Stellen greift er auf die jeweils unmittelbar vorausgehenden französischen Antworten seines Gesprächspartners zurück: ‚Elle est très malade, Monsieur.‘ Das ‚sehr‘, das meine Frage verstärkte, klang wie eine Klage […]. […] ‚Oui, Monsieur, dans sa tête.‘ Er nickte, als er ‚im Kopf‘ sagte […].

Die Worte „sehr“ und „im Kopf“, durch Anführungszeichen als Zitate markiert, hat der Junge gar nicht ausgesprochen. Der zitierte Wortlaut stimmt nicht mehr wörtlich, sondern nur noch als Übersetzung mit der Rede der Figur („très“, „dans sa tête“) überein.44 Die übersetzten Zitate können also nicht mehr ohne weiteres dem Jungen zugeordnet werden; sie zeugen von einer weiteren sprechenden Instanz, die den Übergang vom Französischen ins Deutsche vollzieht und insofern über eine Sprachwahl verfügt. Der Wortlaut wird einerseits – das verbum dicendi und die Anführungszeichen machen dies kenntlich – der Rede der Figur zugeschrieben und andererseits der Rede des Erzählers, an dessen Sprache er ja durch die Übersetzung angeglichen wird. In diesem Sinne sind die auf Deutsch wiedergegebenen Äußerungen zweistimmig: In ihnen überlagern sich die Stimmen von Figur und Erzähler, wobei sie sich gegenseitig entsprechen und zugleich widersprechen. Doch nicht nur im Zitieren von direkter Figurenrede, sogar in der direkten Figurenrede selbst kann die Stimme des Erzählers vernehmbar werden. Als er einer Gruppe von Bettelkindern begegnet, beschreibt er, wie diese „mit kläglichen Mienen ,manger! man-

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sens“ (Elias Canetti „Karl Kraus, Schule des Widerstands“, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 130– 141, hier S. 139). Die französische Wendung mit Possessivpronomen wird dem deutschen Sprachgebrauch angepasst, indem sie nicht wörtlich mit ‚in ihrem Kopf‘, sondern mit „im Kopf“ übersetzt wird. Zu den Anführungszeichen vgl. das folgende Kapitel.

O-Ton: Stimmen im Wortlaut

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ger!‘ winselten“ und ihm „Säuglinge entgegentrugen, deren winzige und beinahe fühllose Händchen sie […] hinstreckten, wozu sie ‚für ihn auch, für ihn auch, manger! manger!‘ bettelten, um ihre Gabe zu verdoppeln“.45 Wer spricht, wenn die Kinder auf Deutsch „für ihn auch, für ihn auch“ rufen? Die deutsche Sprache deutet auf den Erzähler hin. Dieser redet gleichsam mit, indem er entweder aus einer anderen Sprache, aus dem Französischen oder Arabischen, übersetzt,46 oder aber in seiner Sprache etwas ergänzt, was die Kinder nicht verbalisieren und lediglich durch ihr Hinweisen auf die kleinen Hände der Säuglinge ausdrücken. Die Äußerung „für ihn auch, für ihn auch, manger, manger!“ enthält jedenfalls einen Sprachwechsel, den die Kinder nicht von sich aus vollbringen; er kommt dadurch zustande, dass der Erzähler auf die direkte Rede der Figur übersetzend einwirkt. Solche (wechselseitigen) Grenzüberschreitungen sind für Bachtin bei der Wiedergabe des fremden Wortes nicht auszuschließen, im Gegenteil: „Das in den Kontext der Rede eingebettete fremde Wort tritt mit der es einrahmenden Rede nicht in einen mechanischen Kontakt, sondern geht mit ihr eine chemische Verbindung […] ein.“47 Die Verbindung der französischsprechenden Stimmen der Kinder mit der deutschschreibenden Stimme des Erzählers stellt – wie schon die übersetzten Zitate des kleinen Jungen – eine hybride Äußerung dar, die ihren grammatischen (syntaktischen) und kompositorischen Merkmalen nach zu einem einzigen Sprecher gehört, in der sich in Wirklichkeit aber zwei Äußerungen, zwei Redeweisen, zwei Stile, zwei ‚Sprachen‘, zwei Horizonte von Sinn und Wertung vermischen.48

Während Bachtin die „Sprachen“ in Anführungszeichen setzt, um zu signalisieren, dass es nicht etwa um zwei verschiedene Nationalsprachen geht, sondern um zwei verschiedene Sprachen innerhalb ein und derselben Nationalsprache, ist die direkte Rede der Bettelkinder erst einsprachig bzw. anderssprachig („manger, manger“) und dann tatsächlich zweisprachig („für ihn auch, manger“). Nun stellt das Französische vor dem Hintergrund des deutschen Textes einen Sprachwechsel dar; es ist aber zugleich die ‚eigentliche‘ Sprache der redenden Figuren. Den Bettelkindern gilt dagegen die deutsche Übersetzung, die ihnen der Erzähler in den Mund legt, als fremde Sprache.49 Es ist also wichtig zu bestimmen, auf welcher Ebene der Sprachwechsel jeweils stattfindet, ob auf der Ebene des Erzählten (Marrakesch bzw. Figurenrede) oder auf der Ebene des 45 46

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Canetti, Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 72 f. Angenommen, dass die Kinder „für ihn auch“ auf Arabisch sagen, erklärt sich die deutsche Übersetzung daraus, dass der Erzähler die arabischen Worte nicht (mehr) wiedergeben kann; er hat sie nur intuitiv, durch die starke deiktische Geste auf die Säuglinge, verstanden. Als die Kinder ins Arabische wechseln, wechselt also der Text ins Deutsche. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 227. Daraus folgert Bachtin, dass „die Verfahren der Formgebung der fremden Rede selbst [nicht] von den Verfahren ihrer kontextuellen (dialogisierenden) Einrahmung“ zu trennen sind (ebd.). An anderer Stelle schreibt er: „Nur rein mechanische Beziehungen sind nicht dialogisch“ (Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 48). Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 195. Freilich ist, wenn man die Mehrsprachigkeit Marrakeschs bedenkt, auch das Französische für die Kinder eine gleichsam fremde Sprache oder jedenfalls nicht die (einzige) Muttersprache.

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Die Stimmen von Marrakesch

Erzählens (Aufzeichnung). Der Sprachwechsel bietet die Möglichkeit, zwischen diesen zwei Ebenen hin- und herzuschalten. Indem die Sprache des Erzählens der Sprache des Erzählten weicht, werden die Stimmen von Marrakesch verstärkt evoziert. Dies veranschaulicht auch eine weitere Stelle, an der die Rede eines Mannes wiedergegeben wird, der auf dem Kamelmarkt über Kamele erzählt. Vor seiner direkten Rede steht der Sprachverweis „in gebrochenem Französisch“: ‚Wenn die Leute schlafen, kommt das Kamel, kniet sich auf sie nieder und erstickt sie im Schlaf. Man muß sehr achtgeben. Bevor die Leute aufwachen, sind sie erstickt. Ja, das Kamel hat eine sehr gute Nase. Wenn es nachts neben seinem Herrn liegt, wittert es Diebe und weckt den Herrn. Das Fleisch ist gut. Man soll das Fleisch essen. Ça donne du courage. Das Kamel ist nicht gern allein. Allein geht es nirgends hin. Wenn ein Mann sein Kamel in die Stadt treiben will, muß er ein anderes finden, das mitgeht. Er muß sich eins ausleihen, sonst bringt er sein Kamel nicht in die Stadt. Es will nicht allein sein. […]‘50

Wieder liegt ein Fall von verfremdender Übersetzung vor. Indem in der Zielsprache der Übersetzung die Ausgangssprache nachgebildet wird, kann der Text bei der Wiedergabe der direkten Figurenrede die Fremdsprache einbringen, ohne auf einen tatsächlichen Sprachwechsel zu rekurrieren. Dass die Figur durchgehend Französisch redet, zeigt nur mehr die Syntax des deutschen Textes mit ihren kurzen Hauptsätzen: „Das Fleisch ist gut. Man soll das Fleisch essen. Ça donne du courage. Das Kamel ist nicht gern allein. Allein geht es nirgends hin.“ Dabei ist „Ça donne du courage“ der einzige Satz, der sich der deutschen Übersetzung entzieht. Wie ein Merksatz hat er sich dem Erzähler eingeprägt,51 da er in prägnanter Form eine befremdliche Erklärung für den Verzehr von Kamelfleisch liefert. Der Satz ist befremdlich, und zugleich bringt er ein durch Tradition, Aberglaube bzw. Magie verbürgtes, nicht zu hinterfragendes Wissen zum Ausdruck; man könnte dabei von „Aktantenwissen“ sprechen.52 Der Satz wirkt geradezu idiomatisch – und auch als idiomatische Redewendung bleibt er unübersetzt.53 Denn im französischen Original vertritt er in stärkerem Maße als die übrigen Äußerungen die Perspektive des Einheimischen auf die Kamele und kontrastiert umso deutlicher mit der 50 51

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Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 14. Vgl. auch Elias Canetti: „Der Gegen-Satz zur ,Hochzeit‘“, in: Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 71 f. In dieser kurzen Notiz beschreibt Canetti, wie er einen Satz, den er auf einem Spaziergang von einer alten Frau hört, in sein Drama Hochzeit einbaut. Dieser Satz stehe „wie ein erratischer Block“ und „als eine Art Talisman“ (ebd.) am Ende des Dramas. Im Hinblick auf Texte Sebalds stellt Redder fest, dass die darin vorkommenden „fremdsprachigen Einschübe sentenzenartige Sprachformen mündlicher oder schriftlicher Provenienz [dokumentieren]“; diese enthalten „vornehmlich ein bestimmtes, auf Erleben basiertes Wissen Handelnder […], nämlich sogenanntes Aktantenwissen.“ (Redder: „Faszination mehrsprachigen Sprachwissens“, in: Germanistik in und für Europa, S. 77). Was die Idiomatik zum Ausdruck bringt, ist für Musil „eine Fülle von Beziehungen zum Leben, und sie zeigen jene treffliche Mischung von Realistik und Symbolik, welche die Sprache nur aufbringt, wenn uns etwas sehr wichtig ist.“ (Musil: Nachlaß zu Lebzeiten, in: Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 506).

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Haltung des Erzählers. Dieser empfindet nämlich in Marrakesch stets tiefe Empathie für die Kamele und für deren Schicksal als Schlachtgut.54 Allgemein lässt sich behaupten, dass die angeführten fremdsprachigen Originalzitate im Dienst einer von Canetti poetologisch vertretenen Erinnerungstreue stehen. Sie sollen als Übertragungen der in Marrakesch gehörten und erlebten Stimmen wirken. Zumeist handelt es sich nur um kurze Zitate innerhalb von verhältnismäßig kurzen Episoden; sie werden im Rahmen der Figurenrede wiedergegeben, um die Figur anhand von deren stilisierter Rede zu charakterisieren. Doch gelangt die Rede der Figur, wie an späterer Stelle nochmals gezeigt wird, bisweilen in die Rede des Erzählers. In diesem Fall kann man mit umso größerem Recht sagen, dass der Erzähler sich eine fremde Rede aneigne. Die Stilisierung und Aneignung der Sprache der Figur durch den Erzähler lassen sich mit Canettis Begriff der „Verwandlung“ in Verbindung bringen. Wie es im Essay Der Beruf des Dichters heißt, setzen sich das Wissen, die Verantwortung und letztlich die Identität des Dichters aus „Menschen, die er durch Verwandlung erfährt und aufnimmt“, zusammen.55 Auch die Aneignung von deren Sprache zählt zu jener „Erfahrung anderer von innen her“,56 die der Dichter anstreben soll: Es würde ein immer offenes Ohr dazugehören, doch wäre es damit allein nicht getan, denn eine Überzahl der Menschen heute ist des Sprechens kaum mehr mächtig, sie äußern sich in den Phrasen der Zeitungen und öffentlichen Medien und sagen, ohne wirklich dasselbe zu sein, mehr und mehr dasselbe. Nur durch Verwandlung in dem extremen Sinn, in dem das Wort hier gebraucht wird, wäre es möglich zu fühlen, was ein Mensch hinter seinen Worten ist, der wirkliche Bestand dessen, was an Lebendem da ist, wäre auf keine andere Weise zu erfassen. Es ist ein geheimnisvoller, in seiner Natur noch kaum untersuchter Prozeß und doch ist es der einzig wahre Zugang zum anderen Menschen. […] [Der Dichter] sammelt Menschen nicht, er legt sie nicht ordentlich beiseite, er begegnet ihnen nur und nimmt sie lebend auf […].57

Die als empathischer – und zugleich moralischer – Akt verstandene Verwandlung hat ihr Gegenstück in der Aneignung der fremden Rede zu parodistischen Zwecken. Wenn Canetti mit den akustischen Masken genau jene „Phrasen“ und jene Unfähigkeit zum eigenen Sprechen wiederzugeben versucht,58 so findet sich in den Stimmen von Marrakesch allenfalls eine halbe akustische Maske: nämlich eine solche, durch die auch der Erzähler selbst gelegentlich spricht, und zwar durchaus ambivalent spricht. Dies zeigt die Rede des Marrakescher Juden Élie Dahan, die in der Aufzeichnung Die Familie Dahan Gegenstand einer gelegentlich in Parodie umschlagenden Stilisierung ist. Der

54 55 56 57 58

Vgl. die gesamte Aufzeichnung Begegnungen mit Kamelen in Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 9–15. Canetti „Der Beruf des Dichters“, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 368. Ebd., S. 367. Ebd., S. 367 f. Zu den akustischen Masken vgl. den Schlussteil dieses Kapitels.

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sprachlichen Physiognomie dieser Figur wird besondere Aufmerksamkeit gewidmet.59 Auffällig ist dabei, dass der Erzähler sich mehrere Élie-Worte aneignet und diese in seiner Rede zitierend verwendet.60 Mit einem Vorwand betritt der Erzähler das Haus der Familie Dahan, in dessen Hof er „eine junge, dunkle, sehr leuchtende Frau“ und spielende Kinder erblickt hat. Der Hausherr kommt gleich auf ihn zu, „schlank“, mit „hoch erhoben[em]“ Kopf, in einem „wallenden Gewand“ gekleidet, „sehr vornehm“;61 er kann aber nur wenig Französisch und schaltet deshalb seinen jüngeren Bruder Élie ein: Er verstand mich nicht, zögerte etwas, sagte ‚Attendez!‘ und wandte sich von mir ab. Es war nicht das einzige Wort Französisch, das er sprach, denn als er mit einem jüngeren Menschen wiederkehrte, der auf französische Art herausgeputzt war, in einem besten europäischen Anzug und so als ob es ein Festtag wäre, sagte er noch ‚mon frère‘ und ‚parle français‘.62

In seiner Dolmetscherrolle tritt Élie Dahan von Beginn an als mehrsprachige Figur auf. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er Französisch spricht, wie die ihn einführenden französischen Worte seines Bruders besagen und wie später der Erzähler bestätigt (er „sprach wirklich Französisch“63). Zugleich erscheint er als eine überzogene Figur; er wird mit einem nach Marrakesch versetzten Pariser Mannequin verglichen: In seinem „dunkelblauen Anzug, der lächerlich gut gebügelt war“, sieht er aus, „als sei er soeben aus der Vitrine eines Pariser Kleidergeschäfts herausgestiegen.“64 Er hat „ein flaches, stumpfes Bauerngesicht“ und ist „sehr braun“ – „[i]n anderer Gewandung“, kommentiert der Erzähler, „hätte ich ihn für einen Berber gehalten, aber keinen schönen.“65 Élie 59

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Jeder Mensch hat neben der körperlichen auch eine sprachliche Physiognomie; vgl. Elias Canetti: „Gespräch mit Manfred Durzak. Akustische Maske und Maskensprung. Materialien zu einer Theorie des Dramas“, in: Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 298–317, bes. S. 299 f. Diese sprachliche Gestalt beschreibt Canetti auch in einem seiner Essays über Kraus (vgl. Canetti: „Karl Kraus“, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 136; vgl. dazu weiter unten). Horn bestimmt „das Fremdsprachliche“ als „eines der möglichen literarischen Mittel, ‚physiognomisch‘ Ästhetisches zu verwirklichen“ und spricht infolgedessen von einer physiognomischen Funktion des Fremdsprachlichen (Horn: „Ästhetische Funktionen der Sprachmischung in der Literatur“, S. 229 u. 240). Zu Stilisierung und Parodie vgl. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 243 ff. Ob es sich bei Élies Rede doch nicht eher, zumindest teilweise, um „Objekt-Wort“ als „Wort einer dargestellten Person“ (Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 222) handelt, wäre angesichts der folgenden Behauptung zu fragen: „Die sprachliche Differenzierung und deutliche ‚Charakterisierung‘ der Helden ,durch ihre Rede‘ ist aber gerade für die Darstellung objektivierter und abgeschlossener menschlicher Gestalten von größter künstlerischer Bedeutung. Je objektivierter eine Person ist, umso deutlicher tritt ihre Rede-Physiognomie hervor.“ (Ebd., S. 203). Zur stilisierten Rede als „Extremform der Mimesis“ (Gérard Genette: Die Erzählung. 2. Aufl. München: Fink, 1998, S. 131) vgl. Kap. 4.3.4. und 4.3.5. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 47. Ebd., S. 48. Ebd. Ebd., S. 49. Ebd., S. 48 f.

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und seine Schwägerin (jene „leuchtende Frau“), deren Kleid ebenfalls „aus einem französischen Warenhaus stammen mochte“, kontrastieren mit dem fremd wirkenden, vornehmen Äußeren des Bruders.66 Die Wohnung ist im Stil „irgendeiner sehr bescheidenen französischen Kleinbürgerwohnung“67 eingerichtet – eine Enttäuschung für den Erzähler, der im Judenviertel unbedingt „ein Haus von innen“68 sehen wollte und dabei Fremdartiges erwartete. „Das einzig Fremdartige im ganzen Raum war die dunkle Hautfarbe der beiden“, heißt es.69 Dieses ethnische Merkmal kompensiert die irritierende „französische Aufmachung“70 und macht die Gastgeber zu jenen Fremden, die der Reisende sucht; als Juden sind sie aber wiederum Teil seiner eigenen Identität.71 Nach seiner Herkunft gefragt gibt der Erzähler an, Engländer zu sein – eine „vereinfachte Antwort“, um sich eine komplexe Lebensgeschichte zu ersparen.72 In der Tat ist er mit einer englischen Filmgesellschaft in Marrakesch. Élie fragt gleich, ob es in dieser Filmgesellschaft eine Stelle für ihn gäbe: „Er mache alles. Er sei schon lange ohne Arbeit.“73 Der Erzähler begreift nun, dass Élies Anzug ihn „über seine Verhältnisse getäuscht“ hatte und dass dessen Gesicht vielleicht wegen der Arbeitslosigkeit „etwas Stumpfes und Finsteres hatte“.74 Die dunkle Apathie von Élies Gesichtszügen löst sich jedoch plötzlich auf, als es zu Beginn des Gesprächs zu einem Moment gegenseitiger, freudiger Anerkennung kommt: Er kam mir mit dem Kopf über den Tisch ein wenig näher und fragte plötzlich: ‚Êtes-vous Israélite?‘ Ich sagte begeistert ja. Es war so angenehm, endlich etwas bejahen zu können, und ich war auch neugierig auf die Wirkung, die dieses Bekenntnis auf ihn haben würde. Er lachte übers ganze Gesicht und zeigte seine großen, gelblichen Zähne.75

Über die gemeinsame jüdische Identität rücken nun Erzähler und Figur im Gespräch näher zusammen. Élie ist stolz, „denselben Vornamen“ zu tragen wie sein Gast.76 Als er dann, mit dem komischen Ernst seiner Naivität, zwischen seiner eigenen Familie und einem gleichnamigen, erfolgreichen und einflussreichen englischen Juden eine Ver-

66 67 68 69 70 71 72 73 74 75

76

Ebd., S. 49. Ebd. Ebd., S. 47. Ebd., S. 49. Ebd., S. 51. So wird umgekehrt die Schwägerin „ein wenig enttäuscht“ darüber wirken, dass ihr Gast ein Jude ist: „vielleicht hätte sie sich den Fremden ganz fremd gewünscht.“ (Ebd.). Ebd., S. 50; vgl. auch ebd., S. 52 u. 54. Ebd., S. 48. Ebd., S. 50. Ebd. Dass Élie „Israélite“ ist, wird schon angekündigt, als seine Schwägerin „Mahya“ serviert, einen von den Marrakescher Juden gebrauten Schnaps (ebd., S. 49). Außerdem befindet sich der Erzähler in der Mellah, dem Judenviertel von Marrakesch; vgl. dazu weiter unten. Ebd., S. 51.

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wandtschaft zu entdecken glaubt,77 fühlt er sich bestätigt, seine Forderung noch einmal zu artikulieren: Von diesem Augenblick an wurde er in seinen Fragen kühner. […] Ob es noch andere Israeliten in unserer Gesellschaft gäbe? Einen, sagte ich. Ob ich ihn nicht zu Besuch mitbringen möchte? Ich versprach es. Ob keine Amerikaner mit uns seien? Zum erstenmal sprach er das Wort ‚Amerikaner‘ aus; ich spürte, daß es sein goldenes Wort war und begriff, warum er anfangs über meine Herkunft aus England enttäuscht gewesen war. Ich erzählte von meinem amerikanischen Freund, der im selben Hotel wie wir wohne; doch mußte ich zugeben, daß er kein ‚Israélite‘ war.78

„Israélite“ ist für Élie das Wort, das Zuordnung ermöglicht und Zugehörigkeit stiftet, und d. h. wiederum Abgrenzung von Fremden. Kein anderes Wort, weder ‚Jude‘ noch ‚juif‘, kann die Identifikation gleichermaßen begründen. Denn in „Israélite“ ist der Name ‚Élie‘ enthalten, und ‚Élie‘ ist der Auserwählte; die Namensidentität mit dem Erzähler erscheint als ein zusätzliches Zeichen des Bundes. In der Tat führt Élie das Wort „Israélite“ als eine Art offengelegtes Schibboleth ein, wenn er nämlich fragt: „Êtes-vous Israélite?“, vollzieht die Antwort die scharfe Unterscheidung zwischen Angehörigen und Nicht-Angehörigen des israelischen Volkes.79 Diese besondere Bedeutung scheint das Wort unübersetzbar zu machen, und so wird es in Élies direkter Rede stets auf Französisch belassen.80 Es tritt dann aber auch in indirekter Rede („Ob es noch andere Israeliten in unserer Gesellschaft gäbe?“) und in erzählter Rede („doch musste ich zugeben, dass er kein ‚Israélite‘ war“) auf. Während im ersten Fall Élies Frage ins Deutsche übersetzt wird, bleibt im zweiten Fall die Aufzeichnung wörtlich, indem der Erzähler gesteht, sein Freund sei kein „Israélite“. Der Erzähler spricht hier gleichsam mit der Figur. Er verwendet das ihr eigentümliche Wort und lässt damit den Nachhall von Élies unterschlagener Frage (,Est-il Israélite?‘) vernehmen. Insofern ist das Wort „Israélite“ zweistimmig – es ist dem Erzähler halb fremd und halb eigen: fremd, weil die Anführungszeichen „Israélite“ als Zitat kennzeichnen und auf seine fremde Her77 78 79 80

Vgl. ebd., S. 52. Ebd. Anders das biblische Schibboleth in Ri 12, 5–6, bei dem die Aussprache des Lösungsworts bzw. Losungsworts die Herkunft verrät. An einer Stelle wird Élies arabische Entsprechung von ‚Israélite‘ wiedergegeben: „[Élie] sagte etwas auf arabisch. Ich hörte das Wort ‚Jehudi‘, Jude, das sich auf mich bezog“ (Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 52 f.); es ist das einzige Wort, das der Erzähler dem arabischen Wortaustausch zwischen Élie und dessen Bruder entnehmen kann. In der vorausgehenden Aufzeichnung, Besuch in der Mellah, wird das Wort „Israélite“ als Adjektiv verwendet. Dort heißt es: „Ein junger Mann kam von der Seite auf mich zu, zeigte auf die Mauer, sagte ‚le cimetière israélite‘, und machte sich erbötig, mich hineinzuführen. Es waren die einzigen französischen Worte, die er sprach.“ (Ebd., S. 42 f.). Es gibt außerdem ein anderes französisches Wort, das dieser Mann kennt und als passepartout-Wort gebraucht: „oui“. „Oui“ ist seine Antwort auf die Fragen des Erzählers, obwohl er sie nicht versteht; er setzt dieses scheinbar unfehlbare Wort „statt einer Antwort“ (ebd., S. 44) ein und sogar ohne etwas gefragt worden zu sein (vgl. ebd., S. 46). Hier wird durch das wiederholte „oui“ der Schwachsinn der Figur bloßgestellt.

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kunft verweisen, und eigen, weil der Erzähler zu Beginn des Gesprächs sein „Israélite“Sein bejaht und sich somit dieses Wort zu eigen gemacht, ja sich selbst mit diesem Wort gleichgesetzt hat. Die Wortübernahme im Satz „doch musste ich zugeben, dass er kein ‚Israélite‘ war“ kündigt jedoch leise den parodierenden Ton des Erzählers an. Dieser verwendet das Wort auch gegen Élie; er teilt es mit ihm und benutzt es zugleich, um die Zuordnung Israeliten/Nicht-Israeliten in ihren auch komisch-absurden Zügen darzustellen und um die Figur in ihrer Dummheit zu entlarven: Erst sprach er [Élie] kaum, aber selbst seiner ausdruckslosen Miene war zu entnehmen, daß er etwas auf dem Herzen hatte. Ein alter Mann näherte sich unserem Tisch, der gravierte Messingplatten zu verkaufen hatte; an seinem schwarzen Käppchen, an Kleidung und Bart war er leicht als Jude zu erkennen. Élie beugte sich geheimnisvoll zu mir herüber und als hätte er mir etwas ganz Besonderes anzuvertrauen, sagte er: ‚C’est un Israélite.‘ Ich nickte erfreut. Um uns saßen lauter Araber und ein oder zwei Europäer. Erst jetzt, seit das Einverständnis des Vortags zwischen uns wiederhergestellt war, fühlte er sich freier und rückte mit seinem Anliegen heraus. Ob ich ihm einen Brief an den Kommandanten des Lagers von Ben Guérir geben könnte. Er möchte gern bei den Amerikanern arbeiten.81

Mit der Feststellung „C’est un Israélite“ erfolgt ein Benennungs- und Identifikationsakt und damit der Einschluss in die eigene Gemeinschaft. Élies Erklärung ist insofern überflüssig, als der Verkäufer, im Gegensatz zu Élie und zum Erzähler, zweifellos jüdisch aussieht und vom Erzähler sofort „als Jude“ erkannt wird.82 Die Wiedergabe in direkter Rede und auf Französisch hebt die Redundanz der Äußerung besonders hervor. Zudem wird durch den erneuten Sprachwechsel auf die vorausgehenden Stellen zurückverwiesen, an denen Élie von Israeliten gesprochen hatte. Kennzeichnend für die Stilisierung seiner Rede sind in der Tat Wortwiederholungen, die den beschränkten Horizont seines Alltags und seiner Hoffnung beschreiben. Aus der offensichtlichen Tatsache, dass der Verkäufer ein Jude ist, macht Élie eine brisante und vertraulich zu behandelnde Information. Dabei wird sein einfältiger Eifer stets von seinen Eigeninteressen beschattet: Er lässt den gefälligen Satz „C’est un Israélite“ fallen, um an die gemeinsame Identität zu erinnern, also um – von Arabern und Europäern umgeben – seinen ‚israelitischen‘ Bund mit dem Erzähler zu erneuern. Über das „Einverständnis“ soll dieser zur Solidarität bewegt werden; Élies Strategie der Insistenz und Renitenz („die Entschlossenheit eines dummen Menschen ist unerschütterlich.“83) erweist sich als erfolgreich. So wird sich der Erzähler für diesen dummen wie hässlichen Marrakescher Juden einsetzen und sich über dessen stumpfen Charakter und unverschämte Forderungen noch wundern.

81 82 83

Ebd., S. 53. Zu Élies Erkanntwerden als Jude vgl. auch ebd., S. 60. Ebd., S. 56.

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Élie Dahan möchte eine Stelle bei den Amerikanern bekommen. An der bestimmten Art und Weise, wie er erstmals das Wort „Amerikaner“ ausspricht, „spür[t]“ der Erzähler, dass dies „sein goldenes Wort“ ist. Dieses Wort taucht erstmals in Élies indirekter Rede auf („Ob keine Amerikaner mit uns seien?“) und wird dann mehrfach wieder aufgegriffen, um seine besondere Stellung im Vokabular der Figur zu betonen. Besonders hier, wo es um ein wertvolles Wort und um dessen Aussprache geht, zeigt sich, dass die Figur eine andere Sprache spricht: Das zwischen Anführungszeichen zitierte Wort ist ins Deutsche übersetzt und ersetzt den (französischen) Wortlaut. Aber darüber hinaus geht es an dieser Stelle um einen anderen Zugang zur Sprache; es gibt offenbar ein Gespür für Worte, eine besondere Wahrnehmung der Sprache des Anderen, bei dem die einzelne Sprache zumindest in ihrer abstrakten und arbiträren Gestalt unbedeutend wird. Bedeutungstragend werden vielmehr die Stimme des Sprechers, sein körperlicher Ausdruck, seine durch die eigene Lebensgeschichte geprägte und aufgeladene Aussprache. Für den Zuhörer sind sie nur über einen intuitiven oder empathischen Spürsinn lesbar.84 Élies Weg zu den Amerikanern läuft über ein Empfehlungsschreiben. Den Kommandanten des Lagers von Ben Guérir soll der Erzähler um eine Arbeitsstelle bitten: ‚Was für eine Arbeit möchten Sie denn dort [in Ben Guérir] haben?‘ ‚Comme plongeur‘, sagte er und ich glaubte mich zu entsinnen, daß das jemand bedeute, der Geschirr abwasche. ‚Waren Sie schon einmal dort?‘ ‚Ich habe bei den Amerikanern als ,plongeur‘ gearbeitet‘, sagte er sehr stolz. […] Jetzt begriff ich. Ich, der leibhaftige Freund eines leibhaftigen Amerikaners, sollte dem Kommandanten des Lagers von Ben Guérir einen Brief schreiben, in dem ich forderte, daß er Élie Dahan eine Stelle als ‚plongeur‘ gebe.85

Tagelang ist der Erzähler mit dieser Angelegenheit beschäftigt, und täglich erscheint Élie, um sie voranzubringen: „Er brachte mir Zeugnisse über jede Stellung, in der er gewesen war; er hatte wirklich für kurze Zeit als ‚plongeur‘ bei den Amerikanern gearbeitet.“86 Auffällig ist hier der wiederholte Gebrauch des Worts „plongeur“. Von Élies direkter Rede geht es, ohne übersetzt zu werden, in die Erzählerrede über. Es scheint ein weiteres unübersetzbares Wort zu sein, das fast wie ein Fremdwort im Text verwendet wird, um eine vermeintliche Bezeichnungslücke im Deutschen zu schließen. Für Élie ist „plongeur“ jedoch keineswegs ein Fremdwort, sondern ein eigenes Wort, in dem sich der Stolz auf seine ehemalige Beschäftigung mit der Hoffnung auf die kommende Arbeit verbindet. In Élies direkter Rede tritt es in einer einsprachigen Äußerung 84 85

86

Dies spielt eine besondere Rolle bei unverständlichen Sprachen; vgl. dazu das folgende Kapitel. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 53 f. Durch die Leibhaftigkeit erhält das „goldene Wort“ auch eine materielle Konnotation: Es gibt jetzt einen Repräsentanten der ‚Amerikaner‘, an den Élie seine Hoffnung binden kann. Die Selbstbeschreibung des Erzählers als „leibhaftige[n] Freund eines leibhaftigen Amerikaners“ verrät Élies Blickwinkel. Ebd., S. 60.

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auf („Comme plongeur“), dann in einer zweisprachigen Äußerung, in der ein Sprachwechsel stattfindet („Ich habe bei den Amerikanern als ‚plongeur‘ gearbeitet“). Dieser Sprachwechsel setzt die Verwendung von „plongeur“ gleichsam als einem fremdsprachigen Fachterminus fort; die Erzählerrede, die Élies Vorhaben wiedergibt („Ich […] sollte […] einen Brief schreiben“), führt das Wort weiterhin zwischen einfachen Anführungszeichen an. Es scheint so, als sei das Wort „plongeur“ sogar im – auf Englisch verfassten – Empfehlungsbrief zu verwenden und somit in einer weiteren Sprache und im schriflichen Gebrauch zu kanonisieren. Schließlich belegen auch die von den Amerikanern ausgestellten Zeugnisse, dass Élie „als ‚plongeur‘ […] gearbeitet“ habe. Dieser Beleg ist insofern wichtig, als das Wort zwar wiederholt benutzt, seine Bedeutung aber unsicher bleibt. Als der Erzähler nämlich zum ersten Mal das Wort „plongeur“ hört, muss er sich „entsinnen, daß das jemand bedeute, der Geschirr abwasche“. Er ist sich dieser Übersetzung, die den deutschen ‚Tellerwäscher‘ umschreibt, nicht ganz sicher, wie sowohl die Wendung „ich glaubte mich zu entsinnen“ als auch der Vorgang des Sich-Entsinnens überhaupt zeigt (er müsste sich nicht entsinnen, wenn er das Wort sofort verstanden hätte). Die Wortbedeutung muss erst aus dem Gedächtnis wieder hervorgeholt werden, dabei stellt sie sich jedoch nicht endgültig ein. Auch deshalb mag „plongeur“ durch kein entsprechendes deutsches Wort ersetzt werden können.87 Dieser Widerstand gegenüber einer Übersetzung kann ferner als ein Zeichen für „das Geheimnis der Worte“88 gedeutet werden. Ein Teil des Geheimnisses besteht darin, dass sich bestimmte Worte aufdrängen bzw. nicht durch andere Worte verdrängen lassen. Was „mit einer Sprache geschieht, die entschlossen ist, sich nicht aufzugeben“,89 beschreibt Canetti in jener Ansprache, in der er seine Wortanfälle beichtet: […] zu den Entdeckungen, die man durch das Leben im Bereich einer anderen Sprache macht, gehört eine ganz besonders: nämlich daß es die Worte selber sind, die einen nicht loslassen, die einzelnen Worte an sich, jenseits aller größeren geistigen Zusammenhänge. Die eigentümliche Kraft und Energie von Worten spürt man dort am stärksten, wo man oft gezwungen ist, andere an ihre Stelle zu setzen.90

Bestimmte Worte durch andere Worte ersetzen: So ließe sich auch das Übersetzen zwischen verschiedenen Sprachen beschreiben. Wenn sich aber die Worte nicht ersetzen lassen, liegt es an ihrer eigenen Resistenz und Zähigkeit; der Sprecher scheint eine nur passive Rolle zu spielen. In seinem englischsprachigen Alltag wird Canetti von einzel87

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Zudem ist „plongeur“ ein mehrdeutiges Wort, da seine Grundbedeutung ‚Taucher‘ unterschiedlich interpretiert werden kann („plongeur“ bedeutet u. a. auch ‚U-Boot‘ und ‚Tauchervogel‘). Dagegen ist das deutsche Wort ‚Tellerwäscher‘ als Kompositum eindeutig und sprechend. Vgl. das analoge Beispiel des Titels Vergers anstelle von ‚Obstgärten‘ bei Rilke. Dass außerdem in beiden Fällen die klangliche Qualität der französischen Worte eine Rolle spielt, liegt nahe. Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 5, S. 63. Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 96. Canetti: „Wortanfälle“, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 255 f.

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nen deutschen Worten heimgesucht, die er dann aufzeichnen muss, als könne er sie nur auf diese Weise bändigen. Diese Wortanfälle sind mit den wiederkehrenden, Französisch sprechenden Stimmen vergleichbar, die er in seinem deutschen Marrakeschtext aufzeichnet. In beiden Fällen ist keine Stellvertretung durch eine andere Sprache möglich. Das Einstreuen fremdsprachiger Worte in den literarischen Text resultiert also aus einer scheiternden Übersetzung. Élies Wortschatz stellt ein einleuchtendes Beispiel dafür dar, dass der Erzähler bestimmte Worte nicht übersetzt (oder auf andere Weise hervorhebt), um so ihre Unübersetzbarkeit in der sprachlichen Wahrnehmung der Figur auszuweisen. Unübersetzbarkeit meint hier Einzigartigkeit, Eigentümlichkeit, Unersetzbarkeit. Im Falle Élies ist bereits vom Identifikationswort „Israélite“, vom Hoffnungswort „Amerikaner“ und vom Arbeitswort „plongeur“ die Rede gewesen. Zum Wortschatz dieser Figur gehören außerdem verschiedene, eine jeweils spezifische Bedeutung und Sprecherhaltung implizierende Autoritätsworte. Während seines Gesprächs mit Élie über den Glauoi, den Pascha von Marrakesch, bemerkt der Erzähler: Er [Élie] zog den Titel ‚Pascha‘, der die Würde bezeichnete, dem Familiennamen ‚Glaoui‘ vor. Wann immer ich ‚Glaoui‘ sagte, erwiderte er mit ‚Pascha‘. Es klang in seinem Mund wie das Wort ‚Kommandant‘ […]. Doch sein höchstes und hoffnungsvollstes Wort blieb nach wie vor, dem Glaoui zum Trotz, ‚Amerikaner‘.91

Hier werden Élies Worte, alle durch Anführungszeichen markiert, aufeinander bezogen und gleichsam in einer Rangliste angeordnet. Wieder ist es die Aussprache, also die Stimme, die einem bestimmten Wort eine bestimmte Bedeutung verleiht; der Ausdruck „in seinem Mund“ weist auf Élies eigentümliche Artikulation des Wortes hin, durch die „Pascha“ und „Kommandant“ zu analogen Figuren der Macht werden. Obwohl Élie diese hierarchischen Titel mit großem Respekt und das mächtige Wort „Amerikaner“ mit großer Hoffnung spricht, gibt es eine weitere Autorität, deren Benennung alle anderen übersteigt. Es ist diejenige seines Vaters: Élie […] sagte mit einer beschwörenden Armbewegung: ‚Je vous présente mon père.‘ Er hatte noch nie etwas mit soviel Ernst und Überzeugung gesagt. ‚Père‘ klang in seinem Mund geradezu erhaben und nie hätte ich gedacht, daß ein so dummer Mensch es zu solcher Erhabenheit bringen könne. ‚Père‘ klang nach bedeutend mehr als ‚Amerikaner‘ und ich war 92 froh, daß vom Kommandanten nicht viel mehr übrigblieb.

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Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 55. Unmittelbar davor heißt es über Élie: „Er sprach mehr und rascher als sonst, und es klang sehr merkwürdig, als hätte er es aus einem alten Geschichtsbuch auswendig gelernt. Die Mellah selbst hatte nicht so mittelalterlich auf mich gewirkt wie diese Worte über den Glaoui. Ich betrachtete verstohlen sein Gesicht, als er dieselben Worte wiederholte: ‚Die Araber sind seine Feinde. Er hat Juden bei sich. Er spricht mit Juden. Er ist der Freund der Juden.‘“ (Ebd.) Hier stellt sich Élies Rede als eine Reihung von auswendig gelernten, ideologischen Parolen dar. Ebd., S. 63.

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Die tiefe Ehrfurcht des Sohnes ist im Wort „Père“ vernehmbar und macht es, begleitet von der „beschwörenden“ Geste, „geradezu erhaben“. Der Satz, mit dem der Vater vorgestellt wird, unterscheidet sich von allen anderen Sätzen Élies und wird deshalb nicht übersetzt. Der Ton, in dem Élie spricht, ist unerhört; der besondere und unerwartet bedeutende Klang des Wortes „in seinem Mund“93 verlangt es, dass dieses auch im Kommentar des Erzählers weiterhin im Französischen angeführt wird. Durch die doppelte Anapher („‚Père‘ klang“ […] „‚Père‘ klang“) wird es in seinem Klang nachdrücklich hervorgehoben. Die Emphase ist hier auch insofern gerechtfertigt, als der Vater im Erzähler einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt. Der Familienvater ist „ein stattlicher Mann, mit einem schönen, weißen Bart“ und „lachenden Augen“; er trägt „Käppchen und Gewand nach Art der marokkanischen Juden.“94 Élie stellt ihm den Reisenden vor; er erklärt, dass dieser Jude sei und nennt seinen Namen. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass die Stimmen von Marrakesch ein autobiographisches Werk sind: ‚E-li-as Ca-ne-ti?‘ wiederholte der Vater fragend und schwebend. Er sagte den Namen ein paarmal vor sich hin, wobei er die Silben deutlich voneinander abhob, in seinem Munde wurde der Name gewichtiger und schöner. […] Ich hörte erstaunt und betroffen zu. In seinem Singsang kam mir mein Name so vor, als gehöre er in eine besondere Sprache, die ich gar nicht kannte. Er wog ihn großherzig vier- oder fünfmal […]. Ich wußte, er würde Sinn und Schwere meines Namens finden; und als es soweit war, blickte er auf und lachte mir wieder in die Augen. Er stand nun da, als wolle er sagen: der Name ist gut, aber es gab keine Sprache, in der er es mir sagen konnte.95

Der Vater erkennt „Sinn und Schwere“ des Namens, der die jüdisch-sephardische Herkunft bezeugt, und in dieser Namensprüfung wird der Erzähler gleichsam erneut in die jüdische Gemeinschaft aufgenommen.96 Nach seiner Identifikation mit dem kleinen Platz in der durch sephardische Flüchtlinge gegründeten Mellah stellt für den Reisenden die Wiederholung des Namens das zweite Schlüsselerlebnis seiner jüdischen Iden-

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Wie schon bei „Pascha“ und „Kommandant“ (ebd., S. 55) betont diese Wendung den besonderen Klang der Worte. Zu Stimme, Artikulation, Aussprache, Akzent vgl. Kap. 4.3. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 63. Ebd., S. 64. Zu dieser Stelle und zum „Elias-Konzept“ vgl. Zymner: „Canettis Beitrag zur jüdischen Literatur in deutscher Sprache“, in: Identität und Gedächtnis in der jüdischen Literatur nach 1945, S. 51–55. Canetti hat in einem Interview selbst auf die Bedeutung des eigenen Namens hingewiesen (Elias Canetti: „Gespräch mit Joachim Schickel“, in: Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 241– 265, hier S. 241–244). Für den Erzähler kann aber offenbar nicht die Religion das identitätsstiftende Merkmal des Jüdischen sein. Er muss die Einladung zum Purim-Fest ausschlagen, um den Vater nicht durch seine „Unkenntnis der alten Gebräuche“ zu enttäuschen, denn er „hätte das meiste falsch gemacht und Gebete […] nur sagen können wie ein Mensch, der nie betet.“ (Ebd., S. 65). Vgl. auch schon die Episode im Bethaus auf dem jüdischen Friedhof: „Man nahm mich für keinen Juden und ich verrichtete kein Gebet.“ (Ebd., S. 45).

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Die Stimmen von Marrakesch

tität dar.97 So hält Hanuschek über die Aufzeichnung Die Familie Dahan fest, Canetti sei hier bereits auf der Suche „nach Übereinstimmungen mit der Kultur seiner spaniolischen Kindheit“ gewesen, „zu einer Zeit, als er schon einige Jahre den Plan hat, einmal seine Kindheitsgeschichte zu schreiben.“98 Allerdings versagt sich der Erzähler ausgerechnet im Haus der Familie Dahan seine Erinnerung, indem er die „eingemachte[n] Früchte“, die ihm Élies Schwägerin anbietet, „höflich“ ablehnt, mit der (unausgesprochenen) Begründung: „vielleicht weil sie mich zu sehr anheimelten“.99 Diese gleichen Früchte wie auch die „Mutter sie zu machen pflegte“ sind ein Teil der spaniolischen Kultur, vor allem aber eine zu starke Erinnerung an die Mutter – gleichsam madeleines, die man lieber nicht anrührt. Im Gegensatz dazu steht die Hingabe an den Vater Dahan. Im „wunderbaren Bann des Namen-Singsangs“ schweigt der Erzähler. Er wünscht sich, dass seine „Augen so lachen könnten“ wie diejenigen des „herrlichen Mannes“, denn keine Worte und keine Sprache könnten seine „unbändige Liebe“ zum Ausdruck bringen. Zu Élie etwas zu sagen, das dieser dann seinem Vater hätte übersetzen können, „wäre entwürdigend gewesen“ – „kein Dolmetsch war […] für ihn gut genug.“100 Der eigene Name ist unersetzbar und unübersetzbar; er gehört einer ganz anderen, höheren Sprache an. „Mein Gott ist der Name“, schreibt Canetti in einer Aufzeichnung; er „fürchte die Zerlegung und Erklärung von Namen […] mehr als Mord.“101 Dies nicht zuletzt deshalb, weil der Name, und insbesondere der Name des Autors, „die einzige wirkliche Form des Überlebens“ darstellt.102 Eigennamen spielen auch in Élies Rede eine wichtige Rolle. Es gibt darin Worte, die stärker als andere mit Bedeutung aufgeladen sind und grundlegende Sinnbeziehungen, ja ganze Vorstellungswelten entstehen lassen. Sie bezeichnen jeweils einzelne Menschen („père“, „plongeur“, „Kommandant“, „Pascha“, „Glauoi“) oder Menschengruppen (Israeliten, Amerikaner), die Élies soziale Welt konstituieren und denen er in egali97

Zum Platz in der Mellah, den der Erzähler schlicht „das Herz“ (ebd., S. 47) nennt, als Zielort der Reise und zugleich als Ort der Rückkehr zu sich selbst vgl. ebd., S. 40; die Mellah selbst wird davor bereits als Schauplatz und Sinnbild des Jüdischen beschrieben (vgl. ebd., S. 36–40). Analog zur Identifikation mit dem Platz wirkt das Hören des eigenen Namens in der Stimme des Vaters Dahan; Durzak schreibt: „Was sich ereignet, ist eine mythische Transformation: der Erzähler verwandelt sich zurück in den Ursprung seiner Geschichte“ (Manfred Durzak: „Formen des Umgangs mit dem ‚Fremden‘. Am Beispiel der Stimmen von Marrakesch“, in: Literatur im interkulturellen Dialog. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Christoph Graf v. Nayhauss. Hrsg. v. Manfred Durzak u. Beate Laudenberg. Bern/Berlin u. a.: Lang, 2000, S. 91–103, hier S. 102). Zur Identität des Erzählers und ihrer Auswirkung auf den Text vgl. auch Fuchs: „Der touristische Blick“, in: Reisen im Diskurs, S. 83 f. 98 Hanuschek: Elias Canetti, S. 537. 99 Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 51. 100 Ebd., S. 64 f. 101 Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 208 f. 102 Ebd., S. 210. Zum Überleben vgl. Kap. 3.5.

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tärer Beziehung zugehörig bzw. in untergeordneter Rolle hörig ist.103 Der besondere Status dieser Worte – Élie scheint sie wie Eigennamen zu verwenden104 – führt dazu, dass sie sich oft gegen eine Übersetzung ins Deutsche sperren. So erweist sich der Sprachwechsel wieder einmal als Mittel zur Markierung bestimmter Worte oder Wendungen, denn das Französische hebt sich deutlich von der deutschen Aufzeichnung ab. Als Leser kann bzw. muss man sich jedoch vorstellen, dass die Gespräche zwischen Élie und dem Erzähler ausschließlich in französischer Sprache stattgefunden haben, d. h. in einer beiden Gesprächspartnern gemeinsamen Verkehrssprache. Für Élie ist nämlich das Französische eine in Marrakesch gesprochene, allerdings von einer Fremdherrschaft eingeführte, exogene Sprache, vermutlich ‚fremdsprachiger‘ als das Arabische.105 In der Tat bringt Élies Wortschatz die Mehrsprachigkeit der Marrakescher Kultur und Geschichte zum Ausdruck: arabischer Raum, jüdische Enklave, französische Kolonialmacht, amerikanische Besatzung. Aufgrund der bisherigen Ausführungen soll zum Schluss noch die Frage diskutiert werden, ob der Sprachwechsel in der Rede von und über Élie als ein Verfahren der akustischen Maske zu betrachten sei. Wie bereits erwähnt, bleibt der Aufzeichnungstext durch Sprachwechsel einem bestimmten Wortlaut treu und gibt Zitate aus der Figurenrede in ihrem O-Ton wieder. Dies erinnert in der Tat an die akustischen Masken aus Canettis Dramen, die während der Wiener ,Diktatur‘ von Karl Kraus entstanden. Zu den von Kraus verwendeten Kunstmitteln zählt Canetti an erster Stelle die „Wörtlichkeit“ als „akustische[s] Zitat“.106 Indem man sie zitiert, sind Menschen „in ihren eigenen Worten zu verklagen“107 und „aus ihrem eigenen Mund heraus zu verurteilen“108: also in ihrer oder mit ihrer eigenen Stimme. Canetti bezeichnet diese Zitate als „akustisch“, weil darin Stimmen zu Wort kommen; Kraus ist „von Stimmen verfolgt“, den Stimmen der „Wiener Wirklichkeit“ – selbst in den Zeitungen stehen für ihn „laute Worte“, die er so liest, „als ob er sie hörte“.109 Das Hören, das Canetti als „Verbindung von Sprache und Menschen“110 von Kraus lernt, besteht darin, die sprechende Stimme 103

Obwohl es mitunter eindeutige Worte der Autorität sind, handelt es sich im Sinne Bachtins nicht so sehr um „autoritäre“, sondern eher um „innerliche überzeugende“ Worte; zu dieser Unterscheidung vgl. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 229 ff. 104 Jedenfalls spielen in Élies Vokabular Personennamen als Garanten von Autorität, Macht, Würde und Ehre eine wichtige Rolle (der eigene Name, der Name des Kommandanten, der jüdische Nachname Samuel, der Volksname „Israélite“). Spitzer schreibt über Alfred Kerr, dieser „betracht[e] die Worte rein akustisch, naiv, wie sie ihm als Fremdling entgegentreten, also als Eigennamen.“ (Spitzer: „Sprachmengung als Stilmittel“, in: Stilstudien, Bd. 2, S. 121); vgl. dazu Kap. 4.3. 105 Zur Sprache als Mittel und Gegenstand kolonialer Eroberung vgl. die Ausführungen zu Derridas Le monolinguisme de l’autre in Kap. 6.2.1. 106 Canetti: „Karl Kraus“, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 133. 107 Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 207 f. 108 Canetti: „Karl Kraus“, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 133. Zu den Kraus-Zitaten vgl. auch Walter Benjamin: „Karl Kraus“, in: Gesammelte Schriften, Bd. II/I, S. 334–367, bes. S. 346 ff. 109 Canetti: „Karl Kraus“, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 133. 110 Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 208.

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und ihre Worte bzw. ihre Wörtlichkeit aufzunehmen, um sie dann wiederzugeben. Durch Kraus wird Canetti zum Ohrenzeugen;111 im Belauschen merkt er, wie „der einzelne Mensch eine sprachliche Gestalt hat, durch die er sich von allen anderen abhebt“112 – eine akustische Maske. Ein Kennzeichen der akustischen Maske ist „das Gleichbleibende [ihres] Sprechens“,113 denn sie hat keine andere Wahl als sich „immer und immer [zu] wiederholen“.114 Sie verwendet „Worte, wie sie am häufigsten gebraucht werden, Phrasen, das Allerallgemeinste, hunderttausendfach Gesagte, und dieses, genau dieses, benutz[t] sie, um ihren Eigenwillen zu bekunden […]; und wiederholt es, bis es nicht zu erkennen ist“.115 Darin liegt die Ohnmacht der Rede der akustischen Masken: Nicht nur dass sie immer das Gleiche wiederholen, sie sind außerdem nicht in der Lage, sich wechselseitig zu verstehen, „am wenigsten im Sprechen, das sie trenn[t], statt sie zu verbinden.“116 Die Figur Élies besitzt den starken Eigenwillen der Maske, der sich in einer im Wortschatz beschränkten, wiederholenden Rede äußert. Nach seiner zweiten Begegnung mit Élie fürchtet der Erzähler, er „würde nun täglich kommen, vielleicht mehr als einmal, und immer wieder denselben Satz wiederholen“.117 Doch im Unterschied zu den Masken aus den Dramen kann Élie in seinem Starrsinn nicht vollkommen verhärten, denn er befindet sich nicht im Dialog mit einer anderen akustischen Maske, sondern mit einer Erzählerfigur, die sich trotz seiner Maskenzüge um Kommunikation bemüht. Während der Dramatiker Canetti unbeteiligt lauscht und aufnimmt, ist der Aufzeichner Canetti in seiner Rolle als Erzähler auch Gesprächspartner seiner Figuren. Er übernimmt sogar deren Worte und Sprache; dieses Zitieren aber, und überhaupt die Figurenrede, stehen in den Stimmen von Marrakesch nicht länger in der Krausschen Tradition von Anklage und Hinrichtung durch die Wiedergabe des bloßen Wortlauts. Zwar möchte der Erzähler durch die Stilisierung der Rede Élies dessen Dummheit und 111

Vgl. dazu den titelgebenden Text in Der Ohrenzeuge. Fünfzig Charaktere (Elias Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 2. München/Wien: Hanser, 1995, S. 286 f.). Die Konzentration auf das Hören soll nicht dazu führen, dass man zu einem „wandelnde[n] Phonograph[en]“ wird, behauptet Canetti in einem Interview aus dem Jahr 1937: „Das wäre ja nur wieder eine der zahlreichen Formen mechanischer Abschreiberei des Lebens, die an sich mit Kunst nicht das mindeste zu tun haben.“ (Elias Canetti: „Über das heutige Theater“, in: Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 138). In Der Ohrenzeuge heißt es ferner: „Da sind alle diese modernen Apparate überflüssig: sein Ohr ist besser und treuer als jeder Apparat, da wird nichts gelöscht, da wird auch nichts verdrängt“ (Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 286). 112 Canetti: „Karl Kraus“, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 136. Vgl. dazu Reinhart Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert. Berlin: Akademie-Verlag, 2001, S. 49 f. u. 318–336. 113 Canetti: „Gespräch mit Manfred Durzak“, in: Gesammelte Werke, Bd. 10. S. 299. 114 Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 208. 115 Canetti: „Karl Kraus“, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 136. 116 Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 338. 117 Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 55. Vgl. auch ebd., S. 57. Élies stereotype „Aufklärungen“ (ebd., S. 56) erinnern an das für die akustische Maske typische Reden in Stereotypen.

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mitunter dessen Lächerlichkeit bloßstellen, doch die denunziatorische Funktion des Zitats ist nur noch schwach – nicht zuletzt deshalb, weil der Erzähler an Rede und Schicksal Élies partizipiert. Wie bei Kraus steht in Canettis Aufzeichnungen nach einer Reise die Wörtlichkeit in einem Zusammenhang mit Zitieren und Hören, sie wird aber mit anderen erzählerischen und poetologischen Absichten eingesetzt. Eher wäre sie mit einer anderen „Schule des Hörens“ in Verbindung zu bringen, die Canetti ebenfalls in seinen Wiener Jahren besucht. Dort lehrt ihm nämlich seine Frau Veza ein wichtiges Prinzip: „Die Achtung vor Menschen beginnt damit, daß man sich nicht über ihre Worte hinwegsetzt.“118 Das bedeutet, Menschen – auch als literarische Figuren – zu Wort kommen zu lassen, auf ihre Sprache zu hören und zu achten, ihre Worte mit Respekt zu behandeln. Der achtsame und rücksichtsvolle Umgang mit Worten ist das Zeichen einer großen Leidenschaft, die sich bei Canetti auch als Empathie und Schutzphantasie den Worten gegenüber zeigt: „Nichts ist mit Worten vergleichbar, ihre Entstellung quält mich, als wären es schmerzempfindliche Geschöpfe.“119 Worte sind von Bedeutung, weder austauschbar noch kontingent. Die fremdsprachigen Worte, die in den Stimmen von Marrakesch erklingen, führen dies vor; sie sind einer Übersetzung gegenüber widerstandsfähig und nicht ohne weiteres aus dem Weg zu räumen. So bezeugt der Sprachwechsel jeweils Stimmen, die andere Sprachen sprechen und deren Wortlaut den einsprachigen Verlauf der Aufzeichnung unterbricht. Es geht dabei um mehr als nur Authentizität. Um zu zeigen, welche Rolle hier das durch den Sprachwechsel angeführte ‚Wortwörtliche‘ spielt, ist an dieser Stelle noch einmal auf den Entstehungsprozess des Textes zurückzugehen. Die im Verhältnis zum Deutschen der Aufzeichnung andere Sprache wird zur Trägerin der Erinnerung, und zwar in einem zweifachen Sinne. Ein bestimmter fremdsprachiger Wortlaut wird über das Ohr wahrgenommen und prägt sich in das Gedächtnis ein, indem die sprechende Stimme an ihm gleichsam haften bleibt. Über eine akustische Erinnerung gelangt er dann als verschriftlichte Stimme zu Papier. Der nachhallende Wortlaut dieser fremdsprachigen Stimmen kann oft als Zündmaterial für den Erinnerungstext wirken.120 Das heißt, dass – geschriebene wie nachgesprochene – Wörtlichkeit eine Form von Erinnerung ist; sie speichert die Erinnerung und vermag auch diese wieder auszulösen. Anhand des Sprachwechsels in den Stimmen von Marrakesch lässt sich das Verhältnis zwischen Sprache(n) und Erinnerung sowie zwischen Rede des Erzählers und Rede der Figur weiter erkunden.121 Inwiefern der Sprachwechsel als Mittel zur Figurencharakterisierung oder als Zeichen der Authentizität bzw. der Authentifizierung diene, soll genauer erläutert werden. Was aber mit Bezug auf eine Figur bzw. auf ihre Rede je118

Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 207. Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 403. Vgl. dazu die Abgrenzung von Joyce (ebd., S. 126). 120 Über die Erinnerung und das Schreiben der Erinnerung behauptet Canetti: „Aus einem einzigen Wort sollen wieder alle Sätze werden.“ (Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 5, S. 81). 121 Vgl. dazu Kap. 4.3. und 4.4. 119

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weils als authentisch oder authentifiziert gelten könne, ist oft nicht eindeutig zu bestimmen; vielmehr stößt man auf ambivalente und hybride Phänomene. So führt alleine schon die Einrahmung der Figurenrede zu einer grundsätzlichen Ambivalenz: Auf der Ebene des Erzählens wird nämlich der Sprachwechsel als sprachliche Abweichung wahrgenommen, nicht aber auf der Ebene des Erzählten, wo er im Gegenteil dem OTon der sprechenden Figur entspricht. Diese Ambivalenz kann noch durchkreuzt werden, wenn der O-Ton der Figur in die Rede des Erzählers wandert und dort, als Zitat zweiter Stufe, durch dessen Stimme gebrochen wird. An solchen Stellen zeigt sich, wie durchlässig die Grenzen zwischen den zwei genannten Ebenen sind. Je mehr Wiederholungen ein fremdsprachiger Ausdruck erfährt, umso mehr Brechungen oder Überlagerungen von Stimmen sind in ihm auszumachen. Während Bachtin solche Hybridisierungen der Stimme innerhalb einer Sprache untersucht, werden sie in den Stimmen von Marrakesch oft als jenes „machtvoll[e] Mittel“ eingesetzt, das er die „dialogische vergleichende Gegenüberstellung reiner Sprachen“ nennt.122 Diese entspricht der hier als Sprachwechsel beschriebenen manifesten Form von Mehrsprachigkeit: Sie „signalisiert die Grenzen der Sprache, verleiht ein Gespür für diese Grenzen, läßt die plastischen Formen der Sprache ertasten.“123 Die Gegenüberstellung verschiedener Sprachen im Text stimmt mit Canettis mehrsprachiger Einstellung zur Sprache, zu jeder Sprache, überein: In einer Sprache allein werde ich nie sein können. Ich bin darum dem Deutschen so tief verfallen, weil ich immer auch eine andere Sprache fühle. Es ist richtig zu sagen, daß ich diese fühle, sie ist mir nicht etwa bewußt. Aber ich bin freudig erregt, wenn ich auf etwas stoße, das sie heraufholt.124

Das Geheimnis der Sprachgrenzen und das ‚Gefühl‘ der Mehrsprachigkeit werden dann wirksam, wenn Sprachen aufeinanderstoßen. Canetti hat eine andere Sprache im Gefühl; sein Erzähler hat sie dagegen im Ohr, nicht nur während er durch Marrakesch geht, sondern auch danach, in seiner Erinnerung an Marrakesch. Ist diese Aufnahme durch das Ohr bisher an eine „Gier“ bzw. an eine „Suche nach Redeweisen“,125 d. h. an eine Leidenschaft für Worte und Wörtlichkeit gebunden gewesen, so wird im Folgenden der Wortlaut nicht länger als Wort, sondern vielmehr als Laut eine wichtige Rolle spielen. Die akustische Aufmerksamkeit lässt dabei keineswegs nach.

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Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 249. Ebd. 124 Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 441. 125 Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 208 f.; die Suche führte Canetti in seinen Wiener Jahren „zu rastlosen, nächtlichen Gängen durch die Straßen und Lokale der Leopoldstadt“ (ebd., S. 209). 123

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3.5. Ohrmacht: Stimmen „jenseits von Worten“ In den mehrsprachigen Raum Marrakeschs scheint der Erzähler „bedeutungsvoll hineingerufen“126 zu werden. Er bewegt sich als flanierender Beobachter durch die Stadt, nimmt diese aber vor allem akustisch wahr. Er „lauscht […] auf Stimmen, die hinter der Realität die letzten Dinge offenbaren“, heißt es im Klappentext einer Taschenbuchausgabe der Stimmen von Marrakesch.127 Weniger um solche Epiphanien128 drehen sich die folgenden Ausführungen als vielmehr um besondere Erfahrungen der Stimme, die als Begegnungen mit der Stadt, der Sprache und dem Anderssprachigen zu lesen sind. Als Titel und als Gegenstand der Aufzeichnungen sind die Stimmen von Marrakesch sowohl eine Metonymie als auch eine Metapher. Metonymisch verweisen die Stimmen auf ihre Sprecher; die einzelne Stimme bzw. der einzelne Sprecher stellt wiederum das Teil in einer metonymischen Figur dar, deren Ganzes die Stimmenvielfalt selbst ist. Metaphorisch stehen die Stimmen für die Äußerungen der Sprecher (für das, was diese in Sprache artikulieren). Die Stimme als Metapher des Ausdrucks kann sich jedoch auch als Klang äußern, als ein Laut, dessen Bedeutung sich jenseits der Signifikation durch Wortgebrauch und ‚Wortsprache‘ herstellt. Dies gilt für die arabische Sprache, die der Erzähler in Marrakesch ständig hört, aber nicht versteht; er verlässt sich dann umso mehr auf seinen rein akustischen Eindruck der Stimme. Eine unverständliche Sprache hören: Marcel Proust beschreibt diese Ohnmachtserfahrung mit den Worten: Dans une langue que nous savons, nous avons substitué à l’opacité des sons la transparence des idées. Mais une langue que nous ne savons pas est un palais clos dans lequel celle que nous aimons peut nous tromper, sans que, restés au dehors et désespérément crispés dans notre impuissance, nous parvenions à rien voir, à rien empêcher.129

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Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 16. Elias Canetti: Stimmen von Marrakesch. Aufzeichnungen nach einer Reise. 26. Aufl. Frankfurt/M.: Fischer, 2004. Der Verfasser des Klappentextes wird nicht genannt. 128 Durzak versteht „Epiphanie als blitzartiges Sichtbarwerdens des Wesens“; im Abgleich mit dem von Thomas von Aquin übernommenen Epiphanie-Konzept bei Joyce bezeichnet er die Epiphanie bei Canetti als den „Vorgang der Verwandlung“ (Durzak: „Formen des Umgangs mit dem ‚Fremden‘“, in: Literatur im interkulturellen Dialog, S. 99 f.). Vgl. dazu auch Göpfert: „Zu den ,Stimmen von Marrakesch‘“, in: Elias Canettis Anthropologie und Poetik, S. 135–150. 129 Marcel Proust: À la recherche du temps perdu. Texte établi et présenté par Pierre Clarac et André Ferré. Paris: Gallimard, 1954 ff., Bd. 1, S. 583. In einem Brief aus den Familiares (I, 5) schildert Petrarca, wie er in Köln Frauen bei einem chrtistlichen Baderitual am Rhein beobachtet, die er als „nescio quid blandum peregrino murmure colloquentes“ beschreibt. Er habe dabei verstanden, heißt es weiter, „quod […] veteri proverbio dici solet, inter linguas incognitas omnes propemodum surdos ac mutos esse“, dass man also, unbekannten Sprachen ausgesetzt, gewissermaßen taub und stumm sei. Doch „surdos“ bezieht sich nur auf die (unverständlichen) Worte, nicht auf den Klang und das wohlklingende Murmeln (Francesco Petrarca: Le Familiari. Edizione critica per cura di Vittorio Rossi, Bd. I. Firenze: Sansoni, 1933, S. 28).

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Man hört einen Laut, einen Klang, ohne aber dessen Bedeutung erkennen zu können – man ist aus der Sprache wie ausgesperrt. Hinzu kommt, dass die „opacité des sons“ als das einzig Wahrnehmbare trügen, d. h., eine falsche Bedeutung suggerieren kann. Dies rührt daher, dass man immer versucht oder meint, irgendetwas an einer unbekannten Sprache zu verstehen (und wenn es nur darum geht, wahrgenommene Laute überhaupt als Sprache zu erkennen). Insofern trifft die folgende Bemerkung Sigmund Freuds über den Traum auch für die Realität zu: Es ist bekannt, daß wir nicht imstande sind, eine Reihe von fremdartigen Zeichen anzusehen oder ein Gefolge von unbekannten Worten anzuhören, ohne zunächst deren Wahrnehmung nach der R ü c k s i c h t a u f V e r s t ä n d l i c h k e i t , nach der Anlehnung an etwas uns Bekanntes zu verfälschen.130

Vor der Gefahr einer solchen Verfälschung scheint der Erzähler der Stimmen von Marrakesch gefeit zu sein, da er offenbar die Fähigkeit besitzt, sich einen Zugang zum Arabischen – ohne jegliche Sprachkenntnis und wesentlich über das Ohr – zu eröffnen und so die Sprache doch (und weitgehend richtig) zu verstehen. Diese Spannung zwischen Ohnmacht und Ohrmacht zählt zu den wichtigsten Erfahrungen der Reise. Im bereits zitierten Klappentext zu den Stimmen von Marrakesch schreibt Canetti, dass der Aufenthalt in einem fremden Land den Reisenden in besonderem Maß überwältigt, wenn er die Sprache vor Ort nicht versteht: Reisen in unbekannte Länder, besonders solche unter Menschen, deren Sprache ich nicht verstehe, sind die einzigen Perioden, in denen ich meine Aufzeichnungen unterbrechen muß, die ich sonst regelmäßig, eigentlich täglich führe. Es stürzt zu viel auf einmal über einen her, die Bestimmtheit und Kraft der neuen Eindrücke macht ihre schriftliche Fixierung unmöglich. Man kann gar nicht gleich wissen, was es alles bedeutet, und der geringe Teil, den man versteht, ist der Aufzeichnung nicht wert. Kaum ist man wieder zu Hause, in der vert[r]auten alten Umgebung, findet das Neue zu seinem Sinn, es beginnt der zweite, vielleicht interessantere Teil der Reise.131

Das Schreiben muss vertagt werden, wie der Untertitel Aufzeichnungen nach einer Reise belegt. Nicht all die „neuen Eindrücke“ sind im engeren Sinn sprachlich, und der „geringe Teil, den man versteht“, ist nicht nur auf die unbekannte Sprache zu beziehen: Er umfasst auch die Architektur und das gesellschaftliche Leben der Stadt sowie die Erscheinungsbilder und Verhaltensweisen ihrer Bewohner. Der Erzähler bewegt sich in der ihm fremden arabischen Kultur, wobei das Arabische ein Sammelbegriff für viele verschiedene arabisch geprägte Kulturen ist, die sich zum Teil wiederum mit nichtarabischen Minderheiten vermengen. Zur Fremderfahrung gehört freilich weit mehr als die arabische Sprache; aber die Fremderfahrung wird auch dann, wenn sie die Dimension des Sprachlichen übersteigt, oft von der unverständlichen Sprache begleitet.

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Sigmund Freud: „Über den Traum“, in: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Anna Freud, E. Bibring, W. Hoffer u. a. Frankfurt/M.: Fischer, 1999, Bd. II/III, S. 645–700, hier S. 679 f. 131 Canetti: [Klappentext].

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Auf diese Weise scheint sich die Unverständlichkeit von der Sprache auf die Erlebnisse zu übertragen; so etwa an der folgenden, bereits zitierten Stelle, wo der Erzähler erneut (im eben angeführten Zitat Canettis findet sich ein ähnlicher Gedankengang) von der Unverständlichkeit der Sprache ausgeht, um anschließend zu erkennen, dass das Verständnis des Erlebten zunächst versperrt ist und sich nur zeitverzögert einstellt: Ist es die Sprache, die ich dort nicht verstand, und die sich nun allmählich in mir übersetzen muß? Da waren Ereignisse, Bilder, Laute, deren Sinn erst in einem entsteht; die durch Worte weder aufgenommen noch beschnitten wurden; die jenseits von Worten, tiefer und mehrdeutiger sind als diese.132

Sowohl die arabische Sprache als auch die evozierten „Ereignisse, Bilder, Laute“ hat der Erzähler „jenseits von Worten“ wahrgenommen. Diese ‚Wortlosigkeit‘ bildet das Gegenstück zu jener Wörtlichkeit der fremdsprachigen Zitate, die im vorangehenden Kapitel herausgearbeitet worden ist. Die Übersetzung, von der nun die Rede ist, scheint nicht bloß Sprache in Sprache zu übersetzen, sondern „allmählich“ zu einem „Sinn“ des Erfahrenen hinzuführen, der „tiefer und mehrdeutiger“ ist als jeder wortgebundene Sinn. Demzufolge ließe sich das Nichtverstehen von Sprachen als eine Utopie anvisieren, die durch das Verlernen der Sprachen zu verwirklichen wäre: „Ich träume von einem Mann, der die Sprachen der Erde verlernt, bis er in keinem Lande mehr versteht, was gesagt wird.“133 In einer anderen Aufzeichnung Canettis kommt ein verwandter „Mann“ vor: „Einen Mann in die Sprachen der Welt entlassen. Um alles Unverständliche wird er weiser. Er hütet sich davor, die Dunkelheit zur Tugend zu erheben. Aber er fühlt sie überall um sich.“134 Auch wenn nicht ganz klar ist, ob der Mann die Dunkelheit oder die Tugend um sich herum fühlt, bleibt die unbekannte Sprache jedenfalls dunkel, und sie reißt alles in das Dunkel des Unverständlichen. Nun fragt sich aber der Erzähler der Stimmen von Marrakesch, ob es nicht auch umgekehrt sein könnte. Denn die bekannte Sprache zieht all die Konzentration hin zu den Worten und deren Bedeutung und verhindert somit jene unbefangene akustische Wahrnehmung, die er sich wünscht: Was ist in der Sprache? Was verdeckt sie? Was nimmt sie einem weg? Ich habe während der Wochen, die ich in Marokko verbrachte, weder Arabisch noch eine der Berbersprachen zu erlernen versucht. Ich wollte nichts von der Kraft der fremdartigen Rufe verlieren. Ich wollte von den Lauten so betroffen werden, wie es an ihnen selber liegt, und nichts durch unzulängliches und künstliches Wissen abschwächen.135

Das Verständnis der Sprache nimmt den Stimmen ihre Fremdartigkeit; bereits rudimentäre Sprachkenntnisse verringern das Potential ihrer Wirkung. In einer bekannten Spra132

Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 21. Ebd. 134 Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 391. 135 Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 21. Vgl. dazu die Ausführungen über Wortsprache und reine Lautsprache in Ernst Jünger: Lob der Vokale. Zürich: Arche, 1954, S. 16 f. 133

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che hat jeder Laut eine oder mehrere Bedeutungen, die sich durch das Erkennen des Lautes als eines Wortes innerhalb einer Abfolge von Worten automatisch ergeben. Eine Ausnahme stellt in dieser Hinsicht die Begegnung mit der Frau am Gitter (so der Titel der Aufzeichnung) dar. Wie bereits geschildert, wird diese Frau als geisteskrank bzw. „malade dans sa tête“ bezeichnet.136 Der Erzähler wird von ihrer Stimme angesprochen, und er kann – kraft eines Sprachgefühls – die Bedeutung ihrer Rede und zum Teil sogar ihrer Worte bestimmen: Ich passierte einen kleinen, öffentlichen Brunnen, aus dem ein halbwüchsiger Junge trank. Ich bog nach links und hörte eine leise, weiche, zärtliche Stimme von der Höhe. Ich blickte an einem Hause gegenüber von mir auf und sah in der Höhe des ersten Stocks hinter einem geflochtenen Gitter das Gesicht einer jungen Frau. Sie war unverschleiert und dunkel und hielt ihr Gesicht ganz nah ans Gitter. Sie sprach viele Sätze, in leichtem Fluß, und alle diese Sätze bestanden aus Koseworten. Es war mir unbegreiflich, daß sie keinen Schleier trug. Sie hielt den Kopf leicht geneigt und ich fühlte, daß sie zu mir sprach. Ihre Stimme hob sich nie, sie blieb gleichmäßig leise; es war so viel Zärtlichkeit darin, als hielte sie meinen Kopf in den Armen. Aber ich sah keine Hände, sie zeigte nicht mehr als das Gesicht, vielleicht waren die Hände irgendwo angebunden. Der Raum, in dem sie stand, war dunkel, auf der Straße, wo ich stand, schien grell die Sonne. Ihre Worte kamen wie aus einem Brunnen und flossen ineinander über, ich hatte nie Koseworte in dieser Sprache gehört, aber ich fühlte, daß sie es waren.137

Während der Wasserbrunnen öffentlich ist, sind die „wie aus einem Brunnen“ und „gleichmäßig leise“ fließenden Worte der Frau unmittelbar an den Erzähler gerichtet. Die Adressierung erfolgt „in dieser Sprache“; zwar handelt es sich dabei mit aller Wahrscheinlichkeit um Arabisch, doch der deiktische Verweis macht diese Sprache zu einer Hier-und-Jetzt-Sprache, die nur zwischen der Sprechenden und dem Zuhörer bzw. nur in dessen Gefühl existiert. In der Rede der Frau werden Sätze erkennbar, und in diesen Sätzen wiederum Worte: noch nie gehörte, ineinander übergehende Worte, deren Vermittlung und Bedeutung allein durch das Gefühl gewährleistet werden. Der Erzähler fühlt, dass es Koseworte sind, so wie er davor gefühlt hat, dass die Stimme der Frau nur ihm gilt. Sie soll weiter sprechen. Indem er seine Bewegungen so sacht und weich wie die Stimme macht, gelingt es dem Erzähler, sie nicht zu vertreiben; vielmehr bleibt sie auch aus der Entfernung wahrnehmbar, nachdem das Gesicht der Frau aus dem Blickfeld verschwunden ist: Ich wollte näher treten, um das Tor des Hauses zu sehen, aus dem die Stimme kam, aber ich hatte Scheu davor, daß eine Bewegung von mir die Stimme wie einen Vogel verscheuchen könnte. Was tat ich dann, wenn sie verstummte. Ich versuchte, so zart und leise zu sein wie die Stimme selbst und ging Schritte, wie ich sie noch nie gegangen war. Es gelang mir, sie nicht zu erschrecken. Ich hörte die Stimme noch, als ich ganz nah am Hause stand und den Kopf am 136

Diese Pathologisierung wird bei Hanuschek fortgeschrieben, der vom „zärtlich-irren Gerede“ der Frau spricht (Hanuschek: Elias Canetti, S. 539). Vgl. auch die Scheinidentität des Erzählers als „Doktor für die Verrückten“ sowie „die Verrückten in Marrakesch“ (Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 81). 137 Ebd., S. 31.

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Gitter nicht mehr sehen konnte. […] Gleich um die Ecke öffnete sich eine Sackgasse, aber da war es leblos und still und ich sah keinen Menschen, den ich etwas hätte fragen können. Auch in dieser Gasse verlor ich den Brunnen der kosenden Stimme nicht, um die Ecke klang es wie ein ganz fernes Plätschern. Ich ging zurück, stellte mich wieder in einiger Entfernung vom Hause hin und blickte auf, und da war das ovale Gesicht ganz nah am Gitter und die Lippen bewegten sich zu den zärtlichen Worten.138

Das Gitter, durch das die Frau spricht, ist ambivalent. Zum einen deutet es darauf hin, dass die Frau („vielleicht waren die Hände irgendwo angebunden“) sich in Gefangenschaft befindet – hinter Gitterstäben eingesperrt, die sie anstelle des fehlenden Schleiers schützen sollen. Zum anderen ist ihre Stimme eben nicht eingesperrt, sondern kann durch das Gitter nach außen dringen und hörbar werden. Obgleich vergittert, stellt das „Fenster der Sprechenden“139 eine Öffnung im Mauerwerk der Stadt dar: Es schien mir, daß sie [die Worte] nun ein wenig anders klangen, ein ungewisses Bitten war darin vernehmlich, als würde sie sagen: geh nicht weg. Vielleicht dachte sie, daß ich für immer gegangen war, als ich verschwand, um Haus und Tor zu prüfen. Nun war ich wieder da und sollte bleiben. Wie soll ich die Wirkung schildern, die ein unverschleiertes weibliches Gesicht, von der Höhe eines Fensters herabblickend, in dieser Stadt, in diesen Gassen auf einen hat. Wenig Fenster gehen auf die Gassen und nie sieht jemand zu ihnen heraus. Die Häuser sind wie Mauern, man hat oft lange das Gefühl, zwischen Mauern zu gehen, obschon man weiß, daß es Häuser sind: Man sieht die Türen und spärliche, unbenützte Fenster. Mit den Frauen ist es ähnlich, als unförmige Säcke bewegen sie sich auf den Gassen weiter, man erkennt, man ahnt nichts, man ist es bald überdrüssig, sich Mühe zu geben und sich zu einer Vorstellung von ihnen anzuhalten. Man verzichtet auf Frauen. Aber man verzichtet nicht gern, und eine, die dann an einem Fenster erscheint und gar zu einem spricht und den Kopf leicht neigt und nicht mehr weggeht, als hätte sie hier schon immer auf einen gewartet, und die dann weiterspricht, wenn man ihr den Rücken wendet und sacht weggeht, die sprechen wird, ob man da ist oder nicht, und immer zu einem, immer zu jedem sprechen wird, – eine solche Frau ist ein Wunder, eine Erscheinung, und man ist geneigt, sie für wichtiger zu halten, als alles, was es sonst in dieser Stadt zu sehen gäbe.140

Dem Erzähler entgeht die Wendung im Tonfall der Frau nicht, er vermag die Bitte der Stimme („als würde sie sagen: geh nicht weg“) zu hören. Er verlässt die Stimme nicht, denn er weiß um die Seltenheit einer solchen „Erscheinung“. Marrakesch wird hier als unzugängliche und verschlossene Stadt wahrgenommen,141 deren Frauen versteckt und 138

Ebd., S. 31 f. Ebd., S. 32. 140 Ebd. 141 Vgl. dazu folgende Aufzeichnung Canettis: „Was ist es, das man an den geschlossenen Städten so liebt, an den Städten, die ganz in Mauern enthalten sind, die nicht allmählich und ungleichmäßig an Straßen auslaufen? Es ist besonders die Dichte, man kann nicht überall hinaus, immer wieder gerät man an Mauern und wird auf die Stadt zurückverwiesen. In einer Stadt mit vielen Sackgassen wie Marrakesch vervielfältigt sich dieser Vorgang; man gerät tiefer und tiefer in sie hinein und steht plötzlich vor einer Haustüre und kann nicht mehr durch. Das Haus ist einem verschlossen; kein Weg führt hinein, kein Weg führt daran vorbei, man muß zurück. Die Bewohner dieser End– Häuser, obschon es Fenster kaum gibt, sind einander gerade so sehr bekannt, daß ein Fremder auf-

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verboten, bisweilen verstummt sind. Die marokkanische Gesellschaft wird beschrieben als eine, „die soviel Verborgenes hat, die das Innere ihrer Häuser, Gestalt und Gesicht ihrer Frauen und selbst ihre Gotteshäuser vor Fremden eifersüchtig verbirgt“.142 Das Verborgene, das zugleich das Verbotene ist, übt auf den Erzähler immer wieder eine starke Anziehungskraft aus, obwohl er im Umgang mit Frauen die strengen gesellschaftlichen Normen zumeist beachtet. Auffällig ist, dass er bei der Betrachtung und Beschreibung der Frauen zum Teil auf stereotype Bilder der arabischen bzw. orientalischen Frau zurückgreift. Als er im Haus eines Freundes aufs Dach steigt, heißt es: „Hier […] werde ich Frauen sehen wie in Märchen, von hier werde ich die Höfe der Nachbarhäuser schauen und ihr Treiben belauschen.“ Freudevoll richtet er seinen Blick, einen „unanständig[en]“ Blick, auf das Nachbarhaus, weil er von dort „weibliche und spanische Laute“ hört.143 Die Frauen sprechen hier untereinander; aus der (öffentlichen) Kommunikation mit Männern und vor allem mit Fremden scheinen sie ausgeschlossen zu sein. Sie schweigen. Es schweigen die zwei jungen Frauen aus der Familie Dahan, deren Schönheit der Erzähler bewundert: Élies Schwägerin, „die Französisch verstand, aber kaum den Mund aufmachte“, „die schöne, stumme Person“, die ihn „unverwandt schweigend“ anblickt,144 und Élies Tante, „ein üppiges, junges Weib“, das ihn „verwundert und gar nicht kriecherisch betrachtete“, aber die ganze Zeit „schwieg“.145 Das Gesicht der Tante erinnert den Erzähler „auf den ersten Blick an orientalische Frauen, wie sie Delacroix gemalt hat“; „ihre starken Fesseln“ sind „so anziehend wie ihr Gesicht“.146 Beide Frauen lösen erotische Phantasien aus, die freilich nicht artikuliert werden dürfen (es werden allenfalls vielsagende Blicke ausgetauscht), nur der Leser erfährt die Gedanken des Erzählers. Das verbotene Gespräch wird in ein imaginiertes überführt, das als solches jedoch rein monologisch ist. Es ist kein Zufall, dass die einzige Frau, die in Marrakesch einen Dialog mit dem Erzähler führt, keine Einheimische, sondern die „Inhaberin einer kleinen französischen Bar“147 und Tochter eines Franzosen und einer Chinesin ist. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, inwiefern die Unverschleierte am Gitter als eine Wundergestalt erscheinen muss. Sie ist eine Frau, die – so die ‚Übersetzung‘ ihrer fallen muß. Für Passanten ist kein Anlaß. Fremde sind hier mehr Fremde, und Bewohner mehr zu Haus.“ (Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 197). 142 Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 17. 143 Ebd., S. 29. Es sind Frauenstimmen, die Spaniolisch sprechen und die der Erzähler „zu [s]einer Freude“ (ebd.) hört. Dass er in Marrakesch auf der Suche nach dieser Sprache ist, wird deutlich, als er Élie fragt, „ob es noch Leute in der Mellah gäben, die das alte Spanisch sprächen.“ (Ebd., S. 51). 144 Ebd., S. 49 f. 145 Ebd., S. 58. 146 Ebd. 147 Ebd., S. 79. Die Bar, die bezeichnenderweise „Scheherazade“ heißt, ist ein von Geld und Überfluss geprägter Mikrokosmos inmitten der allgegenwärtigen Armut der Stadt. Hier verkehren Europäer und „europäisch gekleidet[e]“ (ebd.) und trinkende Araber; immer wieder gehen die Kunden von der Bar über die Straße ins Bordell.

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Worte durch den Erzähler – einen fremden Passanten bittet, sich bei ihr aufzuhalten. Im Gegensatz zu den „unförmige[n] Säcke[n]“, die zumeist auch noch verschleiert sind, gibt sie Anlass zu einer zärtlich-erotischen Phantasie, indem sie spricht. Es ist aber auch die arabische Sprache, zwischen Laut und Bedeutung oszillierend, die dem Erzähler gleichsam eine Projektionsfläche für manches eigene Wunschbild der fremden Kultur bietet. Ähnlich wie in der visuellen Wahrnehmung die „Vorstellung“ des Betrachters die Frauenkörper ausmalt und ergänzt, verleiht hier in der akustischen Wahrnehmung die „Vorstellung“ des Lauschenden der Frauenstimme ihre Bedeutung, nämlich ewige Koseworte. Ob jemand lauscht oder nicht – der Stimmenbrunnen wird nicht versiegen, er wird weiter und immer seine Zärtlichkeiten sprechen: „jene Worte flossen weiter wie ein Bach aus Vogellauten“, heißt es, wobei sich die wiederkehrende Bildlichkeit der fließenden Gewässer mit der Metapher des singenden Vogels vereint.148 Der Erzähler „verzichtet nicht gern“ bzw. will nicht „das Gesicht am Gitter […] enttäuschen“, doch die „mißbilligende[n] Blicke“ verschleierter Frauen, die taub vorbeigehen, „als ob niemand spräche“,149 verunsichern ihn allmählich. Vermutlich ist es Zeit, sich vom Gitterfenster abzuwenden. Der Frauenstimme mischen sich nun die „schrillen Rufe“ einer Gruppe von Schulkindern bei, die – „als hörten sie die Laute von oben nicht“ – dem Erzähler „das Lauschen zur Qual“ machen.150 Unter diesen Schulkindern ist jener kleine Junge, den der Erzähler auf Französisch anspricht und auffordert, aus dem französischen Buch über die marokkanischen Glaubenssitten vorzulesen. Der Kontrast zwischen den konzentriert vorlesenden Kinderstimmen und dem diffusen Lärm, den sie beim Spielen machen, kehrt in der Aufzeichnung Besuch in der Mellah wieder, als der Erzähler eine hebräische Schule besucht. Diese kündigt sich durch hochfrequentes Kreischen und „ohrenbetäubende[s]“151 Schreien an: Ein dünnes, hohes Geräusch, das erst nach Grillen klang, verstärkte sich, bis ich an eine Voliere von Vögeln dachte. ‚Was kann das sein? Hier gibt es doch keine Voliere mit Hunderten von Vögeln! Kinder! Eine Schule!‘ Bald war kein Zweifel; der ohrenbetäubende Lärm kam aus einer Schule.152

Wie es in den Stimmen von Marrakesch häufig der Fall ist, wird auch an dieser Stelle eine einzelne Episode durch einen zunächst noch unbestimmten akustischen Eindruck eingeleitet. Indem sich der Erzähler allmählich der Quelle des Lärms nähert, wird dieser 148

Ebd., S. 33. Die Metapher der Stimme als singende Vogelstimme ist topisch; als (unverständliches) Vogelgezwitscher erklingt jedoch auch die fremde Rede bzw. die Barbarensprache bei Sophokles, Aischylos und Aristophanes – dabei werden die Vögel zu komischen Zwecken eingesetzt, nicht als Erzeuger wohlklingender Laute. Im Buch le Grand spielt Heine ironisch auf eine Nachtigall-Stelle bei Aristophanes an, die er in Vossischer Übersetzung wiedergibt (vgl. Heine: Reisebilder II, in: Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 179). 149 Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 32 f. 150 Ebd., S. 33. Vgl. auch das laute Lachen dieser Kinder bei der Kubba (ebd., S. 34). 151 Ebd., S. 41. Ohrenbetäubender Kinderlärm findet sich zudem ebd., S. 58. 152 Ebd., S. 41. Der abrupte Übergang von einer stillen Gasse in die „Voliere“ macht den Lärm um so lauter; davor ist bereits vom „Lärm der Sprechenden“ die Rede gewesen (ebd., S. 39).

