Skandinavische Literaturen der frühen Neuzeit 3772030955, 9783772030956

Dieser Band eröffnet eine kleinere Reihe von Untersuchungen, die sich im Rahmen der 'Beiträge zur Nordischen Philol

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Skandinavische Literaturen der frühen Neuzeit
 3772030955, 9783772030956

Table of contents :
Vorwort
Minna Skafte Jensen / Zacharias Lund (1608-67) and the early Baroque
Barbara Sabel / Andreas Arvidis 'Manuductio ad Poesin Svecanam' (1651) und Martin Opitz' 'Buch von der Deutschen Poeterey' (1624)
Stina Hansson / Repertoire und Tradition: Über Schreibformen, Denkformen und Literaturgeschichte im 17. Jahrhundert
Kurt Johannesson / Alexander und die Zeit der schwedischen Grossmacht
Laila Akslen / Norwegische Kirchenlieder im 17. Jahrhundert im Kontext der deutsch-nordischen Erbauungsliteratur
Bernt Olsson / Renaissance, Barock und Klassizismus in der schwedischen Literatur
Hans-Peter Naumann / Adynata im schwedischen Barock
Fredrik Juel Haslund / Meinungsfreiheit in Dänemark-Norwegen im 17. Jahrhundert: Ein Überblick
Wilhelm Friese / Vorpommern und der schwedische Barock
Herbert Blume / Ein schwedischer Barockpoet in Braunschweig: Zu Johan Gabriel Wervings letztem Gedicht
Margrét Eggertsdóttir / Topographisch-historische Dichtung in Island im 17. Jahrhundert
Joachim Grage / Theatrum maris: Das Meer als Schauplatz in der nordischen Barockliteratur
Christoph Beyerhaus / Lucidors geistliche Dichtung: Kritische Betrachtung zur Wirkungsgeschichte eines Barockdichters
Andreas G. Lombnæs / Die Wahrheit des Romans oder 'er her nogen forborgen Trolderie under al denne Forvirring': Geschlecht und Gattung im ersten nordischen Roman
Jens Hougaard / Gelegenheitsdichtung - Gelegenheitssexualität
Stephen A. Mitchell / Women's Autobiographical Literature in the Swedish Baroque
Annegret Hietmann / Formen der Selbstdarstellung in dänischen Texten des 17. Jahrhunderts
Anna Katharina Dömling / 'Klog i Raad; Keck i Striid': Leonora Christina Ulfeldts 'Hæltinners Pryd' als Weiblichkeitsentwurf und Diskurskonglomerat
Thomas Seiler / 'Med en Pen i Graad Poleret': Weinen, Weiblichkeit, Schrift in der Dichtung Dorothe Engelbretsdatters
Hubert Seelow / 'Ellers er ieg bar af Bøger': Zur Editionsgeschichte von Dorothe Engelbretsdatters 'Siælens Sang-Offer'
Paul Ries / Baroque Encounters of Various Kinds or Anstösse für weitere Bemühungen um ein der Welt und Dichtung dieser Epoche gerechter werdendes Verständnis
Beiträge zur nordischen Philologie

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Jürg Glauser/Barbara Säbel (Hrsg.)

Skandinavische Literaturen der frühen Neuzeit

A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL

Skandinavische Literaturen der frühen Neuzeit

Beiträge zur Nordischen Philologie Herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien

Redaktion: Oskar Bandle, Jürg Glauser, Silvia Müller, Hans-Peter Naumann, Barbara Säbel, Thomas Seiler Beirat: Michael Barnes, François-Xavier Dillmann, Annegret Heitmann, Andreas G. Lombnass, Stefanie Würth

Band 32 • 2002

A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL

Jiirg Glauser/Barbara Sabel (Hrsg.)

Skandinavische Literaturen der frühen Neuzeit

A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL

Titelbild: Endre Nemes: Barockstolen/Der Barockstuhl, 1941. Foto: Moderna Museet, Stockholm. Copyright ProLitteris, 2000, 8033 Zürich.

Die Deutsche Bibliothek

- CIP-Einheitsaufnahme

Skandinavische Literaturen der frühen Neuzeit; hrsg. von Jürg Glauser und Barbara Säbel. Tübingen ; Basel Francke, 2002 (Beiträge zur Nordischen Philologie ; Bd. 32) ISBN 3-7720-3095-5

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:

Gedruckt mit Unterstützung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften.

© 2002 A. Francke Verlag Tübingen und Basel Dischingerweg 5 D-72070 Tübingen •



Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ausserhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier.

Druck: Guide, Tübingen Verarbeitung: Nadele, Nehren Printed in Germany

ISBN 3-7720-3095-5

Inhaltsverzeichnis Vorwort

VII

JÜRG GLAUSER, ZÜRICH / BASEL

Einleitung

MINNA S KAFTE JENSEN, ODENSE Zacharias Lund (1608-67) and the early Baroque BARBARA SÄBEL, ZÜRICH Andreas Arvidis Manuductio ad Poesin Svecanam (1651 und Martin Opitz' Buch von der Deutschen Poeterey (1624)

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STINA HANSSON, GÖTEBORG Repertoire und Tradition Über Schreibformen, Denkformen und Literaturgeschichte im 17. Jahrhundert.... 41

KURT JOHANNESSON, UPPSALA Alexander und die Zeit der schwedischen Großmacht

55

LAILA AKSLEN, SOFIEMYR Norwegische Kirchenlieder im 17. Jahrhundert im Kontext der deutsch-nordischen Erbauungsliteratur

75

BERNT OLSSON, LUND Renaissance, Barock und Klassizismus in der schwedischen Literatur

97

HANS-PETER NAUMANN, ZÜRICH Adynata im schwedischen Barock

119

FREDRIK JUEL HASLUND, OSLO Meinungsfreiheit in Dänemark-Norwegen im 17. Jahrhundert. Ein Überblick.... 143

WILHELM FRIESE, TÜBINGEN Vorpommern und der schwedische Barock

159

HERBERT BLUME, BRAUNSCHWEIG Ein schwedischer Barockpoet in Braunschweig Zu Johan Gabriel Wervings letztem Gedicht

173

VI MARGRET EGGERTSDÖTTIR, REYKJAVIK Topographisch-historische Dichtung in Island im 17. Jahrhundert

183

JOACHIM GRAGE, GÖTTINGEN Theatrum maris Das Meer als Schauplatz in der nordischen Barockliteratur

201

CHRISTOPH BEYERHAUS, TÜBINGEN

Lucidors geistliche Dichtung Kritische Betrachtung zur Wirkungsgeschichte eines Barockdichters

221

ANDREAS G. LOMBN^ES, KRISTIANSAND Die Wahrheit des Romans oder „er her nogen forborgen Trolderie under al denne Forvirring" Geschlecht und Gattung im ersten nordischen Roman

235

-

JENS HOUGAARD, AARHUS

Gelegenheitsdichtung

- Gelegenheitssexualität

255

STEPHEN A. MITCHELL, HARVARD

Women's Autobiographical Literature in the Swedish Baroque

269

ANNEGRET HEITMANN, MÜNCHEN Formen der Selbstdarstellung in dänischen Texten des 17. Jahrhunderts

291

ANNA KATHARINA DÖMLING, ZÜRICH „Klog i Raad; Keck i Striid" Leonora Christina Ulfeidts Hœltinners Pryd als Weiblichkeitsentwurf und Diskurskonglomerat

307

THOMAS SEILER, ZÜRICH „Med en Pen i Graad Poleret" Weinen, Weiblichkeit, Schrift in der Dichtung Dorothe Engelbretsdatters

319

HUBERT SEELOW, ERLANGEN „Ellers er ieg bar af Bpger." Zur Editionsgeschichte von Dorothe Engelbretsdatters Siœlens Sang-Offer

335

PAUL RIES, CAMBRIDGE Baroque Encounters of Various Kinds or Anstöße für weitere Bemühungen um ein der Welt und Dichtung dieser Epoche gerechter werdendes Verständnis

351

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Vorwort Die im vorliegenden Band versammelten Aufsätze sind zu einem großen Teil aus Vorträgen hervorgegangen, die während eines internationalen Symposiums „Nordischer Barock" vom 25.-29. Mai 1994 in Tübingen gehalten wurden. Äußerer Anlaß dieser von der Nordischen Abteilung des Deutschen Seminars der Eberhard-KarlsUniversität Tübingen ausgerichteten Tagung, die sich als erste ihrer Art in der deutschsprachigen Skandinavistik ausschließlich der schwedischen, dänischen, norwegischen und isländischen Literatur des 17. Jahrhunderts widmete, war der 70. Geburtstag des Tübinger Nordisten Wilhelm Friese am 27. Mai 1994. Verschiedene Beiträgerinnen und Beiträger allen voran Paul Ries in seiner hier gewissermaßen als Ausblick an den Schluß des Bandes gestellten Hommage an Wilhelm Friese nehmen in ihren Aufsätzen direkt oder indirekt, zustimmend oder modifizierend Bezug auf Frieses 1968 erschienene Darstellung Nordische Barockdichtung und andere seiner zahlreichen Arbeiten zur Literatur des 17. Jahrhunderts in Skandinavien. Es handelt sich somit nicht einfach um einen Sammelband, sondern zugleich um eine Festschrift für einen Forscher, der sich wie kein anderer im deutschen Sprachgebiet mit der nordeuropäischen Dichtung im Zeitalter zwischen der Reformation und der Aufklärung beschäftigt und der das Bild, das sich vor allem auch die Auslandsskandinavistik und die Barockforschung außerhalb des Nordens von dieser Epoche der skandinavischen Literaturgeschichte gemacht haben, maßgeblich mitgeprägt

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hat.

