Hoffnung – ein Drahtseilakt: Leidfaden 2017 Heft 01 [1 ed.] 9783666806179, 9783525453223, 9783525806173

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Hoffnung – ein Drahtseilakt: Leidfaden 2017 Heft 01 [1 ed.]
 9783666806179, 9783525453223, 9783525806173

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6. Jahrgang  1 | 2017 | ISSN 2192-1202

faden Leid

FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R

Hoffnung – ein Drahtseilakt Alfried Längle Hoffnung – Ausdruck der Liebe zum Leben  Arnold Retzer

Hoffnung: Was sie ist, was sie kann – was sie anrichtet  Judith Grümmer Verzweiflung hat viele Gesichter, Hoffnung dagegen nur ein einziges  Gisela Janßen Ein Leben mit Höhen und Tiefen – In Hoffnung und Trauer Luise Reddemann Hoffnung und Mitgefühl

Einfühlsames und gestalterisch einladendes Angebot für Menschen in Trauer

Ulrich Domdey / Cordula Wächtler / Manfred Zimmermann (Hg.)

Die Räume der Stille Die Quelle der Kraft 2016. 60 Seiten mit zahlr. Farbfotos, gebunden € 15,– D ISBN 978-3-525-45322-3

Der künstlerisch gestaltete Fotoband stellt die auf einem Friedhof gestalteten „Räume der Stille“ vor und lädt Menschen ein, ihren Trauerprozess bewusster zu erleben und zu einem gesunden Neubeginn zu entwickeln. Jeder Abschied ist ein Neubeginn. Verlustprozesse von etwas existenziell Liebgewonnenem sind individuell und zeigen doch immer auch vergleichbare Emotionen. Dieses Buch macht mit den „Räumen der Stille“ auf dem Stadtfriedhof Ricklingen in Hannover bekannt. Das (landschafts-)architektonische Konzept ist angelehnt an die fünf Abschieds- und Sterbephasen nach KüblerRoss: Verleugnung, Wut, Verhandeln, Schwermut und Annahme als wesentliche und typische Phasen bei trauernden Menschen. Der künstlerisch gestaltete Bildband führt fotografisch durch die verschiedenen Räume. Gleichzeitig laden Autorinnen und Autoren mit persönlicher Verlusterfahrung ein, anhand ihrer Texte ihre Gedanken und Gefühle zu teilen.

Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht

www.v-r.de

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EDITORIAL

Hoffnung – ein Drahtseilakt Dieses Heft ist einem Freund und Kollegen ge­ widmet, Klaus Aurnhammer, der für uns nach einer schweren Herzattacke und düsteren Pro­ gnose ein Sinnbild für erfüllte Hoffnung und des­ sen Weg zurück ins Leben eine Auferstehungs­ geschichte wurde. Ernst Blochs Begriff »Prinzip Hoffnung« ist zu einem geflügelten Wort in der deutschen Sprache geworden. Dass Menschen nicht ohne Hoffnung leben können oder dass sie zuletzt stirbt, sind gern genannte Zitate, die wir in diesem Heft hin­ terfragen wollen. Was bedeutet das für unseren Arbeitsalltag mit kranken, sterbenden, Rat suchenden und trau­ ernden Menschen? Mit Patienten und Klienten, die ihre Hoffnung verloren haben oder auch eine für uns oder die Wissenschaft unsinnige Hoff­ nung hegen? Unser Dasein zwischen Resignation und Verzweiflung auf der einen Seite und Illusion und Utopie auf der anderen mutet wie ein Draht­ seilakt an. Was verbirgt sich hinter Tagträumen, Wunschbildern, Sehnsucht, Luftschlössern, Ver­ besserungsstreben, Zuversicht, und was unter­ scheidet sie von Hoffnung?

Dieses Heft erscheint zu einem gleichnamigen Symposium. Mit der ersten Tagung des Leid­faden im Rahmen der Leidfaden Academy greifen die Herausgeber das zentrale Thema »Hoffnung« auf, das in Vorträgen und Workshops aus der Perspek­ tive verschiedener Disziplinen vorgestellt und für die Praxis erarbeitet wird. Heft und Tagung legen besonderen Wert auf Praxisnähe. Freude und Erkenntnisse beim Lesen und ­Hören wünschen

Monika Müller

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 1, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

Lukas Radbruch

Inhalt 1 Editorial 4 9

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Larry D. Cripe Die Hoffnung ist ein Federwesen Alfried Längle Hoffnung – Ausdruck der Liebe zum Leben Arnold Retzer Hoffnung: Was sie ist, was sie kann – was sie anrichtet!

23  Heiner Melching | Vom Umgang mit dem Hoffnungsbegriff in der ­Diskussion zum ärztlich



16

assistierten Suizid



20 23

Matthias Schnegg Diese drei Dirk Nemitz Kryonik – Hoffnung auf eine Medizin der Zukunft Heiner Melching Vom Umgang mit dem Hoffnungsbegriff in der ­Diskussion zum ärztlich assistierten Suizid





39 Werner Faber | Hoffentlich …?

66 Luise Reddemann Hoffnung und Mitgefühl



28 33 39

Franco de Conno und Heidi Blumhuber Das »Phänomen Di Bella« Klaus Aurnhammer, Anette Aurnhammer und Martina Kern Der Stoff, aus dem die Hoffnung ist Judith Grümmer Hella Zeller – Hoffnungen

72 Sigrun Müller | Hoffnung behalten

42

Werner Faber

46

Karola Hassall

49

Judith Grümmer

Hoffentlich …?

Nie gab es mehr Anfang als jetzt

Verzweiflung hat viele Gesichter, Hoffnung dagegen nur ein einziges

52

Michaela Hesse

57

Gisela Janßen

Zwischen Hoffen und Bangen

Ein Leben mit Höhen und Tiefen – In Hoffnung und Trauer

60

Annelie Bracke »Aus der Tiefe rufe ich dich!« (Buch der Psalmen 130, 1)

64

Matthias Schnegg und Bärbel Ackerschott Von absichtsloser Gastfreundschaft

94

BVT-Nachrichten

98

Nachrichten

66

Luise Reddemann Hoffnung und Mitgefühl

100

Kurzrezensionen

72

Sigrun Müller

101

Cartoon | Vorschau

102

Impressum

Hoffnung behalten

75

Silke Heimes

79

Barbara Klee-Reiter

Das Prinzip Hoffnung in der Poesietherapie

Der Duft der Hoffnung 83 Petra Moser | Hoffnung als Wirkprinzip

83

Petra Moser

86

Aus der Forschung: Welche Rolle spielt das

88

Fortbildung: Ein Recht auf Hoffnung?!

Hoffnung als Wirkprinzip

Thema Hoffnung bei der Verlustbewältigung?

4

Die Hoffnung ist ein Federwesen Zusammenfassung eines Artikels von Larry D. Cripe1

Karola Hassall und Lukas Radbruch Larry Cripe beschreibt in einem Artikel im Jour­ nal of the American Medical Association seine Begegnung mit Mr. Jackson, einem Patienten, der auf der Intensivstation an akuter Leukämie ge­ storben war. Ein paar Wochen später fand ­Larry einen toten Vogel im Garten. Als er wie jeden Morgen die Zeitung hereinholte, fiel sein Blick auf eine lange, grellrote Schwanzfeder, die einsam auf einem Ast gegenüber schaukelte, in dem sie sich

verfangen hatte. Als er sich umblickte, bemerkte er noch mehr Federn, die überall im dichten nas­ sen Gras verstreut lagen. Die Spur führte zu dem Kadaver eines männlichen Roten Kardinals, der halb verborgen in den Immergrün-Büschen lag, die an seiner Hauswand wachsen. Zehn Tage bevor Mr. Jackson starb, saß Larry auf der Kante des Krankenhausbetts. Mr. Jackson selbst saß halb aufgerichtet im Bett, in seinem

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 4–8, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

tea maeklong / Shutterstock

D i e H o f f n u n g i s t e i n Fe d e r w e s e n    5

Rücken drei Seidenkissen, die er von zu Hause mitgebracht hatte. Nach fünf Wochen im Kran­ kenhaus konnte er es kaum erwarten, das Kran­ kenhaus zu verlassen. Die Therapie gegen seine akute Leukämie hatte nicht angeschlagen und Mr. Jackson zeigte keine Zeichen der Besserung. Er benötigte tägliche Infusionen, sein Fieber sank trotz Antibiotika nicht und sein Blutbild zeig­ te keine normalen weißen Blutkörperchen mehr. Ein partieller Darmverschluss führte dazu, dass er das wenige Essen erbrach, das er noch zu sich nehmen konnte. Seine blasse, durchscheinende Haut spannte sich schon über Händen und Ge­ sicht. »Zu Hause wird das mit dem Essen besser klap­ pen. Und wenn ich erst mal etwas zugenommen habe, können wir es ja nochmal mit einer anderen Therapie versuchen«, sagte er mit geschlossenen

Augen, seine Stimme kaum vernehmbar im Blub­ bern des Sauerstoffgerätes an der Wand. Larrys Blick schweifte über den Stapel ungeöffneter Nah­ rungsergänzungsmittel auf seinem Nachttisch. »Sie haben Recht«, sagte er schließlich und fing den Blick der Ehefrau auf, die am Fenster saß. »Es ist an der Zeit für Sie, heim zu gehen. Aber ich glaube, wir müssen für Ihre letzten Wochen Vor­ kehrungen treffen.« »Sie glauben also, dass es kei­ ne Hoffnung mehr gibt?«, entgegnete Mr. Jackson mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Dass alles sinnlos ist?« Er sah Larry nicht an. Larry zog sich auf den sicheren Posten der Praktikabilität zurück und lenkte das Gespräch auf weniger bedrohliche Themen wie die anste­ hende ambulante Versorgung und die Häufigkeit von Infusionen. Er erwähnte weder palliative Pfle­ ge noch die Verlegung in ein Hospiz.

Hoffnung – ein Drahtseilakt

6   K a r o l a H a s s a l l u n d L u k a s R a d b r u c h

In der Woche nach dem Gespräch verlor Mr. Jackson während einer ambulanten Infusion das Bewusstsein und musste reanimiert werden. Er starb wenige Tage später. Als Larry das Sterbezim­ mer verließ, klang das Schluchzen seiner ältesten Tochter in seinen Ohren – rau und unregelmäßig wie Mr. Jacksons letzte mühsame Atemzüge. We­ nig später las er in einem Brief von ihr: »Ich wollte schreien: ›Was haben Sie mit mei­ nem Vater gemacht? Er war so ein wundervoller Mann. Er hat es nicht verdient, so zu sterben.‹« Larry musste an den Tag vor Mr. Jacksons Einweisung ins Krankenhaus denken. Mr. Jack­ son und seine Familie saßen in Larrys Büro, um die anstehende Chemotherapie zu besprechen. Mr. Jacksons Leukämie war nach einer kurzen Remission zurückgekehrt und Larry glaubte nicht an die Möglichkeit einer erneuten Remission. Er druckte eine Liste von Behandlungsoptionen so­ wie deren Zielen und Risiken aus und wies die Familie darauf hin, dass eine weitere Behandlung mit Chemotherapie für Mr. Jackson lebensgefähr­ lich sein könnte. Und er schlug stattdessen eine ambulante Palliativversorgung vor. Mr. Jackson hörte aufmerksam zu und berichtete dann von der Beerdigung seiner Tante vor einer Woche. In der ersten Reihe hatte er gesessen, ihr Sarg auf gleicher Höhe mit seiner Schulter. Er habe offen geweint, gestand er. »Die Leute dachten, ich wei­ ne um sie. Aber das stimmte nicht – ich habe um mich selbst geweint. Alles erschien so hoffnungs­ los.« Und dann gestand er, wie sehr es ihm vor dem Arzttermin gegraut habe und davor, was Lar­ ry sagen würde. Zum Abschluss sagte er bei dem Treffen: »Es gibt Hoffnung«, und zeigte auf den Ausdruck mit den Möglichkeiten zur Chemothe­ rapie. Sieben Wochen später war er tot. Als ich an jenem Sommermorgen die Über­ reste des toten Vogels einsammelte, dachte ich an Mr. Jackson, die langen Wochen seines ver­ geblichen Krankenhausaufenthalts, die Art sei­ nes Sterbens und das Leid seiner Tochter. Mir ka­ men die ersten Zeilen eines Gedichts von Emily Dickinson in den Sinn:

Die Hoffnung ist ein Federwesen das in der Seel’ sich birgt und Weisen ohne Worte singt und niemals müde wird. Die Fähigkeit zu hoffen – hoffnungsvoll zu sein – ist eine fundamental menschliche Eigenschaft. Die Quelle der Hoffnung ist eines der großen menschlichen Mysterien. Aber, so ging es Larry durch den Kopf, oft wird die Hoffnung in etwas scheinbar eher Greifbares verwandelt, wie ein Vogel, während wir Erfahrungen, Vorstellungen, Ziele und Wünsche miteinander teilen. So wird Hoffnung zu etwas, das uns das Hoffen erlaubt. Im Umgang mit Krebserkrankungen ist sie zur Hoffnung auf erfolgreiche Behandlung gewor­ den. Geschichten von unerwarteter Heilung, ob­ wohl nach Einschätzung der Ärzte der Tod un­ mittelbar bevorstand, sind an der Tagesordnung. Wir hören oft von Menschen, die darauf bestan­ den, dass ihr Arzt alles versuchen solle, und die Jahre später gesund und quicklebendig sind. Das Wort »Hoffnung« wird hier gleichbedeutend ver­ wendet mit Maßnahmen oder pharmazeutischer Werbung, der Marketingstrategie einer Krebs­ station oder Pressemitteilungen einer medizini­ schen Gesellschaft. Nicht selten verwechseln Onkologen die Fort­ setzung einer Therapie mit schlechter Erfolgspro­ gnose mit der Erhaltung von Hoffnung. Dadurch wird jedoch für den Patienten und seine Ange­ hörigen oft der Übergang in die palliative Ver­ sorgung »hoffnungslos« erschwert. Patienten wie Mr. Jackson versichern ihren Ärzten oft, dass sie nicht aufgeben, dass Nichtstun keine Option ist. Leider sterben die meisten Menschen mit akuter Leukämie und viele andere mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen dennoch an ihrer Krankheit. Als Larry den toten Vogel begrub, berührt von dessen gleichzeitiger Fragilität und Resilienz, be­ gann er zu verstehen, dass Hoffnung als konkre­ te Erscheinung – eine Maßnahme oder Entschei­ dung – fragil ist im Gegensatz zur Resilienz des Hoffnungsvoll-Seins. Damit beschreibt er die Fä­

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Max Fabian, Hiob, 1920 / Bildarchiv Pisarek / akg-images

»Die Leute dachten, ich weine um sie. Aber das stimmte nicht – ich habe um mich selbst geweint. Alles erschien so hoffnungslos.«

8   K a r o l a H a s s a l l u n d L u k a s R a d b r u c h

higkeit, dem Leben Bedeutung zu geben, selbst wenn Heilung nicht möglich ist. Er überlegte, dass vielleicht die Art und Wei­ se, wie er selbst über Hoffnung spreche – die Ge­ schichten, die er mit anderen Menschen teile –, darüber entscheiden könne, ob ein Patient im Endstadium einer Krankheit seinem Tod hoff­ nungslos oder hoffnungsvoll entgegenblickt. In den Jahren nach Mr. Jacksons Tod hat sich Larry angestrengt, hoffnungsvoll zu bleiben, wenn seine Patienten ihre Chemotherapie been­ deten und den Übergang in die palliative Versor­ gung antraten. Er berichtet über den Lernprozess, die Möglichkeit einer später vielleicht notwendi­ gen palliativen Pflege vor Behandlungsbeginn als etwas Positives anzusprechen. So werten seine Pa­ tienten die Empfehlung einer palliativen Versor­ gung im Fall einer nicht erfolgreichen Therapie nicht als »Aufgeben« von Seiten des Arztes, son­ dern im Gegenteil als Zeichen seines persönli­ chen Engagements. Dabei lotet er aber weiter­ hin alle Möglichkeiten aus, um das Sterben eines Patienten zu verhindern oder zu verlangsamen. Die Möglichkeit einer Heilung – so bescheiden sie auch sein mag – wird immer großen Einfluss auf die Entscheidung eines Menschen haben, der vor der Wahl steht, eine körperlich schwächende Therapie fortzusetzen oder abzubrechen. Larry berichtet aber, wie er auch Zeuge des Friedens, der Freude, des Trosts und des Gefühls von Vervollständigung geworden ist, in denen Pa­ tienten, die sich gegen eine Fortsetzung medizini­ scher Maßnahmen entschieden hatten, ihre letz­ ten Wochen und Monate verbrachten. Larry begegnete Mr. Jackson zum ersten Mal, als seine junge Tochter einen Termin mit ihm machte, um eine zweite ärztliche Meinung zur Krankheit ihres Vaters einzuholen. Sie hatte im Internet gelesen, dass Larry der Leiter eines For­ schungsprojekts zur Behandlung akuter Leukämie bei älteren Menschen war. Mr. Jackson wollte an dem Projekt teilnehmen, da eine neue Behand­ lungsmethode ihm »immer noch mehr Hoffnung böte als keine Behandlung«. Als sein Krebs zurück­

kehrte und Larry zu dem Schluss kam, dass eine Fortsetzung der Behandlung vergeblich war, schlug er Mr. Jackson eine palliative Versorgung vor, ohne ihn jedoch darin zu unterstützen, seinen Begriff von Hoffnung mit neuer Bedeutung zu füllen. Heute würde er mit Mr. Jackson seine Überzeu­ gung teilen, dass wirkliche Hoffnung in ihm selbst einen Ort hat, »sich in seiner Seele birgt« – unab­ hängig davon, ob er sich weiteren Behandlungen unterzieht. Larry spricht heute mit mehr Offen­ heit über die Schicksale, deren Zeuge er wird – über die Fähigkeit, den letzten Lebensabschnitt in Fülle zusammen mit Familie und Freunden zu verleben, über die Resilienz des menschlichen Geistes und sein Vermögen zur Hoffnung. Nicht zuletzt verspricht er jedem Patienten, ihn mitfüh­ lend und gewissenhaft zu begleiten – entweder in der Entscheidung, etwas, alles, irgendetwas zu tun, um zur Heilung zu gelangen, und ebenso in einem Auskosten des Lebens bis hin zum Sterben. Larry berichtet, wie er sich manchmal vorstellt, er säße noch einmal an Mr. Jacksons Krankenbett und hätte die Chance, auf dessen Frage zu ant­ worten. »Sie glauben also, dass es keine Hoffnung mehr gibt? Dass alles sinnlos ist?« »Ich glaube nicht, dass es hoffnungslos ist«, sagt Larry dann. Und meistens dreht sich Mr. Jackson weg, voller Enttäuschung. Aber zuweilen nimmt er in Larrys Vorstellung die Hand seiner Frau und entgegnet ihm: »Wir auch nicht.« Larry Cripe ist Hämatologe am I­ ndiana University Cancer Center und gilt als Leu­ kämie-Spezialist, der im Bereich der ArztPatienten-Kommunikation For­schungen betreibt. Ihn interessiert vor allem das Thema medizinischer Entscheidungsfin­ dung. E-Mail: [email protected] Karola Hassall arbeitet als Redakteurin, Journalistin und Übersetzerin. Prof. Dr. Lukas Radbruch ist Professor für Palliativmedi­ zin an der Universität Bonn und Chefarzt des Zentrums für Palliativmedizin, Malteser Krankenhaus Bonn/Rhein-Sieg. Anmerkung 1 Originalartikel: Larry Cripe, Hope Is the Thing With Fea­ thers. In: JAMA, January 19, 2016, Volume 315, Number 3.

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Paul Gauguin, Still Life with l’Esperance, 1901 / Private Collection / Photo © Christie’s Images / Bridgeman Images

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Im Kern ist Hoffnung keine Erwartungshaltung. Hoffnung hat eine logische und nüchterne Basis. Hoffnung ist realistisch, sie ist rational begründet und ontologisch gerechtfertigt.

Hoffnung – Ausdruck der Liebe zum Leben Alfried Längle Hoffnung ist der Gegenpol der Resignation. Sie hält den Menschen in der Aktivität und der Wer­ tebeziehung und bindet ihn somit in Situatio­ nen, wo man nichts mehr tun kann, an das Le­ ben an. Dadurch hat Hoffnung eine starke Potenz für Resilienz. Was wäre das Leben, hätten wir nicht die Hoff­ nung? – Denn: Was bleibt vom Leben, wenn wir

nicht mehr hoffen? – Und: Ist Leben überhaupt möglich, ohne zu hoffen? Hoffnung ist Leben; hält die Zukunft auf, hält uns mit dem Leben verbunden, gibt Kraft und Orientierung. Hoffen ist gefühlt, bewusst, man­ ches ist bangend, klammernd – manches ist stän­ dig da, so dass wir daran so gewöhnt sind, dass es uns kaum mehr bewusst ist: dass nichts passiert,

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 9–12, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

1 0   A l f r i e d L ä n g l e

Aber er bleibt mit dem ihm Wertvollen in Ver­ bundenheit und geht nicht weg, ignoriert die Si­ tuation nicht und übergeht sie nicht, tut sie nicht ab, wertet sie nicht ab, verschließt nicht die Au­ gen. Der Hoffende ist vom Wert motiviert, vom Erhalten des Lebens, ist in einer konstruktiven Haltung: Das Positive möge erhalten bleiben, et­ was Wertvolles möge entstehen und das Unglück nicht eintreten. Diese Haltung, das Positive nicht fahren zu lassen, kann so stark sein, dass sie sogar dann gelebt wird, wenn eine positive Wendung unwahrscheinlich ist. – Wegen dieser Ganzheit­ lichkeit ist Hoffnung ein existentieller Akt. Das Paradoxe an dieser Haltung der Hoffnung liegt darin, dass es sich zwar um eine Aktivität handelt, um ein Tun also, das gelebt wird, obwohl man selbst nichts (mehr) zur Verbesserung bei­ tragen kann. Hoffnung hat dort ihren Platz, wo man zur Untätigkeit gezwungen ist. Doch bleibt noch das Eine: die Treue zu halten zum Wert, zur Beziehung, zur Zukunft – zu dem, was einem Le­ ben bedeutet. In einem stillen, inneren Gefühl oder mit erhobenen, gleichsam beschwören­ den Händen, wie auch immer, wird vertrauend, wartend, vielleicht beschwörend in der e­ igenen George Frederic Watts, After the Deluge: The Forty-First Day, um 1885 / akg-images

wenn wir mit dem Auto losfahren, dass wir ge­ sund bleiben, dass wir es weiter gut haben. Doch was ist Hoffnung? Ein Gefühl, ein Han­ deln, ein Glauben, ein Erinnern, eine SelbstTäuschung? Hoffnung wird immer gefühlt, aber gleichzeitig ist es mehr als ein Gefühl. Im Kern ist Hoffen das Halten einer Verbindung zu et­ was, das einem einen Wert bedeutet. Ich hoffe auf eine Besserung, weil mir Gesundheit wert­ voll ist. Im Hoffen tun wir also etwas: uns inner­ lich in Beziehung halten, uns verbunden halten mit dem, was uns wichtig ist. Darum ist Hoffen ein Akt. Der Akt besteht darin, dass man das We­ sentliche nicht aufgibt, die Beziehung aufrecht­ erhält: »Gesundwerden bedeutet mir so viel, es ist wichtig für mein Leben – ich hoffe, ich wünsche mir, ich würde alles tun, wenn ich könnte, um ge­ sund zu werden.« Die Hoffnung führt zu einem großen Schritt: Aus dem Wünschen, Sehnen und Verlangen wird eine Haltung. Der Hoffende steht vor dem Unglück, vor dem Leid, der Krankheit, der Behandlung und so weiter und weicht nicht zurück, sondern stellt sich der Situation, schaut ihr in die Augen. Er weiß um den Abgrund, um die Möglichkeit, dass es nicht gut ausgehen kann.

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H o f f n u n g   – A u s d r u c k d e r L i e b e z u m L e b e n    1 1

Inner­lichkeit der Wert nicht aufgegeben, mit dem man sich verbunden fühlt. Diese den Menschen beseelende Haltung hat allgemein menschliche Bedeutung bei allen Vor­ gängen, denen man sich »ausgesetzt« fühlt (dass man sich als Paar wieder besser verstehen kann; dass das Kind die Prüfung schafft; dass sich die Wirtschaft erholt usw.). Sie hat darüber hinaus be­ sondere Bedeutung bei schicksalhaften Belastun­ gen. Sie schützt vor Krankheit und Apathie, denn sie ist aktivierend, motivierend, belebend, lässt die Menschen teilhaben am Geschehen, mitma­ chen, wo es möglich ist. Sie ruft den Menschen auf den Plan und in die Existenz.

cher richtig«. Zwischen Möglichkeit und Sein ist ein Graben, weil da noch viel möglich ist. Es muss nicht einmal ein Wunder sein, was noch eintre­ ten kann, aber es kann auch ein Wunder gesche­ hen, selbst das wird in der Hoffnung nicht ausge­ Hoffnung ist schlossen. Man gibt allen realistisch, weil Möglichkeiten, auch denen, das Eintreten von die man nicht kennt, und sogar dem Unwahrschein­ Künftigem nie lichen eine Chance. – Da­ ganz festgelegt ist. rum ist Hoffnung keine Selbsttäuschung und kein Abwehrmechanismus und keine Illusion, weil sie auf diesen ontologi­ schen Sachverhalt Bezug nimmt.

Hoffnung nüchtern betrachtet Hoffnung wird oft verstanden als ein trösten­ des Gefühl, das einem das Leid einer Krankheit oder die Drohung eines Verlustes beruhigen und den Schmerz lindern soll. Sie wird wie eine Art gute Mutter gesehen, die besänftigt und ein wenig streichelt – letztlich vielleicht sogar Inbild einer archetypischen Sehnsucht. Vielfach wird sie auch als Erwartungshaltung aufgefasst. Man erwartet, dass etwas sich zum Posi­ tiven wende. Dass ein Wunsch in Erfüllung gehe. Mit vielleicht ominösem Beiwerk: Wenn man nur genug hofft, dann wird es sich schon einstellen … Im Kern ist Hoffnung keine Erwartungshal­ tung. Hoffnung hat eine logische und nüchter­ ne Basis. Hoffnung ist realistisch, sie ist rational begründet und ontologisch gerechtfertigt. Hoff­ nung kann als eine sachliche Haltung verstanden werden. Ihre Folge ist existentiell: Sie bringt eine Haltung der Offenheit mit sich. Wenn man die Rolle der Hoffnung auf das Sein bezieht, also ontologisch betrachtet, bedeutet Hoffnung zunächst nur dies: Was noch nicht eingetreten ist, ist nicht ausgeschlossen. »Sicher« ist nur, was eingetreten ist. Was nicht ist, ist (noch) nicht. Was noch nicht ist, das ist nicht sicher, ob es eintritt. Diese Einschät­ zung der Realität ist völlig unzweifelhaft, ist »si­

Hoffnung als Beziehungsthema

Hoffnung ist Aufrechterhaltung der Beziehung zum Wertvollen.

In der Hoffnung hält man sich nicht nur offen, man hält auch fest in einer Aus­ richtung auf einen Wert, will in Verbundenheit mit ihm bleiben: Man will die Beziehung zu dem Wert, um den es geht, nicht aufgeben.  ICH

WERT

Ausgang ist noch offen

Hoffnung: Verbundenheit (Beziehung) zum Wert bleibt aufrecht

Hoffnung in der Untätigkeit Hoffnung bekommt erst dann ihr eigenes Ge­ wicht, wenn man selbst nichts mehr zur Wendung zum Positiven beitragen kann, der Situation also ausgeliefert ist. Der Hoffende ist zur Untätigkeit »verdammt« – das ist ja das Schwere. Man wür­ de so gern sich einsetzen, etwas tun – sei es für sich oder für andere oder zur Verbesserung der Umstände –, aber man hat keinen Einfluss auf die Realität und kann daher nichts bewirken. Darum ist Hoffnung nicht Erwartung. Erwartung enthält

Hoffnung – ein Drahtseilakt

1 2   A l f r i e d L ä n g l e

die Berechnung, ist schon Warten mit der kon­ kreten Vorstellung, wie es ausgehen wird. Hoff­ nung lässt von allen Erwartungen ab, lässt es offen, lässt sein, ist bereits ein Sich-Lösen im Bewusst­ sein, es vielleicht abgeben zu müssen. Auch dies ist ein Akt: lassen, sein lassen, es dem Sein zu überlassen, was geschehen wird. Das Ein­ zige, was ich noch tun kann, ist Halten der Bezie­ hung. Hoffnung im großen Kontext Hoffnung ist auf Zukunft ausgerichtet; deshalb hat Hoffnung Sinn (Frankl 2004; Längle 2007). Man fühlt, dass das eigene Dasein in einem grö­ ßeren Ganzen steht, das die Geschicke leitet, die man selbst nicht mehr bestimmen kann. Dieser Seinsgrund ist wie ein spiritueller Urgrund des Seins, dem man sich anvertraut, wenn man hofft. Was geschieht, geschieht im Wo Hoffnung ist, Rahmen einer Ordnung, es ist Sinn – Hoff- ist »in Ordnung« (Längle 2016). So kann Hoffnung als nungslosigkeit ist die geistige Kunst bezeich­ Sinnlosigkeit. net werden, angesichts eines eigenen Unvermögens etwas zu tun und nicht in Ohnmacht und Lethargie zu verfallen. Hoffnung als existentieller Akt ist eine von einem tiefen Lebensgefühl getragene Entschei­ dung. Darum »stirbt die Hoffnung zuletzt«. Das Gegenteil von Hoffnung ist die Resignation: das Aufgeben des Wertes, das Fahren-­Lassen und Verfallen-Lassen der Verbundenheit. In der Resignation ist die Liebe zum Leben erstorben. Man vertraut nicht mehr, wendet sich ab, ist über­ wältigt. Man hat keine personalen, ichhaften Res­ sourcen mehr, die man der Situation entgegen­ stellen könnte.

tung, die nicht mehr frei lässt, sondern sich an ein Ergebnis klammert. Dadurch wird die Reali­ tät ferngehalten, ja dort, wo sie die Wünsche stört, sogar ausgeklammert, geleugnet und verdrängt. Darin liegt ihr Schaden, dass man sich nicht mehr mit der Realität auseinandersetzt – während echte Hoffnung eine Anerkennung der Realität bedeutet. Für den Fall, dass jemand einer »falschen Hoff­ nung« erliegt, also einer Illusion folgt oder einer Täuschung erliegt, soll das Prinzip gelten: Solange eine »falsche Hoffnung« nicht Aktivitäten unter­ bindet, die bei richtiger Einschätzung hilfreiche Schritte ermöglichten, so lange sollte eine soge­ nannte »falsche Hoffnung« nicht konfrontiert oder gar zerstört werden. Denn Hoffnung ist Ausdruck einer persön­ lichen Beziehung zum Leben und stellt keinen objektiven Befund dar. – Doch wenn die falsche Hoffnung wichtige Schritte blockiert, wäre sie be­ hutsam anzufragen: Ich hoffe mit dir – aber wie wäre es für dich, wenn es nicht so ausginge …? Denn Hoffnung zu erhalten, heißt Leben zu er­ halten. Hoffnung atmet das Leben: Dum spiro, spero ‒ Solange ich atme, hoffe ich. Alfried Längle, Universitätsprofessor Dr.  med., Dr.  phil. Honorarprofessor, DDr. h. c., Arzt für Allgemeinmedizin und psychotherapeutische Medizin, Me­ dizin, klinischer Psychologe, Psychothe­ rapeut, Lehrtherapeut (GLE). Er ist ao. Professor an der Psychologischen Fakul­ tät der HSE-Universität Moskau, Gastprofessor an der Sig­ mund-Freud-Universität Wien, Präsident der Internationalen Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse (GLE-Int) mit Sitz in Wien und in eigener psychotherapeutischer Pra­ xis in Wien tätig. – Wissenschaftlicher Leiter der Existential Training & Leadership-Academy (Wien-Zürich). E-Mail: [email protected] Literatur

»Falsche« Hoffnung Eine falsche, unrealistische Hoffnung ist im eigent­ lichen Sinne keine Hoffnung mehr, sondern eine Erwartung oder ein Wunsch – jedenfalls eine Hal­

Frankl, V. E. (2004). Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk. Vorwort von Konrad Lorenz. 17. Auflage. München. Längle, A. (2007). Sinnvoll leben. Angewandte Logotherapie. St. Pölten/Salzburg. Längle, A. (2016). Existenzanalyse. Zugänge zur existentiel­ len Psychotherapie. Wien.

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Hoffnung: Was sie ist, was sie kann – was sie anrichtet! Arnold Retzer Hoffnung hat man, wenn man sie denn hat, na­ türlich immer in der Gegenwart. Sie kann sich aber auf zwei verschiedene Ziele hin ausrichten: auf die Vergangenheit – dann ist sie die Hoffnung, dass alles so bleibt, wie es war, oder sich wieder so herstellt, vorausgesetzt, es war gut. Oder auf die Zukunft – dann ist sie die Hoffnung, dass sich dort etwas einstellt, was noch nicht ist, aber gut erscheint. Hoffnung steuert die Blickrichtung nach vorn, dorthin, wo das Gute liegen soll. Sie bekräftigt die optimistische Überzeugung, dass es schon gut geht, wenn es weitergeht. Hoffend gelingt das Hinweghoffen über Gegenwärtiges und das He­ raushoffen aus Gegenwärtigem. Rückschläge können der Hoffnung nichts anhaben. Im Gegenteil! Rückschläge sind so­ gar Hoffnungsverstärker. Hoffnung erscheint als eine merkwürdige, erneuerbare Energie, die sich durch ihren Verbrauch von selbst erneu­ ert. Jeder leidenschaftliche Glücksspieler weiß davon: Eigentlich müsste er nach jeder Nieder­ lage hoffnungsloser werden. Das Gegenteil ist der Fall. Von Niederlage zu Niederlage steigert sich seine Hoffnung. Mit jedem Verlust glaubt er, die Wahrscheinlichkeit nehme zu, dass sein Einsatz jetzt endlich dran sei, zu gewinnen. Das Ergebnis ist meist fatal: Der Spieler hofft sich bankrott! Es ist schwierig, allgemein positiv bewertete Begriffe wie Hoffnung zu hinterfragen. Angeb­ lich lebt es sich als Optimist leichter und sogar länger. Behauptungen, die in keiner Weise durch Fakten belegt sind. Dabei strengt Hoffnung doch erheblich an, und die Hoffnung, dass es schon gut gehen wird,

hat Nebenwirkungen. Damit die Hoffnung zuletzt stirbt, das heißt, mit allen Mitteln am Leben er­ halten werden kann, benötigt sie lebenserhalten­ de Maßnahmen: Schönfärberei, Verschleierung, Desinformation, Lügen, Betrug oder auch ein­ fach nur Dummheit. Wie sonst wäre zu erklären, dass die Hoffnung (alles wird gut!) so viel Selbstund Fremdvernebelung erzeugt? Hoffnung heilt Krebs!? Lachen macht gesund!? Seit den 1970er Jahren wird vielerorts lautstark behauptet, dass die richtige Einstellung Krank­ heit verhindern oder gesund machen könne, selbst bei Krebs. Kann man Krebs weghoffen? Machen Optimismus und Lachen gesund? Welt­ weit tummeln sich Verkünder positiven Denkens, um Krebs­patienten mental entsprechend auszu­ richten. Kranke werden aufgefordert, ihre Vor­ stellungskraft zu nutzen, um innere Kraftquellen anzuzapfen. Sie sollen lernen, »hoffnungsvolle gesunde Gedanken« von »hoffnungslosen unge­ sunden Gedanken« zu trennen. Das ­krebskranke Ziel­publikum muss hart arbeiten. Zu wenig Hoffnung und Optimismus – selber schuld! Was ist die Konsequenz solcher Vorstellungen, dass Hoffnung, positive Gedanken und Opti­ mismus gesund machen? Wenn Kranke nicht er­ folgreich sind, sind sie nicht nur weiterhin krank, sondern auch noch schuld daran. Sie haben dann nämlich nicht genug Hoffnung und positive Ge­ danken und Gefühle erzeugt. Und wenn sie sich

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 13–15, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

1 4   A r n o l d R e t z e r

nicht schuldig fühlen, haben sie zumindest allen Grund, sich zu schämen. Die Zuteilung der Verantwortung für die Hei­ lung des Krebses durch hoffnungsvollen Optimis­ mus beinhaltet auch die Verantwortung für die Entstehung des Krebses. Der Krebspatient hatte in der Vergangenheit zu wenig Optimismus oder er hat sich in anderer Weise schuldig gemacht. Die Aufforderung, Hoffnung, positive Gedan­ ken und positive Gefühle zu erzeugen, macht nicht nur viel Arbeit und stellt vor nicht zu bewäl­ tigende Aufgaben, sondern erzeugt auch schlech­ te Gefühle. Denn wenn der Krebs sich nicht ein­ sichtig zeigt und verschwindet, ist man nicht nur schuldig, weil man den Krebs verursacht hat, man ist auch schuldig, weil man ihn nicht geheilt hat und nun weiter daran leiden muss.

Ulrike Rastin

Fakten zum Thema Hoffnung, Genesung und Tod

Die Hoffnung soll es den anderen, den Überlebenden, leichter machen, mit den Grenzen und Begrenzungen, die das Leben nun mal grenzenlos bereithält, fertig zu werden.