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immer lauter und wechselt dabei von den „Grillen“ zu den „Vögeln“, bis es schließlich heißt: „Kinder!“ Der Erzähler ist zufrieden, „mitten im ohrenbetäubenden Lärm dastehen“ zu können. Den Kindern mit „Fibeln in der Hand“153 gilt seine besondere Aufmerksamkeit: In kleinen Gruppen von drei oder vier wiegten sie sich heftig vor- und rückwärts und rezitierten dazu mit hohen Stimmen: ‚Aleph. Beth. Gimel.‘ Die kleinen, schwarzen Köpfe schossen rhythmisch hin und her; immer war einer unter ihnen der eifrigste, seine Bewegungen die hitzigsten; und aus seinem Munde tönten die Laute des hebräischen Alphabets wie ein werdender Dekalog.154

Das Hebräische tritt als eine (tote) Schriftsprache auf, die nicht gesprochen, sondern nur rezitiert werden kann – eine Sprache des Ritus und des Gebets, deren Alphabet bereits Gebot wird („Dekalog“).155 Die Kinder lernen die Laute auswendig und sagen sie auf, sie bewegen dabei ihre Körper, um sich den Rhythmus der Buchstabenabfolge einzuprägen.156 Wie bereits gezeigt, sind Spracherwerb und Sprachenlernen als Erfahrungen der Mehrsprachigkeit häufig ein Thema mehrsprachiger literarischer Texte.157 In der hier geschilderten Lernszene werden die hebräisch sprechenden Stimmen der Kinder in den deutschen Text aufgenommen, der sie in lateinischen Buchstaben wiedergibt. Kurz darauf liest der Leser mit dem Musterschüler, den der Lehrer vorführen möchte, die hebräischen Silben mit: Er [der Lehrer] rief einen kleinen Jungen zu sich heran, hielt ihm eine Seite der Fibel vor Augen, so daß ich auch hineinsehen konnte, und zeigte rasch hintereinander auf hebräische Silben. Er wechselte von einer Zeile zur anderen, kreuz und quer; ich sollte nicht glauben, daß

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Ebd., S. 41. Ebd. Hier werden die kleinsten Elemente, die Grundbausteine der Sprache verinnerlicht, in deren Reihenfolge und Lautfolge sich all das sprachlich Memorierte ausbuchstabieren lässt. Vgl. die Erzählung aus der Chassidim, in der sich der Rabbi Israel Ben Elieser, genannt Baal-shem-tow, nach seiner Verbannung an nichts mehr erinnert und das verlorene Gedächtnis dank der Buchstaben zurückgewinnen kann. 155 Zum Unterschied zwischen dem hebräischen und dem griechischen (sowie lateinischen) Alphabet: „Duret erinnert daran, daß Eusebius und Hieronymus die Griechen verspotteten, weil diese zwar ihre eigene Sprache verherrlichten, aber nicht imstande seien, irgendeine mystische Bedeutung für die Buchstaben ihres Alphabets zu finden, während jedes jüdische Kind auf die Frage, was Aleph bedeute, sofort antworten könne, daß es ‚Disziplin‘ heiße, und so auch für alle anderen Buchstaben und ihre Kombinationen“ (Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, S. 92). 156 Nicht nur die artikulierte Sprache bzw. die Stimme hat einen Rhythmus, auch der Körper des Sprechenden bzw. Lesenden bewegt sich zur Sprache. So heißt es an späterer Stelle: „Ich ging ein wenig unter den Kindern umher, betrachtete mir ihre rhythmischen Lesebewegungen, die mich tags zuvor so beeindruckt hatten.“ (Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 47). Vgl. dazu auch Canettis „unstillbare Sehnsucht nach Buchstaben“ (Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 38). 157 Vgl. Kap. 2.3. sowie die Ausführungen in Kap. 6.2. und 6.4. 154

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der Junge es auswendig gelernt hätte, und blind, ohne zu lesen, rezitiere. Die Augen des Kleinen sprühten, als er laut las: ‚La – lo – ma – nu – sche – ti – ba – bu.‘158

Als der Erzähler den Jungen für seine Leistung lobt, „auf französisch“ und indem er ihm den Kopf streichelt, wird auch die unverständliche Sprache durch die körperliche Geste des Streichelns („das verstand er“159) verständlich. Wie schon bei dem Jungen aus der Aufzeichnung Die Frau am Gitter erscheint hier das Vorlesen in einer Fremdsprache als ein Sprechen, das nicht nur Konzentration erfordert und von einem Lernprozess zeugt, sondern dessen Grundmerkmal die Wörtlichkeit ist. Letztlich fließt jedoch alles in ein allgemeines Geräusch ein: „der tosende Lärm [ließ] nicht im geringsten nach, die hebräischen Silben fielen wie Regentropfen ins wildbewegte Meer der Schule.“160 War die Frauenstimme am Gitter ein plätschernder Bach und ein singender Vogel, gleichen nun die Rufe der Schulkinder einer stürmischen See und einer Vogelvoliere. In beiden Fällen sind die Stimmen so einprägsam, dass der Erzähler sie auch in Abwesenheit der jeweiligen Figuren wahrnehmen kann. Als er die hebräische Schule verlässt, bemerkt er: „Dann ging ich, aber den Lärm nahm ich ein gutes Stück mit. Er geleitete mich bis ans Ende der Straße.“161 Diese besondere Fähigkeit, die Stimmen ‚mitnehmen‘ zu können, bzw. die Tatsache, dass die Stimmen den Erzähler begleiten, lässt sich mit dem Evozieren und Abrufen der akustischen Eindrücke von Marrakesch während des Aufzeichnens vergleichen, als die Stimmen nunmehr im Gedächtnis aufgehoben sind. Während sich die Stimme der Frau am Gitter durch Zärtlichkeit und diejenige der Kinder durch Lautstärke und Rezitation auszeichnet, nimmt der Erzähler in den männlichen Stimmen wiederholt eine Heftigkeit wahr, die möglicherweise – so bemerkt er an einer Stelle – „an der Natur der Sprache“ liegt,162 also dem Arabischen eigen zu sein scheint. Der Ton der arabischen Sprache erklingt in seinen Ohren sogar als aggressiver, unartikulierter Tierlaut, wenn sein Führer auf dem jüdischen Friedhof eine Gruppe von Bettlern „durch heftiges Keifen und Bellen“163 von ihm fernhält. Die Heftigkeit des Arabischen tritt in affektgeladenen Gesprächen auf, in denen sich jemand durchsetzen will, beispielsweise beim Feilschen.164 Sie kennzeichnet darüber hinaus auch jene Form des verbalen Angriffs, die der Erzähler als ‚auf jemanden Einreden‘ bestimmt. Einmal ist es Élie, der mit seiner Tante nicht etwa redet, sondern, während diese schweigt, auf sie einredet, wobei „[s]ein Arabisch […] eine gewisse Heftigkeit“ erhält.165 Ferner ist 158

Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 41. Ebd., S. 42. 160 Ebd. 161 Ebd. Vgl. entsprechend in Die Frau am Gitter: „Auch in dieser Gasse verlor ich den Brunnen des kosenden Stimme nicht, um die Ecke klang es wie ein ganz fernes Plätschern.“ (Ebd., S. 32). 162 Ebd., S. 58. 163 Ebd., S. 46. 164 „Das einzig Laute waren kleine Gruppen von Männern, die heftig feilschten.“ (Ebd., S. 13). 165 Ebd., S. 58. 159

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es der Besitzer eines Esels, der auf sein Tier einredet, damit es seinem Willen gehorche, und dessen Rede im Zeichen von Drohung und Gewalt steht: Ich hörte die Laute zweier einheimischer Instrumente, und dazu die Stimme eines Mannes, der heftig auf jemand einsprach. Als ich näher trat und eine Lücke fand, durch die ich in den Ring hineinsehen konnte, bemerkte ich in der Mitte einen stehenden Mann mit einem Stock in der Hand, der dringliche Fragen an einen Esel stellte. […] Der Mann führte einen komischen Dialog mit ihm. Er suchte ihn zu etwas zu überreden. Als der Esel störrisch blieb, stellte er ihm Fragen; und da er nicht antworten wollte, lachten die [von Acetylenlampen] erleuchteten Männer laut. Vielleicht war es eine Geschichte, in der ein Esel eine Rolle spielte. Denn nach einem langen Palaver begann das traurige Tier sich ganz langsam nach der Musik zu drehen. Der Stock blieb immer über ihm geschwungen. Der Mann redete rascher und lauter, er tobte förmlich, um den Esel in Gang zu halten, aber seine Worte klangen mir so, als ob er auch selber eine komische Figur verkörpere. Die Musik ging weiter und weiter, die Männer kamen aus dem Lachen nicht mehr heraus und sahen wie Menschen- oder Eselsfresser drein.166

Der Erzähler nimmt diese Szene ausschließlich über die Stimmen und über das Verhalten der Beteiligten auf: Zunächst entnimmt er dem Tonfall des Mannes, dass dieser dem Tier Fragen stellt, um es zum Ausführen seines Tanzes zu bewegen; doch dann versteht er den arabischen „Palaver“ nicht und kann nur vermuten, es werde eine Geschichte über einen Esel erzählt. Dass die Szene komisch ist, schließt er nicht nur aus dem Lachen der Männer, sondern auch aus dem Klang der Worte des Eseldompteurs, der unter allen Anwesenden die lauteste und heftigste Stimme hat. Die Bedrohung, die am Ende dem Esel wie den Menschen (als möglichen Opfern einer kannibalistischen Versammlung) gilt, geht nicht so sehr vom Prügelstock aus, sie liegt vielmehr im Akt des Einredens und in der Stimmlage des Mannes. Je geringer das Verständnis der Sprache, umso größer ist die potentiell von ihr ausgehenden Gefährdung. Die unverständliche Rede des Anderen wird zur Bedrohung, vor allem wenn auf den ‚Sprachohnmächtigen‘ eingeredet wird. Der Erzähler erfährt selbst, wie das Arabische als bedrohliche Sprache ihm unvermittelt körperlich nahe kommt: Plötzlich spürte ich einen Menschen im Rücken und vernahm heftige Worte im Ohr, die ich nicht verstand. […] Der Mann, den ich gehört hatte, drängte sich in der Menge dicht an mich, aber es zeigte sich, daß er jemand anderen und nicht mich bedroht hatte.167

Die Wahrnehmung allein über das Ohr – der Erzähler hat in diesem Fall den Sprecher im Rücken, so dass die visuelle Wahrnehmung der Mimik, Gestik und überhaupt Körpersprache ausbleibt – verleiht dem Klang und den Worten die Bedeutung ‚heftig‘, ohne dass die einzelnen Worte der Sprache zugänglich wären. Eine Übersetzung dieser bedrohlichen Worte hätte übrigens mit aller Wahrscheinlichkeit zu einem harmlosen Ergebnis geführt. Canetti schreibt in Masse und Macht: 166

Ebd., S. 76 f. Schon auf dem Kamelmarkt ist eine bedrohliche Stimme zu hören gewesen, die über die Kamele sagt, dass sie zum Schlachten verkauft werden: „‚Zum Schlachten, ja‘, wiederholte der Alte, seine Stimme hatte etwas Schartiges, wie von einem abgenützten Messer.“ (Ebd., S. 12). 167 Ebd., S. 77.

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Man kommt in ein fremdes Land, dessen Sprache einem ganz und gar unbekannt ist. Man ist von Menschen umgeben, die auf einen einreden. Je weniger man versteht, um so mehr vermutet man. Man vermutet lauter Unbekanntes. Man fürchtet Feindschaft. Aber man ist ungläubig, erlöst und schließlich ein wenig enttäuscht, wenn die Worte des Fremden in die einer vertrauten Sprache übersetzt werden. Wie harmlos! Wie ungefährlich! Jede völlig fremde Sprache ist eine akustische Maske; sobald man sie versteht, wird sie zu einem deutbaren und bald vertraulichen Gesicht.168

Eine unbekannte Sprache plötzlich zu verstehen, kann auch enttäuschend sein. Es ist, als nähme man ihr die Maske ab, die Geheimnis und Gefahr in sich birgt, und sähe auf einmal in ihr „harmlos[es]“ Gesicht. Wenn Canetti die fremde Sprache als eine akustische Maske bezeichnet, so muss man sich darunter eine markante Ausdrucksweise vorstellen, der aber – im Gegensatz zu den Wiener Masken – die Wörtlichkeit fehlt. Der Lauschende ist nicht länger der souveräne Sammler sprachlicher Gestalten; er ist nun unverständlichen Stimmen ausgesetzt, über deren Rede er nur Vermutungen anstellen kann. Die Ohnmacht ist nicht länger Kennzeichen der Maske, sondern betrifft umgekehrt denjenigen, der die Maske hört, zumindest so lange bis ihm das Gehörte übersetzt wird. Was jedoch sowohl die sprachlich zugängliche als auch die sprachlich unzugängliche Maske ausmacht, sind die Intensität der akustischen Erfahrung und die Wiederholung der Rede. Letztere ist bei der Begegnung mit den Bettlern von Marrakesch deutlich zu hören. „Solange es noch einen Bettler gibt, solange gibt es noch Mythos“, heißt es in einer Notiz Walter Benjamins.169 Keine andere Figur nimmt in den Stimmen von Marrakesch so viel Raum ein wie die Bettler, denen der Erzähler auf seinen Streifzügen durch die Stadt begegnet.170 Er ist jedes Mal fasziniert von diesen Menschen, deren Handeln und Sprechen, deren ganzes Dasein restlos im Betteln aufzugehen scheint. Das Bitten um Almosen stellt eine bestimmte Form des Sprechens dar, das durch die ständige Wiederholung gleichsam endlos und zugleich formelhaft und reduziert ist.171 In der arabischen Welt spenden die Bettler Segenssprüche; ihre Worte besitzen also eine performative Macht. Die Spender sind wie Käufer, die für ihr Jenseits vorsorgen: „Es heißt, daß die Armen fünfhundert Jahre vor den Reichen ins Paradies eingehen werden. Durch Almo168

Elias Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 3. München/Wien: Hanser, 1994, S. 445. Vgl. auch Canettis Erfahrung des Japanischen bei Aufführungen des Kabuki–Theaters: „Ich verstand natürlich kein Wort Japanisch, aber diese scharfumrissenen Figuren und vor allem ihre Tonfälle haben mich ganz ungeheuer beeindruckt. Ich weiß nicht, ob man da von einer akustischen Maske im eigentlichen Sinne sprechen kann, aber klangmäßig kam es mir so vor.“ (Canetti: „Gespräch mit Manfred Durzak“, in: Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 302). 169 Walter Benjamin: [Betrachtungen und Notizen], in: Gesammelte Schriften, Bd. VI, S. 208. Über das Mythische in Marrakesch vgl. Fuchs: „Der touristische Blick“, in: Reisen im Diskurs, S. 80–82. 170 Besonders ausführlich beschrieben werden die Bettler in den vier Aufzeichnungen Die Rufe der Blinden, Der Speichel des Marabu, Besuch in der Mellah und Der Unsichtbare; vgl. ferner die Bettelkinder (Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 10 u. 72 f.). 171 Besonders deutlich beim Unsichtbaren (vgl. ebd., S. 87–89), aber auch schon bei den Blinden (vgl. ebd., S. 23).

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sen kauft man den Armen etwas vom Paradies ab.“172 Bereits diese religiöse Implikation verortet die Bettler an der Grenze zwischen den Lebenden und den Toten. Doch für den Erzähler bzw. für Canetti ist diese Verortung am Rande des Lebens unter einem anderen Aspekt von besonderem Interesse: Die Bettler sind Überlebende, und als solche sind es Menschen, die dem Tod trotzen.173 In der Aufzeichnung Der Unsichtbare ist der Bettler körperlich beinahe schon ganz verschwunden und als Mensch kaum mehr erkennbar; sein (Über-)Leben ist nur noch hörbar. Der Körper ist zu einem „kleine[n], braune[n] Bündel am Boden“ geschrumpft, als welcher der Unsichtbare gelegentlich sichtbar wird. Seine Existenz ist lediglich anhand der Stimme festzustellen, die ihrerseits „zu einem einzigen Laut reduziert worden war“;174 der Erzähler berichtet, wie diese unentwegt „-ä-ä-ä-ä-ä-ä-ä-ä-“175 surrt: Ich hatte nie den Mund gesehen, dem das ‚ä-ä-ä-ä-ä-‘ entstammte; nie das Auge, nie die Wange; keinen Teil des Gesichts. […] Das Geschöpf – es mußte eines sein – kauerte am Boden und […] hielt sich so nieder, daß man ahnungslos darübergestolpert wäre, hätte der Laut je aufgehört. […] An belebten Abenden verschwand es unter den Beinen der Menschen, und obwohl ich genau wußte, wo es war, und die Stimme immer hörte, hatte ich Mühe, es zu finden.176

Die Stimme des Unsichtbaren ist „der unveränderlichste Laut der Djema el Fna“, unaufhörlich und „hinter all den tausendfältigen Rufen und Schreien des Platzes […] immer

172

Ebd., S. 22. Vgl. Canettis Romanprojekt über den „Todfeind“ (Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 56) sowie die Auseinandersetzung mit dem Überleben etwa im Aufsatz Macht und Überleben (Elias Canetti: „Macht und Überleben“, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 113–129); vgl. ferner das Kapitel Der Überlebende in Masse und Macht, das mit den folgenden Sätzen beginnt: „Der Augenblick des Überlebens ist der Augenblick der Macht. Der Schrecken über den Anblick des Todes löst sich in Befriedigung auf, denn man ist nicht selbst der Tote. Dieser liegt, der Überlebende steht. Es ist so, als wäre ein Kampf vorausgegangen und als hätte man den Toten selbst gefällt.“ (Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 267; vgl. dazu weiter unten, zu den Friedhofsbettlern). Gegenpol zum Überleben ist für Canetti die „Sterbesucht“ (Canetti: „Der Beruf des Dichters“, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 360). Die Erfahrung der Überlebenden in Marrakesch löst im Erzähler eine Ergriffenheit aus, die eine eigene Sakralität begründet (vgl. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 44–46 u. 88 f.). Vgl. auch die beiden Aufzeichnungen Begegnungen mit Kamelen und Die Lust des Esels, in denen diese Marrakescher Tiere als misshandeltes, überlebendes Leben beschrieben werden. 174 Ebd., S. 87. Zur Stimme ohne Körper vgl. die vom Begehren befreite Stimme, die Fuchs in ihrer psychoanalytischen Interpretation von Canettis Autobiographie als Mündlichkeitsutopie deutet: „a utopian kind of orality that is devoid of all desire, in other words a new language that transcends the deadly battle between mother and son.“ (Anne Fuchs: „‚The Deeper Nature of My German‘. Mother Tongue, Subjectivity, and the Voice of the Other in Elias Canetti’s Autobiography“, in: A Companion to the Works of Elias Canetti. Hrsg. v. Dagmar C. G. Lorenz. Rochester, NY: Camden House, 2004, S. 45–60, hier S. 47). 175 Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 85. 176 Ebd., S. 87 f. 173

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vernehmbar“.177 Während die Worte der anderen Bettler nicht wiedergegeben werden, wird diese Stimme abgebildet; sie kann nichts außer einem ä-Laut artikulieren, so dass der Erzähler am Ende mutmaßt, dem verstümmelten Bettler fehle die Zunge, „um das ‚l‘ in ,Allah‘ zu formen, und der Name Gottes verkürz[e] sich ihm zu ,ä-ä-ä-ä-ä-‘.“178 Diese ‚Lautschrift‘ veranschaulicht noch einmal den für die Stimmen von Marrakesch konstitutiven Übersetzungsprozess. Es handelt sich um die Übersetzung eines mündlichen bzw. eines als mündlich dargestellten Zeichens in ein schriftliches, wobei sich stets die Frage der Sprache stellt: Versteht der Erzähler die Sprache, die er in Marrakesch hört? Und für welche Sprache entscheidet er sich, wenn er nach der Reise die gehörte Sprache schriftlich aufzeichnet? Mit dem Buchstaben ,ä‘ setzt sich die deutsche Graphie durch; der Laut, auf den der Erzähler schon auf dem Weg zum Platz „aus der Ferne horchte“, ohne je einen visuellen Eindruck zu haben, ist nun Schriftbild geworden. Es ist schließlich auch der Laut, mit dem der letzte Satz des Textes ausklingt, das Leben und das Lebendige bezeugend: Aber es [das Bündel] lebte, und mit einem Fleiß und einer Beharrlichkeit ohnegleichen sagte es seinen einzigen Laut, sagte ihn Stunden und Stunden, bis es auf dem ganzen weiten Platz der einzige Laut geworden war, der Laut, der alle anderen Laute überlebte.179

Eine vergleichbare, aber noch heftigere Hartnäckigkeit, das eigene Leben behaupten zu wollen, findet der Erzähler bei einem anderen Bettler, der ihm auf dem jüdischen Friedhof auf seinen Krücken entgegenläuft. Als Überlebender ist er ein „rechtmäßiger Bewohner“ des Friedhofs; in der gesamten Bettlergruppe, der er angehört, „spürte man nah und dicht das leidenschaftliche Leben“.180 Dieses Bettlerkollektiv vollzieht gleich177

Ebd., S. 87. Der spanische Schriftsteller Juan Goytisolo, der sich für die Erhaltung der Djema el Fna als Platz der mündlichen Erzähler engagiert, soll Canetti zu den wenigen Ausländern gezählt haben, denen es gelungen ist, die Mystik dieses Ortes aufzufangen und wiederzugeben (vgl. Durzak: „Formen des Umgangs mit dem ,Fremden‘“, in: Literatur im interkulturellen Dialog, S. 99 f.). 178 Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 89. Vgl. dazu die Drohung am Anfang von Die gerettete Zunge (Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 9 f.). 179 Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 89. Vgl. dazu das Ende von Das Augenspiel, als die Stimme von Canettis Bruder Georg die verstorbene Mutter beschwört und zurück ins Leben holt (Elias Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 9. München/Wien: Hanser, 1994, S. 304). 180 Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 44 f. Vgl. dazu das Kapitel Über das Friedhofsgefühl in Masse und Macht: Dieses Gefühl führt dem (Über-)Lebenden das eigene Leben vor und macht ihn überlegen, denn „[e]r allein unter den Liegenden steht aufrecht.“ (Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 327). Vgl. ferner das Kapitel Die Toten als die Überlebten (ebd., S. 309–322). Während die blinden Bettler „Hunderte, Unzählige“ (Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 21) sind, heißt es von den Friedhofsbettlern, sie seien „ein ganzes Volk“, „ein ganzer Stamm“ (ebd., S. 45). Der Erzähler wählt in diesem Zusammenhang nie die Bezeichnung ‚Masse‘, er schreibt „Gruppe“ (ebd., S. 22 u. 44 f.) oder „Menge“ (ebd., S. 46). Seine Begegnung mit den Friedhofsbettlern kulminiert allerdings in einer Art Opferszene, in der die ‚Bettlermasse‘ den Erzähler verehrt und fast schon verzehrt (vgl. ebd., S. 45 f.). „Das Tasten aber als Berührung ist der Vorbote des Schmeckens“, behauptet Canetti im Kapitel Ergreifen

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Die Stimmen von Marrakesch

sam choreographierte Bewegungen, „wie in einem kunstvollen und doch sehr heftigen Tanz“;181 die Körperteile der einzelnen Bettler bilden einen einzigen Körper, ihre einzelnen Stimmen verschmelzen zu einer einzigen, polyphonen Stimme. So heißt es, als der Bettler auf Krücken abgewiesen wird: „Ich hörte ihn noch ein gutes Stück zornig fluchen, und die Stimmen der anderen, die hinter ihm zurückgeblieben waren, vereinigten sich mit seiner zu einem bösen Chor.“182 Die Stimmen der Bettler erklingen unisono und sprechen gemeinsam; die Blinden erfühlen sogar gemeinsam die Münzen, die ihnen gespendet werden: „Man fühlte zusammen, wie man zusammen murmelte und rief.“183 Und weil der Ruf immer der gleiche bleibt, bettelt jede Bettlerstimme immer auch für alle anderen: […] der Ruf ist auch eine Vervielfältigung, die rasche und regelmäßige Wiederholung macht aus ihm eine Gruppe. Es ist eine besondere Energie des Forderns darin, er fordert für viele und heimst für alle ein. ‚Denk an alle Bettler, denk an alle Bettler! Gott segnet dich für alle Bettler, denen du gibst.‘184

Mit ihrem wiederholten Ruf, der immer wieder und dabei immer anders das Wort „Allah“ ausspricht, bilden die Blinden „akustische Arabesken um Gott, aber wieviel eindrucksvoller als optische.“185 Indem sie mit ihren Stimmen um Gottes Namen herum minutiöse Muster malen, ist ihre „Litanei“186 im wörtlichen Sinn Lautmalerei. Hier drängen sich akustische Wahrnehmung und klangliche Expressivität erneut in den Vordergrund, und es ist nicht überraschend, dass gerade im Anblick blinder Bettler das Sehen dem Hören und den anderen Sinnen weicht. Der „ewig wiederholt[e] Spruch“187 der Blinden fasziniert den Erzähler allerdings nicht nur wegen seiner lautlichen Qualität. Der Ausdruck „akustische Arabesken“ erinnert wieder an die akustischen Masken.188 Doch die Wiederholungen der Wiener Mas-

und Einverleiben aus Masse und Macht (Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 238). Und nur in der Masse gibt der Mensch seine Furcht auf, berührt zu werden (ebd., S. 14). 181 Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 45. 182 Ebd., S. 44. Vgl. auch den unausgesprochenen Fluch des Bettlers am Ende (ebd., S. 46). 183 Ebd., S. 22. 184 Ebd. 185 Ebd. In Die Fackel im Ohr beschreibt Canetti die Sechs Blinden von Breughel, die ihn gleichsam als Bildvorlage bei all seinen Begegnungen mit Blinden begleiten: „Der Gedanke an Blindheit hatte mich verfolgt, seit ich in früher Kindheit an den Masern erkrankte und dabei während einiger Tage das Augenlicht verlor. Jetzt waren sechs Blinde in einer schiefen Reihe da, die einander an Stöcken oder bei der Schulter hielten.“ (Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 111). Vgl. auch die Fahrt durch den Ort „Blindenmarkt“, dessen Name den Erzähler „wie eine Peitsche“ trifft (Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 21); es handelt sich hierbei übrigens um eine der wenigen Stellen, an denen der Erzähler in einer Rückblende Marrakesch verlässt. 186 Ebd., S. 24. 187 Ebd., S. 22. 188 Canetti versucht „der akustischen Maske noch etwas anderes abzulauschen als […] Negation, nämlich das Ja zum Leben, das immer zugleich intendiert ist, wo einer Schutz sucht“ (Edgar Piel:

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ken, ihre „Rundgeschliffenheit und die sichere Blindheit, mit der sie alles andere ausschlossen, was es sonst auf der Welt zu sagen gab“,189 stehen im Gegensatz zur Wiederholung von Gottes Namen in den Rufen der Blinden. Während in Wien die sich selbst gebärende Armut einer entstellten und ohnmächtigen Sprache erklang, erkennt der Erzähler in den Wiederholungen der Blinden eine Lebensform der Reduktion: Die blinden Bettler werden als „die Heiligen der Wiederholung“190 bezeichnet, da sie in ihrem Leben jede Art von Abwechslung reduzieren und durch Wiederholung ersetzen. Dass dies offenbar nur heiligen Menschen gelingen kann, zeigt der (scheiternde) Versuch des Erzählers, den Ruf zu wiederholen und das Leben der Blinden nachzumachen bzw. nachzuempfinden: Ich habe mich, seit ich aus Marokko zurück bin, mit geschlossenen Augen und unterschlagenen Beinen in die Ecke meines Zimmers gesetzt und versucht, eine halbe Stunde lang in der richtigen Geschwindigkeit und mit der richtigen Kraft ‚Alláh! Alláh! Alláh!‘ zu sagen.191

Die „akustische[n] Arabesken“ lassen sich nachträglich vom Erzähler weder mündlich performieren noch schriftlich genauer darstellen. Auch insofern unterscheiden sie sich von den akustischen Masken in Wien, denn dort „trat man zurück und nahm nur noch auf“,192 es war dabei also eine Übertragung, Speicherung und Wiedergabe der Stimmen möglich. Das „Alláh! Alláh! Alláh!“ klingt dagegen, trotz des guten Willens, dilettantisch. Die Lebensform der Blinden lässt sich nicht einfach nachahmen; sie ist deshalb einzigartig, verführerisch und heilig, weil sie frei von Abwechslung ist. Ihr Ruf kennt kein Ende, wie Canetti in einer Aufzeichnung festhält, die zeitgleich zu den Aufzeichnungen nach einer Reise entsteht: Das Stammeln deines Ohres, als es so viel hörte und nichts begriff. Zu denken, daß sie jeden Tag, seit du fort bist, weiter gerufen haben, zu denken, daß die Blinden jetzt rufen, während du hier sitzt: Alláh! Alláh! Alláh! Das Schweben der Blinden, die in keiner Betrachtung gestört werden.193

Diese Rufe erstrecken sich über den gesamten Zeitraum, der zwischen der Begegnung mit den Blinden in Marrakesch und der Aufzeichnung nach Marrakesch liegt. Im AuElias Canetti. München: Beck, 1984, S. 142 f.); nichtsdestotrotz behauptet Piel: „Auch der Ruf der blinden Bettler […] stellt eine akustische Maske dar“ (ebd.). 189 Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 208; Hvh. d. Vf. Anders die ‚natürliche‘ Maske der Schwalben, deren „immergleichen Laute“ Canetti „trotz ihrer Wiederholung nie, so wenig wie die wunderbaren Regungen ihres Flugs [ermüdeten]“ (ebd., S. 209); vgl. dazu auch die Marrakescher Schwalben (Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 29 f.). 190 Ebd., S. 23. Vgl. dazu: „Das Runde aller Vorgänge in Marrakesch, wie die Augenhöhlen der Blinden; nichts ist zu Ende, nichts bricht ganz ab, das Abrupteste setzt sich fort durch Wiederholung.“ (Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 197). 191 Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 22 f. Vgl. ferner Canettis Nachmachen der zauberhaften Elterngeheimsprache Deutsch in Die gerettete Zunge (Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 34 f.). 192 Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 208. 193 Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 197.

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Die Stimmen von Marrakesch

genblick des Schreibens wird gleichsam nach Marrakesch geschaltet, in eine Gegenwart, in der die Rufe unentwegt erklingen. Das nachträgliche Verständnis, das sich erst im Medium der Schrift und in Form einer Reflexion und einer Übersetzung einstellt,194 steht im Gegensatz zum „Stammeln“ des Ohres. Dieses aufgrund der Fremdartigkeit der Laute stockende Hören ließe sich allgemein auf die akustische Wahrnehmung des Arabischen übertragen; es sperrt jedoch andere mögliche Wege der fremden Sprache zum Erzähler (und umgekehrt) keineswegs von vornherein ab. Die lautliche Form der Sprache kann beispielsweise durch eine eloquente Körpersprache oder durch eine symbolische Handlung ergänzt werden, die es freilich ebenfalls zu verstehen gilt. So deutet der Erzähler das Verhalten jenes alleinstehenden Bettlers, der – anders als die restlichen Blinden – die gespendeten Münzen in den Mund nimmt und kaut. „In den Bewegungen seines Mundes war irgendein Sinn.“195 Als der Erzähler erfährt, dass der Bettler ein Marabu, ein heiliger Mann ist, empfindet er weniger Ekel und mehr Scheu; er erkennt den folgenden Sinn: […] an diesem heiligen Mann ist alles heilig, selbst sein Speichel. Indem er die Münzen mit seinem Speichel in Berührung bringt, erteilt er ihnen einen besonderen Segen und erhöht so das Verdienst, das sie sich durch das Spenden von Almosen im Himmel erwerben. Er war des Paradieses sicher, und er hatte selbst etwas zu vergeben, das den Menschen viel notwendiger war als ihre Münzen ihm. Ich begriff nun die Heiterkeit, die auf seinem blinden Antlitz lag und die ihn von den anderen Bettlern unterschied, die ich bisher gesehen hatte.196

Seine Mundbewegungen haben einen Sinn, und sein Speichel enthält einen Segen. Zudem spendet der Marabu Segen über bestimmte Sprüche, die allerdings auch hier, wie schon bei den anderen Bettlern, nicht wiedergegeben werden, da der Erzähler sie nicht wörtlich verstehen und aufzeichnen kann. Dabei bemüht er keine Dolmetscher; erst als er dem Heiligen zum zweiten Mal eine Münze spendet, tritt ein Mann auf, der zwischen Spender und Bettler zu vermitteln scheint: [Er] sprach […] zum Marabu auf arabisch und zeigte auf mich. Der Alte [der Marabu] hatte sein Kauen beendet und die Münze wieder ausgespuckt. Er wandte sich zu mir und sein Antlitz strahlte. Er sagte seinen Segenspruch für mich her, den er sechsmal wiederholte. Die Freundlichkeit und Wärme, die während seiner Worte auf mich überging, war so, wie ich sie noch nie von einem Menschen empfangen habe.197

Die arabischen Worte des Mannes werden ausgespart. Der Erzähler bleibt von dieser Rede ausgeschlossen, die jedoch, wie die Zeigegeste klarmacht, ihn selbst betrifft. Im 194

Vgl. dazu den in Kap. 3.2. interpretierten Anfang der Aufzeichnung Die Rufe der Blinden. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 25. 196 Ebd., S. 25. Für „Unsinn“ hält der Erzähler dagegen folgende Erklärung: „Er steckt die Münze in den Mund, um zu spüren, wieviel Sie ihm gegeben haben.“ (Ebd., S. 27). 197 Ebd. Das Mißverhältnis zwischen Segen und Münze bzw. die Unbezahlbarkeit des Spruchs bewirkt im Spender stets tiefe Verwunderung. „Es gibt zwar auch die Geber, die verschieden sind, aber Blinde sehen diese nicht und in ihrem Dankspruch sorgen sie dafür, daß auch die Geber Gleiche werden.“ (Ebd., S. 23).

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Gegensatz dazu besitzt die Sprache des Marabu, die seinem Spender ebenfalls unverständlich bleiben muss (immerhin hört dieser, dass der Spruch wiederholt wird), wenn nicht eine bestimmte semantische Bedeutung, so doch die Fähigkeit, über Sprachbarrieren hinweg ein segenreiches Gefühl zu verleihen. Dabei kommt die warme Ausstrahlung nicht aus seinen Worten, sondern „während seiner Worte“; es sind sein Körper, vor allem sein Gesicht, und seine Stimme, die dem Erzähler den Segen spenden. Die Marabu-Episode führt die zwei Erfahrungen mit der arabischen Sprache noch einmal zusammen, die für die Stimmen von Marrakesch kennzeichnend sind. Immer wieder befindet sich der Erzähler in Situationen, in denen Arabisch gesprochen wird. Gleich ob er ein Gespräch auf Arabisch belauscht oder selbst an einem Gespräch beteiligt ist, das zwischendurch ins Arabische wechselt: Er ist auf eine Übersetzung angewiesen. Sind keine Dolmetscherfiguren anwesend, können die arabischen Äußerungen nicht wiedergegeben werden. Bisweilen bemüht sich der Erzähler gar nicht, deren Inhalt zu raten oder zu umschreiben – das Arabische wird einfach ausgespart und bildet aus der Erzähler- wie aus der Leserperspektive gleichsam eine Ellipse der Rede. Umgekehrt kann sich aber die Erfahrung der Sprache vom Verständnis der Sprache ablösen und sich ganz auf das Ohr als den „erste[n] Lehrmeister der Sprache“198 verlassen. Das ‚Wie‘ des Sprechens (als Klang, Tonfall, Prosodie), die Stimme selbst wird zum Signifikanten „jenseits von Worten“199 und zum Gegenstand einer besonderen akustischen Wahrnehmung. Valéry schreibt über die Stimme: Avant de signifier quoi que ce soit toute émission de langage signale que quelqu’un parle. Ceci est capital – et non relevé – ni donc développé par les linguistes. La seule voix dit bien des choses, avant d’agir comme porteuse de messages particuliers. Elle dit: Homme. Homme, femme, enfant. Telle langue, connue ou non. Demande, prie, ordonne; telle intention. Etc.200

Demnach ist es unter Umständen doch möglich, die unbekannte Sprache zu verstehen, wie beispielsweise bei der Frau am Gitter. Denn, so heißt es in einem Fragment aus Friedrich Nietzsches Nachlass, „[d]as Verständlichste an der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern Ton, Stärke, Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Worten gesprochen wird, kurz die Musik hinter den Worten“.201 Außerdem kann die Körper198

Johann Gottfried Herder: „Über den Ursprung der Sprache“, in: Werke, Bd. 1, S. 734. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 21. 200 Paul Valéry: Cahiers. Édition établie, présentée et annotée par Judith Robinson. Paris: Gallimard, 1973 f., Bd. I, S. 473. 201 Zit. n. Sybille Krämer: „Negative Semiologie der Stimme. Reflexionen über die Stimme als Medium der Sprache“, in: Medien/Stimmen. Hrsg. v. Cornelia Epping-Jäger u. Erika Linz. Köln: DuMont, 2003, S. 65–84, hier S. 75). „Musik hinter den Worten“ im Zusammenhang mit Fremdsprachigkeit erklingt auch in Thomas Manns Tod in Venedig, als Gustav Aschenbach Tadziu sprechen hört: Er „verstand nicht ein Wort von dem, was er sagte, und mochte es das Alltäglichste sein, es war verschwommener Wohllaut in seinem Ohr. So erhob Fremdheit des Knaben Rede zur Musik“ (Th. Mann: Der Tod in Venedig, in: Stockholmer Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 489; vgl auch ebd., S. 476–478). 199

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Die Stimmen von Marrakesch

sprache auf die Bedeutung der Rede hinweisen; zur Wahrnehmung der fremden Sprache gehört nicht nur genaues Zuhören, sondern auch eingehendes Beobachten: An einer Ecke des Platzes waren viele Männer versammelt und diskutierten feurig. Ich verstand nicht, was sie sagten, aber nach ihren Mienen zu schließen, ging es um die großen Angelegenheiten der Welt. Sie waren verschiedener Meinung und fochten mit Argumenten; mir kam vor, sie gingen mit Genuß auf die Argumente der anderen ein.202

Den unzugänglichen Inhalt der Rede kann der Erzähler durch seine Wahrnehmung der Sprechenden und durch den situativen Rahmen nur mutmaßen; zumindest gelingt es ihm in diesem Fall, die Gattung der Rede als Streitgespräch zu erkennen. Nicht mehr gegeben ist aber die Wörtlichkeit des O-Ton-Zitats. Die einzelnen Worte bewegen sich hier auf der Grenze von Laut und Bedeutung, sie sind nicht mehr nur Klangkörper und noch nicht Sinnkörper.203 Sie lassen sich nicht buchstabieren und schriftlich aufzeichnen, sondern nur in ihrem Klang und dessen Wirkung beschreiben. Es gibt also keinen O-Ton der arabischen Figuren; die Erinnerung an deren Rede greift nicht auf Worte zurück, sondern vernimmt nur den Nachhall fremdartiger Stimmenklänge. Das Arabische ist aus diesem Grund die Sprache, die in den Stimmen von Marrakesch am meisten ins Deutsche übertragen wird. Obgleich ausgespart oder eingedeutscht, ist dennoch diese Sprache die Trägerin jener Fremdartigkeit, die den Erzähler in ihren Bann zieht. Ihr Klangbild ist schillernd, es reicht vom Lärm bis zum Kosewort, vom Feilschen bis zum Betteln, von den Kindern bis zum Muezzin, vom Unsichtbaren zu Élie Dahan. Demnach ist die Haltung des Erzählers immer unterschiedlich, sie changiert zwischen Solidarität, Empathie, Verlegenheit, Betroffenheit, Empörung, Distanzierung, Ablehnung, Abwertung, List und Herzlosigkeit. Der Erzähler horcht mal ehrfurchtsvoll, mal stammelnd, mal ist er von den Stimmen gerührt, mal bedroht; das Ohr ist jedoch stets den Stimmen ausgesetzt, auch deshalb, weil es im Hören und Zuhören der Sequenzialität der Rede folgen muss und sich nicht wie das Auge frei bewegen kann. Es ist allerdings diese spezifische Passivität des Gehörsinns, die – gerade beim Wahrnehmen einer fremden Sprache – eine eifrige, ja gierige Aktivität des Ohres wecken kann. So braucht das Ohr immer wieder Stille, um seine Aufnahmefähigkeit zu regenerieren: Um in einer fremdartigen Stadt vertraut zu werden, braucht man einen abgeschlossenen Raum, auf den man ein gewisses Anrecht hat und in dem man allein sein kann, wenn die Verwirrung der neuen und unverständlichen Stimmen zu groß wird. Dieser Raum soll still sein, niemand soll einen sehen, wenn man sich in ihn rettet, niemand, wenn man ihn wieder verlässt. […] 202 203

Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 39. Dies gilt für die Wahrnehmung jeder ganz oder weitgehend fremden Sprache; vgl. dazu die Ausführungen zur Xenoglossie und Glossolalie in Giorgio Agamben: Infanzia e storia. Distruzione dell’esperienza e origine della storia. Torino: Einaudi, 1979. Agamben bezieht sich u. a. auf die Schilderung des Spracherwerbs bei Augustinus (vgl. Aug. conf. 1, 8, 13). In den Philosophischen Untersuchungen behauptet Wittgenstein, „Augustinus beschreibe das Lernen der menschlichen Sprache so, als käme das Kind in ein fremdes Land und verstehe die Sprache des Landes nicht; das heißt: so als habe es bereits eine Sprache, nur nicht diese.“ (Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1984, Bd. 1, S. 256).

Ohrmacht: Stimmen „jenseits von Worten“

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Man tritt in die Kühle des Hauses und macht das Tor hinter sich zu. Es ist dunkel und für einen Augenblick sieht man nichts. Man ist wie einer der Blinden auf den Plätzen und Gassen, die man verlassen hat. Aber man gewinnt das Augenlicht sehr bald wieder. Man sieht die steinernen Stufen, die in die Etage führen, und oben findet man eine Katze vor. Sie verkörpert die Lautlosigkeit, nach der man sich gesehnt hat. Man ist ihr dankbar dafür, daß sie lebt, so läßt es sich auch leise leben. Sie wird gefüttert, ohne daß sie tausendmal am Tage ‚Allah‘ ruft. Sie ist nicht verstümmelt und sie hat es auch nicht nötig, sich in ein schreckliches Schicksal zu ergeben. Sie mag grausam sein, aber sie sagt es nicht. Man geht auf und ab und atmet die Stille ein. Wo ist das ungeheuerliche Treiben geblieben? Das grelle Licht und die grellen Laute? Die hundert und aberhundert Gesichter?204

Man kann sich vorübergehend in einen stillen Raum zurückziehen und eine leise Katze betrachten. Doch draußen ruft Marrakesch laut, und es scheint so, als könne die Stadt auch in das abgeschlossene Haus, in dem der Erzähler endlich alleine ist, eindringen. „Die Stille“, heißt es, „teilte sich einem als eine Art von Behutsamkeit mit. Aber es blieb nicht lange still.“205

204 205

Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 28. Ebd., S. 40 f.

4. Mehrsprachigkeit, Stimme und Redewiedergabe

4.1. Einführung Das folgende Kapitel systematisiert einige der Befunde aus der Analyse von Canettis Die Stimmen von Marrakesch und versucht, sie auf ihre allgemeine Gültigkeit für mehrsprachige literarische Texte zu überprüfen. Dabei geht es hauptsächlich um Sprachwechsel als Verfahren zur Erzeugung von Textstimmen. So ist die in direkter Rede wiedergegebene und an einen Sprachwechsel gekoppelte Stimme als O-Ton der Figur bezeichnet worden. Es handelt sich also beim O-Ton um eine in der Sprache der jeweiligen Figur wörtlich zitierte Rede. Darüber hinaus hat das Beispiel der Figur Élie Dahan gezeigt, dass die besondere Qualität bestimmter Worte „in seinem Mund“1 auf verschiedene – individuelle wie kontextbedingte – Merkmale der Rede zurückzuführen ist, etwa Aussprache, Mimik, Gestik und allgemein Körpersprache, Adressierung oder Wortschatz. Ferner sind hybride, d. h. mehrstimmige Äußerungen von Erzähler und Figur herausgearbeitet worden, die ebenfalls in einem Zusammenhang mit Sprachwechsel stehen. Über seine Erinnerung an die Reise, also nachträglich, gelangt der Erzähler zur Rede der Figur, aber auch in diese Rede hinein. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die narratologische Stoßrichtung der folgenden Ausführungen. Denn Sprachwechsel findet bevorzugt im Kontext der Redewiedergabe statt,2 wobei mit Redewiedergabe stets auch die Gedankenwiedergabe gemeint ist. Die Unterscheidung, auf die es hier ankommt, ist nicht nur diejenige zwischen Figuren- und Erzählerrede, sondern auch diejenige zwischen „Erzählung von Worten“ und „Erzählung von Ereignissen“.3 Zur „Erzählung von Worten“ gehören all diejenigen Worte, die im Text gedacht, geschrieben und vor allem gesprochen werden, und zwar sowohl von den im Text auftretenden Figuren als auch vom Erzähler. Man könnte dabei auch von Personenrede sprechen, wobei ‚Person‘ sowohl die Figur(en) als auch den Erzähler be1 2 3

Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 57 u. 63. Dies belegen nicht nur die zwei Fallstudien, sondern sehr viele literarische Texte, so dass sich dieses Kapitel, ählich wie das Beschreibungsmodell, aus einem offenen Beispielfeld bedient. Diese Unterscheidung geht auf Genette zurück; vgl. Genette: Die Erzählung, S. 117–132. An anderer Stelle spricht Genette von „Personentext“ (Erzählung von Worten) und „Erzählertext“ (Erzählung von Ereignissen), auch wenn die zwei Begriffspaare nicht deckungsgleich sind (ebd., S. 220).

Einführung

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zeichnete.4 Dann wäre allgemein die These zu formulieren: Sprachwechsel kommen zumeist innerhalb der Personenrede vor oder beziehen sich auf diese zurück. Bei genauerem Hinsehen lässt sich die These präzisieren, insofern innerhalb der Personenrede wiederum die Figurenrede als die primäre Trägerin anderer Sprachen erscheint. Wenn nämlich der Erzähler bei der Wiedergabe seiner eigenen Rede einen Sprachwechsel vollzieht, so übernimmt er oftmals die andere Sprache aus der Rede einer bestimmten Figur. Eine solche Angleichung von Erzähler- und Figurensprache ist näher zu befragen, gerade hinsichtlich der darin enthaltenen Differenzmomente. Dass innerhalb der Redewiedergabe eine andere Sprache bzw. eine Fremdsprache auftaucht, bedeutet zunächst nicht mehr und nicht weniger, als dass diese Sprache innerhalb der Fiktion von jemandem gesprochen wird. Es ist „der sprechende Mensch“, so Bachtin, der mit seinen vielfältigen Sprachen und Stimmen den Erzähler auf besondere Weise herausfordert: Der sprechende Mensch und sein Wort bilden als Gegenstand des Wortes […] einen spezifischen Gegenstand: über das Wort kann man nicht auf dieselbe Weise sprechen wie über die anderen Gegenstände der Rede – über stumme Dinge, Erscheinungen, Ereignisse usf.; es verlangt besondere formale Verfahren der Rede und der verbalen Abbildung.5

Bachtin hat hier nicht lediglich „drei syntaktische Schablonen (direkte Rede, indirekte Rede, erlebte Rede)“6 im Sinn, sondern verschiedene Verfahren der Redewiedergabe, der „interpretierenden Einrahmung, der Umdeutung und der Umakzentuierung“,7 die es jeweils zu bestimmen und zu berücksichtigen gilt. In jedem Fall geht es aber um das Einflechten von Stimmen in den Text – und damit auch um die mediale Differenz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit.8 Die Frage ist, ob und wie in literarischen Texten diese zwei Modi der Sprache, der mündliche und der schriftliche, jeweils mit einem Sprachwechsel einhergehen. Eine Phonozentrismuskritik ist dabei weder Ausgangs- noch Zielpunkt; vielmehr soll der bemerkenswerten Tatsache Rechnung getragen werden, dass nach dem jahrzehntelang anhaltenden Primat der Schrift der Begriff der Stimme in den Geisteswissenschaften rehabilitiert wird.9 Die Stimme scheint nicht länger als ein geisterhaft 4 5 6 7 8

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Die grundlegende Unterscheidung zwischen Erzähler und Figur wird im Folgenden auch im Fall homodiegetischer Erzähler, die als Figuren der erzählten Welt auftreten, aufrechterhalten. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 220 f. Ebd. S. 209. Ebd. S. 227. ,Mediale‘ Differenz meint hier die ,konzeptionelle‘ Differenz zwischen mündlichen und schriftlichen Äußerungen innerhalb eines Textes, medial also immer schon graphisch und nicht phonisch realisiert; vgl. dazu den grundlegenden Aufsatz von Peter Koch/Wulf Oesterreicher: „Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte“, in: Romanistisches Jahrbuch (36) 1985, S. 15–43. Dies stellt auch Meyer-Kalkus fest, dessen Studie in die neuere Stimmenforschung einzuordnen ist; vgl. Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, S. 446. Vgl. zudem den Band Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Hrsg. v. Doris Kolesch u. Sybille Krämer. Frankfurt/M.: Suhrkamp,

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Mehrsprachigkeit, Stimme und Redewiedergabe

subjektloses Echo vernommen zu werden; ohne dabei implizit oder explizit die Schrift für defizitär zu erklären, setzt sich die neuere Forschung mit ‚traditionellen‘ Wesensmerkmalen der Stimme wie Klang, Körperlichkeit oder Präsenz auseinander. Zeichentheoretisch wird unter anderem eine Freilegung der bloßen Stimmhaftigkeit erprobt, insofern die Stimme nicht allein ein sprachliches Zeichen ist: „Die Stimme ist nicht einfach Symbol, sondern Spur von etwas; sie fungiert nicht einfach als Zeichen, vielmehr als Anzeichen. In dieser ihrer Indexikalität ist es begründet, dass die Stimme nicht nur spricht, sondern zeigt.“10 Ein kurzes und prägnantes Beispiel dafür, dass die Stimme mehr ausdrückt als das, was sie sagt, findet sich in Theodor Storms Der Schimmelreiter, wenn es im Anschluss an die direkte Rede des Deichgrafen heißt: „der Stimme war die verzehrte fette Ente anzuhören“.11 Nun ist aber, wie jedes rein schriftliche Medium, die Literatur stumm: In ihr und aus ihr erklingen, jedenfalls streng genommen, keinerlei Stimmen. Und dennoch spielt die Stimme gerade bei erzählenden literarischen Texten auf drei unterschiedlichen, miteinander eng verbundenen Ebenen eine wichtige Rolle: Es gibt erstens die Stimmen der innerhalb der Fiktion sprechenden Figuren, zweitens die Stimme des Lesers und schließlich die sogenannte narrative Stimme. In welchem Zusammenhang diese Stimmen mit Sprachwechsel und Mehrsprachigkeit stehen, wird im Folgenden gezeigt.

4.2. Stimmen und Sprachwechsel lesen Das Konzept der narrativen Stimme rekurriert insofern auf einen nur mehr noch metaphorisch verwendeten Stimmenbegriff, als sie erzähltheoretisch bisweilen allein als eine Funktion des Textes gefasst wird, die nicht notwendigerweise an einen sich etwa deiktisch zeigenden Erzähler gebunden sein muss – sie wirkt demnach gleichsam als off-

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2006. Zur Phonologozentrismuskritik vgl. Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls. Aus dem Französischen v. Hans-Dieter Gondek. Frankfurt/M. Suhrkamp, 2003 sowie Jacques Derrida: Grammatologie. Aus dem Französischen v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1974. In der Traditionslinie der Dekonstruktion steht auch die Auseinandersetzung mit der Stimme in Giorgio Agamben: Il linguaggio e la morte. Torino: Einaudi, 1982. Da im Folgenden mehrfach auf Bachtins Theorie rekurriert wird, sei an dieser Stelle erwähnt, dass Bachtin den Logos dem gramma, nicht der phoné zuordnet – und nicht, wie Derrida, umgekehrt; darauf verweist Renate Lachmann: „Dialogisches Denken und Rhetorik bei Michail Bachtin“, in: Jahrhundertbücher. Große Theorien von Freud bis Luhmann. Hrsg. v. Walter Erhart u. Herbert Jaumann. München: Beck, 2002, S. 224–244, hier S. 237–240. Die Stimme bzw. Stimmenvielfalt ist es also, die sich der Schrift aufzwingt; vgl. dazu weiter unten. Krämer: „Negative Semiologie der Stimme“, in: Medien/Stimmen, S. 73. Vgl. dazu auch Doris Kolesch: „Die Spur der Stimme. Überlegungen zu einer performativen Ästhetik“, in: Medien/Stimmen, S. 267–281, hier S. 267 u. 276. Theodor Storm: Der Schimmelreiter, in: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Karl Ernst Laage u. Dieter Lohmeier. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998, Bd. 3, S. 654.

Stimmen und Sprachwechsel lesen

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Stimme. Jeder literarische Text beinhaltet jedoch eine sprechende Instanz, und sei diese auch nur eine unvermeidliche Konstruktion von Seiten des Lesers.12 Diese sprechende Instanz wäre eben jene narrative Stimme, die den sogenannten impliziten Leser adressiert. Jenseits eines solchen Kommunikationsmodells literarischer Texte gibt es allerdings den realen Leser, der im Vorgang des Lesens das vollbringt, was Proust den „miracle fécond d’une communication au sein de la solitude“ nennt.13 Denn trotz aller Einsamkeit und Stille findet bei jeder Lektüre Kommunikation statt. In diesem Sinn verunglimpft Nietzsche das Lesen als ein „Hören-Müssen auf andere Selbste“;14 weil es nämlich einer besonderen Form von innerer Rede entspricht, bei der man als Leser dem Text Stimme(n) verleiht15 und diese zugleich bzw. infolge dessen hört. Zwar ist es im Grunde eine „stumme Sprache, die dem Leser die Welt des Textes darstellt“, jedoch warnt Paul Ricœur zu Recht davor, dieser „Metapher des Sehens zum Opfer [zu] fallen“, und bezeichnet „das Sehen als eine Konkretisierung des Verstehens und damit

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So behauptet auch Michael Eggers: „Der literarische Text hat eine eigene, schriftliche Stimme, die in einem sich auch auf das Unbewusste erstreckenden Dialog mit dem Leser steht.“ (Michael Eggers: Texte, die alles sagen. Erzählende Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts und Theorien der Stimme. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 206). Ricœur redet, und er bezieht sich dabei bezeichnenderweise auf den polyphonen Roman, von der „Unmöglichkeit, den Begriff der narrativen Stimme zu eliminieren“ (Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. II. Aus dem Französischen v. Rainer Rochlitz. München: Fink, 1989, S. 164). Genette weist Ann Banfields These, literarische Texte hätten weder einen Sprecher noch einen Angesprochenen und seien – den Modus der direkten Rede ausgenommen – stumm, als unhaltbar zurück: „Die so oft geäußerte Behauptung – Nachfolgerin des alten showing und der noch viel älteren Mimesis –, der zufolge niemand in der Erzählung spricht, resultiert meines Erachtens also, von der Macht des Klischees einmal abgesehen, aus einer erstaunlichen Text-Taubheit.“ (Genette: Die Erzählung, S. 260). Paul de Man sieht die Abwesenheit einer (narrativen) Stimme im literarischen Text durch eine im Akt des Lesens vollzogene Figur der Prosopopöie quasi kompensiert, indem der Leser die Frage nach der Herkunft des Textes bzw. nach dem Subjekt der Rede selbst beantwortet (vgl. Paul de Man: Allegorien des Lesens. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988, S. 49 f.; vgl. dazu auch Bettine Menke: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka. München: Fink, 1995, S. 138). Vgl. allgemein auch den Band Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen. Hrsg. v. Andreas Blödorn, Daniela Langer u. Michael Scheffel. Berlin/New York: de Gruyter, 2006. Marcel Proust: „Pastiches et mélanges“, in: Contre Sainte-Beuve précéde de Pastiches et mélanges et suivi de Essais et articles. Édition établie par Pierre Clarac. Paris: Gallimard, 1971, S. 174. Friedrich Nietzsche: Ecce Homo, in: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Berlin/New York: de Gruyter, 1968 ff., 6. Abt., Bd. 3, S. 324. „Ob nun beim stillen Lesen eine klanglose Stimme im ‚geistigen Ohr‘ hörbar wird oder der Autor selbst sein Manuskript liest – die Lektüre erfolgt immer im Medium einer solchen ‚geliehenen Stimme‘.“ (Eggers: Texte, die alles sagen, S. 237). Diese Stimme vollzieht jenen Akt der Verlebendigung, dessen die tote Schrift bedarf – so die gängige Vorstellung etwa bei Rousseau, Herder, Humboldt und noch bei Gadamer (vgl. Hans-Georg Gadamer: „Philosophie und Literatur“, in: Phänomenologische Forschungen 11 (1981), S. 18–45). Bei Wittgenstein heißt es: „[D]ie gesprochenen Wörter schlüpfen beim Lesen gleichsam herein. Ja, ich kann ein deutsches gedrucktes Wort gar nicht ansehen, ohne einen eigentümlichen Vorgang des innern Hörens des Wortklangs.“ (Wittgenstein: Werkausgabe, Bd. 1, S. 325).

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paradoxerweise als eine Fortsetzung des Hörens“.16 Mit Jean Paul könnte man dies zu einer synästhetischen Formel verdichten: „das Auge ist Hörrohr der akustischen Phantasie“.17 Durch die – laut oder still – lesende Stimme werden sämtliche Textstimmen gedoppelt. Dabei kann der Sprachwechsel und, allgemeiner, die Mehrsprachigkeit ein Hindernis darstellen, etwa wenn der Leser nicht weiß, wie er lesen bzw. aussprechen soll, oder wenn er gar nicht weiß, was (in welcher Sprache) er liest. Wenn er sich nun, nach anfänglichem Stocken, dagegen entscheidet, den fremden Text einfach zu ignorieren und zu überspringen, so wird er sein inneres Sprechen intensivieren. Es gilt in der Leseforschung als erwiesen, dass durch unbekannte Buchstabenfolgen, Wörter und Sprachen ein „Ansteigen der Mitartikulation verursacht“ wird, das als „Subvokalisation“18 bezeichnet wird. Je fremder, unverständlicher und unzugänglicher der sprachliche Ausdruck ist, umso „mehr drängt es zur auch lauten Artikulation.“19 Die Verwandlung des Geschriebenen in Laute, die bei jedem Lesevorgang stattfindet, wird also wahrnehmbar, und durch diese „Erfahrung der Sprechbewegung“ erfährt der Leser gleichsam auch den „Lautleib“ der fremden Sprache.20 Mit Bezug auf die sprachwechselnden Stimmen ließe sich also die von Eggers vertretene These relativieren, der zufolge die Literatur „die klangliche Seite des Sprechens“ deshalb thematisiere, „weil sie selbst, zumindest in der stillen Lektüre, klanglos bleibt und die Materialität der Stimme nur in der Vorstellung ‚evozieren‘ kann.“21 Die Lektüre einiger Kapitel aus Ulysses lässt am eigenen Kehlkopf recht deutlich spüren, was Anthony Burgess „painful reading“ nannte.22 16 17 18

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Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. II, S. 169. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, in: Werke, Bd. 5, S. 279. Hugo Aust: Lesen. Überlegungen zum sprachlichen Verstehen. Tübingen: Niemeyer, 1983, S. 79. Vgl. dazu auch Eleanor J. Gibson/Harry Levin: Die Psychologie des Lesens. Stuttgart: Klett-Cotta, 1980, S. 177 f. sowie Marc Wittmann/Ernst Pöppel: „Neurobiologie des Lesens“, in: Handbuch Lesen. München: K. G. Saur, 1999, S. 224–239. Heinz Alfred Müller: Die Psychologie des Lesens. Diss. Basel, 1956, S. 120. Dasselbe gilt für Dialekte als primär mündliche Varietäten der Sprache: „the representation of nonstandard dialect in writing – as a reader of, say, Mark Twain or George Ade will attest – tends to give a reader a tired throat after a short period of reading; we cannot help subvocalizing as we read ‚dialect‘; it exists only in oral form.“ (Robin Tolmach Lakoff: „Some of my Favorite Writers are Literate. The Mingling of Oral and Literal Strategies in Written Communication“, in Spoken and Written Language. Exploring Orality and Literacy. Hrsg. v. Deborah Tannen. Norwood, NJ: Ablex, 1982, S. 239–260, hier S. 242; zit. n. Paul Goetsch: „Fingierte Mündlichkeit in der Erzählkunst entwickelter Schriftkulturen“, in: Poetica 17 (1985), S. 202–218, hier S. 207). Vgl. dazu auch Raymond Chapman: „The Reader as Listener: Dialect and Relationships in The Mayor of Casterbridge“, in: The Pragmatics of Style. Hrsg. v. Leo Hickey. London: Routledge, 1989, S. 159–187. Müller: Die Psychologie des Lesens, S. 120. Den „Lautleib“ erfährt man zudem „im Hören fremdsprachlicher Äußerungen, deren Bedeutung uns weitgehend verschlossen ist“ (ebd.). Eine analoge Erfahrung schildert Canetti in der Aufzeichnung Die Frau am Gitter; vgl. dazu Kap. 3.5. Eggers: Texte, die alles sagen, S. 12; Hvh. d. Vf. Anthony Burgess: „Introduction“, in: James Joyce: Ulysses. London: Secker & Warburg, 1994, S. V.

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Besonders bemerkenswert ist bei Joyce zudem, dass die lesende Stimme immer wieder den Versuch unternimmt, die oft unlesbare Mehrsprachigkeit des Textes auf eine lesbare Einsprachigkeit zu reduzieren: Das laute Lesen, die hörbare Artikulation des mehrsprachigen Textes geht mit einer Entscheidung zugunsten einer bestimmten Sprache bzw. Aussprache einher und beseitigt so die gegebene Polyvalenz. Derrida verweist auf jene Stelle in Finnegans Wake, an der es „he war“ heißt, und behauptet dazu: „die babelsche Verwirrung zwischen dem englischen war und dem deutschen war kann nur verschwinden, wenn sie sich beim Hören festlegt.“23 Freilich sind in Joyce-Texten oftmals bereits einzelne Wörter und Wendungen als Zitate gehörter Sprache zu lesen, und sie werden im Verlauf des Textes immer wieder gehört oder gesagt oder aber gedacht. Auf diese Weise entstehen vielschichtige Sprachgebilde, wie etwa im Fall des von Mrs. Bloom gelesenen Wortes „metempsychosis“, das sie allerdings „met him pike hoses“ ausspricht, was wiederum Leopold Bloom hört und später in seinen Gedanken mehrfach übernimmt.24 Nicht nur angesichts „des an zwanzig Sprachen geschulten Joyceschen Auditivgedächtnisses“25 stellt sich aber die Frage: Wie lässt sich überhaupt eine denkende oder eine sprechende Stimme schreiben?

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Derrida: Ulysses Grammophon, zit. n. Schäfer: Die Intensität der Form, S. 140. Schäfer merkt kritisch an, Derrida glaube an „eine – artikulatorisch unmögliche – Appräsentation der Differenz zweier Sprachen in einer beim lauten Lesen. Die Differenz zwischen dem englischen und dem deutschen Signifikanten ‚war‘, die vermeintliche Homonymie, verlöscht jedoch in der Artikulation. Sie ist nicht sagbar. Jedes Artikulieren ist ein Entscheiden.“ (Ebd., S. 140). Zu „he war“ äußert sich Derrida bereits in Babylonische Türme; hier ist es die Übersetzung, die „das Vielfältige des he war“ nicht wiedergeben kann, weil sie immer „Übersetzung in eine Sprache“ ist. Die Stelle aus Finnegans Wake zeige „die Grenzen auf, an die Übersetzungstheorien stoßen: allzuhäufig behandeln sie den Übergang von einer Sprache zur anderen und achten nicht genug auf die Möglichkeit, daß Sprachen in einen Text verwickelt sind, die kein Paar bilden, weil es mehr als nur zwei Sprachen sind. Wie einen Text übersetzen, der in mehreren Sprachen gleichzeitig geschrieben ist? Wie die Wirkung der Vielfalt, den Vielfalt-Effekt übertragen? Kann man überhaupt noch von Übersetzen reden, wenn man versucht, beim Übersetzen mehrere Sprachen zu verwenden?“ (Derrida: Babylonische Türme, S. 125). Zur „Grammophonie“ vgl. weiter unten. Joyce: Ulysses, S. 218. In Leopold Blooms Gedanken findet sich dann auch die Schreibung „met him pikehoses“. Zu solchen ,Übersetzungen‘ bei Joyce vgl. Willi Erzgräber: James Joyce. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spiegel experimenteller Erzählkunst. Tübingen: Narr, 1998; Patrick O’Neill: Polyglot Joyce: Fictions of Translation. Toronto u. a.: University of Toronto Press, 2005. Hermann Broch: Hofmannsthal und seine Zeit. Eine Studie. Mit einem Nachwort von Hannah Arendt. München: Piper, 1964, S. 165. Broch geht in diesem Zusammenhang auch auf den Begriff „voise“ als Verschmelzung von „voice“ und „noise“ ein; vgl. dazu auch Schäfer, der auf Genettes Mimologiken verweist (Schäfer: Die Intensität der Form, S. 63 f.).

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4.3. Stimmen und Sprachwechsel schreiben Selbstverständlich ist jede Stimme, die sich in einem literarischen Text artikuliert, eine verschriftlichte, d. h. eine nur mittelbare Stimme. Eggers bringt dies folgendermaßen zum Ausdruck: „Im literarischen Bereich, unter den Verhältnissen der Schriftlichkeit, wird die Stimme anonym, die vielfach beschworene Unmittelbarkeit des Mündlichen ist dann überlagert von der Medialität des Schriftzeichens.“26 Im Folgenden soll jedoch dargelegt werden, welche Mittel dem schriftlichen Medium der Literatur zur Verfügung stehen, um in der Mittelbarkeit des Schriftlichen jene „Unmittelbarkeit des Mündlichen“ zu begründen – eine Unmittelbarkeit, die der von Eggers festgestellten Anonymität der Stimme(n) entgegenarbeitet. Wie schreibt man also Stimmen, damit sie möglichst nach sprechenden Stimmen klingen? Oder umgekehrt: Wie erzielt man eine ,Verstimmlichung‘ von Schrift? Es kommt offenbar darauf an, den Wortlaut der Stimme wiederzugeben. Die Bezeichnung ‚Wortlaut‘ hat hier zwei Bedeutungen: einerseits das lautlich-akustische, klangliche bzw. mündliche Phänomen und andererseits dessen Wörtlichkeit. Um die Wörtlichkeit zu gewährleisten, bedient sich der Erzähler der direkten Rede oder analoger Formen. Er zitiert darin wortwörtlich, was im Medium der Literatur keine Schwierigkeit darstellt, insofern „die schriftliche Äußerung […] zunächst als die sichrere, als die einzige erscheint, von der sich ‚kein Jota rauben läßt‘“.27 Aber, so schreibt Georg Simmel weiter, […] diese Prärogative des Geschriebenen ist eine bloße Folge eines Mangels: daß ihr die Begleiterscheinungen des Stimmklanges und der Akzentuierung, der Gebärde und der Miene fehlen, die für das gesprochene Wort ebenso eine Quelle der Verundeutlichung wie der Verdeutlichung sind.28

Genau diesen Mangel gilt es in der Literatur zu kompensieren, wenn es um die Wiedergabe von Stimmen und mündlicher Rede geht. Ein besonders lebendiges und getreues Bild des Wortlauts kann der Erzähler jedoch nur zu erreichen versuchen, indem er gezielt Umschreibungen und Ergänzungen einsetzt, um so den körperlichen Ausdruck der sprechenden Person wiederzugeben, die klangliche Qualität der Stimme vernehmbar zu machen29 und die spezifische Bedeutung des Gesagten, die ja wesentlich in der Stimme 26

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Eggers: Texte, die alles sagen, S. 169. Eggers behauptet außerdem, jede Thematisierung der Stimme bedinge eine Selbstreflexivität des literarischen Textes, da dieser dabei seine eigene Medialität herausstellt. Georg Simmel: „Exkurs über den schriftlichen Verkehr“, in: Gesamtausgabe. Hrsg. v. Otthein Rammstedt. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1989 ff., Bd. 11, S. 429–433, hier S. 431. Ebd., S. 431 f. „Insgesamt dürfte die Stimme, wie es der frühen romantischen Ausdruckstheorie nicht fremd war, ein Mittleres zwischen Schrift und Gestus bilden“, heißt es bei Adorno (Theodor W. Adorno: „Physiognomik der Stimme“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 20/2, S. 510–514, hier S. 511). Dass „der Klang der Stimme und der […] Tonfall […] einen wesentlichen Bestandteil des Denkens ausmachen“ (Genette: Die Erzählung, S. 126), gilt nicht nur für die Gedanken-, sondern auch für die Redewiedergabe.

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liegt, in den Text und damit auf den Leser zu übertragen. Wie Wortlaut und Stimme im literarischen Text erzeugt werden, ist nun genauer zu erörtern.

4.3.1. Direkte Rede Die direkte Rede gilt als der dramatische Modus der Redewiedergabe, weil sie die größte Unmittelbarkeit erzeugt, ähnlich wie das Gedankenzitat und der innere Monolog. Die sprechende Figur redet dabei in der ersten Person und in der Gegenwart: Gegenwart nicht nur zeitlich, sondern auch im Sinn einer durch die Stimme begründeten Präsenz. Der Text tut so, als gäbe er etwas ‚ursprünglich‘ Gesprochenes bzw. Gesagtes unmittelbar und wortwörtlich wieder. Für Genette bestehen bei direkter Rede „zwischen der Aussage im Text und dem Satz, den der Held ausgesprochen haben soll, keine anderen Unterschiede als die, die mit dem Übergang vom Mündlichen zum Schriftlichen zusammenhängen“.30 Diesen Übergang zu vollziehen heißt, die mündlich artikulierte bzw. als mündlich imaginierte Aussage einer Stimme zu Papier zu bringen. Was nun die Stimme bei der Verschriftlichung notgedrungen einbüßt, kann durch einen Sprachwechsel zum Teil aufgefangen und in den schriftlichen Text hinübergerettet werden. Diese These lässt sich im Rückbezug auf Canettis Stimmen von Marrakesch weiter entwickeln. Dort finden sich die meisten Sprachwechsel innerhalb der direkten Rede, also im Rahmen von Gesprächen, in denen die Figur(en) und der Erzähler auf ihre jeweiligen Worte Bezug nehmen. Den Wortlaut und die Stimme, die gleichsam eins sind, bringt die direkte Rede als Sprechtext besonders unmittelbar zum Ausdruck. Wird aber die wiedergegebene direkte Rede an einen Sprachwechsel gekoppelt, sind Wortlaut und Stimme der sprechenden Figur in verstärktem Maße zu vernehmen. Die im Hinblick auf den Text fremdsprachige Rede der Figur wird als Original einer nicht stattfindenden Übersetzung ausgegeben und (zumindest teilweise) wörtlich angeführt. Die sprachliche Abweichung des Textes potenziert die Unmittelbarkeit der wiedergegebenen Rede, gerade weil die Abweichung aus der Perspektive der Figur gar keine ist. Der Text markiert also eine Differenz in demselben Moment, in dem er eine Übereinstimmung bzw. Identität – nämlich diejenige zwischen Sprache und Figur – herstellt. In diesem Sinn ist bei der Interpretation der Stimmen von Marrakesch die direkte fremdsprachige (Gedanken-)Rede als O-Ton der Figur bezeichnet worden, den der Erzähler gleichsam transkribiert und nunmehr als Zitat wiedergibt. Man stelle sich im Gegensatz dazu vor, wie die direkte Rede durch eine Übersetzung der Sprache des Textes angepasst würde: Es handelte sich dann zwar noch immer um direkte Rede bzw. um ein Zitat – es ließe sich aber fragen: von wem? –, nicht mehr allerdings um den Wortlaut der Figur. Dafür fehlte nämlich jene Wörtlichkeit, die allein eine unmittelbare Rückbindung an den Sprecher und an dessen Stimme gewährleisten kann. Das heißt aber wiederum, dass die fremdsprachige direkte Rede stets ‚wörtlicher‘ 30

Ebd., S. 120 f.

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als die übersetzte erscheint.31 Dieser durch den Sprachwechsel gesteigerten Wörtlichkeit können, wie noch gezeigt wird, besondere Wirkungseffekte abgewonnen werden.

4.3.2. Mimesis der Stimmen Um die lautliche Wirkung einer sprechenden bzw. einer gehörten Stimme wiederzugeben, können in literarischen Texten die Mittel der „unmittelbaren, graphisch angedeuteten Lautnachahmung“ und der „Lautbeschreibung“32 verwendet werden. Es werden also Lautfiktionen erzeugt. Eine solche fingierte Mündlichkeit weist stets „ein Mischungsverhältnis von mimetischen und literarisch-stilisierenden Tendenzen“33 auf. Das bedeutet, dass die Stimme nachgeahmt wird, wobei es jedoch nicht so sehr auf eine „Häufung mimetischer Details“ als vielmehr auf typische Merkmale von Distanzsprache wie etwa „Planung, Komprimierung, Auswahl und Zuspitzung“34 ankommt. Diese Unterscheidung ist auch im Hinblick auf das Verhältnis von Erzähler und Figur, das am Schluss dieses Kapitels untersucht wird, von Bedeutung. Anhand einzelner Beispiele soll aber zunächst veranschaulicht werden, wie die Mimesis der Stimme mit einem Sprachwechsel einhergehen kann. Rilkes Malte beschreibt an einer Stelle den Ruf eines Pariser Verkäufers, der seine Ware anpreist: „Er schrie: Choufleur, Chou-fleur, das fleur mit eigentümlich trübem eu.“35 Der Text wechselt ins Französische und präzisiert anschließend die klangliche Wirkung des französischen Wortes, indem er eine Silbe besonders betont („Chou-fleur“, „fleur“, „eu“). Das Zusammenspiel der Sprachen wird in diesem sehr kurzen Beispiel deutlich; das Deutsche soll – freilich mit einem anderen Klang, nämlich mit der Assonanz auf ,ü‘, aber auch auf ,t‘ und ,m‘ in „eigentümlich trübem“ – zur akustischen Vorstellung jenes trüben „eu“ beitragen. Genauere Anleitungen für das Hören finden sich vorzugsweise bei Nabokov, ein extrem ‚akustischer‘ Schreiber. Als repräsentatives Beispiel kann etwa die Wiedergabe der Rede von „Mademoiselle“ in Speak, Memory gelten; die „old French governess“36 kann nur ein einziges Wort Russisch:

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Für Genette schränkt die Kombination von Original und Übersetzung die Wörtlichkeit des Originals ein: „Der wörtlichen (Re)produktion kann – oder im fiktiven Fall: soll angeblich – eine Übersetzung vorgeschaltet sein, wie den Reden der römischen Führer bei Polybios oder Plutarch oder den Reden der Helden aus La chartreuse de Parme oder L’espoir, was die Wörtlichkeit dieser (Re)produktion ein wenig beeinträchtigt.“ (Ebd., S. 225). Spitzer: „Sprachmengung als Stilmittel“, in: Stilstudien, Bd. 2, S. 103. Goetsch: „Fingierte Mündlichkeit“, S. 210. Ebd. S. 213. Vgl. dazu wiederum Koch/Oesterreicher: „Sprache der Nähe – Sprache der Distanz“, in: Romanistisches Jahrbuch (36) 1985, S. 15–43. Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: Werke, Bd. 3. Hrsg. v. August Stahl. Frankfurt/M./Leipzig: Insel, 1996, S. 484 f. Nabokov: Speak, Memory, S. 95.

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Her Russian vocabulary consisted, I know, of one short word, the same solitary word that years later she was to take back to Switzerland. This word, which in her pronunciation may be phonetically rendered as ‚giddy-eh‘ (actually it is gde with e as in ‚yet‘), meant ‚Where?‘. And that was a good deal. Uttered by her like the raucous cry of some lost bird, it accumulated such interrogatory force that it sufficed for all her needs. ‚Giddy-eh? Giddy-eh?‘ she would wail, not only to find out her whereabouts but also to express supreme misery: the fact that she was a stranger, shipwrecked, penniless, ailing, in search of the blessed land where at last she would be understood.37

Dieses einzige Wort ist Mademoiselles ganzer Wortschatz, und es gewinnt existentielle Bedeutung als Ausdruck des Elends, der Orientierungs- und Ortlosigkeit. Der Text betreibt einen beachtlichen Aufwand, um die Aussprache und die Stimme der Frau zu beschreiben; die Kombination der phonetischen Schreibung unter Angabe der korrekten Aussprache – inklusive der Erläuterung in der Sprache des Lesers, der ja möglichst richtig lesen soll: „gde with e as in ‚yet‘“ – mit einem bildlichen Vergleich, der über die einzelnen Buchstaben hinausgeht („like the raucous cry of some lost bird“), findet sich bei Nabokov häufig. Dass dieser ein sehr feines Ohr für fremdartige Aussprachen und Akzente hat, zeigt u. a. der Roman Pnin, in dem es über den Protagonisten heißt: „War sein Russisch Musik, so war sein Englisch Mord.“38 Zu diesem mörderischen Englisch gehört neben dem „akhsent“ die als „Englishing“ bezeichnete wörtliche Übersetzung aus dem Russischen.39 Bekannt für die Nachahmung von Stimmen ist auch Balzac gewesen. In seinem Roman Le cousin Pons wird die Rede des sentimentalen Deutschen Schmucke durchgehend kursiv gesetzt; hervorgehoben ist sie jedoch ohnehin, denn sie hört sich etwa folgendermaßen an: Ile n’y ha qu’eine hôme qui aid bleuré Bons afec moi… il a eine chentille bedide fille qui a tes geveux maniviques, chai gru foir dud à l’heire le chénie de ma baufre Allemagne, que che n’aurais chamais tû guidder… Paris n’est bas pon bir les Allemands, on se mogue t’eux… dit-il en faisant le petit geste de tête d’un homme qui croit voir clair dans les choses 40 de ce bas monde.

Schmucke spricht ein Französisch, das syntaktisch und lexikalisch zwar weitgehend korrekt ist (obgleich er zwischendurch deutsche Worte wie „eine“ integriert), durch den deutschen Akzent und durch die entsprechende Schreibung aber stark verfremdet wird. 37 38 39 40

Ebd., S. 98. Zit. n. Obendiek: Der lange Schatten, S. 97. Vgl. dazu Lamping: „‚Linguistische Metamorphosen‘“, in: Germanistik und Komparatistik, S. 538. Balzac: Le cousin Pons. Edition établie par Gérard Gengembre. Paris: Flammarion, 1993, S. 372. Vgl. auch das Beispiel der französischen Aussprache Leopold Blooms in Ulysses: „In the free indirect discourse […] we may […] hear Bloom’s attempt at a French pronunciation, through which he hopes to impress Stephen. […] [T]he italicization underscores an attempt to let us hear Bloom’s approximation of a foreign pronunciation.“ (Onno Kosters: „‚Getting Rid of Voluble Expressions‘: Eumaeun Language in Dispute“, in: English Literature and the Other Languages, S. 145–156, hier S. 151).

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Dass man sich in Paris darüber mokiert, verwundert kaum. Analoge Beispiele finden sich oft bei klassischen russischen Autoren, die in ihren Werken das Französische so schreiben, wie es von ihren russischen Figuren ausgesprochen wird: „bon schur“ und „kommang wu porteh wu?“41 Diese phonetische Schreibung ist klarerweise ein Schriftverfahren, eine Schreibstrategie; in ihr verschmelzen „mimetische Elemente mit stilisierenden.“42 Gehörte und geschriebene Sprache ergeben eine Mischsprache, die zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit oszilliert. Auch ein reduziertes Beispiel wie die Stimme des letzten Bettlers von Marrakesch macht dies deutlich; dessen Ruf – „ä-ä-ä-ä-ä-“ – wird zu einem Buchstaben, der eindeutig der Sprache der Aufzeichnung zuzuordnen ist.43 Dass diese Bettlerstimme an äußerst prominenter Stelle erklingt, indem sie als überlebender Laut Die Stimmen von Marrakesch beschließt, zeigt, welche Bedeutung eine solche Lautschrift innerhalb der Fiktion bzw. Narration eines literarischen Textes einnehmen kann; E. T. A. Hoffmanns Sandmann, dessen unheimlicher Ausruf „Sköne Oke!“44 den Protagonisten der Erzählung mehrfach und mit letaler Konsequenz heimsucht, ist ein weiterer Beleg dafür. Wie die bisher angeführten Beispiele bereits nahelegen, erscheint der Sprachwechsel als eine herausragende Möglichkeit, um auch den zweiten Aspekt des Wortlauts einer Stimme wiederzugeben, nämlich den lautlich-klanglichen bzw. akustischen. Dies ist nicht nur der Fall, wenn der Text in eine Sprache wechselt, die allein dem Zweck dient, eine bestimmte Stimme zu imitieren: „Bei der Erzeugung des Eindrucks von Mündlichkeit ist es ferner wichtig, ob und wie sich die Partien, in denen Mündlichkeit fingiert wird, von anderen Teilen des gleichen Werkes abheben.“45 Genau in diesem Sinn wirkt sich der Sprachwechsel aus, indem er als sprachliche Abweichung für eine Hervorhebung der Stimme sorgt. Spitzer erkennt eine Ursache von Sprachwechsel – wie er schreibt: von „Sprachmengung“ – in der schlichten „Künstlerfreude an der sprachlichen Maske“.46 Es seien „akustisch veranlagt[e] Schriftsteller“,47 die in ihren literarischen Texten fremdsprachi41

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Iwan Turgenjew: Ein Adelsnest, zit. n. Obendiek: Der lange Schatten, S. 131. Ähnliches findet sich auch bei Tolstoi. Im russischen Original kann die fremdsprachige Rede in kyrillischer oder in lateinischer Schrift angeführt werden. Goetsch: „Fingierte Mündlichkeit“, S. 212. Vgl. auch: „Paradoxalement, ce phénomène inspiré de l’oralité ne peut exister qu’à l’ecrit: il faut donc le considérer aussi comme un effet d’œuvre.“ (Chantal Richard: „Vers une typologie de l’hétérolinguisme littéraire à la fin du XXe siècle en Amérique francophone“, in: Des cultures on contact, S. 249–263, hier S. 256). Die phonetische Schreibung des Deutschen ist immer wieder von orthographischen Reformern angestrebt worden; auch Schriftsteller wie bspw. Klopstock und Arno Schmidt haben sich dafür ausgesprochen. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 87 u. 89. E. T. A. Hoffmann: „Der Sandmann“, in: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Hrsg. v. Wulf Segebrecht u. Hartmut Steinecke. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1985 ff., Bd. 3, S. 35 u. 49. Goetsch: „Fingierte Mündlichkeit“, S. 215. Spitzer: „Sprachmengung als Stilmittel“, in: Stilstudien, Bd. 2, S 110. Zum Zusammenhang von Maske und Stimme vgl. weiter unten. Ebd., S. 111.

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ge und dialektale Elemente verwenden. Als Beispiel dafür gilt ihm Alfred Kerr, der in seinen Reisebildern Die Welt im Licht u. a. die norddeutsche Aussprache des Konsonanten ,s‘ ([s] im Anlaut vor ,p‘ und ,t‘) wiedergibt, indem er diese graphisch mit ,sß‘ kennzeichnet, so etwa im Satz: „Ich lebte auf einer Frieseninsel mit raren, ‚sßtillen‘, feinen, nordwestdeutschen Gestalten – urbäurischen Bauern“.48 Kerr übertreibe es allerdings mit der Fremdsprachigkeit; er sei gar Opfer seiner Gehörseindrücke. Spitzer fährt fort: Wir haben es mit Nachahmung gehörter Rede zu tun, die aber, eben in Erinnerung an diese und um sie besonders treu hervorzuzaubern, in den Text des Schriftstellers hinüberdringt und 49 gerade durch das Abrücken der Sprech- von der Schreibsprache diese belebt.

Hier kehrt der entscheidende Moment der Sprachdifferenz wieder. Die Kopplung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit an den Sprachwechsel erscheint erneut als eine Verstärkung der gehörten Rede bzw. der geschriebenen Stimmen. Diese werden vom Schriftsteller erinnert, wobei der Sprachwechsel offenbar dazu dienen soll, die Erinnerung möglichst treu und lebendig wirken zu lassen. Im Rückbezug auf Canettis Aufzeichnungen Die Stimmen von Marrakesch, die bereits als ein Erinnerungstext gedeutet worden sind, geht es nun um erinnerte Stimmen.

4.3.3. Erinnerte Stimmen Die Art und Weise, wie sich ein literarischer Text als gehörte Sprache ausgibt, variiert je nach seinem Erzählverfahren. In den Stimmen von Marrakesch erzählt ein autodiegetischer Erzähler rückblickend bzw. ,rückhorchend‘. Inwieweit sich Canetti damit vom Konzept der akustischen Maske verabschiedet, ist bereits dargelegt worden;50 dass er die in Wien aufgezeichneten Masken in seinen Dramen auftreten lässt, spricht jedoch dafür, dass ein solches phonographisches Verfahren, auf narrative Texte übertragen, keiner Vermittlung durch einen Erzähler bedarf. Vielmehr soll der Eindruck erweckt werden, der Text sei gleichsam ohne einen Aufzeichnenden entstanden; es wird unmittelbar ,aufzeichnend‘ erzählt, und die Erzählinstanz tritt so weit zurück, bis sie kaum noch wahrnehmbar ist. So werden in Bachmanns Erzählung Simultan die Stimmen der Figuren ohne vermittelnde Erzählinstanz ganz in den Vordergrund gerückt. Es ließen sich zahlreiche Beispiele für analoge Stimmentexte anführen – einen radikalen Stimmentext plante etwa Hugo von Hofmannsthal unter dem Titel Im Vorübergehen/Wiener 48 49

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Ebd., S. 86. Ebd., S. 87; vgl. auch den Ausdruck „Wiedergabe gehörter Reden“ (ebd., S. 95). Ferner behauptet Spitzer: „Das ‚Sßprechen‘ ist Darstellung und Nachahmung zugleich. Es entstammt der Unfähigkeit des Schriftstellers, seine Gehörseindrücke vollkommen originaltreu darzustellen; er muß zur Erzeugung des Lautes greifen“; es handelt sich also um eine „impressionistische Technik.“ (Ebd., S. 88). Vgl. Kap 3.4. und 3.5.

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Phonogramme;51 als epochal und exemplarisch für die Wiedergabe innerer Stimmen, auch in seiner Mehrsprachigkeit, kann ferner Ulysses gelten, dessen ,Grammophonie‘ von Derrida beschrieben worden ist.52 Bachtin verweist auf Dostojewskijs späte Erzählung Die Sanfte; sie wird im Vorwort des Verfassers mit der Niederschrift eines Stenographen verglichen, der die Stimme des Protagonisten belauscht und aufzeichnet, wobei der aufgezeichnete Monolog in nur leicht überarbeiteter Form wiedergegeben wird.53 Die Stimmen von Marrakesch enthalten dagegen vom Erzähler erinnerte, durch die und in der Aufzeichnung vergegenwärtigte Stimmen. Die Rede der sprechenden Figuren wird als „erinnerungstreu[es]“, nicht erfundenes Zitat aus tatsächlichen Begegnungen angeführt.54 Dies entspricht der Gattungskonvention autobiographischer Texte, wie auch Genette behauptet: Die Geschichte, die Biographie oder die Autobiographie sollen Reden reproduzieren, die tatsächlich gesprochen wurden; das Epos, der Roman, das Märchen oder die Kurzgeschichte dagegen sollen die Reproduktion nur fingieren und in Wahrheit produzieren sie ihre Reden, die also rein erfundene sind. Sollen: dies sind die Gattungskonventionen, die natürlich nicht unbedingt der Wirklichkeit entsprechen.55

Die Rede der Figuren (wie auch diejenige des Erzählers) ist demnach zu lesen, als sei sie genau in jenem Wortlaut in Marrakesch artikuliert worden; sie drängt sich beim Aufzeichnen als erinnerte Stimme akustisch auf: Die rein akustische, als solche flüchtige Wahrnehmung wird zur gefühlsbeladenen, schicksalhaften Verinnerlichung der Stimme, die dadurch einen dauernden Wert erhält. Er wird fi-

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Über das Projekt gibt eine Notiz aus dem Jahr 1893 Auskunft; überliefert ist nur ein Text(-anfang), der aus mitstenographierten Gesprächsfetzen während einer Kunstauktion in Wien besteht. Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 31. Hrsg. v. Ellen Ritter. Frankfurt/M.: Fischer, 1991, S. 8–12. Die „Grammophonie“ des Ulysses verortet Derrida zwischen „parole“ und „écriture“ (Jacques Derrida: Ulysses Grammophon. Zwei Deut für Joyce. Übers. v. Elisabeth Weber. Berlin: Brinkmann & Bose, 1988, S. 34 u. 70). Finnegans Wake bezeichnet Hans Wollschläger als ein Werk, das „keinen geringeren Anspruch erhebt als den, die symphonische Sprache des Unbewußten selbst nachzuschreiben.“ (Hans Wollschläger: „Joyce pro toto oder Tiefenmuster der Sprache. Einige Überlegungen zur Kreativität der Künstler“, in: Der Rabe 2 (1983), S. 174–195, hier S. 176; Hvh. d. Vf.). Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 62. Im Jahre 1867 heiratete Dostojewskij seine Stenographin Anna Grigorevna Snitkina, der er bereits 1866 Der Spieler diktiert hatte. Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 198. Vgl. auch die bereits erwähnte Unterscheidung zwischen „Erinnerung“ und „Einfälle“ in Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 5, S. 80. Hanuschek weist im Zusammenhang der Stimmen von Marrakesch auf Canettis „mnemotechnische Arbeitsweise“ hin (Hanuschek: Elias Canetti, S. 533). Görbert bezeichnet die „autobiographische Verschriftlichung“ der Stimmen von Marrakesch als „Bearbeitung zweiten Grades“, bei der „authentisierende und ästhetisierende Erinnerungsleistungen untrennbar miteinander verbunden [sind]“ (Johannes Görbert: Poetik und Kulturdiagnostik. Zu Elias Canettis ,Die Stimmen von Marrakesch‘. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, 2009, S. 26). Genette: Die Erzählung, S. 225.

Stimmen und Sprachwechsel schreiben

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xiert im Medium der Schrift. Dabei kommt der sich in die Erinnerung einschreibende Ton innerlich, im Akt der Niederschrift, erneut zum Klingen.56

Die der Schrift eigene „Abwesenheit des Klangs“ eröffnet einen Erinnerungsraum, in dem die Stimmen zu hören (gewesen) sind. Eggers verbindet diesen Vorgang mit einem psychoanalytischen Stimmenkonzept, nämlich mit der Stimme des Gewissens bzw. des Über-Ichs: Ähnlich wie das Gewissen an Gehörtes erinnert, fingiert der literarische Text, meist im Präteritum, eine Vergangenheit, in der Stimmen zu vernehmen waren. Durch diese formale Kongruenz zum Gewissen erhält die Literatur selbst die Kapazität einer ethischen Wachsamkeit.57

Dies lässt sich auf Canettis Poetik der Erinnerungstreue übertragen, insofern diese die ethische Maxime aufstellt, die Stimme und allgemeiner das Wort solle, ja dürfe nicht verändert werden. Demnach müsste man aber, streng genommen, die Stimmen von Marrakesch auch in der Originalsprache anführen; dies tut Canetti aber nur gelegentlich – einige Stimmen werden im O-Ton zitiert, die meisten jedoch übersetzt. Der Sprachwechsel wirkt sich dabei, wie im vorangehenden Kapitel gezeigt worden ist, auch in seiner punktuellen Verwendung auf den gesamten Text aus. Im Zusammenhang von Text, Stimme und Erinnerung erzielt der Sprachwechsel eine Aktualisierung der Stimme, indem diese aus einer vergangenen Zeit und aus einem verlassenen Ort wieder heraufgerufen wird. Die Vergegenwärtigung der Stimme erfolgt über die Gegenwart von deren Sprache im Text: Die andere Sprache des Textes ist gleichsam die Spur der im Text abwesenden Stimme, die aber gerade auf diese Weise anwesend wird. Denn „[d]ie Spur ist die Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ“, schreibt Walter Benjamin.58 In dieser Hinsicht tritt eine weitere Bedeutung der Begriffe Näheund Distanzsprache zutage. Während der Sprachwechsel einerseits die Distanz zwischen Text und Stimme markiert, erzeugt er andererseits durch die Rückkopplung an Sprechzeitpunkt und Sprechort der Stimme eine größere Nähe als eine Übersetzung. Sprache der Erinnerung und erinnerte Sprache werden dabei eins. So ließe sich mit Wittgenstein (rhetorisch) fragen: „Erinnerungen […] in der Sprache sind ja nicht bloß die fadenscheinigen Darstellungen der eigentlichen Erlebnisse; ist denn das Sprachliche kein Erlebnis?“59 56 57

58 59

Eggers: Texte, die alles sagen, S. 30. Ebd., S. 242. Aber auch allgemeiner gilt für Freud: „Das Wort ist […] eigentlich der Erinnerungsrest des gehörten Wortes.“ (Sigmund Freud: Das Ich und das Es, in: Gesammelte Werke, Bd. XIII, S. 249). Walter Benjamin: Das Passagen-Werk [Aufzeichnungen und Materialien], in: Gesammelte Schriften, Bd. V/I, S. 560. Wittgenstein: Werkausgabe, Bd. 1, S. 475. Zur Veranschaulichung vgl. die folgende Erinnerung Adornos, die wie ein Echo der eigenen Stimme erklingt: „An einem Abend der fassungslosen Traurigkeit ertappte ich mich über dem Gebrauch des lächerlich falschen Konjunktivs eines selber schon nicht recht hochdeutschen Verbs, der dem Dialekt meiner Vaterstadt angehört. Ich hatte die zutrauliche Mißform seit den ersten Schuljahren nicht mehr vernommen, geschweige denn ver-

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Mehrsprachigkeit, Stimme und Redewiedergabe

Der Wortlaut einer als Erlebnis erinnerten Stimme erweist sich als weder übersetzbar noch tilgbar. Dies kann man wiederum deutlich am Beispiel Nabokovs zeigen. Dessen Autobiographie weist doppelte, jeweils in zwei Sprachen angegebene Erinnerungszitate auf, die auf den ersten Blick überflüssig erscheinen mögen, in Wirklichkeit aber vorführen, wie Erinnerung und Wortlaut nicht voneinander zu trennen sind. In Speak, Memory erinnert sich Nabokov an eine bestimmte Stelle einer Straße, die zum Ort „Gryazno (accented on the ultima)“ hinführt, nämlich an die steilste Stelle, „where one preferred to take one’s ‚bike by the horns‘ (bïka za roga) as my father, a dedicated cyclist, liked to say“.60 Die Rede des Vaters wird zunächst in Anführungszeichen auf Englisch und anschließend in Klammern auf Russisch wiedergegeben. Der Text legt nahe, dass es sich um eine Übersetzung handele, und dass es demnach auch im Russischen heiße: das ‚Fahrrad an den Hörnern‘ packen, es also schieben. Der Leser, der die russische Sprache nicht beherrscht, wird zu dieser Lesart durch die scheinbare Entsprechung von „bike“ und „bïka“ verleitet. In Wahrheit bedeutet aber „bïka“ Stier: So verweist der russische Text auf die idiomatische Wendung ‚den Stier an den Hörnern packen‘, die der Vater womöglich zu zitieren pflegte, um selbst bereits auf die falschen Freunde „bïka“/„bike“ anzuspielen.61 Erst die englische Übersetzung durch den Sohn vollzieht jedoch explizit die metaphorische Verschiebung (Lenker für Hörner, Fahrrad für Stier). Dieses Beispiel zeigt, wie Nabokov gelegentlich die Übersetzung und die klangliche Ähnlichkeit der Sprachen benutzt, um seine Leser in die Irre zu führen – freilich eine produktive Irre, in der dicht an den Sprachgrenzen und auch jenseits verzeichneter Lexeme Bedeutung entsteht. Die russische Klammer erfüllt zudem die Funktion, die individuell geprägte und immer wieder verwendete Redewendung des Vaters im O-Ton zu zitieren. Die Erinnerung wäre ohne die Angabe des russischen Originals unvollständig, ja untreu, da der Vater „bïka za roga“ zu sagen pflegte und nichts anderes. In Analogie dazu gibt Nabokov die letzten Worte einer seiner Tanten wie folgt wieder: „Aunt Pasha’s last words were: ‚That’s interesting. Now I understand. Everything is water, vsyo-voda.‘“62 In diesem Fall ist es besonders einleuchtend, dass die Rede der Tante mit einer Wiederholung auf Russisch endet, um ihre kurz vor dem Sterben erlangte Erkenntnis originalgetreu anzugeben, eng gebunden an ihre Stimme. Die Erinnerung, heißt es bei Herder, wird durch die Stimme des Erinnerten lebendig: „Erinnerungen an Gestalten der Abwesenden geben ein ruhiges Andenken; das Wiederkommen ihrer Stimme mit Bewegung, mit Handlung begleitet, bringt sie lebendig zu

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wandt. Schwermut, die unwiderstehlich in den Abgrund der Kindheit hinunterzog, weckte auf dem Grunde den alten, ohnmächtig verlangenden Laut. Wie ein Echo warf mir die Sprache die Beschämung zurück, die das Unglück mir antat, indem es vergaß, was ich bin.“ (Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 125). Nabokov: Speak, Memory, S. 40. Außerdem packt der Vater an der beschriebenen Stelle auch insofern den Stier an den Hörnern, als er dort Nabokovs Mutter seinen Heiratsantrag macht (vgl. ebd.). Ebd., S. 68.