Da die Drucklegung aus unterschiedlichen Gründen erst jetzt erfolgen kann, sind die Beiträge, die auf das Symposion zurückgehen, wo dies nötig war, von den Autorinnen und Autoren aktualisiert worden. Eine Anzahl von Texten ist neu hinzugekommen und erweitert das vertretene Spektrum in sehr willkommener Weise. Es ist die Hoffnung der Herausgeberin und des Herausgebers, daß die hier gedruckten Beiträge den Stand der Forschungsbemühungen um die skandinavischen Literaturen in der frühen Neuzeit einigermaßen repräsentativ dokumentieren. Um die allgemeine Zugänglichkeit der Beiträge zu gewährleisten, wurden die in einer skandinavischen Sprache verfaßten Aufsätze wie auch alle skandinavischen Originalzitate ins Deutsche bzw. Englische übersetzt. Die Publikation richtet sich nicht nur und nicht in erster Linie an die Spezialisten in den skandinavischen Ländern, ihr Zielpublikum ist auch die internationale Barockforschung. Bei der redaktionellen Bearbeitung der Beiträge wurde eine gewisse formale Einheitlichkeit angestrebt. Dennoch vermittelt der Band in seiner vorliegenden Form auch ein Bild von den verschiedenen Wissenschaftsverständnissen und dem unterschiedlichen Sprachduktus, der in den betreffenden Ländern gepflegt wird und der natürlich noch in den Übersetzungen durchschimmert. Hier konnte und sollte Homogenität, die die unterschiedlichen Präsentationsformen künstlich eingeebnet hätte, gar nicht das Ziel sein.

VIII Die großzügige finanzielle Unterstützung der Tagung durch die Fritz Thyssen Stiftung, Köln, Samarbeidsnemnda for Norden-undervisning i utlandet, Oslo, die Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen e.V. (Universitätsbund), Tübingen, die Königlich Dänische Botschaft, Bonn, und die Königlich Norwegische Botschaft, Bonn, ermöglichte es, eine Reihe namhafter Expertinnen und Experten für das Gebiet des 17. Jahrhunderts in Skandinavien nach Tübingen einzuladen. Die Übersetzung der skandinavischen Beiträge wurde größtenteils von Tübinger Studierenden besorgt; diese sind am Ende der Beiträge jeweils namentlich erwähnt. Bei der Erstellung und Redaktion des Textes haben u.a. Anna Katharina Dömling, Silvia Müller, Christof Reiber, Corinne Susanek und Herbert Wäckerlin mitgearbeitet. Allen diesen Stiftungen und Personen gebührt der Dank der Unterzeichneten. Ein besonderer Dank geht an den A. Francke Verlag, Tübingen und Basel, für seine spontane Bereitschaft, den Band in sein Programm aufzunehmen. Es ist ein besonders schöner Zufall, daß ein Werk über Skandinavische Literaturen in der frühen Neuzeit in eben jenem Verlag erscheint, der bereits 1968 Wilhelm Frieses Nordische Barockdichtung herausgebracht hat. Zürich, August 2002

Jürg Gl auser Barbara Säbel

MINNA SKAFTE JENSEN, ODENSE

Zacharias Lund (1608-67) and the early Baroque The poet Zacharias Lund has earned himself a certain name as one of the early Baroque poets in Germany. In 1636 he published a volume of lyrics in German, Allerhand artige deutsche Gedichte, and in the Royal Library of Copenhagen two dramas are preserved in manuscript, one a translation of a French pastoral, Reu und Leid über die Liebe der Schäfferin Dieromene, and the other a tragedy, Zedechias oder Trawer-Spiel von der Zerstörung Jerusalems in Teutschen Versen; both belong to the same period of his life as the printed volume.1 His first published work, however, was a volume of Latin poetry, Poemata Juvenilia, 1634, and most of the poems that have survived from his hand are in Latin. Lund lived in a period when Neo-Latin poetry had been cultivated in Northern Germany and Denmark for roughly a century. The term is used for Latin poetry which in language, orthography, metre and literary form distanced itself from the Latin poetry written during the Middle Ages and imitated ancient poetry as closely as possible. The more or less clumsy first attempts were a thing of the past, as was the sense of introducing something new and revolutionizing. By Lund's time, the art

of composing Neo-Latin poetry was firmly established,

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and the best

of

the poets

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among whom Lund belongs moved freely and elegantly in many different metres and genres. Born in Nybpl in Southern Jutland, he usually called himself Cimber, which may mean that he considered himself an inhabitant of Denmark or Jutland or SchleswigHolstein the last choice probably comes closest to the truth. His career was entirely Danish: he was attached as a tutor to the Scanian noble family Vind, later be-

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1

Dieter Lohmeier in Neue deutsche Biographie 15. Berlin 1987. pp. 520-521. Lund is also discussed in the following works: Julius Paludan: Renaissancehevœgelsen i Danmarks Literatur, isœr i det 17. Aarhundrede. Copenhagen 1887, pp. 175-176. 323, 331-332; Herbert Cysarz: Deutsche Barockdichtung. Leipzig 1924, pp. 134-139; Ulrich Moerke: Die Anfänge der weltlichen Barocklyrik in Schleswig-Holstein: Hudeman Rist Lund. Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte 8. Neumünster 1972; Anthony Harper: Leipzig poetry after Paul Fleming A Re-Assessment. Daphnis 5 (1976), pp. 145-170; Marianne Pade: Horace's Ars Poetica in Denmark in the sixteenth and seventeenth century. The commentaries of Andreas Krag and Zacharias Lund. Atti del convegno di Licenza 19-23 aprile 1993. Bimillenario clella morte di Q. Orazio Flacco. Venosa 1994, S. 217-246; Sebastian Olden-Jprgensen: Poesi og politik. Lejlighedsdigtningen ved enevceldens indfprelse 1660. Mit deutscher Zusammenfassung. Renœssancestudier 8. Kopenhagen 1996; id.: Zacharias Lunds sidste âr 1657-67 eller Dichtung und Wahrheit i lyset af et regnskabsbilag. Fund og Forskning 35 (1996), pp. 249-255.

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Minna Skafte Jensen

10

came headmaster

of the Danish boarding school Herlufsholm, spent

a

period

as the

librarian of a great private book collection in Ringsted, and ended up as a secretary in Danske Kancelli, the royal administration. When Danish literature from c. 1500 to c. 1700 is studied from the Latin angle, it can be subdivided into two relatively clear-cut periods. The 16th century was dominated by Latin, and the bulk of poetry written in Denmark was in this language. This does not of course exclude the possibility that Denmark may have had a rich oral poetry in the vernacular, and as a matter of fact, it was during the second half of this century that the first ballads were recorded in writing. The kings had won great wealth as a result of the Lutheran Reform, and above all Frederik II (in power 155988) spent part of this on patronage. Gifted young men were given access to higher education abroad by means of generous royal funding, and it was in Latin that the mental energy of this new intelligentsia was invested. From the middle of the century we see internationally trained young poets struggling to implant the fashionable Neo-Latin forms into their native culture and to treat modern and often strictly local topics in ancient classical form, all in the effort to convince themselves and their neighbours that Denmark was no barbarian country, but the scene of a modern, sophisticated culture with roots far back in time. Their achievement may conveniently be called the Renaissance of poetry in Denmark. Around 1590 a new style appeared, a kind of mannerism as the term is used by Ernst Robert Curtius.2 Formal games grew increasingly popular anagrams, chronograms, acrosticha, telesticha, etc. The style was first adopted by the nobility, in the milieus which Tycho Brahe established in his Uraniborg and Henrik Rantzau in Breitenberg. Tycho Brahe, for instance, has a long elegiac letter to a young friend, in which each pentameter ends with the word amor? The Norwegian poet Halvard Gunnarsspn showed himself a proper virtuoso, for example, in a eulogy of the Danish king Christian IV, in which every single word begins with a C. In Denmark the poet Bertil Knudsen Aquilonius was a successful mannerist. The movement kept its vigour throughout the 17th century and gave rise to new literary forms the epigrammatic genre was radically changed, and a new genre, the lapidary poem, was also developed: a fake inscription centred symmetrically around a vertical axis and characterized by a terse, pointed style.4 It was used mainly for funeral poems and for political invective.5 It is close to hand to call this mannerism Baroque and underline that the first steps into this style were taken in Latin.

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2 3

4

5

Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948, chapter 15. Edited, translated into Danish and discussed by Peter Zeeberg: Amor pâ Hven, Tycho Brahes digt til Erik Lange. Renœssancestudier 2. Kopenhagen 1988, pp. 161-181. John Sparrow: Visible Words. A Study of Inscriptions in and as Books and Works of Art. Cambridge 1969. Karen Skovgaard-Petersen: Avant-garde polemics in Latin. A History of Nordic Neo-Latin Literature. Ed. Minna Skafte Jensen. Odense University Studies in Scandinavian Languages and Literatures 32. Odense 1995, pp. 309-320.