Ein direkter Einfluss psychischer Faktoren auf die Entstehung von Krebs ist nicht nachgewie­ sen. Ebenso ist es unrealistisch, an Hoffnung, Op­ timismus und positive Gedanken und Gefühle die Erwartungen an Heilung zu knüpfen. Es er­ kranken auch nicht jene Menschen eher an Krebs, die ihre Gefühle unterdrücken, wenig selbstbe­ stimmt handeln und zu Hilflosigkeit neigen oder eher pessimistischen Gedanken anhängen. Selbst über den Zusammenhang von Stress und Krebs gibt es keinerlei gesicherten Erkenntnisse. Zwar versuchen viele Ärzte bei ihren Patienten eine hoffnungsvolle, kämpferische Haltung anzu­ regen und zu unterstützen. Doch die Hoffnung, dass Patienten dadurch zu einem längeren Über­ leben beitragen könnten, hat sich nicht bestätigt. Dass man den Krebs mit positivem Denken nie­ derringen könne, ist ein gefährlicher Irrglaube. Das Leben von Krebspatienten wird durch noch so viel Hoffnung und positives Denken nicht ver­ längert. Die Hoffnung, die gute Stimmung verbreiten soll, hat erhebliche Nebenwirkungen. Hoffnung

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H o f f n u n g : Wa s s i e i s t , w a s s i e k a n n   – w a s s i e a n r i c h t e t !    1 5

lässt sich meist nur erzeugen und vor allem auf­ rechterhalten, wenn man deutlich unter seinem Niveau bleibt. Sich nicht informieren, Informa­ tionen ignorieren, dumm bleiben oder sich auch nur dumm stellen, strengt an und wird zu einer regelrechten Belastung. Nur ein kleiner Schritt ist es dann dorthin, wo Hoffnung nur noch durch Lügen, Betrug und Schönfärberei gerettet werden kann oder man bemüht ist, Lügen für Wahrheit, Betrug für Ehrlichkeit und Schönfärberei für Rea­ lismus zu halten. Diese vielfältigen Belastungen und Anstren­ gungen können überfordern und die Lebensqua­ lität stark einschränken. Müdigkeit breitet sich aus. Noch mehr: Man wird lebensmüde. Hoff­ nung kann lebensmüde machen. Wir haben es also mit einer Situation zu tun, in der die Absicht, positive Stimmung durch Hoffnung zu erzeugen, ganz miese Stimmung zur Folge hat. Positives, hoffnungsvolles Denken lässt einen im konkre­ ten wie auch im psychologischen Sinne verarmen. Man kann sich dabei selbst abhanden kommen. Auch und besonders dann, wenn es ans Ster­ ben geht, erscheint Hoffnung nur vordergrün­ dig positiv, und das meist nicht einmal für den Sterbenden selbst. Die Hoffnung soll es den an­ deren, den Überlebenden, leichter machen, mit den Grenzen und Begrenzungen, die das Leben nun mal grenzenlos bereithält, fertig zu werden. Und das Sterben und der Tod sind nun mal eine kaum zu übersehende Begrenzung. Aber: Die Wahrheit ist dem Menschen zuzu­ muten! Meist haben die Sterbenden selbst we­ niger Probleme mit der Wahrheit als die Über­ lebenden. Die Hoffnung mutet dann oft dem Sterbenden noch die Zusatzaufgabe zu, den Hin­ terbliebenen oder den durch den Tod begrenz­ ten professionellen Helfern durch das Vorspie­ len von Hoffnung das Leben zu erleichtern. Bei all diesem Hoffnungstheater kann dann oft Wich­ tigeres auf der Strecke bleiben: vor dem unaus­ weichlichen Ende wichtige Dinge in Ordnung zu bringen, Abschied zu nehmen, letzte Entschei­ dungen zu treffen. Die Hoffnung hindert uns an

diesen Aufgaben, weil sie uns aus der Gegenwart hinaushofft und über die Gegenwart hinweghofft. Zum Schluss bleibt aber nur die Gegenwart und nicht die Zukunft. Hoffnung zerstört dann auch noch das Letzte. Das Geschenk der resignativen Reife Statt dieser destruktiven Hoffnung empfehle ich die resignative Reife. Sie besteht im Weglassen von dem, was uns nicht gut tut, dem Weglassen von dem, was uns belastet. Sie ermöglicht uns die Lebensqualität der Hoffnungslosigkeit, und zwar gerade dann, wenn nichts mehr zu machen ist, wenn die Hoffnung ein kindisches Nicht-wahrha­ ben-Wollen ist. Die resignative Reife ermöglicht uns, nicht länger autistische Hoffnungs-, Leis­ tungs- und Erfolgsmaschinen zu sein. Sie eröffnet uns die Chance kaputtzugehen, das heißt, nicht mehr zu funktionieren. Sie ermöglicht, uns den Hoffnungszumutungen zu entziehen und uns damit vor der Selbstauflösung zu schützen. Wir können es ja fühlen, wie die Zukunftsillusionen der Hoffnung unser Leben verkürzt, wir kön­ nen es sehen und fühlen, wie uns der Zwang, an der Hoffnung festzuhalten, koste es, was es wol­ le, drangsaliert und Lebensqualität zerstört hat. Wie dagegen die Akzeptanz unserer hoffnungslo­ sen Abhängigkeiten uns autonom sein lässt. Wir können uns das Geschenk der resignativen Rei­ fe machen und die Hoffnung fahren lassen und dabei etwas entstehen lassen, was uns gut tut, so wie der Bildhauer durch das Weglassen des überflüssigen Marmors eine wunderbare Skulp­ tur entstehen lässt. Arnold Retzer ist Arzt, Psychologe und Privatdozent für Psychotherapie an der Universität Heidelberg. Er ist Gründer und Leiter des Systemischen Instituts Heidelberg (www.si-hd.de) und Autor und Herausgeber von Büchern. E-Mail: [email protected] Websites: http://www.arnretzer.de  http://www.si-hd.de

Hoffnung – ein Drahtseilakt

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Diese drei Von Glaube, Hoffnung, Liebe und der Weg des anwaltschaftlichen Mitgehens

Matthias Schnegg

Glaube, Hoffnung und Liebe sind nicht immer gewiss

Die Urkraft der Hoffnung und ihre Ent-Täuschung

Und was, wenn alle drei nicht mehr zu fassen sind – der Glaube nicht, weil da kein Gott, kein Wesen ist, das tröstet?; die Hoffnung nicht, weil sie zielleer umherirrt, denn auf was ist zu hof­ fen, wenn die Sehnsucht nicht mehr zu stillen ist, aber und nur kalter Tod stumm antwortet? Die Liebe, die da ist, aber in einer leidenschaftlichen, aufschreienden Wucht sich gebiert, dass sie dem Leben die Luft nimmt? Ein Vater trauert um seine an den Folgen eines Verkehrsunfalls zu Tode gekommene zwölfjährige Tochter. Und will und kann sich nicht trösten lassen. Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei – sagt Paulus in seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth und endet mit seiner Gewissheit: Die größte unter ihnen aber ist die Liebe (1. Brief des Paulus an die Korinther, 13). Glaube, Hoffnung und Liebe tragen gewichti­ ge Rollen im Erlernen der Wirklichkeit des Ver­ lustes. Der Glaube im landläufigen Gebrauch des Wortes als ein Bekenntnis und Zugehörigkeit ist keine sichere Garantie in der Trauer. Wir wissen von Menschen, die ihre Standfestigkeit im Leben auf die Kraft ihres Vertrauens in Gott oder in das Göttliche gesetzt und seit dem Verlust alles an Gewissheit bodenlos verloren haben; wir wissen aber auch von Menschen, die vor dem Anlass der Lebenstrauer dem Glauben keine Bedeutung zu­ gemessen haben und gerade dann eine tragende Klarheit erleben, sich von Gott oder dem Gött­ lichen sinnfüllend gehalten zu wissen.

Die Hoffnung schwankt zwischen Sehnsucht und Resignation, zwischen Illusion und Gewissheit. Sie ist nicht zu zähmen, sie hält stand, selbst wenn nach menschlichem Blick nichts mehr zu erwar­ ten ist. Aber wenn sie stirbt, und sei es sprich­ wörtlich auch »zuletzt«, dann ist nichts mehr. Was, wenn die Hoffnung als Trugbild und der Glau­ be als fatale Vertröstung sich entpuppen? Was sind es für Hoffnungen, die aushalten lassen? Die Hoffnung auf ein Wiedersehen, die Hoffnung auf ein friedliches Leben für die Verstorbene, ein Jen­ seitsleben ohne Schmerz, ohne Tränen, ohne ziel­ verlorenes Umherirren? Dem Vater ist es unendlich wichtig, dass sich sein Glaube und seine Hoffnung, auch in diesen ganz konkreten Vorstellungen, erfüllen. Er ist in seinem beruflichen Leben ein Mann des klaren, realistischen Blicks. In seiner Trauer verlöre er jeden Halt, wenn ihm sein Glaube an einen alles auffangenden und sinnfüllend vollendenden Gott und seine Hoffnung auf ein leibkonkretes Wiedersehen versagt wären. Ein Leben ohne jedwede Vorstellung von Glaube und Hoffnung? Ein Leben ohne Glaube und Hoffnung – wie im­ mer sie ihre weltanschauliche Ausrichtung haben mögen – ist schwer vorstellbar. Zugleich sind die­ se beiden Tugenden für manche so brüchig, denn wir haben, wenn wir den Raum des Fassbaren

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 16–19, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

T. Moore, Paradise and the Peri, Angel looking down / INTERFOTO / SuperStock / Newberry Library

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verlassen, letztlich nur Bilder, Bilder der Über­ lieferung, Bilder der Mythen, Bilder der eigenen Lebenserfassung. Hätte aber die Liebe nicht Ist hier ein Zugang zur Äußerung des Paulus?: Es blieben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; die größte unter ihnen sei die Liebe. Warum ist die Liebe die größte unter ihnen? Glaube und Hoffnung machten sich überflüssig, wenn wir die Erfüllung allen Seins erlebten, das, was wir Vollendung nennen, wie immer wir uns die je vorstellten. Aber was ist die Liebe? Was den trauernden Vater zerreißt, ist die leidenschaftliche Sehnsucht nach seinem toten Kind. Es ist seine Liebe zu dem Geschöpf, das ein Teil seines eigenen Lebens getragen hat. Das alttestamentliche Hohelied benennt die Kraft der Liebe sehr anschaulich: »Stark wie der Tod ist die Liebe, die Leidenschaft ist hart wie die Unterwelt. Ihre Gluten sind Feuersgluten, gewal­ tige Flammen. Auch mächtige Wasser können die Liebe nicht löschen; auch Ströme schwemmen sie nicht weg, böte einer für die Liebe den ganzen Reichtum seines Hauses, nur verachten würde man ihn« (Hohelied Salomos, 8, 6 f.). Die Liebe in ihrer ungestümen wie sanften Kraft bleibt, wo Glaube und Hoffnung sich ver­ loren haben können – der Glaube an die Gewiss­ heit des guten Gottes und die Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen. Vielleicht ist sie, die Lie­ be, daher »die Größte« unter den Tugenden. Dem trauernden Vater ist in aller Bodenlosigkeit des Verlustes seine Liebe zu seinem Kind unumstößlich geblieben – wie jene gewaltige Flamme, die nicht gelöscht sein will, und wie das Gut, für das es keinen Kaufpreis an Reichtum geben kann. Anders als die Hoffnung bleibt eine Liebe, die zur Zeit des Todes da war, unzerstörbar. Wegen der Wucht des Verlustschmerzes irrt manches Wissen um diese Liebe heimatlos umher, weiß sich nicht im eigenen Körper sicher, weiß nicht den Ort, wo die in den Tod Verlorene zu fassen

wäre, weiß nichts von der Sicherheit des Wieder­ sehens in der Jenseitswelt. Ob die Liebe stärker ist als der Tod? Der Leidende erfährt es so – immer wieder unaushaltbar, Lebenskraft auffressend, er­ schöpfend, vereinsamend, verstummend. Dabei ist die neu aufkeimende Hoffnung die Gewissheit dieser Liebe, die bleibend ist. Und nicht nur bleibend, sondern auch »geedelt«, ent­ lastet vom täglichen Leben und der Alltagswelt, zuverlässiger, befreit von Bedingungen; kein Gefühlsempfinden mehr, sondern ein tiefes Einvernehmen und eine bleibende, ungestörte Verbundenheit. Hoffnungslosigkeit und Lebens­ gewissheit nähern sich an wie verwundete Kö­ nigskinder. Da werden sich Gewissheiten und Verunsicherungen abwechseln, werden ringen um den Platz, einander lebensspendend zu begegnen. Anwaltschaftliches Mitgehen Im Mitgehen des Trauerweges dieses Vaters waren lange Jahre Glaubenwollen, Hoffnungslosigkeitsempfinden und Liebeskraft nicht zusammenzubringen. Es flackerte immer wieder einmal auf, dass gerade diese Liebe die Trägerin der Hoffnung sei. Aber dann trübt der Schmerz des Verlassenseins jeden Blick. Immer da, wo ein kleines Aufscheinen dieser Verbindung von Hoffnung und Liebe war, da habe ich dieses Hören bewahrt. Wenn er mit leiser Stimme erzählt von gemeinsamem Erleben mit seiner Tochter, von Plätzen, in denen sie die Angst vor der Nacht bändigten, in denen der Mond Gutenachtgeschichten erzählte und weihnachtliche Melodien mitten im Sommer das kleine Mädchen in den Schlaf getragen haben. Sein Mädchen, das erste Kind, das Erinnern des wortlos-tränenvollen Glücks ihrer Geburt … Lange Zeit bin ich Mitgeher in diesen kurzen, greifbaren Bildern des verbindenden Lebens und dessen, was deren Liebe ist. Ich deute sie für mich als Zeichen, dass die zermürbende Macht des Schmerzes irgendwann einmal auch wieder Son­ ne und Blumenpracht als Lebensbejaher zulassen wird. Lange Zeit habe ich diese kurzen Hinwei­

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se gehört und für mich bewahrt. Wie ein Anwalt einer Hoffnung auf ein neues, anderes Leben, in dem die Liebe zur Tochter so tragend, aber nicht eigenes Leben versperrend auftreten wird. Irgendwann, als es mir intuitiv richtig erschien, den Vater auf diese seine kleinen Lichtblicke in eine andere Lebensmöglichkeit hinzuweisen, da habe ich ihm versprochen, diese Sicherheit seiner Liebe und die Voraussicht seiner auch einmal denkbaren eigenen Lebenswelt für ihn zu bewahren, bis sie ihm einmal Zuversicht ins neue, eigene Leben sein wird. Anwaltschaftlich bedeutet, etwas vom Anderen für ihn zu bewahren, bis der Trauernde sich dem Andersleben zuwenden kann und mag. Da wer­ de ich als Mitgehender Träger einer Hoffnung – eben nicht der unrealistischen Hoffnung, dass der Tod ungeschehen sei. Die Hoffnung heißt, in Lie­ be den verstorbenen Menschen in sich tragen zu können, ohne sie in unterweltlicher Leidenschaft nur leidend aushalten zu müssen. Die Liebe als erneuerte Hoffnung Mag sein, dass die Liebe deswegen die Größte ist, weil sie Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart miteinander verbindet. Dem Autor Paulus ist es ein Anliegen, darauf zu verweisen, dass vieles ver­ geht – Erkenntnis, Glaubenskraft, Prophetie, zum Beispiel, weil alles Stückwerk bleibt –, dass aber die Liebe niemals aufhöre. Paulus meint damit aber nicht eine leidleere Liebe, sondern jene Liebe, an der das Leben sich erkennt und erkannt wis­ sen darf. Dahin zu kommen ist ein Weg, oft lan­ ge, wissbegierig, aufnehmend, bereichernd, aber eben auch schmerzhaft, sehnsuchtszerfressen, er­ schöpft, manchmal kraftlos aufgegeben. Paulus spricht von Entwicklung in der Liebe, vom Kind, das zum Erwachsenen wird, vom stumpfen Spie­ gel, der zur Klarheit wächst. Die Erfüllung allen Vertrauens und allen Hoffens ist: »Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und

durch erkannt worden bin« (1. Brief des Paulus an die Korinther, 13, 12). Für den trauernden Vater ist es der schmerzvolle Weg, den Tod seiner Tochter annehmen zu müssen und seiner antwortstummen Liebe Raum zu geben. Vielleicht fügt sich über den Weg seiner Trauer, dass er sich seiner Liebe zu seiner Tochter gewiss wird, so, dass sie in ihm mehr als Erinnerung ist. Sie ist Gewissheit in ihm selbst. Für Paulus ist es die Liebe Gottes, die die Le­ bensberuhigung und Erfüllung darstellen wird, so sie im Werden des eigenen Lebens mehr und mehr erkannt wird. Die Erfahrung der Liebe unter Menschen kann ein Zugangsweg sein, in der Hoffnung, nicht enttäuscht zu werden. Ent­ täuscht werden vielleicht die Bilder, mit denen wir unsere Hoffnung halten mochten. Die Lie­ be mit der Erfahrung ihrer Erfüllung wird dann die Größte sein. Als Mitgehender bin ich Weggefährte, Anwalt auf dem Weg, aus dem unvollkommenen Erken­ nen zur Schau der Gewissheit der Liebe zu ge­ langen, die in ihrer Kraft mindestens so stark ist wie der Tod. Dann darf diese Vergewisserung der Liebe die Hoffnung sein, die sich in der Liebe er­ kennen wird.

© Anna C. Wagner

Matthias Schnegg ist katholischer Pfar­ rer, derzeit Diözesan-Caritaspfarrer und Pfarrer zweier Kölner Altstadtkirchen. Er ist Mitbegründer des Hospizes in Frechen e. V., Psychodramaleiter und Psychotherapeut (HP), Dozent u. a. am Palliativzentrum des Malteserkranken­ hauses Bonn. E-Mail: [email protected]

Hoffnung – ein Drahtseilakt

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Kryonik – Hoffnung auf eine Medizin der Zukunft Dirk Nemitz Bei der Kryonik werden Menschen, die nach heu­ tigem Stand der Medizin als »verstorben« gelten, bei extrem niedrigen Temperaturen konserviert. Dahinter steckt die Hoffnung, dass zukünftige Medizin den Menschen wieder zum Leben er­ wecken und die Todesursache heilen könnte. Die dazu benötigte Medizin müsste so fortschrittlich sein, dass sie auch Schäden heilen würde, die im Körper durch Alterungsprozesse entstanden sind. Die Hoffnung der Kryoniker ist es, eine gewisse Zeitspanne überdauern zu können, um mit Hilfe zukünftiger Medizin und Technologie eines Ta­ ges wieder »aufwachen« und weiterleben zu kön­ nen. Hiermit geht auch die Hoffnung einher, den Körper wieder verjüngen zu können und mögli­

che Krankheiten, die zum Tod geführt oder bei­ getragen haben, zu heilen. Altern und Sterben aufhalten oder rückgängig machen? Ist das realistisch? Zumindest haben wir bislang keinerlei Hinweise, dass wissenschaftlich oder nach den heute bekannten Naturgesetzen et­ was grundsätzlich gegen die Theorie der Kryo­ nik sprechen würde. Mediziner wissen, dass man sich das Sterben nicht als plötzliches Umlegen eines Schalters vorstellen darf, sondern dass die­ sem ein längerer Sterbeprozess vorausgeht. Die heutige Medizin kann in diesen Prozess deutlich

Einen Menschen aufzugeben, wenn die zeitgenössische Medizin nichts mehr für ihn oder sie tun kann, hat eine lange Tradition. Die Entscheidung zu treffen, mit dieser Tradition zu brechen, fällt den allermeisten Menschen schwer, auch wenn diese Entscheidung sie selbst betrifft.

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 20–22, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

K r y o n i k   – H o f f n u n g a u f e i n e M e d i z i n d e r Z u k u n f t    2 1

tern findet, welches alle Menschen jung und ge­ sund hält. Es würde sich hier zwar um eine neue und aus heutiger Sicht unvorstellbare Entwick­ lung handeln, aber genauso hätte sich vor zwei­ hundert Jahren niemand vorstellen können, dass Menschen Flugzeuge bauen – geschweige denn das Ausmaß des heutigen internationalen Flug­ verkehrs. Spekulation oder Vertrauen in die Wissenschaft Gleichzeitig bleibt der Ausgang der Kryonik un­ gewiss: Das Auftauen großer und komplexer vielzelliger Organismen nach der Kryostase ist derzeit definitiv noch nicht möglich. Die dafür nötigen biochemischen und physikalischen Pro­ zesse übersteigen bislang unser praktisches Wis­ sen. Auf einen entsprechenden medizinischen Fortschritt kann man spekulieren, aber man kann ihn nicht sicher vorhersagen. Doch auch hier gibt es beim Blick auf die exponentielle Entwicklung des technischen und medizinischen Fortschritts Hoffnung. Einen möglichen Ausweg könnte in der Zukunft die Nanotechnologie bieten: Theo­ retisch würde nichts dagegen sprechen, dass eine große Anzahl winzig kleiner Nanoroboter direkt im Körper Zelle für Zelle den Ausgangszustand wieder herstellt. Sämtliche Zellschäden, die von Krankheit und Alter verursacht wurden, könn­ ten so geheilt werden. Hoffnung im Stickstofftank Trotz dieser Unsicherheiten ist die Kryonik nicht nur graue Theorie, sondern wird von zwei Insti­ tuten in den USA seit über vierzig Jahren betrie­ ben. Der am längsten kryokonservierte Patient, ein amerikanischer Psychologieprofessor namens James Bedford, wartet seit 1967 in einem Stick­ stofftank darauf, dass sich seine Hoffnung auf eine zweite Chance erfüllt. Insgesamt sind der­ zeit rund 340 Menschen weltweit in Kryostase. Das ist gemessen an der Weltbevölkerung nicht

Hoffnung – ein Drahtseilakt

© m.schröer

später eingreifen, als es noch vor fünfzig Jahren der Fall war. Ein Herzstillstand, der diesen Sterbe­ prozess einleitet, führte vor einigen Jahrzehnten beispielsweise noch unweigerlich zum Tod – seit den 1960er Jahren ist die Herz-Lungen-Wieder­ belebung bekannt, mit der in diesen Prozess ein­ gegriffen und der Sterbeprozess sogar häufig wie­ der umgekehrt werden kann. Ähnlich sind die Hoffnungen in die zukünftige Medizin. Die Kryo­ nik dient dabei dazu, den Körper des nach heu­ tigen Maßstäben verstorbenen Menschen best­ möglich zu konservieren – bei einer Temperatur von −196 ° C kommen alle biologischen Prozes­ se zum Erliegen, inklusive der biologischen Zer­ setzungsprozesse. Auch der Zerfall durch das Altern ist keines­ wegs ein Naturgesetz. Die Biologie hat inzwischen Organismen entdeckt, die ihren Körper jung hal­ ten, ohne durch das Anhäufen von Schäden und Mutationen zu vergreisen. Es kann somit aus heu­ tiger Sicht gar nicht ausgeschlossen werden, dass die zukünftige Medizin ein Mittel gegen das Al­

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viel, aber die rationale Entscheidung für die Kryo­ nik wird langsam populärer. Ein jüngeres Insti­ tut in Russland ist seit zehn Jahren aktiv, weitere Institute sind derzeit in Australien und China im Aufbau. Auch in Deutschland finden sich immer mehr Menschen, die sich ernsthaft für das Thema Kryonik interessieren und sich in der Deutschen Gesellschaft für Angewandte Biostase organisie­ ren und austauschen. Während die Lagerung in Kryostase nach wie vor im Ausland stattfinden muss, geht es hier vor allem um das Gewährleis­ ten einer schnellen Kühlung, um den Sterbens­ prozess so früh wie möglich zu unterbrechen.

wurde. Ich denke da an den Fall eines 27-jährigen Studenten, der 2007 an akuter Leukämie erkrank­ te und der der 86. Patient des Cryonics Institu­ te wurde, oder an die erst zweijährige Matheryn Naovaratpong aus Thailand, welche an einem un­ heilbaren Hirntumor erkrankte und 2015 bei Al­ cor in Kryostase gelegt wurde. Bei solchen Schick­ salslagen kann die Kryonik tatsächlich Hoffnung geben, trotz einer tödlichen Krankheit in jungen Jahren in der Zukunft nochmal eine zweite Chan­ ce auf ein erfülltes Leben zu bekommen.

Die Ethik der Kryonik-Anbieter

Trotz ihres großen Potenzials bleibt die Kryo­ nik dabei immer noch eine kleine Nische. Einen Menschen aufzugeben, wenn die zeitgenössische Medizin nichts mehr für ihn oder sie tun kann, hat eine lange Tradition. Die Entscheidung zu treffen, mit dieser Tradition zu brechen, fällt den allermeisten Menschen schwer, auch wenn die­ se Entscheidung sie selbst betrifft. Für mich hat die Kryonik zwar eine ungewisse Gewinnwahr­ scheinlichkeit, sie bietet allerdings unschätzbar wertvolle Gewinnmöglichkeiten. Man sollte sich bewusst sein, dass Kryonik aktuell die einzige Chance auf ein Weiterleben in der Zukunft ist. Bei einer Erd- oder Feuerbestattung verstreicht diese Gelegenheit ungenutzt. Sollten sich tatsäch­ lich alle Hoffnungen erfüllen und die Wieder­ erweckung aus der Kryostase im gesunden Kör­ per eines 25-Jährigen wirklich funktionieren, so wäre die Entscheidung für die Kryonik die ratio­ nalste Entscheidung, die ich je in meinem Leben gemacht hätte.

Die häufig geäußerte Angst, dass Kryonik reine Geldmacherei sei, ist hierbei unbegründet. Um das Ausnutzen der Hoffnung anderer geht es den gemeinnützigen Kryonik-Anbietern nicht, weil alle etablierten Institute von überzeugten Kryo­ nikern betrieben werden, die häufig bereits selbst Familienmitglieder oder Freunde kryokonser­ viert haben, auf deren Überleben sie hoffen. Als gemeinnützige Organisationen dürfen die ge­ meinnützigen Kryonik-Anbieter zudem gar kei­ nen Profit erwirtschaften und müssen regelmä­ ßig ihre Einnahmen und Ausgaben offenlegen. Ein weiteres Vorurteil ist, dass Kryoniker egoistisch oder narzisstisch seien und sich auf unmoralische Weise vom Tod freikaufen wollten. Wenn man die Kryonik als Rettungsmaßnahme betrachtet, die im Kern einer risikoreichen, aber möglicherweise lebensrettenden Herz-Opera­ tion ähnelt, wirkt eine solche Betrachtungswei­ se unangemessen und zynisch. Viele medizini­ sche Fortschritte haben eine Verlängerung der Lebensspanne bewirkt, und im Allgemeinen wer­ den solche lebensverlängernden Maßnahmen nach moralisch-ethischen Standards durchweg positiv beurteilt. Gleichzeitig entscheiden sich auch immer mehr Menschen für die Kryonik, deren junges Le­ ben durch schwere Krankheiten plötzlich beendet

Gewinnmöglichkeit

Dirk Nemitz ist Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Ange­ wandte Biostase, welche die Erforschung und Anwendung von Methoden der Bio­ stase zum Zweck der Lebensverlänge­ rung fördert. Er ist selbst überzeugter Kryoniker und hat vor zehn Jahren einen Kryonikvertrag mit dem Cryonics Institute in den USA ab­ geschlossen. E-Mail: [email protected]

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»Dum spiro, spero.« (Solange ich atme, hoffe ich.) Cicero

Vom Umgang mit dem Hoffnungsbegriff in der Diskussion zum ärztlich assistierten Suizid

Auch wenn der Begriff der Hoffnung, im Gegen­ satz zu den stark strapazierten und teilweise miss­ brauchten Begriffen der Würde, Autonomie und Selbstbestimmung, keinen Einzug in die Begrün­ dung zum neuen § 217 StGB (Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung, Bundesministerium der Justiz 2015a) gefunden hat, spielte die Frage nach Hoffnung beziehungsweise Hoffnungslosig­ keit als mögliche Ursache für Sterbewünsche von schwerkranken Menschen in der vorausgegan­ genen Diskussion immer wieder eine Rolle. All­ zu verständlich erschien es, dass Menschen, die nicht mehr auf die Heilung ihrer Erkrankung hof­ fen durften, einem assistierten Suizid zugeneigt sein könnten. Hinzu kommen die immer noch nicht ausgestorbenen Aussagen von Ärzten wie »Ich kann Ihnen da leider keine Hoffnung ma­ chen« oder »Wir können da leider nichts mehr für Sie tun«, welche die Auseinandersetzung mit dem Sterben nicht auf das »Wie« und »Wo« oder das »Danach« erweitern, sondern auf das »Ob« und »Wann« reduzieren, wodurch Ideen zur Be­ schleunigung des Sterbens vielleicht befördert werden können. An diesen Stellen konnten sich die Akteure der Hospiz- und Palliativversorgung stark in die politische und gesellschaftliche Diskussion ein­ bringen und neben Versorgungs- und Behand­ lungsoptionen der Palliativversorgung auch ihre Konzepte zur Autonomie, Selbstbestimmung,

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 23–27, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

Caspar David Friedrich, Frau am Fenster, 1822 / akg-images

Heiner Melching

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© m.schröer

Das Spannungsfeld von Angst und Hoffnung

Betroffene bekommen zu hören, dass sie die Hoffnung nicht aufgeben dürfen, dass die Hoffnung zuletzt stirbt, wobei vergessen wird, dass dem Aufgeben einer bestimmten Hoffnung auch eine gewisse Befreiung innewohnen kann. Würde und Hoffnung darstellen. Immer wieder wurde betont, dass es mittels einer Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung gelingen kann, den Ängsten und der Hoffnungslosigkeit schwerkranker Menschen dergestalt zu begeg­ nen, dass ein Verlangen nach assistiertem Sui­ zid oder gar nach Tötung in erheblichem Maß minimiert werden kann. Teilweise wurde sogar die kühne Behauptung aufgestellt, solche Wün­ sche gänzlich beseitigen zu können. Somit konn­ te der Politik die Hoffnung gemacht werden, das unangenehme und extrem angstbesetzte Thema der Suizidhilfe etwas aus dem Fokus der Diskus­ sionen zu nehmen und dem eine hoffnungsvolle und heilsversprechende Entwicklung eines neu­ en Hospiz- und Palliativgesetzes (HPG, Bundes­ ministerium der Justiz 2015b) zur Seite zu stellen. Es ist gewiss kein Zufall, dass die seit vielen Jah­ ren andauernde Diskussion um eine gesetzliche Regelung zur Sterbehilfe in dem Moment Fahrt aufgenommen hat (und innerhalb eines Jahres ein Gesetz verabschiedet wurde), als parallel dazu ein Hospiz- und Palliativgesetz entwickelt wurde, welches ebenfalls innerhalb nur eines Jahres fer­ tig gestellt und sehr bewusst zwei Tage vor dem § 217 am 8.12.2015 in Kraft getreten ist.

Angst und Hoffnung sind zwei ständige Beglei­ ter des Lebens, zwischen deren Polen sich vieles abspielt. Die gesamte Diskussion, die zur Schaf­ fung des neuen § 217 StGB geführt hat, war zwar gekennzeichnet von einem »Wirrwarr der Be­ grifflichkeiten und der Vermengung verschiede­ ner Ebenen, wie z. B. ärztliches Berufsrecht und öffentliches Recht« (Melching 2015); eine grund­ legende Triebfeder der verschiedenen Gesetzes­ initiativen war aber sicherlich auch das beträcht­ liche Angstpotenzial, welches dem Thema Suizid grundsätzlich innewohnt. In diesem Fall ging es um die Angst vor Sterbehilfeorganisationen, da­ vor, dass alte Menschen sich irgendwann dafür rechtfertigen müssen, weiterleben zu wollen, vor einem »Dammbruch«, falls man den Sterbehel­ fern noch mehr Freiheiten gewährt, und natürlich immer wieder um die Angst vor dem angeblich drohenden Verlust von Würde, Autonomie und Selbstbestimmung sowie einer »Verpflichtung« zum Weiterleben um jeden Preis. Der Umstand, dass Menschen (aus welchem Grund auch immer) ihren eigenen Tod herbei­ führen möchten, stellt sicherlich für jeden, der das Leben als höchstes Gut betrachtet, eine enor­ me Herausforderung dar. Insbesondere dann, wenn trotz vorhandener Hilfs- und Unterstüt­ zungsangebote auf diese verzichtet und dem Tod der Vorzug gegeben wird, kann dies durchaus als Kränkung erlebt werden. Der Befürchtung, dass Menschen aus Angst vor einem leidvollen und unwürdigen Sterben einen Suizid anstreben, wurden neben der Zuver­ sicht auf effiziente Möglichkeiten der Palliativme­ dizin zur Linderung belastender Symptome auch Hoffnungskonzepte der Hospiz- und Palliativver­ sorgung entgegengesetzt, die zum Beispiel in dem Zitat von Václav Havel ihren Ausdruck finden: »Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal, wie es ausgeht«. Die Hoffnung auf

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Vo m U m g a n g m i t d e m H o f f n u n g s b e g r i f f    2 5

ein »gutes Ende« und eine beruhigende Vorstel­ lung von dem »Danach«, welche sich sowohl da­ rauf bezieht, was von einem in dieser Welt bleibt (mit Blick auf Angehörige und das eigene Ver­ mächtnis an die Nachwelt), als auch auf eigene Jenseitsvorstellungen, wurden als Möglichkeiten gesehen, Suizidwünschen zu begegnen. Im christ­ lichen Kontext wird hierzu auch der von Luther geprägte Begriff »Gott der Hoffnung« bemüht: »Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit Freude und Friede« (Römerbrief 15, 13).

»Es gehört zum Wesen der Hoffnung, dass sie enttäuscht werden kann, sonst wäre sie ja Zuversicht.« Ernst Bloch Hoffnung gut – alles gut? Hoffnung, die auch fragil ist, wie in dem Zitat von Ernst Bloch deutlich wird, bezieht sich immer auf etwas Zukünftiges: die Erfüllung einer Er­ wartung, eines Wunsches, eines Ereignisses oder einer gewissen Sinnhaftigkeit dessen, was sich er­ eignet. Ebenso bezieht sich die Hoffnungslosig­ keit darauf, dass bestimmte Wünsche sich nicht erfüllen oder Ereignisse nicht eintreten werden. Das Objekt der Hoffnung ist also in beiden Fäl­ len vorhanden und kann Gegenstand von Ausei­ nandersetzungen sein. Hoffnungslosigkeit scheint aber insbesondere vom Umfeld (Behandler und Begleiter) schwer auszuhalten zu sein. Nicht sel­ ten bekommen Betroffene zu hören, dass sie die Hoffnung nicht aufgeben dürfen, dass die Hoff­ nung zuletzt stirbt und so weiter, wobei vergessen wird, dass dem Aufgeben einer bestimmten Hoff­ nung auch eine gewisse Befreiung innewohnen kann. Jean-Paul Sartre geht so weit zu sagen: »Mit der Hoffnungslosigkeit beginnt der wahre Optimismus.« Hoffnungen können also durchaus auch eine Belastung darstellen, sofern sie mit Erwar­ tungen verbunden sind, deren Erfüllung zuneh­ mend unwahrscheinlich wird. Mit dem Aufgeben solcher auf die Zukunft gerichteter Erwartungen

kann demzufolge auch der Blick auf den »Genuss des Jetzt« gestärkt werden. Auffallend ist die in der Hospiz- und Pallia­ tivszene verbreitete positive Konnotation des Be­ griffs Hoffnung. Die Hoffnung aufzugeben gilt es zu vermeiden, weshalb jeder aufgegebenen Hoff­ nung mindestens ein neues »Hoffnungsangebot« zur Seite gestellt wird. »Wir können Ihrem Leben nicht mehr Tage geben, aber den Tagen mehr Le­ ben« ist nur ein Beispiel dafür. Was aber, wenn den Tagen nicht mehr Leben gegeben werden kann? Dann können die Palliativmediziner se­ dieren oder die »Sterbehelfer« beim Suizid assis­ tieren, könnten vereinfacht dargestellte Antwor­ ten lauten. In den Diskussionen zum assistierten Suizid hat sich für die Palliativmedizin, der nach wie vor zu Unrecht unterstellt wird, sie wirke grundsätzlich lebenszeitverkürzend, im Übri­ gen auch erstmals die Gelegenheit geboten, sich explizit für »lebensverlängernde Maßnahmen« (im Sinne von Suizidprävention) einzusetzen, womit zumindest in diesem Kontext nicht nur die Hoffnung auf ein »besseres Ende«, sondern auch auf ein längeres Leben angeboten werden konnte – eine Hoffnung, mit der ansonsten vor­ nehmlich die krankheitsbekämpfende Medizin unterwegs ist. Nur wenig Beachtung finden hingegen ande­ re, weniger positive Deutungen des Begriffs Hoff­ nung, die sich beispielsweise in folgenden Aussa­ gen widerspiegeln: • »Hoffnung ist Mangel an Information.« (Heiner Müller) • »Hoffnung ist die zweite Seele der Unglücklichen.« (Johann Wolfgang von Goethe) • »Hoffnung ist der erste Schritt auf der Straße der Enttäuschung! Hoffnung ist der krankhafte Glaube an den Eintritt des Unmöglichen.« (Henry Louis Mencken) • »Hoffnung ist die Mutter der Dummen.« (Polnisches Sprichwort) • »Hoffnung ist ein Seil, auf dem viele Narren tanzen.« (Russisches Sprichwort)

Hoffnung – ein Drahtseilakt

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• »Wer mit der Hoffnung fährt, hat die Armut zum Kutscher.« (Spanisches Sprichwort) • »Wer von der Hoffnung lebt, wird eines Tages verhungern.« (Englisches Sprichwort) Am drastischsten hat diese Haltung vermutlich Friedrich Nietzsche formuliert, indem er schrieb:

© Lukas Radbruch

»Wir können Ihrem Leben nicht mehr Tage geben, aber den Tagen mehr Leben.« Was aber, wenn den Tagen nicht mehr Leben gegeben werden kann?