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uns; sie gebieten unsrer Seele.“63 Im Rückbezug auf Personen bzw. Stimmen der Vergangenheit könnte der erinnernde Text als Prosopopöie gedeutet werden;64 wechselt er dabei, wie in den Stimmen von Marrakesch oder wie in Speak, Memory, zur ‚ursprünglichen‘ Sprache des Wortlauts, so zeugt dies von einer unmittelbaren Nähe zum evozierten Sprecher und verleiht seiner Stimme eine besondere Lebendigkeit.

4.3.4. Authentische Stimmen? Vom Sonderfall der erinnerten Stimmen abgesehen, lässt sich die Wirkung des Sprachwechsels innerhalb der Personenrede, also bei der Wiedergabe einer Stimme, allgemeiner fassen. Durch die Kopplung von Sprachwechsel und Wortlaut ergibt sich grundsätzlich eine besonders starke Bindung an die sprechende Person bzw. an deren Stimme. Demzufolge könnte man diejenige Sprache, in die der Text wechselt, als „Medium […] der referentiellen Illusion und damit des Mimesiseffekts“ bezeichnen,65 ja man könnte sogar den Sprachwechsel mit Roland Barthes als „Realitätseffekt“ oder „Wirklichkeitseffekt“66 betrachten. In der Tat ist die Verwendung von Fremdsprachen in literarischen Texten mit Schreibweisen des Realismus in Verbindung gebracht worden; unter Realismus wären hier im weitesten Sinn Texte zu verstehen, die bei der „Erzählung von Worten“ einen hohen mimetischen Aufwand betreiben und die Mehrsprachigkeit der erzählten Welt (bzw. diejenige zwischen Erzählwelt und erzählter Welt) abbilden. Dazu zählen beispielsweise die meisten Reiseberichte, wenn sie sich um eine auch sprachliche Mimesis des bereisten Landes bemühen. So behauptet Spitzer: Dem Schriftsteller, der Reiseeindrücke, also stets Nationalbesonderes, darstellen will, bleibt nichts als das Zitieren fremder Wendungen, auch wenn er darum in Sprachmengerei und Eklektizismus verfällt. Entweder er verzichtet auf das Bewußtwerden des Fremdländischen oder 67 auf die Sprachreinheit. Tertium non datur.

Die Überschreitung sprachlicher Grenzen und die Konfrontation mit fremden und unbekannten Sprachen werden in der Reiseliteratur häufig thematisiert. Dabei stellen Be63

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65 66 67

Johann Gottfried Herder: Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, zit. n. Christian L. Hart Nibbrig: Geisterstimmen. Echoraum Literatur. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2001, S. 43. Der Mensch entwickle auch deshalb ein „größere[s] Mitgefüh[l] durch Stimme und Sprache“, weil „der Ton das Gemälde des Auges zum lebendigen Wesen macht, also alle Erinnerungen eigner und fremder Gefühle zurückbringt und auf Einen Punkt vereinet“ (Herder: „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, in: Werke, Bd. 6, S. 157). In diesem Sinn ist Herders Aussage zu verstehen: „die Stimme der Verstorbenen ist in meinem Ohr“ (ebd., S. 348). Der Prosopopöie liegt die Abwesenheit des Sprechers zugrunde; als rhetorische Figur der Stimmgebung kann sie aber auch – gleichsam als Personifikation – einem Ding oder Wesen, das an sich keine Stimme hat, eine Stimme verleihen. Genette: Die Erzählung, S. 118; Genette bezieht sich hier nicht auf Sprachwechsel. Vgl. ebd., S. 118 u. 222–224. Spitzer, „Sprachmengung als Stilmittel“, in: Stilstudien, Bd. 2, S. 104 f.

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Mehrsprachigkeit, Stimme und Redewiedergabe

gegnungen mit fremden Menschen auf der Reise mehrsprachige Kommunikationssituationen dar, in denen es leicht zu Missverständnissen kommen kann68 und in denen durch die Sprache(n) Ein- und Ausschlussmechanismen wirksam werden. In den Stimmen von Marrakesch möchte der Reisende seine Ausgeschlossenheit aus der arabischen Sprache bewahren, da er um einen anderen Zugang zu dieser Sprache weiß. Während die in Marrakesch vernommenen „fremdartigen Rufe“69 nur umschrieben werden können, hat der Aufzeichner die Möglichkeit, aus seinen vor Ort geführten Gesprächen immer wieder im Französischen als der Originalsprache zu zitieren. Dass dabei Sprachwechsel als Mittel zur Charakterisierung von Fremden dient, liegt auf der Hand: Kein erzählerisches oder dramatisches Mittel scheint effizienter, um einen Fremden als Fremden zu charakterisieren, als ihm Fremdsprachliches in den Mund zu legen; kaum eine Erfahrung wird in so plausibler Weise zum Gleichnis des Gefühls, selbst ein Fremder zu sein, wie die, nicht die Sprache der jeweiligen Umwelt zu verstehen.70

Allerdings zeigt gerade ein Text wie Die Stimmen von Marrakesch, dass fremd nicht gleich fremd ist, sondern dass man auch innerhalb einer einzelnen Sprache – etwa dem Französischen der Marrakescher Gespräche oder dem Arabischen der rein akustischen Wahrnehmung der Stimmen – verschiedene Erfahrungen der Fremdheit machen kann. Der Sprachwechsel erfüllt dabei die Funktion, den „Fremden zu charakterisieren“; im Folgenden soll allerdings genauer gezeigt werden, wie eine solche Figurencharakterisierung überhaupt funktioniert, d. h. auch, auf welche Mimesiseffekte sie gründet. Im Mittelpunkt steht die Wiedergabe der Stimme der Figur. Deren durch Sprachwechsel angeführter Wortlaut hat im Text eine zweifache Wirkung: Er macht die Stimme authentisch und authentifiziert sie zugleich, vor allem wenn sie im Modus der direkten Rede wiedergegeben wird. Durch die Übereinstimmung von Sprache und Stimme wirkt Letztere authentisch, d. h. unverfälscht, unverändert, original.71 Die Authentifizierung hingegen wird zumeist dadurch bewirkt, dass der Text Stimmen zitiert,

68 69 70

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Vgl. die Malcesine-Episode in Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise, in: Sämtliche Werke, I. Abt., Bd. 15/1, S. 34–39. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 21. Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, S. 16. Analog dazu Obendiek: „Die fremde Sprache ist der markanteste Ausdruck des Andersseins, und da das Medium der Literatur die Sprache ist, manifestiert sich materiell das Fremde des Fremden am eigentümlichsten in seinem sprachlichen Code, sei es nun ein Dialekt oder eine Fremdsprache.“ (Obendiek: Der lange Schatten, S. 13). Vgl. dazu im Hinblick auf Die Stimmen von Marrakesch jene Authentizität, die im touristischen Diskurs durch „Marker“ wie „Postkarten, Reproduktionen, Photographien, Museen, Hinweistafeln und natürlich auch Reiseberichte“ erzeugt bzw. bezeugt wird: „Authentizität ist […] keine Sache des Objektes mehr, sondern das Resultat einer komplexen semiotischen Vermittlung, durch die ein Signifikant durch einen weiteren Signifikanten als authentisch markiert wird.“ (Fuchs: „Der touristische Blick“, in: Reisen im Diskurs, S. 73 f.). Fuchs bezieht sich hier auf Jonathan Culler: „The Semiotics of Tourism“, in: Framing the Sign. Criticism and its Institutions. Oxford: Basil Blackwell, 1988, S. 153–167.

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die von einem Erzähler gehört worden sind, ganz analog zu jenen Formeln, die in noch stark mündlich geprägten Text-Traditionen zu finden sind, etwa bei Vergil: Vocemque his auribus hausi. Mit meinen ohren hab’ ich es vernommen; zue mehrer bestetigung deßen das er erzehlet.72

Man darf dabei allerdings nicht vergessen, dass im Grunde dieselbe Authentifizierung, derselbe Anspruch auf Authentizität bzw. Mimesis auch dann am Werk ist, wenn es darauf ankommt, eine bestimmte Stimme und eine bestimmte Sprache vorzutäuschen. Das „Fremde des Fremden“73 kann nämlich auch eine reine Fiktion sein. So soll gerade die Schilderung gänzlich fiktiver oder phantastischer Reisen authentisch wirken, zu welchem Zweck man als Autor die eine oder andere Sprache erfinden muss. Oder aber die Sprache bzw. der Sprachwechsel wird zum Mittel der Täuschung, etwa bei Thomas Manns Hochstapler Felix Krull, der mit Hilfe seiner Sprachgewandtheit seine echte Identität immer wieder erfolgreich verdeckt. Eine im engeren Sinne schauspielerische Mimesis der Sprache findet sich bereits bei Aischylos in den Choephoren, als Orestes und Pylades sich als Fremde ausgeben, um Zugang zum Palast der Klytaimnestra zu erhalten. Orestes erklärt diesen Teil seines Racheplans mit den Worten: Dem Fremdling gleich, ganz ausgerüstet wie zur Fahrt, Tret ich zum Tor des Hofes heran mit Pylades, Dem Mann hier, der mein Waffenbruder ist und Freund. Wir werden reden, wie man am Parnassos spricht, Nachahmen werden wir der Phoker Zunge Laut.74

Das entscheidende Verb ist im Original: „mimesthai“. Doch es liegt hier wie auch im weiteren Textverlauf nur latente Mehrsprachigkeit vor; denn als Orestes in der Tat vor dem Palast steht, wird der phokische Dialekt nicht nachgeahmt, die Dialoge bleiben durchgehend attisch, wie es für die Tragödie angemessen ist. Entscheidend für die Authentizität bzw. Authentifizierung der Stimmen ist, dass jeweils deutlich wird, wer – wessen Stimme – spricht und wer die Stimme hört. Vor diesem Hintergrund gilt es nun auf das Phänomen der Mehrstimmigkeit und auf deren Verhältnis zur Mehrsprachigkeit einzugehen.

4.3.5. Mehrstimmigkeit Der Weg zur Mehrstimmigkeit des literarischen Textes führt über Bachtin und den russischen Formalismus. Etwa zeitgleich mit Spitzer und ebenfalls im Rahmen der Sti72 73 74

Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, in: Gesammelte Werke, Bd. II/1, S. 377. Vgl. dazu auch Quint. inst. 8, 3, 53. Obendiek: Der lange Schatten, S. 13. Aesch. Choe. 560–564, zit. n. Aischylos: Die Orestie. Deutsch von Emil Staiger. Stuttgart: Reclam, 2006, S. 85 f.; Hvh. d. Vf.

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Mehrsprachigkeit, Stimme und Redewiedergabe

listik beschäftigen sich die russischen Formalisten mit Mündlichkeit und Stimmen in der Literatur. Dabei wird der Begriff des skaz geprägt, der eine mündlich bzw. umgangssprachlich gestaltete Erzählweise bezeichnet. Der skaz beinhaltet nach Boris Ejchenbaum eine „Intention auf das Wort, auf die Intonation, auf die Stimme“; besonders hervorgehoben wird die „lautliche Hülle eines Wortes, sein akustischer Charakter“.75 So setzt sich der skaz als Rede eher einfacher, ungebildeter (Erzähler-)Figuren, die sich spontan und unvermittelt äußern, vom restlichen ,literarischen‘ Textstil ab und erzeugt dadurch die Illusion einer mündlichen Lebhaftigkeit. Bachtin bringt den skaz ebenfalls mit der Stimme in Verbindung; entscheidend ist jedoch nicht so sehr, dass es sich um eine mündliche, sondern dass es sich um eine fremde Stimme handelt: Sieht man im skaz nur die mündliche Rede, dann läßt man das Wichtigste außer acht. Mehr noch, eine ganze Reihe sprachlicher Phänomene (Intonation, Syntax u. a.) erklärt sich im skaz (bei der Ausrichtung des Autors auf die fremde Rede) gerade aus seiner Zweistimmigkeit, daraus, daß sich zwei Stimmen und zwei Akzente in ihm kreuzen.76

Die „fremde Rede“77 ist ein Kernbegriff der Bachtinschen Theorie; sie widerspricht der Vorstellung einer einheitlichen und homogenen Sprache und begründet im Gegensatz dazu eine grundsätzliche „Redevielfalt“.78 Diese gestaltet sich als ein „rededifferenziertes Werden“,79 in dem verschiedene Sprachen, verschiedene Stimmen stets miteinander konkurrieren und sich wechselseitig zitieren. Nun sind die Stimmen, die sich in einem literarischen (narrativen) Text „kreuzen“ können, zunächst diejenigen von Erzähler und Figur. Die Rede der Figur kann aber, wie bereits ausgeführt, auf jeweils unterschiedliche Art und Weise wiedergegeben werden, so dass sich hier noch einmal die Verfahren der Redewiedergabe in den Blick nehmen lassen, um sie hinsichtlich ihrer Mehrstimmigkeit zu befragen. Die direkte Rede trennt am deutlichsten zwischen eigenem und fremdem Wort, also zwischen Wort des Erzählers und Wort der Figur, wobei Letzteres, zumeist zwischen Anführungszeichen stehend, sogleich als etwas Eigenständiges erscheint. Bei der indirekten Rede dagegen fehlt […] die Buchstäblichkeit, d. h. der Leser weiß nie, wie die ‚wirklich‘ gesprochenen Worte aussahen: Die Anwesenheit des Erzählers ist bereits auf die Ebene der Syntax des Satzes so stark, daß die Rede nie die dokumentarische Autonomie eines Zitats erlangt. Man geht eigentlich immer davon aus, daß der Erzähler diese Sätze nicht bloß in Nebensätze umwan-

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79

Boris Ejchenbaum, „Die Illusion des skaz“, in: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hrsg. v. Jurij Striedter. München: Fink, 1971, S. 161– 167, hier S. 165. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 214 f. Es handelt sich dabei in der Terminologie Bachtins nicht um ein fremdsprachiges Wort. Rainer Grübel übersetzt „raznorečie“ mit „Redevielfalt“; Bachtin verwende diesen russischen Begriff „analog zu raznojazyčie (,Mehrsprachigkeit‘)“ und ziele damit auf den „Pluralismus im Bereich der Sprechtätigkeit, des Redens, der parole“ ab (Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 89). Ebd., S. 242.

Stimmen und Sprachwechsel schreiben

143

delt, sondern die fremde Rede zugleich verdichtet und seiner eigenen Rede integriert, sie also seinem eigenen Stil gemäß interpretiert.80

Der Erzähler hat sich also die Rede der Figur weitestgehend angeeignet, und tatsächlich sind Sprachwechsel innerhalb von indirekter Rede selten. Ob mit oder ohne Sprachwechsel ist die Mehrstimmigkeit am stärksten im Fall der erlebten Rede ausgeprägt. In diesem Zusammenhang spricht man auch von einer „Ansteckung“ des Erzählers durch die Figur.81 So stellt Spitzer mit Bezug auf Kerrs friesische Bauern und allgemein mit Bezug auf Schriftsteller, die „Opfer ihrer Eindrücke“ sind, eine „Ansteckung durch das Gehörte“ fest.82 Freilich muss man dazu einschränkend anmerken, dass es durchaus ,immune‘ Erzähler gibt,83 die sich nicht anstecken lassen; außerdem verweisen literarische Texte nicht immer auf gehörte Sprache. In den Stimmen von Marrakesch spielen jedoch akustische Erfahrung bzw. Erinnerung, Mehrstimmigkeit und Mehrsprachigkeit eine wichtige Rolle; darüber hinaus verbindet auch Bachmanns Simultan mehrfach Sprachwechsel und Mehrstimmigkeit. Über den grundsätzlichen Unterschied zwischen direkter und erlebter Rede schreibt Genette: In der erlebten Rede übernimmt der Erzähler die Figurenrede, d. h. die Figur spricht mit der Stimme der Erzählers und die beiden Instanzen werden vermengt; in der unmittelbaren Rede tritt der Erzähler völlig zurück und wird durch die Figur ersetzt.84

Folglich wird in der direkten Rede „die Redeweise der Personen, ob Idiolekt oder Soziolekt, […] deutlich ‚objektiviert‘, mit einer starken Differenzierung zwischen Erzähler- und Figurenrede, was einen Mimesiseffekt hervorruft“85 – so schätzt jedenfalls Proust, nach Angabe Genettes, die direkte Figurenrede bei Balzac ein. Proust selbst reizt bei einigen seiner Figuren den besagten Mimesiseffekt bis zum Äußersten aus: Der Autor ‚imitiert‘ seine Figur […] nicht nur dem wörtlichen Inhalt ihrer Aussagen nach, sondern im Rückgriff auf die hyperbolische Buchstäblichkeit des Pastiche, das den Ideolekt des ursprünglichen Textes immer ein wenig übertreibt, so wie eine ‚Imitation‘ durch die Anhäufung und Akzentuierung spezifischer Merkmale immer überladen wirkt. […] Der Mimesiseffekt hat hier seinen Gipfelpunkt oder genauer gesagt seine Grenze erreicht: den Punkt, wo das Extrem des ‚Realismus‘ ins Irreale umzuschlagen droht. […] Diese Gefahr aber droht jeder allzu perfekten sprachlichen Mimesis, die schließlich nichtig und zirkulär, wie schon 80 81

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Genette: Die Erzählung, S. 122. Die Bezeichnung findet sich zunächst bei Spitzer und wird dann von Franz K. Stanzel wieder aufgegriffen (vgl. Spitzer: „Sprachmengung als Stilmittel“, in: Stilstudien, Bd. 2, S. 98 sowie Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. 6., unveränderte Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995, S. 248–250). Spitzer: „Sprachmengung als Stilmittel“, in: Stilstudien, Bd. 2, S. 99. Spitzers negatives Urteil über Kerrs „Ansteckung“ ist bereits erwähnt worden. Zu diesem Begriff in anderem Zusammenhang vgl. Martin von Koppenfels: Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans. München: Fink, 2007. Genette: Die Erzählung, S. 124. Ebd., S. 130.

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Mehrsprachigkeit, Stimme und Redewiedergabe

Platon bemerkt hat, in der Verdoppelung endet: Legrandin spricht wie Legrandin, d. h. wie Proust, der Legrandin imitiert, und die Rede verweist am Ende zurück auf den Text, der sie ‚zitiert‘, d. h. sie de facto konstituiert.86

Eine „hyperbolische Buchstäblichkeit“ kennzeichnet, wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, gerade den Sprachwechsel als O-Ton der Figur. Was geschieht jedoch mit der auf diese Weise angestrebten Mimesis, wenn die Rede der Figur in die Rede des Erzählers gelangt? Welches Verhältnis besteht zwischen Mimesis und Mehrstimmigkeit im besonderen Fall eines Sprachwechsels? Zur Veranschaulichung seien einige Stellen aus den Stimmen von Marrakesch in Erinnerung gerufen. Da ist beispielsweise der Dialog des Erzählers mit dem kleinen Jungen, dessen Worte aus der direkten, zitierten Rede, wo sie im O-Ton auftreten, als übersetztes Zitat in die Erzählerrede gelangen. Derartige Zitate stehen in einem besonderen Spannungsverhältnis zwischen eigenem und fremdem Wort; dies wird vor allem dann deutlich, wenn der Erzähler in seiner Rede die Figur im O-Ton zitiert – zum Beispiel Élie – und damit einen Sprachwechsel vollzieht. Denn der Sprachwechsel weist einerseits besonders stark auf eine fremde Herkunft hin (fremdes Wort), andererseits zeigt er selbst an, wie die Aneignung der Sprache der Figur durch den Erzähler begonnen hat (eigenes Wort). Ein grundlegendes Problem der Bachtinschen Theorie liegt darin, dass es ihr zufolge gar kein eigenes Wort geben dürfte, während sie dennoch von der Existenz eines Eigenen in der Sprache ausgehen muss – alleine schon deshalb, weil die Unterscheidung zwischen eigen und fremd für das Konzept der Dialogizität grundlegend ist.87 Es ist also nur nachvollziehbar, wenn Bachtin gelegentlich eine mittlere bzw. vermittelnde Position einnimmt und etwa schreibt: „Das Wort der Sprache ist ein halbfremdes Wort.“88 Dieser Satz zeigt nämlich an, wie nichts in der Sprache vollkommen angeeignet, genauso wenig wie etwas in der Sprache als gänzlich Fremdes überhaupt verwendet werden kann. Jedes Wort muss angeeignet werden, und um es als (geteiltes) Eigentum zu besitzen, muss es der Sprecher erst mit eigenen Bedeutungen und Wertungen besetzen. Dabei ist allerdings mit widerstrebenden Kräften zu rechnen; denn die Sprache ist kein Niemandsland und „kein Neutrum“ – das Wort befindet sich „nicht etwa in einer neutralen und unpersönlichen Sprache (der Sprecher entnimmt es ja nicht dem

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88

Ebd., S. 131. Vgl. dazu auch Spitzer: „Proust artikuliert überdeutlich seine niedergeschriebenen Reden, sogar das rein technische Artikulieren wird ihm zum Exponenten von Seelischem, Sprechen ist Kundgabe einer Persönlichkeit. Daher denn die impressionistisch pedantischen Signalements der Laute einer Figur […]. […] Man kann sagen, die ganze Kunst der Menschendarstellung bei Proust sei ein Zitieren, ein Wiedererzeugen der ‚Sprechenstotalität‘, ein Schaffen von ‚Pastiches‘.“ (Leo Spitzer: „Zum Stil Marcel Proust’s“, in: Stilstudien, Bd. 2, S. 365–497, hier S. 424 u. 429). An einigen Stellen behauptet Bachtin, dass jedes Wort von fremder Rede durchzogen werde, so als sei im Grunde gar kein eigenes Wort möglich; an anderen Stellen rückt er wiederum das eigene Wort in die Nähe einer bestimmten Ausprägung von Erzähler-Wort oder Autor-Wort, das einen monologisch ausgerichteten, ungebrochenen Diskurs etabliert. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 185; Hvh. d. Vf.

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Lexikon), sondern in einem fremden Mund“.89 Bisweilen scheitert der Versuch, der fremden Rede ein Wort abzuringen; dann bewahrt das Wort seine Fremde und seine eigenwillige Akzentuierung, „ohne Rücksicht auf den Willen des Sprechers in Anführungszeichen“.90 Die Anführungszeichen sind in der Tat von Bedeutung. Sie markieren ein Zitat und weisen dieses einem Sprecher zu. Doch der Sprecher lässt sich nicht immer eindeutig bestimmen, wie Bachtin anhand einer seiner typischen Unterscheidungen, derjenigen zwischen Dichtung bzw. Lyrik und Prosa, veranschaulicht. Im Gedicht signalisieren die fehlenden Anführungszeichen, dass der Dichter „jedes Wort, jeden Ausdruck ihrer direkten Bestimmung gemäß (gleichsam ‚ohne Anführungszeichen‘), d. h. als reinen und unvermittelten Ausdruck seines Vorhabens“ verwendet.91 In der Prosa sind dagegen die Anführungszeichen häufig „unmöglich, weil ein und dasselbe Wort […] oft gleichzeitig in die fremden Reden und in die Autorrede eingeht“.92 Es handelt sich hierbei um „fremde Wörter“, die „keineswegs in Anführungszeichen gesetzt, formal der Autorrede angehören, aber durch eine ironische, parodistische, polemische oder andere vorbehaltliche Intonation deutlich von der Rede des Autors distanziert sind“.93 Die fremde Rede erscheint gewissermaßen als jener Teil der „Autorrede“, der „in Anführungszeichen gesetzt werden könnte“.94 Verhält es sich nun aber so, dass sprachliche Äußerungen nur „halbfrem[d]“ bzw. halbeigen sein können, so müssten sich verschiedene Sprecher die Anführungszeichen teilen. Dies hieße wiederum, die Funktion derselben außer Kraft zu setzen – oder aber, dass Mehrstimmigkeit auch zwischen Anführungszeichen auftreten kann. Wenn beispielsweise der Erzähler in den Stimmen von Marrakesch Élies Wort „Israélite“ aufgreift und in Anführungszeichen zitiert, so verwendet er dieses, wie bereits dargelegt, sowohl mit Élie als auch gegen Élie: Er bestätigt damit seine eigene jüdische Identität und stellt zugleich die Dummheit der Figur bloß. Der zitierende Rückgriff des Erzählers auf die Rede der Figur gestaltet sich in der Tat immer unterschiedlich. Bachtin beobachtet, wie im Prozess der Umakzentuierung das Verhältnis von „Autor“ und „Gestalt“ (Erzähler und Figur) in ständigem Wandel entlang einer Kurve verläuft: […] auf den Gipfeln der Kurve ist die völlige Solidarisierung des Autors mit seiner Gestalt, das Verschmelzen ihrer Stimmen möglich; an den Tiefpunkten der Kurve dagegen sind die vollständige Objekthaftigkeit der Gestalt und folglich eine grobe Parodie auf die Gestalt ohne Dialogizität möglich.95

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Ebd. Ebd. Ebd., S. 178. Ebd., S. 198. Ebd., S. 294. Ebd., S. 194. Ebd., S. 297 f. Vgl. dazu auch Obendiek: „Der Grad der Distanz zwischen Autor und Figur variiert. Er kann sich steigern, bis ihm seine Figuren zu Fremden werden. Sie eine andere als die eigene

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Mehrsprachigkeit, Stimme und Redewiedergabe

„Solidarisierung“ bedeutet also gemeinsame, geteilte Intention von Erzähler und Figur, während die Parodie als gebrochene Intention, d. h. als diskursive Überlegenheit des Erzählers gilt, dessen Intention sich gleichsam über diejenige der Figur legt.96 Beide Intentionen lassen sich wieder am Beispiel von „Israélite“ illustrieren, insofern der Erzähler zum einen dieses Wort im Sinne Élies bejaht, zum anderen es jedoch dazu bringt, „seinen eigenen, neuen Intentionen, einem zweiten Herrn, zu dienen“,97 indem er es parodistisch einsetzt. Wie andere vergleichbare Worte kann aber das Wort „Israélite“ – gerade weil und insofern es auf Französisch als der Sprache der Figur zitiert wird – kaum in die Sprache des Erzählers98 vollständig eingehen. Der Sprachwechsel selbst ist ein Zeichen dafür, dass die Resistenz gegen eine solche Vereinnahmung bei fremdsprachigen Worten und Wendungen weit größer ist als innerhalb ein und derselben Sprache. Denn wie können diese je ihren „‚anderssprachigen‘ Beigeschmack eingebüßt“99 haben? Bereits lexikalisierte Fremdwörter sind als Eindringlinge leicht zu identifizieren,100 umso mehr die Übergänge von einer Sprache in eine andere. Es fragt sich nun, welchen Status diese „fremde Rede“ innerhalb des Textes beanspruchen kann. Lässt sich in der Unübersetzbarkeit bestimmter Sprachelemente der Ausdruck eines Widerstands der Figur gegen die vereinnahmende Sprache des Erzählers erkennen?101 Kommt durch Sprachwechsel die Sprache bzw. die Stimme der Figur zu Wort? Oder begründet der Sprachwechsel eine immer mehrstimmige Äußerung, an der der Erzähler grundsätzlich teilhat? Diese Fragen werden im folgenden Kapitel diskutiert, indem das Verhältnis von Erzähler und

Sprache sprechen zu lassen, wird zu einem markanten Zeichen solcher Fremdheit.“ (Obendiek: Der lange Schatten, S. 37). Obendiek verweist auf folgende Stelle aus The Bakhtin Reader: „there are, finally, those words that are completely denied any authorial intentions: the author does not express himself in them […] – rather he exhibits them as a unique speech-thing, they function for him as something completely reified.“ (Ebd., S. 238, Anm. 49). 96 Bachtin unterscheidet demnach auch zwischen gleichgerichtetem und verschiedengerichtetem Wort. Die Parodie ist nicht dialogisch, während die geteilte Intention nicht etwa Identität oder Austauschbarkeit, sondern Dialog bedeutet; vgl. dazu weiter unten. 97 Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 191. 98 Bachtin redet von der „Sprache des Autors“ als einer „Hochsprache“ (ebd., S. 296). 99 Ebd. 100 Der Sonderfall des Fremdworts kann im Rahmen dieser Studie nicht ausführlich behandelt werden; es sei aber darauf hingewiesen, dass in den Stimmen von Marrakesch (und analog dazu in Simultan) einige Fremdwörter den Status von Eigennamen haben, etwa „Mellah“, „Mahya“, „Fatma“, „La Riviera“. Prinzipiell unterscheiden sich diese nicht von einem Wort wie „Israélite“; doch sie gehören nicht zur direkten Rede einer Figur, sie sind also nicht an einen Sprecher oder an eine Stimme gebunden; vgl. wiederum Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 296. 101 Zum Widerstand des Fremdworts vgl. Theodor W. Adorno: „Wörter aus der Fremde“ u. „Über den Gebrauch von Fremdwörtern“ in: Gesammelte Schriften, Bd. 11, S. 216–232 u. 640–646. Adornos Überlegungen können sowohl für das Fremdwort als auch für das Fremdsprachige gelten. Vgl. außerdem Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 294.

Stimme und Sprachwechsel zwischen Erzähler und Figur

147

Figur im Hinblick auf deren jeweilige Beteiligung am narrativen Diskurs dargelegt wird.

4.4. Stimme und Sprachwechsel zwischen Erzähler und Figur Die „Haupteigenschaft der narrativen Fiktion“ besteht nach Ricœur darin, „die Rede eines Erzählers hervorzubringen, der die Rede fiktiver Figuren erzählt“.102 In einem solchen diegetischen Modell erscheint also der Erzähler als den Figuren übergeordnet. Allerdings stellt Ricœur selbst fest, dass auf einer tieferen Ebene zu bestimmen sei, „ob die Rede des Erzählers den Vorrang gegenüber derjenigen der Figur hat oder nicht“.103 Dazu heißt es weiter: Die Untersuchung der Markierungen des Vorrangs der Erzählerrede […] oder der Rede einer Figur […] in der Fiktion in der ersten oder in der dritten Person liegt auf der phraseologischen Ebene, also derjenigen der Charakteristika der Rede. Diese Untersuchung ist Sache einer Poetik der Komposition […].104

Die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Verhältnis von Erzähler- und Figurenrede wird damit in einen gesonderten Bereich verlagert, der ungefähr der Bachtinschen Stilistik entspricht. Ricœur nimmt kurz darauf explizit Bezug auf Bachtin, über dessen Kategorie des polyphonen Romans er unter anderem schreibt: Die merkwürdige Originalität des polyphonen Romans besteht […] in einer Revolutionierung der Auffassung vom Erzähler und von der Stimme des Erzählers, ebenso wie in derjenigen von der Handlungsfigur. Denn die Dialogbeziehung zwischen den Handlungsfiguren wird so weit entwickelt, daß sie die Beziehung zwischen dem Erzähler und seinen Figuren einschließt.105

Eine derartige Ausweitung des Dialogs würde bedeuten, dass die Figuren – jedenfalls in ihrer (direkten) Rede – eine ‚volle‘, d. h. eigenständige, derjenigen des Erzählers ebenbürtige Stimme erhielten. Doch eben die im speziellen Fall der Polyphonie aufgeworfene Frage nach der Autorität und Hierarchie innerhalb des Erzähldiskurses ist im Allgemeinen nicht einfach bzw. eindeutig zu beantworten. Denn der Umstand, dass eine bestimmte Figur innerhalb des narrativen Diskurses an Autorität und Präsenz gewinnt, ließe sich letztlich auf eine Entscheidung des Erzählers zurückführen, insofern dieser als letzte und einzige Instanz die Art und Weise der Redewiedergabe entschiede. Man könnte hierauf bereits mit Bachtin entgegnen: „Eine einzelne Stimme beendet nichts und entscheidet nichts. Zwei Stimmen sind das Minimum des Lebens, das Minimum

102

Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. II, S. 158. Ebd., S. 155. 104 Ebd., S. 161. 105 Ebd., S. 165.

103

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Mehrsprachigkeit, Stimme und Redewiedergabe

des Seins.“106 Doch eine solche dialogische Position ist in der Erzähltheorie eher selten; der Erzähler gilt als der alleinige Entscheidungsträger der Narration. In diesem Sinn behauptet Monika Fludernik: Da die Figurenrede auf einer dem Erzähldiskurs untergeordneten Ebene anzusiedeln ist, kann man sogar zugespitzt formulieren, dass der Erzählerbericht die primäre Diskursebene der Erzählung ist und trotz aller Authentizitätskonventionen die Figurenrede nur mittelbar durch diesen durchscheint. Am deutlichsten wird die Mittelbarkeit der direkten Rede nicht in ihrer sprachlichen Gestaltung, sondern in der vorangegangenen Selektion – der Erzähldiskurs hat volle Kontrolle darüber, was überhaupt dargestellt wird, in welcher Form (direkte Rede, Redebericht, indirekte oder erlebte Rede) es im Text erscheint, und was ausgelassen, verkürzt präsentiert oder tendenziös dargestellt wird.107

Demnach wären Ricœurs „Charakteristika der Rede“ – von denen der Sprachwechsel einen besonders hervorstechenden Fall darstellt – sekundäre Eigenschaften des Textes, die auf eine Selektion des Erzählers zurückgehen. Man unterscheidet zwar in einer formalen Ebenenunterscheidung zwischen Erzähler- und Figurenrede, doch im Grunde gibt es nur Erzählerrede. Gänzlich unvorstellbar erscheint demnach die Möglichkeit einer unmittelbaren Figurenrede. Dagegen steht nun aber die These, dass gerade ein Sprachwechsel diese Möglichkeit realisieren kann. Die Verwendung von Dialekten innerhalb der Figurenrede betrachtet Fludernik als ein Mittel, um den Grad der Abgrenzung von der Erzählerrede zu erhöhen: Der Stil (Dialekt) fungiert als Oberflächenstrategie, die die tiefenstrukturelle Unterscheidung von Erzähler- und Figurenrede verdeutlichen hilft, also durch Ausgestaltung der Figurenrede mit realistischen Elementen die grundlegende Erzählebenenunterscheidung profiliert. Der Stil ist hier keine Kategorie der Erzähltheorie […], sondern eine linguistische Kategorie, die im erzählenden Kontext (wie auch der Temporagebrauch) zu speziellen Effekten eingesetzt 108 wird.

Demzufolge ließe sich zumindest sagen, Sprachwechsel führe zu einer deutlichen Abgrenzung der Figuren- von der Erzählerrede. Doch warum sollte diese Abgrenzung nicht so weit gehen, dass der Figur dadurch eine „sprachliche Autonomie“109 zuwächst? Gilt es tatsächlich nur für den polyphonen Roman, dass die Figuren „nicht mehr Objek106

Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 285. Monika Fludernik: Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2006, S. 79. Wie soll man sich jedoch eine solche volle Kontrolle des Erzählers vorstellen, welche fortwährend der Gefahr einer Ansteckung durch die Sprache der Figur ausgesetzt ist? In diesem Sinn wäre vor allem auf das Phänomen der erlebten Rede näher einzugehen, das spätestens seit Roy Pascals The Dual Voice (1977) als Phänomen der Stimme(n) diskutiert wird. Allgemein zur erlebten Rede vgl. aus der neueren Forschung Monika Fludernik: The Fictions of Language and the Languages of Fiction. The Linguistic Representation of Speech and Consciousness. London/New York: Routledge, 1993. 108 Fludernik: Erzähltheorie, S. 85. Für Fludernik, wie schon für Ricœur, sind diese stilistischen Merkmale der Rede nicht mehr Gegenstand der Erzähltheorie. 109 Genette behauptet, einige Figuren Prousts verfügten über „sprachliche Autonomie“ (Genette: Die Erzählung, S. 129).

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Stimme und Sprachwechsel zwischen Erzähler und Figur

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te des Autor-Wortes, sondern Subjekte des eigenen, bedeutungsvollen Wortes“110 sind? Oder besteht diese Möglichkeit nicht vielmehr für jede Form von Erzählen? An dieser Stelle soll wieder auf Bachtins Konzept der fremden Rede bzw. fremden Stimme zurückgegriffen werden.111 In Probleme der Poetik Dostoevskijs heißt es: Dialogische Beziehungen sind nicht nur zwischen (relativ) vollständigen Äußerungen möglich, sondern eine dialogische Einstellung kann zu jedem sinnvollen Teil der Aussage, ja sogar zum einzelnen Wort hergestellt werden, wenn es nicht als unpersönliches Wort der Sprache, sondern als Zeichen eines fremden Standpunktes, als Vertreter einer fremden Äußerung aufgenommen wird, d. h. wenn wir eine fremde Stimme in ihm hören. Die lexikalische Färbung des Wortes, z. B. ein Archaismus oder ein Provinzialismus, verweist auf einen anderen Kontext, in dem das gegebene Wort normalerweise gebraucht wird (das alte Schrifttum, die provinzielle Rede), aber dieser andere Kontext ist der der Sprache und nicht der der Rede (im exakten Sinne), es ist keine fremde Aussage, sondern unpersönliches und nicht in einer konkreten Aussage organisiertes Sprachmaterial. Wenn die lexikalische Färbung jedoch auch nur in gewisser Weise individualisiert ist, d. h. wenn sie auf eine bestimmte fremde Aussage verweist, aus der das Wort entlehnt oder in deren Geist es konstruiert ist, dann haben wir es bereits mit einer Stilisierung, einer Parodie oder einem analogen Phänomen zu tun.112

Hier unterscheidet Bachtin zwischen persönlicher bzw. „individualisiert[er]“ und „unpersönliche[r]“ Sprache. Letztere sei nicht Ausdruck einer fremden Stimme und demnach nicht dialogisch. Auch bei Sprachwechsel ließe sich fragen, auf was für eine Sprache jeweils verwiesen wird: auf den anderen Kontext der fremden Sprache allgemein – d. h. auf deren System – oder aber auf den anderen Kontext einer fremden Äußerung – d. h. auf die parole und somit auf einen wesentlich dialogischen Zusammenhang. Demnach käme durch den Sprachwechsel nicht immer notwendigerweise ein fremder Standpunkt zum Ausdruck, sondern jeweils nur dann, wenn die Sprache „individualisiert“ ist. Allerdings ist zu beachten, dass für Bachtin im Fall der oben erwähnten Parodie und Stilisierung die Figurenstimme der Erzählerstimme untergeordnet bleibt. Nur bei einer besonderen Spielart des zweistimmigen Wortes, die Bachtin auch „das reflektierte fremde Wort“113 nennt, erhält die Figur eine wirklich eigenständige Stimme. Darunter ist eine Rede zu verstehen, die „vom Autor (Erzähler) weder reproduziert noch dominiert wird, sondern diesem autonom entgegentritt, auf das Autorwort zurückwirkt und gleichberechtigt neben ihm auftritt“.114 Exemplarisch dafür ist die Romankunst Dostojewskijs: 110

Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, zit. n. Aage Hansen-Löve: Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Entfremdung. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1978, S. 454. 111 Es sei dabei auch wieder darn erinnert, dass es Bachtin um Heteroglossie bzw. Mehrstimmigkeit innerhalb einer Sprache und nicht um Fremdsprachigkeit geht. 112 Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 207. 113 Ebd., S. 223. 114 Hansen-Löve: Der russische Formalismus, S. 450.

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Mehrsprachigkeit, Stimme und Redewiedergabe

Der ganze Roman ist so angelegt, daß der Autor nicht über, sondern mit dem Helden spricht. Und anders kann es auch nicht sein: nur eine dialogische, wirklich beteiligte Einstellung nimmt das fremde Wort ernst und ist in der Lage, es als sinnvolle Position, als anderen Standpunkt zu akzeptieren.115

Darin ist die Personenrede „abbildendes Wort“; die durch sie in den Text eingeführten „Elemente der Redevielfalt“ haben „die Rechte einer anderen Sprache, die ihre besonderen Standpunkte einbringt, in der man etwas sagen kann, was man in seiner eigenen Sprache nicht sagt“.116 Wieder findet sich das Kriterium des fremden Standpunktes, der von einer Person bzw. von einer Stimme vertreten wird. So kann die Redevielfalt „in eigener Gestalt“ im Roman auftreten, d. h., sie „materialisiert sich darin in Bildern von den sprechenden Menschen“.117 Dabei müsse „die Sprache zur Rede im sprechenden Mund werden, wobei sie sich mit dem Bild des sprechenden Menschen verbindet.“118 Eine vergleichbare Position wird von Canetti in poetologischer Hinsicht vertreten, wenn er über das Unheimliche des Mythischen schreibt: Es soll sich nur an Gestalten darstellen, immer nur auf sie bezogen, nie auf Worte unter sich. Worte allein, ohne den Mund, der sie ausgesprochen hat, haben für mich etwas Schwindel119 haftes. Als Dichter lebe ich noch in der Zeit vor der Schrift, in der Zeit der Rufe.

Diese Rufe, mit denen sich Canettis Werk stärker in anthropologischer als in ästhetischer Hinsicht auseinandersetzt, sind vom rufenden Menschen bzw. „Mund“ nicht zu abstrahieren. Die Worte sollen sich stets auf ihre Sprecher beziehen oder auf diese wieder bezogen werden – „Worte unter sich“ ist dabei nur eine abwertende Formel für „Schrift“. Die Stimmen von Marrakesch lassen sich tatsächlich als Versuch lesen, den „Schwinde[l]“ der Schrift zu vermeiden. Dennoch sind die Reiseaufzeichnungen nicht durchgehend polyphon gestaltet und schon gar nicht in solchem Maße wie die Romane Dostojewskijs.120 Der Aufzeichner erscheint allzu dominant; sein Verhältnis zu den Fi115

Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 72. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 179. Hier stellt Bachtin wieder das Wort in der Poesie dem Wort im Roman gegenüber: Der Dichter spricht und schreibt immer nur eine, seine eigene, ptolemäische Sprache; wird in sein Werk fremde Rede eingeführt, so kann dies nur in Form eines „abgebildeten Dings“ (ebd.) geschehen. Im Roman dagegen kann die Redevielfalt lebendig werden. 117 Ebd., S. 220; Hvh. d. Vf. 118 Ebd., S. 224; Hvh. d. Vf. Wladimir Krysinski redet von „poétiques de la bouche invisible“, insofern die Polyglossie einen Diskurs der Nicht-Identität begründet, in dem der Äußerungsprozess nicht mehr nachvollziehbar ist (vgl. Wladimir Krysinski: „Poétiques de la bouche invisible. Polyglossie et codes discursifs de la modernité. Joyce, Haroldo de Campos, E. Pound, T. S. Eliot, H. Heissenbüttel et M. Roche“, in: Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, S. 39–50, bes. S. 40, 42 f., 47). 119 Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 126. In diesem Zusammenhang wäre eine Interpretation der Episode Erzähler und Schreiber aus Die Stimmen von Marrakesch sinnvoll. 120 Dialogizität sei in den Stimmen von Marrakesch allenfalls als Canettis „Dialog mit sich selbst“ zu bestimmen (Stefan H. Kaszyński: „Dialog und Poetik. Zum dialogischen Charakter der Aufzeichnungen“, in: Hüter der Verwandlung. Beiträge zum Werk Elias Canettis. München/Wien: Hanser, 1985, S. 205–221, hier S. 207).

116

Stimme und Sprachwechsel zwischen Erzähler und Figur

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guren ist deshalb asymmetrisch, weil er als autobiographischer Erzähler zusätzliche Autorität durch die Instanz des Autors erlangt. Bei der Vermittlung zwischen Sprache der Figur und Sprache der Aufzeichnung entscheidet er sich zudem meistens für eine Übersetzung ins Deutsche. Dieser deutliche Überhang des übersetzenden Diskurses spricht für eine Selektion von Seiten des Erzählers und gegen unmittelbare und autonome Figurenstimmen. Es ist allerdings gezeigt worden, wie sich die Wiedergabe der Figurenrede nicht in den zwei Möglichkeiten von einerseits Sprachwechsel und andererseits Übersetzung bzw. ‚Gleichsprachigkeit‘ erschöpft. Innerhalb der direkten Rede, als vorbestimmter Ort der Ein- und Eigenstimmigkeit der Figur, sowie, auf zweiter Stufe, im zitierenden Rückgriff auf Teile der direkten Rede können mehrstimmige Äußerungen entstehen. Zwei Sprecher, zwei Diskurse melden sich gleichzeitig zu Wort und greifen ineinander. Diese Mehrstimmigkeit ist in den Stimmen von Marrakesch jeweils mehr oder weniger vorhanden, denn nicht immer sind die von Bachtin geforderten Merkmale des eigenständigen fremden Wortes gegeben: sprechende Person, fremder Standpunkt, Autonomie bzw. Gleichberechtigung dem Erzähler gegenüber, individualisierte Sprache. Der Sprachwechsel selbst kann aber eine entscheidende Rolle spielen, da er die Wirkung der Figurenrede als sprechend bzw. gesprochen, fremd, autonom und individualisiert verstärkt. Die Sprache, in welche der Text wechselt, stellte dann einen besonders markierten Fall von persönlicher Sprache dar, deren Rückwirkung auf die Erzählersprache – anders als bei einer einsprachigen Mehrstimmigkeit à la Dostojewskij – eben der Sprachwechsel selbst wäre. Die Vorstellung einer persönlichen Sprache knüpft auch über die Etymologie des Wortes ,Person‘ an die Stimme an: „persona – das, wohindurch es hallt“, übersetzt Benjamin.121 Die etymologische Nähe von Laut, Stimme und Person ist dabei vor dem Hintergrund zu betrachten, dass jeder Sprecher „das Wort von einer fremden Stimme [erhält]“.122 Es erklingt wieder der Dialog der Stimmen, der halbeigenen und halbfremden Sprachen, in dem ständig, aber nie vollständig übersetzt wird. Beim Sprachwechsel enzieht sich etwas der Übersetzung – dieses Etwas ist zumeist, so die grundlegende Beobachtung der bisherigen Untersuchung, die Stimme einer sprechenden Figur, deren Worte vom Text im Original zitiert werden. Gleich ob die entsprechende Übersetzung 121

Über Karl Kraus, „der sein Schreiben schauspielerisch erlebt“, heißt es bei Benjamin: „Die eigene Stimme macht darin die Probe auf den dämonischen Personenreichtum des Vortragenden – persona: das, wohindurch es hallt – und um die Fingerspitzen schießen die Gebärden der Gestalten, welche in seiner Stimme wohnen.“ (Benjamin: „Karl Kraus“, in: Gesammelte Schriften, Bd. II/I, S. 347). Zum Begriff der Person vgl. auch Menke: Prosopopoiia, S. 137–150; Kolesch: „Die Spur der Stimme“, in: Medien/Stimmen, S. 270; Manfred Fuhrmann: „Persona, ein römischer Rollenbegriff“, in: Brechungen. Wirkungsgeschichtliche Studien zur antik-europäischen Bildungstradition. Stuttgart: Klett-Cotta, 1982, S. 21–46; Marcel Mauss: „Eine Kategorie des menschlichen Geistes: Der Begriff der Person und des ,Ich‘“, in: Soziologie und Anthropologie, Bd. II. Frankfurt/M./Berlin/Wien: Ullstein, 1978, S. 221–252. 122 Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 225.

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Mehrsprachigkeit, Stimme und Redewiedergabe

nicht möglich ist oder nicht angestrebt wird: Nicht-Übersetzung und Differenz ergeben sich aus der irreduziblen Bedeutungsweise einer individuellen Äußerung, die nur als Originalzitat angemessen wiedergegeben werden kann. Schließlich ist nach Ansicht Wilhelm von Humboldts die „Verschiedenheit“ als Wesen der Sprache(n) bereits in jeder individuellen Sprachäußerung enthalten, ja sie ergibt sich gleichsam aus diesen unendlichen Einzelsprachen und Stimmen: Erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit. Keiner denkt bei dem Wort gerade und genau das, was der andre, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort.123

Um eben diese Verschiedenheiten dreht sich Ingeborg Bachmanns Erzählung Simultan.

123

Wilhelm von Humboldt: „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“, in: Gesammelte Schriften, 1. Abt., Bd. VII, S. 64.

5. Schaltmechanismen: Ingeborg Bachmanns Erzählung Simultan

5.1. Einführung Es gibt keine Übersetzung ohne Mehrsprachigkeit, und umgekehrt gibt es keine Mehrsprachigkeit ohne Übersetzung. Diesen Zusammenhang veranschaulicht auf exemplarische Weise Ingeborg Bachmanns Erzählung Simultan, indem sie in mehrfacher Hinsicht Übersetzung thematisiert und von latenter wie von manifester Mehrsprachigkeit extrem stark geprägt ist. Es handelt sich hierbei allerdings nicht um jene im alten „Haus Österreich“ herrschende Mehrsprachigkeit, die in zahlreichen Werken Bachmanns vorkommt – „ich träume auf böhmisch, auf windisch, auf bosnisch“, heißt es etwa in Malina.1 In Simultan geht es vielmehr um die kosmopolitische Mehrsprachigkeit internationaler Organisationen und Konferenzen; schon früh zeichnet damit die Autorin das Bild einer sich globalisierenden Welt: „Angesichts des seit damals unaufhaltsam weitergehenden Globalisierungsprozesses ist das Sujet von Simultan aktueller denn je.“2 Die Hauptfiguren der Erzählung, die Simultanübersetzerin Nadja und der Diplomat Ludwig Frankel, wechseln in ihren Gesprächen und Gedanken immer wieder zwischen Englisch, Französisch, Deutsch und Italienisch; Nadja verwendet auch Spanisch und Russisch. Beide haben ihre Heimatstadt Wien verlassen und erleben nun in ihrer multilingual geprägten Berufswelt eine Art sprachliche Obdachlosigkeit. Im Rückbezug auf das vorangehende Kapitel soll zunächst dargelegt werden, auf welche Weise die Mehrsprachigkeit des Textes mit dessen Redewiedergabe zusammenhängt.

1 2

Zit. n. Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, S. 79. Erika Greber: „Fremdkörper Fremdsprache. Ingeborg Bachmanns Erzählung Simultan“, in: Werke von Ingeborg Bachmann. Hrsg. v. Mathias Mayer. Stuttgart: Reclam, 2002, S. 176–195, hier S. 179. Die Titelerzählung des Simultan-Bandes ist wahrscheinlich im Winter 1967/68 entstanden (vgl. den Kommentar in Bachmann: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 549 f.); sie enthält zwei Hinweise auf eine mögliche Datierung des Geschehens: Es wird von der Errichtung der Christus-Statue in Maratea und vom Sieg des Italieners Vittorio Adorni beim Giro d’Italia erzählt (vgl. Ingeborg Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 310 f. u. 316); beides hat im Jahr 1965 stattgefunden.

154

Simultan

5.2. Die mehrsprachige Oberfläche der Rede Nadja und Mr. Frankel3 lernen sich auf einer Party in Rom kennen und verreisen kurzentschlossen, als ein Liebespaar, nach Süditalien. Simultan besteht hauptsächlich, nachdem auf der Fahrt das beiderseitige Schweigen überwunden wird, aus den Gesprächen der zwei Figuren: Im Fahren hatten sie wenig miteinander reden können, auf der Autobahn war immer dieses scharfe Geräusch da, vom Wind, von der Geschwindigkeit, das beide schweigen ließ, nur vor der Ausfahrt in Salerno, die sie eine Stunde lang nicht finden konnten, gab es dies und jenes zu bemerken, einmal französisch, dann wieder englisch, italienisch konnte er noch nicht besonders gut […].4

Diese ist eine der wenigen Textstellen, an der die Mehrsprachigkeit der Rede reflektiert wird. Nadja und Mr. Frankel reden im ständigen Sprachwechsel; es ist vor allem ihre multilinguale Berufswelt, die sie zu solchen sprachlichen „Vagabunden“5 gemacht hat. Dabei ist für Bachmanns Erzählung kennzeichnend, dass sämtliche Sprachwechsel weder markiert noch kommentiert werden. Der Leser kann zumeist nicht nachvollziehen, warum die Figuren gerade diese oder jene Sprache wählen, denn ein Zusammenhang zwischen einerseits dem Inhalt bzw. dem Kontext der Rede und andererseits der Sprache selbst, der als Motivation des Sprachwechsels gelten könnte, ist nur selten zu erkennen. Dennoch ist gerade dies der Befund, von dem jede Interpretation der Mehrsprachigkeit in Simultan auszugehen hat: dass der Sprachwechsel offenbar in seiner Beliebigkeit und Willkürlichkeit vorgeführt werden soll. Der Sprachwechsel ist aber keineswegs zwecklos. In den wiedergegebenen Gesprächen und Gedanken (und unabhängig von deren Inhalt) erzeugt er eine signifikante Zerstreuung. Diese wird dadurch verstärkt, dass die Redewiedergabe elliptisch und mehrstimmig ist: Es fehlt ein Zentrum der Rede; eine stets wirkende zentrifugale Kraft verteilt die Worte gewissermaßen über die zwei Protagonisten und über die vielen Sprachen hinweg. Obgleich dies der erste Eindruck ist, den die Mehrsprachigkeit in Simultan vermittelt, vollzieht der Sprachwechsel jedoch nicht nur eine zerstreuende, gleichsam verdrängende Bewegung. Er wirkt gelegentlich auch einschränkend und benennend, indem er auf ein bestimmtes Wort oder eine bestimmte Wendung abzielt.6

3 4 5 6

So wird die männliche Hauptfigur genannt; zu dieser distanzierenden und mehrsprachigen Anrede und allgemein zum Namen vgl. Kap. 5.5.2. Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 285. „Aber die Seßhaften wundern sich immer über die Vagabunden, und die Vagabunden wundern sich über die Seßhaften.“ (Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, S. 39). Vgl. dazu Kap. 5.4. und 5.5. Man kann etwa die Sprache wechseln (oder umgekehrt auf Sprachwechsel verzichten), weil die gewählte Sprache einen besonders schönen Ausdruck bietet, schöner als seine Übersetzung: „‚Apulien‘ ist ein wunderschöner Name – ich glaube nicht, daß sich jemand entschließen könnte, Le Puglie zu sagen, das italienische Wort trifft es nicht, es ist geographisch.“

Die mehrsprachige Oberfläche der Rede

155

Dennoch werden Nadja und Mr. Frankel durch ihre „ähnliche Art zu sprechen und beiseite zu sprechen“7 charakterisiert, bei der alles Gesagte scheinbar ins Leere läuft oder allenfalls an der Oberfläche bleibt. So behauptet Gisela Brinker-Gabler, Bachmanns Erzählung sei im Hinblick auf das Sprechverhalten der Figuren zweigeteilt: According to the flow of language, the story is divided into two parts. In the first part, everything that is said in English, French, and German or otherwise produces ‚surface noise‘ […], as Mark Anderson calls it in his introduction to Three Paths to the Lake, a mixture of platitudes and phrases […]. Clearly there is a ‚bond‘ between Nadja and Frankel, the small talk of the flexible wo/man that serves at the same time as a guard. […] Their trip up to the cliffs of Maratea turns for Nadja into a climactic event confronting her with the abyss of language, and revealing her multifaceted ‚destruction‘. In the second part of the story the superficiality of language is replaced with a search for dialogue, a meaningful relation to life and language.8

Dieser These widerspricht Simultan immer wieder. Denn die oberflächliche Rede hält sich bis zum Ende durch, und umgekehrt erfolgt der Versuch, sich der Sprache in einem tiefer bedeutenden Sinne zu bedienen, schon nach wenigen Seiten – allerdings ist dieser Versuch nicht von Dauer und gelangt schnell wieder an jene Oberfläche, wo die Worte flüchtig sind.9 Trotzdem lassen sich die in der Erzählung aufgeworfenen Sprachprobleme mit der Opposition zwischen Oberfläche und Tiefe beschreiben.10 Ingeborg Dusar betrachtet die Oberflächlichkeit der Rede in einer Lacanschen Perspektive: Der im Bakhtinschen Sinne polyphone und dialogische Charakter des Textes enthüllt eine sprachliche Wirklichkeit, die sich nur als unaufhaltsames Parlando zu erkennen gibt, und zugleich als ein Begehren, das in den Lücken des manifesten Textes sichtbar wird, als eine immer verdrängte Frage, die an der Oberfläche des Geschwätzes der Figuren einer Antwort harrt.11

7 8

9

10 11

(Ingeborg Bachmann: „[Zur Entstehung des Titels ‚In Apulien‘: Entwurf]“, in: Werke, Bd. 4, S. 305). Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 285. Gisela Brinker-Gabler: „Living and Lost in Language. Translation and Interpretation in Ingeborg Bachmann’s ‚Simultan‘“, in: If We Had the Word. Ingeborg Bachmann: Views and Reviews. Hrsg. v. Gisela Brinker-Gabler u. Markus Zisselsberger. Riverside, CA: Ariadne Press, 2004, S. 187– 207, hier S. 192. Greber erkennt dagegen in Simultan „eine Entwicklung vom Fremdsprachenjonglieren zum interkulturellen Kommunizieren“ (Greber: „Fremdkörper Fremdsprache“, in: Werke von Ingeborg Bachmann, S. 189), doch diese These erscheint vor allem angesichts des Schlussworts der Erzählung als fragwürdig; vgl. dazu Kap. 5.6. Das oberflächliche Gespräch wird von Nadja explizit erwünscht, als sie Mr. Frankel fragt: „Tu vas me raconter un tout petit rien?“, und er ihr antwortet: „Mai bien sûr, ça oui.“ (Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 291). Vgl. dazu insbesondere Kap. 5.7 und 5.9. Ingeborg Dusar: „Identität und Sprache. Ingeborg Bachmanns Erzählung ‚Simultan‘“, in: BildSprache. Texte zwischen Dichten und Denken. Festschrift für Prof. Dr. Ludo Verbeeck. Hrsg. v. Luc Lamberechts u. Johan Nowé. Leuven: Universitaire Pers Leuven, 1990, S. 67–79, hier S. 72 f. Zur Polyphonie vgl. weiter unten.

156

Simultan

Dusars Interpretation formuliert diese „verdrängte Frage“ nicht aus; auch wird der Zusammenhang zwischen Redewiedergabe, Mehrstimmigkeit und Mehrsprachigkeit nicht einmal ansatzweise rekonstruiert. Aber das „unaufhaltsam[e] Parlando“ kennzeichnet Simultan durchaus treffend, insofern Nadja und Mr. Frankel mit ihrer Präsenz, als Rede bzw. als Stimmen, beinahe den gesamten Text-Raum ausfüllen.12 Jean Améry schreibt über den Erzählband Simultan: „Die Leichtigkeit und Nebenhingesprochenheit – oder soll ich sagen: die Schlamperei? – des Stils ist sowohl österreichisches Parlando wie wohldurchdachte, kompositorische Technik.“13 Ziel ist die Wiedergabe „eines noch die fremdsprachigen Einsprengsel imprägnierenden österreichischen Tonfalls“.14 Die „Nebenhingesprochenheit“ entspricht jener „Art zu sprechen und beiseite zu sprechen“,15 die als Grundmerkmal von Nadjas und Mr. Frankels Rede genannt und bezeichnenderweise auf ihre gemeinsame Herkunft aus Wien zurückgeführt wird. Dass es Bachmann in der Tat darum geht, den „österreichischen Tonfal[l]“ zu treffen, legt ihre Äußerung nahe: „am genauesten muß ich immer aufpassen, dass ich den Tonfall jeder einzelnen Person – ihrer Herkunft, ihrer späten Entwicklung wegen –, dass ich das immer genau höre.“16 Demnach ließe sich im Rückbezug auf das vorangehende Kapitel von einer Mimesis gehörter Stimmen sprechen: Den Tonfall muss man im Ohr haben, und man macht sich ihn zueigen, indem man ihn nachahmt. Diese authentische Darstellung der Rede bezeichnet Bachmann als Stilisierung bzw. Übersetzung.17 Gerade durch den wiederholten Sprachwechsel soll die Figurenrede in Simultan authentisch wirken. Es handelt sich insofern um „eine Form identitätskonstituierender Authentizität“,18 als vor allem im Falle der Simultanübersetzerin gezeigt werden soll, wie in der Rede und überhaupt im Bewusstsein der Figur verschiedene Sprachen vorhanden sind und abwechselnd zur Artikulation gelangen. „Das Abwechseln der beiden Sprachen nach nur ganz kurzen Satzeinheiten verweist auf die Sprachmischung, in der Frankel, ähnlich wie Nadja, spricht und denkt“, bemerkt Andreas Hapkemeyer.19 Diese Bemerkung trifft jedoch nicht ganz zu, weil nämlich der Sprachwechsel nicht auf die Sprachmischung „verweist“, sondern vielmehr diese selbst ist. So finden sich in der 12

13

14 15 16 17 18 19

Dieser gehört auch deiktisch den beiden Protagonisten, da es in Simultan beinahe durchgehend ,dies‘, ,diese‘ usw. heißt, wobei dieser räumliche und zeitliche Gegenwartsbezug mit dem Erzähldiskurs streng genommen nicht immer kongruent ist. Jean Améry: „Trotta kehrt zurück“, in: Kein objektives Urteil – nur ein lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann. Hrsg. v. Christine Koschel u. Inge von Weidenbaum. München: Piper, 1989, S. 192–196, hier S. 194. Ebd. Vgl. auch die weiteren Äußerungen über Bachmanns Sprache in Jean Améry: „Am Grabe einer ungekannten Freundin“, in: Kein objektives Urteil, S. 200–202. Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 285. Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, S. 123; Hvh. d. Vf. Auch in diesem Sinne hat Bachmann nach eigener Aussage ausschließlich über Österreich schreiben können (vgl. ebd., S. 141). Ebd., S. 123. Damit wird implizit auf den ,sekundären‘ Charakter des Authentischen hingewiesen. Bachmann-Handbuch, S. 204. Andreas Hapkemeyer: Die Sprachthematik in der Prosa Ingeborg Bachmanns. Todesarten und Sprachformen. Frankfurt/M./Bern: Peter Lang, 1982, S. 76.

Die mehrsprachige Oberfläche der Rede

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Erzählung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine Verweise. Es wird außerdem kein einziger Sprachwechsel durch Übersetzung unterschlagen; stattdessen wird die Mehrsprachigkeit unvermittelt und in manifester Form wiedergegeben. Auf diese Weise soll nicht zuletzt der „dauernd[e] Sprachenstreß“20 dargestellt werden, in dem die Figuren leben. Die unmarkierten Übergänge sind dabei das wichtigste Merkmal der „auf Simultan-Effekte abzielende[n] Erzähltechnik“.21 Die Redewiedergabe zeichnet sich in Simultan jedoch nicht nur durch manifeste Mehrsprachigkeit, sondern auch durch Mehrstimmigkeit aus.22 Diese dient als weiteres Mittel, um die in der Rede der Protagonisten besonders ausgeprägte Dispersion und Flüchtigkeit herauszustellen. Man wird an Amérys Ausdruck „Schlamperei“ erinnert, wenn Franz Karl Stanzel über Bachmanns Erzählung schreibt: Die Erzählung wechselt ohne Vorankündigung oder Warnung von der dritten in die erste Person; direkte Rede wird nicht als solche im Erzähltext markiert; die Sätze sind durch keine zureichende Interpungierung voneinander getrennt.23

Es fehlen tatsächlich jene Markierungen, anhand derer man eine sprechende Figur von der anderen bzw. einen Modus der Rede von dem anderen klar unterscheiden könnte. Dabei ist die Redewiedergabe sehr heterogen. Neben der direkten Rede werden die indirekte und vor allem die erlebte Rede verwendet, wobei diese beiden Formen der Redewiedergabe (in jeweils unterschiedlichem Maße) sowohl auf die sprechende Figur als auch auf die Erzählinstanz zurückzuführen sind. Wenn nun aber die indirekte Rede durch kein verbum dicendi eingeleitet wird und zudem im Indikativ steht, so ist sie kaum mehr weder von der erlebten Rede noch von der Erzählerrede zu unterscheiden.24 Aufgrund solcher fließenden Übergänge ist die narratologische Frage „wer spricht?“ nicht eindeutig zu beantworten. An vielen Stellen und vor allem bei erlebter Rede lässt 20 21

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Greber: „Fremdkörper Fremdsprache“, in: Werke von Ingeborg Bachmann, S. 183. Ebd., S. 178. Greber erläutert dies weiter: „Weibliche und männliche Stimme, Erzählinstanz und Figuren, Sympathie und Ironie, Reden und Denken, Bewußtes und Unbewußtes, Reflexion und Erinnerung, Gegenwart und Vergangenheit, Muttersprache und Fremdsprache – alle diese Oppositionen werden ineinandergeblendet und koexistieren quasi simultan. Die narrative Methode dafür ist der andauernde gleitende Wechsel zwischen verschiedenen, üblicherweise eher getrennten Darstellungsverfahren“ (ebd., S. 182). Greber verweist auf die „frappante“ Ähnlichkeit des erzählerischen, mehrstimmigen „SimultanVerfahren[s]“ in Bachmanns Text mit dem Interferenz-Verfahren in Dostojewskis Der Doppelgänger (ebd., S. 183). Franz Karl Stanzel: Linguistische und literarische Aspekte des erzählenden Diskurses. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1984, S. 33. Eine solche Ununterscheidbarkeit stellt auch Irene Holeschofsky fest: „Bei Ingeborg Bachmann löst sich im späten Prosawerk die – zunächst noch durch redeankündigende Wörter als indirekt gekennzeichnete – Personenrede häufig in etwas auf, was der Form nach dem Erzählerbericht gleicht.“ (Irene Holeschofsky: „Bewußtseinsdarstellung und Ironie in Ingeborg Bachmanns Erzählung Simultan“, in: Kein objektives Urteil, S. 469–479, hier S. 472). Umgekehrt ließe sich das, was durch Indikativ, Präteritum und dritte Person „dem Erzählerbericht gleicht“, durchaus als unmarkierte, kommentarlose, neutrale „Personenrede“ betrachten.

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sich zudem, da eine entsprechende Angabe fehlt, nicht bestimmen, ob die Figur jeweils spricht oder nur denkt.25 Festzustellen ist jedenfalls, dass in Simultan die erlebte Rede nicht nur (wie üblich) für die Wiedergabe unausgesprochener Worte eingesetzt wird. Denn auch der Dialog zwischen den beiden Protagonisten erfolgt oft in Form erlebter Rede. Holeschofsky spricht von einem „erlebten Dialog“ bzw. von „gehörter Rede“; damit ist gemeint, dass die wiedergegebene Rede „sich im Bewußtsein Nadjas, der Zuhörerin, spiegel[t]“.26 Dort, wo die Perspektive der Zuhörerin in der Wiedergabe der Rede ihres Gegenübers erkennbar wird, ist die Rede in der Tat mehrstimmig; dies veranschaulicht das folgende Beispiel: Auf dem römischen Kongreß hatte sie zuerst Mühe gehabt, eigentlich eher Lampenfieber, wegen Italienisch, es war dann aber sehr gut gegangen, für ihn war das natürlich unbegreiflich, wenn man, wie sie, so viele Diplome in der Tasche hatte, sie erwähne es auch nur, weil sie einander sonst nie kennengelernt hätten und sie doch keine blasse, nicht einmal die blasseste Ahnung, eben nach dieser Überanstrengung und mit allen Gedanken woanders, in dieser Hilton-Pergola danach, und er in der FAO brauchte also nur Englisch und Französisch, so? und Spanisch konnte er recht gut lesen, aber wenn er nun in Rom bleiben wollte, dann war es doch ratsam, und er schwankte zwischen Privatstunden und einem Italienischkursus, den die FAO organisierte.27

Dass der erlebten Rede Mr. Frankels die Perspektive Nadjas eingeschrieben ist, verraten zwei kleine Zusätze: Zunächst kommentiert die Simultanübersetzerin mit dem Adverb „natürlich“, in einem eher abschätzigen als verständnisvollen Ton, den Standpunkt ihres Gegenübers; dann fasst sie mit ihrem „also“ dessen Rede gleichsam zusammen. Manchmal ist nur Nadjas Worten zu entnehmen, dass Mr. Frankel überhaupt anwesend ist und sich mit ihr in einem Gespräch befindet. So kann Holeschofsky nicht unbegründet die These aufstellen: „Ludwig Frankel gehört […] im ersten Teil der Erzählung zum Bewußtseinsinhalt Nadjas.“28 Dementsprechend führt Stanzel den Anfang von Simultan als exemplarischen Fall von „Reflektormodus“ an – einer Erzählweise, die beim Leser

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Als am zweiten Abend ihrer Reise Mr. Frankel eine Flasche Champagner aufs Zimmer bringen lässt, denkt bzw. sagt Nadja: „Wie konnte er bloß wissen, daß sie heute Geburtstag hatte, ihren Paß hatte er natürlich gesehen, aber daß er daran gedacht hatte, come sono commossa, sono così tanto commossa.“ (Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 299). Der Sprachwechsel vom Deutschen ins Italienische scheint hier mit dem Wechsel von erlebter zu direkter Rede einherzugehen. Holeschofsky: „Bewußtseinsdarstellung und Ironie in Ingeborg Bachmanns Erzählung Simultan“, in: Kein objektives Urteil, S. 474. Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 285 f.; Hvh. d. Vf. FAO steht für die Food and Agriculture Organization der Vereinten Nationen, die ihren Sitz in Rom hat. Die zitierte Stelle liefert einen weiteren Beleg dafür, dass in Simultan nicht immer zu bestimmen ist, welche Figur gerade spricht und ob sie überhaupt spricht. Holeschofsky: „Bewußtseinsdarstellung und Ironie in Ingeborg Bachmanns Erzählung Simultan“, in: Kein objektives Urteil, S. 474.

Die mehrsprachige Oberfläche der Rede

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„Empathie“ sowie „Spontaneität und Unmittelbarkeit“ hervorruft, aber auch eine relativ hohe „Aufmerksamkeitsschwelle“ setzt.29 Zusätzliche Aufmerksamkeit wird nicht nur aufgrund der extremen Mehrsprachigkeit des Textes, sondern auch dadurch erfordert, dass die Redewiedergabe zahlreiche Ellipsen aufweist. Die soeben zitierte Stelle zeigt dies deutlich: Man erfährt nicht, worüber oder wovon Nadja keine „Ahnung“ hat, da der Satz nicht zu Ende geführt wird; zudem weist die Frage „so?“ ins Unbestimmte. Ein weiteres Beispiel stellt das für Bachmann typische, einseitige Telefongespräch dar, das Nadja in Gedanken mit Mr. Keen führt30 – es entspricht einem dialogischen Monolog, bei dem der Leser die ausgelassenen Redeteile ergänzen muss und auf diese Weise zum Gesprächspartner der Figur wird. Allgemein gibt es in Simultan keine vermittelnde Erzählinstanz, die die Leerstellen füllt; die Erzählinstanz ist kaum wahrnehmbar.31 Dies steht wiederum im Dienst einer unmittelbaren Gedanken- und Redewiedergabe, die den Leser möglichst nahe an die Figuren heranführen soll. Der Leser soll sich vor allem „in die raumzeitliche Position und in die Bewußtseinslage der Hauptfigur […] versetzen“32 – er soll sie „aushorchen“33 und dabei hören, wie das multilinguale Bewusstsein immer wieder von einer Sprache in die andere übergeht und übersetzt. Nadjas Aussagen über das Simultanübersetzen, auf die im Folgenden eingegangen wird, sind hinsichtlich der Mehrsprachigkeit und der Übersetzung sehr aufschlussreich.34

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Stanzel: Linguistische und literarische Aspekte des erzählenden Diskurses, S. 33 f. Vgl. Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 300. Vgl. ferner die Telefongespräche in Probleme Probleme (Ingeborg Bachmann: „Probleme Probleme“, in: Werke, Bd. 2, S. 318) und Malina (Ingeborg Bachmann: Malina, in: Werke, Bd. 3, S. 38 f., 42–44, 53, 73 f., 79, 101 f., 137 f., 149, 170, 172, 294 f. u. 336 f.). Holeschofsky behauptet, es gäbe in Simultan eine Instanz, „die mit dem Leser auf der Wellenlänge der Ironie kommuniziert. Diese Instanz wirkt im inneren Monolog besonders durch das Stilmittel der erlebten Rede […]. Die erlebte Rede mimt die kritiklose Wiedergabe von Gedanken und verbirgt dahinter die erzählerische Intention: die Kritik des Lesers an diesen Gedanken zu provozieren.“ (Holeschofsky: „Bewußtseinsdarstellung und Ironie in Ingeborg Bachmanns Erzählung Simultan“, S. 475 f.). Allerdings sind die Beispiele, mit denen das Vorhandensein dieser Instanz belegt werden soll, nicht einleuchtend; hin und wieder ist zwar eine ironische Akzentuierung innerhalb der erlebten Rede zu vernehmen, doch es könnte sich dabei ebenso gut um eine ironische Rede der Figur handeln. Stanzel: Linguistische und literarische Aspekte des erzählenden Diskurses, S. 34. Bachmann-Handbuch, S. 161. An dieser Stelle behauptet Jost Schneider außerdem, die Erzähltechnik von Simultan solle keine Identifikation mit den Figuren von Seiten des Lesers ermöglichen, vielmehr fordere sie den Leser dazu auf, „die versteckten Hilferufe wahrzunehmen, die diese Figuren aussenden“, und darauf mit „Hilfeleistungen“ zu reagieren (ebd.). Die Schilderung des Simultandolmetschens in Bachmanns Erzählung ist von Simultandolmetschern z. T. als falsch oder unpräzise kritisiert worden; vgl. Jürgen Stähle: Vom Übersetzen zum Simultandolmetschen. Handwerk und Kunst des zweitältesten Gewerbes der Welt. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2009; Gerhard Reinagel: „Mehrsprachigkeit als Verlust der Muttersprache. Ingeborg Bachmanns Simultan“, in: Wortklauber, Sinnverdreher, Brückenbauer? DolmetscherInnen und Überset-

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5.3. Ermittlung im Kauderwelsch Simultanübersetzen ist harte Arbeit. Nach ihrem Studium in Genf debütiert Nadja bei den dortigen Abrüstungskonferenzen; schon bald beginnt ihr „Herumziehen durch alle Sprachen und Gegenden“.35 Ihre Sprachen sind Englisch, Französisch, Italienisch, Russisch, Spanisch und – als Muttersprache – Deutsch, und jede dieser sechs Sprachen wird von der Simultanübersetzerin in der Erzählung verwendet. Bewundernswert erscheint ihr eine Kollegin, die aus dreizehn Sprachen dolmetschen kann; Nadja gesteht allerdings, auf eine ihrer Sprachen in Zukunft verzichten zu wollen, um sich ein wenig zu entlasten: Actually, basically, was man schon so perfekt nannte, als ob es das geben könnte! Eine Russin, eine ältere Frau übrigens, sie hatte dreizehn Sprachen, she really does them, siehst du, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, gestand sie verwirrt, mit der Zeit wolle sie eine Sprache fallenlassen, Russisch oder Italienisch, es zerstört mich, ich komme ins Hotel, trinke einen Whisky, kann nichts mehr hören, nichts sehen und sitze ausgewrungen da, mit meinen Mappen und Zeitungen.36

Es ist bezeichnend, dass sich das Verhältnis der Dolmetscherin zu ihren Sprachen nicht eindeutig beschreiben lässt: tun, machen („she […] does them“) oder haben („sie hatte dreizehn Sprachen“)? Nadja ist „verwirrt“, dabei sollte sie es doch besser wissen, denn schließlich behauptet sie von sich selbst: „sie war sehr gut, sie wußte es auch“.37 Doch weder das Wissen um ihr Können noch die Anerkennung ihrer Leistungen schützen sie vor der Kehrseite des Simultanübersetzens. Erst gibt Nadja zu, ihre Arbeit zu mögen, obwohl es „eine so unglaublich anstrengende“ ist,38 dann sagt sie beiläufig: „es zerstört mich“. Am Ende ihres Arbeitstages fühlt sie sich ausgeleert und verausgabt, sie ist blind und taub und kann außer Whisky nichts mehr aufnehmen. Besonders hervorzuheben ist darüber hinaus Nadjas Satz: „Actually, basically, was man schon so perfekt nannte, als ob es das geben könnte!“ Er ist als Antwort auf eine Frage Mr. Frankels zu verstehen, die vom Text jedoch ausgespart wird; so muss beim Lesen diese Lücke durch die Annahme geschlossen werden, Mr. Frankel habe, in welcher Sprache auch immer, Nadja nach ihren Sprachkenntnissen gefragt (etwa: ‚Kannst Du all die Sprachen perfekt?‘). Die Antwort ist merkwürdig: Im Grunde ja, erwidert Nadja, sie könne die Sprachen perfekt – aber „perfekt“, das gebe es nicht und könne es gar nicht geben. Hierin kommt bereits ein – sich zum existentiellen Problem verschärfender – Widerspruch zum Ausdruck, insofern Nadja die Sprachen nicht perfekt können

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zerInnen als literarische Geschöpfe. Hrsg. v. Ingrid Kurz u. Klaus Kaindl. Wien: Lit Verlag, 2005, S. 31–39. Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 310. Ebd., S. 291. Ebd. Bachmann nennt sie „die gewiß sehr ehrgeizige und tüchtige Nadja“ (Ingeborg Bachmann: „Brief an den Verlag [Textstufe I]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 8). Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 286.

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kann, aber perfekt können muss,39 und zwar deshalb, weil alle (und in erster Linie sie selbst) selbstverständlich erwarten, dass sie als Simultanübersetzerin jedes Wort einer bestimmten Sprache, seine Bedeutung wie seine Entsprechung in der jeweiligen Zielsprache kennt. Der Beruf der Simultanübersetzerin erfordert eine andauernde Fortbildung, da der Wortschatz stets erhalten und ständig erweitert werden muss. Nadja liest die internationale Presse, um Sprachneuerungen aufzuspüren, und eignet sich ganze Fachterminologien an; schon am frühen Morgen lernt sie Vokabeln auswendig.40 Dieser sprachliche Input gelangt während des Simultanübersetzens wieder nach Außen. Simultan erfolgen dabei das Zuhören und das Übersetzen; das Übersetzen und die zu übersetzende Rede können nie gleichzeitig sein. Nadja übersetzt, indem sie jemandem nachspricht, dessen Rede sie aber auch stets antizipieren und übersprechen muss. Während sie also einer bestimmten Person in Sprache A zuhört, gibt sie deren Worte in Sprache B wieder und spricht auf diese Weise stellvertretend für jene Person, ja sogar als jene Person.41 So schildert es Nadja Mr. Frankel gegenüber: […] sie waren immer zu zweit in einer Kabine, nicht wie Pilot und Co-Pilot, nein, natürlich nur, um sofort wechseln zu können nach zwanzig Minuten, das war die vernünftigste Zeit, länger konnte man nicht übersetzen, obwohl man manchmal dreißig oder gar vierzig Minuten aushalten mußte, der reine Wahnsinn, an den Vormittagen ging es noch, aber nachmittags wurde es immer schwerer, sich zu konzentrieren, es war dieses fanatisch genaue Zuhören, dieses totale sich Versenken in eine andere Stimme, und ein Schaltbrett war ja einfach zu bedienen, aber ihr Kopf, just imagine, t’immagini! In den Pausen trank sie aus einer Thermosflasche warmes Wasser mit Honig, jeder hatte seine eigene Methode, sich über den Tag zu bringen, aber am Abend kann ich kaum noch die Zeitung in der Hand halten, es ist wichtig, daß ich regelmäßig alle großen Zeitungen lese, ich muß den Wendungen auf der Spur bleiben, den neuen Ausdrücken, aber die Terminologien, das gerade war das wenigste, da gab es die Berichte, die Listen, die mußte sie vorher auswendig lernen, Chemie mochte sie nicht, Landwirtschaft sehr, Flüchtlingsprobleme, das ging, wenn sie für die Vereinten Nationen arbeitete, aber Unions des Postes Universelles und International Unions of Marine Insurance, das waren ihre letzten Alpträume gewesen […].42

Die Ausdrücke „Wahnsinn“ und „Alpträume“ stellen offenbar keine leichtsinnige Übertreibung dar; noch aussagekräftiger sind jedoch zwei Metaphern, nämlich das „Schaltbrett“ und das „totale sich Versenken in eine andere Stimme“. Nadja vergleicht ihren Kopf mit einem Schaltbrett: „ein Schaltbrett war ja einfach zu bedienen, aber ihr Kopf, just imagine, t’immagini!“ – der hier nicht zu Ende formulierte Gegensatz („aber ihr Kopf“…) deutet nicht darauf hin, dass Nadjas Kopf kein Schaltbrett sei, sondern dass ihr Kopf sehr wohl wie ein Schaltbrett funktioniere, allerdings sei es 39 40 41 42

Vgl. dazu vor allem Kap. 5.7 und 5.9. So langweilt sich Mr. Frankel, während Nadja „in den Nachmittagsstunden bis zum Abendessen im Zimmer“ lernt (Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 301). Wollschläger redet von einer „Identifizierung auf Zeit“ als „Voraussetzung […] der Übersetzbarkeit schlechthin“ (Wollschläger: „Joyce pro toto oder Tiefenmuster der Sprache“, S. 177 f.). Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 290.

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kein einfach zu bedienendes. Wie Nadja ihren Kopf und ihre Schaltvorrichtungen beim Übersetzen steuert, bleibt ungesagt; man soll vielmehr versuchen, sich ein Bild davon zu machen („imagine“). Das Schaltbrett ist jedoch nicht bloß ein anschauliches Bild für die Übersetzung, bei der das Schalten, Verschalten und Gleichschalten der Sprachen erfolgt, sondern stellt in Nadjas Rede ein performatives Prinzip dar. Gleich nachdem es benannt wird, wird das Schaltbrett nämlich betätigt, indem ein Sprachwechsel zunächst ins Englische und dann ins Italienische stattfindet. Dabei scheint das Schaltbrett selbsttätig zu funktionieren, indem es einen mechanischen, automatischen Vorgang ausführt, über den Nadja nicht vollständig verfügen kann. Ihr „just imagine, t’immagini!“ ist ein unwillkürlicher und zugleich willkürlicher Ausruf: unwillkürlich, weil der Sprachwechsel ohne nachvollziehbare Motivation wie von selbst geschieht; willkürlich, weil die jeweilige Sprache beliebig ist – ob nun Englisch, Italienisch oder eine andere Sprache gewählt wird, bleibt hier weitgehend unbegründet und gleichgültig. Nun könnte man behaupten, dass durch einen solchen Sprachwechsel (im Zusammenhang mit den Stimmen von Marrakesch ist dabei von ,Sofortübersetzung‘ die Rede gewesen) die Äquivalenz als Bedingung der Möglichkeit einer jeden Übersetzung vorgeführt werde. Während aber Nadjas Schalten zwischen mehr oder minder äquivalenten Worten in der Übersetzerkabine immer zweckgebunden ist, ist es in ihrer privaten Konversation mit Mr. Frankel scheinbar – und oft genug nicht scheinbar, sondern tatsächlich – unmotiviert.43 Die Wendung „just imagine“ soll dazu einladen, sich den Kopf als Schaltbrett vorzustellen; das darauffolgende „t’immagini!“ wirkt jedoch als redundanter Zusatz. Es wirkt, als ob Nadja den von ihr vernommenen, anderssprachigen Nachhall ihrer Äußerung artikulierte. Es könnte sich dabei um eine déformation professionelle handeln, die ohne Folgen bleibt; doch es könnte auch ein symptomatisches Zeichen sein, das den drohenden Einsturz von Nadjas Sprachen ankündigt. Dass die Aktivität der Übersetzerin beinahe in Passivität bzw. in Automatismus umschlagen kann, zeigt besonders deutlich folgende Stelle, an der Nadja in Form erlebter Rede über ihre Arbeit nachdenkt: Sie rieb sich an beide Ohren, wo sonst ihre Kopfhörer anlagen, ihre Schaltungen automatisch funktionierten und die Sprachbrüche stattfanden. Was für ein seltsamer Mechanismus war sie doch, ohne einen einzigen Gedanken im Kopf zu haben, lebte sie, eingetaucht in die Sätze anderer, und mußte nachtwandlerisch mit gleichen, aber anderslautenden Sätzen sofort nachkommen.44

Nadja beschreibt sich hier nicht etwa als einen Menschen, in dem die Sprachen mechanisch ablaufen; sie ist selbst ein Mechanismus, und sie muss bzw. kann sich nicht

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Auf die wenigen motivierten und deshalb besonders signifikanten Sprachwechsel wird in den folgenden Kapiteln eingegangen. Dezidiert vertritt in der Forschung erstmals Greber die These der „Austauschbarkeit der Idiome“, mit Ausnahme des Russischen und des Deutschen; vgl. dazu Greber: „Fremdkörper Fremdsprache“, in: Werke von Ingeborg Bachmann, S. 183 f. Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 295.

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einmal selbst betätigen, da „ihre Schaltungen automatisch funktionier[en]“.45 Es ist von Sprachbrüchen die Rede, obwohl es kurz zuvor über Nadja und indirekt über ihren Beruf heißt: „alles, was mit Verbindungen und Anschlüssen zusammenhing, war doch ihr Leben“.46 Sie muss also die Sprachen zueinander führen und aneinander schalten, ihnen entgegenwirken, weil sie voneinander abweichen und sich entziehen. Oder aber umgekehrt, Nadja hat die Sprachen zunächst irgendwie zu ‚brechen‘, um sie dann wieder miteinander verbinden zu können; den Schaltungen entsprechen jedenfalls Sprachbrüche. In dem, was auf den ersten Blick als eine verlustlose Unternehmung erscheint, schleicht sich der gefährliche Gedanke eines Bruchs ein. Es ist jedoch unmöglich, dergleichen während des Simultanübersetzens zu denken. Während dessen muss überhaupt jeglicher selbständige Gedanke ausgeschaltet werden – erstens weil das Simultanübersetzen extreme Konzentration erfordert und zweitens weil der eigene Kopf leer sein muss, um die Gedanken anderer Menschen aufzunehmen. Nadjas Bewegung zwischen den Sprachen wird mit dem Nachtwandeln verglichen; ihr Sprechen geschieht wie im Schlaf, aus einem bewusstlosen Zustand heraus.47 Eigentlich sind es „die Sätze anderer“, von denen sie gesteuert wird und die ihr Sprechen allererst auslösen. Nadja folgt ihnen, kommt ihnen nach mit anderen Sätzen, die gleich sein und zugleich anders lauten müssen. All dies bezieht sich offenbar nicht nur auf ihre Arbeit, denn so „lebte sie“. An dieser Stelle lässt sich an die zweite im obigen Zitat verwendete Metapher anknüpfen: das „totale sich Versenken in eine andere Stimme“.48 Nadja versenkt sich und ist „eingetaucht“; ihr Tauchgang verläuft entlang der zu übersetzenden Stimme. So wird das Zuhören – „es war dieses fanatisch genaue Zuhören“ – als wichtigste Aufgabe der Simultanübersetzerin mehrfach betont. Ihre Ohren werden in der Tat sehr beansprucht, denn sie sind ein wesentlicher Teil jenes Mechanismus, der von den Kopfhörern, durch welche die Stimme eindringt, bis zu den Schaltungen und Sprachbrüchen abläuft. Es 45

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Kurt Bartsch behauptet, dass „das berufsmäßige Grenzgängertum zwischen verschiedenen Sprachstrukturen, die jeweils ein verschiedenes Denken implizieren, die Verdinglichung zur Sprachmaschine zur Folge haben kann. Denn es führt zu einem Sprechen in Sprachhülsen, hinter denen keine, jedenfalls keine eigene, authentische Erfahrung steht. […] [Nadja] erzeugt für ihre Umwelt berufsmäßige Simultaneität, d. h. Verständigung, die ihr jedoch für sich selbst eben deshalb nicht gelingen kann, weil sie wie eine Maschine aus dem Verständigungsprozeß ausgeschlossen bleiben muß, um Botschaften anderer unverfälscht übermitteln zu können.“ (Kurt Bartsch: Ingeborg Bachmann. 2., überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1997, S. 154). Weder „Verständigung“ noch „unverfälscht[e]“ Übermittlung sind jedoch das Ergebnis von Nadjas Arbeit als einer machine à traduire; vgl. dazu weiter unten. Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 295. „Nadja redet ohne zu denken und eigentlich auch ohne zu sprechen“, lautet die These, die Johanna Bossinade im Rückgriff auf Schleiermachers „Reden ohne Denken“ (Reden ohne Zusammenhang) formuliert (Johanna Bossinade: Kranke Welt bei Ingeborg Bachmann. Über literarische Wirklichkeit und psychoanalytische Interpretation. Freiburg/Br.: Rombach, 2004, S. 200). Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 290.

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verwundert also kaum, dass Nadja gereizt reagiert, als Mr. Frankel sie aus Spaß am Ohr zieht: „Du, ich brauch meine Ohren, veux-tu me laisser tranquille!“49 Allein über das Zuhören kann bzw. muss sich Nadja in einen anderen Menschen versetzen und sich mit diesem vorübergehend so weit identifizieren, dass sie in der Lage ist, dessen Rede vorwegzunehmen, d. h., gleichsam dessen Gedanken zu lesen. Es geht dabei nicht lediglich um eine ungefähre, sinngemäße Wiedergabe; gerade beim Konferenzdolmetschen gilt es, in den einzelnen Worten die leichten Akzentuierungen und die feinen Bedeutungsnuancen zu berücksichtigen. Die folgende Anekdote schildert einen absurden Streit um die richtige Übersetzung: […] da war dieser Zwischenfall in Rio gewesen […] mit einem Jungen von der sowjetischen Delegation, der mitkontrollierte, denn ihr Co-Dolmetscher hatte übersetzt, der amerikanische Delegierte sei ein silly man, und nun bestanden die todernst darauf, dass durak stupid heiße, nicht mehr und nicht weniger, und sie hatten alle etwas zum Lachen gehabt, ja manchmal sogar das.50

Das „fanatisch genaue Zuhören“ und die entsprechende Fixierung auf die Person, deren Worte übersetzt werden, sind die notwendigen Voraussetzungen einer Vermittlungsaufgabe, die von der vermittelnden Instanz unweigerlich Beteiligung und Verantwortung verlangt. Als Dolmetscherin ist Nadja ein unentbehrlicher Teil der Weltpolitik und der internationalen Organisationen, da sie deren Kommunikationsprozesse überhaupt erst ermöglicht; ihre Ohren vernehmen immer wieder, wie sich die Menschen falsch oder erst gar nicht verstehen, ja sie selbst trägt zu diesem Umstand bei: „wenn ich mir das ganze Kauderwelsch anhöre zwischen Paris und Genf und Rom, wenn man es eben so mithörte wie sie und mithalf, daß die einander immer mehr mißverstanden und in die Enge trieben“.51 Dabei bemüht man sich auf den Konferenzen, einen Sinn, einen Konsens zu finden – nur man findet ihn nicht: […] vor dem Schlafen lese ich meistens noch einen Kriminalroman, aber nur, damit es ganz unwirklich wird, was schon irreal tagsüber für mich ist, jede Konferenz kommt mir wie die direkte Fortsetzung einer endlosen indagine, wie sagt man bloß? vor, immer wird die Ursache für etwas weit Zurückliegendes gesucht, für etwas Furchtbares, und man findet sich nicht durch, weil der Weg dorthin zufällig von vielen zertrampelt worden ist, weil jeder eine Halbwahrheit darüber aussagt, um sich abzusichern, und so sucht und sucht man sich durch die Unstimmigkeiten, die Uneinigkeiten hindurch, und man findet nichts, man müßte schon eine Erleuchtung haben, um zu begreifen, was wirklich vorliegt und was man deswegen wirklich tun sollte, ganz plötzlich.52

Indirekt wird hier das Simultanübersetzen mit einer Ermittlung („indagine“) verglichen, auf der Suche nach einer Ursache. Doch die Spuren werden ständig verwischt, und dies ge49 50 51

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Ebd., S. 295. Ebd., S. 291. Ebd., S. 305; Hvh. d. Vf. Greber betont zu Recht den ,geschlechterkritischen‘, zu wenig jedoch den sprachskeptischen Aspekt, wenn sie in Simultan die „Identitätskrise einer völlig im Vermitteln aufgehenden Mittelfigur, die als Übersetzungsmaschine ihre persönliche Sprache verloren hat“, sieht (Greber: „Fremdkörper Fremdsprache“, in: Werke von Ingeborg Bachmann, S. 180; vgl. auch ebd., S. 181). Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, 306 f.