Zacharias Lund and the early Baroque

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1

Again, looked at from this angle, the most radically innovative aspect of Baroque poetry was its use of the vernacular. The early Baroque poets who composed in Danish expressed themselves in the very same forms that were most familiar in Latin poetry: the private letter in verse, the occasional poem, the laudation (of a city, a locality, a person, etc.), the pastoral, the travel poem and not least the Biblical paraphrase. These were the preferred forms of Anders Arrebo, Anders Börding, Spren Terkelsen, Elias Naur and Thomas Kingo. In general, the very idea of what Stina Hansson calls 'repertoire poetry' came from Latin. Thus the coherence between Latin and the vernacular is evident, and that this is how it was felt at the time appears from titles such as Arrebo's Hexaëmeron Rhythmico-Danicum or Stiernhielm's Musae Suetizantes. There were still poets who composed only in Latin right up to the end of the 17th century, but the dynamic energy gradually shifted from Latin to Danish, and towards the end of the century with the poetry of Kingo the vernacular had definitely become the main vehicle of modern thought. The vernacular poets fetched literary forms and mannerist expressions from Latin, but not the vehemence of Baroque poetry - the many synonyms heaped on top of each others, the exaggerations, the juxtaposed contrasts, etc. These are rather, as suggested by Erich Trunz, expressions of the turbulence of the times, with the Thirty Years' War devastating Europe.6 Thus when considering Wilhelm Friese's definition of the term Baroque71 should prefer to keep only parts of it, not because I do not agree with his main point that Baroque art is closely connected with certain facts of the society in which it belongs, but exactly because I am interested in this interaction between poetry and society and need separate terms for each party. And as regards Nordic literature „zwischen Reformation und Aufklärung", at least for Denmark I should maintain that there is not only a Baroque style, but that it was preceded by a Renaissance.

Lund is of special interest in this connection because he was bilingual, and because

of the vernacular Baroque. Already from the titles of his two first printed books two quite distinct

he was such an early representative

sets

of

aesthetic norms appear. His Latin book from 1634 is called Poemata Juvenilia ('Youthful poems'), and that is that. His German volume from 1636 has the title, Allerhand artige deutsche Gedichte, Poëmata, sampt einer zu End angehengter Probe auszerlesener, scharfsinniger, Kluger, Hoff- und Scherz-Reden, Apophthegmata genant ('All kinds of pleasant German poems, Poëmata, with at the end an example added of select, sharp, bright sayings from court and entertainment, called Apophthegmata'). Whereas his Latin title is terse, almost puritanical, the German

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Martin Opitz: Weltliche Poemata 1644. Hg. von Erich Trunz. 2. Deutsche Neudrucke. Reihe Barock 15*-76*. Wilhelm Friese: Nordische Barockdichtung. Eine Darstellung und Deutung skandinavischer Dichtung zwischen Reformation und Aufklärung. München 1968, pp. 17-19. 3. Tübingen 1975, pp.

Minna Skafte Jensen

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one overflows in all directions and takes in Greek terms for its two main elements in order to achieve a distinguished and also slightly exotic flavour. In the preface to the

German book the author conducts a rather detailed discussion with his reader, in which he defends himself against a supposedly critical question about why he writes in German when it is so much more prestigious to compose in Latin. His Latin volume had no similar introduction. Nobody at Lund's time would have wondered why a young man published his Latin poems, whereas an explanation was apparently called for when he chose German. Danish is not mentioned as a possibility. The contents of the two volumes show the same difference as the titles. The Latin collection is firmly structured. It consists of four 'books', of which the two first are elegies, both of them rounded wholes which together tell a story with the young poet as their protagonist; the third book is a so-called silva ('wood'), a more sketchy collection of poems in various metres, and book four contains exactly one hundred

The German volume is loosely constructed and gives the impression of having been put together spontaneously, without too much learned speculation. The Scottish scholar Anthony Harper has stressed this aspect as an argument that Lund was part of the so-called Leipzig circle, centred around Paul Fleming. Here the ideal was to pose as an impressionistic poet, composing in an off-hand way as if writing poetry was a natural talent that demanded no effort of the author.8 Another trait which Harper considers to be typical of the Leipzig poets is the cheerful, uncommitted tone of their poems and their predilection for such topics as drinking parties and love stories. In addition, they are characterized by an interest in dialogue: often their poems are conversations between two parties. In these respects both of Lund's youthful volumes would qualify for the Leipzig circle: the elegant erotic tone is common to both collections, and in both of them he has poems impersonating friends or relations. Thus the two last elegies in Lund's Latin collection present a dialogue his friend Vincent Fabricius has with his beloved Merilla. Whether Lund actually belonged to the Leipzig circle or not is for various reasons a complicated question, which I shall not consider here. It is, however, evident that he was very much influenced by the new wave in literary aesthetics. He studied theology in Wittenberg 1630-32, but the teacher who had a lasting impact on his mind was professor of poetry August Büchner, a personal friend of Martin Opitz. The latter was at the height of his career in those years. Between 1621 and 1625 he had published translations into German of Daniel Heinsius' hymns to Jesus and to Bacchus, a German poetics closely dependent on Heinsius and Aristotle, a translation into German of Seneca's drama The Trojan Women, and eight books of German poems. In 1627 the opera Dafne followed, in 1628-29 Deutsche Poemata, I-II, and in 1630 a pastoral drama. In these works Opitz united the previously separate traditions for Latin and the vernacular. He was the first to translate into German Horace's self-confident poem, „Exegi monumentum (...]" ('I have erected a monuepigrams.

Harper, Leipzig poetry after Paul Fleming, Daphnis 5 (1976).

Zacharias Lund and the early Baroque

13

ment', Odes III. 30), in which the Latin poet claims that his achievement will turn out to be more lasting than any memorial cast in bronze. Opitz, like Horace, put his poem at the end of a book (Wälder, 1) and clearly let it apply to his own poetical work: just as Horace had transplanted Greek forms into his native Latin language, Opitz now introduced Latin classics into his own German language.9 With Opitz the whole complex of Latin culture was put under discussion. Looked at from our century, this seems to be a natural and even necessary development; but to Opitz' contemporaries who had no chance of predicting how things would go, this must have been shocking. A tradition which had been unbroken since antiquity was being questioned. However, this was in no sense a radical break: German and Latin mingle easily in Opitz' works, and one might even describe the many Latin prefaces, dedicatory and laudatory poems and other marginalities as a defensive cloak, placed around all the new and provocative German poems so as not to shock the readers unduly. In this framework Opitz' German poems appear as a natural development from the old Latin tradition which they were. And in 1631, while Lund was a student in Wittenberg, Opitz even published a collection of Latin epigrams. Lund's youthful poems were manifestly open to the modern ideas, and it is natural to connect this fact with the inspiration he received from August Buchner. To translate a pastoral drama from French into German was to take Opitz' advice: in his preface to Die Schäfferey von der Nimfen Hercinie (1630) Opitz had declared that his work was meant as a stimulus for other poets to compose in a similar way, so in his Dieromene Lund was following Opitz' precepts. Furthermore, in the very activity of translating, Lund was a pupil of Opitz', and he kept this interest all his life, translating from French, Italian, and Greek into German or Latin, and from German into Latin and vice-versa. To compose a tragedy, as Lund did with his Zedechias, was to exploit the literary form most central to both Aristotle and Heinsius in their theories of poetry, and to do so in German was again to conform with Opitz' doctrines. The most important ancient models for Lund's Poemata Juvenilia were Ovid's Amores and Martial's epigrams. Just as in Ovid, each of Lund's elegies is a rounded whole which can be read in its own right. But together they form a story of the ups and downs of the young poet-lover. Our hero is an eager hunter, and we do not need to read many of his poems before we understand that his game is not only animals, but also women and learning. A charming Charinta appears, and at a certain point the hunter even has to admit that he has himself been caught in her net. Happy feelings shift into melancholy, and at a certain point there is a poem in which the hero takes leave of the world. Later on, however, he has restricted himself to merely saying farewell to love. The main themes of these elegies are poetry, friendship and love, and their elegant, slightly ironical tone has few parallels in Danish Neo-Latin.

-

9

Cf. the list of Opitz' works in Weltliche Poemata 1644. Hg. von Erich Trunz. Deutsche Neudrucke. Reihe Barock 2. 1. Ttibingen 1967, pp. ll*-22*. The interpretation of the place occupied by the Horace translation follows Trunz in Opitz, Weltliche Poemata, 2. 1975, p. 6*.

Minna Skafte Jensen

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modernist. Lots of epigrams had been composed in Denmark during the 16th century, and they had the character of brief poems, most often in elegiac couplets. But at Lund's time the genre was changing. French classicism made itself felt, with an interest in le mot propre and all kinds of elegant, witty surprises. The Welsh poet John Owen became enormously influential with his epigrams, and it is this form of the genre Lund presents in his volume. He published one of them in a German translation two years later:

In his epigrams, too, Lund was

a

31. Ad Amicum, de seipso. (Poemata Juvenilia, p. 97.)

Eximium dicis me vatem. Certe ego non sum Forte nisi ex imis Vatibus eximius. Aus seinem eigenen Lateinischen. (Allerhand artige deutsche Gedichte, p. 110.)

Wie lange wilst du mich der Teutschen Naso heissen Soll ich dich wiederumb vielleicht für Opitz preisen? Schweig'/ ich mags auch nicht thun: des Lobs schäm' ich mich/ Ein jeder weis/ dass du nicht minder leugst als ich.1"

Again, the two versions of the poem demonstrate how Lund keeps the two sets of aesthetic norms clearly apart. In the Latin epigram, there is a wordplay on imus ('humblest') and eximius ('eminent') making a fake figura etymologic a: the context of the two words suggests that eximius should mean somebody who distinguishes himself from the lowest group. At the same time, the different /'s remind the reader that this is not so (imus has a long i, eximius a short one). This is a device that recurs in other of Lund's epigrams. In the German version the friend, who was mentioned only in the title of the Latin epigram, has entered the poem, thus doubling its size. The grammatical-stylistic wordplay has disappeared and been substituted with a play on the idea of lying. It is perhaps dependent on a paradox from antiquity, speculating on what kind of a conclusion can be drawn from the enigmatic syllogism, 'All Cretans are liars; I am a Cretan'. Ancient model or not, in Lund's German poem the two friends are flattering each other, and therefore the poet's modesty in reference to himself hits his friend as well. So in translating, Lund takes pains to ensure that a joke in the source poem is equalled by a joke in the translated one. And where the Latin poem evokes the struggle that every young intellectual had been through in order to master the technicalities of the Latin language, the connotations of the German version are Opitz' discussions of Poeterey. It is worth noting that metre and rhyme in the German poem are smoothly and elegantly formed and thus establish a stylistic level just as meticulously as the Latin poem adheres to the formal demands of the epigrammatic 10

friend, about himself. You call me an eminent poet. Surely I am not unless perhaps t am eminent among the lowest ones. A poem translated from his own Latin. How long will you continue calling me Ovid of the Germans? Should I perhaps make repayment, praising you as Opitz? Keep silent! nor do I want to do it; 1 blush at such praise, since everybody knows that you lie no less than 1 do.'