»… die Hoffnung: Sie ist in Wahrheit das übelste der Übel, weil sie die Qual der Menschen verlängert.« Dabei bezog er sich auf die Büchse der Pandora, in der sich alle Übel, Laster und Untugenden be­ fanden, welche die Menschheit heimsuchen soll­ ten, sobald die Büchse von Neugier getrieben ge­ öffnet wurde. Der Sage nach befand sich als einzig Positives auch die Hoffnung in der Büchse, wel­ che allerdings nicht entweichen konnte, da die Büchse zuvor wieder geschlossen wurde. Nietz­ sche bezeichnet die Hoffnung hingegen als den übelsten Inhalt. Ernst Bloch (1985), für den Hoffnung auch ein »philosophisches Prinzip« ist, verbindet die­ se beiden Grundhaltungen (positive und negative Darstellungen von Hoffnung) in der Form mit­ einander, dass er den Verstand einbringt und die realen Umgestaltungsmöglichkeiten nicht außer Acht lässt. Vereinfacht dargestellt unterscheidet er also begründete Hoffnungen von unbegründeten. Im gesellschaftlichen Kontext spricht er in diesem Zusammenhang von der konkreten Utopie als Be­ standteil eines von Hoffnung gespeisten »militan­ ten Optimismus«, welcher die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Umgestaltungsmöglich­ keiten nicht ignoriert. Dabei unterscheidet er zwi­ schen Utopistischem und Utopischem, welches nicht über die Wirklichkeit hinausgreift. Schützt Hoffnung vor Suizid oder ist Hoffnungslosigkeit suizidfördernd? Auch diese oft angenommene Kausalität lässt sich zumindest anzweifeln. Sind Menschen, die einen

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Vo m U m g a n g m i t d e m H o f f n u n g s b e g r i f f    2 7

Suizid begehen, tatsächlich im­ ten sind, während beispielswei­ »Ein vernünftiger Mensch mer von Hoffnungslosigkeit ge­ se die Suizidrate (Suizide auf wird einer Hoffnung, trieben? Kann Hoffnungslosig­ 100.000 Einwohner) von Ärz­ die ins Wasser fiel, nie keit überhaupt ein Antrieb sein, ten und Ärztinnen um ein etwa nachspringen.« wo doch bekannt ist, dass Men­ bis zu 5-Fachem höher liegt als (Russisches Sprichwort) schen etwa in Phasen starker De­ in der deutschen Allgemeinbe­ pressivität in aller Regel nicht völkerung. Daraus ließe sich er­ über die Kraft verfügen, einen Suizid zu bege­ rechnen, dass bei Ärztinnen und Ärzten das Suihen? Benötigt nicht gerade ein Suizid, als Kraft­ zidrisiko ca. 85-mal so groß ist wie bei terminal akt und aktiver, unumkehrbarer Schritt in eine Erkrankten. Vielleicht hat der Gesetzgeber hier Richtung, neben Mut auch irgendeine Hoffnung? die Zielgruppe verfehlt. Einige Zitate aus Abschiedsbriefen, die ich im Schlussendlich bleibt es als essenziell zu be­ Rahmen der Begleitung von Angehörigen, die trachten, sich auch in der Begleitung Schwerst­ einen Menschen durch Suizid verloren haben, le­ kranker und deren Angehöriger offen mit de­ sen durfte, deuten jedenfalls nicht zwangsläufig ren Hoffnungsvorstellungen und gegebenenfalls auf verlorene Hoffnungen hin: mit dem Thema Sterbewunsch und Suizid ausei­ nanderzusetzen, wie es auch in den Reflexionen • »Danke auch allen, die mich auf meinem Weg der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin begleitet haben: Familie, Verwandte, Freunde, zum ärztlich assistierten Suizid empfohlen wird Freundinnen + alle, denen ich in meinem Le- (Nauck, Ostgathe und Radbruch 2014). ben begegnet bin. Macht’s gut, lebt wohl – ich wünsche Euch das Beste.« (Annette) Heiner Melching ist Sozialpädagoge • »Macht Euch keine Vorwürfe und keine Sorund seit 1995 in verschiedenen Berei­ chen der Trauer- und Krisenbegleitung gen mehr um mich – mir wird es jetzt gut gesowie als Bestatter tätig. Von 1999 bis hen.« (Peter) 2008 war er Geschäftsführer und Leiter der Beratungsstelle des Vereins Verwais­ • »Ich habe Euer Spiel durchschaut – es heißt te Eltern und Geschwister Bremen e. V. Monopoly – es ist nicht mein Spiel! – tschüss!« Seit 2009 ist er Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft (André). für Palliativmedizin (DGP) in Berlin. E-Mail: [email protected] • »Ich werde Opa und die anderen von Euch grüßen« (Niclas). Literatur

Fazit Auch wenn in der Debatte zur gesetzlichen Re­ gelung der Sterbehilfe das Thema des Suizids im Zusammenhang mit schwerkranken Menschen zum großen Teil verwirrend und wenig realitäts­ bezogen geführt wurde, so ist das im Windschat­ ten entstandene hoffnungsvolle Hospiz- und Pal­ liativgesetz sicherlich der größte Gewinn dieser Diskussion. Zu bedenken bleibt aber, dass nach Schätzungen nur 4 Prozent aller Suizide im di­ rekten Zusammenhang mit einer unheilbaren und zum Tod führenden Erkrankung zu betrach­

Bloch, E. (1985). Werkausgabe, Band 5: Das Prinzip Hoff­ nung. Frankfurt a. M. Bundesministerium der Justiz (2015a). Gesetz zur Strafbar­ keit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung. In: Bundesgesetzblatt 49 (Teil 1), 2177. Bundesministerium der Justiz (2015b). Gesetz zur Verbesse­ rung der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland (Hospiz- und Palliativgesetz  – HPG). In: Bundesgesetz­ blatt 48 (Teil1), 2114. Melching, H. (2015). Gedanken zur aktuellen Sterbehil­ fediskussion aus Sicht der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. In: Der Schmerz 29 (3), S. 261–265  – doi:10.1007/s00482-015-0022-4. Nauck, F., Ostgathe, C., Radbruch, L. (2014). Ärztlich assis­ tierter Suizid. Hilfe beim Sterben – keine Hilfe zum Ster­ ben. In: Deutsches Ärzteblatt, 111 (3), S. 67–71.

Hoffnung – ein Drahtseilakt

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Das »Phänomen Di Bella« Was Medien mit der Hoffnung der Menschen bewegen können

Franco de Conno und Heidi Blumhuber Kampf gegen den Krebs Tumorerkrankungen sind schon seit der Zeit der Ägypter bekannt und seit jeher versucht der Mensch sie zu bekämpfen und zu heilen. Zwei ägyptische Papyri geben die ersten überliefer­ ten Beschreibungen der Tumorbehandlung. Das Papyrus Eber rät, »entzündete Geschwülste und bösartige Tumore« einzuschneiden, mit Medika­ menten oder magischen Riten zu behandeln. Das Papyrus Smith ist eine Beschreibung der chirur­ gischen Behandlung von nicht infizierten Tumo­ ren der Brust. Der Ausdruck »Karzinom« stammt von dem Griechischen Karkinos (Krebs) ab und wurde das erste Mal von Hippokrates von Kos benutzt, der von 460 bis 377 vor Christus gelebt hat. Zur Zeit der Römer hatten die Ärzte schon verschiedene Krebsarten identifiziert. Galen aus Pergamo (129–200 nach Christus) führt den Be­ griff »Sarcoma« ein, wenn er von fleischigen Tu­ moren spricht. Im Mittelalter wird Krebs mit einem Über­ schuss von schwarzer Gallenflüssigkeit in Ver­ bindung gebracht, eine der vier Körpersäfte (Blut, gelbe Gallenflüssigkeit, schwarze Gallen­ flüssigkeit, Schleim). In der Humoralpathologie hing das Wohlfinden des Menschen vom Gleich­ gewicht dieser vier Flüssigkeiten ab. Mit der Erfindung des Mikroskops wird es endlich möglich, das Universum Mensch zu er­ forschen. Man beschreibt den Blutkreislauf und das Lymphsystem, der Begriff »Zelle« erscheint in den Texten der Biologie. Die Humoralpatho­ logie wird zur Seite geschoben, und die Ursache des Krebses wird als Anomalie des Lymphsys­ tems dargestellt. Der Deutsche Chirurg ­Fabricius

Hildanus entfernt die großen Lymphknoten bei Operation des Brusttumors. Im 18. Jahrhundert entsteht das neue Fachgebiet der medizinischen Onkologie. Das 19. Jahrhundert war der Auftakt der mo­ dernen Medizin. Dank der Fortschritte in der Mi­ kroskopie stellt sich heraus, dass Krebszellen ein ganz anderes Aussehen als die umgebenden ge­ sunden Zellen haben. Rudolf Virchow begründet die zelluläre Pathologie und stellt fest, dass der Ursprung von Krebserkrankungen in den Zel­ len gesucht werden muss. Die bakteriologischen Studien von Louis Pasteur ebnen der modernen Mikrobiologie den Weg. Domenico Rigoni-Stern, ein Arzt aus Verona, führt eine der ersten epidemiologischen Studien über Krebsstatistiken. Er analysiert die Daten über Krebstode systematisch, aufgeschlüsselt nach Alter, Geschlecht und Beruf. Er fand heraus, dass die Häufigkeit von Krebserkrankungen mit zunehmendem Alter anstieg, dass Krebserkran­ kungen häufiger bei Stadtbewohnern auftraten als bei Menschen auf dem Land und dass verhei­ ratete Personen ein geringeres Risiko hatten, an Krebs zu erkranken. Im Jahr 1913 wurde die erste öffentliche Kam­ pagne zur Vorsorge gestartet, als in dem amerika­ nischen Frauenmagazin »Ladies’ Home Journal« ein Artikel zu den Symptomen von Krebserkran­ kungen erschien: »Sollten Sie verdächtige Symp­ tome entdecken, suchen Sie einen guten Arzt auf und fragen Sie ihn nach der Wahrheit (…). Das Risiko ist nicht der chirurgische Eingriff, sondern ein zu spätes Handeln.« Vom Anfang des Jahrhunderts bis zum Zwei­ ten Weltkrieg bestanden die Waffen gegen den

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 28–32, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

William Blake, I Want! I Want!, 1793 / Private Collection / Bridgeman Images

3 0   Fr a n c o d e C o n n o u n d H e i d i B l u m h u b e r

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Die »alternative Krebstherapie« hatte viele Erwartungen geweckt, insbesondere bei den Patienten, bei denen die herkömmlichen Therapien nicht wirksam waren.

Krebs im Wesentlichen aus Operation und Strah­ lentherapie. Einige Entdeckungen in den 1940er Jahren führten dann zum Beginn der Chemothe­ rapie. 1947 zeigte Sidney Farber die Wirksamkeit eines Arzneimittels (Aminopterin) gegen Leukä­ mie bei Kindern. Es war das erste Mal, dass ein Medikament in der Lage war, den Krebs zumin­ dest vorübergehend zu stoppen. Es folgen die Jahre der großen wissenschaft­ lichen Begeisterung, von der Entdeckung des ersten Onkogens (ein Gen, das Krebs auslösen kann), über die ersten gentechnischen Experi­

mente zu der Produktion der ersten monoklona­ len Antikörper (Substanzen, die auf Krebszellen wirken, ohne die gesunden Zellen zu beeinträch­ tigen) und zur Entwicklung von Technologien, um die Informationen im menschlichen Erbgut, der DNA, zu lesen. Dies ist die Geschichte der Entwicklung der Onkologie. Trotz der enormen Fortschritte, die vor allem in den letzten Jahren gemacht wurden, sterben immer noch viele Menschen an Krebs­ erkrankungen, und leider ist dies oft verbunden mit großem Leid. Die Diagnose einer Krebs­

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D a s » P h ä n o m e n D i B e l l a «    3 1

erkrankung macht deshalb auch heute noch sehr viel Angst. Hoffnung auf Heilung Die Hoffnungen der Menschen auf eine Heilbar­ keit der Tumorerkrankungen sind bislang ent­ täuscht worden, trotzdem erwartet man immer wieder von der medizinischen Wissenschaft, diese Bedrohung unter Kontrolle zu bekommen. Dies ist wahrscheinlich der Grund, warum sich Phänomene mit großer öffentlicher Aufmerk­ samkeit und Faszination zyklisch wiederholen. In Italien gab es zwei solcher Phänomene, die hohe Heilungserwartungen in der Bevölkerung geschaffen hatten. Das erste war das Serum von ­Bonifacio im Jahr 1963. Der Tierarzt Liborio ­Bonifacio ­beobachtete, dass Ziegen immun gegen Krebs seien. Er versuchte deshalb, Krebspatienten mit einem Extrakt aus Ziegenkot und Urin zu be­ handeln. Zwar zeigte diese Methode keine thera­ peutische Wirkung, aber viele Menschen haben dieser »Behandlung« vertraut. Ein ähnliches Phä­ nomen trat auf, als Dr. Luigi Di Bella im Jahr 1997 eine »alternative Therapie für Krebspatienten« entwickelt hatte, die in den Jahren 1997 und 1998 großes Interesse in den Medien erregte und viele Erwartungen geweckt hatte, insbesondere bei den Patienten, bei denen die herkömmlichen Thera­ pien nicht wirksam waren. Die Methode Di Bella weckte über lange Zeit viel Aufmerksamkeit und bewirkte viel Aufregung. Sie fand sogar in medi­ zinischen Fachkreisen viele Unterstützer, die von einigen Journalisten darin bestärkt wurden, die wiederum versuchten, mit Sensations­berichten ins Rampenlicht zu kommen. Multitreatment Di Bella Die sogenannte Di-Bella-Methode (oder Multi­ treatment Di Bella, als Akronym MDB), wie sie von Di Bella beschrieben wurde, war eine alternative Tumortherapie ohne wissenschaftlichen Grundla­ gen oder den Nachweis ihrer Wirksamkeit.

Die MDB erfuhr über die Zeit einige Variatio­ nen, aber die Grundsubstanzen des »Cocktails«, wie er benannt wurde, blieb immer dieselbe. Er setzte sich aus vier Bestandteilen zusammen, de­ ren Basis Arzneimittel und Hormone waren und die mit Vitaminen kombiniert wurden. • Somatostatin, als Infusion (3 mg), manch­ mal ersetzt durch das Somatostatin-Analo­ gon Octreaotid, • Bromocriptin (2,5 mg), • Cyclophosphamid (sonst als Chemotherapie verwendet) in täglichen Dosen von 50 mg (bei der Behandlung von Glioblastom durch Idrossiurea ersetzt), • Melatonin (20 mg), in Kombination mit Adenosin (1991 von einer Firma, die Di ­Bella gehört, zum Patent angemeldet), • in Kombination mit einem Vitaminkomplex (Lösung mit den Vitamine A, C, D und E). Diese Medikamente waren die sogenannte »fe­ ste Form« der Behandlung. Andere Medikamen­ te, von Zeit zu Zeit verschiedene, wurden in Ab­ hängigkeit von der Art des Tumors verwendet, andere (wie ACTH) im Verlauf ab und zu aus­ gewechselt. Aus der medizinischen Grundlagenforschung war bereits seit 1972 bekannt, dass Somatostatin (und dessen Analog Octreotid) eingeschränkte antitumoröse Eigenschaften hat, aber die Wir­ kung ist sehr kurz und nicht ohne Nebenwir­ kungen, darunter zum Beispiel Typ-2-Diabetes, Durchfälle, Magenbeschwerden oder Haarausfall. Auch die Analyse der Untersuchungen auf mole­ kularer Ebene zeigten keine besonderen Krebs­ wirkungen außer bei neuroendokrinen Tumoren, bei denen die Substanz bereits seit einiger Zeit verwendet wurde. Ein weiteres Hormon in dem Cocktail, das ACTH, kann ebenfalls zu schweren Nebenwirkungen führen, insbesondere zu einem Cushing-Syndrom, verbunden mit Diabetes mel­ litus, Osteoporose, Bluthochdruck, Immunsup­ pression und Depression.

Hoffnung – ein Drahtseilakt

3 2   Fr a n c o d e C o n n o u n d H e i d i B l u m h u b e r

Heiler oder Scharlatan Di Bella behauptete, dass er 10.000 Menschen ohne Nebenwirkungen geheilt habe, hatte aber keine Ergebnisse in einer wissenschaftlichen Zeit­ schrift veröffentlicht. Die Dokumentation dieser angeblichen Heilungen war sehr unvollständig, so wurde nicht festgehalten, ob die Patienten in der Zwischenzeit Chemotherapien oder andere Therapien verabreicht bekommen hatten. Die an­ geblichen Verbesserungen waren frei von wissen­ schaftlichen Daten und wurden vage beschrieben als »es geht besser«. Im Januar 1998 auf einer Konferenz in Brüs­ sel erklärte Di Bella, dass seine Therapie auch gegen andere Krankheiten wirksam sein würde, wie Alzheimer und Multiple Sklerose, was Pro­ teste von Spezialisten auslöste. Der öffentliche Druck durch die Medien in Be­ zug auf MDB war so groß, dass Ende Januar 1998 zwischen dem damaligen Gesundheitsminister Rosy Bindi, Luigi Di Bella und mehreren Onkolo­ gen eine Studie vereinbart wurde. Geplant war der Einsatz der MDB bei neun Tumorarten (es wurden dann später insgesamt elf) mit insgesamt 600 Pa­ tienten sowie eine zusätzliche Beobachtungsstu­ die mit 2000 Patienten an 21 Behandlungszentren. Die Mediengruppe um Luigi Di Bella beharrte darauf, dass er Tausende von Krebspatienten be­ handelt hatte. Erst im Juni 1998 gewährte Luigi Di Bella Zugang zu seinen Archiven, so dass die Krankenakten von einem onkologischen Exper­ tenteam analysiert werden konnten. Die Daten aus zwanzig Jahren der Di-Bella-Kur waren sehr unvollständig und die Ergebnisse enttäuschend. Von 3076 analysierten Fällen war nur von etwa 50 Prozent der Patienten tatsächlich bekannt, ob sie wirklich einen Tumor hatten. Bei 30 Prozent der Patienten fehlten Daten zum Überleben nach der MDB. Von den restlichen 20 Prozent der Patienten (605 Fälle) waren Informationen über das Über­ leben registriert. Nur bei 8 Prozent (248 Patien­ ten) lagen verlässliche Daten über die Diagnose und Behandlung vor, davon hatten 244 Patienten

auch Chemotherapien oder andere Tumorbe­ handlungen erhalten. Nur vier Patienten waren ohne Chemotherapie ausschließlich mit der kon­ sequenten Anwendung der Di-Bella-­Methode be­ handelt worden, und diese vier Patienten sind alle in einem Zeitraum zwischen einem und drei Jah­ ren nach der Diagnose gestorben. Die im renommierten British Medical Journal veröffentlichte Studie bewies die Wirkungslosigkeit des »Multitreatment Di Bella«. Die Überlebens­ zeiten der Patienten mit MDB waren nicht länger als in der Vergleichsgruppe. Im Jahr 2005 wurde daraufhin die Di-Bella-Methode durch den Präsi­ denten des Obersten Rates für Gesundheit, Mario Condorelli, und den Gesundheitsminister, Frances­ co Storace, öffentlich als nicht wirksam verurteilt. Die große Aufmerksamkeit in den Medien hat­ te allerdings auch positive Nebeneffekte. In der Öffentlichkeit wurde in dieser Zeit auch mehr und mehr von Palliativversorgung und von den Rechten der Patienten gesprochen. Die damali­ ge Gesundheitsministerin hatte den Regionen fi­ nanzielle Mittel zur Verfügung gestellt, mit denen in ganz Italien mehr als 150 Hospize gebaut wer­ den konnten. Leider gibt es trotz allem immer noch Befür­ worter dieser Methode, die mit der Hoffnung ei­ niger Patienten und deren Mangel an Vertrauen in die Schulmedizin Profit machen. Franco de Conno ist Arzt und hat seit vierzig Jahren die Schmerztherapie und Palliativversorgung am Istituto di Tumo­ ri in Mailand aufgebaut. Er hat eine Viel­ zahl von Studien zur Tumorschmerz­ therapie und anderen Bereichern der Palliativversorgung durchgeführt. Seit 1996 hat er das Forschungsnetzwerk der European Associa­ tion for Palliative Care etabliert. E-Mail: [email protected]

Heidi Blumhuber hat (nach einer frü­ heren Karriere als Drachenseglerpilotin) seit 1989 als Geschäftsführerin die Euro­ pean Association for Palliative Care aufund ausgebaut. E-Mail: [email protected]

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Der Stoff, aus dem die Hoffnung ist Klaus Aurnhammer mit eingewobenen Gedanken von Anette Aurnhammer eingefädelt von Martina Kern Zusammensetzung und Struktur Es handelt sich bei diesem Stoff um viele einzelne Hoffnungsfäden, die sich innerhalb von drei Mo­ naten zu neun Hoffnungssträngen verdichtet ha­ ben. Weitere Hoffnungsfäden sind SMS-Korres­ pondenzen mit Freunden und kursiv aufgeführt. Die unterbrochene Hoffnung Es geschah am ersten Maiwochenende des Jah­ res 2016. Ich machte mit meiner Frau Anette und einem meiner Söhne eine Radtour in der Nähe von Freiburg. Es war ein schöner sonniger Tag, das Radfahren machte uns Freude. Dann geschah es: Ohne Vorwarnung, ohne einen körperlichen Hinweis fiel ich vom Rad. Ein Herzinfarkt hatte mich hingestreckt. Glücklicherweise – es gleicht eigentlich einem Wunder – kamen eine Kran­ kenschwester und kurz darauf ein Arzt des We­ ges, die die Situation sofort erkannten und mich reanimierten. Zunächst ohne Erfolg.

Anette: Das war’s. Der Faden ist gerissen. Dann der erste Herzschlag. Er lebt. Erst nach dreißig Minuten sprang mein Herz wieder an. Meine Frau berichtete später, sie habe mich auf der Wiese tot gesehen. Vom Fahrrad ge­ stürzt, aus dem Leben gefallen, abgeschnitten von der Zukunft, fast tot. In den nächsten Tagen lag ich auf der Intensivstation der Uniklinik in Frei­ burg, verkabelt, ohne Bewusstsein. Für mich ein Zustand jenseits von Hoffnung. Für Anette und meine Familie begann eine schwere Zeit, in der Hoffnungsfäden zerrissen sind, um sich dann wieder neu und anders zu verbinden. Anette: Schwergewichte heute: vier Ärzte, sprechen von frontalem Hirnschaden ohne Irrtum, sprechen von jahrelangem Prozess mit Pflegebedürftigkeit und empfehlen mir psychotherapeutische Unterstützung. Martina: Ich habe die gewaltsame Erwartung, dass alles gut gehen möge, heißt: alles wie früher ist, abgelegt. Das macht mich still. Und eine Diagnose ist eben auch nur eine Diagnose … Ewald: Manchmal habe ich Tränen in den Augen, manchmal einfach ein zartes, warmes Gefühl ganz tief innen. Manchmal muss ich mich fast kneifen, weil ich nicht glauben mag, dass das passiert ist. Ich fühle mich Euch so verbunden. Nach den dramatischen Tagen der Intensivstation wurde ich in die Rehaklinik nach Elzach verlegt. Ich konnte so gut wie nichts selbstständig tun.

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 33–38, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

3 4   K l a u s A u r n h a m m e r, A n e t t e A u r n h a m m e r, M a r t i n a K e r n

Die stellvertretende Hoffnung Anette und ich konnten in der Klinik das Room­ ing-in nutzen, so dass wir 24 Stunden zusammen waren. Familie und enge Freunde kamen aus ganz Deutschland angereist, um uns zu unterstützen. Körperlich stabilisierte sich mein Zustand, mei­ ne Familie und Freunde begannen stellvertretend für mich zu hoffen: Vielleicht gäbe es doch eine Chance, aber welche? Pflegebedürftigkeit, Stabi­ lisierung, Rehabilitation? Ich kann mich an die ersten Wochen in der Rehaklinik nur unscharf erinnern. Anette: Augen weit offen, Verstand hinter dünnen Tüchern. Und es darf kommen eine neue Nacht und ein neuer Tag. Und deine Worte streicheln meine Seele und lassen kleine tüchtige Flügel wachsen. Flügelhemden auch ;-) Anette: Klaus ist im Durchgang. Viel in Bewegung und bewundernswert eigenwillig. Merke, wie meine Kräfte im Dauereinsatz schmelzen.

Martina: Lass uns treffen in Höhle. Ich finde den Eingang nicht. Habe Dich im Niemandsland nicht gefunden. War nun im Garten buddeln. Erde bot Widerstand. Bin wieder anlehnungsfähig. Anette: Höhle ok, hier könnte der Eingang sein. Stehe wieder gerade. Taste. Atme. Schaue. Nach innen. Ewald: Er wird schon in rechter Weise in seinem Inneren ankommen. Anette: Klaus schweigt heute: Übung für mich in Königsdisziplin: Es ist so erschöpfend. Martina: Im Wort Erschöpfung steckt auch Schöpfung … Lehn Dich an und (er)schöpfe. »Und wenn ich manchmal durchaus besorgt zu dem Schluss komme: ›Ich bin anders‹, dann sagt ihr: ›Anders ist ein schöner Name.‹« (Jens Förster). Anette: Klaus ist anders: Vollkommen. Die keimende Hoffnung Anette: Ein Lichtband – Klaus lichtet sich – Bewegung, Erregung, Erzeugung, Erschöpfung, Verantwortung, Verwirrung, Verortung. Es füllt/fühlt sich. Mitten im Dazwischen hebt sich der Vorhang leise. Die Erinnerung setzte ein und damit auch eine eigene Hoffnung, als ich therapiefähig wurde. Ich konnte ja sprechen und denken, reflektieren und Antwort geben. Ich bekam regelmäßig Ergothera­ pie und Krankengymnastik. Vieles hatte ich ver­ loren, auch ganz Selbstverständliches. Tagelang übte ich den Unterschied zwischen linkem und rechtem Fuß. Erste Erfolge stellten sich ein. Ich konnte bei einem aufgeblasenen Luftballon den Knoten auf Anweisung wahlweise mit der rech­

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D e r S t o f f, a u s d e m d i e H o f f n u n g i s t    3 5

ten und der linken Hand mit Hilfe des Pinzet­ tengriffs berühren. Das machte Spaß. Die The­ rapeutinnen waren mit Lust und Freude bei der Sache. So begann Hoffnung von Tag zu Tag zu keimen. Ich freute mich an kleinsten Dingen. So begriff ich am Anfang nicht, wie man sich die Zähne putzt. Ich sah zwar im Bad die Zahnbürs­ te und die Tube mit Zahnpasta, aber als ich sie benutzen wollte, machte mir mein lädiertes Hirn einen Strich durch die Rechnung. Tagelang stopf­ te ich mir die Zahnbürste mit dem Stiel in den Mund und war völlig verwundert, dass nichts schäumte. Es fühlte sich völlig falsch an. War es ja auch. Als ich zum ersten Mal die richtige Sei­ te der Zahnbürste in den Mund schieben konnte, war ich so froh, dass ich weinte vor Glück. Also gab es doch Hoffnung. Es gelang etwas, was ges­ tern noch nicht ging. Ich erlebte, dass sich durch Ausprobieren, Üben, Konzentration und Geduld das Fenster zur Zukunft öffnete. Etwas passierte tief in mir drinnen. Voller Dankbarkeit schaute ich in diese Tiefe in mir. Da geht was, war die Botschaft aus die­ ser tiefsten Tiefe. Diese ersten Erfahrungen von Erfolg ließen mich hoffen, dass es bei Menschen im Grunde immer Hoffnung gibt. Die ruhende Hoffnung. Mir kam das Bild eines Keimes in den Sinn. Die ruhende Hoffnung ist wie ein Keim im Menschen angelegt. Ein göttliches Geschenk, das der Mensch, weil er eben Mensch ist, in sich trägt. Aber ein Keim ist für sich im Grunde der Seele noch nichts. Ein Keim braucht Nahrung. Die nährende Hoffnung Klaus: In jeder Therapieeinheit gibt es so ­etwas Beglückendes. Das bist Du, und das warst Du und das wirst Du sein. Der grundgelegte Keim wurde von außen und von innen genährt. Von innen, weil Hoffnung wohl so etwas ist wie ein Existenzial des Men­ schen. Der Mensch ist mit Hoffnung begabt, braucht aber Hoffnung von außen, damit sie

auch genährt wird. Wie dankbar bin ich bei­ spielsweise zwei Therapeutinnen in der Klinik in Elzach. Julia ist Krankengymnastin, war täg­ lich bei mir und lehrte mich den Unterschied zwischen rechts und links. Sie gab meinen Fin­ gern Namen und gab mir das Gefühl, wie man Finger benutzt. Das gelang von Mal zu Mal bes­ ser. Genährte Hoffnung, dass ein Teil der verlore­ nen Hoffnung zurückkehrte. Auch das war zum Weinen schön. Frau von Muzius ist Ergothera­ peutin. Sie bereitete mir den Boden für den er­ folgreichen Umgang mit Kleidungsstücken. Wie zieht man eine Unterhose an, wie ein T-Shirt? Für einen Apraktiker (Apraxie = Störung der Ausfüh­ rung willkürlicher zielgerichteter und geordne­ ter Bewegungen bei intakter motorischer Funk­ tion) ist das eine Welt, die verschlossen ist, mit mehr als sieben Siegeln. Also galt es, die Hosen­ beine voneinander zu unterscheiden. Aha: Das geht ja. Vielen Dank. Wieder ein Beispiel für ge­ nährte Hoffnung. Also nahm ich mir vor zu üben. Wenn eins ging, dann ging doch auch noch ein Weiteres und dann noch ein Weiteres. So wurde Tag für Tag Hoffnung genährt. Und alles, wirk­ lich alles wurde zur Übung. Bei jeder kleinen Handlung musste und wollte ich überlegen, was zu tun ist. Unvergessen die Tage rund um das ­T-Shirt-Anziehen. Ich hatte ja keine Ahnung von hinten oder vorne, oben oder unten. Die Ergo­ therapeutin legte mir mein T-Shirt richtig herum aufs Bett und zeigte mir, wie ich von unten – was ist unten? – in das T-Shirt langen sollte. Aber wie erklärt man einem Apraktiker, wie man in den linken Ärmel gelangt? Eines Tages brachte sie einen dicken schwarzen Stift mit. Ich krabbelte erfolgreich von unten – sic! – in das T-Shirt und sie legte etwa 15 cm links vom linken Ärmelloch den Stift auf die Matratze. »Sehen Sie den Stift? Versuchen Sie, ihn mit links zu greifen.« Ich weiß nicht, wie viele Versuche ich brauchte. Irgendwann hatte meine linke Hand den Stift in den Fingern. Und jetzt das T-Shirt über den Elle­ bogen ziehen und dann über den Kopf. Angezo­ gen! Welch ein Jubel im Zimmer! Alle strahlten

Hoffnung – ein Drahtseilakt

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Anette: Und nach Hüsch werden wir das Kreuz wie eine Krone tragen, wie Könige und Königinnen. Anette: Gestern so einen kleinen Nervencrash. Da war er, der verflixte Moment, und das Königinnenkleid wurde vom Wind erfasst und trieb höher und höher. Und kehrte nicht zurück.

und feierten den Erfolg. Es dauerte noch Wo­ chen, bis ich sicher ein T-Shirt anziehen konnte. Aber ein Anfang war gemacht. Nach und nach begriff ich auch beim Essen, wie man die Gabel auf unterschiedliche Weise nutzen konnte. Ge­ nährte Hoffnung. Alles, was gelang, sank voller Dankbarkeit tief in mich hinein. Ich begriff, dass Hoffnung nicht einfach nach vorne in die Zukunft greift, sondern eben auch nach innen weist. So er­ gänzte sich die Erfahrung des Nach-Vorne und des Nach-Innen. In dieser Zeit war meine Frau eine sprudeln­ de Quelle nährender Hoffnung. Sie unterstütz­ te mich in meinem Üben, benannte tapfer jeden kleinen Fortschritt, strich ihn wie mit einem Text­ marker hervor. Anette war für mich wie ein Fels in der Brandung. Ihre Grundbotschaft war: Lass dir Zeit, mach in deinem Tempo und Rhythmus weiter, hab Geduld. Du bist es, um den es geht. Ich bin an deiner Seite. Ohne solche Botschaf­ ten wäre meine Hoffnung vielleicht versandet. So aber wurde sie von Tag zu Tag, von Woche zu Wo­ che weiter genährt. Der Hoffnungskeim konnte wachsen. Was ich anfangs überhaupt nicht mit­ bekam und realisierte: wie viel meine Frau im Hintergrund am Thema arbeitete. So konnte ich das Gefühl entwickeln, mir meine Zeit für Gene­ sung und Stabilisierung zu nehmen. Ohne Druck, ohne ein Müssen. Für diese Unterstützung bin ich überaus dankbar. Ohne sie wäre ich im Moment nicht da, wo ich bin.

Martina: Wie sollte es auch? Es wird bei Frau Holle nun repariert, verdichtet, bekommt an manchen Stellen Verstärkungen. Das dauert jetzt ein bisschen. Wissen wir als alte Näherinnen doch. Bin gerade auch mal eben mit Kopf in Tränensee eingetaucht. Anette: Frau Holle hat sich gleich ans Werk gemacht. Die Flicken sind heute gestreift stabil und geben ein wenig nach. Klaus redet. Bewegt sich und die Welt. Jeden Tag ein Stückchen mehr.

Martina: Heute ist Kursleitertreffen. 150 Menschen werden da sein. Alle kennen Klaus. Wie soll ich ihnen sagen, was passiert ist? Was soll ich sagen? Ich glaube, das übersteigt meine Kraft. Anette: Ich habe Klaus gefragt. Seine Antwort: »Sag ihnen, ich bin im Lachkoma.« Martina: J Das war gut, das Lachkoma hat uns arbeitsfähig gemacht in der Erschütterung.

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D e r S t o f f, a u s d e m d i e H o f f n u n g i s t    3 7

Die zweifelnde Hoffnung Klaus: Kann ein Mensch sich neu erfinden? Viel war jetzt von Hoffnung die Rede, aber es gibt natürlich auch den Zweifel. Man könnte fragen, ob auch der Zweifel ebenso Existenzial des Men­ schen ist, der ihm innewohnt. Natürlich gehört auch der Zweifel zu meinen grundlegenden Er­ fahrungen der letzten Monate. Wie oft habe ich etwas probiert, etwas versucht, und es gelang und gelang einfach nicht. Ich konnte zum Beispiel zu Beginn weder schreiben noch rechnen. Ich zwei­ felte immer wieder an meinen geistigen Fähig­ keiten.

Die verzweifelte Hoffnung Zu meinem eigenen Erstaunen stelle ich fest, dass ich so etwas wie die pure Verzweiflung bisher nicht erlebte. Ich weiß nicht, woran das liegt. Es wäre ja durchaus verständlich, wenn das Grund­ gefühl angesichts der vielen Verlusterfahrungen die Verzweiflung wäre. Toni: Ich habe eine französische Nonne getroffen, die mir einen Satz mitgab: »Nichts ist von Bedeutung.« Dieser Gedanke sprach mich an, seine Mehrdeu­ tigkeit beschäftigt mich bis zum heutigen Tage; ist Teil von mir geworden, trägt mich. Vielleicht hat er dem tiefsten Zweifel die Übermacht ge­ brochen. Die ruhende Hoffnung Klaus: Nicht Du musst Dich anstrengen, Du bist schon da.

Für meine Umgebung ergab sich ein Paradox: Viele geistige, intellektuelle Fähigkeiten waren mir verschlossen, aber ich konnte sehr präzise beschreiben, was alles nicht ging. Das war biswei­ len eine emotionale Achterbahnfahrt des Zwei­ felns und Hoffens. Es gab das, was ich verlorene Tage nannte: voller Zweifel und Traurigkeit, wie es mit mir und meinem Leben weitergehen soll. Die zweifelnde Hoffnung fühlt sich nicht gut an, sie ist aber wichtig. Sie sagt dir, du bist noch nicht da, wo du hinwillst. Sie schaut nach und hinter­ fragt: Was fehlt noch? Interessant ist die Erfah­ rung, dass die zweifelnde Hoffnung begleitet wird durch nährende Erfahrung, die dennoch einen Schub nach vorne auslöst. Mit dem Zweifel geht die Hoffnung weiter.

Angeregt durch ein Buch von Hanns Dieter Hüsch mit seinen wunderbaren Gedanken ent­ deckte ich auf einmal, dass tief in mir eine gro­ ße Dankbarkeit vorhanden war. Sie kam nicht, sie entstand nicht, sie war einfach da. Ein seli­ ges tiefes und zugleich kraftvolles Gefühl. Zum ersten Mal ging der Hoffnungsblick nach vorne. Ich erinnerte mich an eine Ausstellung in der Au­ gustinerkirche in Würzburg. Ein Künstler hatte aus buntem Plexiglas Würfel, Kuben und Kreuze angefertigt und sie in die helle, lichte Kirche ge­ hängt. Am Eingang der Kirche stand auf einem goldfarbenen Band ein Zitat von Augustinus: »Ich will, dass Du bist.« Dieser Satz fiel ebenfalls tief in mein Innerstes. Seit diesem Tag trage ich den Satz von Augustinus in mir. Er erinnert mich an etwas, was ich zutiefst immer spüre: Vielleicht ist das die Grundlage jeder Hoffnung. Ganz tief in mir gibt es ein wirkliches Geschenk. Eine schon immer vorhandene ruhende Hoffnung.

