Spiritualität als (ein) Weg der Welterfassung: Leidfaden 2016 Heft 01 [1 ed.] 9783666806131, 9783525806135, 9783647806136, 9783525403792, 9783647403793, 9783525604533, 9783794530571, 9783525402597, 9783647402598, 9783525402603, 9783647402604

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Spiritualität als (ein) Weg der Welterfassung: Leidfaden 2016 Heft 01 [1 ed.]
 9783666806131, 9783525806135, 9783647806136, 9783525403792, 9783647403793, 9783525604533, 9783794530571, 9783525402597, 9783647402598, 9783525402603, 9783647402604

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EDITORIAL

Spiritualität – ein Begriff, der nicht nur bei frei­ willigen Helfern, sondern auch bei hauptberuf­ lichen Mitarbeitern im Gesundheitswesen und der Beratungsarbeit, ja selbst bei Patienten und Klienten Scheu, Irritation, Unsicherheit, Verzagt­ heit, Überforderung auslöst. Was genau ist das denn überhaupt? Bei Definitionsversuchen wird manchmal vorschnell zu Religiosität oder Kirch­ lichkeit gegriffen, für andere ist es ein höchst inti­ mes persönliches Thema, über das man sich nicht austauschen mag oder kann. Und hat man denn eine Einstellung zu diesem Begriff gefunden, taucht sofort die zweite Fra­ ge auf: Fallen spirituelle Bedürfnisse bei Patien­ ten und Klienten überhaupt in meinen Aufga­ benbereich? Delegiere ich nicht am besten direkt an Mitarbeitende der so genannten beauftrag­ ten Seelsorge? Und sollte dann die Entscheidung zugunsten der eigenen Zuständigkeit ausfallen, kommt ein weiteres Problem: Wie erkenne ich denn überhaupt, dass der mir Gegenüberstehen­ de über Spiritualität sprechen will? Dass da ein Bedarf oder Bedürfnis ist? Und zu guter Letzt: Wie gehe ich denn darauf ein? Besitze ich eine »Membran«, die zum Klingen kommt bei die­ sem Thema? Gibt es überhaupt Worte für diesen Bereich? Und muss ich nicht selbst glaubensfest sein, um Antworten zu geben? Sind Antworten überhaupt die richtige und passende Reaktion auf Sinnfragen? Das Heft möchte bei diesen Fragen eine Hilfe­ stellung geben. Begriffe wie Verbindung, Stille, Achtsamkeit, Offenheit, Staunen, Absichtslosig­ keit, Innehalten weisen auf die Zartheit dieses Themas hin, der wir mit der gebotenen Vorsicht und Zurückhaltung begegnen wollten.

Die Artikel lassen sich drei Teilen zuordnen: 1. Grundlagen (Wissen), 2. Angewandte Spiritualität im Hospiz-, Palliativund Beratungskontext, 3. Zeugnisse, bei denen Menschen zu Wort kom­ men, die ihre Arbeit als ein spirituelles Gesche­ hen deuten (können). In dieser Ausgabe bieten wir Ihnen erstmals eine Mitarbeit an. Im Heft auf Seite 91 finden Sie eine leere Seite, die Sie zum Thema Spiritualität zu fül­ len eingeladen sind. Sie können malen, schreiben, wie auch immer und was Ihnen sonst noch so ein­ fällt. Und bitte vergessen Sie dann nicht, die Sei­ te gescannt oder im Original zu versenden. Wir sind sehr gespannt auf das Ergebnis.

Monika Müller

Sylvia Brathuhn

Wir danken ­Matthias Schnegg für die tat­ kräftige Unterstützung bei der Verwirklichung dieses »Leidfaden«-­ Themenhefts. Matthias Schnegg

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 1, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

Inhalt 1

Editorial

5

Monika Müller Interview mit Guruji Mohan und Dr. Abhimanyu Sharma

12 Hermann-Josef Frisch | Schöpfung und Spiritualität in den Weltreligionen

8 12 15 19 21



15 Regina Polak | Zwischen Abergläubigen und Religionskomponisten



27 31 35

Werner Hahne Eine rasante Erfolgsgeschichte Hermann-Josef Frisch Schöpfung und Spiritualität in den Weltreligionen Regina Polak Zwischen Abergläubigen und Religionskomponisten Maria Riederer Wie Jesus sich in Luft auflöste Heribert Niederschlag Bedeutet Spiritualität »tugendhaft und fromm«? Ulrich Lüke Spiritualität – im Wissen, Zweifeln und Glauben? Christiane Parlings Völlig los-gelöst Jürgen Langer Hilft Spiritualität in Krisen von Kindern und Jugendlichen?



21 Heribert Niederschlag Bedeutet Spiritualität »tugendhaft und fromm«?

38

Heribert Gärtner Organisationen küssen nicht

38  Heribert Gärtner | Organisationen küssen nicht













42 44 48 52 58 63

Martin Böker 58 Lukas Radbruch | Ist Spiritualität überhaupt eine ärztliche Aufgabe?

Offenheit und Frische, Mitgefühl und Gelassenheit Monika Müller Lernen am Therapeuten Jesus Paul Timmermans Ich, Du und die »Höchste Instanz« Holger Faßbinder Die Leere danach … Lukas Radbruch Ist Spiritualität überhaupt eine ärztliche Aufgabe? Regula Gasser Spiritual Distress

Drei Praxiswege der Spiritualität

66

Eduard Zwierlein



Die Sehnsucht nach Beheimatung – Spiritualität in Erkenntnis





68



Monika JiOn Winkelmann

70

Meditieren in Auschwitz –





73

77

»Die Wolken verlieren – den Himmel gewinnen« Ulrike Backhaus Ein Sommertag in Cluny



84

Fortbildung

Christian Herwartz



88

Aus der Forschung: Spirituelle Krisen nach dem Tod

Von Überraschung erfreut werden –

Martin Reinke

75

81

Kirsten DeLeo und Beate Dirkschnieder

Spiritualität in Kontemplation

Spiritualität in Aktion

79

90 Rezension

Innehalten

91

Irene Renzenbrink



Magische Momente

Michael Meder »Das Tor steht dir offen, mehr noch das Herz«

eines geliebten Menschen

93

97

»Leere Seite« Nachrichten Vorschau

98 Impressum

GRUNDLAGEN DER SPIRITUALITÄT

Sonnenfinsternis Ich stand im gespenstischen Zwielicht meiner verfinsterten Sonne, die Stille um mich nicht natürlich. Ganz allmählich drängt sich der Mond in meinen Leben spendenden Stern, zu hell noch ihn anzusehen, doch jetzt bar von Kanten, Kurven, kein Ganzes mehr. Und die Menschen bestaunten das Schauspiel durch Glas als der schwarze Fleck die Sonne fraß. Die heilende Wärme – reduziert auf ein dünnes Segment. Jetzt schaltet er das Leuchten aus. Und endlich mit unverschleiertem Auge sehen wir ein Loch, einen zerfetzten Saum – den Spiegel unserer eigenen Iris die sich krümmt im Angesicht der Ewigkeit, Nun sind die himmlischen Körper voneinander befreit und die verborgene Sonne kriecht Zoll für Zoll aus des Mondes Dunkelheit. Scharfe, junge Strahlen treffen den Staub mit tausend Nadelstichen geboren aus der Sonne erneuter Präsenz explodieren sie und entladen sich in vertiefenden Sicheln aus gleißendem Weiß. Sie breiten sich aus und verglühen. Unsere lodernde Sonne, auf einmal so fern ist nur in den Schatten geworfen. Denn der Mond ist ihr so nah wie der Tod der vor uns jene verschleiert, die wir lieben wenn alles zu Atem geworden ist. Wir warten. Wir sehen – das Licht ist immun. Blass zuerst, kehrt es zurück auf seinem alt gewohnten Pfad. Und gar nichts weiter ist zu tun. (David Head 2001, unveröffentlicht; übertragen von Karola Hassall)

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 4, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

INTERVIEW    5

Interview mit Guruji Mohan und Dr. Abhimanyu Sharma

Spiritualität ist heute in aller Munde. Viele Menschen sind auf der Suche nach Spiritualität. Guruji: Wie und was suchen diese Menschen? Suchen ist ein Bemühen, etwas Konkretes, Be­ stimmtes zu finden. Damit hat diese Aktivität nichts Freies und Entspanntes mehr, sondern bekommt einen drängenden Erwartungscharak­ ter, ein mit Stress verbundenes Businessdenken: »Wenn ich das dann erst gefunden habe, besit­ ze, dann …« Außerdem besteht die Gefahr, dass sie auf ihrer Suche dahin geraten, wo nur ökonomische Inter­ essen leitend sind. Einrichtungen werben dann mit dem Slogan ›Spiritualität‹, aber was bieten sie wirklich an? Sie wollen oft nur ein Geschäft ma­ chen, dann wird Spiritualität zu einer Ware und hat nichts von dem, was die Menschen brauchen. Und überhaupt: Was suchen diese Menschen außerhalb ihrer selbst? Außerhalb finden sie nur fremde Erfahrungen und sie leihen sich das Wis­ sen anderer. Dieses geliehene Wissen aber müs­ sen sie wegräumen. Wirkliche Revolution findet innen statt. Sollten sie nicht besser in sich nach­ schauen?

© Peter Berg

© Peter Berg

geführt von Monika Müller

Abhimanyu: Etwas suchen, was da ist, ist ein biss­ chen kurios. Es ist ja da, war da und wird da sein. Man muss es nicht finden, sondern sich ihm öff­ nen, an ihm teilhaben. Wir sprechen im Westen von spirituellen Krisen. Was verbirgt sich dahinter? Guruji: Eine spirituelle Krise mag entstehen, wenn der Mensch das Wesen der Welt als das Vorübergehende begreift. Wenn er versteht, dass es keine Stabilität gibt, dass keine Sicherheit oder Kontrolle in seinem und über sein Leben exis­ tiert. Dass das Unstete und der Wechsel das ein­ zig Wirkliche und Beständige ist. Das erschreckt, weil Menschen sich auf etwas außerhalb von sich verlassen wollen. Abhimanyu: Krise ist eine mit einem Wende­ punkt verknüpfte Entscheidungssituation. Mei­ nes Erachtens gibt es so etwas wie eine spirituelle Krise nicht. Wenn du in der Spiritualität wirklich bist, sozusagen in ihr beheimatet, ist alles mög­ lich, ist alles akzeptiert, wie kannst du dann von einer Krise sprechen?

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 5–7, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

6   I n t e r v i e w m i t G u r u j i M o h a n u n d D r.  A b h i m a n y u S h a r m a

Gibt es Methoden, die sich zur Suche oder Erweiterung von Spiritualität eignen? Zum Beispiel Meditation? Guruji: Alle Wie-Fragen betreffen nur Techniken. Es gibt zahlreiche Methoden, die einen Zugang oder eine Vertiefung der Spiritualität versprechen. In den Methoden funktioniert immer nur unser denkendes Hirn, unsere Denkweise, unser Ver­ stand. Dieser aber ist von Natur aus fragmenta­ risch, Gedanken sind immer nur Bruchstücke. Wie kann das Denken dann Ganzheit erfassen? Hat Spiritualität zwangsläufig etwas mit Transzendenz zu tun, mit einem Darüber beziehungsweise Dahinter? Guruji: Transzendenz, so befürchte ich, ist wie­ der nur ein Wort, ein Denkding, ein Konzept. Es besteht die Gefahr, dass der Mensch, der an et­ was Höheres, Vertikales, über sich Hinausgehen­ des glaubt, nur sein Ego stärkt. Da will er hin, das will er werden. Abhimanyu: Spiritualität ist ein leerer Raum. Es gibt kein Höher und kein Tiefer. Du bist Teil des Raumes. Du bist bewusst. Das ist Segen und Glückseligkeit. Müssen wir Kenntnis von den alten Schriften und Mythen haben, etwa der Bibel, der ­Bhagavadgita, dem Koran, den Upanishaden, um Spiritualität zu erfassen? Guruji: Diese Schriften sind wertvoll, aber sie bezeugen vor allem die damalige Kultur, die je­ weiligen Traditionen, die sozialen Strukturen und begründen und beschreiben die gesetzli­ chen Regelungen und Vorschriften. Das sind al­ les Äußerlichkeiten, interessante Nahrung für das Hirn. Aus äußeren Gegebenheiten aber zieht unser Geist nicht das Geheimnis unserer Existenz. Unser Geist – die integrierte Intelligenz, die mit allem Sein verbunden ist – versteht, anders als das Hirn, nicht durch Lektüre, nicht durch dis­ zipliniertes Aufnehmen, nicht durch Kontrolle. »Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder« – darin liegt der Zugang zum Geheimnis. Kinder sind

zutiefst mit der Existenz verbunden und erleben und leben das, was ihr Spiritualität nennt, aus diesem Innen. Abhimanyu: Wir kennen die Schriften, wir ken­ nen die Antworten, die nicht unsere sind. Aber kennen wir wirklich unsere eigenen Fragen? Sind wir den Weg selber gegangen? Oder haben wir beim Ziel gestanden und das Buch von hinten begonnen? In früheren Zeiten war Spiritualität fest mit Moral und gutem ethischen Verhalten verbunden. Wie siehst du das heute? Guruji: Der Begriff »moralisches Verhalten« löst in mir die Assoziation von militärischem Trai­ ning aus. Vielleicht stehst du stramm, verhältst dich korrekt, bist aber innen unzufrieden, leer. Du fastest, denkst aber unentwegt an Essen. Soll das richtig sein? Wenn du aber wirklich in dir bist, einig mit dir und dem Sein, mit allem und allen, wirst du dich automatisch anständig ver­ halten, denn du wirst die anderen als dir zugehö­ rig sehen, als deine Brüder und Schwestern. Du musst dir also kein moralisches Verhalten antrai­ nieren, es geschieht. Guruji, bitte sage etwas über Spiritualität und Kreativität. Guruji: Wenn wir Kreativität als mechanisches Gestalten verstehen, dann hat es nichts mit Spi­ ritualität zu tun. Wenn du vorhast, etwas zu bil­ den, zu malen, zu schreiben, ist das nichts als eine technische Planung. Dann bist du ein Ingenieur, ein Entwicklungsdienstleister, du werkelst an Tei­ len und setzt sie zusammen. Das wird nie etwas Ganzes. Gelingt dir aber Stille, gehst du hinter deine Gedanken, dann schreibt es sich oder malt sich aus dir heraus. Das Wort »create« bedeutet: aus sich heraus gebären lassen, in sich erzeugen und weist mehr auf das innere Lassen hin als auf das äußere aktive Tun. Kann eine Organisation Spiritualität besitzen? Guruji: Nein! Sie kann sie bestenfalls verwalten.

L E I D FA D E N   – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R   H e f t  1  /  2 0 1 6

© Peter Berg

I n t e r v i e w m i t G u r u j i M o h a n u n d D r.  A b h i m a n y u S h a r m a    7

Eine Organisation besteht aus vielen Menschen, aus vielen Interessen, Meinungen, Anschauungen, Dogmen … Diese Verschiedenheit erzeugt Recht­ haberei, Konflikte, ja Gewalt, darin kann nicht Spiritualität, wie ich sie verstehe, leben. Denkst du, dass ein spirituell ausgerichteter Therapeut anders, besser arbeitet als ein nicht daran Interessierter? Guruji: Wenn ein Therapeut nicht an einem Er­ gebnis interessiert ist, wird er gute Arbeit machen. In der Regel aber hoffen Therapeuten auf eine Belohnung: die, dass der Klient sich ändert und/ oder die der Bezahlung. In diesem Belohnungs­ denken ist der Therapeut nicht in seiner vollen Energie beim Klienten, er dient nicht dem, wie und was der andere ist. Dann ist er nicht kreativ in dem Sinne, wie wir es vorhin beschrieben ha­ ben. Gibt er sich aber dieser Kreativität anheim, wird viel und Bedeutendes geschehen. Abhimanyu: Behandeln im Westen bedeutet viel­ fach, den Generalschlüssel für ein Schloss zu fin­ den. Aber Klienten und Patienten sind einzig. Der Schlüssel des Therapeuten, des Arztes passt längst nicht auf jeden. Lord Rama zum Beispiel zeigte alle Symptome einer Depression. Im Westen hät­ te man ihn darauf behandelt. Vasistha, sein weiser Lehrer, aber erkannte, dass er von leidenschaftslo­ ser Gelassenheit war, äußerlich dem depressiven Krankheitsbild ähnlich. Er behandelte ihn nicht, er unterstützte ihn.

Guruji, du bist hier in Indien nicht nur ein bekannter Ratgeber, sondern wirst auch als Heiler hoch geschätzt. Bitte sag uns etwas über heilen. Guruji: Schau dir die großen Heiler der Weltge­ schichte an. Jesus zum Beispiel. Sie heilen ohne Erwartung von etwas Bestimmtem und ohne spezielles medizinisches Wissen. Jeder Mensch, der an Trennung vom Urgrund glaubt und in der Trennung lebt, ist ein Kranker, ein Leiden­ der. Kommt er in die allumfassende Energie des Heilers, erlebt er Verbindung und Ganzheit, es geschieht Heilung. Von Herzen Dank für das Gespräch. Guruji Mohan ist studierter Ökonom und Philosoph. In Indien wird er auf­ grund seiner heilenden/wohltuenden Energie und Weisheit hoch verehrt. An Besuchertagen kommen dort täglich Hunderte von Menschen in seine Ash­ rams, um von ihm Segen und Rat zu er­ halten. Website: www.guruji-mohan.de Dr. Abhimanyu Sharma, Sohn von Gu­ ruji Mohan, ist Doktor der Psychologie und Master der Philosophie. Website: www.abhimanyu-internatio­ nal.de

S p i r i t u a l i t ä t a l s ( e i n ) We g d e r We l t e r f a s s u n g

Eine rasante Erfolgsgeschichte Fünf Anregungen zur Profilierung des Begriffs »Spiritualität« aus jüdisch-christlicher Tradition

Werner Hahne Das Wort »Spiritualität« ist im Deutschen erst seit etwa 1960 üblich. Zählte es in den 1980er Jah­ ren noch zu den Reizworten der innerkirchlichen Diskussion, mit dem man sich von den traditio­ nellen Begriffen »Frömmigkeit«, »geistliches Le­ ben«, »Askese« abzusetzen suchte, so wird es seit

den 1990er Jahren im Umfeld der Neuen Religio­ sität geradezu inflationär verwendet (vgl. Weis­ mayer, 1990, S. 982–986). In dem Begriff »Spiri­ tualität« steckt das Wort spiritus (Geist), das in den lateinischen Bibelübersetzungen für das grie­ chische Wort pneuma gebraucht wird und in der

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 8–11, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

Hebräischen Bibel, die wir das Alte Testament zu nennen pflegen, ruah heißt. Bei diesen Überset­ zungsvorgängen kommt es zu einem ständigen Geschlechterwechsel: Das hebräische ruah ist in 90 Prozent der Fälle weiblich gedacht, das grie­ chische pneuma ist immer ein Neutrum und das lateinische spiritus männlich, wie auch die deut­ sche Übersetzung »Geist«. Um die weibliche Qua­ lität der ruah zu erfassen, verwenden die »Bibel in gerechter Sprache« und Feministische Theo­ loginnen für das Wortfeld ruah/pneuma/spiritus gern das deutsche Wort »Geistkraft«.1 ▶▶ spiritus/Geist im Begriff »Spiritualität« nicht männlich zu assoziieren, sondern in seiner geschlechtlichen Offenheit fruchtbar zu ma­

chen, wäre somit die erste Anregung zur Pro­ filierung des Begriffs aus biblischer Tradition. In der Hebräischen Bibel wie auch in der Christli­ chen Bibel des Alten/Ersten wie des Neuen/Zwei­ ten Testaments ist ruah/pneuma/spiritus/Geist ein theologisch-anthropologischer Begriff: Es ist also ein Begriff, den man sowohl für Aussagen über die Wirklichkeit Gottes als auch über die Wirk­ lichkeit des Menschen gebraucht beziehungswei­ se benötigt. Zugleich ist es auch das Begriffsfeld, mit dem die mögliche Bezogenheit und die tat­ sächliche Beziehung der Wirklichkeit Gottes und der Wirklichkeit des Menschen zum Ausdruck gebracht wird. ruah/pneuma/spiritus/Geist ist so­ mit ein Beziehungs-Begriff.

S p i r i t u a l i t ä t a l s ( e i n ) We g d e r We l t e r f a s s u n g

Leonardo da Vinci, The Last Supper, 1495–97 / Santa Maria della Grazie, Milan, Italy / Bridgeman Images

Die Geistkraft Gottes treibt das Leben und die Sendung Jesu an.

1 0   We r n e r H a h n e

▶▶ Die zweite Anregung zur Profilierung des Begriffs »Spiritualität« aus biblischer Tradi­ tion wäre somit die Wahrnehmung der Be­ ziehung zwischen der Wirklichkeit Gottes und der Wirklichkeit des Menschen bezie­ hungsweise das In-Beziehung-Setzen dieser beiden Wirklichkeiten. In der Hebräischen Bibel kommt diese Bezogen­ heit von Gott und Mensch vornehmlich in fünf Aussagen zur Entfaltung, die in den einzelnen biblischen Büchern auf vielfältige Weise variiert werden können. Mit dem Wortfeld ruah/pneuma/ spiritus wird bezeichnet: • die Wirk- und Schöpfermacht Gottes, • der Lebensatem, mit dem Gott Tiere und Menschen belebt und am Leben hält, • die Befähigung des Menschen, den Willen Gottes zu erkennen und das Gesetz Gottes zu erfüllen, • die Befähigung des Menschen, die Welt zu gestalten und andere zu führen, • die vernichtende Kraft des Zornes JHWHs.

In der alttestamentlichen »Anthropologie« ist ruah/pneuma/spiritus einer der vier Grundbegrif­ fe, mit denen die Hebräische Bibel den Menschen aus vier unterschiedlichen Perspektiven als Ein­ heit von lebendiger Kraft beschreibt: • nephes: der lebensfroh-bedürftige Mensch (griechisch: psyché; lateinisch: anima), • basar: der hinfällig-vergängliche Mensch (griechisch: sarx/soma; lateinisch: caro/corpus), • ruah: der von Gott ermächtigte Mensch (griechisch: pneuma; lateinisch: spiritus), • leb(ab): der vernünftige Mensch (griechisch: kardia; lateinisch: cor). Dabei ist das hebräische Wort ruah, »verwandt mit dem Begriff für Weite. ruah schafft Raum, setzt in Bewegung, führt aus der Enge in die Wei­ te und macht lebendig. Fast immer erscheint das Wort zusammen mit Verben der Bewegung und bezeichnet dann den Wind oder Sturm, oft aber auch Lebenskraft, Schöpferkraft und Gotteskraft. Niemals ist die ruah unbeweglich, sondern im­ mer aktiv, Dynamik stiftend (…) ruah über­ windet alles Faule und Schlaffe, alles Träge und Tote« (Schroer und Stau­ bli 1998, S. 243 ff.).2

© m.schröer

▶▶ Als dritte Anregung wäre somit zur Profilie­ rung des Begriffs »Spi­ ritualität« aus biblischer Tradition auf den not­ wendigen ­Lebensbezug und auf die dynami­ sche Qualität spirituel­ ler Denk-, Gestaltungsund Ausdrucksformen zu verweisen. Von den Schriftstellern des Neuen beziehungs­ weise Zweiten Testa­

L E I D FA D E N   – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R   H e f t  1  /  2 0 1 6

E i n e r a s a n t e E r f o l g s g e s c h i c h t e    1 1

ments werden die Vorstellungen von der ruah aus der Hebräischen Bibel übernommen und mit der Person des Jesus von Nazareth verbunden. Die Geistkraft Gottes treibt das Leben und die Sendung Jesu an: Durch das Wirken des Heili­ gen Geistes wird Jesus aus Maria geboren und bei der Taufe durch Johannes als Gottes »gelieb­ ter Sohn« bestätigt. In der Kraft des Geistes be­ ginnt er in Galiläa sein öffentliches Wirken zur Verkündigung des Reiches Gottes. Vom Heili­ gen Geist erfüllt predigt er auf seinem Weg nach Jerusalem. Nachdem sein Auftrag vollbracht ist, haucht Jesus den Geist aus, der ihn in lebendiger Beziehung zum Vater gehalten und zur Lebens­ hingabe am Kreuz befähigt hat (Mk 15,37). Nach seiner Auferweckung von den Toten übermittelt er den Lebensatem Gottes an seine Schülerin­ nen und Schüler. ▶▶ Als vierte Anregung zur Profilierung des Be­ griffs »Spiritualität« aus biblischer Tradition gilt es, Jesus von Nazareth als exemplarisch spirituellen Menschen zu begreifen und die ihn und sein Leben bestimmende Spiritu­ alität zu entdecken und im eigenen Leben fruchtbar werden zu lassen. Dem/der Glaubenden wird »die Kraft des Heili­ gen Geistes« in der Taufe verliehen: Sie befähigt die Jünger und Jüngerinnen zur Zeugenschaft »in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde« (Apg 1,4–8). Jesus gibt seinen – vom Vater empfangenen – Geist weiter an alle, die glauben und bekennen, dass er der Messias ist, und sich in diesem Glauben tau­ fen lassen. Im Geist Jesu Christi sind sie befähigt, mit Gott versöhnt zu leben und ihr Leben nach dem Vorbild des Jesus von Nazareth und nach der Weisung des Evangeliums Gottes zu gestal­ ten. Deshalb sind alle Getauften Geistbegabte, das heißt spirituelle Menschen, sofern und soweit sie sich der Wirklichkeit aussetzen, die in den beiden Testamenten vom Wortfeld ruah/pneuma/spiritus erfasst und beschrieben wird.

▶▶ Als fünfte Anregung zur Profilierung des Begriffs »Spiritualität« aus biblischer Tradi­ tion lässt sich deshalb formulieren: Christ­ liche Spiritualität ist zuerst und vor allem: Nachfolge Jesu, dem von der Geistkraft Got­ tes Gesalbten. Ein spiritueller Mensch ist ein Mensch, der sich – wie Jesus von Nazareth – von der ruah JHWHs, dem Geist Gottes, be­ leben und leiten lässt. In diesem Sinne können Christinnen und Chris­ ten nur wünschen, dass die rasante Erfolgsge­ schichte des Begriffs »Spiritualität« auch in den christlichen Kirchen und kirchlichen Gemein­ schaften ankommt und Früchte trägt, damit die in der westlich-abendländischen Theologiege­ schichte zu beklagende Geist-Vergessenheit end­ lich überwunden wird. Eine Besinnung auf die biblische Geisttradition ist nicht nur überfällig, sondern hat auch weitreichende Konsequen­ zen nicht nur für das Gottes- und Menschenbild, sondern auch für das Selbstverständnis und die Organisation der christlichen Kirchen: Wo alle Geistliche und als Geistbegabte anerkannt sind, ist jeder Klerikalismus obsolet geworden und die Geschwisterliche Kirche eine Perspektive für die Gegenwart und Zukunft der christlichen Kirchen. Priv.-Doz. Dr. theol. Werner Hahne, Theologischer Berater und Dozent in diakonischen Unternehmen, Priester des Bistums Basel (Schweiz). E-Mail: [email protected] Literatur Schroer, S.; Staubli, T. (1998). Die Körpersymbolik der Bi­ bel. Darmstadt. Weismayer, J. (1990). Artikel Spiritualität. In: Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen. Fakten, Hintergründe, Klärungen. Hrsg. von H. Gasper, J. Müller, F. Valentin. Freiburg, Basel, Wien. Anmerkungen 1 2

Vgl. Bibel in gerechter Sprache. Hrsg. von U. Bail u. a. Gütersloh 2006: Glossar 2377: ruach (hebr.), pneuma (griech.) – Wind, Atem, Kraft, Geist, Geistkraft. Die Verfasser verwenden dabei die Umschrift: ruach.

S p i r i t u a l i t ä t a l s ( e i n ) We g d e r We l t e r f a s s u n g

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Schöpfung und Spiritualität in den Weltreligionen Hermann-Josef Frisch Priorität ein. Die Bibel bedenkt vor allem das Wirken Gottes in der Geschichte des Volkes Is­ rael. Die Schöpfung ist eher ein Randthema, das allein aus »chronologischen« Gründen am An­ fang des Buches Genesis steht, danach nur an we­ nigen Stellen (etwa in den Psalmen) erwähnt wird. Die Bibel blickt nur eingeschränkt auf einen An­ fang, den Beginn des Lebensprozesses von Men­ schen und Welt. Doch werden Leitlinien deutlich: Es gibt nur einen Kosmos, der seine Existenz Gottes Erbar­ men verdankt. Es gibt eine zeitliche Entwick­

© Andreas Stähli

In einer globalisierten Welt mit unterschiedli­ chem religiösen Hintergrund ergibt sich die Frage: Gibt es Gemeinsames über alle unterschiedlichen Traditionen hinweg, ein allgemein menschliches Ethos, das eine Brücke darstellt zwischen den viel­ fältigen Lebensweisen und Kulturen? Das von Professor Hans Küng angestoßene Projekt »Weltethos« hat fünf Gebote der Mensch­ lichkeit in allen Religionen aufgezeigt: (1) nicht töten, (2) nicht lügen, (3) nicht stehlen, (4) nicht Unzucht treiben, (5) Eltern achten und Kinder lieben (Küng 1990, S. 82). Im Zusammenhang dieses Heftes ist exemplarisch zu fragen, ob es eine weite­ re Gemeinsamkeit des Menschheitsethos im Blick auf Schöpfung und Entstehung des Kosmos gibt. Lassen sich daraus Fol­ gerungen ziehen für das Handeln der Men­ schen heute – also eine »Schöpfungsspiri­ tualität« der Religionen? Es zeigt sich, dass die Vorstellungen vom Beginn differenzier­ ter zu beurteilen sind; eine gemeinsame Schöpfungsspiritualität gibt es nicht, weil die Konzepte des Kosmogenie, der Entste­ hung von allem, zu unterschiedlich sind. Von daher ist es auch schwer, ein die Re­ ligionen verbindendes und zugleich ver­ bindliches Weltethos zu benennen, das die Schöpfungsmythen der Weltreligionen als Grundlage hat. Die vorderorientalischen Religionen Judentum, Christentum, Islam Die Hebräische Bibel der Juden räumt dem Stichwort »Schöpfung« keineswegs eine

Christi-Erlöser-Kathedrale, Moskau – Russisch-orthodoxes Christentum

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 12–14, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

S c h ö p f u n g u n d S p i r i t u a l i t ä t i n d e n We l t r e l i g i o n e n    1 3

lung, eine Evolution des Lebens, wie sie im po­ etischen Text von Genesis 1 anklingt. Auch der Mensch ist in seiner Existenz von Gott herkünftig und deshalb ihm gegenüber verantwortlich. Der Mensch wird in Genesis 1 als Höhepunkt der gu­ ten Schöpfung, in Genesis 2 als deren Mitte ver­ standen. Deshalb wird er zum »Ebenbild Gottes«, zum »Herrn«, der – als Mann und Frau – im Sin­ ne eines guten Königs/Hirten Verantwortung für alles Geschaffene trägt; er soll die Welt pflegen und bewahren. Das christliche Glaubensbekenntnis bekennt Gott als den »Schöpfer des Himmels und der Erde«. Dieses Bekenntnis hat im Glauben der Christen einen hohen Stellenwert, obwohl es noch nicht einmal ein entsprechendes Themen­ fest im christlichen Kirchenjahr dazu gibt (außer Erntedank). In der christlichen Frömmigkeit da­ gegen spielt der Schöpfer, der die Welt in seinen Händen hält, der den Menschen mit Leben be­

schenkt und der nach dem Tod Leben erneut schaffen wird, eine große Rolle. Im Bekenntnis zu Gott, dem Schöpfer, spiegelt sich der Glaube an einen Urgrund, dem man vertrauen kann. Dabei bleibt Gott als innerster und tiefster Grund von allem die Mitte von Welt und Kosmos, alles um­ greifend, aber letztlich unbegreiflich. Die Aussagen über Gott als Schöpfer haben im Koran einen höheren Stellenwert als vergleichba­ re Aussagen der Bibel. Neben dem Bekenntnis zur Barmherzigkeit Gottes und den Verheißun­ gen eines jenseitigen Lebens gehören die Aussa­ gen über die Schöpfung von Welt und Mensch zum inneren Kern des Islam. In der Schöpfung zeigt sich das Wirken Gottes dem Menschen in besonderer Weise. Gottes Erbarmen erweist sich vorrangig in der Schöpfung von Welt und Men­ schen und in der liebevollen Erhaltung dieser Schöpfung. Wie der Anfang – so das Ende: Der Koran versteht die Schöpfung der Welt und des Menschen zugleich als Hinweis auf die Auf­ erweckung des Menschen nach seinem Tod, auf seine Neuschöpfung durch Gott. In der Schöpfung kann der Mensch staunend und lobend Gottes Wirken erkennen und so in seinem Glauben an Gott und in seiner Hin­ gabe an ihn gestärkt werden.

© Andreas Stähli

Die indischen Religionen Hinduismus, Buddhismus, Jainismus

Mevlana-Kloster, Konya (Türkei) – Islam/Sufismus

Die kosmologische Vorstellung des Hindu­ ismus (ähnlich von Buddhismus und Jai­ nismus) kennt nicht einen einzigen Zeit­ strang der Geschichte mit Anfang und Ende, sondern einen zyklischen, immer wiederkehrenden Prozess von ungeheu­ ren Dimensionen, wo sich Aufstieg und Zerfall des Kosmos (und im Kleinen jedes einzelnen Lebewesens, auch des Menschen, vergleiche die Reinkarnation) ständig wie­ derholt. Für den Anfang gibt es keine ein­ heitliche Konzeption der indischen Reli­

S p i r i t u a l i t ä t a l s ( e i n ) We g d e r We l t e r f a s s u n g

1 4   H e r m a n n -J o s e f Fr i s c h

gionen: Es kann sich um einen »automatischen«, also sich selbst bewirkenden Prozess handeln, um einen Ausfluss aus dem großen Einen und Gan­ zen (nicht personal verstanden), es kann die Vor­ stellung eines kosmischen Welten-Eis sein, das alles geboren hat, oder eines Uropfers, das al­ les bewirkt. Es gibt auch die Vorstellung, dass ein als Person verstandener Gott den Anfang be­ wirkt – meist wird hier der Schöpfergott Brahma genannt. Die Vishnuiten allerdings verweisen auf ihren Hauptgott Vishnu, aus dessen Nabel erst der Schöpfergott Brahma entstehen muss. Shi­ vaiten verweisen auf den gewaltigen Gott Shiva, der als Zerstörer der dämonischen Kräfte der al­ ten Vorgängerwelt angesehen wird, zugleich aber in seinem kosmischen Tanz (Shiva Nataraja) eine neue Welt schafft. Es gibt nicht die eine indische Vorstellung von Schöpfung und auch keine entsprechende Spiri­ tualität. Vielmehr suchen die Anhänger der indi­ schen Religionen nach Wegen, aus dem leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten auszubre­ chen. Einer dieser Wege ist der Weg der Tat, der unter anderem die oben genann­ ten Forderungen des Weltethos beinhaltet, vor allem aber Wert auf den Schutz jegli­ chen Lebens legt – der unbedingte Schutz der Kuh steht dabei stellvertretend für den Schutz allen Lebens.