'To

a

-

Zacharias Lund and the early Baroque

style

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- it was one of Opitz' main points that German poetry should be made with the of formalistic care as

was the habit for Latin poetry. To put Ovid and Opitz side by side means both that Ovid is treated as if he were a contemporary, and that Opitz is claimed to be as great in his field as Ovid was in his.

same degree

And even though in this poem the two famous forerunners are distributed between the two young friends, both of them are, of course, the two great models for Lund's own endeavours. One might perhaps have expected that with all his eager appreciation of Opitz' work Lund would have let the Baroque style influence his Latin poetry, that the energy so obviously present in the German poetry of his day and in his own contributions to it

would have made itself felt in his Latin works. I have, however, been unable to find such an influence. Lund continued composing Latin poetry all his life, and we can follow his development in this art right up to the last weeks before his death. We do not, however, know whether he also still wrote German poems. Most of his works were never printed, but a considerable pile of manuscripts, most of them autographs, survives in the Royal Library in Copenhagen. Besides the poems, there are Latin works of scholarship and various school texts. Among the learned works are detailed commentaries on the two perhaps most influential works on Latin poetic theory, the medieval Poetria Nova by Geoffrey of Vinsauf and Horace's Ars Poetica. However, a list of Lund's works which were to be found in the library of the book-collector Frederik Rostgaard at a certain point mentions quite a few titles that are no longer extant, and among these is a volume of Poemata Germanica. Its contents may have been the poems already known, since in his Latin manuscripts Lund often repeats poems from earlier days, also such that had already been published in print; but it may also have been German poetry from Lund's later years. If so, it seems that all his life he kept the two ways of composing carefully apart. He has poems in which he cultivates exuberant forms, adding couplet to couplet in order to express the same idea in still new ways, and this might be considered a Baroque trait. However, his ancient model Ovid did exactly the same, and there is nothing in Lund's later poetry that cannot be considered strictly classical. The many revisions in his late manuscripts of his own poetry from earlier days generally tend to make their language as fluently classical as possible. I think this should be taken as another sign of the strength of the Latin tradition. Even to an innovator like Lund who had been among the first on the barricades of modernism, vernacular Baroque poetry must have been felt as a ripple on the surface of the ocean of Latin tradition. Towards the end of the 17th century, however, we do find Latin poetry in Denmark which might be called Baroque. The statesman Peder Griffenfeld, who was also an excellent Latin poet, has left two poetical paraphrases of Biblical psalms. They were written in 1683, when he was in prison, and they express his grief and despair at his hard fate in a way close to the mature Baroque style we find in Thomas Kingo's poetry from the same period.

Minna Skafte Jensen

16

it

seems that the powerful vernacular Baroque did after all leave its mark on the old craft of composing in Latin; only it took much longer time than what I had

So

first expected to find. Latin and the vernacular were closely related, but for many decades the influence was almost exclusively from Latin to the vernacular, even in cases where a poet mastered both idioms."

"

I

have published some recent papers on related topics: Latindigteren Zacharias Lund (1608-1667). Fund og Forskning i Det kongelige Biblioteks samlinger 33 (1994), pp. 19-34; Dänische Lateindichtung als Vermittlerin europäischer Kulturströmungen nach Dänemark 1550-1660. Europa in Scandinavia. Kulturelle und soziale Dialoge in der frühen Neuzeit. Red. Robert Bohn. Studia septemtrionalia 2. Frankfurt am Main etc. 1994, pp. 85-90; En pnskedrpm. Symholae Septentrionales. Latin Studies Presented to Jan Oberg. Red. Monika Asztalos, Claes Gejrot. Stockholm 1995, pp. 317-331; Eine humanistische Dichterfreundschaft des siebzehnten Jahrhunderts. Humanismus im Norden. Frühneuzeitliche Rezeption antiker Kultur und Literatur an Nord- und Ostsee. Red. Thomas Haye. Chloe 32. Amsterdam: Atlanta, 2000, pp. 256-287.

BARBARA SÄBEL, ZÜRICH

Andreas Arvidis Manuductio ad Poesin Svecanam (1651) und Martin Opitz' Buch von der Deutschen Poeterey (1624) Im wissenschaftlichen Verstand sind Poetiken Texte, die auf die Fragen 'Was ist Dichtung?' und 'Wie geht Dichtung?' Antworten geben. Die Poetiken der Frühen Neuzeit, die ich nachstehend exemplarisch diskutiere, zeigen eine Tendenz zur Akzentuierung des Wie, d.h. eine Betonung der konkreten Verfahren der Vers- und Reimherstellung. Diese Faszination für die sinnliche Seite der Sprache teilt sich bspw. unmittelbar mit bei der Lektüre/Betrachtung der plastischen, man möchte fast sagen: eßbaren Formen jener Bildgedichte, für deren Fertigung der Renaissancepoetologe George Puttenham mit seiner The Arte of English Poesie1 (1589) den Bausatz liefert. In der deutschsprachigen Forschung hat sich für derartige Texte aufgrund ihres Anweisungscharakters der Terminus 'Regelpoetik' eingebürgert, der jedoch keinen allzu guten Klang hat. Regel-Folge-Produkte (so die Unterstellung) sind Mache und nicht Schöpfung. Dieser Punkt wird bekanntlich von zahlreichen Dichtungslehren insofern gestützt, als sie das Erlernen der Dichtkunst davon abhängig machen, ob der Lehrling neben den formalen Regeln auch poetische Vorbilder (auctores) fleißig imitiert oder nicht. Eine Illustration hierfür liefert die einzige muttersprachliche schwedische Poetik des 17. Jahrhunderts, Andreas Arvidis Manuductio ad poesin svecanam, die 1651 in Strengnäs bei Zacharias Brocken herauskommt. Da die Manuductio gleich selbst vormacht, wie die imitatio auctorum funktioniert - Aufbau, Inhalt, über weite Strecken auch Wortlaut zeitgenössischer Dichtungstheoretiker (etwa aus dem Umkreis der Fruchtbringenden Gesellschaft) werden von ihr übernommen - und da sie auch die Anwendung der Reim- und Versgesetze im Rahmen von Beispielgedichten vorführt, gilt sie als unoriginelles Machwerk. Ich möchte im folgenden in einer eingehenden Lektüre dieses Textes wie auch seiner wichtigsten Vorlage, Martin Opitz' Buch von der Deutschen Poeterey von 1624, beim Thema Imitation/Nachahmung bleiben, jedoch ein wenig von der Einflußfrage abgehen und stattdessen die Relation von Imitation und Repräsentation neu überdenken, und zwar sowohl hinsichtlich der beiden Begriffe als auch hinsichtlich der Techniken, die mit den Begriffen verbunden sind. Denn die Regelpoetik gibt auch auf die Frage 'Was ist Dichtung?' Antworten, welche mit der Art und Weise, wie die Poetik die Frage nach dem Wie beantwortet, zusammenhän1

Vgl. G. Gregory Smith (ed.): Elizabethan Critical Essays. 2. London 61967,

S.

96101

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Barbara Säbel

gen, wenn nicht gar zusammenfallen. Es wird mir dabei um die Beobachtung gehen, daß für die frühneuzeitliche Poetik Zeitlichkeit ein zentraler Begriff ist, insofern sie diese zu gleichen Teilen als Bedingung und Verhinderung von Textualität präsentiert.

Opitz' Text, den ich hierauf zunächst prüfen möchte, ist dafür ein gutes Beispiel, denn er zeigt dem Leser auf besonders markante Weise die Spuren seiner eigenen Geschichtlichkeit.