Hoffnung – ein Drahtseilakt

3 8   K l a u s A u r n h a m m e r, A n e t t e A u r n h a m m e r, M a r t i n a K e r n

Die enttäuschte Hoffnung Zu den Erfahrungen eines Menschen, der unter Apraxie leidet, gehört logischerweise die Enttäu­ schung. Selbst kleine Handlungen misslingen. Es ist, als sei man aus dem Leben gefallen. Wenn man mir eine kurze Geschichte vorlas, die aus sieben Sätzen und einigen Fakten bestand, konnte ich sie nach einer Minute nicht mehr erinnern. Ich ver­ suchte Schuhe zu binden. Zu komplex. Es gelang nicht. Die ersten Wochen waren so voller Enttäu­ schungen. An einem warmen schönen Tag gin­ gen Anette und ich im Wald spazieren. Auf ein­ mal kam die Frage auf, was ist eigentlich bei der enttäuschten Hoffnung die Täuschung? Wenn ich etwas versuche, etwas ausprobiere, und es gelingt nicht, bin ich enttäuscht. Ich habe mich offensicht­ lich getäuscht. Die Täuschung besteht darin, dass ich nicht in Kontakt mit der Wirklichkeit bin. Ich bin einer Täuschung erlegen. Das, was ich bin, ist nicht mit dem identisch, was ich mir vorstel­ le. Sein und Schein fallen auseinander. Aus die­ sem Gespräch ergab sich für mich eine neue Er­ kenntnis: Erst wenn die Täuschung verschwunden ist, wird klar, was Wirklichkeit ist. Das Sein, das Wirkliche, hat nur dann eine Chance, wenn ich auf die Täuschung verzichte. Von diesem Punkt an war ich jeder Enttäuschung im Grunde dankbar. Natürlich fühlt es sich zunächst einmal nicht gut an, wenn man merkt, dass man einer Täuschung erlegen ist. Aber die Enttäuschung bringt mich in Kontakt mit der Wirklichkeit und das erzeugt interessanterweise neue Hoffnung. Fast paradox. Die große Hoffnung Was ist eigentlich die ganze Zeit mein inneres Ziel gewesen? Nachdem der Schrecken des Todes ge­ bannt war und sich eine gewisse Stabilität einstell­ te, als keimende und genährte Hoffnung wuchsen, ergab sich für mich und meine Umgebung eine neue Perspektive: Könnte es möglich sein, wie­ der in die sogenannte Normalität zurückzukeh­ ren? Könnte es möglich sein, wieder zu arbeiten,

ein normales Leben zu führen? Diese Perspekti­ ve ist im Moment, wo ich dies schreibe (10. Au­ gust 2016), noch so weit entfernt, dass sie noch keine Auswirkung auf mich hat. Ich höre aber, wenn ich Besuch bekomme, diesen Wunsch: wie­ der zurückzukehren, »der Alte« zu werden, den gewohnten Platz einzunehmen. Aber es ist der Wunsch von anderen, der Wunsch von außen so­ zusagen. Natürlich geht meine Hoffnung auch tas­ tend in diese Richtung, gleichzeitig geht sie über »das Alte« hinaus. Die noch größere Hoffnung Klaus: Ich bin auf den Grund gegangen. Durch die Erfahrung der letzten Monate ist in mir etwas gewachsen oder in mir in Bewegung geraten: eine Erkenntnis, die ich mit mir herum­ trage: Diese Erkenntnis weist in die tiefsten Tie­ fen der Hoffnung hinein. Es geht immer um das Sein. Es geht im Leben immer darum, die Wirk­ lichkeit zu spüren, der Wirklichkeit des Seins nä­ her zu kommen. Und dieses Sein zu durchdrin­ gen oder besser: sich vom Sein durchdringen zu lassen. Es reicht das pure Sein! Wo dieses Sein Wirklichkeit wird, ist Hoffnung. Klaus Aurnhammer, Diplom-Theolo­ ge, ist Mitarbeiter der Palliativstation im Marienkrankenhaus in Saarlouis, Pallia­ tive-Care-Trainer, 56 Jahre alt, verheira­ tet, zwei erwachsene Söhne. E-Mail: [email protected] Anette Aurnhammer, Diplom-Pädago­ gin, ist Mitarbeiterin der Betreuungsbe­ hörde in Saarlouis, 55 Jahre alt, verhei­ ratet, zwei erwachsene Söhne. E-Mail: [email protected] Martina Kern, Krankenschwester, leitet das Zentrum für Palliativmedizin, Malte­ ser Krankenhaus Seliger Gerhard Bonn/ Rhein-Sieg und ist Leiterin von ALPHA (Ansprechstelle des Landes NRW zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung). E-Mail: [email protected]

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Hella Zeller – Hoffnungen Judith Grümmer Ihr Händedruck ist fest und warm. Ihre Kleidung sportlich-elegant. Schicker Kurzhaarschnitt, sorg­ fältig geschminkte Augen, gepflegte Hände. Sie empfängt mich in ihrem Wohnzimmer. Kaffee steht bereit. Neben dem Sofa stehen ein Paar Krü­ cken. Ihr Mann, der mir die Tür geöffnet hatte, zieht sich sofort zurück. Wie klingt das große Wort »Hoffnung« in den Ohren einer 61-jährigen Frau, die diese gefürch­ teten Sätze wie »Ihr Körper macht die Chemo­ therapie nicht mehr mit«, »Auch die zwanzigs­ te Bestrahlung hat keine Wirkung mehr« schon mehrfach verkraften musste? Hella Zeller: »Es fühlt sich schlimm an, wenn Hoffnungen vergehen, immer wieder. Ich war dem Tod schon mehrmals von der Schippe ge­ sprungen. Ich hatte einen Darmverschluss. Ich hatte sieben Fehlgeburten und ich hatte alle Kri­ sen immer gemeistert. Aber beim ersten Krebs­ befund, da dachte ich: Warum wieder ich?« Die Diagnose Blasenkrebs erreicht sie im Frühjahr 2014. Die Chemotherapie verträgt sie so schlecht, dass sie nach jedem Zyklus für je­ weils zwei Wochen in Quarantäne muss. »Für mich war es bei der ersten Krebsdiagno­ se schon unheimlich schwer, die Krankheit über­ haupt zu akzeptieren. Nach dem dritten Zyklus mussten die Ärzte mir dann auch noch erklären, dass sie die Therapie abbrechen müssten. Aber ich konnte diese Nachricht aushalten. Denn meine Tochter wollte heiraten. Und ich klammerte mich an der Hoffnung fest, diese Hochzeit miterleben zu können. Und das habe ich auch geschafft. Das war im Mai des vergangenen Jahres.« »Ich habe mir damals gesagt: Gut, jetzt ist die Zeit der Chemos vorbei und du nimmst dein Le­ ben wieder in die Hand und machst das Beste

draus! Und die Ärzte und Schwestern im Kran­ kenhaus haben mich dabei unterstützt und mich immer wieder aufgebaut, wenn ich verzweifelt war. Und so schaffte ich es, aus dem Krankenhaus entlassen zu werden. Getragen von der Hoffnung, meiner Tochter als Brautmutter zu Seite stehen zu dürfen.« Von der Wohnzimmercouch aus fällt der Blick direkt auf das Hochzeitsfoto. Auf dem Bild sieht die Brautmutter Hella fast ebenso glücklich und vital aus wie die junge Braut. »Ich hatte mir immer vorgestellt, wenn mei­ ne Tochter mal heiratet, dann würde ich irgend­ etwas Besonderes, etwas Schönes für sie vorbe­ reiten. Ging nicht! Und dann kam der Tag der Hochzeit. Und er war einerseits wunderschön und ich war glücklich, dabei zu sein. Anderer­ seits war die Situation auch sehr belastend für mich. Denn wie gerne hätte ich ebenso ausgelas­ sen getanzt und gefeiert wie die anderen. Aber das konnte ich dann einfach nicht. Und dann wussten auch viele nicht, wie sie mit mir umgehen sollten. Und es folgte dann ein halbes Jahr, das wirk­ lich gut war. Ich konnte ja noch laufen, ich konn­ te noch Auto fahren. Damals war ich noch selbst­ ständig. Also diese Zeit habe ich in glücklicher Erinnerung. Da habe ich nur gedacht: Ja, jetzt lebe ich und genieße das Leben. Leider war ich nicht in der Lage, mit irgend­ jemanden über meine Gefühle und Ängste zu sprechen. Mit meiner Familie nicht. Mit meinen Freundinnen nicht. Professionelle Hilfe habe ich mir dann erst nach der zweiten Diagnose geholt.« Ende 2015 fangen die Schmerzen wieder an. Andere Schmerzen. Im Januar dann die zweite Krebsdiagnose. Knochenkrebs. Metastasiert. Es folgen zwanzig Bestrahlungen, die keine Verbes­

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 39–41, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

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Aber ich hatte wieder eine große Hoffnung, denn meine Tochter war schon hochschwanger. Und ich wollte nun mein Enkelkind noch sehen. Auch das habe ich erreicht. Der Kleine kam Ende Juni.« Hella Zeller erzählt ihre Geschichte offen und sachlich. Sich selbst zu bemitleiden, zu schimpfen und zu weinen, das sei nie ihre Strategie gewesen, sagt sie. Aber als sie dann erneut aus dem Kran­ kenhaus entlassen wurde, um zu Hause durch ein SAPV-Team begleitet zu werden, habe sie

© Judith Grümmer

serung bringen. In dieser Situation beginnt Hella Zeller zu sprechen. Endlich, meint sie im Rück­ blick. In der Klinik nimmt sie die Unterstützung durch den Krankenhauspsychologen an. Und zwingt auch ihre Familie, sich der Diagnose zu stellen, anstatt weiter wie bisher zu schweigen. Es gibt nichts mehr zu beschönigen. Keine fal­ schen Hoffnungen. »Die Ärzte sagten mir, dass wir nur hoffen kön­ nen, dass der Knochen nicht ganz durchbricht.

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zunächst den dringenden Wunsch gehabt, ihre eigene Beerdigung zu regeln. In Begleitung ihrer F ­ amilie. »Ich glaube, wenn ich nicht gleichzeitig immer noch diese Hoffnungen hätte, dann hätte ich die­ sen Kampf schon längst verloren. Klar, du hast immer Angst, du nimmst deinen Körper ganz anders wahr, du nimmst das Leben anders wahr. Manchmal kann ich nachts nicht schlafen. Dann sitze ich auf dem Balkon und schaue in den Himmel. Und dort ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass der Mond ein Gesicht hat, und ich dachte: Spinnst du jetzt eigentlich ganz? Aber ich sehe jetzt den Mond mit diesem Gesicht, das ich früher nicht so intensiv wahrgenommen habe. Und ich denke auch ganz anders, ich bin auch empfindlicher. Jetzt habe ich ein Enkelkind. Aber wenn der Kleine anfängt zu krabbeln, dann wer­ de ich nicht hinter ihm herlaufen können. Das sind alles so Einschränkungen … Ich frage mich, warum? Warum muss ich das alles noch miterle­ ben? Und dann habe ich manchmal den Gedan­ ken: Lass doch die Augen zugehen …! Ich nehme jetzt auch die Menschen anders wahr. Es gibt Menschen, die unheimlich zu mir halten, die mir immer wieder Hoffnung schen­ ken, die mir Mut machen und bei denen ich auch meine Gefühle rauslassen kann, obwohl mir das immer noch schwerfällt. Und dann gibt es jene, vielleicht früher auch besten Freundinnen, die interessieren sich nicht mehr für mich, seit ich krank bin und nicht mehr laufen kann. Und wenn die dann versuchen, mir Hoffnung zu machen, dann macht mich das traurig. Dieser Spruch ›Die Hoffnung stirbt zuletzt‹ beispielsweise, der ist Blödsinn. Die Hoffnung nicht verlieren, wie soll ich das schaffen? Ich tue das, was ich kann, und versuche, mir so wenige Gedanken wie möglich zu machen. Aber dass ich jeden Tag Hoffnung habe, das kann ich nicht sagen … Manchmal würde ich gerne auch die ­Ärzte und Schwestern, die von Hoffnung sprechen, fra­ gen: Was würdet ihr hoffen, wenn ihr an mei­

ner Stelle wäret? Es ist mir wichtig, dass sie ehr­ lich und offen auf meine Fragen antworten. Auch wenn es keine therapeutischen Hoffnungen mehr gibt. Dieses ›Wir schaffen das‹, mit dem kann ich nichts anfangen. Redet Klartext, es geht um mich! Ich kann mir nicht viel Hoffnung machen, denn besser wird es nicht mehr. Im Gegenteil, es wird schlimmer werden! Aber irgendwie hänge ich ja doch noch an meinen Leben. Auf der einen Seite möchte ich, dass es endet, und auf der an­ deren Seite ist doch noch ein kleiner Funke Hoff­ nung. Und im Moment ist die Hoffnung stärker als die Mutlosigkeit und die Angst. Ich bin jetzt eine Palliativpatientin und bekom­ me starke Dosen Morphium. Aber das hat mir nicht die Hoffnung genommen, sondern ganz im Gegenteil. Dank der SAPV habe ich Ansprech­ partner rund um die Uhr und ich habe weni­ ger Angst. Ich werde auf dem Weg, der noch vor mir liegt, begleitet werden. Jetzt hoffe ich eigent­ lich nur noch, dass ich nicht lange leiden muss. Und dass die Krankheit nicht schlimmer wird, und wenn sie schlimmer wird, dass es dann ganz schnell zu Ende ist.« Hella Zeller ist trotz der Hoffnungsge­ danken kurz nach dem Interview gestor­ ben. Sie war 61 Jahre alt, lebte in Bonn, war Justizangestellte und seit Juni 2016 in Frührente. Diagnostiziert wurde ihre erste Krebserkrankung 2014. Frau Zel­ © Judith Grümmer ler hat viel Erfahrung mit dem Aufkei­ men und Vergehen von Hoffnungen gemacht, denn das Le­ ben hat ihr viel zugemutet. Judith Grümmer ist Journalistin, Mo­ deratorin mit den Schwerpunkten Me­ dizin, Gesundheitspolitik und Patienten­ biografien, Sozial- und Bildungspolitik, Familienpolitik, Umwelt. Sie ist ehren­ amtliche Mitarbeiterin in verschiede­ © Joachim Rieger nen Projekten der Palliativmedizin. Als Audio­biografin möchte sie Menschen eine Stimme geben, ih­ nen lebensnah begegnen, ohne sie ohne durch zu viel Nähe zu verletzen. Sie lebt in Köln. E-Mail: [email protected] Websites: www.judithgruemmer.de  www.familienhoerbuch.de

Hoffnung – ein Drahtseilakt

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Hoffentlich …? Ein Leben mit vielen »wenn … dann …«

Werner Faber »Schreib doch mal was über Hoffnung«, hatte meine Nachbarin Monika zu mir gesagt. Und ich hatte leichtfertig so was wie »Ja, warum nicht?« geantwortet. Und jetzt sitze ich vor meinem PC und zögere: Was macht mir da zu schaffen? Nun, mit dem Wort Hoffnung steigen in mir Erinnerungen auf, die ich seit meiner frühesten Kindheit kenne und die mich – ohne Zweifel! – geprägt haben. Hoffnung hat für mich immer et­ was mit einem Weg zum Glück zu tun gehabt. Doch sind sie nie zusammen aufgetreten. Im Leid hat die Hoffnung mich meist in eine Zukunft ver­ wiesen, in der alles besser sein würde als bisher – wenn … Ja, wenn! Und so lernte ich zu verglei­ chen zwischen heute und morgen, zwischen gut und schlecht: Heute leide ich noch; morgen wird alles besser sein. Und besser bedeutete: leichter und fröhlicher und vollkommener … So war ich immer schnell dabei, mir auszumalen, was mich glücklich machte, grenzenlos glücklich. Mein Plan brauchte mir ja nur zu gelingen …

Entbehrungen. Dabei gab es – mitten in diesem Krieg – Momente, in denen ich mir vorstellte, un­ beschreiblich glücklich zu sein, wenn sich endlich der mir bis dahin unbekannte Frieden einstellte. Meine Mutter, eine sehr sensible Frau, hat ihn mir in glühenden Farben beschrieben. Da könnte ich nach Herzenslust essen und trinken – da gäbe es jedes erdenkliche Spielzeug zu kaufen und Roller könnte man sogar auf der Straße fahren – vor al­ lem: Ich brauchte keine Angst zu haben. Wenn du fromm bist, dann … Hoffnung auf eine wundervolle Zukunft! Ich brauchte bloß groß zu werden. Oder sonst noch was? Im Kommunionsunterricht suchte ich dann weiteren Trost und Hoffnung bei dem gütigen,

Wenn du groß bist, dann … Meine Kindheit steht noch immer ganz nah vor mir und mit ihr: »Wenn du einmal groß bist, dann …« Und ich erinnere mich, wie sehr ich es bedauert habe, noch nicht groß zu sein. Denn das bedeutete offenbar: weniger schwer, weniger Leid. Klein dagegen hieß zu leiden und zu gehorchen – so meine Erklärung. Und so hielt mich die Hoff­ nung im Leid zwar hoch, doch lag die Verwirk­ lichung meiner Wünsche meist in weiter Ferne, so weit, wie damals der Frieden noch vom Krieg entfernt war … Den Zweiten Weltkrieg erlebte ich als Kind und mit ihm all die Ängste, Gefahren,

Klein-Werner

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 42–45, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

H o f f e n t l i c h   … ?   4 3

v­ äterlichen Gott. Den brauchte ich doch bloß an­ zubeten und brav zu sein – »et sanabitur anima mea!« Das ließe sich sicher machen! Ich woll­ te fromm werden und wurde folgerichtig Mess­ diener. Auch das schien noch nicht zu reichen. Mir wurde bedeutet, dass man mit Abitur glück­ licher sei. Hurra, es gibt Wege! Und schließlich wurde ich Berufsoffizier, um auf diesem Wege aktiv Krieg zu verhindern, zumindest aber, um mich wehren zu können, sollte es doch einen sol­ chen geben. Erst viel später sind mir da Zweifel gekommen: Ist es nicht eigentlich widersinnig, ausgerechnet mit Waffen Frieden herbeiführen zu wollen? In Deutschland ist es – Gott sei Dank – eini­ germaßen ruhig geblieben, wenngleich nicht im­ mer unbedingt friedvoll. Allerdings ist mir gleich­ zeitig – überall in der Welt – das ständige, riesige und nicht enden wollende Elend bewusst gewor­ den. Nein, das ist nicht der Frieden, auf den ich so sehr gehofft habe. Meine Hoffnung, ihn ein­ fach durch Fleiß und Bravsein herstellen zu kön­ nen, war erheblich kleiner geworden. Da fehlte noch was! Auf der Suche nach Erfüllung Überhaupt tauchte da immer mehr die Frage auf, was wohl der Grund sein mag, dass ich mir Glück und den Frieden erst verdienen musste und sie nicht einfach da waren. Denn meine Gefühle und Gedanken hatten mir schon immer beschrieben, wie ewiges Glück aussähe. Das brauchte ich mir nicht erst zu erarbeiten! Wieso also kann ich nicht das einfach erlangen, was ich so deutlich in mir spüre? Was machte ich denn falsch? Von meiner Kirche habe ich erfahren, dass ich eine Erbschuld trage. Die ist wohl nicht einfach zu löschen. Und so habe ich langsam daran zu zweifeln begon­ nen, dass das Glück jemals zu mir käme – selbst dann, wenn ich keusch, gläubig und enthaltsam lebte. Allein die Erfüllung solcher frommen Ge­ bote erschienen mir – zumal in jungen Jahren – als höchst leidvoll. So hatte ich kapituliert und

begonnen, die Hoffnung auf das Glück und den Himmel für eine Illusion zu halten. Wenn es also nicht mit Bravsein funktionier­ te, mussten andere Mittel herangezogen werden, basta! Und so begann ich, mich mit Alkohol und Ablenkungen aller Art zu trösten. Ich brauchte nicht mehr auf eine Zukunft zu setzen, um mich entspannt und glücklich zu fühlen, sondern die Erleichterung trat momentan ein. Mit ein paar Promille im Blut war ich wie ausgewechselt. Ja, da konnte ich lachen und singen, Gitarre und Schifferklavier spielen. Ohne Scheu! Mit meinem fröhlichen Gesicht war ich überall gern gesehen, sogar noch, als meine Leistungsfähigkeit im Be­ ruf so langsam zu sinken begann. Denn ich hatte auch aufgehört zu konkurrieren und bin einem Disput lieber aus dem Weg gegangen – zumal ich mich selbst nicht mehr sehr in der Hand hatte und mich zu verbergen begann. Auch dieses Glück hatte zu wackeln begonnen. Meine Enttäuschung darüber ließ ich an meiner Frau aus. Und die Ehe begann zu kriseln. In einer neuen verzweifelten Hoffnung lernte ich andere Frauen kennen, die mich trösten und glücklich machen sollten. Es musste doch irgendwie klap­ pen! Eine meiner damaligen Freundinnen stell­ te mir eines Tages den Chefarzt der Suchtklinik in Bad Herrenalb vor: Dr. Walther Lechler. Dem erzählte ich von meinem Unvermögen, glücklich zu werden. Und er fragte mich ganz unverblümt, ob ich denn schon mal jemanden gesehen hät­ te, der sich verändern wolle, nur weil es ihm gut ging. Natürlich nicht! Ich war aber der Meinung, dass mir Glück doch gratis zustünde und mög­ lichst sofort! Was Walther mir da sagte, klang hart, mochte aber allein deshalb wahrscheinlich sein, weil es unbequem war. Kapitulation und neue Hoffnung Wie auch immer: Ich musste aus meinem Loch heraus. Über diesen Zusammenhang von Eigen­ arbeit und Glück hatte ich vorher ja nie nachge­ dacht! Ich hatte ja nur Hoffnungen gehegt; das war

Hoffnung – ein Drahtseilakt

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einfach und passiv. Immerhin schien ein neuer Versuch kein neues Leid hervor­ zurufen. Bei Walther Lechler hatte ich so viele fröhliche Men­ schen entdeckt, die »Nachts« von Wolfgang K. völlig frei, ja scham­ los über ihre Sucht sprachen. Fröhlich und frei ohne Alkohol? Kaum denkbar! Doch ich wollte dazugehören, denn so wie bisher ging es ohnehin nicht weiter! Eine neue Hoffnung war zwar gebo­ ren, der ich allerdings nicht gleich freudig folgen wollte. Wie oft hatten mich meine Hoffnungen ge­ narrt? Der neue Ansporn erschien mir immerhin als ziemlich plausibel, doch offensichtlich war die Umsetzung mit einigen Mühen verbunden. Den Spruch meines Vaters – »Arbeit macht das Le­ ben süß« – hatte ich gehasst und zur Seite gelegt. Außerdem: Wenn ich jetzt so einfach mitmachte, wäre mein Traum vom geschenkten Glück wohl ein für allemal zu Ende. Die beste Arznei für den Menschen ist der Mensch (Paracelsus) Indessen: Das bisherige, noch andauernde Leid und die neue, konkrete und tätige Hoffnung drängten zu handeln. Ich ging zur Selbsthilfe. Auch hier traf ich fröhliche Menschen, die sich unbekümmert ihre früheren Sauftouren und den damit verbundenen Fehler erzählten. Schämten die sich denn gar nicht? Doch, manche schon: Vor allem die Neuen zierten sich noch gewaltig – und zu denen gehörte ich auch. Noch fühlte ich mich irgendwie besser als die anderen und da­ mit nicht der Gruppe zugehörig. Der Gedanke, nie mehr Alkohol zu trinken, war mir unerträg­ lich. Doch konnte ich nicht vermeiden, dass mir immer mehr Parallelen und Ähnlichkeiten zu meinen neuen Freunden auffielen. Als ich mich endlich, nach einigem Zögern, zu meiner Sucht bekannte, da weinte ich – und man nahm mich

in den Arm. Und jetzt war ich endlich bei mir selbst angekommen – und in der Gruppe. Zwar hatte sich die Hoffnung namens Glück-ohne-Mü­ he zerschlagen, doch war mir die Erkenntnis be­ schert, dass Glück doch sehr mit meinen eigenen Initiativen verbunden ist. Ein hoher Lohn! Diese neue Sichtweise machte mich zufriedener, denn ich war in der Lage zu handeln. Vielleicht hatte mein Vater mit der Prophezeiung des süßen Le­ bens mit Arbeit doch nicht so ganz Unrecht? Ich begann da Zusammenhänge zu ahnen … Hoffnung vermitteln? Die neue Hoffnung begann Früchte zu tragen. Mein Leben empfand ich als greifbarer. Anders als früher konnte ich das, was ich jetzt erhoff­ te, besser umsetzen. Hatte ich denn Hoffnung vorher immer falsch verstanden? Musste ich die denn erst erlernen, obgleich sie doch oft ganz allein kommt? Offenbar musste ich unterschei­ den lernen zwischen einer umsetzbaren, realis­ tischen Hoffnung und jener vagen, trügerischen Vorstellung, der ich jahrelang aufgesessen war. Wie mochten da Menschen in augenscheinlich hoffnungslosen Situationen handeln? Etwa im Knast? Wäre es möglich, ihnen reale Hoffnung zu vermitteln? Worauf? Eine Erfahrung, die ich bereits als Kind gemacht hatte, stand wieder in Form eines erhobenen Zeigefingers deutlich vor meinen Augen. Nein: Die Formulierungen »du musst«, »du darfst nicht« oder »tu doch lieber« waren da nicht zu gebrauchen. Auch mir hatten sie nicht geholfen, obgleich es die lieben Leute doch so gut gemeint hatten – Leute, die mich aber von innen heraus gar nicht kannten. Sie hatten nicht meine Art und mein Sehen. Andere sind anders! Offenbar ist es daher unmöglich, anderen Menschen seine eigene Erfahrung einzupflanzen. Doch kann ich mich mitteilen. Ich kann ihnen nah sein – allein durch Zuhören. Ich entschied mich, Betreuer von Gefange­ nen der hiesigen Justizvollzugsanstalt zu werden. Wie viel Hoffnung mochten die Knackis noch

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­ aben – vor allem die vielen Wiederholungstä­ h ter und Süchtigen, die mehr als ein Dreiviertel der Insassen darstellten? Ja, ich wollte diese Art realer Hoffnung vermitteln, der den berühmten Silber­ streifen am Horizont der Zukunft erkennen lässt. Ich wollte diese Menschen nur begleiten – ohne Anspruch auf Gehorsam. Bei den Anonymen Alkoholikern hatte ich ge­ lernt, dass es willkommen ist, anderen zu zuhö­ ren, sie aber nicht zu bewerten, und dann von sich selbst zu erzählen. Allerdings bemerkte ich auch, dass für die Anwendung dieser hilfreichen Regel im »Knast« eine andere Reihenfolge notwendig wurde: Ich hatte nämlich zuerst von mir selbst zu berichten – schamlos ehrlich bitteschön! Es galt, das Vertrauen der Gefangenen zu gewinnen. Ich war ja nicht ihresgleichen – vielleicht wollte ich sie ja nur aushorchen? Vielleicht wollte ich mich bloß als Gutmensch profilieren? Nein, eine klinische Behandlung habe ich ih­ nen nicht ersetzen können. Doch auch bei mei­ nen Gefangenen konnte ich Hoffnung aufkeimen

sehen. Woran ich das erkannte? Nun, zuweilen war da ein Lächeln zu sehen, das besagen moch­ te: Wir alle sind Menschen; wir haben Sehnsucht. Und an der Hoffnung, welche noch in der Zu­ kunft liegt, kann ich mitarbeiten. »Und jetzt ge­ höre ich auch wieder dazu!« – Mancher entsetzte Vollzugsbeamte musste zuweilen beobachten, wie Gefangene und Betreuer sich umarmten. Zu meinem drogensüchtigen Sohn habe ich zurzeit keinen Kontakt mehr … Hoffentlich …!

Werner Faber, über siebzig und immer noch nicht fertig … Werdegang vor und nach Ausscheiden aus der Bundeswehr: Studium am Institut für lösungsorien­ tierte Beratung und Supervision Hei­ delberg (ILBS), zehn Jahre Gruppen­ therapeut für Süchtige in verschiedenen psychosomatischen Kliniken und zwanzig Jahre ehrenamtli­ cher Betreuer in der JVA Rheinbach. E-Mail: [email protected]

»Gesprächsgruppe im Knast«

Hoffnung – ein Drahtseilakt

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Nie gab es mehr Anfang als jetzt Karola Hassall Ich wollte Walt Whitman immer einmal lesen, aber in diesem Leben voller Verpflichtungen und ungezählten Optionen war das bislang auf der Strecke geblieben. In meiner Wahlheimat England sagt man in so einem Fall »I didn’t get round to it«. Aber wie so viele wichtige Dinge im Leben kam er eines Tages zu mir, in Form eines Gedichtauszugs, den meine Yogalehrerin während der Ruhephase am Ende des Unter­ richts vorlas. Jemand, der das (literarische) Wort so liebt wie ich, ist vielleicht eher bereit, die wichtigen Lektio­ nen im Leben von Dichtern und Schriftstellern zu lernen als durch Mantras und Sutras (so wei­ se sie auch sein mögen) oder Meditation (wenn­ gleich mir Letztere sicher nicht schaden würde). Aber wie Mann oder Frau auch immer an seine/ ihre Lebensweisheiten gelangt – sie haben eine Art, sich dann ins Bewusstsein zu stehlen, wenn man sie gerade dringend braucht. So war es bei mir mit Walt Whitman. Ich lag auf meiner Matte und haderte mit mei­ nem Leben in der Art und Weise, wie die meisten Menschen das ständig tun: nicht per se, aber im Kampf mit den Dingen, die wir uns einfach an­ ders vorgestellt hatten, als wir noch jünger, weni­ ger festgelegt und voller Optionen waren. In der Fantasieversion meines Lebens hatte ich schon lange einen Bestseller geschrieben, konnte ein Instrument spielen, hatte genug Geld, um meinen liebsten Hobbys nachzukommen, und war in der Lage, mit meiner Familie zu verreisen und mei­ ner Tochter tolles, ihre Entwicklung förderndes Spielzeug zu kaufen. In der Realität bin ich zurzeit Vollzeitmama eines wundervollen, unendlich geliebten Kin­ des mit extremem Bewegungsdrang und wenig

Schlafbedürfnis, schreibe meistens nur Einkaufs­ listen, habe ein geliehenes Akkordeon im Schrank, das langsam vor sich hin staubt, rechne vor je­ der längeren Autofahrt mit dem Taschenrechner aus, ob sie uns in die Miesen katapultiert, und gehe zu kostenlosen Kindergruppen, weil wir we­ der den Platz noch das Geld für viel neues Spiel­ zeug haben. Auf meiner Yogamatte zählte ich in Gedan­ ken die Monate, bis wir staatliche Förderungs­ gelder für einen Kindergartenplatz beantragen könnten und endlich Wunsch und Realität nä­ her zusammenrückten. Noch an diesem Mor­ gen hatte ich mich telefonisch bei meiner Mutter beklagt, dass mein Gehirn sich langsam, aber si­ cher in ein Brötchen verwandelte, und so oft ich mir auch sagte, dass meine Situation nur zeit­ lich begrenzt sei, so wachte ich dennoch oft mor­ gens mit bleischweren Gliedern auf, voller Trau­ rigkeit und Unlust, einen weiteren Tag in einem Leben anzutreten, das in meinem Erleben im­ mer mehr Ähnlichkeit hatte mit dem Film »Und täglich grüßt das Murmeltier«. Gleichzeitig fühl­ te ich mich schuldig, undankbar und egoistisch. All das ging an diesem Abend durch mein Gemüt, während ich dalag, körperlich zwar ent­ spannt, aber mein Geist beschäftigt mit der Aus­ weglosigkeit meiner Situation. Als ich an meine kleine Tochter dachte, kamen mir die Tränen und ich dachte: »Was bin ich doch undankbar!« Dann hörte ich plötzlich das Rascheln von Buchseiten und meine Yogalehrerin begann einen der wun­ dervollsten Verse zu lesen, die ich je gehört habe. Unten abgedruckt ist dieser Auszug aus Walt Whitmans »Song of Myself«, den ich an diesem Abend vernahm und der meine ganze Perspekti­ ve nachhaltig verändert hat.

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 46–48, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

N i e g a b e s m e h r A n f a n g a l s j e t z t    4 7

Whitman spricht darin von der Notwendigkeit, sich freizumachen von einer Sichtweise, die unse­ re Schöpfung nur in messbaren Einheiten erfasst. Gelingt uns das, können wir an einen Ort gelan­ gen, in dem alles im Gleichgewicht ist – an den Ort, der den Ursprung aller Weisheit in sich birgt. Gleichgewicht ist dabei nicht ein Equilibrium, das erst einmal hergestellt und an einer bewertenden Instanz gemessen werden muss – für mich ist hier nicht das Gleichgewicht einer Waage oder zweier gleicher Teile gemeint, sondern die Art und Wei­ se, mit der wir auf die Dinge schauen. »Nie gab es mehr Anfang als jetzt, nie mehr Himmel und Hölle als jetzt«, sagt Whitman. Für mich heißt das nicht, dass mein Leid – meine persönliche »Hölle« – (so geringfügig es vor dem Hintergrund anderer Schicksale oder des Weltgeschehens auch erscheinen mag) ausbalan­ ciert wird von all dem Gutem in meinem Leben, wenn ich dessen nur gewahr werde. Meine »Höl­ le« mag meinen Himmel überschatten, aber den­ noch sind beide im Gleichgewicht, denn durch Whitmans Worte habe ich auf einer ganz tiefen Ebene verstanden, dass – auch wenn sich mein Leben vielleicht wieder der himmlischen Seite zuneigt und ich weniger (mit mir) zu kämpfen habe – der Kampf doch in der menschlichen Na­ tur liegt und sich lediglich die Schauplätze ändern und einmal mehr, einmal weniger Raum einneh­ men. So ist die Hoffnung auf ein besseres Leben, auf ein anderes Leben – so legitim und wichtig sie auch ist – doch letztlich nur eine andere Va­ riation von Himmel und Hölle, denn auch die größten Träume, sollten sie wahr werden, brin­ gen Herausforderungen und andere Verantwor­ tungen mit sich. In meiner Trauer um das, was ich im Leben noch nicht erreicht habe (und vielleicht nie errei­ chen werde), spielte auch das allmähliche Schwin­ den meiner Jugend eine Rolle – immer noch eine junge Frau, habe ich doch jetzt das Alter erreicht, in dem der Verlust dieses Adjektivs in greifba­ re Nähe rückt. In dem Gefühl, etwas unwieder­ bringlich zu verlieren, ohne es vielleicht adäquat

genutzt zu haben, macht sich eine Art »Sterben wider Willen« bemerkbar. Meine Hoffnung auf ein besseres, reicheres Leben mit mehr Raum für die Dinge, für die ich in meinem Geiste vor der Geburt meiner Tochter noch »endlos« Zeit hat­ te, ist vielleicht der Wunsch, nicht zu altern, eine Phase meines Lebens festzuhalten, die mir ent­ glitten ist, ohne dass ich es richtig bemerkt habe. Ich habe immer noch all diese kleinen und auch teils recht großen Hoffnungen für mein wei­ teres Leben, aber durch Whitmans Worte habe ich noch einmal tief verstanden, dass Leben nicht nur linear verläuft, sondern Anfang und Ende im­ mer fließend ineinander übergehen und es den Zeitpunkt, an dem plötzlich »alles besser« wird, oft nicht gibt. Ich verließ das Yogazentrum an diesem Abend mit einem Gefühl der Erleichterung – nicht, weil ich plötzlich meine Ziele und Träume aufgege­ ben hatte, um ein Leben in Verzicht und Akzep­ tanz meiner früheren Versäumnisse zu führen. Das entspricht mir nicht, und schließlich gibt es ja noch »Millionen von Sonnen« zu entdecken. Nein, ich fühlte mich erleichtert, weil der enorme Druck von mir abgefallen war, den ich mir selbst aufgebürdet hatte, in dem ich die Sinnhaftigkeit meines Leben mit der Erfüllung meiner Hoff­ nungen und Wünsche gleichgesetzt hatte. Beim Schreiben dieser Worte kommt mir wieder die englische Redewendung »I did not get round to it« in den Sinn. Sprachlich entsteht hier das Bild einer konzentrischen Bewegung, die immer wie­ der an ihren Ursprungsort zurückkehrt und von dort wieder aufbricht. Zwar mag es sein, dass ich nicht an ein bestimmtes Ziel gelange, aber der Satz »getting round to it« bedeutet zumindest, dass man in Bewegung ist und, wenn nicht an dem Zielort, dann doch zumindest auf seinem Rundweg irgendwo an- oder vorbeikommt. So werden Pläne und Wünsche zu Etappen-, aber nicht zu Endzielen. Und auch, wenn ich weiter daran arbeite, in kleinen Schritten mein Fantasieleben mit der Realität zu verknüpfen, so kann ich dennoch da­

Hoffnung – ein Drahtseilakt

4 8   K a r o l a H a s s a l l

mit leben, dass sich nicht alle Hoffnungen erfül­ len. Und so hat mich Walt Whitman eines ge­ wöhnlichen Dienstagabends gelehrt: An dem Ort, wo sich Anfang und Ende, Jugend und Al­ ter, Himmel und Hölle begegnen, bin ich immer gut aufgehoben. Diesem Ort will ich von jetzt an

die Stunde meines größten Erfolgs und meiner größten Dunkelheit widmen, denn dort finde ich Gleichgewicht, unabhängig davon, was mein Le­ ben gerade in die Waagschale wirft. Und eines Tages wird dieser Ort auch ohne mich weiter existieren – in der gleichen, unge­ brochenen, ewigen Perfektion. Und seltsamerweise finde ich diesen Gedanken nicht bedroh­ lich, sondern trostreich. Karola Hassall arbeitet als Redakteurin, Journalistin und Übersetzerin. Sie lebt mit ihrer Familie in Südwest-England. E-Mail: [email protected]

Have you reckoned a thousand acres much? Have you reckoned the earth much?

Hast du tausend Äcker für viel gehalten? Hast du die Erde für viel gehalten?

Have you practised so long to learn to read?

Hast du dir so lange Mühe gegeben, um lesen zu lernen?

Have you felt so proud to get at the meaning of poems?

Bist du so stolz darauf gewesen, den Sinn der ­Gedichte zu verstehen?

Stop this day and night with me and you shall possess the origin of all poems,

So bleibe diesen Tag und diese Nacht bei mir, und du sollst den Ursprung aller Gedichte erfassen,

You shall possess the good of the earth and sun, (there are millions of suns left,)

Du sollst das Gut der Erde und der Sonne besitzen (Millionen von Sonnen sind noch übrig),

You shall no longer take things at second or third hand, nor look through the eyes of the dead, nor feed on the spectres in books,

Du sollst die Dinge fürder nicht aus zweiter oder dritter Hand nehmen, noch sollst du durch die Augen der Toten blicken, noch dich nähren von den Schemen in Büchern,

You shall not look through my eyes either, nor take things from me,

Auch nicht durch meine Augen sollst du blicken, noch die Dinge aus meiner Hand nehmen;

You shall listen to all sides and filter them from your self.

Nach allen Seiten sollst du lauschen und sie durch dich selbst klären.

I have heard what the talkers were talking, the talk of the beginning and the end,

Ich hörte, was die Redner redeten, die Rede vom Anfang und vom Ende,

But I do not talk of the beginning or the end.

Ich aber rede nicht vom Anfang und vom Ende.

There was never any more inception than there is now,

Nie gab es mehr Anfang als jetzt,

Nor any more youth or age than there is now,

Nie mehr Jugend oder Alter als jetzt,

And will never be any more perfection than there is now,

Und nie je wird es mehr Vollkommenheit geben als jetzt,

Nor any more heaven or hell than there is now.

Oder mehr Himmel oder Hölle geben als jetzt.