Die unterschiedlichen Naturreligionen der Welt kennen Schöpfungsmythen. Meist werden Linien von einem mythischen Anfang über die Ahnen bis in die Gegenwart gezogen. Der Anfang von allem war eins, deshalb ergibt sich eine Ein­ heit von allem Leben im gesamten Kosmos: Alles ist beseelt und der Mensch ist nur ein Knoten im großen Netz des Lebens. Von da aus trägt er an seiner Stelle durchaus Verantwortung für das Le­ ben, er darf sich nicht von der Natur als Grund­ lage auch des eigenen Lebens trennen. Hermann-Josef Frisch, Pfarrer i. R., lebt in Overath bei Köln. Er ist Autor vieler Bücher in den Bereichen Religionsunter­ richt, Gemeindearbeit, theologische Er­ wachsenenbildung und Religionswis­ senschaft. E-Mail: [email protected] Literatur Küng, H. (1990). Projekt Weltethos. München.

Die chinesischen Religionen kennen eine Fülle von Mythen zu dem Anfang der Welt, vor allem aber der menschlichen (der chi­ nesischen) Kultur. Diese Mythen tauchen in den Tempeln auf, spielen aber in der praktisch ausgerichteten Frömmigkeit kei­ ne Rolle: Dort geht es um ein gelingendes und langes Leben und um ein gelingendes Leben im Jenseits. So blicken Chinesen we­ niger auf die Schöpfung und den Anfang zurück, als auf die Gegenwart und auf ihre Hoffnung für die Zukunft.

© Andreas Stähli

Andere Religionen

Schrein des Bab, Haifa (Israel) – Bahaitum

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Zwischen Abergläubigen und Religionskomponisten Religionssoziologische Einblicke in das spirituelle Feld

Regina Polak

»Basisfähigkeit« und »Schlüsselkategorie« gesellschaftlichen Wandels In den 1980er Jahren noch Inbegriff einer alterna­ tiven Avantgarde, ist »Spiritualität« heute ein so­ ziokultureller Leitbegriff. In ihm kristallisieren sich Prozesse des gesellschaftlichen Wandels in Bezug auf das Verständnis von Werten, Sinn und Reli­ gion. Transzendenzerfahrungen im Raum zeitge­ nössischer Such- und Experimentierbewegungen werden mit diesem Begriff ebenso beschrieben wie nichttraditionelle Erfahrungsweisen Gottes oder neue religiöse wie nichtreligiöse Praxisformen, die »Sinn« authentisch erlebbar machen wollen. »Spi­ ritualität« ist eine Schlüsselkategorie für die Bedeu­ tung von Religion und Sinn in der Spätmoderne. Ob man diesen Begriff »religiös, transkonfes­ sionell, anthropologisch oder existenziell-psycho­ logisch« auffasst: Beschrieben wird damit eine »Basisfähigkeit«, die allen Menschen Sinnsuche, Sinngebung und (Selbst-)Transzendenz ermög­ licht (Heller 2014, S. 47). Wesentliches Merkmal ist die individuumzentrierte und situationsbezo­ gene Aneignung von Religion und/oder Sinn so­ wie die maßgebliche Orientierung an subjektiver Erfahrung. Religionsforscher/-innen beschrei­ ben die damit verbundenen Prozesse als »De­ mokratisierung der Mystik« (Heller 2014, S. 62), »Entgrenzung des Religiösen« (Knoblauch 2009, S. 162) oder »Selbstermächtigung des religiösen Subjektes« (Bochinger 1994, S. 77 ff.). Religiosi­ tät und Mystik haben die Enklaven der religiösen Eliten verlassen und sind für breite Schichten at­ traktiv und zugänglich geworden.

Zum Begriff1 Das Christentum hat heute kein Monopol mehr auf Spiritualität. Aus religionswissenschaftlicher Perspektive bildet sie den Kern aller organisierten religiösen Traditionen (Heller 2014, S. 512): Man spricht von jüdischen, christlichen, islamischen, buddhistischen, hinduistischen Spiritualitäten. Indem sich »derzeit so etwas wie ein globales Bewusstsein vieler miteinander mehr oder we­ niger vernetzter Spiritualität herausbildet« (Bai­ er 2006, S. 13) und ein offenes Weltsystem der Religionen entsteht, wird Spiritualität zu einem »Welt-Wort«: zum Paradigma der semantischen, pragmatischen sowie strukturellen Transforma­ tionsprozesse von Sinn und Religion beziehungs­ weise Religiosität. Religion/Religiosität, Sinn und Spiritualität können daher synonym verstanden werden. Spiritualität kann als »Unterform« (Hel­ ler 2014, S. 49) konstitutiv auf eine numinos-gött­ liche Transzendenz bezogen werden. Spiritualität kann aber auch als allgemein menschliche Fähig­ keit zur Sinnstiftung bezeichnet werden. So be­ rufen sich anthropologische Definitionen darauf, dass zum Menschsein die »Tiefendimension einer heilvollen, identitätsstiftenden Bezogenheit auf eine letzte Wirklichkeit gehört. Spiritualität ist die Erfahrung, Entwicklung und Gestaltung die­ ser Beziehung im Leben von Einzelnen und Ge­ meinschaften« (Baier 2006, S. 14). Theologisch beschreibt der Begriff den gelebten Glauben, der mithilfe der normativen Quellen, Schriften und Traditionen der Kritik unterzogen wird. Das spi­ rituelle Feld der Gegenwart, in dem unterschied­

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 15–18, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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liche Protagonistinnen verhandeln, was Spiritu­ alität ist, ist ein unendlicher, unabschließbarer Kommunikationsraum. Empirische Zugänge Empirische Studien lassen die Heterogenität des spirituellen Feldes erkennen. Keinesfalls »neu­ tral« wird erforscht, was im Vorfeld als »spirituell« definiert wird. Dementsprechend vielfältig und widersprüchlich sind die Ergebnisse.

»Religionsmonitor 2007« Der Religionsmonitor von 2007 (Bertelsmann-Stif­ tung) erforscht Transzendenzerfahrungen als In­ dikatoren für Spiritualität. Von solchen berichten Menschen, die sich als religiös und als nicht reli­ giös bezeichnen. Erfragt wurden dabei »theistische Wahrnehmungs- und Erfahrungsmuster«, die auch als »Du-Erfahrung« bezeichnet werden, sowie pan­ theistische Wahrnehmungs- und Erfahrungsmus­ ter, die als mystische Verschmelzung im All-Einen

Z w i s c h e n A b e r g l ä u b i g e n u n d R e l i g i o n s k o m p o n i s t e n    1 7

charakterisiert werden. Weltweit geben im Durch­ schnitt 35,6 Prozent an, »häufig« oder »sehr häu­ fig« theistische Erfahrungen gemacht zu haben, 24,4 Prozent nie; 31,2 Prozent berichten von »häu­ figen« oder »sehr häufigen« pantheistischen Erfah­ rungen, 21,3 Prozent haben solche Erfahrungen nie. »RAMP-Studie 1997–1999« Die RAMP-Studie2 zum religiösen und morali­ schen Pluralismus – 1997 bis 1999 in elf europäi­

schen Ländern und den USA durchgeführt – zeigt die geschichtliche und soziokulturelle Abhängig­ keit im Begriffsverständnis. So stufen sich in Eu­ ropa zwischen 10 Prozent und 37 Prozent als re­ ligiös und spirituell zugleich ein, während dies in den USA 40 bis 55 Prozent der Befragten tun. Zwischen 35 und 50 Prozent der Befragten be­ zeichnen sich in Europa als weder religiös noch spirituell, während dies in den USA nur eine kleine Minorität tut. Als ausschließlich spirituell bezeichnen sich in Europa nur an die 10 Pro­ zent, und dies in ausdrücklicher Abgrenzung von einem christlichen Selbstverständnis. Für Deutschland und Österreich fällt auf, dass sich eine auffallend große Gruppe von 30 Prozent als ausschließlich (eher) religiös einstuft. »Spiritualität in Deutschland 2006«3

William Turner, Donati’s Comet, 1858 / Private Collection / Photo © The Maas Gallery, London / Bridgeman Images

Spiritualität kann als allgemein menschliche Fähigkeit zur Sinnstiftung bezeichnet werden.

Die Gruppe der »spirituellen Sinnsucher« mit 10 bis 15 Prozent ist in dieser Untersuchung eine Minderheit. Die »spirituellen Sinnsucher« speisen ihren Sinnbezug aus Fragmenten des Humanis­ mus, der Anthroposophie, aus Mystik und Eso­ terik. Sie streben nach ihrer inneren Mitte und praktizieren Yoga, Qigong und Meditation, aber auch Schamanismus und Kartenlegen. Sie glau­ ben an ein höheres Wesen, an Energie und einen unpersönlichen »Spirit«. 30 Prozent der Befrag­ ten geben an, dass spirituelle Praxisformen für sie ein wichtiger Alltagsbestandteil sind. Vor allem bei den 20- bis 30-Jährigen meditiert bereits je­ der Zehnte regelmäßig. Jene, die Spiritualität le­ ben, lassen auch gesteigerte Sensitivität und So­ lidarität mit anderen im Alltag erkennen. Qualitative Studien Für den Soziologen Hubert Knoblauch hat sich der volkstümliche Aberglaube der Moderne ange­ passt und transformiert. »Populäre Religion« – so seine Bezeichnung für die neue Spiritualität – fin­ det sich dort, »wo früher die Volksreligiosität war, dort, wo wir über den Tod, das Schicksal mensch­

lichen Lebens oder das Glück im Jenseits reden, aber auch dort, wo die Menschen dem frönen, was die kirchlichen Spezialisten einst als Aber­ glauben bezeichneten« (Knoblauch 1999, S. 221). Die Ethnologin Ariane Martin (2005) hat in­ haltliche Tiefenschichten im spirituellen Feld er­ forscht. Sie deutet die zeitgenössischen Spiritu­ alitäten als »Sehnsuchts-Religion«: auratische Platzhalter für eine vielfach namenlose Sehn­ sucht nach einem »anderen« Leben, nach Glück, Liebe, Selbstentfaltung, Heilung, Innerlichkeit und Orientierung. Vielen Menschen fehlen die­ se Sinndimensionen in einer Gesellschaft unter dem Primat ökonomischer Rationalität. Was steht an? Spiritualität »an sich« gibt es nicht. Für die Begegnung mit Menschen bedeutet dies, zuerst wertschätzend zu verstehen versuchen, was die­ se mit »Spiritualität« meinen. Zugleich steht eine umfassende ethische, politische und theologische Kritik neuer Spiritualitäten an. Spiritualität ist ethisch und politisch niemals »neutral«. Spiri­ tualität in aller Vielfalt kann eine zentrale Quel­ le religiöser und humaner Erneuerung, Vertie­ fung und Entwicklung für Religion, Kirche und Gesellschaft in Europa sein. Sie kann aber auch »Opium« angesichts unmenschlicher gesellschaft­ licher Umstände sein und diese verschleiern. Assoz.-Prof. MMag. Dr. Regina Polak ist Professorin für Praktische Theologie und Religionsforschung an der Katho­ lisch-Theologischen Fakultät der Uni­ versität Wien. Neben Spiritualitätsfor­ schung beschäftigt sie sich mit Religion im Kontext von Migration und theo­ logischen Grundlagen einer Kirche im Umbruch. E-Mail: [email protected]

© Renate Hoffmann

Spiritualität »an sich« gibt es nicht. Für die Begegnung mit Menschen bedeutet dies, zuerst wertschätzend zu verstehen versuchen, was diese mit »Spiritualität« meinen.

Literatur Baier, K. (2006). Spiritualitätsforschung heute. In: Baier, K. (Hrsg.), Handbuch Spiritualität. Zugänge, Traditionen, Interreligiöse Prozesse. Darmstadt, S. 2–45. Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.): Religionsmonitor 2008. Gü­ tersloh 2007. Bochinger, C. (1994). »New Age« und moderne Religion. Religionswissenschaftliche Analysen. Gütersloh. Heller, B. (2014). Spiritualität versus Religion/Religiosität? In: Heller, B., Heller, A.: Spiritualität und Spiritual Care. Orientierungen und Impulse. Bern, S. 45–68. Höllinger, F., Tripold, T. (2012). Ganzheitliches Leben. Das holistische Milieu zwischen neuer Spiritualität und post­ moderner Wellness-Kultur. Bielefeld. Knoblauch, H. (1999). Populäre Religion. Markt, Medien und die Popularisierung der Religion. In: Honer, A., Kurt, R., Reichertz, J. (Hrsg.), Diesseitsreligion. Konstanz, S. 201–222. Knoblauch, H. (2009). Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft. Frankfurt a. M., New York. Martin, A. (2005). Sehnsucht  – der Anfang von allem. Di­ mensionen zeitgenössischer Spiritualität. Ostfildern. Stolz, J., Könemann, J., Schneuwly Purdie, M., Englberger, M., Krüggeler, M. (2014). Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Zürich. Utsch, M., Klein, C. (2011). Religion, Religiosität, Spiritu­ alität. Bestimmungsversuche für komplexe Begriffe. In: Klein, C., Balck, F. (Hrsg.), Gesundheit – Religion – Spi­ ritualität. Konzepte, Befunde und Erklärungsansätze. Weinheim, München, S. 25–45. Anmerkungen 1

Heller 2014, S. 51 ff.; Bochinger 1994, S. 378–385; Baier 2006, S. 11–45. 2 Nach Utsch und Klein 2011, S. 30. 3 http://www.kleine-spirituelle-seite.de/tl_files/template/ pdf/studie_spiritualitaet_in_deutschland.pdf – http:// zelos.zeit.de/bilder/2006/15/aktuell/Studie_Spiritualität. pdf (13.10.2015). Für Österreich: Höllinger und Tripold (2012); für die Schweiz: Stolz et al. (2014).

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Wie Jesus sich in Luft auflöste Gedanken zu Glauben und Wissen

Maria Riederer »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. NIEMAND kommt zum Vater denn durch mich.« Das ist nur eine der Ich-Aussagen Jesu, die Johan­ nes in seinem Evangelium (Joh 14,6) formuliert, um seiner tiefen Überzeugung von der Gottes­ sohnschaft Jesu Ausdruck zu verleihen. Und um die Gemeinde, an die er seine Worte richtet, da­ von zu überzeugen, dass nur, wer Jesus nachfolgt, zum Heil gelangen wird. Jahrelang hat mich ein Wort in diesem Satz zum Grübeln gebracht: »Niemand«. »Niemand« – das waren muslimische und jüdische oder an­ dersgläubige Freunde und Bekannte – und Un­ bekannte. Den Satz aus dem Johannesevangelium wörtlich zu verstehen, würde bedeuten, all die­ se als hoffnungslos Glaubende oder auch nicht Glaubende herabzuwürdigen. Sie kämen nicht zum Vater, weil sie nicht den Weg einschlügen, der »Jesus« heißt? Ich wurde von Kindheit an auf den christlichen Weg geführt, habe ihn, weil er sich bewährte, beibehalten, käme aber nicht auf die Idee, ihn als ausschließlichen Heilsweg zu be­ trachten. Auch das war Teil meiner religiösen Er­ ziehung gewesen: Gott zeigt sich mit vielen Ge­ sichtern und viele Wege führen zu ihm. Nicht nur der christliche. In einem Gesprächskreis zum Johannesevan­ gelium kam ich mit meiner Überzeugung, die ja nur eine Ahnung war, an Grenzen. In diesem Kreis verstand und deutete man die Texte der Evangelien Wort für Wort. Es war nicht wichtig, dass solche absoluten Ich-Aussagen Jesu nur bei ­Johannes zu finden waren. Es spielte auch keine Rolle, dass die Evangelien keine Augenzeugen­

berichte oder O-Ton-Sammlungen waren, son­ dern eine Sammlung von Texten, die sich an bestimmte Gemeinden richteten. Dass die Evan­ gelisten mit ihren Briefen gar eine Absicht ver­ bunden haben könnten, war in diesem Kreis kaum zu vermitteln. Denn dann – so das Argu­ ment – wäre die Auslegung der Bibel doch der Beliebigkeit des Lesenden ausgesetzt. Mein Unbehagen gegen einen solchen Um­ gang mit der Heiligen Schrift war groß. Ich ahn­ te, dass Gott größer sein müsste – selbst größer als das Wort. Aber mein historisches Wissen über die Entstehung der Schriften war zu klein, um gegen das enge Verständnis der Texte argumen­ tieren zu können. Neues Licht auf alte Texte Wie eine Erlösung war der Beginn einer langen Reihe von Schriftgesprächen (Gemeinde Maria in Lyskirchen, Köln). Hier war von Anfang an klar, dass in den Evangelien nicht Jesus selbst sprach, sondern der jeweilige Verfasser. Die Evangelis­ ten schrieben, um ihrer Gemeinde etwas darzu­ legen, aber nicht, weil sie Jesus mit eigenen Oh­ ren gehört hatten. In diesen Schriftgesprächen erfuhr ich auch, dass es in den Evangelien für den unkundigen Leser nicht zu erkennende, re­ daktionelle Einfügungen gibt, die aus späteren Zeiten stammen. Das neu erworbene Wissen, vor allem aber ein Kreis von Menschen, die dieses Wissen bei der Bi­ bellektüre ganz selbstverständlich anwandten, be­ freiten mich aus der Enge des Glaubenmüssens hinein in eine größere Selbstständigkeit. Neues Licht fiel in die altbekannten Texte.

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 19–20, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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2 0   M a r i a R i e d e r e r

Aus einer Bibelhandschrift. Beginn des Matthäusevangeliums mit Initiale »L« und Evangelistenbildnis des Matthäus

Aber wie jede Selbstständigkeit, wie jede Freiheit, verlangte auch diese das Aushalten einer neuen Unsicherheit. Hilft es mir für meine Gottesbe­ ziehung, für meine Spiritualität, den philosophi­ schen und religiösen Wissensstand der Adres­ saten zu kennen, an die jeder Evangelist seine Worte gerichtet hat? Und hilft es mir, zu wissen, dass nahezu alle mir bekannten und von klein auf vertrauten Worte Jesu nicht von ihm selbst, son­ dern von seinen Nachfolgern formuliert worden sind? So paradox es klingt, aber mehr Wissen kann weniger Gewissheit bedeuten. Erkenntnis und Zweifel Die festen Mauern des »Jesus ist  …« wurden durchlässig auch für Zweifel: Wenn die Worte Jesu verhandelbar sind, dann sind es auch seine

Taten, seine Wege und Wunder, sein Leben und Auferstehen. Wie kann ich diesen Jesus kennen, wie ihm nachfolgen und nahe sein, wenn ich kei­ ne Sicherheit über seine Gedanken und Worte habe, sondern »nur« das Zeugnis seiner Schü­ ler kenne? Ein Weg zurück hinter das Wissen kommt nicht infrage. Das Licht, das durch die brüchi­ gen Mauern fällt, ist zu kostbar. Auch wenn sie unbequem sind – die neuen Erkenntnisse und die dadurch entstehende immer größere geisti­ ge Weite –, das alles ist zu wertvoll, um es wie­ der aufzugeben. Treffe ich Jesus, über den ich nun so gut wie nichts mehr weiß, bei den Obdachlosen, den Flüchtlingen, den Trauernden, mit denen ich bei meinen ehrenamtlichen Einsätzen zu tun habe? »Christus suchen im Nächsten« – das ist ein oft genanntes Rezept, aber ehrlicherweise muss ich sagen, dass die Suche nach Christus nie ein Mo­ tiv für meine Einsätze war und dass ich bei der Begegnung mit bedürftigen Menschen – zumin­ dest vordergründig – niemand anderem als ih­ nen selbst begegne. Eher zufällig – vielleicht aber auch einfach nur folgerichtig – entdecke ich einen Weg, der aus dem Dilemma herausführen kann. Es ist die Me­ ditation, die ich früher konsequent geübt, dann aber lange vernachlässigt habe. In der Meditation muss ich mir keine Fragen beantworten. Nicht ich muss agieren, sondern ich lasse geschehen. Und hoffe, dass ich Erkenntnis gewinne jenseits des intellektuellen Verstehens. Dass ich dem Lehrer, der mich durchs Leben führen soll, irgendwo in diesem wortlosen Raum begegnen kann. Maria Riederer ist seit 1996 freie Auto­ rin und Journalistin. Sie arbeitet für den Hörfunk und verfasst Texte für Museen. Seit fünf Jahren ist sie aktiv im Nacht­café, zurzeit in der Ausbildung zur Trauer­ begleiterin für Kinder und Jugendliche. E-Mail: [email protected]

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Bedeutet Spiritualität »tugendhaft und fromm«?

Das Wort »Spiritualität« ist in den deutschsprachi­ gen Ländern erst seit wenigen Jahrzehnten einer breiteren Öffentlichkeit vertraut. In den 1960er und 1970er Jahren war es nur wenigen geläufig. Darum verwundert es nicht, wenn das englische Wort »spirituality« in der Botschaft der ökume­ nischen Weltkirchenkonferenz von Nairobi 1975 ins Deutsche mit »Frömmigkeit« übersetzt wurde. Im Handwörterbuch »Die Religion in Geschich­ te und Gegenwart« aus dem Jahr 1962 taucht der Begriff überhaupt nicht auf. In der zweiten Auf­ lage des »Lexikon für Theologie und Kirche« von 1964 findet sich beim Stichwort »Spiritualität« le­ diglich ein Pfeil, der auf den Begriff »Frömmig­ keit« hinweist. Im Jahr 2000 dagegen werden der Spiritualität in der Neuauflage acht Kolumnen ge­ widmet (Bd. 9, Sp. 852–860. Inzwischen wird die­ ses Wort geradezu inflationär gebraucht. Als sich Ende der 1960er Jahre die Bindung an die Institution Kirche mehr und mehr lös­ te, machten sich vor allem Jugendliche und In­ tellektuelle auf die Suche nach neuen Wegen zur »Innerlichkeit« und zum Sinn ihres Lebens. Sie wollten weder »fromm« noch »tugendhaft« sein, aber authentisch leben. Viele wandten sich der fernöstlichen Meditation zu, andere glaubten in ihrem Engagement für die Befreiungsbewegun­ gen vor allem in Südamerika den Sinn ihres Le­ bens zu entdecken. Die einen gingen in sich, me­ ditierten und beteten, die anderen gingen aus sich heraus und stellten sich an die Seite der Armen und Unterdrückten. Die einen waren fromm und zogen sich zurück, die anderen scheuten nicht vor Gewalt zurück, sie kämpften und waren nicht »fromm«. Daneben gab es – nicht nur in kirchlichen Kreisen, aber dort vor allem – den Versuch, Ge­

Roger schutz / Foto 2003 / akg-images / Michael Zapf

Heribert Niederschlag

Roger Schutz gab in Taizé die Losung aus: »Kampf und Kontemplation«.

bet und das Engagement für die Armen und für Unterdrückten zu verbinden. Auch sie be­ schritten unkonventionelle Wege und fanden zu einer spirituellen Kraft, die den bisherigen Rah­ men eines »frommen und tugendhaften Lebens« sprengten. Roger Schutz gab in Taizé die Losung aus: »Kampf und Kontemplation«. In Südame­ rika wurde Dom Helder Camara für viele zum Vorbild, der Frömmigkeit und entschiedenes Ein­ treten für die Ärmsten der Armen zu verbinden verstand, ähnlich wie Mutter Teresa sich aus einer spirituellen Kraft für die Sterbenden in ­Kalkutta einsetzte. Diese Art der Spiritualität erleben wir auch heute wieder bei vielen, die sich unkonventionell und intensiv für die Flüchtlinge einsetzen, bei vie­ len aus einem spirituellen Hintergrund, bei ande­ ren einfach aus dem Impuls heraus, den Kranken

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 21–26, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

Pyotr Savvich Utkin, Morning Prayer / INTERFOTO / SuperStock / Fine Art Images

Den Zauberschlüssel zu einem Lebensstil, sich immer wieder in die Stille zurück­zuziehen, entschieden einzugehen auf das, was unbedingt zu tun ist, und dabei heiter und gelassen seine Wege zu gehen, finden wir nicht in der Reflexion, sondern im Gebet.

B e d e u t e t S p i r i t u a l i t ä t » t u g e n d h a f t u n d f r o m m « ?    2 3

und Bedürftigen beispringen zu sollen, weil sie Hilfe brauchen. Von ihnen sagt die Bibel im Mat­ thäusevangelium, dass sie in den Armen letztlich Jesus begegnen, auch wenn es ihnen nicht bewusst ist. »Was ihr dem Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25,40). In christlichem Verständnis ist die Spiritualität ein Geschenk des »Spiritus Sanctus«, des Heiligen Geistes, der uns drängt, das zu tun, was hier und jetzt notwendig ist. Er macht es möglich, dass wir »aus dem Geist leben« und »dem Geist auch fol­ gen« (Gal 5,25). Dieser Geist Gottes ist Liebe. Die christliche Spiritualität betrifft den ganzen Men­ schen und ist der ganzen »Welt« verpflichtet und damit jedem Bereich, in dem wir tätig sind und Verantwortung tragen. Sie drängt uns, für das Heil und Wohl all derer mit zu sorgen, die uns anver­ traut sind, auch für uns selbst (Mt 22,37–39). Bernhard Fraling verweist in diesem Zusam­ menhang auf den Geist, den Jesus uns verheißen hat. Dieser Geist »lässt uns erkennen, wie unser persönlicher Weg aussehen kann« (2009, S. 201). Er bereitet den Boden, der den Samen des Guten aufnimmt und Haltungen wachsen lässt, die den Menschen für seine besondere Berufung qualifi­ zieren. Denn der Geist Jesu wirkt in jedem Ein­ zelnen von uns auf je persönliche Weise. Er in­ spiriert und lässt intuitiv erkennen, was zu tun ist, um im Wandel der geschichtlichen Strömungen die Wahrheit des Lebens in die konkrete Situation hinein buchstabieren zu können. Der Geist Jesu und damit die Spiritualität ermutigt zur Freiheit. Auf weite Strecken bieten Gesetze, Vorschrif­ ten und Normen hilfreiche Orientierung, aber nicht immer. Sie können auch hindern und sogar blockierend wirken. Dann ist der Mut gefordert, Entscheidungen zu treffen, die dieser konkreten Situation angemessen sind. Möglicherweise hätte sie der Gesetzgeber berücksichtigt, hätte er diese Situation vorausgesehen. Hier ist eine Tugend ge­ fordert, die die Gnade vor Recht gehen lässt und die Thomas von Aquin die »größere Gerechtig­ keit« nennt: Es ist die weithin vergessene Tugend der »Epikie«, die uns immer wieder daran erin­

nert, dass der Sabbat für den Menschen da ist und nicht der Mensch für den Sabbat. Spiritualität und Gewissen An dieser Stelle berühren sich demnach Spiritua­ lität und Gewissen. Spirituelles Leben und gewis­ senhaftes Handeln durchwirken und verstärken sich wechselseitig. Wie die Spiritualität schärft auch das Gewissen das hellhörige Ohr für das Wirken des Geistes im jeweiligen Kairos unse­ rer persönlichen Geschichte. Dieser Geist zwingt nicht, doch er fordert unsere Freiheit heraus und drängt zur Entscheidung, sei es zum Handeln oder zum Geschehenlassen. Die Erkenntnis, was hier und jetzt zu tun und/oder zu lassen ist, be­ darf eines fein justierten Gewissens und stabili­ sierender Grundhaltungen, die den guten Ge­ brauch der Freiheit sichern. Auf diesem Weg reift der Mensch zur Persönlichkeit. Paulus ist so kühn zu schreiben, dass wir so »zum vollkommenen Menschen werden und Christus in seiner voll­ endeten Gestalt darstellen« (Eph 4,13). Das Ge­ lingen des Guten bedeutet letztlich Glück und Er­ füllung unseres Lebens. Auf diesem Weg lernen wir, gute und richti­ ge Entscheidungen treffen zu können. Wir kön­ nen uns aber auch verfehlen, unser eigenes Leben und das anderer verletzen und zerstören. Tech­ nische Fehler können wir verschmerzen, Fehler im spirituellen und ethischen Leben jedoch ent­ scheiden über das Glück und Gelingen unseres Lebens sowie über Heil und Unheil. Welche Rolle spielt das Gewissen hierbei? Das Gewissen ist unsere letzte und oberste Entschei­ dungsinstanz. Die Frage nach dem Gewissen ist die Schlüsselfrage unseres moralischen Lebens und so stehen wir hier vor der eigentlichen He­ rausforderung der Spiritualität. Unsere Lebens­ geschichte wird ja nicht nur von den Ereignissen geschrieben, die sich gewissermaßen draußen ab­ spielen, sondern vor allem von inneren Vorgän­ gen. »Sie ist die Geschichte des menschlichen Ge­ wissens, der moralischen Siege und Niederlagen«

S p i r i t u a l i t ä t a l s ( e i n ) We g d e r We l t e r f a s s u n g

2 4   H e r i b e r t N i e d e r s c h l a g

(Papst Johannes Paul II. in einem Brief an die Ju­ gendlichen vom 31. März 1985). Einerseits ist das Gewissen oberste Richt­ schnur unserer Entscheidungen, andererseits ist es riskant, ihm zu trauen. Das Risiko, uns et­ was vorzumachen, bleibt. Es ist einzig der hohen Kunst menschlicher Lebensführung zuzutrauen, uns selbst auf die Schliche zu kommen und der Wahrheit auf die Spur. Die Sorge bleibt, die Frei­ heit zu missbrauchen und zu einer Marionette der öffentlichen Meinung oder zu einer Maske zu verkommen.

Vieles spricht dafür, dass der heutige Mensch unter dem Impuls der Aufklärung nicht freier und mündiger geworden ist. Er orientiert sich gern an den Meinungen seiner Umgebung. Das zu tun, was die anderen tun, bewahrt vor vielen anstren­ genden Überlegungen und gibt das Gefühl, richtig zu handeln. Die Spiritualität jedoch schenkt jene Distanz und Gelassenheit, die nötig ist, um in den bisweilen mächtig brausenden Stürmen des »Zeit­ geistes« die manchmal sehr leise Stimme des Ge­ wissens nicht zu überhören und sie von anderen Stimmen in uns und um uns zu unterscheiden.

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B e d e u t e t S p i r i t u a l i t ä t » t u g e n d h a f t u n d f r o m m « ?    2 5

Impuls zu einer neuen Form von Frömmigkeit und Tugend Die Spiritualität gibt unserem Alltag eine beson­ dere, bisweilen auch beflügelnde Atmosphäre. Sie wirkt sich vielfältig aus und verdichtet sich in Grundhaltungen. Den Zauberschlüssel zu einem Lebensstil, sich immer wieder in die Stille zurück­ zuziehen, entschieden einzugehen auf das, was unbedingt zu tun ist, und dabei heiter und gelas­ sen seine Wege zu gehen, finden wir nicht in der Reflexion, sondern im Gebet. Diese Überzeugung

like.eis.in.the.sunshine / photocase.de

Ohne Mut, die beruflichen Abläufe bewusst zu unterbrechen, drohen wir in eine Beschleunigungsspirale zu geraten, die uns nicht zu uns kommen lässt.

äußerte der Münsteraner Philosoph P ­ eter Wust (1884–1940) wenige Monate vor seinem Tod – er starb nach einem schweren Leiden am 3. April 1940 in Münster. Er schrieb seinen Studierenden in einem »Abschiedswort«, das auf den 18. De­ zember 1939 datiert ist: »Wenn Sie mich nun noch fragen sollten, bevor ich jetzt gehe und endgültig gehe, ob ich nicht einen Zauberschlüssel kenne, der einem das letzte Tor zur Weisheit des Lebens erschließen könne, dann würde ich ihnen antworten: ›Jawohl‹. – Und zwar ist dieser Zauberschlüssel nicht die Reflexion, wie Sie es von einem Philosophen vielleicht erwarten möchten, sondern das Gebet. Das Gebet, als ­letzte Hingabe gefasst, macht still, macht kindlich, macht objektiv. Ein Mensch wächst für mich in dem Maße immer tiefer hinein in den Raum der Humanität, wie er zu beten imstande ist, wofern nur das rechte Beten gemeint ist. (…) Die großen Dinge des Daseins werden nur den betenden Geistern geschenkt« (Wust 1984, S. 11 f.). Zu den großen Dingen gehören die Kunst der Unterscheidung und die Kraft der Entscheidung. Susanne Conrad schreibt in ihrem Buch »Sterben für Anfänger. Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können«, dass sie sich in der Hoch­ phase ihrer Krebserkrankung gefragt habe, wenn sie nicht so recht gewusst habe, wie sie sich ent­ scheiden sollte: »Wäre mir das, was jetzt zu ent­ scheiden ist, auf dem Sterbebett wirklich wich­ tig?« (Conrad 2013, S. 49). Wie können wir im Gedenken an unsere Vergänglichkeit einen Le­ bensstil entwerfen, von dem wir hoffen, dass wir auf dem Sterbebett nicht bereuen, so gelebt zu haben? Peter Wust nennt als erste Frucht des Gebetes, dass es uns still werden lässt. Was wir heute zu­ nehmend erleben und manchmal sogar erleiden, sind der Lärm und die Hektik, die uns nicht zur Ruhe kommen lassen wollen.

Spiritualität

2 6   H e r i b e r t N i e d e r s c h l a g

»Das seelische Ausgebranntsein nimmt zu (…) Es ist überhaupt so, dass das hektisch hochaktive Leben mit dem übergroßen Lärm, den überschwemmenden Bilderfluten, den jagenden Informationen und ständig drohenden Terminen zwar Wohlstand erzeugt, aber eine Menge seelisch Beschädigter zurücklässt. Und so hat in unserer Zeit ein Wort einen besonderen Klang bekommen, wird zur Wunschvorstellung und zur Sehnsucht: Ruhe. Bei aller Aktivität, aller Mobilität, aller Hingabe an Beruf, Arbeit und Familie braucht der Mensch auch Ruhe. Und zwar nicht nur im Sinne von Nichtstun, Leere, Abschalten, Dahindösen – das braucht’s auch hie und da. Aber nicht nach Apathie und Antriebslosigkeit hungert der Mensch, sondern nach Ruhe, die das Herz in seinen Tiefen heilend und bergend umfängt. Da geht’s um Ruhe, die die Seele auf Aussichtsplätze führt, eine Ruhe, in der man sensibler wird für das eigene Leben und das der anderen« (Stecher 2012, S. 5). Nicht wenige leiden unter der zunehmenden Beschleunigung. Manche kommen sich vor, als gäben sie Vollgas im Leerlauf, das den Motor zwar aufheulen lässt, aber das Auto nicht vo­ ranbringt. Was hier nottut, ist ein neuer Um­ gang mit der Zeit. Es gilt, sich in wacher Auf­ merksamkeit dem »Spiritus Sanctus« zu öffnen und gespannt hinzuhören auf den Spruch des Gewissens. Ohne Mut, die beruflichen Abläu­ fe bewusst zu unterbrechen, drohen wir in eine Beschleunigungsspirale zu geraten, die uns nicht zu uns kommen lässt. Wir werden unsere ge­ wissenhafte Spiritualität und unser spirituelles Gewissen nur bewahren können, wenn wir zu Meistern der Unterbrechung werden und uns ganz bewusst Zeiträume sichern, in denen wir uns in die Stille zurückziehen und ganz bei uns sind. In der Betrachtung der Natur – nicht um sie zu beherrschen, sondern um sich an ihr zu erfreuen – spüre ich meine Nähe zu dem, der sie geschaffen hat.