Opitz' Poeterey : eine Frage der Zeit Daß man es bei der Poeterey2 mit einem Text zu tun hat, welchen sein Autor einem ebensogut als Zeitkrise wie Krisenzeit zu bezeichnenden Notstand abgerungen hat, ist ein Eindruck, welcher der Lektüre geradezu aufgedrängt wird. Man kann so weit gehen, die These aufzustellen, daß Opitz' kleine Dichtungstheorie intern gar erst organisiert wird durch die rekurrente Selbstanklage, die Darstellung sei in diesem und jenem Punkt unvollständig, und durch die ebenso häufige Selbstentlastung, die diesen Makel dem chronischem Zeitmangel anrechnet, unter dem der Verfasser bei der Niederschrift der Poeterey gelitten habe. Bereits die am Anfang der Darstellung stehende Widmung an ,,[d]eren Ehrenvesten [...] Bürgermeistern vnd Rathsverwandten der Stadt Buntzlaw" zieht den Lesenden in eine hastende Bewegung hinein, die sich erst im VIII. Kapitel mit dem Titel „Beschluß" vollendet: „|D]ie enge der zeit" hindert Opitz, heißt es da, „weitleufftiger und eigentlicher zue schreiben" (S. 3), „vor fünff tagen" habe er „die feder erst angesetzt". Es mag „in dem eilen" einiges „außengelassen", anderes einbezogen worden sein, das „ja im minsten verbeßert sollte werden" (S. 53). Auf diese Weise gewinnt der Schreibprozeß der Poeterey selbst eine klare geschichtliche Kontur. Für meine Untersuchung relevant ist aber v.a. der Umstand, daß zugleich auch die aus dem Schreiben entstandene Repräsentation zeitlich konturiert wird. Denn da ihr Zustandekommen mit einer (vorgeblich) außerhalb des Textes herrschenden Zeitökonomie, eben einer Ökonomie „in betrachtung der kurtzen zeit" (ebd.) zusammenhängt, ist der Verfasser genötigt, den Raum der poetologischen Darstellung zu verknappen, „damit ich mich nicht zue lange auffhalte" (S. 12). Das Gebot der Wirtschaftlichkeit also reguliert, was in der Poeterey zu lesen ist und was nicht. Im Repräsentationsverfahren der imitatio auctorum zeigt sich nun die Exekutivmaßnahme dieses Zeitgesetzes, denn die Aussparung zahlreicher poetologischer Aspekte, die bereits von anderen Autoren

dargestellt worden sind und die allein in Form von Literaturhinweisen in der Poeterey repräsentiert sind, bedeutet für den Textkörper einen Raum- resp. Seitengewinn und für seinen Verfasser ein Zeitguthaben, das er anderweitig einzusetzen vermag: ,,[I]st allbereit hin und wieder so viel bericht darvon geschehen, das es Richard Alewyn, Wilhelm Braune (Hg.): Martin Opitz.-' Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Neudrucke Deutscher Literaturwerke, Neue Folge 8. Hg. Richard Alewyn, Rainer Gruenter. Tübingen 1963.

Arvidis Manuductio und Opitz' Deutsche Poeterey

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weiterer außführung hoffentlich nicht wird von nöthen sein." (S. 12)3 Insofern ist die Imitatio weniger die Verhinderung als die Ermöglichung von Originalität: alle dem Autor zur Verfügung stehende Zeit bleibt (so das Selbstbildnis des Textes) für die Darstellung von Neuem und noch nicht Dagewesenem übrig, das dann entsprechend „außführlich" und „vmbstendtlicjh]" (S. 7) repräsentiert werden kann. Nun markiert die Poeterey ihre Geschichtlichkeit noch in einer anderen Hinsicht, die eng mit ihrer Selbstbeschreibung zusammenhängt und auf die ich jetzt zu sprechen kommen möchte. „[Vjorwichene tage" (wir sind immer noch bei der Widmung) hat Opitz etwas von der „Deutschen Poeterey" aufgesetzt, das dem „Vaterlandt [...] rühm und ehre" eintragen soll (S. 3). Dem Projekt, das Vaterland und noch spezieller die Stadt Buntzlau „durch mich bekandter" zu machen (S. 4) durch die „beßere fortpflanzung vnserer sprachen", läuft allerdings der Alltag des Verfassers mit „allerley vngelegenheit" entgegen, der dem Schreibenden „von denen zuegefüget wird, welche [...] wünschen wolten, das auch das gedächtnis der Poeterey vnnd aller gutten Künste vertilget vnd außgerottet würde." (S. 3) Wenn Opitz von diesen Kunstverächtern, den mysomusoi, spricht, so meint er konkret die „großen Männer" im Staat (S. 3). Er stellt auf diese Weise einen Bezug her zum historischen, politischen, ökonomischen, sozialen etc. Rahmen seines Werks, und es wird klar, daß die eben erörterte Darstellungsökonomie der Poeterey sich aus eben diesem konkret-geschichtlichen Rahmen herleitet. Ins Zentrum seiner Rede von der Dichtung und von der Dichtungstheorie, in den Mittelpunkt des Selbstbildnisses der Poeterey nämlich rückt Opitz einen Rechtfertigungszwang gegenüber dem (vorgeblichen) 'Außerhalb-des-Textes', welcher mit dem Gebot der Wirtschaftlichkeit unmittelbar verknüpft ist. Ablesen läßt sich dies u.a. daran, daß die Poeterey viel weniger davon spricht, was Dichtung ist, als davon, ob Dichtung notwendig ist. Doch die Behauptung daß und die Begründung warum sie notwendig sei, wird gerade durch den Umstand erschwert, daß Opitz in selbstkontradiktorisch anmutender Weise eine Verortung und eine Vermessung seines Gegenstandes auf dem Gebiet der vom Außerhalb-des-Textes' ausgehenden Repräsentationsökonomie vornimmt, die er doch vorab und kategorisch als Angelegenheit' entwertet hat. Selbst schreibt er fest, daß im Vergleich mit den öffentlichen Ämtern und Posten die Dichtung (und mit ihr die Dichtungstheorie, die Poeterey) kaum einen Wert hat: „Weder öffentlichen noch Privatämptern" kann allein „mit versen [...] vorgestanden" werden. Die Lösung des komplizierten Rechtfertigungsproblems geht einher mit der Auflösung der Fiktion vom Textaußen, die ich als eine der tragenden poetologischen Selbstfiktionen überhaupt bezeichnen möchte. Denn die einzige Apologie für die Poeterey ist in der Tat daher zu holen, die Dichtung selbst zu einem öffentlichen Amt zu erklären 3

Vgl. auch: „Bey den Griechen hat es Aristoteles vornemlich gethan; bey den Lateinern Horatius; vnd zue unserer Voreltern Zeiten Vida vnnd Scaliger so außführlich, das weiter etwas darbey zue thun vergebens ist." (S. 7) „Dieser Figuren abtheilung, eigenschafft vnd zuegehör alihier zue beschreiben, achte ich darumb vnvonnöthen, [...] weil wir [...] genungsamen vnterricht hiervon neben den exem-

pein aus Scaligers vnnd anderer gelehrten leute büchern nemen können." (S. 29)

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Barbara Säbel

und auf diese Weise der gesellschaftlichen Ökonomie unterzuschieben. Genau dies tut Opitz, wenn er verspricht, mit seiner Poeterey die Dichtung aus dem Zustand eines ungerichteten Überschusses, dem sie als Kunst (ars) verhaftet ist und in welchem sie, wie er schreibt, lediglich „getrieben" wird, einem anderen Status zuzuführen,

in dem sie als officium bzw. „ampte" mit einer ,,verfassun[g]" (S. 7) ausgestattet sein werde (diese konstituierende Verfassung ist natürlich die Poeterey selbst, der damit ebenfalls volle Legitimation zuteil wird). Dergestalt kommt es also zu einer seltsamen wechselseitigen Markierung, die die geschichtliche Ordnung und der Text, der doch anfänglich so stark betont, seinen Ort außerhalb der Zeitökonomie des Alltags zu haben, einander eintragen und in der die Rede vom Textaußen sich verliert. Von einer wechselseitigen Markierung muß in diesem Zusammenhang gesprochen werden, weil die Art und Weise, auf die die Umklassifizierung der Dichtung zum Amt stattfindet, in genau jener subversiven Form des Unterschiebens geschieht, welche die Möglichkeit offenläßt, daß das Kuckuckskind seine Zieheltern eines Tages überwächst. Um aber zurückzugehen zum paradoxen Zeithaushalt, der der Poeterey als Grundbedingung eingeschrieben ist, so setzt dieser sich im Vollzug des Textes fort, insofern er auch die Zuschreibungen der Poeterey an ihren Gegenstand, die Dichtung, verpflichtet. Der Text legt großen Wert darauf, die Dichtkunst als Zeitliches in der Zeit zu definieren, gleichzeitig jedoch auch eine Differenz geltend zu machen, die die Dichtung von der Zeitlichkeit der 'wirklichen' Welt abhebt. Auf Seite elf der Poeterey wird diesbezüglich einerseits festgehalten, daß der Erfolg eines poetischen Vorhabens bestimmt ist durch „die rechte zeit" und „gelegenheit", umgekehrt sein Mißlingen mit dem „vngestümen ersuchen" einer Kundschaft gerade um Gelegenheitsdichtung zusammenhängt, um Texte also, die in formaler und inhaltlicher Hinsicht mit einem historischen Anlaß (Begräbnis, Hochzeit, Richtfest etc.) korrespondieren müssen. Als Objekt des Handels (zwischen Dichtendem und Auftraggebendem) und des Tausches (rituelle Güterzirkulation) erhält das Gedicht eine Gegenwart, es wird präsent. Aus der in dieser Form festgelegten poetischen Gegenwart heraus entwickelt Opitz' Text analog auch einen poetischen Vergangenheitsbezug, und zwar anläßlich des wieder aufgegriffenen Vorwurfs, Poeten seien in „öffentlichen ämptern wenig oder nichts zue gebrauchen" (S. 9). Diesen entkräftet Opitz mit dem Verweis auf die Dichtungsgeschichte, auf die auctores: „Solon, Pythagoras, Socrates, Cicero" haben sich ihres „Poetennamens nie geschämet", und „wer kan leugnen, das nicht Virgilius ein gutter Ackersman, Lucretius ein vornemer naturkündiger, Manilius ein Astronomus, Lucanus ein Historienschreiber, Oppianus ein Jägermeister" (S. 10) gewesen ist. Die Poeterey argumentiert folglich dahingehend, daß erst die Doppelung der Person des Dichters, die sich aus seiner zweiten, öffentlichen Funktion ergibt, dem sozialen Ganzen Nutzen zuzuführen vermag und erst komplementiert durch ein solches officium die Dichtung in einem Gefüge von Notwendigkeiten, Funktionen, Zwecken präsent werden kann.

Arvidis Manuductio und Opitz' Deutsche Poeterey

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Auf dem Boden dieser Ökonomie gibt es nun aber einen

anderen, gegenläufigen Zeithaushalt, der als Doppelgänger der präsenten, gesellschaftlichen Ordnung diese zu sprengen droht. Das Kriterium der Differenz der beiden Ökonomien ist die Praxis.