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schieht nicht einmal absichtlich. Es sind die Spuren der Sprache(n), die zu keiner Lösung des Falls und zu keiner Wahrheit hinführen können: allenfalls zu vielen „Halbwahrheit[en]“.53 Diese kritische und selbstkritische Haltung gegenüber ihrer eigenen Arbeit nimmt die Simultanübersetzerin ein, als sie mit Bezug auf Mr. Frankels Arbeit bei der FAO die allgemeine These vertritt, die bürokratische Männersprache sei eine vernichtende Sprache, in der es keine „schöne Geschichte“ geben könne.54 Als Beispiel dient die Gründungsgeschichte der FAO, die in Nadjas Augen von Mr. Frankel banalisiert und entwertet wird. Nadja sieht den FAO-Gründer David Lubin als abenteuerlichen Ritter, wohingegen seine Nachfolger zu bloßen Büroexistenzen verkommen sind; so sagt sie zu Mr. Frankel: […] immer wenn jemand auf die Welt kommt und etwas Abenteuerliches denkt und anfängt mit etwas Neuem, dann kommt ihr daher und verwaltet es zu Tod, o verzeih, versteh mich recht, aber ich kann doch nicht anders denken, wenn ich mir das ganze Kauderwelsch anhöre zwischen Paris und Genf und Rom, wenn man es eben so mithörte wie sie und mithalf, daß die einander immer mehr in die Enge treiben, ihr Männer seid eine gottverdammte Bande, immer müßt ihr etwas Gewöhnliches draus machen, und dieser Bursche, dieser David gefällt mir eben, und die anderen gefallen mir nicht. Der wird auch wirklich noch auf einem Pferd herumgaloppiert sein und nicht wie ihr, die VIP, in einer Reitbahn, mit Reitstunden, damit ihr in Form bleibt, nein, der nicht, ich bin sicher, ihr seid heute eine für immer verdammte Bande.55

Zur (tödlichen) Verwaltung der Welt bedient man sich der „Gaunersprache“,56 einer tendenziell männlichen Ausprägung der allgemein verbreiteten „schlechte[n] Spra53 54 55

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Nadja sagte bereits, sie müsse „den Wendungen auf der Spur bleiben“ (ebd., S. 290). Ebd., S. 305. Ebd., S. 305 f. Die Verdammung der Männer deutet Sylvie Grimm-Hamen als Strategie der Wirklichkeitsverzerrung, mit der Bachmanns Frauen ihrer eigenen Schuld ausweichen und in der sie (Selbst-) Schutz und Sinn finden (vgl. Sylvie Grimm-Hamen: „Der Jäger und seine Beute. Die Entzweiung des Lebens als Werk- und Lebensprinzip“, in: „Über die Zeit schreiben“. Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zu Ingeborg Bachmanns „Todesarten“-Projekt, Bd. 1. Hrsg. v. Monika Albrecht u. Dirk Göttsche. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1998, S. 203–225, bes. S. 217–224). Dieser Ausdruck kommt in der Erzählung Das dreißigste Jahr vor (vgl. Ingeborg Bachmann: „Das dreißigste Jahr“, in: Werke, Bd. 2, S. 108 u. 121). Bachmann könnte ihn von Roland Barthes haben; vgl. Roland Barthes: Am Nullpunkt der Literatur. Objektive Literatur. Zwei Essays. Hamburg: Claassen, 1959, S. 74 f.; im französischen Original ist vom „argot des voleurs“ die Rede (Roland Barthes: Le degré zéro de l’écriture. Paris: Seuil, 1953, S. 114). Zu Bachmann und Barthes vgl. Sigrid Weigel: „Ein Ende mit der Schrift“, in: Kein objektives Urteil, S. 265–280 sowie Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien: Zsolnay, 1999, S. 123 f. Die „Gaunersprache“ kommt allerdings auch in Fritz Mauthners Beiträge zu einer Kritik der Sprache vor, ein Werk, das sich – wie auch Barthes’ Aufsatzsammlung – in Bachmanns Bibliothek befand (vgl. Ortrud Gutjahr: „Rhetorik und Literatur. Ingeborg Bachmanns Poetik-Entwurf“, in: Ingeborg Bachmann. Neue Beiträge zu ihrem Werk. Hrsg. v. Dirk Göttsche u. Hubert Ohl. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1993, S. 299–314, hier S. 306; Robert Pichl: „Ingeborg Bachmanns Privatbibliothek. Ihr Quellenwert für die Forschung“, in: Ingeborg Bachmann. Neue Beiträge zu ihrem Werk, S. 381–388, hier S. 382). Da für Mauthner die Sprache unzuverlässig ist, umschreibt er sie als eine „zynische Gaunersprache, die auf französisch für langue ‚la

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che“.57 Jene Männer, die auf den internationalen Konferenzen agieren und aus der Sprache nicht viel mehr als Missverständnisse, wenn nicht gar Missbräuche, hervorbringen können, gehören letztlich zur selben „Bande“ wie Nadjas Liebhaber. Ist nämlich, im Großen und Ganzen betrachtet, die Sprache der Männer ein schreckliches Verwaltungsidiom und ein „Kauderwelsch“, so sind im alltäglichen Einzelfall die Reden der Männer mit ihren schlecht kaschierten Selbstverherrlichungsgesten und mit ihren informativen, erläuternden und aufklärenden Passagen unerträglich.58 Deshalb erweist sich das Zuhören, das Nadja professionell beherrscht, als ein wiederkehrendes Problem in ihren Beziehungen zu Männern, insofern sie ihnen nur selten zuzuhören vermag.59 Die Sprache als Medium intersubjektiver Beziehungen zeigt sich somit bereits in dieser knappen Skizze der Hauptfigur von Simultan von ihrer negativen Seite. Oft ge-

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menteuse‘ sagt, auf englisch ‚preating cheat‘ (die schwatzhafte Betrügerin, ‚Bescheißerin‘).“ (Fritz Mauthner: Das philosophische Werk. Nach den Ausg. letzter Hand hrsg. v. Ludger Lüdtkehaus. Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 1999, Bd. II/3, S. 616 f.). Ingeborg Bachmann: „Frankfurter Vorlesungen [Literatur als Utopie]“, in: Werke, Bd. 4, S. 268. Auf die Männersprache kann in diesem Zusammenhang nicht ausführlich eingegangen werden; es sei aber an die in Malina formulierte These erinnert, alle Männer seien unheilbar krank (vgl. Bachmann: „Malina“, in: Werke, Bd. 3, S. 268–274) – eine These, die Bachmann in einem Interview bekräftigt (vgl. Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, S. 71). Die „schlechte Sprache“ ist allerdings keine spezifisch männliche Angelegenheit: So verweist Ortrud Gutjahr auf den von Horkheimer/Adorno in der Dialektik der Aufklärung herausgearbeiteten „identische[n] zweckgerichtete[n] männliche[n] Charakter des Menschen“ (Ortrud Gutjahr: „Faschismus in der Geschlechterbeziehung? Die Angst vor dem anderen und geschlechtsspezifische Aggression in Ingeborg Bachmanns Der Fall Franza“, in: Kein objektives Urteil, S. 541–554, hier S. 550; dieselbe Stelle zitiert auch Weigel: „Ein Ende mit der Schrift“, in: Kein objektives Urteil, S. 297). Es geht Bachmann nicht vordergründig um eine Anklage schlechter Männer (selbst in einem radikalen Text wie Undine geht nicht), sondern vielmehr darum, „die bestehende (symbolische) Ordnung als Zusammenhang von Sprache, Schuld und Geschlecht aus[zu]loten“ (Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 133). Die Sprache der Frauen ist im Übrigen auf ihre Weise auch schlecht: „Die Sprache der Männer, soweit sie auf die Frauen Anwendung fand, war schon schlimm genug gewesen und bezweifelbar; die Sprache der Frauen aber war noch schlimmer, unwürdiger – davor hatte ihr schon gegraut, seit sie ihre Mutter durchschaut hatte, später ihre Schwestern, Freundinnen und die Frauen ihrer Freunde und entdeckt hatte, daß überhaupt nichts, keine Einsicht, keine Beobachtung dieser Sprache entsprach, den frivolen oder frommen Sprüchen, den geklitterten Urteilen und Ansichten oder dem geseufzten Lamento.“ (Ingeborg Bachmann: „Ein Schritt nach Gomorrha“, in: Werke, Bd. 2, S. 208). Vgl. auch die Stilisierung der Frauensprache als „Blumensprache“ in der Erzählung Ein Wildermuth (Ingeborg Bachmann: „Ein Wildermuth“, in: Werke, Bd. 2, S. 245). Augustinus Dierick merkt an, dass diese besondere Art der Rede und der Sprachverwendung, die „following Freud, Jung and Marcuse, we may subsume under the term ‚Logos‘, is associated, in Nadja’s mind, with the male.“ Beim Gegensatz von Eros (Nadja) und Logos (die Männer) ist allerdings zu bedenken, dass Nadja selbst ein Teil der Logos-Maschinerie ist bzw. dass „Nadja’s erratic behaviour is inspired by the wish to fuse the domain of Eros with Logos.“ (Augustinus P. Dierick: „Eros and Logos in Ingeborg Bachmann’s ‚Simultan‘“, in: German Life and Literature 35 (1981), S. 73–84, hier S. 77 u. 80). Vgl. dazu auch Kap. 5.5.2.

Ermittlung im Kauderwelsch

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lingt die Kommunikation nicht (wie in den Gesprächen Nadjas mit ihren Geliebten), oder ihr Gelingen gründet sich auf Missverständnissen und Usurpationen der Bedeutung, in denen letztlich die schlechte Ordnung der Welt fortgesetzt wird (wie auf den Konferenzen und in der globalen Bürokratie). Dies wirft einen dunklen Schatten auf die Tätigkeit des Übersetzens. Das Problem, das sich hier abzeichnet, hat allerdings gleich mehrere Dimensionen: Es geht um die Frage nach einer möglichen – oder eben nicht möglichen – Übereinstimmung und Entsprechung (1) zwischen Sprache und Welt, (2) zwischen miteinander sprechenden Menschen und (3) zwischen verschiedenen Sprachen. Die Auseinandersetzung mit dieser letzten, interlingualen Dimension ist für die Simultanübersetzerin unvermeidlich; wenn sie jedoch zu weit führt, bringt sie das Übersetzen und all das, was für Nadja damit zusammenhängt, in die Gefahr, nicht mehr zu funktionieren. Während an der Oberfläche beliebig und reibungslos zwischen den Sprachen hin und her geschaltet werden kann, gibt es offenbar eine tiefere Ebene der Sprachreflexion, in der jede Übersetzung als ein äußerst fragwürdiger und prekärer, ja unmöglicher Vorgang erscheint. Ausdrücklich wird dies an folgender Stelle gesagt: […] sie konnte aus ‚machen‘ to make, faire, fare, hacer und delat’ machen, jedes Wort konnte sie so auf einer Rolle sechsmal herumdrehen, sie durfte nur nicht denken, daß machen wirklich machen, faire faire, fare fare, delat’ delat’ bedeutete, das konnte ihren Kopf unbrauchbar machen, und sie mußte schon aufpassen, daß sie eines Tages nicht von den Wortmassen verschüttet wurde.60

Die unzähligen spezifischen Bedeutungen dieser Verben darf sich die Simultanübersetzerin nicht bewusst machen; im Gegenteil, sie ist bemüht, die Wörter sehr allgemein, ja abstrakt zu halten – als ließe sich die „Rolle“ nur dann „herumdrehen“, wenn sie nicht durch das Gewicht semantischer Spezifikation belastet wird. Was Nadja zudem unbrauchbar machen kann, ist die Tatsache, dass die Gleichung „faire faire, fare fare, delat’ delat’“ nicht im Sinne einer Synonymie oder Tautologie zu verstehen ist, da jedes der angeführten Verben eine eigene Bedeutung bzw. eine Vielfalt von Bedeutungsnuancen hat, die sich nicht mit derjenigen des entsprechenden Verbs in einer anderen Sprache deckt.61 Doch die „alles gleich machende Gewalt der Sprache, die sich am krassesten im Wörterbuch zeigt“,62 darf nicht außer Kraft gesetzt werden. 60

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Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 295. Das „Beispielwort ,machen‘ ist meta- und objektsprachlich gedoppelt, zunächst steht es […] am Beginn der Sechserreihe, dann noch in normaler Aussagefunktion. Das heißt: auch die Schriftstellerin kann nicht sprechen, ohne schon längst in jene Sprachenfrage verstrickt zu sein, die sie ihre Heldin da verhandeln läßt.“ (Greber: „Fremdkörper Fremdsprache“, in: Werke von Ingeborg Bachmann, S. 190 f.). Diese Gleichung wird hier innerhalb jeder einzelnen Sprache aufgestellt (machen = machen, faire = faire usw.), durch die „Rolle“ wird sie aber auch auf die Äquivalenz zwischen den Sprachen übertragen. Vgl. dazu die Aussage des dreisprachig aufgewachsenen George Steiner: „Solange ich denken kann, war ich mir intuitiv darüber klar, daß ein Pferd, ‚a horse‘ und ‚un cheval‘ gleich und/ oder sehr ungleich sind und daß die Nuancen von gleich und ungleich zwischen völliger Äquivalenz und gänzlicher Disparität hin und her schwanken.“ (Steiner: Nach Babel, S. 137). Wittgenstein: Werkausgabe, Bd. 8, S. 480.

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Denn das hieße, die Prämisse der Übersetzbarkeit anzuzweifeln, ohne die es statt einer sinnvollen und produktiven Simultaneität der Sprachen nur zusammenhanglose Wortmassen gäbe. Über den in Simultan allgegenwärtigen Sprachwechsel, den die folgenden Kapitel aus verschiedenen Perspektiven genauer beleuchten, ließe sich schon an dieser Stelle vermuten, dass er auf eine zweifache Unzulänglichkeit verweist: Erstens wirkt der Sprachwechsel als Zeichen eines fragmentierten Sprechens – so zeigt eine der Schlüsselepisoden der Erzählung, wie Nadja in der Lage ist, einzelne Worte zu übersetzen, nicht aber deren Sinn;63 zweitens bedingt der übermäßige Sprachwechsel wenn keinen Verlust, so doch eine Zerstreuung der Bedeutung – die Rede der Simultanübersetzerin scheint über die Dinge und über die Wirklichkeit wie auf einer glatten Oberfläche immer weiter zu gleiten, nur selten wird Anker gelegt.64 Daher kommt jenes diffuse Gefühl der Haltlosigkeit, das die Protagonistin von Simultan stets begleitet und das nur eine wirklich glückliche Begegnung hätte vertreiben können.

5.4. Muttersprache als Mundart und Tonfall Der Erzählband Simultan ist in das Projekt Die Wienerinnen einzuordnen, mit dem Bachmann die Absicht verfolgt, anhand von Wiener Frauen die „moeurs“65 der sechziger und frühen siebziger Jahre zu schildern. Eine solche Untersuchung der Sitten, „eine Art Mentalitätsgeschichte“,66 widmet sich nicht zuletzt der Sprache der Wienerinnen; entsprechend teilt die Autorin bei der Übersendung ihres Manuskripts dem Verlag mit: 63 64 65

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Vgl. Dusar: „Identität und Sprache“, in: Bild-Sprache, S. 79. Vgl. dazu Kap. 5.7. Hapkemeyer behauptet, Nadja verliere an den Worten die Dinge, also die Wirklichkeit (vgl. Hapkemeyer: Die Sprachthematik in der Prosa Ingeborg Bachmanns, S. 79). Bachmann: „Brief an den Verlag [Textstufe III]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 15; vgl. auch ebd., S. 10. Den Begriff der „mœurs“ entnimmt Bachmann der Vorrede zu La comédie humaine, in der Balzac sein Vorhaben äußert, die französischen Sitten des 19. Jahrhunderts in einem als Zyklus konzipierten Werk (den Études de mœurs), als „histoire des mœurs“ darstellen zu wollen (Balzac: La Comédie humaine. Edition publiée sous la direction de Pierre-Georges Castex. Paris: Gallimard, 1976, Bd. 1, S. 9 u. 11). In einem Interview behauptet Bachmann, ihr Erzählband Simultan sei der – in der deutschsprachigen Literatur bisher nicht gelungene – Versuch, „die Mores einer Zeit durch eine Reihe von Frauenporträts zu zeigen.“ (Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, S. 140). Eigenschaften von Bachmanns Wienerinnen sind u. a. die „Unfähigkeit, sich selbst und andere zu verstehen, die Schwierigkeit, sich zu erinnern, das Unvermögen, sich in der Geschichte – der eigenen wie der ‚großen‘ – anzusiedeln, Einander-nicht-zuhören-Können, soziale Isolation, Angst, Langeweile oder eine Form von Privatheit, die jenseits jeglichen politischen Verhaltens liegt“ (Tanja Schmidt: „Beraubung des Eigenen. Zur Darstellung geschichtlicher Erfahrung im Erzählzyklus Simultan von Ingeborg Bachmann“, in: Kein objektives Urteil, S. 479–502, hier S. 486). Bachmann-Handbuch, S. 160. Schneider deutet den Simultan-Band vor allem als gesellschaftstheoretische Studie über den neuen Kapitalismus der Nachkriegszeit (vgl. ebd., S. 159–171).

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Insgesamt ist es ein[e] hommage an die Wienerinnen, die Frauen meines Landes, die verzichten können, die zu lieben wissen, manchmal sogar zu denken verstehen, aber es nicht zeigen, aber den Schreibenden reizt natürlich am meisten ein Tonfall, eine Aura, und ich wünschte, es wäre mir gelungen, zu zeigen, wie sie sprechen, wie sie leben, was sie verschweigen und was sie, dezent, aussprechen.67

Sowohl Nadja als auch Mr. Frankel stammen ursprünglich aus Wien.68 Diese gemeinsame Herkunft hat sie auf einer Party in Rom zusammengeführt und ist auch auf ihrer Fahrt nach Süditalien ein Gesprächsthema: Er hatte in Hietzing gewohnt […] und sie war aufgewachsen in der Josefstadt, Wickenburggasse, dann kam das unvermeidliche namedropping, sie tasteten das Wiener Terrain ab, fanden aber keine gemeinsamen Leute, die ihnen weitergeholfen hätten, die Jordans, die Altenwyls, von denen wußte sie natürlich, wer die waren, aber kennengelernt, nie, die Löwenfelds kannte sie nicht, Deutschs auch nicht, ich bin schon zu lange weg, mit neunzehn bin ich weg […].69

Mit ihren Stadtvierteln, Straßen und alteingesessenen Familien70 bildet Wien das gemeinsame „Terrain“, in dem beide Figuren im wörtlichen wie im übertragenen Sinn common ground finden. Zugleich stellt Wien ein sprachliches Territorium dar,71 nämlich den ,eigentlichen‘ Ort des Wienerischen.72 Auf das Wienerische und Österreichi67

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Bachmann: „Brief an den Verlag [Textstufe III]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 12 f. Vgl. die bereits zitierte Äußerung der Autorin: „am genauesten muß ich immer aufpassen, dass ich den Tonfall jeder einzelnen Person – ihrer Herkunft, ihrer späten Entwicklung wegen –, dass ich das immer genau höre.“ (Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, S. 123; Hvh. d. Vf.). Es sei außerdem darauf hingewiesen, dass Bachmann aus der Perspektive der Wienerinnen, also in der von ihr eher selten benutzten „Sie-Form“ erzählt (Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 231); vgl. dazu Bachmanns Stellungnahme zu Malina: „Daß ich immerzu nach dieser Hauptperson gesucht habe. Daß ich wußte: sie wird männlich sein. Daß ich nur von einer männlichen Position aus erzählen kann. Aber ich habe mich oft gefragt: warum eigentlich? Ich habe es nicht verstanden, auch in den Erzählungen nicht, warum ich so oft das männliche Ich nehmen mußte. Es war nun für mich wie das Finden meiner Person, nämlich dieses weibliche Ich nicht zu verleugnen und trotzdem das Gewicht auf das männliche Ich zu legen…“ (Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, S. 99 f.). An einer Stelle wird beiläufig erwähnt, sie könnten auch osteuropäische Vorfahren haben; vgl. Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 305. Ebd., S. 285. Die „Jordans“ und die „Altenwyls“ kommen in Bachmanns Werk mehrfach vor, etwa in den Erzählungen Das Gebell und Ihr glücklichen Augen, im Romanfragment Der Fall Franza und in Malina. Vgl. die Bestimmung von „territoire“ bei Deleuze und Guattari: „le facteur territorialisant, doit être cherché […] dans le devenir-expressif du rythme ou de la mélodie, c’est-à-dire dans l’émergence des qualités propres“ (Deleuze/Guattari: Mille plateaux, S. 386 u. 388). Zum Wiener Deutsch vgl. Ingeborg Bachmann: „Der Fall Franza“, in: Werke, Bd. 3, S. 348 f. u. 454. In seinem Essay über Fremdwörter, das Bachmann kannte, schreibt Adorno, dass „in kulturell geschlosseneren Bereichen der deutschen Sprache, wie dem Wienerischen, wo vorbürgerlich-höfische, elitäre Züge durch Kirche und Aufklärung mit der Volkssprache vermittelt sind, die Fremdwörter, von denen dieser Dialekt wimmelt, jenes exterritorialen und aggressiven Wesens entraten, das ihnen sonst im Deutschen eignet. Man braucht nur einmal von einem Portier etwas von einem rekommendierten Brief gehört zu haben, um des Unterschieds innezuwerden, einer sprachlichen

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sche blicken beide Figuren in Simultan aus der Ferne und vor dem Hintergrund der kosmopolitischen Mehrsprachigkeit der internationalen Organisationen und Konferenzen73 – umso deutlicher kommt der unverwechselbare, eigentümliche Charakter jener Sprache zum Vorschein. Als Mr. Frankel Nadja mit der Vorstellung konfrontiert, sämtliche Sprachen könnten eines Tages verschwunden sein74 und alle Menschen dann über eine gemeinsame Sprache verfügen, erhält er von ihr die Antwort: „aber bitte, wie sagst du dann: Würstel mit Kren. Oder: Sie gschlenkertes Krokodil? Gibst du es auf, t’arrendi? Er nickte und sah belustigt zu ihr auf, denn er hatte den Kren und das Krokodil vergessen.“75 Mr. Frankel hat diese Ausdrucksweisen vergessen; der Dialekt erscheint hier als ein Teil jener unbestimmten, „in Vergessenheit geratene[n] schmerzliche[n] Freude“,76 die er durch Nadja zurückzugewinnen hofft. Mit seinem Nicken gesteht er, dass es in der Tat keine Möglichkeit gibt, bestimmte Worte und Wortwendungen zu ersetzen – zumindest keine, bei der nicht wesentliche, im weitesten Sinn semantische Aspekte verloren gingen.77

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Atmosphäre, in der das Fremde fremd ist und zugleich vertraut, so wie im Gespräch jener beiden Grafen über Hofmannsthals Schwierigen, in dem der eine beanstandet, ‚er läßt uns doch gar zu viele Worte auf -ieren sagen‘, worauf der andere antwortet: ‚Ja, da hätt’ er sich schon ein bisserl menagieren können.‘“ (Adorno: „Wörter aus der Fremde“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 11, S. 220). Zur Exterritorialität vgl. auch Kap. 5.6. Über das Wienerische notiert Hofmannsthal: „eine gewollte Leichtfertigkeit im Ausdruck (banale Vergleiche, französische Worte, Kindereien).“ (Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 31, S. 8). Zur Mehrsprachigkeit und zum Dialekt Wiens vgl. ferner Stefan Zweig: „Das Wien von gestern“, in: Zeit und Welt. Gesammelte Aufsätze und Vorträge 1904–1940. Stockholm: Bermann-Fischer Verlag, 1946, S. 131–134. Eines der Gespräche dreht sich um die vielen Städte, an denen Nadja und Mr. Frankel gewesen sind: „Die Städte wirbelten auf in der Nacht, Bangkok, London, Rio, Cannes, dann wieder Genf unvermeidlich, Paris auch unvermeidlich.“ (Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 286). Gerade die deutsche Sprache sei „doch schon im Verschwinden, […] uns kommt es jedenfalls so vor“, behauptet Mr. Frankel (ebd., S. 291). Ebd., S. 304. Vgl. die frühere Fassung: „aber sag einmal, wie würdest du dann sagen, in dieser einen Sprache: Würstel mit Kren oder Sie gschlenkertes Krodil [sic], gibst du es jetzt auf, er nickte, er lachte, denn er hatte das Krokodil vergessen, und hundert andre Ausdrücke, Kundgebungen der Närrischkeit, der Wut, der Bosheit, des Bezaubertseins, für so viele Dinge, die es nur einmal gab und nur da oder nur dort.“ (Bachmann: „Simultan [Textstufe III]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 83 f.). ‚Schlenkern‘ bedeutet „schwingen, schlendern“ (Kärntisches Wörterbuch von Dr. Matthias Lexer. Leipzig: Verlag S. Hirzel, 1862, S. 220); als feststehende Wendung konnte „gschlenkertes Krokodil“ nicht nachgewiesen werden. Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 292. Dass es Bachmann nicht darum geht, Dialekt zu sprechen oder gar dialektale Literatur zu schreiben, sondern bestimmte, aufgrund ihrer Prägnanz, Bildlichkeit oder Klangfarbe besonders treffende Ausdrücke zielsicher einzusetzen, legt eine Stelle aus Drei Wege zum See nahe, an der es über den Vater der Protagonistin Elisabeth heißt: „Er liebte auch Dialektworte wie sie, spielte sie im richtigen Moment hinein in einen Satz und intonierte das gute ärarische Deutsch, immer seiner Person und seinem Ausdruck, seiner Stimmung entsprechend“ (Bachmann: „Drei Wege zum See“, in: Werke, Bd. 2, S. 452).

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Auf die Unübersetzbarkeit von Spracheigenheiten – von Idiotismen, um ein Fremdwort zu gebrauchen, „und Idiotismen sind patronymische Schönheiten […], die uns kein Nachbar durch eine Übersetzung entwenden kann“78 – macht Bachmann in einem anderen Zusammenhang aufmerksam, wobei explizit von Dialekt die Rede ist. Es handelt sich um einen Beitrag für eine Zeitschrift, die simultan auf Deutsch, Italienisch und Französisch erscheinen sollte79 und in dem die Autorin die Frage diskutiert, was Verständigung und Versöhnung in der Nachkriegszeit, was Weltoffenheit und Europäischsein bedeuten könnten und sollten. Dass hierbei der Sprache eine zentrale Rolle zukommt, ist einleuchtend, zumal sich Bachmann in erster Linie an Schriftstellerkollegen wendet. Es heißt am Ende: Dann soll es, in unserem Beruf, ruhig einmal Mühe kosten, für ein Adjektiv tagelang ein entsprechendes Adjektiv zu suchen in der anderen Sprache. Und dann wird auch nichts verloren sein, wenn einmal für ein Wort kein entsprechendes Wort gefunden wird. Wenn das Vertrauen nur da ist in den Dialekt, in das, was übersetzbar an ihm ist, in das, was unübersetzbar bleibt.80

Was ist hier unter „Dialekt“ zu verstehen? Es ist ein Gegenbegriff zu jenem Esperanto der Floskeln, dem auch Intellektuelle allzu oft verfallen; es ist eine „Eigenart“,81 die dem „Verständigungsrausch und Verbrüderungstaumel“82 Widerstand leistet. Gemeint ist Dialekt jedenfalls nicht im engen sprachwissenschaftlichen Sinne, denn auch französisch und italienisch und deutsch und so fort [können] sich als fruchtbare und eigentümliche Dialekte erweisen, mit einer Rücksicht auf eine umfassendere Sprache, die dann

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Herder: „Über die neuere Deutsche Literatur“, in: Werke, Bd. 1, S. 584. Die Zeitschrift sollte unter dem Titel Gulliver gleichzeitig bei Suhrkamp, Einaudi und Julliard erscheinen, sie schaffte es allerdings nicht über die erste, 1964 nur in Italien veröffentlichte Probenummer hinaus; vgl. Una rivista internazionale mai pubblicata. Gulliver 1960–1965. A cura di Anna Panicali in collaborazione con Maria Chiara Mocali. Bologna: Bonaparte Quarantotto, 1993. Ingeborg Bachmann: „Tagebuch. Beitrag zur Probenummer einer internationalen Zeitschrift“, in: Werke, Bd. 4, S. 77. Ebd., S. 64 f. Genau diese „Eigenart“ hat Bachmann in den französischen Beiträgen zur Zeitschrift oft vermisst: „Uniformität“ warf sie den Franzosen vor, wie Uwe Johnson in einem Sitzungsprotokoll der Redaktion festhält (zit. n. Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 392). Den Begriff „Eigenart“ verwendet Bachmann bereits 1955 in einem frühen Interview, indem sie „die politische und kulturelle Eigenart Österreichs“ herausstellt, wobei sie jede kulturpolitische Frage als „Frage der Sprache“ versteht. Die Eigenart der Österreicher sei insofern auf die geographischen Grenzen ihres Landes zurückführen, als diese Grenzen sie haben „an so vielen Kulturen partizipier[en]“ lassen und ihnen dadurch ein besonderes „Weltgefühl“ verliehen haben – allemal „ein andres als die Deutschen“ es haben: „Dichter wie Grillparzer und Hofmannsthal, Rilke und Robert Musil hätten nie Deutsche sein können.“ (Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, S. 11 f.). Mit Bezug auf die Österreicher Rilke und Trakl redet Bachmann von einem gemeinsamen „Sprachklima“ (ebd., S. 45; vgl. auch ebd., S. 32). Bachmann: „Tagebuch“, in: Werke, Bd. 4, S. 67.

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freilich niemand zu gründen braucht und sprechen muß. Wenn er nur in seinem Dialekt sie mit meint und mit in Augen behält.83

Man soll aus der Sicherheit der eigenen Sprache, aus der Vertrautheit des eigenen Publikums, aus der „geschichtlichen und kulturpolitischen Intimität“ heraustreten und „ein klein wenig anders sprechen und sich mit seinem Sprechen zu richten versuchen“.84 Konkreter ausgedrückt bedeutet dies „den Verzicht auf Anspielungen unter Beibehaltung der Mundart“, d. h. also, an die eigene Herkunft und an die eigene Sprache gebunden zu sein und zu bleiben, ohne sich im Selbstbezug bei den Details des Eigenen aufzuhalten, sondern stets im Hinblick auf das Ganze bzw. auf das Andere.85 Wie das in der Sprache umgesetzt werden kann, wird von Bachmann nicht genau erläutert; deutlich wird jedoch, dass es nicht die Sprache bzw. eine Sprache gibt, die der Schriftsteller gleichsam gebrauchsfertig vorfindet. Vielmehr verhält es sich so, dass dieser von ihr geprüft und sie prüfend, ein Abenteuer mit der Sprache hat, dessen Ausgang ungewiß ist. Gewiß ist nur, daß er seine Mundart sich in den Mundarten der Sprache sucht, daß er auf Dialekt und Dialektik aus ist und beide auf ihn aus sind, als auf ihren möglichen Statthalter.86

Das „Abenteuer mit der Sprache“ scheint auf Heideggers „Erfahrung mit der Sprache“87 gemünzt zu sein; und auch die „Mundart“ könnte man, wie noch dargelegt wird, als eine Heidegger-Reminiszenz lesen. Wenn Bachmann fragt, „was deutsch oder österreichisch denken heißt“, und dann fordert, dass dabei „die Grenzverläufe sich zeigen müssen, als ideologische, wenn man so will, als Risse auch im Gebrauch von Sprache“,

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Ebd., S. 65. Ein solches Verständnis von Dialekt ließe sich mit Deleuzes und Guattaris Vorstellung des minoritären Gebrauchs einer großen Sprache in Verbindung bringen (vgl. Deleuze/Guattari: Kafka, S. 24–39 u. passim). Bachmann: „Tagebuch“, in: Werke, Bd. 4, S. 63 f. Kurz darauf heißt es, jede Mundart sei eine „Zumutung“ (ebd., S. 65). Ebd., S. 64. Auf die Bindung an die eigene Sprache und auf die Prägung des Denkens durch die Sprache kommen Humboldts Schriften immer wieder zurück: „Jede Sprache setzt dem Geiste derjenigen, welche sie sprechen, gewisse Gränzen, schliesst, insofern sie eine gewisse Richtung giebt, andre aus. Die Erforschung aller Sprachen kann daher darauf führen, zu sehen, welches der weiteste Aufflug ist, den eine gestattet, und auf welche Weise die Gränzen des menschlichen Geistes von dieser Seite gleichsam historisch zu bestimmen sind.“ (Wilhelm von Humboldt: „Einleitung in das gesamte Sprachstudium“, in: Gesammelte Schriften, 1. Abt., Bd. VII, S. 621 f.). Bachmann: „Tagebuch“, in: Werke, Bd. 4, S. 70. Vgl. auch das Gedichtfragment Mundarten, erstmals abgedruckt in Arturo Larcati: Ingeborg Bachmanns Poetik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2006, S. 171. Zum Verhältnis von Mundart, Vielsprachigkeit und Heimat vgl. auch ebd., S. 180–185. Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Hrsg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt/M.: Klostermann, 1975 ff., Bd. 12, S. 149 ff. Auf Unterwegs zur Sprache spielt Bachmann außerdem in einer ihrer Frankfurter Vorlesungen an, wenn sie behauptet, die Literatur sei „zu rühmen wegen ihres verzweiflungsvollen Unterwegssein zu[r] Sprache“ (Bachmann: „Frankfurter Vorlesungen [Literatur als Utopie]“, in: Werke, Bd. 4, S. 268).

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wirkt ihr Satz wie eine Überblendung von Heideggerschen Rissen und Wittgensteinschen Grenzen.88 Die sprachlichen Differenzen prägen ein jeweils anderes Denken: Wir haben eine Sprache, und es kommt mir immer vor, daß ein Wort von Oscar Wilde über Engländer und Amerikaner stimmt. Er hat gesagt, wir haben sehr viele Fehler gemeinsam, […] nur eins haben wir nicht gemeinsam – und das ist die Sprache. Sprache heißt aber auch: Unser Denken ist anders, weil unsere Sprache anders ist.89

Das Anderssein ist ein Grundmerkmal des Dialekts, und der Dialekt ist eine Metapher für jene Sprache, die der Schriftsteller anstreben soll. Mit der Dialekt-Metapher werden gleich mehrere Bedeutungen auf die literarische Sprache übertragen: die Identität einer kleineren, eigenständigen und eigenwilligen Sprache, die auf Differenzierung und Abgrenzung von der Sprache aus ist, und die Gebundenheit an einen Herkunftsort mit einer eigenen Geschichte und, im Guten wie im Schlechten, einer eigenen Tradition.90 Nun ist aber Wien für die Protagonisten von Simultan ein verlassener Ort. Wie verhält es sich dabei mit der Sprache? Wird auch sie verlassen? Auf welche Weise und mit welchen Konsequenzen? Nadja hat, seitdem sie mit neunzehn Jahren aus Wien fortgezogen ist, kein Deutsch mehr gesprochen; sie behauptet: „ich spreche nie mehr deutsch, nur wenn es gebraucht wird, dann natürlich, aber das ist etwas anderes, für den Gebrauch.“91 Das Deutsche wird nicht mehr spontan verwendet, sondern ausschließlich dann, wenn es äußere Umstände erfordern, „nur wenn es gebraucht wird“. Die Weigerung, sich über diese Sprache, die doch so naheliegend ist, einen Zugang zur Wirklichkeit zu verschaffen, lässt sich als Radikalisierung eines bereits unter territorialem Gesichtspunkt selbst auferlegten Exils betrachten. Nadja leistet gegenüber der deutschen Sprache Widerstand und lässt sie abklingen. Diesen Vorgang, der sich zu einem großen 88

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Bachmann: „Tagebuch“, in: Werke, Bd. 4, S. 70. Zum Schriftsteller und dessen Gebrauch der Sprache vgl. auch Bachmann: „Frankfurter Vorlesungen [Fragen und Scheinfragen]“, in: Werke, Bd. 4, S. 192 sowie Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, S. 83 f. Zu Wittgenstein und Heidegger vgl. Ingeborg Bachmann: „Sagbares und Unsagbares – Die Philosophie Ludwig Wittgensteins“, in: Werke, Bd. 4, S. 113–115. In Bachmanns philosophiegeschichtlicher Darstellung treten die metaphysikfeindlichen „Logistiker“ um den Wiener Kreis (für welche die Autorin durchaus kritische Worte übrig hat) gegen den von Heidegger repräsentierten „von Deutschland, dem Land der Depression, aus um sich greifenden Irrationalismus“ (Ingeborg Bachmann: „Ludwig Wittgenstein – Zu einem Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte“, in: Werke, Bd. 4, S. 13 f.). Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, S. 132 (der Satz findet sich in Oscar Wildes The Canterville Ghost). Vgl. auch das „Haus Österreich“ in Bachmann: Malina, in: Werke, Bd. 3, S. 96 u. 99. In einem Land wie Deutschland, das zu den „tätigen, bewegten Ländern“ gehört, ist ein Ausdruck wie „Hochtouren“ gängig, im langsamen und lahmen Österreich dagegen undenkbar (ebd., S. 254). Zum Österreichischen als einer geistigen Tradition äußert sich auch Wittgenstein: „Ich glaube, das gute Österreichische (Grillparzer, Lenau, Bruckner, Labor) ist besonders schwer zu verstehen. Es ist in gewissem Sinne subtiler als alles andere, und seine Wahrheit ist nie auf Seiten der Wahrscheinlichkeit.“ (Wittgenstein: Werkausgabe, Bd. 8, S. 454). Zur Metapher der Fremdsprache bzw. fremden Sprache der Literatur vgl. Kap. 6.3. Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 285. In diesem Sinne ist auch Nadja Österreicherin „in der Verneinung“ (Bachmann: „Drei Wege zum See“, in: Werke, Bd. 2, S. 453).

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Teil unbewusst abspielt, wird an einer Stelle in W. G. Sebalds Roman Austerlitz sehr eindringlich beschrieben; Austerlitz berichtet: […] letzthin bildete ich mir sogar ein, ich erahnte noch etwas vom Absterben der Muttersprache, von ihrem von Monat zu Monat leiser werdenden Rumoren, von dem ich denke, daß es eine Zeitlang zumindest noch in mir gewesen ist wie eine Art Scharren oder Pochen von etwas Eingesperrtem, das immer, wenn man auf es acht haben will, vor Schrecken stillhält und schweigt. Und gewiß wären die von mir in kurzer Frist ganz vergessenen Wörter mit allem, was ihnen gehörte, im Abgrund meines Gedächtnisses verschüttet geblieben, wenn ich nicht aufgrund einer Verknüpfung verschiedener Umstände an einem Sonntagmorgen den alten Wartesaal in der Liverpool Street Station betreten hätte […].92

In Simultan ist es die Begegnung mit Mr. Frankel, die zur deutschen Sprache zurückführt.93 Nadja ist zunächst begeistert, als sie merkt, dass offenbar ein anderer Gebrauch dieser Sprache möglich ist, und es scheint sogar, als werde auf einmal eine lange Zeit unterdrückte Sehnsucht freigelegt: „wie aufregend, daß sie wieder so reden konnte, nach zehn Jahren, es gefiel ihr mehr und mehr, und nun gar reisen, mit jemand aus Wien!“94 Hier bedeutet „so reden“ nicht bloß, dass Nadja die deutsche Sprache nicht unter der von ihr gesetzten Bedingung „für den Gebrauch“ verwendet; sie ist zudem bald wieder in der Lage, den richtigen – Wienerischen – Sprachton zu treffen: […] vor der Ausfahrt in Salerno, die sie eine Stunde lang nicht finden konnten, gab es dies und jenes zu bemerken, einmal französisch, dann wieder englisch, italienisch konnte er noch nicht besonders gut, und mit der Zeit nahm sie den alten Singsang wieder an, sie melodierte ihre deutschen Sätze und stimmte sie auf seine nachlässigen deutschen Sätze ein […].95

Zwar ist an dieser Stelle emphatisch von „deutschen“ Sätzen die Rede, die Betonung des Sprachklangs deutet jedoch auf das Wienerische hin. Zwischen Nadja und Mr. Frankel stellt sich eine sprachliche Übereinstimmung ein; dabei wird deutlich, dass Nadja anfänglich ihres Gesprächspartners bedarf, um ihrer Rede jenen „alten Singsang“ zu verleihen, den er, im Gegensatz zu ihr, noch mit Nachlässigkeit beherrscht. Laut, Klang, Tonfall, Melodie, Gesang kennzeichnen für Heidegger die „Mundart“ – und jede Mundart entspricht aufgrund ihrer Eigentümlichkeit „des Lautens und Tönens im Sprechen“ einer bestimmten „Landschaft“;96 in Unterwegs zur Sprache heißt es ferner: 92

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W. G. Sebald: Austerlitz. Frankfurt/M.: Fischer 2003, S. 203. Über den Protagonisten von Nabokovs The Real Life of Sebastian Knight, der jahrelang kein Russisch mehr spricht, berichtet der Erzähler: „Ich will gern glauben, dass er sich einredete, er hätte es vergessen […]. Aber eine Sprache ist ein lebendes körperliches Wesen, das man nicht so leicht abstreifen kann“ (zit. n. Obendiek: Der lange Schatten, S. 88). So könnte man Mr. Frankel zu denjenigen Männerfiguren aus dem Spätwerk Bachmanns zählen, die als „Träger des Verdrängten“ auftreten (Grimm-Hamen: „Der Jäger und seine Beute“, in: „Über die Zeit schreiben“, Bd. 1, S. 216). Vgl. dazu Kap. 5.9. Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 285. Ebd., S. 284 f. Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 12, S. 193 f.

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Daß die Sprache lautet und klingt und schwingt, schwebt und bebt, ist ihr im selben Maße eigentümlich, wie daß ihr Gesprochenes einen Sinn hat. Aber unsere Erfahrung dieses Eigentümlichen ist noch arg unbeholfen […]. Schon allein der einfache Sachverhalt, daß wir die landschaftlich verschiedenen Weisen des Sprechens die Mundarten nennen, ist kaum bedacht. Ihre Verschiedenheit gründet nicht nur und nicht zuerst in unterschiedlichen Bewegungsformen der Sprachwerkzeuge. In der Mundart spricht je verschieden die Landschaft […].97

Heidegger versteht „Landschaft“ nicht als Metapher, es geht ihm um die Verbindung von Sprache und Erde, um „Bodenständigkeit“.98 Vor diesem Hintergrund könnte man Nadjas Wiederaneignung der von Mr. Frankel zurückgebrachten Sprache mit Deleuze und Guattari eine „Reterritorialisierung durch den Dialekt, die bodenständige Lokalsprache“ nennen.99 In Simultan bedeutet Reterritorialisierung nicht etwa eine Rückkehr nach Wien, sondern die Artikulation der Wiener Sprache, deren Eigentümlichkeit unter anderem im Klang begründet liegt.100 Welche besondere Wirkung der eigentümliche Klang der Muttersprache haben kann, gerade dann, wenn man dieser über längere Zeit entzogen gewesen ist, beschreibt Humboldt folgendermaßen: Träte nicht die Sprache durch ihren Ursprung aus der Tiefe des menschlichen Wesens auch mit der physischen Abstammung in wahre und eigentliche Verbindung, warum würde sonst für den Gebildeten und Ungebildeten die vaterländische eine so viel grössere Stärke und Innigkeit besitzen, als eine fremde, dass sie das Ohr, nach langer Entbehrung, mit einer Art plötzlichen Zaubers begrüsst und in der Ferne Sehnsucht erweckt? Es beruht dies sichtbar nicht auf dem Geistigen in derselben, dem ausgedrückten Gedanken oder Gefühle, sondern

97

Ebd. Vgl. bereits ebd., S. 191 sowie die lapidare Version: „Die Sprache ist die Zunge, ist Mundart.“ (Ebd., S. 232). Die frühen Erzählungen Bachmanns ließen sich als literarische Umsetzung der Beziehung zwischen Landschaft, Heimat und Sprache betrachten (vgl. dazu Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 53–59, bes. S. 58). Thomas Mann schreibt über Lübeck: „Gibt es denn nun ein Empfangen der Landschaft durch das Ohr, musikalisch rezipierte Landschaft, gehörte und wieder hörbar gemachte Landschaft sozusagen? Doch, es gibt dergleichen, […] das ist die Sprache […] als Stimmung, Stimmklang, Tonfall, Dialekt, als Heimatlaut, Musik der Heimat, und wer sie hörbar mache, der beschwöre auch den Geist der Landschaft, mit der sie so innig verbunden, deren akustische Erscheinungsform sie ist.“ (Th. Mann: „Lübeck als geistige Lebensform“, in: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 11, S. 390). 98 Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 12, S. 194. 99 Deleuze/Guattari: Kafka, S. 35; Hvh. d. Vf. Dem französischen Original fehlt jedoch das Bodenständige, es heißt: „reterritorialisation par dialecte ou patois, langue vernaculaire“ (Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Pour une littérature mineure. Paris: Minuit, 1975, S. 45). Eine solche Reterritorialisierung kann zwar „revolutionäre Bewegungen fördern“, doch im Grunde sehen Deleuze und Guattari darin „die reaktionärste und ödipalste aller Reterritorialisierungen […], o Mamma, o süße Heimat, o Waldesluhuhust“ (Deleuze/Guattari: Kafka, S. 35) bzw. „oh maman, ah ma patrie, ma cabane, ollé ollé“ (Deleuze/Guattari: Kafka. Pour une littérature mineure, S. 45). Die Begriffe Deterritorialisierung bzw. Reterritorialisierung verwendet in Bezug auf Bachmanns Sprache auch Larcati (vgl. Larcati: Ingeborg Bachmanns Poetik, S. 19, 40 f., 188, 194–196 u. 220–239). 100 Vgl. auch die bereits erwähnte semantische Eigentümlichkeit der Wendungen „Würstel mit Kren“ und „gschlenkertes Krokodil“, mit der sich der Klang wiederum verbindet.

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Simultan

gerade auf dem Unerklärlichsten und Individuellsten, auf ihrem Laute; es ist uns, als wenn wir mit dem heimischen einen Theil unseres Selbst vernähmen.101

Da Nadja ihre Muttersprache nicht irgendwo erklingen hört, sondern nach langem Versagen wieder aus sich selbst hervorbringt, dürfte in ihrem Fall die Wirkung noch stärker sein. Humboldt erkennt eine Verbindung zwischen Individuum, dessen „physische[r] Abstammung“ (einem Vaterland, einem Ursprungsort oder, mit Heidegger, einer bestimmten Landschaft) und der dazugehörigen Sprache. Ist diese Sprache abwesend, d. h., verlässt man den eigentlichen Ort dieser Sprache, so wird durch das Vernehmen ihres Lautes die Verbindung unmittelbar wieder hergestellt. Und indem man einen bestimmten Laut hört und als „heimisch“ identifiziert, identifiziert man sich selbst: mit der Sprache und mit ihrem Ort.102 Der Protagonistin von Simultan kann jedoch eine solche Identifikation nicht gelingen; ihre nicht ausdrücklich formulierte, aber spürbare Hoffnung auf eine Wiederbesetzung der aufgegebenen Gebiete der Muttersprache ist nicht ganz zu erfüllen. Erst ein Paar Whiskys hatten sie glauben lassen können, es gäbe für sie die Möglichkeit, Verlorenes zurückzugewinnen: Sie wußte bloß nicht, was sie deswegen einander zu sagen hatten, nur weil sie beide aus dieser Stadt kamen und eine ähnliche Art zu sprechen und beiseite zu sprechen hatten, vielleicht hatte sie auch nur, nach einem dritten Whisky auf der Dachterrasse im Hilton, geglaubt, er bringe ihr etwas zurück, einen vermißten Geschmack, einen fehlenden Tonfall, ein geisterhaftes Gefühl von einem Daheim, das nirgends mehr für sie war.103

101

Humboldt: „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues“, in: Gesammelte Schriften, 1. Abt., Bd. VII, S. 59. Analog dazu heißt bei Jacob Grimm: „Die Sprache gleich allem Natürlichen und Sittlichen ist ein unvermerktes, unbewusstes Geheimnis, welches sich in der Jugend einpflanzt und unsere Sprechwerkzeuge für die eigentümlichen vaterländischen Töne, Biegungen, Wendungen, Härten oder Weichen bestimmt; auf diesem Eindruck beruht jenes unvertilgliche, sehnsüchtige Gefühl, das jeden Menschen befällt, dem in der Fremde seine Sprache und Mundart zu Ohren schallt; zugleich beruhet darauf die Unlernbarkeit einer ausländischen Sprache, d. h. ihrer innigen und völligen Übung.“ (Zit. n. Wert und Ehre deutscher Sprache, S. 271). 102 Eine akustische Erfahrung der Muttersprache findet sich auch in Drei Wege zum See. Elisabeth erkennt Trottas Vetter Branco aufgrund seiner besonderen Aussprache: „er sprach dieses harte Deutsch, das ihr vertraut war, nur fiel ihr einfach nicht ein, was daran vertraut war“ (Bachmann: „Drei Wege zum See“, in: Werke, Bd. 2, S. 474). Dieses Deutsch ist ihr „vertraut“, weil schon ihre Mutter „das harte Deutsch der Slawen gesprochen“ hatte (ebd., S. 452). 103 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 285. Mr. Frankel denkt seinerseits, er habe Nadja „so bekommen […], als könne etwas Einfaches sich wiederherstellen in seinem Leben, eine in Vergessenheit geratene schmerzliche Freude“, und er stellt dann fest: „I won’t have me hoping that it’s possible to be happy, but I couldn’t help that, I was immediately happy with her.“ (Ebd., S. 292 f.). Anders verhält es sich in Drei Wege zum See, wo Trotta – „ein wirklich Exilierter und Verlorener“ – „seiner Herkunft wegen“ Elisabeth lehrt, „die Fremde als Bestimmung [zu] erkennen“ (Bachmann: „Drei Wege zum See“, in: Werke, Bd. 2, S. 415 f.).

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Nirgends wie an dieser Stelle wird Nadja bewusst, dass es in ihrem Leben einen „vermissten“, einen „fehlenden“ Teil gibt.104 Eine Heimat hat sie nicht mehr, auch kein Daheim, nur einen „Standplatz“ – und dieser ist das Hotel, in dem sie jeweils wohnt: „je weiter sie sich entfernte von ihrem Standplatz, der wichtiger für sie war als für andere ein Zuhause und von dem ein Sich-Entfernen daher viel heikler ist, desto unsicherer fühlte sie sich.“105 Doch Nadja ist auch mit Bezug auf die Sprache unbehaust. Wenn Mr. Frankel der Mann ist, „der ihr die Sprache zurückgab“,106 so handelt es sich dabei in erster Linie um die Muttersprache, aber auch um die Sprache überhaupt. In der Tat thematisiert Bachmanns Text, wie Hapkemeyer feststellt, nicht nur den „Verlust der Muttersprache als eines existentiellen Bezugsfeldes“, sondern darüber hinaus einen allgemeineren Sprachverlust, den „Verlust von besprechbaren Inhalten“, der beide Figuren immer wieder kommunikationsunfähig macht.107 Die gemeinsame Muttersprache, stets von all den anderen Sprachen umgeben, die Nadja und Mr. Frankel sprechen, führt ihrem Dialog nicht notwendigerweise Inhalte zu: Nadja weiß nicht, „was sie deswegen einander zu sagen hatten, nur weil sie beide aus dieser Stadt kamen und eine ähnliche Art zu sprechen und beiseite zu sprechen hatten“. Tiefgehende Gespräche, Übereinstimmung und Verständigung stellen sich nicht aufgrund der Sprache von selbst ein, auch wenn Nadja dies zu Beginn noch glaubt: Sie dachte, nichts sei einfacher, als mit jemand aus demselben Land beisammen zu sein, jeder wußte, was er sagen durfte und was nicht und wie er es sagen mußte, es war ein geheimer Pakt da, und was hatte sie sich alles anhören müssen, von anderen, man konnte doch nicht immerzu erklären, hier ist die Grenze für mich, bis hierher und nicht weiter.108

Mit Mr. Frankel verhält es sich nicht grundsätzlich anders als mit jenen „anderen“ (gemeint sind andere Männer, mit denen Nadja kein Deutsch redete), insofern die gemeinsame Sprache und die gemeinsame Herkunft nicht unmittelbar gemeinsame Grenzen bedeuten. Letztlich ist, wie noch ausführlich dargelegt wird, zwischen den beiden Figuren trotz ihrer Gemeinsamkeiten und Hoffnungen nichts weiter als „die fortschreitende 104

Über Mr. Frankel, den, so wie Nadja, angeblich der Beruf weg von Wien und durch die ganze Welt treibt, heißt es: „Er hatte nicht den Wunsch, nach Wien zurückzukehren, es war zuviel abgebrochen, und was sollte er, mit seinem Beruf, dort auch tun. Nostalgie? Nein, etwas anderes, manchmal eine grundlose Traurigkeit.“ (Ebd., S. 303). 105 Ebd., S. 294. Über Ulrichs Rückkehr nach Wien in Musils Der Mann ohne Eigenschaften schreibt Bachmann: „Er erinnert sich, daß man der Heimat die geheimnisvolle Fähigkeit zuschreibt, den Menschen Wurzeln schlagen zu lassen –“ (Ingeborg Bachmann: „Der Mann ohne Eigenschaften“, in: Werke, Bd. 4, S. 86). Bei Musil „erinnerte sich Ulrich, daß man der Heimat die geheimnisvolle Fähigkeit zuschreibe, das Sinnen wurzelständig und bodenfest zu machen, und er ließ sich in ihr mit dem Gefühl eines Wanderers nieder, der sich für die Ewigkeit auf eine Bank setzt, obgleich er ahnt, daß er sofort wieder aufstehen wird.“ (Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 19). 106 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 289; Hvh. d. Vf. 107 Hapkemeyer: Die Sprachthematik in der Prosa Ingeborg Bachmanns, S. 84. 108 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 303.

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Simultan

Annäherung und die annähernde Erfüllung“109 möglich. Es sei hier nur vorläufig im Rückbezug auf Heidegger formuliert, dass jene „Bodenständigkeit“, die von der Mundart wenn nicht gegeben, so zumindest in Aussicht gestellt wird, in die „Bodenlosigkeit des Geredes“110 verkehrt zu werden scheint. Die Dialoge zwischen Nadja und Mr. Frankel verlaufen zum Teil erschreckend monologisch. Einen einzigen Erfolg kann Nadja der deutschen Sprache verdanken. Nachdem sie sich durch die Begegnung mit Mr. Frankel dieser Sprache wieder genähert hat, denkt sie auf Deutsch über ihre Vergangenheit nach. Und so kommt auf einmal „aus ihr die Antwort auf eine unwichtig gewordene Frage, auf ein immer leiseres, fast schon erlöschendes Warum“.111 Es geht dabei um ihre frühere Beziehung zu einem gewissen Jean Pierre, mit dem sie in Genf lebte und mit dem „es fast zu einer Heirat gekommen“ war.112 Die unergründliche Frage ist, warum diese Beziehung zu Ende ging: […] über das Warum hatte sie jahrelang nachgedacht, und nie kam sie auf den Grund, nie vermochte sie einzusehen, was damals vorgefallen war. […] Die Antwort kam, weil sie sie nicht französisch suchte, sondern in ihrer eigenen Sprache, und weil sie jetzt mit einem Mann reden konnte, der ihr die Sprache zurückgab […].113

Französisch ist die Sprache der vergangenen Beziehung. Solange Nadja diese Sprache nicht verlässt, bleibt sie in ihren Erinnerungen an Jean Pierre verfangen; im Nachhall all der erinnerten Gespräche ist keine Distanz möglich. Mit Blick auf Mr. Frankel als denjenigen Mann, von dem sie sich eine andere Sprache und ein anderes Sprechen erhofft, wird Nadja klar, dass das Problem mit Jean Pierre ein Problem der Sprache war. Allerdings trug daran nicht das Französische an sich die Schuld, sondern vielmehr eine bestimmte Art zu sprechen, und vor dieser, so wird sich zeigen, schützt auch die Muttersprache nicht. 109

Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 1227. Über den utopischen Zustand der Liebe, der immer eine auch sprachliche Utopie begründet, vgl. das folgende Kapitel. Zur gemeinsamen Sprache und den gemeinsamen Grenzen vgl. Kap. 5.6. 110 Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 2, S. 224. In Sein und Zeit spricht Heidegger zudem von der „Bodenlosigkeit des uneigentlichen Seins“ (ebd., S. 237). Das „Gerede“ kommt bei Bachmann in der Erzählung Probleme Probleme vor; darauf und auf Heideggers „Gerede“ verweist Hapkemeyer: Die Sprachthematik in der Prosa Ingeborg Bachmanns, S. 83. 111 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 289. 112 Ebd., S. 287. Nach dieser Erfahrung liegt Nadjas Standpunkt fest: „nein, heiraten, nie, sie würde ganz gewiß nie heiraten.“ (Ebd., S. 286). Jean Pierre wird später ein Verhältnis mit Elisabeth haben, der Protagonistin von Drei Wege zum See; dort heißt es: „Jean Pierre, der spätere, sagte, daß er einmal mit einer Wienerin, einer unglaublich ehrgeizigen Person, gelebt habe, einer Simultandolmetscherin, aber zum Glück gebe es noch Frauen wie sie, Elisabeth, die nicht eines Berufes wegen einen Mann verlassen würden, und er fand, sie seien in einer ähnlichen Lage, denn offenbar sei sie ja immerzu von Idioten verlassen worden, und es sei schade, daß er, seit dieser Affaire, einen Knacks habe und ihn ein Gedanke an Heirat würge, selbst bei ihr.“ (Bachmann: „Drei Wege zum See“, in: Werke, Bd. 2, S. 448). Möglicherweise handelt es sich bei der später erwähnten „‚tyrolienne‘, die gar keine war“ (ebd., S. 479) ebenfalls um Nadja. 113 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 287 u. 289.

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Was die Muttersprache hier jedoch leistet, ist ein anderes Erzählen der eigenen Geschichte, weil sie – im Gegensatz zum Französischen, dessen Worte stets Färbungen und Schattierungen aus einer vergangenen Zeit aufweisen – in Bezug auf Jean Pierre nicht besetzt ist.114 Dank anderer Worte einen anderen Blick auf sich selbst gewinnen: Dies kann sich als ein großer Vorteil sprachwechselnder oder mehrsprachiger Individuen erweisen. Die Tatsache, dass jede Sprache anders bedeutet, wird dabei nicht zur abstrakten Regel erhoben, sondern bezieht sich zunächst nur auf ein Individuum und auf seine einzigartige Lebensgeschichte. Auch in diesem Sinn mag Bachmann in ihrer Vorlesung über das schreibende Ich an jene Stelle aus Italo Svevos La coscienza di Zeno erinnern, an der Zeno Cosini feststellt, sein Leben wäre ein ganz anderes geworden, hätte er es anstatt auf Italienisch in seinem Triestiner Dialekt erzählt.115 Zusammenfassend lassen sich aufgrund der bisherigen Ausführungen die folgenden Merkmale der Muttersprache festhalten. Die Muttersprache erscheint in Simultan als eine Sprache, die (1) zwischen ihren Sprechern eine besondere Art der „Zusammengehörigkeit“ begründet, (2) einem bestimmten Ort oder Raum zugeordnet ist (Herkunft), (3) sich als unübersetzbar erweist, (4) einen eigentümlichen Klang besitzt, (5) für eine vergangene oder verdrängte Zeit steht, (6) ein anderes Erzählen der eigenen Geschichte ermöglicht.116 Nur in dieser letzten Hinsicht macht Nadja eine gewinnbringende Erfahrung mit ihrer Muttersprache; ansonsten wird die Bedeutung der Muttersprache im Verlauf der Erzählung relativiert oder in Frage gestellt. Denn die Simultanübersetzerin scheitert in ihrem Versuch, sich über die deutsche Sprache zu re-territorialisieren, insofern sie offenbar ihre Vergangenheit nur zu einem kleinen Teil bewältigen und ihr eigenes Verhältnis zur Muttersprache nicht entscheidend ändern kann. Zudem wird die Hoffnung auf eine totale Übereinstimmung mit Mr. Frankel aufgrund der gemeinsamen Muttersprache enttäuscht. Zwar wird an der Muttersprache emphatisch gezeigt, wie jede Sprache oder jede Mundart etwas Unübersetzbares an sich hat,117 das angeblich 114

Zum Problem der ‚besetzten‘ Sprache vgl. das folgende Kapitel. Vgl. Ingeborg Bachmann: „Frankfurter Vorlesungen [Das schreibende Ich]“, in: Werke, Bd. 4, S. 228 f. Bachmann geht darauf nicht näher ein; nur implizit heißt es, Zweisprachigkeit bedeute als Möglichkeit eines Sprachwechsels, „sein Leben so, aber auch ganz anders erzählen“ zu können. Zeno behauptet gegen Ende des Romans über seinen Analytiker: „Egli non studiò che la medicina e perciò ignora che cosa significhi scrivere in italiano per noi che parliamo e non sappiamo scrivere il dialetto. Una confessione in iscritto è sempre menzognera. Con ogni nostra parola toscana noi mentiamo! Se egli sapesse come raccontiamo con predilezione tutte le cose per le quali abbiamo pronta la frase e come evitiamo quelle che ci obbligherebbero di ricorrere al vocabolario! È proprio così che scegliamo della nostra vita gli episodi da notarsi. Si capisce come la nostra vita avrebbe tutt’altro aspetto se fosse detta nel nostro dialetto.“ (Italo Svevo: La coscienza di Zeno. Edizione critica a cura di Bruno Maier. Pordenone: Edizioni Studio Tesi, 1985, S. 409 f.). Später heißt es: „una confessione fatta da me in italiano non poteva essere né completa né sincera.“ (Ebd., S. 420). 116 Zur Muttersprache vgl. allgemein Kap. 6. 117 Im Nachwort zu den Ungaretti-Übersetzungen merkt Bachmann an, es sei unmöglich, das italienische Wort „allegria“ ins Deutsche zu übersetzen, da es eine spezifisch italienische Form der Heiterkeit bezeichnet (Ingeborg Bachmann: [Nachwort], in: Werke, Bd. 1, S. 618 f.). Vgl. auch Benja115

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Simultan

nur von ihren jeweiligen native speakers geteilt werden kann. Doch die gemeinsamen Unübersetzbarkeiten garantieren noch keine Verständigung und keine wirkliche Nähe. Auch unabhängig von den Sprachen dominiert das Gerede; und gerade die Kommunikation zwischen Mann und Frau ist in Bachmanns Werk von schwerwiegenden Störungen geprägt. Ausnahmen sind selten und flüchtig – sie finden sich etwa in der Sprache der Liebe.

5.5. Die Sprache der Liebe Das, was „aus allen Büchern herauskommt“, ist nach Ansicht Bachmanns die Tatsache, „daß alle Menschen in allen Beziehungen aneinander vorbeireden“.118 So ist nun anhand von Simultan zu fragen, wann und inwiefern zwischen Nadja und Mr. Frankel Kommunikation gelingt oder misslingt, denn oft erwecken ihre Dialoge den Eindruck, aus aneinandergereihten Monologen zusammengesetzt zu sein.119 Immer wieder bricht die Konversation ab, zumeist an signifikanten Stellen, wie beispielsweise als Mr. Frankel von seinem Leben in Wien erzählt: „Er hatte in Hietzing gewohnt, dann brach er ab, etwas mußte also noch in Hietzing geblieben sein“.120 Vieles aus der Vergangenheit der Figuren bleibt halb oder ganz verschwiegen, und die zu Beginn der Erzählung noch sprudelnde Unterhaltung über den Beruf versiegt spätestens mit Nadjas Satz: „ich weiß auch nicht, warum wir von diesem Zeug reden müssen, ich möchte nichts, was sonst jeden Tag ist“.121 Die Enttäuschung über das Misslingen ihrer Gespräche wird gegen Ende der Erzählung noch deutlicher zum Ausdruck kommen. In ihren mehrsprachigen Gesprächen verwenden bzw. verfolgen Nadja und Mr. Frankel immer wieder ein besonderes Idiom, das man allgemein als die Sprache der Liebe bezeichnen könnte. Bereits Robert Musil bezeichnete den Menschen als „das sprechende Tier“ und begründete dies damit, dass es „das einzige [Lebewesen sei], das auch zur Fortpflanzung der Gespräche bedarf“: Seine „Liebseligkeit“ nämlich sei „mit der Redseligkeit im Wesen verbunden“, und die Liebe, so Musil, „ist das gesprächigste aller

mins These von der Übersetzbarkeit der Sprachen als „Medien verschiedener Dichte“ (Benjamin: „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, in: Gesammelte Schriften, Bd. II/I, S. 151). 118 Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, S. 122. 119 Vgl. Hapkemeyer: Die Sprachthematik in der Prosa Ingeborg Bachmanns, S. 81. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass die Redewiedergabe in Simultan, wie bereits dargelegt, elliptisch und heterogen gestaltet ist. 120 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 285. Dusar stellt fest, dass Nadjas und Mr. Frankels Aussagen oft „dort ab[brechen], wo eine Wahrheit zutage treten könnte.“ (Dusar: „Identität und Sprache“, in: Bild-Sprache, S. 74). 121 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 306.

Die Sprache der Liebe

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Gefühle und besteht zum großen Teil ganz aus Gesprächigkeit.“122 Bemerkenswert an der Sprache der Liebe ist, „dass die Sätze eine Bedeutungsversch[i]ebung durchmachen“, schreibt Bachmann; es finde sogar ein grundlegender Sprachwechsel statt: „Ein Mensch, der sich verliebt, fühlt ja selber sehr rasch, wie er in eine andere Sprache übersiedelt“; diese neue Sprache erscheint in besonderem Maße als mehrstimmig, denn der Zugang zu ihr ist kaum möglich, „ohne sich Stimmen v[o]rzustellen, die Worte werden plötzlich ein wenig verrückt, sie werden unterirdisch genährt.“123 Die Liebenden prägen eine nur ihnen eigentümliche Sprache. So verfügen das Ich und Ivan in Malina über gemeinsame Sätze: Es gibt die Zeitsätze, die Beispielsätze, die Müdigkeitssätze, die Schimpfsätze.124 An vielen verschiedenen Beispielen ließe sich zeigen, inwiefern „die Sprache der Liebe eine Geheimsprache ist“.125 Ganz explizit macht dies etwa eine – mehrsprachige – Stelle aus einem Entwurf Bachmanns zum Franza-Roman; die Liebe, um die es sich handelt, ist wie bei Musil eine Geschwisterliebe, und es heißt: Er [Martin, Franzas Bruder] merkte, daß sie [Franza] plötzlich nicht weiterwußte, sie würde also gleich ins Italienische fallen, ihrer beider Geheimsprache, einem Gemisch aus Operntexten, Dialekten, die sie von den Wallischen aufgeschnappt hatten, aus Dante und Behördenitalienisch. Alfin sei giunto. Sai. Sono finita, e stanca e morta e muta.126

Freilich können sich die Liebenden auch ohne Sprachwechsel über geheime Zeichen verständigen.127 Doch neben den Chiffren und den sprechenden Namen, mit denen die Liebe immer wieder beschworen wird, begehrt der liebende Mensch zudem den Geist 122

Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 1219. Zit. n. Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 228 f. Weigel bringt das Stimmen-Zitat mit Bachtins Dialogizitätsprinzip in Verbindung. 124 Vgl. Bachmann: Malina, in: Werke, Bd. 3, S. 40 (Beispielsätze), S. 73 f. (Müdigkeitssätze), S. 85 f. (Schimpfsätze) u. S. 253 (Zeitsätze). Vgl. ferner folgende Stelle: „Kopfsätze haben wir viele, haufenweise, wie die Telefonsätze, wie die Schachsätze, wie die Sätze über das ganze Leben. Es fehlen uns noch viele Satzgruppen, über Gefühle haben wir noch keinen einzigen Satz, weil Ivan keinen ausspricht, weil ich es nicht wage, den ersten Satz dieser Art zu machen, doch ich denke nach über diese ferne fehlende Satzgruppe, trotz aller guter Sätze, die wir schon machen können. Denn wenn wir aufhören zu reden und übergehen zu den Gesten, die uns immer gelingen, setzt für mich, an Stelle der Gefühle, ein Ritual ein, kein leerer Ablauf, keine belanglose Wiederholung, sondern als neu erfüllter Inbegriff feierlicher Formeln, mit der einzigen Andacht, deren ich wirklich fähig bin.“ (Ebd., S. 48). 125 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 1102. 126 Ingeborg Bachmann: „[Das Buch Franza, Textstufe II, Entwurf Romananfang]“, in: „Todesarten“Projekt, Bd. 2, S. 15. Vgl. auch ebd., S. 23. 127 Bertolt Brecht verrät in einem Sonett, wie die Worte zum Berühren eingesetzt werden können: „Ernannten wir ein unauffällig Wort / Das sollte heißen: Ich berühre Dich. […] Und wenn um uns die fremden Laute standen / Gebrauchten wir geläufig dieses Wort / Und wußten gleich: wir waren uns gewogen.“ (Bertolt Brecht: „Das erste Sonett“, in: Werke. Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 11. Hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei u. a. Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag; Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988, S. 185). Brechts Geliebte Margarete Steffin bekräftigt in ihrem erwidernden Sonett: „Das Wort ist mir Umarmung, ist mir Kuß.“ (Ebd., S. 361). Das geheime Wort war in der Tat „unauffällig“, nämlich ‚Grüß Gott‘ (vgl. ebd.). 123

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des geliebten Menschen, dessen Rede, dessen Gedanken, dessen Erinnerungen, und sucht auf diese Weise „die bekannte, wunderbare Übereinstimmung“.128 Nadja scheint in der Tat „auch sprachlich nach einer Vereinigung mit dem geliebten Geschlechtsandern [zu] streben“,129 obgleich diese Vereinigung unmöglich gelingen kann: Wie ein verrückt gewordener Instinkt klettert die Sprache der Verliebten darum immer steiler in die Höhe und träumt von einer Umarmung im Aether, um dann um so platter auf die Erde zu fallen.130

Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden drei Aspekte der Sprache der Liebe herausgearbeitet, die mit der Frage der Übersetzung bzw. Übersetzbarkeit zusammenhängen. Erstens geht es um die Vorstellung einer eindeutigen Sprache, die in Simultan im Sinne einer universalen Einsprachigkeit oder aber einer unmissverständlichen Körpersprache anvisiert wird; es wird zweitens gezeigt, wie die Sprache von (Eigen-)Namen besetzt ist und wie diese Namen – dies gilt insbesondere für den Liebeswortschatz – nicht wiederholt oder übertragen werden können; drittens wird erläutert, inwiefern Simultaneität sowohl ein Ideal als auch ein Problem der Liebe darstellt.

5.5.1. Einsprachigkeiten Sowohl Nadja als auch Mr. Frankel beschreiben den Zustand der Einsprachigkeit. Allerdings haben sie dabei eine jeweils unterschiedliche Sprache im Sinn. Einig sind sie sich offenbar nur darüber, dass ‚einsprachig‘ unter Umständen auch als Schimpfwort gelten kann. So wird Mr. Frankels Vorgesetzter bei der FAO Mr. Keen (Nadja prägt diesen Namen, „denn er schien immerzu keen auf etwas zu sein, auch auf sie“) als ein recht unangenehmer Mensch, ein „hemdsärmerliger Amerikaner, un casse-pied [sic] monolingue, emmerdant“, beschrieben.131 Einsprachigkeit wird hier als mangelhafter Zustand und als Form geistiger Beschränktheit aufgefasst. Einsprachig par excellence sind immer die Amerikaner, die es nicht nötig haben, andere Sprachen zu lernen, weil ihre amerikanisch-englische Muttersprache, bzw. eine reduzierte und vereinfachte Ausprägung davon, weltweit als Verkehrssprache eingesetzt wird – die Sprache von Mr. Frankels Kollegen bei der FAO schrumpft zu: „well well, okay okay, you got that?“132 128

Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 1105. Mauthner: Das philosophische Werk, Bd. II/1, S. 41. 130 Ebd. 131 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 287. So in den Worten Mr. Frankels, der aber „sich ohnmächtig zugeben musste“, Mr. Keen sei „sonst ein ganz entwaffnend hilfsbereiter und argloser Mensch.“ Dagegen ist Nadja in ihrer Erinnerung an Mr. Keens Avancen „disgusted“ (ebd.). 132 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 292. Von einer ähnlichen Sprache ist in Drei Wege zum See die Rede, als die Protagonistin sich in London aufhält: „die Gäste und die Angestellten verständigten sich in einem Englisch, das auf eine geringe Anzahl von Wendungen beschränkt war, und wer eine mehr verwendete, wurde nicht mehr verstanden, es war nicht eine lebende Sprache, die gesprochen wurde, sondern ein Esperanto, und der Erfinder dieser Weltsprache wäre vermut129

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Dies also bietet der sprachliche Alltag einer internationalen Organisation wie der FAO. Doch Mr. Frankel hat die Vision einer anderen Einsprachigkeit; er macht nämlich die Prognose, alle Sprachen würden eines Tages verschwunden sein. Sein Ausgangspunkt ist das Phänomen des Sprachtodes, von dem in seinen Augen die deutsche Sprache schon betroffen ist: Deutsch, das ist doch schon im Verschwinden, sagte er, uns kommt es jedenfalls so vor, aber ob das auch die anderen schon zu merken anfangen, was meinst du? Als sie im Gehen waren, fing er wieder an: was meinst du, wird es einmal eine einzige Sprache geben? Sie hörte nicht zu oder hörte es wirklich nicht, und auf der Stiege lehnte sie sich an ihn, tat, als könnte sie nicht mehr gehen, und er zog sie mit sich.133

Wahrscheinlich redet Mr. Frankel deshalb vom „Verschwinden“ der deutschen Sprache, weil diese in seinem diplomatischen Beruf keine große Rolle spielt. Im Rückblick auf die Ausführungen über die Muttersprache lässt sich jedoch das Aussterben des Deutschen auch auf das Privatleben der beiden Hauptfiguren beziehen. Bezeichnend ist Nadjas Reaktion: Sie weiß zunächst keine Antwort auf Mr. Frankels Fragen, die auf sie – als Simultanübersetzerin – wie eine Provokation wirken müssen. Sie schweigt, hört weg und zeigt sich plötzlich wie gelähmt. Später greift Mr. Frankel noch einmal an; dieses Mal weist Nadja seine Vorstellung von Einsprachigkeit als romantische bzw. infantile Phantasterei zurück: Mr. Frankel fragte, glaubst du, daß die Menschen einmal eine einzige Sprache haben werden? Wie kommst du nur darauf, was für eine Idee! […] Soviel war ja im Verschwinden, aber da bleiben noch deine vierzig Sprachen in Indien und vierzig allein in dem kleinen Gabun und die Sprachen müssen also in die Hunderte oder Tausende gehen, jemand wird das schon zusammengezählt haben, ihr zählt doch alles zusammen, sagte sie boshaft, nein, im Ernst, sie könne es sich nicht vorstellen, wußte aber keinen Grund dafür anzugeben, er hingegen konnte es sich durchaus vorstellen, und sie entdeckte, daß er ein heilloser Romantiker war, und das gefiel ihr nun wieder besser als ihr erster Eindruck von ihm, daß er ein praktischer und erfolgreicher Mann sein müsse. Für mich wäre es eine große Erleichterung, wenn die Sprachen verschwänden, sagte sie, nur würde ich dann zu nichts mehr taugen. Ein Ro134 mantiker, oh was für ein Kind […].

Nadja kann Mr. Frankels These nicht widersprechen (sie weiß „keinen Grund […] anzugeben“), denn die Existenz von Tausenden von Sprachen auf der Welt ist noch kein Argument gegen eine in die Zukunft projizierte, utopische Einsprachigkeit der Menschen. In sarkastischem Ton heißt die Simultanübersetzerin eine solche Einsprachigkeit als „große Erleichterung“ willkommen; diese Erleichterung bedeutete aber zugleich, dass Nadjas Existenz, die mit ihrem Beruf eins ist, überflüssig würde. lich erstaunt gewesen, daß es nun doch schon gelang, auf eine andre Weise zwar, aber immerhin, und sie verlernte rasch ihr Englisch und gebrauchte dieses verwünschte Esperanto“, dessen wichtigste Ausdrücke „‚I am sorry‘ und ‚I don’t know‘“ sind (Bachmann: „Drei Wege zum See“, in: Werke, Bd. 2, S. 406 f.). 133 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 291. 134 Ebd., S. 304.

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Wenn Nadja an eine einzige Sprache und also an die Möglichkeit der Einsprachigkeit glaubt, dann handelt es sich dabei weder um Deutsch noch um eine der „vierzig Sprachen in Indien“ noch um eine nicht näher bestimmte, allen Menschen gemeinsame Sprache. Es ist vielmehr die Sprache des Körpers in der Liebe: eine Sprache, in der der Körper aussagt und die Worte nur Kommentar- oder Hinweisfunktion haben.135 Oh, sagte sie, während sie sich langsam unter ihn schob und mit der Zunge seine Mundwinkel berührte, ja ljublju tebja, oh das ist eine komische – sie unterbrach sich – es ist eine traurige Geschichte. Ljublju tebja. Ein einziges Schiff oder gar eine Mine, nicht nur für getroffene Fische, auch für weit entfernte, ist furchtbar, fürchterlich sind diese Erschütterungen, Verstörungen, denn es dürfen auch die Fische heutzutage nicht mehr ruhig leben, und sie können nichts dafür. Kann ich denn etwas dafür? fragte sie, ich habe doch diese Furchtbarkeiten nicht erfunden, ich habe etwas anders erfunden, was? das habe ich erfunden, ja, das hast du erfunden, und sie kämpfte erbittert und wild für ihre Erfindung und sprachlos der einzigen Sprache entgegen, auf diese eine zu, die ausdrücklich und genau war.136

Die tragikomische Geschichte, auf die an späterer Stelle eingegangen wird, macht Nadja eifersüchtig. Daher kommen der Kuss und das zweifache russische ‚ich liebe Dich‘, „[Ja] ljublju tebja“: Sie sollen Mr. Frankel, obgleich er vermutlich gar kein Russisch versteht, von dem Gedanken an eine andere Frau abbringen. Auch will Nadja ihn von den „Furchtbarkeiten“ ablenken, denen „die Fische heutzutage“ ausgesetzt sind und denen sie beide ohnmächtig gegenüberstehen, und macht ihn stattdessen auf die Macht ihrer eigenen „Erfindung“ aufmerksam („das habe ich erfunden, ja, das hast du erfunden“). Im Austausch der Zärtlichkeiten wird „sprachlos“ eine Sprache erfunden, die „ausdrücklich und genau“ ist, weil sie ganz unmittelbar bedeutet. Bachmann hat die Sprache der Liebe in zahlreichen Texten verwendet und thematisiert.137 In einem Entwurf zu einer unvollendeten Erzählung mit dem Titel Geschichte einer Liebe geht es etwa um ein Liebespaar (sie ist Wienerin, er Venezianer), das sich regelmäßig an der Grenze zwischen Italien und Österreich trifft und das, im Unterschied zu Nadja und Mr. Frankel, über keine gemeinsame Sprache verfügt:

135

Dusar nennt sie eine „vorsemiotische körperliche Sprache“ (Dusar: „Identität und Sprache“, in: Bild-Sprache, S. 71). Rita Svandrlik weist zu Recht darauf hin, dass Nadja die Körpersprache auf zwei Ebenen verwendet: „a livello erotico, ma anche a livello di sintomo.“ (Rita Svandrlik: Ingeborg Bachmann: I sentieri della scrittura. Roma: Carocci, 2001, S. 243). Zu Nadjas Symptomen und zur Körpersprache der Krankheit vgl. Kap. 5.8. und 5.9. 136 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 302 f. 137 Wie die Liebe eine neue Sprache ermöglicht und diese zugleich erfordert, zeigt Bachmann in Der gute Gott von Manhattan und Ein Schritt nach Gomorrha. Die Sprache der Liebe im Sinne einer körperlichen Sprache ohne Worte findet sich auch in der Erzählung Ein Wildermuth, in der der Protagonist über seine (außereheliche) Liebesbeziehung zur Kellnerin Wanda sagt: „Ich habe mit diesem bleichen geduldigen Körper Wandas so übereingestimmt, so die Liebe vollzogen, daß jedes Wort sie gestört hätte und kein Wort, das sie nicht gestört hätte, zu finden war.“ (Bachmann: „Ein Wildermuth“, in: Werke, Bd. 2, S. 245). Zur Sprache der Liebe in Bachmanns Gedichten vgl. Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 149–161.

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[…] sie bemerkten, wenn sie sich Zärtlichkeiten sagten, wieder, daß sie keine gemeinsame Sprache hatten, sie einander nur annäherten, sie mit einem hoffnungslosen Akzent und er, verloren in der Geläufigkeit seiner eigenen, mit der er sie nicht ganz erreichte. Sie spielten um diese Sprachgrenzen herum mit erfundenen Worten, mit einer Liebessprache, mit Seufzern, im Schmerz und im Genuß. Daß es das gibt: einen Mann und eine Frau... Daß es das gibt, zwei Lager auf einem, zwei Sprachen, die sich wie eine einzige sprechen lassen wollen...138

Auch wenn sich hier die Liebenden nur annähern und aufgrund ihrer sprachlichen ‚Ungleichheit‘ nicht gänzlich erreichen können, entsteht eine „Liebessprache“, die all die (sprachlich bedingten) Unstimmigkeiten zwischen Mann und Frau wieder aufzuheben vermag. Die „Sprachgrenzen“ weisen zwar auf eine „Sprachfremdheit“ hin, doch sie markieren „zugleich ein Spielfeld der Hoffnung“, wie es in einem früheren Entwurf heißt.139 Und diese Hoffnung hätte es nicht geben können, wenn die Liebenden „die gleiche Sprache gehabt hätten und einander zu beurteilen fähig gewesen wären“.140 Im Gegensatz dazu scheinen bei Nadja und Mr. Frankel weder die Muttersprache noch die Mehrsprachigkeit eine solche Hoffnung in der Liebe einlösen zu können. Neben der Sprache der Liebe wird in Simultan eine weitere, eindeutige Körpersprache beschrieben. Um sich im lauten Tosen des Meeres zu verständigen, erfindet Mr. Frankel eine Gebärdensprache; mit diesem Zeichensystem will er Nadja signalisieren, wie sie am besten ins Wasser springen und wieder herauskommen kann: Vorn gingen die Wellen über den Felsen mit der weißlackierten Eisenleiter, unter dieser Leiter zog es das Wasser mit unfaßlicher Kraft weg, und die Wellen vertosten an den Felsen daneben. Ein ganzes Zeichensystem hatte er mit ihr ausgemacht, und er erwartete sie am besten an der Leiter. Ein Zeichen hieß: abwarten, ein andres, etwas näher, ein andres: wieder weiter hinaus, und dann: schnell, jetzt, komm! und dann schwamm sie blindlings und mit ganzer Kraft auf die Leiter zu, wo er stand, und sie ihn nicht mehr sah in der Gischt, er fing sie ab oder sie zog sich leicht, ohne seine Hilfe, hinauf. Es ging meistens gut, einmal schluckte sie viel Wasser, hustete, spuckte und mußte sich hinlegen.141

Diese nonverbale Zeichensprache ist im Grunde eine gut gemeinte Befehlssprache, der Nadja sich fügt. Es fragt sich aber, inwiefern sie als „funktionsfähig“142 anzusehen ist, denn sie kann nur glücklicher- oder zufälligerweise funktionieren, da Nadja „blindlings“ schwimmt und in der Gischt die Zeichen gar nicht sehen kann. Als später Mr. Frankel mit weiteren (nun verbalen) Anweisungen dafür sorgen möchte, dass Nadja 138

Ingeborg Bachmann: „Geschichte einer Liebe [GL-5]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 1, S. 57. Ingeborg Bachmann: „Geschichte einer Liebe [GL-2]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 1, S. 50. 140 Ebd. 141 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 299 f. 142 Für Hapkemeyer ist das nonverbale Zeichensystem „funktionsfähig“, die Körpersprache dagegen nur „halbwegs tragfähig“ (Hapkemeyer: Die Sprachthematik in der Prosa Ingeborg Bachmanns, S. 82 f.); es verhält sich aber genau umgekehrt. Auch Greber schätzt die Körpersprache als erfolgreich ein: „wortlos glückt die Kommunikation beim Wellentauchen durch ein verabredetes gestisches ,Zeichensystem‘“ (Greber: „Fremdkörper Fremdsprache“, in: Werke von Ingeborg Bachmann, S. 186). 139

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genau dann ins Wasser springt, wenn die Wellen am günstigsten sind, ist seine Sprache noch erfolgloser: Du mußt bis an den Rand vor, die Füße ganz vor, und sie krallte sich mit den Zehen an den glitschigen Felsen. Du gehst besser in die Knie und springst dann genau in die Welle hinein, dorthin, wo sie am höchsten ist. Jetzt. Sie sprang etwas zu spät und zwischen zwei Wellen. Sie schrie: wie war es denn? Nicht schlecht! Zu flach, mais c’était joli à voir, tu es... Was? Was? Tu es... Sie sprang noch einige Male vor dem Mittagessen, wartete immer zu lange, sprang im falschen Moment, ihr Bauch tat ihr weh, dann der Kopf, doch, ich spür es doch, er hielt das für ausgeschlossen […].143

Mr. Frankels Kompliment „tu es…“ wird vom Meeresrauschen verschluckt, und gerade dadurch erscheint der Text zweideutig, denn „tu es“ könnte auch Deutsch sein und sich als Imperativ in die Befehlssprache einordnen. Tatsache ist, dass Nadja den richtigen Moment immer wieder verpasst und sich, indem sie den Befehl nicht erfüllt, Schmerzen zufügt. Ihr stets verzögertes Springen ist bereits ein Hinweis auf das Problem der Simultaneität, das an späterer Stelle noch eingehend erörtert wird.

5.5.2. Zur Bedeutung der Namen Die Namensgebung als ein performativer Akt innerhalb der Sprache der Liebe findet sich in Bachmanns Werk an vielen Stellen.144 In Nadjas Fall zeigen die Namensgebung und der Name selbst, dass die vergangene und die gegenwärtige Liebesbeziehung in einem durchaus auch sprachlichen Widerspiel stehen. Im Lauf der Erzählung erinnert sich die Simultanübersetzerin mehrmals an ihren ehemaligen Geliebten Jean Pierre, dem sie, wie bereits erwähnt, allzu oft nicht zuhören konnte. So heißt es: […] dann redete er von etwas, was sie nicht interessierte, oder er erzählte ihr, wie jemand, der verkalkt ist, […] drei oder vier wichtige Ereignisse aus seinem Leben und gelegentlich noch einige kleinere Begebenheiten, sie kannte sie alle nach den ersten Tagen auswendig, und gesetzt den Fall, sie hätte […] vor einen Richter treten müssen, um sich zu verteidigen oder anzuklagen, so wäre weiter nichts herausgekommen, als daß es eine Zumutung für einen Mann war, wenn eine Frau ihm nicht zuhörte, aber auch eine Zumutung für sie, weil sie ihn anhören mußte, denn meistens hatte er sie belehrt oder ihr etwas erklärt, das Thermometer und das Barometer, wie Eisenbeton hergestellt wurde und wie Bier, was der Raketenantrieb war und warum Flugzeuge fliegen, wie die Situation in Algerien früher und danach war […].145

Nadja konnte für Jean Pierres immergleiche Geschichten, für dessen Ausführungen über technische oder chemische Herstellungsprozesse, über das Funktionieren von 143

Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 301. Vgl. dazu Nadjas Springen von Felsen zu Felsen am Ende der Erzählung, ohne Anweisungen durch Mr. Frankel (ebd., S. 313 f.). 144 Auf ausgewählte Stellen wird im Folgenden verwiesen. 145 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 288 f.