Neuere geistliche Gemeinschaften üben einen Lebensstil ein, der von der Sehnsucht geprägt ist, »im liebenden Umsonst nach Gott Ausschau zu halten« (Schoppelreich 2000). Diese in Gott und in der Freude an ihm gründende Absichtslo­ sigkeit ist nicht nur eine mönchische Speziali­ tät, sondern der Kern der christlichen Spirituali­ tät. Diese spirituelle Grundeinstellung – gepaart mit Professionalität – wirkt sich atmosphärisch aus und schafft in den ökonomisch dominierten Arbeitsbeziehungen ein wohltuendes Klima der Wertschätzung, des Vertrauens und der Fairness. Die Räume der Stille können helfen, unser Leben und Wirken mit einem gerüttelt Maß an »lieben­ dem Umsonst«, an Gelassenheit und geistlichem Humor zu würzen. Der Humor versteht es, auch einer schweren Erkrankung eine besondere Deutung zu geben. Ein mir bekannter Priester hatte einen schweren Hirnschlag erlitten. Wochenlang schwebte er zwi­ schen Leben und Tod. Als sich abzeichnete, dass er die kritische Situation überstehen würde, äu­ ßerte er einem Besucher gegenüber: »Ich glaube, ER da oben will mich noch nicht haben!« Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: »Ich kann ihn verstehen.« Wer diesen Humor und diese Gelas­ senheit aufbringen kann, in dem wirkt sich die Spiritualität demütig und zugleich kraftvoll aus. Pater Heribert Niederschlag SAC, Dr. theol., ist emeritierter Professor für Moraltheologie an der PhilosophischTheologischen Hochschule Vallendar. Seit 2006 leitet er dort das Ethik-Institut. E-Mail: [email protected] Literatur Conrad, S. (2013). Sterben für Anfänger. Wie wir den Um­ gang mit dem Tod neu lernen können. Berlin. Fraling, B. (2009). Spirituelle Aspekte der Tugendethik. In: Augustin, G., Reiter, J., Schulze, M. (Hrsg.), Christliches Ethos und Lebenskultur. Paderborn, S. 201–222. Schoppelreich, B. (2000). Im Herzen der Stadt. In: Herder Korrespondenz 54/2000, S. 572–576. Stecher, Bischof Reinhold: Ungehaltene Predigt über die Ruhe. In: Tiroler Sonntag, 28. Februar 2012, S. 5. Wust, P. (1984). Ein Abschiedswort. Münster.

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Spiritualität – im Wissen, Zweifeln und Glauben? Betrachtungen eines Theologen und Biologen

Ulrich Lüke Als Priester steh ich oft an Kranken- und an Ster­ bebetten und an offenen Gräbern. Und nicht sel­ ten staune ich, welcher Spiritualität ich bei diesem kranken oder gar sterbenden Menschen begegne und mit welcher Spiritualität Menschen ihr Le­ ben und Sterben gemeistert haben. Vor einigen Jahrzehnten gehörte das Wort »Spiritualität« noch nicht zum aktiven Wortschatz der Mediziner, son­ dern bezeichnete eine vor allem bei Mönchen und anderen Ordensleuten zu findende Lebenshal­ tung. Inzwischen sind die heilsamen oder heilen­ den Kräfte dessen, was Spiritualität meint, auch medizinisch in den Blick gerückt und Spirituali­ tät ist zum viel gebrauchten Modewort geworden. In manchen Ohren hat es leider schon etwas an­ gekränkelt Blässliches, klingt es nach selbsthilfe­ orientiertem Sakralzirkel, nach entmaterialisierter Selbsterfahrung, nach esoterischer Kuschelgrup­ pe. Was ist Spiritualität, was soll man damit? Der Begriff »Spiritualität« kommt vom Lateini­ schen spiritus und meint natürlich nicht die gleich­ namige brennbare Flüssigkeit, sondern Geist oder auch Seele. Geist und Seele betreffen die mentale Dimension, sind nur in der Erste-Person- oder der Ich-Perspektive erfahrbar. Subjektivität ist hier das Stichwort und das Eingangstor zur Erfahrung. Die je eigene Ich-Erfahrung hat niemand außer eben dem gerade in Rede stehenden Ich. Man kann ver­ suchen, sie empathischen Menschen in Worten mitzuteilen; aber wie es sich genau anfühlt, die­ ses Ich zu sein, das weiß und fühle eben nur ich. Natürlich haben wir, soweit wir wissen, Geist nicht ohne Gehirn. Aber das Gehirn betrifft die neuronale Dimension und seine Funktionen er­ schließen wir uns in der Dritte-Person- oder der Es-Perspektive. Diese Perspektive ist dem Neuro­

physiologen, dem Neurobiologen, dem Neuro­ chirurgen und so weiter zugänglich. Objektivität ist hier das Stichwort und das Eingangstor zur Erfahrung. Spiritualität ist eine Haltung und Handlung auf der Basis eines aus der Religion oder der Philoso­ phie übernommenen oder auch eines selbst ent­ wickelten Sinnentwurfs oder Sinnhintergrunds. Gleichwohl ist sie nicht zwangsläufig nur einer be­ stimmten Religion oder Philosophie zuzuordnen. Ich glaube, Spiritualität gehört zur menschlichen Grundausstattung, ist eine Art göttliche Mitgift auf dem Lebensweg, ist ein menschliches Existential. Wie verhält sich die Spiritualität zum Wissen? Spiritualität als Ausdruck des Geistes, als Ausdruck dessen, was mich beseelt, unterzieht auch objek­ tive Wissensbestände und Wertungen einer sub­ jektiven Anfrage, zieht sie gegebenenfalls sogar in Zweifel, relativiert objektive Gewissheiten. Spiritu­ alität als Ausdruck des Geistes fragt nach dem Sinn des angeblich unbezweifelbar Objektiven, inter­ pretiert das Objektive auf seinen subjektiv relevan­ ten Gehalt hin, deutet das Objektive im Lichte der eigenen Subjektivität, fragt nach dem umfassen­ den Sinn. Und das Ich, das den Scheinwerferstrahl meiner Aufmerksamkeit steuert, kann dabei nie in seinem eigenen Strahl erfasst werden. Wie verhält sich die Spiritualität zum Zweifel? Spiritualität als Ausdruck des Geistes, als Aus­ druck dessen, was mich beseelt, befragt und be­

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 27–29, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

© m.schröer

2 8   U l r i c h L ü k e

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S p i r i t u a l i t ä t   – i m W i s s e n , Z w e i f e l n u n d G l a u b e n ?    2 9

zweifelt auch noch den festgebackenen Zweifel und den abgründigen Sinnlosigkeitsverdacht, be­ fragt und bezweifelt den Sinn der Verzweiflung als angeblich objektive Konsequenz aus den Fak­ ten. Sie bezweifelt, dass dieses endliche Dasein das Ein und Alles und das Ganze ist. Spirituali­ tät befreit auch zum Zweifel am Zweifel und er­ hofft einen umfassenden Sinn. Wie verhält sich die Spiritualität zum Glauben? Spiritualität als Ausdruck des Geistes, als Aus­ druck dessen, was mich beseelt, hinterfragt auch einen zum Dogmatismus erstarrten Glauben, den unausgereiften Kinderglauben, verflüssigt den zu bloßen Sätzen geronnenen Glauben. Spirituali­ tät durchsetzt, zersetzt und ersetzt einen nicht mehr existenziell tragfähigen, einen nur noch pa­ piernen Glauben. Sie leitet an und leitet über zu einem gereiften, lebenstüchtigen Glauben. Ob und wie ich den Zufall einer beglücken­ den Begegnung, den Zufall eines deprimieren­ den Ereignisses, den Zufall einer abgründigen Begebenheit meines Lebens deute, das ist Aus­ druck der je persönlichen Spiritualität. In die­ ser Deutung wird der Zufall zu einem »blinden« oder »dummen« oder »sinnlosen« Zufall; oder er wird zu einem »absichtsvollen«, »gelenkten« Zufall, der etwas von schicksalhafter oder göttli­ cher Vorsehung an sich hat. Das, was wie Zufall aussieht, mich ungeplant und unvorbereitet trifft, kann für mich nichtssagend oder vielsagend sein, je nachdem, wie ich es deute, je nachdem, wes

Spiritualität gehört zur menschlichen Grundausstattung, ist eine Art göttliche Mitgift auf dem Lebensweg.

Geistes Kind ich bin, je nachdem, was mich be­ seelt. Spiritualität ist die Kraft, die es mir ermög­ licht, Sinn zu entdecken, zu formulieren und zu gestalten. Spiritualität hilft mir, das, was mir als Freude oder als Leid im Leben widerfährt, in mei­ nen je eigenen Lebens-Sinn-Kontext zu integrie­ ren und in diesem Lebens-Sinn-Kontext zu deu­ ten als Mahnung oder Warnung, als Lehre oder Wegweisung, als Hilfe oder Trost. Spiritualität ist dann das, was mich begeistert und mich bei dieser Lebensdeutung beseelt und damit durch die Dun­ kelheiten und in den Zwielichtigkeiten, durch die Niederungen und über die Klippen meines Da­ seins geleiten kann. Spiritualität ist das, was mich angesichts meines Versagens tröstet, mich ange­ sichts meiner Grenzen stärkt, mich zur Lebens­ hoffnung befähigt. Dass für mich als Christ die Spiritualität mit dem »Spiritus Sanctus«, dem Heiligen Geist, dem Geist Gottes zu tun hat, wird vielleicht nieman­ den wundern. Aber ich wundere mich, und ich bewundere, wie dieser heilige, dieser heilsame und heiligende Geist über die Grenzen der je­ weiligen einzelnen Religionen und Philosophien hinaus in so unfasslich vielen Gestalten, wie es Menschen gibt, begeistert und begeisternd, be­ seelt und beseelend wirksam ist. Und ich stau­ ne immer neu über die erlebten Wirklichkeiten und die erahnten Möglichkeiten des Himmels­ geschenks der menschlichen Spiritualität. Men­ schen können leiden, was sie nicht leiden könn­ ten, und können tun, was sie nicht tun könnten, wenn sie es nicht mit dem Geist Gottes zu tun hätten. Prof. Dr. Ulrich Lüke, Studium der Theologie, Biologie und Philosophie in Münster und Regensburg. Nach Profes­ suren in Freiburg und Paderborn ist er seit 2001 Professor für Systematische Theologie an der RWTH Aachen. Sein Hauptforschungsgebiet sind Grenzfra­ gen zwischen Naturwissenschaft und Theologie. E-Mail: [email protected]

S p i r i t u a l i t ä t a l s ( e i n ) We g d e r We l t e r f a s s u n g

ANGEWANDTE SPIRITUALITÄT

Das Meer Das Meer liegt mir zu Füßen. stürzt donnernd auf den Kies, und bricht in weißen Bögen sich. Sie drängen aus dem schäumenden Grün. Ein Heben und Senken, am Ufer entlang. Kreischend lassen die Möwen dem Wind ihr Gewicht. Die Flut bricht herein. Ankernde Schiffe, die bocken und schaukeln an langer Leine reißen auf einmal gespannt an den Ketten. Einer demütigen Laune folgend wäscht mir das Meere meine Beine. Wende dich ab, Mensch. Schnell! Du lebst an Land. Sei nicht verführt vom Tod, wenngleich Erinn’rung er vollkommen macht – wie man sagt. Das Schlaflied der See lässt dich vergessen, halte dich also an den Sand. Das Meer verwischt deine Spuren. Ich las viele Bücher über das Meer. Sie sprechen vom Einfluss des Mondes, von Mollusken, von Dünen und Strand, und von Wolken, regenschwer. So viele not­ dürftige Versuche, endlose Bewegungen zu erklären, von »Exper­ ten« auf Papier gebannt. Man sagt, dass eines Menschen Blut so salzig ist wie das Meer, das ihn gebar. Als Mensch, in lang vergessener Gestalt, die Erde betrat, entlassen aus ihrem endlosen Schoß,

und niemals vergessend, wurde die See allein seiner kriechenden Geburt gewahr. Lerne, Mensch, deine Herkunft zu spüren und zu suchen. Dein Herz pumpt durch deine Adern Tag für Tag. Miss deinen Puls wie die Ströme und Gezeiten und finde einen Ort, an dem die Wellen das Ufer suchen, dort sollst du schwimmen in ihren schäumen­ den Blasen. Der Mensch zieht seine Bahnen in seichten Gewässern und fegt sie leer mit weit gespannten Netzen, gierig nach leichter Beute und Profit. Aus den Tiefen zieht er die letzten Wale, und, nie zufrieden, unerprobt, muss er noch ihre gequälten Kadaver verletzen. Nichts ist für mich so freigiebig wie das Meer Ich setze die Segel und folge dem Wind, gehor­ che trudelnd seinen Geboten. Meine Sicherheit liegt im Auge des Sturms. Das Meer schenkt seine Gaben voller Großmut, aber es behält immer seine Toten. Brenne langsam, Boot. Vereine den Menschen erneut mit seinem Ele­ ment. Mit seinem Schiff und seinem Schwert findet ein wandernder Krieger sein wahres Heim. Am Ende legen seine Flammen sich sacht auf das Meer, das er befuhr.

(David Head, veröffentlicht in: On the Edge, Pennings Partnership Press 2014; übertragen von Karola Hassall)

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 30, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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Völlig los-gelöst Die Krise im Existenziellen und Spirituellen

Christiane Parlings Als pastorale hauptamtliche Mitarbeiterin bin ich vom Bischof der Diözese Aachen mit der Seelsor­ ge an einem privatwirtschaftlich geführten Maxi­ malversorger in der Gesundheitssorge beauftragt. Es liegt die Frage nahe: Warum leistet sich die katholische Kirche, Mitarbeiter/-innen in einen säkularen, somatischen Krankenhausbetrieb zu entsenden und mit der Sorge um die Seele zu beauftragen? Geht es doch in einer soma­ tischen Klinik vornehm­ lich um die Diagnos­ tik von Krankheiten/ Leiden und um die adäquate Therapie. Der Körper soll ge­ sunden, für den Geist (griechisch: spiritus) oder die Psyche gibt es spe­ zielle Kliniken und für die Spiritualität verschiedenste Angebo­ te der traditionellen Glau­ bensunterweisung (­Katechese) und des Glaubensvollzuges, zum Bei­ spiel Spendung von Sakramenten, Bibelkreise und so weiter. Warum also das Angebot der Seelsorge in einer somatischen Klinik? Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, stelle ich mich täglich der Begegnung mit Patienten, Zugehörigen, dem Pflegepersonal, Ärzten und weiteren Mitarbei­ ter/-innen im Krankenhaus. Was macht eine existenzielle Krise aus und wo begegnet sie mir im Krankenhaus?

Es geht los … Viele Patienten, denen ich begegne, treibt die Angst und die Sorge um: Wer bin ich, wenn al­ les, was mich bisher ausgemacht hat, wegbricht und ich der »Losigkeit« ausgesetzt bin? Halt-los Sinn-los Grund-los Zweck-los Ergebnis-los Recht-los Lieb-los Mut-los Atem-los Kopf-los Eltern-los Kind-los Perspektiv-los Rat-los Hoffnungs-los Trost-los Sprach-los Hilf-los Ich fühle mich HALT-LOS, alle Pläne, die ich für mein Leben gemacht hatte, sind SINN-LOS. Ich bin GRUND-LOS krank geworden. Es ist ZWECK-LOS, mich über die Zustände in der Pflege zu beschweren. Viele Therapien sind ER­ GEBNIS-LOS und nach meiner Einschätzung SINN-LOS. Habe ich kein Recht zu erfahren, was mit mir los ist und wie es mit mir weitergeht? Bin ich RECHT-LOS? Weder das Pflegepersonal noch meine Familie kümmern sich wirklich um mich!

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 31–34, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

3 2   C h r i s t i a n e Pa r l i n g s

Keiner hat Zeit für mich und geht auf meine Be­ dürfnisse ein. Ich fühle mich LIEB-LOS behandelt. ATEM-LOS warte ich auf den Sauerstoff und die Angst schnürt mir die Kehle zu. Die vielen Unter­ suchungen, verbunden mit meinen Ängsten, ma­ chen mich KOPF-LOS. Nach dem Tod meiner Mutter bin ich ELTERN-LOS und fühle mich ver­ lassen. Nach dem Tod meines frühverstorbenen Kindes sind wir noch immer KINDER-LOS und ich bin PERSPEKTIV-LOS. Ich habe alles gemacht, was die Ärzte mir emp­ fohlen haben. Ich habe die Chemos und Bestrah­ lungen durchgestanden, habe auf meine Ernäh­ rung geachtet und trotzdem wächst der Krebs weiter. Ich bin RAT-LOS und verzweifelt. HOFF­ NUNGS-LOS sehe ich meinem Sterben entgegen. Die infauste Prognose meiner Krankheit macht mich TROST-LOS traurig und meinen Mann macht es SPRACH-LOS. HILF-LOS muss ich mit anschauen, wie mein Mann leidet. Ich fühle mich GOTT-LOS. Es scheint, er hat mich verlassen. Die Frage nach dem Warum Durch die Krankheit verlieren die Betroffenen ihre Sicherheit. Alles ist anders, nichts so, wie es war. Sie verlieren unter Umständen ihre Mobilität, ihre Selbstständigkeit, die Arbeit, ihre Aufgaben, müssen ihr Leben komplett verändern. Kontakte zu Freunden, Kollegen und Familie brechen ab. Und die Frage, die in verschiedenen Dimen­ sionen immer wieder hervorbricht und mir fast täglich begegnet, ist die Frage nach dem Warum. Die Suche nach dem Sinn – weil diese Sinn-Losigkeit kaum auszuhalten ist. Die Frage nach dem Sinn ist somit immer auch die Suche nach der »höheren Ordnung«, verbun­ den mit einer existenziellen Lebens-Sinn-Suche. Daraus resultiert für mich die Einsicht, dass Körper und Seele eine Einheit sind. Was mei­ nem Körper geschieht, (be)trifft auch meine See­ le, meine Psyche, meinen Spiritus (Geist). Mei­ ne Identität erwächst der Einheit von Seele und Körper. Sobald diese gestört ist, versuche ich über

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Pablo Picasso, Melancholy Woman (1902) / Detroit Institute of Arts, USA / Bequest of Robert H. Tannahill / Bridgeman Images © Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Vö l l i g l o s - g e l ö s t    3 3

die Warum-Frage meine Krank­ heit aus meiner Lebensbiografie zu verstehen und mit der WozuFrage eine neue Lebensorientie­ rung zu finden. Häufig begegnet mir auch die Not der Sprach-Losigkeit bei den Menschen, denen der Glaube und der aktive Glau­ bensvollzug immer viel bedeu­ tet hat. Kein Gebet kommt ihnen über die Lippen. Sie finden kei­ nen Zugang mehr zu den ihnen vertrauten Riten und Gebeten ihres Glaubens. Die Leere erfüllt sie ganz, und eben diese Para­ doxie halten sie kaum aus. Zu­ sammen mit ihrem Alltag ver­ lieren sie auch die Alltäglichkeit und Selbstverständlichkeit ihrer Spiritualität. Die Frage nach dem »Was hilft?« Nach meiner Erfahrung ist es die Bereitschaft, sich auf die »Losigkeit« einzulassen. Mit­ zugehen in das Gefühl des »Lo­ sen«, des Verlustes. Ganz und gar anwesend zu sein und Zeit und Raum dafür zu öffnen. Den Menschen anzuschauen und da­ mit all das, was den Menschen jetzt und in dem Moment aus­ macht, an-zu-sehen: die Fragen, die Klage, das Leiden, den Ver­ lust, die Trauer, die Erinnerung, die Freude, die Dankbarkeit, die Hoffnung, die Schuld, den Un-/ Glauben, die Zweifel, die Verlet­ zungen, das Gebrechen, … und all diesen Zuständen zum Ansehen zu verhelfen.

Spiritualität

3 4   C h r i s t i a n e Pa r l i n g s

DAS AUGE DES ANDEREN NIRGENDWO BIST DU MEHR ALS IM AUGE DES ANDEREN NUR ER KENNT DEIN GESICHT DU WIRST ES NIE SEHEN OHNE DAS AUGE DES ANDEREN SPIEGEL DEINER WÜRDE NIRGENDWO BIST DU GRÖSSER ALS IM BARMHERZIGEN BLICK DEINES NÄCHSTEN Wilhelm Bruners

Ich versuche, Patienten und Zugehörige zu er­ mutigen, Vergangenes, Gegenwärtiges und Zu­ künftiges aus ihrem Leben zu erzählen. Dabei ge­ winnen sie wieder Halt und spüren ihre Identität. Dies wird oft als heilsam und als Kraftquelle er­ lebt, da sie wieder in Kontakt mit ihren positiven Lebenserfahrungen kommen. Tröstend kann es sein, all seine Wut, Verzweif­ lung, Hoffnungslosigkeit, Ohnmacht, Trostlosig­ keit, Aggressionen und Trauer aussprechen und herausschreien zu dürfen. Wenn das passiert, so ist es für mich als Seelsorgerin oft sehr irritierend, wenn sich Betroffene nach diesem Ausbruch an

Emotionen bei mir bedanken. Ich fühle mich hilf­ los und eher »schuldig« und bin daher verwun­ dert, dass es ihnen gut getan hat. Aus dieser Erfahrung heraus ist es mir wichtig geworden, Ohnmacht, Sinnlosigkeit, Hoffnungs­ losigkeit, Leere und Verzweiflung und die Erfah­ rung der Ferne Gottes hören zu wollen und damit solidarisch auszuhalten und zu teilen. Manchmal gelingt es mir, den uralten Schatz der biblischen Gotteserfahrung mit der Lebens­ erfahrung eines Betroffenen zu verweben und damit ein Deutungsangebot zu machen. Ich ver­ suche dies in der Haltung zu tun, dass in jedem Seelsorgegespräch an der Lebens- und Liebesge­ schichte Gottes weitergeschrieben wird, ob nun das Wort »Gott« in den Mund genommen wird oder nicht. Ich bin davon überzeugt, dass der Geist Gottes weht, wo er will … Ich versuche so den Menschen in der Klinikseelsorge zu begeg­ nen, dass schon durch meine Anwesenheit und mein Auftreten etwas von der Frohen Hoffnungs­ botschaft spürbar wird. Es ist für mich und mein Selbstverständnis als Seelsorgerin sehr wichtig, dass Körper und Seele eins sind. Der Mensch ist Seele und daher niemals Seelen-los, mag er noch so viele »Lose« erleiden. Eine existenzielle Krise ist immer auch eine spirituelle Krise! Seelsorge im Krankenhaus ist daher alternativ-los. Christiane Parlings ist Mutter von drei erwachsenen Kindern und Großmutter von zwei Enkeln. Sie arbeitet seit 17 Jah­ ren im Bistum Aachen als Gemeinde­ referentin, war als Seelsorgerin in ver­ schiedenen Gemeinden am Niederrhein und als Frauenseelsorgerin in der Region Kempen-Viersen-Krefeld unterwegs und hat als systemische Beraterin Gemeinden in Veränderungsprozessen beraten. Seit zwei Jahren ist sie Krankenhausseelsorgerin an den HeliosKliniken in Krefeld und ausgebildete Trauerbegleiterin (BVT). E-Mail: [email protected] Literatur Nauer, D. (2007). Seelsorge. Sorge um die Seele. Stuttgart.

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Hilft Spiritualität in Krisen von Kindern und Jugendlichen? Jürgen Langer »Es hat mir geholfen, weil man für Daniel beten konnte und wusste, dass er jetzt in einer besse­ ren Welt (Himmel) ist.« Dies ist ein Statement aus einer spontanen Niederschrift von persön­ lichen Erfahrungen von Schülern der Klasse 7 einer Realschule, die sie 2015 nach dem Unfall­ tod eines Mitschülers mit der seelsorglichen Be­ gleitung ihrer Klasse gemacht haben. Wie steht es heute um die spirituellen Fragen von Kindern und Jugendlichen? Tauchen solche Fragen heute noch auf oder hat das Nachlassen der gelebten Religiosität und Kirchlichkeit, das Nachlassen der religiösen Erziehung und der re­ ligiösen Praxis zu einem Verschwinden der Fra­ gen und Empfindungen geführt? Viele trauen sich heute gar nicht mehr, die Dimension des Religiösen und Spirituellen in der Begleitung von Kindern und Jugendlichen als ganz normales Erleben oder als eine selbst­ verständliche Ressource anzusprechen oder zu betrachten. Das Missverständnis, dem viele er­ liegen, ist, dass von einem Nachlassen der kirch­ lich praktizierten Religiosität und der formalen Religionszugehörigkeit darauf geschlossen wird, der Themenkomplex religiöses Erleben, religiö­ se Fragen oder die spirituelle Dimension erlö­ sche und sei Tabu oder das Religiöse werde gar nicht mehr erlebt. Mir ist daher diese Unterscheidung zwischen kirchlicher Religiosität und religiöser Erfahrung in der Praxis wichtig. Kinder und Jugendliche kennen, unabhängig von der Frage einer eige­ nen Kirchenzugehörigkeit, Gläubigkeit oder re­ ligiöser Erziehung, das Religiöse als ganz natür­ liche, selbstverständliche Dimension des Lebens; sie alle kennen die religiösen Fragen und Emp­

findungen, auch wenn sie diese nicht immer als »religiös« erkennen und bezeichnen. Sie kennen auch grundsätzlich einige der Antworten, die die Religionen auf die großen Fragen nach Leben und Tod geben. Sicher nicht im Detail, aber sie wissen grundsätzlich darum. Darüber hinaus gibt es auch heute noch eine große Zahl von Kindern und Jugendlichen, die durch die Familie oder durch die Gemeinden einen persönlichen Zugang zum Glauben haben. Wie viele das sind, hängt sehr stark von der Ge­ gend ab, in der ich mich befinde, und mit welchen Kindern und Jugendlichen ich konkret zu tun habe. So sind in Baden-Württemberg viel mehr Kinder und Jugendliche religiös sozialisiert als zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern. Mei­ ne persönlichen Erfahrungen beziehen sich größ­ tenteils auf den Westen Deutschlands, in dem die praktizierte Religiosität deutlich abnimmt, wo aber immer noch viele Menschen durch Familie und Kultur mit dem Religiösen verbunden sind oder darauf gestoßen werden. Es wäre wirklich schade und ein fachlicher Fehler in der Beglei­ tung, wenn diese Dimension übersehen würde oder zu kurz käme. Das folgende Gebet haben zwei Schüler der Klasse 7 gemeinsam geschrieben, die ihre Trauer ausdrücken wollten. Beide Schüler haben keine besonders starke Verbindung zum christlichen Glauben gehabt. »Großer Gott, hier sitze ich nun mit meiner Trauer. Lang war ich dir nicht mehr so nah. Normalerweise gehe ich meine Wege, ohne mich an dich zu wenden. Ich vergesse dich oft. Nun haben mich der Tod und der Abschied

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 35–37, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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von Jonas in deine Nähe gebracht. Lass mich deine Liebe spüren. Großer Gott, trage mich und alle, die trauern, durch den Abschied und darüber hinaus. Amen.«

Kinder und Jugendliche erleben Spiritualität hautnah, ohne zu wissen, dass man das Spiritualität oder religiöses Erleben nennt.

Auch der junge Mensch fragt nach dem Ganzen, nach dem Sinn Dass der Mensch in seinen Fragen seine norma­ le, alltägliche Wirklichkeit überschreitet und ge­ danklich über sie hinausgeht, macht sich häu­ fig gerade in Krisensituationen bemerkbar. Auch junge Menschen bemerken, dass sie in solchen Si­ tuationen an einer Grenze stehen und letzte Fra­ gen aufgeworfen werden. Wieso müssen Men­ schen sterben? Wieso sterben auch Menschen, die ich liebe? Gibt es Gott? Gibt es eine Zukunft über den Tod hinaus? Haben das Leben und das Sterben Sinn? Bleibt etwas vom Leben eines Men­ schen übrig, von der Liebe, von den Beziehungen, wenn ein Mensch tot ist? Kinder und Jugendliche machen normaler­ weise gerade in der Krisenbewältigung, in Trauer und bei akuten Verlusten spirituelle Erfahrungen, indem sie das alles erleben, durchleben und mer­ ken, wie die Fragen und Empfindungen auf ein­ mal da sind und dass die Situation schmerzt und die Fragen stark und drängend in ihnen sind. Sie erleben meiner Meinung nach Spiritualität haut­ nah, ohne zu wissen, dass man das Spiritualität oder religiöses Erleben nennt. Der Religionspädagoge Anton A. Bucher ver­ steht unter Spiritualität: Sie ist »wesentlich Ver­ bundenheit und Beziehung (…) und zwar zu einem den Menschen übersteigenden, umgrei­ fenden Letztgültigen, Geistigen, Heiligen, das für viele nach wie vor das Göttliche ist; aber auch die Beziehung zu den Mitmenschen und zur Natur. Diese Öffnung setzt voraus, dass der Mensch vom eigenen Ego absehen bzw. dieses transzendieren kann« (Bucher 2007, S. 56). Gerade in der Kon­ frontation mit dem Tod treten spirituelle Phäno­ mene auf, die sich im Kontext von Kindern er­ eignen und die ihre Persönlichkeit, ihre Weltsicht,

ihre Erziehung und Begleitung betreffen. Hierbei sind vor allem zwei Aspekte zu bedenken: »Ers­ tens: der Drang der Kinder, ihre Welt zu begrei­ fen und sie sich anzueignen. Und zweitens: das Bindungsverhalten von Kindern zu ihren Bezugs­ personen« (Hebert 2011). Genau hier setzt die spirituelle Begleitung von Kinder und Jugendlichen in der Notfallseelsorge und schulischen Krisenintervention an. Als mit­ gehender Begleiter in außergewöhnlichen Krisen von Kindern und Jugendlichen geht es darum, Angebote zu machen, die es den Betroffenen er­ möglichen, ihre Erlebnisse und die damit verbun­ denen Empfindungen und Gedanken anzuerken­ nen, zu sortieren und weiterzuentwickeln. Genau dies ist die Funktion von religiösen Angeboten in der Krise, sei es für den Einzelnen oder für klei­ ne oder auch große Gruppen.

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»Mir hat’s geholfen mit dem Beten und dem Gottesdienst, weil ich das Gefühl hatte, mit Gott, Jesus und Daniel persönlich zu reden. Ich hatte dabei auch das Gefühl, dass er unter uns ist. Mir hat es bei der Verarbeitung auf jeden Fall sehr geholfen. Ich finde es gut, dass wir das so gemacht haben, damit wir besser mit der Situation umgehen konnten« (Schülerstatement aus der 7. Klasse). Ermöglichen wir Kinder und Jugendlichen eine religiöse Sicht und geben wir ihnen die Gelegen­ heit, ihre spirituellen Erlebnisse in der Situation zu sortieren und an die religiöse Tradition der Re­ ligionen und der Menschheit anzubinden, dann hilft dies bei der Verarbeitung und hilft, mit der Situation umzugehen, weil es den Horizont wei­ tet und die Hoffnung stärkt. So entsteht Trost. Ich

finde es spannend, wie der zwölfjärhige Realschü­ ler das im letzten Statement auf den Punkt ge­ bracht hat. Besser kann ich es nicht sagen. Pater Jürgen Langer, Dr.; C.Ss.R., Mal­ teser, Pastoralpsychologe, Systemischer Berater. 1985 trat er in die Ordensge­ meinschaft der Redemptoristen ein und wurde 1991 zum Priester geweiht. Er ist Schulseelsorger am Collegium Josephi­ num in Bonn, baute das Projekt »Schuli­ sche Krisenintervention« auf und ist katholischer Beauftrag­ ter für Notfallseelsorge in Bonn. E-Mail: [email protected] Literatur Bucher, A. (2007). Psychologie der Spiritualität. Handbuch. Weinheim, Basel. Hebert, E. (2011). Was ist Kinderspiritualität? Don Bosco Beiträge zur Religion. Werl  – http://www.donbosco-me­ dien.de/beitrag-190–161/was_ist_kinderspiritualitaet-22

S p i r i t u a l i t ä t a l s ( e i n ) We g d e r We l t e r f a s s u n g

Jorg Hackemann / shutterstock

H i l f t S p i r i t u a l i t ä t i n K r i s e n v o n K i n d e r n u n d J u g e n d l i c h e n ?    3 7

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Organisationen küssen nicht Zur Architektur des »Geistes eines Hauses«

Heribert Gärtner »Ich geh nicht gern ins Krankenhaus. Wenn es aber sein muss, dann in dieses …« Ich hatte vor etwa zwei Jahren einen längeren und intensiven Kon­ takt mit einer Klinik, sowohl als Zugehöriger einer Patientin als auch als Patient. Dort erfuhr ich das, was ich mit dem »Geist eines Hauses« meine. Es war eine aufmerksame, zugewandte und zugleich professionelle Atmosphäre, obwohl es ein großes Krankenhaus der Maximalversorgung war. Das merkte man beim Infotresen, auf den Stationen, im Zimmer, am offenen Wartebereich der Not­ fallambulanz, den sonstigen Ambulanzen und in den Funktionsabteilungen. Es war also kein Abteilungsphänomen. Ich sah einen Chefarzt im Erdgeschoss ein heruntergefallenes Papier auf­ heben; eine Oberärztin sich um einen herumir­ renden Angehörigen kümmern und einen Pfle­ ger einen verängstigten, weinenden Patienten vor dem MRT trösten. Es gab übrigens auch kein Ge­ fühl der Hektik, auch wenn viel los war.

Traf ich dort eine überzufällige Anhäufung netter und kompetenter Leute? Die Menschen, die dort arbeiten, haben unspektakulär den Ein­ druck vermittelt, es gehe wirklich um uns, die Patienten und An- und Zugehörigen; man fühl­ te sich gemeint. Oftmals aber kann man gar nicht genau sagen, woher dieser Eindruck und dieses Gefühl kommen. Über organisationale Muster, den »organisationalen Autopiloten« in uns und wie er zustande kommt Zum Verstehen muss man sich klar machen, dass Organisation noch etwas anderes ist als eine An­ sammlung von Menschen. Sie ist eine Wirklich­ keit eigener Art. Organisation lässt sich nicht nur formal als Aufbau- und Ablauforganisation be­ schreiben oder normativ in dem Sinne, wie wir sie gern hätten und es in Leitbildern, Standards und

So schien es in dem Krankenhaus ein Muster zu sein, Patienten und Angehörige auch außerhalb des engeren Arbeitsbereichs wahrzunehmen. Solche Muster können sich herausbilden und stabilisieren, wenn es entsprechende Erwartungen in Organisationen gibt.