Opitz macht dies ganz deutlich: er stellt polemisch die Zeit der poetischen und die Zeit der sozialen Praxis einander diametral gegenüber. Zeit, die mit der „anmutigkeit vnseres studierens" gefüllt ist, ist ungleich wertvoller angewandt als „die zeit, welche viel durch Fressereyen, Bretspiel, vnnütze geschwätze, verleumbdung ehrlicher leute" (S. 56) dahingeht. Zeit- und Güterökonomie sind dabei eindeutig gekoppelt, allerdings treten zwei unterschiedliche - qualitativ und quantitativ messende Taxonomien in Kraft; Viel ist nicht gleich Viel. ,,[D]ie reichen" füllen die Zeit mit ,,lustige[r] vberrechnung des Vermögens", doch vermag dieses Vermögen nicht jene „Sachen" zu „erkauffen", „welche die armen offte haben." (ebd.) Opitz nennt die Dichtung „meine grosseste frewde vnd lust auff der Welt" und beschreibt weiter „die vnvergleichliche ergetzung, welche wir bey vns selbst empfinden, wenn wir der Poeterey halben so viel bûcher vnnd schrifften durchsuchen." (S. 55) Interessant ist nun, daß im Vergleich mit materiellem Besitztum die Dichtung nur dann einen Mehrwert hat, wenn man sie unter jenem Aspekt ihrer Zeitlichkeit betrachtet, den eine ihrer wichtigen Praktiken, die imitatio, mit sich führt. Denn beim Studieren der Bücher und Schriften, welches Voraussetzung der imitatio auctorum ist, kommt es sozusagen zu einer Dehnung des gegenwärtigen Augenblickes, d.h., die Gegenwart der Lektüre öffnet sich auf die Vergangenheit des Geschriebenen hin und macht dieses präsent. In „dem geheimen gespreche vnd gemeinschafft der grossen hohen Seelen, die von so viel hundert ja tausendt Jharen her mit vns reden" (S. 56) findet - so will es die Fiktion der Poeterey etwas statt, das man als eine 'Transaktion mit der Antike'4 bezeichnen könnte. Eine genauere Prüfung der einzelnen Bestandteile dieser Fiktion liefert nun erneut einen überraschenden Befund, den Befund eines weiteren repräsentationstechnischen Paradoxes. Wenn, wie es heißt, Lesen zum Gespräch zwischen Texten wird, dann ereignen sich die poetischen Sprechakte (der Niederschrift und der Lektüre) simultan und gerade ohne jene zeitliche Differenz, die am Ausgangspunkt der Argumentation als wesentliches poetisches Charakteristikum galt. Der Makel der Zeitlichkeit, den die Poeterey an ihrem Anfang der Dichtung zuschreibt und den sie in Folge im Kontext ihrer apologetischen Rede zum Verdienst ummünzt, zeigt sich so zum Schluß selbst als Fiktion, die von einer noch größeren Fiktion, welche den eigentlichen Mythos der Poetik darstellt, unterlagert wird. Es handelt sich dabei um die bereits erwähnte Fiktion, daß Dichtung qua Imitation, also qua Praxis ein 'Außerhalb-der-Zeit' sei. Die Frage nach dem Wesen der Dichtkunst, die der Selbstdefinition des Textes gleichkommt, kann die Poeterey (die ich in dieser Hinsicht als Stellvertreterin der frühneuzeitlichen Poetik sehen möchte) nur über ihre eigenen

-

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4

Mary Thomas Crane: Framing Authority. Sayings, self, and society in sixteenth-century England. Princeton/New Jersey 1993, S. 3.

Barbara Säbel

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Praktiken und Vollzüge beantworten, über das Wie und nicht das Was der Dichtung. Die Imitatio als wichtigsten dieser verflochtenen Wege und Vollzüge und ihren Zusammenhang mit den diversen textuellen Ökonomien möchte ich jetzt genauer untersuchen.

Copia: Vervielfältigung, Reichtum, Überfluß Terence Cave hat auf die Mehrfachbedeutung des Terminus copia in der lateinischen Klassik und im europäischen Mittelalter hingewiesen. Hier bezeichnet sie konkreten Reichtum (speziell an Macht), Kopiervorgänge (von Manuskripten) und die rhetorische Figur stilistischer Vielfalt und Überflusses.5 Alle diese Bedeutungen bleiben im Terminus imitatio enthalten, der beschreibt, daß und wie der Reichtum eines früheren Textes verwertet, d.h. in den eigenen überführt wird. Auch die Poeterey ruft wörtlich das ganze Bedeutungsspektrum des Ausdrucks copia auf, wenn sie von den Funktionen der Imitatio!Nachahmung handelt. So heißt es, in „dem geheimen gespreche vnd gemeinschafft der grossen hohen Seelen" werde nicht nur „rhue", sondern vor allem „genüge" (S. 56) hergestellt. „Genüge" bezieht sich hier, wie schon angedeutet, nicht auf materielle Güter, denn weiter liest man: „Vber dieser vnglaublichen ergetzung haben ihrer viel hunger vnd durst erlitten, ihr gantze vermögen auffgesetzt" (S. 56). Diese andere ökonomische Ordnung, in der Reichtum und Ergötzung nicht vom sozusagen handfesten Vermögen abhängt, wird nachstehend aufs Nachdrücklichste gepriesen, während die Alltagsökonomie entwertet wird: „Die die in ansehung ihres reichthumbs vnnd vermeineter vberflüssigkeit aller notdurfft ihren stand weit vber den vnserigen [also der Dichter, B.S.] erheben" (S. 55-56) erkennen nicht, „das es weit besser sey, viel wissen vnd wenig besitzen, als alles besitzen vnd nichts wissen." Um es zusammenzufassen: die Poeterey konzipiert die Dichtung (oder allgemeiner gesprochen den Text) über die Analyse eines ihrer Repräsentationsverfahren (der imitatio) als jenen Ort, an dem ideeller Reichtum akkumuliert wird und der die materielle Ordnung der Sozialökonomie transzendiert, wodurch sie sich selbst eine Existenzberechtigung verschafft. Dieses idealisierende (Selbst)bildnis, das ich eben als Fiktion bezeichnet habe, ist allerdings gerade an der Stelle der Repräsentationsverfahren brüchig. Denn die Poeterey spricht von ihrer eigenen Gegen-Ökonomie in der Sprache der anderen, der konventionellen Ökonomie, wie die gerade untersuchten Passagen und ihre Rede von Nutzen, Notwendigkeit, Reichtum, Überfluß etc. gezeigt haben. Als Text wird

die Poeterey inhaltlich und formal bestimmt von Tarifvorgaben der sozialen Ökonomie, insofern Haben oder Nicht-Haben von Zeit, die geglückte oder gescheiterte Eroberung eines Zeitraums zum Lesen und Schreiben trotz aller Gegenrede immer

5

Vgl. Terence Cave: The Cornucopian Text. Problems of Writing in the French Renaissance. Oxford 1979. S. 3-5.

Arvidis Manuductio und Opitz' Deutsche Poeterey

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noch über Gelingen und Scheitern der Repräsentation entscheidet. Opitz wird von einer längeren Darstellung abgehalten, weil höhergestellte Personen ihn in Anspruch nehmen, der Gelegenheitsdichter von seinen Auftraggebern zur Textproduktion zum ungünstigen Zeitpunkt genötigt; Resultat sind lückenhafte Traktate und schlechte Gedichte. Statt also einen Gegenentwurf, einen idealen oder utopischen Raum zu schaffen, imitiert die Dichtung das zeitökonomisch definierte Machtgefüge der Kontexte, in denen sie gerade entsteht, ihre Repräsentationsverfahren oder besser Produktionsstrategien sind ebenfalls ökonomischer Natur, wie ein nochmaliger Blick auf die poetologischen Konzeptionen der imitatio in der Poeterey zeigt. Denn indem in der Nachahmung der klassische Text zur Gegenwart kommt, wird seine Historizität in Besitz genommen und aufgelöst. Die imitatio ist der Mechanismus, mit dem die Konsumption der Eigenarten des einen Textes durch die Gegenwart des anderen Textes erfolgt. Renaissancepoetiken beschreiben diesen Vorgang explizit auch als „digestion", sein Resultat als „incorporation"6 der Quellentexte und drücken darüberhinaus das Stilideal der copia (dem die imitatio untersteht) in diversen Überflußmetaphern aus, bspw. aus den Bereichen „cornucopia, natural or seasonal productivity, gold and other forms of material affluence, sexual fertility, eating and drinking"7. Auch das „gespreche", das in der Fiktion der Poeterey „hundert ja tausendt Jhar[e]" ineins fallen läßt, stellt sich insofern als Einverleibung der Vergangenheit dar, als es sich hier mehr um eine 'diskursive Praxis'8 der Gegenwart als eine gleichberechtigte Unterhaltung handelt. Wenn antike Literatur gedacht wird „as space containing textual fragments", so wird Interaktion mit dieser Literatur verstanden als „collection and redeployment of those fragments and not as the assimilation and imitation of whole works."9 Zugriff auf den simultanen Raum wird zum Übergriff auf den klassischen Text, der nur zerstückelt in der eigenen Darstellungsökonomie nutzbar gemacht werden kann. Mary Thomas Crane bezeichnet diese Imitationsstrategie als 'gathering and framing', wodurch die Texte der Antike, nurmehr fragmenthaft aufbewahrt in „a common storehouse of matter", im frühneuzeitlichen kulturellen Code wiedergegeben werden können. Sie liefern „matter for copious speech" und verleihen dem neuen Text Autorität: Sprache ist ein 'symbolisches Kapital'."'Der klassische Text muß zerstückelt werden, um sicherzustellen, daß der Code der Gegenwart nicht verletzt wird. Sprache wird folglich als Machtinstrument verstanden, das unter Kontrolle halten und außer Kontrolle geraten kann. Crane führt dieses Verfahren auf zwei Probleme der Frühen Neuzeit zurück: die Angst, nichts oder zu wenig auf Lateinisch sagen zu können, und die Angst des Kontrollverlustes über die Sprache allgemein. Während die Textpraxis copia (im Akt des Sammeins) die erste Problemstellung zu lösen versucht und die Textpraxis 6 7 8 9 10

T. Cave, Cornucopian Text (1979), S. 37. T. Cave, Cornucopian Text (1979), S. xiii. M. T. Crane, Framing Authority (1993), S. 3. M. T. Crane, Framing Authority 1993), S. 4. M. T. Crane, Framing Authority (\992>), S. 6-7.