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Messinstrumenten, Maschinen und Maschinenteilen, ja sogar für dessen Darlegung politischer Zusammenhänge keinerlei Aufmerksamkeit aufbringen.146 Man erfährt, dass sie nur so tat, „als hörte sie zu, in Gedanken immer woanders, bei ihm und ihrer Empfindung für ihn, Stunden zurück oder um Stunden voraus, nur im Augenblick konnte sie nichts für ihn aufbringen, schon gar nicht Aufmerksamkeit“.147 In der Wendung „Stunden zurück oder um Stunden voraus“ wird das Problem der zeitlichen Inkoinzidenz ausdrücklich formuliert. Doch besitzt die Sprache der Liebe die Fähigkeit, die Liebenden auch zeitlich ineinander zu verschränken, und dieser Sprache kann und will Nadja wirklich zuhören. Mit Jean Pierre geschah dies „höchstens“ dann, wenn sie beisammen lagen und er ihr wieder und wieder versicherte, wie sehr ihm dies oder jenes an ihr, und er gab ihr viele winzige Namen, die anfingen mit: ma petite chérie, und sie ihm viele große Namen, die endeten mit: mon grand chéri, und sie waren ineinander verhängt gewesen, leidenschaftlich, sie hing vielleicht noch heute an ihm, das war der beste Ausdruck dafür, an einem zu einem Schemen gewordenen Mann […].148

Der Liebesdialog zeichnet sich hier durch die Kosenamen aus: Nadja wurde von Jean Pierre mit „winzige[n] Namen“ verniedlicht, wohingegen Jean Pierre von Nadja „große Namen“ erhielt. Das Ineinander-Verhängt-Sein führte diese antithetischen Namen zuund ineinander.149 Die Verkleinerung durch den Geliebten erfolgte aber nicht nur im Augenblick der Zärtlichkeit oder Leidenschaft. Für Jean Pierre sollte Nadja ein kleines Leben führen, wie ein kleines Haustier mit einer kleinen Umwelt, er wollte sie in ein ihr fremdes Leben hineinzwingen […], in eine ganz kleine Wohnung, mit ganz kleinen vielen Kindern, und dort hätte er sie am liebsten tagsüber in einer kleinen Küche gesehen oder nachts in einem allerdings sehr großen Bett, in dem sie etwas Winziges war, un tout petit chat, un petit poulet, une petite femmelle […].150 146

Dieses Problem taucht dann ansatzweise auch bei Mr. Frankel auf, etwa als er Nadja darlegt, „wie man diese und jene Fische angehen müsse und wo man sie fand“ (ebd., S. 302) oder als er ihr „von den Saraszenen, der günstigen Verteidigungsposition, noch mehr von den Saraszenen“ erzählt (ebd., S. 309). Über Männer allgemein, über ihr Reden und über „die Routine, mit ihnen umzugehen“, merkt Nadja sarkastisch an: „und immer diese Männer mit ihren Wichtigkeiten und ihren Witzen zwischen den Wichtigkeiten“ (ebd., S. 295). 147 Ebd., S. 289. 148 Ebd., S. 288. 149 Zu den antithetischen Namen vgl. folgende Stelle aus Bachmanns früher Erzählung Jugend in einer österreichischen Stadt: „Die Kinder sind verliebt und wissen nicht in wen. Sie kauderwelschen, spintisieren sich in eine unbestimmbare Blässe, und wenn sie nicht mehr weiterwissen, erfinden sie eine Sprache, die sie toll macht. Mein Fisch. Meine Angel. Mein Fuchs. Meine Falle. Mein Feuer. Du mein Wasser. Du meine Welle. Meine Erdung. Du mein Wenn. Und du mein Aber. Entweder. Oder. Mein Alles... mein Alles... Sie stoßen einander, gehen mit Fäusten aufeinander los und balgen sich um ein Gegenwort, das es nicht gibt.“ (Ingeborg Bachmann: „Jugend in einer österreichischen Stadt“, in: Werke, Bd. 2, S. 89). 150 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 303. Auch Beatrix aus Probleme Probleme wird von ihrem Geliebten Erich verniedlicht, der nicht erkennt, dass sie „kein ‚kleines Liebes‘ und ‚liebes Kleines‘“, sondern „ein einsames unverstandenes Kunstwerk“ ist (Bachmann: „Probleme Proble-

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Die auf Französisch sprechende Stimme Jean Pierres hallt in Nadjas Erinnerungen nach: ein besonders einleuchtendes Beispiel für Sprachwechsel im Rahmen von gehörter Rede. Die französischen Bezeichnungen – kleine Katze, kleines Hühnchen und die doppelte Verkleinerung in kleines Weibchen –, die Nadja zu jener winzig kleinen Frau machten, die Jean Pierre sich wünschte, wirken ebenfalls wie Kosenamen. Denn die Kraft des Namens besteht darin, dass das Benannte mit dem Namen unmittelbar identifiziert wird: „Durch Benennung wird das Äußere wie eine Insel erobert, und vorher dazu gemacht, wie durch Namengeben Tiere bezähmt“, schreibt Jean Paul.151 Die Verbindung zwischen benennendem Wort und benanntem Menschen kann so eng werden, dass jenes Wort, jener Name, sich unmöglich auf andere Menschen übertragen lässt und in dieser Hinsicht unübersetzbar ist. „Sie verschluckte ein ‚chéri‘, weil das einmal Jean Pierre gehört hatte“,152 heißt es, als Nadja Mr. Frankel etwas zuruft; und „gehört“ ist hier nicht im Sinn von ‚hören‘, sondern vielmehr von ‚gehören‘ zu verstehen. Sie kann zwar mit Mr. Frankel Französisch sprechen, die Sprache ihrer ehemaligen Liebesbeziehung, doch der Ausdruck „chéri“ geht ihr nicht über die Lippen, da er an Jean Pierre vergeben ist.153 Angesichts dessen könnte man mit Paul Valéry behaupten, dass es besme“, in: Werke, Bd. 2, S. 349). Ähnliche Kosenamen erhält auch Elisabeth aus Drei Wege zum See: „sie fragte sich nur noch, warum auch Philippe nichts Besseres einfiel, als ‚mon chou‘ zu ihr zu sagen, oder ‚mon poulet‘, denn das ging ihr schon seit Jahren auf die Nerven, von Claude, von Jean Pierre, von Jean Marie, von Maurice, von dem anderen Jean Pierre, immer war sie eine ‚chérie‘ und ‚mon chou‘. ‚Oui, mon chou‘ hörte sie sich antworten, mit einer kleinen Bosheit in der Stimme“ (Bachmann: „Drei Wege zum See“, in: Werke, Bd. 2, S. 450 f., vgl. auch ebd., S. 479 f.). Die weibliche Hauptfigur aus der unvollendeten Erzählung Rosamunde wird von ihrem Vorgesetzten und Liebhaber „Mausi“ genannt bzw. „auf einsilbige Maus […] zusammengekürzt“ (Ingeborg Bachmann: [„Rosamunde“, Textstufe II], in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 27–29). Schließlich ist auch Franza gelegentlich „Mausi oder Schnucki […] oder Hasilein“ (Bachmann: „Das Buch Franza“ [Textstufe II, Entwurf Romananfang], in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 2, S. 14). 151 Jean Paul: Levana oder Erziehlehre, in: Werke, Bd. 5, S. 828. Über die Eroberung durch Namensgebung behauptet Nietzsche: „Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, dass man sich erlauben sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtäusserung der Herrschenden zu fassen: Sie sagen ‚das ist das und das‘, sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz.“ (Friedrich Nietzsche: Genealogie der Moral, 1. Abh. Nr. 2, in: Werke. Kritische Gesamtausgabe, 6. Abt., Bd. 2, S. 274). Den Zusammenhang von „Nahme und Name“ erfasst Carl Schmitt wie folgt: „[D]as Großartige an Nahme und Name ist, daß mit ihnen die Abstraktionen aufhören und die Situationen konkret werden“ (Carl Schmitt: „Nomos – Nahme – Name“, in: Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969. Hrsg. v. Günter Maschke. Berlin: Duncker & Humblot, 1995, S. 573–591, hier S. 585). In einem Brief an Jünger erläutert er: „Die Dinge nehmen (Nahme) und ihnen einen Namen geben, ist eins […]. Auch deshalb ist der Kampf um Wortbedeutungen unmittelbar ein politischer Kampf, und man kann Worte stehlen wie heilige Katzen.“ (Ernst Jünger/Carl Schmitt: Briefe 1930–1983. Hrsg., kommentiert u. mit einem Nachwort v. Helmuth Kiesel. Stuttgart: Klett-Cotta, 1999, S. 284). 152 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 295. 153 Vgl. dazu die absurde Lösung der Protagonistin aus Probleme Probleme: „Man sollte überhaupt nur Worte mit anderen verwenden, die einem gar nichts sagten“ (Bachmann: „Probleme Probleme“, in: Werke, Bd. 2, S. 347). Stattdessen schreibt Wittgenstein: „Man muß manchmal einen Aus-

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ser wäre, wenn sich das Gedächtnis nicht als „im strikten Sinne treu“ erwiese, denn – und dies gilt für Namen in besonderem Maße – „[d]er Gebrauch der Wörter ist unvereinbar mit einer uneingeschränkten Erinnerung an ihr erstes Auftreten, an ihren Ersterwerb – und all die späteren Gelegenheiten, bei denen man sie wieder vernahm.“154 Der Abstieg des Geliebten vom „grand chéri“ zum „Schemen“ verläuft entlang eines einzigen Verbs: erst ineinander hängen, dann sich an Jean Pierre hängen,155 schließlich nur noch an ihm hängen. Letzteres bedeutet aber, dass Nadja mit ihrer Vergangenheit noch immer nicht abgeschlossen hat. Darauf weist das Problem der Benennung Mr. Frankels hin; Mr. Frankel ist derjenige, der ihr die Sprache zurückgab und der, dessen war sie sicher, terribly nice war, sie hatte nur noch kein einziges Mal Ludwig zu ihm gesagt, weil seine Freunde und seine Familie ihn unmöglich so nennen konnten. Sie überlegte, wie sie diese drei oder vier Tage lang ohne seinen Vornamen auskommen könne, sie würde einfach darling oder caro oder mein Lieber sagen […].156

Erneut wird hier deutlich, dass die Bezeichnung „chéri“ von Jean Pierre besetzt und nur als Übersetzung verwendbar ist. Der Sprachwechsel erscheint damit als eine Möglichkeit, einen bestimmten Ausdruck zu umgehen. Diesen kann man zwar „auf einer Rolle […] herumdrehen“157 – „darling“, „caro“, „mein Lieber“ –, ohne jedoch dass er äquivalent zu den jeweiligen Übersetzungen wäre. Da Nadja ihren Geliebten nicht beim Namen nennen kann, bei seinem deutschen Vornamen Ludwig, bleibt es in der Erzählung stets bei der distanzierenden Anrede „Mr. Frankel“; nur an einer Stelle schleicht sich ein Possessivpronomen ein, und es ist von „ihrem Mr. Frankel“ die Rede.158 druck aus der Sprache herausziehen, ihn zum Reinigen geben, – und kann ihn dann wieder in den Verkehr einführen.“ (Wittgenstein: Werkausgabe, Bd. 8, S. 504). Vgl. auch folgende Stelle aus Malina: „ich habe herausgefunden, daß diese Unfähigkeit, gewisse Namen aussprechen zu können, unter Namen sogar exzessiv zu leiden, nicht von den Namen selbst herrührt, sondern mit dem ersten, ursprünglichen Mißtrauen einer Person gegenüber zu tun hat, ungerechtfertigt am Anfang, aber immer gerechtfertigt eines Tages.“ (Bachmann: Malina, in: Werke, Bd. 3, S. 106). Vgl. ferner den von Fanny vollzogenen Liebesakt zwischen ihrem Namen und dem Namen ihres Geliebten Toni Marek (Ingeborg Bachmann: „Requiem für Fanny Goldmann [Aus den Entwürfen zu einem Roman]“, in: Werke, Bd. 3, S. 516). Vgl. schließlich Agathe in Der Mann ohne Eigenschaften: „Ein Mann ohne Namen wurde ihr erinnerlich; dem der Name fehlte, weil sie ihn an sich trug und mit sich fortgetragen hatte. Wenn sie an ihn dachte, empfand sie ihren Namen wie eine Narbe; aber sie fühlte keinen Haß mehr gegen Hagauer“ (Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 1234). 154 Paul Valéry: Cahiers/Hefte. Hrsg. v. Hartmut Köhler u. Jürgen Schmidt-Radefeldt. Frankfurt/M.: Fischer, 1987 ff., Bd. 3, S. 460 u. 469. In diesem Sinne sind für Valéry Spracherwerb und überhaupt Sprechen nur als Vergessen von Wortzusammenhängen möglich. 155 Später erfährt man, dass Jean Pierre „es für das Natürlichste hielt, sie [Nadja] hie und da zu schlagen, pour te calmer un peu, bis sie sich wieder an ihn hängte und blieb.“ (Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 304). 156 Ebd., S. 289. So nennt Nadja ihn in der Tat „caro“ (ebd., S. 308). 157 Ebd., S. 295. 158 Ebd., S. 287.

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Seinerseits findet Mr. Frankel bemerkenswerte Namen für Nadja, mit denen er sie allerdings sehr zufrieden, ja im wörtlichen Sinn wild macht: […] er beugte sich über sie, ihre Gesichter standen verzerrt übereinander, mit einander erschreckenden Zügen, aber er sagte, was sie hören wollte, und er mußte sie küssen, weil sie geküßt werden wollte, sie wand sich und lachte, aber es sieht uns doch niemand, weil sie ihn unsicher aufschauen sah, sie biß ihn ausgelassen in die Füße und die Beine, und damit sie aufhörte, fesselte er ihr die Hände und drückte sie auf den Boden, bis sie sich nicht mehr rühren konnte. Belva, bestiolina, sind das die richtigen Worte für dich? fragte er, und ja, sagte sie glücklich, ja, und, well, that is a mild way to put it.159

An dieser Stelle kommt die Ambivalenz der Figur Mr. Frankels klar zum Vorschein. Denn zum einen nennt er Nadja „Belva“, ein wildes Raubtier, und sieht sie nicht wie Jean Pierre als kleines Haus- bzw. Beutetier an; zum anderen wählt er aber gleich danach eine Verniedlichung („bestiolina“, kleines Biest, auch kleines Tier) und setzt auf diese Weise Jean Pierres Namensliste fort. Später wird er sie noch „meine kleine Närrin“ nennen.160 Dabei wird deutlich, wie einerseits die Namensgebung die Möglichkeit bietet, jemandem durch einen neuen Namen – bzw. durch andere Namen in einer anderen Sprache – eine neue Identität zu verleihen, wie aber andererseits frühere Namen wiederkehren, und zwar nicht nur in der Erinnerung. Schon das Beispiel von Jean Pierres „chéri“ belegt, dass Namen unter Umständen gar nicht auszulöschen sind, sie können weder vergessen noch übertragen noch überschrieben werden, sondern bleiben dem ursprünglichen Namensträger dauerhaft zugeeignet. Dies rührt daher, dass im Namen oder Namhaften stets Erinnerung bewahrt ist.161 Und eine in der Sprache bzw. durch die Sprache ausgelöste Erinnerung kann vergangene Ereignisse plötzlich gegenwärtig machen; dass der Sprachwechsel dazu dient, sprachliche Erinnerungen zu vergegenwärtigen, ist im Kapitel über Stimmen und Mehrsprachigkeit bereits gezeigt worden. Die Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart stellt gleichsam ein Übersetzungsproblem dar. Die Sprache der Liebe ist zwar mit jeder Liebe eine neue und prägt neue Namen, doch erweist sich die Haltung des Liebenden, seine Adressierung des Geliebten, sein Gefühl – das auch ein Sprachgefühl sein kann oder eine sprachliche 159

Ebd., S. 308; Hvh. d. Vf. Ebd., S. 311. In seiner Kritik zum Erzählband Simultan hält Reich-Ranicki fest, wie die „Damen ihre Schutzbedürftigkeit ostentativ zur Schau tragen und sich immer wieder klein und niedlich machen.“ (Marcel Reich-Ranicki: „Die Dichterin wechselt das Repertoire“, in: Kein objektives Urteil, S. 188–192, hier S. 190; der Entwurf einer Antwort auf Reich-Ranickis Verriss befindet sich im gesperrten Nachlass der Schriftstellerin, vgl. Bachmann: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 554 f.). In Malina ist der Name Ivan für die Hauptfigur „ein Genußmittel […], ein unentbehrlicher Luxus“, und so wiederholt sie ihn in obsessiver Häufigkeit, während Ivan ihr gelegentlich Schimpfnamen gibt oder sie „mein Fräulein“ nennt, was sie nur gutheißen kann (Bachmann: Malina, in: Werke, Bd. 3, S. 85–87). Im Gegensatz dazu ist die Beziehung des Ichs zu Malina hinsichtlich der Namen durch Scheu und Zögern geprägt (vgl. ebd., S. 87). 161 Entnommen ist der Ausdruck „namhaf[t]“ aus Walter Benjamin: [Rezension zu Richard Hönigswalds „Philosophie und Sprache. Problemkritik und System“], in: Gesammelte Schriften, Bd. III, S. 564–569, hier S. 567. 160

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„Erfindung“162 – als im Grunde allgemein und übertragbar. „Wir sind übertragbar und müssen das Beste übertragen“, behauptet Bachmann in ihrer Frankfurter Vorlesung Der Umgang mit Namen.163 Am Beispiel der Namen wird aber ein noch grundsätzlicheres Übertragungsproblem erkennbar: Nadja und Mr. Frankel können nicht immer ausschließlich für- und beieinander sein, weil sie in Gedanken stets auch bei Anderen sind – aufgrund der Simultaneität von Gegenwart und früherer Gegenwart (Erinnerung) oder von Gegenwart und imaginierter Gegenwart (Phantasie, Projektion, Einbildung).164 In beiden Fällen gilt ihre Aufmerksamkeit nicht alleine oder gar nicht mehr dem konkret anwesenden Gegenüber. Der geliebte Mensch erscheint mitunter sogar austauschbar, ersetzbar, wiederholbar; er droht, unspezifisch zu werden und seine Identität zu verlieren. So geht es im Folgenden um eine der Einmaligkeit des Namens widersprechende, nämlich wieder-holende Dynamik.165

5.5.3. Verzweiflung und Utopie: Simultaneität Nadjas und Mr. Frankels Zusammensein soll nicht lediglich darin bestehen, dass sie zur gleichen Zeit am gleichen Ort sind. Denn man kann mit Kraus behaupten, „daß die Liebe keine Kunst ist und die Kunst keine Liebe, wo nichts als ein vorübergehendes Aneinander erzielt wird.“166 Der Anspruch ist höher, die Liebenden sollen in ihrer Gedanken- und Vorstellungswelt und in ihrer Wahrnehmung ganz aufeinander eingestellt sein. Doch eine solche Gegenwart bzw. Gegenwärtigkeit ist kaum zu erreichen, ja sie ist eigentlich utopisch; in der Realität herrscht zumeist die Ungleichzeitigkeit.167 162

Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 302. Ingeborg Bachmann: „Frankfurter Vorlesungen [Der Umgang mit Namen]“, in: Werke, Bd. 4, S. 241. Bachmanns Ausführungen über Aura und Leuchten des Namens lassen sich in Verbindung mit Benjamins Namentheorie setzen; vgl. dazu Sigrid Weigel: „‚Stadt ohne Gewähr‘ – Topographien der Erinnerung in der Intertextualität von Bachmann und Benjamin“, in: Ingeborg Bachmann. Neue Beiträge zu ihrem Werk, S. 253–264, bes. S. 258. 164 Vgl. dazu die von Heidegger in Holzwege erörterte Unterscheidung zwischen dem „gegenwärtig“ und dem „ungegenwärtig Anwesenden“, die das Altgriechische noch kannte (Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 5, S. 346 ff.). 165 Zum Namen zwischen Einmaligkeit und Wiederholung vgl. Jacques Derrida: Schibboleth. Für Paul Celan. Aus dem Französischen v. Wolfgang Sebastian Baur. Graz/Wien: Böhlau, 1986. 166 Karl Kraus: Die Sprache, in: Schriften. Hrsg. v. Christian Wagenknecht. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1986 ff., Bd. 7, S. 325. 167 In Der gute Gott von Manhattan schwören sich die Liebenden „Gegenwart und sonst nichts“ (Ingeborg Bachmann: „Der gute Gott von Manhattan“, in: Werke, Bd. 1, S. 296). Weigel behauptet mit Bezug auf Benjamins Geschichtstheorie: „Die Spannung in der Gleichzeitigkeit von messianischer Hoffnung und radikalem Wissen um die Unmöglichkeit der Erlösung nimmt in der späteren Prosa Bachmanns noch zu und wird, bezogen auf die Liebe und das Verhältnis der Geschlechter, im Todesarten-Projekt bin zum Unerträglichen gesteigert.“ (Weigel: „‚Stadt ohne Gewähr‘“, in: Ingeborg Bachmann, S. 259). Zur Ungleichzeitigkeit, besonders in Malina, vgl. auch ebd., S. 260 f. 163

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Nadja, die bereits in ihrer Beziehung zu Jean Pierre oft abwesend war, muss sich nun auch mit Mr. Frankel Mühe geben, weil sie in die Gefahr gerät, diesen mit einem beliebigen anderen, früheren Mann zu vergleichen und zu ersetzen: Seine Hand lag jetzt ruhig auf ihrem Knie, und sie fand es sehr vertraut, so zu fahren, wie in vielen Autos mit einem Mann, wie mit allen Männern in einem Auto, trotzdem mußte sie sich zusammennehmen, sie mußte, mußte jetzt und hier sein, nicht in einer früheren Zeit, nicht sonstwo auf einer Straße, nicht früher in diesem Land, sondern mit Mr. Ludwig Frankel, Welthandelsstudium in Wien, dann die halbe Welt, mit Diplomatenstatus und einer CDNummer, die hier aber keine Vorteile brachte auf einer Steilküste, an einem äußersten Rand.168

Durch Selbstbeherrschung zwingt sich die Simultanübersetzerin dazu, vom Früher ins Jetzt, vom „sonstwo“ zum „hier“ zurückzukehren;169 so spricht sie den vollständigen Namen ihres gegenwärtigen Geliebten aus, um sich seiner Identität und Unverwechselbarkeit zu vergewissern. Der Ausdruck „früher in diesem Land“ deutet auf einen früheren Aufenthalt Nadjas hin, nicht nur in Italien, sondern an demjenigen Ort, den sie nun mit Mr. Frankel aufsucht. Bereits am Anfang der Erzählung, als die Protagonisten auf der Suche nach einem Hotel sind, wird darauf angespielt: Nadja fällt nach einigem Widerstand der Name des Hotels wieder ein, in dem sie damals – wohl mit einem anderen Mann – übernachtet hatte.170 Es ist das „NETTUNO“ in Paestum, und sie ist „enttäuscht und erleichtert“,171 als sich herausstellt, dass kein Zimmer verfügbar ist. Das Paar findet für die Nacht eine andere Unterkunft, und vor dem Schlafengehen denkt Mr. Frankel: „hoffentlich will sie morgen die Tempel nicht sehen, wenn sie sie 168

Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 297. Mit Simmel könnte man hier von „Entfremdung“ sprechen, insofern – „ob als Ursache, ob als Folge, ist schwer entscheidbar“ – „der Beziehung ihr Einzigkeitsgefühl entschwindet“, so dass ein bestimmtes Erlebnis plötzlich ein „tausendmal dagewesenes“ ist und anstelle einer bestimmten Person auch „irgendeine andre die gleiche Bedeutung für uns gewonnen hätte.“ (Georg Simmel: „Exkurs über den Fremden“, in: Gesamtausgabe, Bd. 11, S. 764–771, hier S. 769). Vgl. dazu auch die apathisch gleichgültige Haltung der Hauptfigur aus Probleme Probleme, Beatrix: „Erich oder ein anderer, Erich oder viele andere, darauf kam es doch nicht an, und sie stöhnte laut und in einer gesunden animalischen Qual: Grauenvoll.“ (Bachmann: „Probleme Probleme“, in: Werke, Bd. 2, S. 319). 169 Ähnlich dazu beginnt das Ich an einer Stelle in Malina die Beziehung zu Ivan aus der Perspektive des „Gestern“ wahrzunehmen und sucht dann den Weg zurück in die Gegenwart mit dem Satz: „Ich bin hier und heute.“ (Bachmann: Malina, in: Werke, Bd. 3, S. 150). 170 Dazu heißt es nur: „sie murmelte, das war aber früher ganz anders, hier war doch nichts, einfach nichts, noch vor fünf sechs Jahren, nein wirklich, das ist doch nicht möglich.“ (Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 284). 171 Ebd. Zur „Heterographie“ in Simultan vgl. Greber: „Fremdkörper Fremdsprache“, in: Werke von Ingeborg Bachmann, S. 192. Die in Kapitälchen gesetzten Wörter sind Namen („NETTUNO“, „die Leuchtschrift HOTEL“, die Autobahnraststätten „MOTTA“ und „PAVESI“, die Zeitschriften „VOGUE“ und „GLAMOUR“) bzw. Markennamen („MUMM“, „POMMERY“, „KRUG“, „VEUVE CLIQUOT“, „MOËT CHANDON“, „DOM PÉRIGNON“, „VAT“, „DIMPLE“) oder Titel („STRANGERS IN THE NIGHT“, „TENDER IS THE NIGHT“); sie sind fast alle fremdsprachig, werden aber graphisch vom fremdsprachigen Text der Erzählung abgehoben.

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doch schon zweimal gesehen hat“.172 Am nächsten Tag werden die Tempel dennoch besichtigt, wenn auch nur kurz; anschließend betrachten sie Nadja und Mr. Frankel aus dem Hotelgarten heraus, wobei er (sich) fragt: Mit wem sie diese Tempel früher gesehen hatte, das ging ihn selbstverständlich nichts an, aber warum sie sie auf einmal nicht mehr sehen will? Er war bestimmt nicht der Grund dafür, es musste etwas anderes sein, aber sie redete über alles und jenes hinweg, und was er bisher von ihr wusste, war etwas von einem Schock, but who cares, und daß es ihr öfters schlechtgegangen war.173

Nadja nach seinem Vorgänger zu fragen, erscheint Mr. Frankel indiskret,174 und Nadja würde mit aller Wahrscheinlichkeit jeder Nachfrage ausweichen. Es wird aber angedeutet, dass die Vergangenheit in die Gegenwart hineinragt und in dieser unbewältigt fortwirkt. Warum das so ist und worum es genau geht, bleibt ungesagt. Andernfalls handelte es sich nicht um einen tatsächlichen „Schock“,175 denn der Schock lässt sich nicht sprachlich artikulieren; er artikuliert sich nur in seiner Folge bzw. in seinem Symptom, nämlich darin, „daß es ihr öfters schlechtgegangen war.“176 Da es an ihm nicht liegen kann, dass die Tempel Abneigung, Unbehagen oder gar schmerzhafte Erinnerungen auslösen, erklärt Mr. Frankel Nadjas Vergangenheit für belanglos: „who cares“. Mit diesen Worten versucht er, gegenüber der Vergangenheit die Gegenwart – die Tatsache, dass sie und er jetzt da sind – zu behaupten. Der Blick auf die Ruinen der griechischen Antike veranlasst ihn darüber hinaus zu einer Reflexion über seine eigene Vergangenheit: Griechenland war auch nicht mehr, was es damals oder gestern gewesen war, es war überhaupt nichts mehr, wie man es zuerst, vor zehn, fünfzehn Jahren hatte, und wenn er sich gar vorstellte, was in zwei Jahrzehnten passiert war, wo er kaum fähig war, diese kleine Zeitspanne und seine eigene Geschichte zu übersehen und sich vorzuhalten, kam es ihm überwältigend und irrsinnig vor, daß man hier einfach Kaffee trinken und zugleich auf griechische Tempel schauen konnte – come fosse niente, fiel sie ein, und er verstand nicht, was sie denn von seinem Gedankengang erraten konnte, den er für sich behielt und selber nicht recht begriff.177

Der Gedankengang ist folgender: Man kann eine jahrtausendealte Tempelanlage überblicken, während sich die eigene, lediglich einige Jahrzehnte zurückreichende Vergangenheit einem ähnlichen Überblick sperrt.178 Zwar heißt es, Mr. Frankel behalte diesen Gedankengang für sich; Nadjas Unterbrechung spricht jedoch dafür, dass er nicht still 172

Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 292. Ebd., S. 294. 174 Zur Diskretion, die Nadja an Mr. Frankel so sehr schätzt, vgl. Kap. 5.6. 175 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 292 u. 294. 176 Vgl. dazu ausführlich Kap. 5.9. 177 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 293 f. 178 Dies erinnert an die archäologische Stätte als Topos der Psychoanalyse bei Freud, aber auch an die von Bachmann zitierte Stelle aus Svevos La coscienza di Zeno, an der es heißt, die Vergangenheit sei in einem ständigen Wandel begriffen (Bachmann: „Frankfurter Vorlesungen [Das schreibende Ich]“, in: Werke, Bd. 4, S. 229 f.). 173

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in sich hinein, sondern zu ihr gesprochen hat. Er versteht seine Gedanken selbst nicht ganz, aber Nadja hat sie erraten können, denn ihr „come fosse niente“ stellt eine sehr passende Ergänzung seiner Rede dar. Einfach so, als sei nichts, als stünden die Ruinen ohne Geschichte da, schweift der Blick über die feste Ordnung der Tempel, wohingegen die eigene Geschichte, die Abschnitte und Ereignisse des eigenen Lebens sich im Rückblick zu keinem Gesamtbild fügen. So besteht die Simultaneität als Idealzustand der Liebe auch darin, dass man die Gedanken des geliebten Menschen erraten oder zumindest empathisch nachvollziehen kann. Nadja schildert das von Mr. Frankel benannte Problem der Vergangenheitsbewältigung später noch einmal mit eigenen Worten: Sie sprach wieder von der ersten Zeit in Genf, dem unvermeidlichen, und einigermaßen könne sie verstehen, was er am Morgen im Garten gedacht habe, denn wenn man einen kleinen Zeitraum ansehe, oder einen großen, wofür es bei ihr, zugegeben, nie ganz reichte, wenn das für ihr kurzes Leben galt, was allein in Genf geschehen war und auch nicht geschehen war, dann war das eben nicht zu fassen, und wo nehmen die anderen Menschen bloß die Fassungskraft her […].179

All das Geschehene und Ungeschehene in ihrem Leben macht Nadja fassungslos. Die Genfer Zeit mit Jean Pierre drängt sich wieder in den Vordergrund, während der Gedanke, der Nadja und Mr. Frankel doch miteinander verbinden sollte (nämlich „was er am Morgen im Garten gedacht“), in den Hintergrund gerät. In einer sehr aufschlussreichen Passage wird die Übereinstimmung der Gedanken beider Protagonisten forciert – die unmittelbar bevorstehende Abfahrt scheint sie unter Zeitdruck zu setzen. Die Übereinstimmung wird daraufhin endgültig als Illusion verabschiedet; stattdessen stellt sich die Erkenntnis ein, dass beide mit ihren Gedanken bei einem bzw. einer Anderen sind. Bereits der erste Satz spurt den Leser auf die Simultaneität ein: Sie sahen beide gleichzeitig auf die Uhr. Sie hatten noch zwei Stunden und lagen, müde vom Essen und schweigsam, nebeneinander in den Liegestühlen auf der untersten Terrasse. Erst hatten sie gedacht, daß sie im Lauf der Tage einander viel erzählen und mitteilen würden, daraus war nichts geworden, und sie überlegte, ob er auch an jemand anderen dachte und im Schlepp seiner Gedanken viele Gesichter, Körper, Zerschundenes, Zerschlagenes, Ermordetes, Gesagtes und Ungesagtes hatte, und ganz plötzlich sah sie ihn an, mit einer ernsten Begier, genau in dem Moment, als sie an Paris dachte und sich vorstellte, nicht er, sondern der andre müsse sie so sehen, und nun sah Mr. Frankel sie an und sie ihn mit dieser Eindringlichkeit. Bitte, was denkst du jetzt, woran denkst du eben jetzt, sag es, sag es mir unbedingt!180

Die Erzählinstanz liest gleichsam simultan die Gedanken beider Figuren. Diese haben in der Tat gerade noch denselben Gedanken: dass sich die anfängliche Hoffnung, „einander viel erzählen und mitteilen“ zu können, zerschlagen hat. Vielleicht sind Nadja und Mr. Frankel gescheitert, weil sie zu oft „an jemand anderen“ gedacht haben. Die Gedanken an die Vergangenheit tragen eine schwere Last „im Schlepp“, und 179 180

Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 296. Ebd., S. 312 f.

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vermutlich sind inzwischen, kurz vor ihrem Aufbruch, auch Nadja und Mr. Frankel füreinander bereits ein Teil dieser Vergangenheit geworden. Doch dann will es die Simultanübersetzerin noch einmal versuchen, in ihr flammt das Verlangen auf, Mr. Frankels alleiniger Gedanke zu sein. Die „ernst[e] Begier“ in ihrem Blick gilt dabei nicht ihrem Gegenüber, sondern vielmehr einem ehemaligen Geliebten: Die Simultaneität liegt „genau in dem Moment“, in dem Nadja einen Mann ansieht und gleichzeitig an einen anderen Mann denkt, der sie „so sehen“ sollte – „und nun sah Mr. Frankel sie an“. Die „Eindringlichkeit“ in ihren Augen wäre nur dann vollkommen signifikant, wenn sie damit ihrem früheren Geliebten zeigen könnte, wie sehr sie ihren jetzigen begehrt.181 Um Mr. Frankels Antwort auf Nadjas Frage „woran denkst du eben jetzt“ zu verstehen, ist es an dieser Stelle erforderlich, eine vorangehende Episode aus Simultan wiederzugeben. Dabei kommt die zweite Bedeutung des lateinischen Wortes simultas zum Vorschein, nämlich Rivalität bzw. Eifersucht. In den wenigen Tagen, die er mit Nadja am Meer verbringt, geht Mr. Frankel mehrmals auf Unterwasserjagd;182 ein besonderer Fisch wird für ihn zu einer kleinen Obsession: Er erzählte ihr von einem Fisch, den er am Morgen gesehen hatte, das wundervollste Exemplar dieser Art, im vergangenen Jahr, in Sardinien, hatte er viel geschossen, aber selbst dort hatte er noch nie eine so herrliche Cernia gesehen. Wir haben einander beobachtet, aber ich konnte sie nicht überlisten, ich war immer in der schlechteren Position, man muß sie im Nacken treffen, es war sinnlos, einfach zu schießen und sie womöglich am Schwanz zu erwischen, das dürfe man überdies nicht tun, es sei unsportlich, er jedenfalls tat es nie. Sie sagte, ach, an sie denkst du immer, nein, das will ich nicht, ich will nicht, daß du sie umbringst. Aber er würde sie wieder suchen gehen am nächsten Tag, und er erzählte ihr, wie man diese und jene Fische angehen müsse und wo man sie fand. Delphine hatte sie auch schon gesehen und etwas gelesen darüber, wie intelligent die waren, und er hatte eine Frau gekannt, es war seine eigene, aber das sagte er nicht, der einmal ein Delphin nachgeschwommen war, nur begleitet hatte er sie oder verliebt war er in sie gewesen, und sie ist geschwommen, als wäre ein Hai hinter ihr her, am Ufer ist sie zusammengebrochen, sie geht nie mehr ins Meer und sie kann auch nicht mehr schwimmen seither. Oh, sagte sie, während sie sich langsam unter

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Vgl. dazu die von Stendhal in der Schrift De l’amour geprägten Begriffe „amour-passion“ und „amour de vanité“, die Bachmann im Zusammenhang mit der Darstellung der Liebe bei Proust anführt (Ingeborg Bachmann: „Die Welt Marcel Prousts – Einblicke in ein Pandämonium“, in: Werke, Bd. 4, S. 163) bzw. in der Erzählung Ihr glücklichen Augen zitiert (Ingeborg Bachmann: „Ihr glücklichen Augen“, in: Werke, Bd. 2, S. 365). Bei Nadja scheint die Liebe aus Eitelkeit (die zur Erkenntnis der Tragik jeder Liebe führt) vorzuherrschen, doch gelegentlich deuten ihr Verhalten und ihre Gedanken auch auf eine Liebe aus Leidenschaft hin. Dagegen ordnet Agnese sämtliche weibliche Figuren aus dem Simultan-Band der Liebe aus Eitelkeit zu (vgl. Agnese: Der Engel der Literatur, S. 246–248). 182 Diese Leidenschaft zeichnet auch Mr. Brown aus dem Hörspiel Die Zikaden aus, der „mit den schärfsten Harpunen gegen die andrängenden Bilder [ficht]“ (Ingeborg Bachmann: „Die Zikaden“, in: Werke, Bd. 1, S. 233).

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ihn schob und mit der Zunge seine Mundwinkel berührte, ja ljublju tebja, oh das ist eine komische – sie unterbrach sich – es ist eine traurige Geschichte. Ljublju tebja.183

Nadjas Reaktion sowohl auf Mr. Frankels Begehren der „Cernia“ als auch auf die Geschichte der von einem Delphin verfolgten Frau Frankel ist äußerst ambivalent. Zu erfahren, dass Mr. Frankels Gedanken ständig um die „Cernia“ kreisen, macht Nadja unweigerlich eifersüchtig; zugleich will sie nicht, dass er den Fisch tötet, weil sie sich mit diesem Fisch identifiziert und sich an dessen Stelle setzen möchte – ein tödlicher, die Jagd beendender Schuss bedeutete gleichsam auch ihr Ende. Der Fisch soll also am Leben bleiben, sofern Nadja selbst dieser Fisch ist: „das wundervollste Exemplar dieser Art“, ein prächtiges Beutetier, das Mr. Frankel mit seiner Jagd- bzw. Verführungstechnik gerne erlegte. Dass Nadja sich einerseits mit dem verfolgten Tier identifiziert und es deshalb schonen lassen will, es andererseits mit Eifersucht als Rivalen betrachtet, den es zu eliminieren gilt,184 wird nochmals deutlich, als Mr. Frankel seine tragikomische Geschichte erzählt. Darin schwimmt in einer umgekehrten Unterwasserjagd das Tier dem Menschen hinterher; der Delphin hat keine böse Absicht, er ist möglicherweise sogar „verliebt“, doch die Frau fühlt sich bedroht und flieht. Mr. Frankel verschweigt, dass es sich dabei um seine Ehefrau handelt. Die Erwähnung irgendeiner anderen Frau ist jedoch ausreichend, um in Nadja Eifersucht zu wecken und den Eifer, sich als seine jetzige Frau behaupten zu wollen (daher ihre Liebeserklärung und ihre Küsse).185 Die Geschichte erscheint ihr komisch und zugleich traurig, weil sie Frau Frankel gegenüber Schadenfreude und zugleich Mitleid empfindet: Für Nadja ist Frau Frankel nämlich Rivalin, aber auch „gejagte Kreatur“,186 genauso wie die „Cernia“.187 Zwar ist Mr. Frankels Scheidung noch nicht vollzogen, inwiefern aber Nadja Frau Frankel überlegen ist, wird klar, als Mr. Frankel beide Frauen miteinander vergleicht: Einer der Gründe für den dumpfen Widerwillen gegen seine Frau in Wien war doch, daß sie ungeschickt, mit zu großen Handtaschen, durch die Straßen ging, gebückt, anstatt den Kopf zurückzuwerfen, daß ein Pelzmantel eine Verschwendung war, weil sie ihn mit einer Dulder183

Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 302. Vgl. außerdem das bereits zitierte, kurze Gespräch über das Schicksal der Fische (ebd.) sowie Nadjas Umgang mit einem Kabeljau: „Dieser panierte Fisch, ist das Kabeljau, tiefgefroren? Sie stocherte lustlos in dem Fisch herum, haben die hier keine Fische mehr, mit dem Mittelmeer vor der Tür?“ (Ebd., S. 289). 184 So bringt Nadja Mr. Frankels Waffen („das Messer, die Harpune und die Lampe“) in Sicherheit, damit sie nicht von den Wellen weggespült werden (ebd., S. 301). 185 Der Wunsch oder das Bedürfnis einer solchen Ausschließlichkeit (in) der Liebe kommt u. a. auch in Malina zum Ausdruck, so beispielsweise wenn das Ich behauptet, Malina sei „in einem Zusammenhang mit anderen Frauen nicht zu denken“ (Bachmann: Malina, in: Werke, Bd. 3, S. 21). Vgl. dagegen die Rede des Ich über die Männer und die Frauen (ebd., S. 268–276). 186 Dusar: „Identität und Sprache“, in: Bild-Sprache, S. 75. Dusar geht jedoch auf den Zusammenhang zwischen der „Cernia“ und Frau Frankel nicht ein. 187 Ähnlich reagiert Nadja, als Mr. Frankel ihr einen Seestern bringt: „sie lächelte erfreut und traurig, sie bestaunte den Stern, aber dann warf sie ihn plötzlich ins Wasser zurück, damit er weiterleben konnte.“ (Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 312; Hvh. d. Vf.). Sie will von Mr. Frankel keine Jagdtrophäe geschenkt haben, wo sie doch selbst droht, zu einer solchen zu werden.

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innenmiene trug, und daß sie nie, wie Nadja, mißbilligend um sich blickte, mit einer Zigarette in der Hand, und das hieß, wo bitte, wo ist denn der Aschenbecher, und um Himmels willen keinen VAT, ich habe gesagt DIMPLE, und wenn das nicht sofort verstanden wurde, zog ein Erstaunen über ihr Gesicht, als hinge von DIMPLE oder nicht DIMPLE der Ausgang sehr ungewöhnlicher Dinge ab.188

Im Gegensatz zu Frau Frankel, die stets den Ausdruck eines duldsamen Opfers hat, tritt Nadja mit Whisky und Zigarette fordernd und selbstsicher auf. Trotzdem ist es ein Fisch, der auf Mr. Frankel die größte Faszination ausübt. Der Fisch ist stumm, und Mr. Frankel weiß, wie er zu jagen ist – während Nadja als „eine dieser Frauen, […] denen man es nie recht machen konnte, […] die irritierende Launen haben“,189 schon schwieriger zu fassen ist. So heißt es zwischendurch: „er dachte schon wieder an die Cernia, für die er, nun auf deutsch, keinen Namen wußte.“190 Die Erzählinstanz verrät die Gedanken Mr. Frankels, von denen Nadja an dieser Stelle nichts zu ahnen scheint. Sie denkt ihn ganz bei sich und bei ihrem gemeinsamen Gespräch – es ist das Gespräch über den Kren und das „gschlenkerte[]“ Krokodil, die unübersetzbar sind –, wohingegen er hin zu seiner „Cernia“ abschweift, die er dann (wie die beiden Austriazismen) ins Deutsche zu übertragen versucht. Aber er kommt nicht darauf, dass eine „Cernia“ zu Deutsch ein Barsch ist – und warum überhaupt das italienische Wort übersetzen? Und wie, wenn es das Objekt seines Begehrens so eindeutig benennt? Denn „Cernia“ wird hier gleichsam zu einem Eigennamen, der nicht nur schöner klingt als ‚Barsch‘, sondern auch weiblichen Geschlechts ist. Nach diesen Erläuterungen kann schließlich Mr. Frankels Antwort auf Nadjas „Bitte, was denkst du jetzt, woran denkst du eben jetzt, sag es, sag es mir unbedingt!“ in ihrer ganzen Härte angeführt werden: O nichts Besonderes, er zögerte, an die Cernia habe er gedacht, die er nicht wiedergesehen habe, er müsse noch immer an sie denken. Daran dachte er also, er log nicht, es war wahr, sie allein beschäftigte ihn noch immer, und im Nacken hatte er sie treffen wollen. Sie griff sich, während ihr Kopfschmerz jäh einsetzte, an ihren Nacken und sagte: hier, ich spüre es hier.191

Mr. Frankels Zögern zögert Nadjas Enttäuschung über seine Antwort, die sie zunächst fast nicht glauben kann und will, nur hinaus; umso schlagfertiger reagiert sie mit einem verzweifelten Versuch, den Platz der „Cernia“ einzunehmen, um endlich alleine inmitten der Gedanken ihres Geliebten zu herrschen.192 Der durch die Kränkung und Zurücksetzung sofort ausgelöste Schmerz trifft Nadja genau dort, wo die „Cernia“ getroffen werden muss, am Nacken. Indem sie sich an den Nacken greift, zeigt sie Mr. Frankel die empfindliche, ja tödliche Stelle; so ist ihre aus dem Mitleid erwachsende Identifika188

Ebd., S. 307. Ebd. 190 Ebd., S. 304. 191 Ebd., S. 313. 192 Für Bachmann ist Nadjas Reaktion „ein merkwürdiger Kurzschluß“ (Ingeborg Bachmann: [Paralipomena zu „Simultan“], in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 511). 189

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tion mit der „Cernia“ in demjenigen Moment am stärksten, in dem auch die entgegengesetzte, feindliche Haltung, die Rivalität, noch einmal zum Ausdruck kommt, nämlich als Nadja sich Mr. Frankel als die bessere Beute hingibt.193 Die Geschichte der „Cernia“ zeigt, dass „das Zweien Gemeinsame vielleicht niemals bloß ihnen gemeinsam ist“, wie Simmel schreibt, sondern noch viel andres einschließt, viele Möglichkeiten des Gleichen; so wenig sie sich verwirklichen mögen, so oft wir sie vergessen mögen, hier und da drängen sie sich doch wie Schatten zwischen die Menschen, wie ein jedem bezeichnenden Worte enthuschender Nebel, der erst wie zu fester Körperlichkeit gerinnen müsste, um Eifersucht zu heißen.194

Die in Simultan angestrebte Simultaneität der Liebenden erscheint als ein Topos des (post-)romantischen Liebesdiskurses; sie bedeutet nicht bloß Gleichzeitigkeit, vielmehr Übereinstimmung der Gefühle, Gedanken und Worte. Inwieweit diese Übereinstimmung mit einem Übersetzungsvorgang zusammenhängt, soll nun abschließend diskutiert werden. Über die Erzählung und über den Erzählband Simultan behauptet Bachmann in einem Briefentwurf an ihren Verlag: „das simultane Denken und Fühlen der Personen, die zusammenhängen, ist das Thema.“195 Der Titel Simultan, erläutert sie weiter, „heißt nur, was es heißt, daß man eben nicht wirklich übersetzen kann, daß kein Mensch einem anderen übersetzen kann, was er denkt und fühlt.“196 Während Bachmann im ersten Zitat das Denken und Fühlen ihrer Figuren als „simultan“ bezeichnet, formuliert sie im zweiten Zitat nur mehr noch eine negative Bestimmung des Simultanen, indem sie dieses in einen Zusammenhang mit einer unmöglichen Übersetzungstätigkeit bringt. Demnach wird das Simultane als das aufgefasst, was der Fall wäre, wenn sich die Menschen ihre Gedanken und Gefühle – dank einer wie auch immer gearteten Übersetzung – wechselseitig vermitteln könnten. Dass dem aber nicht so ist, stellt Bachmann an 193

Das Beispiel der ambivalenten Konstellation zwischen Nadja, Mr. Frankel, Frau Frankel und der „Cernia“ zeigt, dass sich die Geschlechterbeziehungen in Bachmanns Spätwerk weitaus komplexer gestalten, als in der Forschung eingeschätzt wird. Grimm-Hagen schreibt etwa über die Jagd der Geschlechter: „Die Geschlechter stehen sich als Henker- und Opferfiguren gegenüber, wobei in den Todesarten-Texten den meisten Männern im Geschlechterkampf systematisch die Funktion des Jägers und den Frauen die der Beute zukommt. […] Die Geschichten folgen einer aggressiven und gleichzeitig stereotypischen Dramaturgie, in der die Männer, mit allen realen und fantasmatischen Attributen der Gewalt und der Macht versehen, als Repräsentanten des Bösen und als Vollstrecker der Repression und Unterdrückung den Frauen gegenüberstehen, denen allzu eindeutig die Opferrolle zugewiesen wird.“ (Grimm-Hamen: „Der Jäger und seine Beute“, in: „Über die Zeit schreiben“, Bd. 1, S. 207). Zweierlei ließe sich dagegen anführen: erstens, dass Mr. Frankel ein erfolgloser Jäger ist (jedenfalls in seiner Jagd auf die „Cernia“); zweitens, dass in Ein Schritt nach Gomorrha – in Abwesenheit eines männlichen Jägers, denn es wird von einem gleichgeschlechtlichen weiblichen Paar erzählt – sowohl von Beute als auch vom Besitzen eines Geschöpfs die Rede ist (vgl. Bachmann: „Ein Schritt nach Gomorrha“, in: Werke, Bd. 2, S. 211). 194 Simmel: „Exkurs über den Fremden“, in: Gesamtausgabe, Bd. 11, S. 769. 195 Bachmann: „Brief an den Verlag [Textstufe I]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 7. 196 Bachmann: „Brief an den Verlag [Textstufe II]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 10.

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anderer Stelle fest: „Im Grunde ist jeder allein mit seinen unübersetzbaren Gedanken und Gefühlen.“197 Diese Erkenntnis einer grundsätzlich solipsistischen Existenz des Menschen ist allerdings weitaus weniger resignativ als es zunächst scheinen mag. Die bisherigen Ausführungen haben zwei Simultaneitäten herausgearbeitet. Die erste Simultaneität ist die Übereinstimmung der geistigen, sinnlichen und gefühlsmäßigen Wahrnehmung zweier Menschen und somit die Erfahrung einer tiefen Gemeinsamkeit, in der es möglich wäre, alles zu teilen und mitzuteilen, alles zu übersetzen. Hierbei versucht die Liebe noch die letzten Grenzen aufzuheben, mit Felix Krull zu sprechen: Die Liebe […] tut durch die Liebenden alles, sie tut und versucht das Äußerste, um die Nähe grenzenlos, um sie vollkommen zu machen, um sie bis zum wirklichen, völligen Einswerden von zweierlei Leben zu treiben, was ihr aber komischer- und traurigerweise bei aller Anstrengung niemals gelingt. Soweit überwindet sie nicht die Natur, die es, trotz ihrer Veranstaltung der Liebe, grundsätzlich doch mit der Getrenntheit hält.198

Die Getrenntheit ist bereits das Kennzeichen der zweiten Simultaneität, die in Simultan weit häufiger als die erste ihre Wirkung zeigt. Denn Nadja und Mr. Frankel sind zusammen, und gleichzeitig sind sie in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, bei jemand Anderem.199 Was ihnen die eigenen, simultan in die Gegenwart hineingreifenden Erinnerungen oder Vorstellungen jeweils bedeuten, können sie sich nicht verständlich machen. So stellt Bachmanns Erzählung diese zweite Simultaneität als hoffnungslosen Nullpunkt der Liebe, jene erste dagegen als deren utopischen Fluchtpunkt dar.200 Vor dem Hintergrund der Unmöglichkeit der Übersetzung und im Lichte der Utopie wird allererst deutlich, wie dringend es der Übersetzung bedarf. In einem Entwurf zum Klappentext ihres Erzählbands hält Bachmann fest: Darum nenne ich den Band ‚Simultan‘, denn was stattfindet, ist ein simultanes Geschehen und Denken und Fühlen, und Sprachen, die sich nie ganz begegnen, jeder muß den andren ein wenig übersetzen. Übersetzen ist die erste Pflicht, auch wenn sie nicht in [die] Charta der Menschenrechte aufgenommen ist.201

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Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, S. 122. Th. Mann: Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, in: Stockholmer Gesamtausgabe, Bd. 10, S. 420. 199 Vgl. dazu die Interpretation der Simultaneität in Brinker-Gabler: „Living and Lost in Language“, in: If We Had the Word, S. 190 f. 200 Anders Agneses Interpretation des Simultanen, in der die utopische Seite der Simultaneität keine Berücksichtigung findet. Agnese behauptet, mit dem Adjektiv ‚simultan‘ sei „ein weiteres – fast unbeachtet gebliebenes – Kennzeichen der schlechten Sprache“ gemeint; letzteres stellt sie zwar vor dem Hintergrund der von Bachmann diagnostizierten „Unmöglichkeit unseres Begehrens“ (Bachmann: „Die Welt Marcel Prousts“, in: Werke, Bd. 4, S. 162), ohne jedoch den Zusammenhang zwischen Sprache und Begehren zu rekonstruieren. Auch ihre anschließende These, die ‚simultane‘ Sprache entspräche Nadjas Sprache „für den Gebrauch“, bleibt leider unbegründet; vgl. Agnese: Der Engel der Literatur, S. 219. 201 Bachmann: „[Statt einem Klappentext]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 17. 198

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Es muss also übersetzt werden. Ohne Vermittlung finden die Sprachen nicht zueinander; wenn man nicht übersetzt, redet man aneinander vorbei. Es ist eine mühevolle Pflicht, den Anderen zu übersetzen, und es bedeutet im gleichen Zuge, sich selbst diesem Anderen zu übersetzen.202 Obgleich die Sprachen „sich nie ganz begegnen“ (hiermit wird die auch in Simultan thematisierte Unübersetzbarkeit nochmals benannt), steht der Mensch in einer Übersetzungspflicht. Auch wenn seine Übersetzungsversuche scheitern oder nur „ein wenig“ gelingen, kann er – als handele es sich dabei in der Tat um ein Menschenrecht – Anspruch auf Verständigung und Vereinigung mit dem Anderen erheben. Diese angestrebte Übereinstimmung entspricht wesentlich jenem utopischen Zustand der Simultaneität, den die Liebesbeziehung ansteuert und gelegentlich auch offenbart.203 Ob eine gemeinsame Sprache dabei helfen kann? Nadjas anfängliche Hoffnung, Mr. Frankel gegenüber nicht verhandeln, vermitteln, übersetzen zu müssen, speist sich aus einer scheinbar einfachen Überlegung: Sie dachte, nichts sei einfacher, als mit jemand aus demselben Land beisammen zu sein, jeder wußte, was er sagen durfte und was nicht und wie er es sagen mußte, es war ein geheimer Pakt da, und was hatte sie sich alles anhören müssen, von anderen, man konnte doch nicht immerzu erklären, hier ist die Grenze für mich, bis hierher und nicht weiter.204

Ein „geheimer Pakt“ soll zwischen Nadja und Mr. Frankel bestehen, allein weil sie die gleiche Herkunft und die gleiche Sprache haben; dieses Übereinkommen soll beiden Seiten gewährleisten, dass die eigenen Grenzen (an-)erkannt und nicht überschritten werden.205 Der gemeinsame kulturelle und sprachliche Hintergrund bietet jedoch keine Garantie für ein gelingendes Gespräch oder gar für eine glückliche Beziehung. So wenig wie die Gleichsprachigkeit bietet dies im Übrigen die Anderssprachigkeit, wie die Erzählung durch ihren ständigen Sprachwechsel zeigt: Ausgerechnet der Simultandolmetscherin entgehen die Sprachen, immer wieder greifen sie daneben oder gehen willkürlich ineinander über, erklingen schließlich nur mehr noch aus ihrem Inneren, weil sie sich keinen Weg mehr nach außen bahnen können – dahin, wo jener jemand „aus demselben Land“ steht und feststellen muss, wie Nadja „immer wechselnd“,206 also unergründlich ist.

202

Auch der Schriftsteller hat die Aufgabe, sich selbst zu übersetzen – nur dann findet er Leser. „Als wäre er [ein Autor] glaubwürdig, als wäre seine Existenz ohne Erfindung für uns von Interesse, als könnte man die eigene Person, das eigene Leben, ohne Übersetzung in ein Buch tragen.“ (Bachmann: „Frankfurter Vorlesungen [Das schreibende Ich]“, in: Werke, Bd. 4, S. 221). Ein solches Schreiben „ohne Übersetzung“ kann nur das zum Ausdruck bringen, was Bachmann in einem Interview „ungegorene Subjektivität“ nennt (Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, S. 12). 203 So ist für Weigel die Liebe bei Bachmann „Mysterium“, „erotisches Begehren“, „Sehnsucht nach Offenbarung“ und, besonders in Malina, „ungleichzeitige Gleichzeitigkeit“ (Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 204). Zahlreiche Texte Bachmanns handeln von der Hoffnung auf Offenbarung, Erleuchtung, Auferstehung oder Erlösung und von mystischen Erfahrungen; vgl. dazu auch Kap 5.7. 204 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 303. 205 Zu den Grenzen und zur Grundlage des Paktes vgl. das folgende Kapitel. 206 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 307.

Die Sprache der Liebe

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Ob sich Nadja und Mr. Frankel verstehen oder nicht, ob sie sich mit ihren Worten erreichen oder aber verfehlen, scheint tatsächlich nicht in der Sprachdifferenz begründet zu sein, sondern vielmehr in der Sprache schlechthin. Selbstverständlich stellen sprachliche Grenzen und Grenzübergänge eine besondere Herausforderung für die Kommunikation dar, und so tritt in Simultan der Problemzusammenhang der Sprache gewiss in verschärfter Form zutage. In der Mehrsprachigkeit zeigen sich besonders deutlich prinzipielle Schwierigkeiten einer als Kommunikation verstandenen Intersubjektivität.207 Der „Grenzfall“ der Mehrsprachigkeit betrifft aber gleichsam jede Sprache und jedes Sprechen; denn er verbirgt sich stets in dem, was für den ,Normalfall‘ gehalten wird, und zwar, wie Bachmann erkennt, nicht nur potentiell, sondern tatsächlich: Nun steckt aber in jedem Fall, auch im alltäglichsten von Liebe, der Grenzfall, den wir, bei näherem Zusehen, erblicken können und vielleicht uns bemühen sollten, zu erblicken. Denn bei allem, was wir tun, denken, fühlen, möchten wir manchmal bis zum Äußersten gehen. Der Wunsch wird in uns wach, die Grenzen zu überschreiten, die uns gesetzt sind. […] Es ist auch mir gewiß, daß wir in der Ordnung bleiben müssen, daß es den Austritt aus der Gesellschaft nicht gibt und wir uns aneinander prüfen müssen. Innerhalb der Grenzen aber haben wir den Blick gerichtet auf das Vollkommene, das Unmögliche, Unerreichbare, sei es in der Liebe, der Freiheit oder jeder reinen Größe. Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsre Möglichkeiten. Daß wir es erzeugen, dieses Spannungsverhältnis, an dem wir wachsen, darauf, meine ich, kommt es an; daß wir uns orientieren an einem Ziel, das freilich, wenn wir uns nähern, sich noch einmal entfernt.208

Ein unerreichbares Ziel, vor allem mit Bezug auf die Liebe, haben viele BachmannFiguren im Blick, und sie alle leben und leiden unter dem benannten Spannungsverhältnis zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen. In diesem Sinn schreibt die Autorin über den Simultan-Band: […] ich war nur dazu da, sie [die Figuren] aus ihrer Begrenztheit herauszuführen in die Augenblicke, in denen sie wie die Nadja in Simultan in der Banalität ihrer Existenz ihr außerordentliches Teilhaben und Abstürzen in die letzten Dinge aufführen.209

Diese „letzten Dinge“210 stehen an jener Grenze, die man zu überschreiten wünscht und bisweilen zu überschreiten vermag. Mit dieser Grenzüberschreitung ist allerdings kein Ziel erreicht: Es haben sich nur die Möglichkeiten erweitert, es ist eine Erkenntnis erwachsen, die dem Leben die eine oder die andere Richtung geben kann. Der Grenze als

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Vgl. auch Grebers These zu Simultan: „Literaturanthropologisch betrachtet, wird die Fremdsprache zur Metapher für die fundamentale Heteroglossie und unhintergehbare Alterität des Menschen.“ (Greber: „Fremdkörper Fremdsprache“, in: Werke von Ingeborg Bachmann, S. 183). 208 Ingeborg Bachmann: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, in: Werke, Bd. 4, S. 276. 209 Bachmann: [Vorrede-Entwurf zur Erzählung „Simultan“], in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 3; Hvh. d. Vf. 210 Das dritte und letzte Kapitel des Romans Malina trägt den Titel Von letzten Dingen. Otto Weiningers Buch Über die letzten Dinge befindet sich in Bachmanns Bibliothek (vgl. den Sachkommentar in Bachmann: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 621).

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einer „Problemkonstante“211 Bachmanns soll im Folgenden weiter nachgegangen werden, insbesondere der Grenze als Zeichen der Unübersetzbarkeit.

5.6. Über Grenzen Sowohl der narrative Text als auch die poetologische Reflexion nehmen bei Bachmann oft eine Grenzlage des Subjekts in den Blick. Ob nun territoriale Grenzen oder Grenzen der Erkenntnis und der Erfahrung erkundet werden, in beiden Fällen wird ein topographisches Modell entworfen.212 Beide Grenzarten hängen wiederum mit der Sprache zusammen, insofern territoriale Grenzen einen bestimmten Sprachraum definieren, während die Grenzen menschlicher Erfahrung und Erkenntnis deckungsgleich mit den Grenzen der Sprache erscheinen. In dieser letzteren Auffassung folgt Bachmann solch unterschiedlichen Philosophen wie Wittgenstein und Heidegger.213 An geographischen Grenzen hat Bachmann die Frage der kulturellen Identität angesiedelt, diese Frage aber auch von den bestehenden Grenzen der Länder und Landkarten losgelöst und in eine neue, oft utopisch gezeichnete Topographie versetzt214 (so trägt eines ihrer bekanntesten Gedichte den Titel Böhmen liegt am Meer). Das geographisch-topographische Interesse geht, wie bereits dargelegt, auf Bachmanns eigene Herkunft aus dem Dreiländereck zwischen Österreich, Slowenien und Italien zurück.215 Auch der Erzählband Simultan handelt mehrfach von Grenzziehungen und Grenzgebie-

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Bachmann: „Frankfurter Vorlesungen [Fragen und Scheinfragen]“, in: Werke, Bd. 4, S. 193. Das Auftreten solcher Problemkonstanten innerhalb des Werks macht für Bachmann den Dichter aus. 212 Zur Topographie als Strukturprinzip der Bachmannschen Poetik vgl. Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 355–409; Larcati: Ingeborg Bachmanns Poetik, S. 17–20 u. 186–201; Robert Pichl: „Flucht, Grenzüberschreitung, Landnahme als Schlüsselmotive in Ingeborg Bachmanns später Prosa“, in: Sprachkunst XVI (1985), S. 221–230. 213 Freilich stammt die Rede von Grenzen menschlicher Erfahrung und Erkenntnis ursprünglich von Kant, der sein Unternehmen einer Grenzbestimmung des Vernunftvermögens allerdings noch nicht – oder zumindest nicht unmittelbar – sprachphilosophisch begründet. Die Frage, inwiefern überhaupt von Grenzen menschlicher Erkenntnis die Rede sein kann, da dies doch einen Standpunkt jenseits dieser Grenzen, also im grundsätzlich Unerkennbaren bereits voraussetze, bestimmt dann maßgeblich die Distanzierung der Deutschen Idealisten vom Kantischen Kritizismus. 214 Dazu gehören all die literarischen Orte, die in einen „Atlas, den nur die Literatur sichtbar macht“, auf einer „außerordentlichen Landkarte“, die sich „nur an wenigen Stellen mit den Karten der Geographen [deckt]“, einzutragen sind (Bachmann: „Frankfurter Vorlesungen [Der Umgang mit Namen]“, in: Werke, Bd. 4, S. 239). 215 Vgl. Bachmann: „Biographisches“, in: Werke, Bd. 4, S. 301 f. Vgl. auch das in Malina geschilderte Schicksal von Galicien, einem Dorf in Kärnten (Bachmann: Malina, in: Werke, Bd. 3, S. 99 f.), und das erste Kapitel von Bachmanns unvollendetem Roman Der Fall Franza mit dem Titel Heimkehr nach Galicien.

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ten, insbesondere die Erzählung Drei Wege zum See.216 Darin vermag die Protagonistin, Elisabeth Matrei, bei ihrer Rückkehr an ihren Heimatort in Kärnten – trotz Wanderkarte – keinen der ihr einst geläufigen Wege zum See wiederzufinden. Dieser Desorientierung entspricht ihr Unvermögen, sich in der Heimat zu reterritorialisieren; sie ist „exterritorial“,217 weil sie „nirgends mehr hingehört“.218 Und obgleich sie sich ein Leben im „Dreiländereck […], in einer Einöde an der Grenze“219 wünscht, gibt es für sie „überhaupt keine Orte mehr“, die „nicht wehtaten“.220 Im Gegensatz dazu versucht Nadja in Simultan keine Rückkehr. Die Heimat und Wien sind für sie ein seit Jahren unbetretenes Gebiet, und die Weigerung, Deutsch zu sprechen, erscheint als radikale Maßnahme einer auch bewusst betriebenen Ausgrenzung und Exilierung aus dem „Daheim“.221 Umgekehrt stellt der permanente Sprachwechsel eine teils willkürlich, teils unwillkürlich vollzogene Grenzüberschreitung dar, die jedoch gegen Ende der Erzählung auf eine nicht überschreitbare, das Ende der Sprache und den „Anfang der Sprachlosigkeit“222 markierende Grenze stößt. Diese Bewegung – hin zu einem Äußersten und sogar darüber hinaus – ist im Text zweifach enthalten: zum einen in der Verortung des Geschehens an einer Steilküste, jenseits von deren Grenze sich ein Abgrund befindet,223 und zum anderen in der Hauptfigur selbst, 216

Die Protagonistinnen der zwei Erzählungen, mit denen der Erzählband jeweils beginnt (Simultan) und endet (Drei Wege zum See), haben ihre Stadt und ihr Land verlassen, während in der mittleren Erzählung (Ihr glücklichen Augen) die Protagonistin in der Mitte Wiens, im I. Bezirk, wohnt. Diejenigen Wienerinnen aus dem Erzählband, die tatsächlich in Wien leben (Beatrix aus Probleme Probleme, Miranda aus Ihr glücklichen Augen sowie die alte Frau Jordan und Franziska aus Das Gebell), verfügen allerdings über kein ausgeprägtes „Bewußtsein der Grenze“ (Bachmann: „Biographisches“, in: Werke, Bd. 4, S. 301). 217 Bachmann: „Drei Wege zum See“, in: Werke, Bd. 2, S. 475. Der Ausdruck „exterritorial“, der sich hier auf die Figur Trottas bezieht, kommt schon in Joseph Roths Die Kapuzinergruft vor, jenem Trotta-Roman, den Bachmanns Erzählung gleichsam fortschreibt. Musil trägt in sein Tagebuch die Formel „Exterritorialität des geistigen Menschen“ ein und notiert dann: „Geist und Jude haben die Staatenlosigkeit gemeinsam; daß sie nirgends in der Welt ‚ihr‘ Land haben.“ (Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, S. 403 u. 405; vgl. dazu Schmidt: „Beraubung des Eigenen“, in: Kein objektives Urteil, S. 498, Anm. 31). Der Begriff „Exterritorialität“ lässt sich auch bei Freud nachweisen, der ihn mit Bezug auf das Symptom als Fremdkörper verwendet (vgl. Sigmund Freud: „Hemmung, Symptom und Angst“, in: Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 113–205, hier S. 125). 218 Bachmann: „[Statt einem Klappentext]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 4. 219 Bachmann: „Drei Wege zum See“, in: Werke, Bd. 2, S. 444. 220 Ebd., S. 405. 221 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 285. 222 Ebd., S. 309. 223 Zum Abgrund vgl. Kap. 5.8. Greber verweist darauf, dass die Erzählung in einer „Auszeit“ und in einem „Ausnahmeraum“ spielt: „In solchen raum-zeitlichen Koordinaten erstehen Grenzregionen des Seelischen, formiert sich ein Chronotopos des Umbruchs und der Krise. Das geographische Setting bietet […] eine schroffe Naturszenerie, wie prädestiniert für den Einbruch des Erhabenen in seiner bedrohlichen, das Subjekt gefährdenden Gewalt.“ (Greber: „Fremdkörper Fremdsprache“, in: Werke von Ingeborg Bachmann, S. 179).

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die ihre Grenze überschritten hat und überschreiten muss: Nadja „lebte vielleicht nur, wenn sie zu weit ging, sich heraustraute und über ihre Grenze ging.“224 Diesem „zu weit“ entspricht in ihrem Leben ein ‚zu viel‘; passiert wird demnach jene Grenze, „über die hinaus“, wie Freud schreibt, die „Bewältigung der Erledigung heischenden Erregungsmengen versagt.“225 Es ist also nicht das Gefühl, eingegrenzt oder begrenzt zu sein, das zur Grenzüberschreitung führt, sondern eine quantitative Überforderung. Auch ist Nadjas Grenze keine innere Grenze, die eine Spaltung des Subjekts bedeutet, wie etwa die „nasse Grenze zwischen mir und mir“, mit der Bachmanns Undine durch sich selbst eine geographische Grenze zieht.226 Vielmehr wird in Simultan eine äußerste Lage beschrieben, an der das Subjekt in die Gefahr kommt sich aufzulösen, indem es seine letzte Grenze erreicht, nämlich diejenige zwischen Leben und Tod. Obgleich also Simultan, im Gegensatz zu Drei Wege zum See, die Grenze nicht unmittelbar als Landesgrenze thematisiert, geht es in der Erzählung dennoch um nationale und kulturelle Grenzen, die vor allem in der Sprache zum Ausdruck kommen. Nadjas bereits zitierter Gedanke, ihre eigenen Grenzen müssten mit denjenigen Mr. Frankels übereinstimmen, steht ihren Erfahrungen der Grenzüberschreitung und Entgrenzung geradezu entgegen. Als würden die territorialen Grenzen der Heimat einerseits und die Grenzen des Subjekts andererseits enggeführt, soll die Herkunft „aus demselben Land“227 die Beziehung zwischen den Liebenden wesentlich erleichtern, da die gemeinsame Sprache für beide Gleiches bedeute und demnach weder Missverständnis noch Missbrauch kenne. Man müsse eben „nicht immerzu erklären, hier ist die Grenze für mich, bis hierher und nicht weiter“, denkt Nadja, denn „jeder wußte, was er sagen durfte und was nicht und wie er es sagen mußte, es war ein geheimer Pakt da“.228 Dieser stillschweigende Pakt, aufgrund dessen keine übersetzerische Vermittlung nötig ist, sondern sich Simultaneität einstellt, wird mit einem Beispiel illustriert. Nadja erzählt Mr. Frankel, jemand habe sie einmal „rundheraus“229 gefragt, aus welchem Grunde sie keine Kinder habe, und über eine solche direkte Nachfrage sei sie empört gewesen. Nun hat Mr. Frankel für ihre Empörung volles Verständnis und lässt sie das spüren, indem er schweigend ihre Hand nimmt. Es ist hier die Diskretion als eine von Bachmann mehrfach gepriesene österreichische Tugend, die dem Eindringen in persönliche Angelegenheiten eine Grenze setzt; diese Grenze, die Selbstverständlichkeit eines diskreten Verhaltens, ist beiden Figuren gemeinsam und verbindet sie miteinander.230 Das Verbin224

Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 306. Freud: „Hemmung, Symptom und Angst“, in: Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 180. Vgl. dazu auch Kap. 5.9. 226 Ingeborg Bachmann: „Undine geht“, in: Werke, Bd. 2, S. 254. 227 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 303. 228 Ebd. 229 Ebd. 230 Nadjas ehemaliger Geliebter Jean Pierre, Schweizer oder Franzose, fand dagegen „alles verkehrt […], was sie auch tat und dachte“ (ebd.). Vgl. auch Bachmanns Beschreibung der Wienerinnen als „Frauen […], die in Wien zu allen Zeiten der Diskretion vor Indiskretion den Vorzug gegeben ha225

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dende ist also in diesem Zusammenhang nicht unmittelbar – wie im Fall der österreichischen Redewendungen – die Sprache, aber etwas, das in Österreich offenbar zur Gesprächskultur und zum allgemeinen Umgang gehört, ja sich gehört. In dieser Episode fällt nicht nur das Schlagwort der Grenze; es wird zudem gezeigt, dass mit der Sprache – insbesondere der Muttersprache – immer eine kulturelle Prägung einhergeht, die gerade in intersubjektiven Beziehungen identitätsstiftend wirkt. In Folge der Begegnung mit Mr. Frankel nimmt Nadja zusammen mit der deutschen Sprache ihre durch die Heimat bestimmte, verworfene Identität (zumindest zeit- und teilweise) wieder an. Die Vorstellung einer Restitution der verlorenen Sprache wird von der Simultanübersetzerin zunächst mit Euphorie begrüßt, am Ende aber mit Zweifel und Verzweiflung verbunden. Denn im Lauf der Erzählung stellt sich immer klarer heraus, dass eine „ähnliche Art zu sprechen“231 noch keine „Zusammengehörigkeit“232 gewährleistet und dass weder dieselbe Sprache noch die Liebesbeziehung eine Simultaneität der Gedanken und Gefühle bedingen kann. Darüber hinaus legt Bachmanns Text den Schluss nahe, dass es eine solche Übereinstimmung auch nicht zwischen den Sprachen, im Sinne einer grundsätzlichen Übersetzbarkeit, gibt: Der Simultanübersetzerin scheint erst diese Erkenntnis, die mit ihrer beruflichen Tätigkeit und ihrem gesamten Lebensentwurf kaum vereinbar ist, aus der existentiellen Not zu helfen. All die im Text eingestreuten Hinweise auf das Übersetzungsproblem münden nämlich in einen konkreten Übersetzungsversuch, bei dem es Nadja nicht gelingt, einen Satz vom Italienischen ins Deutsche zu übertragen. Dabei wird deutlich, dass sich die Unübersetzbarkeit nicht aus einer unüberbrückbaren Differenz zwischen den jeweiligen Sprachen ergibt, obgleich implizit auch auf eine solche Differenz hingewiesen wird; vielmehr gelangt die Simultanübersetzerin an die Grenze des Sagbaren und muss erfahren, wie es ihr dort die Sprache verschlägt.233 Sagbares und Unsagbares – so lautet der Titel eines der beiden Essays, die Bachmann der Philosophie Ludwig Wittgensteins widmet. Darin setzt sie sich vor allem mit dem Tractatus logico-philosophicus auseinander, wobei sie nicht so sehr das Vorhandensein sagbarer Tatsachen als vielmehr die primäre Bedeutung der Grenze hervorhebt, die das Unsagbare begründet. An dieser Grenze beginnt das Schweigen, da jenseits der Grenze etwas ist, das nicht gesagt werden kann, sondern „sich zeigt“, nämlich „das

ben, die, ob glänzend oder wenig glänzend, ihr Leben kleinen Geheimnissen machen und sich nicht in die Karten sehen lassen, mit diesen Karten auch anders spielen als die Frauen anderer Länder.“ (Bachmann: „[Brief an den Verlag, Textstufe I]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 9). In einem späteren Entwurf behauptet Bachmann, „aus Diskretion“ nicht über diejenigen – realen – Frauen schreiben zu können, die sie „am meisten beeindruckt haben“, und deshalb auf „erfundene Gestalten“ zurückgreifen zu müssen. (Bachmann: „[Brief an den Verlag, Textstufe III]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 13). 231 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 285. 232 Ebd., S. 297. 233 Vgl. dazu das folgende Kapitel.

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Mystische“.234 Bachmann umschreibt die von Wittgenstein aufgezeigten Grenzen als „Einbruchstellen des sich Zeigenden, des mystisch oder glaubend Erfahrbaren […], das auf unser Tun und Lassen wirkt“.235 Diese Wirkung bedeutet eine Rückkopplung des Jenseits an das Diesseits der Grenze; auch insofern beobachtet Sigrid Weigel zu Recht, dass sich in Bachmanns Poetologie die Grenze allmählich „in eine dialektische Schwelle verwandel[e]“: Die epische Topographie von ‚hier und drüben‘ oder ‚hier und jenseits‘ ist ebenso wie der Gegensatz von Wissenschaft und Kunst abgelöst worden durch ein ‚diesseits‘, von wo aus das Außerhalb sich zeigt bzw. in die Sprache des Diesseits einbricht. Damit hat sich implizit aber auch die Sprache der Kunst verwandelt, nicht mehr als Gegensatz zur Logik oder als bessere Metaphysik definiert, sondern als Sprache, die jene Einbruchstellen offenhält, in denen das Andere, Nichttatsächliche, Unsagbare ‚oder wie immer wir es nennen wollen‘ erkennbar werden kann.236

Inwieweit Simultan eine Erfahrung der Grenze(n) der Sprache(n) schildert, die im Bezug auf die „Einbruchstellen“ gedeutet werden kann, legt das folgende Kapitel dar.

234

Bachmann: „Ludwig Wittgenstein“, in: Werke, Bd. 4, S. 20 f. An dieser Stelle kann auf Bachmanns Auseinandersetzung mit Wittgenstein nicht eingegangen werden. Es sei jedoch auf das noch nicht hinreichend untersuchte Verhältnis zwischen Wittgensteins und Heideggers Philosophie innerhalb der Poetologie Bachmanns hingewiesen. Jenes „Anrennen gegen die Grenze der Sprache“, das bei Wittgenstein der Ethik entspricht (Wittgenstein: Werkausgabe, Bd. 3, S. 68), wird für Bachmann gleichsam zum Sinnbild der Literatur; diese ist eine „verzweifelte Bemühung um das Unaussprechliche, das Unsagbare“ (Bachmann: „Sagbares und Unsagbares“, in: Werke, Bd. 4, S. 116). Mit einer bereits zitierten, auf Heidegger anspielenden Wendung spricht Bachmann an anderer Stelle vom „verzweiflungsvolle[n] Unterwegssein zur Sprache“ des Schriftstellers (Bachmann: „Frankfurter Vorlesungen [Literatur als Utopie]“, in: Werke, Bd. 4, S. 268). Beide Bewegungen, das „Anrennen“ und das „Unterwegssein“, erscheinen als komplementär: Wo Heidegger anfängt, hört Wittgenstein auf (vgl. Bachmann: „Sagbares und Unsagbares“, in: Werke, Bd. 4, S. 113 f.). Dies gilt bspw. vom Schweigen – Wittgensteins Tractatus zielt auf „das positive Schweigen der Mystik“ ab als die richtige, ja einzig mögliche Reaktion auf das Versagen der Sprache und des Denkens; Heidegger möchte angesichts einer nicht mehr sprechenden Sprache wieder zur Sprache kommen und setzt die Erfahrung mit der Sprache sprachlich auseinander. Insofern ist Heideggers Denken für Bachmanns Utopie einer „neuen Sprache“ von Bedeutung, obgleich sich die Kritik der „schlechten Sprache“ wiederum mit Wittgensteins Sprachkritik in Verbindung bringen lässt. Paolo Chiarini hat in der „Sprachwerdung der Grenze“ bei Bachmann den Einfluss beider Philosophen erkannt (Paolo Chiarini: „Ingeborg Bachmanns Poetik. Neue Gedanken zu alten Themen“, in: Kein objektives Urteil, S. 320–334, hier S. 330). 235 Bachmann: „Sagbares und Unsagbares“, in: Werke, Bd. 4, S. 126. „Einbruchstellen“ kommen auch bei Freud vor, der die hysterischen Symptome als „Positionen des Verdrängten und Einbruchstellen desselben in die Ichorganisation“ betrachtet, „sozusagen Grenzstationen mit gemischter Besetzung.“ (Freud: „Hemmung, Symptom und Angst“, in: Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 126). Zu Freud vgl. in diesem Zusammenhang auch Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 491. 236 Ebd., S. 97 f.

Scheiternde und gelingende Übersetzung

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5.7. Scheiternde und gelingende Übersetzung Der Übersetzungsversuch, den Nadja gegen Ende der Erzählung unternimmt, stellt den Höhe- und zugleich den Wendepunkt in ihrer Auseinandersetzung mit der Sprache dar. Er folgt auf eine zentrale Episode in Simultan, in der die Simultanübersetzerin den eigenen Tod imaginiert, um schließlich jedoch das eigene Leben zu bejahen, indem sie nämlich erkennt, dass sie nicht leben muss, sondern leben darf.237 Wenngleich sie das eigene Leben nicht länger als eine Pflicht oder einen Zwang betrachtet, Eines muss sie unbedingt noch können: übersetzen. Übersetzen-Können bedeutet für sie ÜberlebenKönnen. Denn beim Übersetzen wird nicht nur zwischen den Sprachen vermittelt; es findet auch eine Vermittlung zwischen Nadja und der Welt statt. Der Sprachwechsel gibt der Simultanübersetzerin Orientierung, Stabilität und Sicherheit. So sucht sie immer wieder beliebige Wörter aus ihren Wörterbüchern heraus und übersetzt sie,238 um sich auf diese Weise zu bestätigen, dass sie tatsächlich alles zu übersetzen vermag. Als sie auf dem Hotelzimmer kurz vor der Abreise aus Maratea ein Buch findet – „Il Vangelo“, „bloß die Bibel“239 –, versucht sie, auch daraus zu übersetzen: Sie setzte sich auf das ungemachte Bett, und wie sie ihre Wörterbücher aufschlug, um oft abergläubisch ein Wort zu suchen, als Halt für den Tag, diese Bücher wie Orakel befragte, so schlug sie auch dieses Buch auf, es war nur ein Wörterbuch für sie, sie schloß die Augen, tippte mit dem Finger nach links oben und öffnete die Augen, da stand ein einzelner Satz, der ging: Il miracolo, come sempre, è il risultato della fede e d’una fede audace. Sie legte das Buch zurück und probierte, den Satz in den Mund zu nehmen und ihn zu verändern. Das Wunder Das Wunder ist wie immer Nein, das Wunder ist das Ergebnis des Glaubens und Nein, des Glaubens und eines kühnen, nein, mehr als kühnen, mehr als das – Sie fing zu weinen an. Ich bin nicht so gut, ich kann nicht alles, ich kann noch immer nicht alles. Sie hätte den Satz in keine andere Sprache übersetzen können, obwohl sie zu wissen meinte, was jedes dieser Worte bedeutete und wie es zu wenden war, aber sie wusste nicht, woraus dieser Satz wirklich gemacht war. Sie konnte eben nicht alles.240

Sowohl die Wörterbücher als auch die Bibel befragt Nadja „wie Orakel“; dieser Ausdruck suggeriert, dass ihr Schicksal an den zu übersetzenden Wörtern hängt, obgleich sie ganz willkürlich ausgewählt werden. Jedes erfolgreich übersetzte Wort gibt Nadja „Halt für den Tag“, das ist ihr Aberglaube. Angesichts der Bibel gewinnt dieses Ritual 237

Vgl. dazu ausführlich das folgende Kapitel. Dass Nadja übersetzt, legt die im Text aufgestellte Analogie zwischen den Wörterbüchern und der Bibel nahe. In welche Sprache jeweils übersetzt wird, bleibt unklar; die Analogie würde wiederum nahelegen, dass Nadja ins Deutsche übersetzt. 239 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 315. „Il Vangelo“ könnte hier das Evangelium (aber welches?) oder allgemein das Neue Testament bezeichnen. 240 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 315.

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Simultan

eine besondere Bedeutung, weil es die Frage nach dem Verhältnis von Aberglauben und Glauben aufwirft. Außerdem steht die hier geschilderte Übersetzung deutlich im Spannungsfeld von Textwiederholung und Textveränderung, und die Spannung zwischen Wörtlichkeit und Freiheit hat gerade in der Geschichte und Theorie der Bibelübersetzung eine lange Tradition. Dabei wird in der Bachmann-Forschung, mit nur wenigen Ausnahmen, der angeführte italienische Satz als Bibelsatz hingenommen und gedeutet. In der Bibel nachzuweisen ist er jedoch nicht. Gleichwohl wird er in Simultan als wörtliches Zitat präsentiert, und er erfüllt tatsächlich – auch als Pseudozitat – innerhalb der Erzählung seine Funktion als Bibelsatz: Er zeigt die Grenzen der Übersetzung an.241 Nadjas Versuch, sich den Satz anzueignen, ihn „in den Mund zu nehmen“ – eine betont körperliche Übersetzung – und in ihrer Sprache wiederzugeben, scheitert. Die deutschen Satzbruchteile, mit denen sie viermal ansetzt, sind als Übersetzungen korrekt (auch das Wort „kühn“ für „audace“) und zeigen, dass ihr die Bedeutung der einzelnen Worte bekannt ist. Hiermit wäre schon jene Bedingung erfüllt, unter der, wie Wittgenstein im Tractatus behauptet, das Nicht-Übersetzen unmöglich ist: Kenne ich etwa die Bedeutung eines englischen und eines gleichbedeutenden deutschen Wortes, so ist es unmöglich, daß ich nicht weiß, daß die beiden gleichbedeutend sind; es ist unmöglich, daß ich sie nicht ineinander übersetzen kann.242

In diesem Sinn könnte eine Wort-für-Wort-Übersetzung unmöglich scheitern. Zu fragen ist aber vielmehr, ob der Satz als Ganzes übersetzbar ist. Denn das Fehlschlagen der Übersetzung scheint zunächst durch einen bestimmten Satzbestandteil verursacht zu werden, nämlich durch das Adjektiv „kühn“, das für die Übersetzerin keine befriedigende Lösung für „audace“ darstellt. Zudem heißt es, dass Nadja nur „zu wissen meinte, was jedes d[er] Worte bedeutete und wie es zu wenden war“.243 Doch sowohl eine diesem nur vermeintlichen Wissen geschuldete Unsicherheit als auch das Scheitern auf der Suche nach einem Äquivalent für „audace“ weisen auf eine tiefer liegende Übersetzungsschwierigkeit hin. Dies zeigt auch der Umstand, dass „keine andere Sprache“ die Bedeutung des Satzes erschließen könnte. Es geht hier offenbar nicht um das „Verstehen eines Satzes in dem Sinne, in welchem er durch einen andern ersetzt werden kann, der das Gleiche sagt“, sondern um das Verstehen jenes Satzes „in dem Sinne, in welchem er

241

Zum Bibelsatz vgl. ausführlich Giulia Radaelli: „,Wunder des Unglaubens‘? Bibelzitat und Bibelübersetzung bei Ingeborg Bachmann“, in: Das Buch in den Büchern. Wechselwirkungen von Bibel und Literatur. Hrsg. v. Andrea Polaschegg u. Daniel Weidner. München: Fink, 2011 (im Erscheinen). Im Folgenden ist ohne ,distanzierende‘ Anführungszeichen von Bibelsatz und von Bibelzitat die Rede; es ist dabei jeweils zu bedenken, dass Simultan den Satz als Bibelzitat ausgibt, dieser aber kein Bibelzitat ist. 242 Wittgenstein: Werkausgabe, Bd. 1, S. 39. Wittgenstein setzt hier voraus, dass es in verschiedenen Sprachen „gleichbedeutende“ Wörter gibt; unter dieser Prämisse erfolgt aber jener oberflächliche Gebrauch der Sprache, der hier scheitern muss. 243 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 315; Hvh. d. Vf.

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durch keinen andern ersetzt werden kann“.244 Diese Unersetzbarkeit bzw. Unübersetzbarkeit liegt aber nicht in der Inkommensurabilität der Sprachen begründet. Festzustellen ist nicht, dass das Wort „audace“ unübersetzbar ist, weil es keine semantische Entsprechung im Deutschen hat; vielmehr entzieht sich hier gleichsam die ‚Substanz‘ des Bibelsatzes: Nadja weiß nicht, „woraus dieser Satz wirklich gemacht“ ist.245 Ihr Stocken beim Wort „kühn“ ist zwar insofern wichtig, als es ihr Weinen auslöst und damit die Aufgabe des Übersetzens scheitern lässt; doch es deutet auf eine grundsätzliche Unzulänglichkeit hin („mehr als küh[n], mehr als das“). Gerade in der vergeblichen Suche nach einem bestimmten Wort, also im Versagen der Sprache, sieht Heidegger eine Erfahrung des Wesens der Sprache: Wo aber kommt die Sprache selber als Sprache zum Wort? Seltsamerweise dort, wo wir für etwas, was uns angeht, uns an sich reißt, bedrängt oder befeuert, das rechte Wort nicht finden. Wir lassen dann, was wir meinen, im Ungesprochenen und machen dabei, ohne es recht zu bedenken, Augenblicke durch, in denen uns die Sprache selber mit ihrem Wesen fernher und flüchtig gestreift hat.246

Dass der Satz sie irgendwie „angeht“, erfährt Nadja genau in dem Moment, in dem ihre Übersetzung, die sonst immer gelingt, ja automatisch funktioniert, plötzlich fehlschlägt. Sie kann den Satz nicht nachsprechen, dieser wirkt sich „im Ungesprochenen“ aus. Die Erkenntnis, dass es einen anderen Bedeutungs- bzw. Wirkungsbereich der Sprache gibt, gewinnt Nadja dadurch, dass der Satz für sie nicht nachvollziehbar und die Rede vom Wunder als Ergebnis des Glaubens ihr fremd ist. Es ist also eine Erkenntnis, die das übersetzerische Problem der „Fremdheit der Sprachen“247 übersteigt. Denn die Sprache benennt Wunder und Glaube, ohne sie wirklich fassen, erklären oder übersetzen zu können. Die Simultanübersetzerin kann nicht an Wunder glauben, die Bibel ist für sie „nur ein Wörterbuch“. Und dennoch: „Wunder des Unglaubens sind ohne Zahl“, heißt es in Bachmanns Gedicht Große Landschaft bei Wien.248 Nadja weiß nicht, woraus der Satz besteht; es entzieht sich ihr, mit Benjamin zu sprechen, „dasjenige, was an einer Übersetzung mehr ist als Mitteilung“, d. h. aber, „was an ihr selbst nicht wiederum übersetzbar ist.“249 Benjamin erklärt ausgerechnet die heilige Schrift für „übersetzbar schlechthin“, und zwar „in Gestalt der Interlinearversi244

Wittgenstein: Werkausgabe, Bd. 1, S. 440 f.; Hvh. d. Vf. Wittgenstein nennt als Beispiele hierfür das musikalische Thema und das Gedicht, wobei wir letzteres verstehen, indem wir „etwas, was nur diese Worte, in diesen Stellungen, ausdrücken“ (ebd., S. 441), nachvollziehen. 245 Dies lässt sich auch als metafiktionaler Kommentar über den ungeklärten Status des Satzes lesen. 246 Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 12, S. 151. 247 Bei Benjamin heißt es, „daß alle Übersetzung nur eine irgendwie vorläufige Art ist, sich mit der Fremdheit der Sprachen auseinanderzusetzen. Eine andere als zeitliche und vorläufige Lösung dieser Fremdheit, eine augenblickliche und endgültige, bleibt den Menschen versagt oder ist jedenfalls unmittelbar nicht anzustreben.“ (Walter Benjamin: „Die Aufgabe des Übersetzers“, in: Gesammelte Schriften, Bd. IV/I, S. 9–21, hier S. 14). 248 Ingeborg Bachmann: „Große Landschaft bei Wien“, in: Werke, Bd. 1, S. 60. 249 Benjamin: „Die Aufgabe des Übersetzers“, in: Gesammelte Schriften, Bd. IV/I, S. 15.