(Walt Whitman, Song of Myself [excerpt], 1892)

(Walt Whitman, Gesang von mir selbst. In: Grashalme. Übersetzt von J. Schlaf. www.gutenberg.spiegel.de/ buch/grashalme-7910/22)

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Verzweiflung hat viele Gesichter, Hoffnung dagegen nur ein einziges Ein Nachmittag bei Ruth Seils

aufgezeichnet von Judith Grümmer einer Entdeckungsreise werden, die zu den ganz persönlichen Hoffnungen und Hoffnungs­losigkeiten führt? »Es gibt viele Geschichten, die von Krankheit, Verzweiflung und Hoffnung handeln, und die einfachste ist: »Jesus zog durchs Land und heilte viele Kranke.« Es ist möglich, die Rolle von Jesus von mehreren Personen gestalten zu lassen. Wir sind vielleicht zwanzig Personen, und viele über­ nehmen die Rolle von Kranken. Manche setzen sich als Kranke hin, andere liegen und ächzen und stöhnen, und manche sind stumm, andere treten wütend um sich. Beim Bibliodrama ist es nicht wichtig, dass man die Szene ausspielen lässt, sondern dass sie eine ruhige Struktur bekommt. Und wenn Jesus mehrfach besetzt ist, dann wird die Figur des Jesus in seinen verschiedenen Per­

Bibeltexte, in denen Menschen in die Wüste gehen und versuchen, die Wüste auszuhalten, können also im Bibliodrama zu

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 49–51, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

© Judith Grümmer

Es ist einer dieser hochsommerlich heißen Nach­ mittage, an denen die schwüle Luft selbst in den Wohngebieten hoch über Bonn jedem auf der Haut zu kleben scheint. Doch Ruth Seils ist in eine flauschige Wolljacke gehüllt, als sie die Woh­ nungstür öffnet. Sie trägt dicke Socken und eine wärmende Bandage um den linken Arm. Die Stra­ pazen der gerade abgeschlossenen Bestrahlungs­ therapie sind ihr deutlich anzumerken. Die 1947 geborene Pfarrerstochter entdeckte zunächst in ihrer Rolle als Religionslehrerin die Kraft, die im Spielen biblischer Szenen stecken kann. »Mir wurde klar, dass ich mit den Kindern über biblische Texte nicht sprechen, sondern sie die Szenen spielen lassen wollte, um so ihrem Geist die Freiheit des selbstständigen Denkens zu geben.« Die Müdigkeit ist aus ihren Augen verschwunden. Ruth Seils, die eben noch gebrechlich und kraftlos schien, vermag aus dem Formulieren ihrer Gedanken große Energie zu schöpfen. Sie erzählt, wie sie irgendwann immer häufiger auch von Erwachsenen gerufen wurde, sie im Spiel von biblischen Textstellen anzulei­ ten, die lebensnah sind und uraltes Wis­ sen vermitteln, indem sie von Liebe, Tod, Krankheit, von Scheitern und Aufbrü­ chen erzählen. Ruth Seils gründete eine Ausbildung für Bibliodrama: »W.Ort­ spiel – Werkstatt für Bibliodrama«.

sonen den Kranken auch mit verschiedenen Ver­ haltensweisen begegnen. Und so kommt es, dass Spieler in der Rolle des Jesus zu einem gespielten Kranken hingehen und mit ihm genau das kom­ munizieren, was jetzt passend ist. Im Nachgespräch geht es dann darum zu fra­ gen: Was ist passiert? Wie hast du dich gefühlt? Allein schon dadurch, dass man sich die Zeit nimmt zu sagen: Ich habe mich soundso gefühlt, oder als dieser Jesus zu mir kam, da war es so, als ob alles gut geworden ist, oder dass Jesus sich ausgerechnet zu mir gesetzt hat oder dass er sich ein paar Meter von mir weggesetzt hat, sich also sozusagen nicht auf mich drauf gesetzt hat, das war genau richtig, das habe ich gebraucht, allein dadurch öffnet sich eine Sprachmöglichkeit, weil der Kranke sagen kann, was er braucht, was er nicht braucht!« Ruth Seils kennt diese Wüsten-Zeiten, das Aus­ harren, die Verzweiflung und die Hoffnung so­ wohl als Anleitende, Lehrende und Spielende als auch aus eigenem Erleben. Sie lebt seit 25 Jahren mit Brustkrebs. »Ich bin jetzt schon so lange mit dieser Krankheit beschäftigt« – und sie beginnt tatsächlich zu lachen – »und ich hätte sie schon gerne losgehabt. Aber die Krankheit hat mich auch gehalten und mich dazu gebracht, mich mit mir, mit meinem Leben, mit meiner Entwicklung

auseinanderzusetzen und immer weiter zu fragen: Wo ist jetzt deine Freiheit? Ich sitze jetzt quasi im Gefängnis meines Körpers, kann kaum noch Stre­ cken laufen, ich bin nicht bettlägerig, aber Ein­ schränkungen kommen in Etappen, und in jeder Etappe, merkte ich, hat die Verzweiflung ein an­ deres Gesicht …« Und auch die Hoffnung? »Die Hoffnung hat eigentlich immer das gleiche Gesicht … Ich bin nicht geheilt. Es wird immer schlechter. Aber etwas wird auch immer besser. Als Spielleiterin werde ich schwerkranken Men­ schen nicht sagen: Du hast ein gutes Leben gehabt und jetzt glaub das mal! Es ist dagegen wichtig zu fragen: Wo ist die Urkraft der Hoffnung in dir selbst? Wo ist die Hoffnung? Wo kannst du sagen: Okay, ich glaube jetzt nicht an die Macht des CT, aber ich frage mich, wo ist meine Entscheidung? Die Tragik in dieser Krebsdiskussion ist ja, dass wir immer sagen: Ich habe Krebs, also muss ich sterben! Aber stimmt das? Vielleicht sterbe ich auch nicht daran, vielleicht erst in fünf Jahren. Und in dieser Zeit, die ich habe, wohin setze ich meine Hoffnung? Ich möchte meiner Angst et­ was entgegensetzen, die Angst rausschmeißen aus meinem Leben. Ich sage, die Angst hat kein Recht! Vielleicht ist das der Punkt: Auch im Bi­ bliodrama möchte ich niemandem sagen, was

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Gabriel blowing his horn on Resurrection morning, Cluny Museum of the Middle Ages /  INTERFOTO / Danita Delimont / Charles Sleicher

Wo ist deine innere Freiheit? Die Freiheit vom Krebs? Die Freiheit von der Angst? Die Freiheit von all dem, was dich versklavt? Das ist ein wichtiges Thema in der Bibel, dass wir versklavt waren und befreit worden sind.

Ve r z w e i f l u n g h a t v i e l e G e s i c h t e r, H o f f n u n g d a g e g e n n u r e i n e i n z i g e s    5 1

er zu denken und zu fühlen hat. Ich bin jemand, der fragt: Wo ist deine innere Freiheit? Die Frei­ heit vom Krebs? Die Freiheit von der Angst? Die Freiheit von all dem, was dich versklavt? Das ist ein wichtiges Thema in der Bibel, dass wir ver­ sklavt waren und befreit worden sind. Und das Bibliodrama ist für mich ein Weg, diese Ketten zu sprengen.« Fühlen Sie selbst sich als Palliativpatientin hoffnungslos? »Erkrankt ja, hoffnungslos nein. Hoffnung ist das, was ich in mir selber bewegen möchte – möch­ te! Nicht muss! Ich möchte meiner Umwelt nicht als hoffnungsloser Fall auf der Pelle hocken. Das fände ich nicht fair. Man kann die Hoffnung ver­ lieren. Aber man kann sie auch wiederfinden. In meiner jetzigen Situation bin ich dankbar, dass zurzeit so viele Menschen kommen und fragen: Können wir etwas mit dir oder für dich tun? Das ist so eine Ernte. Diese Begegnungen nähren das in mir, was ich Hoffnung nenne.« Welche Hoffnungen haben Sie? »Ich hoffe, dass die Schmerzen noch lange weg­ bleiben, und wenn sie dann wirklich kommen, dass es dann gute Medikamente gibt, die mir über die ganz schlimmen Zustände hinweghelfen. Mei­ ne jetzige Hoffnung ist eigentlich, dass ich weiter mit der Welt verbunden bleibe. Ich hoffe für die Welt, dass die Menschen sich nicht in einen Sog aus Hass und Gewalt hineinziehen lassen, son­ dern dass wir Friedensarbeit betreiben. Ich sage: Ich wünsche mir nicht Gesundheit, ich wünsche mir den Frieden.« Ruth Seils hat sich längst aus ihrer warmen Ja­ cke gepellt. Die nächste Besucherin wird gleich vor der Tür stehen. Sie ist eine ehrenamtliche Be­ gleiterin des Bonner Palliative-Care-Teams. Mit ihr geht sie ab und zu ein paar Schritte spazieren. »Ich habe da ein einziges Mal angerufen und sie kommen immer wieder. Ich bin nicht allein, und das ist sicher eine Erfahrung, die wieder Kraft

schöpfen lässt. Und wenn die Kraft wieder da ist, dann kommt das, was ich Urhoffnung nenne.« Beim Abschied spricht Ruth Seils noch ganz beiläufig von diesen klugen Ratschlägen, die je­ der Palliativpatient wohl kennt: Du musst positiv denken. Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben. »Das positive Denken ist eine Gewaltstrategie. Als ob wir unsere Gefühle sofort in der Hand hätten: Fürs Gehirn und damit für alle Funktionen unse­ res Körpers ist es hilfreich, wenn wir nicht ständig negativ denken. Doch anstatt Ratschläge zu geben, könnte man doch auch fragen: Welche Hoffnun­ gen hast du denn? Hast du überhaupt noch Hoff­ nung? Wie genau sieht deine Hoffnung aus? Dann kann der Mensch selber sagen: Ich habe gar kei­ ne Hoffnung. Ich hätte noch Hoffnung, wenn … Dann kann die kleine Seele, die verängstigt ist, wieder anfangen nach Luft zu schnappen. Aber wenn da einer kommt und sagt: Na, ist doch nicht so schlimm, und es wird schon werden und du musst positiv denken!, dann ist der Sarg schon zu …« Ruth Seils ist Ausbildungsleiterin und Supervisorin für Bibliodrama, Initiato­ rin und Ehrenmitglied von W.Ortspiel – Werkstatt für Bibliodrama Der Name W.Ortspiel weist auf das Verständnis hin, unter dem Bibliodrama geleitet wird. © Judith Grümmer »Wir spielen den Text und die Worte bi­ blischer Geschichten, und wir spielen sie an einem Ort. So werden sie leibhaftig erfahrbar und verbinden sich mit unse­ rer je eigenen Realität« und »Keine Theologie ohne den Ort des Menschen« (Ruth Seils). E-Mail: [email protected]

Judith Grümmer ist Journalistin, Mo­ deratorin mit den Schwerpunkten Me­ dizin, Gesundheitspolitik und Patienten­ biografien, Sozial- und Bildungspolitik, Familienpolitik, Umwelt. Sie ist ehren­ amtliche Mitarbeiterin in verschiede­ © Joachim Rieger nen Projekten der Palliativmedizin. Als Audio­biografin möchte sie Menschen eine Stimme geben, ih­ nen lebensnah begegnen, ohne sie ohne durch zu viel Nähe zu verletzen. Sie lebt in Köln. E-Mail: [email protected] Websites: www.judithgruemmer.de  www.familienhoerbuch.de

Hoffnung – ein Drahtseilakt

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Zwischen Hoffen und Bangen Michaela Hesse Worauf hoffen Patienten, die mit der Diagno­ se einer unheilbaren Erkrankung leben? Verän­ dert sich die Hoffnung im Laufe der Erkrankung? Ernst Bloch sagt: »Hoffnung ist das Gegenteil von Sicherheit, ist das Gegenteil eines naiven Opti­ mismus. In ihr steckt dauernd die Kategorie der Gefahr« (1992, S. 29). Einerseits trägt die Hoff­ nung, dass die Therapien eine Heilung oder we­ nigstens Besserung bewirken, andererseits be­ gleitet die Patienten die Angst vor einer weiteren Verschlechterung und vor dem Tod. In diesem Spagat leben Patienten teilweise über Jahre. Ex­ emplarisch möchte ich Patienten vorstellen, die ich zu ihrer Hoffnung befragt habe. »Ich kann einfach nur hoffen, dass ich gesund werde« Frau R. B. ist 62 Jahre alt, verheiratet. Sie hat erst vor vier Wochen ihre Diagnose Mundrachen­ krebs (Oropharynxkarzinom) erhalten. Im Zuge der weiteren Untersuchungen hat man durch Zufall noch einen Bauchspeicheldrüsenkrebs (Pankreaskarzinom) entdeckt. Sie ist zur The­ rapie (Hoch Intensiver Fokussierter Ultraschall, kurz HIFU) des Bauchspeicheldrüsenkrebses auf der Palliativstation. »Meine Hoffnung ist einfach, nicht einfach. Meine Hoffnung richte ich darauf aus, dass ich noch lange bei meiner Tochter und meinem Mann sein kann. Dass es zumindest alles zum Stillstand kommt, auch weggeht, zumindest vielleicht mal ein Teil, das oder hier. Ja die größte Hoffnung ist einfach, dass es weggeht, einfach weggeht.« Sie ist sich der Schwere ihrer Erkrankung und der möglichen Krankheitsfolgen bewusst: »Weil das hinter der Zunge liegt, könnte es natürlich sein, dass ich meine Sprache verliere. (…) Dass

ich keine Nahrung mehr zu mir nehmen kann, also das wäre schon eine Lebenseinschränkung, aber ich lebe dann noch. Und andere, ich sage jetzt andere, es geht ja um mich, aber die leben auch damit und es ist ein langwieriger Prozess, bis man sich dann wieder artikulieren kann und so. Aber das nimmt man dann ja in Kauf. Ich hab ja die Hoffnung, dass ich ja auch noch lange bei meinen Liebsten …« An der Stelle bricht ihr die Stimme und sie muss sich sammeln. Sie hat für ihr Leben noch ein klares Ziel vor Augen: »Es ist unsere einzige Tochter, hat voriges Jahr geheiratet. Das sind auch alles schöne Sachen, die ich noch erlebt habe, und (…) ich möchte ja auch noch Oma werden.« Ihr Anspruch an sich selbst ist nun, für dieses Ziel alles zu tun, was von ihrer Seite möglich ist. »Ich werfe nicht hin. Ich lasse das nicht zu. Ich will das nicht. (…) Ich will mich nicht verabschieden, ohne sagen zu können, ich hab alles versucht, ich hab alles getan, was mir gesagt wurde. Ich hab keinen Fehler gemacht, dass ich das gemacht hab oder das nicht gemacht hab und so. Das lasse ich nicht zu.« Befragt, woher sie die Kraft dafür nimmt, be­ schreibt sie ihren Glauben: »Also (…) wenn es mir gegeben wurde, dann kann man es mir auch wieder nehmen, aber ob und wann, überhaupt, das weiß ich ja nicht, da hoffe ich ja dann darauf, auf oben, dass der da gnädig ist und mir da was wegnimmt. Er hat es mir ja gegeben. Ich weiß ja nicht, wie streng der zu mir ist. Aber ich glaube, er hat viel Gutes gegeben. (…) viele Menschen leiden, leiden mehr als ich, sind schlimmer krank noch als ich, kränker noch als ich, sind da dran gestorben. Dann kann ich nur hoffen, (…) ich kann einfach nur hoffen, dass ich gesund werde, auch wenn es nicht vollständig ist.« Gleichzeitig zu all dem beschreibt sie, wie irreal die Situation für sie ist. »Wenn Sie mich

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 52–56, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

Edward Coley Burne-Jones, Hope / Private Collection/Photo © Christie’s Images / Bridgeman Images

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Die Patientin beschreibt, dass die Krankheit ihr Leben nicht nur negativ verändert hat, sondern dass sie dadurch eine neue Tiefe und Sinn in ihrem Leben findet.

jetzt so fragen, dann denke ich immer: Mensch, Rosie, du sitzt da, du gehst mal in die Stadt spazieren, du gehst mit dem Hund spazieren, du kannst ja keinen Krebs haben, das gibt es überhaupt gar nicht, verdräng das so, weil nichts weh tut.« »Ich hätte so gerne die ersten Freundinnen erlebt« Frau P. H. ist 52 Jahre alt, verheiratet und hat drei Kinder im Alter von 23, 21 und 15 Jahren. Frau H. musste in den letzten 13 Jahren bereits dreimal wegen eines Melanoms behandelt werden, vor vier Monaten hat man Metastasen in der Leber und

der Lunge diagnostiziert. »Man hat mir die Hoffnung gemacht, dass es besser wird. Und da dran hat man ja auch geglaubt. Und da habe ich lange dran geglaubt und dann ging sie mal erst mal ein Stück zurück und jetzt, ich sage mal, es ist im Moment jetzt wieder der Tiefpunkt.« Frau H. muss komplett versorgt werden, sie ist sehr schwach und es fällt ihr schwer, die erforderliche Hilfe an­ zunehmen. »Also meine Hoffnung ist eigentlich, wieder aufstehen zu können und im Raum rumlaufen zu können. Das wäre so meine erste Hoffnung. Und ganz ehrlich, jetzt im Moment hat man Angst davor, dass es halt nicht wiederkommt.« Der Patientin ist die Situation sehr klar und sie setzt

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wsantina / shutterstock.com

Z w i s c h e n H o f f e n u n d B a n g e n    5 5

sich damit auseinander, nicht wieder gesund zu werden. »Und da beschäftigt man sich dann doch mehr mit dem Tod, als man eigentlich wollte, also das ist schon, irgendwie schon frustrierend, enttäuschend. Also bei der OP, als sie dann gewesen war, hab ich mir auch erst mal gar keine Gedanken gemacht, da hab ich gedacht, der Lymphknoten kommt raus und dann hast du wieder Ruh, aber dem war nicht so. Ja, das ist auch ein ganz komisches Gefühl, weil man weiß, wenn er da schon ist, dann kann das nichts Gutes heißen. Ja das ist schon frustrierend, enttäuschend, auch irgendwie unfassbar, und man will es auch trotzdem irgendwie nicht wahrhaben. Also ich will jetzt noch nicht, ich habe

die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben (…) es fängt an sich zu wandeln dieses Positive, dass es doch anders laufen könnte.« Zu Beginn der Erkrankung richtete sich ihre Hoffnung darauf, noch den Schulabschluss in drei Jahren von ihrem jüngsten Sohn mitzuerle­ ben. »Und ich hab mich immer drauf gefreut, dann zum Abiball zu gehen, aber das ist in dem Zustand wohl nicht möglich.« Der Gedanke, dass sie ihre Kinder zurücklassen muss, ist ihr unerträglich. »Das Schlimmste an der ganzen Sache für mich ist eigentlich, ich sag mal, die Kinder sind ja eigentlich grundsätzlich zu jung dafür, dass die Mutter stirbt, so früh (…) Und vor allem ich hätte so gerne die ersten Freundinnen mal erlebt. Und nun gehen will man nie, aber das ist mir einfach zu früh. Es fehlen so ein paar Stationen im Leben, die man einfach gerne miterlebt hätte. Ich mein, es ist blöd, es ist so richtig blöd.« Ihre Auseinandersetzung mit dem Sterben lässt sie an ihrem Glauben und an Gott zweifeln. »Ich glaube auf der einen Seite ja, ich glaube auch, dass man von oben irgendwie herunter­gucken kann, wo ich das schon fast bescheuert finde. Auf der anderen Seite kann ich mir aber einfach nicht vorstellen, dass da gar nichts mehr ist. Also da fehlt es mir irgendwie an Vorstellungskraft. Also von daher ist es, es ist komisch. Manchmal ja, manchmal nein. Mal glaubt man, mal eben nicht. Auf der anderen Seite sage ich, wenn es den lieben Gott gibt, dann versteh ich nicht, warum er manche Sachen macht. Versteh ich einfach nicht. Darum glaube ich auch nicht immer so ganz dran.« Frau H. hat für sich aktuell nur einen Wunsch und eine Hoff­ nung: »Im Moment die Hoffnung, dass mein Sohn in Ruhe in Urlaub fahren kann, das ist im Moment das, was mich am meisten aufrecht hält.« »Jetzt ist plötzlich Zeit da« Frau E. K. ist 54 Jahre alt. Sie hat vor 13 Mona­ ten die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs er­ halten. Man hat bei Diagnosestellung eine Über­ lebenszeit von drei Monaten prognostiziert. »Ja,

Hoffnung – ein Drahtseilakt

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meine Hoffnung besteht im Wesentlichen darin, dass ich die Krankheit soweit in Schach halte. Egal wie, ob mit Ernährung, mit Therapien oder mit der Kraft meines Geistes, sag ich mal, weil die Einstellung muss ja auch da sein, soweit im Griff zu halten, dass ich noch möglichst lange lebe. Das ist meine Hoffnung.« Die Hoffnung trägt die Patien­ tin nicht gleichbleibend, sie erlebt immer wie­ der Tiefpunkte und sie beschreibt, dass sie dann ihr Umfeld aufrichtet. »Und ich rede mit mir aber auch sehr viel und oft auch, dass ich versuche mir selber zu sagen: Das schaffst du, da kommst du wieder raus. Ich sag mal, da dauert ein Loch, ich sag mal, ein zwei Tage, und dann ist das wieder vorbei. Und dann ist das definitiv so, dass ich dann auch genau umgekehrt eigentlich schon bin, dass ich versuche anderen wieder, was, weiß ich nicht, dieses Positive wieder zu sagen.« Sie beschreibt aber auch, dass die Krankheit ihr Leben nicht nur negativ verändert hat, sondern dass sie dadurch eine neue Tiefe und Sinn in ihrem Leben findet. »Aber was mich das Ganze irgendwo auch wieder auf den Boden, ums Wesentliche, auf den Boden heruntergebracht hat, was wirklich zählt im Leben. Man kriegt da plötzlich wieder eine ganz andere Einsicht. Vorher immer nur arbeiten, Geld. Es muss Geld da sein, damit das und das gemacht werden kann. Es ist alles nicht mehr wichtig (…) wir haben uns immer nur abgestrampelt, jeder für sich und abends gemeinsam, und es war nie Zeit da, wir haben uns nie Zeit genommen und jetzt ist Zeit da, plötzlich, und das ist sehr schön.« Die Veränderung durch die Krankheit betrifft nicht nur die Patientin und ihren Mann, sondern hat Auswirkungen auf die gesamte Familie: »Das ist in unserer Familie so ganz merkwürdig. Jeder ist für sich so sein Part und durch meine Krankheit ist jetzt plötzlich wieder so ein Kreis zusammengekommen, wo alle wieder zusammenhalten.« Die Suche nach Sinn

den mit der Frage nach Gott oder einer Transzen­ denz. Die Patienten, die erst kurz mit der Diagno­ se leben, beschreiben die Veränderungen, aber auch die Neubewertungen. Das Zusammensein mit der Familie, der Rückhalt in der Familie er­ halten eine besondere Bedeutung. Eine weitere Gemeinsamkeit ist das eigene Zusprechen von Mut und das Setzen eines Ziels. Letzteres wird im Laufe der Erkrankung dann auch ermäßigt wie im Fall von Frau H., die zunächst das Abitur ihres Sohnes erleben wollte und dann als Ziel das Ende seines Urlaubs angestrebt hat. Der Blick der Patienten ist dabei nicht nur auf sie selbst gerich­ tet, sondern auf ihr Umfeld. Sie sprechen anderen Mut zu, sie sehen, dass es anderen noch schlechter geht, sie wünschen etwas für andere. Hoffnung ist für die Patienten verbunden mit Gemeinschaft. Es gibt keine Definition der Hoffnung, aber das, was die Patienten beschreiben, deckt sich mit der Arbeitsdefinition der Europäischen Pal­ liativgesellschaft (European Association for Pal­ liative Care, EAPC) zu Spiritualität, als dyna­ mische Dimension menschlichen Lebens, die sich darauf bezieht, wie Personen (individu­ ell und in Gemeinschaft) Sinn, Bedeutung und Transzendenz erfahren, ausdrücken und/oder suchen und wie sie in Verbindung stehen mit dem Moment, dem eigenen Selbst, mit ande­ ren, mit der Natur, mit dem Signifikanten und/ oder dem Heiligen. Michaela Hesse, Diplom-Sozialpäda­ gogin, MSc Palliative Care, ist Wissen­ schaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Palliativmedizin der Uniklinik Bonn und arbeitet im Team der Palliativstation.  E-Mail: [email protected] Literatur Bloch, E. (1992). Etwas fehlt. Über die Widersprüche der uto­ pischen Sehnsucht. Gespräch mit Th. W. Adorno. Bloch – utopische Landschaften. Zur Ausstellung im Schillerhaus Ludwigshafen. Baden-Baden.

Auffallend bei allen Patienten ist die Suche nach einem Sinn in ihrem Schicksal, teilweise verbun­

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Ein Leben mit Höhen und Tiefen – In Hoffnung und Trauer Gisela Janßen In Deutschland leben etwa 50.000 Kinder und Jugendliche mit lebensverkürzenden Erkrankun­ gen, diese werden voraussichtlich vor Erreichen ihres 40. Lebensjahrs versterben. Neben kindli­ chen Tumoren leiden sie an seltenen, zum Teil auch genetisch bedingten Krankheiten des Ner­ vensystems, des Herzens, des Stoffwechsels oder der Muskulatur. Die britische Vereinigung ACT teilt diese Er­ krankungen unter Berücksichtigung des Verlaufs und der therapeutischen Möglichkeiten in vier Gruppen ein: 1. Kurative Therapie möglich, kann scheitern (zum Beispiel Krebserkrankungen) 2. Phasen intensiver Therapie zur Lebensver­ längerung mit Teilnahme an üblichen kind­ lichen Aktivitäten (zum Beispiel Muskeldys­ trophie) 3. Progressive Erkrankung über Jahre, Behand­ lung ausschließlich palliativ (zum Beispiel Zeroidlipofuszinose) 4. Meist neurologische Beeinträchtigung, die plötzlich zu unvorhersehbarer Verschlech­ terung führen kann (zum Beispiel schwere Zerebralparese) Jährlich sterben in Deutschland etwa 3000 bis 5000 Kinder im Alter von 0 bis 18 Jahren an einer lebensverkürzenden Erkrankung. Dieser vorzei­ tige Tod geschieht für die Eltern zwar meistens nicht unerwartet, aber in der falschen Reihen­ folge, sollte doch das Kind eigentlich die Eltern überleben. 75 Prozent aller krebskranken Kinder wer­ den heute dank intensiver Therapien gesund,

trotzdem gibt es prognostisch ungünstige Tu­ morerkrankungen; ungefähr 400 bis 500 Kinder sterben jährlich daran. Nach Beendigung der auf Heilung ausgerichteten Behandlung ist der Ver­ lauf bis zum Tod meist kurz. Obgleich Patienten und ihre Eltern oft auf eine Lebensverlängerung etwa durch eine palliative Chemotherapie oder gar durch ein Wunder hoffen, ist der nahe Tod allein durch die rasch zunehmenden körperli­ chen Symptome unübersehbar und der Verzicht auf Reanimationsmaßnahmen fast immer ohne Zweifel. Viele Eltern sprechen in dieser Zeit mit ihren Kindern über den Tod. Betroffene Kinder äußern Wünsche zum Tagesablauf, zur Versor­ gung und zum Aufenthaltsort. Jugendliche pla­ nen die eigene Beerdigung und geben ihren El­ tern Aufträge für die Zeit nach ihrem Tod. Mütter und Väter schöpfen aus dieser Klarheit Kraft und Halt für die Zeit der Trauer. Familien von Patienten mit nichtonkologi­ schen Erkrankungen erleben die Situation ihres Kindes oft anders. Beispielhaft berichten die Fa­ milien von Daniel und Niklas ihr Leben in Hoff­ nung und Trauer. Beide Jungen leiden an einem Morbus Alexander, eine seltene Form einer gene­ tisch bedingten, degenerativen Hirnerkrankung. Die infantile Form beginnt im ersten Lebensjahr und führt meist noch im Vorschulalter zum Tode. Daniel – »Es sind die normalen, einfachen Momente« Daniel fiel im vierten Lebensmonat auf, sein Kopf war zu groß und er konnte ihn kaum halten. Er lernte nie frei zu sitzen. Im Alter von zehn Mo­ naten wurde der Verdacht auf eine Leukodys­

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 57–59, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

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Großeltern und Tante schenkten dem Kind Schuhe und ein Fahrrad und versicherten den El­ tern immer wieder, dass der Glaube an Gott die­ ses Kind bald wundersam gesunden lassen wird. Die Mutter sah, dass er diese Dinge nie benut­ zen würde: »In mancher Hinsicht kann Hoffnung gefährlich sein, sie kann aber auch in einen Le­ bensweg, gefüllt mit Ausdauer und Mut, münden. Hoffnung und Wahrheit müssen ausgewogen, gut bemessen und vorsichtig verwendet werden.« Niklas – »Ich verlor nie meine Hoffnung, sondern gestaltete sie neu« Niklas hatte sich bis zum 18. Lebensmonat sehr gut entwickelt, als er nach einem Infekt plötzlich nicht mehr laufen konnte. Die Diagnose wurde bald ge­ stellt. Niklas sprach erste Sätze, er aß und lief frei. »Wir wollten die uns mitgeteilte Diagnose und Pro­ gnose – Überleben nicht länger als sechstes Le­ bensjahr – nicht wahrhaben.« Im vierten Lebens­ jahr konnte Niklas nicht mehr schlucken, starkes Erbrechen führte zu massiver Gewichtsabnahme. Beide Familien suchten nach the­ rapeutischen Möglichkeiten, könn­ te zum Beispiel die Knochenmark­ transplantation in Amerika helfen? Daniels Eltern versuchten den Weg dieser Hoffnung zu gehen, bald er­ kannten sie die Sinnlosigkeit. »Ich habe ungezählte Stunden in einer medizinischen Bibliothek über den Verlauf der Krankheit lesend ver­ bracht. Ich habe gelernt, dass es kei­ nen Weg gibt, diesen genetischen ›Fehler‹ zu ändern und die Krank­ heit aufzuhalten. Das hat mich nicht aufgeben lassen, aber ich arbeite­ te daran, die Ziele zu ändern und die Träume, die ich für Daniel hat­ te, anzupassen. Ich verlor nie mei­ ne Hoffnung, sondern gestaltete sie neu.« Niklas’ Mutter erinnert sich: »In dieser Zeit haben wir unseren Judy und Daniel Machiné © Daniel Schumann

trophie gestellt. Der hinzugezogene Neuropädia­ ter hielt die Auffälligkeiten für Normvarianten und schätzte die besorgte Mutter als überpro­ tektiv ein. Die Eltern waren glücklich, hatten sie doch ein vermeintlich gesundes Kind, einen an­ deren Gedanken oder gar eine Krankheit mit fa­ talem Verlauf wollten sie nicht zulassen. So wur­ de die endgültige Diagnose im 18. Lebensmonat gestellt, als Krampfanfälle neu auftraten. Daniel lernte wenige Worte sprechen, er ent­ wickelte eine Technik zu krabbeln und besuch­ te ab dem vierten Lebensjahr stundenweise den Kindergarten. Die Mutter sagt: »Es waren diese normalen, einfachen Momente, die für mich so wertvoll und bedeutsam sind. Wir waren Mutter und Sohn, wie Tausende in der Welt, nur eine Mutter und ein Sohn, lachend und jeden Tag des Lebens genießend. So könnte die Zeit stillstehen. Diese Momente ließen die Diagnose im Hinter­ grund verblassen und ich fokussierte mich da­ rauf, die Zeit zu genießen und zu versuchen, nicht über die Zeitbombe nachzudenken, die unter der Ober­fläche unseres Lebens tickt.«

L E I D FA D E N   – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R   H e f t  1  /  2 0 1 7

E i n L e b e n m i t H ö h e n u n d T i e f e n   – I n H o f f n u n g u n d Tr a u e r    5 9

Sohn nur noch beschützt, in Watte gepackt unter eine Glaskuppel gelegt. Die Krankheit durfte ihn nicht erreichen.« Das Leben der Familien veränderte sich. »Wir mussten lernen, Hilfe zu akzeptieren. Wenn’s ihm gut ging, ging’s uns auch gut!« Erst Niklas’ jüngere Schwester forderte wieder Normalität in der Familie. Auch Niklas vermittelte trotz seiner Sprach­losigkeit gezielt Wünsche. »Genießen – je­ den Tag« wurde zum Lebensmotto der Familie.

Niklas’ Eltern haben ihren Sohn durch einfa­ che Erklärungen auf notwendige medizinische Maßnahmen vorbereitet und Zeichen des Ein­ verständnisses von ihm erhalten. Letztlich ließ er sie dann auch erkennen, dass er keine Kraft mehr hatte. Er verstarb im Alter von 15 Jahren unter Verzicht auf Reanimationsmaßnahmen.

Ein Leben lang

Der lange Krankheitsverlauf mit dem Durchleben und Überleben von Höhen und Tiefen, die Angst vor dem Verlust machen die elterliche Entschei­ dung zum Therapieverzicht unerträglich schwer. Daniels Mutter empfindet anfangs ihre Zustim­ mung zum »Label palliativ« wie einen verlorenen Kampf für ihren Sohn. »Ich weiß, was ich mir wünsche – wie alle El­ tern möchte ich, dass mein Kind lebt. Aber mein Kind hat eine Krankheit, die ihn langsam tö­ tet (…) So muss ich meine ursprünglichen Wün­ sche an die Situation anpassen, es ist Daniels Leben, sein Wohlbefinden, sein Leid und sein Unbehagen, das mehr zählt als meine Wünsche für ein gesundes Kind. Das bedeutet, dass ich manchmal Entscheidungen treffen muss, die im direkten Konflikt mit meinen Träumen stehen. Palliative Versorgung bedeutet für mich heute nicht mehr ›aufgeben‹, sondern den gemeinsa­ men Weg gehen und jeden Tag gut leben. Meine jetzigen Entscheidungen zum Beispiel gegen Re­ animation reflektieren den Respekt für meinen Sohn und meine Liebe – eine Liebe mit o ­ ffenen Händen.«

Daniel ist inzwischen entgegen den Angaben der Literatur zwanzig Jahre alt, ein langer Verlauf mit vielen Höhen und Tiefen. Die Eltern wissen, diese Höhen, die in ihren Augen Daniels Leben wertvoll machen, mit besonders empfindlichen »Antennen« wahrzunehmen und sich über kleine Dinge wie ein Lächeln am Tag zu freuen. D ­ aniel ist heute in den meisten Stunden des Tages be­ atmet und bettlägerig. Die »guten Stunden«, in denen er lacht und seine Musik hört, werden we­ niger. Die Mutter übernimmt fast täglich einen großen Teil der Pflege und auch der Verantwor­ tung. Über Jahre fühlte sie sich selbst mit ihren Interessen und Wünschen in der Familie »un­ sichtbar«, heute hat sie Wege für sich und die Um­ setzung eigener Bedürfnisse gefunden. Die schwierigsten Momente im Laufe der ver­ gangenen Jahre waren aus Sicht der Eltern, medi­ zinische Entscheidungen für ihr Kind zu treffen, denn so sagt die Daniels Mutter: »Aufgrund sei­ ner geistigen Behinderung ist unser Sohn nicht in der Lage, die für ihn getroffene Entscheidung zu beeinflussen. Jede Entscheidung, die wir als Eltern trafen und immer noch treffen, hat weit­ reichende Konsequenzen. Ich versuche, Entschei­ dungen auf der Grundlage zu treffen, seine aktu­ elle Lebensqualität zu verbessern und zukünftig Schmerzen und Unbehagen zu vermeiden (…) Es ist eine große Verantwortung und ich frage mich oft, ob ich für Daniel richtig gewählt habe, aber vielleicht sind das unbeantwortbare Fragen.«

Die schwere Entscheidung zum Therapieverzicht

Dr. Gisela Janßen ist als Kinder- und Ju­ gendärztin in der Kinderonkologie des Universitätsklinikums Düsseldorf tätig und leitet heute das Kinderpalliativ­team »Sternenboot«. Schon in den 1980er Jah­ ren baute sie die häusliche Palliativver­ sorgung für Kinder auf und organisierte später die multiprofessionelle Zusammenarbeit in den Kin­ derpalliativnetzwerken Nordrhein. Sie gehört zu den Mit­ begründern der Gruppe »Kinder und Jugendliche« in der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin.

Hoffnung – ein Drahtseilakt

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»Aus der Tiefe rufe ich dich!« (Buch der Psalmen 130, 1) Hoffnungslosigkeit in Gesprächen mit der Telefonseelsorge

Annelie Bracke »For life to go on – Damit das Leben weiter geht«, so lautete das Motto des Weltkongresses der Tele­ fonseelsorge, der im Juli 2016 in Aachen statt­ fand. In den Diensten am Telefon sprechen die Telefonseelsorger/-innen immer wieder mit Men­ schen, die das Gefühl haben, dass ihr Leben nicht weitergeht:

Die jugendliche Anruferin möchte nicht mehr weiterleben. Sie wird vom Stiefvater missbraucht und sieht ihren einzigen Ausweg darin, dieses Leben zu verlassen: Sie fühlt sich allein, schuldig und hat niemanden, der ihr glauben würde.

Da ist der junge Mann, der anruft, nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen wurde: »Krebs, unheilbar. Ich habe nur noch wenige Wochen, sagen die Ärzte. Meine Freun­ din hat mich verlassen, sie hielt das nicht mehr aus.«

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 60–63, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

» A u s d e r T i e f e r u f e i c h d i c h ! « ( B u c h d e r Ps a l m e n 1 3 0 , 1 )    6 1

Ein Mann ruft an, weil er seine Wut hinaus­ schreien will über ein Schicksal, das ihm sei­ ne Firma, seine Gesundheit, seine Zukunfts­ perspektive nahm, die ihm so sicher schien. Er fühlt sich am Boden, ein Opfer, das er nicht sein will. Und er will keinen billigen Trost, kei­ ne Suche nach einer neuen Lebensperspektive, die er den Mitarbeitenden um die Ohren haut, wenn sie ihm damit kommen, immer wieder. Die Frau mit der müden Stimme ruft auch immer wieder an. Sie kämpft täglich gegen die einengende psychische Erkrankung, ist schon lange nicht mehr arbeitsfähig, Freun­ de und Nachbarn haben sich zurückgezogen. Bei der Telefon­seelsorge sucht sie Mut für den

nächsten kleinen Schritt im Alltag: »Heute fällt es mir so schwer aufzustehen.« Und manch­ mal bricht die Verzweiflung durch, wenn sie ahnt, dass diese Krankheit sie nicht einfach irgendwann verlassen wird, dass sie mit ihr leben muss. Diese Menschen verbindet, dass sie keine Per­ spektive mehr in ihrem Leben sehen. Es liegt vor ihnen wie ein dunkler Tunnel ohne Ende, ohne Hoffnung. Tiefste Hoffnungslosigkeit – sich selbst nicht mehr spüren Hoffnungslosigkeit gehört zu jedem Leben. Manchmal zerbrechen Hoffnungen und Lebens­ entwürfe. Wir müssen trauern, loslassen und uns umorientieren. Manchmal kann es Lebens-not­ wendig sein, zu erkennen, dass es nicht mehr wei­ tergeht, dass es so nicht mehr weitergeht. Aber in der tiefsten Hoffnungslosigkeit wird die feh­ lende Perspektive zum anhaltenden Le­ bensgefühl, so wie in der depressi­ ven Erkrankung.

Hoffnung – ein Drahtseilakt

Bonifacio Veronese, Hope/Cameraphoto Arte Venezia/ Bridgeman Images

Nur wer weiß, wie sich die eigene Hoffnungslosigkeit anfühlt, hat den Mut, sich in der Begegnung am Telefon berühren zu lassen und nicht in vorschnellen Trost oder gute Ratschläge zu fliehen.