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' framing (im Akt des Anordnens)1 die zweite, sind beide im Projekt der Renaissance aufgehoben, angesichts des „scandal of the mutability, the ungrounded contingency of language"12 einen authentischen muttersprachlichen Diskurs herzustellen. Das Problem der Sprache und das Problem der Zeit fallen ineins, und ich möchte im

darauf eingehen, wie in der Poeterey, die sich als Sachwalterin des einen wie des anderen versteht, mit dieser Verquickung umgegangen wird. Auch in Opitz' Dichtungslehre ist die temporale Konzeption sowohl der eigenen Präsentation wie auch des repräsentierten Gegenstands (d.h. der Dichtung) in der Idee einer diachronen Sprache aufgehoben. „Die Poeterey ist anfanges nichts anders gewesen als eine verborgene Theologie"13: die Setzung des zeitlichen Ursprungs bedeutet zugleich die Setzung der oben problematisierten Diskontinuität, die den eigenen Text miteinbezieht. Denn auch von diesem wird berichtet, daß und wie er in der Zeit entsteht, von dieser in seiner Form bestimmt wird und mit der Zeit anderen Deutungen unterzogen werden wird. Die Poeterey geht insofern von einem Textbegriff aus, der nicht nur ein statisches Produkt (z.B. das Gedruckte) sondern auch Textverläufe und -praktiken bezeichnet. Das wird signifikanterweise gerade an jenen Passagen deutlich, in denen die Poeterey die Diachronizität der deutschen Sprache thematisiert, dort also, wo sie von den unterschiedlichen Anwendungen resp. Praktiken spricht, in denen die Sprache im Laufe ihrer Geschichte sich jeweils manifestiert hat. Bei Opitz geht in diesem Zusammenhang die Verwendung der Begriffe Sprache und Dichtung ständig durcheinander, wodurch der Eindruck entsteht, er nehme für beide die gleichen Voraussetzungen an. Diese Voraussetzungen wiederum lassen für die in unserem Kontext interessierende, die poetologische Ebene, die Folgerung zu, daß die Dichtung oder allgemein die Textualität gleich der Summe ihrer geschichtlichen Praktiken ist. Denn man liest, die Sprache/Dichtung habe zuerst im sagenhaften altgermanischen „gebrauche" bestanden (S. 15), dann in einem „vben", das „von langer zeit [...] in vergessen gestellt ist worden" (S. 16). Und heute schließlich, in „diesefn] trübseligen Zeiten", fordert die Poeterey, daß die deutsche Sprache/Dichtung trotz aller Hindernisse doch „außgeubet werden" solle (S. 14). Der Text leistet hier also eine défini tori sehe Zuschreibung im Sinne der Bestimmung des 'Was ist Dichtung', die sie aus dem 'Wie geht Dichtung' herleitet. Wie groß das Vertrauen in die Praxis ist, zeigt sich darin, daß allein von ihr - durch Stabilität erwartet wird. Nur die unablässiges Ausüben der Sprache/Dichtung Praxis, so argumentiert Opitz' Text paradoxal, schafft Kontinuität, doch ist es gerade nicht die formal-praktische Seite der Sprache, die hier stabilisiert werden soll, sondern ihr Inhalt, der Sinn, die Bedeutung, welche sonst ihrer jeweiligen Geschichtlichkeit anheimgestellt sind. „Zue Zeiten" befindet nämlich Opitz, werde „mit den heidnischen Götternamen [...] was anders angedeutet" (S. 12). folgenden

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" Vgl. M. T. Crane, Framing Authority (1993), S. 13,12. Thomas M. Greene: The Light in Troy: Imitation and Discovery in Renaissance Poetry. The

12

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Elizabethan Club Series 7. New Haven, London 1982, M. Opitz, Deutsche Poeterey (1963), S. 7.

S. 5.

Arvidis Manuductio und Opitz' Deutsche Poeterey

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Während Lateinisch und Hebräisch als natürliche Sprachen in Kontinuität und Stabilität begriffen werden, haftet den frühmodernen Dialekten der Makel des zweiten Falls zu Babel an: die Historizität, die den muttersprachlichen Text der Gefahr anheimgibt, in der Zukunft unleserlich zu werden. Fixierung von Grammatik, Orthographie und Interpunktion versuchen, den Signifikanten an das Signifikat zu binden.14 „Vt igitur à rudimentis incipiam": es ist das Anrecht auf einen Anfang, eine Urheberschaft, das der frühneuzeitlichen vergleichenden Sprachwissenschaft Autorität verleiht, wie ein beliebiges Beispiel, Eric Schroderus' kleines Lexicon latino-scondicum von 1637 zeigt. Vieles dreht sich hier um den Nachweis, daß die eigene Sprache auf ein Idiom zurückgeht, dessen Grapheme (die Runen) wiederum unmittelbar auf eine natürliche Sprache zurückleitbar sind. Diese Selbstautorisierungsgeste, die sich, wie die Poeterey zeigte, auch in vielen frühneuzeitlichen Poetiken findet, die Autorität für Dichtung/Textualität anstreben, hängt folglich stark mit einem Gebrauchszusammenhang, einer Konvention der Schrift zusammen, welche das ist die Fiktion einst in einem einzigen Akt von einem einzigen (wohlgemerkt menschlichen) Schöpfer ins Leben gerufen wurde und von dann an in Zeit und Raum verlaufen ist:15 „Proprias quidem Scondij olim habuerunt literas, nomine Runas, ductu linearum Hebraicis quam similimas, à Magogo inventas Schytico, & cum Thuiscone Germanorum Duce, A. M. 1799. communicatas, qui alias nön invenit unquam". Daß es das Lateinische vermag, die Ausübung der eigenen Schrifttradition zu unterbrechen, ist nur zu rechtfertigen, wenn diese Unterbrechung einer noch höheren (nämlich metaphysischen) Autorität zur Geltung verhilft: „donec Latinae propter religionis transplantionem antiquis substituerentur Runis"16. Auch die Sprachpflege sieht sich in der gleichen problematischen Doppelbindung, die die Imitatio zwischen Vorlage und neuem Text herstellt: der Primat der Volkssprache gegenüber dem Lateinischen soll durch die Selbstbeschreibung geleistet werden, für die aber allein die lateinische Sprache die Repräsentationsstrukturen liefert. Das Reden über die eigene Sprache findet statt in dem Idiom, von dem es sich doch abzugrenzen gilt; sobald komparative Strukturen ausfallen, wird die Beschreibung schwer und die Systematisierung gar unmöglich.17 Die frühneuzeitliche

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Vgl. T. M. Greene, Light in Troy (1982), S. 4-7. Stina Hansson führt aus, wie der Nachweis, daß „svenskan [...] är identisk med sig själv" ('das Schwedische mit sich selbst identisch ist') sein Argument aus der götizistischen Staatstheorie gewinnt: da der Höhepunkt staatlicher und sprachlicher Entwicklung geschichtlich koinzidiert und Schweden seine politische Macht noch nicht voll entfaltet hat, befindet sich auch das Schwedische noch in einer Entwicklungsphase, die Veränderungen gegenüber dem alten 'gotischen' Idiom sind dergestalt sanktioniert. Vgl. Stina Hansson: Svenskans nytta, Sveriges cira. Litte rat ur och kulturpolitik under 1600-talet. Skrifter utg. av litteraturvetenskapliga institutionen vid Göteborgs universitet I I. Göteborg 1984, S. 19. Ericus Johannis Schroderus: Lexicon latino-scondicum, quo quatuor celebriores totius Europœi lingua• [...] methodicè inculcantur [...]. Holmire sueonum, Sumptibus & typis Henrici Kteysers Regij Typographi, Anno CIO IOC XXXVII 11637], b T. 'In mehreren wichtigen Punkten im Sprachsystem fehlten den schwedischen Pioniergrammatikern unmittelbare, direkt übertragbare Vorbilder im Lateinischen [...]. Sie sahen sich vor ein Beschrei-