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 38–41, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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Tröpfcheninfektion vergleichbar. In den Aufbau des Autopiloten speist sich das über Erwartungen gesteuerte Regelsystem einer Organisation oder einer Organisationseinheit ein. So erklärt sich, dass einer Station über Jahre das gleiche Image anhaftet, obwohl die Personen wechseln. Wer auf diese Weise nicht lernt, bekommt zumeist Inte­ grationsprobleme. Inhalt und Form solcher Erwartungen können sehr unterschiedlich sein. Erwartungen und das sich daraus entwickelnde Regelsystem sind die Voraussetzungen dafür, dass sich das entwickelt, was man den »Geist eines Hauses« nennen könn­ te. Welcher »Geist« es dann ist, ist eine inhaltliche und kulturelle Frage. Das Grundprogramm des Autopiloten wird durch die Organisation einge­ spielt. Der einzelne Mitarbeiter modelliert dann einen Autopiloten, der seinen spezifischen Fin­ gerabdruck enthält. Hinweise, wie der »Geist eines Hauses« sich verfertigt und wie er lebendig bleibt Ich erfuhr mit der Zeit, dass es in dem oben be­ schriebenen Krankenhaus nicht immer so war. Man hat um das, was mir so selbstverständlich erschien, hart gekämpft. Vor einigen Jahren kam ein neuer Geschäftsführer; auch einige Chefinnen

© Ben Metz

Verfahrensanweisungen dargelegt haben. Wenn wir Organisation sozialwissenschaftlich und zu­ gleich nicht nur normativ denken, entdecken wir, dass Erwartungen und dadurch ausgelöste Ver­ haltensmuster in Organisationen eine große Rol­ le spielen. Dabei denke ich nicht zuerst an jene Erwartungen, die in den genannten Leitbildern, Standards und Verfahrensanweisungen festge­ schrieben sind. Ich denke an jene, die in geron­ nenen Verhaltensmustern und Routinen vollzo­ gen werden. So schien es mir zum Beispiel in dem beschrie­ benen Krankenhaus ein Muster zu sein, Patien­ ten und Angehörige auch außerhalb des enge­ ren Arbeitsbereichs wahrzunehmen. Wenn dies mehrere machen, bekommen die anderen das mit. Solche Muster können sich herausbilden und sta­ bilisieren, wenn es entsprechende Erwartungen in Organisationen gibt. Wenn man Erwartungen sagt, geht es um die praktizierten, also angewand­ ten Spielregeln einer Organisation. Die meisten Leute haben, ohne dass sie es merken, einen un­ sichtbaren Autopiloten ins sich, der ihr Verhal­ ten am Arbeitsplatz beeinflusst und nach solchen Regeln funktioniert. Das individuelle Program­ mieren dieser Verhaltensautopiloten passiert zu­ meist, wenn wir irgendwo neu anfangen, neben­ bei. Es ist der Modus des Erfahrungslernens, einer

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schiedlichkeit an Verhalten zu tun, die in größe­ rer Abhängigkeit zu den Einzelpersonen und den Stationsgewohnheiten steht, bis hin zur Atomi­ sierung. Wenn man das Verhaltensschicksal von Qualitätsmanagementprozessen der zurücklie­ genden Jahre anschaut, entdeckt man neben vie­ len Ordnern und Computerprogrammen nicht automatisch das erhoffte Verhaltenskorrelat bei den Mitarbeitern. Oftmals sind es Papierleichen oder Speisekarten zum Vorzeigen, wenn organi­ sationaler Besuch kommt, etwa zum Zertifizieren. Ich möchte auf drei Reproduktionsbedingun­ gen des »Geistes eines Hauses« hinweisen: • Erwartungen einer Organisation erweisen sich dann als wirkliche Erwartungen, wenn sie die Mitarbeiter erreichen und mitteilen, dass es hier ein »Sollen« gibt. Dass daraus auf Seiten der Leute ein Wollen wird, ist kein Automatismus. Schon gar nicht garantiert dies irgendein Papier, auf dem das erhoffte Gesollte steht. Hierzu braucht es Menschen, die in ihren Überzeugungen mit dem prak­ tizierten und gefühlten Werten der Orga­ nisation übereinstimmen und dies in ihren Interaktionszusammenhängen praktizieren können; das heißt im unmittelbaren Patien­

Der Personalauswahl und der Zusammensetzung der Teams kommt bei der Reproduktion des »Geistes eines Hauses« eine große Bedeutung zu.

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und Chefs in Medizin und Pflege haben in den letzten Jahren gewechselt. Aber das Auswechseln der Leute allein bringt erfahrungsgemäß noch nichts; es hat zu veränderter Entscheidungspro­ duktion geführt. Wer »Geist eines Hauses« sagt, meint zwar et­ was Mentales, das jedoch das Verhalten der Men­ schen praktisch bestimmt und von denen, die he­ reinkommen, erfahren wird. Wenn man »Geist eines Hauses« sagt, dann sind die organisatio­ nalen Erwartungen genügend stark, dass sie von unterschiedlichen Berufsgruppen in verschiede­ nen Leistungsbereichen so praktiziert werden, dass Menschen, die mit dieser Organisation in Berührung kommen, es erfahren und auch füh­ len. Wenn man vom »Geist eines Hauses« redet, dann ist das Verhalten von Mitarbeitern in ihren Interaktionszusammenhängen – mit Patienten, Bewohnern, Angehörigen –, davon, wie man sein will, wirklich infiziert, zumeist ohne dass sie es bewusst ausdrücken können. Dies ist der wirk­ liche Test, und ihn zu bestehen ist nicht selbst­ verständlich. Oftmals ist das Verhalten von Mitarbeiterin­ nen und Mitarbeitern entkoppelt von dem, was die Organisation will, und damit sehr heterogen. Man hat es dann mit einer viel größeren Unter­

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tinnen- und Angehörigenkontakt. Deshalb kommt der Passung von Mitarbeitern und Organisation eine wichtige Rolle zu. Wenn man Probleme bei der Mitarbeiterauswahl hat, weil es beispielsweise zu wenige gibt oder weil man sich nicht genügend Mühe macht hinzuschauen und hinzufühlen, wird dies natürlich schwieriger. Geäußerte Ein­ stellungen der Mitarbeiterinnen und Mit­ arbeiter reichen allein zur Verifikation nicht aus. Es braucht vor allem Beobachtung des­ sen, was die Leute praktisch tun beziehungs­ weise nicht tun; was sie in der arbeitstechni­ schen und der sozialen Seite ihres Berufes tun und lassen. Der Personalauswahl und der Zusammensetzung der Teams kommt deshalb bei der Reproduktion des »Geistes eines Hauses« eine große Bedeutung zu. • Und es hängt auch an den Leitungen. Or­ ganisationale Erwartungen vermitteln sich nicht so sehr über schriftliche Dokumen­ te und darüber Reden (das ist auch wich­ tig), sondern vor allem über das beobach­ tete Tun. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beobachten andere, vor allem Führungsper­ sonen, hinsichtlich ihres Verhaltens und ler­ nen daraus, worauf es ankommt. (Das be­ kommen die Leute mit, wenn ein Chef im Foyer herumliegendes Papier aufhebt und entsorgt.) Sie sehen, was man tun muss, was man getrost lassen kann und was man ab und zu in welchen Kontexten zur Auffüh­ rung bringen muss (zum Beispiel bei Au­ dits oder wenn bei einer Firma Kundenge­ spräche am Telefon aufgenommen werden). Wenn Führungskräfte ihre Mitarbeiter auch beginnen zu beobachten und nachfragen, »warum dies?« und »warum dies nicht?«, verstehen Mitarbeiter ziemlich schnell, auf was vor Ort geschaut wird. Das sind der Anfang und die Chance zur Musterbildung, dass Verhalten sich stabilisiert und auch über die Einzelperson hinweg zum Modell für andere wird.

• Ein dritter Einflussfaktor auf den Repro­ duktionsmechanismus des »Geistes eines Hauses« sind die Betriebsriten und Sym­ bolqualitäten. Es ist zum Beispiel die Art, wie wiederkehrende Besprechungen und Sit­ zungen ablaufen, etwa die Frühbesprechung der Ärzte oder die Chefvisite, die manchmal nicht nur der Krankenversorgung, sondern vor allem der Inszenierung der organisatio­ nalen Hierarchie dient. Auch in welcher Art mit Patienten am Tresen einer Ambulanz umgegangen wird. Durch diese kommu­ nikativen Muster wird gezeigt und vermit­ telt, wie es zugeht, über mögliche Einzel­ schwankungen hinweg. »Organisationen kann man nicht küssen«, schrieb einmal Fritz Simon (1997, S. 14). Sie sind auch nicht »spirituell«, aber sie können in ihrem geleb­ ten Regelwerk potenziell Erwartungen transpor­ tieren, die Verhalten erzeugen, dem man so etwas zuschreibt. Wenn die Erwartungen stark, konkret genug und für die dort Tätigen überzeugend sind, ist es möglich, dass Menschen sie in ihrem Um­ gang mit Patienten, Bewohnerinnen und Klien­ ten auf ihre spezifische Weise (re-)produzieren und sich Muster und Verhaltensprogramme he­ rausbilden. Es besteht die Chance, dass dann auf fast paradoxe Weise jenes merkwürdige Organi­ sationsphänomen zu erleben und zu beobachten ist, welches man den »Geist eines Hauses« nen­ nen könnte. Dr. Heribert W. Gärtner, Professor für Management und Organisationspsycho­ logie am Fachbereich Gesundheitswesen der Katholischen Hochschule NRW und Honorarprofessor für Pflegesystemfor­ schung an der Pflegewissenschaftlichen Fakultät Vallendar. E-Mail: [email protected] Literatur Simon, F. B. (1997). Die Kunst, nicht zu lernen. Und ande­ re Paradoxien in Psychotherapie, Management, Politik … Heidelberg.

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Offenheit und Frische, Mitgefühl und Gelassenheit Aus welcher Haltung berät und therapiert ein im Buddhismus Beheimateter?

Martin Böker Als einer, der sich in der Lehre des Buddha übt, arbeite ich mit meinem eigenen Geist. »Mit dem Geist üben« hat zwei Aspekte: das Üben mit mir selbst, in der formalen »Laborsituation« des Me­ ditationskissens sowie die informelle Übung am Rest des Tages mit mir und meinem Umfeld. Das bedeutet zunächst, dass ich mich mit Konsequenz und Regelmäßigkeit jeden Tag für eine halbe Stunde auf mein Meditationskissen zurückziehe. Die Situation auf dem Kissen hat den Zweck, den Geist zu stabilisieren, zu entspannen und ihn auf diese Weise immer wieder für neue Er­ fahrungsräume zu öffnen. Still werden, inne­ halten, immer wieder die mutige Entscheidung treffen, den eigenen Geist zu beobachten. Me­ ditation ist zunächst auf einen streng reglemen­ tierten Rahmen (etwa im Sitzen oder im Gehen) reduziert. Hier geht es darum, einen natürlichen Zustand zu finden, der offenes Gewahrsein ge­ nannt wird. Stabilität und Geistesruhe werden im buddhistischen Sinne nicht durch Kontrol­ le und Einschränkung von inneren Aktivitäten (etwa Gedanken oder Gefühlen) angestrebt, son­ dern durch freundliches, neugieriges Wahrneh­ men. Geduld und Disziplin helfen dabei. Eine weitere Qualität ist die innere Haltung und Aus­ richtung. Ziel der Übung ist es, einen Zustand natürlicher Gesundheit zu finden, der zunächst durch vielerlei Prägungen und Gewohnheitsmus­ ter verborgen ist. Diese natürliche Gesundheit oder »grundlegende Gutheit« ist die eigentliche Natur unseres Geistes, die sich durch offenes Ge­ wahrsein, Mitgefühl und Weisheit zeigt.

Der Drang, von Dingen zu erfahren, die einem noch unbekannt sind Dieses Erleben von Offenheit verändert sich von Moment zu Moment. Es geht nicht darum, dass ich mir etwas Neues erarbeite, vielmehr geht es darum, die Haltungen und Überzeugungen los­ zulassen, die mich an der Erfahrung von Offen­ heit hindern! Neugierde mir selbst gegenüber wird zu Neugierde gegenüber meiner Umwelt. Anders gesagt: Mitgefühl und Zuneigung (Nächs­ tenliebe) sind aus buddhistischer Sicht natürliche Qualitäten unseres Geistes, die immer schon da waren. Mitgefühl meint das Mitempfinden von Leid und Kummer ebenso wie die Qualität von Mitfreude. Beide Aspekte bieten für mich ein un­ endliches Übungsfeld sowohl im Privatleben als auch in meiner Arbeit. Dem Leiden am Wandel begegnen In der Zeit jenseits des Meditationskissens ist das Ziel der Übung, immer wieder in den Zustand freundlichen Gewahrseins zu finden. Der Weg dazu führt über den achtsamen Umgang mit den eigenen Emotionen. Dabei dreht es sich vor al­ lem um die Muster von Habenwollen oder Ab­ lehnung. Engt mich dieses Gefühl ein, das ich im Moment spüre, oder öffnet es mich? Was erlebe ich dabei von Moment zu Moment? Wenn ich er­ kenne, dass alle Wesen um mich herum ebenso wie ich auf der Suche nach Glück und Zufrieden­ heit sind, so ist es gut, wenn ich mir die Zeit und

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 42–43, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

Das Einstimmen des Geistes Tiefsitzende Gewohnheitsmuster wie etwa die Überzeugung, dass mein Glück oder Unglück von äußeren Bedingungen oder anderen Personen be­ stimmt wird, brauchen Zeit und Übung, um sich langsam zu verändern. Bei diesem immer wieder auch schmerzhaften Wechsel von offenem und geschlossenem Geist sind innere Orientierungs­ punkte ungemein wichtig. So habe ich gelernt, wie hilfreich es ist, wenn ich mich mit guten Wün­ schen auf Situationen des Alltags vorbereitet habe. Ich begegne einem Menschen oder einer Situation anders, wenn ich meinen Geist im Vorfeld posi­ tiv gestimmt habe. Eine weitere Orientierung gibt die Gelassenheit, die sich auf diesem Übungsweg einstellt. Alles ist im Wechsel, nichts bleibt, wie es war. Was mich heute plagt, kann morgen eben­

so weg sein wie das, was mich gestern ent­ zückte. Hat das Einfluss auf meine Arbeit? Ist es vermessen, wenn ich meine, dass meine innere Haltung und mein Gewahr­ sein meine Umwelt beeinflussen? Mein Ziel ist es jedenfalls, in den Begegnungen des Alltags gemeinsam mit meinem Gegenüber Momente der Offenheit und Frische, Mitgefühl und Gelas­ senheit zu finden. Hierzu sind Wahrnehmungs-, Zentrierungs- und Meditationsübungen hilfrei­ che und wichtige Ansätze. Ein Thema für diese Übungen ist etwa der Umgang mit der eigenen Hilflosigkeit in einer palliativen Situation. Oft ge­ nug ist genau das und nichts anderes zu tun: von Moment zu Moment ganz im Hier und Jetzt sein und nicht an Konzepten hängen, wie die Dinge sein sollten. Offen, mitfühlend und gelassen ein­ fach da sein, die Situation gemeinsam erleben und gemeinsam tragen. Dr. Martin Böker studierte Pädagogik und Palliative Care (MAS) in Österreich. In Salzburg leitete er 13 Jahre ein statio­ näres Hospiz. Er praktiziert buddhisti­ sche Meditation seit 35 Jahren, arbeitet als Supervisor sowie als freier Dozent an Pflege- und Fachhochschulen und lebt in Tübingen. E-Mail: [email protected] Websites: www.motiviert.net www.palliativakademie.com

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Aufmerksamkeit nehme, den Wesen zu wünschen, dass sie Glück und Zufriedenheit finden. Wenn ich erkenne, dass alles, was mir in­ nerlich und äußerlich begegnet, sich früher oder später grundlegend verändert oder verschwindet, so kann ich wahrnehmen, wie ich unter diesem Wandel leide. Der Wunsch, dass alle fühlenden Wesen inklusive mir von diesem Leid frei sein und beständiges Glück erlangen mögen, ist eine Hauptquelle buddhistischer Praxis.

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Lernen am Therapeuten Jesus Aus welcher Haltung berät und therapiert eine im weiten Christentum Beheimatete?

Monika Müller

Es jammerte ihn Eine der Geisthaltungen jesuanischen Wirkens ist ein fundamentales Sich-betreffen-Lassen. »Es jammerte ihn«, heißt es im Neuen Testament an etlichen Stellen. Es dünkt mich viel mehr als die oft zitierte Empathie im Rogers’schen Sinn, es scheint ein tiefes Empfinden menschlichen Lei­ des, was hier benannt ist. »Als er ausstieg und die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ih­ nen; denn sie waren wie Schafe, die keinen Hir­ ten haben« (Mk 6,34). In der wörtlichen Überset­

Eine der Geisthaltungen jesuanischen Wirkens ist ein fundamentales Sichbetreffen-Lassen. »Es jammerte ihn«, heißt es im Neuen Testament.

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 44–47, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

James Jacques Joseph Tissot, The Sick Waiting for Jesus to Pass By (ca. 1884‒96) / Brooklyn Museum of Art, New York, USA / Purchased by Public Subscription / Bridgeman Images

Jenseits konfessioneller oder dogmatischer Ein­ bindung interessiert mich Jesus, der Therapeut1. Begegnungen in Begleitung, Beratung und The­ rapie haben mich inspiriert, zaghaft-mutig in die Schule dieses Lehrers zu gehen, um in diesem Arbeitsfeld vertieft Mit-Mensch zu werden. Das hinter der jesuanischen Psychotherapie stehen­ de Menschenbild hat mich überzeugt. Ihm bei aller Kenntnis biblischer Entstehungs- und Aus­ legungsgeschichte vertrauend, glaube ich, die Wirkkraft biblischer Heilungserzählungen zu verstehen.

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zung bedeutet »Mitleid«: Es drehte sich ihm das Herz im Leibe um. Das scheint mir ein sehr plas­ tisches Bild für die Form der Anrührung und des sich Ein- und Berührenlassens. Jesus wehrt nie­ manden ab, selbst in großer Erschöpfung bleibt er den »Mühseligen und Beladenen« verfügbar. Auf der anderen Seite sind seine vielen Rückzü­ ge zu erwähnen, in die Wüste, auf einen Berg, in Einsamkeiten, in der Kraft sammelnden Refle­ xion seiner Bestimmung, welche die Verfügbar­ keit offenbar in eine Aushaltbarkeit und Balance bringen. Auch oder gerade in diesem Nicht-im­ mer-erreichbar-Sein, in der Balance von SichEinbinden und Sich-Abgrenzen ist er mir Vorbild. In die Mitte rufen Immer wieder nähern sich ihm Menschen in gro­ ßer Scheu und in der Sorge, abgewiesen zu wer­ den. Mich berührt es, in der Schrift zu lesen, wie er sich umwendet und sie in die Mitte ruft, sie vor sich hin stellt, so dass alle Umstehenden ihrer an­ sichtig werden. Zu dem mit der verdorrten Hand spricht er: »Tritt hervor«, und zu der schamhaften Frau mit Blutgang wendet er sich um und sieht sie an. Eine andere richtet er auf. Auch die Kin­ der und die Geringgeachteten stellt er in die Mitte. Eindringlicher kann kaum gezeigt werden, wie er einer jeden, einem jeden in des Wortes genauer Bedeutung ein Ansehen gibt. Jemanden wirklich ansehen, mit einem bestimmten Blick umfangen, ist das Wesen von Würdigung. Allein dieses Ge­ schehen in der Person des therapeutisch Bemüh­ ten kann zur Not wendenden Ermutigung im Le­ ben des Klienten werden. Als ein Angesehener kann er Kontakt zur eigenen Wertigkeit, Einzig­ keit und Würde herstellen. Sich berühren lassen und berühren Jesus fasst die Schwiegermutter des Simon bei der Hand, ergreift das Mädchen des Jairus, bei den Blinden rührt er die Augen an, legt dem Tauben die Finger in die Ohren und benetzt die Zunge

des Stummen mit Speichel: eindrückliche archai­ sche Bilder von In-Kontakt-Kommen, in denen mir der Begriff »sich mit jemanden be-fassen« verstehbar wird. Willst du gesund werden? Als Kind und Katechismusschülerin war mir die­ se Frage Jesu ‒ an einen Blinden oder Lahmen ge­ richtet ‒ völlig unverständlich. Natürlich, dachte ich, will jeder Geschädigte sein Augenlicht oder seine Bewegungsmöglichkeiten wieder haben. In der Begleitung habe ich verstehen gelernt, dass Klienten manchmal gar nicht gesund werden wol­ len oder wollen können, bestenfalls gesund gemacht. Eine Frau, die an einer unerklärlichen, extrem heftigen Allergie gegen zahlreiche Stoffe litt, erzählte mir im Rahmen einer Trauerbeglei­ tung, dass ihr verstorbener Partner neben al­ len Werten und Liebenswürdigkeiten eine ihr sehr unangenehme Eigenschaft besessen habe, die sie mit »rücksichtsloser Erotik« umschrieb. Auf meine Frage, wie sie sich denn dazu verhal­ ten habe, sagte sie wörtlich: »Dann kam ja Gott sei Dank meine Krankheit.« Selbst die mehr­ fache Wiederholung dieses Satzes durch mich konnte sie nicht öffnen zu hören, was sie da ge­ sagt hatte. Der Nutzen dieser Erkrankung war zu groß gewesen, als dass sie sich von ihr hätte trennen können. Sie litt zwar unter den Symp­ tomen, diese regelten aber in nahezu wunder­ barer Weise alle Nähe- und Intimgefahren mit anderen Menschen. Etwas in ihr tat kund, was sie zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstel­ lung des psychischen Gleichgewichts für nö­ tig befand, während ihr Tagbewusstsein nichts davon wusste und wissen wollte. Sie musste sich quasi ihrer eigenen Einsicht widersetzen. Ich vermute, dass dem Arzt Jesus bekannt war, dass Gesundung die positiv-kritische Auseinan­ dersetzung mit den aus dem Nicht-Bewussten

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Umkehren So spricht auch der Gelähmte von Bethesda selbstrechtfertigend von »den anderen«, die ihn seit 38 Jahren nicht lassen, ihm nicht helfen, so­ mit seine Heilung verhindern. Der Ausgang der Geschichte  – das Denunziantentum des »Ge­ heilten« und Jesu Verweis – zeigen dann auch, dass er kein im tiefsten Sinne Gewandelter ist. Auch in anderen Heilungsgeschichten lesen wir manchmal den liebevollen Tadel, der durch das ganze neue Testament geht: »Nun kehrt um, be­ müht euch, klopft an, ändert euch, sündigt2 nicht mehr.« Dieses Sündigen ist meines Erachtens

nicht als moralischer Wink zu verstehen, sich an die Gesetze, sprich Gebote, zu halten, sondern der dringliche Hinweis, es nicht bei der Symp­ tombehandlung zu belassen. Es geht vielmehr da­ rum, den Weg und das Ziel, die im Heilen aufge­ blitzt sind, nicht mehr zu verlassen. Hier wird der Mensch in Bewegung gesetzt, hier gibt es nicht eine nette Ermunterung, sondern ein Neuwerden ist gefordert, ein Verstehen der Wahrheit hinter den Symptomen. Diese Wandlung beseitigt das Symptom erst endgültig. Bedeutet dies nicht im Umkehrschluss, dass auch wir Therapeuten und Behandler nicht mit der »Erledigung« vorder­ gründiger Symptome die Begegnung beenden, sondern Wegbegleiter bei der Ziel- und Sinn­ suche bleiben? Wesen und Wirkungsweise von Intuition Warum der Arzt Jesus einem durch das Dach zu ihm herabgelassenen Gelähmten zunächst sei­

Hier wird der Mensch in Bewegung gesetzt, hier ist ein Neuwerden gefordert, ein Verstehen der Wahrheit hinter den Symptomen. Diese Wandlung beseitigt das Symptom erst endgültig.

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Healing of Paralytic at Capernaum / De Agostini Picture Library / A. Dagli Orti / Bridgeman Images

aufsteigenden Kundgaben der Psyche voraus­ setzt, mit dem Abgesunkenen, dem Vergessenen, dem Niedergehaltenen, dem Peinlichen und somit Nichtgelebten. Erst die Entscheidung zur Wahr­ nehmung dessen kann ein erster Schritt zur Ge­ sundung sein.

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ne Sünden vergibt und erst anschließend ein Wort über die nun erfolgende körperliche Hei­ lung spricht, entzieht sich meinem Wissen. Offen­ sichtlich ahnt3/weiß der Heilende in diesem Fall mehr von der Vordringlichkeit der psychischen Belastung oder von der Tatsache, dass das offen­ sichtliche Symptom das zu Tage getretene innere Symptom verkörpert. Intuition ist eine hohe the­ rapeutische Kunst und nicht mit spontanen Ver­ mutungsäußerungen oder Spekulationen zu ver­ wechseln. Sie erwächst aus der Erfahrung, dass wir Menschenwesen trotz aller äußeren Unter­ schiedlichkeiten nicht voneinander getrennt sind, sondern alle in einem großen Bewussten wurzeln. Sie speist sich aus einer Art nichtintellektuellem Bauchwissen, in dem wir alles von- und überei­ nander kennen. Amos Oz schreibt: »dass die Wirklichkeit nicht nur aus dem besteht, was man mit den Augen sehen, mit den Ohren hören oder mit den Fingern fühlen kann, sondern auch aus dem, was Augen und Ohren verborgen bleibt und sich nicht mit Fingern berühren lässt, was sich, manchmal nur für einen Moment, allein dem offenbart, der mit dem geistigen Auge suchen und mit der Seele hören und mit Gedankenfingern fühlen kann« (2007, S. 45). In unserem normalen Alltagsleben aber sind wir von dieser Kenntnis abgeschnitten beziehungs­ weise müssen wir für die Lebenspraktikabilität auch abgeschnitten sein. In diesem oberflächli­ chen Sein brauchen wir die lebenserleichternde Einfachheit der Unterscheidung und des Urteils. In der tieferen Begegnung aber – und diese Tiefe ist eine der wesentlichen Voraussetzungen zum Entdecken der eigenen Vitalität und Heilkraft des Klienten im therapeutischen Setting – lassen wir uns radikal auf den anderen ein, öffnen die Gren­ zen und uns dem Wissen übereinander im Sinne von ein-sichtiger, unmittelbarer, ganzheitlicher Wahrnehmung. Sie steht im Gegensatz zu einem wandernden Beobachten und einem abstrahie­

renden Betrachten und überschreitet kurzzeitig das rationale und dualistische Wissen. Sri Aurobindo beschreibt Intuition als das Gedächtnis von Wahrheit. Sich dieser grundle­ genden Wahrheit anzuschließen und in ihr zu arbeiten, bleibt der ernsthaften Entscheidung des Therapeuten vorbehalten. Diese Entscheidung geschieht nicht durch einen inneren Mausklick, sondern in einem Wachsen über die Erfahrungen, über die gelegentlichen Blitzlichter des Wissens, im tiefen Menschsein verbunden zu sein. Und im Vertrauen, diese Arbeit nicht nur aus sich leisten zu können. Ähnlich wie dieser große Nazarener nicht aus sich die Kraft war, speist sich auch mein Tun aus dem Bezug zu meinem Lebensgrund. Manchmal ist einer dieser hier skizzierten Ge­ danken treue Stärkung in der therapeutischen Be­ gegnung, die immer das Geheimnis Mensch trifft. Monika Müller, M. A., Pädagogin, The­ rapeutin und Supervisorin, war Leiterin von ALPHA Rheinland, der Ansprech­ stelle in NRW zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbeglei­ tung mit Sitz in Bonn. E-Mail: vr-leidfaden@monika­­mueller.com Literatur Oz, A. (2007). Plötzlich tief im Wald. Ein Märchen. Frank­ furt a. M. Sri Aurobindo (2008). Die Synthese des Yoga. 5.  Auflage. Gladenbach. Anmerkungen Ausgehend vom griechischen Wort therapeuein trifft man auf eine Reihe von Bedeutungsaspekten, die zu vergegenwärtigen sich lohnt. Therapeuein heißt ursprünglich »sorgen, pflegen, (be-)dienen«; erst ab dem 18.  Jahrhundert erweiterte sich der Begriff zur medizinischen Pflege und Behandlung. Therapeía ist der Beweis der Hochachtung jemandem gegenüber. Therapontes waren »Diener« im Hause, die aber nicht Knechte waren, sondern freie Leute, die sich freiwillig zu ehrenvoller Dienstleistung unterordneten (vgl. Pape, Wilhelm: Griechisch-deutsches Handwörterbuch in 3 Bänden, Braunschweig, 1849). 2 Der griechische Ausdruck αμαρτια (hamartia) des Neuen Testaments, der dem hebräischen Wort chat’at entspricht, bedeutet »Verfehlen des Ziels« ‒ konkret und im über­ tragenen Sinn. 3 ahnen = etymologisch: an sich heranlassen

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Ich, Du und die »Höchste Instanz« Aus welcher Haltung berät und therapiert ein im Humanismus Beheimateter?

Paul Timmermans In diesem Artikel geht es um die Frage, welchen Einfluss mein Humanist-Sein auf meine Arbeit als Psychotherapeut und Berater hat. Aber zu­ erst: Was ist eigentlich »Humanistische Psycho­ therapie/Beratung«? In der Humanistischen Psychotherapie/Bera­ tung steht im Mittelpunkt, was beim Menschen spezifisch menschlich ist. Der Mensch wird in sei­ ner bio-psycho-sozialen Ganzheit gesehen. Der Mensch allein trägt die für die Befreiung aus dem psychischen Leid erforderlichen Ressour­ cen in sich. Der Mensch wird als etwas Ver-Kör­ pertes gesehen. Daher ist die psychotherapeuti­ sche Arbeit mit dem Körper (zum Beispiel dem Körpererleben und/oder dem Körperausdruck) ein zentraler Aspekt der Humanistischen Psy­ chotherapie. Im Fokus des Prozesses steht das unmittelba­ re Erleben des Patienten im Hier und Jetzt vor dem Hintergrund seiner biografischen und so­ zialen Bezüge. Existiert Gott? Die letzten Fragen der Psychotherapie sind Fra­ gen an die höchste Instanz, meinte C. G. Jung einmal. Aber wer oder was ist für mich als Hu­ manist diese »höchste Instanz« eigentlich? Und wo finde ich sie – oder es oder ihn? Meinte Jung damit »Gott«? Unter Theologen ist es keine Neuigkeit, dass Gott nicht existiert. Gott existiert nicht auf die Weise, wie ein Stuhl existiert. Ein Atheist ver­ neint die Existenz eines »theistischen Gottes«:

ein allmächtiges, allwissendes, überall präsentes, personenartiges Wesen. Für den Atheisten ist da Schluss, für einen religiösen Menschen fängt es dort erst an: Gott existiert nicht? Ja und dann? Gibt es dann noch etwas zu glauben? Kann man denn glauben an einen Gott, der nicht existiert, so wie ich existiere? Jeden Tag erlebt jeder Mensch viel: Du wirst fast auf deinem Fahrrad überfahren, du be­ kommst ein unerwartetes Kompliment, du siehst einen Film. Das alles sind Ereignisse, aber erst wenn sie dich berühren, werden sie zu Erfah­ rungen. Silvia hat sehr früh gelernt, dass für sie nur Beziehungen möglich sind, worin sie die Sor­ gende ist, und dass nur sie selbst gut für sich sorgen kann. Sie hat gelernt, wie sie sich nicht fühlen soll und dass sie sich exklusiv auf die Bedürfnisse der Versorger richten soll, um de­ ren Liebe nicht zu verlieren. In extremem Maß geht es immer und ausschließlich um den/die Anderen. Es ist ihr unmöglich, bestimmte Be­ dürfnisse zu erfahren und Gefühle auszudrü­ cken. Nach vielen Monaten harter Arbeit durfte ich ihre Hand festhalten, festhalten und fest­ halten … Die Hand gehalten zu bekommen wurde für sie eine sehr berührende Erfahrung. Das erste Mal konnte sie fremde Sorge anneh­ men. In dem Maße, in dem es dir gelingt, aus den Ereig­ nissen Erfahrungen zu machen, wird es dir gelin­

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gen, dich selbst als gläubig zu sehen. Ein starkes Gefühl von Gewissheit und Vertrauen vor aller Reflexion, das ist Glauben. Damit möchte ich sa­ gen, dass der Glaube mehr zu tun hat mit dem Leben als mit Auffassungen und Konzepten. Der Glaube des Nicht-Gottgläubigen ist das Vertrau­ en in Erfahrungen. Du hast zwar keinen Glauben im Sinne einer dogmatischen Lehre, aber du bist oder lebst gläubig. Glauben hat darum nicht an erster Stelle et­ was mit Religion zu tun. Das Wort »Religion« legt eher einen Glaubensinhalt fest, es ist nicht frei von bestimmten Assoziationen wie dem Bild eines Gottes, dem man dienen soll. Außerdem suggeriert »Religion«, dass Glauben ein Gebiet ist, das nur für diejenigen zugänglich ist, die das Wort Gottes leben. Aber glauben kann man auch ohne das Wort Gottes, es geht darum, was unter dem Wort an Erfahrungen liegt. Religionen offerieren für die­ se Erfahrungen ein bestimmtes Repertoire an Deutungen, die es für Atheisten aber nicht zwin­ gend braucht. Sie halten diese Deutungen für Il­ lusion. Was wir brauchen, ist eine Auseinander­ setzung über die Deutung von Erfahrungen, die wir teilen. Wie unabhängig bist du? Unser Zeitgeist stellt den Menschen als ein auto­ nomes, unabhängiges Individuum dar, das selbst Verantwortung trägt, an dem Prozess mitzuwir­ ken, der ein erfolgreiches Leben verspricht. Ich nenne das »unerwachsene Unabhängigkeit«. Oder einfach Unsinn. Jeder Mensch ist abhän­ gig von anderen Menschen und von Lebensum­ ständen, die unberechenbar sind. Das Leben ist oft nur zu einem Teil machbar, es ist vor allem sehr fragil. Es kommt so, wie es kommt, die Tra­ gik liegt immer auf der Lauer, und es existiert kein Gott, der die Menschen behütet vor Misserfolgen, Enttäuschungen und Trauer. Glauben an einen Gott, der dich schützt – und andere Menschen nicht –, nenne ich »unerwachsene Abhängigkeit«.