6 2   A n n e l i e B r a c k e

In der Telefonseelsorge hören wir, dass Menschen Hoffnungslosigkeit und innere Leere dann er­ leben, wenn sie einsam sind. Um Hoffnungslo­ sigkeit auszuhalten und neue Hoffnung zu fin­ den, brauchen wir Menschen, die da sind und uns so annehmen, wie wir sind – nur so können wir uns selbst annehmen und uns wieder spüren. »Was hätte Ihnen damals geholfen, als es Ihnen so schlecht ging?«, wird Viktor Staudt, der einen Suizidversuch überlebt hat, in Aachen gefragt. »Wenn ich erfahren hätte, dass ich nicht allein bin. Erst wenn die Einsamkeit weg ist, ist der Weg zur Hilfe frei« (Publik Forum 2016).

einander. Nur wer weiß, wie sich die eigene Hoff­ nungslosigkeit anfühlt, hat den Mut, sich in der Begegnung am Telefon berühren zu lassen und nicht in vorschnellen Trost oder gute Ratschläge zu fliehen. Dazu ist Demut notwendig: Hilflosig­ keit auszuhalten, mit dem kleinen Schritt zufrie­ den zu sein, mit dem Durchatmen der Anrufen­ den für diese eine Nacht, ohne zu wissen, wie es nach dem Gespräch weitergeht. Nach der Be­ gegnung wieder zurückzutreten und loszulassen.

Telefonseelsorge – Da-Sein und Halten Die Anrufenden bei der Telefon­ seelsorge suchen zunächst jeman­ den, der da ist und der sie hört. Dem sie sich zumuten dürfen, der sie hält und aushält. Bei dem sie klagen dürfen, jammern, schrei­ en, schweigen. Sie hoffen, wahrge­ nommen zu werden, um sich selbst wieder fühlen zu können. Die Er­ fahrung am Telefon zeigt, dass es nicht hilfreich ist, für den Anru­ fenden zu schnell die neue Per­ spektive zu suchen. Zunächst geht es immer um die Würdigung des Schmerzes, das Verstehen der Hoffnungslosigkeit. Erst dann sind vielleicht neue Perspektiven mög­ lich oder einfach nur der nächste Schritt. Diese Begegnung mit einem Menschen, der tiefe Hoffnungslosigkeit erlebt, erfordert vom Telefonseelsorger Mut und Demut: den Mut, sich von der Verzweiflung des/der anderen berühren zu lassen, ohne darin zu versinken. Das setzt vo­ raus, die eigenen Abgründe und Hoffnungslosig­ keiten zu kennen. Deshalb setzen sich alle Tele­ fonseelsorger/-innen bereits in der Ausbildung mit sich selbst und den eigenen Lebenskrisen aus­

Ein Beispiel: »Zweiundzwanzig Uhr fünfzehn. Muss eine Frau sein. Aus dem Hörer kommt nur ein Laut. Ein Stöhnen oder mehr noch ein Hauch. Ich drücke den Hörer fester ans Ohr. Als ob ich so besser hören könnte. (…) Wäh­ rend der anhaltenden Stille kriecht mich die Ahnung an, da kommt etwas Schlimmes. Et­ was vielleicht, dem ich nicht standhalten kann. War es die Art des Lauts? (…) Mein Blick fällt auf ein Kalender-Bild an der Wand: Eine Allee mit blühenden Kastanien. Mein erster Flucht­ versuch. Ich zwinge mich zurück: ›Und Ihre

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» A u s d e r T i e f e r u f e i c h d i c h ! « ( B u c h d e r Ps a l m e n 1 3 0 , 1 )    6 3

Thitisan / Shutterstock.com

Eltern …?‹ ›Ach was, die würden erwarten, dass ich sie tröste.‹ ›Unweigerlich zum Tod, hat der Arzt gesagt. Ich habe solche furcht­ bare Angst.‹ ›Und Ihr Kind?‹, frage ich. ›Ja, Sie sagen es. Warum spreche ich überhaupt mit Ihnen? Bringt ja doch nichts. Mit meiner Freundin zu sprechen auch nicht. Die schüt­ tet mich zu mit Ratschlägen. Dann bin ich noch mehr allein.‹ Wieder der Impuls, mich in der Kastanienallee vor der Situation zu ver­ stecken. Ich überlege, sie wird jetzt gleich einhängen. Ich warte verge­ bens auf einen Engel, der mir viel­ leicht einen hilfreichen Gedanken eingibt. Schweigen. Sie nach einer Weile: ›Sind Sie noch da?‹ Ich: ›Ja, bin ich.‹ ›Tut gut, dass Sie nichts sa­ gen und Zeit haben.‹ Stockend er­ wägt sie jetzt ein paar praktische Fragen, was sie nun morgen früh tun wird. Arzttermin usw. Immer wieder Schweigen zwischendurch. Sie am Schluss: ›Ich rufe Sie in den nächsten Tagen wieder an  …‹« (hör mich 2004, S. 30 f.). Gottesspuren

Selten geht es in den Gesprächen ausdrücklich um den Glauben der Anrufenden. Wer aufmerk­ sam hört, entdeckt aber Spuren davon: die Frage nach dem Sinn, die Sehnsucht, angenommen und gehalten zu sein, nicht nur in diesem einen Gespräch. Hinter der Hoffnungs­ losigkeit, die ausgedrückt wird, steht immer der Wunsch nach Hoffnung über den Augenblick hi­ naus. Und manche Anrufende bitten darum, für sie zu beten oder eine Kerze für sie anzuzünden. Die Klagen der Anrufenden erinnern mich an die biblischen Klagepsalmen. Sie sind die Ur­ form des menschlichen Rufens, und manche klin­ gen wie Ausrufe der Anrufenden bei der Tele­ fonseelsorge:

»Meine Seele ist gesättigt mit Leid, mein Leben ist dem Totenreich nahe« (Buch der Psal­ men 88, 4). »Niemand ist da, der mich beachtet. Mir ist jede Zuflucht genommen, niemand fragt nach meinem Leben« (Buch der Psalmen 142, 5). »Versengt wie Gras und verdorrt ist mein Herz, sodass ich vergessen habe, mein Brot zu essen. Vor lauter Stöhnen und Schreien bin ich nur noch Haut und Knochen« (Buch der Psalmen 102, 5–6). Immer geht es in den Klagepsalmen, wie am Tele­ fon, um den Schrei nach Gehörtwerden: »Herr, höre meine Stimme, wende Dein Ohr mir zu, achte auf mein lautes Flehen« (Buch der Psalmen 130, 2) und um die Hoffnung auf Antwort: »Ich hoffe auf den Herrn, es hofft meine Seele, ich warte voll Vertrauen auf sein Wort« (Buch der Psalmen 130, 5). Das ist der Urgrund des Glaubens: der Ver­ such, an-zu-rufen. Vielleicht hört mich jemand und gibt Antwort. Manchmal gibt es in der Tele­ fonseelsorge nur noch die Klage. Die Wut. Das Schweigen. Keinen Gott mehr. Aber vielleicht einen Menschen, der wirklich zuhört, vielleicht mehr hört, als ich selbst von mir hören kann. Und vielleicht geschieht dann die Menschwer­ dung Gottes. Annelie Bracke ist Leiterin der Katholi­ schen Telefonseelsorge Köln. E-Mail: [email protected] Website: www. telefonseelsorgekoeln.de Literatur hör mich. Aus: www.telefonseelsorge-koeln.de/images/stories/ TS_Koeln_Buch.pdf Publik Forum Sonderdruck: Wähle das Leben, Nr. 15/2016.

Hoffnung – ein Drahtseilakt

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Von absichtsloser Gastfreundschaft Matthias Schnegg im Gespräch mit Bärbel Ackerschott Bärbel, du bist die Leiterin einer Notschlafstelle und Krankenwohnung für obdachlose Drogenabhängige mitten in Köln. Die Einrichtung trägt den Namen »Notel«. Ist dieser Name Programm? B. A.: Das wird von außen gerne reininterpretiert. Das war bei uns in der Entstehung nicht so ge­ dacht. Wir haben einen Namen für das Projekt gesucht und in einem Brainstorming fiel die Rei­ he Hotel, Motel, Drotel und dann war das nächs­ te: Notel. Und dann hatten wir es. Und das ist ein Treffer. Eine Verbindung von Hotel und Not kann sein, wenn auch von uns nicht beabsichtigt. Wie lässt sich die Not beschreiben, die einem da begegnet? B. A.: Ich erlebe es immer wieder als eine sehr existentielle Not, sowohl körperlich als auch psy­ chisch. Unsere Gäste sind sehr erschöpft, haben kaum Zukunftsperspektiven, die realistisch sind. In der Situation: Suchtkrank und auf der Straße, das hat auch etwas mit Überlebenskampf zu tun. Könnte man dann sagen, das Notel ist ein Ort, an dem die Hoffnungslosigkeit aufgefangen oder aufgehalten wird? B. A.: Ich weiß nicht, ob wir unseren Übernachtern Hoffnung vermitteln können. Vielleicht gelingt es, ihnen zu vermitteln, dass sie auch so, wie sie aktu­ ell Mensch sind, Wert und Würde haben. In Be­ zug auf Hoffnung: Da denke ich, die haben die gar nicht mehr. Wir haben sie stellvertretend für sie. Also haben die Gäste selbst gar keine Hoffnung mehr? B. A.: Selten realitätsbezogen. Mir hat gestern noch jemand im Knast gesagt: Ich brauche, wenn ich draußen bin, eigentlich nur eine Wohnung.

Und ist aber wegen Konsums im Knast verlegt worden … Es gibt ‒ wenn überhaupt ‒ keinen realistischen Blick auf das, was man Hoffnung nennen könnte? B. A.: Und wenn es den realistischen Blick gibt, dann ist er nur entmutigend. Wenn die Mitarbeitenden stellvertretend die Hoffnung tragen, mit welcher Hoffnung kommen die Mitarbeitenden in den Dienst? B. A.: Ich kann und mag da nur für mich spre­ chen. Mich begleitet grundsätzlich der Gedan­ ke: Als Gott die Idee von diesem Menschen hatte, wollte er uns ein Geschenk machen und mein­ te es auch mit mir gut. Das gilt ja auch in Bezug auf unsere Gäste. Manchmal fällt es schwer, die­ sen Gedanken vom Geschenk Gottes durchzuhal­ ten, bei den Nervensägen, die die Gäste auch sein können. Aber dass jeder unserer Gäste einen ge­ wollten Platz im Leben hat, vom Schöpfer gege­ ben, das finde ich wichtig – bei allem, was Ner­ ven kostet und ungeduldig macht. Und dann habe ich im Notel entscheidend ge­ lernt, dass es Schlimmeres gibt als den Tod. Was ist das Schlimmere? B. A.: Elendig dahinvegetieren – Als Ausdruck einer Hoffnungsverlorenheit? B. A.: Der Tod eines Gastes, auch wenn es uns traurig macht, hat einen erlösenden Aspekt. Diese aussichtslose Quälerei ist vorbei. Und dann finde ich es wichtig, eine Hoffnung zu haben, die über den Tod hinaus geht – was sich in diesem Leben nicht entfalten konnte, darf sich in der Ewigkeit entfalten. Den Gedanken finde ich ungemein ent­

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 64–65, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

Vo n a b s i c h t s l o s e r G a s t f r e u n d s c h a f t    6 5

lastend. Es nimmt den Druck von uns, dass die Drogenabhängigen unbedingt hier zu ihrer Le­ bensentfaltung kommen müssen. Wir müssen ih­ nen nicht zwingend in ihre Lebensentfaltung hel­ fen. Den Druck habe ich überhaupt nicht mehr. Ein schöner Gedanke von der Lebensentfaltung. Wenn man diese Hoffnungslosigkeit immer mitbekommt – was nährt die Hoffnung für die Mitarbeitenden, zu jedem Dienst neu? Gibt es etwas, womit auch institutionell die Hoffnung genährt wird? B. A.: Uns ist es ganz wichtig, dass wir als Arbeits­ gemeinschaft auch Gebetsgemeinschaft sind. Dass wir uns pro Dienst drei Mal zum Gebet tref­ fen. Wir beten das Stundengebet der Kirche, das ja sehr ritualisiert ist. Das finden wir gerade in der Situation entlastend und tragend. Natürlich zwei Mal die Woche die Eucharistie, darin ganz wichtig unseren Austausch über das Evangelium. All das bewahrt aber nicht davor, auch manchmal hoffnungslos zu sein, in Löcher zu fallen. Dann finde ich es immer wieder wichtig, uns klar zu machen: Unsere Aufgabe ist es nicht, die Dro­ genabhängigen zu retten, sondern sie zu lieben, das heißt, ihnen gerecht zu werden, und die Lei­ tung vom Notel hat ja letzten Endes – das hoffe ich doch sehr – der Herr. Und dann ist das letzten Endes auch alles seine Verantwortung. Das finde ich entlastend, sich das ab und an immer wieder klar machen zu können. Die Hoffnungslosigkeit der Gäste – zieht die nicht selber runter? B. A.: Nein. Was runterzieht, sind Enttäuschun­ gen, wenn es jemand wieder nicht geschafft hat. Dann haben wir die eigentliche Aufgabe, näm­ lich die absichtslose Gastfreundschaft, aus dem Blick verloren. Wir haben irgendwie gedacht: Der muss es doch schaffen. Der muss doch weg von der Droge. Wir haben das gestützt – und dann kommt es zu einer Enttäuschung, die runterzieht. Sodass die Hoffnung nicht machbar ist. Ist das dann ein unserer Verfügbarkeit entzogenes Ge-

schenk? Und was ist da mit der eigenen Hoffnung der Mitarbeitenden? B. A.: Ich kann ja nicht entscheiden: Ich hoffe jetzt! In diesem Arbeitskontext ist für mich Hoff­ nung nur möglich im Vertrauen, dass dieser Gott mit uns im Bunde ist. Welchen Satz könnte ein Gast sagen, wenn er seine Hoffnung beschreibt? B. A.: Mir fallen da nur sehr kurzsichtige Bemer­ kungen ein: Ich hoffe, dass ich eine Wohnung kriege; ich hoffe, dass ich einen Therapieplatz bekomme; ich hoffe, dass ich mein Kind sehen darf. So, wie sie suchtbedingt immer nur bis zum nächsten Schuss denken, sind auch da die gro­ ßen Hoffnungswürfe nicht da. Ich erlebe sie nicht. Wenn du in den Dienst gehst, gibt es da einen kurzen Leitsatz, der deine Hoffnung benennen könnte? B. A.: Das hat mich noch keiner gefragt. Ich bin mir sicher, dass Gott mit uns im Bunde ist und es gut mit uns meint. Da bin ich mir sicher. Danke! Bärbel Ackerschott ist Sozialarbeite­ rin und leitet das Notel seit 27 Jahren. Sie sagt: »Im Notel darf ich meine Be­ rufung leben.« © Anna C. Wagner

E-Mail: [email protected]

Hoffnung – ein Drahtseilakt

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Hoffnung und Mitgefühl Luise Reddemann Beginnen wir mit der Hoffnung. Sie kann viele Gesichter haben, sie ist mit der Hoffnungslosig­ keit verschwistert und sie stellt möglicherweise auch ein kulturspezifisches Konstrukt dar, denn es gibt Kulturen, in denen Hoffnung keine oder kaum eine Rolle spielt. So schreibt zum Beispiel Hannah Arendt in ihrer Schrift »Von der Mensch­ lichkeit in finsteren Zeiten« (1960), dass in der Hoffnung die Seele die Wirklichkeit überspringe, was sie kritisch meint. Dies bedenkend, scheint es mir auch auf die Kontexte anzukommen, ob wir es mit Hoffnung zu tun haben beziehungsweise zu tun haben wollen. Emily Dickinson sagt es poetisch: »HOPE is the thing with feathers/That perches in the soul,/ And sings the tune without the words …« (»Hoff­ nung ist das Ding mit Federn/das sich in der Seele einnistet/und eine Melodie ohne Worte singt …«). So ist aus meiner Sicht Hoffnung etwas, das Möglichkeitsräume eröffnet, und zwar jetzt und nicht in einer nicht beeinflussbaren Zukunft. Da­ mit widerspreche ich den verbreiteten Definitio­ nen, die nur auf Zukunft verweisen. Denken wir an das altertümliche Wort, wonach eine Frau »gu­ ter Hoffnung« ist, was bedeutet, dass sie schwan­ ger ist. Ich erlaube mir, das ein bisschen umzu­ interpretieren: Schwanger ist sie ja schon, das ist Gegenwart; aus diesem Jetzt heraus erwartet sie allerdings, in Zukunft dieses Kind zu gebären. Die Freude, die durch die Verbindung mit dem wach­ senden Leben bereits da ist, ermöglicht die posi­ tiv getönte Erwartung, die man Hoffnung nennen kann. Wenn Menschen hoffnungsvolle Träume haben, dann haben diese oft mit Babys und klei­ nen Kindern und dem darin liegenden Neubeginn zu tun. Und im Geistigen ist ein Neubeginnen bis zuletzt möglich – aber natürlich nicht Pflicht!

Meine Erfahrung mit vielen schwer traumati­ sierten Menschen ist, dass sie sich von klein an mit heilkräftigen Vorstellungen getröstet haben und so Hoffnung, Vertrauen und Mut geschöpft haben, um zu überleben. Andererseits weiß ich auch, dass Menschen sich mittels ihrer Vorstel­ lungskraft dem Tod ausliefern können. Die zu Behandlungsbeginn sechzigjährige Pa­ tientin leidet an Depressionen, solange sie den­ ken kann, sagt sie. Ihr Leben war schwer. Sie hat viele Schicksalsschläge erlitten. Wie kann ein Mensch das aushalten? Ihr Glaube hat ihr geholfen, erzählt sie. Aber es ist trotzdem »zu schwer«. »Wie schwer, wenn Sie es sich als ein Gewicht vorstellen?« »Zentnerlasten«. – Die­ ses Bild hat Macht, das spüren wir beide. Das schwere Leben. Die Schicksalsschläge, die Zentnerlasten. Ich verspüre den Wunsch, dass sie es leichter habe. »Wenn es wie im Märchen wäre? Es würde ein Wunder geschehen …?« Sie lächelt. »Dann wäre da ein riesiger Fels­ brocken. Und dann käme ein Riese und wür­ de ihn mitnehmen, er könnte darauf sitzen … ja, der Brocken wäre ein guter Platz für ihn, um sich auszuruhen.« »Und Sie? Was machen Sie ohne Ihren Brocken?« »Ich würde davon­ hüpfen.« Nun stellt sie sich das vor, hat Lust, es auszuprobieren. Geschichten fallen ihr ein. Bevor alles anfing, alles schwer wurde. Da ist sie gehüpft, damals als kleines Mädchen, auf dem Dorf bei den Großeltern. Das hatte sie ganz vergessen. Sie war irgendwann ein fröh­ liches Kind. »Es kommt mir vor, als wäre das Kind noch da. Spüren Sie es nicht gerade?« Da erlebt sie noch stärker ihre Leichtigkeit. »Es ist also beides: Das Schwere und das Leichte.« »Ja,

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 66–71, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

Francesca Schellhaas / photocase.de

das merke ich jetzt. Es ist nicht verloren. Ich kann es erleben.« Für die Patientin waren diese von ihr selbst gefundenen Bilder Hoffnungsbilder, so dass sie begann zu hoffen, dass Besserung doch noch möglich sei. Die Patientin hatte in sich ande­ re Bilder entdeckt oder andere Wahrheiten. Sie muss dabei auch nicht verleugnen, dass es viel Schweres in ihrem Leben gab. Therapeutin und Patientin haben gemeinsam einen Anker gefunden, einen Hoffnungsanker! Fabrizio Benedetti (2011) hat als Hirnforscher herausgefunden, dass Hoffnung zu haben für Patienten und Patientinnen und deren Heilung bedeutsam ist und – das ist mir besonders wich­ tig! – dass es der mitfühlende Arzt, die mitfüh­ lende Ärztin sind, die Hoffnung bei ihren Patien­ ten durch ihr Mitgefühl hervorrufen – wenn die Patienten es zulassen! Es gibt also eine direkte Verbindung zwischen Hoffnung und Mitgefühl im Prozess der Behandlung und gegebenenfalls Heilung oder Linderung. Bei dieser Art von Hoff­ nung wird zwar sicher auch Heilung in der Zu­

kunft erwartet, aber letztlich bezieht sich die hoff­ nungsvolle Erwartung wohl eher darauf, dass der Arzt/die Ärztin jetzt, in diesem Augenblick, wo die Begegnung stattfindet, Hilfreiches bewirkt. So dürfte es klar sein, dass Pfegekräfte und Ärzte großen Einfluss auf Hoffnung oder Hoff­ nungslosigkeit ihrer Patienten haben. Und das scheint auch Konsens in der Forschung zu sein. Hoffnung werde erleichtert, wenn die Beglei­ tenden präsent sind, sich Zeit nehmen und wenn sie Informationen auf mitfühlende, aufrichtige und respektvolle Art geben und sich zugewandt verhal­ ten. Fürsorgliches Verhalten, wie achtsame Gesten und Warmherzigkeit und Echtheit, fördern eben­ falls Hoffnung (Koopmeiners et al. 1997). Nach Olsman et al. (2014) geht es darum, Hoff­ nung zu nähren, wenn sie bereits da ist, häufig aber auch, erst einmal Räume für Hoffnung zu eröffnen. Dazu erscheint es mir wichtig, dass wir Begleitende selbst Hoffnung haben, denn wir können sie nicht ermöglichen und fördern, wenn wir selbst keine haben! Im Rahmen der Forschung zur »Positiven Psy­ chologie« wird die Zielgerichtetheit von Hoff­

Hoffnung – ein Drahtseilakt

Es gibt eine direkte Verbindung zwischen Hoffnung und Mitgefühl im Prozess der Behandlung und gegebenenfalls Heilung oder Linderung.

Paula Modersohn-Becker, Barmherziger Samariter, 1907 / akg-images

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nung betont, der Wunsch und der Wille, zu et­ was hinzugelangen. Hoffnung wird dort definiert als die Fähigkeit, Wege zu beschreiben, um er­ wünschte Ziele zu erreichen und sich selbst zu motivieren, diese Wege zu nutzen. C. R. Snyder und seine Kollegen sagen, dass Hoffnung sich ent­ wickelt, wenn wir ein Ziel im Sinn haben und da­ von ausgehen, dass das Ziel erreicht werden kann, und einen Plan, wie dies gelingen kann. Hoff­ nungsvolle Menschen seien wie die kleine Loko­ motive, die sagt »ich kann, ich kann«. »Hope is the sum of the mental willpower and waypower that you have for your goals« meint Snyder (2003). Ob sterbenskranke Menschen noch Ziele ha­ ben, um dann die »kleine Lokomotive« in sich zu aktivieren? Würde das Hoffnung ausschließen? Oder sind die Ziele dann sehr klein? Oder von völlig anderer Art? Und was bedeutet im Kontext von Sterbenskranksein »waypower«? Bei diesen Vorstellungen scheinen Ideen im Vordergrund zu stehen, die nicht berücksichtigen, dass wir eben nicht immer alles meistern und beherrschen kön­ nen. Wir haben das Leben nicht unter Kontrolle! Manès Sperber, vielfach vertrieben durch die Nationalsozialisten und von ihnen gefangenge­ nommen, sprach vom »bitteren Geschmack der Hoffnung« und erzählt, dass er sich im Moment der Gefangennahme vorgenommen habe, auf gar keinen Fall zu hoffen. Für Karl Jaspers, dessen Frau Gertrud Jüdin war, bestand Hoffnung in einer »Bitte um Maß­ nahmen der Euthanasie« an die herbeigerufenen Kollegen, sollten die Häscher schon eingedrun­ gen sein, Gertrud zu deportieren, bevor sie beide tot waren. Andererseits sagte er in einem Inter­ view: »Hoffnungslosigkeit hilft doch keinem Men­ schen«. Demnach unterscheidet er zwischen Hoff­ nungslosigkeit und »ohne Hoffnung den Sprung wagen« (in: Berentzen 2013). Es scheint ihm um eine grundsätzliche Zustimmung zur Existenz zu gehen, ein trotz Krankheit und Ungewissheit »un­ befangenes Ja zum Leben« (Jaspers 1958). Im 20. Jahrhundert wurden die Hoffnung und das Hoffen auf die Probe gestellt wie kaum je zu­

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vor. Für Albert Camus, der für mich so etwas wie ein Hoffnungsträger war, ging es um den Wider­ spruch zwischen der unstillbaren Sinnsuche des Menschen und dem Schweigen der Welt darauf. Er schreibt: »Im schwärzesten Nihilismus unserer Zeit suchte ich nur Gründe, ihn zu überwinden. Übrigens nicht aus Tugend, noch aus einer selte­ nen Seelengröße heraus, sondern aus instinktiver Treue zu jenem Licht, in dem ich geboren wurde und in welchem seit Jahrtausenden die Menschen gelernt haben, das Leben zu bejahen bis in seine Leiden hinein« (in: Busch 2013; Hervorhebung von L. R.).

vor dem Anderen, einen Schritt zurückzutreten, wenn wir merken, dass der Andere nicht (mehr) hoffen möchte. Patientinnen und Patienten sehnen sich da­ nach, bewusst oder unbewusst, dass wir mitfüh­ lend auf sie eingehen. Wenn ihnen dieses Mit­ gefühl begegnet und sie es annehmen können, können sie eingeladen werden, sich selbst mit­ fühlend zu begegnen. Für manche Patienten be­ steht eine Schwierigkeit, dass sie sich genau da­ durch, dass sie sich ihren lange unterdrückten Schmerzen öffnen, von Schmerz überwältigt füh­ len. Die Begegnung mit Schmerzlichem sollte

Damit leite ich zum Mitgefühl über. Denn ich bin der Meinung, und fand dies bei Benedetti bestä­ tigt, dass wir nur dann Hoffnung in unseren Pa­ tientinnen und Patienten nähren können, wenn es uns gelingt, mitfühlend zu sein. Dann spüren wir die Not unserer Patienten und den Wunsch in uns, in irgendeiner Form etwas zu ermögli­ chen, was sie ein wenig auf Linderung, Besserung oder auch Heilung hoffen lässt, sie zumindest für möglich zu halten. Was ist Mitgefühl? Jedenfalls nicht Empathie. Empathie ist Einfühlung, Mitgefühl beinhal­ tet den Wunsch, etwas Heilsames zu bewirken. Man kann sich durchaus in andere einfühlen und nicht den Wusch haben, etwas Heilsames zu bewirken. Mitgefühl will etwas Liebevolles bewirken, also vielleicht Hoffnung im Sinn von Vertrauen und Zuflucht zu finden. Es gehört al­ lerdings auch zum Mitgefühl und zum Respekt

TRUELIGHT-NOW / photocase.de

Durch Achtsamkeit kann die Weisheit entdeckt werden, das Mitgefühl in sich immer mehr zu entfalten, sodass Offenheit entstehen kann für liebende Begegnungen mit den Menschen, die als Patienten unserer Fürsorge bedürfen. also nicht forciert werden, sondern »tröpfchen­ weise« geschehen. Wenn wir hier von Hoffnung sprechen, sei erwähnt, dass zu viel Schmerz – ebenso wie zu viel Angst  – nicht geeignet ist, Hoffnung zu ermöglichen, sondern eher Hoff­ nungslosigkeit, ja Verzweiflung. Mitgefühl be­ deutet also im therapeutischen Prozess auch, so viel vom Patienten zu wissen und zu verstehen, dass wir in der Lage sind einzuschätzen, was ihm zuzumuten ist. Daher ist eine Ingredienz des mit­ fühlenden Begleitens aus meiner Sicht Geduld und Zeit zu haben, so dass der richtige Moment sich einstellen kann. Patienten dabei zu helfen, mit sich selbst mit­ fühlender umzugehen, erscheint mir eine sinn­ volle Aufgabe zu sein. Dafür brauchen sie unsere Anregungen, nicht selten uns als Vorbild. Manchmal ist weniger mehr, und dann kann Reden eben eher Silber und Schweigen Gold sein,

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ein mitfühlendes Schweigen, bei dem man viel­ leicht die Hand hält und einen Moment ganz prä­ sent ist. Mitgefühl kann man nicht erzwingen. Das, was Paulus über die Liebe sagt, passt auch zum Mitgefühl: »Die Liebe ist langmütig und freund­ lich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie blähet sich nicht, sie stellet sich nicht ungebärdig, sie suchet nicht das Ihre, sie läßt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freut sich aber der Wahrheit; sie verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles« (1. Brief des Paulus an die Korinther 13). Durch Achtsamkeit kann die Weisheit ent­ deckt und entwickelt werden, das Mitgefühl in sich immer mehr zu entfalten, zum Klingen zu bringen, sodass Offenheit entstehen kann für lie­ bende Begegnungen mit den Menschen, die als Patienten unserer Fürsorge bedürfen. Wie können wir dahin kommen? Mitgefühl, ein Begriff, von dem Buddhisten viel verstehen und dessen tiefe Erfahrung ich meiner buddhis­ tischen Lehrerin verdanke, wird im Buddhismus zusammen gesehen mit anderen »himmlischen Verweilungen«. Für mich heißt das, wenn wir da­ rin verweilen können, erfahren wir jetzt den Him­ mel, es ist nicht erforderlich, wenngleich natür­ lich möglich, sich mit etwas in der Zukunft zu trösten. Und jetzt – wenigstens gelegentlich – ist also die Zeit für alle himmlischen Verweilungen, das sind neben Mitgefühl Freundlichkeit, auch »lie­ bende Güte« genannt, (Mit-)Freude und Gleich­ mut. Als ich Mitgefühl immer genauer zu ver­ stehen und zu leben versuchte – was natürlich nicht immer gelingt –, entdeckte ich, wie wichtig es für mich ist, mich zu freuen und dankbar zu sein, und dass dies wiederum Mitgefühl begüns­ tigt. Wenn ich miesepetrig bin, kann ich nicht mitfühlend sein. Allerdings ist es mir manchmal möglich, mein miesepetriges Selbst mit Mitge­ fühl zu betrachten und in den Arm zu nehmen, dann lösen sich Unmut und Niedergeschlagen­

heit auf. Gleichmut entwickelt sich durch eine Fähigkeit, die Dinge des Lebens zu betrachten, ohne sich dauernd mit ihnen zu identifizieren, da scheint mir eine wie auch immer geartete Praxis der Achtsamkeit sehr nützlich. Ich möchte daher abschließend einen Weg des Sichfreuens und der Dankbarkeit empfehlen. Es fällt dann leichter, mitfühlend zu sein, und das mag unsere Fähigkeit zu hoffen ermöglichen und diese wiederum an unsere Patienten und Patien­ tinnen zu vermitteln. Luise Reddemann, Psychoanalytikerin, leitete die Klinik für Psychotherapeu­ tische und Psychosomatische Medizin des Evangelischen Johannes-Kranken­ hauses in Bielefeld. Ihr Interesse galt dort der Behandlung von Menschen © Marijan Murat mit schweren Traumatisierungen und deren Folgen und sie entwickelte gemeinsam mit dem Be­ handlungsteam der Klinik die Psychodynamisch Imaginati­ ve Traumatherapie (PITT), die sie seit ihrem Ausscheiden aus der Klinik Ende 2003 kontinuierlich weiterentwickelt hat. Sie ist Honorarprofessorin für Psychotraumatologie und psycho­ logische Medizin an der Universität Klagenfurt. E-Mail: [email protected] Literatur Arendt, H. (1960). Von der Menschlichkeit in finsteren Zei­ ten, München. Benedetti, F. (2011). The patients brain. Oxford. Berentzen, D. (2013). »Den Sprung wagen!« Karl Jaspers und die Öffentlichkeit. SWR2 Wissen: http://www.swr.de/ swr2/programm/sendungen/wissen/den-sprung-­wagen/-/ id=660374/did=11121832/nid=660374/1ffzkth/index.html Busch, W. (2013). Albert Camus und die Suche nach dem Glück 4. November 2013 wz-newsline. Letzter Zugriff 28.6.2016 Jaspers, K. (1958). Philosophie und Welt. Reden und Auf­ sätze. München. Koopmeiners, L.; Post-White, J.; Gutknecht, S.; Ceronsky, C.; Nickelson, K.; Drew, D.; Mackey, K. W.; Kreitzer, M. J. (1997). How healthcare professionals contribute to hope in patients with cancer. In: Oncology Nursing Forum. 1997 Oktober, 24 (9), S. 1507–1513. Olsman E, Leget C, Onwuteaka-Philipsen B, Willems D. (2014) Should palliative care patients’ hope be truthful, helpful or valuable? An interpretative synthesis of lite­ rature describing healthcare professionals’ perspectives on hope of palliative care patients.Palliat Med. 2014 Jan; 28(1):59–70. doi: 10.1177/0269216313482172. Epub 2013 Apr 15 Snyder, C. L. (2003). The psychology of hope. You can get here from there. New York.

Hoffnung – ein Drahtseilakt

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Hoffnung behalten Ein Erfahrungsbericht

Sigrun Müller

Ein Sommer im Norden Deutschlands. Im Rahmen einer Ferienbetreuung vor einigen Jahren wurde ich zufällig Zeugin folgender Geschichte: Am letzten Tag weigert sich das attraktiv geklei­ dete, frühreif wirkende Mädchen L., in ihr Eltern­ haus zurückzukehren. Da­ bei wirkt sie völlig aufge­ löst. Eine Ursache ist nicht erkennbar. Der herbeige­ rufene Betreuer versucht unter Zeitdruck, die Grün­ de für diesen Widerstand zu ermitteln. Im Verlauf dieser kurzen Unterhaltung bemerke ich bei L. eine eklatante Ver­ änderung. Im Rahmen der Ferienmaßnahme eher ein laut und forsch aufgetrete­ nes Mädchen, sackt L. mehr und mehr in sich zusammen. Ihre Antworten werden einsilbig, sie lässt den Kopf hängen, wen­ det das Gesicht ab und die Augen scheinen ge­ schlossen. Ihr Körper wirkt plötzlich schlaff, wie leblos. Sie zeigt sich vollkommen passiv. Ich erin­ nere mich an die Überraschung, dass der Betreu­

Otto Mueller, Maschka mit Maske, 1919 / akg-images

Das Erlebnis

er die offenkundige Veränderung bei L. schein­ bar achtlos übergeht und weiterhin insistiert, sie solle ihr Problem mal einfach offenlegen. Da sei­ ner Meinung nach weder Eigen- noch Fremd­ gefährdung vorliegt, überredet der Betreuer L., mit ihren Eltern nach Hause zu gehen. L. fügt sich.

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 72–74, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

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Ich verabschiede mich selbst noch recht per­ plex über das soeben Erlebte. Ich wusste es nicht einzuordnen und beruhigte mich mit dem Ge­ danken, dass der erfahrene Betreuer schon wis­ se, was er tue. Damit begann auch mein Urlaub, und ich dachte nicht weiter an den Vorfall. Die Geschichte ging mir nach Ich dachte nicht daran, aber es gab Gefühle, über die ich mich wunderte. Irgendwie fühlte ich mich insgesamt bedrückt und belastet, angestrengt und unruhig. Ich hatte ein starkes Bedürfnis nach Ver­ trautem, Sicherheit und Ruhe. Meine Abenteuer­ lust auf Neues kam zum Erliegen und ich fühl­ te mich von meiner angetretenen Reise (wo ich sonst immer wunderbar abschaltete) mehr über­ fordert, als dass ich sie genoss. Ich nahm das dif­ fus war, fand jedoch keine Erklärung dafür und dachte so zunächst, das würde schon vorüberge­ hen. Vielleicht, glaubte ich, wäre ich erschöpft von den hinter mir liegenden, ereignisreichen Wo­ chen und das äußere sich eben jetzt im eigenen Urlaub. Heute weiß ich, dass mir einfach das Kon­ zept für mein Erleben fehlte und ich es deshalb nicht einzuordnen wusste. Draufblicken, Einordnen, Verstehen In der Einzelselbsterfahrung in der folgen­ den Woche berichtete ich natürlich von mei­ nem Urlaub und meiner Stimmung. Als mein Supervisor mich fragte, seit wann ich denn die­ se Stimmung hätte, wurde mir erst klar: Es war genau seit dem Gespräch, von dem ich stumme Zeugin gewesen war. Ich beschrieb das Mäd­ chen, schilderte das Gespräch und was gesche­ hen war, und mein Supervisor half mir zu ver­ stehen, was ich erlebt hatte. L. litt offenbar an einer komplexen Traumatisierungsstörung und war durch die intrusive Art der Befragung oder einen sonstigen Trigger mit dem unintegrierten Erleben schutzlos in Kontakt geraten. Es gibt ein

Konzept für mein Erlebnis. In der Tiefenpsycho­ logie sprechen wir von einer »traumatisieren­ den Gegenübertragung« (Holderegger 2003, zi­ tiert in Hopf und Windaus 2009). Das beschreibt unter anderem, was geschehen kann, wenn ein Mensch im Kontakt mit einem traumatisierten Menschen, zum Beispiel durch die Schilderung eines Traumaerlebens oder durch das Miterle­ ben einer Retraumatisierung, im Prinzip diesel­ ben Gefühle wie der Traumatisierte durchlebt. So, als wäre es ungefiltert das eigene Erleben inklusive der Abspaltung des Erlebten, der Hilf­ losigkeit, der mangelnden Verstehbarkeit und tiefen Verzweiflung. Natürlich hatte ich davon schon einmal ge­ hört; es zu erleben, war aber etwas ganz ande­ res. Diese Erklärung ermöglichte mir nun, besser zu verstehen, was geschehen war, und ich begriff auch, weshalb mich diese Gefühle so merkwürdig belastet hatten. Mein Supervisor regte nun eine psychohygienische Intervention an, wie man sie ähnlich auch mit einem Traumatisierten selbst durchführen könnte. Wir begannen also mit einer Imaginationsübung als einer Distanzierungstech­ nik. Zunächst symbolisierte ich »Das Erleben/­ Gefühl/Worum es ging«. Ich fand ein Bild dafür und malte das Symbol auch auf ein Blatt Papier. In mir stellte sich da bereits eine ungeheure Ent­ lastung ein und ich empfand deutlicher als zuvor, dass dieses, was ich dort im Bild eines dunklen Stachelballs dargestellt hatte, nicht mein Erleb­ nis war. Ich erlebte es als deutlich ichfremd (ich­ dyston). Dieses Bild rührte nicht aus meinem Le­ ben und meinen Erfahrungen, es war ein Bild für die (mir bis heute unbekannten konkreten) Erfahrungen des Mädchens. Im zweiten Schritt ging es darum, für dieses Symbol einen guten Ort (außerhalb meiner selbst) zu finden. Was sehr kompliziert klingt, ist in der Praxis einfach und entlastend. In meiner Vorstellung suchte ich einen heilsamen, guten und sicheren Ort (wiede­ rum ein Symbol), worin ich dieses erste Symbol gedanklich lagerte und verschloss. Es war eine niederländische, kleine Kirche. So, ich war es los.