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Simultan

on“.250 Als eine Art Interlinearversion kann auch Nadjas Übersetzungsversuch betrachtet werden. Dieser Versuch veranschaulicht, indem er scheitert, wie sich die Interlinearversion als Übersetzung – Benjamin ließe sich an dieser Stelle ganz wörtlich nehmen – „zwischen den Zeilen“ ereignet.251 Das Unübersetzbare ist hier nur zwischen den Zeilen zu lesen; die Übersetzung geht zwar vom Wortlaut des Originals aus, verliert sich aber dann, wie auch die entsprechenden Zeilenumbrüche nahelegen, zwischen den Zeilen, „im Intertext“252 des zu übersetzenden Zitats. Nur der heilige Text könne, so Benjamin, seinem Übersetzer „ein Halten“ bieten, wenn sich dieser in die Abgründe der Sprache begibt und dabei droht ins Schweigen zu stürzen.253 Nadja findet bei ihrer Bibelübersetzung keinen „Halt für den Tag“, im Gegenteil: Haltlosigkeit, als ob sich ihr ein Abgrund auftäte, nicht zwischen den einzelnen Sprachen, sondern zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren. Unsagbar ist die Bedeutung, die der Sprache durch eine tiefe Erfahrung – Erfahrung der Sprache, Erfahrung des (Un-)Glaubens – zuwächst. Sie „kann nicht gesagt werden“, sondern zeigt sich in der misslingenden Übersetzung, die damit als eine jener seltenen „Einbruchstellen des Sich Zeigenden“ erscheint.254 Auf eine mystische Intuition verweist Nadja schon, als sie behauptet, nur durch eine „Erleuchtung“ könne man die Ursachen für „die Unstimmigkeiten, die Uneinigkeiten“, die durch die Sprache bedingt werden, in Erfahrung bringen.255 Nun wird angesichts des Bibelsatzes deutlich, dass die Simultanübersetzerin nicht fähig ist, mit der Tiefendimension der Sprache umzugehen. Wie bereits erläutert, spielt diese Tiefendimension bei der Wirkung der Namen und der Erinnerung eine wichtige Rolle; hier ist sie „das Mystische“,256 das sich gegen einen oberflächlichen und funktionalen Sprachgebrauch sperrt und insofern nicht – jedenfalls nicht auf Nadjas Art und Weise – übersetzbar zu sein scheint.257 Plötzlich fallen die gedanklichen Hilfskonstruktionen weg, mit denen 250

Ebd., S. 21. Ebd. 252 Greber: „Fremdkörper Fremdsprache“, in: Werke von Ingeborg Bachmann, S. 193. 253 Benjamin: „Die Aufgabe des Übersetzers“, in: Gesammelte Schriften, Bd. IV/I, S. 21. Jede vollkommene Übersetzung (Benjamin bezieht sich hier auf Hölderlin, insbesondere auf die SophoklesÜbertragungen) birgt eine Gefahr in sich, nämlich dass der Übersetzer sich so tief in die (Abgründe der) Sprache hineinbegibt, dass er nicht mehr hinauskommt und ins Schweigen stürzt. 254 Bachmann: „Ludwig Wittgenstein“, in: Werke, Bd. 4, S. 20. 255 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 306 f. 256 Bachmann: „Ludwig Wittgenstein“, in: Werke, Bd. 4, S. 20. 257 Über die Übersetzung des Spruchs des Anaximander, der von Bachmann in Malina reformuliert wird, schreibt Heidegger in Holzwege: „Der Glaube hat im Denken keinen Platz. Die Übersetzung lässt sich nur im Denken des Spruches nachdenken. […] [D]er Spruch [wird] nie ansprechen, solange wir ihn nur historisch und philologisch erklären. Der Spruch spricht seltsamerweise erst darauf an, daß wir unsere eigenen Ansprüche des gewohnten Vorstellens ablegen“ (Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 5, S. 372; vgl. auch Bachmann: Malina, in: Werke, Bd. 3, S. 97). Allgemein soll für Heidegger jede Übersetzung „wortgetreu“ in einem bestimmten Sinne sein: „solange eine Übersetzung nur wörtlich ist, braucht sie noch nicht wortgetreu zu sein. Wortgetreu ist sie erst, wenn ihre Wörter Worte sind, sprechend aus der Sprache der Sache.“ (Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 5, 251

Scheiternde und gelingende Übersetzung

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sich die Simultanübersetzerin vor der Unübersetzbarkeit geschützt hatte – „sie durfte nur nicht denken, dass machen wirklich machen […] bedeutete“.258 Ein Bibelzitat lässt sich nicht ,oberflächlich‘ übersetzen. Doch Nadja beherrscht gleichsam nur die „Oberflächengrammatik“, nicht mehr die „Tiefengrammatik“259 der Sprache. Den Tiefgang der Worte zu erfahren oder zumindest zu erahnen, bringt sie zum Weinen. Das Weinen, das vorläufig Rettung bzw. Heilung260 bedeutete, wird von der Protagonistin im Lauf der Erzählung mehrfach unterdrückt. Das Nicht-Weinen erscheint als ein Zeichen von Selbstbeherrschung und Stärke – „und sie würde nicht weinen, oh nein“,261 versichert sich Nadja, als sie an den möglichen Tod Mr. Frankels denkt. Später ist das Weinen schon unmöglich geworden, denn „sie war wieder nahe am Weinen, das nie kommen würde“,262 und kurz davor heißt es: Sie wollte weinen, und sie konnte nicht weinen, seit wann kann ich denn nicht mehr weinen, seit wann denn schon nicht mehr, man kann doch nicht über dem Herumziehen in allen Sprachen und Gegenden das Weinen verlernt haben […].263

Das verlernte Weinen steht also in einem Zusammenhang mit Nadjas nomadischer und sprachwechselnder Existenz. Das „Herumziehen“ geschieht auf Kosten des Weinens, indem man sich in die Sprachen als einen „Mechanismus“264 ohne Tränen einfügt. An S. 322). Zur scheiternden Übersetzung in Simultan vgl. die in ihrer Knappheit unklare Interpretation in Agnese: Der Engel der Literatur, S. 219. 258 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 295. 259 Zur Oberflächengrammatik gehört das, „was sich uns am Gebrauch eines Worts unmittelbar einprägt, […] seine Verwendungsweise im Satzbau, der Teil seines Gebrauches – könnte man sagen – den man mit dem Ohr erfassen kann.“ (Wittgenstein: Werkausgabe, Bd. 1, S. 478). Über den Simultan-Band schreibt Schmidt: „Für jede Erzählung macht in einer anderen genau abgestimmten und durchkomponierten Weise die Anordnung dessen, was den Frauen nicht bewußt ist oder nur schlagartig und augenblickshaft bewußt wird, ihr so alltägliches Verhalten als die mühsam zusammengehaltene und ständig bedrohte Oberfläche einer scheinbaren Wirklichkeit, eines schlechten Scheins erkennbar.“ (Tanja Schmidt: „Beraubung des Eigenen“, in: Kein objektives Urteil, S. 487; Hvh. d. Vf.). 260 Bachmann betont den therapeutischen Sinn der Wittgensteinschen Philosophie – die philosophischen Probleme sind bei Wittgenstein „Krankheiten, die geheilt werden müssen. Nicht Lösung, sondern Heilung“ (Bachmann: „Sagbares und Unsagbares“, in: Werke, Bd. 4, S. 124; vgl. dazu auch ebd., S. 127); ähnlich verhält es sich mit den sprachlichen Problemen in Simultan. 261 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 300. An zwei weiteren Stellen kann sich Nadja beherrschen und verhindern, dass ihre Stimme bricht, was möglicherweise auf ein unterdrücktes Weinen hinweist (vgl. ebd., S. 298 u. 310). 262 Ebd., S. 313. Bachmann bemerkt über ihre Figur: „Nun weint sie aber nicht, sondern sie kann nicht weinen, sie ist immer nahe daran, wie jemand, der einschlafen möchte und es nicht kann, immer nah daran ist, und das nenne ich, fälschlich oder richtig, am Weinen sein, am Einschlafen sein, es sind Vorgänge, die nicht steuerbar sind.“ (Bachmann: [Paralipomena zu „Simultan“], in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 512). 263 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 310 f. Über Nadjas frühere Beziehung erfährt man: „damals hatte sie sich noch zur Wehr gesetzt, geschluchzt, geweint, Teller auf den Boden geworfen, sie war mit Fäusten auf ihn [Jean Pierre] losgegangen, und er hatte gelacht“ (ebd., S. 303 f.). 264 Ebd., S. 295.

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Simultan

dieser Stelle wird erneut deutlich, wie Nadjas Berufsleben auf das ganze Leben übergegriffen hat. Auch insofern ist der Wechsel von der Simultandolmetscherin zur Bibelübersetzerin – und damit der Wechsel des Übersetzungsbegriffs – für die Entwicklung der Hauptfigur von Simultan entscheidend.265 In die fremden Stimmen, die auf den Konferenzen zu dolmetschen sind, muss Nadja weniger tief „eingetaucht“266 sein als in einen Bibelsatz über das Wunder des Glaubens. Von der Oberfläche geht es nun weiter in die Tiefe, in einen schwindelerregenden Abgrund.

5.8. Abgrundwärts In der Kunst, schreibt Bachmann, gebe es „keinen Fortschritt in der Horizontale, sondern nur das immer neue Aufreißen einer Vertikale“.267 Diese vertikale Dimension eröffnet sich sowohl in den poetologischen Schriften der Autorin – im Hinblick auf Simultan ist vor allem an den Ausdruck „memoriale Tiefe“268 zu erinnern – als auch im literarischen Werk, das häufig vom Fallen, Stürzen, Sinken oder Eindringen in die Tiefe handelt. So schildert die Erzählung Das dreißigste Jahr eine Erfahrung des Bodenlosen und Grundstürzenden: Der Protagonist verliert bei seinem Vernichtungssturz die Sprache, wobei seine „Stürze ins Schweigen“ mit einer „Wiederkehr aus dem Schweigen“ enden.269 Analog dazu ist auch in Simultan die sprachliche Tiefe eine abgründige; nur dass Nadja darüber hinaus mit einem tatsächlichen Abgrund konfrontiert wird. Dieser taucht erstmals auf, als Nadja und Mr. Frankel am zweiten Abend ihres Aufenthaltes auf der Suche nach einem Hotel sind: Er legte ihr die Hand zwischen die Beine, und sie sah geradeaus, als merkte sie es nicht, aber wenn er es nicht tat, sie vergaß und sich auf das Fahren konzentrierte, forderte sie ihn heraus, und er schlug ihr auf die Hand, come on, you just behave, you don’t want me to drive us into this abyss, I hope.270

Nadja will mehr als den bloßen Spaß, Mr. Frankel beim Fahren zu stören. Beiläufig merkt sie an, dass sie sich nicht nur „auf einer Steilküste“, sondern „an einem äußersten Rand“ befinden. Dies lässt sich auf ihren tatsächlichen Standort beziehen, aber auch im

265

Vgl. dazu Brinker-Gabler: „Living and Lost in Language“, S. 203 f. Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 295. 267 Bachmann: „Frankfurter Vorlesungen [Fragen und Scheinfragen]“, in: Werke, Bd. 4, S. 195. 268 Bachmann: „Frankfurter Vorlesungen [Das schreibende Ich]“, in: Werke, Bd. 4, S. 231. 269 Bachmann: „Frankfurter Vorlesungen [Fragen und Scheinfragen]“, in: Werke, Bd. 4, S. 188. Zum Sturz ins Schweigen vgl. Bachmann: „Das dreißigste Jahr“, in: Werke, Bd. 2, S. 94. 270 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 296. Ein Abgrund findet sich zudem in Bachmann: „Probleme Probleme“, in: Werke, Bd. 2, S. 347. 266

Abgrundwärts

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übertragenen Sinn verstehen.271 Der Sturz in die abgründige Meerestiefe erscheint als geradezu folgerichtige Bewegung: Ja, just behave yourself! wenn sie ihm ins Steuer fiel, wenn sie es nur ein wenig verriß, dann konnte sie sich überschlagen mit ihm, eine Zusammengehörigkeit herstellen ein einziges Mal und abstürzen mit ihm ohne Bedauern. Sie nahm einige Schlucke aus ihrer Thermosflasche und schluckte eine Tablette mit, o nichts, nur diese lästigen Kopfschmerzen, die sie oft bekam […].272

Der gemeinsame Tod begründete eine endgültige Zusammengehörigkeit der Liebenden, die ultimative Simultaneität, „ein einziges Mal“ und für immer. Der erste explizit formulierte Todeswunsch Nadjas verbindet sich bald schon mit dem Ortsnamen Maratea. Die Verfassung der Simultanübersetzerin ist zu diesem Zeitpunkt bereits labil, als könne plötzlich etwas ausbrechen, das lange schon unter großer Anstrengung im Zaum gehalten worden ist. So heißt es: Ich sag dir doch, fahr dort hinunter, ti supplico, dico a sinistra, er wendete und sie dirigierte ihn, es hing etwas an einem Faden in ihr, wenn sie sich bloß noch beherrschte und ihre Stimme nicht zu kippen anfing, und sie sagte sehr ruhig etwas, nur um etwas zu sagen, bevor er hielt: sud’ba, Maratea, sud’ba.273

An dieser Stelle verwendet Nadja wieder mehrere Sprachen, Deutsch innerhalb der erlebten Rede („wenn sie sich bloß noch beherrschte“), zudem Russisch und Italienisch. Der Gebrauch dieser zwei Sprachen verstärkt die Ambivalenz der Situation: Einerseits ist es Schicksal („sud’ba“), dass die Fahrt in Maratea endet, wie in einer Vorahnung des folgenden Geschehens, andererseits hat Nadja selbst Mr. Frankel bis zu diesem Ort gelenkt („sie dirigierte ihn“), ja ihn angefleht („ti supplico“), die dahin führende Wegrichtung einzuschlagen. Am darauffolgenden Tag beschließt das Paar, Maratea zu besichtigen; sie will nur einen Spaziergang machen, er hingegen die Meeresbucht von oben betrachten. Also fahren sie los, es ist der „letzt[e] Abend“,274 und Einiges deutet auf ein Ende hin: 271

Ebd., S. 297. Auf den „äußersten Rand“ als Grenze ist im vorangehenden Kapitel eingegangen worden; vgl. auch Mr. Frankels Anweisung an Nadja: „Du mußt bis an den Rand vor, die Füße ganz vor, und sie krallte sich mit den Zehen an den glitschigen Felsen.“ (Ebd., S. 301). 272 Ebd., S. 297. Hier wird, wie oft in Simultan, gehörte Rede (Mr. Frankels „you just behave“) in erlebte Rede („Ja, just behave yourself!“) aufgenommen. Zum wiederkehrenden Satz „Es ist nichts“ vgl. Eva Lindemann: Über die Grenze. Zur späten Prosa Ingeborg Bachmanns. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000, S. 42–54. Vgl. auch Nadjas Sätze „come fosse niente“ (Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 294), „Es ist nichts, sagte sie, es ist nur etwas schwierig“ (ebd., S. 313) sowie am Ende „Niente. Grazie. Niente.“ (Ebd., S. 317). In Der gute Gott von Manhattan sagt Jan zu Jennifer: „Bei dir sein möchte ich bis ans Ende aller Tage und auf den Grund dieses Abgrundes kommen, in den ich stürze mit dir. Ich möchte ein Ende mit dir, ein Ende. Und eine Revolte gegen das Ende der Liebe in jedem Augenblick und bis zum Ende.“ (Bachmann: „Der gute Gott von Manhattan“, in: Werke, Bd. 1, S. 316). 273 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 298. Dass die Fahrt „hinunter“ gehen soll, ließe sich als ein weiterer Hinweis auf den Absturz lesen. 274 Ebd., S. 308.

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[…] die Sonne war […] schon im Untergehen, und diese Sonne, die über dem Meeresspiegel anfing, ihre späten und tiefen Farben zu zeigen, bedeutete ihnen auch, daß sie erst strahlend wiederkommen werde, wenn er und sie nicht mehr da waren.275

Diese Untergangsstimmung und das bereits aufgetauchte Motiv des Abgrunds stehen in antithetischer Spannung zur Fahrt nach oben; „als sie höher hinaufkamen und die Kurven dichter aufeinanderfolgten“, wird Nadja immer unruhiger und nervöser. Sie versucht zunächst Mr. Frankel davon abzubringen, weiter hinaufzufahren – „wo fährst du denn hin, aber bitte nicht da hinauf auf den Felsen.“276 Mit zunehmender Höhe nehmen ihre Höhenangst und ihr Ohnmachtsgefühl zu, sie kann sich nicht mehr bewegen und verliert allmählich auch die Sprache: Nadja, heißt es, „verstummte und stemmte sich mit den Füßen ab“, „sie schwieg“, „kaute an einer Bitte“.277 Indem sie immer höher fahren – „eine Brücke nach der anderen, immer höher zielend, freischwebend“ – und „den Wolken näher“ kommen, zeigt Mr. Frankel Nadja begeistert die Aussicht; doch sie kann nicht hinausschauen und blickt stattdessen „in ihren Schoß, auf die Zigarettenschachtel und das Feuerzeug.“278 Die Lähmung fing in den Händen an, sie konnte sich keine Zigarette mehr anzünden und ihn auch nicht darum bitten, weil sie ihm ausgeliefert war, sie atmete kaum mehr, und etwas fing an, in ihr auszubleiben, es konnte der Anfang der Sprachlosigkeit sein, oder es fing an, etwas einzutreten, eine tödliche Krankheit.279

Nadja schweigt und verstummt; ihre Sprachlosigkeit ist nicht mehr die „beredte Sprachlosigkeit“280 des ständigen Sprachwechsels und flüchtigen Gesprächs, sie entspricht nun einer tatsächlichen Unfähigkeit zu sprechen. Indem Bewegung, Atem und Sprache erlöschen, setzt gleichsam der Tod ein – und dennoch muss das Schlimmste noch kommen. Mr. Frankel hält an einem Parkplatz an, und noch bevor Nadja aus dem Auto aussteigt, muss sie sich lakonisch den Wahnsinn dieser Fahrt eingestehen: „C’est fou, c’est complètement fou.“281 Sie friert vor Angst und weiß nicht, wohin sie den Blick wenden soll, in solch einer „trostlosen“, „leeren, armseligen“282 Gegend, an deren Grenze sich schon der Abgrund abzeichnet. Mr. Frankel merkt ihr nichts an und geht weiter, hin zum höchsten und äußersten Punkt, dorthin, wo die riesengroße ChristusStatue, der Christus von Maratea, steht. Nadja folgt ihm auf unsicherem Fuß und kann immer noch nicht reden – sie denkt nur, ‚ich habe genug davon‘, auf Russisch: 275

Ebd; Hvh. d. Vf. Ebd., S. 309. 277 Ebd. 278 Ebd. 279 Ebd. Wie bereits erwähnt, täuscht Nadja eine Art Lähmung vor, als Mr. Frankel seine These von der zukünftigen Einsprachigkeit der Welt vorbringt (vgl. ebd., S. 291). 280 Hapkemeyer: Ingeborg Bachmanns früheste Prosa, S. 82. Vgl. dazu die Unterscheidung zwischen Schweigen und Verstummen in Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 12, S. 232. 281 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 309. 282 Ebd. 276

Abgrundwärts

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S menja étogo dovol’no. Er führte sie auf einen steinigen mit kargen Grasbüscheln bewachsenen Weg, der aufwärts und nach vorn führte, zur Spitze des Felsens, dem Abgrund entgegen. […] Sie brachte den Mund nicht auf, sie sah diese ungeheuerliche Figur […], den Christus von Maratea […] und sie blieb stehen. Sie schüttelte den Kopf, dann schüttelte sie seinen Arm ab, und das sollte bedeuten, geh du weiter. Sie hörte ihn etwas sagen, sie stand mit gesenktem Kopf da und ging dann rückwärts, sie rutschte wieder und setzte sich auf einen Steinblock am Wegrand, und das hieß, ich gehe keinen Schritt mehr.283

Das Versagen der Sprache als verbaler Artikulation äußert sich an dieser Stelle darin, dass die Gedanken und Aussagen Nadjas nur noch über bestimmte (non-verbale) Handlungen vermittelt, also in eine Körpersprache übersetzt werden.284 Als es jedoch heißt, das Ablösen des Arms und das Sich-Hinsetzen bedeuteten jeweils „geh du weiter“ und „ich gehe keinen Schritt mehr“, wird umgekehrt die Körpersprache in Rede zurückübersetzt. Diese Übersetzung, die eher von der Erzählinstanz als von der Figur geleistet werden kann, gilt vor allem dem Leser. Mr. Frankel, als eigentlicher Adressat Nadjas, versteht deren schweigende, die wörtliche Artikulation ersetzende Sprache nicht. Ebenso wenig kann ihrerseits die Simultanübersetzerin ihren Begleiter verstehen, sie hört zwar noch seine Stimme, aber seine Worte erreichen sie nicht mehr. Es ist wiederum der Körper, der, nachdem er die kommunikative Funktion des verbalen Ausdrucks übernommen hat, auch die Rückkopplung der Wahrnehmung an die Sprache ermöglicht. Nadja greift nämlich um sich, findet etwas, nimmt es wahr und benennt es. So scheint sich allmählich ein „Vertrauensverhältnis zwischen Ich und Sprache und Ding“285 wieder aufzubauen, immerhin spricht Nadja wieder, sie saß da und riß Blätter von einer Staude ab, menthe, menta, mentuccia, und sie brachte es fertig, mit ihrer stillsten festen Stimme zu sagen: geh du weiter, ich kann nicht. Mareada. Schwindlig. Sie zeigte auf ihren Kopf, und dann roch sie an dem zerriebenen Blatt, als hätte sie ein Mittel, eine Droge gefunden. Aide-moi, aide-moi, ou je meurs ou je me jette en bas. Je meurs, je n’en peux plus.286

Die Zuordnung von Ding und Wort erfolgt mehrsprachig – als Übersetzung vom Französischen ins Italienische, die gleichsam jene am Anfang der Erzählung beschriebene ‚Sprachrolle‘ benutzt. Entscheidend ist aber das Pflücken der Minze, insofern diese körperliche Erfahrung und Aneignung eine vorläufige Wiedergewinnung der Sprache gewährleistet. Infolgedessen kann Nadja sogar „mit ihrer stillsten, festen Stimme“ das artikulieren, was sie soeben nur noch durch Körpersprache aussagen konnte; ihre Überwindung zum Sprechen erinnert an diejenige Franzas, die „jedes Wort von der Zungenwurzel bis zu den Zähnen schieben“ muss.287 Mit der Holophrase „Mareada. 283

Ebd., S. 309 f. Die Körpersprache der Krankheit tritt somit zu den in Kap. 5.5.1. beschriebenen Körpersprachen hinzu. 285 Bachmann: „Frankfurter Vorlesungen [Fragen und Scheinfragen]“, in: Werke, Bd. 4, S. 188. 286 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 310. Der abschließende französische Satz (‚ich kann nicht mehr‘) entspricht dem einleitenden russischen Satz (‚ich habe genug davon‘). 287 Bachmann: „Der Fall Franza“, in: Werke, Bd. 3, S. 368. 284

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Schwindlig“ vermag Nadja darüber hinaus ihr Stillstehen zu begründen. Das spanische Wort „Mareada“ lässt den Namen Maratea anklingen, und Nadja übersetzt es für Mr. Frankel ins Deutsche; doch daraufhin scheint sie wieder in eine Art Gebärdensprache zu verfallen und zeigt auf ihren Körper hin. Ihr Greifen nach den Minzblättern wird zudem zu einer Suche nach dem Heilkraut, das jene „tödliche Krankheit“ heilen soll. Ob der Hilferuf dem Minzblatt gilt oder Mr. Frankel, der immer weiter geht, oder doch nur sich selbst, bleibt unklar. Der äußerste Punkt ist jedenfalls erreicht, und wenn keine Hilfe kommt, wird Nadja sterben oder sich in den Abgrund hinabstürzen. Dann aber ereilt sie ein anderer Gedanke: Sie wird sich nicht selbst hinabstürzen, sondern der ganze Felsen wird sich ablösen, ins Meer fallen und „all[e] beladenen Geschichten aus allen mühseligen Zeiten“288 mit sich reißen. Um dies zu vermeiden, bleibt sie ganz still und denkt: „Wenn ich mich nicht rühre, dann werden wir nicht stürzen.“289 Im nächsten Augenblick wird der Simultanübersetzerin klar, dass sie immer noch nicht weinen kann, wenn auch das Weinen ihr helfen würde; sie erkennt bereits, dass ihr nichts anderes übrig bleibt, als denselben Weg zurückzugehen, ohne zu wissen, wohin und wozu die Rückkehr führen könnte. Doch bevor sie zurückgeht, stirbt sie einen imaginären Tod durch Kreuzigung: […] seit wann kann ich denn nicht mehr weinen, […] man kann doch nicht über dem Herumziehen in allen Sprachen und Gegenden das Weinen verlernt haben, und da mir kein Weinen zu Hilfe kommt, muß ich noch einmal aufstehen, noch einmal diesen Weg gehen und hinunter zum Wagen und einsteigen und mitfahren, was dann wird, weiß ich nicht, es ist meine Vernichtung. Sie ließ sich von dem Stein hinuntergleiten und legte sich auf die Erde, mit den Armen ausgestreckt, gekreuzigt auf diesen bedrohlichen Felsen, und bekam es nicht aus dem Kopf, diese groteske Anmaßung, eine Auftragsarbeit, ein Gemeindebeschluß, der einmal gefasst worden war, und das also ist meine Vernichtung.290

Die Simultanübersetzerin schafft es, trotz der Vernichtung wieder aufzustehen und den Weg zurück bis zum geparkten Wagen zu gehen. Auf der Fahrt, obgleich sie die Augen schließt und sich wieder mit den Füßen abstemmt, „fühlte sie die Brücken, die Abgründe, die Kurven, eine Bodenlosigkeit, gegen die sie nicht ankam.“291 Es sei „höher […] und schrecklicher“ als in den Bergen gewesen, behauptet sie, während Mr. Frankel, der die Situation völlig verkannt hat und weiterhin voller Begeisterung darüber ist, einen herrlichen Sonnenuntergang am Meer bewundert zu haben, ihr erwidert, es seien bloß „600, maximal 700 Meter“ gewesen.292 Nur ein halber Meter breit ist dagegen jener „Abgrund zwischen den beiden Betten“,293 mit dem Nadja den zunächst unüberwindbaren Abstand zu Mr. Frankel und ihre 288

Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 310. Ebd. 290 Ebd., S. 310 f. 291 Ebd., S. 311. 292 Ebd. Zur Tiefe des Abgrunds (und zur Größe der Statue) vgl. weiter unten. 293 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 299. 289

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Unfähigkeit, in dessen Nähe zu schlafen, beschreibt. Die Rede vom Abgrund verweist allerdings nicht nur auf eine Trennung oder Distanz: Als sich die Simultanübersetzerin während der Autofahrt von der Steilküste hinunterstürzen will, soll ja durch den Tod im Abgrund eine „Zusammengehörigkeit“294 mit Mr. Frankel gestiftet werden. Nadja „will zugrunde gehen“, um ein bekanntes Gedicht Bachmanns zu zitieren.295 Auch bei Roland Barthes steht das Zugrundegehen in enger Beziehung zu dem geliebten Anderen: Wenn mich so die Vorstellung überkommt zugrunde zu gehen, so liegt das daran, daß es für mich nirgendwo mehr einen Platz gibt, nicht einmal im Tode. Das Bild des Anderen – an dem ich gehaftet, von dem ich gelebt habe – ist nicht mehr; bald scheint eine (geringfügige) Katastrophe es mir auf immer zu entfernen, bald führt ein exzessives Glück mich wieder mit ihm zusammen; jedenfalls werde ich, getrennt oder aufgelöst, nirgendwo mehr aufgenommen; gegenüber gibt es weder mich noch dich noch den Tod, nichts mehr, mit dem man sprechen könnte.296

Trotz aller Liebe kann sich der Liebende nirgendwo mehr unterbringen, die Welt kann nicht mehr adressiert werden, und da auch kein Sprechen mehr möglich ist, löst sich das Subjekt der Liebe auf, entweder in der totalen Nähe oder in der totalen Entfernung des Anderen. Im Falle Nadjas gibt es einerseits die Perspektive der ewigen Zusammengehörigkeit durch den gemeinsamen Tod; das Zugrundegehen stellt andererseits eine vorweggenommene Trennung, einen antizipierten Verlust dar. Diesen Gegensatz, der die „Untergangssüchtigkeit“ der Protagonistin von Simultan prägt, beschreibt Peter Horst Neumann als eine simultane Dynamik: „Ich-Verlust und Selbst-Gewinn stehen in paradoxaler Gleichzeitigkeit.“297 Je mehr sich Nadja und Mr. Frankel vom Felsen entfernen und den Berg hinunterfahren, umso mehr verschwindet ihre Atemnot. Doch auch nach der Ankunft im Hotel ist Nadja „wie ein Kranker“, es ist „sofort eine Injektion“298 nötig: Sie bestellt an der Bar etwas Starkes; der Alkohol wirkt rasch, und „die Verstörung lös[t] sich, die Blockade zwischen ihr und ihm und der Welt.“299 Das Zittern aber hält an, auch später am Abend deutet es auf die Todesangst und zugleich auf den Todeswunsch hin: Im Zimmer, als er sie umarmte, begann sie wieder zu zittern, wollte nicht, konnte nicht, sie fürchtete zu ersticken oder ihm unter den Händen wegzusterben, aber dann wollte sie 294

Ebd., S. 297. „Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehen. // Zugrund – das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder. / Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf. / Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren.“ (Ingeborg Bachmann: „Böhmen liegt am Meer“, in: Werke, Bd. 1, S. 167). So ist auch Mr. Frankels Traurigkeit eine „grundlose“ (Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 303), d. h. eine (scheinbar) unbegründete, aber auch eine bodenlose. 296 Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe. Übersetzt v. Hans-Horst Henschen. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988, S. 269. 297 Peter Horst Neumann: „Vier Gründe einer Befangenheit. Über Ingeborg Bachmann“, in: Kein objektives Urteil, S. 217–227, hier S. 220. 298 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 311. 299 Ebd., S. 312. 295

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es doch, es war besser, von ihm erstickt und vernichtet zu werden und damit alles zu vernichten, was in ihr unheilbar geworden war, sie kämpfte nicht mehr, ließ es mit sich geschehen, sie blieb fühllos liegen, drehte sich ohne ein Wort von ihm weg und schlief sofort ein.300

An dieser Stelle hört Nadja zu kämpfen auf und gibt sich Mr. Frankel hin, um jedoch am darauffolgenden Tag den Kampf erneut aufzunehmen. Die Angst scheint zunächst überwunden zu sein, allerdings nur deshalb, weil Nadja sich einredet, ihr eigenes Leben sei überflüssig und Mr. Frankels Leben sei ihr gleichgültig: „Das Meer war wilder als an allen Tagen zuvor, aber es brauchte sie ja niemand und es ängstigte sie auch nicht mehr, ihn unter Wasser zu wissen.“301 Während Mr. Frankel taucht und jagt, wird Nadja wieder von ihrer Verzweiflung eingeholt; rastlos klettert sie auf die Meeresfelsen, „furchtvoll und vor Schwäche nahe am Weinen, die rissigen und steilen Brocken hinauf und hinunter, inmitten des Gebrülls.“302 Die letzten gemeinsamen Stunden verbringt das Paar vor allem schweigend. Aus dem erhofften Dialog ist am Ende „nichts geworden“.303 Als Nadja erfährt, dass Mr. Frankel immer noch auf die „Cernia“ fixiert ist, versucht sie ein letztes Mal, seine Aufmerksamkeit zu erregen, indem sie sich unruhig und auffällig verhält und schließlich verschwindet – sie möchte „bis zur Abfahrt allein“ gelassen werden.304 Sie geht zurück zu den Meeresfelsen, die nun eine letzte Möglichkeit bieten, sich in den Tod zu stürzen. Doch dann wendet sich die Lage aufgrund einer entscheidenden Substitution: Sie ging noch einmal zu den Felsen und sie kletterte nicht mehr vorsichtig, sondern sprang, wo sie konnte, von einem zum andern, sie war wieder nahe am Weinen, das nie kommen würde, und sie wurde immer waghalsiger, kühner, und ja, jetzt, sie setzte hinüber zu dem weitgelegenen schwarzen Felsen, sie riskierte es eben, abzustürzen, sie fing sich benommen, sie sagte sich, es ist eine Pflicht, ich muß, ich muß leben, und nach einem zwanghaften Blick auf die Uhr kehrte sie um, um sich nicht zu verspäten, und sie verbesserte sich, aber was sage ich mir da, was heißt das denn, es ist keine Pflicht, ich muß nicht, muß überhaupt nicht, ich darf. Ich darf ja und ich muß es endlich begreifen, in jedem Augenblick und eben hier, und sie sprang, flog, rannte weiter mit dem, was sie wußte, ich darf, mit einer nie gekannten Sicherheit in ihrem Körper bei jedem Sprung. Ich darf, das ist es, ich darf ja leben.305

Indem ein Modalverb durch ein anderes ersetzt wird, wird ein Existenzmodus durch einen anderen ersetzt. So erübrigt sich die Option des Selbstmords genau in dem Augenblick, als sie sich durch das Leben-Dürfen überhaupt erst ergibt. Die Aussage „ich 300

Ebd. Unheilbarkeit zeichnet auch das Ich in Malina aus: „Es ist unheilbar. Und es ist zu spät. Aber ich überlebe und denke.“ (Bachmann: Malina, in: Werke, Bd. 3, S. 45). 301 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 312. 302 Ebd. 303 Ebd., S. 313. 304 Ebd. Als Begründung und zugleich Entschuldigung gibt sie an: „Es ist nichts, sagte sie, es ist nur etwas schwierig, verzeih mir.“ (Ebd.). 305 Ebd., S. 313 f.

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darf ja leben“306 steht im Gegensatz zu einem undifferenzierten, unmotivierten LebenMüssen. Indem sie sich von ihrer Lebenspflicht befreit, erfährt die Simultanübersetzerin eine „nie gekannt[e] Sicherheit“, während zu Beginn der Erzählung noch von ihrer Unsicherheit die Rede war. Als nämlich Mr. Frankel sie aus ihrem Hotel in Rom abholt, um mit ihr wegzufahren, heißt es: „je weiter sie sich entfernte von ihrem Standplatz, der wichtiger für sie war als für andere ein Zuhause und von dem ein Sich-Entfernen daher viel heikler ist, desto unsicherer fühlte sie sich.“307 Im Hilton hatte sie ihren üblichen Auftritt „mit den falschen Wimpern, einer dekorativen Stola und einer leicht abgewinkelten Hand für Handküsse“308 gehabt; doch auf der Reise mit Mr. Frankel hatten sich sowohl ihr Erscheinungsbild als auch ihre Selbstwahrnehmung verändert: Sie war keine selbstsichere Erscheinung mehr in einer Halle, in einer Bar, entworfen von VOGUE oder GLAMOUR, zur richtigen Stunde im richtigen Kleid, fast nichts mehr deutete auf ihre Identität hin, sie sah aus wie eine beliebige Person mit ihren verwaschenen Blue jeans und der zu knappen Bluse, mit einem Koffer und einer Badetasche, er hätte sie ebensogut auf der Straße aufgelesen haben können. Damit er nicht merkte, wie sie es fürchtete, auf ihn angewiesen zu sein, bemühte sie sich, ihn fühlen zu lassen, daß es ohne ihre Ortskenntnisse und Orientierungskünste nicht ging.309

Am Ende hat Nadja wieder Vertrauen gewonnen; sie ist in der Tat nicht auf Mr. Frankel angewiesen, um ihrem Leben Orientierung und Bedeutung zu geben. Während sie von den Felsen zum Hotel zurückläuft, bemerkt sie: „kein Atem ging ihr aus, und sie hatte fast kein Gewicht“,310 die Last der Lebenspflicht ist von ihr abgefallen. Auf dem Weg findet sie Mr. Frankels Pullover, der in Simultan mehrfach eine Rolle spielt311 und ihr zusätzliche Zuversicht verleiht, so dass sie sich nun umdreht und zurück aufs Meer blickt: […] es ist das Meer, es ist wunderbar, und jetzt traue ich mich auch, hinter mich und hinaufzusehen zu den hohen phantastischen Hügeln, auch zu dem Felsen von Maratea, dem überhängenden, steilsten, und dort oben sah sie etwas wieder, eine kleine, kaum sichtbare Figur, mit ausgebreiteten Armen, nicht ans Kreuz geschlagen, sondern zu einem grandiosen Flug ansetzend, zum Auffliegen oder zum Abstürzen bestimmt.312

Durch den veränderten Blickwinkel hat die Statue ihre riesige Dimension eingebüßt und wirkt in ihrer Winzigkeit entrückt und harmlos. Großartig verspricht nur noch ihr 306

Analog dazu das Ich in Malina: „Manchmal bleibt mir die Stimme weg: Ich habe mir erlaubt, trotzdem zu leben. Manchmal kommt meine Stimme und ist für alle zu hören: Ich lebe, ich werde leben, ich nehme mir das Recht auf mein Leben.“ (Bachmann: Malina, in: Werke, Bd. 3, S. 231). 307 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 294. 308 Ebd., S. 306. 309 Ebd., S. 294. Das Luxushotel in Maratea stellt für Nadja demnach – auch wenn „in verwaschenen Hosen und staubigen Sandalen“ – „eine erleichternde Rückkehr in ihre Welt“ dar (ebd., S. 298). Vgl. auch die Beschreibung Nadjas durch Mr. Frankel (ebd., S. 307 f.). 310 Ebd., S. 314. 311 Vgl. auch ebd., S. 309 u. 317. 312 Ebd., S. 314.

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bevorstehendes „Auffliegen“ oder „Abstürzen“ zu werden. Die ambivalente Bedeutung von hinauf/hinunter behält die Christusfigur auch in Bezug auf Nadja, indem sie einerseits auf deren eigene Vernichtung verweist, die als Wiederholung des gewaltsamen Todes Christi erfolgt, andererseits aber an Heilung und Erlösung gemahnt. So wie die Statue bis zuletzt in ihrer Zweideutigkeit verharrt, schließt Bachmanns Erzählung mit einem offenen Ende. Nachdem sie die Übersetzung des Bibelsatzes aufgegeben und erkannt hat, dass jener Satz über das Wunder sich ihrem übersetzenden Zugriff entzieht, tritt Nadja in die Hotelbar ein, in der alle Männer auf den Fernsehbildschirm starren. Es sind die letzten Meter des Giro d’Italia, der Reporter berichtet leidenschaftlich vom Endspurt, und keiner bemerkt die Präsenz der Protagonistin: Der Sprecher redete in höchster Erregung, er versprach sich, korrigierte sich, stolperte wieder über ein Wort, es galt noch drei Kilometer, er redete immer schneller, als hätte er die Pedale zu treten, als wäre er nicht mehr imstande, durchzuhalten, als wäre es sein Herz, das aussetzen konnte, jetzt schweißte seine Zunge, […] der Sprecher keuchte, röchelte, er konnte unmöglich diesen letzten Satz zu Ende bringen und kam mit einem unartikulierten Schrei durch das Zielband. In eben dem Augenblick dröhnte der Apparat, es waren die vielen am Straßenrand, die zu schreien anfingen […].313

Als der Italiener Adorni als Erster durch das Ziel kommt, dröhnt aus dem Fernseher ein kollektiver Ruf: „A-dor-ni, A-dor-ni“, skandieren die Stimmen im Stakkato. Diese Rufe lösen in Nadja „Entsetzen“ und zugleich „Erleichterung“ aus, denn sie vernimmt darin „Haß“ und zugleich „Jubel“; es erklingen „durch diese Rufe […] die Stakkatorufe aus allen Städten und allen Ländern, durch die sie gekommen war.“314 Schließlich wird sie wahrgenommen; der Junge an der Bar fragt sie, ob sie etwas wünsche, ihre Antwort lautet: „Niente. Grazie. Niente.“315 Sie ist wunschlos, wünscht aber dem Jungen ganz zum Ende noch: „Auguri!“316 Diesen Ausruf könnte man auch als eine zweite Antwort auf die Frage des Jungen deuten: Nadja wünschte sich am Ende doch noch etwas, nämlich Glückwünsche (,auguri‘). Im Text steht zwar, dass sie diese „dem Jungen zu[rief], der Adorni siegen gesehen hatte“, doch als Glückwunsch zum Sieg ist „Auguri!“ das falsche Wort; es wird nämlich im Sinn von ,Alles Gute‘, nicht aber als Kongratulation beim Gelingen verwendet.317 Dass außerdem der Sieg Adornis „das Wichtigste“ sein 313

Ebd., S. 316. Dazu schreibt Greber: „Der Kommentator des Radrennens praktiziert gewissermaßen eine andere Form von Simultandolmetschen, die Übersetzung des visuellen in einen verbalen Code. Im Fernsehen gelingt die Abstimmung beider Zeichensysteme und die mediale Mimesis des Realen so perfekt, daß es zu ihrem punktuellen Zusammenfall kommt, zu einem Übersprung der medialen in die reale Welt.“ (Greber: „Fremdkörper Fremdsprache“, in: Werke von Ingeborg Bachmann, S. 188 f.). 314 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 314. 315 Ebd., S. 317. 316 Ebd. 317 Ebd. Die Forschung nimmt ohne Ausnahme „Auguri!“ als Glückwünsche zum Sieg hin. Gelegentlich wird auf eine zweite Bedeutung hingewiesen, nämlich auf die Auguren (vgl. etwa Greber: „Fremdkörper Fremdsprache“, in: Werke von Ingeborg Bachmann, S. 188), wobei das Wahrsagen

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soll, das Nadja „in den Sinn kam“,318 ließe sich allenfalls ironisch lesen. Sie hat erst zwei Tage zuvor Geburtstag gehabt, und die nachträglichen, verzögerten Glückwünsche könnten dazu dienen, am Ende noch einmal das Problem der fehlenden Simultaneität zu unterstreichen, wo doch das ganze Gespräch mit dem Jungen bereits zeitversetzt ist, weil dieser „in Trance“ auf dem Bildschirm starrt, Nadjas Fragen nicht beantwortet und erst zum Schluss „erwach[t]“.319 Was die Protagonistin der Erzählung bzw. Bachmann in der Tat sagen wollte, ist nicht zu verifizieren. Das Schlusswort kann ein sprachlicher Fehler oder ein inszenierter sprachlicher Fehler sein; in jedem Fall ist es ein weiteres Beispiel der für Simultan typischen, verwirrenden und mehrdeutigen Redewiedergabe und mag als „banale Trostformel“ wie auch als Ausdruck einer „Hoffnung auf eine andere Entwicklung“ gelten.320 Wie es mit der Simultanübersetzerin und den Sprachen, wie es mit ihr und Mr. Frankel weitergeht, erfährt der Leser nicht. Wenn Nadja aus dem Fehlschlagen ihrer Bibelübersetzung etwas über das Wesen der Sprache und über sich selbst erfahren hat, nämlich, dass es Unübersetzbares gibt, so könnte sie, analog dazu, in ihrer Liebesbeziehung zu Mr. Frankel die Erkenntnis der „Unmöglichkeit unseres Begehrens“321 gewonnen haben. Damit vollzöge allerdings die Erzählung gleichsam eine zirkuläre Bewegung, vom Ende zurück an den Anfang. Das Ende der Erzählungen des Simultan-Bands, so hat Bachmann angedeutet, sei eigentlich kein Ende, sondern der übliche Anfang: „Das ist auch das Ende aller Geschichten, denn ist das Ende aller unserer Geschichten, wir müssen uns wieder rasieren oder schminken, duschen, aufstehen, Kaffee trinken oder Tee, und so geht es eben weiter.“322 Das ist die Alltäglichkeit des immer weitergehenden Lebens, aus der man durch ein Abenteuer oder einen Anfall oder endgültig durch den Tod entrissen werden kann. Es bleibt zu hoffen, dass auch Nadja zu jenen literarischen Figuren gehört, die „bezeugen, daß unsere Kraft weiter reicht als unser Unglück, daß man, um vieles beraubt, sich zu erheben weiß, daß man enttäuscht, und das heißt, ohne Täuschung, zu leben vermag.“323

sowohl auf den in Simultan thematisierten Aberglauben als auch auf das offene Ende der Erzählung bezogen werden könnte. 318 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 317. 319 Ebd., S. 316 f. 320 Svandrlik: Ingeborg Bachmann, S. 130. 321 Bachmann: „Die Welt Marcel Prousts“, in: Werke, Bd. 4, S. 162. 322 Bachmann: „[Statt einem Klappentext]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 19. Vgl. die Erzählung Das dreißigste Jahr, die mit der Erkenntnis endet: „Rechtzeitig Schluß machen. Da gibt’s nur eines. Sich aus der Affäre ziehen. An die Zukunft denken. Der Stein um den Hals.“ (Bachmann: „Das dreißigste Jahr“, in: Werke, Bd. 2, S. 109). 323 Bachmann: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, in: Werke, Bd. 4, S. 277.

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5.9. „kleine Närrin“: Sprachlosigkeit, Mehrsprachigkeit und Freuds Psychoanalyse Im Folgenden wird der Versuch unternommen, Nadjas Fall in Anlehnung an Freuds Psychoanalyse zu deuten. Dies geschieht bereits im Hinblick auf das folgende Kapitel, das dem mehrsprachigen Individuum und seinem Verhältnis zur Muttersprache und zu den jeweils anderen Sprachen gewidmet ist. Welche Rolle die Pluralität der Sprachen innerhalb des „psychischen Apparats“324 spielt, kann selbstverständlich nicht erschöpfend auseinandergesetzt werden. Dennoch sollen einige einführende Bemerkungen aufzeigen, in welchen Zusammenhängen die psychoanalytische Theorie Mehrsprachigkeit thematisiert. Daraufhin wird die pathologische Dimension der Mehrsprachigkeit in Simultan erkundet; ein besonderes Augenmerk liegt auf Nadjas Anfall in Maratea, der im Rückgriff auf Freuds Angsttheorie noch einmal rekonstruiert wird. Übersetzung und Übertragung sind zentrale Begriffe der Psychoanalyse. Das heißt jedoch nicht, dass damit von Mehrsprachigkeit im engeren Sinne die Rede wäre. Denn diese Begriffe bezeichnen nur verhältnismäßig selten eine Translation von einer Sprache in eine andere, vielmehr geht es dabei um die Psychodynamik triebökonomischer Vorgänge.325 Derrida erinnert daran, dass man nach Ansicht Freuds „zu Unrecht von Übersetzung oder Umschrift spricht, um den Übergang der unbewußten Gedanken durch das Vorbewußte zum Bewußtsein zu beschreiben“.326 Dagegen ließe sich wiederum Freud selbst zitieren, der an Wilhelm Fließ schreibt: „Die Versagung der Übersetzung, das ist das, was klinisch ‚Verdrängung‘ heißt.“327 Die Verdrängung erscheint demnach als gescheiterte Übersetzung; im Umkehrschluss bedeutet dies, dass unbewusste Inhalte durch eine gut funktionierende Übersetzung in den Bereich des Bewussten gelangen können. Aber auch die gescheiterte – d. h. pathogene – Übersetzung ist eine Übersetzung, insofern dabei bestimmte Vorstellungen oder Triebe nicht abgeführt, sondern in Symptome übersetzt werden. Allgemein wird die Übersetzung vom Unbewussten ins Bewusste als die Hauptaufgabe der Psychoanalyse bzw. des Analytikers aufgefasst. Wenn Freud behauptet, er habe bei Hamlet „ins Bewußte übersetzt, was in 324

Sigmund Freud: Die Traumdeutung, in: Gesammelte Werke, Bd. II/III, S. 266. Vgl. die angebliche Unübersetzbarkeit des Traums und dessen Hieroglyphenschrift sowie die hysterische Konversion, bei der unbewusste Vorstellungen zu Symptomen werden. Allerdings ist festzuhalten, dass Freud diese nicht genuin sprachlichen Übersetzungsvorgänge häufig mit sprachlichen bzw. rhetorischen Operationen vergleicht (etwa Verdichtung und Verschiebung). Zur Übersetzung in der Psychoanalyse vgl. auch Stefan Willer: „Selbstübersetzungen. Georges-Arthur Goldschmidts Anderssprachigkeit“, in: Exophonie, S. 264–281, bes. 277–280. 326 Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz. Übers. v. Rodolphe Gasché. 2. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1985, S. 322. Derridas Freud und der Schauplatz der Schrift wäre in diesem Zusammenhang genauer zu diskutieren (vgl. ebd., S. 302–350). 327 Brief vom 6. Dezember 1896, in: Sigmund Freud: Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Hrsg. v. Jeffrey Moussaieff Masson. Frankfurt/M.: Fischer, 1986, S. 219. 325

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der Seele des Helden unbewußt bleiben muß“,328 wird jedoch deutlich, dass es sich auch um eine Übersetzung in Sprache handelt. Freud interessiert sich für Mehrsprachigkeit insbesondere dann, wenn diese als mehrfache Übersetzung eines bestimmten Inhalts gegeben ist. So gelten ihm etwa „Traumgedank[e]“ und „Trauminhalt“ als „zwei Darstellungen desselben Inhaltes in zwei verschiedenen Sprachen“.329 Ferner erweist sich in der Traumdeutung ein bestimmter Fall deshalb als besonders „lehrreich“, weil er „in gleichsam mehrsprachiger Übersetzung verschiedene Reaktionsweisen des psychischen Apparats auf dieselbe erregende Vorstellung“ zeigt.330 Analog dazu heißt es über eine Patientin, die von einer „glatte[n] Angsthysterie“ zu einer schweren „Zwangsneurose“ überging, dieser Fall könne „vielleicht den Wert eines bilinguen Dokuments beanspruchen und zeigen, wie ein identischer Inhalt von den beiden Neurosen in verschiedenen Sprachen ausgedrückt wird“.331 Dass Freud vom archäologischen Fund des bilingualen Schriftzeugnisses fasziniert ist, belegt eine weitere Stelle, an der dieser Fund nachgerade zur Metapher für eine besonders aufschlussreiche Entzifferungs- und Übersetzungsarbeit wird: Die zahlreich gefundenen, im glücklichen Falle bilinguen Inschriften enthüllen ein Alphabet und eine Sprache, und deren Entzifferung und Übersetzung ergibt ungeahnte Aufschlüsse über die Ereignisse der Vorzeit, zu deren Gedächtnis jene Monumente erbaut worden sind. Saxa loquuntur!332

Mehrsprachigkeit stellt also eine herausragende Möglichkeit dar, um die Mechanismen der Übersetzung bzw. Übertragung nachzuvollziehen. Diese Beobachtung kann, wie die vorliegende Studie zeigt, auch außerhalb der Psychoanalyse geltend gemacht werden. In seiner Auseinandersetzung mit vordergründig sprachlichen Phänomenen wie etwa dem Witz oder der Fehlleistung – darüber hinaus aber auch im Traum – ist Freud immer wieder auf Fremdsprachigkeit, d. h. auf Sprachwechsel oder Sprachmischung gestoßen.333 Der „Zauber“ des Wortes, für den der Analytiker ein gutes Ohr haben soll, be328

Freud: Die Traumdeutung, in: Gesammelte Werke, Bd. II/III, S. 272. Außerdem erwähnt Freud an anderer Stelle die „Übersetzungskünste“, die der Analytiker erlernen kann, und betont dagegen das viel schwierigere Moment des Erratens (Sigmund Freud: „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“, in: Gesammelte Werke, Bd. V, S. 280). 329 Freud: Die Traumdeutung, in: Gesammelte Werke, Bd. II/III, S. 283. Freud präzisiert allerdings, der Trauminhalt sei „gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache des Traumgedanken zu übertragen sind.“ (Ebd., S. 283 f.). 330 Ebd., S. 266. 331 Sigmund Freud: „Die Disposition zur Zwangsneurose“, in: Gesammelte Werke, Bd. VIII, S. 444 f. 332 Sigmund Freud: „Zur Ätiologie der Hysterie“, in: Gesammelte Werke, Bd. I, S. 427. 333 Vgl. etwa das Kapitel Vergessen von fremdsprachigen Worten in Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens (Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum), in: Gesammelte Werke, Bd. IV, S. 13–20 sowie Sigmund Freud: „Zum psychischen Mechanismus der Vergesslichkeit“, in: Gesammelte Werke, Bd. I, S. 519–526. Zur Fremdsprachigkeit im Traum merkt Freud in einer Fußnote an, „es sei oft bemerkt worden, daß man im Träumen fremde Sprachen geläufiger und reiner spreche als im Wachen.“ (Freud: Die Traumdeutung, in: Gesammelte Werke, Bd. II/III, S. 11). Fremdsprachen tauchen jedoch nicht nur in „reiner“ Form, sondern häufig

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steht unter anderem darin, dass es mit vielen Bedeutungen aufgeladen werden kann, denn das Wort ist als der Knotenpunkt mehrfacher Vorstellungen […] sozusagen eine prädestinierte Vieldeutigkeit, und die Neurosen (Zwangsvorstellungen, Phobien) benützen die Vorteile, die das Wort so zur Verdichtung und Verkleidung bietet, nicht minder ungescheut wie der Traum.334

Je mehr Sprachen aber, desto mehr Vieldeutigkeit, zumindest potentiell. Auch in einer einsprachigen Äußerung verbergen sich andere Sprachen; sie sind „en souffrance“335 stets vorhanden und können bei der Verdichtung und Verschiebung oder bei der Verdrängung zum Einsatz kommen. Freud führt den Fall eines Patienten an, der als Kind von England nach Deutschland gezogen war und infolgedessen die englische Sprache vergessen hatte und der „einen gewissen ‚Glanz auf der Nase‘ zur fetischistischen Bedingung erhoben hatte“.336 Der Fetisch ist aber, wie der Analytiker erkennt, nicht der Glanz, sondern die Nase: Der Patient habe nämlich mit „Glanz“ eigentlich „glance“ sagen wollen, also ‚Blick auf die Nase‘. In Analogie zur „Technik des Gleichklangs“ beim Witz337 wird das englische Wort in ein beinahe homophones deutsches Wort übersetzt, um den ‚Blick‘ zu verschieben. Freuds vielleicht bekanntester und äußerst mehrsprachiger Patient Sergej Pankejeff, der sogenannte „Wolfsmann“, bediente sich im psychoanalytischen Gespräch immer wieder seiner Sprache(n) „zur Deckung von Symptomhandlungen“.338 Lange Zeit nach seiner Analyse bei Freud, in einem 1959 verfassten Brief, machte der Wolfsmann selbst auf die mehrsprachigen Resonanzen einiger der Schlüsselwörter seines Vokabulars aufmerksam. Das Analytiker-Paar Nicolas Abraham und Maria Torok nahm sich dieses Falls noch einmal an und veröffentlichte 1976 seine Ergebnisse unter dem Titel Cryptonymie – Le verbier de l’Homme aux loups.339 Darin wird erneut deutlich, wie durch die Verfügbarkeit mehrerer Sprachen das Unbewusste zusätzliche, zwischen und in den in mehrsprachigen Mischungen auf, wie etwa das Beispiel von „Geseres und Ungeseres“ in einem Traum Freuds zeigt (ebd., S. 443–446). 334 Freud: Die Traumdeutung, in: Gesammelte Werke, Bd. II/III, S. 346. Vgl. auch ebd., S. 368 u. 449. 335 Jacqueline Amati Mehler/Simona Argentieri/Jorge Canestri: La Babele dell’inconscio. Lingua madre e lingue straniere nella dimensione psicoanalitica. Milano: Cortina, 2003, S. 52. Dies gilt für den Patienten wie für den Analytiker. Der Ausdruck „en souffrance“ hat verschiedene Bedeutungen: unerledigt (Arbeit oder Geschäft), unzustellbar oder nicht abgeholt (Post, Ware), unbeglichen oder überfällig (Rechnung), ungedeckt (Scheck), notleidend (Wertpapier); insgesamt also ,nicht eingelöst‘ bzw. ,nicht einlösbar‘, wobei im Wort „souffrance“ auch Leiden, Not und Schmerz enthalten sind. 336 Sigmund Freud: „Fetischismus“, in: Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 311. 337 Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, in: Gesammelte Werke, Bd. VI, S. 135. 338 Sigmund Freud: „Aus der Geschichte einer infantilen Neurose“, in: Gesammelte Werke, Bd. XII, S. 128. 339 Vgl. Nicolas Abraham/Maria Torok: Cryptonimie. Le verbier de l’homme aux loups. Précéde de „Fors“ par Jacques Derrida. Paris: Flammarion, 1976.

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Sprachen liegende Möglichkeiten der Chiffrierung gewinnt, so dass sich die Analytiker ihrerseits auf die Mehrsprachigkeit einlassen müssen, um bei der Dechiffrierung erfolgreich zu sein.340 Das Unbewusste, so könnte man zusammenfassen, spricht weder eine einzige Sprache – etwa die Muttersprache oder die Sprache der frühen Kindheit – noch verwendet es ausschließlich diejenigen Sprachen, die gut oder seit Langem beherrscht werden, vielmehr kann es in allen bzw. durch alle möglichen Sprachen zum Ausdruck kommen, ja manchmal auch in unmöglichen.341 Hierbei ist es wichtig festzuhalten, dass neben der Muttersprache jede zusätzliche Sprache als Medium der Verdrängung benutzt werden, im Gegensatz dazu aber auch einen Diskurs der Heilung, der Befreiung, der Bewusstwerdung begründen kann. So versteht Nadja durch einen Sprachwechsel plötzlich einen Teil ihrer Lebensgeschichte: „Die Antwort kam, weil sie sie nicht französisch suchte, sondern in ihrer eigenen Sprache“.342 Ebenso führt sie die entscheidenden, erkenntnisbringenden Selbstgespräche – mit den beiden Schlussfolgerungen „ich darf ja leben“ und „ich kann nicht alles“343 – in ihrer Muttersprache. Dennoch scheint das, „was in ihr unheilbar geworden“ ist,344 unheilbar zu bleiben oder zumindest nicht ganz geheilt zu werden, obgleich in Simultan die Unheilbarkeit weniger radikal als im Todesarten-Zyklus erscheint, etwa in Malina oder im unvollendeten Roman Der Fall Franza. Die Themen Krankheit, Wahn und Leiden kehren in Bachmanns Werk immer wieder.345 Dabei hat sich die Autorin mehrfach die Frage gestellt, inwieweit und in welcher Form sich Krankheit überhaupt diskursiv artikulieren lässt: eine Frage, die auch im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Literatur zu berücksichtigen ist. Grundsätzlich besteht Bachmann auf einer klaren Grenzziehung zwischen einerseits der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der (erkrankten) Seele bzw. dem (erkrankten) Körper und andererseits der Darstellung (krankhafter) psychischer bzw. physischer Zustände in der Literatur. Die zwei Diskurse mögen Ähnliches oder gar Dasselbe beschreiben, aber „[d]irekte Zusammenhänge bestehen nie.“346 Diese Abgrenzung gibt jedoch der Literatur 340

Die Kryptonimie ist freilich keineswegs nur sprachlicher Natur, sondern ein komplexes RebusVerfahren, in dem auch non-verbale Elemente verarbeitet werden. 341 Das Unbewusste sucht sich also jeweils die Sprache(n) aus, die es braucht, wie Edouard Pichon formuliert: „nel suo lavoro di mosaico significativo esso va a cercare le frange del linguaggio là dove ne ha bisogno, anche negli idiomi recentemente acquisiti.“ (Zit. n. Amati Mehler/Argentieri/ Canestri: La Babele dell’inconscio, S. 56). Es sei an dieser Stelle an die Fälle erinnert, in denen Patienten (unter Hypnose) plötzlich Sprachkenntnisse zeigten, über die sie bewusst gar nicht verfügten. Die Frage nach der – sprachlichen? – Struktur des Unbewussten wird bis heute in der Psychoanalyse diskutiert. 342 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 287. 343 Ebd., S. 314 f. 344 Ebd., S. 312. 345 Vgl. auch Bachmanns Büchner-Preis-Rede, in der Berlin als eine Stadt allgegenwärtiger Krankheit geschildert wird (Ingeborg Bachmann: „Ein Ort für Zufälle“, in: Werke, Bd. 4, S. 278–293). 346 Bachmann: „Das Buch Franza“ [Textstufe II, Vorrede-Entwurf], in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 2, S. 17.

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noch lange nicht die Freiheit, sich gänzlich von den Erkenntnissen der Wissenschaft abzukoppeln. So lobt Bachmann Sylvia Plaths The Bell Jar, weil diese ein Krankheitsbild mit unheimlicher Präzision beschreibt, wo andre Autoren […] vollkommen versagen, weil sie sich offenbar nicht einmal im klaren darüber sind, daß auch die geistigen Krankheitsbilder, die psychotischen, einer genauen Beschreibung bedürfen und man nicht x-beliebige Wahnvorstellungen zusammenstellen kann, weil sie etwas ‚Poetisches‘ an sich haben.347

Die Krankheit hat nichts „Poetisches“, im Gegenteil, sie ist nur „das schlechthin Entsetzliche“.348 Wohl ist sie aber eine extreme Ausdrucksweise des Menschen und als solche mit einem Kunstwerk vergleichbar. Bachmann bezieht sich dabei auf den „bedeutendsten Vorläufer der Psychosomatik“,349 Georg Groddeck: Groddecks erste und kühnste Vermutung hat sich als richtig erwiesen, es gibt keine Krankheit, die nicht vom Kranken produziert wird, auch keinen Beinbruch, keinen Nierenstein. Es ist eine Produktion, wie eine künstlerische, und die Krankheit bedeutet etwas. […] Sie sagt das, was der Kranke nicht versteht, obwohl sie sein eigenster Ausdruck ist […].350

Selbst wenn der Kranke seine eigene Krankheit nicht versteht, kann dieser blinde Fleck den usurpierenden, sadistischen oder bürokratischen Umgang der Ärzte mit ihren Patienten nicht rechtfertigen.351 Genauso wenig lässt sich aus dem Unverständnis des Kranken schließen, dass pathologische Zustände, wie beispielsweise bestimmte Angstzustände, im Rahmen eines theoretischen Systems angemessen erfasst und gedeutet werden könnten. So behauptet die Hauptfigur in Der Fall Franza, die – in ihrer fatalen Doppelrolle als dessen Patientin und Ehefrau – Opfer des renommierten, grausamen Psychiaters Leo Jordan352 wird: Ich rede über die Angst. Schlagt alle Bücher zu, das Abrakadabra der Philosophen, dieser Angstsatyrn, die die Metaphysik bemühen und nicht wissen, was die Angst ist. Die Angst ist kein Geheimnis, kein Terminus, kein Existential, nichts Höheres, kein Begriff, Gott bewahre, nicht systematisierbar. Die Angst ist nicht disputierbar, sie ist der Überfall, sie ist Terror, der massive Angriff auf das Leben.353 347

Ingeborg Bachmann: „Das Tremendum – Sylvia Plath: ‚Die Glasglocke‘ [Entwurf]“, in: Werke, Bd. 4, S. 359. 348 Ebd. Vgl. dazu auch das Konzept der „schreckliche[n] Poesie“ in Ingeborg Bachmann: „Das Buch Franza“ [Textstufe III, Vorreden], in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 2, S. 72. 349 Ingeborg Bachmann: „Georg Groddeck“ [Entwurf], in: Werke, Bd. 4, S. 347. 350 Ebd., S. 351. Bachmanns Erzählung Ihr glücklichen Augen ist Groddeck gewidmet. 351 Zur verwaltenden Abwicklung der Krankheit vgl. ebd., S. 349 f. Vgl. auch exemplarisch das Gespräch mit dem Gynäkologen in Bachmann: „Drei Wege zum See“, in: Werke, Bd. 2, S. 446 f. 352 „Die Jordans“ werden in Simultan erwähnt (Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 285). Leo Jordan und Franza kommen im Simultan-Band auch in der Erzählung Das Gebell vor. Am Ende des Romanfragments wird Franza den untergetauchten KZ-Arzt Dr. Kurt Körner aufsuchen, um von ihm „ausgemerzt“ zu werden (Bachmann: „Der Fall Franza“, in: Werke, Bd. 3, S. 462). 353 Ebd., S. 406. Vgl. auch Franzas Ausruf: „Die Angst, die Angst, wo sind die Federn, die Kardiogramme, die sie aufzuzeichnen vermögen“ (Ingeborg Bachmann: „Das Buch Franza“ [Textstufe II,

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Die skeptische, ja ablehnende Haltung, die hier den Philosophen entgegengebracht wird, gilt im Grunde genommen ebenso den Seelenärzten, darunter auch Freud, mit dessen Angsttheorie, wie das Romanfragment belegt, Bachmann vertraut war.354 Nur die Literatur (und im Allgemeinen die Kunst) darf die Erfahrungen der Angst, der Krankheit, der Verzweiflung für sich in Anspruch nehmen: Denn, so könnte man behaupten, sowohl das klinisch-medizinische als auch das metaphysische oder daseinsanalytische Denken sind genötigt bzw. gewillt, diese realen Erfahrungen in ein „Höheres“ zu überführen, wohingegen innerhalb der literarischen Fiktion, ähnlich wie bei Groddeck, das Symbol mit der Sache selbst zusammenfällt.355 Dabei soll jedoch nicht das Leiden in schönen Wendungen gefeiert werden, sondern lediglich „das einzig Interessante und Hinreißende an einem Menschen“ zum Ausdruck kommen, nämlich „die geistige Figur einer denkenden, zerfallenden, geschlagenen und zerstörten Kreatur“.356 Jordanische Zeit], in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 2, S. 58). An anderer Stelle behauptet sie: „Früher habe ich mich nur gefürchtet, jetzt habe ich Angst, halt mich fest, die Angst ist nicht, was wir gelernt haben, sie ist das ganz andere, sie ist im Körper, nichts Fabelhaftes und kein Begriff, sie ist der Terror.“ (Ingeborg Bachmann: „Das Buch Franza“ [Jordanische Zeit, Textstufe IV.1], in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 2, S. 217). Franza hat aber „nicht die sprichwörtliche Angst, sondern die andere, die man niederwürgen kann mit den Psychopharmaka und den Spritzen und dem Stilliegen und die man steigern konnte mit der Angst vor der Angst.“ (Bachmann: „Der Fall Franza“, in: Werke, Bd. 3, S. 407). Zur Angst als „Existential“ vgl. die Ausführungen über die „Grundbefindlichkeit der Angst“ in Sein und Zeit (Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 2, S. 244–253). 354 Mit dem Satz „Nichts flottiert frei, pfui Teufel die Syndrome“ spielt Bachmann direkt auf Freud an (Bachmann: „Das Buch Franza [Textstufe II, Jordanische Zeit]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 2, S. 58; vgl. dazu Sigmund Freud: „Die Angst“, in: Gesammelte Werke, Bd. XI, S. 412). Der Roman Malina beginnt mit der Beschreibung jener „höchsten Angst“, die das Ich anfällt, sobald es über die zeitliche Dimension des „Heute“ nachdenkt: „Wenn ich […]‚heute‘ sage, fängt mein Atem unregelmäßig zu gehen an, diese Arhythmie setzt ein, die jetzt auch schon auf einem Elektrokardiogramm festzustellen ist, es geht nur nicht hervor aus der Zeichnung, daß die Ursache mein Heute ist, ein immer neues, bedrängendes, aber den Beweis für die Störung kann ich erbringen, im fahrigen Code der Mediziner verfaßt, für etwas, das dem Angstanfall vorausgeht, mich disponiert macht, mich stigmatisiert, heute noch funktionell, so sagen sie, meinen sie, die Beweiskundigen. Nur ich fürchte, es ist ‚heute‘, das für mich zu erregend ist, zu maßlos, zu ergreifend, und in dieser pathologischen Erregung wird bis zum letzten Augenblick für mich heute sein.“ (Bachmann: Malina, in: Werke, Bd. 3, S. 12 f.). Es sind laut Bachmann auch die Träume der jeweils vorangehenden Nacht, die sich „pathologisch in dieses Heute hineingeschrieben“ haben (Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, S. 103). Die Bibliothek der Autorin zeugt von vielfältigen Lektüren in den Bereichen der Psychologie, Psychotherapie, Psychiatrie und Psychoanalyse; es befinden sich darin u. a. mehrere Bände der Freud-Studienausgabe (vgl. dazu den Sachkommentar in Bachmann: „Todesarten“-Projekt, Bd. 2, S. 468). 355 Bachmann: „Georg Groddeck“ [Entwurf], in: Werke, Bd. 4, S. 352. Hier ließe sich Bachmanns Dissertation über Heidegger heranziehen, in der es bereits darum ging, die Kunst gegen die metaphysische Philosophie zu behaupten. Vgl. auch den ärztlich-analytischen Blick Jordans, der die Erfahrungen Franzas „sterilisiert“ (Bachmann: „Der Fall Franza“, in: Werke, Bd. 3, S. 384). 356 Bachmann: „Das Tremendum“, in: Werke, Bd. 4, S. 358. Schopenhauer bestimmt den Roman als einen „Guckkasten, darin man die Spasmen und Konvulsionen des geängstigten menschlichen Herzens betrachtet.“ (Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung II, in: Werke in fünf

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Vor diesem Hintergrund ist Bachmanns Äußerung über die Figuren der Wienerinnen (also auch über Nadja) zu verstehen, sie trieben sich zwar mit „nichtigen Sorgen“ um, hätten aber dennoch „ihr wirkliches Tremendum“357 zu tragen. Das bedeutet mit anderen Worten: Das „Unglück, das in allen diesen Geschichten so klein erscheint, ist ein großes Unglück“.358 Obwohl im Zentrum der Simultan-Erzählungen weibliche Figuren stehen, geht es nicht darum, speziell weibliche Befindlichkeiten und Probleme darzustellen: Letzten Endes schreibe ich natürlich nicht über Frauen und auch nicht über Männer, sondern über Menschen, über ihre Unfähigkeit, ihre Nervosität, ihre Neurosen, ihre Verzweiflung, ihren Tod, über ihr Sterben an, ja, an. Woran man stirbt, das weiß ich nicht, aber jeder stirbt doch an den anderen, also auch einer am anderen. Ebenso wie einer auflebt am anderen, und immer in wenigen Sekunden.359

Die Stichworte Nervosität und Neurose fallen auch in der Erzählung Simultan und beziehen sich bezeichnenderweise auf Männer.360 Am eindringlichsten geschildert wird zwar der krankhafte Zustand der Protagonistin, der sie in unmittelbare Todesnähe führt; „Erschütterungen, Verstörungen“361 lassen sich jedoch auch bei Mr. Frankel beobachten. Was beiden Figuren keine Befriedigung gibt, ist der Beruf, obwohl er den Mittelpunkt ihres Lebens darstellt. Nadja nennt die Konferenzen „Wahnsinn“ und „Alpträume“ und behauptet über das Dolmetschen „es zerstört mich“.362 Mr. Frankel gesteht

Bänden. Nach den Ausg. letzter Hand hrsg. v. Ludger Lütkehaus. Zürich: Haffmans, 1988, Bd. 2, S. 669). 357 Bachmann: „[Statt einem Klappentext]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 19. 358 Bachmann: „[Brief an den Verlag, Textstufe II]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 11. 359 Bachmann: „[Statt einem Klappentext]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 18. So scheint Bachmann die Schwierigkeiten der Wienerinnen nicht vordergründig in einer Geschlechterperspektive betrachten zu wollen, wenn es doch heißt: „Die ‚Befreiung‘ ist für Wienerinnen keine Kategorie […]. Daß einige dieser Frauen so kompliziert, schwierig oder labyrinthisch erscheinen, ist nicht ein Problem von Frustration, von Unverstandenheit und Unterdrücktheit, sondern bedingt durch neue und andre Faktoren, die es allerdings überall in der Welt gibt.“ (Bachmann: „[Brief an den Verlag, Textstufe III]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 13). Als einen „großen Racheakt an [der] Einteilung, der Geschiedenheit“ der Geschlechter könnte man Bachmanns Selbstverständnis ihrer Werke umschreiben (Ingeborg Bachmann: „Das Buch Franza [Textstufe II, Züricher Lesung vom 9. 1. 1966]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 2, S. 32). Es sei jedoch noch einmal auf den Dialog zwischen Ich und Malina über die Krankheit(en) der Männer und Frauen verwiesen (vgl. Bachmann: Malina, in: Werke, Bd. 3, S. 268–274). 360 Über Mr. Frankel heißt es, er habe „nicht die geringste Lust“, mit Nadja das Schlafzimmer zu teilen, dazu sei er „viel zu nervös“ (Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 292). Dann redet Nadja von Männern, die „entweder verheiratet und aufgedunsen und betrunken waren oder zufällig schlank und verheiratet und betrunken oder ganz nett und arg neurotisch oder sehr nett und homosexuell“ (ebd., S. 295). Bachmann konzipiert andernorts auch ihre Wienerinnen als „nervös und neurotisch“ (Bachmann: „[Statt einem Klappentext]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 17). 361 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 302. 362 Ebd., S. 290 f.

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sich über seine Karriere in der Diplomatie „I’m fed up“,363 es sei „[k]ein Ersatz zu finden für eine Position, die weg war, für einen Schwung, der weg war, weg die Freude, für immer“.364 Der Blick zurück bietet kaum Trost. So klagt die Simultanübersetzerin über ihre Unfähigkeit, die eigene Vergangenheit zu „fassen“,365 und sehnt sich nach einem „geisterhafte[n] Gefühl von einem Daheim“,366 während für Mr. Frankel das frühere Leben in Wien nur eine „in Vergessenheit geratene schmerzliche Freude“367 und eine „grundlose Traurigkeit“368 bedeutet. Ihm gilt das „sonderbar[e]“ Wetter als Zeichen einer Störung im natürlichen Lauf der Dinge: „immer ist es zu heiß oder zu kalt oder zu schwül, wo ich auch bin“.369 Aber Nadja erwidert, es seien vielmehr innere Vorgänge, die nicht mehr so abliefen, wie sie sollten oder könnten, und sie sagt dies auf Französisch, also in der Sprache ihrer Vergangenheit und ihrer früheren Liebe: „Tu es sûr qu’il s’agit des phénomènes météorologiques? etwas Kosmisches? moi non, je crains plutôt que ce soit quelque chose dans nous-mêmes qui ne marche plus.“370 An dieser Stelle, an der beide Figuren über das Wetter, den Kosmos, die Vergangenheit nachdenken, tritt wieder ihr grundlegendes Problem zutage, nämlich die Simultaneität als Konflikt, als Gleichzeitigkeit unversöhnlicher Gegensätze.371 Außerdem sind Nadja und Mr. Frankel von ihrer eigenen Existenz überfordert – es ist immer zu viel,372 aber andererseits zu wenig, und

363

Ebd., S. 293. Ebd., S. 297. 365 Ebd., S. 296. 366 Ebd., S. 285. 367 Ebd., S. 292. 368 Ebd., S. 303. 369 Ebd., S. 293. Vgl. auch schon die Engführung von Wetter und Befinden im Satz: „das Wetter war bedenklich und eine entsetzliche Öde in ihm“ (ebd., S. 292). 370 Ebd., S. 293. 371 Peter Fehl weist auf die Simultaneität von Freude und Schmerz hin, die in der logischen, vom „ausdrücklichen Geist des Ja und Nein“ bestimmten Sprache (Ingeborg Bachmann: „Musik und Dichtung“, in: Werke, Bd. 4, S. 61) nicht aussagbar ist. Die Sprache der Dichtung aber kann eine „neue Fassungskraft“ (Bachmann: „Frankfurter Vorlesungen [Fragen und Scheinfragen]“, in: Werke, Bd. 4, S. 192 sowie Ingeborg Bachmann: „Frankfurter Vorlesungen [Über Gedichte]“, in: Werke, Bd. 4, S. 200) erreichen, die diese Simultaneität zum Ausdruck zu bringen vermag; vgl. Peter Fehl: Sprachskepsis und Sprachhoffnung im Werk Ingeborg Bachmanns. Heidesheim: Ditters, 1970, S. 161 f. 372 Mr. Frankels Mutmaßung über Nadja ist bereits zitiert worden: „sie lebte vielleicht nur, wenn sie zu weit ging, sich heraustraute und über ihre Grenze ging.“ (Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 306; Hvh. d. Vf.). Vgl. auch folgende Stelle, an der Nadja sich den Fall vorstellt, Mr. Frankel ertränke beim Tauchen: „sie würde nicht weinen, oh nein, sondern diese tranquillizer nehmen, die sie bei ihm gesehen hatte, eine dreifache Dosis, die sollten dann in Rom dafür sorgen, daß die Probleme gelöst wurden, denn für sie war das einfach zuviel, jede Summe würde sie zahlen, damit jemand sie mit einem Wagen direkt nach Rom brächte, bis vors Hotel, und dann hatte sie noch drei Tage bis zum IBM-Kongreß in Rotterdam, Zeit zum Verwinden, zum Lernen, zum Be364

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diese Diskrepanz zwischen ihrer überwältigenden oder aber unzulänglichen Erfahrung und dem richtigen, ,gesunden‘ Maß füllen sie mit neurotischem Verhalten, Gerede, Arbeit und Tabletten.373 So stellt Nadja fest, dass sie es nicht schafft, den richtigen Abstand zu den Ereignissen ihres Lebens zu gewinnen: Sie sprach wieder von der ersten Zeit in Genf, dem unvermeidlichen, […] was allein in Genf geschehen war […], war […] nicht zu fassen, und wo nehmen die anderen Menschen bloß die Fassungskraft her, ich weiß nur, bei mir wird sie immer schwächer, ich bin entweder zu nahe daran, durch die Arbeit, oder wenn ich weggehe und mich in ein Zimmer einschließe, zu fern, ich kann es nicht fassen.374

Genf ist nicht nur der Ort, an dem die Simultanübersetzerin ihre Karriere beginnt; dort spielt sich außerdem ihre Liebesgeschichte mit Jean Pierre ab, die immer noch nicht überwunden zu sein scheint. Nadja erzählt, dass sie „einmal in einem Krankenhaus gewesen“ und dass es ihr „damals sehr schlecht gegangen“375 sei – „Mr. Frankel, dem es offenbar nie schlecht gegangen war, wunderte sich aber nicht, daß sie öfters schloß mit einem Satz: damals ist es mir gar nicht gut gegangen. Oder: damals ist es mir schlecht gegangen.“376 Mr. Frankel geht es wiederum auch schlecht, dafür macht er allerdings das Wetter verantwortlich: „lo scirocco, sto proprio male“, denkt er, und daraufhin behauptet er: „es war bestimmt Schirokko, es war sonderbar und drückend“.377 Die Simultanübersetzerin scheint aber keine Ursachen und keine Gründe zu kennen: „sie redete über alles und jedes hinweg, und was er bisher von ihr wußte, war etwas von einem Schock, but who cares, und daß es ihr öfters schlechtgegangen war.“378 Dieser Schock ließe sich in jene in Malina geschilderten „nachhaltigen Ereignisse“379 einreihen. In der Tat erwähnt ihn Nadja, um Mr. Frankel über eine nachhaltige Wirkung zu informieren: […] sie hatte es ihm schon bei der Abreise in Rom gesagt, sie könne nicht mehr, nach einem Schock, seit langer Zeit schon, später würde sie es ihm erklären, mit jemand in einem Zimmer oder gar in einem Bett schlafen, und er war erleichtert gewesen, daß sie ihm mit dieser

graben und um im swimming pool hin- und herzucrawlen, um wieder fit zu werden.“ (Ebd., S. 300 f.; Hvh. d. Vf.). 373 Zum Tablettenkonsum vgl. ebd., S. 293, 297 u. 300. 374 Ebd., S. 296; Hvh. d. Vf. 375 Ebd., S. 290. Zwar behauptet Nadja über ihre frühere Beziehung: „keine Zerrüttung, so etwas gab es jedenfalls nicht für sie, so was würde sie niemals zugelassen haben“ (ebd., S. 288), doch später erfährt man, dass es zwischen ihr und Jean Pierre recht dramatische Szenen und auch Gewalt gab (vgl. ebd., S. 303 f.). 376 Ebd., S. 291. 377 Ebd., S. 293. Auch dieser Sprachwechsel geht auf gehörte Rede zurück, denn es sind die italienischen Hotelnachbarn Mr. Frankels, die in der Nacht über den „scirocco“ klagen. 378 Ebd., S. 294. 379 Bachmann: Malina, in: Werke, Bd. 3, S. 94.

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Geschichte gekommen war, denn er hatte auch nicht die geringste Lust, war viel zu nervös und Alleinsein zu sehr gewöhnt.380

So schlafen Nadja und Mr. Frankel in der ersten Nacht ihres Aufenthalts in getrennten Zimmern. Dass er allerdings „das Bett noch warm und mit ihrem Geruch vor[findet]“,381 deutet auf einen Beischlaf hin. In einer langen Passage erlebter Gedankenrede werden nun Mr. Frankels Unruhe und Beklemmungsgefühl vorgeführt; bevor er, erschöpft und dennoch schlaflos, wie gewohnt zu seinem Valium 5 greift, heißt es abschließend, er sei mit Nadja „immediately happy“ gewesen, ohne jedoch daran glauben zu können, „that it’s possible to be happy“.382 Diese Unmöglichkeit ist auch damit zu begründen, dass „sein Kopf nichts verdrängte, was er hinter sich lassen wollte“.383 In der zweiten Nacht müssen sich dann die Liebenden ein Schlafzimmer teilen. Nadja kann mit dieser notgedrungen zustande gekommenen Intimität nicht umgehen. Das Unbehagen ihres eigenen Begehrens reibt sich mit ihrem Bedürfnis nach „einem guten starken festen haltgebenden Etwas“;384 die Nähe, die sie nicht ertragen kann, ist demnach auf widersprüchliche Weise dieselbe, die sie eigentlich braucht.385 Sie wacht und wacht, bis sie endlich Mr. Frankel gesteht, dass alles, was sie zum Schlafen braucht, sein Halt sei, wenngleich „nur ein wenig“: Im Zimmer […] warf sie sich sofort auf das Bett neben dem Fenster, denn wenn sie schon kein eigenes Zimmer bekam, dann müsse sie wenigstens neben dem Fenster schlafen können, um keine Zustände zu bekommen. […] Sie lag immer wacher da, wie in einem Schlafwagen oder in einem Flugzeug mit fremden Menschen zusammengezwungen […]. Im Badezimmer legte sie die beiden dicken Badetücher in die Wanne und bettete sich hinein, sie rauchte und rauchte, und tief in der Nacht ging sie zurück ins Zimmer. Einen halben Meter stand ihr Bett von dem seinen entfernt, sie tauchte ihre Füße in den Abgrund zwischen den beiden Betten, zögerte, dann drängte sie sich vorsichtig an ihn und, während er sie im Schlaf an sich zog, sagte sie, nur ein wenig, du mußt mich nur ein wenig halten, bitte, ich kann sonst nicht einschlafen.386

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Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 291 f. Ebd., S. 291. 382 Ebd., S. 293. 383 Mr. Frankel wolle sich nur auf Nadja konzentrieren, „auf diese fremde Frau mußte er achten, mit der er aus der Welt herausfuhr, er ärgerte sich nur, daß sein Kopf nichts verdrängte, was er hinter sich lassen wollte, ja, er wollte hinaus für eine Weile, mit einer großen Wut, weil diese Tage ihm und nicht Food and Agriculture gehörten und weil ihm sowieso zu seinem Leben nichts mehr einfiel“ (ebd., S. 296). 384 Bachmann: „Das Buch Franza [Textstufe II, Jordanische Zeit]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 2, S. 50. Die Wendung bezieht sich indirekt auf Franzas Vater. 385 „Indessen haben wir schon oft in der Psychoanalyse erfahren, daß Gegensätze keinen Widerspruch bedeuten“, schreibt Freud (Sigmund Freud: „Widerstand und Verdrängung“, in: Gesammelte Werke, Bd. XI, S. 311). 386 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 298 f.

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Nadjas „Zustände“ sind eine der Folgen ihres „Schock[s]“.387 Noch scheinen es keine gravierenden Angstzustände zu sein, sie ließen sich vielleicht noch als Verhaltensstörungen betrachten. Allerdings scheint die bereits zitierte Umschreibung jener Sexszene, die sich in der dritten und letzten Nacht ereignet und die nicht gerade von einem „angeborenen Hang zum Vergnügen“ im Geschlechtsleben zeugt, der Äußerung Bachmanns zu widersprechen, man dürfe die Figuren aus dem Simultan-Band „nicht mit Problemen belasten, die sie nicht haben“, nämlich mit dem, „was man heute die sexuellen Probleme nennt“.388 Die Erzählung Simultan legt jedenfalls nahe, dass der „Schock“ und dessen pathogene Wirkung vor allem auf die mehrfach thematisierte ehemalige Liebesbeziehung der Protagonistin zurückzuführen sind. Die Beziehung zu Jean Pierre und ihr Schauplatz sind dabei eng mit Nadjas Übersetzungen verknüpft: Der Beginn ihrer Karriere in Genf koinzidiert offenbar mit ihrer Verweigerungshaltung gegenüber der deutschen Sprache; dann aber hilft der Sprachwechsel in die „eigen[e]“ Sprache,389 um das Scheitern der Liebe zu verstehen, das wiederum seine Ursache in sprachlichen Problemen hat. Sprache, Selbstverständnis bzw. Identität und Liebe hängen also in Nadjas Fall auf ambivalente Weise zusammen: verhängnis- und hoffnungsvoll. Letztlich verrät Bachmanns Text zu wenig, um den „Schock“ der Protagonistin eindeutig zu bestimmen; vielmehr weist er darauf hin, dass das „traumatische Ereignis […] einerseits der Repräsentation trotzt und sie andererseits fortführt“.390 In der Tat besteht für die Psychoanalyse die archäologische Arbeit am Trauma in einer fortwährenden Wiederholung. Da jedes Trauma immer schon in einer nachträglichen Dimension zustande kommt, insofern es nur nachträglich (wieder) erlebt bzw. erinnert wird, kann die Bestimmung des Ursprungstraumas nur entlang einer Kette traumatischer Wiederholungen verlaufen.391 Es gibt, wie Judith Butler schreibt, „keinen anderen Weg, das 387

Ebd., S. 292 u. 294. Bachmann: „[Brief an den Verlag, Textstufe I]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 9. Zur Ablehnung der Sexualität als Problem vgl. auch Rosamunde (Ingeborg Bachmann: „[Rosamunde, Textstufe III]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 4, S. 34 f.). 389 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 289. 390 Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Aus dem Englischen v. Kathrina Menke u. Markus Krist. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2006, S. 64. 391 Nach Ansicht Freuds kann jedes Trauma auf ein vorangehendes Trauma zurückgeführt werden, immer weiter zurück bis zum ursprünglichen Trauma der Geburt, welche „die Quelle und das Vorbild des Angstaffektes ist.“ (Freud: „Die Angst“, in: Gesammelte Werke, Bd. XI, S. 412). In der Dimension der Nachträglichkeit vermischen sich Phantasien und tatsächliche Ereignisse zur Geschichte eines Traumas. Die Archäologie der individuellen traumatischen Geschichte und das Aufdecken von „Initialsituationen“ sind spätestens seit Malina ein wiederkehrendes Thema in Bachmanns Werk (Tanja Schmidt: „Beraubung des Eigenen“, in: Kein objektives Urteil, S. 481, Anm. 8). Traumata, die „n i c h t g e n ü g e n d ‚ a b r e a g i e r t ‘ w o r d e n s i n d “, zeichnen nach einer frühen Entdeckung Freuds die Hysterie aus (Sigmund Freud: „Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene“, in: Gesammelte Werke, Bd. I, S. 81–98, hier S. 89); allgemein ließe sich nach dem Verhältnis von (kontingentem) Trauma und (neurotischer bzw. pathologischer) Disposition des Subjekts fragen (vgl. ebd., S. 93). 388

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Trauma durchzuarbeiten, als die Anstrengung zu unternehmen, den Verlauf der Wiederholung zu steuern.“392 In Simultan ereignet sich ine solche Wiederholung des Traumas während des Ausflugs zum Felsen von Maratea. Nadjas erkennbarer Affektzustand ist hier die Angst, die einerseits mit dem Trauma zusammenhängt und andererseits das Verhältnis zu den Sprachen und deren Gebrauch bestimmt. Dieser Zusammenhang lässt sich mit Freuds Schrift Hemmung, Symptom und Angst genauer fassen. In seiner sogenannten zweiten Angsttheorie bestimmt Freud die Angst als Reaktion auf eine traumatische Situation.393 Diese Reaktion ist entweder unmittelbar, im Sinn von „automatisch“,394 oder sie ist mittelbar, d. h., sie ist als ein „Angstsignal“395 zu verstehen. Während die automatische Angst „ungewollt“396 auftritt und „unzweckmäßig“397 ist, soll die Angst als Signal eine Abwehrfunktion auslösen.398 Demnach wäre es richtiger zu sagen, das Angstsignal sei eine Reaktion auf eine drohende traumatische Situation bzw. auf eine Gefahrensituation, nämlich auf „die erkannte, erinnerte, erwartete Situation der Hilflosigkeit“.399 Die Angstreaktion ist also als eine Reproduktion bzw. Antizipation zu betrachten, bei der (wie) durch ein Erinnerungssymbol die Erinnerung an eine frühere traumatische Situation wachgerufen wird.400 Ferner unterscheidet Freud zwischen „Realangst“ als Angst vor einer „Realgefahr“ einerseits und andererseits „neurotischer Angst“ als Angst vor einer „Triebgefahr“,401 wobei „der Inhalt der Angst unbewußt bleibt und nur in einer Entstellung bewußt 392

Butler: Haß spricht, S. 66. Die sogenannte erste Angsttheorie besagt dagegen, dass „die neurotische Angst aus der Libido entsteht, ein Umwandlungsprodukt derselben darstellt, sich also etwa zu ihr verhält wie der Essig zum Wein“ (Sigmund Freud: „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, in: Gesammelte Werke, Bd. V, S. 126, Anm. 1). Eben diese Überzeugung, dass „die Angst durch eine Art Vergärung aus der im Ablauf gestörten Libidobesetzung selbst hervorgeht“ (Freud: „Hemmung, Symptom und Angst“, in: Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 153), gibt Freud später auf. Zur ersten Angsttheorie vgl. ebd., S. 193 f. sowie Sigmund Freud: „Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomenkomplex als ‚Angstneurose‘ abzutrennen“, in: Gesammelte Werke, Bd. I, S. 315–342. 394 Freud: „Hemmung, Symptom und Angst“, in: Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 171. 395 Ebd., S. 170 f. Vgl. dazu auch ebd., S. 168 f., 195 u. 198 f. Freud schreibt, der erstgenannte Angsttyp komme „unter dem Einfluß des Automatismus – ich zöge es vor zu sagen: des Wiederholungszwanges“ (ebd., S. 185) zustande. 396 Ebd., S. 195. 397 Ebd., S. 201, Anm. 1. Vgl. auch ebd., S. 198 u. 265. 398 Da die Abwehrfunktion dem Ich zugewiesen ist, wird hier bereits klar, in welchem Maße Freud mit der zweiten Angsttheorie das Ich als „die eigentliche Angststätte“ bestimmt (ebd., S. 120 u. 171; vgl. auch ebd., S. 193 f.). 399 Ebd., S. 199. 400 Vgl. vor allem ebd., S. 199 f.; zur Reproduktion der Angst nach dem Trauma der Geburt vgl. ebd., S. 163 f., 168 u. 194. Die Angst folgt also den Prinzipien der Verdichtung und Verschiebung. 401 Ebd., S. 198. Realangst als diejenige Angst, die „ein Objekt gefunden hat“, ist die „Furcht“ (ebd.); die Unterscheidung zwischen Angst und Furcht findet sich auch in Freud: „Die Angst“, in: Gesammelte Werke, Bd. XI, S. 410.