Eine gläubige Lebenshaltung findet ein Mensch nicht von allein. Zuerst müssen viele Vorurteile verschwinden, allen voran Voreingenommenheit, Obsession und Selbstüberschätzung, um zu er­ kennen, was jeder Mensch in seinem tiefsten In­ neren schon weiß, aber oftmals nicht wissen will. Das Leben ist kein eigenes Fabrikat. Du hast we­ der dich selbst geschaffen noch die Menschen, die du liebst. Dies zu wissen, nenne ich »erwachse­ ne Abhängigkeit«. Einen Schritt weiter, und du realisierst, dass du nicht die/der Einzige bist, dass andere Men­ schen genauso abhängig sind und dass du ohne Verbindung zu den anderen Menschen nicht le­ ben kannst. Eigentlich bist du dann schon gläu­ big oder ein religiöser Mensch, denn wortwört­ lich bedeutet das lateinische religio nichts anderes als Verbindung. Vertraust du? Vertrauen oder Glauben, ob in dich selbst oder in andere, kann nur eine Basis finden, wenn sie auf Erfahrung beruhen. Auch wenn du vieles anneh­ men musstest, solange es nicht Teil von dir gewor­ den ist, ist es kein Glaube. Glauben auf Kommando oder wegen der Au­ torität anderer ist kein Glauben. In diesem Fall glauben andere für dich. Vertrauen baut man Schritt für Schritt auf, es zeigt sich, wenn du wagst zu vertrauen. Erst wenn du entdeckt hast, dass der Andere verlässlich ist, schenkst du ihm Glauben. Dies macht abhän­ gig: Es gibt keine Garantien und du kannst ent­ täuscht werden. Dieser Prozess ist nur teilweise rational. Es ist auch nicht kontrollierbar: Du vertraust jeman­ dem oder du vertraust ihm nicht. Darum ist es auch so schwierig, über Glauben zu diskutieren. Die Frage, inwiefern sich jemand dafür entschei­ det zu glauben, ist also äußerst kompliziert. Ent­ scheidest du dich dafür, jemandem zu vertrau­ en? Ich neige dazu zu sagen: »Du kannst dich dafür entscheiden, es nicht zu tun!« So wie du

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5 0   Pa u l T i m m e r m a n s

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Wenn du Gott suchst, solltest du bei Menschen sein. Es kann sich also nicht um Gott handeln, wenn es sich nicht um Menschen handelt.

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dich dafür entscheiden kannst, keine neue Be­ ziehung mehr anzufangen, um so keinen Tren­ nungsschmerz zu riskieren. Glauben heißt für mich, diese Entscheidung dagegen nicht zu fäl­ len, sondern treu zu bleiben dem, was du gese­ hen hast: dass das Leben es trotz allem gut meint. Und Gott? Kannst du dich für ihn entschei­ den? Gott kann das Wort sein, mit dem du auf die Erfahrungen verweist, die dein Vertrauen be­ stätigt haben. Das Wort »Gott« Für manche ist das Wort »Gott« so beladen mit negativen Assoziationen, dass sie es ad acta ge­ legt haben und es nur noch als Fluch benutzen. Andere verweisen mit diesem Wort auf ein Ge­ heimnis in oder jenseits der Wirklichkeit und wieder andere kennen das Wort gar nicht. Wer das Wort »Gott« benutzt, sagt nicht selbstver­ ständlich etwas über Gott, sondern nur etwas über seinen Gott. Aber du hast das Wort nicht selbst erfunden; die Sprache ist dir vermittelt worden – wie auch den anderen Menschen. Das Wort »Gott« ist mit dir mitgegangen und unterwegs ist es dein Wort geworden. Die Bibel benutzt für Gott, vielleicht nicht zu­ fällig, das Bild, dass Gottes Wort mit den Men­ schen mit zieht. »Geht nur, und dann werde Ich da sein, Ich ziehe mit euch in die Wüste, in das Leben hinein« (Exodus 3). Gott ist ein Arbeitswort. Er verweist auf dei­ nen Seinszustand. Darum kann man nicht sagen, dass Gott existiert, aber dass Gott geschieht oder geschehen kann. Und wenn Gott geschieht, dann geschieht das nicht ohne Menschen, und wenn Menschen nicht selbst handeln, kann auch kein Gott für sie handeln. Es geht auch in der Bibel nie um Gott an sich. Wenn das Wort »Gott« be­ nutzt wird, sind immer Menschen involviert. Je­ sus wurde bestimmt nicht ohne Grund »Imma­ nuel« genannt – »Gott mit uns«. Genauer geht es fast nicht: Wenn du Gott suchst, solltest du

bei Menschen sein. Es kann sich also nicht um Gott handeln, wenn es sich nicht um Menschen handelt. Alle Religionen finden ihren Ursprung in den großen Lebensfragen von Geburt und Tod, von Sinn und Leiden, von Liebe und Enttäuschung. Weiter müssen und brauchen sie nicht zu kom­ men. Wir wissen mittlerweile, dass Glauben nichts damit zu tun hat, Antworten zu bekom­ men. Die Fragen, die das Leben offen lässt, sind auch mit Hilfe von Gott nicht zu beantworten. In der Deutung von einem Tsunami oder einem Tumor sollte der Theologe den Mund halten. Le­ bensfragen können nur gelebt werden. Begriffe, die dazu passen, sind eher suchend und tastend als bestätigend. Darum ist Glauben auch immer umrandet mit Nicht-Wissen. Am Ende gibt man sich hin an etwas NichtGreifbares. Und an die Hoffnung und das Ver­ trauen, dass das nicht umsonst ist. Dass man das Leben damit bewältigen wird. Und am Ende auch den Tod. Ja, es gibt eine höchste Instanz: Du und Ich. Paul Timmermans ist Psychotherapeut, Berater, Coach, Prozessbegleiter, Trai­ ner und Inhaber von PMD Personality and Management Development. Er arbei­ tet in den Bereichen Persönlichkeitsent­ wicklung, Führung, Personal- und Orga­ nisationsentwicklung, Kommunikation. E-Mail: [email protected]

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Die Leere danach … Therapeutische und/oder spirituelle Begleitung

Holger Faßbinder »Ich bin jetzt so gern bei den Nonnen im Kloster, da werde ich ganz ruhig und still. Ist das normal? Meine Tochter meint, ich solle das hier in der Therapie mal ansprechen, ich solle wieder ›die Alte‹ werden, aber ich werde nicht mehr die, die ich mal war. So wird es nie wieder sein.« Zweierlei Leid Psychotherapie und Spiritualität gehen von unter­ schiedlichen Formen von Leid aus. In der Psy­ chotherapie geht es, verkürzt gesagt, um die Ent­ wicklung und Stärkung eines subjektiven und sexuellen Selbst (das heißt die Entwicklung von Selbstkonstanz, Selbstbewusstsein, Liebesfähig­ keit, sexuellem Begehren), das in unterschiedli­ cher Weise gestört oder gehemmt sein mag. Die Spiritualität sieht hingegen die Ursache des Leidens gerade in der Anhaftung und steti­ gen Suche nach einem festen Selbst, das in die­ ser Weise letztlich nicht existiert. Dieser Anhaf­ tung geht das Verlangen voraus, einerseits nach Lust, Befriedigung und Erfüllung, andererseits nach Existenz, was wir analytisch als narzissti­ sches Streben bezeichnen würden. Unser steti­ ges Bestreben nach Wunscherfüllung, Sicherheit, Vermeidung von Schmerz, ausgelöst durch eine Gier als einer Suche nach dem »Wohlfühlglück«, lässt zum einen den Geist nicht ruhen, den Au­ genblick nicht wahrnehmen und genießen. Zum anderen versucht er eine Kontinuität und Festig­ keit des Selbst und der Erfahrung aufzubauen, die einer Sisyphusarbeit gleichkommt, sozusagen dem Versuch, eine flüssige Erfahrung, die uns in jedem Moment aus den Fingern rinnt, festzuhal­

ten, was nicht gelingen kann. Wird man frei von dieser Anhaftung, kann, was der Buddhismus das große Herz (great heart/big mind) nennt, erfahr­ bar werden, ein Herz, das sich allem unvoreinge­ nommen öffnen kann, vulnerabel, empfindsam und weit. Das Erleben entspricht einer tiefen Ver­ bundenheit und Intimität mit allem, einer Erfah­ rung des Alleinsseins, das alles einschließt, häufig auch der Erfahrung einer tiefen, endlosen, objek­ tiven Liebe. Objektiv hier in Abgrenzung zu sub­ jektiv und auf sich selbst bezogen. In der Spiritualität geht es um die Realisierung des Nicht-Selbst oder des Großen Selbst, das die Selbstobjektivierung und das damit verbundene Leiden überwindet, setzt dabei jedoch ein funk­ tionierendes Ich in gewisser Weise voraus. Die Prä-Trans-Verwechslung Menschen in Trauer durchlaufen sowohl regres­ sive Prozesse als auch gegebenenfalls »kreative Brüche« in ihrer Identität. Für den Therapeuten oder Seelsorger ist es daher wichtig, ein gewisses Verständnis der zuvor erlangten psychischen In­ tegrität und des Strukturniveaus zu gewinnen, um auch bei Überlappung beider Prozesse sich den­ noch genauer zu orientieren und weder die regres­ sive noch die spirituelle Bewegung zu bevorzugen. An dieser Stelle sei ein kleiner Exkurs erlaubt, der vielleicht eine Ursache vieler Verwirrungen hinsichtlich der Verwechslung von Regression, dem Wunsch nach einer Rückkehr zur frühen symbiotischen Beziehung mit der Mutter, und einer erwachsenen religiösen Suche klären mag. So auch den Unterschied zwischen Schwäche des Ichs, Störungen der Struktur, Noch-nicht-Errei­

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 52–57, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

Wassily Kandinsky, Intermingling (1928) / Private Collection / Photo © Lefevre Fine Art Ltd., London / Bridgeman Images

In der Spiritualität geht es um die Realisierung des Nicht-Selbst oder des Großen Selbst, das die Selbstobjektivierung und das damit verbundene Leiden überwindet.

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zu interpretieren sowie von prärationalen Phäno­ menen unterscheiden zu können. Trotzdem wer­ den der ursprüngliche Zustand der Kindheit und die Reife der Weisheit ‒ nicht zuletzt aufgrund des Bibelwortes ›… werdet wie die Kinder …‹ immer wieder verwechselt, was auf eine mangelnden Dif­ ferenzierung der prä- und transrationalen Ebe­ nen zurückzuführen ist« (Wilber 1996, S. 205 f.). Er unterscheidet weiter, dass diese Verwechslung zu Denkfehlern zweierlei Typus führt. Durch den einen werden echte mystische oder kontempla­ tive Erfahrungen zum Beispiel »als Regression zu infantilem Narzißmus, ozeanischem Dualis­ mus oder sogar primitivem Autismus gedeutet. Diesen Weg nahm beispielsweise Freud in ›Die

Olga Sabarova / shutterstock.com

chen der Selbst-Objekt-Differenzierung auf der einen Seite und der Realisierung des Nicht-Selbst, einer Transzendenz des Selbst, der Möglichkeit eines nichtdiskursiven Erfassens auf der ande­ ren Seite. Der Religionsphilosoph Ken Wilber bezeich­ net dieses Phänomen als Prä-Trans-Verwechs­ lung: »Ein Weiser ist einem Kind nur ähnlich, er ist aber kein Kind! Während letzteres noch gar kein mentales Ich entwickelt hat, verfügt der wei­ se Mensch über das gesamte Spektrum der ratio­ nalen Fähigkeiten, identifiziert sich aber nicht mehr damit, wie es noch der reife Erwachsene tut, daher ist er in der Lage, transrationale Erkennt­ nisse unverzerrt wahrzunehmen und angemessen

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Zukunft einer Illusion‹. Ist man andererseits für höhere und mystische Zustände aufgeschlossen, verwechselt aber trotzdem prä und trans, dann wird man alles prärationale, Infantile zu trans­ rationaler Glorie erheben oder elevieren wollen, indem man zum Beispiel den infantilen primä­ ren Narzißmus als unbewußtes Schlummern der Unio mystica auffaßt. Jung und seine Nachfolger haben häufig diesen Weg beschritten und müssen tiefe Spiritualität in lediglich undissoziierte und undifferenzierte Zustände hineinlesen, denen es an jeglicher Integration mangelt« (Wilber 1996, S. 259 f.). Der Leere neu begegnen Um dieser Öffnung ins Unbekannte nicht nur mit Furcht, Abwehr oder aber schnellen Ant­ worten zu begegnen, müssen wir zunächst mit ihr Freundschaft schließen und sie auch ein we­ nig tiefer verstehen. Während wir in wechseln­ den Schichten zunächst unterschiedlichen For­ men von psychologischer Leere begegnen – der Leere des Verlusts des geliebten Objekts, der Lee­ re von Sinn angesichts des Verlusts geliebter oder vertrauter Abläufe, der narzisstischen Leere und inneren Öde angesichts des Verlusts spiegelnder und idealisierender innerer Objektbeziehungen, so öffnet sich, wenn wir diesen nicht ausweichen, eine weitere Leere, die das Loch nicht zu schlie­ ßen vermag – im Gegenteil, eine Leere, die uns tiefer und tiefer auf das Meer hinauszieht und gleichzeitig sich in allen Dimensionen in uns aus­ breitet. Diese Leere ist so leer, dass sie alle in­ nere Beschäftigung wie ein schwarzes Loch auf­ saugt und in eine tiefe Stille taucht, alles scheint zur Ruhe zu kommen, alles scheint zu schweigen. Um es ganz einfach zu sagen: Wenn wir den Anderen als Objekt verlieren, bietet es auch die Chance, die Notwendigkeit der inneren Anwe­ senheit eines Objekts neu infrage zu stellen. Aus der psychologischen Perspektive gilt die Verin­ nerlichung/Introjektion eines guten Objekts als Voraussetzung für psychische Stabilität, dennoch

ist es genau diese, die die Einswerdung mit der Erfahrung verhindert und uns damit – bis auf Ausnahmen – in eine Welt der Dualität sperrt. Die Abwesenheit des Anderen, die innere psychi­ sche Leerstelle, die durch den Verlust schmerzhaft fühlbar wird, kann zu einem Tor werden in eine objektlose nonduale Erfahrungswelt. Diese Erfahrungen der Leere bilden nach An­ sicht des Buddhismus die wahre Identität, eine Freiheit von Identifikation, die es ermöglicht, die Dinge unabhängig von den eigenen Prägungen und Objektbeziehungen in ihrer eigenen Quali­ tät wahrzunehmen. Es ist sozusagen eine »Leere danach«, nach der Psyche aus dem Blickpunkt der Entwicklung gesehen. In diesem spiegelt sich et­ was wider, was Kleist in seinem Essay »Über das Marionettentheater« (1810/1980, S. 12) sinnge­ mäß so beschreibt: Wir müssen erst einmal um die ganze Welt reisen, um von hinten wieder ins Paradies zu gelangen. Sozusagen eine Reise von der Unbewusstheit zur Bewusstheit und wieder in die Un-Bewusstheit. Oder aber in der Sprache des Zen: Erst war ein Berg ein Berg, ein Baum ein Baum und ein Tal ein Tal. Dann war ein Berg kein Berg mehr, ein Baum kein Baum mehr und ein Tal kein Tal mehr. Dann war ein Berg wieder ein Berg, ein Tal ein Tal und ein Baum ein Baum. Der Psychoanalytiker Lutz Gero Leky be­ schreibt in seinem Artikel »Forever silent. Dia­ log zwischen Psychoanalyse und Zen?« (2012) eindrucksvoll seine Erfahrungen mit der Leere, die ich hier zitieren möchte. »Dafür verspürte ich die anorganische Ruhe der Wand und des Fuß­ bodens auch im Körper. Diese Stille verband In­ nen und Außen. Jetzt saß ich mit mehr innerer Leichtigkeit, sogar Helligkeit und durch die Ver­ bindung der Stille mit allem, was wahrnehmbar ist, in einer gewissen Weite.« Später: »Die wei­ tere Meditation führte in einen unangenehmen Zustand: das Erleben der Stille nahm zu, tags­ über wie nachts; wo ich hinsah, bestand eigent­ lich alles aus Stille, sie war auch zu hören, auch ein Schrei besteht aus Stille, nur eben laut ge­ worden, aufgebrochen. Sie ist nicht zu verwech­

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seln mit der Ruhe, in der man sich zum Schlafen legt. Sie existiert nicht, sondern ist grundsätzlich, nicht nur ständig im Hintergrund, sondern grenzenlos in al­ lem, was da ist. Im Buddhismus spricht man von Leere, aber da sie erfahrbar ist, voll, wie auf Eis gelegte Dynamik, Potenzialität, ziehe ich das Wort Stille vor.« Oder in den Worten von Osho/Bhag­ wan Shree Rajneesh: »Die Leere ist in dem Sinn leer, dass dann nichts von einem übrig ist; aber in einem anderen Sinn ist die Leere nicht leer, weil das Ganze sich in ihr niederlassen wird – die Leere wird das vollkommenste, erfüll­ teste Phänomen überhaupt. Wenn man nicht ist, dann strömt die ganze Existenz in einen hinein. Wenn der Tropfen ver­ schwindet, wird er der Ozean« (Bhag­ wan Shree Rajneesh 1976, S. 66). Die Haltung des Therapeuten, Seelsorgers oder Freundes Um einen Menschen in Phasen wesent­ licher Veränderung zu begleiten, ist es hilfreich, sozusagen optimale Wachs­ tumsbedingungen zu schaffen. Wie se­ hen diese aber aus? Sie sehen so aus, dass der Therapeut versucht, ein absolut konkordant-reso­ nantes und konfliktfreies Beziehungs­ feld zu schaffen. Nur im Rahmen solcher tiefer, regressiver Übereinstimmungs­ zustände kann Urvertrauen wachsen und Neues gefunden/erfunden wer­ den. Um so eine resonant-konkordante Einheitswirklichkeit herstellen zu kön­ nen, muss der Therapeut aber im Lau­ fe seiner Arbeit eine besondere Diszi­ plin erlernen, die sich vor allem um die Entwicklung zweier Grundfähigkeiten bemüht: Zum einen muss er sich eine so genannte negative Fähigkeit aneig­

nen, die besagt, dass er während seiner Arbeit völlig frei sein sollte von allem Erinnern, Wünschen und sogar von je­ der Form des Verstehenwollens. »With­ out memo­ry, desire or understanding« (Bion 1997). Wir können als Mensch wie auch als Therapeut nicht wissend dem Unbekannten begegnen, Erkenntnis kann sich in diesem Sinne nur ereignen in dem Wagnis, ungeschützt und entde­ ckend mit dem Patienten oder Klienten auf die Reise zu gehen. Dies erfordert Mut, Neugierde, Mitgefühl und eine gewisse Beharrlichkeit, um den wider­ strebenden psychischen Kräften zu be­ gegnen. Und natürlich ganz wesentlich Präsenz, die Fähigkeit, ganz im Hier und Jetzt erfahrend zu sein. Die negative Fähigkeit ist im Grun­ de eine Radikalisierung von Freuds »gleichschwebender Aufmerksamkeit«; gleichsam eine »Abstinenz zweiter Ord­ nung«, wie es Loch (1999) nannte. Nur dann, wenn der Therapeut über diese selbstdisziplinierte negative Fähigkeit verfügt, kann er die Kluft zwischen der phänomenalen und der transzendenten Welt überbrücken und in direkten intui­ tiven Kontakt mit dem Wesen des Ande­ ren treten. Je besser es ihm gelingt, mit dem Patienten ein mediales Koinzidenz-, Kongruenz- und Konkordanzerleben herzustellen, desto eher wird ihm auch ein unmittelbares Inne- und Gewahr­ werden dessen möglich, was sich aus der Leere heraus aktualisieren möchte. Idea­ lerweise sollte der Therapeut selbst mit der Leere in Kontakt sein beziehungs­ weise diese selbst sein, um in dieser Prä­ senz dem Patienten eine Brücke in ein anderes Erleben zu bauen. Zum anderen ist es wichtig, wenn man mit der Leere, der Potenzialität oder wahren Natur in Kontakt kom­

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men will, dass man an deren Existenz glaubt. Statt Wünschen, Erinnern und Verstehenwollen sollte sich der Therapeut um einen geistig-emotiona­ len Zustand bemühen, der einem Akt des Glau­ bens möglich nahe kommt, einem Glauben, dass es eine letzte Realität, Wahrheit, das Unbekannte, eben diese Leere auch gibt. Dieser Glaube ist in seinem Kern kein religiöser, sondern ein wissen­ schaftlicher Glaube, weil er sich ja zum einen auf die absolute Wirklichkeit selbst bezieht und zum anderen mit der ganzen Unsicherheit und Unge­ wissheit des wissenschaftlichen Forschens ver­ bunden ist, die es bei der therapeutischen Arbeit zu ertragen gilt. Beide zusammen, die negative Fä­ higkeit und der wissenschaftliche Glaube, begrün­ den nun nach Bion das, was ich einen therapeutisch qualifizierten Intuitionismus nennen möchte.

Diese Leere ist so leer, dass sie alle innere Beschäftigung wie ein schwarzes Loch aufsaugt und in eine tiefe Stille taucht, alles scheint zur Ruhe zu kommen, alles scheint zu schweigen.

Dr. Holger Faßbinder ist Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und Psy­ choanalytiker der DPV und arbeitet in eigener Praxis in Remagen. Seit 14 Jah­ ren ist er in der Ridhwan-Schule nach A. H. Almaas, einem zeitgenössischen spirituellen Lehrer. Sein Interesse gilt der Integration von Psychotherapie und Spiritualität über Einzel-, Gruppen- und Seminararbeit. E-Mail: [email protected] Literatur

© Lukas Radbruch

Bhagwan Shree Rajneesh: (1976) Only one sky. New York Almaas, A. H. (1997). Essenz: Der diamantene Weg zur in­ neren Verwirklichung. Freiamt im Schwarzwald. Bion, W. R. (1997). Lernen durch Erfahrung. 2.  Auflage. Frankfurt a. M. Freud, S. (1927). Die Zukunft einer Illusion. Gesammelte Werke, Band XIV (S. 325–380). Frankfurt a. M. Haas, J.-P. (2013). Vom unbewussten Es zum unendlichen O. Bions Beitrag zu einer psychoanalytischen Feld- und Pro­ zesstheorie. Vortrag MIP Halle. Kleist, H. von (1810/1980). Über das Marionettentheater. Aufsätze und Anekdoten. Frankfurt a. M. Leky, Lutz G. (2012). For ever silent. Dialog zwischen Psy­ choanalyse und Zen? In: Psyche – Zeitschrift für Psycho­ analyse und ihre Anwendungen, 12, 66, S. 1139–1160. Loch, W. (1999). Die Krankheitslehre der Psychoanalyse. 6., vollst. überarb. und erw. Aufl. Stuttgart. Weischede, G., Zwiebel, R. (2009). Neurose und Erleuch­ tung. Anfängergeist in Zen und Psychoanalyse. Ein Dia­ log. Stuttgart. Wilber, K. (1996). Eros, Kosmos, Logos. Eine Vision an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend. Frankfurt a. M.

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Ist Spiritualität überhaupt eine ärztliche Aufgabe? Lukas Radbruch »Von zwei Ärzten ist der der bessere, der sich der Physik des menschlichen Körpers widmet und solche Hirngespinste wie die der Seele außer Acht lässt.« (Julien Offray de La Mettrie: L’homme machine, 1748) Arzt als Fachmann für den Körper? In der Musterberufsordnung der Bundesärz­ tekammer1 werden die ärztlichen Aufgaben in Deutschland wie folgt definiert: »Aufgabe der Ärztinnen und Ärzte ist es, das Leben zu erhal­ ten, die Gesundheit zu schützen und wiederher­ zustellen, Leiden zu lindern, Sterbenden Beistand zu leisten und an der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen im Hinblick auf ihre Bedeu­ tung für die Gesundheit der Menschen mitzu­ wirken.« Begriffe wie Spiritualität oder Seelsorge sind in der Musterberufsordnung nicht zu finden. Kann Spiritualität also eine ärztliche Aufgabe sein? Sollte sich der Arzt nicht vielmehr auf den körperlichen Zustand des Patienten konzentrie­ ren, auf die Symptome und die Ergebnisse der Untersuchungen, mithin also auf die objektiven und objektivierbaren Befunde, die er dann auch mit den medizinischen Interventionen beeinflus­ sen kann? Und Psyche und Spiritualität den Fach­ leuten überlassen, also den Psychotherapeuten und Seelsorgern? Das setzt aber voraus, dass Körper und Seele voneinander unabhängig behandelt werden kön­ nen und der Körper wirklich mehr wie von de La Mettrie als eine Maschine betrachtet wird, die ge­ wartet und bei Bedarf repariert wird. Auch wenn es durchaus viele Ärzte gibt, die genau diese Ein­ stellung mehr oder weniger bewusst vertreten, weisen doch im Gegensatz dazu so viele Erfah­

rungen in der Medizin (wie zum Beispiel die Wir­ kung von Placebos) darauf hin, wie eng Körper und Seele zusammenhängen. In der Palliativme­ dizin gibt es den Begriff des »totalen Schmerzes«: Neben der körperlichen Dimension (der soge­ nannten Nozizeption) gibt es auch einen psychi­ schen, sozialen und einen seelischen Schmerz, und bei jedem Patienten sind alle diese Dimen­ sionen beteiligt, wenn auch vielleicht in unter­ schiedlichem Ausmaß. Als Arzt kann ich immer wieder spirituellen Fragen begegnen. Bei der Visite auf der Pallia­ tivstation sah ich auf dem Nachttisch einer Pa­ tientin eine Postkarte mit einem Bild von Hie­ ronymus Bosch: »Aufstieg in das himmlische Paradies«, in dem ein Lichttunnel abgebildet ist, wie er auch oft von Menschen nach einem Nah­ toderlebnis geschildert wird. Als ich das Bild an­ sehe, sagt der Ehemann, dass für die Patientin diese Vorstellung sehr tröstlich sei, da man ja von diesen Schilderungen ungefähr wisse, was beim Sterben passieren würde. Und was ich denn da­ von halten würde? Wie gehe ich als Arzt mit einer solchen Fra­ ge um? Verweise ich auf den Seelsorger als Fach­ mann für solche Fragen? Oder traue ich mich, eine persönliche Antwort zu geben, und lasse ich mich auf ein Gespräch ein über die Gefühle der Patientin, die bei der Frage des Ehemannes im Hintergrund mitschwingen? Tatsächlich ergab sich in diesem Fall ein Gespräch über ihre Angst vor dem Tod, und die Patientin konnte Fragen über das Sterben stellen, die sie vorher nicht aus­ zusprechen gewagt hatte. Leider wird mittlerweile der Arzt oft nur als Fachmann für die körperlichen Aspekte gesehen, sowohl von den Ärzten selbst wie auch von den

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 58–62, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

Wilhelm Morgner, Sitzende Figur (1909) Photo © Christie’s Images / Bridgeman Images

Neben der körperlichen Dimension gibt es auch einen psychischen, sozialen und einen seelischen Schmerz, und bei jedem Patienten sind alle diese Dimensionen beteiligt.

© Norbert Spang

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behandelten Patienten und ihren Angehörigen. Patienten erzählen dem Arzt nur die körperli­ chen Beschwerden und wenig darüber hinaus, weil sie davon ausgehen, dass der Arzt gar nicht mehr hören möchte. Trotzdem starten Patienten ab und zu einen Versuchsballon, eine vorsichtige Frage, die über das Körperliche hinausgeht. Geht der Arzt darauf ein, kann sich der Patient weiter vortasten und nun mit wachsendem Vertrauen auch Fragen und Probleme außerhalb der rein somatischen Ebene ansprechen. Vor allem in Krisensituationen wie zum Bei­ spiel bei lebensbedrohlichen Erkrankungen ist diese Öffnung für die Themen außerhalb der kör­ perlichen Dimension sehr wichtig, weil dadurch verständlich werden kann, warum ein Patient be­ stimmte Behandlungsmaßnahmen ablehnt oder einfordern möchte. Die spirituellen Einstellun­ gen und Überzeugungen prägen die Vorstellun­ gen, was Gesundheit oder ein würdevolles Leben ist. In der Palliativmedizin ist zum Beispiel die

Vorstellung von einem »guten Tod« wesentlich vom eigenen spirituellen Hintergrund geprägt. Im Unterricht bei Ärzten oder Pflegepersonal, noch häufiger bei jungen Gruppen mit Schülern oder Studenten, wird in diesem Zusammenhang oft eine epikureische Einstellung zum Tod berichtet (»mit dem Tod ist alles aus«), und gleichzeitig ist die vorherrschende Vorstellung von einem guten Tod der »Sekundentod«: aus vollem Wohlbefin­ den plötzlich tot umfallen. Es ist ja nur konse­ quent, dass, wenn es kein Jenseits nach dem Tod gibt, dann eine Vorbereitungszeit auf den Tod nicht sinnvoll oder gar notwendig ist. Diese Vor­ stellungen und Einstellungen beeinflussen aber wiederum die Erwartungen, die die behandelten Patienten an den Arzt richten. Selbst wenn der Patient nicht mit dem Arzt über seine Spiritualität sprechen möchte, lohnt sich für den Arzt die Beschäftigung mit der eige­ nen Spiritualität, denn auch die spirituellen Ein­ stellungen des Arztes spielen eine Rolle im Um­ gang mit dem Patienten. Deshalb ist es für Ärzte manchmal so unverständlich, warum der Patient eine von ihnen vorgeschlagene und aus ihrer ärzt­ lichen Sicht doch vernünftige Behandlungsmaß­ nahme nicht mehr will. Handeln, aktiv sein, et­ was unternehmen scheint den meisten Ärzten viel näher zu liegen als auszuhalten, zu ertragen, pas­ siv oder ausgeliefert zu sein. Eine Situation aus­ halten ist für den Arzt kein attraktives Konzept. Patienten, die sich im Vertrauen auf Gott, das Schicksal oder die Natur passiv verhalten, viel­ leicht auch Therapiemaßnahmen ablehnen, fin­ den dann wenig Verständnis. »Hier sind Sie in guten Händen, wir werden Ihnen helfen« Die Arztbilder aus Fernsehserien wie »Grey’s Anatomy« oder »Emergency Room« sind Ste­ reotypen, die auch im Alltag in Arztpraxis und Krankenhaus zu finden sind und die zwischen der Angst, dass ihre Patienten sterben könnten, und ihren medizinischen Omnipotenzphantasien,

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I s t S p i r i t u a l i t ä t ü b e r h a u p t e i n e ä r z t l i c h e A u f g a b e ?    6 1

immer zu retten und helfen, ob die Patienten das nun wollen oder nicht, festhängen. Eine (selbst-) kritische Reflexion, ob und wo die eigenen Wer­ te vom Arzt vielleicht zu sehr als absoluter Maß­ stab gesetzt werden und gar nicht mehr mit denen des Patienten und seiner Angehörigen abgegli­ chen werden, findet nicht statt. Geradezu satirisch überspitzt ist dies bei der Serie »Dr. House« zu sehen. Hier weiß der Arzt immer, was richtig ist und was gemacht werden muss. Wenn die Wert­ vorstellungen des Patienten damit nicht überein­ stimmen, wird dies höchstens noch als ein Symp­ tom der Krankheit gewertet. Ähnlich zeigen sich für mich in der Realität die ärztlichen Potenzphantasien in den Diskus­ sionen um den ärztlich assistierten Suizid. Auch hier erlebe ich Ärzte, die alles regeln wollen, die handeln müssen, die das Leid der Patienten als Handlungsaufforderung verstehen, dass sie nicht »untätig« mit-leiden können. Dies schließt dann auch die ärztliche Hilfe zum Suizid ein, wenn sonst nur »passive« Optionen zur Verfügung ste­ hen. Als Palliativmediziner sehe ich dagegen die Begleitung der Patienten in einer solchen Situa­ tion, das Dabeibleiben (ohne handeln zu müssen) als wichtige Aufgabe – ganz abgesehen von den vielen Optionen, die in der Palliativversorgung mit Symptomkontrolle, palliativer Sedierung oder Therapieverzicht und -abbruch bestehen, um dem Todeswunsch zu begegnen. All das zeigt, dass die Beschäftigung mit den eigenen Einstellungen und denen der Patienten zu Leben und Tod, zu Hoffnung und Glauben für den Arzt so wichtig ist wie die Pathophysio­ logie der Krankheiten. In einigen Bereichen wird dies bereits anerkannt. Im »Musterkursbuch Pal­ liativmedizin« der Bundesärztekammer2 werden für den Themenbereich »Psychosoziale und spiri­ tuelle Aspekte« insgesamt 6 von 40 Kursstunden eingeplant. Für Spiritualität sind die Lerninhalte Hoffnungsbilder, Lebensbilanz und Glaubensbil­ der aufgelistet und als Lernziele die Differenzie­ rung zwischen Spiritualität und Religiosität, Sen­ sibilisierung für die eigene Spiritualität sowie die

Wahrnehmung und Unterstützung der Spiritua­ lität der Patientinnen und Patienten. In der Um­ setzung in den eigenen Kursen sehe ich allerdings auch, dass für die teilnehmenden Ärzte dieser halbe Kurstag erst einmal ungewohnt ist, viele diesem Teil des Kurses auch sehr skeptisch ent­ gegensehen. Die Vermittlung des Themas gelingt dann nicht so gut über den Spezialisten (Theo­ logen), sondern wird eher von einem Arzt an­ genommen, der dabei immer wieder den Bezug zum eigenen Arbeitsalltag herstellen kann, zum Beispiel im Umgang mit islamischen Patienten. Grundkenntnisse zur Spiritualität Als Antwort auf die eingangs gestellte Frage lässt sich also zusammenfassen: Spiritualität ist eine ärztliche Aufgabe. Der Arzt muss offen sein für alle Dimensionen von Krankheit und Leid, das schließt neben körperlichen, psychischen und so­ zialen Aspekten auch Spiritualität ein. Der Arzt muss zumindest Grundkenntnisse haben, damit er sinnvoll die medizinische Behandlung pla­ nen kann. Dies betrifft zum Beispiel Regeln und Rituale aus anderen Kulturen und Religionsge­ meinschaften oder den Zugang zu spirituellen Ressourcen (zum Beispiel Patienten Raum zum Rückzug geben). Als Arzt muss ich zumindest spezielle Codes erkennen. Bei einer Hospitation auf einer Pallia­ tivstation in Indien wurde diskutiert, warum die Angehörigen nach dem Tod einer Patientin so er­ bittert waren: Sie hatten mehrfach gefragt, ob sie der Sterbenden Wasser zu trinken geben sollten. Bei massiven Schluckstörungen und guter Mund­ pflege war dies vom Personal verneint worden. In dieser Region ist es aber ein wichtiger hinduisti­ scher Brauch, dass ein Sterbender Wasser erhält, dies wird auch als Code zwischen Patienten und Angehörigen benutzt, dass es jetzt ans Sterben geht. Die Ablehnung durch das Personal war von der Familie deshalb so verstanden worden, dass der Tod noch weit weg sei. Umso größer die Ent­ täuschung, als sie in der Nacht starb.