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»Ich dachte, damit wäre es gut« Das Traumaintrojekt war ich also los, und ich hatte viel über das Erkennen, die Gefahren und den Umgang mit komplex traumatisierten Men­ schen sowie Psychohygiene gelernt, was ich ja im Zuge meiner Weiterbildung zur Kinder- und Jugendtherapeutin gut würde gebrauchen kön­ nen. Fest überzeugt, dass dies nun der Abschluss der Besprechung war, bemerkte ich gedanken­ voll: »Oh je, wenn mir – nämlich nur als Zeugin und außerdem als angehender Therapeutin – das schon schwerfällt … Damit kann das Mädchen ja nie klar kommen!« Ich äußerte und erlebte hier, wie ich später verstand, dieselbe lähmen­ de Hoffnungslosigkeit, wie sie auch L. verspürt haben wird und wie sie Traumafolgestörungen und auch manch anderen seelischen Verletzun­ gen immanent ist. Die Frage meines Supervisors »Was braucht dieses Mädchen denn, damit es gesund werden kann?« konnte ich spontan und authentisch in diesem Augenblick nur so beantworten: »Da kann nichts helfen!« Jetzt erlebte ich meinen Supervisor jedoch zäh und unnachgiebig. Er schloss dieses Thema nicht ab, bevor ich nicht eine Hoffnung für dieses Mädchen finden konnte. Es galt, mich auch von der Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit zu distanzieren. Später in einem anderen Kontext (beispielsweise als Therapeutin bei einem Patien­ ten) würde ich sonst ein »hilfloser Helfer«. Und diese Erfahrung begleitet mich in der Tat heu­ te noch in den von mir durchgeführten Thera­ pien. Wenn auch der Patient alle Hoffnung für sich verloren hat, versuche ich als Helferin, sie zumindest zu suchen, möglichst auch zu finden und vielleicht einige Zeit stellvertretend für den Patienten in mir zu behalten. Ich habe in der Stunde noch lange an dieser Aufgabe geknobelt. Vieles fiel mir ein, vieles ver­ warf ich mit dem Gedanken »Ach nein, auch das würde nicht helfen oder wäre nicht genug«. Wir verließen sogar den Raum, um durch Bewegung und sinnliche Veränderung auch kognitiv einer

höheren Flexibilität Raum zu eröffnen. Und end­ lich, nach einer gefühlten Ewigkeit, hatte ich aus meinen Erfahrungen und meinem Wissen Be­ dingungen kreiert, bei denen ich (ganz subjek­ tiv) sagen konnte: »Doch, also wenn sie das al­ les wirklich so bekäme, dann könnte es ihr doch einmal besser gehen.« Ein Bild entsteht Und vor meinem inneren Auge entstand das Bild von einer heilen L. Erst jetzt konnte ich ihren ge­ sunden inneren Anteil imaginieren. Ich wuss­ te nicht viel von L. und hatte sie in der Ferien­ maßnahme nur am Rande miterlebt. Dennoch reichte das Wenige aus und in meiner Vorstel­ lung entwickelte sich das Bild: L. auf einem roten, knatternden Motorrad, mit flatterndem, bunten Tuch im kurzem schwarzen Haar, dauerhupend und »Aus dem Weg!« rufend einen Feldweg ent­ langkommend. Und ich wusste: Dann wäre al­ les gut. Da habe ich verstanden, wie wichtig die Hoffnung ist und wie wichtig es ist, die Hoff­ nung zu behalten. Heute in meiner Arbeit nutze ich solche in mir aufkommenden Hoffnungsbilder und lasse die jungen Klienten auch, wenn es passt, daran teil­ haben. Die Wirkung auf die Klienten kann zu­ tiefst ermutigend sein. Sigrun Müller studierte Diplompädago­ gik mit Schwerpunkt Erwachsenenbil­ dung und Sozialpädagogik und befindet sich zurzeit am Ende ihrer Ausbildung zur tiefenpsychologischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. E-Mail: [email protected] Literatur Hopf, H.; Windaus, E. (Hrsg.) (2009). Psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Kinder- und Jugendlichen­ psychotherapie. Lehrbuch der Psychotherapie, Band 5. München.

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Das Prinzip Hoffnung in der Poesietherapie

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Silke Heimes »Happiness is like a butterfly: the more you chase it, the more it will elude you, but if you turn your attention to other things, it will come and sit softly on your shoulder.« (Henry David Thoreau) Ernst Bloch und Das Prinzip Hoffnung »Das Prinzip Hoffnung« ist das Hauptwerk von Ernst Bloch, das der Philosoph zwischen 1938 und 1947 im US-amerikanischen Exil verfasste. Im Vorwort schreibt er: »Wer sind wir? Wo kom­ men wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns? Viele fühlen sich nur als verwirrt. Der Boden wankt, sie wissen nicht wa­ rum und von was. Dieser ihr Zustand ist Angst, wird er bestimmter, so ist er Furcht. Einmal zog einer aus, das Fürchten zu lernen. Das gelang in der eben vergangenen Zeit leichter und näher, diese Kunst ward entsetzlich beherrscht. Doch nun wird, die Urheber der Furcht abgerechnet, ein uns gemäßeres Gefühl fällig. Es kommt da­ rauf an, das Hoffen zu lernen.«

ter, konzentrierter und achtsamer als Menschen ohne Hoffnung und leiden unter weniger Ängsten und depressiven Verstimmungen (Schäfer 2009). Hoffnung kann helfen, schwierige Lebenssituatio­ nen zu meistern, und damit als eine Art Selbst­ kompetenz verstanden werden, eng verbunden mit dem Gefühl der Selbstwirksamkeit. Snyder (2000) betont, dass Hoffnung eine bestimmte Art und Weise ist, in der über Ziele nachgedacht wird, wobei hoffnungsvolle Menschen sowohl entschlossen sind, diese Ziele zu erreichen, als auch daran glauben, es zu schaffen. So gesehen kann Hoffnung auch als Vertrauen verstanden werden, das Vertrauen in die eigenen Fähigkei­ ten sowie in günstige Umstände.

Hoffnung lässt sich trainieren

Hoffnung als zentraler Bestandteil der Poesietherapie

Blochs Beschreibung verweist auf eine aktive und tätige Form der Hoffnung, eine Hoffnung, die man lernen kann. Diese Vorstellung kor­ respondiert mit der Theorie des Psychologen ­Snyder (2003), der davon ausgeht, dass Hoff­ nung sich trainieren lässt. Und trainieren sollte man sie, denn Hoffnung ist ein wichtiger Faktor für Wohlbefinden, Erfolg und Resilienz. Hoff­ nungsvolle Menschen, so hat die psychologische Forschung herausgefunden, sind selbstbewuss­

Die Poesietherapie basiert auf der Idee der Hil­ fe zur Selbsthilfe. So gesehen spielen die bereits erwähnten Faktoren wie Selbstkompetenz und Selbstwirksamkeit eine große Rolle im therapeu­ tischen Schreiben. Dabei geht es nicht um Zweck­ optimismus oder vage Fantasien, respektive Wün­ sche, die oftmals unter dem Etikett der Hoffnung firmieren, sondern vielmehr darum, sich und sei­ ne Möglichkeiten zu erfassen und sich klar zu

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werden, was zu hoffen und zu fürchten ist. Denn natürlich bedeutet jedes aktiv tätige Hoffen zu­ gleich, dass unsere Hoffnungen enttäuscht wer­ den können, dass wir das Wagnis des Scheiterns eingehen und die Möglichkeit einer Enttäuschung einen Teil der Offenheit darstellt, die wir brau­ chen, um unseren Hoffnungen eine Chance zu geben. Oettingen, Pak und Schnetter (2001) wie­ sen nach, dass Menschen, die in der Lage sind, die Gegebenheiten der Gegenwart in Zusammen­ hang mit den anvisierten Zielen zu bringen, zu einer realistischen Einschätzung der Umsetzbar­ keit ihrer Ziele kommen. Dies wiederum trägt zu einer positiven Erwartungshaltung und Aktivie­ rung auf der Handlungsebene bei. Eine gut eva­ luierte Übung im therapeutischen Schreiben ist die des Best Possible Self (King 2001). Bei dieser Übung werden die Teilnehmer dazu aufgefordert, ihre Zukunft so zu imaginieren, dass sich alle ihre Lebensziele erfüllt haben werden. Im Vergleich zu Kontrollgruppen zeigten Teilnehmer der Gruppe, die über die Erreichung ihrer Lebensziele schrie­ ben, das höchste Maß an subjektivem Wohlbefin­ den und gaben am häufigsten an, für ihr Lebens­ glück selbst verantwortlich zu sein (Heimes 2013). Von der Theorie zur Praxis Neben der Übung zum Best Possible Self lassen sich zum Thema Hoffnung die beiden folgenden Schreibübungen einsetzen, sowohl in Einzelthe­ rapie als auch in Gruppen, die durchaus inhomo­ gen sein dürfen, sowohl bezüglich Alter und Ge­ schlecht als auch bezüglich möglicher Probleme und Leiden. Schreibübung 1: Beginnen Sie einen Text mit dem Satz von Ernst Bloch Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen und schreiben Sie alles, was Ihnen zum Thema einfällt. Auf was hoffen Sie? Hoffen Sie noch oder haben Sie sich das Hoffen abgewöhnt? Was hat die Hoffnung bisher für eine Rolle in Ihrem Leben gespielt? Schreiben Sie al­ les auf, was Ihnen einfällt, auch wenn es Sie im

Schreiben scheinbar vom eigentlichen Thema wegführt (15 Minuten Schreibzeit). Praxisbeispiel 1 (Marie, 43, rezidivierende Depression): Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Das Hoffen, das Wünschen, das Träu­ men, das Sehnen, das Leben. Ich möchte das Leben lernen. Lernen, mir etwas zu gönnen. Ohne vorher etwas leisten zu müssen. Ich möchte es mir gut gehen lassen. Nicht gerade eben so leben, sondern intensiv und reich. So würde Gott es wollen. Das stelle ich mir jeden­ falls vor. Ein gottgefälliges Leben ist für mich zugleich ein reiches und schönes. Ein Leben voller Achtsamkeit und Liebe. Ein Leben, in dem ich mich nicht quälen muss, um etwas wert zu sein. Ein Leben, in dem ich Kind und Erwachsene zugleich sein darf. Sollte das im Bereich des zu Hoffenden liegen, so will ich hoffen. Und vertrauen. Vertrauen darauf, dass mir ebenso viel Glück zusteht wie jedem ande­ ren Menschen auch. Das Schreckliche, das mir widerfahren ist, mag einen Grund und viel­ leicht einen Sinn haben. Das kann ich nicht beurteilen. Aber jetzt, jetzt endlich darf ich leben. Leben und hoffen. Praxisbeispiel 2 (Anna, 35, Angststörung): Wenn es darauf ankommt, das Hoffen zu ler­ nen, dann hoffe ich, dass mich jemand hört, dass mich jemand sieht. Ich hoffe, dass mich jemand aufhebt, wenn ich falle, und dass es jemanden gibt, der mich in schweren Zeiten

Hoffnung kann helfen, schwierige Lebenssituationen zu meistern, und damit als eine Art Selbstkompetenz verstanden werden, eng verbunden mit dem Gefühl der Selbstwirksamkeit.

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Noah’s Ark, Kykkos Monastery, Troodos Mountains, Cyprus, Cypriot / Prismatic Pictures / Bridgeman Images

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begleitet. Ich hoffe, dass nicht alles, was ich mache, vergeblich ist, und ich hoffe, eines Ta­ ges wahrhaftig vergeben zu können. Ich hof­ fe, wahrhaftig lieben zu können und wahrhaf­ tig geliebt zu werden. Ich hoffe. Denn darauf kommt es an: das Hoffen zu lernen. Schreibübung 2: Schreiben Sie die Buchstaben des Wortes Hoffnung in einer Reihe untereinan­ der. Notieren Sie so spontan wie möglich hin­ ter jedem Buchstaben das erste Wort, das Ihnen einfällt. Das kann ein Substantiv sein, ein Verb, ein Adjektiv oder ein Name. Schreiben Sie dann einen Text, in dem alle diese Wörter vorkommen. Die Reihenfolge spielt keine Rolle, auch dürfen Sie die Wörter doppelt verwenden und so viele Wörter hinzufügen, wie Sie benötigen. Der Text muss keinen Sinn ergeben, Sie dürfen drauflos schreiben. Alles ist erlaubt: stammeln, stottern, Wortsalat, Fantastisches (15 Minuten Schreibzeit). Praxisbeispiel (Jonathan, 47, Tod der Partnerin vor zwei Jahren): H iflosigkeit O ttonormalverbraucher F an F rust N erd U ngeheuer N amenlos G rausam Die Hilflosigkeit überfiel mich mit grausamer Namenlosigkeit. Ich bin kein Fan vom Tod und auch kein Nerd oder Ungeheuer, sondern ein Ottonormalverbraucher, den Verluste frustrie­ ren, besonders Verluste geliebter Menschen. Ich hasse Brustkrebs! Ich hasse Ungerechtig­ keit! Ich hasse es, dass alle mir sagen, das Le­ ben müsse weitergehen, ich müsse Hoffnung haben. Das Leben ist voller Hoffnung, das weiß ich. Wir haben bis zum Schluss gehofft. Nur gerade jetzt mache ich eine Pause, brau­ che ich eine Pause, in der ich wütend sein darf,

ganz ohne jede Hoffnung, ohne hoffen zu müs­ sen, ohne jede Pflicht zur Hoffnung. Gebt mir Zeit. Denn noch bin ich wütend! Wie lange die Wut anhalten wird, weiß ich nicht. Aber danach kommt dann vielleicht wieder Hoff­ nung. Wer weiß. Fazit Hoffnung ist ein lebenswichtiger Motor. So lange wir hoffen, ist noch nichts verloren. So lange wir hoffen, leben wir. So lange wir hoffen, sind Verän­ derung und Entwicklung möglich. Aber manch­ mal braucht es auch eine Pause, manchmal müs­ sen wir uns der Hoffnungslosigkeit hingeben dürfen, um Kraft für neue Hoffnung zu schöp­ fen. Alles das findet im therapeutischen Schrei­ ben einen Platz, seinen Platz, so dass wir durch das Schreiben hoffentlich wieder Hoffnung erle­ ben dürfen, jeden Tag aufs Neue. Prof. Dr. med. Silke Heimes ist Profes­ sorin für Journalistik an der Hochschu­ le Darmstadt, Autorin von Romanen, Erzählungen und Sachbüchern. Sie ist Gründerin und Leiterin des Instituts für kreatives und therapeutisches Schreiben. E-Mail: [email protected] Websites: www.ikuts.de  www.silke-heimes.de Literatur Bloch, E. (1959). Das Prinzip Hoffnung. Erster Band. Frank­ furt a. M. Heimes, S. (2013). Hat Expressives Schreiben über eine posi­ tiv imaginierte Zukunft Einfluss auf Affekt, Copingstra­ tegien und Selbstwirksamkeit? In: Musik-, Tanz- und Kunsttherapie, 24 (3), S. 117–127. King, L. A. (2001). The health benefits of writing about life goals. In: Personality and Social Psychology Bulletin, 27 (7), 798–807. Oettingen, G.; Pak, H.; Schnetter, K. (2001). Self-regulation of goal setting: Turning free fantasies about the future into binding goals. In: Journal of Personality and Social Psychology, 80 (5), S. 736–753. Schäfer, A. (2009). Hoffnung – die Kraft, die Zukunft mög­ lich macht. Psychologie Heute, 36 (9), S. 21–25. Snyder, C. R. (2000). Handbook of hope: Theory, measures and apllications. California: Academic Press Snyder, C. R. (2003). Psychology of hope: You can get here from there. New York.

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Der Duft der Hoffnung Hoffnung gibt es in jeder Phase der Demenz

Barbara Klee-Reiter Hildegard Klein1, wurde 1930 in Hamburg ge­ boren. Sie war die jüngste von fünf Mädchen. Sie hat drei Töchter, vier Enkel und einen Ur­ enkel, den kleinen Leon. Sie hat als Schnei­ derin gearbeitet. Ihre Kleidung hat sie zum großen Teil selbst genäht und ist dafür immer bewundert worden. Sie liebte es, unter Men­ schen zu sein, hat Freude an schönen Blumen und an Musik. Sie hat eine gute Stimme, singt gern und hat viel Humor. Im Alter von achtzig Jahren wird bei Frau Klein eine Demenz vom Typ Alzheimer dia­ gnostiziert. Sie vergisst Namen, Verabredun­ gen, sucht ständig etwas. Sie verliert ihre Sicherheit, ist mit einfachen Situationen über­ fordert und gerät vermehrt in Stress. Sie ver­ steht sich selbst nicht mehr, zweifelt an sich, vermeidet bestimmte Situationen und Kon­ takte. Frau Klein setzt alles daran, nach außen normal zu wirken. Sie versucht sich zu kon­ zentrieren, strengt sich an, schreibt sich alles auf, versucht mit Humor ihre Scham zu ver­ bergen. Sie spürt, dass die Demenz ihr bisheri­ ges Leben vollkommen verändern wird. Tom Kitwood (2000) geht mit seinem personzen­ trierten Ansatz davon aus, dass sich die Bedürf­ nisse von Menschen mit und ohne Demenz nicht wesentlich voneinander unterscheiden. In An­ lehnung an Winnicott beschreibt er vier globale Kategorien, die für das Wohlbefinden, unabhän­ gig von kognitiven Fähigkeiten, bedeutsam sind: • Jeder Mensch bedarf der Anerkennung sei­ nes Wertes.

• Jeder Mensch möchte tätig sein. • Jeder Mensch möchte mit anderen in Kon­ takt treten können. • Jeder Mensch braucht Hoffnung und Ver­ trauen. Sprechen lassen Menschen mit Demenz können sich mit dem Fortschreiten des demenziellen Prozesses immer weniger selbst um die Erfüllung dieser Bedürf­ nisse kümmern, sie benötigen andere Menschen, die sie dabei unterstützen, diesen Bedürfnissen nachzukommen. Wie so oft im Leben gibt es da­ für kein Patentrezept. Zu Beginn der Demenz ist es für Frau Klein entlastend, wenn sie über ihre Situation spre­ chen kann und ihre Ängste und Wünsche aus­ drücken darf. Die Unterstützung in alltägli­ chen Dingen, wie das Regeln von finanziellen Angelegenheiten, die Begleitung bei Arztbesu­ chen oder das gemeinsame Einkaufen, lassen sie erleben, dass sie den Alltag relativ gut be­ wältigen und ihr Leben leben kann. Trotz der beginnenden Demenz ist Frau Klein durch­ aus in der Lage, mit ihren Kindern zu bespre­ chen, welche Optionen es gibt, wenn die De­ menz weiter fortschreitet. Das Erleben, trotz Demenzerkrankung als Per­ son gesehen, verstanden und geschätzt zu wer­ den, die Erfahrung, Dinge im Hier und Jetzt und für die Zukunft beeinflussen zu können, das alles nährt die Zuversicht, dem weiteren Verlauf der Erkrankung nicht »hoffnungslos« ausgeliefert zu

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 79–82, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

George Frederic Watts, The Sower of the Systems, um 1902 / akg-images

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D e r D u f t d e r H o f f n u n g    8 1

sein. Gleichwohl ist es so, dass die Demenz wei­ ter voranschreitet. Das Leben und Erleben von Frau Klein ver­ ändert sich: Immer mehr Verrichtungen des täglichen Lebens gelingen ihr nicht mehr. Sie beginnt mit etwas, kann es aber nicht zu Ende führen, erlebt Misserfolge und Frustrationen. Ihre Persönlichkeit verändert sich. Sie ist miss­ trauisch geworden, behauptet, dass ihr Geld oder Schmuck gestohlen wurde. Sie kann ihre Gefühle und spontanen Impulse immer weni­ ger kontrollieren. Sie ist schutzlos geworden, kann nicht sagen, was ihr schadet oder was ihr gut tun würde. Verstehen und wertschätzen Das alles klingt unheilvoll, jedoch bedeutet dies nicht, dass sich das Leben des betroffenen Men­ schen unweigerlich in ein von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung geprägtes Desaster verwandelt. Wenn es Menschen gibt, die es verstehen, das Le­ ben der betroffenen Person zu vereinfachen, un­ sinnige Konfrontation zu vermeiden und eine

wertschätzende Beziehung zu gestalten, dann können sich gemeinsame Momente der Zufrie­ denheit und des Glücks entfalten. Frau Klein lächelt, wenn sie ein Kompliment für ihre selbst genähte Kleidung bekommt und jemand sagt, dass sie schon immer für alle in der Familie die schönste Kleidung genäht hat. Sie bekommt gute Laune, wenn eine ihr be­ kannte Melodie angestimmt wird und sie mit­ singen, mitsummen oder mitpfeifen kann. Sie genießt es, wenn ihr die Hände eingecremt werden und wenn dabei das Gespräch auf ihren Urenkel kommt. Frau Klein versteht die Botschaft, dass an­ deren etwas an ihr liegt. Diese Botschaft hat eine unmittelbare Wirkung auf ihren Körper und auf ihr System für Selbstberuhigung und Zufriedenheit (Paul Gilbert 2011). Hoffnung ist in dieser Phase der Demenz weniger auf etwas Wünschenswertes, Zukünftiges ausge­ richtet, sondern speist sich aus der Qualität der Begegnung, die für die betroffene Person unmit­ telbar spürbar wird.

Menschen können in einer weit fortgeschrittenen Demenz unfreiwillig und abgrundtief einsam sein. Mehr noch als in jeder anderen Phase der Demenz braucht es den unumstößlichen Willen der Betreuenden, in Kontakt zu kommen.

Hoffnung – ein Drahtseilakt

8 2   B a r b a r a K l e e - R e i t e r

Fünf Jahre nach den ersten Symptomen ist die Demenz von Frau Klein weit fortgeschrit­ ten. Bindungspersonen wie Töchter und En­ kel kann sie nicht mehr erkennen, sie hat das Wissen über sich verloren. Auch ihre Sprache und das Verstehen von Sprache sind verloren gegangen. Frau Klein lebt jetzt in Augenbli­ cken. Impulse aus der Vergangenheit vermi­ schen sich mit der Gegenwart, sie lebt in einer nur für sie realen Welt. Manchmal ist sie ver­ zweifelt, will zu ihrer Mutter, kurz darauf sitzt sie in ihrem Sessel und genießt Schokoladen­ eis mit Eierlikör, singt zur Musik, sucht ihren Ehemann, weint, weil sie ihn nicht findet. Im nächsten Moment spricht sie zärtlich mit einer Puppe und entspannt sich. Fürsorge Menschen können in dieser Phase der Demenz unfreiwillig und abgrundtief einsam sein. Mehr noch als in jeder anderen Phase der Demenz braucht es den unumstößlichen Willen der Be­ treuenden, in Kontakt zu kommen. Auch wenn keine sichtbare Resonanz auf den Kontaktver­ such folgt, darf die betreuende Person nicht auf­ geben. Christian Müller-Hergl spricht in diesem Zusammenhang von der »stellvertretenden Hoff­ nung«. Gemeint ist das Wissen, dass das, was an Bindung, Fürsorge und Wärme zu Verfügung ge­ stellt wird, für die demenzerkrankte Person be­ deutsam ist und sie nährt, auch dann, wenn sie keine sichtbare Reaktion zeigt. Um zu erahnen, was für Frau Klein ein näh­ rendes Angebot sein kann, braucht es eine hohe Sensibilität und Fähigkeit, sich von den Signa­ len des Augenblicks leiten zu lassen. Jan Sonntag (2013) vergleicht diese Fähigkeit mit denen eines Chamäleons: Ein Chamäleon ist in der Lage, sich der Umgebung anpassen, ohne dabei seine eige­ ne Struktur aufzugeben.

Entschleunigung Mit Blick auf Frau Klein bedeutet dies, sich erst einmal zu ihr zu setzen und abzuwarten, welche Signale sie sendet. Dabei ist es wichtig, die eige­ nen Impulse zu beachten und eine Idee in sich wachsen zu lassen, was das »Richtige« in diesem Augenblick sein kann. Es geht darum, eine »arglose« Atmosphäre (Balint) für die betroffene Person zu ermögli­ chen, eine Atmosphäre, in der sie spüren kann, dass ihr aus der Umwelt nichts Schädliches droht. Dies minimiert den Stress und die Gefühle des Verlassenseins. Hoffnung ist in dieser Phase der Demenz also »feinstofflich«, atmosphärisch geworden: Sie ist hörbar, wenn über Frau Klein wertschätzend ge­ sprochen wird, sie wird in einer entschleunigten Begegnung sichtbar. Man kann sie riechen, wenn Frau Klein nach ihrem Parfum duftet, man kann Hoffnung sehen, wenn auf dem Tisch von Frau Klein ihre Lieblingsblumen stehen. Hoffnung hat eine ansteckende Wirkung. Wenn Sie noch nicht infiziert sind: Lassen Sie sich anstecken! Barbara Klee-Reiter ist Autorin, Berate­ rin und Dozentin zum Thema Demenz. Mit dem demenz balance-Modell© hat sie eine wirkungsvolle didaktische Me­ thode entwickelt.  E-Mail: [email protected] Website: www.perspektive-demenz.de

Literatur Gilbert, P. (2011). Wie wir Mitgefühl nutzen können, um Glück und Selbstakzeptanz zu entwickeln und es uns wohl sein lassen. Freiburg. Kitwood, T. (2000). Demenz. Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Bern, Göttingen. Müller-Hergl, C.: Demenz und Wohlbefinden. Unveröffent­ lichtes Manuskript. Sonntag, J. (2013). Demenz und Atmosphäre. Musiktherapie als ästhetische Arbeit. Frankfurt a. M. Anmerkung 1

Name geändert.

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Hoffnung als Wirkprinzip Petra Moser

»Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, die­ se drei; die Liebe aber ist die größte unter ihnen« (1. Brief des Paulus an die Korinther, 13). Die Hoffnung war nicht erst in der Heiligen Schrift im Bewusstsein der Menschheit, doch klingt die Hoffnung hier, als Flanke der Liebe wie auch des Glaubens, nicht illusionär, sondern nach einem tauglichem Pfeiler, auf das sich das Prinzip Leben stützt. Wenn Hoffnung in der Beglei­ tung Schwerkranker und Sterbender, Trauernder und Geflüchteter dem großen Ganzen dienlich sein kann, ist die Einbettung in Glaube und Liebe, wie es der alte biblische Hei­ lungsweg uns anbietet, sinnstiftend und hilfreich: Im Glauben ist die Nähe zur Transzendenz abgebildet, die Erinnerung an etwas Lebendi­ ges in uns, was über uns hinausweist und wir mit unserem wachen Be­ wusstseinsgeist aufnehmen können, etwas, was nicht von dieser Welt ist. In der Liebe ist die Hinwendung an ein Du, im Begegnungsraum wert­ schätzend bezogen zu sein, veran­ kert, was Boden schafft für das, was sich entwickeln will. Wenn wir es vermögen, die Be­ troffenen wirklich anzuschauen und da empathisch zu begleiten, wo sie im Moment der Begegnung stehen, kann Hoffnung auf Durchkommen wachsen und auch bei früh erleb­ tem Nicht-angeschaut- worden-Sein erstmals eine neue, korrigierende

Erfahrung gemacht werden. Da verändert sich der Blick nicht nur auf das momentane Leben, sondern in den Augen selbst wird etwas wach, was zuvor in der Begegnung nicht vorhanden war. Dieser Werdeprozess ist ganz individuell und erfordert von uns höchste Achtsamkeit, wenn sich fast unmerklich Häutungen und Wandlun­ gen in den von uns Begleiteten vollziehen, sie die altbekannten, harten Schalen der Abwehr Stück um Stück zurücklassen und sie sich uns verletz­

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 83–85, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

William Hole, Jesus ascends to Heaven, ca. 1890 / INTERFOTO / Mary Evans

Werdeprozess

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licher, aber auch sensibler für sich selbst und ihre Umgebung zeigen. Wir sind gefragt, diese zarten Hoffnungspflänzchen weder mit aller Macht wei­ ter ans Licht zu zerren, noch sie in zu viel Kon­ frontation mit Realität wieder niederzutrampeln. Wie schmal dieser Grat manchmal wirklich ist, im Auge zu behalten, wie diese individuelle Hoffnung konkret aussieht, sie jedoch nicht zu überzeich­ nen oder gleich zu verzwecken, ist vielen auf der Helferseite bewusst. Persönliche Passion als Weg Kostbare Hilfe bei der Begleitung dieser Prozes­ se ist mir dabei die Passionsgeschichte Jesu: Da ist Verrat und Auslieferung am Gründonnerstag. Die Nachricht eines tödlichen Unfalls eines An­ gehörigen oder die Mitteilung einer Krebsdiagno­ se kann sich wie ein Verrat der bisher als gnädig und schützend empfundenen höheren Macht an­ fühlen. Plötzlich ist alles anders, der Weg unbe­ kannt ‒ was mag noch weiter Unheilvolles kom­ men, wie kann oder wird das eigene Leben nach diesem Schlag weitergehen? Karfreitag-Stimmung bei unseren Klienten: ohnmächtiges Ausgeliefertsein, festgenagelt durch traumatisierende Ereignisse, ohne Aus­ sicht auf Rückkehr zur früheren Unversehrtheit, Vitalität und Selbstbestimmtheit. Die Gefühle von Gottverlassenheit und Hoffnungslosigkeit müs­ sen wir oft in der Begleitung dieser Menschen mit aushalten. Jesus durchlebte diese Gefühle am Kreuz und beugte sich dem Willen seines Vaters mit seinem Tod. Das Hadern mit dem Fügen in diese oft brutale Realität … und letztendlich ak­ zeptieren zu lernen, dass das Wunder nicht ge­ schieht, davon augenblicklich erlöst zu werden, es sei denn, sich zu fügen in den (Ego-)Tod. Wir kennen die Karsamstag-Phase ­unserer Klienten, an der eine resignativ anmutende Ruhe vorherrscht, die nach dem Drama eines Karfreitaggeschehens mit allen Erfahrungen auf der Flucht, in der Krebsbehandlung und ande­ ren Ereignissen mit unzähligen Momenten von

Ohnmacht, unheimlich und bedrohlich wirken kann. Da ist kein erlösendes Es-geschafft-Haben, sondern Mutlosigkeit nach einem neuen Ich-Tod, Aufgebenmüssen von Wünschen, die an Hoffnung gebunden waren, Ersterben einer leisen Hoffnung auf ein Wunder, wenn sich die einstige Energie vor dem Schicksalsschlag nicht mehr einstellt und anerkannt werden muss, dass der alte (Lebens-) Weg nicht wieder aufgenommen werden kann. Das Wunder hat sich am Karfreitag nicht er­ eignet, dass Jesus vom Kreuz gestiegen wäre. Alle Hoffnung seiner Anhänger war mit seinem Tod auf einen Schlag zunichte gemacht. Die Hoffnung auf Rettung war mit ihm so restlos gestorben, dass Ratlosigkeit, Aussichtslosigkeit und Zukunftsangst die zurückgebliebene Karsamstags-­Gemeinschaft prägte. Nichts ist geblieben vom Glanz des Gött­ lichen, des Heiligen und Wundersamen und, wie wir heute sagen würden, von dem, was ganzheit­ liche Heilung versprach. Die Heilige Schrift verlangt Aushalten, Durch­ halten, Durchleben ohne Aussicht auf irgendet­ was, denn am Karsamstag ist keine kleinste hoff­ nungsvolle Perspektive auf Wandlung. Ohne Karsamstag gibt es scheinbar kein Ostersonntag, sonst hätte er nicht so viel Raum in den Heiligen Schriften erhalten. Und was bedeutet schließlich Ostersonntag für unsere Arbeit? Es ist Maria von Magdala, die Be­ ziehung hält zu ihrem Jesus, über seinen Tod hi­ naus, und sich auf den Weg macht, die Grabes­ stätte nach Karsamstag aufzusuchen. Sie möchte die Hoffnung nicht aufgeben, ihn zu finden, wie­ derzusehen und etwas tun zu können am Grab. Als sie wahrnimmt, dass das Grab leer ist, und auch noch zwei Engel sie ansprechen, sie solle sich nicht fürchten und wen sie denn suche, stürzt sie hinaus, geschockt und fassungslos, aber nicht ohne Hoffnung, dass der Mann, der ihr dann be­ gegnet, den sie für den Gärtner hält, weiß, wohin Jesus umgebettet wurde. Auf ihre hoffnungsvolle Frage antwortet er ihr mit einem Wort: »Maria!«. In der Heiligen Schrift heißt es nur: »… und sie erkannte ihn und erschrak.«

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H o f f n u n g a l s W i r k p r i n z i p    8 5

© Norbert Spang

Liebe Leser/-innen, die Anrufung bei unserem Namen, erkannt zu werden als der oder die, die wir sind, ruft uns wach, ins Leben zurück. Unsere Wunden zeigen Er, der seine Wunden behalten hat nach seiner Wandlung, ermutigt uns, auf jene Wandlungs­ prozesse zu hoffen, die wir nicht machen können, sondern die sich in uns vollziehen wollen. Ganz wesentlich zu werden, auch im Immer-wenigerWerden, im Sterben, ist für uns Beobachter das unmerkliche Geheimnis, das uns anweht, wenn wir dafür sensibel sind und die Klienten in ihrer ganz eigenen Art sehen und ansprechen lernen, so auch jede/r Krebskranke, jede/r Geflüchtete, jede/r, die/der Verluste von nahen Angehörigen erleiden musste, sichtbare und auch unsichtbare Wunden aus der Krise mit sich trägt. Die Wunden nicht zu verstecken, aber auch nicht auf das Karfreitagsge­ schehen fixiert zu bleiben, nicht mehr zurückzu­ gehen, sondern im Zeigen der Verwundung doch auch eine neue Verletzlichkeit zu fühlen und sie nicht nur als Schwäche, sondern auch als sensible Qualität in die Begegnung mit anderen hineinzu­ nehmen, darin liegt das Neue: Die Erschütterung etwa durch eine schwere Erkrankung und ihre Be­ handlung löst eine unabdingbare Begegnung mit sich selbst aus, was den Menschen auf ganz frü­ he existentielle Überlebensstrategien zurückwirft. Darin gesehen und unterstützt zu werden, kann etwas in ihm zum Leben und Ausdruck bringen, was weder vorhersehbar ist, was es sein wird, noch in seinem Ausmaß berechenbar wird. Und doch dürfen wir hoffen, dass es im Gegen­ über aufbricht, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Hebammen des Werdeprozesses Es ist sicherlich eine unserer Kernaufgaben, dabei Geburtshelfer/-innen zu sein, und so können wir die Hoffnung auf Entfaltung manchmal gerade­ zu wachsen sehen, die anfangs mit Selbstzweifel und Unbeholfenheit überwuchert war.

Wir können der Hoffnung zum Glück auch etwas sehr Wandlungsfähiges zuschreiben. Sie passt sich den Umständen unmerklich an, ist eine eigenständige Energie, die mithilft, die Wegstre­ cke im Hier und Jetzt, die ganz individuell ab­ verlangt wird, zu gehen. Das macht sie als Wirk­ prinzip so wertvoll. Wenn es uns gelingt, Hoffnung in diesem Sin­ ne in uns selbst für den Glauben an derartige Wandlungsprozesse zu halten und durch unsere Präsenz unmittelbar anzubieten, kann im Gegen­ über Vertrauen in das, was kommen wird, still wachsen, dann können auch neue Ziele von Hoff­ nung entstehen, die möglicherweise auf diese Art für das Gegenüber noch nie erfahrbar waren, so­ dass Hoffnung als Wirkprinzip ganz real Leben erhält und persönliche Wandlungsprozesse erst möglich macht. Wir dürfen also darauf vertrauen, dass Hoff­ nung, eingebettet in die Dimension der Liebe und in ein geöffnetes Bewusstsein für etwas, das über uns hinausweist, nicht zum hohlen Versprechen wird, sondern als Keim alle Entfaltungsmöglich­ keiten eines Werdeprozesses in sich trägt, und sei es im Sterben selbst. Dr. Petra Moser ist Ärztliche Psychothe­ rapeutin in eigener Praxis in Ravensburg mit Zusatzausbildung in Psychotrauma­ therapie (DeGPT). Sie ist EMDR-Super­ visorin des EMDR-Institut Deutschland Dr. Arne Hofmann und Mitglied der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Psy­ chosoziale Onkologie (dapo). E-Mail: [email protected]

Hoffnung – ein Drahtseilakt

AUS DER FORSCHUNG

Welche Rolle spielt das Thema Hoffnung bei der Verlustbewältigung? Eine Studie aus Hongkong

Heidi Müller und Hildegard Willmann Chow, Amy Y. M. (2010): The role of hope in bereavement for Chinese people in Hong Kong. in: Death Studies, Vol. 34, Nr. 4, S. 330–350.

© Marina Hofmann

Es gibt Menschen, die blicken auch in schwieri­ gen Lebenssituationen hoffnungsfroh in die Zu­ kunft. Bisher hat sich die Wissenschaft allerdings eher mit dem Thema Hoffnungslosigkeit befasst.