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wird“.402 Freud behauptet nun, dass die innere Triebgefahr oftmals durch Projektion an eine äußere Gefahr gebunden wird, da dies die Möglichkeit bietet, sich „durch Flucht und Vermeidung der Wahrnehmung [zu] schützen“.403 So nimmt Nadja die steigende Höhe bzw. den Abgrund als äußere Gefahr wahr und kann sich auf diese Weise zu schützen versuchen, etwa indem sie den Blick abwendet oder sich mit den Füßen abstemmt. Über diese Reaktion hinaus werden jedoch unübersehbare Symptome gebildet: Atemstörungen, Lähmung (Parese und Anästhesie), Schwindel und Sprachverlust; das gehemmte Weinen ließe sich ebenfalls dazuzählen.404 Die Vermutung liegt nahe, dass hier eine Konversion stattfindet, bei der gewisse innere „Triebregungen“, die überhaupt als „Bedingungen der äußeren Gefahr“405 zu betrachten sind, einem Verdrängungsprozess unterzogen werden. Auch dies steht im Einklang mit Freuds zweiter Angsttheorie, nach der die neurotische Angst Abwehrmechanismen – wie beispielsweise die Verdrängung406 – auslöst, um die gefährlichen Triebe außer Gefecht zu setzen (wobei die Abwehr auf unbewusster oder vorbewusster Ebene erfolgt). Es stellt sich also die Frage, welche Triebregungen von Nadja als drohende Gefahr wahrgenommen werden und ihre Angst bzw. Angstabwehrmechanismen auslösen. Beiläufig formuliert Freud in Hemmung, Symptom und Angst den Gedanken, dass jede reale Gefahr eine Gelegenheit darstellt, dem Todestrieb nachzugeben.407 Demnach ist es in realen Gefahrsituationen häufig der Fall, dass zur berechtigten Realangst „ein Stück Triebangst hinzukommt“.408 Es heißt weiter: 402

Freud: „Hemmung, Symptom und Angst“, in: Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 157. Ebd., S. 156. Vgl. auch schon in Freuds erster Angsttheorie die These: „Die (hysterischen) Kranken wissen nicht zu sagen, wovor sie sich ängstigen, und verknüpfen sie [die Angst] durch eine unverkennbare sekundäre Bearbeitung mit den nächstliegenden Phobien.“ (Freud: „Die Angst“, in: Gesammelte Werke, Bd. XI, S. 418). Wenn keine Projektion erfolgt, bleibt die neurotische Angst scheinbar ohne erkennbaren Anlass bzw. ohne Objekt. In dieser Hinsicht wäre sie analog zur Angst bei Heidegger, der in Sein und Zeit das „Wovor der Angst“ als „Nichts und Nirgends“ bestimmt und die Angst selbst als ein Gefühl der „Unheimlichkeit“ – auch im Sinne von „Nicht-zuhausesein“ – beschreibt (Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 2, S. 248 u. 250). Ferner heißt es: „Das Wovor der Angst ist völlig unbestimmt. […] Nichts von dem, was innerhalb der Welt zuhanden und vorhanden ist, fungiert als das, wovor die Angst sich ängstet.“ (Ebd., S. 247). Dagegen behauptet Freud: „wo Angst ist, muß auch etwas vorhanden sein, vor dem man sich ängstigt.“ (Freud: „Die Angst“, in: Gesammelte Werke, Bd. XI, S. 416). 404 Wenn man nämlich wie Freud die Hemmung als Symptom bestimmt (vgl. Freud: „Hemmung, Symptom und Angst“, in: Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 113 u. 175). 405 Ebd., S. 177. An dieser Stelle schreibt Freud: „ein reißendes Tier“ ist und bleibt eine äußere Gefahr, wohingegen Kastration oder Objektverlust zwar ebenfalls „von außen drohen“ (ebd.), letztlich aber durch unsere innere, psychische Verfassung bedingt werden. 406 „Die Angst ist also die allgemein gangbare Münze, gegen welche alle Affektregungen eingetauscht werden können, wenn der dazugehörige Vorstellungsinhalt der Verdrängung unterlegen ist.“ (Freud: „Die Angst“, in: Gesammelte Werke, Bd. XI, S. 419). 407 Freuds Jenseits des Lustprinzips liegt zu diesem Zeitpunkt bereits vor. 408 Freud: „Hemmung, Symptom und Angst“, in: Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 201, Anm. 1. Entsprechend behauptet Freud, dass häufig „an die bekannte Realgefahr eine unerkannte Triebgefahr 403

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Der Triebanspruch, vor dessen Befriedigung das Ich zurückschreckt, wäre dann der masochistische, der gegen die eigene Person gewendete Destruktionstrieb. Vielleicht erklärt diese Zutat den Fall, daß die Angstreaktion übermäßig und unzweckmäßig, lähmend ausfällt. Die Höhenphobien (Fenster, Turm, Abgrund) könnten diese Herkunft haben; ihre geheime feminine Bedeutung steht dem Masochismus nahe.409

Freud hatte bereits in seiner Vorlesung über die Angst festgestellt, dass an der Phobie „nicht so sehr der Inhalt als die Intensität“410 befremdlich wirke. Wie entscheidet man aber, ab wann die „Angstreaktion übermäßig“ ist? Die Höhe des Felsen wird von Mr. Frankel auf „600, maximal 700 Meter“ geschätzt, Nadja ist sie „höher vorgekommen als in den Bergen“.411 Der „Abgrund“ erscheint bereits als ein Produkt der Angst, insofern diese als Affekt auf den Zusammenhang von Realität, Vorstellung und Sprache einwirkt. Derrida schreibt im Rückbezug auf Rousseaus These vom metaphorischen Ursprung der Sprache: Wenn die Angst mich Riesen sehen läßt, wo nur Menschen sind, dann ist der Signifikant – als Vorstellung des Gegenstandes – metaphorisch, doch ist der Signifikant meiner Leidenschaft eigentlich. Und wenn ich sage: ‚Ich sehe Riesen‘, so ist diese falsche Bezeichnung der eigentliche Ausdruck meiner Angst. […] Oder vielmehr der Repräsentant der Leidenschaft: nicht der Schrecken selbst ist es, den das Wort Riese angemessen ausdrückt […], sondern eher ‚die Vorstellung, welche die Leidenschaft uns präsentiert‘. Die Vorstellung ‚Riese‘ ist zugleich das eigentliche Zeichen des Repräsentanten der Leidenschaft, das metaphorische Zeichen des Gegenstandes (Mensch) und das metaphorische Zeichen des Affekts (Schrecken). Dieses Zeichen ist metaphorisch, weil falsch im Hinblick auf den Gegenstand; es ist metaphorisch, weil indirekt im Hinblick auf den Affekt: es ist ein Zeichen von Zeichen, es drückt die Emotion nur mittels anderer Zeichen, mittels des Repräsentanten des Schreckens, das heißt aber mittels falscher Zeichen aus. Es repräsentiert den Affekt eigentlich nur als Repräsentation eines falschen Repräsentanten.412

In Analogie zu Derridas zeichentheoretischer Interpretation ließe sich mit Freud sagen, dass die Phantasien des Kranken – Nadja blickt am Ende „zu den hohen phantastischen Hügeln“413 zurück – „wirklich erlebt“ werden; sie „besitzen p sychi sc h e Realität im Gegensatz zur materiellen, und wir lernen allmählich verstehen, daß in der Welt der Neurosen die psychische Realität die ma ßg e be nd e i st “.414 Im Gegengeknüpft ist.“ (Ebd., S. 199). Der Ausdruck „unerkannte Triebgefahr“ weist auf die nötige Deutung durch den Analytiker hin. 409 Ebd., S. 201, Anm. 1; Hvh. d. Vf. Zum Masochismus vgl. den von Nadja ersehnten Tod als Beute Mr. Frankels, nämlich als Ersatz der von ihm bei der Jagd entdeckten „Cernia“. Unter welchen Voraussetzungen Freud die Höhenphobien für unergründlich feminin hält, kann an dieser Stelle nicht näher erläutert werden. 410 Freud: „Die Angst“, in: Gesammelte Werke, Bd. XI, S. 414. 411 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 311. 412 Jacques Derrida: Grammatologie. Aus dem Französischen v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1974, S. 472–475. 413 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 314; Hvh. d. Vf. 414 Sigmund Freud: „Die Wege der Symptombildung“, in: Gesammelte Werke, Bd. XI, S. 383; Hvh. d. Vf.

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satz zu „dem Felsen von Maratea, dem überhängenden, steilsten“, wirkt die ChristusStatue angesichts ihrer realen Größe als „groteske Anmaßung“. Wenn also Nadja die Statue als unheimlich, vor allem unheimlich groß wahrnimmt, mag dies nicht bloß eine dem Affekt geschuldete Übertreibung sein, denn der aus vierhundert Tonnen Beton gegossene Christus von Maratea ist zweiundzwanzig Meter hoch, seine ,Flügel‘ haben eine Spannweite von neunzehn Metern.415 Der von Freud erkannte Konnex zwischen Höhenphobie und Todestrieb ist auch in Simultan zu. Als Nadja sich vom Abgrund angezogen fühlt und wünscht, sich darin mit ihrem Geliebten in den Tod zu stürzen, kommt ihr Todestrieb zum ersten Mal auf unmittelbare Weise zum Vorschein.416 Dabei gibt es von Angst keine Spur, schon gar nicht von einer Höhenphobie; der Todestrieb wird nur insofern abgewehrt, als Mr. Frankel Nadja daran hindert, auf den Abgrund zuzusteuern – woraufhin sie bezeichnenderweise sofort eine Tablette nimmt und angibt, Kopfschmerzen zu haben. Dann aber, auf der Fahrt zum Felsen von Maratea und auf dem Felsen selbst, verhält es sich umgekehrt: Nadja hat Höhenangst,417 und der Todestrieb wird Gegenstand einer pathologischen Abwehr.418 Die Höhenangst dient nun als Signal, mit dem das Ich aufgefordert wird, den Todestrieb unschädlich zu machen. Dabei lässt sich das Signal nicht ohne Weiteres von der eigentlichen Abwehr trennen, denn die Höhenangst kommt einer Todesangst gleich und wirkt als solche dem Todestrieb entgegen. In diesem Sinn wäre – im Gegensatz zur Behauptung Freuds im obigen Zitat – aus der Perspektive der Abwehr die der Höhenangst geschuldete Lähmung nicht „unzweckmäßig“, da sie ein weiteres Fortschreiten Nadjas in Richtung Abgrund bzw. Tod verhindert.419 Der Gegensatz von Todestrieb und Todesangst,420 der den gesamten Anfall durchzieht, spiegelt sich etwa im Satz „ou je meurs ou je me jette en bas“421 wider, mit dem 415

Die Statue befindet sich auf dem Monte San Biagio in Maratea. Ihr drei Meter breites Antlitz ist dem Landesinneren, nicht dem Meer zugewendet. 416 Vgl. Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 297. 417 Da diese Angst hier erstmals auftritt, kann dabei nicht von einer Phobie im Sinne einer wiederkehrenden Angst die Rede sein. 418 Es werden, genauer gesagt, „Triebrepräsentanzen“, d. h. bestimmte mit dem Trieb verbundene Vorstellungsinhalte abgewehrt bzw. verdrängt, nicht der Trieb selbst (vgl. Sigmund Freud: „Das Unbewußte“, in: Gesammelte Werke, Bd. X, S. 275 f.). Der Trieb äußert sich ohnehin immer nur in entstellter Form. 419 Freud sieht hier die Lähmung in Opposition zur Flucht bzw. zur Aggression, die beide als zweckmäßige Reaktionen gelten (vgl. Freud: „Hemmung, Symptom und Angst“, in: Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 113 ff.). 420 Da es hier vordergründig um den Angstaffekt geht, wird die Bezeichnung Todesangst gewählt und nicht die Kategorie der Lebenstriebe aufgerufen (obgleich sie in Freuds Bestimmung als „Eros“ für die Interpretation ebenfalls fruchtbar gemacht werden könnten; vgl. Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips, in: Gesammelte Werke, Bd. XIII, S. 45). Zur Todesangst vgl. auch Bachmann: Malina, in: Werke, Bd. 3, S. 296 sowie Ingeborg Bachmann: „[Todesangst-Entwürfe]“, in: „Todesarten“-Projekt, Bd. 1, S. 107–111. 421 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 310.

Sprachlosigkeit, Mehrsprachigkeit und Freuds Psychoanalyse

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Nadja zum Ausdruck bringt, dass sie sterben oder aber sich selbst töten könnte. Der masochistische, halb als Selbstmord, halb als Opfertod performierte Vernichtungsakt, den sie am Ende halluziniert, ist als Kompromissbildung zu deuten. In dieser Szene verbindet sich das „Nirwanaprinzip“422 mit jener von der Christus-Statue repräsentierten Erlösungsdoktrin; in beiden durchdringen sich Vernichtung und Lust wechselseitig. Analog dazu weist auch die unheilbare Krankheit, von der sich Nadja befallen weiß, zweifach auf den Tod hin, nämlich als erwünschtes und zugleich erlittenes Schicksal. Der Todestrieb schlägt wiederholt in der Vorstellung, in der Wahrnehmung und nicht zuletzt in der Sprache durch: Nadja fühlt, sagt und denkt mehrfach, dass sie stirbt. Doch er vermag sich in der Realität nicht durchzusetzen, obgleich dies nicht bedeutet, dass er vollständig verdrängt wird. Nach Freud hat der Todestrieb das Ziel, eine unerträglich gewordene Spannung aufzuheben, die aus einem als unlösbar wahrgenommenen Konflikt hervorgeht; er ist insofern ein regressiver Trieb, als er immer eine Rückkehr zu einem früheren, ‚einfacheren‘ Zustand verfolgt – cupio dissolvi als Auflösung von Zusammenhängen. Diese auflösende, abstoßende Triebkraft steht in Nadjas Fall im Gegensatz zu einer anderen Triebkraft, die als Anziehung wirkt. Allgemein (wenn auch vereinfachend) lässt sich nämlich behaupten, die Hauptfigur von Simultan leide am Konflikt zwischen dem Wunsch nach Zugehörigkeit, Bindung und Vereinigung einerseits und dem Wunsch nach Trennung, Distanznahme und Isolierung andererseits.423 Gerade weil dieser Konflikt ungesagt bleibt, soll im Folgenden versucht werden, seine Reichweite und seine mögliche oder vorläufige Auflösung aufzuzeigen. Dabei wird die für das psychische und physische Leben der Simultanübersetzerin konstitutive Bedeutung der Sprachen erneut deutlich. Im Sinne einer Wiederkehr des Verdrängten bzw. in Folge einer unvollständigen Verdrängung424 flammt der Todestrieb nach dem Angstanfall noch einmal auf: Nadja springt von einem Felsen zum nächsten und „riskier[t] es eben, abzustürzen“; gleichzeitig versucht sie ihn zu unterdrücken, indem sie sich von der „Pflicht“ zu leben überzeugen will.425 Die Lösung des Konflikts besteht darin, den selbst auferlegten Lebenszwang zu hinterfragen und schließlich abzulegen. Diese Erkenntnis verleiht Nadja, über die akute Notsituation hinaus, Sicherheit und Stärke. Offenbar ist sie aber nicht ausrei422

Freud: Jenseits des Lustprinzips, in: Gesammelte Werke, Bd. XIII, S. 60. So redet Nadja von ihrem „Selbständigkeitsdrang“ (Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 286) und kann nicht das Zimmer mit Mr. Frankel teilen, wünscht sich aber zugleich eine besonders tiefe Verbindung mit dem Anderen, im Sinne einer Simultaneität (vgl. dazu v. a. Kap. 5.5.3.). 424 „Wenn es dem Ich gelungen ist, sich einer gefährlichen Triebregung zu erwehren, z. B. durch den Vorgang der Verdrängung, so hat es diesen Teil des Es zwar gehemmt und geschädigt, aber ihm gleichzeitig ein Stück Unabhängigkeit gegeben und auf ein Stück seiner eigenen Souveranität verzichtet. Das folgt aus der Natur der Verdrängung, die im Grunde ein Fluchtversuch ist. Das Verdrängte ist nun ‚vogelfrei‘, ausgeschlossen aus der großen Organisation des Ichs, nur den Gesetzen unterworfen, die im Bereich des Unbewußten herrschen.“ (Freud: „Hemmung, Symptom und Angst“, in: Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 184 f.). 425 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 314. 423

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chend, da das erlösende Weinen sich noch immer nicht einstellen will. Und nicht nur die Hemmung des Weinens, auch ein zweites Symptom, das während des Angstanfalls gebildet wird und in Form eines latenten Angstgedankens stets vorhanden war, bleibt erhalten: die drohende Sprachlosigkeit. Beide Symptome lösen sich schließlich in der Bibelübersetzungsepisode auf, als nämlich die Befreiung vom Wiederholungszwang erfolgt. Nadjas „Aberglaube“, jeden Tag ein zufällig ausgesuchtes Wort übersetzen zu müssen, um dadurch dem Tag „Halt“ zu geben, erinnert in der Tat an die „magischen Isolierungsaktionen“ der Zwangsneurotiker.426 Ferner entspricht Nadjas Verbot – „nie mehr Deutsch“427 – dem zwanghaften Gebot, stets zum Übersetzen in der Lage zu sein.428 Wird nun, da sich der Satz vom Wunder nicht übersetzen lässt, das abergläubische Ritual verhindert, bricht die Ordnung der Sprachen zusammen, die befestigten und memorierten Wortmassen bröckeln und drohen in sich zusammenzustürzen. Die Übersetzung funktioniert nicht mehr im Sinn eines stabilen und routinierten Verfahrens, bei dem die wechselseitige Isolierung und Berührung der Sprachen in einem Gleichgewicht gehalten werden können. Sobald sich eine tiefere Bedeutung in oder gar jenseits der Sprache zeigt, wird es unmöglich, auf diese Weise zwischen den Sprachen zu schalten. Das Scheitern des Übersetzens als einer Zwangshandlung befreit also vom Zwang und löst die Hemmung. Die entscheidende Erfahrung ist damit die Aufgabe des Übersetzens als eine Erfahrung der Sprache, und Nadja macht sie für sich alleine. Bereits diese Tatsache entkräftet weitgehend jene Deutungen, die Mr. Frankel eine zentrale Rolle – sei sie positiv oder negativ – einräumen und die Beziehung zwischen Nadja und den Sprachen in den Hintergrund treten lassen. So führt beispielsweise Christine Kanz die Angst der Protagonistin auf Mr. Frankel zurück: Nadja habe Angst „vor zuviel Abhängigkeit vom Mann“ und „vor zuviel Hingabe des eigenen Selbst“, resigniere aber dann und willige einem „tödliche[n] Einverständnis mit einem Dasein als Objekt“ ein.429 Dass in diesem Zusammenhang weder die Christus-Statue noch die Sprache(n) erwähnt werden, zeigt bereits, mit welcher Ungenauigkeit Kanz die Angstszene in den Blick nimmt. Es stimmt zwar, dass Nadja am Anfang der Erzählung Mr. Frankel nicht 426

Freud: „Hemmung, Symptom und Angst“, in: Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 152. Nadja bedient sich in ihrer Zwangshandlung eines Wörterbuchs und betrachtet es als „Orakel“; mit Bezug auf Ödipus spricht Freud vom „Zwang des Orakels“ (Sigmund Freud: „Abriß der Psychoanalyse“, in: Gesammelte Werke, Bd. XVII, S. 119). Vgl. auch den „zwanghaften Blick auf die Uhr“ (Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 314), obgleich Nadja immer weiß, wie spät es ist (vgl. ebd., S. 297). Über die Angst schreibt Freud: „Wir verstehen, daß die Angst durch die Zwangshandlung gedeckt war, um die Angst zu ersparen.“ (Freud: „Die Angst“, in: Gesammelte Werke, Bd. XI, S. 419). Es ist kein Zufall, dass Freud seine Theorie des Todestriebs unter anderem aus der Klinik der Zwangsneurose gewonnen hat. 427 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 285. 428 Zu den Geboten und Verboten der Zwangsneurose vgl. Sigmund Freud: „Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose“, in: Gesammelte Werke, Bd. VII, S. 379–463. Das Verbot lässt sich dabei mit der Versagung verbinden; vgl. dazu weiter unten. 429 Christine Kanz: Angst und Geschlechterdifferenz. Ingeborg Bachmanns „Todesarten“-Projekt in Kontexten der Gegenwartsliteratur. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1999, S. 100 f.

Sprachlosigkeit, Mehrsprachigkeit und Freuds Psychoanalyse

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ausgeliefert sein will und dass sie dann, während der Fahrt zum Felsen, ihm (und überhaupt dem Geschehen) gegenüber völlig ohnmächtig ist. Dies ließe sich einfach damit erklären, dass sich ihre Beziehung zu diesem Mann von Beginn an und durchgehend als Ambivalenzkonflikt gestaltet.430 Doch die Identifikation Mr. Frankels „mit dem Tod und der Liebe beziehungsweise dem Leben zugleich“431 wäre weiter zu erörtern, nämlich, wie hier geschehen, im Hinblick auf die Sprache. Der Angstanfall und die daraus resultierende Entwicklung sind nicht nur in der Perspektive eines in der Vergangenheit verwurzelten Konflikts bzw. Traumas zu betrachten. Obgleich Nadjas „Vernichtung“ einem „Schon-beinahe-Vernichtetsein durch eine Vorgeschichte“432 entspricht, bleibt die damit verbundene Angst auch „Angst vor etwas“, d. h., sie wird in der Dimension der „Erwartung“ erfahren.433 So könnte man sagen, Nadja ängstige sich vor einem sich nähernden möglichen Verlust. Es ist zunächst der Verlust des Liebesobjekts in einem banalen Sinn, da es lediglich darum geht, dass die gemeinsamen Urlaubstage der zwei Protagonisten vorbei sind. Doch offenbar hängt mehr daran. Denn Mr. Frankel ist für Nadja mehr als nur ein Geliebter, er bringt etwas zurück, er regt etwas an, er richtet etwas an. Wenn sie mit ihm „eine Zusammengehörigkeit herstellen“434 will, so bezieht sich dies auch auf die Sprache. Mr. Frankel ist Träger der verdrängten Muttersprache und der Liebe in bzw. zu dieser Sprache. Er repräsentiert gleichsam metonymisch die von Nadja über Jahre hinweg gemiedene deutsche Sprache. Diese plötzlich von Neuem einbrechende Sprache erscheint wiederum selbst als Metonymie: Sie stellt den abhanden gekommenen Teil eines großen Ganzen dar, zu dem das Heimatgefühl, die Stadt Wien, ihre Bezirke und Bewohner, die Kindheit, das „gschlenkert[e] Krokodil“435 und all das, was in der Erzählung verschwiegen bleibt, gehören. Es kommt also weniger auf die konkrete Präsenz eines „Mr. Ludwig Frankel“436 als vielmehr auf dessen übertragene Bedeutung an, und dies obwohl es nur am Anfang von Simultan ausdrücklich um die Muttersprache geht. Die drohende Trennung von Mr. Frankel schürt die Todesangst während des Anfalls; sie weist Nadja nicht nur auf die Vergänglichkeit der Bindung zum Geliebten, sondern auch auf deren Unmöglichkeit hin. Der Wunsch, mit Mr. Frankel zusammen zu sein und über ihn möglicherweise einen neuen Zugang zur eigenen Muttersprache zu finden, ist mit großem Widerstand verbunden, denn er steht quer zum autarken Handeln Nadjas. Doch eine Trennung bedeutete umgekehrt eine Rückkehr zu jener Lebensform der 430

Dies im Sinne von Hinwendung, Hingabe, Liebesbeteuerungen und zugleich Abwendung, Enttäuschung, Hemmung. Der Begriff wird von Freud verwendet (vgl. Freud: „Hemmung, Symptom und Angst“, in: Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 190). 431 Kanz: Angst und Geschlechterdifferenz, S. 101. 432 Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, S. 89. 433 Freud: „Hemmung, Symptom und Angst“, in Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 197. 434 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 297. 435 Ebd., S. 304. 436 Ebd., S. 297. Am deutlichsten zeigt dies Mr. Frankels Unbeteiligtsein während des Angstanfalls, aber etwa auch zum Schluss, als er im Bann des Fernsehers steht.

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„Versagung“,437 aus der die Simultanübersetzerin durch die Beziehung zu Mr. Frankel einen Ausweg hatte bzw. hätte finden können. Dies wird ihr offenbar bewusst, als es heißt: „etwas fing an, in ihr auszubleiben, es konnte der Anfang der Sprachlosigkeit sein, oder es fing an, etwas einzutreten, eine tödliche Krankheit“.438 Krankheit und Sprachlosigkeit setzen hier gleichzeitig ein, sie sind auch weitgehend gleichzusetzen. Die im Angstzustand erfahrene Sprachlosigkeit betrifft alle Sprachen und ist eine tiefe Erfahrung der Ohnmacht. Dagegen hat Nadja die deutsche Sprache vorsätzlich verlassen, sich diese versagt und nur „für den Gebrauch“439 gestattet. Versagung meint stets Versagen und Versagtwerden; in Bezug auf den unbefriedigten Wunsch hat es auch für Freud eine aktive und eine passive Seite.440 So scheint Nadjas Rede in ihrer extremen Mehrsprachigkeit einem Sprachverlust geradezu entgegenzustehen und kann als Aufbegehren gegen eine drohende Sprachlosigkeit aufgefasst werden (aktive Seite), ebenso erweckt sie jedoch den Anschein, das Ergebnis eines defekten Mechanismus zu sein, über den die Simultanübersetzerin keine Kontrolle hat (passive Seite). Hinter der Fassade des polyglotten Lebens ist die Mehrsprachigkeit in Form eines immer wieder aufs Neue einsetzenden Sprachwechsels bereits ein Zeichen für die Sprachlosigkeit selbst. Die Sprachverwendung ist nur noch im sprachlichen Wechsel möglich und somit gebrochen. Je mehr Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel, umso mehr Sprachlosigkeit – und umgekehrt, da Nadjas Schaltmechanismen wiederum dazu dienen, sich der Tatsache zu versichern, dass die Sprachen vorhanden und verfügbar sind. Dieser Teufelskreis muss zwar nicht notwendigerweise eine psychische Störung oder eine existentielle Krise bedeuten. Dennoch wirkt die zentrifugale Kraft der Sprachvielfalt auf die Hauptfigur von Simultan als eine letztlich zerstörerische Kraft.441 Dabei ist gerade die Häufigkeit der „Sprachbrüche“442 ausschlaggebend. Somit kommt es, wie bereits an anderer Stelle behauptet, auf die Überschreitung einer quantitativen Grenze an.443 Denn in qualitativer Hinsicht erscheint Nadjas Sprechen im Vergleich mit Freuds und Breuers Hysterikerinnen weniger symptomatisch oder pathologisch; es fehlt die entsprechende sprachliche Not und Verwirrung, jene „tiefe, funktionelle Desorganisati437

Vgl. Sigmund Freud: „Über neurotische Erkrankungstypen“, in: Gesammelte Werke, Bd. VIII, S. 322 f. 438 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 309. 439 Ebd., S. 285. 440 Die Versagung kann nach Freud infolge einer inneren oder äußeren Veränderung eintreten; in Übereinstimmung mit der aktiven und passiven Auslegung des Begriffs kann sie als Handeln oder Verzichten erfolgen (vgl. Freud: „Über neurotische Erkrankungstypen“, in: Gesammelte Werke, Bd. VIII, S. 323). 441 Vgl. Nadjas Aussage über das Simultanübersetzen: „es zerstört mich“ (Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 291). 442 Ebd., S. 295. 443 „Die Situation selbst wird aber nur pathogen infolge eines quantitativen Momentes; sie ist nicht etwa eine Neuheit für das Seelenleben und durch das Eindringen einer sogenannten ,Krankheitsursache‘ geschaffen.“ (Freud: „Über neurotische Erkrankungstypen“, in: Gesammelte Werke, Bd. VIII, S. 330; Hvh. d. Vf.).

Sprachlosigkeit, Mehrsprachigkeit und Freuds Psychoanalyse

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on der Sprache“, die in der Krankengeschichte der Anna O. auch „Paraphasie“ genannt wird.444 Breuer schreibt über seine Patientin: In weiterer Entwicklung fehlten ihr [Anna O.] auch die Worte fast ganz, sie suchte dieselben mühsam aus 4 oder 5 Sprachen zusammen und war dabei kaum mehr verständlich. Bei Versuchen zu schreiben schrieb sie (anfangs, bis die Kontraktur das völlig verhinderte) denselben [paraphasischen] Jargon. Zwei Wochen lang bestand völliger Mutismus, bei fortwährenden angestrengten Versuchen zu sprechen wurde kein Laut vorgebracht.445

Dagegen bleibt Nadja in ihrer Rede und in ihren Gedanken verständlich. Ihre Sprachhemmungen weisen eine extreme Reduktion der Syntax auf, doch die Mehrsprachigkeit greift nicht die Semantik der Äußerungen an. Vor allem aber ist der häufige Sprachwechsel nicht exzeptionell, sondern stellt den Normalfall der Rede bzw. ein anhaltendes Symptom dar. Mit einem hohen, körperlichen und psychischen Aufwand ist die Simultanübersetzerin permanent bemüht, all ihre Sprachen zusammenzuhalten. Genau dieser Versuch mündet jedoch am Ende in die Angst vor der Sprachlosigkeit. Für den Leser verstummt Nadja nicht; sie redet zwar vorübergehend nicht mehr, aber sie denkt weiter, und der Leser kann ihre Gedanken lesen. Und wenn auch während des Angstanfalls beschrieben wird, wie ihr die Sprache versagt, handelt es sich dabei noch lange nicht um „Mutismus“. So scheint sie schließlich, nachdem sie die Sprachlosigkeit bis zum Äußersten durchmacht und sogar das Übersetzen aufgibt, wieder zur Sprache zu finden. Die mögliche Wiedergewinnung der Sprache bedeutet eine Wiedergewinnung des Lebens, im Bewusstsein eines drohenden bzw. erfahrenen Verlustes. Um nun den hier unternommenen Versuch einer psychoanalytischen Interpretation zusammenzufassen, lässt sich festhalten, dass Nadjas Sprachlosigkeit an ihren Todestrieb gekoppelt ist. Dieser wäre wiederum als Wunsch zu deuten, sich der mühsam zwischen den Sprachen hergestellten „Verbindungen und Anschlüsse“446 zu entledigen und zu einer sprachlichen Nullstufe zurückzukehren – ein Wunsch, dem das Über-Ich der Simultanübersetzerin, deren wesentlicher Charakterzug der Ehrgeiz ist,447 massiv entgegenarbeiten muss. Durch Zwang und Versagung bleiben die vielen Sprachen stets verfügbar und miteinander verknüpft, jedoch unter weitgehendem Ausschluss der Muttersprache; dieser kommen bis zur Begegnung mit Mr. Frankel offenbar nur Widerstand und Abneigung zu. Je stärker im Vordergrund die Mehrsprachigkeit steht, umso weiter wird die Muttersprache in den Hintergrund gedrängt. Die allmähliche, zwanghafte Verschüttung der Muttersprache, die Nadja aktiv betrieben hat und die in der Angst, von den Wortmassen all der – vermeintlich – beherrschten Sprachen eines Tages verschüttet zu 444

Sigmund Freud/Josef Breuer: Studien über Hysterie. Frankfurt/M.: Fischer, 1974, S. 23. Ebd. Zu Anna O. vgl. Dianne Hunter: „Hysteria, Psychoanalysis, and Feminism: The Case of Anna O.“, in: The M/Other Tongue. Essays in Feminist Psychoanalytic Criticism. Hrsg. v. Shirley Garner, Claire Kahane u. Madelon Sprengnether. Ithaca: Cornell University Press, 1985, S. 89–115. 446 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 295. 447 Vgl. Bachmann: „Brief an den Verlag [Textstufe I]“, in: „Todesarten“–Projekt, Bd. 4, S. 8 sowie Bachmann: „Drei Wege zum See“, in: Werke, Bd. 2, S. 448.

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werden, ihr Pendant hat, ist als eine weitere, besondere Form der Sprachlosigkeit zu bestimmen. Ebenso kann das Versagen angesichts des Bibelsatzes als eine Erfahrung der Sprachlosigkeit gelten. Die scheiternde Übersetzung macht dabei endgültig deutlich, was sich bereits im Angstanfall angekündigt hatte, nämlich dass die Sprache „kein fester Besitz“ ist.448 Die Interpretation von Simultan in Anlehnung an Freuds Theorie hat folglich gezeigt, dass sowohl bestimmte Angstvorstellungen als auch die unbestimmte Angst als auch der „Schock“ eng mit Nadjas Konflikt mit den Sprachen zusammenhängen. Dass es sich um einen komplizierten Zusammenhang handelt, der nur in Ansätzen rekonstruiert werden konnte, mag an der psychoanalytischen Methode selbst liegen – jedenfalls wenn man Freuds Bekenntnis folgt: „Der psychoanalytische Sachverhalt pflegt gern etwas komplizierter zu sein, als uns lieb ist. Wenn er so einfach wäre, hätte es vielleicht nicht der Psychoanalyse bedurft, um ihn ans Licht zu bringen.“449

448 449

Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 12, S. 232. Freud: „Widerstand und Verdrängung“, in: Gesammelte Werke, Bd. XI, S. 310.

6. Für und gegen das Primat der Muttersprache

6.1. Einführung Das problematische, ja pathologische Verhältnis des mehrsprachigen Individuums zur Sprache, vor allem zur Muttersprache, haben Bachmanns Erzählung Simultan sowie deren Analyse eindringlich geschildert. Einige der dabei aufgeworfenen Fragen werden im folgenden Kapitel wieder aufgegriffen und weiter erörtert. Im Mittelpunkt steht der Begriff der Muttersprache, der in Abgrenzung von einerseits Fremdsprache bzw. fremder Sprache und andererseits Mehrsprachigkeit zu befragen ist. Wie im Beschreibungsmodell dieser Studie bereits angeführt, eröffnet die Rede von Fremdsprachen bzw. von fremden Sprachen ein deiktisches Zeigefeld, insofern diese jeweils dem Einen fremd, einem Anderen hingegen eigen sein können.1 So kann eine bestimmte Sprache mit Bezug auf den literarischen Text als Fremdsprache oder fremde Sprache erscheinen, sie muss dies jedoch nicht notwendigerweise auch mit Bezug auf die sprechende Figur oder auf den Autor sein. Außerdem reicht das Spektrum einer Fremdsprache bzw. der Fremdheit in der Sprache von der gänzlich unbekannten Sprache, wie etwa dem Arabischen in den Stimmen von Marrakesch, bis zu den von Nadja in Simultan angeblich „perfekt“2 beherrschten Sprachen. Es gibt also „Fremdheiten sehr verschiedenen Grades und sehr unterschiedlicher Art, und die objektiven Andersheiten einer Fremdsprache brauchen nicht um jeden Preis als Fremdheiten interpretiert zu werden“.3 Im Sinne solcher „Andersheiten“ wäre grundsätzlich besser von ‚Anderssprachigkeit‘ zu sprechen; die Tatsache aber, dass stattdessen zumeist von Fremdsprachigkeit oder von fremden Sprachen die Rede ist, deutet darauf hin, dass immer schon in der Dichotomie von Muttersprache – als der eigenen Sprache – und Fremdsprache – als einer fremden Sprache – gedacht wird. Auch Bezeichnungen wie ‚erste‘ und ‚zweite‘ Fremdsprache sind 1 2 3

Im Folgenden wird auf die einfachen Anführungszeichen bei ,eigen‘ und ,fremd‘ verzichtet; es geht aber genau um eine Befragung und Problematisierung dieser Konzepte. Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 291. Harald Weinrich: „Fremdsprachen als fremde Sprachen“, in: Wege der Sprachkultur. Stuttgart: DVA, 1985, S. 195–220, hier S. 218. Weinrich bezeichnet demnach die Fremdheit als „ein Interpretament der Andersheit“ (ebd., S. 197).

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ein Indiz dafür, dass […] im Kompositum Fremdsprache fremd nur der Gegenüberstellung zur eigenen, d. h. der Muttersprache, dient. […] Die Fremdsprachen sind in der Regel die anderen Sprachen, die uns von allen anderen noch am bekanntesten und vertrautesten sind.4

Unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Implikationen eine Sprache als eigen oder aber fremd bezeichnet wird, soll nun in drei Schritten dargelegt werden: Zunächst wird der Begriff der Muttersprache als der ersten und eigenen Sprache diskutiert, u. a. anhand von Derridas Schrift Le monolinguisme de l’autre; dann geht es – in einem poetologischen Exkurs – um die Sprache der Literatur im Spannungsfeld von eigener und fremder Sprache; schließlich wird auf den Sprachkontakt innerhalb des multilingual mind und auf den Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und Muttersprache eingegangen. Immer wieder zeigen dabei die folgenden Überlegungen Wilhelm von Humboldts „tiefdunkle Blicke in das Wesen der Sprache“.5

6.2. Muttersprache und Nativität Wodurch unterscheidet sich die Muttersprache von Nicht-Muttersprachen? Diese Frage ist nicht zuletzt hinsichtlich der Sprachwahl von Dichtern und Schriftstellern von Interesse.6 In den Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak bezeichnet Roman Jakobson solche Autoren als zweisprachig, die sowohl Prosa als auch Poesie schreiben; an einer Stelle überblendet er die Unterscheidung zwischen Poesie und Prosa mit derjenigen zwischen Muttersprache und Fremdsprache: Wir unterscheiden klar die angelernte Sprache von der angeborenen, möge die erste auch tadellos beherrscht werden. Freilich sind Fälle von echter, absoluter Doppelsprachigkeit nicht zu leugnen. Indem wir aber die Prosa Puškins oder Máchas, Lermontovs oder Heines, Pasternaks oder Mallarmés lesen, staunen wir unwillkürlich, wie sehr diese Künstler die Mittel der anderen Sprache beherrschen, zugleich aber hören wir unvermeidlich einen gleichsam fremdländischen Beiklang in Akzent und innerer Klangform heraus, – das sind glänzende Ausfälle aus den Bergen der Dichtung in die Prosa der Ebene.7

Demzufolge wäre Heine gleich in zweifacher Hinsicht ein ‚doppelsprachiger‘ Autor, indem er nämlich einerseits die Poesie und das Deutsche als „angeboren[e]“ Muttersprachen und andererseits die Prosa und das Französische als „angelernte“ Fremdspra-

4 5 6 7

Brigitte Jostes: Fremdheit. Historisch-anthropologische Erkundungen einer linguistischen Kategorie. Paderborn: Schöningh, 2004, S. 73. Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 12, S. 256. Vgl. dazu bereits Kap. 1.3. Roman Jakobson: „Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak“, in: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hrsg. v. Elmar Holenstein u. Tarcisius Schelbert. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1979, S. 192–211, hier S. 193.

Muttersprache und Nativität

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chen beherrscht.8 Implizit vertritt Jakobson die These, dass selbst eine souverän beherrschte Sprache nie zur Muttersprache werden könne, da sie stets einen hörbaren „fremdländischen Beiklang“ behalte, und dass also umgekehrt die Muttersprache als diejenige Sprache zu betrachten sei, die nie als eine fremde oder fremdartige wahrgenommen bzw. verwendet wird. Doch verhält es sich im Gegenteil nicht gerade so, dass die „Mittel der anderen Sprache“, d. h. deren Ausdrucks- und Bedeutungsmöglichkeiten, auf die Muttersprache zurückwirken und in dieser sehr wohl für „Akzent“ und „Ausfälle“ sorgen können? Heine gibt mit einem einzigen Wort Antwort: „Augenscheinlichement.“9 Die grundlegende Unterscheidung zwischen angeborener Muttersprache und angelernter Fremdsprache bleibt dennoch bestehen. Keine Fremdsprache ist eine primäre Sprache, wohingegen jede Muttersprache die erste Sprache (wenn auch vielleicht nicht die einzige) ist und alle anderen Sprachen als sekundäre erscheinen lässt. Das Primat der Muttersprache als Erstsprache bezieht sich auf den Spracherwerbsprozess und folglich auch auf die sprachliche Performanz, auf den Sprachgebrauch. Im Fall der Fremdsprache erwirbt man nämlich Regeln und Muster, im Fall der Muttersprache dagegen nur Muster, wobei die Regeln unbewusst aus den Mustern abstrahiert werden.10 Daher rührt die vielfach zu beobachtende Tatsache, dass Muttersprachler die grammatischen Regeln ihrer eigenen Sprache nur bedingt erläutern können: In unserer ersten Sprache ist alles Notwendigkeit, nichts Zufall. […] Es befremdet uns daher zuerst, daß wir diese tiefe Notwendigkeit und lautliche Richtigkeit und Ausdruckskraft im Wortlaut anderer Sprachen nicht sogleich wiederfinden.11

Nicht nur dass man die Selbstverständlichkeit, „die geläufige Verständlichkeit der eigenen Sprache“12 in einer fremden zunächst entbehren muss; jeder sekundäre Spracher8

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Über diese „Doppelsprachigkeit“ klagt jedoch Heine in einem Brief vom 8. September 1855 an Saint-René Taillandier; die deutsche, poetische und die französische, prosaische Seite seien nicht in Einklang zu bringen: „Ah, qu’il est difficile pour moi d’exprimer mes sentiments poétiques allemands! Ma sensiblerie d’outre-Rhin, dans la langue du positivisme, est d’un bon sens par trop prosaïque. Croyez-moi, mon cher ami, qu’il se trouve très-mal à son aise, ce pauvre rossignol allemand qui a fait son nid dans la perruque de M. de Voltaire.“ (Heinrich Heine Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Hrsg. v. den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar u. dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Berlin/Paris: Akademie-Verlag/Éditions du CNRS, 1971 ff., Bd. 23, S. 452). Heine: Reisebilder II, in: Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 210. An dieser Stelle kann nicht dargelegt werden, ob und inwieweit Heines Deutsch bzw. Heines Französisch in der Tat verfremdet sei; in der Forschung ist eine entsprechende, umfassende Untersuchung noch immer ein Desiderat. So formuliert es Hermann Paul; vgl. Paul: Prinzipien der Sprachgeschichte, S. 110 f. Mario Wandruszka: „Die Muttersprache als Wegbegleiterin zur Mehrsprachigkeit“, in: Soziokulturelle Perspektiven von Mehrsprachigkeit und Spracherwerb/Sociocultural perspectives of multilingualism and language acquisition. Hrsg. v. Els Oksaar. Tübingen: Narr, 1987, S. 39–53, hier S. 48. Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 5, S. 334.

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Für und gegen das Primat der Muttersprache

werb erfordert auch mehr Zeit und Mühe als das natürliche Erlernen der Muttersprache.13 Heine wusste darum: Den Römern würde gewiß nicht Zeit genug übriggeblieben sein, die Welt zu erobern, wenn sie das Latein erst hätten lernen sollen. Diese glücklichen Leute wußten schon in der Wiege, welche Nomina den Akkusativ auf im haben. Ich hingegen mußte sie im Schweiße meines Angesichts auswendig lernen […].14

Und Jean Paul – in dessen Werk, wie in Heines, vielfach Sprachunterricht geschildert wird – wusste es noch besser, wenn er über seine Muttersprache anmerkte: „Ein Deutscher, der eine deutsche Sprachlehre liest, dankt dem Himmel, dass er sie zum Teil mitbringt und dass man ihm gerade die schwerste erspart.“15 Die Pointe besteht hier, wie noch zu zeigen sein wird, nicht etwa darin, dass die eigene (deutsche) Sprache „die schwerste“ genannt wird; es kommt vielmehr auf den Zusatz „zum Teil“ an. Nun wäre es denkbar, dass bei hohem Kompetenzniveau eine Fremdsprache durchaus zu einer Art Muttersprache werden könne, dann nämlich, wenn die Regeln der Fremdsprache wie diejenigen der Muttersprache unbewusst Anwendung finden – oder mit anderen Worten dann, wenn wir nicht mehr übersetzen, die Muttersprache nicht mehr heimlich mitspricht, wenn wir so weit sind, die Welt auch mit den Lauten der neuen Sprache zu identifizieren […], wenn ihre Laut-Wort-Satzgestalten für uns ebenso ,motiviert‘, das heißt unmittelbar selbstverständlich notwendig und richtig sind wie die der Muttersprache.16

Jede Fremdsprache könnte in diesem Sinn „unmittelbar selbstverständlich notwendig und richtig“ werden. Trotzdem würde man dabei nicht ohne Weiteres von einer zweiten Muttersprache sprechen, sondern eher von Zweisprachigkeit. In der Linguistik findet man hinsichtlich der Sprachkompetenz allenfalls die Bezeichnungen near-native und native-like,17 als könne sich die Fremdsprache zwar der Muttersprache weitestgehend annähern, sich jedoch nicht an deren Stelle setzen. Die Transformation einer Fremdsprache zur Muttersprache erscheint als ein unmöglicher (und wenn nicht unmöglicher, 13

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So unterscheidet man „language acquisition“ von „language learning“, d. h. erstmaliges Erwerben von Sprache(n) überhaupt vom sekundären Erwerb weiterer Sprachen (Wandruszka: „Die Muttersprache als Wegbegleiterin zur Mehrsprachigkeit“, in: Soziokulturelle Perspektiven von Mehrsprachigkeit und Spracherwerb, S. 47). Heine: Reisebilder II, in: Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 187. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, in: Werke, Bd. 5, S. 299. Zum Sprachunterricht vgl. bspw. Jean Paul: Leben Fibels, in: Werke, Bd. 6, S. 365–562; Heine: Reisebilder II, in: Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 186–193. Wandruszka: „Die Muttersprache als Wegbegleiterin zur Mehrsprachigkeit“, in: Soziokulturelle Perspektiven von Mehrsprachigkeit und Spracherwerb, S. 49. Hamers/Blanc: Bilinguality and Bilingualism, S. 70 f. „There is some evidence that near-native speakers (NNSs) do process the L2 in a different way from native speakers“, schreiben Hamers und Blanc; allerdings heißt es dann einschränkend: „So far, little empirical evidence is available which entitles us to conclude how close early consecutive bilinguals are to native speakers and simultaneous bilinguals“ (ebd., S. 67 f.).

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so doch unheimlicher) Vorgang,18 bei dem es nicht mehr allein um Kompetenz geht. Ausschlaggebend ist nämlich die Nativität der Muttersprache als eine Eigenschaft, die man weder erlernen noch rückwirkend erwerben kann. In den Mittelpunkt rückt damit die Geburt und mit ihr die Figur der Mutter. Der prägnanten Wendung Herders, der Mensch werde in seine jeweilige Muttersprache „hineingeboren“,19 ließe sich das folgende Ergebnis neurolinguistischer Untersuchungen bei Neugeborenen anschließen: Preverbal infants have some acoustic recognition abilities. Discrimination of the maternal language features starts at an early age. Two-to-four-day-old infants have already acquired sensitivity for recognising their mother tongue even when spoken by strangers. […] By the age of six months infants are capable of segmenting the vowel continuum in accordance with the language they have been exposed to.20

Wie stellen nun aber die Neurolinguisten fest, dass das neugeborene Kind die Muttersprache bzw. die Sprache der Mutter erkennt? Als bedürfte es eines Belegs, dass diese Sprache den „ganze[n] Umfang von Begriffen, die wir mit der Muttermilch einsogen“,21 darstellt: Es wird die Intensität der Saugtätigkeit des Kindes gemessen, während man es verschiedenen Sprachen und Stimmen aussetzt. Auf diese Weise hat man gezeigt, dass sich Babys schon in den ersten Lebenstagen an der Stimme der Mutter orientieren und den Klang und die Prosodie ihrer Sprache erkennen.22 Daran wird die meto18

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Schleiermacher schreibt in seiner Abhandlung über das Übersetzen: „Ist aber jemand gegen Natur und Sitte förmlich ein Ueberläufer geworden von der Muttersprache, und hat sich einer andern ergeben: so ist nicht etwa gezierter und angedichteter Hohn, wenn er versichert, er könne sich in jener nun gar nicht mehr bewegen; sondern es ist nur eine Rechtfertigung, die er sich selbst schuldig ist, daß seine Natur wirklich ein Naturwunder ist gegen alle Ordnung und Regel, und eine Beruhigung für die andern, daß er wenigstens nicht doppelt geht wie ein Gespenst.“ (Schleiermacher: „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens“, in: Das Problem des Übersetzens, S. 64). Über das „Schreiben in fremden Sprachen“ heißt es dann zusammenfassend, es sei „nicht möglich […] etwas der Uebersetzung, sofern sie Kunst ist, würdiges und zugleich bedürftiges ursprünglich in einer fremden Sprache zu schreiben“, wobei Schleiermacher ergänzt, dies sei „wenigstens als eine seltene und wunderbare Ausnahme“ (ebd.) zu betrachten. Vgl. dazu Daniel Weidner: „Frevelhafter Doppelgänger und sprachbildende Kraft. Zur Wiederkehr der Anderssprachigkeit in Schleiermachers Hermeneutik“, in: Exophonie, S. 229–247. Herder: „Über die neuere Deutsche Literatur“, in: Werke, Bd. 1, S. 181. Hamers/Blanc: Bilinguality and Bilingualism, S. 52 f. Um Herder in voller Länge zu zitieren: „Muttersprache, der ganze Umfang von Begriffen, die wir mit der Muttermilch einsogen – Muttersprache, die ganze Welt von Kenntnissen, die nicht gelehrte Kenntnisse sind – Muttersprache, das Feld, auf welchem alles Schriften des guten Verstandes hervor wuchsen – was ist sie also für eine Menge von Ideen! Ein Berg, gegen welchen die kleine Anzahl philosophischer Abstraktionen ein künstlich aufgeworfener Maulwurfshügel – einige Tropfen abgezogenen Geistes gegen das Weltmeer!“ (Herder: „Über die neuere Deutsche Literatur“, in: Werke, Bd. 1, S. 638). Vgl. Amati Mehler/Argentieri/Canestri: La Babele dell’inconscio, S. 178 f. Die Säuglinge reagieren nämlich nicht gleichermaßen, wenn das Band, auf dem die Mutterstimme aufgenommen worden ist, rückwärts abgespielt wird.

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Für und gegen das Primat der Muttersprache

nymische Bedeutung der Muttersprache besonders deutlich: Sie ist ein wesentlicher Teil der Mutter selbst, die Sprache ihrer Nähe. Als Metapher gedeutet spendet die Muttersprache, wie die Mutter, Nahrung und Geborgenheit; sie stellt gleichsam die Übertragung der Sprache – einer Sprache? – auf das Kind dar. In De vulgari eloquentia schreibt Dante, der einzige „Mann ohne Mutter, der Mann ohne Muttermilch“ sei Adam gewesen.23 Im Original heißt es allerdings „vir sine matre, vir sine lacte“,24 es ist also bloß von Milch, nicht von Muttermilch die Rede, und hier ist in der Tat auf eine bedeutende Substitutionsfigur hinzuweisen. Bei Dante, wie schon bei Quintilian, spielt nämlich noch die Amme (nutrix) die sprachvermittelnde Rolle: Von ihr, und nicht von der biologischen Mutter, lernt das Kind seine erste Sprache.25 Dass überhaupt die mütterliche Erziehung als Spracherziehung entscheidend wird, ist laut Leo Spitzer seit dem christlichen Mittelalter der Fall, als die materna lingua mit dem antiken patrius sermo, der öffentlichen, auch literarischen, Rede der Väter zu konkurrieren beginnt.26 Doch erst zur Zeit der Aufklärung wird das Ende des Ammenwesens eingeläutet, indem man die Frauen dazu auffordert, ihre Kinder selbst zu stillen.27 Das Stillen sei ,natürlich‘ und für die gesamte Erziehung wichtig; so stellt es bei Rousseau eine Ärgerlichkeit dar, dass Émile ein Waisenkind und als solches auf eine Amme angewiesen ist.28 Die Mutter als „véritable nourrice“29 stellt die Verbindungsfigur von Sprache und Geburt dar, wohingegen die Amme das natürliche bzw. native Erbe der Sprache aufbricht. Angesichts dessen ist es besonders bezeichnend, dass Canetti seine (deutsche) Muttersprache eine ihm durch die Mutter „spät und unter 23

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Dante Alighieri: Über das Dichten in der Muttersprache. De vulgari eloquentia. Aus dem Lateinischen übersetzt u. erläutert v. Franz Dornseiff u. Joseph Balogh. Darmstadt: Otto Reichl Verlag, 1925, S. 25. Dante: De vulgari eloquentia, I, vi, 1 (zit. n. Dante: Opere minori, Bd. II, S. 50). Vgl. ferner Quint. inst. 1, 9, 3. Zum Begriff der Ammensprache vgl. Leo Spitzer: „Über Personenvertauschung in der Ammensprache“, in: Stilstudien, Bd. 1. 2., unveränderte Aufl. München: Max Hueber Verlag, 1961, S. 26– 38 sowie Paul: Prinzipien der Sprachgeschichte, S. 181 f. Vgl. Leo Spitzer: „Muttersprache und Muttererziehung“, in: Essays in Historical Semantics. New York: Russell & Russell, 1968, S. 15–65. In diesem Sinn ist noch Wezels polemische Äußerung zu deuten, man lerne die Sprache nicht von Voltaire oder aus den Grammatiken, sondern von den Kinderfrauen (Wezel: „Ueber Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Teutschen“, zit. n. Storost: Langue française – langue universelle?, S. 199). Vgl. etwa Christian Fürchtegott Gellert: „Zwey und zwanzigste Vorlesung: Von den Pflichten der Erziehung, besonders in den ersten Jahren der Kinder“, in: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe, Bd. 6. Hrsg. v. Sibylle Späth. Berlin/New York: de Gruyter, 1992, S. 231–243, hier S. 234 f. Ähnlich dazu Kant in seiner Pädagogik, vgl. Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin/Leipzig: de Gruyter, 1923, I. Abt., Bd. 9, S. 456 f. Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Émile, in: Œuvres complètes, Bd. IV. Hrsg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond. Paris: Gallimard, 1969, S. 267 u. 273 f. Ebd., S. 261. Diese ist eine der Formulierungen, an denen die Dekonstruktion der Mutter und Muttersprache einsetzen könnte; vgl. dazu weiter unten.

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wahrhaftigen Schmerzen eingepflanzte“ Sprache nennt.30 Auch in Die gerettete Zunge, wie oft in mehrsprachigen Sprachbiographien, so etwa auch bei Vladimir Nabokov oder bei Freuds Wolfsmann, spielen jedoch Ammen und Kinderfrauen eine wichtige Rolle als Spracherzieherinnen.31 Ob nun von der natürlichen Mutter oder von einer Ersatzmutter gelernt, erscheint die Muttersprache als die Referenzsprache eines jeden Sprachvergleichs. Jean Paul behauptet in diesem Sinn, die „Mutter-Sprache“ hieße „noch richtiger die Sprach-Mutter“, denn jede weitere Sprache „wird nur durch Verhältnis und Ausgleichung mit der ersten verstanden, das Ur-Zeichen wird nur wieder bezeichnet; und so bildet sich die neuere Nach-Sprache nicht der neuen, und eine der andern, sondern alle sich der ersten VorSprache nach.“32 Dieselbe These findet sich bei Herder, der in bemerkenswerten Bildern beschreibt, wie alle Sprachen im Dienst der Muttersprache als der ersten und alles prägenden Sprache stehen. Diese gewährleiste nämlich, auch inmitten der Sprachvielfalt, Einheit und Übereinstimmung: Die Sprache, in der ich erzogen bin, ist Meine Sprache: denn so wie nach Montesquieu’s Anmerkung alle unsre Begriffe von Schönheit sich auf den ersten mächtigen Eindruck beziehen, auf den die Seele nachher jedes Bild, das sie gewahr wird, schnell zurückführt, und daher oft den liebenswürdigen Eigensinn schön findet, der mit ihrem Urbilde des Eindrucks übereinstimmt – so ist auch die Muttersprache selbst mit ihren Idiotismen voll Eigensinn, und mit ihren kleinen Schwachheiten der Liebe für uns ein Bild der Schönheit. So wie ein Kind alle Bilder und neue Begriffe mit dem vergleicht, was es schon wusste: so passet unser Geist insgeheim alle Mundarten der Muttersprache an: sie behält er auf der Zunge, um nachher desto tiefer in den Unterschied der Sprachen einzudringen: sie behält er im Auge, dass, wenn er dort Lücken und Wüsten, hier Reichtum und Überfluss in fremden Sprachen entdecket, er den Reichtum der seinigen liebgewinne, und ihre Armut, wo es sein kann, mit fremden Schätzen bereichere: sie ist der Leitfaden, ohne den er sich im Labyrinth vieler fremder Sprachen verirrt: die Rinde, die ihn auf dem unermesslichen Ozean fremder Mundarten vor dem Sinken bewahret: sie bringt in die sonst verwirrende Mannigfaltigkeit der Sprachen Einheit. Nicht um meine Sprache zu verlernen, lerne ich andre Sprachen; nicht um die Sitten meiner Erziehung umzutauschen, reise ich unter fremde Völker; nicht um das Bürgerrecht meines Vaterlandes zu verlieren, werde ich ein naturalisierter Fremder: denn sonst verliere ich mehr, als ich gewinne. Sondern ich gehe bloss durch fremde Gärten, um für meine Sprache, als eine Verlobte meiner 30

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Canetti: Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 90. Vgl. dazu Michael Wetzel: „Alienationen. Jacques Derridas Dekonstruktion der Muttersprache“, in: Jacques Derrida: Die Einsprachigkeit des Anderen. Oder die ursprüngliche Prothese. Übers. u. mit einem Nachwort v. Michael Wetzel. München: Fink, 2003, S. 141–154, hier S. 142. Vgl. dazu Amati Mehler/Argentieri/Canestri: La Babele dell’inconscio, S. 99–116. Der Wolfsmann, der gerne Sprichwörter zitierte, sagte im Gespräch: „Im Russischen gibt es ein Sprichwort […]. Es heißt auf deutsch: Wenn ein Kind sieben Kinderfrauen hat, dann fehlt ihm ein Auge. – Damit soll gesagt werden, wenn so viele sich um einen annehmen, dann wird die Verantwortung verschoben. Und das ist eigentlich die Lage, in die ich nach dem Tod Freuds gekommen bin. Weil ich doch nicht weiß, wem ich jetzt glauben soll.“ (Karin Obholzer: Gespräche mit dem Wolfsmann. Eine Psychoanalyse und die Folgen. Hamburg: Rowohlt, 1980, S. 232). Jean Paul: Levana oder Erziehlehre, in: Werke, Bd. 5, S. 828.

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Denkart, Blumen zu holen: ich sehe fremde Sitten, um die meinigen, wie Früchte, die eine fremde Sonne gereift hat, dem Genius meines Vaterlandes zu opfern.33

Anhand der Muttersprache orientiert sich das Subjekt in einer geradezu babylonischen Sprachverwirrung, und die Muttersprache stellt das (einzige) Mittel dar, um fremde Sprachen zu verstehen, um „in den Unterschied der Sprachen einzudringen“ – ein Gedanke, der im Folgenden wiederkehren wird.34 Dabei dient jede Erfahrung fremder Sprachen der Bereicherung und Huldigung der eigenen Sprache. Dieser werden „Blumen“ und „Früchte“ als Opfer dargeboten, die (nur) anderswo heranwachsen; d. h. aber, dass Fremdsprachiges in die eigene Sprache aufgenommen und damit angeeignet wird. Gleichwohl heißt es an anderer Stelle mehrfach, die Muttersprache sei vor fremden Einflüssen zu schützen.35 Wichtig mit Bezug auf Herders Zitat ist ferner, dass die Muttersprache als Nationalsprache bestimmt wird. Wie bereits dargelegt, bildet sich gerade durch die enge Kopplung von Muttersprache und Vaterland am Ende des 18. Jahrhunderts ein vor allem im deutschsprachigen Raum emphatischer Diskurs der Nationalsprache heraus.36 Diese bringt den „Genius [des] Vaterlandes“, den Geist der Nation zum Ausdruck. Folgerichtig ist Nation nach einer Definition Humboldts „eine durch eine bestimmte Sprache charakterisirte geistige Form der Menschheit“.37 Sprache und Geist einer Nation sind gleichursprünglich, wenngleich die „Quelle“, der sie entspringen, sich nicht auffinden lässt: Die Sprache ist gleichsam die äusserliche Erscheinung des Geistes der Völker; ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ihre Sprache, man kann sich beide nie identisch genug denken. Wie sie

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Herder: „Über die neuere Deutsche Literatur“, in: Werke, Bd. 1, S. 408. Es sei jedoch bereits an dieser Stelle auf Heinrich Manns Notiz Mein Bruder verwiesen, da sie fast wörtlich mit Herder übereinstimmt: „Unsere Kultur – und jede – hat die Nation unserer Geburt als Ausgang und Vorwand, damit wir vollwertige Europäer werden können. Ohne Geburtsstätte kein Weltbürgertum. Kein Eindringen in andere Sprachen. Literaturen gar, ohne daß gleichzeitig unser angeborenes Idiom, gedruckt und mündlich, von uns erlebt worden ist bis zur Verzweiflung, bis zur Seligkeit. Anfangs seiner zwanziger Jahre war mein Bruder den russischen Meistern ergeben, mein halbes Dasein bestand aus französischen Sätzen. Beide lernten wir deutsch schreiben – erst recht darum, wie ich glaube.“ (H. Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 215). Als Muttersprache mag das Deutsche also „angeborenes Idiom“ sein, als Schreibsprache muss es aber erlebt und erlernt werden; vgl. dazu Kap. 6.3. Die „Verlobte“ wird dann zu jener bereits erwähnten „Jungfrau“, die rein bleiben und auch nicht in Form von Übersetzungen mit anderen Sprachen in Berührung kommen soll – sie soll vielmehr „Originalsprache“ sein (Herder: „Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Fragmente“, in: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 106). Vgl. dazu Kap. 1.3. Humboldt: „Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues“, in: Gesammelte Schriften, 1. Abt., Bd. VI, S. 125.

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in Wahrheit mit einander in einer und ebenderselben, unserem Begreifen unzugänglichen Quelle zusammenkommen, bleibt uns unerklärlich verborgen.38

Die Identität von Sprache und Geist leitet sich von einem „unzugänglichen“ Ursprung ab; doch nicht nur in dieser Hinsicht entzieht sich dem Sprachforscher sein Forschungsgegenstand, denn die Sprache besitzt eine sich uns sichtbar offenbarende, wenn auch in ihrem Wesen unerklärliche Selbstthätigkeit, und ist, von dieser Seite betrachtet, kein Erzeugniss der Thätigkeit, sondern eine unwillkührliche Emanation des Geistes, nicht ein Werk der Nationen, sondern eine ihnen durch ihr inneres Geschick zugefallene Gabe.39

Neben dem „Werk“ und der „Thätigkeit“ gibt es also eine „Selbstthätigkeit“ der Sprache, die als eine „Gabe“ zu betrachten ist. In dieser „in ihrem Wesen unerklärliche[n]“ Eigenschaft erscheint die Sprache als „nur aus sich entspringend und göttlich frei“, d. h. nicht an Völkern, Nationen oder Sprechern gebunden; in der Tat, diese „bedienen sich ihrer, ohne zu wissen, wie sie dieselbe gebildet haben.“40 Hiermit ist ein erster Aspekt der grundsätzlichen Fremdheit der Sprache benannt. Da „der Mensch und seine Sprache immerfort in gegenseitigem Einflusse auf einander stehen“, fordert Humboldt eine „richtige Einsicht in den Zusammenhang der Muttersprache“, um „die Liebe zu ihr und zum Vaterlande und mit dieser die Innigkeit jedes Gefühls“ zu steigern, aber auch, um so „fremde Sprachen richtiger beurtheilen“ zu können. Man solle die Sprache eben nicht „als ein fast verabredetes gleichgültiges Zeichen“, sondern „wie ein auf seinem Stamm empor geschossenes Gewächs“ ansehen. Die Muttersprache wäre dann dem Menschen „wenigstens eben so sehr seiner Aufmerksamkeit würdig, als die Gebirge und Flüsse, welche seinen Geburtsort umgeben.“41 Im Geburtsort liegt ein Ursprung der (Mutter-)Sprache: dort, wo Mutter und Nation die eigene Sprache begründen. Diese Vorstellung von Nativität, die im „Mythos der Nationalsprache“ als „,liaison dangereuse‘ von Sprache und Geburt“42 eine konsti38

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Humboldt: „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues“, in: Gesammelte Schriften, 1. Abt., Bd. VII, S. 42. Vgl. kurz davor bereits: „Die Geisteseigenthümlichkeit und die Sprachgestaltung eines Volkes stehen in solcher Innigkeit der Verschmelzung in einander, dass, wenn die eine gegeben wäre, die andre müsste vollständig aus ihr abgeleitet werden können.“ (Ebd.). Ebd., S. 17. Ebd. Humboldt: „Einleitung in das gesamte Sprachstudium“, in: Gesammelte Schriften, 1. Abt., Bd. VII, S. 626. Wetzel: „Alienationen“, in: Derrida: Die Einsprachigkeit des Anderen, S. 143. Man könnte argumentieren, dass sich Plansprachen wie beispielsweise Esperanto auch deshalb nicht durchsetzen, weil sie niemandes Muttersprache sind, weil den Sprechern die Bindung der Nativität fehlt. Während Rudolf Carnap sich für Esperanto begeistern konnte, zeigte Wittgenstein eine ablehnende Haltung: „Esperanto. Das Gefühls des Ekels, wenn wir ein erfundenes Wort mit erfundenen Ableitungssilben aussprechen. Das Wort ist kalt, hat keine Assoziationen und spielt doch ‚Sprache‘. Ein bloß geschriebenes Zeichensystem würde uns nicht so anekeln.“ (Wittgenstein: Werkausgabe, Bd. 8, S. 524). Allgemein lässt sich beobachten, dass Sprachen dann (und nur dann) entstehen,

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tutive Rolle spielt, hat Derrida als phantasmatisch zu entlarven versucht, da man keine Sprache, auch nicht die Muttersprache, ohne Weiteres die eigene nennen kann.

6.2.1. Eroberung der Muttersprache Mit der Geburt in eine bestimmte Sprache setzt sich Derrida in Otobiographie de Nietzsche und vor allem in Le monolinguisme de l’autre auseinander. Ganz im Sinn der Nationalsprache meint dabei „naissance“ sowohl „acte de naître“ („Geburtsakt“) als auch „lignée“ („Gebürtigkeit“),43 also Abstammung und Herkunft. Doch ist die Geschichte der algerischen Juden – so wie sie Derrida mit Bezug auf seine eigene Biographie wiedergibt – ein Beispiel dafür, dass durch die Geburt weder eine bestimmte Nationalität noch eine bestimmte Sprache vorgegeben wird. Die Gleichsetzung von Mutter, Blut und Boden einerseits und Sprache andererseits stellt Derrida in Frage; er spricht demzufolge von einer „langue dite maternelle“,44 von einer sogenannten Muttersprache. Derridas Dekonstruktionsarbeit widmet sich dabei vor allem der Muttersprache als einer bzw. als der eigenen Sprache. So heißt es zu Beginn von Le monolinguisme de l’autre: „Je n’ai qu’une langue, ce n’est pas la mienne.“45 Das Subjekt dieser Aussage spricht eine Sprache, von der es sogleich behauptet, dass es nicht die seinige sei, als ob es über sie nicht verfügen könne. In der Tat, es liegt eine „contradiction pragmatique ou performative“ vor;46 doch trotz dieses Widerspruchs steht Derrida für die Richtigkeit, ja die Allgemeingültigkeit seiner Aussage ein. Eine „démonstration“ liefert er natürlich nicht im Sinn einer logisch abgeleiteten Beweisführung, sondern mit dem Zeugnis seiner eigenen, exemplarischen Geschichte. In diesem „témoin idiomatique“47 legt Derrida sein Verhältnis zu denjenigen drei Sprachen und Kulturen dar, mit denen

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wenn sie tatsächlich gebraucht werden, so zum Beispiel Pidgins. Man kann also stabile NichtMuttersprachen gleichsam erfinden, wenn ein nachhaltiges Bedürfnis danach gegeben ist; allerdings sind diese dann eben nicht als künstliche oder apriorische Sprachen zu betrachten. Jacques Derrida: „Otobiographie de Nietzsche [=Politique du nom propre. L’enseignement de Nietzsche]“, in: L’oreille de l’autre. Otobiographies, transferts, traductions. Textes et débats avec Jacques Derrida sous la direction de Claude Lévesque et Christie V. McDonald. Montréal: VLB éditeur, 1982, S. 11–56, hier S. 29; Jacques Derrida: „Otobiographien. Die Lehre Nietzsches und die Politik des Eigennamens“, in: Jacques Derrida/Friedrich Kittler: Nietzsche. Politik des Eigennamens. Wie man abschafft, wovon man spricht. Berlin: Merve, 2000, S. 9–63, hier S. 36. Derrida: Le monolinguisme de l’autre, S. 30 f.; Hvh. d. Vf. Derrida fragt hier: „La naissance, la nationalité par la naissance culture natale, n’est-ce pas ici notre sujet? […] Ne sommes-nous pas convenus de parler ici de langue dite maternelle, et de la naissance quant au sol, de la naissance quant au sang et, ce qui veut dire tout autre chose, de la naissance quant à la langue? Et des rapports entre la naissance, la langue, la culture, la nationalité et la citoyenneté?“ (Ebd.). Ebd., S. 13; vgl. auch ebd., S. 15. Zu Derridas Einsprachigkeit vgl. Jürgen Trabant: „SprachPassion. Derrida und die Anderssprachigkeit des Einsprachigen“, in: Exophonie, S. 48–65. Derrida: Le monolinguisme de l’autre, S. 15. Ebd., S. 116.

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er in Algerien aufgewachsen ist: der französischen, der jüdischen und der arabischberberischen. Er spricht dabei von einer „triple dissociation“48 und beschreibt, wie sich diese auf seine Identität, seine écriture, sein Sprachbewusstsein ausgewirkt habe. Es geht jedoch nicht (nur) um die Erzählung eines einmaligen und individuellen, also singulären Falls; vielmehr wird durch diesen markierten Fall auf besonders deutliche Weise eine „structure universelle“49 aufgezeigt bzw. bezeugt: […] certains individus, dans certaines situations, attestent les traits d’une structure néanmoins universelle, la révèlent, l’indiquent, la donnent à lire ,plus à vif‘, plus à vif comme on le dit et parce qu’on le dit surtout d’une blessure, plus à vif et mieux que d’autres, […] […] de façon plus fulgurante, intense, voir traumatique […].50

Die Markierung ist also das Zeichen einer Verletzung, einer Verwundung oder eines Traumas.51 Die dadurch stärker hervorgehobene, deutlicher erkennbare universelle Struktur beschreibt Derrida in einem Interview wie folgt: „une langue, ça n’appartient pas. Pas naturellement et par essence. D’où les fantasmes de propriété, d’appropriation et d’imposition colonationaliste.“52 Dass man eine Sprache besitzen oder sich aneignen kann, dass es umgekehrt eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprache gibt, dass man andere Menschen ,kolonisieren‘ oder ,kultivieren‘ kann, indem man ihnen die eigene Sprache aufzwingt53 – all diese Überzeugungen haben phantasmatischen Charakter. Dies gilt auch, wenn sie die eigene sogenannte Muttersprache betreffen: „La langue dite maternelle n’est jamais purement naturelle, ni propre ni habitable.“54 Damit stellt aber Derrida „die Entscheidbarkeit zwischen Mutter- und Fremdsprache in Frage“,55 und zwar von seinem eigenen, marginalen Standpunkt aus – „au bord du français“.56 Das Französische Derridas als eines „Juif-Français-d’Algérie“57 soll das Beispiel par excellence für die „monolangue de l’autre“ geben, wobei „de l’autre“ weniger den be48 49 50 51

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Ebd., S. 95. Ebd., S. 116. Derrida spricht mehrfach von „marque“ bzw. „re-marque“ (ebd., S. 49–51). Ebd., S. 40 u. 49. So ist bei Derrida nicht bloß von Spuren die Rede, sondern auch von Stigmata, Narben, Kratzern, Tätowierungen. Anhand von Simultan ist im vorangehenden Kapitel gezeigt worden, wie Grenzsituationen, Ausnahmezustände und traumatische Ereignisse das Gesetz der Sprache(n) zum Vorschein bringen, indem sie dieses scheinbar bzw. vorübergehend aufheben. Jacques Derrida: „Je suis en guerre contre moi-même“, Interview in Le Monde (19. August 2004), http://www.xtec.es/~jcomas12/derrida_je_suis_en_guerre_contre_moi_meme.html. Vgl. dazu die Darstellungen kolonialen Sprachunterrichts in der Literatur, etwa in Shakespeares The Tempest oder in Daniel Defoes Robinson Crusoe. Den Zwang einer bestimmten Sprache kann man sich freilich auch selbst antun: So zwingt sich Derrida, obgleich er eigentlich keine freie Wahl hat, zum Französischen, und er gibt zu, dass seine Beziehung zu dieser Sprache neurotische, ja zwanghafte Züge aufweise (vgl. Derrida: Le monolinguisme de l’autre, S. 79 u. 97 f.). Ebd., S. 112. Wetzel: „Alienationen“, in: Derrida: Die Einsprachigkeit des Anderen, S. 147. Derrida: Le monolinguisme de l’autre, S. 14. Ebd., S. 97.

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sitzanzeigenden Genitiv ,des Anderen‘ als vielmehr ,anderswoher‘ meint.58 Dieser andere Ort ist, je nach Blickrichtung, Algerien oder Paris; die französische Sprache verbindet diese beiden Orte und schafft zwischen ihnen zugleich eine kaum zu überwindende Distanz. So wiederholt Derrida: „je n’ai qu’une langue, et en même temps cette langue ne m’appartient pas.“59 Er ist einsprachig französisch, ohne jedoch das Französische seine eigene Sprache, schon gar nicht seine Muttersprache nennen zu können – „jamais je n’ai pu appeler le français […] ,ma langue maternelle‘.“60 Und wie könnte es denn anders sein, da anstelle der Muttersprache stets nur ein Muttersprachenersatz zu haben ist? „La langue de la Métropole était la langue maternelle, en vérité le substitut d’une langue maternelle (y a-t-il jamais autre chose?) comme langue de l’autre.“61 Diese Substitution wird immer schon vorgenommen, weil sie durch eine immer schon vorhandene Unzugänglichkeit herbeigeführt wird, in der die Sprache als untersagt („interdite“62) oder entzogen („privé“63) erfahren wird.64 Derridas eigene Erfahrung soll in diesem Punkt wieder exemplarisch sein. Während die arabische und die hebräische Sprache Derrida unzugänglich waren und ihm Zeit seines Lebens unzugänglich bleiben sollten, war ihm der Zugang zur französischen Sprache nicht gleichermaßen verwehrt, da diese die offizielle Sprache und somit auch die kulturvermittelnde Unterrichtssprache in der Schule war. Dennoch ließ sie sich nicht vollständig assimilieren. Denn Frankreich lag jenseits des Mittelmeers,65 und demnach wurde das Französische in Algerien als eine „langue supposée maternelle mais dont la source, les normes, les règles, la loi étaient situées ailleurs“66 empfunden. Diese Entfernung entspricht dabei stets einer zwischen Individuum und Sprache herrschenden Ent58

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Vgl. ebd., S. 127. „Kein Winkel der Erde ist so unzugänglich, dass er nicht Bevölkerung und Sprache habe anderswoher bekommen können“, schreibt Humboldt (Wilhelm von Humboldt: „Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung“, in: Gesammelte Schriften, 1. Abt., Bd. 4, S. 5; Hvh. d. Vf.) Derrida: „Je suis en guerre contre moi-même“, o. S. Derrida: Le monolinguisme de l’autre, S. 61. Ebd., S. 73 f. Ebd., S. 71; vgl. auch ebd., S. 60 u. 97. Ebd., S. 117. Im Grunde kann gar keine Substitution stattfinden, denn es gibt nichts zu ersetzen: Die Sprache, die ganze Sprache, die eigene Sprache usw. gibt es nicht. Das ist eben das Gesetz – die Vorschrift, die Vorgabe – der „mise en demeure“ (vgl. ebd., S. 47). Die Entfernung bedeutet hier bereits den Entzug der Sprache. Nachdrücklich betont Derrida den räumlichen Aspekt, indem er die Verortung, die Lage und die Situierung des Individuums in der Sprache bzw. umgekehrt der Sprache in Bezug auf das Individuum beschreibt. Doch der Ort der Sprache ist nicht zu finden, weshalb von einer „expérience insituable de la langue“ (ebd., S. 55) die Rede ist. Vgl. auch den Titel der von Derrida erwünschten Untersuchung: „Le monolinguisme de l’hôte. Les juifs du XXe siècle, la langue maternelle et la langue de l’autre, des deux côtés de la Méditerranée“ (ebd., S. 91). Ebd., S. 72; Hvh. d. Vf. Derrida bekennt, seine gesamte Philosophie stamme aus ebendieser „étrange référence à un ,ailleurs‘ dont le lieu et la langue m’étaient à moi-même inconnus ou interdits“ (ebd., S. 131 f.).

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fremdung, so dass Aussagen wie ,hier‘ und ,ich‘ in ihrem deiktischen Verweis tatsächlich als dekonstruiert erscheinen. So sprach und schrieb Derrida die französische Sprache als/wie die Sprache eines Anderen bzw. als/wie ein Anderer: „français de colonisé“.67 Diese „aliénation“ steht aber nicht im Gegensatz zu einer genuinen Identifikation mit der eigenen Sprache, da eine solche grundsätzlich nicht möglich ist.68 Diesen Überlegungen zufolge befindet sich der Kolonialherr in derselben Lage wie der Kolonisierte. Obgleich Derrida mehrfach beschwört, dass man aufgrund dieser Verallgemeinerung keinesfalls entscheidende Differenzen einebnen dürfe, gilt ihm jede Aneignung oder Inanspruchnahme einer Sprache als ein „procès non naturel de constructions politico-phantasmatiques“.69 Der Kolonialherr hat selbst keine Sprache, er kann lediglich so tun als ob: „feindre de se l’approprier pour l’imposer comme ,la sienne‘.“70 Bisweilen vollzieht er diesen Sprechakt mit Erfolg, und auf diese Weise gelingt es ihm, sein sprachliches Eigentum zu behaupten und zu vermehren. Zwar zielt Derrida hier auf koloniale Sprachpolitik ab, doch „colonialisme“ und „colonisation“ sind nur besonders deutlich hervorstechende, markierte Erscheinungsformen der wesentlichen „colonialité“ jeder Kultur.71 So heißt es: Toute culture est originairement coloniale. Ne comptons pas seulement sur l’étymologie pour le rappeler. Toute culture s’institue par l’imposition unilatérale de quelque ,politique‘ de la langue. La maîtrise, on le sait, commence par le pouvoir de nommer, d’imposer et de légitimer les appellations. […] Cette mise en demeure souveraine peut être ouverte, légale, armée ou bien rusée, dissimulée sous les alibis de l’humanisme ,universel‘, parfois de l’hospitalité la plus généreuse.72

Ein gleichsam kolonialer Drang bestimmt jede Hinwendung und Beziehung zum Anderen; Kultur ist grundsätzlich mit einer Eroberung der Lebenswelt gleichzusetzen.73 Erobern lässt sich aber nur, indem man eine souveräne Benennungsmacht begründet, 67

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Ebd., S. 100. In einer langen Fußnote über das Verhältnis der Juden zu ihrer Sprache und zu anderen Sprachen, in der Derrida die europäischen von den franko-maghrebinischen Juden zu unterscheiden versucht, steht das „français de colonisé“ im Gegensatz zum „français ,authentique‘“ (ebd.), mit den nötigen Anführungszeichen. Ebd., S. 47. Dies ist u. a. deshalb der Fall, weil keine einzige Sprache mit sich selbst identisch ist und weil es in letzter Konsequenz überhaupt gar keine Sprache gibt, insofern die Sprache nicht gegeben ist, sondern allenfalls gegeben, wie man ein Versprechen gibt (vgl. ebd., S. 122–130). Ebd., S. 45. Vorsichtig versucht Derrida der Kritik an dieser ,gleichschaltenden‘ These zuvorzukommen; vgl. ebd., S. 44 f. Zur Kritik an Derrida vgl. etwa Walter D. Mignolo: Local Histories/ Global Designs. Coloniality, Subaltern Knowledge, and Border Thinking. Princeton: Princeton University Press, 2000, S. 84. Derrida: Le monolinguisme de l’autre, S. 45. Ebd., S. 47. Ebd., S. 68. Zur Ethik und zum Gesetz der Gastfreundschaft vgl. u. a. Jacques Derrida: Von der Gastfreundschaft. Mit einer Einladung v. Anne Dufourmantelle. Aus dem Französischen v. Markus Sedlaczek. 2. Aufl. Wien: Passagen, 2007. Vgl. Derrida: Le monolinguisme de l’autre, S. 70. Es kommt also letztlich darauf an, wie gewaltsam und wie offenkundig hegemonial dieser Drang ist.

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Für und gegen das Primat der Muttersprache

und ebendiese Benennungsmacht stellt Derrida in Frage, wenn er die Aneignung der Sprache(n) als unmöglich bestimmt; sie ist im Grunde unmöglich, doch zugleich möglich, jedenfalls scheinbar so lange möglich, bis man die Unmöglichkeit erkennt.74

6.2.2. „Muttersprache nirgends“? Der Gedanke von der Unmöglichkeit einer bestimmenden, souveränen Macht des Subjekts über die Sprache findet sich nicht nur bei Derrida. Es ließe sich hier wieder auf die Dialogizitätstheorie Bachtins verweisen, der zufolge jede Rede letztlich fremde Rede ist, angeeignet von einem Anderen. Ferner haben Deleuze und Guattari den hegemonialen Anspruch jeder Muttersprache betont und behauptet, es gäbe „keine Muttersprache [langue-mère], sondern nur die Machtergreifung einer dominanten Sprache, die manchmal auf breiter Front vorrückt und sich manchmal simultan auf verschiedene Zentren stürzt.“75 Allerdings bezieht sich dabei „Muttersprache“ nicht auf ein Subjekt, sondern vielmehr auf andere Sprachen, auf Tochtersprachen, die von jener unterworfen werden. Freilich ist und bleibt die Muttersprache diejenige Sprache, die sich das Kleinkind zuerst aneignen muss; demnach könnte man mit Deleuze und Guattari sagen: „Le natal c’est précisement – l’acquis.“76 Inwieweit diese Aneignung niemals vollständig, niemals wirklich sein kann, führt Fritz Mauthner in seiner Sprachkritik unter der Überschrift Muttersprache nirgends aus. Eigentlich sollte die Muttersprache von ihren ‚Kindern‘ stets korrekt und im Sinn einer wechselseitigen Verständigung gebraucht werden; dagegen stellt aber Mauthner fest: Es kann sich […] niemand rühmen, daß er auch nur seine Muttersprache kenne. Jakob Grimm hat seine eigenen Regeln nicht immer beobachtet. Ein Goethe gebraucht manche Worte unsicher, macht ‚Sprachfehler‘. Kurz, so genau kennt niemand die deutsche Sprache, daß er jeder Gebrauchsform sicher wäre, daß er nicht von Zeit zu Zeit Worte fände, die er noch nie gebraucht und noch nie gehört oder gelesen hat. So oft drei Deutsche aus verschiedenen Landschaften, von nur wenig verschiedenen Bildungsgraden oder Bildungsgängen (man könnte auch solche von drei möglichst verschiedenen Alterstufen hinzurechnen) beisammen sind, wird der eine bald ein Wort oder eine Form aussprechen, die die anderen nicht verstehen, oder die der zweite versteht, aber nicht der dritte. Das kann so weit gehen, daß die Gemeinsamkeit des gesprochenen oder des verstandenen Sprachmaterials aufhört (oder beider); die Gleichheit oder Beschränktheit der drei Menschen kann aber auch so groß sein, daß ihre Sprachen nur um Nuancen auseinandergehen. Aber wir wissen, was das für eine Gemeinsamkeit ist, die doch 74

75 76

Vgl. dazu Derridas Bestimmung der Dekonstruktion als „ein[es] Denken[s] des unmöglichen Möglichen, des Möglichen als des Unmöglichen, ein[es] Denken[s] des Unmöglich-Möglichen, das sich durch die metaphysische Interpretation der Möglichkeit oder der Virtualität nicht länger fassen läßt.“ (Jacques Derrida: Die unbedingte Universität. Aus dem Französischen v. Stefan Lorenzer. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001, S. 73 f.). Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizoprenie. Aus dem Französischen übersetzt v. Gabriele Ricke u. Ronald Voullié. Berlin: Merve, 1992, S. 134. Deleuze/Guattari: Mille plateaux, S. 118.

Muttersprache und Nativität

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das Kennzeichen der Sprache ausmachen soll. Gemeinsam ist die Muttersprache etwa, wie der Horizont gemeinsam ist; es gibt keine zwei Menschen mit gleichem Horizont, jeder ist der Mittelpunkt seines eigenen.77

Dieser letzte Satz ist im Rückbezug auf Simultan besonders hervorzuheben, wo gerade die gemeinsame Muttersprache die „Zusammengehörigkeit“ der beiden Protagonisten stiften sollte.78 Was Mauthner hier jedoch außer Acht lässt und was der nur relativen „Gemeinsamkeit“ einen geradezu tragischen Zug verleiht, ist das nie ganz zu stillende menschliche „Bedürfniss, sich verständlich zu machen“.79 Wie kann aber dieses Bedürfnis, sich selbst zu übersetzen und so die Einsamkeit des eigenen Horizonts zu überwinden, anders als mittels der Sprache gestillt werden? So ist für Humboldt die Sprache „der grosse Uebergangspunkt von der Subjectivität zur Objectivität, von der immer beschränkten Individualität zu Alles zugleich in sich befassendem Daseyn.“80 An diesem „Uebergangspunkt“ erfährt jedoch das Individuum auch die wesenhafte Fremdheit der Sprache. Im Sinne der von Humboldt immer wieder beschriebenen Wechselwirkung zwischen Individuum und Sprache, prägt diese das Individuum und wird umgekehrt von ihm geprägt. Es sind dabei das Leben und die Freiheit (die Freiheit des Geistes), die in jedem Einzelnen sich gegen die Sprache als „grosses Totenreich“81 zu behaupten versuchen, indem sie diese auf eigene Weise bilden. Insgesamt steht das wechselseitige Wirken „einigermassen“ im Gleichgewicht: Wenn man bedenkt, wie auf die jedesmalige Generation in einem Volke alles dasjenige bildend einwirkt, was die Sprache desselben alle vorigen Jahrhunderte hindurch erfahren hat, und wie damit nur die Kraft der einzelnen Generation in Berührung tritt und diese nicht einmal rein, da das aufwachsende und abtretende Geschlecht untermischt neben einander leben, so wird klar, wie gering eigentlich die Kraft des Einzelnen gegen die Macht der Sprache ist. Nur durch die ungemeine Bildsamkeit der letzteren, durch die Möglichkeit, ihre Formen, dem allgemeinen Verständniss unbeschadet, auf sehr verschiedene Weise aufzunehmen, und durch die Gewalt, welche alles lebendig Geistige über das todt Überlieferte ausübt, wird das Gleichgewicht wieder einigermassen hergestellt. […] In der Art, wie sich die Sprache in jedem Individuum modificirt, offenbart sich, ihrer im Vorigen dargestellten Macht gegenüber, eine Gewalt des Menschen über sie. Ihre Macht kann man (wenn man den Ausdruck auf geistige Kraft anwenden will) als ein physiologisches Wirken ansehen; die von ihm ausgehende Gewalt ist ein rein dynamisches. In dem auf ihn ausgeübten Einfluss liegt die Gesetzmässigkeit der Sprache und ihrer Formen, in der aus ihm kommenden Rückwirkung ein Princip der Freiheit.82

77 78 79 80 81 82

Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1. 3. Aufl. Stuttgart/Berlin: Cotta, 1921, S. 19. Vgl. dazu vor allem Kap 5.5.3. Humboldt: „Über das vergleichende Sprachstudium“, in: Gesammelte Schriften, 1. Abt., Bd. IV, S. 24. Ebd. Diesen Ausdruck verwendet Hofmannsthal in seiner Vorrede zum Band Wert und Ehre deutscher Sprache, S. 11. Humboldt: „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues“, in: Gesammelte Schriften, 1. Abt., Bd. VII, S. 64 f.

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Für und gegen das Primat der Muttersprache

Als „Werk der Nation […] und der Vorzeit“ ist die Sprache „für den Menschen etwas Fremdes“;83 zugleich aber wird sie vom denkenden Menschen „aufs neue erzeugt“84 und angeeignet. Die Sprache, so Humboldts Synthese, ist dem Menschen eigen und fremd zugleich: Die beiden hier angeregten, einander entgegengesetzten Ansichten, dass die Sprache der Seele fremd und ihr angehörend, von ihr unabhängig und abhängig ist, verbinden sich wirklich in ihr und machen die Eigenthümlichkeit ihres Wesens aus. Es muß dieser Widerstreit auch nicht so gelöst werden, dass sie zum Theil fremd und unabhängig und zum Theil beides nicht sey. Die Sprache ist gerade insofern objectiv einwirkend und selbstständig, als sie subjectiv gewirkt und abhängig ist.85

Auf diese Weise bringt Humboldt die Beziehung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven in der Sprache auf den Punkt, indem ein weitgehender Ausgleich dieser ineinander wirkenden Kräfte erreicht wird. Es gibt gleichsam nur subjektive Sprachen, unendlich viele einzelne Sprachen, die aber alle letztlich in eine einzige Sprache zusammenfließen. Es bildet sich also innerhalb der Sprache jeder Einzelne eine eigene Sprache heraus, so dass man aufgrund dieser „Individualisirung innerhalb der allgemeinen Uebereinstimmung […] ebenso richtig sagen kann, dass das ganze Menschengeschlecht nur Eine Sprache, als dass jeder Mensch eine besondere besitzt.“86 An anderer Stelle wird deutlich, dass Humboldt demzufolge auch innerhalb jeder Nationalsprache eine Sprachvielfalt ausmacht: Chaque age, chaque classe de la société, chaque auteur célèbre, enfin si on regarde aux nuances les plus fines, chaque individu qui a l’esprit un peu cultivé, se forme dans le sein de la même nation une langue à part, attache des idées autrement modifiées aux mêmes mots, et attire insensiblement le langage commun dans ce qu’il y a de plus essentiel, dans les nuances les plus intimes de la pensée et du sentiment.87 83 84

85 86 87

Humboldt: „Über das vergleichende Sprachstudium“, in: Gesammelte Schriften, 1. Abt., Bd. IV, S. 27. Humboldt: „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues“, in: Gesammelte Schriften, 1. Abt., Bd. VII, S. 63. Humboldt stellt den „Act dieser Erzeugung“ anhand der toten Schrift dar, die durch die geistige Tätigkeit wieder ins Leben gerufen wird, da die Sprache „auch in der Schrift den schlummernden Gedanken dem Geiste erweckbar hält“ (ebd.). Vgl. dazu auch die vielzitierte Stelle: „Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, dass man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia).“ (Ebd., S. 45 f.). Ebd., S. 63. Ebd., S. 51. Wilhelm von Humboldt: „Essai sur les langues du nouveau continent“, in: Gesammelte Schriften, 1. Abt., Bd. III, S. 312 f. Aus diesem Grund, schreibt Humboldt, betrieben die Menschen gerne Konversation; die Verschiedenheiten erzeugten nicht etwa Distanz, sondern Anziehungskraft – diese Kraft, die den Menschen nach einer Verbindung streben lässt, sei der Eros (vgl. dazu Jostes: Fremdheit, S. 129).

Fremde Sprache, Fremdsprache: Metaphern der Literatur

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Das Beispiel des berühmten Schriftstellers, der aus dem „langage commun“ ein eigenes Idiom, „une langue à part“, schafft, ist besonders einleuchtend; es mutet geradezu wie ein Gemeinplatz der Literatur an. So schreibt etwa Rilke, die Sprache sei „das Gemeinsame, das keiner gemacht hat, weil alle es fortwährend machen, die große, summende und schwingende Konvention, in die jeder hineinspricht was er auf dem Herzen hat.“ Wenn nun der Künstler, der ja „innerlich anders ist“, sich ausdrücken will, muss er seine eigene Sprache prägen: Alles Eigene erfordert […], wenn es nicht schweigen will, eine eigene Sprache. Es ist nicht ohne sie. Das haben alle gewußt, die große Verschiedenheiten in sich fühlten. Dante und Shakespeare haben sich ihre Sprache gebaut, ehe sie redeten, Jacobsen schuf sich die seine, Wort für Wort.88

Inwieweit diese eigenen Sprachen (in) der Literatur als fremde Sprachen zu betrachten sind und das Fremde dem Eigentümlichen der literarischen Artikulation entspricht, zeigt der folgende Exkurs.