S p i r i t u a l i t ä t a l s ( e i n ) We g d e r We l t e r f a s s u n g

6 2   L u k a s R a d b r u c h

Multi-, inter- oder transdisziplinär? Im interdisziplinären Team in der Palliativversor­ gung muss der Arzt zumindest so viel von Spiri­ tualität wissen, dass er den Seelsorger (als Spezia­ list im Team) verstehen kann. Darin zeigen sich die Unterschiede zwischen einer multidiszipli­ nären Arbeitsweise, in der die einzelnen Berufs­ gruppen nebeneinander, aber nicht zusammen arbeiten, und einer interdisziplinären Arbeits­ weise, bei der im engem Austausch jeder weiß, wo die Stärken und Schwerpunkte der anderen Teammitglieder liegen. Auf der Rückkehr von einem Palliativkongress sagte mir eine Kollegin, dass sie nun wisse, wie sich die nichtärztlichen Teammitglieder fühlen, wenn sie an medizinischen Fortbildungen teil­ nehmen, denn sie habe bei den Kongressvorträ­ gen (zu Sinnverlust und Erhalt von Würde) nichts verstanden. Das sollte in einem interdisziplinären Team so nicht sein. Natürlich muss ich als Arzt dabei auch meine Grenzen erkennen. Wir streben keine transdiszi­ plinäre Arbeitsweise an, in der die Grenzen zwi­ schen den Berufsgruppen aufgehoben sind und jeder alles kann. Der Seelsorger ist im Team der Spezialist für Spiritualität und sollte für die spi­ rituelle Begleitung zur Verfügung stehen, sobald Patienten oder Angehörige dies wünschen.

wusste Entwicklung meiner eigenen spirituellen Ressourcen dazu führen, dass ich einen im tägli­ chen Umgang mit Krankheit, Leid und Tod dro­ henden Burn-out verhindere. Als Handreichung für den Alltag lässt sich die folgende »Spirituelle Anamnese« (Okon 2005; Anandarajah und Hight 2001) mit dem Akro­ nym HOPE nutzen.

Hoffnung

Was gibt Ihnen Hoffnung (Stärke/Zuversicht/Frie­ den) in Ihrer Krankheit?

Organisierte Religion

Sind Sie Teil/Mitglied einer religiösen/spirituellen Gemeinschaft? Ist das für Sie hilfreich?

Persönliche Spirituali­ tät und Praxis

Welchen Teil Ihrer spiri­ tuellen Überzeugungen fin­ den Sie selbst besonders hilfreich und sinngebend?

Effekt auf Behandlung und Dinge des Lebens­ endes

Wie beeinflussen Ihre Überzeugungen/Ihr Glau­ ben die medizinische Be­ handlung, die Sie von mir erwarten?

Prof. Dr. Lukas Radbruch ist Profes­ sor für Palliativmedizin an der Univer­ sität Bonn und Chefarzt des Zentrums für Palliativmedizin, Malteser Kranken­ haus Bonn/Rhein-Sieg. E-Mail: [email protected]

Spiritualität als Chance Wenn ich mich als Arzt nicht mit Spiritualität be­ schäftigen will, mich auf den kranken Körper der Patienten beschränken will, vergebe ich mir große Chancen. Wenn ich bereit bin, mich für Fragen zur Spiritualität zu öffnen, eröffnet mir das auch für mich selbst Möglichkeiten in der persönlichen Entwicklung, zum Beispiel in der Auseinander­ setzung mit der eigenen Sterblichkeit. Damit wie­ derum erhalte ich die Chance, ein besserer Arzt zu werden, der die Bedürfnisse der Patienten re­ flektieren und in der Behandlungsplanung be­ rücksichtigen kann. Ganz nebenbei kann die be­

Literatur Anandarajah, G., Hight, E. (2001). Spirituality and medical practice: using the HOPE questions as a practical tool for spiritual assessment. In: American Family Physicians, 63, S. 81–89. Okon, T. R. (2005). Spiritual, religious, and existential as­ pects of palliative care. In: Journal of Palliative Medicine, 8, S. 392–414. Anmerkungen 1 http://www.bundesaerztekammer.de/recht/berufsrecht/ muster-berufsordnung-aerzte/muster-berufsordnung/ 2 http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_ upload/downloads/MKB_Palliativmedizin.pdf

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Spiritual Distress Was können Pflegende tun?

Regula Gasser Frau Meier dreht sich im Bett. Sie findet keine Ruhe, da sie von Gefühlen der Angst überfal­ len wird. Das Blut im Stuhl, die Schmerzen … Seit acht Tagen ist sie im Spital und muss täg­ lich Untersuchungen über sich ergehen las­ sen. Das Leben zieht wie ein Film an ihr vor­ bei. Sie denkt an ihre Tochter, die sie seit dem Streit vor fünf Jahren nicht mehr gesehen hat. Vieles ist schief gelaufen, viele Träume hatte sie auf später verschoben. Sie ist ja erst 55 … »Guten Tag, Frau Meier«, wird sie von einem jungen Arzt in gebrochenem Deutsch begrüßt. Der Arzt und die Pflegefachfrau wirken auf ihrer Visite unter Zeitdruck, so dass der Arzt gleich zur Sache kommt. »Sie wurden ja ges­ tern von meiner Kollegin über ihre Diagnose aufgeklärt. Sie haben nur noch wenige Mona­ te zu leben, man kann nichts mehr machen«, sagt er, während seine Augen auf die Kranken­ akte gerichtet sind. »Aber nein«, wendet sich Frau Meier aufgebracht zu Wort, »das weiß ich nicht, ich warte doch auf die Ergebnisse der Befunde.« »Doch, das wissen Sie, es steht da in Ihrer Krankenakte: Patientin wurde in­ formiert.« Da geht der Piepser, ein Notfall. Der Arzt und die Pflegefachfrau nicken der Patien­ tin zu und schon geht’s weiter ins nächste Pa­ tientenzimmer. Dieses Beispiel zeigt in konzentrierter Form die Herausforderungen, denen Patienten und Perso­ nal in öffentlichen Spitälern begegnen: häufige Ärztewechsel, junge Assistenzärzte und -ärztin­ nen, die von ihren Oberärzten/-ärztinnen kaum begleitet werden können, ein hoher Arbeitsanfall, verschiedene Kulturen, Fallpauschalen mit ver­

kürzten Spitalaufenthaltsdauern, die wenig Zeit für Gespräche zulassen. Es erstaunt nicht, dass Spiritual Care in Europa rasant an Bedeutung gewinnt. So scheint die Auseinandersetzung mit Sinnfragen nicht nur die Patienten, sondern auch das Personal zu beschäftigen. Doch was ist Spiritual Care? Wie Studien zei­ gen, umfasst die Spiritualitätsdefinition vier Di­ mensionen: 1. Verbundenheit mit sich selbst und anderen Menschen 2. Friede und persönliche Werthaltungen 3. Sinnfindung und Bedeutung des Lebens 4. Transzendenz als Auseinandersetzung mit etwas, das unseren menschlichen Horizont übersteigt (Büssing und Koenig 2010). In der Schweiz gibt es für Pflegefachpersonen ver­ schiedene Weiterbildungen in Spiritual Care. Sie lernen durch Methoden und Sprachen, wie Pa­ tienten anhand einer vorgegebenen Anamnese zu religiös-spirituellem Hintergrund und Bedürfnis­ sen zu befragen sind. Wie das Beispiel von Frau Meier zeigt, lässt sich spirituelle Begleitung nicht in pragmatischer Weise vereinfachen. So ist die Sprache über Glauben und Sinnfindung wesent­ lich durch die Biografie, die Kultur und das per­ sönliche Wertesystem mitbestimmt. Daher kann auch das von der New-Age-Bewegung beeinfluss­ te Harmoniekonzept des »Good Death« nicht ein­ fach auf Patienten übertragen werden. Ein vielversprechender Ansatz scheint in Gor­ dons Diagnoseliste der seelischen Verzweiflung oder Spiritual Distress (Gordon 1994) zu liegen. Übertragen auf unser Beispiel heißt das, im Ge­

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 63–64, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

6 4   R e g u l a G a s s e r

spräch erst einmal auf die Belastungssymptome einzugehen, die Frau Meier durch ihre Unruhe zeigt. Dabei ist es für sie wohl weniger von Be­ deutung, zu ihren religiös-spirituellen Überzeu­ gungen befragt zu werden. Viel wichtiger wäre es zu hören, dass – obwohl kurativ »nichts mehr« für die Beseitigung des Tumors getan werden kann – das medizinische Personal alles tut, um ihr in den letzten Lebenstagen eine bestmögliche Le­ bensqualität zu ermöglichen. In diesem Sinne ist Spiritual Care eine Haltung, dass das Leben von Frau Meier bis zuletzt wichtig ist. Dies eröffnet im Gespräch einen vertrauensvollen Raum für Sinnfragen und das, was für sie existenzielle Be­ deutung hat: der Kontakt zu ihrer Tochter und die Wünsche, die sie ein Leben lang aufgescho­ ben hat. Spiritual Care braucht nicht in erster Li­ nie Zeit, sondern eine Präsenz, die in der pflegeri­ schen Handlung beim Patienten und nicht schon bei der nächsten Verrichtung ist. So verbindet Pflege zwei nicht getrennt zu betrachtende Komponenten: Handeln und Sein. Diesem vom hektischen Pflegealltag geforder­ ten Sein gilt es, in Weiterbildungen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Denn nur ein ge­ stärktes Selbst kann auch andere in Sinnfindungs­

prozessen begleiten. Im Rahmen eines National­ fonds-Forschungsprojekts haben wir mit einem interprofessionellen Team ein Schulungsmo­ dell zur Auseinandersetzung mit der persönli­ chen Spiritualität und Fallsupervisionen zu Spi­ ritual Distress entwickelt. Ob diese Maßnahmen, wie vermutet, die Lebensqualität von unheilbar kranken Patienten verbessern, die Stressbelas­ tungen des Behandlungsteams reduzieren und die Arbeitszufriedenheit erhöhen können, wird in der Studie empirisch untersucht. Dr. phil. M. Sc. theol. Regula Gasser arbeitete als Pflegefachfrau, Psycholo­ gin und Theologin 20 Jahre in der Be­ gleitung von schwerkranken Patienten in der Onkologie und Palliative Care. Sie leitet an der Universität Zürich das Na­ tionalfonds-Forschungsprojekt »Inter­ professionelle Zusammenarbeit in Spiritual Care« in Zusam­ menarbeit mit dem Onkologischen Ambulatorium und der Schwerpunktabteilung Onkologie und Palliative Care am Kantonsspital Baden. E-Mail: [email protected] Literatur Büssing, A.; Koenig, H. (2010). Spiritual needs of patients with chronic diseases. In: Religions, 1, S. 18–27. Gordon, M. (1994), Handbuch Pflegediagnosen. Berlin, Wiesbaden.

© Christiane Knoop

So verbindet Pflege zwei nicht getrennt zu betrachtende Komponenten: Handeln und Sein.

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Drei Praxiswege der Spiritualität Wenn man Spiritualität unter anderem als die Wahrnehmung der Einheit von Wirklichkeit und das Anerkennen des Geistigen als Realität ver­ steht, hat dies unmittelbare Auswirkungen auf die Lebensführung und die ethischen Vorstel­ lungen. Ein spirituell ausgerichteter Mensch wird sich um die konkrete Verwirklichung der Erfah­ rungen oder Einsichten im Sinne einer individu­ ell gelebten Spiritualität, die durchaus auch nicht­ konfessionell sein kann, bemühen. Hierzu bieten sich insbesondere drei prakti­ sche Wege an, denen sich die folgenden drei Ar­ tikel von Eduard Zwierlein, Monika JiOn Winkel­ mann und Christian Herwartz widmen: • der Weg der Erkenntnis (Philosophie, (Selbst-)Erforschung, Denken, Verstehen…) • der Weg der Kontemplation (Meditation, Gebet …) • der Weg der Aktion (Dienen, Nächstenlie­ be, Hingabe …)

Leidfaden, Heft 1/2016, S. 65–71, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

Foto: colourbox.de

Alle drei Wege gehören zusammen, von einem Verhältnis der Über- oder Unterordnung kann nicht die Rede sein. Sie werden letztlich einan­ der bedingen.

6 6   D r e i P r a x i s w e g e d e r S p i r i t u a l i t ä t

Die Sehnsucht nach Beheimatung – Spiritualität in Erkenntnis Eduard Zwierlein Alle Grundkräfte des Menschen können dazu die­ Erkenntnis versucht, etwas, das wir nicht ver­ nen, die Tür zur Spiritualität zu öffnen oder zu stehen, zu verstehen oder besser zu verstehen. schließen, Verständnis für sie zu wecken oder Diese Suche ist seine Sehnsucht. Novalis sagte sie zu verdecken. Dies gilt auch für die Grund- einmal sehr schön von der Philosophie, sie sei kraft des Erkennens. Wer den Weg des Denkens Heimweh, der Trieb, überall zu Hause zu sein. löschen möchte, um zur Spiritualität zu finden, Die Sehnsucht des Erkennens ist Beheimatung. beraubt den Menschen eines ganzheitlichen Zu­ Der Wunsch und Versuch, aus dem Schmerz der gangs zu ihr. Wer nur auf den Weg des Denkens Trennung herauszutreten und Verbindung auf­ setzt, ebenso. zunehmen. Das hebräische Wort »jadah« spie­ Aber um welche Art von Erkennen soll es da­ gelt das: Adam »erkannte« sein Weib Eva und sie bei gehen? Wie muss es beschaffen sein, um Spiri­ empfing und gebar. Dass Erkennen und Beischlaf tualität zu dienen? Oder noch spezifischer: Wann hier verknüpft sind, zeigt tiefsinnig, dass Leben, und inwiefern ist Erkennen selbst Liebe und Denken zusammenge­ ein spiritueller Weg und nicht ein­ hören, vor allem aber, dass es da­ fach ein Denkmittel, um sich über rum geht »eins zu werden«. Das Wunder schläft Spirituelles zu informieren oder zu Liebe und Erkenntnis suchen nebenan. Spiritualität diskutieren? zu überwinden, was trennt. Wenn ist alltäglich und Denken wir ein wenig über das wir jemanden bitten, uns doch mystiknah zugleich. Denken nach. Lassen wir dabei wirklich zu verstehen, sagen wir einen rein objektiven Erkenntnis­ gern Sätze, die an diesen Sachver­ versuch wie in den Wissenschaften zur Seite. Eine halt erinnern: »Versetz dich doch einmal in mei­ solche Erkenntnis hat ihre eigene Schönheit, för­ ne Lage, hättest du dann nicht auch an meiner dert uns im Reich der Spiritualität aber nur wenig. Stelle …«, »Wenn du das einmal aus meiner Sicht Spiritualität ist Offenheit für etwas, was größer sehen würdest …« Wir wünschen uns also, dass ist als wir selbst. Wir brauchen hier ein Erken­ jemand gleichsam von sich absieht und sich mit nen, das alles in sich vereint, was es an subjekti­ unserer Sicht so vereint, so identifiziert, dass wir ver und objektiver Kraft gibt. Wir schließen da­ uns wirklich verstanden fühlen. Spiritualität be­ her das Spüren in der gefühlten Bedeutung, die deutet den Versuch (und es bleibt auch nur Ver­ Intuition sowie das reflektierende Nachdenken such: Provisorium, Wagnis, Fragment), den Din­ in den wirklichen und einheitlichen Gesamtvoll­ gen ins Herz zu sehen, ins Herz aller Dinge zu zug des lebendigen Erkennens mit ein. Außerdem lauschen. wollen wir dieses Erkennen nicht als neutral in­ Wir können sagen, dass das Erkennen auf seine formatives Wissen verstehen, sondern als trans- Weise die spirituelle Ursehnsucht verkörpert, aus formatives Wissen: als Erkennen, das uns im Le­ der Lage der Zwei wieder herauszufinden in die ben etwas bedeutet, das unsere Praxis prägt, das Eins: aus Entzweiung und Zwietracht, aus Zweifel uns verwandelt. und Zwielicht in die Einheit, ohne Krieg, Tren­

L E I D FA D E N   – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R   H e f t  1  /  2 0 1 6

D i e S e h n s u c h t n a c h B e h e i m a t u n g – S p i r i t u a l i t ä t i n E r k e n n t n i s    6 7

nung, Gräben, ohne Streit und Hass. Wir spüren dieses Motiv wieder, wenn wir uns an die Be­ deutung von Kommunikation erinnern. Sie ist comm-unio, der Versuch, in die Eins, in die Ei­ nigung, in die Einheit, in das Einssein zu finden. Spiritualität sucht das unendlich schöne goldene Band, das alles verbindet. Nun ist das Erkennen aber nur dann ein wirk­ lich spiritueller Weg, wenn es sich in seinen Kräf­ ten und Wahrheiten selbst gerecht abschätzen kann. »Jetzt sehen wir nämlich wie durch einen Spiegel rätselhaft, dann aber von Angesicht zu Angesicht«, sagt Paulus im 1. Korintherbrief 13 am Ende seines Liebeshymnus. Das Erkennen ist ein Schiff auf der Reise zum Verstehen, unterwegs zur Vision der Eins, stets umstellt von der Welt der Zwei. Seine Aufgabe ist es, vorläufige Versu­ che für die Eins anzudeuten und auszuprobie­ ren, »Vermittlungsvorschläge« zu machen, eine Ahnung von Versöhnung. Vor allem aber ist es seine Aufgabe, die eigene Erkenntnissehnsucht wachzuhalten, zu bezeugen, also an die Idee und Erfahrung der Eins zu erinnern. In diesem Erin­ nern ist Denken Danken. Die Gedanken des Den­ kens sind seiner eigenen Sehnsucht dankbar ein­ gedenk. Gutes Erkennen dient dabei immer dem Leben. Was du säst, wirst du ernten. Es stiftet Be­ ziehung. Es inspiriert Vertrauen. Es ermöglicht immer größerer Lebendigkeit. Dort, wo Leben aufblüht, ist Denken gut. Erkennen, das um seine Grenzen weiß, grenz­ bewusste Weisheit des Denkens, löst sich aus dem Hochmut des Bescheidwissens. Die Geistesgegen­ wart einer bescheiden gewordenen Erkenntnis besteht darin, dass sie eine bestimmte Art des Sehenlernens begünstigt. Sie wird das Fragment, das Provisorium, den Essay lieben, die von der Ganzheit und Einheit erzählen, aber eben frag­ mentarisch, provisorisch, gebrochen. Sie wer­ den den Menschen als sonderbares Tier erzäh­ len, Endliche, die sich nach Unendlichkeit sehnen, Zeitliche, die von der Ewigkeit träumen, Sterbli­ che, die vom Unsterblichen raunen. Sie wird Welt und Mensch als Mysterium feiern.

Ein Mensch denkt dann spirituell, wenn er das Leben nicht einfach für ein lösbares Problem oder Rätsel hält, sondern für ein Geheimnis, an das wir nur rühren und von dem wir berührt werden können. Alles, was ist, ist auch ein Durchscheinen dieser größeren oder tieferen Wahrheit. Alles in dieser Welt hat eine verborgene Bedeutung, ob es sich um Menschen Tiere, Bäume oder Sterne handelt. Sie alle sind Hieroglyphen und Rätsel­ zeichen eines umfassenden Geheimnisses. Dass die Welt durchsichtig ist für die Ewigkeit, betrifft nicht unbedingt große oder spektakuläre Din­ ge, sondern findet sich im Kleinen, Unscheinba­ ren, Gewöhnlichen und Alltäglichen. Das Wun­ der schläft nebenan. Spiritualität ist alltäglich und mystiknah zugleich. In die großen Themen unserer Existenz, in Gott, den Menschen, den Tod, das Leben und die Liebe, können wir uns nur vertiefen. Kein Mensch kennt sich selbst oder einen anderen zu Ende. Der Tod ist ein dunkler Kontinent, von dem niemand etwas Endgültiges weiß. Gott ist, bei allem, was wir von ihm zu wissen glauben, doch immer auch der ganz Andere, der alle unsere Gedanken von ihm unendlich übersteigt. Abschließend lösen und beantworten können diese Fragen nur die Narren. Insofern ist ein spiritueller Mensch ein Mensch, der nicht dogmatisch und definitiv gewiss, aber doch persönlich entschieden und hingegeben ist. Er bleibt in allen seinen Schritten staunend und bereit, von Neuem überrascht zu werden. Dr. phil. habil. Eduard Zwierlein, M.A., Studium der Philosophie, Psychologie und Theologie, ist apl. Professor für Philosophie an der Universität KoblenzLandau sowie als Unternehmensbera­ ter tätig. E-Mail: [email protected]

S p i r i t u a l i t ä t a l s ( e i n ) We g d e r We l t e r f a s s u n g

6 8   D r e i P r a x i s w e g e d e r S p i r i t u a l i t ä t

Meditieren in Auschwitz – Spiritualität in Kontemplation Monika JiOn Winkelmann mer um Allerheiligen herum, immer im Novem­ ber. Diese Retreats (Einkehrtage) sollten mein Leben radikal verändern: Ich wurde Zen-Peace­ makerin und empfing 2011, in einer Laienordi­ nation, die Gelübde. Menschen aller religiöser, spiritueller Tradi­ tionen und Suchende dürfen sich angesprochen fühlen. Die geistlichen Würdenträger/-innen bie­ ten während des Retreats, beinahe täglich, ihre jeweiligen Zeremonien an. Das Kaddish beten wir mehrmals gemeinsam, in allen vorhandenen Sprachen. Die Gruppen sind international zu­

© Sandra Englisch

Der amerikanische Zen-Meister Bernie Glassman hat mit den sogenannten »Zeugnis-Ablegen-Re­ treats« eine seiner drei Lebensvisionen realisiert. Für mich ist diese spirituelle Praxis eine Manifes­ tation des dritten Grundsatzes »Liebevolle Hand­ lung«, die aus dem umfassenden Training des Zen-Meisters, sich im Nicht-Wissen zu behei­ maten und Einssein zu verwirklichen, erwachsen ist. Seit 2009 habe ich fünfmal an dem Retreat in Auschwitz (englisch: »Bearing-Witness-Retreat«) teilgenommen, das jeweils von Montag früh um 7 Uhr bis Samstag nach dem Frühstück geht, im­

L E I D FA D E N   – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R   H e f t  1  /  2 0 1 6

M e d i t i e r e n i n A u s c h w i t z – S p i r i t u a l i t ä t i n K o n t e m p l a t i o n    6 9

sammengesetzt, zunehmend kamen Palästinen­ ser, Menschen aus Ruanda; auch geistliche Wür­ denträger von amerikanischen Ureinwohnern waren dabei. Weltbürgerinnen und Weltbürger sollen wir werden, sagt und lebt Seine Heilig­ keit der Dalai Lama, der für Bernie Glassman ­Roshi ein großes Vorbild ist. Die Grenzen zwi­ schen Ich und dem Anderen, diesem und jenem Kollektiv, mir und den Toten, mir und den Tä­ tern, sind künstlich. Zwischen 100 und 150 Teilnehmer/-innen treffen sich jeweils am Sonntag vor dem ­Retreat in einem Hotel in Krakau, um die großen Um­ schläge mit dem Programmablauf, den Informa­ tionen, in welchen kleinen Gruppen (»Council«) man sich morgens vor dem Frühstück trifft und mit welchen Teilnehmern man wann, in einer fei­ erlichen Zeremonie, die Namen der umgekomme­ nen Menschen rezitiert, die Zimmernummer im »Center for Dialogue and Prayer«, das Liturgie­ heft entgegenzunehmen. Die Namenslisten wer­ den nach der Rezitation seit zwanzig Jahren in ein kostbares Kästchen gelegt in der Mitte des gro­ ßen Kreises, in dem alle an der Selektionsrampe in Auschwitz-Birkenau sitzen. Von Dienstag nach dem Frühstück bis Freitagnachmittag wird das ge­ samte Retreat überwiegend draußen auf dem riesi­ gen Friedhof von Auschwitz-Birkenau abgehalten. Die drei Grundsätze der Zen-Peacemaker: 1. Nicht-Wissen 2. Zeugnis ablegen von dem Leid und der Freu­ de in der Welt 3. Handlungen der Liebe, die aus 1. und 2. ent­ stehen Unter 1. sind wir aufgefordert, unsere fixierten Vorstellungen von dem, was richtig und falsch ist, und vieles mehr aufzugeben. Das Beherzigen des 2. Grundsatzes lehrt uns, wie wir eins werden können mit allem, was uns begegnet: in unserem Inneren und Außen. Liebevolle Handlungen, der 3. Grundsatz, ergeben sich wie von allein aus der Praxis des 1. und 2. Grundsatzes.

Ich durfte üben, einen Ort zu kontemplieren. Im Gehen, mit Vorliebe auf den Schienen, die direkt nach dem bekannten Tor zum Friedhof, mit der Aufschrift »Arbeit macht frei«, beginnen. Im stillen Sitzen an der Selektionsrampe, in der Kinderbaracke, am Krematorium. Im Rezitieren der Namen, die man aus allen vier Richtungen hört, im Stehen gesprochen, gesungen, beatmet mit den Akzenten und der Liebe der Anwesenden. Ich habe geübt, mich hineinfallen zu lassen, in die Erde unter uns, unter der Baracke, in der ich sitze und wo gerade gebetet, gesungen oder eine Zeremonie abgehalten wird. In der Gaskam­ mer, stehend, eng aneinander gedrängt, wenn für fünf Minuten das Licht ausgeschaltet wird, oder an der Erschießungsmauer in Auschwitz I: tiefes Schauen praktizieren; erfahren, wir waren nie ge­ trennt. Immer hat der Ort mich gerufen. Natür­ lich haben viele amerikanische Juden, die jetzt zu meinen Freunden zählen, ihre Wurzeln in Eu­ ropa. Die Konfrontation mit der deutschen Spra­ che. Was haben meine Freunde und ich für Trä­ nen vergossen, den Ort begossen, der kein Gras mehr hatte, keine Blätter, keine Vögel, weil alles aufgegessen war. Meine Scham, meine Schuldge­ fühle, mein Mitgefühl in die Erde fließen lassen und zu teilen. All dies kann man üben zu kontem­ plieren, hineinzunehmen in die Weite des eige­ nen Herzgeistes. Auschwitz-Birkenau ist für mich und für vie­ le von uns zu einem Tempel geworden. Einem Tempel der Heilung und Transformation. Unse­ rer eigenen. Mein Herz ist jedes Mal mehr auf­ gebrochen worden. Monika JiOn Winkelmann, ist SchreibCoach, Poesiepädagogin, Gruppenleite­ rin und Autorin. Sie bietet Seminare an für Heilsames Schreiben als Medizin für von Genozid, Krieg, Traumata betrof­ fene Menschen und ihre Angehörigen. E-Mail: [email protected] Websites: www.zenpeacemakers.org www.zenpeacemakers-bonn.de www.winkelmann-seminare.de

S p i r i t u a l i t ä t a l s ( e i n ) We g d e r We l t e r f a s s u n g

7 0   D r e i P r a x i s w e g e d e r S p i r i t u a l i t ä t

Von Überraschung erfreut werden – Spiritualität in Aktion Christian Herwartz Ungeplantes wahrnehmen, Fremdes zulassen und damit rechnen, dass darin eine Botschaft verbor­ gen ist. Mit dieser Devise leben wir seit Jahrzehn­ ten in Berlin-Kreuzberg und halten die Tür zu unserer Wohnung möglichst offen. Wenn jemand von der Straße aus klingelt, öffnen wir elektrisch die Haustür und setzen uns wieder an den Früh­ stückstisch. Da kommen im Laufe des Tages vie­ le Menschen, die wir noch nicht kennen. Solche Öffnung unserer Wohnung auf die Straße hin ist ein Chance für eine Wohngemeinschaft Erwach­ sener. Dabei machen uns Überraschungen oft für längere Zeit sprachlos:



• • Menschen aus über siebzig Ländern klopf­ ten an und fanden Unterkunft. Manche Län­ der waren mir völlig unbekannt: Cabinda,

Vita activa

Chartres, La Cathédrale, Le portail nord, La vie active





eine Kolonie von Angola. Ein Mann von der Befreiungsbewegung wohnte bei uns und verhandelte in Berlin mit Regierungs­ vertretern verschiedener Länder. Die Ko­ lonialgeschichte wurde vor unseren Augen aufgerollt. Jahrelang tauchten Hindernisse auf, so dass die gewünschte Taufe für einen Mitbewoh­ ner nicht möglich erschien. Er bekam bei uns Taufunterricht. Doch in welcher Konfes­ sion sollte er getauft werden. Eine schwierige Entscheidung. Ist das überhaupt ohne bür­ gerliche Papiere möglich? Er wurde getauft. Nach zwölf Jahren Haft wurde ein gesunder Mann entlassen und sofort in die Psychiatrie eingewiesen; die Ärzte entließen ihn und er floh zu uns nach Berlin; auch hier sollte er nicht in Frieden leben. Freunde in Belgien nahmen ihn bei sich auf bis sich die Aufre­ gung legte. Er lebte einige Jahre bei uns bis er nach fünf Jahren unbeschadet in sein Bun­ desland zurückkehren konnte. Ein anderer glaubte vergiftet zu werden. So nahm er alle Lebensmittel in Plastiktüten mit ins Bett. Es raschelte, wenn er sich um­ drehte. Dann wurde ich neben ihm wach. Mit Leinensäcken war die Störung behoben. Leider zog er ohne Heilung aus und wir ver­ loren den Kontakt zu ihm. Ein Mann wollte mit seiner dreieinhalbjäh­ rigen Tochter bei uns wohnen. Er hatte kein Sorgerecht für sie. Die ständig alkoholisier­ te Mutter lebte mit einem Mann zusammen, der mehrfach wegen Kindesmissbrauch ver­ urteilt war. Vier Monate waren die beiden auf der Straße unterwegs. Nun versuchte er,

L E I D FA D E N   – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R   H e f t  1  /  2 0 1 6

Vo n Ü b e r r a s c h u n g e r f r e u t w e r d e n – S p i r i t u a l i t ä t i n A k t i o n    7 1

aus der Fahndung zu kommen. Als das Kind wieder bei der Mutter war, klagte er gegen sie und befreite die beiden älteren Jungen aus der Situation. Die Erwachsenen und die Tochter verbrannten ein Jahr später in der Wohnung. Ich durfte das Kind begraben. • Eine Mutter flüchtete aus einem afrikani­ schen Flüchtlingslager mit ihren beiden Töchtern, als ihr Mann aus dem Kriegsge­ biet nicht zurückkehrte. Nach der Geburt des zweiten Kindes brach sie auf, da das Bein der älteren Tochter nach einem Bruch schlecht verheilt war. Sie suchte Zukunft und Heilung für sie. Wir nahmen sie trotz aller Aufenthaltsvorbehalte auf und die notwen­ digen Operationen gelangen.

wir ihm auch heute begegnen, wenn wir uns nicht den vielen Ablenkungen auf der Straße hingeben. Bleiben wir eine Weile neben einem Bettler sit­ zen oder vor einem Gefängnis und erleben die schmerzhafte Mauer der Abschirmung zwischen unseren gefangenen Geschwistern und uns. Dann sehen wir die Lebensspuren von beiseitegescho­ benen und oft verstummten Menschen. Bei einer späteren Betrachtung wie in den »Exerzitien auf der Straße«, die vor 15 Jahren in unserer Woh­ nung entstanden sind, können wir auf die Lebens­ spuren Jesu in unserem Alltag stoßen. Er lebt in meinem Bewusstsein als Auferstandener mitten unter und in uns. Weitere Informationen: www.strassenexerzitien.de.

Nach vielen Jahren bemerkte ich, dass wir un­ geplant einen spirituellen Weg miteinander ge­ hen. Oft sahen wir stille Menschen erst, wenn wir unsere alltäglichen Beschäftigungen ein wenig beiseite legten. Dann fanden wir auch mit ihnen Kontakt. Sie öffnen Lebensräume, ähnlich wie in einer intensiven Meditation von alten Texten. In der Mitte der Gemeinschaft ist dafür eine Stille des Begreifens und der Dankbarkeit entstanden. Oft überfordert uns die angestrebte Offenheit füreinander und in uns selbst, einschließlich aller Überraschungen bis in die Kindheits- und Vor­ fahrengeschichte hinein. Im Mitgefühl Fremden gegenüber werden wir oft ko-abhängig und müs­ sen dann diese Abhängigkeit wieder überwinden. Trotzdem freue ich mich täglich über den geöff­ neten Weg zur Straße. Sie tritt bei uns ein. Mit dieser Öffnung gehen wir einen Weg der Heilung aus der ängstlichen Abgrenzung unseres Lebens – so sehr sie in Krisen nötig sein kann. Die geöffnete Tür (Johannes 10,9) ist ein Bild für die Offenheit der Liebe, aus der heraus wir geboren wurden und leben. Sie weist uns auf die Wirklichkeit des Unbeschreiblichen hin. Jesus greift auch nach dem Bild des Weges oder der Straße (Johannes 14,6), um auf seine grenzüber­ schreitende Identität hinzuweisen. Hier können

Christian Herwartz, Jesuit, Arbeiter­ priester, lebt in einer Wohngemein­ schaft in Berlin-Kreuzberg, engagiert sich für und lebt zusammen mit Flücht­ lingen, Gefangenen und anderen bei­ seitegeschobenen Menschen in einem multikulturellen Umfeld und engagiert sich dort auch mit den »Exerzitien auf der Straße«.