Doch Hoffnung zu haben, bringt viele positive Ef­ fekte mit sich (zum Beispiel Steigerung der Leis­ tungsfähigkeit). Hoffnungsfrohe Menschen kön­ nen je nach Situation für sich realistische Ziele entwickeln. Sie sind bereit, alte Strategien anzu­ wenden oder neue auszuprobieren, um ihre Zie­ le zu verwirklichen. Auf diese Weise können sie sich leichter an neue Lebenssituationen anpassen. Wenn eine nahestehende Bezugsperson stirbt, verändert das oft die gesamte Lebensplanung. Ge­ plante Ziele werden hinfällig, die gemeinsame Zukunft geht verloren. Für einige Betroffene ist es deshalb gar nicht so einfach, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Das geht auch Menschen in China so. Dort haben kollektive Ziele einen hö­ heren Stellenwert als persönliche. »Wenn meine Familie glücklich ist, bin ich es auch. Mein Ziel im Leben ist es, sie glücklich zu machen«, lautet eine oft gemachte Aussage. Mit dem Tod eines Fami­ lienmitgliedes stirbt für sie nicht nur der Mensch, sondern auch eine zentrale Lebensaufgabe. Sie reagieren oft hoffnungslos, wenn sie an ihre Zu­ kunft denken. Können sie allerdings neue Ziele für ihr Leben entwickeln, scheint es die Verlust­ verarbeitung zu erleichtern. Amy Chow, eine Wis­ senschaftlerin der Universität Hongkong, hat die­ se Beobachtungen genauer untersucht. Sie wollte wissen, inwieweit der Grad an Hoffnung die Ver­ lustverarbeitung beeinflusst. Die Studie An dieser Studie nahmen 436 Personen chinesi­ scher Abstammung aus Hongkong teil. Es waren

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 86–87, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

A u s d e r Fo r s c h u n g    8 7

überwiegend Frauen im Alter zwischen 25 und 54 Jahren. Sie gehörten drei unterschiedlichen Gruppen an. Die erste Gruppe bestand aus Perso­ nen, die den Verlust eines Angehörigen erlebt hat­ ten und bei der Trauerverarbeitung von Fachkräf­ ten unterstützt wurden (Clinical Bereaved). Die Teilnehmer der zweiten Gruppe hatten auch einen Angehörigen verloren, sie befanden sich aber nicht in einer trauerspezifischen Beratung. Die dritte Gruppe hatte keinen Verlust erlitten und diente als Kontrollgruppe. Die Mehrheit der Teil­ nehmer hatte den Partner verloren. Oft war die Todesursache eine Krebserkrankung, aber auch von plötzlichen Todesursachen wurde berichtet. Alle Teilnehmer wurden gebeten, drei Fragebö­ gen auszufüllen (allgemeiner Frage­bogen, The Hospital Anxiety and Depression Scale ‒ HADS, The Hope Scale). Die daraus gewonnenen Daten wurden deskriptiv ausgewertet. Resultate Insgesamt zeigt die Auswertung: Je mehr Hoff­ nung ein Mensch hat, desto geringer ist das Maß an Angst und Depression, das er empfindet. Die Personen der Clinical-Bereaved-Gruppe zeigten am wenigsten Hoffnung und waren am stärksten belastet. Am hoffnungsfrohsten waren die Teil­ nehmer der Kontrollgruppe. Das heißt, im Um­ gang mit trauernden Personen ist es wichtig, ihre Hoffnung zu stärken, indem man sie motiviert, neue realistische Lebensziele ins Auge zu fassen, und darüber spricht, wie diese Ziele erreicht wer­ den können. Da es schon zahlreiche Ansätze gibt, wie das Thema Hoffnung für die therapeutische Arbeit fruchtbar gemacht werden kann, ist ein Transfer in den Trauerbereich unkompliziert. Weiterhin zeigt sich in der Auswertung, dass mit dem Grad an Hoffnung die Höhe der Belas­ tung bestimmt werden kann. Somit scheint der Fragebogen zum Thema Hoffnung ein geeigne­ tes Instrument für die Diagnostik zu sein. Zumal dessen Aussagen positiver formuliert sind (zum Beispiel »Ich bin mir sicher, ich finde einen Weg

heraus aus der Situation«). Das regt bei den Klien­ ten eher neue Gedanken an, als es bei Fragebögen zum Thema Trauerverarbeitung beziehungsweise Depression der Fall ist, weil dort überwiegend ne­ gative Zustandsbeschreibungen abgefragt werden. Chow weist abschließend darauf hin, dass the­ rapeutische oder beratende Gespräche Situatio­ nen sind, in denen sich beide Gesprächspartner wechselseitig beeinflussen. Trifft ein Klient auf eine Fachkraft, die selbst Schwierigkeiten damit hat, Zukunftspläne zu entwickeln und umzuset­ zen, dann wird sie den Klienten auch kaum gut anleiten können, neue Perspektiven zu suchen und Strategien zur Umsetzung zu entwickeln. So sehen viele Fachkräfte kaum Hoffnung für ihre eigene Verlustsituation und vermeiden den Um­ gang damit. Dadurch geben sie aber auch diese einseitige Umgangsweise weiter, denn sie haben nicht erlernt, auf welchen Wegen sie neue Ziele finden und ansteuern können. Das Thema Hoffnung ist also nicht nur für Be­ troffene von hoher Bedeutung, sondern auch für die Weiterbildung und Supervision von Fach­ kräften, wenn sie den Klienten hilfreich zur ­Seite s­ tehen möchten. Möchten Sie mehr zu diesem oder ande­ ren Themen aus der Trauerforschung er­ fahren? Melden Sie sich gern beim kos­ tenlosen Newsletter »Trauerforschung im Fokus« unter www.trauerforschung.de an oder schreiben Sie uns einfach eine Mail.

Heidi Müller, Diplom-Politologin, He­ rausgeberin des Newsletters »Trauerfor­ schung im Fokus«. E-Mail: h  eidi.mueller@trauer­forschung.de Hildegard Willmann, Diplom-Psycho­ login, Herausgeberin des Newsletters »Trauerforschung im Fokus«. E-Mail: [email protected]

Hoffnung – ein Drahtseilakt

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FORTBILDUNG

Ein Recht auf Hoffnung?! Der Hoffnung verpflichtet und doch offen …

Ingeborg Dorn Vorbemerkungen Schwerpunkte dieser Fortbildung sind Einzel-, Gruppenarbeit und Reflexion, nicht so sehr Wis­ sensvermittlung. Sie ist für »Fachkräfte«, deren Wissen nach außen kommen soll. Sie werden sich gegenseitig bereichern. Auch wenn ich Theologin bin, ist diese Fortbildungseinheit kein christlicher Hoffnungskurs, sondern das Angebot, sich seinen eigenen Hoffnungssätzen zu nähern beziehungs­ weise bewusst zu werden und das eigene Handeln zu reflektieren. Zielgruppe Fachkräfte in Palliative Care und Hospiz unter­ schiedlicher Berufsgruppen. Alle bringen Er­ fahrungen, Prägungen und ihre Sichtweise zum Themenkomplex mit. Gruppengröße: 15 bis 20 Teilnehmer/-innen.

Literaturhinweise Abt-Zegelin, A. (2009). Positives Denken. Hoffnung – Ener­ giequelle in schwierigen Zeiten. In: Die Schwester, Der Pfleger, 3. http://patientenedukation.de/sites/default/files/ downloads/Zegelin_Hoffnung.pdf Bausewein, C.; Roller, S.; Voltz, R. (2010). Leitfaden Pallia­ tive Care, Palliativmedizin und Hospizbetreuung. 4.  Auf­ lage (S. 99, 113). München. Geiser, F. (2015). Ärztliches Handeln in der Psychoonko­ logie: Zur Vermittlung von Hoffnung. In: ­Ärztliche Psy­ chotherapie, 3. https://www.schattauer.de/index.php?id= 5236&mid=24579 Ludewig, Chr. (2008). Pflege und Spiritualität (S. 59–65). Gütersloh. Maio, G. (Hrsg.) (2016). Die Kunst des Hoffens. Freiburg. Reddemann, L. (2015). Hoffnung und Mitgefühl. In: Schop­ perth, T.; Rogge, A.; Hirth, R.; Werner, A.; Malinka, S. (Hrsg.), Psychoonkologie  – Dimensionen der Hoffnung (S. 14–30). Lenegrich. Renz, M. (2003). Grenzerfahrung Gott  – spirituelle Erfah­ rungen in Leid und Krankheit (S. 49–65). Freiburg. Rizza, K. (2016). Pflege der Hoffnung. In: Zeitschrift für Pal­ liativmedizin, 2, S. 72–75. Schaffer, U. (1988). Grundrechte  – ein Manifest (S. 32–33). Stuttgart. Was ist Hoffnung? Ein Überblick über Definitionen, Zitate und Sprichwörter. https://weiterdenken.ch/2010/08/25/ was-ist-hoffnung-ein-uberblick-uber-definitionen/

Ziel Zugang, Auseinandersetzung, Reflexion und Um­ gang mit der Thematik Hoffnung. Raumgröße Sie sollte ausreichend sein, damit Kleingruppen und eine Schreibdiskussion (an Tischen oder an Wänden) möglich sind. Die Gruppenzusammen­ setzung sollte immer mal variieren, damit mög­ lichst viele Standpunkte sichtbar werden. Zur Vorbereitung sollte die Leitung einiges über Hoffnung gelesen haben wie beispielsweise die im Folgenden genannte Literatur.

Arbeitsmaterialien Text von Ulrich Schaffer Du hast das Recht, zu hoffen, wahnsinnig und grenzenlos zu hoffen gegen die Verrücktheit der Aufrüstung und Ausbeutung. Du hast das Recht, die Veränderung schon jetzt zu sehen, sie in dir zu tragen und sie mit der Stärke der Liebe herbeizuhoffen gegen Folter und den Vernichtungswahn derer, die das Leben verachten, gegen die armselig Mächtigen.

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 88–93, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

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Du hast das Recht, maßlos zu hoffen auf Wasser, wo nichts als Trockenheit ist, auf Leben, wo der Tod alles in der Hand zu haben scheint. Vielleicht ist manchmal der Glaube deiner Hoffnung das Einzige, was du noch in die Waagschale werfen kannst. Du hast das Recht, zu hoffen gegen alle Umfragen, gegen jede allwissende Hochrechnung, gegen die schlauen Statistiken, gegen die Pessimisten, Optimisten und Realisten. Du hast das Recht, außer dir zu sein mit Hoffnung, nicht als Flucht, aber als Durchblick, nicht als Erfahrung, sondern als Vision. Du hast das Recht, zu hoffen gerade dann, wenn alle meinen, es gäbe nichts mehr zu hoffen. Dann zählt deine Hoffnung doppelt und tausendfach. Vielleicht bist du einer der zwölf, die mit ihrer Hoffnung die ganze Welt erhalten.

Ulrike Rastin

Segensbeispiel Ich wünsche dir, dass du mutig weitergehst, wenn der Gipfel, den es zu ersteigen gilt, schier unerreichbar scheint, ja selbst wenn das Licht der Hoffnung zu entschwinden droht. (Altirischer ­Segenswunsch)

Hoffnung – ein Drahtseilakt

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Plan der Fortbildungseinheit Zeitplanung

Lernziel

Inhalt

UE 1+2 5 Min.

TN sollen neugierig werden auf das, was folgt

Vorstellung dessen, was in den nächsten 2 UE ­geschehen soll

15 Min.

TN lernen einander kennen

TN stellen sich vor

15 Min.

Erster Zugang zum Thema

Hoffnungssätze

15 Min.

TN setzen sich mit eigener Hoffnung auseinander, finden ihre Assoziatio­ nen zu Hoffnung

Hoffnungsassoziationen des Einzelnen, sich den eigenen Hoffnungsgedanken nähern

2–3 Min.

Bewegung in den Körper bringen

Aktivierung

45 Min.

TN diskutieren, stellen ihre Fragen, ­beziehen Stellung

Hoffnung ist für mich … Hoffnung worauf … Hoffentlich Allianz versichert … Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod …

Pause UE 3+4 15 Min.

TN strukturieren die Inhalte

bündeln die Aussagen, Fragen, damit sie in der Gesamtgruppe vorgestellt werden können

50 Min.

TN setzen sich mit den einzelnen ­Aussagen auseinander

Ergebnisvorstellung Ergänzungen aus der Gruppe (neue Ideen) ­können noch einfließen

25 Min.

TN sind sensibilisiert für verschiede­ ne Sichtweisen von Hoffnung und re­ flektieren ihre Haltung

Václav Havel: »Hoffnung ist eben nicht Opti­ mismus, ist nicht Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass ­etwas Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht.«

UE = Unterrichtseinheit; TN = Teilnehmer/-innen

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Methode

benötigtes Material

Anmerkungen/Anweisungen

Vortrag

Name, Profession, Institution, was sie am Thema Hoffnung interessiert Einzelarbeit und ­2er-Gruppe

Auswahl an »Hoffnungsätzen« (­mindestens 5 mehr als TN)

Sätze liegen in der Mitte, jede/r wählt sich einen, denkt darüber nach (5 Min.) und spricht mit der Person zur Linken darüber (10 Min.). Sätze zum Thema Hoffnung sind im Internet zu finden, ausdrucken und als Einzel­sätze auslegen.

Einzelarbeit

Arbeitsblatt HOFFNUNG

TN schreiben hinter jeden Buchstaben eine Assoziation zum Thema Hoffnung (Buchstaben sind senkrecht untereinan­ der geschrieben, sodass eigene ­Begriffe zum Buchstaben geschrieben werden können).

Körperübung



Den Körper spüren, z. B. Atomespiel

»Stumme Diskus­ sion«

4 Wände/Tische mit großem Papier und jeweils einem Satz zum Thema Hoffnung, jeder TN hat einen Stift

Jeder kann überall etwas hinschreiben, ­fragen, kommentieren. Es wird nicht gesprochen. Die Sätze bzw. Fragmente sind meine Vorschläge; es können auch andere sein.

Gruppenarbeit 4 Gruppen

Aufgabenblatt Flipchartbögen und Stifte

TN wählen sich »ihr« Plakat aus (vorhe­ rige UE, Gruppengröße in etwa gleich) Aufgabe: Ordnen und bündeln Sie die Aussagen der »Stummen Diskussion«. Stellen Sie das Ergebnis der Gesamt­ gruppe vor.

Vortrag Plenumgespräch

Ergebnisse der Kleingruppen

Einzelarbeit (5 Min.) Dann 2er-Gruppen (20 Min.)

Arbeitsblatt mit Zitat und Frage­ stellung Papier und Stifte

Fragestellung: Wie verstehen Sie diesen Satz, was bedeu­ tet diese Erkenntnis für Ihr privates und berufliches Handeln?

Hoffnung – ein Drahtseilakt

9 2   Fo r t b i l d u n g

Zeitplanung

Lernziel

Inhalt

Mittagspause UE 5 3 Min.

TN kommen an

Aktivierungsübung

45–60 Min.

TN setzen sich mit dem »Recht auf Hoffnung« auseinander

Text »Du hast das Recht zu hoffen« von Ulrich Schaffer

Pause UE 6+7 60 Min.

TN machen sich ihre Strategien be­ wusst und reflektieren ihre Haltung im Umgang mit Hoffnung und Hoff­ nungslosigkeit

Den Patienten/Bewohner ins Blickfeld ­nehmen. Erfahrungsaustausch über den Um­ gang mit Hoffnung und Hoffnung wider den Schein im Berufsalltag

35 Min.

TN können Bedeutung für ihren Arbeitsalltag reflektieren

Ergebnisvorstellung, Rückfragen und ggfs. ­Ergänzung durch die Leitung. Rollenspiel als Umsetzung

Pause

max. 10 Min. UE 8

10 Min.

TN wissen um unterschiedliche Hoff­ nungshorizonte und erkennen, dass ihre persönliche Auseinandersetzung nicht beendet ist

Ein Hoffnungshorizont kann sich im Krank­ heitsverlauf verändern. Aus »Ich werde wie­ der gesund« über »Hoffnung auf Schmerz­ linderung« bis zur »Hoffnung auf ein baldiges Ende«.

10 Min.

TN wissen um Informationsquellen

Vorstellung von Literatur, Empfehlungen zur Weiterarbeit

20 Min.

TN reflektieren den Tag

Feedback

5 Min.

Verabschiedung

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Methode

benötigtes Material

Anmerkungen/Anweisungen

Körperübung



Z. B. den Körper »abklopfen« und so die ­Durchblutung fördern

Gruppenarbeit 4 Personen

Arbeitsblatt mit Text und Aufgaben­ stellung

Aufgabenstellung: Was finde ich gut – warum? Was ärgert mich – warum? Gibt es ein Recht auf Hoffnung?

Gruppenarbeit 4 Personen

Aufgabenblatt Flipchartbögen, Stifte

Aufgaben: Was fördert Hoffnung bei einem Patienten/Bewohner? Wie fördern Sie diese? Wie dämpfen Sie Hoffnung? Was verhindert Hoffnung? Was vermitteln Sie über Sprache, Gestik und Mimik? (Notizen machen.) Ergebnisvorstellung in einem Rollenspiel

Rollenspiel und Plenumgespräch

Ergebnisbögen aus den Gruppen

Evtl. hier UE verlängern oder nach einer Pause mit den Ergebnisvorstellungen fortfahren.

Plenumgespräch

Flipchartbogen

Falls die Gruppe noch Zeit und ­ Kapazität hat. Hier ist die Leitung als Impulsgeber ­gefragt.

Vortrag

Segenstext

Ingeborg Dorn, MSc. Palliative Care, ist Krankenhausseelsorgerin am Agaplesi­ on Bethanien Krankenheus Heidelberg und Trainerin in Palliative Care. E-Mail: [email protected]

Hoffnung – ein Drahtseilakt

Anhaltende Diskussionen um die Diagnose »anhaltende Trauerstörung« Chris Paul Komplizierte Trauer/verlängerte Trauerstörung/ anhaltende Trauerstörung ist die Benennung für Trauerprozesse, die durch einige wenige Symp­ tome auffallen. Der Anstoß für diese »Kategorie« kommt aus der internationalen Trauerforschung, wo seit ca. 15 Jahren daran gearbeitet wird, be­ stimmte Formen von Trauer in die internationa­ len Klassifizierungen von psychischen Störun­ gen aufzunehmen. Die Definition dieses Komplexes hat sich ebenso verändert wie die Benennung. Ich habe zum ersten Mal 2006 in London einen Vortrag über die damals noch so genannte »Komplizierte Trauer« (complicated grief) gehört. Damals war als weiteres entscheidendes Kriterium für die­ se mögliche Diagnose eine frühe Bindungsstö­ rung genannt. Wer als sicher gebundenes Kind von zuverlässigen Erwachsenen lernen konnte, dass Geborgenheit, Zuwendung, Abschied und Rückkehr feste Konstanten eines Lebens sind, hat diese Ideen verinnerlicht und vertrauen ge­ lernt. Wer in sogenannten unsicheren Bindun­ gen groß geworden ist, fällt bei jeder Trennung in einen innerlichen Abgrund. (Nur die Ansätze von R. ­Neimeyer greifen das in ihren Interven­ tionsvorschlägen wieder auf.) Das Zeitkriterium war damals der Zeitraum von mindestens 13 bis 14 Monaten nach dem Verlustereignis. Das ergibt aus meiner Sicht Sinn, da es das gesamte erste

Trauerjahr bis deutlich über den ersten Todestag hinaus als »normal« deklariert. DSM und ICD Es existieren zwei große Klassifizierungssysteme für psychische Störungen – der DSM wird in den USA erarbeitet und dort angewendet, in Deutsch­ land wird vorwiegend nach dem zweiten Klassi­ fizierungssystem, dem ICD, gearbeitet, den die WHO herausgibt. In beiden Systemen gab es bis 2013 keine Möglichkeit, Trauerprozesse mit einer abrechenbaren Diagnose zu bezeichnen. In der 5. Auflage des DSM 2013 ist der soge­ nannte »Trauervorbehalt« auf zwei Wochen ver­ kürzt worden. Das heißt, dass nach dem DSM eine Diagnose auf Depressionen nun schon zwei Wochen nach einem Verlust gestellt werden kann (der Zeitraum, in dem keine Depressionsdiagno­ se gestellt werden durfte, war bis dahin einige Monate lang). Für Deutschland macht das de facto keinen Unterschied, da die Krankschrei­ bungen und Psychotherapieanträge nach ICD hier ohnehin mit Anpassungsstörung oder De­ pression begründet wurden. Das heißt, die Tau­ sende von Trauernden, die in den letzten Jah­ ren psychotherapeutische Hilfe in Anspruch genommen haben und in psychosomatischen Kuren waren, haben dies mit folgenden Diagno­

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 94–101, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

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sen getan: Anpassungsstörung und Depression (Kachler 2010). Mai 2018 – ICD 11 Im Mai 2018 wird die 11. Auflage des für Deutsch­ land maßgeblichen Klassifizierungssystems ICD erscheinen  – nachdem diese Aktualisierung mehrfach verschoben wurde. Vieles wird neu ge­ ordnet und benannt. Dazu gehört, dass die seit 15 Jahren vorgeschlagene und diskutierte Dia­ gnose für bestimmte Trauerprozesse sehr wahr­ scheinlich darin enthalten sein wird. Diese Form von Trauerprozessen wurde zunächst complicated grief (komplizierte oder komplexe Trauer) oder traumatic grief genannt und wird aktuell als prolonged grief disorder (anhaltende Trauerstörung) bezeichnet. Anhaltende Trauerstörung Folgende Kriterien kennzeichnen eine anhalten­ de Trauerstörung (Rosner u. a. 2015): Länger als sechs Monate nach dem Verlust anhaltendes und den Alltag behinderndes • schweres und anhaltendes Verlangen/Sehn­ sucht nach der verstorbenen Person • gedankliches Verhaftetsein mit der verstor­ benen Person • plus: Verbitterung über den Verlust • plus: Schwierigkeiten, den Verlust zu akzep­ tieren • plus: beeinträchtigtes Identitätsgefühl oder Selbstkonzept (zum Beispiel: »Ein Teil von mir ist gestorben.«) • plus: Vermeidung von Erinnerungsanlässen

• plus: Medikamente und Psychotherapien zur Behandlung von Depressionen helfen nicht • plus: Therapien speziell zur Behandlung der anhaltenden Trauerstörung helfen Bisher vorgeschlagene Therapieformen (Auswahl) • Kognitive Verhaltenstherapie: Bearbeitung von dysfunktionalen Gedanken und Exposi­ tion mit besonders belastenden oder vermie­ denen Momenten, etwa die Sterbesituation (Rosner u. a. 2015). • Kurze Online-Schreib-Therapie (nach Wag­ ner): Schreibaufgaben und Rituale • Konstruktivistische Erinnerungsarbeit nach Neimeyer (2011) Mögliche Vorteile der Diagnose »anhaltende Trauer­ störung« • Besonders schwere Trauerprozesse werden endlich als Trauer wahrgenommen in klarer Abgrenzung von Depressionen, Angststö­ rungen und Traumafolgestörungen. • Spezialisierte Behandlungskonzepte für die­ se Trauerprozesse müssen entwickelt und angewandt werden, statt Behandlungen gegen Depressionen und Traumafolgestö­ rungen auf Trauernde anzuwenden. • Trauertherapie wird abrechenbar (für ­Ärzte, Psychotherapeuten, Kliniken, in einge­ schränktem Maß für psychotherapeuti­ sche Heilpraktiker, gegebenenfalls auch für andere). Mögliche Nachteile der Diagnose »anhaltende Trauer­störung« • Mögliche Stigmatisierung aller Trauernden

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und vor allem der Trauernden mit diesen Symptomen. • Die Zeitangabe (ab sechs Monate) ist aus Sicht verschiedener Fachleute falsch. In den früheren Vorschlägen betrug sie eher 13 bis 14 Monate, ein Zeitraum, der über die Jah­ restagsreaktion hinausgeht! • Die (nicht nur aus meiner Sicht) zentrale Be­ deutung der frühen Bindungsstörung fehlt. • Für die Trauerbegleitung von Ehrenamtli­ chen und auf Beratungsniveau öffnet sich nach wie vor keine öffentliche Finanzierungs­ möglichkeit. Meine Vermutung Die Diagnose wird unabhängig von der Zustim­ mung oder Ablehnung des BVT in den ICD-11 aufgenommen werden. Es ist wahrscheinlich, dass sich daran die Geister scheiden werden – die einen werden sie komplett ablehnen, die an­ deren werden damit arbeiten, als gäbe es keine Zweifel.

• Bei unserer Fachkompetenz bleiben und Trauerprozesse weiter ganzheitlich betrachten und differenziert einschätzen, zum Beispiel mit den zusätzlichen Begriffen erschwerte/ nicht erschwerte, traumatische Trauer (BVT). • Aufbaumodule zur Begleitung/Therapie von anhaltender Trauer entwickeln und anbieten. • Verhandlungen mit Krankenkassen zur Kos­ tenübernahme der Therapie/Behandlung einer »anhaltenden Trauerstörung« durch qualifizierte Trauerbegleiter/-innen führen – eine Arbeitsgruppe des BVT hat sich am 26.4.2016 gebildet und wird daran arbeiten. • In der Öffentlichkeit differenziert argumen­ tieren: Trauer ist an sich normal und gesund, manche Trauerprozesse (10 bis 20 Prozent) brauchen aber fachliche Unterstützung. Der Missstand, dass diese Trauernden manchmal irrtümlich und dadurch erfolglos mit Anti­ depressiva und Traumatherapien behandelt wurden, wird mit der neuen Diagnose hof­ fentlich bald behoben. Literatur

Meine Anregungen für BVT-Mitglieder • Ruhig bleiben und die Vorteile suchen. • Unsere Fachkompetenz als Trauerbegleiten­ de einbringen und das Zeitkriterium hinter­ fragen: Es in unserer Arbeit nicht bei sechs Monaten setzen, sondern bei 14 oder mehr Monaten (Wittkowski und Scheuchenpflug 2015). • Unsere Fachkompetenz einbringen und den Blick auf biografische Erlebnisse der unsi­ cheren Bindung lenken. Gegebenenfalls den Fokus der Unterstützung auf die konstrukti­ vistische Erinnerungs- und Bindungsarbeit legen (nach Neimeyer).

Kachler, R. (2010). Hypnosystemische Trauerbegleitung. Ein Leitfaden für die Praxis. Heidelberg. Neimeyer, R. (2011). Eine Umarmung des Himmels. In: Paul,  C. (Hrsg.), Neue Wege in der Trauer- und Sterbe­ begleitung. Hintergründe und Erfahrungsberichte für die Praxis (S. 111–122). Gütersloh. Paul, C. (2011). Trauerprozesse benennen. In: Paul, C. (Hrsg.), Neue Wege in der Trauer- und Sterbebegleitung. Hinter­ gründe und Erfahrungsberichte für die Praxis (S. 69–84). Gütersloh. Paul, C. (2015). Dokumentationssystem für Trauerbeglei­ tungen. TrauerInstitut 2015. Rosner, R.; Pfoh, G.; Rojas, R.; Brandstätter, M.; Rossi, R.; Lumbeck, G.; Kotoucova, M.; Hagl, M.; Geissner, E. (2015). Anhaltende Trauerstörung. Göttingen, Bern u. a. Wagner, B. (2013). Komplizierte Trauer. Grundlagen, Dia­ gnostik und Therapie. Berlin/Heidelberg. Wittkowski, J.; Scheuchenpflug, R. (2015). Zum Verlauf »nor­ malen« Trauerns: Verlusterleben in Abhängigkeit von sei­ ner Dauer. In: Zeitschrift für Gesundheitspsychologie, 23, S. 169–176.

L E I D FA D E N   – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R   H e f t  1  /  2 0 1 7

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Znoj, H. (2012). Trauer und Wissenschaft, Trauer und For­ schung. In: E. Schärer-Santschi (Hrsg.), Trauern. Trau­ ernde Menschen in Palliative Care und Pflege begleiten (S. 38–74). Bern.

Znoj, H. (2015). Komplizierte Trauer. 2., überarbeitete Auf­ lage. Göttingen.

Vorschlag des BVT durch seine Arbeitsgruppe 2010 Stand 2016

Bis 13 Monate nach ­Todeszeitpunkt

Laut ICD 13 Monate ab Todeszeitpunkt, laut BVT 14 Monate

Begleitung oder Therapie

Nicht erschwerte Trauer (BVT)

Viele Ressourcen

dto.

Mitmenschliches Dabei­ sein als Freund/Angehöriger/ Nachbar etc.

Wenige Risikofaktoren Wenige Symptome

Erschwerte Trauer (BVT)

Wenige Ressourcen

Geschulte ehrenamtliche ­Begleitung, Trauercafé dto.

Fachliche Begleitung auf ­Beratungsniveau

Viele Risikofaktoren

Basisqualifizierung (BVT)

Viele Symptome Anhaltende Trauer­ störung (BVT, ICD)

Symptome:

Fachliche Begleitung auf ­Beratungsniveau

Anhaltende Verzweiflung Nicht nachlassender Schmerz und Sehnsucht

Basisqualifizierung (BVT) Psychotherapie

Tod bleibt unwirklich Andauernder Rückzug Symptome einer PTBS:

Traumatische Trauer

Fachliche Begleitung auf ­Beratungsniveau

Intrusionen/Flashbacks

(BVT)

Basisqualifizierung (BVT)

Überflutung/Dissoziation

Traumatherapie

Übererregtheit Vermeidungsverhalten Wiederholungsverhalten Chris Paul, Trauerprozesse benennen, 2011; Diagramm und Aktualisierung: Chris Paul 2016

Chris Paul ist Trauerbegleiterin, Fachbuchautorin sowie Referen­ tin u. a. in Palliative-Care-Kursen, an der Mil­dred-Scheel-Akademie in Köln, bei der Malteser-Akademie in Bonn sowie an der Kardi­ nal-König-Akademie in Wien. Sie arbeitet in ihrer eigenen Bonner Praxis für Trauerbegleitung, ist Gründungsmitglied des Bundesver­ band Trauerbegleitung e. V. (BVT) und leitet seit 2002 das Trauer­ Institut Deutschland. E-Mail: [email protected] Website: www.trauerinstitut.de

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NACHRICHTEN

Die Hoffnung ist am Zug Julian Pöschl Vor einem Jahr führte die tiefe, aktiv gelebte Über­ zeugung einiger, dass wir den erschütternden Ge­ schehnissen um uns nicht länger zusehen können oder gar wollen und dass wir gemeinsam tatsäch­ lich die Kraft haben, etwas zu verändern, zu einer europaweiten Bewegung. Damals, als Politik und Gesellschaft zu erstarren drohten, entstand aus einem Schachzug der Hoffnung überwältigen­ de Hilfe in der Zivilbevölkerung. Initiativen wie Train of Hope stehen dabei bis heute stellvertre­ tend und aktiv für diese Hoffnung. Aus einer Kiste Wasser, einer Handvoll Men­ schen am Hauptbahnhof in Wien und einem #-Hashtag  – dem Versuch, Geschehnisse digi­ tal zu ordnen und miteinander zu verknüpfen – bildete sich eine Organisation, die Ordnung in die Situation brachte und Menschen unterschied­ lichster Meinungen und Herkunft vereinte. Bin­ nen weniger Tage wurden flexible, aber standhaf­ te Strukturen auf die Beine gestellt. Soziale Hilfe wurde demokratisiert und über vier Monate lang sichergestellt. #trainofhope stand dabei nicht schlicht für das Fortbewegungsmittel des letzten Abschnitts einer langen und kräftezehrenden Reise, sondern auch für den Antrieb, der sie die Strapazen auf ihrem Weg überstehen ließ: die Hoffnung auf Sicherheit und ein menschenwürdiges Leben. Seither hat sich viel verändert. Europa hat alte Grenzen gefestigt und neue gesetzt und die Hil­ fe ist scheinbar unscheinbarer geworden, alltäg­ licher. So tritt sie heute kaum noch öffentlich in Erscheinung – oft auch, weil sie von Stimmungs­ mache überschattet wird. Während Boulevard und Politik mehr und mehr »Maßnahmen« fordern und sich zunehmend darin verbeißen, diese auf immer unappetitlichere W ­ eise

öffentlich auszudiskutieren, bis auch das letzte biss­ chen Menschlichkeit missachtet auf der Strecke bleibt und durch sogenannte »Vernunft« ersetzt wurde, zeigen Menschen aus dem ganzen Land unermüdlich Zusammenhalt und wehren sich da­ gegen, dass Mitmenschen, die mittlerweile für vie­ le Freund*innen und Partner*innen sind, nachts um 3 Uhr abrupt und begleitet von gleißendem Blaulicht erneut aus ihrem Leben gerissen werden.

Wir halten an der Hoffnung fest, dass wir zu einem Miteinander finden können, in dem wir gegenseitige Hilfe als Bereicherung nicht nur für andere, sondern auch uns selbst erkennen.

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 98–99, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

Nachrichten  99

bürokratische und gesellschaftliche Hürden und eröffnet neue Möglichkeiten. Während andere Sprach- und Integrationsmaßnahmen halbherzig, aber tatenlos fordern oder sogar blockieren, bieten selbstlose Helfer*innen kurzerhand und mit lan­ gem Atem Deutschkurse und Bezugspunkte an. Die Hoffnung ist somit – immer – wieder am Zug. Julian Pöschl lebt und arbeitet als Foto­ graf und Eventtechniker in Wien. Als einer der Initiator*innen von Train of Hope am Hauptbahnhof Wien hat er sich 2015 intensiv für die Erstversor­ gung und Rechte von Menschen auf der Flucht vor Krieg und Elend engagiert. Seinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn bringt er dabei be­ reits seit früher Kindheit durch unabhängiges politisches En­ gagement zum Ausdruck. E-Mail: [email protected]

steffne / photocase.de

Wir halten an der Hoffnung fest, dass wir die­ sen Wahnsinn überwinden und zu einem Mit­ einander finden können, in dem wir gegenseitige Hilfe als Bereicherung nicht nur für andere, son­ dern auch uns selbst erkennen. Letztlich sollten wir uns daran messen, wie wir mit den Schwächs­ ten in unserer Gesellschaft umgehen, und nicht Pläne schmieden, wie wir diese noch weiter schwächen und gegeneinander ausspielen kön­ nen. Denn die Annahme, dass wir uns in glück­ selige Isolation zurückziehen und eine aus Viel­ falt entstandene Kultur mit Einfältigkeit schützen könnten, ist durch und durch unvernünftig. Die Hoffnung lebt weiter: in den Herzen all je­ ner, die sich in Europa neu einleben, und all je­ ner, die ihnen aktiv dabei helfen. Sie überwindet

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KURZREZENSIONEN

Wenn Kinder trauern Christine Fleck-Bohaumilitzky: Wenn Kinder trauern. Was sie ­fühlen – was sie fragen – was sie brauchen. Ostfildern: Patmos, 2016, 112 Seiten Ein übersichtliches Büchlein wider die Unsicherheit Erwachsener im Umgang mit Kindertrauer. Behutsam, warmherzig und kompe­ tent beschreibt die Autorin unter Berücksichtigung verschiedener Altersstufen Gefühle und Umgangsstrategien von Kindern nach Ver­ lusten (auch Scheidung, Tod von Großeltern, ­Haustieren) und gibt hilfreiche Hinweise zur Begleitung (Verabschiedung, Beerdigung, Spiele und Rituale). Viele Fragen werden gestellt und beantwortet, auch Schuld und Idealisierung werden berücksichtigt.

Jedes Sterben ist ein Riss Jürgen Burkhardt, Rita Krebsbach, Christoph Rüdesheim (Hrsg.): J­ edes Sterben ist ein Riss. Seelsorge in der Begegnung mit Trauernden. Ostfildern: Patmos, 2016, 253 Seiten Das Wort »Begegnung« trifft es: Häufig sind es im Krankenhaus und in der Gemeinde nur kurze Kontakte mit Trauernden und sie münden nicht in längere Begleitungen. Umso wichtiger sind die­ se punktuellen Kontakte, denn sie können Trauer eröffnen, zum Fließen bringen oder sie verhindern. Sehr konkret und mit vie­ len Beispielen widmen sich die Beiträge einer Vielfalt von Themen: Sterbesegen, Kondolenzgespräch, Beerdigung(spredigt), passende Literatur und Musik … Zu Recht fordern deshalb Ruthmarijke Smeding und Jürgen Burkhardt in einem Grundlagenartikel ein Konzept für seelsorg­ liches Handeln. Begeisternd der Beitrag von Sabrina Koch über Trauernde als Experten ihrer Spiritualität. Hier wird ein würdigen­ des, antwortloses, mitgehendes Seelsorgeverständnis im S­ inne Karl Rahners proklamiert, das lindernde und unterstützende W ­ irkung zeitigen wird.

Leidfaden, Heft 1 / 2017, S. 100, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202

© Jörg Plannerer

Vorschau Heft 2 | 2017 Thema: Professionalität Kein Problem ... schließlich bin ich ja Profi! Professionalität in der Pflege

Laien als Richter ?

Über ein Ehrenamt der besonderen Art und den Vorteil fehlender Professionalität

Anonyme Fehlermeldung – Sicherheitskultur bei Sterbenden und Professionalität Professionelle Distanz vs. Professionelle Nähe Modelle multiprofessionellen Arbeitens Spiritual Care als neue Profession u. a. m.

Impressum Herausgeber/-innen: Monika Müller M. A., KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach E-Mail: [email protected] Prof. Dr. med. Lukas Radbruch, Zentrum für Palliativmedizin, Von-Hompesch-Str. 1, D-53123 Bonn E-Mail: [email protected] Dr. phil. Sylvia Brathuhn, Frauenselbsthilfe nach Krebs e. V., Landesverband Rheinland-Pfalz/Saarland e. V. Schweidnitzer Str. 17, D-56566 Neuwied E-Mail: [email protected] Dipl.-Psych. Thorsten Adelt (Bonn), Dr. Dorothee Bürgi (Zürich), Prof. Dr. Arnold Langenmayr (Ratingen), Dipl.-Sozialpäd. Heiner Melching (Berlin), Dr. Christian Metz (Wien), Dipl.-Päd. Petra Rechenberg-Winter M. A. (Hamburg), Prof. Dr. Reiner Sörries (Erlangen) Bitte senden Sie postalische Anfragen und Rezensionsexemplare an Monika Müller, KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach Wissenschaftlicher Beirat: Dr. Colin Murray Parkes (Großbritannien), Dr. Sandra L. Bertman (USA), Dr. Henk Schut (Niederlande), Dr. Margaret Stroebe (Niederlande), Prof. Robert A. Neimeyer (USA) Redaktion: Ulrike Rastin M. A., Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen, Tel.: 0551-5084-423, Fax: 0551-5084-477 E-Mail: [email protected] Bezugsbedingungen: Leidfaden erscheint viermal jährlich mit einem Gesamtumfang von ca. 360 Seiten. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 68,00 D / € 70,00 A / SFr 85,50. Institutionenpreis € 132,00 D / € 135,80 A / SFr 162,00, Einzelheftpreis € 20 D / € 20,60 A / SFr 27,50 (jeweils zzgl. Versandkosten), Online-Abo inklusive für Printabonnenten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 01.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen; Tel.: 0551-5084-40, Fax: 0551-5084-454 www.v-r.de ISSN 2192-1202 ISBN 978-3-666-80617-9 Umschlagabbildung: »Man on wire«, Dokumentarfilm, USA/GBR 2008/INTERFOTO/NG Collection Anzeigenverkauf: Anja Kütemeyer, E-Mail: [email protected] Bestellungen und Abonnementverwaltung: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH, Servicecenter Fachverlage, Holzwiesenstr. 2, D-72127 Kusterdingen; Tel.: 07071-9353-16, Fax: 07071-9353-93, E-Mail: [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. © 2017 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen

Die Beiträge reflektieren Seelsorge als ein vielseitiges Arbeitsfeld der Gemeinde fachlich fundiert und in exemplarischer Konkretheit.

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