6.3. Fremde Sprache, Fremdsprache: Metaphern der Literatur In einem auf Deutsch verfassten Brief an Rilke äußert sich die russische Dichterin Marina Zwetajewa zum Dichten in fremden Sprachen: Goethe sagt, daß man nichts Bedeutendes in einer fremden Sprache sagen kann, – und das klang mir immer falsch. […] Dichten ist schon übertragen, aus der Muttersprache in eine andere, ob französisch oder deutsch wird wohl gleich sein. Keine Sprache ist Muttersprache. Dichten ist Nachdichten. […] Darum wird man Dichter […] um nicht Franzose, Russe etc. zu sein, um alles zu sein.89

Zwetajewa stellt den Dichter als polyglott und einsprachig zugleich dar, insofern er aus seiner Muttersprache, „ob französisch oder deutsch“, in seine eigentliche Muttersprache übersetzt, nämlich in die universale Sprache der Dichtung. Hier findet sich die schon von Vico, Herder und Hamann im Rahmen ihrer jeweiligen Geschichtsphilosophie formulierte Idee der Poesie als der „Muttersprache des Menschengeschlechts“ wieder,90 88 89

90

Rainer Maria Rilke: „Worpswede“, in: Werke, Bd. 4, S. 305–400, hier S. 349. Rainer Maria Rilke/Marina Zwetajewa: Ein Gespräch in Briefen. Hrsg. v. Kostantin M. Asadowski. Frankfurt/M./Leipzig: Insel, 1992, S. 76 f. Der Herausgeber verweist u. a. auf folgende Stelle aus Goethes Ephemerides: „Wer in einer fremden Sprache schreibt oder dichtet, ist wie einer der in einem fremden Hause wohnt.“ (Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. II. Abt. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. v. Karl Eibl zus. mit Volker C. Dörr, Horst Fleig, Wilhelm Große u. a. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker-Verlag, 1991 ff., Bd. 1, S. 196). Johann Georg Hamann: Aesthetica in nuce, in: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Josef Nadler. Wien: Herder, 1949 ff., Bd. 2, S. 197; Herder: „Älteste Urkunde des Menschengeschlechts“, in: Werke, Bd. 5, S. 512. Über Vico schreibt Ernst Jünger an Carl Schmitt: „Ich habe mich gleich bemüht, die Beziehung zu Hamann festzustellen, die nahe liegt. Hamann erwähnt

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Für und gegen das Primat der Muttersprache

die gleichsam vor bzw. jenseits der Unterscheidung einzelner Sprachen und Nationalitäten besteht. In der Moderne erscheint diese Sprache immer mehr als eine wesentlich und im wörtlichen Sinne utopische Sprache, die inmitten der Vielzahl von Nationalsprachen keinen Ort hat. Im eloquentesten Dokument der Sprachkrise der Moderne, Hofmannsthals Ein Brief, schreibt Lord Chandos, dass die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu denken mir vielleicht gegeben wäre, weder die lateinische noch die englische noch die italienische und spanische ist, sondern eine Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde.91

Die verheißene, „vielleicht gegeben[e]“ Sprache ist hier eine gänzlich unbekannte Sprache, die als Verkehrssprache nicht nur zwischen Chandos und den sprechenden „stummen Dinge[n]“, sondern auch zwischen ihm und einer nach seinem Tode richtenden, übermenschlichen Instanz dient. Dass der Dichter die Fähigkeit besitzt oder erlangen kann, mit den Dingen, mit den Tieren und mit den Göttern zu sprechen, wird schon seit der Antike überliefert. So werden in Platons Ion die Dichter als „Dolmetscher der Götter“ bezeichnet, da sie es vermögen, göttliche Botschaften in die Sprache der Menschen zu übertragen.92 Zu dieser besonderen Art der Übertragung ließe sich Nietzsches Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen zitieren: Was […] der Vers für den Dichter ist, ist für den Philosophen das dialektische Denken: nach ihm greift er, um sich seine Verzauberung festzuhalten, um sie zu petrifizieren. Und wie für den Dramatiker Wort und Vers nur das Stammeln in einer fremden Sprache sind, um in ihr zu sagen, was er lebte und schaute und was er direkt nur durch die Gebärde und die Musik verkünden kann, so ist der Ausdruck jeder tiefen philosophischen Intuition durch Dialektik und wissenschaftliches Reflektieren zwar einerseits das einzige Mittel, um das Geschaute mitzuteilen, aber ein kümmerliches Mittel, ja im Grunde eine metaphorische, ganz und gar ungetreue Übertragung in eine verschiedene Sphäre und Sprache.93

Es ist keine Sprache vorhanden, die „das Geschaute“ treu wiedergeben könnte. Ähnlich dazu beteuert Nietzsche in seinem Versuch einer Selbstkritik, er habe in Die Geburt der

91 92 93

ihn [Vico] nur einmal, in einem Brief an Herder vom 22.12.1777, nach der Lektüre der Scienza nuova, die er kurz davor aus Florenz erhalten hat, und nennt ihn dabei den ‚Vater unserer Kritik‘. Dieses Datum beruhigt mich hinsichtlich der Originalität des Satzes ‚Poesie ist die Muttersprache unseres Geschlechts‘, der bereits 1762 in der ‚Aesthetica in nuce‘ erschienen ist. Er findet sich nämlich fast wörtlich im Vico vor.“ (Jünger/Schmitt: Briefe 1930–1983, S. 39). Bekanntlich wurde die Idee von der Poesie als der Ursprache des Menschen von den Romantikern emphatisch aufgegriffen, insbesondere von Novalis, F. Schlegel und Schelling. Hugo von Hofmannsthal: „Ein Brief“, in: Sämtliche Werke, Bd. 31, S. 45–55, hier S. 54. Plato, Ion 534e, zit. n. Platon: Frühdialoge. Eingeleitet v. Olof Gigon. Übertragen v. Rudolf Rufener. Zürich/Stuttgart: Artemis-Verlag, 1960, S. 339. Friedrich Nietzsche: „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“, in: Werke. Kritische Gesamtausgabe, 3. Abt., Bd. 2, S. 311; Hvh. d. Vf.

Fremde Sprache, Fremdsprache: Metaphern der Literatur

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Tragödie seine eigene Fremdheit und seine „neue Seele“ nicht angemessen zum Ausdruck bringen können: Hier redete […] eine fremde Stimme, der Jünger eines noch ‚unbekannten Gottes‘ […]; hier war ein Geist mit fremden, noch namenlosen Bedürfnissen […]; hier sprach – so sagte man sich mit Argwohn – etwas wie eine mystische und beinahe mänadische Seele, die mit Mühsal und willkürlich, fast unschlüssig darüber, ob sie sich mittheilen oder verbergen wolle, gleichsam in einer fremden Zunge stammelt. Sie hätte singen sollen, diese ‚neue Seele‘ – und nicht reden!94

Die Rede in „einer fremden Zunge“ deutet hier auf das Neuartige, Unerhörte derselben, aber zugleich auf eine grundsätzliche Unzulänglichkeit der Sprache („stammelt“) hin. Gerade Nietzsches forcierter Stil erscheint als ein Versuch, diese Unzulänglichkeit letztlich doch zu bezwingen, indem jeder „philosophischen Intuition“ ein effektives rhetorisches und sprachkünstlerisches Instrumentarium zur Verfügung gestellt wird. Während bei Nietzsche die Metapher der Fremdsprache auf die Selbstwahrnehmung des Schreibenden abzielt, gilt sie andernorts vor allem dem Leser. In den Tagebüchern Musils findet sich die Notiz: „Der Schriftsteller im Verhältnis zum Leser schreibt eine Fremdsprache.“95 Durch den Bezug auf den Leser erhält hier der Begriff der Fremdsprache eine besondere Bedeutung; sie wird zu einer schwierigen, sperrigen Sprache, mit der nur wenige bereit oder in der Lage sind sich auseinanderzusetzen. In der Tat erkennt Musil an anderer Stelle, daß ‚Nation‘ ein Abstraktum ist. Wir haben nicht einmal die Sprache gemeinsam, denn meine Sprache versteht der Großteil der Nation nicht besser als ich englisch. Ich wirke auch gar nicht auf die Nation. Denn ich werde zwar in Moskau gelesen, aber ganz gewiß nicht in Weidling am Bach, das nur 4 Gehstunden von meinem Schreibtisch entfernt ist.96

In noch radikalerer Weise findet sich die Vorstellung des eigenen literarischen Werks als eines fremdsprachigen und dem Leser kaum zugänglichen bei Gottfried Benn, der seinen Ptolemäer als „Sanskrit u. nur für Keilschriftenforscher“ bestimmt.97 Für Proust 94 95 96

97

Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: Werke. Kritische Gesamtausgabe. 3. Abt., Bd. 1, S. 8 f.; Hvh. d. Vf. Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, S. 431. Musil: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 1348. „Es ist die größte Qual, nicht verstanden zu werden“, schreibt Goethe über seine Abhandlung zur Metamorphose der Pflanzen im Schicksal der Druckschrift (Goethe: Sämtliche Werke, I. Abt., Bd. 24, S. 423); nach seiner Rückkehr aus Italien hatte er bereits im Schicksal der Handschrift über Weimar geklagt: „ich vermißte jede Teilnahme, niemand verstand meine Sprache.“ (Ebd., S. 415). Benn an Friedrich Wilhelm Oelze am 22. Februar 1949 (Gottfried Benn: Briefe an F. W. Oelze, Bd. 2/1. Hrsg. v. Harald Steinhagen u. Jürgen Schröder. Wiesbaden/München: Limes, 1979, S. 182). Vgl. dazu auch Benns Aussage: „Diese meine Sprache, sagen wir, meine deutsche Sprache, steht mir zur Verfügung. Diese Sprache mit ihrer Jahrhunderte alten Tradition, ihren von lyrischen Vorgängern geprägten sinn- und stimmungsgeschwängerten, seltsam geladenen Worten. Aber auch die Slang-Ausdrücke, Argots, Rotwelsch, von zwei Weltkriegen in das Sprachbewußtsein hineingehämmert, ergänzt durch Fremdworte, Zitate, Sportjargon, antike Reminiszenzen, sind in meinem Besitz.“ (Gottfried Benn: „Probleme der Lyrik“, in: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. Hrsg. v. Gerhard Schuster u. Holger Hof. Stuttgart: Klett-Cotta, 1986 ff., Bd. VI, S. 9–44,

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Für und gegen das Primat der Muttersprache

ist schließlich das distinktive Merkmal der großen Meisterwerke der Literatur, zu denen er wahrscheinlich auch sein eigenes Werk rechnete, deren Fremdsprachigkeit: „Les beaux livres sont écrits dans une sorte de langue étrangère“.98 Es ist also eine spezifische Verwendungsweise der Sprache, die das einzelne literarische Subjekt, aber auch die Literatur insgesamt auszeichnet. Inwiefern die Sprache der Literatur als Abweichung von und Verfremdung der Normalsprache funktioniert, hat insbesondere die formalistische Literaturtheorie gezeigt. Allerdings behauptet bereits Aristoteles, dass das Fremdartige in der Rede – dazu zählen die Metapher sowie das im weitesten Sinn Fremdsprachige, etwa Archaismen und Barbarismen – zweierlei angenehme Effekte erzeugen könne: nämlich erstens die Rede zu schmücken und so die Lust am Schmuckvollen zu erwecken, zweitens neugieriges Staunen auszulösen und den Hörer durch eine produktive Verunsicherung zum Verstehen (zum Verstehen-Wollen) anzuregen.99 Dieser Reiz aber entsteht dadurch, dass der fremde Ausdruck vom üblichen Sprachgebrauch abweicht. Nach der erstmaligen Irritation und Störung kann das Fremde in die Sprache eingegliedert werden und diese um neue Wahrnehmungs- und Bedeutungsmöglichkeiten, um neue ‚Sinne‘ erweitern.100 Das Fremdartige erscheint demnach einerseits als eine sehr produktive rhetorische Figur, andererseits aber als eine sehr prekäre, da sie sich stets in unmittelbarer Nachbarschaft zum sprachlichen Fehler befindet. So musste sich mancher Autor, vor allem mancher Dichter, den Vorwurf gefallen lassen, er könnte seine Sprache gar nicht richtig schreiben (man denke dabei an die von Mauthner unterstellten „Sprachfehler“ Goethes) oder aber er verwende die Sprache auf unverständliche Weise bzw. eine unverständliche Sprache. Die Lyrik Stefan Georges ist ein Beispiel dafür. Was in dessen Gedichten als Verstoß gegen die deutsche Grammatik und Missbrauch der poetischen Lizenz kritisiert wurde, ließe sich jedoch im

hier S. 30). Benn verfügt – wie seine Gedichte immer wieder bezeugen – neben dem traditionellen Wortschatz deutscher Lyrik auch über ein sehr heterogenes sprachliches Fremdgut. 98 Proust: Contre Sainte-Beuve, S. 305. Vgl. dazu Deleuze: Kritik und Klinik, S. 10 f. Über die Sprache der Dichtung als Fremdsprache vgl. Pascal Gabellone: „‚Un balbettamento in lingua straniera‘: la questione della lingua poetica nella modernità“, in: Stare tra le lingue. Migrazioni poesia traduzione. Hrsg. v. Antonio Prete, Stefano Dal Bianco u. Roberto Francavilla. San Cesario di Lecce: Manni, 2003, S. 21–36. 99 Vgl. Aristot. rhet. 3, 2, 6–38 (1404b). 100 Diese wesentliche Leistung des metaphorischen Sprechens wird auch von Richard Rorty betont; ohne Metaphern, heißt es, „gäbe es so etwas wie eine wissenschaftliche Revolution oder einen kulturellen Umbruch gar nicht.“ (Richard Rorty: Eine Kultur ohne Zentrum. Vier philosophische Essays. Übersetzt v. Joachim Schulte. Stuttgart: Reclam, 1993, S. 68). Vgl. bereits Friedrich Nietzsche: „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, in: Werke. Kritische Gesamtausgabe, 3. Abt., Bd. 2, S. 369–384, bes. S. 374–380. Zur Metapher in Kunst und Wissenschaft, Literatur und Philosophie vgl. Lars-Thade Ulrichs: Die andere Vernunft. Philosophie und Literatur zwischen Aufklärung und Romantik. Berlin: Akademie-Verlag, 2011, S. 20 f.

Fremde Sprache, Fremdsprache: Metaphern der Literatur

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Sinn eines „intensiven Sprachgebrauchs“, so wie ihn Deleuze und Guattari bei Kafka ausgemacht haben, interpretieren.101 Schäfer formuliert die These: George gebraucht die deutsche Sprache wie eine Fremdsprache. […] Sie scheint Hölderlin verwandter als der deutschen Sprache, in dem Sinne, wie Oskar Pastior einmal notiert: ‚Hölderlin ist eine schöne, dem Deutschen verwandte Sprache.‘102

Die eigene Sprache als Fremdsprache verwenden, „zum Fremden in der eigenen Sprache“ werden, „aus der fremden Sprache eine eigene“ machen, „in die eigene Sprache eine immanente Zweisprachigkeit als eigene Fremdheit einführ[en]“103 – diese sind in der Tat die Ziele der von Deleuze und Guattari entwickelten Poetik einer kleinen Literatur. Doch ausgerechnet der Hauptvertreter der ‚großen‘ deutschen Literatur, Goethe, war der Ansicht, „dass man in seiner Muttersprache oft eben so dichtet, als wenn es eine fremde wäre.“ Dies kann und soll allerdings nicht für jeden Dichter gelten, vielmehr möchte Goethe auf einen literaturgeschichtlichen Sprachaneignungsprozess aufmerksam machen: Leider bedenkt man nicht, dass man in seiner Muttersprache oft eben so dichtet, als wenn es eine fremde wäre. Dieses ist aber so zu verstehen: wenn eine gewisse Epoche hindurch in einer Sprache viel geschrieben und in derselben von vorzüglichen Talenten der lebendig vorhandene Kreis menschlicher Gefühle und Schicksale durchgearbeitet worden ist, so ist der Zeitgehalt erschöpft und die Sprache zugleich, so dass nun jedes mässige Talent sich der vorliegenden Ausdrücke als gegebener Phrasen mit Bequemlichkeit bedienen kann.104

Nur die „vorzüglichen Talent[e]“ sind in der Lage, der eigenen Sprache als einer fremden gegenüberzustehen und sie als eine neue, gleichsam unbeschriebene zu formen. Ist die Sprache nach einer Zeit „durchgearbeitet“ bzw. „erschöpft“, so steht sie allen zur Verfügung. Im Grunde genommen muss sich aber „jedes mässige Talent“ ebenfalls seine eigene Sprache aneignen, mag in seinem Fall der Weg auch schon weitgehend gebahnt sein; denn, wie Hölderlin an Böhlendorff schreibt, „das eigene muß so gut 101

Schäfer: Die Intensität der Form, S. 56. Zur Kritik an George vgl. etwa Rudolf Borchardt: „Stefan Georges ‚Siebenter Ring‘“, in: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hrsg. v. Maria Luise Borchardt. Stuttgart: Klett, 1957 ff., Bd. 3, S. 258–294. Insofern George kein Deutsch konnte, konnte er auch nicht ins Deutsche übersetzen – über seine Shakespeare-Sonette urteilt Kraus: „tadellose Rohübersetzung aus einem Sprachenbureau, das sie auch gleich sozusagen in Verse bringt.“ (Zit. n. Schäfer: Die Intensität der Form, S. 53 f.). 102 Ebd., S. 53. Vgl. bereits Adorno über George: „Gebildet an den romanischen Sprachen, […] hört das Ohr des deutschen Mallarméschülers die eigene Sprache gleichwie eine fremde.“ (Theodor W. Adorno: „Rede über Lyrik und Gesellschaft“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 11, S. 49–68, hier S. 66). 103 Deleuze: Kleine Schriften, S. 55. Vgl. dazu Eva Erdmann: „Die Poetologie der Fremdsprache. Luther, Th. W. Adorno, Gilles Deleuze“, in: „Viele Sprachen lernen… ein notwendiges Uebel“? Chancen und Probleme der Mehrsprachigkeit. Hrsg. v. Christiane Maaß u. Sabine Schrader. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2002, S. 201–212. 104 Johann Wolfgang Goethe: „Über Kunst und Altertum“ [Deutsche Sprache], in: Sämtliche Werke, I. Abt., Bd. 20, S. 215.

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Für und gegen das Primat der Muttersprache

gelernt seyn, wie das Fremde“.105 Man lernt es, indem man gegen die Macht der eigenen Sprache antritt und die eigene Sprache als eine fremde erfährt: als eine Sprache, die man verlernen und verfremden kann, um sie dadurch wiederum als eigene wirken zu lassen. Hierbei zeigt sich, dass sich die Adjektive „fremdartig“ und „eigenartig“ in der Tat „quasi synonymisch“ zueinander verhalten.106 Insofern die Literatur – aus der Perspektive des Dichters – eine eigene Sprache innerhalb der fremden (nicht-literarischen) Sprache herausbildet, bildet sie – aus der Perspektive des Rezipienten – eine fremde Sprache innerhalb der eigenen (nicht-literarischen) Sprache heraus. Dabei wird die Sprache auf Distanz gebracht und zugleich mit der hohen Intensität eines individuellen Ausdrucks aufgeladen. Dass dieser kaum als monologischer bzw. monolingualer Ausdruck betrachtet werden kann, sondern wiederum in eine weite Fremde weist und vielfach auf andere Sprachen Bezug nimmt, leuchtet nicht nur angesichts der Literatur der Moderne ein. So kann man bei Foucault lesen: Die Literatur ist nicht die Sprache, die so sehr zu sich selbst findet, dass sie in hellem Licht erstrahlt, sondern die Sprache, die sich am weitesten von sich selbst entfernt, und wenn sie ihr Wesen enthüllt, indem sie aus sich heraustritt, so zeigt sich in dieser plötzlichen Klarheit eher ein Abstand als eine Rückwendung, eher eine Zerstreuung als eine Rückkehr der Zeichen zu sich selbst.107

Dennoch stellt die Sprache der Literatur, wenn sie auch der Normalsprache gegenüber als fremdartig erscheint, alles Andere als eine Privatsprache im Sinne Wittgensteins dar, die sich jeglichem Verstehen entzieht; vielmehr vermag sie die Normalsprache unendlich zu befruchten und zu bereichern. Das kann so weit gehen, dass sich die Normalsprache unter dem Einfluss der Sprache der Poesie allererst zu einer Nationalsprache konstituiert – dies trifft, zumindest im kulturellen Selbstverständnis um 1800, gerade für das Deutsche zu. Ausgehend von den oben zitierten Gedanken Goethes lässt sich der Exkurs zusammenfassen. Goethe behauptet einerseits, der Dichter oder Schriftsteller könne sich in einer fremden Sprache gleichsam nur als ,unheimlicher Gast‘ artikulieren („wie einer der in einem fremden Hause wohnt“); zuhause sei er allein in seiner Muttersprache, die ihm als einzige einen stets angemessenen und souveränen Ausdruck ermögliche. Andererseits aber heißt es, dass man in der Muttersprache „so dichtet, als wenn es eine fremde wäre.“ Dichter und Schriftsteller wären demnach nicht im Haus der Muttersprache eingerichtet, sondern vielmehr bemüht, innerhalb der Muttersprache (und in Abgrenzung von dieser) eine bzw. die eigene Sprache zu begründen. Diese erscheint als eine fremde Sprache, da sie erworben, nicht jedoch von vornherein beherrscht wird. Distanz und Nichtzugehörigkeit, Ohnmacht, Unverständlichkeit und Fremdheit prägen das Verhältnis der Dichter und Schriftsteller zur Sprache; nur der Dilettant kann sich mit ihr identifizieren. 105

Brief vom 4. Dezember 1801 (Hölderlin: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 425 f.). Jostes: Fremdheit, S. 51. 107 Michel Foucault: Schriften in vier Bänden [Dits et Ecrits]. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001 ff., Bd. 1, S. 672 f. 106

Muttersprache und Mehrsprachigkeit

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In der Literatur der Moderne tritt dies im Zuge einer allgemeinen und radikalen Sprachkritik verschärft zutage, und zwar in unterschiedlichen poetologischen Modellen. Zum einen wird die Sprache der Literatur, analog zur Sprache der Poesie in der Romantik, als eine äußerst fremde, unerreichbare, utopische Sprache konzipiert, die alle nationalen Grenzen übersteigt. Literatur ist gleichsam der Versuch, in diese Sprache zu übersetzen. Umgekehrt findet sich noch bei Nietzsche die Vorstellung, dass der Dichter aus einer gänzlich fremden Sprache übersetze, ja dass dieser nur als Medium dieser Übersetzung – letztlich also einer fremden Artikulation – diene. Zum anderen ist, wie insbesondere die formalistische Theorie gezeigt hat, für die Produktion wie auch für die Rezeption des literarischen Werkes die Fremdheit der Sprache konstitutiv. Insofern die Literatur das Selbstverständliche und Vertraute der Sprache unterbricht, wird und wirkt diese fremd. Durch die Verfremdung bzw. durch das Fremdartige werden in der Sprache neue Wahrnehmungs- und Bedeutungsmöglichkeiten erzeugt; dies entspricht der Wirkungsweise des fremdartigen (darunter auch des metaphorischen) Ausdrucks, wie sie Aristoteles in der Rhetorik darstellt. Die Rede von der Literatur als einer fremden Sprache bzw. Fremdsprache ist also eine Metapher, deren Bedeutung sich auf verschiedenen Ebenen entfalten lässt. Diese Metapher überträgt und stellt die Literatur an einen Ort, der durch eine Differenz der Sprache zu sich selbst geprägt ist – ein sicher prekärer, aber auch äußerst produktiver Ort. So konstituiert sich innerhalb des literarischen Diskurses eine immanente Mehrsprachigkeit, die auf die ambivalente, zwischen Eigenem und Fremdem oszillierende Haltung des Subjekts gegenüber der Sprache zurückzuführen ist.

6.4. Muttersprache und Mehrsprachigkeit Erscheint anhand der bisherigen Ausführungen die Muttersprache nur bedingt als die eigene Sprache, so ist in einem zweiten Schritt zu fragen, inwiefern sie überhaupt eine ist. Damit ist nicht nur gemeint, dass jede Sprache zugleich mehrere Sprachen beinhaltet und dass also Einsprachigkeit als ein fragwürdiger Singular erscheint. Es muss außerdem die Tatsache berücksichtigt werden, dass viele Menschen mehrsprachig aufwachsen und in diesem Sinn möglicherweise mehr als eine Muttersprache haben.108 Schließlich sind noch jene Fälle zu berücksichtigen, in denen eine zweite, nicht zwingend von frühester Kindheit an erworbene Sprache so intensiv verwendet wird, dass sie mit einer zweiten Muttersprache vergleichbar wird. Neuesten Erkenntnissen der Neurolinguistik zufolge sind bei Zweisprachigkeit geringere Widerstände beim Wechsel von der Muttersprache in die zweite Sprache zu beobachten als beim Wechsel von dieser in die Muttersprache – vorausgesetzt, man ist dieser zweiten Sprache stärker ausgesetzt 108

Vgl. dazu Steiner: Nach Babel, S. 136–138.

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als der Muttersprache.109 Das Primat der Muttersprache gerät erneut ins Wanken, da sich nämlich diejenige Sprache als dominant erweist, die am meisten gehört, gesprochen, gelesen und gedacht wird. Über die Fragen, die inzwischen mit bildgebenden Verfahren empirisch beantwortet werden sollen, denkt man schon seit Langem und ohne Einblick in das menschliche Gehirn nach: In welcher Beziehung stehen die Sprachen eines mehrsprachigen Individuums zueinander? Wie funktioniert dessen Kontrolle über die Sprachen und wie werden diese im Gedächtnis gespeichert? Welche kognitiven Prozesse finden im multilingual mind statt? Wie wirkt sich Mehrsprachigkeit auf das Sprach- und Selbstbewusstsein aus? Diese Fragen können hier nur ansatzweise erörtert werden; als Einstieg soll noch einmal Simultan dienen. In Nadjas Fall, so legt Bachmanns Erzählung nahe, handelt es sich um keine ‚angeborene‘ bzw. frühe Mehrsprachigkeit, vielmehr hat die Simultanübersetzerin ihre Sprachen sekundär und systematisch erworben (sie muss sich in ihrem Beruf auch immer wieder spezielle Wortschätze aneignen). George Steiner weist darauf hin, dass Simultanübersetzer vorzugsweise nicht von frühester Kindheit an mehrsprachig aufgewachsen sein sollten: Kenner auf dem Gebiet der Simultanübersetzung erklären, daß ein von Haus aus mehrsprachiger Dolmetscher nicht immer der beste ist. Der beste ist offenbar jemand, der sich bewußt Flüssigkeit in einer Zweitsprache angeeignet hat. Der ursprünglich Zweisprachige ‚übersieht die Schwierigkeiten‘. Die Schranke zwischen den beiden Sprachen hat sich ihm nicht scharf genug eingeprägt. Oder, wie Quine skeptisch in ‚Word and Object‘ sagt, es kann sein, ‚daß der Zweisprachige seine private semantische Korrelation hat – das heißt, sein implizites Privatsystem analytischer Hypothesen – und daß das auf irgendeine Weise in seinen Nerven sitzt‘. Wenn das stimmt, so bedeutet es, daß ein zwei- oder dreisprachiger Mensch nicht lateral vorgeht, wenn er übersetzt. Das polyglotte Denken unterspült die Trennungslinien zwischen den Sprachen dadurch, daß es nach innen, bis hin zum symbolischen Kern reicht.110

Demnach könnte man über Nadja behaupten, dass die Schranken zwischen den Sprachen zwar „scharf genug eingeprägt“ sind, jedoch nicht mehr als solche funktionieren. Die Simultanübersetzerin versucht, die Schranken zu kontrollieren, doch ihr („lateral“) unwillkürliches Schalten zwischen den Sprachen zeigt, dass diese zwanghafte Kontrolle in ihr Gegenteil umschlägt: Die Schranken sind durchlässig, und aus allen Sprachen entsteht bisweilen eine einzige Sprache. Dabei wird der „symbolisch[e] Kern“ nicht erreicht, auch nicht in der Muttersprache, die allein „für den Gebrauch“111 gesprochen wird. Es gibt keine Verankerung oder Verwurzelung „nach innen“ – ausgerechnet die

109

Vgl. Jubin Abutalebi/Simona M. Brambati/Jean-Marie Annoni u. a.: „The Neural Cost of the Auditory Perception of Language Switches: An Event-Related Functional Magnetic Resonance Imaging Study in Bilinguals“, in: The Journal of Neuroscience 27 (2007), S. 13762–13769. Das eigentliche Ergebnis scheint aber einmal mehr die Lokalisation zu sein: Die Forscher haben zwei Gehirnareale ausfindig gemacht, die den Sprachwechsel überwachen. 110 Steiner: Nach Babel, S. 141. 111 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 285.

Muttersprache und Mehrsprachigkeit

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sprachlichen Ausdrücke mit „memoriale[r] Tiefe“112 lassen sich nicht übersetzen –, stattdessen werden die Sprachen rein oberflächlich verwendet. Solcherart wird zwar die Simultanübersetzung gewährleistet, umso intensiver wirken jedoch die in Bachmanns Erzählung geschilderten Erfahrungen der Unübersetzbarkeit und Sprachlosigkeit. In Nach Babel versucht Steiner, der dreisprachig erzogen wurde, sich ein Bild der Interaktion seiner Sprachen zu machen. Indem er die Unterscheidung von primärer und sekundärer Mehrsprachigkeit aufgreift, spricht er vom „Druck“, den die Sprachen möglicherweise aufeinander ausüben; ein ähnlicher Druck könnte auch Nadjas Sprachwechsel und Übersetzungsmechanismen auslösen: Arbeitet ein polyglotter Kopf anders als einer, der nur über eine Sprache verfügt oder sich im Lauf der Zeit bewußt noch mehrere angeeignet hat? Drücken die anderen Sprachen bei einem von klein auf mehrsprachigen Menschen nicht auf den Wortschatz der Sprache, in der er sich gerade ausdrückt? Läßt sich so etwas wie ein Nachbarschafts-Druck (des Deutschen oder Englischen) feststellen oder gar messen, wenn ich gerade französische Wörter und Sätze von mir gebe, und wird das dabei waltende Selektionsvermögen für Französisch durch einen etwaigen solchen Druck nachweislich, sei es beeinträchtigt, sei es bereichert? Wenn eine solche Tangentialwirkung tatsächlich bestehen sollte, so könnte sie mir mein Englisch oder Deutsch untergraben, es unstet, vorläufig machen, es auf Abwege bringen. Diese Vermutung steckt wohl hinter dem pseudowissenschaftlichen Gerede über die angebliche Bereitschaft für Schizophrenie oder andere psychische Krankheiten bei mehrsprachigen Menschen oder Kindern, die gleichzeitig in ‚zu vielen Sprachen‘ (gibt es eine kritische Zahl?) erzogen werden. Oder könnte, im Gegenteil, eine solche ‚Intervention‘ seitens der anderen Sprachen meinen Umgang mit jeder einzelnen feinfühliger für ihre Besonderheiten und ihre je eigenen Ausdrucksmöglichkeiten machen? […] Kurzum: Wirkt ‚intertraffique of the minde‘ […] auf die sprachliche Ausdruckskraft bereichernd oder verarmend?113

Diese Frage ist in der Forschung nicht abschließend beantwortet worden; allerdings wird sie immer häufiger zugunsten einer als „bereichernd“ aufgewerteten Mehrsprachigkeit entschieden. Galt früher das zweisprachige Individuum als „at best the sum of two monolinguals“, so erkennt man in ihm inzwischen häufig „more than the sum of two monolinguals“.114 Worin besteht jedoch dieser Mehrwert? Hamers und Blanc sprechen hierbei von besonders ausgeprägten metasprachlichen Fähigkeiten: einerseits „metalinguistic ability“ als „capacity to focus on language as an object that can be analysed and reflected upon“ und demzufolge andererseits „metalinguistic awareness“, d. h. „awareness of the word-object relation or the capacity to identify and correct syntactic errors“.115 Ein höherer Flexibilitäts- und Reflexionsgrad dürfte aber auf kognitiver Ebene von Vorteil sein. Den ,negativen‘ Diskurs über Mehrsprachigkeit gibt es allerdings nach wie vor, wenn auch nur mehr als Vorurteil oder „pseudowissenschaftliche[s] Gerede“. Die von Steiner erwähnte These einer „Bereitschaft zur Schizophrenie“ kommt 112

Bachmann: „Frankfurter Vorlesungen [Das schreibende Ich]“, in: Werke, Bd. 4, S. 231. Steiner: Nach Babel, S. 140 f. Steiner erläutert selbst das Zitat „intertraffique of the minde“ – diese Wendung benutzt Samuel Davis gegenüber John Florio, dem Übersetzer Montaignes. 114 Hamers/Blanc: Bilinguality and Bilingualism, S. 34 u. 360. 115 Ebd., S. 362, Anm. 2. 113

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dadurch zustande, dass man Mehrsprachigkeit mit psychischer Dissoziation gleichsetzt. Das mehrsprachige Individuum ist demnach gar keins – allenfalls ein „Dividuum“,116 geteilt und gespalten in der Wahrnehmung seiner selbst wie seiner Außenwelt: [T]he bilingual […] looks at the world alternatively from two points of view. He has the task of looking twice at the world, while the monoglot is in a much better position: for him there is one world and one world only. All the particularities which language conveys, historical, geographical, cultural, are re-embodied in the bilingual twice: he is neither here nor there; he is a marginal man.117

Der heilen, einen Welt des Monolingualen wird die permanente Randstellung des mehrsprachigen Individuums entgegengesetzt. Joseph Conrad bezeichnete sich aufgrund seiner Mehrsprachigkeit als „homo duplex“;118 eine solche doppelte oder multiple Identität kann unter Umständen durchaus schizoide Ausmaße annehmen. So verneint und vermeidet der Protagonist von Louis Wolfsons Le Schizo et les langues seine englische Muttersprache, indem er, sobald er Englisch hört oder auch nur liest, sofort in eine andere Sprache übersetzt.119 Dieses Verfahren ist von Deleuze ausführlich beschrieben worden;120 es ließe sich, obwohl es zugegebenermaßen viel stärker pathologische Züge trägt, mit Nadjas ,Oberflächenübersetzungen‘ vergleichen. An dieser Stelle ist aber vor allem wichtig festzuhalten, dass Wolfsons „jeune öme sqizofrène“121 seiner verhassten Muttersprache vollkommen ausgeliefert wäre, hätte er nicht seine Fremdsprachen bzw. Vatersprachen. Wenn es also wahrscheinlich ist, dass Mehrsprachigkeit einem Schizophrenen mehr Möglichkeiten bietet als Einsprachigkeit, so müsste man umgekehrt auch sagen, dass sie mehr Möglichkeiten zu ihrer Heilung bereit halte. Bemerkenswerterweise wurde zur Anfangszeit der Psychiatrie bei schizophrenen Patienten das Erlernen einer Fremdsprache als therapeutisches Mittel eingesetzt.122 Nur dann führte Mehrsprachigkeit tatsächlich und grundsätzlich zur Schizophrenie, behauptet Ricœur, wenn jede Sprache den jeweiligen Sprechern eine ihr eigene Weltanschauung aufnötigte.123 Dass dies nicht der Fall sei, zeige wiederum der Umstand, dass 116

Novalis: Das allgemeine Brouillon [Nr. 952], in: Schriften. Hrsg. v. Paul Kluckhohn. 3. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1977 ff., Bd. 3, S. 451. 117 Max F. Adler: Collective and Individual Bilingualism. A Sociolinguistic Study. Hamburg: Buske, 1977, S. 38. 118 Zit. n. Obendiek: Der lange Schatten, S. 71. 119 Vgl. Louis Wolfson: Le Schizo et les langues ou la Phonétique chez le psychotique (Esquisses d’un étudiant de langues schizophrénique). Paris: Gallimard, 1970. 120 Vgl. Gilles Deleuze: „Louis Wolfson, ou le procédé“, in: Critique et clinique. Paris: Minuit, 1993, S. 18–33; vgl. auch Amati Mehler/Argentieri/Canestri: La Babele dell’inconscio, S. 217–223. Im Zusammenhang mit Bachmann vgl. Rudolf Muhr: „Österreichisch. Anmerkungen zur linguistischen Schizophrenie einer Nation“, in: Klagenfurter Beiträge zur Sprachwissenschaft 8 (1982), S. 306–319. 121 Deleuze: „Louis Wolfson, ou le procédé“, in: Critique et Clinique, S. 18. 122 Vgl. Amati Mehler/Argentieri/Canestri: La Babele dell’inconscio, S. 95. 123 Ricœur: Sur la traduction, S. 28 f.

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die allermeisten „individus bilingues“124 nicht schizophren sind, sondern offenbar die Vielzahl der Sprachen und der Vorstellungen miteinander vermitteln können, ohne gravierende psychische Störungen zu entwickeln. Dabei stellt sich erneut die Frage, inwieweit das Denken und die Wahrnehmung durch die jeweilige Sprache geprägt werden. Ricœur nimmt eine eher universalistische als relativistische Position ein. Dagegen postuliert ein extremer Sprachrelativismus, die kognitive Erschließung der Welt bzw. die Weltanschauung sei von der jeweiligen Sprache vollkommen abhängig, wobei man in letzter Konsequenz verneinen müsste, dass es überhaupt möglich sei, fremde Sprachen zu verstehen und zu denken.125 Dies geht zu weit, denn durch die Mehrsprachigkeit werden dem Menschen kognitive und hermeneutische Aufgaben gestellt, die zwar nicht immer oder nicht immer leicht, aber insgesamt oft genug zu bewältigen sind. Bei der Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Denken ist ferner auf Rousseau zu verweisen, der in Émile schreibt: „Les têtes se forment sur les langages, les pensées prennent la teinte des idiomes“.126 Daraus werden Schlussfolgerungen hinsichtlich der sprachlichen Erziehung der Kinder gezogen: Je conviens que si l’étude des langues n’etoit que celle des mots, c’est à dire des figures ou des sons qui les expriment cette étude pourroit convenir aus enfans; mais le langues en changeant les signes modifient aussi les idées qu’ils réprésentent. […] [L]a raison seule est commune, l’esprit en chaque langue a sa forme particuliére […]. De ces formes diverses l’usage en donne une à l’enfant, et c’est la seule qu’il garde jusqu’à l’age de raison. Pour en avoir deux il faudroit qu’il sut comparer des idées, et comment les compareroit-il quand il est à peine en êtat de les concevoir? Chaque chose peut avoir pour lui mille signes différens; mais chaque idée ne peut avoir qu’une forme, il ne peut donc apprendre à parler qu’une langue. Il en apprend cependant plusieurs, me dit-on; je le nie. J’ai vû de ces petits prodiges qui croyoient parler cinq ou six langues. Je les ai entendus successivement parler Allemand, en termes latins, en termes françois, en termes italiens; ils se servoient à la vérité de cinq ou six dictionnaires; mais il ne parloient toujours qu’allemand. En un mot, donnez aux enfans tant de sinonimes qu’il vous plaira; vous changerez les mots, non la langue; ils n’en sauront jamais qu’une.127

Bis zu seinem ‚Vernunftalter‘ bleibt also jedes Kind einsprachig, insofern es in kognitiver Hinsicht nur über eine Sprache verfügen kann; außer den Wunderkindern habe kein 124

Ebd., S. 29. Eine semantische Lücke in einer bestimmten Sprache bedeute nicht gleich, so Jürgen Trabant, dass deren Sprecher das durch das fehlende Wort Bezeichnete „nicht denken könnten“ (Jürgen Trabant: „Fremdheit der Sprache“, in: Was heißt hier „fremd“? Studien zur Sprache und Fremdheit. Hrsg. v. Jürgen Trabant u. Dirk Naguschewski. Berlin: Akademie-Verlag, 1997, S. 93–114, hier S. 95). Es gebe in dieser Hinsicht eine gewisse „Unabhängigkeit zwischen Sprache und Denken“; andernfalls „könnte es sein, daß die Frage nach der Fremdheit der Sprache einzig davon abhinge, daß ich deutsch spreche“, dass sich also die Frage nur im Deutschen und mit dem deutschen Wort „Fremdheit“ stellte (ebd.). Trabant erinnert hier an Wittgenstein: „Wie erkenne ich, daß diese Farbe Rot ist? Eine Antwort wäre: ‚Ich habe Deutsch gelernt.‘“ (Wittgenstein: Werkausgabe, Bd. 1, S. 400). 126 Rousseau: Émile, in: Œuvres complètes, Bd. IV, S. 346. 127 Ebd., S. 346 f. 125

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einziges Kind bis zum Alter von zwölf bis fünfzehn Jahren zwei Sprachen wirklich gelernt.128 Diese These ist mehr als fragwürdig: Selbstverständlich zeigt ein Kleinkind nicht dahingehend ein mehrsprachiges Sprachbewusstsein, dass es auf abstrakte Weise Vorstellungen miteinander vergleicht, doch es kann sehr wohl Sprachunterschiede festmachen und funktional einsetzen, und es lebt keineswegs in einer Welt von Synonyma. So gilt inzwischen der frühe Spracherwerb geradezu als die einzige Möglichkeit, eine Sprache ‚wirklich‘ zu lernen; das sogenannte sensitive age, nach welchem das Erlernen von Fremdsprachen schwieriger wird, liegt bei ungefähr sechs Jahren.129 Gegen eine mehrsprachige Erziehung ist außerdem immer wieder das Gespenst der Konfusion ins Feld geführt worden. Das Kind bringe die Sprachen durcheinander, wobei die Interferenzen,130 die gelegentlich in seiner Rede auftauchen, gleichsam die wirre Lage der Sprachen auf endopsychischer Ebene widerspiegelten. Um dem entgegenzutreten, entwickelte Jules Ronjat die Erziehungsmethode „une personne, une langue“, der zufolge das Kind eines mehrsprachigen Elternpaares von einem Elternteil immer nur eine Sprache hören und stets in derjenigen Sprache, in der es adressiert worden ist, antworten sollte.131 Ronjat beobachtete das sprachliche Verhalten seines eigenen Kindes und dokumentierte es in einer Art Tagebuch. Mehrere solcher „child biographies“132 wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfasst, und fast alle kommen zu dem Schluss, dass das mehrsprachig aufwachsende bzw. aufgewachsene Kind nicht benachteiligt ist – was aber wiederum mehrfach von vergleichenden Studien widerlegt werden sollte, in denen mehrsprachige Kinder in verschiedenster Hinsicht 128

Vgl. ebd., S. 346. Vgl. Hamers/Blanc: Bilinguality and Bilingualism, S. 65 u. 70 f. Einschränkend heißt es dann aber: „The question as to why children are capable of developing more native-like L2 proficiency than later learners is still unanswered. The biologically sensitive period explanation does not appear a necessary one. […] However, neurological maturation as a factor among others […] must not be completely disregarded.“ (Ebd., S. 76). 130 Vgl. zu diesem Begriff Kap. 2.4. 131 Jules Ronjat: Le développement du langage observé chez un enfant bilingue. Paris: Champion, 1913. Diese Methode, die Ronjat im Rückgriff auf Maurice Grammont entwickelt, wurde auch im Schulunterricht eingesetzt; vgl. Maurice Grammont: „Observations sur le langage des enfants“, in: Mélanges linguistiques offerts à M. Antoine Meillet par ses éléves. Nachdruck Genf: Slatkine Reprints, 1972, S. 61–82. Steiner erinnert sich: „Meine Mutter hatte die ebenso liebenswerte wie bei Kinderpsychologen verpönte Gewohnheit – die ihr gar nicht bewußt war –, einen Satz in der einen Sprache anzufangen und in einer anderen zu beenden.“ (Steiner: Nach Babel, S. 136). 132 Hamers/Blanc: Bilinguality and Bilingualism, S. 50. Erwähnt wird hier auch Werner F. Leopold: Speech Development of a Bilingual Child. A Linguist’s Record. Evanston: Northwestern University Press, 1939–1949. Vgl. bereits Milivoie Pavlovitch: Le langage enfantin: acquisition du serbe et du français par un enfant serbe. Paris: Champion, 1920. Zudem gibt es Selbstzeugnisse von Erwachsenen, etwa Wilhelm Theodor Elwert: Das zweisprachige Individuum. Ein Selbstzeugnis. Mainz: Verlag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, 1960. Als Selbstzeugnisse sind darüber hinaus Texte wie Derridas Le monolinguisme de l’autre, Steiners After Babel sowie auch literarische mehrsprachige Autobiographien zu lesen.

129

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schlechter abschnitten als einsprachige.133 Interferenz der Sprachen und produktive Sprachmischungen: Man kann offenbar nicht das Eine ohne das Andere haben. So berichtet Humboldt während seines Aufenthalts in Rom seiner Frau über die Sprachen ihrer Tochter Adelheid: Sie spricht jetzt Italienisch gleich geläufig und richtiger als Deutsch, wo sie noch immer ‚genehmt, gebringt‘ usw. sagt; wenn man sie aber fragt, was sie lieber spricht, sagt sie gleich mit einem Gesicht, als wenn’s eine Sünde wäre, es anders zu tun: Deutsch. Sie scheint es ordentlich für etwas Edleres anzusehen.134

Etwa drei Monate später heißt es über Adelheid: „was mir leid tut, der deutsche Laut erstirbt ganz auf ihren Lippen. Wie man auch jetzt Deutsch reden mag, sie versteht alles, aber antwortet immer Italienisch. Ein einziges ‚Ja!‘ habe ich ihr neulich abgepreßt.“135 Und schließlich muss Humboldt sogar erkennen: „Adel macht sich jetzt häufig über das Deutsche lustig und sagt: ‚io dico ja! io dico nein!‘ Über ihr Italienisch wundert sich jedermann.“136 Adelheids Sprachverhalten erinnert an Hofmannsthals Diktum: „Wahre Sprachliebe ist nicht möglich ohne Sprachverleugnung.“137 Allerdings ist angesichts von Simultan gezeigt worden, welche schwerwiegenden Konsequenzen eine solche „Sprachverleugnung“ haben kann. Die versagte Muttersprache soll im Fall der Simultanübersetzerin Nadja durch die Mehrsprachigkeit gleichsam kompensiert werden; dies misslingt jedoch, und hinzu kommt, dass die Mehrsprachigkeit als ‚zu viel‘ empfunden wird. Damit ist, nach den Interferenzen, ein zweites Phänomen benannt, das gegen die Mehrsprachigkeit sprechen soll, nämlich die quantitative Überforderung, und zwar mit Bezug auf das Gedächtnis. In der Tat wird auch in Simultan das Memorieren der Sprachen thematisiert; es ordnet das Leben, ist aber nicht ohne Gefahr. Auch wenn bis heute keine Einigkeit darüber herrscht, welche Strukturierungs- und Prozessierungsverfahren den Erwerb, den Ge133

Vgl. Hamers/Blanc: Bilinguality and Bilingualism, S. 50. Zur Mehrsprachigkeit als einem nicht anzustrebenden Zustand vgl. Izhac Epstein: La pensée et la polyglossie. Essai psychologique et didactique. Paris/Lausanne: Payot, 1915; Andreas von Weiß: Hauptprobleme der Zweisprachigkeit. Eine Untersuchung auf Grund deutsch/estnischen Materials. Heidelberg: Winter, 1959; Leo Weisberger: „Vorteile und Gefahren der Zweisprachigkeit“, in: Wirkendes Wort 16 (1966), S. 73–89; Joshua A. Fishman: „Bilingualism, Intelligence and Language Learning“, in: The Modern Language Journal 49 (1965), S. 227–237; Eduard Blocher: „Zweisprachigkeit. Nachteile und Vorteile“, in: Bilinguale und multikulturelle Erziehung. Hrsg. v. James Swift. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1982, S. 117–132. Zum neueren Forschungsstand vgl. Bernd Kielhöfer/Sylvie Jonekeit: Zweisprachige Kindererziehung. 10. Aufl. Tübingen: Stauffenburg Verlag, 1998. 134 Brief vom 3. Juli 1804, in: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Hrsg. v. Anna von Sydow. Berlin: Mittler u. Sohn, 1907, Bd. 2, S. 197. In diesem Brief schreibt Humboldt, die Tochter habe ihre Freude über ein Wiedersehen mit dem Ausruf bekundet: „Ich immer an Vater gedenkt!“ (Ebd.). 135 Brief vom 16. Oktober 1804, in: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, S. 267. 136 Brief vom 5. Januar 1805, in: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, S. 291. 137 Hugo von Hofmannsthal: Buch der Freunde. Mit Quellennachweisen hrsg. v. Ernst Zinn. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1989, S. 80.

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brauch und die Speicherung der Sprachen bestimmen,138 so ist doch auszuschließen, dass durch Mehrsprachigkeit das Gedächtnis überfordert werde. Jedenfalls geschieht dies nicht auf die Weise, die Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches beschreibt, wenn er sich gegen das Sprachenlernen äußert: „Viele Sprachen lernen füllt das Gedächtnis mit Worten statt mit Tatsachen und Gedanken aus, während dies ein Behältnis ist, welches bei jedem Menschen nur eine bestimmte begrenzte Masse von Inhalt aufnehmen kann.“139 Daraufhin zählt er weitere negative Effekte der Mehrsprachigkeit auf: Sodann schadet das Lernen vieler Sprachen, insofern es den Glauben, Fertigkeiten zu haben, erweckt und tatsächlich auch ein gewisses verführerisches Ansehen im Verkehr verleiht; es schadet sodann auch indirekt dadurch, daß es dem Erwerben gründlicher Kenntnisse und der Absicht, auf redliche Weise die Achtung der Menschen zu verdienen, entgegenwirkt. Endlich ist es die Axt, welche dem feineren Sprachgefühl innerhalb der Muttersprache an die Wurzel gelegt wird: dies wird dadurch unheilbar beschädigt und zugrunde gerichtet. Die beiden Völker, welche die größten Stilisten erzeugten, Griechen und Franzosen, lernten keine fremden Sprachen.140

Die Deutschen aber sollten sich nach Ansicht Nietzsches dringend auf ihre Sprache besinnen, und, so heißt es in einem der Vorträge Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, es „hoffe auch niemand auf einem andern Wege zu einem ästhetischen Urteile zu kommen als auf dem dornigen Pfad der Sprache, und zwar nicht der sprachlichen Forschung, sondern der sprachlichen Selbstzucht.“141 Von sich behauptet Nietzsche in einem Brief, er sei „obschon Philologe, doch leider gar kein Sprachmensch (die deutsche Sprache wird mir sauer genug).“142 Die auf der Welt vorhandene Sprachvielfalt weise auf die Unmöglichkeit einer Wahrheit hin, liest man in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne: „Die verschiedenen Sprachen, nebeneinandergestellt, zeigen, daß es bei den Worten nie auf die Wahrheit, nie auf einen adäquaten Ausdruck

138

Es werden grundsätzlich drei verschiedene Modelle diskutiert: Interdependenzmodelle (die Sprachen greifen auf gemeinsame Strukturen zurück), Independenzmodelle (die Sprachen erhalten jeweils eigene Strukturen) und gemischte Modelle (die Sprachen funktionieren teils gemeinsam bzw. gleich, teils separat bzw. unterschiedlich). 139 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, in: Werke. Kritische Gesamtausgabe, 4. Abt., Bd. 2, S. 225. 140 Ebd., S. 225 f. 141 Friedrich Nietzsche: „Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ (Vortrag II), in: Werke. Kritische Gesamtausgabe, 3. Abt., Bd. 2, S. 176. Diejenigen, die es zu bilden gilt, sollen „mit Gewalt unter die Glasglocke des guten Geschmacks und der strengen sprachlichen Zucht gesetzt werden: ist dies nicht möglich, nun so ziehe ich nächstens wieder vor, lateinisch zu sprechen, weil ich mich einer so verhunzten und schändlichen Sprache schäme.“ (Ebd., S. 167). 142 Mit diesen Worten – aber auch aufgrund von Zeitmangel – lehnte Nietzsche im Brief an Hans von Bülow vom 2. Januar 1875 dessen Einladung ab, Giacomo Leopardis Werk ins Deutsche zu übersetzen; es gebe „für jenes Vermittler-Amt zwischen Italien und Deutschland würdigere und geeignetere Persönlichkeiten.“ (Friedrich Nietzsche: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Berlin/New York: de Gruyter, 1975 ff., 2. Abt., Bd. 5, S. 3 f.).

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ankommt: denn sonst gäbe es nicht so viele Sprachen.“143 Doch in pragmatischer, ja merkantilischer Hinsicht gelte es, die Sprachvielfalt auf lange Sicht zu überwinden: Weil aber der Verkehr der Menschen immer kosmopolitischer werden muß und zum Beispiel ein rechter Kaufmann in London jetzt schon sich in acht Sprachen schriftlich und mündlich verständlich zu machen hat, so ist freilich das Viele-Sprachen-lernen ein notwendiges Übel; welches aber, zuletzt zum äußersten kommend, die Menschheit zwingen wird, ein Heilmittel zu finden: und in irgendeiner fernen Zukunft wird es eine neue Sprache, zuerst als Handelssprache, dann als Sprache des geistigen Verkehrs überhaupt, für alle geben, so gewiß als es einmal Luft-Schiffahrt gibt. Wozu hätte auch die Sprachwissenschaft ein Jahrhundert lang die Gesetze der Sprache studiert und das Notwendige, Wertvolle, Gelungene an jeder einzelnen Sprache abgeschätzt!144

Die Universalsprache hat sich als eine weitaus größere Herausforderung als die „LuftSchiffahrt“ erwiesen, wohingegen das „Übel“ des Sprachenlernens in der globalisierten Gesellschaft als immer „notwendige[r]“ erscheint. Auf die von Nietzsche angeführten Argumente vom Wortreichtum als (1) Gedankenarmut und (2) Überschreitung der Gedächtniskapazität soll nun ausführlicher eingegangen werden. In einem bekannten Aphorismus erwidert Antoine de Rivarol „einem Dummkopf, der sich vier Sprachen zu kennen rühmte“: „Ich beglückwünsche Sie – Sie haben immer vier Worte gegen eine Idee.“145 Wieder kommt hier das zum Ausdruck, was Nietzsche mit „Worten“ anstelle von „Gedanken“ meint; dass nämlich Letztere durch Mehrsprachigkeit nicht etwa zahlreich oder zahlreicher, sondern höchstens ‚vielstellig‘ würden. In diesem Sinn wird für eine bessere Ökonomie der Sprache(n) plädiert, indem man letztlich auf eine universale Einsprachigkeit abzielt; so heißt es etwa in Louis-Sébastien Merciers utopischem Roman L’an 2440, rêve s’il en fut jamais: „Ne vaut-il pas mieux avoir sept pensées à une seule langue, qu’une seule pensée en sept langues?“146 Es stellt sich aber die Frage, ob und inwieweit ein Gedanke in sieben Sprachen überhaupt als ein Gedanke zu betrachten sei oder ob er nicht vielmehr durch die Übersetzung – in unterschiedlichem, manchmal in entscheidendem Maße – modifiziert wird. Denn die Übersetzung kann allein schon deshalb keine semantische Identität erzeugen, weil kein Wort einer Sprache „vollkommen einem Worte einer andern Sprache gleich“147 ist. Es ergeben sich „nothwendig Verschiedenheiten“, und 143

Nietzsche: „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, in: Werke. Kritische Gesamtausgabe, 3. Abt., Bd. 2, S. 373. 144 Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, in: Werke. Kritische Gesamtausgabe, 4. Abt., Bd. 2, S. 226. Zum Ideal der Universalsprache vgl. auch Antonio Prete: „l’idea che sia necessaria una lingua unica che permetta a tutti di intendersi immediatamente, senza traduzione, non riesce a nascondere il disegno egemonico: disegno che è in particolare d’ordine mercantile.“ (Antonio Prete: „Stare tra le lingue“, in: Stare tra le lingue, S. 9–12, hier S. 10). 145 Zit. n. Ernst Jünger: Rivarol. Frankfurt/M.: Klostermann, 1956, S. 176. 146 Zit. n. Knauth: „Multilinguale Literatur“, in: Literatur und Vielsprachigkeit, S. 273. 147 Humboldt: „Aeschylos Agamemnon“ [Einleitung], in: Gesammelte Schriften, 1. Abt., Bd. VIII, S. 130.

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wenn man die besten, sorgfältigsten, treuesten Uebersetzungen genau vergleicht, so erstaunt man, welche Verschiedenheit da ist, wo man bloss Gleichheit und Einerleiheit zu erhalten suchte. Man kann sogar behaupten, dass eine Uebersetzung um so abweichender wird, je mühsamer sie nach Treue strebt.148

Die Übersetzung erscheint damit nachgerade als Arbeit an der Unübersetzbarkeit der Sprachen. Indem man von einer Sprache in eine andere wechselt, lernt man einzelne Worte und einzelne Gedanken ein wenig anders zu verstehen. Aufgrund dessen ist es durchaus produktiv, sich mit fremden Sprachen auseinanderzusetzen, wie Humboldt an folgender Stelle bekennt: Mehrere Sprachen sind nicht ebensoviele Bezeichnungen einer Sache; es sind verschiedene Ansichten derselben, und wenn die Sache kein Gegenstand der äusseren Sinne ist, sind es oft ebensoviele, von jedem anders gebildete Sachen, in denen jeder nur soviel von dem seinigen wiederfindet, um das Fremde darin erfassen und in sich übertragen zu können. Es sind Hieroglyphen, in denen jeder die Welt und seine Phantasie abdrückt, und die sich, da Welt und Phantasie im ganzen dieselben bleiben, und die Phantasie immer nach Gesetzen der Aehnlichkeit Bildungen an Bildungen reiht, gegenseitig wiedererzeugen, sich vervielfältigen und weiter bilden. Durch die Mannigfaltigkeit der Sprachen wächst unmittelbar für uns der Reichthum der Welt und die Mannigfaltigkeit dessen, was wir in ihr erkennen; es erweitert sich zugleich dadurch für uns der Umfang des Menschendaseyns, und neue Arten zu denken und empfinden stehen in bestimmten und wirklichen Charakteren vor uns da.149

Zu einem ähnlichen Schluss gelangt auch Arthur Schopenhauer, der im Gegensatz zu Nietzsche von der Voraussetzung ausgeht, dass das Gedächtnis nicht erschöpft werden könne: Für das Gedächtniss ist wohl die Verwirrung und Konfusion des Gelernten zu besorgen; aber doch nicht eigentliche Ueberfüllung. Seine Fähigkeit wird durch das Gelernte nicht vermindert; so wenig, wie die Formen, in welche man successiv den Sand gemodelt hat, dessen Fähigkeit zu neuen Formen vermindern. Denn das Gedächtniß ist kein [Be]hältniß zum Aufbewahren, sondern bloß eine Uebungsfähigkeit der Geisteskräfte […].150

Mehrere Sprachen können also im Gedächtnis untergebracht werden, ohne dass sie sich gegenseitig beeinträchtigten. Im Gegenteil, indem die Sprachen in Beziehung zueinander treten, werden Ausdruck und Gedanke differenzierter und also präziser.151 Denn der Spracherwerb „füllt das Gedächtnis“ nicht nur, wie Nietzsche behauptet, „mit Worten“, sondern auch mit Begriffen, mit Begriffsunterscheidungen und Begriffserweiterungen. 148

Ebd. Wilhelm von Humboldt: „Fragmente der Monographie über die Basken“, in: Gesammelte Schriften, 1. Abt., Bd. VII, S. 602. 150 Schopenhauer: Parerga und Paralipomena II, in: Werke in fünf Bänden, Bd. 5, S. 522 f. Schopenhauer weist den Leser „auf § 45 der 2. Aufl. meiner Abhandlung über den Satz vom Grund“ hin. 151 „Was einer Sprache ihren Werth giebt“ sind die „Bestimmtheit und Präcision des Ausdrucks […], indem es nur vermöge ihrer gelingt, jede Nüance, jede Modulation eines Gedankens genau und unzweideutig auszudrücken, ihn also wie im nassen Gewande, nicht wie im Sack erscheinen zu lassen“ (Arthur Schopenhauer: Gesammelte Werke. Zürcher Ausgabe. Hrsg. v. Arthur u. Angelika Hübscher. Zürich: Diogenes, 1977, Bd. 10, 2, S. 579). 149

Muttersprache und Mehrsprachigkeit

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Im Vergleich zu Sprache A liegen nämlich in Sprache B meistens „bloß ähnliche und verwandte, jedoch durch irgend eine Modifikation verschiedene Begriffe“ vor; oder es finden sich darin gar neue Begriffe, die es in anderen Sprachen nicht gibt, dann wird man „ganz neue Sphären von Begriffen in seinem Geiste abstecken“ – das gesamte Begriffsnetz wird also durch jede neu hinzugelernte Sprache umstrukturiert.152 Aufgrund dieser Wechselwirkung der Sprachen auf der Ebene der Begriffe ist das Erlernen fremder Sprachen für Schopenhauer „nicht allein ein mittelbares, sondern auch ein unmittelbares, tief eingreifendes, geistiges Bildungsmittel“,153 insofern es erhellet, daß bei der Erlernung jeder fremden Sprache sich neue Begriffe bilden, um neuen Zeichen Bedeutung zu geben; daß Begriffe auseinandertreten, die sonst nur gemeinschaftlich einen weiteren, also unbestimmteren ausmachten, weil eben nur Ein Wort für sie da war; daß Beziehungen, die man bis dahin nicht gekannt hatte, entdeckt werden, weil die fremde Sprache den Begriff durch einen ihr eigentümlichen Tropus, oder Metapher, bezeichnet; daß demnach unendlich viele Nüancen, Aehnlichkeiten, Verschiedenheiten, Beziehungen der Dinge, mittelst der neu erlernten Sprache ins Bewußtseyn treten; daß man also eine vielseitigere Ansicht von allen Dingen erhält. Hieraus nun folgt, daß man in jeder Sprache anders denkt, mithin unser Denken durch die Erlernung einer jeden eine neue Modifikation und Färbung erhält, daß folglich der Polyglottismus, neben seinem vielen MITTELBAREN Nutzen, auch ein DIREKTES Bildungsmittel des Geistes ist, indem er unsre Ansichten, durch hervortretende Vielseitigkeit und Nüancirung der Begriffe, berichtigt und vervollkommnet, wie auch die Gewandtheit des Denkens vermehrt.154

Damit wäre auch Nietzsches These widerlegt, dass Fremdsprachen dem „Sprachgefühl“ in der Muttersprache schadeten, vielmehr wird umgekehrt dieses durch mehrsprachiges Denken auf unmittelbare Weise „vervollkommnet“. Und wenn Schopenhauer schreibt, „daß man in jeder Sprache anders denkt“, ist er wiederum Humboldt sehr nahe, der ausdrücklich betont, wie die Verschiedenheit der Sprachen „nicht eine von Schällen und

152

Schopenhauer: Parerga und Paralipomena II, in: Werke in fünf Bänden, Bd. 5, S. 489. „Denn das Erlernen der Sprache besteht darin, dass wir, auf immer, einen Begriff mit einem Worte so zusammenketten, dass bei diesem Begriff stets zugleich dieses Wort, und bei diesem Wort dieser Begriff uns einfällt. Den selben Process haben wir nachmals bei Erlernung jeder neuen Sprache zu wiederholen. Erlernen wir jedoch eine Sprache bloß zum passiven, nicht zum aktiven Gebrauch, d. h. zum Lesen, nicht zum Sprechen, wie z. B. meistens das Griechische; so ist die Verkettung einseitig, indem beim Wort uns der Begriff, nicht aber durchweg beim Begriff das Wort einfällt.“ (Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung II, in: Werke in fünf Bänden, Bd. 2, S. 155). Ferner heißt es: „Im Grunde beruht unser unmittelbares, d. h. nicht durch mnemonische Künste vermitteltes Wortgedächtniss, und mit diesem unsere ganze Sprachfähigkeit, auf der unmittelbare Gedankenassociation.“ (Ebd.). Das Fremdsprachenlernen ließe sich mit Bachtin als „gegenseitige Erhellung“ (Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 515) der Sprachen bezeichnen, bei der man immer wieder „lern[t] die ,innere Form’ (im Humboldtschen Sinne) in der fremden Sprache und die ,innere Form‘ der eigenen Sprache als eine fremde wahrzunehmen“ (Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 252). 153 Schopenhauer: Parerga und Paralipomena II, in: Werke in fünf Bänden, Bd. 5, S. 487. 154 Ebd., S. 490 f.

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Für und gegen das Primat der Muttersprache

Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst“ ist,155 und wie demnach [d]ie Erlernung einer fremden Sprache […] die Gewinnung eines neuen Standpunkts in der bisherigen Weltansicht seyn [sollte] und ist es in der That bis auf einen gewissen Grad, da jede Sprache das ganze Gewebe der Begriffe und die Vorstellungsweise eines Theils der Menschheit enthält.156

Das Erlernen einer fremden Sprache erscheint also als eine der stärksten „ErziehungsMächt[e]“ des Denkens, und zwar nicht nur deshalb, weil man sich dabei eine fremde Anschauung (so weit wie möglich) aneignet, sondern auch weil man auf diese Weise zugleich genötigt wird, „seine eigne Geschäftigkeit des Anschauens anzuschauen, d. h. zu reflektieren“.157 Was aber durch die fremde Sprache der Reflexion und Objektivation unterzogen wird, ist neben der „Sprache überhaupt“158 stets auch die Muttersprache. Für Bachtin, der an folgender Stelle auf die Humboldtsche „innere Form“ der Sprache anspielt, kann man seine eigene Sprache, ihre innere Form, ihre spezifische Weltauffassung, ihren spezifischen sprachlichen Habitus ja nur im Licht einer anderen, fremden Sprache objektivieren, die freilich fast so sehr die ‚eigene‘ ist wie die Muttersprache.159

Wenn in der Tat, etymologisch betrachtet, „Idiotie […] die völlige Abwesenheit von Fremdheit“ bedeutet,160 müsste man genauer bestimmen, was es heißt, eine fremde 155

Humboldt: „Über das vergleichende Sprachstudium“, in: Gesammelte Schriften, 1. Abt., Bd. IV, S. 27. 156 Humboldt: „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues“, in: Gesammelte Schriften, 1. Abt., Bd. VII, S. 60. Davor heißt es: „Der Mensch lebt mit den Gegenständen hauptsächlich, ja, da Empfinden und Handeln in ihm von seinen Vorstellungen abhängen, sogar ausschliesslich so, wie die Sprache sie ihm zuführt. Durch denselben Act, vermöge dessen er die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede zieht um das Volk, welchem sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer andren hinübertritt.“ (Ebd.). Humboldt führt an anderer Stelle weiter aus: „in der Sprache verfährt jeder […] nach dunkel empfundenen Analogieen fortbildend, und nach eben diesen baut man sich auch, immer zugleich selbstthätig, nie bloss empfangend, in eine fremde erlernte Sprache hinein. Es kommt nur darauf an, den Geist ihrer Analogie zu finden, und dies ist bei allem Spracherlernen der kritische Punkt, von dem an erst aller Nutzen und alles eigentliche Vergnügen desselben anhebt.“ (Humboldt: „Fragmente der Monographie über die Basken“, in: Gesammelte Schriften, 1. Abt., Bd. VII, S. 600). 157 Jean Paul: Levana oder Erziehlehre, in: Werke, Bd. 5, S. 831. 158 So heißt es in Simmels Philosophie des Geldes: „Niemand empfindet an seiner Muttersprache, solange er sie unbefangen redet, eine objektive Gesetzmäßigkeit, an die er sich wie an ein jenseits seines Subjekts zu wenden hat, um von ihr die nach unabhängigen Normen geprägte Ausdrucksmöglichkeit für seine Innerlichkeit zu entlehnen. Vielmehr, Ausgedrücktes und Ausdruck sind in diesem Fall unmittelbar eines und als ein selbständiges, uns gegenüberstehendes Sein empfinden wir nicht nur die Muttersprache, sondern die Sprache überhaupt erst, wenn wir fremde Sprachen kennen lernen.“ (Simmel: Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 642). 159 Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 319. Vgl. dazu auch Steiner: Nach Babel, S. 358 f.

Muttersprache und Mehrsprachigkeit

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Sprache so weit zu lernen, zu verstehen und zu denken, dass diese „fast“ oder „bis zu einem gewissen Grad“ die eigene wird. Für Schopenhauer hat man eine Sprache nur dann vollkommen erlernt, wenn man in der Lage ist, „sich selbst“, also die eigene Individualität, in diese Sprache zu übersetzen. Nur dann gilt der Karl V. zugeschriebene Spruch Quot linguas calles, tot homines vales – „so viele Sprachen Einer kann, so viele Male ist er Mensch“.161 Damit kehrt man zurück zur Frage der Identität in der Mehrsprachigkeit. Die Vorstellung, dass durch jede weitere angeeignete Sprache der Mensch zu einer weiteren Identität oder „Individualität“ gelange, findet sich schon beim lateinischen Dichter Ennius, auf den sich Karl V. möglicherweise bezieht: „Q. Ennius tria corda se habere dicebat, quod loqui Graece et Osce et Latine sciret.“162 Wie kann aber ein Mensch drei Seelen haben? Sofern man der Meinung ist, dass man jeweils nur eine Seele oder eine Identität haben kann, wird man erwidern müssen, dass eine mehrsprachige, mehrfache Identität allenfalls vorgetäuscht werden kann. So schreibt in der Tat Musil: „Eine Sprache ganz zu erlernen, ist eine schauspielerische Leistung. Die Sprache formt Charakter und Figur. Ich kann nicht höflich wie ein Franzose sprechen und störrisch sein, wie ich es bin.“163 Eine fremde Sprache zwingt also zur Verstellung, zur Schauspielerei – oder aber sie verhilft zur Selbstfindung, ja Selbsterfindung, wie das Beispiel Felix Krulls anschaulich zeigt, dessen mehrsprachig „geöltes Mundwerk“ ihn unter anderem zu „Félix Kroull“, zu „Armand de Kroullosta“ und schließlich zum „Marquis Venosta“ macht.164 Entsprechend gibt es in der Literatur „den Topos des sprachgewandten Mephisto, des linguistischen Chamäleons“; dazu zählt Obendiek den polyglotten Teufel in Bulgakows Der Meister und Margarita sowie im Doktor Faustus den jüdischen Impresario Saul Fitelberg und den Cicerone zur „Leipziger Lusthölle“, als Fremdenführer ausgewiesen „durch zwei, drei englische und französische Brocken, teuflisch gesprochen, peaudiful puilding und antiquidé exdrèmement indéressant.“165 160

Trabant: „Fremdheit der Sprache“, in: Was heißt hier „fremd“?, S. 97. Vgl. die Verwendung dieser ursprünglichen Bedeutung bei Herder, wenn er beschreibt, wie der Sprachforscher „als Fremdling Völker und Nationen durchwandert, […] aber zugleich als ein wahrer Idiot, alles auf seine Sprache zurückführ[t], um ein Mann seines Volks zu sein.“ (Herder: „Über die neuere Deutsche Literatur“, in: Werke, Bd. 1, S. 554). Zur Idiotie vgl. auch ebd., S. 554 f., 571 u. 584. 161 Schopenhauer: Parerga und Paralipomena II, in: Werke in fünf Bänden, Bd. 5, S. 487. 162 Gell. 17, 17, 1. Hierzu merkt F. Schlegel an, man müsse gleichsam mehrsprachig werden, um fremde Poesie zu verstehen: „wenn Ennius schon drey Seelen zu haben glaubte, weil er hellenisch, römisch und oscisch reden konnte, so wird der Alterthumsforscher der Poesie noch weit mehr eine gewisse Mehrheit geistiger Sinne und Seelen in sich vereinigen, und für die verschiedensten Richtungen der menschlichen Natur und Kunst gleich empfänglich seyn müssen.“ (Friedrich Schlegel: Geschichte der Poesie der Griechen und Römer, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler. Paderborn u. a.: Schöningh, 1958 ff., 1. Abt., Bd. 1, S. 563 f.). 163 Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, S. 454. 164 Th. Mann: Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, in: Stockholmer Gesamtausgabe, Bd. 10, S. 268, 290 u. 304. 165 Obendiek: Der lange Schatten, S. 145 f.

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Für und gegen das Primat der Muttersprache

Angesichts dessen erscheint das von Nietzsche beschriebene „verführerisch[e] Ansehen“, das durch Sprachgewandtheit verliehen wird, in einem neuen Licht. Bereits Schleiermachers Abhandlung über das Übersetzen bestimmt „Anderssprachigkeit“, wie Daniel Weidner festhält, als „unmöglich, unnatürlich und verwerflich“, doch sie besitzt eben „auch einen gewissen dämonischen Zauber, der gefährlich, verwirrend, vielleicht verführerisch ist“; Schleiermacher selbst spricht von einer „frevelhafte[n] und magische[n] Kunst“ und von „Doppeltgehen“.166 Zumindest vorübergehend und wenn auch nur als Täuschung, kann durch Sprachwechsel eine andere Identität begründet und die eigene, gewohnte Identität abgelegt werden. Man kann gleichsam als ein Anderer sprechen, oder wie es in Der Mann ohne Eigenschaften über Ulrich heißt: „äußerlich, ohne dass die Worte in ihm Wurzeln hätten.“167 Dies bestätigt auch Hans Castorp in seiner langen und unverschämten französischen Liebeserklärung an Madame Chauchat: „pour moi, parler français, c’est parler sans parler, en quelque manière, – sans responsabilité, ou comme nous parlons en rêve.“168 Schließlich hat Nadja in ihrem unaufhaltsamen Sprachwechsel eine Möglichkeit gefunden, sich die Muttersprache zu versagen und das eigene Leben als ein „Herumziehen in allen Sprachen und Gegenden“169 zu gestalten; durch das Simultanübersetzen ist das Subjekt der Rede ohnehin nur mehr „eingetaucht in die Sätze anderer“.170 Auch deshalb vermisst die Protagonistin von Simultan „einen fehlenden Tonfall, ein geisterhaftes Gefühl von einem Daheim, das nirgends mehr für sie war“,171 weil nämlich „die Entfremdung vom Heimischen […] immer durch die Sprache am schnellsten und leichtesten [geht], wenn auch am leisesten.“172 Bachmanns Erzählung zeigt, wie die Zurückgewinnung der fremdgewordenen Muttersprache scheitert; auf den Verdacht folgt der Befund, dass das Artikulieren der deutschen Sprache nicht ausreicht, um jenes „Daheim“ zurückzugewinnen. Es geht vielmehr darum, die Übersetzung zum Stillstand zu bringen und das Übersetzungsresistente an der Sprache hinzunehmen. Die Muttersprache ermöglicht Nadja zwar an einer Stelle 166

Weidner: „Frevelhafter Doppelgänger und sprachbildende Kraft“, in: Exophonie, S. 235; Schleiermacher: „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens“, in: Das Problem des Übersetzens, S. 64. 167 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 558. 168 Thomas Mann: Der Zauberberg, in: Stockholmer Gesamtausgabe, Bd. 2, S. 469. In seinen Studien zur Zeitgeschichte des Phänotyps geht Benn auf die fremdsprachige Liebe bzw. fremdsprachige Frau ein: „in den bedeutendsten Romanen um und seit 1900 werden Frauen nur noch arrangiert […]; zum Teil werden sie nur noch herangezogen, deutlich aphoristisch, mehr Ovation und Reminiszenz als aufbaubestimmend, daher auch fremdsprachig: im Zauberberg.“ (Benn: Roman des Phänotyp, in: Sämtliche Werke, Bd. IV, S. 430). 169 Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 310 f. 170 Ebd., S. 295. 171 Ebd., S. 285. 172 Wilhelm von Humboldts Briefe an eine Freundin. Hrsg. v. Albert Leitzmann. Leipzig: Insel, 1910, Bd. 1, S. 322.

Muttersprache und Mehrsprachigkeit

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eine sinnstiftende Selbstnarration, als sie, anstatt auf Französisch, „in ihrer Sprache“173 ihr Leben befragt. Doch im Rückblick auf die bisherigen Ausführungen scheint dabei eher der Sprachwechsel als die Muttersprache die entscheidende Rolle zu spielen. Freilich suggeriert Simultan, die Muttersprache gewähre eine getreue Erzählung der eigenen Geschichte, eine authentische, ursprüngliche, gleichsam eine Originalfassung. Aber im Grunde ist lediglich festzustellen, dass es sich um eine andere Geschichte handelt. Muttersprache wie Sprachwechsel oder Mehrsprachigkeit sind gleichermaßen ambivalent, weil sie dem Individuum genauso viele Lösungs- wie Irrwege aufzeigen können. Und wenn schließlich „die Individualitaet zerschlägt“, tut sie dies oft „auf eine so wunderbare Weise, dass sie gerade durch die Trennung das Gefühl der Einheit weckt“.174

173 174

Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 289. Humboldt: „Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues“, in: Gesammelte Schriften, 1. Abt., Bd. VI, S. 125.

7. Epilog

Dieser kurze Epilog fasst die Ergebnisse der Studie zusammen: zunächst entlang der sechs vorangehenden Kapitel, abschließend in einer knappen Reformulierung der darin entwickelten Poetologie literarischer Mehrsprachigkeit. Nach einem ersten Problemaufriss anhand der Babelerzählung wird in der allgemeinen Einführung (Kap. 1) literarische Mehrsprachigkeit als Untersuchungsgegenstand definiert. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses stehen mehrsprachige literarische Texte; es geht also nur sekundär um mehrsprachige Literaturen oder mehrsprachige Autoren. Der Begriff der Mehrsprachigkeit wird mit Bezug auf die bestehende literaturwissenschaftliche Forschung und darüber hinaus in interdisziplinärer Hinsicht diskutiert. Sogleich tritt das Spannungsverhältnis zwischen Mehrsprachigkeit und Einsprachigkeit zutage, das die Studie immer wieder reflektiert, nicht zuletzt aufgrund ihrer Fokussierung auf Nationalsprachen. Die Ausführungen zur Frage der Sprachwahl zeigen in historischer Perspektive, wie sich das Konzept der Nationalsprache, insbesondere der deutschen, prominent in bzw. mit der Literatur herausbildet und wie die Wahl der Schreibsprache mit den jeweils vorherrschenden sprachästhetischen, sprachtheoretischen und sprachpolitischen Diskursen zusammenhängt. Auch in der Geschichte der Literatur deuten sowohl extreme Polyglossie als auch strengster Sprachpurismus darauf hin, dass Mehrsprachigkeit stets nur in ihrem dialektischen Verhältnis zur Einsprachigkeit zu begreifen ist. Vor diesem historisch-systematischen Bezugsrahmen wird dann anhand zahlreicher Beispiele ein Beschreibungsmodell für mehrsprachige literarische Texte entwickelt (Kap. 2). Dessen heuristischer Wert besteht darin, dass literarische Mehrsprachigkeit bisher weder als Forschungsgegenstand noch hinsichtlich der Terminologie einheitlich festgelegt worden ist. Zur deskriptiven Erfassung der Mehrsprachigkeit literarischer Texte werden drei Kriterien vorgeschlagen: der Fokus (mehrsprachiges Einzelwerk oder mehrsprachiges Gesamtwerk), die Wahrnehmbarkeit (manifeste oder latente Mehrsprachigkeit) und die Sprachen (Einzelsprachen bzw. Nationalsprachen, Sprachvarietäten oder erfundene Sprachen). Als manifeste Formen literarischer Mehrsprachigkeit werden der Sprachwechsel und die Sprachmischung unterschieden. Zu den latenten Formen zählen dagegen die Übersetzung, die Sprachreflexion sowie die im Text auftretenden Sprachverweise.

Epilog

281

Die Fallstudien zu Elias Canettis Aufzeichnungen Die Stimmen von Marrakesch (Kap. 3) und Ingeborg Bachmanns Erzählung Simultan (Kap. 5) untersuchen vordergründig den Sprachwechsel zwischen Nationalsprachen. Das Überschreiten bzw. das Verwischen nationalsprachlicher Grenzen im Sprachwechsel deutet auf besonders implikationsreiche und vielfältige kulturelle Differenzzusammenhänge hin. Es werden die Funktions- und Wirkungsweise des literarischen Sprachwechsels untersucht, wobei die ausgewählten Werke jeweils unterschiedliche Dimensionen der Mehrsprachigkeit in den Mittelpunkt stellen: In Die Stimmen von Marrakesch wird ein mehrsprachiger sozialer Raum wahrgenommen, es geht also um eine kollektive Mehrsprachigkeit und um den darin stattfindenden ‚Fremdenverkehr‘; im Gegensatz dazu dreht sich Simultan um die individuelle Mehrsprachigkeit und um die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Übersetzung, sowohl in der Kommunikation als auch im Selbstverständnis beider Figuren. In Die Stimmen von Marrakesch berichtet Canetti von einem Aufenthalt in einem fremden und mehrsprachigen Land. Besonders hervorgehoben wird dabei die akustische Erfahrung des Arabischen als einer ganz fremden und deshalb vom Text nur ‚umschriebenen‘ Sprache. Für die Analyse erkenntnisleitend sind die Fälle von Sprachwechsel in die durch die Kolonisation Marrakeschs eingeführte Verkehrssprache Französisch. Mit diesem Sprachwechsel schaltet der Text von der Ebene des Aufzeichnens (auf Deutsch) zurück auf die Ebene des Aufgezeichneten. So werden die gehörten Stimmen vergegenwärtigt. Im Dienst einer poetologisch geforderten Erinnerungstreue wird vor allem die direkte Rede der Figuren an einen Sprachwechsel gekoppelt, um auf diese Weise deren O-Ton wiederzugeben. Neben diesen ‚Originalzitaten‘ finden sich in der Redewiedergabe auch hybride Äußerungen, in denen – gerade durch die Mehrsprachigkeit – die Stimme einer Figur und zugleich die Stimme des Erzählers wahrnehmbar werden. Sprachwechsel ist also als ein Verfahren zur Erzeugung von Stimmen im Text zu betrachten, und darin ist auch sein bevorzugtes Auftreten im Zusammenhang der Redewiedergabe, insbesondere der Figurenrede, begründet. Dabei werden durch den Sprachwechsel zwei Differenzen, die narrativen literarischen Texten eigen sind, markiert bzw. überblendet: die mediale Differenz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit und die diskursive Differenz zwischen Erzähler und Figur. Dieser Befund aus der Analyse von Die Stimmen von Marrakesch, den die Sichtung eines umfangreichen Textkorpus bestätigt, wird im Folgekapitel (Kap. 4) systematisch vertieft. Bei der Darlegung des Zusammenhangs zwischen Sprachwechsel, Redewiedergabe und Stimme zeigt sich, dass der Sprachwechsel gleichsam als Verstärker der Stimme dient: einerseits indem er ihre lautlich-klangliche Eigentümlichkeit und deren akustische Wahrnehmung herausstellt, andererseits indem er ihren Wortlaut wörtlicher als selbst eine wörtliche Übersetzung macht. Im Sinne einer solchen potenzierten Mimesis wird Sprachwechsel als eine Authentifizierungsstrategie bestimmt. Von besonderer Bedeutung ist diese bei Autobiographien und allgemein bei Erinnerungstexten, in denen durch den Sprachwechsel Sprache der Erinnerung und erinnerte Sprache eins werden. Darüber hinaus lässt sich

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Epilog

der Sprachwechsel als ein ausgezeichnetes Mittel bestimmen, um die Rede der Figur als eine individuelle und autonome Rede auszuweisen, die sich der Vereinnahmung durch den Erzählerdiskurs und dessen Sprache entzieht. Die Möglichkeit einer solchen Figurenrede bzw. Figurenstimme wird in erzähltheoretischer Perspektive erörtert, vor allem mit Bezug auf Bachtins Konzepte der fremden Rede und der Polyphonie. Auch in Bachmanns Erzählung Simultan dient der Sprachwechsel dazu, die Stimmen der Figuren unmittelbar zum Ausdruck zu bringen. Indem auch die Gedankenrede der zwei Protagonisten wiedergegeben wird, gewährt Bachmann zudem einen Zugang zur Innenwelt eines mehrsprachigen Individuums. Der Sprachwechsel stellt hier eine Artikulationsform von multilingual mind dar, die so extrem mehrsprachig ist, dass es dabei scheinbar gar nicht mehr auf eine bestimmte Sprache ankommt, sondern vielmehr auf den Wechsel selbst. Die weibliche Hauptfigur Nadja wird als erfolgreiche Simultanübersetzerin präsentiert, die sich den Gebrauch der eigenen Muttersprache versagt und in der Sprachvielfalt jeden Halt zu verlieren droht. Andererseits aber eröffnet ihr der Wechsel in eine andere Sprache die Möglichkeit, die eigene Geschichte anders zu erzählen und damit ein anderes Verständnis ihrer selbst zu gewinnen. Simultan macht außerdem die Ambivalenz der Mehrsprachigkeit dadurch deutlich, dass die Übersetzung und zugleich die Unübersetzbarkeit zwischen den Sprachen thematisiert werden. Dies geschieht sowohl im Dialog der zwei Protagonisten als auch im Echo vergangener und innerer Stimmen; in beiden Fällen wird der Sprachwechsel zum Träger des Unübersetzbaren. Dabei handelt es sich nicht nur um sprachspezifische Bedeutungsweisen, sondern auch um ein individuelles Idiom, in dem sich einzelne Worte und Wendungen mit einer eigentümlichen Signifikanz aufladen. Dass solche Signifikations- und Gedächtnisprozesse höchst komplex sind und dass sie nicht zu einem eindeutigen, bestenfalls zu einem mehrdeutigen Ergebnis führen, zeigt u. a. die psychoanalytische Interpretation von Nadjas Mehrsprachigkeit und Sprachlosigkeit. Die Reflexion über Mehrsprachigkeit und Sprache, zu der Bachmanns Text immer wieder Anlass gibt, wird im Folgekapitel (Kap. 6) konsequent fortgeführt. Die Gleichsetzung von Muttersprache mit Ein- und Eigensprachigkeit wird als fragwürdig aufgedeckt. Zudem wird dargelegt, wie sich mehrsprachige Identität bzw. Identität in der Mehrsprachigkeit konstituiert. Hier kommt das Erkenntnisinteresse der Studie in seiner ganzen Reichweite zum Tragen, insofern die Frage nach der Mehrsprachigkeit nicht nur im Licht einer literarischen Ästhetik, sondern auch unter einem im weitesten Sinne sprachtheoretischen und ‚lebensweltlichen‘ Vorzeichen gestellt wird. Dabei sind die Grenzen der Literaturwissenschaft und selbst der Literatur immer wieder zu überschreiten. Indem sich die Studie mit verschiedenen Ausformungen der Diskurse über Mehrsprachigkeit, Einsprachigkeit, Fremdsprachigkeit und Muttersprache auseinandersetzt, wagt sie sich auf ein Terrain, das von der bisherigen Forschung nur allzu oft gemieden worden ist. Zu fragen, mit welchen Begriffen, Metaphern, Vorstellungen und im Rekurs auf welche Traditionen jeweils operiert wird, wenn von Mehrsprachigkeit oder Fremdsprachigkeit die Rede ist, bedeutet aber, einen auch für die literarische Mehrsprachig-

Epilog

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keit grundlegenden Problemzusammenhang zu klären und zu kontextualisieren. Ein poetologischer Exkurs geht schließlich der Bedeutung von fremden Sprachen in der Literatur nach, nicht im engen phänomenologischen Sinn, sondern vielmehr im Hinblick auf die Fremdheit (der Sprache) als ein konstitutives Merkmal von Literatur. Anhand der zwei Fallstudien lässt sich als allgemeines Ergebnis der Studie eine Poetologie literarischer Mehrsprachigkeit formulieren. Sowohl in den Stimmen von Marrakesch als auch in Simultan erfolgt der Sprachwechsel, um eine unübersetzbare, jeweils individuelle oder sprachspezifische Bedeutung zum Ausdruck zu bringen. Dies wird bei Namen oder namhaften Wendungen besonders deutlich. Der Sprachwechsel funktioniert dabei gleichsam als Zitat; zitiert wird entweder „fremde Rede“ – individuelle und personengebundene, d. h. also an eine Stimme gebundene Rede – oder aber eine sprachspezifische oder idiomatische Wendung, eine bestimmte Floskel oder Formel.1 Nicht selten ist allerdings der Fall zu beobachten, dass beide Zitierweisen gleichzeitig wirksam werden, da die sprachspezifische Bedeutung eines bestimmten Ausdrucks, seine „Art des Meinens“,2 immer schon mit der individuellen Bedeutung, die wir ihm verleihen, verquickt ist. So schreibt Benn, der um den Zitatcharakter als Bedeutungstiefe der Worte wusste, in Probleme der Lyrik: Das Bewußtsein wächst in die Worte hinein, das Bewußtsein transzendiert in die Worte. Vergessen – was heißen diese Buchstaben? Nichts, nicht zu verstehen. Aber mit ihnen ist das Bewußtsein in bestimmter Richtung verbunden, es schlägt in diesen Buchstaben an, und diese Buchstaben nebeneinander gesetzt schlagen akustisch und emotionell in unserem Bewußtsein an. Darum ist oublier nie Vergessen. Oder nevermore mit seinen zwei kurzen verschlossenen Anfangssilben und dann dem dunklen strömenden more, in dem für uns das Moor aufklingt und la Mort, ist nicht nimmermehr – nevermore ist schöner. Worte schlagen mehr an als die Nachricht und den Inhalt, sie sind einerseits Geist, aber haben andererseits das Wesenhafte und Zweideutige der Dinge der Natur.3

Es sind also die „Resonanzen“ eines Wortes, die seine besondere Signifikanz ausmachen. Und damit ist sowohl seine klangliche Qualität gemeint als auch die Erinnerung, die „Geschichte dieses Wortes in uns“.4 Beides wird nun durch den Sprachwechsel in den Text hineingetragen; wodurch aber offenbar wird, dass keine Sprache neutral oder ganz gegenwärtig und eigen ist. Vielmehr wird mit jedem Sprachakt ein Bedeutungsraum betreten, der in die Vergangenheit ragt, auf die Zukunft hin offen ist und in dem 1 2

3 4

So verwendet Arno Schmidt bspw. die französische Wendung „disons le mot“, Nietzsche statt ‚das heißt‘ gerne „lisez“; auch bei Thomas Mann findet sich ein ähnlicher Einsatz des Französischen. Benjamin: „Die Aufgabe des Übersetzers“, in: Gesammelte Schriften, Bd. IV/I, S. 17. Benjamin fährt fort: „die Treue in der Übersetzung des einzelnen Wortes kann fast nie den Sinn voll wiedergeben, den es im Original hat. Denn dieser erschöpft sich nach seiner dichterischen Bedeutung fürs Original nicht in dem Gemeinten, sondern gewinnt diese gerade dadurch, wie das Gemeinte an die Art des Meinens in dem bestimmten Worte gebunden ist. Man pflegt dies in der Formel auszudrücken, daß die Worte einen Gefühlston mit sich führen.“ (Ebd.). Benn: „Probleme der Lyrik“, in: Sämtliche Werke, Bd. VI, S. 24. Valéry: Cahiers/Hefte, Bd. I, S. 551.

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Epilog

stets mehrere Sprachen wirken, die Vergangenes aktualisieren und Zukünftiges vorwegnehmen. Deshalb kann in Simultan die Übersetzung, wenn überhaupt, nur auf oberflächliche Weise erfolgen. Nicht nur in Bachmanns Erzählung, sondern allgemein wird durch Sprachwechsel bzw. Mehrsprachigkeit die Oberfläche des literarischen Textes ,gestört‘, insofern der anderssprachige Ausdruck auf seiner besonderen Qualität beharrt. Diesem Zeichen an der Oberfläche gilt es bei der Interpretation in die Tiefe zu folgen, dorthin, wo sich dessen Herkunft und Bedeutung begründet finden – eine Herkunft und Bedeutung, die freilich stets als Mehrzahl zu verstehen sind. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Sprachwechsel im literarischen Text als Träger semantischer Eigenheit, und zwar als Nicht-Übersetzung. Denn gerade narrative Texte haben grundsätzlich die Möglichkeit, auf eine andere Sprache zu verweisen, ohne sie tatsächlich zu verwenden, d. h., latente anstelle von manifester Mehrsprachigkeit, Übersetzung statt Sprachwechsel zu wählen. Wenn sie aber eine Differenz zwischen „Sprache des Erzählens und Sprache des Erzählten“ einführen, so ist eben diese Differenz bzw. der Sprachwechsel an sich signifikant,5 unabhängig von den Sprachen und den Worten. Diesen wird gerade dadurch besondere Unmittelbarkeit verliehen, dass die Sprachdifferenz eingesetzt wird, um eine Sprachidentität oder sprachliche Übereinstimmung wahrnehmbar zu machen. So sprechen in Canettis Aufzeichnungen einige Stimmen dieselbe Sprache wie in Marrakesch, und so zeichnet sich Bachmanns Simultanübersetzerin dadurch aus, dass sie auch in ihrer Sprachwahl „immer wechselnd“6 ist. In dieser mimetisch-differentiellen Funktion des Sprachwechsels zeigt sich wieder seine Ambivalenz, insofern er zum einen Nähe und zum anderen Distanz erzeugt, ein abweichendes und ein zugleich treffendes Zeichen ist. Dies ließe sich ganz allgemein auf die Mehrsprachigkeit übertragen, die, wenn sie manifest wird, auf die latente Mehrsprachigkeit jeder Sprache und jeder Äußerung hindeutet. Die in den Fallstudien zu Elias Canettis Die Stimmen von Marrakesch und Ingeborg Bachmanns Simultan gewonnenen Einsichten über literarische Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel wären anhand anderer Werke zu überprüfen und weiter zu präzisieren. Dies konnte in der vorliegenden Studie nur ansatzweise geschehen, durch ergänzende Beispiele, Vergleiche und Exkurse. Schließlich verhält es sich aber mit den untersuchten und den nicht untersuchten Werken gleich, nämlich so, wie Wilhelm Raabe sagt: „Auch in der Litteratur – wenn die Kinder zu Bett gebracht sind, bleiben die Großen noch sitzen“.7 5

6 7

Konrad Cramer: „Über den französischen Anfang von Tolstois ‚Krieg und Frieden‘“, in: Die Wirklichkeit der Kunst und das Abenteuer der Interpretation. Festschrift für Horst-Jürgen Gerigk. Hrsg. v. Klaus Manger. Heidelberg: Winter, 1999, S. 67–91, hier S. 76. Deshalb behauptet Cramer zu Recht über die Übersetzung mehrsprachiger Texte: Die sprachliche Differenz „muss […] miterzählt werden“ (ebd.), d. h., mitübersetzt werden; sie muss für den Leser von Original und Übersetzung wahrnehmbar sein. Bachmann: „Simultan“, in: Werke, Bd. 2, S. 307. Wilhelm Raabe: Sämtliche Werke. Im Auftrag der Braunschweigischen Gesellschaft hrsg. v. Karl Hoppe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1965 ff., Ergänzungsband 5, S. 373.

Literaturverzeichnis

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