Chartres, La Cathédrale, Le portail nord, La vie contemplative

E-Mail: [email protected]

Vita contemplativa

S p i r i t u a l i t ä t a l s ( e i n ) We g d e r We l t e r f a s s u n g

ZEUGNISSE VON SPIRITUALITÄT

Echo Du warst ein Thema in der Musik meines Lebens. Ich höre zuweilen das Echo deiner Melodie wenn die Straßen schweigen und meine Tür die Nacht ausschließt und hier drinnen alles mit deiner Note schwingt, wie das klare Läuten eines Glases, das, angeschlagen, trotz seiner Leere singt. Wie mein Leben. Ich schließe die Augen und lausche, aber alles klingt falsch daran: der eine, fehlende Teil verzerrt den Klang von allem. Ich setze mir in den Kopf, mich zu erinnern, dein Lied zu spielen. Oft setzt sich dein geliebter Refrain alleine fort, so ungebrochen, und mein Herz ist überwältigt von der Erinnerung an dein Wirken in mir. Eines Tages begann dein Lied, ein anderes fand sein Ende. Dazwischen war Schönheit. Der Tod nahm nur das »Weiter!« fort. Ich suche die Orte, wo dein Echo klingt, und die Geschichte deiner Stimme. Ich bewahre sie im Innern meines Ohrs, bevor auch ich, und mit mir mein Lied, verschwinde. Und falls es wirklich ein »Weiter«! gibt, wenn wahrhaftig, seit dem Anbeginn, die Musik der Sphären in uns schwingt, und, verwandt mit Planeten, Atomen und Sternen in einem gewichtigen Tanz, wir endlich unseren Platz hier finden – nun gut! Dann lass uns einander rufen, überbrücken den unsichtbaren Raum, um unser Singen von Angesicht zu Angesicht zu üben. (David Head 2004, veröffentlicht in: Attending to the Fact. Jessica Kingsley; übertragen von Karola Hassall)

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 72, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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Innehalten Ein Schauspieler berichtet

Martin Reinke »Dreigroschenoper« – 119. Vorstellung. Ich stehe hinter der schwarzen Soffitte, drei Meter über mir der Schnürboden, unter mir die endlosen Stufen der bühnenbreiten Stahltreppe. Die bin ich gera­ de hinaufgeflogen, stöckchenschwingend: »Das war Mackie Messer!« Der Puls über 120. Ich trin­ ke meine Mineralienmischung. Wieder werde ich drei Kilo Wasser verlieren. Gleich tanzt Peachum sein Tänzchen. Danach geht’s los, die Treppe hin­ ab, mit wehendem grünen Mantel, Polly rittlings auf meiner rechten Armbeuge. Sie ist leicht. Pro­ beweise drehe ich mein Stöckchen, in der Lin­ ken, mit drei Fingern. Mein Blick fällt auf einen Scheinwerfer. Habe ich den schon mal gesehen? Ich schaue mich um. Es kommt mir vor, als sähe ich alles zum ersten Mal: das Gestänge, die Gale­ rien, die Vorhänge, die Seilzüge, die Scheinwerfer. Die Dinge sagen: »Wir sind’s, wir sind da.« Ich be­ trachte meine Kollegin. Sie überprüft ihr Makeup. Wir haben viel miteinander gespielt, manche Schlacht geschlagen. Ich sehe sie zum ersten Mal, so kommt’s mir vor. Sie sagt: »Ich bin’s. Ich bin da.« Das kann nicht sein, denke ich, dass mir al­ les so neu erscheint, so wirklich, so einzigartig – träume ich? Ich muss es mitnehmen, denke ich, diese Wachheit, dieses Aufmerken, dieses Inne­ halten – mitnehmen auf die Szene. Wenn ich auf das Rosenholz-Cembalo springe – »Ihr werdet nie Jeschäftsleute wer’n! Kannibal’n, aba keene Jeschäftsleute!« –, dann will ich innehalten, für eine hundertstel Sekunde, Polly wieder so anbli­ cken wie jetzt und will denken: »Du bist’s. Du bist da. Ich bin da. Und es ist gut!« Und wenn ich Ha­ kenfingerjakob den Teller aus der Hand schlage, mit meinem Stöckchen – genauso. Ich werde mit den Jungs spielen, als wär’s das erste Mal. Und tat­

sächlich: Wir spielen die Dreigroschenoper, die 119. Vorstellung, und ich bin hellwach, frisch, eine Szene nach der anderen ist neu, als wäre sie nicht hundertmal probiert worden, als würde sie gera­ de im Moment entstehen. Ich sehe die Notlichter im Zuschauerraum, nie zuvor habe ich diese Lich­ ter gesehen – wie groß der Raum ist! Da sitzt das Publikum, farbige Punkte, hier eine Fraktion hel­ ler Hemden, dort sind sie eher dunkel. Für euch spiele ich! Für euch halte ich inne, bin ich wach, bin ich da! Ihr seid eingeladen. Euch schenke ich den Witz, das Couplet, den Augenblick! »Die Qual erlahme an meinem Stolz« – steht das wirklich so im Text? Ich schaue nach: »Die Räuber« – IV. Akt, fünfte Szene. Nacht. Die Ban­ de schläft. Nur der Hauptmann ist wach, »tief­ denkend«. Selbstmordmonolog. Neulich hat ein Zuschauer, ganz hinten aus den letzten Reihen, gerufen: »Hey, Mann, mach keinen Scheiß!« Ich hielt gerade die Pistole an den Kopf. Er kam an die Rampe gelaufen und fragte: »Kann ich dir helfen?« Er war noch jung. Normalerweise la­ chen die Leute über solche Intermezzi, diesmal nicht. Diesmal war’s zu gespenstisch: zwei Ver­ wirrte – der eine im Spiel, der andere im Ernst. Ich hörte mich sagen: »… wenn ich nur mich selbst mit hin­übernehme … ich bin mein Him­ mel und meine Hölle« – vor mir dieser junge, ver­ zweifelte Zuschauer. Und dann folgt die beispiel­ lose Empörung des Karl Moor, diese großartige, nihilistische Auflehnung der sich selbst, aus sich selbst gründenden Kreatur, diese Kriegserklärung des aufgeklärten, genialischen Individuums an den Schöpfergott des Alten Bundes, als wäre die­ ser Gott einer jener vielen absolutistischen Fürs­ ten, gegen die der Sturm und Drang zu Felde zog:

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 73–74, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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Ein »Trotzdem« wie von Camus! Mit diesem Brandsatz trete ich heute vor den Vorhang. Schil­ ler brannte, als er »Die Räuber« schrieb, auch ich werde brennen! Ich teile die Weltsicht meines Protagonisten nicht, weder das Menschen- noch das Gottesbild. Aber ich werde brennen von eben seinem Feuer! soll es übergreifen – auf den Saal, auf die Herzen! Soll es den Zuschauer zutiefst auf­ stören, in Atem halten und zu eigener Entschei­ dung drängen! Martin Reinke ist Schauspieler an den Bühnen der Stadt Köln und am Burg­ theater Wien. E-Mail: [email protected] Website: http://martinreinke.de/html/ leben.shtml

Vegaps / Fotolia

»Wenn du mir irgendeinen eingeäscherten Welt­ kreis allein ließest, den du aus deinen Augen ver­ bannt hast, wo die einsame Nacht und die ewige Wüste meine Aussichten sind? – Ich würde dann die schweigende Öde mit meinen Phantasien be­ völkern!« und »Kann ich nicht die Lebensfäden, die mir jenseits gewoben sind, so leicht zerrei­ ßen, wie diesen? – Du kannst mich zu nichts ma­ chen – Diese Freiheit kannst du mir nicht neh­ men.« Und dann: Welche Überraschung! Karl Moor lädt die Pistole, hält plötzlich inne und wirft sie weg: »Soll ich dem Elend den Sieg über mich einräumen? – Nein, ich will’s dulden. Die Qual erlahme an meinem Stolz! Ich will’s vollenden.« Tatsächlich, da stehts: »Die Qual erlahme an mei­ nem Stolz« – was für ein Satz!

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Magische Momente Eine Sozialarbeiterin berichtet

Irene Renzenbrink Ich entdeckte die Kunsttherapie nach einer 35-jäh­ rigen Laufbahn als Sozialarbeiterin – zunächst als Klientin während der Krebskrankheit mei­ nes Mannes, dann als Studentin und schließlich als Therapeutin auf einer Palliativstation. Es gibt ein Element in dieser Therapieform, das heilen­ de Kräfte besitzt in Zeiten emotionalen Aufruhrs und spiritueller Krise – aber in einem professio­ nellen Umfeld getragen von wissenschaftlich ab­ gesicherter Praxis ist so eine Kraft nicht einfach aufzuzeigen, geschweige denn zu beweisen. Pat Allen (1995), eine Pionierin der amerika­ nischen Kunsttherapie, schlägt vor, Kunstthera­ pie als »eine Art von Wissen« zu betrachten und die Früchte unsere Vorstellungskraft als eben­ so real anzuerkennen wie unser tägliches Leben. Am besten hat es vielleicht Albert Einstein ausge­ drückt: »Nicht alles, was man zählen kann, zählt, und nicht alles, was zählt, kann man zählen.« Ist es auch verführerisch, jene magischen Mo­ mente in der Kunsttherapie benennen zu wollen – als gelebte Empathie, spirituelle Verbundenheit, Balsam für die Seele oder spirituelle Nahrung –, so kann doch keiner dieser Begriffe wirklich die Mystik dieser tiefen Begegnungen erfassen. Mar­ tin Bubers Konzept von der Heiligkeit einer le­ bendigen Beziehung im Ich und Du kommt einer Erklärung noch am nächsten und ich fühle mich in diesem Zusammenhang auch an das Gedicht »Eternity« (Ewigkeit) des englischen Poeten Wil­ liam Blake erinnert: He who binds to himself a joy Does the winged life destroy He who kisses the joy as it flies Lives in eternity’s sunrise

Jane war eine Frau Ende vierzig und lag mit Speiseröhrenkrebs im Sterben. Sie verständigte sich mit ihrer hingebungsvollen Familie durch Flüstern und hatte sehr wenig Energie. Auf Bit­ ten ihrer Schwester brachte ich Wasserfarben­ stifte an Janes Bett. Diese Stifte sind besonders für entkräftete Patienten geeignet, da sie nur wenig Druck benötigen und die Farben sich schon mit der Zugabe von ein wenig Wasser mit dem Pinsel leicht verteilen lassen. Jane hatte ihrer Schwester erzählt, wie sehr sie ihren Garten vermisste, und begann auf meinen Vorschlag Blumen zu malen. Sie war hingerissen von dem Ergebnis und flüsterte: »Das macht Spaß.«

Ein Blumengarten

Diese Art von Kreativität erinnert Patienten daran, dass sie immer noch am Leben und zu etwas fähig sind, mag auch der Fokus der palliativen Behand­ lung auf ihre Symptome und ihr Sterben gerich­ tet sein. Levine (2002) nennt diesen Prozess eine »Wiederbelebung von Fähigkeit«, die anschaulich zeigt, wie »die Seele in der Kunst ihre Form findet«. Ray war ein ebenfalls krebskranker Mann von 58 Jahren. Er sprach mit mir über die Höhen

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 75–76, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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und Tiefen des Lebens und wollte gern mit weichen Pastellfarben malen, denn er war im Verlauf seiner Behandlung bereits mit der Kunsttherapie in Berührung gekommen. Er beschrieb mir das schmerzhafte Erleben von Krankheit, die Entfremdung von seiner Fami­ lie und die Probleme, die seine Alkoholsucht mit sich brachte. Der tiefste Schmerz seines Lebens, symbolisch dargestellt als schwarzer Blitz, der durch die Mitte seines Bildes zuckt, war jedoch die Untreue einer Frau, in die Ray sich während einer Rehabilitationsphase ver­ liebt hatte. Aber als ich ihn bat, mir etwas über das klei­ ne Herz innerhalb des größeren, roten Her­ zens zu erzählen, sagte er: »Das ist der Teil in mir, der immer noch ganz ist.« Was folgte, war ein magischer Moment der tiefen Erkenntnis und des Schweigens. Kurz bevor er starb, war es Ray noch erlaubt, Zeit mit seinen Kindern zu verbringen und sich von ihnen zu verab­ schieden. Der Krankenhausseelsorger erzähl­ te mir später, dass Ray seine Pastellzeichnung neben dem Bett aufbewahrt und die Kunst­ therapiesitzung als einen Wendepunkt be­ nannt hatte.

in den Dienst von anderen stellt. Während meiner Zeit auf einer Palliativstation führte ich daher ein Kunst-Tagebuch und besuchte selbst regelmäßig einen Therapeuten, der mir half, die Intensität der täglichen Arbeit mit Sterbenden zu verarbeiten. Glücklicherweise genas mein Ehemann von seiner Krankheit, aber als bei meiner Schwes­ ter Brustkrebs diagnostiziert wurde, fühlte ich mich verwundbarer denn je zuvor. Cicely Saun­ ders sagte einmal: »Wir, die wir diese Arbeit tun, verlieren eine Schicht unserer Haut und müssen daher Sorge dafür tragen, sie zu erneuern« (in: Stoddard 1978). Aktuell beginne ich mit einem Forschungspro­ jekt zur Erfassung dieser magischen Momente in der Kunsttherapie und bin mir sicher, nach Ab­ schluss des Projektes einer Beschreibung dieses privilegierten und heiligen Phänomens mehr ge­ recht werden zu können. In der Zwischenzeit ist es unsere Aufgabe sicherzustellen, dass der Kunst weiterhin eine wichtige Rolle in der Betreuung sterbender und trauernder Menschen zuerkannt wird. Gleichzeitig spüre ich, dass auch ich selbst, wenn ich male, künstlerisch gestalte oder fotogra­ fiere, mit einer Kraft in Berührung komme, die mich erdet und beflügelt gleichermaßen. Auch ich werde dann von dem Magischen berührt, das mich zutiefst staunen lässt. Die Niederländerin Irene Renzenbrink gilt als eine wichtige Pionierin der Hos­ pizbewegung und Trauerbegleitung in Australien. Aktuell arbeitet sie an ihrer Dissertation im Fach Expressive Arts Therapy an der European Graduate School in Saas-Fee in der Schweiz. E-Mail: [email protected]

Die Höhen und Tiefen des Lebens

P. Allen bezeugt die heilende Kraft der Kunst­ therapie: »Durch das Schaffen von Kunst habe ich Leid die Stirn geboten, Verlusten und Enttäu­ schungen ins Auge gesehen und dabei die Tiefen meines Selbst kennengelernt« (1995, S. 15). Sie betont die Bedeutung von Selbsterkenntnis und Selbstsorge für jeden Kunsttherapeuten, der sich

Literatur Allen, P. (1995). Art is a way of knowing. Shambhala Publi­ cations. Boulder, CO. Levine, S. (2002). Philosophical foundations of Expressive Arts Therapy: Toward a therapeutic aesthetics. In: Bulletin of Psychology and the Arts, 2 (2). Stoddard, S. (1978). The hospice movement: A better way of caring for the dying: New York.

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»Das Tor steht dir offen, mehr noch das Herz« Ein Hotelier berichtet

Michael Meder Ist Spiritualität im Berufsleben möglich? Ich nähere mich diesem Thema mit der Frage, was Spiritualität für mich bedeutet. Ist meine Spiritu­ alität das Leben vor dem Angesicht eines Gottes und in der lebendigen Beziehung zu ihm? Im weiteren Nachdenken wird mir deutlich, wie hoch und weit entfernt mir dies von meinem Leben und Handeln erscheint. Dennoch will ich mich auf die Suche nach spirituellen Spuren in meinem Leben machen und ich merke schnell, es ist nicht das Große, Gewaltige – ewig Beständige, besonders da mein Beruf als Hotelier keine offen­ sichtlichen geistlichen Ansprüche hat. In meinem beruflichen Alltag geht es doch in erster Linie darum, Zimmer zu verkaufen, gute Raten zu erzielen, Mitarbeiter zu motivieren, die Gästezufriedenheit zu steigern und sich im ewi­ gen Spagat der Wirtschaftlichkeit zu bewegen. Wo bleibt nun hier die Spiritualität? Ich glaube, es lässt sich schwerlich unterscheiden zwischen einer Spiritualität an sich und der, die in den Alltag des Berufs hineinstrahlt. Spiritua­ lität bildet sich für mich nicht nur auf der verti­ kalen Ebene einer Beziehung zu einem Gott ab, sondern immer auch auf der horizontalen Ebe­ ne der Mitmenschen und des Alltags. Dort, wo diese Ebenen sich berühren, wird für mich Gott erfahrbar. Ich erlebe Spiritualität als Gnade – hineinge­ nommen zu sein in die Beziehung zu einem Gott, an den ich glaube. Spiritualität ist für mich we­ niger Motor von Handlungsanweisungen. Mir ist sie als Haltung viel vertrauter.

Mir ist klar und mitunter auch schmerzlich er­ fahrbar, dass das Leben und vielleicht sogar gera­ de ein spirituelles Leben fragmentarisch, ja un­ vollkommen bleibt. Dass es Zeiten gibt, in denen ich zweifeln mag an der Gegenwart Gottes – weil er in seinem Wirken so offensichtlich »versagt«. Dann wird es zu einer Herausforderung, in dieser Beziehung zu bleiben, ja, in dieser Freundschaft zu bleiben. Ich bin dann erinnert an die Psalmen, in denen das Volk Israel sehr oft auch mit ihrem Gott Jahwe hadert, sich streitet, ihn anklagt und mit ihm ringt. In den Psalmen wird deutlich, wie unterschiedlich die Lebenssituationen der Men­ schen sind, wie verschieden ihre Beziehung zu Gott sein kann. Ausrüstung Wenn ich das Handwerkszeug meiner Spirituali­ tät – auch in der Ausübung meines Berufes – be­ schreiben soll, so würde ich an erster Stelle das Gebet nennen, das wortlose oder wortreiche Ver­ weilen vor Gott. Das Gebet in Gemeinschaft oder allein, auf dem Fahrrad oder während der Arbeit – das Gebet, das ich mit jedem Atemzug dankbar, flehend, hoffend ausdrücke. Teresa von Avila be­ schreibt es sehr schön, wenn sie sagt: »Das Gebet ist meiner Ansicht nach nichts anderes als ein Ge­ spräch mit einem Freund, mit dem wir oft und gern allein zusammenkommen, um mit ihm zu reden, weil er uns liebt.« Die Lektüre der Heiligen Schrift gehört eben­ so zur Ausübung meiner Spiritualität. Damit mei­ ne ich nicht nur das Lesen, sondern das immer neue Verstehen dieser Texte, die uns überliefert sind. Schließlich ist das Feiern der Liturgie in der

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 77–78, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

7 8   M i c h a e l M e d e r

Gemeinschaft Teil meiner gelebten Spiritualität – feiernde Vergewisserung mit anderen, die den Weg des Glaubens teilen. Versuch Spiritualität ist immer auch Annäherung, die Su­ che und der Versuch, und es geht dabei nicht um fromme, pflichtgemäße Übungen  – die Bewe­ gung, in dieser Beziehung zu bleiben, kommt aus dem Herzen und ist Ausdruck der Liebe. Es ist die offene Tür, die einlädt und einlässt. Und damit gerate ich wieder in die Nähe mei­ nes beruflichen Umfelds. Im Hotel begegne ich vielen verschiedenen Menschen unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlichen Zielen, aus an­ deren Ländern und Kulturkreisen. In der Regel begeistert mich dieser Kontakt, und ich erlebe es als Bereicherung. Porta patet, cor magis – Das Tor steht Dir offen, mehr noch das Herz. Ein Motto, mit dem die Zisterzienser ihre Gäste begrüßen, könnte auch ein Motto meiner Arbeit sein. Natürlich auch mit allen Einschrän­ kungen, die das Leben bereithält, aber doch meistens in der Offenheit.

Dienst Ebenso ist mir die Benediktsregel im berufli­ chen Kontext hilfreich, wenn es darum geht, auf ein Maß zu schauen, das Alltag und Spirituali­ tät zusammenfügt. Hier finden sich auch Regeln über die Aufnahme der Gäste: »Alle Fremden, die kommen, sollen aufgenommen werden wie Christus; denn er wird sagen: »Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen.« Allen erweise man die angemessene Ehre. Ich versuche, meine Aufgabe im Hotel als Dienst zu verstehen – Dienst an den Gästen und den anderen Mitarbeitern. Ich habe gelernt, dass diese Haltung vieles erleichtert. Und wenn ich nicht umhin kann, für andere unangenehme Ent­ scheidungen zu treffen, dann wünsche ich mir das Maß. Spiritualität ist nicht nur etwas für heilige Orte oder das stille Kämmerlein. Am Prüfstein des All­ tags, im Leben und Handeln, wird sichtbar, wie das Leben aus der Kraft einer Beziehung zu Gott mit allen Zweifeln, Fragen und Ungereimtheiten Gestalt gewinnt. Michael Meder hat eine Ausbildung als Bankkaufmann, ein bisschen Theolo­ gie studiert und ist Diplom-Sozialarbei­ ter. Seit 2008 führt er ein kleines Hotel im Herzen der Kölner Altstadt. Beim Schreiben dieses Artikels genoss er die Gelegenheit, sein spirituelles Leben zu reflektieren und so die verschiedenen Ebenen von Kontemplation und Aktion in seinem Leben zueinanderzubringen.

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»Die Wolken verlieren – den Himmel gewinnen« Der kontemplative Ansatz in der Begleitung von Trauernden

Kirsten DeLeo und Beate Dirkschnieder Ein 13-jähriger Junge, dessen Mutter sehr plötz­ lich verstorben ist, antwortete auf die Frage, was er sich von einer Trauergruppe erhoffe: »Hilf mir, dass die Gedanken aufhören, ich habe Angst, dass mein Kopf zerspringt.« Der Umgang mit wie­ derkehrenden, peinigenden Gedanken, die uns nahezu »den Kopf zerspringen lassen« – dies ist eine von vielen schmerzhaften Fragen, mit denen wir in der Trauerbegleitung konfrontiert sind. In unserer modernen Gesellschaft, die sich scheut, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen, ist der Umgang mit der Verzweiflung und den aufge­ wühlten Emotionen eines Hinterbliebenen häu­ fig mit vielen Ängsten belegt. Trauerbegleitung ist eine große berufliche und zutiefst menschli­ che Herausforderung. Eine unvoreingenommene, offene Präsenz und die Bereitschaft, den Schmerz des Anderen in der Begleitung mitauszuhalten, zu ertragen und da­ durch mitzutragen, ist eine der heilsamsten Inter­ ventionen. Sie gibt dem Hinterbliebenen Kraft und Mut, sich der quälenden Realität des Ver­ lustes anzunähern. Das erfordert vom Begleitenden zwei grund­ legende Aspekte: • mit den eigenen Gefühlen der Hilflosigkeit lernen zu arbeiten, • Möglichkeiten finden, unsere Resilienz und Inspiration zu stärken. Im kontemplativen-meditativen Ansatz, inspi­ riert vom Buddhismus und Sogyal Rinpoches »Das tibetische Buch vom Leben und vom Ster­ ben« findet man vielfältige praktische Methoden,

die für den Begleiter und Trauernden von Hilfe sein können. Es geht nicht darum, Leiderfahrungen zu ver­ leugnen oder »spirituell zu erhöhen«, sondern unsere menschlichen Erfahrungen wahr- und an­ zunehmen. Kontemplative Methoden wie Me­ ditation und Training in Mitgefühl helfen dem Begleiter und dem Trauernden achtsam, gewahr und offen zu bleiben und sogar liebevoll mit den eigenen schmerzhaften Erfahrungen oder Ängs­ ten umzugehen. Dieser Prozess kann zutiefst heilsam sein. Er öffnet den Raum, der Trauer zu begegnen, ohne sich in ihr zu verlieren. Durch die Meditation ler­ nen wir, zu uns selbst freundlich zu sein. Vor al­ lem aber kommen wir mit unserem guten Her­ zen in Berührung. »Es besinnt mich auf mich selbst und öffnet Räume der Stille, die frei sind. Diese Räume helfen mir, vom Kreislauf der negativen Erinnerungen loszukommen.« (Teilnehmerin eines Trauerseminars) Ein Mensch in Trauer fühlt sich am meisten von der Art und Weise, wie wir sind, gehalten, mehr als von dem, was wir vielleicht wissen oder tun. Als Begleiter geht es darum, Präsenz, Authenti­ zität und Zuversicht zu verkörpern, wirklich bei uns zu sein. Dann können wir auch für den Trau­ ernden da sein. In unserer Arbeit mit Trauernden bieten wir Meditation und Methoden für die Entwicklung von Mitgefühl an, wie zum Beispiel die Praxis der Liebenden Güte. Dies hilft schwierige Gefühle oder Gedanken zu benennen und mit sich selbst

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 79–80, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

Christian Rohlfs, Waiting (1920) / Private Collection / Bridgeman Images

8 0   K i r s t e n D e L e o u n d B e a t e D i r k s c h n i e d e r

Die Zeit der Trauer ist oft die Zeit, in der Menschen besonders offen sind für die spirituellen Dimensionen des Lebens und drängende Fragen haben.

Freundschaft zu schließen, egal, wie schwierig es gerade ist. Wir üben Achtsamkeit gegenüber dem Atem oder dem Körper, um wieder bei uns selbst »zu Hause zu sein«. Das natürliche Ein- und Aus­ atmen oder das Körpergewahrsein wird zum si­ cheren Anker, wenn man droht, in den emotiona­ len Turbulenzen zu versinken. Die vergängliche Natur der Gedanken wird sichtbar, wir hören auf, gegen unseren Geist endlos Krieg zu führen. Wir üben uns darin, die Gedanken Gedanken sein zu lassen, die vorbeiziehen wie Wolken am Himmel. Wir kämpfen nicht gegen sie an, aber wir halten sie auch nicht fest! Die Zeit der Trauer ist oft die Zeit, in der Men­ schen besonders offen sind für die spirituellen Dimensionen des Lebens und drängende Fragen haben. Durch den Verlust wird der Hinterblie­ bene in seinem tiefsten Sein damit konfrontiert, dass nichts beständig ist. Wenn alles stirbt und sich verändert, was ist dann wirklich wahr? Der Verlust eines geliebten Menschen ist eine große, Zäsur, das Leben muss »neu gelernt« werden und der Trauernde steht vor der Frage: Warum will ich weiterleben und was will ich mit diesem neuen Leben anfangen? Kirsten DeLeo, Hakomi-Psychothe­ rapeutin und Ausbilderin in »Rigpas ­Spiritual Care«-Fortbildungsprogramm, Dozentin für Kontemplative Sterbebegleitung, ein Zertifikatskurs, den Rigpa Spiritual Care in Zusammenarbeit mit der Naropa-Universität (USA) entwickelt hat. Trainerin im Sukhavati-Zentrum für Spiritual Care in Bad Saarow. E-Mail: [email protected] Beate Dirkschnieder, Diplom-Päda­ gogin, ist seit 17 Jahren im Hospiz tä­ tig, Weiterbildungen im Bereich der Be­ gleitung und Beratung von Trauernden, ethische Beraterin im Gesundheitsbe­ reich, Lehrbeauftragte an der Fachhoch­ schule Bielefeld und der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld (FHdD), Dozentin im Bereich Pal­ liative Care, Kursleiterin in »Rigpas Spiritual Care«-Fortbil­ dungsprogramm. E-Mail: [email protected]

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Ein Sommertag in Cluny Was der Verlust meines Sohnes für mich mit Spiritualität zu tun hat

Ulrike Backhaus An einem Sommertag sitze ich mit meinem Mann auf leichten, bunten Metallstühlen vor einer klei­ nen Eisdiele in Cluny. Durch einen steinernen Torbogen sehen wir auf die Stufen hinunter, die einst in die Vorhalle der ehemals größten Kirche der Christenheit führten. Wenige Reste lassen heute noch die riesigen Ausmaße der historischen Anlage erahnen. Sie wurde im Mittelalter wohl für die Ewigkeit gebaut, und doch war sie vergänglich wie alle Erscheinungen, die wir kennen. Die verschwundene Vorhalle diente dem Übergang vom Alltag in die sakrale Welt, deren Zentrum sich wie in allen christlichen Kirchen im Ostchor befand, wo die aufgehende Sonne das Dunkel überwinden sollte. Ich sage zu meinem Mann, dass es wohl unter anderem die Auseinandersetzung mit menschli­ chem Leid, die Überwindung des Dunkels sowie das Hinausgehen über den Tod sind, die Men­ schen von jeher beschäftigt haben und sich in ihrer Spiritualität und ihren Religionen spiegeln. Vor wenigen Tagen ist es ein halbes Jahr her gewesen, dass unser Sohn L. mit 19 Jahren durch einen Unfall getötet wurde. Was bedeutet mir Spiritualität, was Religion im Leben mit diesem ungeheuren Verlust? Ich bin bisher mit zwei Weltreligionen intensiver in Kontakt gewesen, mit dem Christentum und dem Buddhismus, und schon lange interessieren mich die Gemeinsamkeiten verschiedener Religionen. Den Grund, der den Religionen innewohnt, der aus der menschlichen Sehnsucht nach Vertrauen, Hoffnung, Zugehörigkeit und Sinn entsteht, will ich Spiritualität nennen. Meine Spiritualität war etwas, das mir zunächst in der unbeschreiblichen Erschütterung des Ver­

lustes Halt und eine Anmutung von Sicherheit gab. Es waren meine spirituellen Überzeugun­ gen, die mich darauf vertrauen ließen, dass das Leben unseres Sohnes und sein Tod eingebettet sind in ein größeres sinnhaftes Geschehen, das ich nur erahnen kann. So habe ich von Anfang an – und dafür bin ich dankbar – wenig Kraft da­ für gebraucht, mit dem zu hadern, was passiert ist. Spiritualität hat mir geholfen, ein Narrativ (vgl. Rynearson und Salloum 2011) zu erarbeiten, das den mich anfangs sehr verstörenden Bildern vom Unfallgeschehen (bei dem ich nicht anwesend war) einen »helleren«, sanfteren Übergang in L.s neue Seinsweise gegenüberstellte sowie ein Bild dessen, wo er jetzt ist. L. und ich hatten eine sehr enge Verbindung. Nach seinem Tod habe ich viel mit ihm gesprochen, Offengebliebenes in mir klären können. Ich muss­ te mich (und muss mich auch jetzt noch) von ihm verabschieden, ihn gehen lassen, wie er dagewesen und Teil meines Lebens gewesen ist. Es war und ist ungeheuer schmerzlich, dass nichts mehr so sein wird, wie es war, ob es L.s physische Präsenz ist, mein gewohntes Leben oder das unserer Familie. Dennoch spüre ich immer wieder die Ver­ bindung mit einem vervollkommneten, über die Begrenzungen des physischen Daseins hinaus­ gewachsenen L., der mir zuweilen eine Art inne­ rer Begleiter ist. Es ist die Qualität der Liebe, die bleibt und bleiben wird, nicht die der Anhaftung, der Kontrolle oder gar des Besitzes. So sehe ich meine Arbeit mit der Trauer als ein Pendeln zwi­ schen dem Loslassen dessen, was war, und dem Entwickeln einer neuen, andersartigen Beziehung. Dank vielfältiger Unterstützung, auch durch L.s Freunde, habe ich ein Bild entwickeln können

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 81–83, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

8 2   U l r i k e B a c k h a u s

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E i n S o m m e r t a g i n C l u n y    8 3

Bildnachweis: Paul Cézanne, The Lac d’Annecy (1896) © Samuel Courtauld Trust, The Courtauld Gallery, London, UK / Bridgeman Images

von L.s Leben, dem, was er uns hinterlassen hat, und ich bin dabei, mir zu erarbeiten, wie mein neues Leben in Verbindung mit ihm und seinem Vermächtnis aussehen kann (vgl. Neimeyer 2011). Bei alledem ist es für mich zweitrangig, ob mei­ ne Bilder und Geschichten »stimmen«. Wichtig ist für mich, dass sie mir helfen, meinen Weg wei­ terzugehen. Für andere Menschen passen andere Erzählungen, wenn sie jemanden haben, der sie danach fragt, können es Trostgeschichten werden. Mit dem Verlust meines Kindes zu leben ist für mich kein Kinderspiel, es ist ein tägliches Ringen, und das wird es wohl zunächst auch bleiben. Ich möchte meine Gefühle nicht »wegspiritualisieren«, ich möchte mit ihnen in Kontakt sein. Es ist für mich aber überlebenswichtig, nicht in ihnen zu versinken, sondern Kraft, Perspektive und Zuver­ sicht zu entwickeln. Spiritualität also nimmt mir nicht den Schmerz, sie hilft mir, mit ihm zu leben. So wird L. am Ende nicht umsonst gelebt ha­ ben und gestorben sein, und ich werde mich hof­ fentlich an seinem Verlust entwickeln können und noch viele schöne Tage wie den in Cluny erleben, wo sich übrigens hinter den Überres­ ten der Basilika die wunderbare Hügellandschaft Burgunds erhebt. Ulrike Backhaus, Diplom-Sozialpäda­ gogin/Sozialarbeiterin, Gesprächsthe­ rapeutin, arbeitet seit 1987 mit schwer­ kranken, sterbenden und trauernden Menschen, seit 2004 in eigener Pra­ xis mit den Schwerpunkten Paar- und Trauerberatung, außerdem führt sie Fort- und Weiterbildungen in den Bereichen Palliative Care und Trauerbegleitung durch. Mitglied des Bundesverbandes Trauerbegleitung. E-Mail: [email protected] Literatur Neimeyer, R. A. (2011). Eine Umarmung des Himmels – sich neu erfinden nach einem Verlust. In: Paul, C. (Hrsg.), Neue Wege in der Trauer und Sterbebegleitung. 2. Aufla­ ge. Neuauflage. Gütersloh. Rynearson, E. K., Salloum, A. (2011). Restorative retelling: Revising the narrative of violent death. In: Neimeyer, P. A., Harris, D. L., Winokuer, H. R., Thornton, G. F. (Hrsg.), Grief and bereavement in contemporary society. New York.

S p i r i t u a l i t ä t a l s ( e i n ) We g d e r We l t e r f a s s u n g

8FORTBILDUNG 4

Spiritualität – Annäherungen an ein weites Wort Fortbildungsimpuls zum Thema

Andreas Stähli »Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.« Karl Kraus Das Anliegen dieser Fortbildungseinheit liegt in der Annäherung an die Bedeutungsvielfalt von Spiritualität entlang von Bildern und eines Mo­

dells von Michael Wright. Dabei wird von den Einzelerfahrungen der Teilnehmenden ausge­ gangen, die dann im Weiteren in einen abstrak­ teren Bezugsrahmen eingebettet werden. Ergänzt wird dies durch den Versuch einiger allgemei­ ner Bestimmungen von Spiritualität nach Er­ hard Weiher.

Michael Wrights Modell des spirituellen Bereichs

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 84–87, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

Fo r t b i l d u n g   8 5

In der Mitte des Modells von Wright stehen drei konzentrische, sich überschneidende Krei­ se (Das Selbst, die Anderen, der Kosmos), deren Gemeinsames der Religion zugeordnet wird. Um diese Mitte des Ganzen wird ein Dreieck skizziert mit den Fragen: Wer bin ich? Wer sind wir? Warum sind wir hier? Entlang der vier Himmelsrich­ tungen stehen dann umspannend vier Größen: Entwicklung, Sinn finden, Transzendenz und Beziehungen, jeweils durch bestimmte Begriffe ent­ faltet (zum Beispiel bei Transzendenz die Begrif­ fe »Ehrfurcht«, »Wunder«, »Geheimnis«, »Gott/ Götter«, »Leben nach dem Tod«) (Wright 2004).

• Spiritualität – ein ganz persönliches, ja inti­ mes Thema und auch eines, das »eine Fra­ ge der Qualität« (Müller, Radbruch, Kern 2008) ist, das heißt Kriterien sucht, allge­ meine Richtlinien, die Ausrichtung sind für den »Bedarf« Spiritualität b. »Ankommen« des Themas bei den Teilnehmen­ den über ein erstes kurzes Bewegen folgender Fra­ gen: »Wie geht es Ihnen mit diesem Thema? Ist es Ihnen leicht oder schwer, fremd oder vertraut?« So vollzieht sich ein erstes Hören der Einzelnen voneinander zu diesem Thema. 9.20–10.20 Uhr Hauptteil

Ablaufplan Wünschenswerter zeitlicher Umfang der Einheit: mindestens 90 Minuten Vorbereitung Stuhlkreis, gestaltete Mitte (Kerze, Tücher, Klang­ schale, Foto- oder Kunstkarten mit Motiven zum Thema Spiritualität um die Mitte herum; dabei reicht das Spektrum von Naturbildern über das Symbol des Kreuzes bis hin zu Küssen), Flipchart, Medienkoffer. 9.00–9.20 Uhr Begrüßung, Hinführung zum Thema Spiritualität und ein erstes Ankommen bei den Teilnehmenden a. Kurzreferat (in Stichworten) • Die Begegnung mit Schmerz und Leid, mit Schicksal und Abschied, mit Grenze und Grenzerfahrung lenkt hin auf das, was wir »Spiritualität« nennen können • Spiritualität als zentrale Größe in der Be­ gleitung • Spiritualität – ein aktuelles Thema und viel besprochen • Spiritualität als Ressource und als Bedürfnis

Assoziationen zu Spiritualität entlang von vorbe­ reiteten Bildkarten auf der Suche nach dem, was Spiritualität sein kann, und ihre Einbindung in einen abstrakteren Rahmen (Wright-Modell) in vier Schritten:

➀ Jede/r wählt jene ein oder zwei Karten aus der

vorbereiteten Mitte, die für sie/ihn ein Motiv dar­ stellen, das sie/er mit Spiritualität verbindet: ein Bild für ihre/seine eigene Spiritualität und/oder eines aus einer Begleitung, von dem ihr/ihm er­ zählt worden ist. Hat jemand kein Bild für Spiri­ tualität, so kann sie »bildlos« bleiben. Dann sagt jede/r etwas zu dem von ihr/ihm ge­ wählten Motiv und warum er diese/s gewählt hat. Alle anderen hören zu, kommentieren nicht. Die Referentin/der Referent notiert auf geeignetem Papier jeweils ein Stichwort dazu. Einige Beispie­ le zu der Vielzahl möglicher Stichworte entlang gewählter Kartenmotive: Weite, Hoffnung, Kla­ ge, Rückzug, Liebe, Karfreitag, Befreiung, Entbin­ dung, Ausblick, Wunde, Angst, Schrecken, Mit­ gefühl, Schmerz, Flügel, Zärtlichkeit, Warum?, Schuld, Transzendenz, Unbegreiflichkeit, Schön­ heit, Trost, Sinn, Segen, Stern, Baum, Schrei, Ver­ zweiflung, Bluten, das Unverstehbare, Stille, Leere, Atempause, Schweigen, Todesaugenblick, Sprach­ losigkeit, das Unaussprechliche.

S p i r i t u a l i t ä t a l s ( e i n ) We g d e r We l t e r f a s s u n g

8 6   Fo r t b i l d u n g

Nachdem alle ihren Beitrag genannt haben, folgt eine kurze Pause. In dieser Pause sammelt die Referentin/der Re­ ferent die übrig gebliebenen Karten um die Mitte ein und legt stattdessen, orientiert an dem Mo­ dell von Wright, das noch erklärt wird, die Blät­ ter mit den Stichworten um die Mitte.

➁ Die Teilnehmenden sehen die Vielzahl des

men, den das Modell von Michael Wright gibt. Dazu wird sein Artikel (siehe Weblink im Lite­ raturverzeichnis) verteilt und die darin enthal­ tene Grafik kurz besprochen, einschließlich der Übersetzung der englischen Begriffe. Dann wer­ den an die vier äußeren Seitenränder der Mit­ te wie an den vier Himmelsrichtungen die Kärt­ chen angelegt, die vorher beschriftet wurden mit: Beziehungen (»connecting« im »Süden«; Le­ ben in Gemeinschaft, mit einem Du, in einem Wir, Beziehungen, Kultur), Sinn finden (»finding meaning« im »Norden«; Sinn finden in Situa­

© Andreas Stähli

Genannten und damit die Vielfalt möglicher Be­ stimmungen von Spiritualität. Ergebnis an die Gruppe: »Das alles macht für Sie Spiritualität aus.« Mögliche Vertiefung, wenn ausreichend Zeit vorhanden ist • Fragen: »Wie wirkt das auf Sie?« »Sind Sie überrascht (zum Beispiel, dass ›Wunde‹, ›Schrei‹, ›Kuss‹ etc. auch dazu gehören)?« • Vertiefungen einzelner Punkte, zum Beispiel »der Schrei« und »Hiob«, die Bedeutung von Schuld, die Rolle der Hoffnung, die Tragwei­ te des Gebetes etc. • Bezug zu Erfahrungen in der Begleitung

➂ Es erfolgt die Einbettung in einen Bezugsrah­

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tionen der Verwundbarkeit), Entwicklung (»be­ coming« im »Westen«; Spiritualität als Ausdruck persönlichkeitszentrierter Entwicklung und des Wachstums), Transzendenz (»transcending« im »Osten«; Transzendenzbezug/Gott, Ewigkeit, Ge­ heimnis, Natur). Die bereits im Kreis liegenden Stichworte der Teilnehmenden finden nun eine Einbettung zu den Aspekten des »spiritual domain«, zum Bei­ spiel »Engel« zu transcending, »Kuss« zu connecting, »Schule von Athen« zu finding meaning, »Buddhas Fußabdruck« zu becoming und transcending.

10.25–10.30 Uhr Abschluss Es folgt eine Zusammenfassung der Einheit durch die Referentin/den Referenten, gegebenenfalls ein Abschluss mit einer kleinen Stilleübung (Hören der Klangschale bis zu ihrem leisesten Ausklang). Anmerkung Eine mögliche Fortsetzung wäre die Arbeit zum Thema »Haltung« entlang geeigneter Texte (auch mindestens 90 Minuten), beispielsweise mit den sogenannten »Geisthaltungen«, wie sie Monika Müller in ihrem Buch »Dem Sterben Leben ge­ ben« (2007) anführt. Dr. phil. Andreas Stähli ist Leiter der Akademie am Johannes-Hospiz in Mün­ ster. E-Mail: [email protected]

Literatur Müller, M. (2007). Dem Sterben Leben geben. Die Beglei­ tung sterbender und trauernder Menschen als spiritueller Weg. 3. Auflage. Gütersloh. Müller, M., Radbruch, L., Kern, M. (2008). Spirituelle Be­ gleitung im Hospiz- und Palliativkontext – eine Frage der Qualität. 11 Thesen zur Spiritualität. Hospiz-Dialog NRW, Januar 2008/34, S. 15–21. Weiher, E. (2009). Das Geheimnis des Lebens berühren. Spi­ ritualität bei Krankheit, Sterben, Tod. Eine Grammatik für Helfende. 2. Auflage. Stuttgart. Wright, M. (2004). Hospice care and models of spirituality. In: European Journal of Palliative Care, 11 (2), S. 75–78. https://www.yorksj.ac.uk/pdf/15.09.05%20Spiritual%20 Development%20A%20palleative%20perspective%20%20Rev’d%20Dr%20Michael%20Wright.pdf Anmerkungen 1

2



Ergänzend zum Modell von M. Wright wer­ den in einem Kurzvortrag Wesenselemente von Spiritualität skizziert, wie sie Erhard Weiher for­ muliert1, gegebenenfalls ergänzt durch die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Spirituali­ tät und Religion2.

Vier der Merkmale, die Weiher unter anderem angibt, lauten: Individualität und Erfahrbarkeit, Selbsttranszen­ denz, Spiritualität als bewusstes Konzept, mehrdeutiges Transzendenzverständnis (Weiher 2009, S. 25 ff.). Eine Passage aus den Überlegungen Weihers sei zitiert: »Natürlich nehmen auch Anhänger einer Religionsge­ meinschaft für sich entschieden den Begriff ›Spiritua­ lität‹ in Anspruch. Sie meinen damit den verinnerlich­ ten, lebendigen und erfahrungsbezogenen Gehalt ihrer Religion. (…) Man kann also unterscheiden zwischen einer Spiritualität, die religionsungebunden und indivi­ duell konzipiert ist und einer, die mit Religion verbunden und von ihr inspiriert ist« (Weiher 2009, S. 27).

S p i r i t u a l i t ä t a l s ( e i n ) We g d e r We l t e r f a s s u n g

AUS DER FORSCHUNG

Spirituelle Krisen nach dem Tod eines geliebten Menschen Hildegard Willmann und Heidi Müller Burke, Laurie A., Neimeyer, Robert A. (2014). Complicated Spiritual Grief I: Relation to Complicated Grief Symptomatology Following Violent Death Bereavement. In: Death Studies, Vol. 38, Nr. 4, S. 259–267. Burke, Laurie A., Neimeyer, Robert A., Young, Amanda J., Piazza Bonin, Elizabeth, Davis, Natalie L. (2014). Complicated Spiritual Grief II: A Deductive Inquiry Following the Loss of a Loved One. In: Death Studies, Vol. 38, Nr. 4, S. 268–281. Nahezu alle Menschen erleben im Laufe ihres Le­ bens, dass eine ihnen nahestehende Person stirbt. Bislang noch wenig erforscht sind jedoch die spiri­ tuellen Krisen nach dem Tod eines geliebten Men­ schen. Hierfür hat sich im angloamerikanischen Sprachraum der schwer zu übersetzende Begriff »Complicated Spiritual Grief« (CSG) eingebürgert. Damit gemeint ist das Erleben eines Hinterblie­ benen, an seinem Gott und/oder an seiner Glau­ bensgemeinschaft zu zweifeln, mit ihm/ihr zu ha­ dern oder sich von ihm/ihr verlassen zu fühlen. Eine wachsende Zahl an Studien zeigt, dass zwischen Komplizierter Trauer und CSG ein enger Zusammenhang besteht, wobei momen­ tan davon ausgegangen wird, dass Komplizierte Trauer ein Faktor ist, der die Entstehung von CSG wahrscheinlicher macht. Laurie Burke und Robert Neimeyer von der University of Memphis, USA, haben gemeinsam mit weiteren Kollegen versucht, mehr über die spirituellen Krisen von Hinterbliebenen zu er­ fahren. In zwei aufeinander aufbauenden Studien untersuchten sie, welchen Einfluss die Todesursa­

che auf die Entstehung von Komplizierter Trauer und CSG hat und mit welchen Aspekten ihres Glaubens und ihrer spirituellen Praxis Hinterblie­ bene in einer spirituellen Krise besonders ringen. Studie I: In welchem Zusammenhang stehen Komplizierte Trauer und spirituelle Krise, wenn der Verlust eine nichtnatürliche Todesursache hatte? Die Mehrheit der Teilnehmer (44 beziehungsweise 58 Prozent) gab an, dass sie spirituelle Probleme erlebten. Bei 12 beziehungsweise 15 Prozent der Befragten waren diese besonders stark ausgeprägt. Die unterschiedlichen Prozentangaben erklären sich durch die zwei unterschiedlichen Fragebögen zum Phänomen CSG, die in der Studie verwendet wurden. Die verschiedenen Todesursachen (vor­ hersehbarer natürlicher Tod, plötzlicher natürli­ cher Tod, Mord, Selbsttötung, Unfall) erklärten die unterschiedlichen Ausprägungen von Komplizier­ ter Trauer und CSG. Im Vergleich zu einer natürli­ chen Todesursache zeigten Hinterbliebene, deren Angehöriger durch Gewalteinwirkung zu Tode kam (Mord, Selbsttötung, Unfall), sowohl höhere Werte für Komplizierte Trauer als auch für CSG. Für Fachkräfte dürfte interessant sein, dass Komplizierte Trauer und CSG miteinander kor­ relieren, aber dennoch konzeptionell unterschied­ liche Konstrukte darstellen. So finden sich Re­ aktionsweisen, die häufig im Zusammenhang mit Komplizierter Trauer anzutreffen sind, nicht zwangsläufig auch bei einer spirituellen Krise wie­ der. Beispielsweise zeigten Personen, die sich stark nach dem Verstorbenen sehnten und ihn sich wie­ der herbeiwünschten, keine erhöhten CSG-Werte.

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 88–89, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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Studie II: Welche Themen werden bei spirituellen Krisen nach einem Verlust häufig diskutiert? Grundsätzlich ließen die Antworten der Teilneh­ merinnen erkennen, dass sie an Gott zweifelten und wütend auf ihn waren. Des Weiteren waren sie unzufrieden mit der erhaltenen spirituellen Unterstützung. Alle Teilnehmerinnen berichte­ ten von tiefgreifenden Veränderungen ihrer re­ ligiösen Überzeugungen und ihrer spirituellen Praxis. Die systematische Auswertung der Dis­ kussionsbeiträge ergab 17 Themen oder inhalt­ liche Aspekte, die die spirituellen Probleme der Teilnehmerinnen kennzeichnen. Diese Themen wurden besonders häufig genannt: 1. Ich habe Zweifel am Wesen Gottes (seiner Güte und Anteilnahme, seinen Absichten). 2. Ich habe negative Gefühle gegenüber Gott (Wut, Verwirrung, Verzweiflung). 3. Ich kann keinen spirituellen Sinn im Ver­ lust finden. 4. Ich fühle mich von meiner Glaubensgemein­ schaft nicht verstanden. 5. Ich habe negative Gefühle gegenüber mei­ ner Glaubensgemeinschaft. 6. Ich wähle sorgfältig aus, welchen Mitglie­ dern meiner Glaubensgemeinschaft ich mei­ ne Gefühle offenbare. Die folgenden Themen wurden weniger häufig ge­ nannt, beeindruckten jedoch durch die Vehemenz, mit denen sie vorgetragen wurden, und/oder durch die psychische Beeinträchtigung, die sie begleiteten: 7. Ich habe einen starken Glauben und den­ noch spirituelle Probleme. 8. Ich fühle mich verraten und beraubt. 9. Ich frage mich, ob ich den Tod verschuldet habe. 10. Ich möchte Gott wehtun, ihn bestrafen. 11. Ich fühle mich von meiner Glaubensgemein­ schaft im Stich gelassen.

12. Meine Glaubensfreunde sprechen nicht mit mir über den Verlust und wollen auch nichts hören. 13. Ich gehe meiner Glaubensgemeinschaft aus dem Weg. 14. Ich wünsche mir von meiner Glaubensge­ meinschaft Verständnis, aber kein Mitleid. 15. Meine spirituelle Praxis und meine religiö­ sen Aktivitäten haben sich verändert. 16. Ich mache mir Gedanken über das Leben nach dem Tod. 17. Ich habe mich von meinem Glauben losgelöst. Schlussfolgerungen Aus diesen beiden Studien folgern die Autoren, dass Fachkräfte, die mit spirituell beziehungswei­ se religiös orientierten Hinterbliebenen zu tun haben, besonders aufmerksam für deren spiri­ tuelle Probleme sein müssen. Insbesondere bei plötzlichen und mit Gewalt verbundenen Todes­ fällen sollten sie offen dafür sein, nach spirituel­ len Zweifeln und negativen Erfahrungen mit der Glaubensgemeinschaft zu fragen und ihre Bera­ tung daraufhin abzustimmen.

Möchten Sie mehr zu diesem oder ande­ ren Themen aus der Trauerforschung er­ fahren? Melden Sie sich gern beim kos­ tenlosen Newsletter »Trauerforschung im Fokus« unter www.trauerforschung.de an oder schreiben Sie uns einfach eine Mail. Hildegard Willmann, Diplom-Psycho­ login, Herausgeberin des Newsletters »Trauerforschung im Fokus«. E-Mail: [email protected] Heidi Müller, Diplom-Politologin, He­ rausgeberin des Newsletters »Trauerfor­ schung im Fokus«. E-Mail: heidi.mueller@trauer­ forschung.de

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9 0   R e z e n s i o n

REZENSION

Alles zählt

Monika Müller

Verena Lueken: Alles zählt. Köln: Kiepenheur & Witsch, 2015, 208 Seiten Die Protagonistin kommt für einen heißen, lauten Sommer in ihre Wahlheimat New York. Dort trifft sie nach zwei vermeintlich erfolgreichen Thera­ pien das Aufbrechen ihrer Lungenkrebserkran­ kung mit voller Wucht. Aus einer ersehnten Auszeit wird ein Kampf und eine tiefe Auseinan­ dersetzung mit den Fragen von Tod und Leben. Erinnerungen an frühere Lebenszeiten und Gedanken an eine bewunderte Mutter und de­ ren Lebenspartner wechseln ab mit den wachen Gedankenspielen darüber, welche Lebensphasen, Ziele und Gewohnheiten dem Leben innewohnen.

Atmosphärisch dicht reiht sich Erzählung an Er­ zählung, Erinnerung an Erinnerung. Zu Hause fühlt sie sich allenfalls in der Literatur, der ame­ rikanischen. »Sie wollte ihm [dem Autor James Salter] sagen, dass seine Sätze einen Sommer lang und in den Herbst hinein zu jener Gemeinschaft von Wörtern gehört hatten, in deren Gesellschaft sie sich aufgehoben fühlte zu einer Zeit, als ihr selbst die Wörter abhandenzukommen schienen«. Für Leser, die diesen Satz nachvollziehen kön­ nen, lohnt sich die Lektüre der Kulturkorrespon­ dentin der »FAZ« sehr.

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 90, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

LEERE SEITE

Liebe Leserin, lieber Leser, da ist auf einmal Platz für Sie. Vielleicht möchten Sie mit mir den Impuls teilen, diese Seite mit Leben zu füllen. Auf Ihre Art.  Wenn das der Fall ist, dann lade ich Sie ein, diese nun von Ihnen gestaltete Seite aus der Zeitschrift herauszuschneiden und mir zuzusenden. Seien Sie zuversichtlich, dass Sie eine Antwort erhalten werden. Auf meine Art. Herzlichen Dank, dass Sie sich darauf einlassen können. 

Willi Gertsen Caritasakademie für Gesundheits- und Sozialberufe gGmbH Freiburg Dreisamstraße 15–17 79098 Freiburg E-Mail: [email protected]

An den Saum rühren Sie schnitt ein altes Hemd von Joseph entzwei aus einem Stück gewebt, am Ende aber sehr geflickt und packte die Streifen in ihr Bündel. Sie legte sie sanft auf des Kindes Haut prägte seine Seele mit Leinen und deckte es mit Lammwolle zu. Jahre später fand sie das letzte Wickeltuch oder das, was übrig war denn sie hatte einen Docht daraus gedreht um das Haus zu erleuchten. Sie ließ die Finger darüber gleiten und rührte an den uralten Saum. Es fühlte sich an wie eine Heilung. (David Head 2013, unveröffentlicht; übertragen von Karola Hassall) David Head ist seit über dreißig Jahren anglikanischer Priester, fünfzehn davon Seelsorger im Hospiz. Seine Gedichte wurden in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht.

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 92, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

NACHRICHTEN

»Ein Lied für Dich!« – Eine bundesweite Aktion des BVT Nicole Friederichsen

Schirmherr von »Ein Lied für Dich!« ist Matthias Brodowy: »Trauer hat in unserer Gesellschaft, die oftmals zwischen den Extremen Leistungs- und dann wieder Spaßgesellschaft pendelt, allzu oft keinen Raum. Aber die Trauer gehört zu unserem Leben dazu. Es ist gut, in der Trauer nicht allein zu sein, sondern Menschen an der Seite zu haben, die eine Strecke des Weges mitgehen. Deshalb unterstütze ich den Bundesverband Trauerbegleitung e. V. gern und aus voller Überzeugung.« Vor drei Jahren ist am Geburtstag unserer Tochter unser Nachbar völlig unerwartet verstorben. Jetzt brennen jedes Jahr zwei Kerzen – eine auch für ihn, denn sein Tod hat uns an diesem Tag abso­

lut unvorbereitet getroffen und uns sehr berührt. Wir sind nur die Nachbarn, wie geht es seiner Frau jedes Jahr am Todestag, wie an den ande­ ren 364 Tagen? Wann hört der Schmerz auf und wer will (wirklich) noch davon hören? All diese Fragen sind Trauerbegleitern wohlbe­ kannt und auch aus diesen Beweggründen haben wir uns als Bundesverband Trauerbegleitung e. V. für das Jahr 2016 etwas ganz Besonderes überlegt. Wir möchten Chöre, Orchester, Bands, Solisten und alle, die sonst noch musikalisch unterwegs sind, bitten, einem ohnehin geplanten Konzert das Motto »Ein Lied für Dich!« zu geben. Die musikalische Konzertreihe soll sich im Jahr 2016 durch ganz Deutschland ziehen und widmet sich: • Den Trauernden, die den ersten Todestag eines für sie besonderen Menschen erleben. • Den vielen tausend Flüchtlingen, deren Fa­ milien im Krieg umgekommen sind, die ihre Heimat verlassen haben und alles zurücklie­ ßen, um in Sicherheit zu sein. • Allen Trauernden, die auch nach Jahren noch voller Erinnerung sind. Sie können uns dabei unterstützen, indem Sie ein Konzert unserem Motto widmen, einen kleinen Teil des Erlöses dem Bundesverband für seine Arbeit spenden und vielen Trauernden Solidari­ tät und Verstehen signalisieren.

Leidfaden, Heft 1 / 2016, S. 93–96, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

9 4   N a c h r i c h t e n

Informationen finden Sie auf unserer Homepage www.bv-trauerbegleitung.de oder schicken Sie eine Mail an Nicole. [email protected] Nicole Friederichsen ist BVT-Mitglied und im Vorstand für Öffentlichkeits­ arbeit zuständig.

Matthias Brodowy ist Kabarettist und tourt inzwischen durch ganz Deutsch­ land, ist im WDR zu sehen oder zu hören. Website: www.brodowy.de

© E. Puli

Der BVT muss einen großen Teil seiner Arbeit durch Spenden finanzieren. Ihre Spende wird unter anderem für den weiteren Ausbau des BVT und die Projektarbeit mit trauernden Flüchtlin­ gen verwendet. Außerdem möchten wir die Kon­ zepte unserer Mitglieder unterstützen, weitere Netzwerke zwischen Trauernden und Trauerbe­ gleitern schaffen und eine qualifizierte Trauer­ begleitung in Deutschland gewährleisten und ausbauen. Zudem wünschen wir uns durch die Thematisierung in der Öffentlichkeit, dass die Menschen miteinander ins Gespräch kommen. Ich freue mich auf ein musikalisches Jahr mit Ihnen, herzliche Grüße Nicole Friederichsen

Das Männerensemble »les favoris« aus Ludwigs­ burg macht bei der Aktion »Ein Lied für Dich« mit. »Gerne unterstützen wir die Aktion des Bun­ desverbandes Trauerbegleitung e. V. ›Ein Lied für

Dich‹ aus ganzem Herzen und hoffen, denjenigen eine kleine Stütze sein zu können, die geblieben sind, als das letzte Lied verklang.«

L E I D FA D E N   – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R   H e f t  1  /  2 0 1 6

N a c h r i c h t e n   9 5

»und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne« Mit diesen Zeilen aus dem Gedicht »Stufen« von Hermann Hesse hat das Organisationsteam (Christine Stockstrom, Uta Schmidt, Judith Kol­ schen, Tina Geldmann und Claudia Verse) die Säule der Begleitenden des BVT nach Kassel ins Diakonische Werk eingeladen, um das 1. Tref­ fen der »Fachgruppe Begleitende« mitzugestal­ ten. Seit 2014 können auch Begleitende Mitglied im BVT werden und jetzt war es an der Zeit, die­ se zusammenzubringen und an einem arbeitsrei­ chen Tag in die Arbeit des Verbandes zu holen. Schon in der Vorstellungsrunde war zu erah­ nen, was für geballte Kompetenz, Erfahrung und Herz in den einzelnen Begleitenden steckt. Auch in der Gruppenarbeit spürten alle, dass hier etwas ganz Besonderes passiert, nämlich die Grund­ steinlegung für die Positionierung der Begleiten­ den im BVT. Ein großartiges Wir-Gefühl herrschte an die­ sem Tag und darüber hinaus beginnt die Arbeit jetzt erst richtig in den Fachgruppen. Besonders

erwähnenswert ist es, dass BVT-Mitglieder be­ reits Pionierarbeit im Bereich der interkulturel­ len Trauerarbeit leisten. Auf unserem nächsten Begleitendentreffen im April werden einige Mit­ glieder des BVT von ihrer interkulturellen Trauer­ arbeit berichten. Am Ende wurde dann bis zur nächsten Mit­ gliederversammlung eine Sprechergruppe der Be­ gleitenden gewählt, die aus Jürgen Jakob, Tina Geldmacher, Judith Kolschen, Annette Wagner und Nicole Friederichsen besteht. Diese tragen zum Beispiel Wünsche der Begleitenden in den Vorstand, moderieren oder leiten teilweise auch die Fachgruppen und versuchen gezielt Informa­ tionen weiterzugeben und ein lebendiges Mitein­ ander zu ermöglichen. Dieser Tag wird sicher noch lange in uns allen wirken und einige von uns wünschten sich am Ende, dass der Zauber des Eingangszitates lange erhalten bleiben möge. Fotos und Text von Nicole Friederichsen

S p i r i t u a l i t ä t a l s ( e i n ) We g d e r We l t e r f a s s u n g

9 6   N a c h r i c h t e n

Sukhavati – Zentrum für Spiritual Care Almut Göppert Unter dem Namen Sukhavati eröffnet Anfang 2016 nahe Berlin, im traditionsreichen Kurort Bad Saarow, ein Zentrum für Spiritual Care mit buddhistischen Wurzeln. In diesem Modellpro­ jekt werden die buddhistischen Weisheitslehren praktisch angewendet, um Menschen in Mo­ menten größter Verwundbarkeit Unterstützung und Begleitung zuzusichern: in Zeiten von Kri­ se, Krankheit oder Verlust, im Alter oder am Le­ bensende. Sukhavati gliedert sich in drei Felder: • die Pflegewohngemeinschaft, den ­Gästeund Retreat-Bereich sowie das Betreute Wohnen, • die Akademie für das internationale Fortbil­ dungsprogramm »Spiritual Care«, • die buddhistische Lebens- und Arbeitsge­ meinschaft, die den Geist und die Atmo­ sphäre des Zentrums prägen wird.

Nähere Informationen: www.spiritualcare-center.de oder [email protected]

L E I D FA D E N   – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R   H e f t  1  /  2 0 1 6

© Thorsten Adelt

»Er hat um Seelsorge nachgefragt. Wo kann man die hier einstellen?«

Vorschau Heft 2|2016 Thema: Geld und Leid – das leidige Geld Der Tod kostet mehr als das Leben, er kostet Geld Tief versenkt – halb geschenkt?

Sind Billig-Bestattungen aus dem Internet wirklich günstiger?

Hospize und Trauer als Spendenmarkt Führt der Ausbau von Palliativ- und Hospizversorgung zu einem Wettstreit um Spendengelder?

Erbschaftsspenden am St. ­Christopher’s und ein Leitfaden zum Spenden­ sammeln durch Erbschaften Trauerbegleitung – am Leid der anderen Geld verdienen u. a. m.

Impressum Herausgeber/-innen: Monika Müller M. A., KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach E-Mail: [email protected] Prof. Dr. med. Lukas Radbruch, Zentrum für Palliativmedizin, Von-Hompesch-Str. 1, D-53123 Bonn E-Mail: [email protected] Dr. phil. Sylvia Brathuhn, Frauenselbsthilfe nach Krebs e. V., Landesverband Rheinland-Pfalz/Saarland e. V. Schweidnitzer Str. 17, D-56566 Neuwied E-Mail: [email protected] Dipl.-Psych. Thorsten Adelt (Bonn), Dr. Dorothee Bürgi (Zürich), Prof. Dr. Arnold Langenmayr (Ratingen), Dipl.-Sozialpäd. Heiner Melching (Berlin), Dr. Christian Metz (Wien), Dipl.-Päd. Petra Rechenberg-Winter M. A. (Eichenau), Prof. Dr. Reiner Sörries (Erlangen) Bitte senden Sie postalische Anfragen und Rezensionsexemplare an Monika Müller, KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach Wissenschaftlicher Beirat: Dr. Colin Murray Parkes (Großbritannien), Dr. Sandra L. Bertman (USA), Dr. Henk Schut (Niederlande), Dr. Phyllis Silverman (USA), Dr. Margret Stroebe (Niederlande) Redaktion: Ulrike Rastin M. A., Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen, Tel.: 0551-5084-423, Fax: 0551-5084-477 E-Mail: [email protected] Bezugsbedingungen: Leidfaden erscheint viermal jährlich mit einem Gesamtumfang von ca. 360 Seiten. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 68,00 D / € 70,00 A / SFr 85,50. Institutionenpreis € 132,00 D / € 135,80 A / SFr 162,00, Einzelheftpreis € 20 D / € 20,60 A / SFr 27,50 (jeweils zzgl. Versandkosten), Online-Abo inklusive für Printabonnenten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 01.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen; Tel.: 0551-5084-40, Fax: 0551-5084-454 www.v-r.de ISSN 2192-1202 ISBN 978-3-525-80613-5 ISBN 978-3-647-80613-6 (E-Book) Umschlagabbildung: Peter Doig, Reflection (What Does Your Soul Look Like), 1996 / Private Collection / Photo © Christie’s Images / Bridgeman Images / © VG Bild-Kunst, Bonn 2015 Anzeigenverkauf: Ulrike Vockenberg, E-Mail: [email protected] Bestellungen und Abonnementverwaltung: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH, Servicecenter Fachverlage, Holzwiesenstr. 2, D-72127 Kusterdingen; Tel.: 07071-9353-16, Fax: 07071-9353-93, E-Mail: [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. © 2016 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen Druck: KESSLER Druck + Medien GmbH & Co. KG, Michael-Schäffer-Str. 1, D-86399 Bobingen Printed in Germany

Befruchtung und Erweiterung von Beratung und Therapie durch spirituelle Elemente Martin Brentrup / Gaby Kupitz Rituale und Spiritualität in der Psychotherapie 2015. 206 Seiten, mit 6 farb. Abb. und Download-Material, kartoniert € 25,– D ISBN 978-3-525-40379-2 eBook: € 19,99 D / ISBN 978-3-647-40379-3 Mit einem integrativen Ansatz aus humanistischem Menschenbild, systemischen und tiefenpsychologischen Konzepten schlagen die Autoren eine Brücke zwischen psychologischen und spirituellen Modellen. Sie stellen schamanische, buddhistische, Quantenheilungs- und hawaiianische Heiltraditionen vor. So können sich Psychotherapeuten mit den Glaubenssystemen ihrer Klienten vertraut machen. Hilfreich ist dabei eine Haltung der toleranten Neugierde. Therapeutische Rituale sind besonders geeignet, spirituelle Ebenen zu aktivieren und anzusprechen. Zahlreiche konkrete Übungen geben Anregungen für die psychotherapeutische Arbeit. Sie werden zusätzlich als kostenloses Downloadmaterial zur Verfügung gestellt.

Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht

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Die Bedeutung von „Spiritualität“ für Deutschland umfassend analysiert Heinz Streib / Barbara Keller

Was bedeutet Spiritualität? Befunde, Analysen und Fallstudien aus Deutschland Research in Contemporary Religion (RCR), Band 20 2015. 282 Seiten, mit 72 überwiegend farb. Grafiken und 43 Tab., gebunden € 80,– D / € 82,30 A ISBN 978-3-525-60453-3 eBook: € 64,99 D / € 66,90 A

Was heißt eigentlich „Spiritualität“? Barbara Keller und Heinz Streib tragen die Ergebnisse einer an der Universität Bielefeld durchgeführten Studie zur Bedeutung und Psychologie von Spiritualität in Deutschland zusammen.

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29.- 30. APRIL 2016 MESSE BREMEN

7. FACHKONGRESS & MESSE Thema: Transkulturelle Aspekte in Pflege, Sterbe- und Trauerbegleitung

LEBEN IST VIELFALT – STERBEN AUCH!?

ЖИТЬ ОЗНАЧАЕТ МНОГООБРАЗИЕ, И УМИРАТЬ ТОЖЕ!?

NEU Hofmann, Heise (Hrsg.)

Spiritualität und spirituelle Krisen

YAŞAM FARKLIDIR – ÖLÜM DE!?

Handbuch zu Theorie, Forschung und Praxis • Praktische Unterstützung für die professionelle Begleitung durch erprobte und etablierte Behandlungsansätze und Hinweise auf relevante Anlaufstellen und Ressourcen

Irrtum und Preisänderungen vorbehalten. Abb.: © Maria-Luise Bodirsky

• Gebündelte wissenschaftliche, psychotherapeutische und erfahrungsbasierte Expertise durch Beteiligung namhafter Fachvertreter, Repräsentanten eines renommierten spirituellen Zentrums und semi-professioneller unterstützender Netzwerke Persönliche Schicksalsschläge oder existenzielle Fragen, die sich innerhalb eines materialistischen Weltbilds nur unzureichend beantworten lassen, können das Bedürfnis nach Spiritualität als Suche nach Sinn und Bedeutung des eigenen Seins verstärken. Verbindet sich dies mit einer unkritischen Anwendung von spirituell-meditativen Techniken können sich krisenhafte Zuspitzungen ergeben, in denen Sie als Wegbegleiter oder Therapeut gefordert sind.

LIFE IS DIVERSE – SO IS DYING!?

जीवन क ववधता है मर जाने क भी !?

‫ ולש ךרדב יח םדאה‬‫ךלוה םג אוה םא‬ ‫?! אוה וכרדב ומלועל‬

2016. Ca. 480 Seiten, 32 Abb., 40 Tab., geb. Ca. € 59,99 (D) / € 61,70 (A) | ISBN 978-3-7945-3057-1

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Edition Leidfaden. Basisqualifikation Trauerbegleitung

Alfried Längle / Dorothee Bürgi

Heidi Müller / Hildegard Willmann

Wenn das Leben pflügt

Trauer: Forschung und Praxis verbinden

Krise und Leid als existentielle Herausforderung Mit einem Vorwort von Michael Köhlmeier. 2016. Ca. 121 Seiten, mit 5 Abb. und 10 Tab., kartoniert ca. € 15,– D ISBN 978-3-525-40259-7 eBook: ca. € 11,99 D / ISBN 978-3-647-40259-8

Zusammenhänge verstehen und nutzen

Mit einem Vorwort von Henk Schut. 2016. Ca. 128 Seiten, mit 3 Abb. und 4 Tab., kartoniert ca. € 15,– D ISBN 978-3-525-40260-3 eBook: ca. € 11,99 D / ISBN 978-3-647-40260-4

Menschen leiden, weil die Bedingungen für ein gutes Leben verloren gegangen sind und Lebensrelevantes zerstört ist. Leiden kann daher als gefühlter Existenzverlust verstanden werden. Es bringt Menschen an Grenzen, bei denen es oft schwierig ist, sich innerlich aufrechthalten zu können. Das Buch beleuchtet Leiden aus einer anthropologischen Perspektive und gibt Impulse und Anleitung zur Praxis der Begleitung von Menschen in Krisen, Leid und Trauer. Ziel einer existentiellen Begleitung ist das gemeinsame Aufsuchen von Entwicklungs- und Werdenspotentialen, um das Erlittene in einen lebensbejahenden Kontext einzubetten. Darum eignet sich das Buch auch als Verarbeitungshilfe für Betroffene.

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In Deutschland gibt es inzwischen viele Hilfsund Beratungsangebote für Hinterbliebene, denn der Bedarf an Unterstützung ist groß. Doch zentrale, international diskutierte Themen finden hierzulande kaum Beachtung: Wieso leiden einige Menschen mehr unter einem Verlust als andere? Unter welchen Bedingungen ist eine fortgesetzte Bindung zum Verstorbenen ungünstig oder hilfreich? Häufig liegt es an der fehlenden Kenntnis über aktuelle Entwicklungen in der internationalen Trauerforschung. Das Buch trägt dazu bei, diese Lücke zu schließen. Mit diesem Hintergrund können Trauerbegleiter sehr viel besser betroffenen Menschen zur Seite stehen.

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