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Poetik reflektiert diese Diskurse in markanter Weise. So spricht Andreas Arvidi vom Schwedischen (mit Anlehnung an Opitz) als einer 'Hauptsprache', die den eigenen 'Prœcepta und Geboten' gehorchen muß, um gleich darauf die Orientierung am Griechischen und Lateinischen zu fordern (vgl. S. [3]). Auch der natürliche Wortakzent des akzentuierenden Schwedisch kann von ihm nur mit dem Begriffsinventar der quantitierenden neulateinischen Dichtung beschrieben werden: die Überschrift des 4. Kapitels, „Om the Swenske Ordsens Mâtt eller Quantiteet"18, faßt diesen Beschreibungsnotstand zusammen: 'Alle Silben, die langsam und mit scharfem oder hohem Ton ausgesprochen werden, sind lang, umgekehrt wiederum sind alle Silben, die kürzer und mit gesenktem Ton ausgeführt werden, kurz.' (ebd.) An anderer Stelle behauptet Arvidi: ,JMusei, Homeri och Hesiodi Ahörare, om the nu lefwa skulle, och äff oß Swenske een sâdan Konst höra och förstä künde, twiflar ingen, at the ju myckit högre skulle wärt Swenske Poeterij skatta, än säsom theras Musei, Homeri och Hesiodi"}9 Und doch kann er seine Anleitung zur schwedischen Dichtung, die Manuductio, erst durch die Auswertung der von ihm selbst disqualifizierten lateinischen und griechischen Texte herstellen, 'anhand derer man sich verschiedener Kunstgriffe, Motive und Historien kundig machen kann' (vgl. S. [5]). Dann wäre die imitatio also im wörtlichen Sinne ein (wie Opitz schreibt) „abstehlen'00, und durch einen Diebstahl (oder jedenfalls eine Irritation der ökonomischen Ordnung des Textes) wären Vorbild und Nachahmung miteinander verbunden. Heimlich wird der Besitz der Vorlage reduziert und heimlich der eigene Text bereichert, bis er den anderen Ubertrifft; heimlich insofern, als keiner der beiden Texte diesen Diebstahl explizit zu thematisieren vermag oder wagt. Daß eine direkte und eindeutige Repräsentation sogar im Rahmen dieser poetologischen, nach Lehrmeinung also gerade definitorisch gehaltenen Textgattung unmöglich ist, erhärtet die These, daß die frühneuzeitliche Dichtungstheorie, die deshalb zurecht auch als Texttheorie bezeichnet werden darf, nicht an der Repräsentation der poetischen Verfahren selbst interessiert ist, sondern diesen Verfahren nur deshalb soviel Raum in der Darstellung zukommt, weil durch ihre Einsetzung tatsächlich das Wesen der Textualität abgebildet werden kann, ohne dieses jedoch explizit, als es selbst zu repräsentieren. Diese Differenz zwischen Abbildung und Repräsentation und zwischen den ihnen jeweils zugehörigen textuellen Praktiken scheint mir wichtig. Denn die Wege des Abbildens, wie ich etwas unpräzise die Textverfahren, zu denen die imitatio gehört, für den Moment nennen möchte, umkreisen diesen Dreh- und Angelpunkt der Re-

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bungsproblem gestellt, das in vielen Fällen äußerst schwierig gewesen sein muß. [...] Ich führe hier zwei zentrale Phänomene im Nominalkomplex der schwedischen Morphologie an, das Deklinationssystem des Substantivs und den Artikel.', vgl. Lars Wollin (red.): Tiällmannstudier. Nordlund. Smâskrifter frân Institutionen för nordiska spräk i Lund 4. Lund 1984, S. 46. 'Über Maß und Quantität der schwedischen Wörter', S. [29], 'Niemand bezweifelt, daß die Zuhörer Musteus', Homers und Hesiods, wenn sie heute lebten und von uns Schweden solche Kunst hören und verstehen könnten, unsere Schwedische Poeterei ja weit höher schätzen würden als die ihres Museaeus, Homers und Hesiods.', A viij". M. Opitz, Deutsche Poeterey 1963), S. 29.

Arvidis Manuductio und Opitz' Deutsche Poeterey

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Präsentation (die Dichtung oder die Textualität) lediglich. Er kommt nur als Subtext zur Abbildung, als Repräsentation, die dem/n Text gleichsam unterläuft. Diesbezüglich haben wir es in der Poetik mit einem skandalösen double bind zu tun: vom Repräsentationsobjekt geht zu gleichen Teilen ein Repräsentationsgebot und ein Repräsentationsverbot aus. Letzteres, insofern die zum Einsatz kommenden Repräsentationsverfahren, allen voran die imitatio, von ihrem eigenen subversiven Potential wie auch vom subversiven Potential der Textualität überhaupt zeugen, was sich im Bild vom Textdiebstahl manifestiert, welches ja auch die Gefahr ankündigt, dieses

Potential könne 'autoaggressiv' wirken. Ersteres, weil die Befolgung des Verbots die Dichtung zu repräsentieren - der Selbstverhinderung der Dichtungstheorie gleichkäme. Daß in Opitz' Text verschiedene rivalisierende Repräsentationsökonomien vorliegen, die sich die gleichen Begriffe oder Signifikanten teilen, läßt sich folglich als Versuch des Textes werten, dem Gebot und dem Verbot gleichermaßen gerecht zu werden. Die 'Autoaggressivität' tritt also als wichtigste Bedingung von Textualität in die poetologische Konzeption der frühneuzeitlichen Dichtungstheorie ein. Im folgenden soll das Phänomen, das ich auch als Poiesis bezeichnen will, näher beschrieben werden: wie kontrolliert der Text sein subversives Potential, und wie hängt diese Kontrolle mit den Ordnungen des Textes, mit seinen impliziten und

expliziten Anteilen, zusammen?

Die Ökonomie des kontingenten Textes

In Zusammenhang mit diesen Fragen komme ich nochmals auf Opitz' Poeterey zurück. Das Regulierungsbemühen hinsichtlich der Poiesis artikuliert sich hier in erster Linie in den verschiedenen Postulaten, die Dichtung erfüllen muß, wenn sie als 'gut' gelten will. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß Opitz die Dichtung in diesem Sinne auch als „ampte", als Institution, klassifiziert. Als solches soll sie für eine stabile ,,verfassun[g]" der Dichtung sorgen, welche der Veränderlichkeit der Muttersprache entgegenwirkt, die Sprachgeschichte stillstellt und gleichzeitig zur „beßeren fortpflantzung" der Sprache beiträgt. Diesem Vorsatz folgend setzt sich die Poeterey energisch gegen Dialektformen, Barbarismen und Neologismen ein, um eine allgemeine deutsche Hochsprache zu gewinnen (vgl. S. 24-25), welche ihrerseits in der Dichtung mit allen ihren phonetischen, prosodischen, grammatikalischen und Merkmalen zur Repräsentation kommen soll.21 Diese sprachpflegerischen Forderungen sind generalisierender Natur und beziehen sich auf die Dichtung im Allgemeinen; entsprechend wenig wirkungskräftig sind sie da, wo diese konkret wird, d.h. als Sanktionen der poietischen Energie. Um dieser nun einen Riegel vorzuschieben, führt Opitz zunächst ganz alltägliche Anforderungen an Dichter und Dichtung ein, die beiden aus den „öffentlichen ämptern" erwachsen, wobei Opitz syntaktischen

21

Vgl.

S. 33, S. 38, S.

34-35, S. 28.

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festlegt, „das [...] weder öffentlichen noch Privatämptern mit versen könne vorgestanden werden" (S. 3). Nicht nur wird in diesem Sinne die Schreibzeit oder die Zeit des Textes der öffentlichen Zeitökonomie, d.h. anderen öffentlichen Aufgaben mit scheinbar größerer Legitimität untergeordnet (vgl. S. 3, S. 9-10). Vielmehr setzt sich auf diese Weise die zunächst formale, verallgemeinernde Abwertung der Dichtung 'als solches' auch in bezug auf den poetischen Inhalt fort, denn auch diesem gegenüber rückt Opitz den öffentliche Nutzen im Vordergrund, motiviert durch, wie es heißt, die „hebe zue meinem Vaterlande" (S. 4). Unterstützt wird diese Disziplinierungsmaßnahme durch den Umstand, daß in Opitz' Darstellung die Dichtung nicht nur nicht 'als solche', als Identität vorkommt, sondern als verschiedene funktionale und Rollenidentitäten. Bezeichnend sind die Zuschreibungen, die Opitz im Rahmen seiner apologetisch gemeinten Dichtungsgeschichte vornimmt: Als „verborgene Theologie" dient die Dichtung zur „erbawung der Gottesfurcht" (S. 7), als „erste Philosophie" ist sie „erzieherinn des lebens" (S. 8): „Dienet also dieses alles zue vberredung vnd vnterricht auch ergetzung der Leute" (S. 12). Diese Apologie der Dichtung exponiert den poetischen als funktionalen Text, der eine Autoritätshierarchie zugleich festlegt, legitimiert und durch Überzeugungsarbeit verbreitet. ,,[A]nfanges", so heißt es, ist die Poesie „nichts anders" (S. 7) gewesen: der autoritative zeitliche Ursprung der Dichtung, der im 3. Kapitel festgelegt wird und dessen Autorität mit einem theologisch-moralischen Inhalt zusammenfällt, entwickelt sich im Kapitel 4 in der Geschichte der deutschen Dichtung weiter. Die Erfindung des poetischen Gegenstands als allgemeine, ahistorische Kategorie wird hingegen kaum erörtert, die Gattungspoetik (Kapitel V.) fällt äußerst knapp aus, zumal im Vergleich mit der Quelle der Ausführungen, Scaligers Poetices libri Septem [1561, gedr. 1581] in der sie 29 Kapitel einnimmt.22 Den ausführlichen Normierungsversuchen, die das 6. und 7. Kapitel unter den Rubriken des Ornats und der Prosodie leisten und die die Zeitlichkeit der Sprache problematisieren, folgt das Schlußkapitel mit dem Entwurf der Synchronität im idealen Raum der imitatio. Dichtung ist zweifach zurückgebunden: auf eine Funktion, nämlich Ordnungen (die Werthierarchie, das Sprachsystem) die Zeitlichkeit (der Schreibprozeß, die zu fixieren, und auf ein Wesensmerkmal Literaturgeschichte). Ihr bleibt das versagt, was sie selbst für ihr Medium, die Sprache, herstellen soll: die Auflösung der Kontingenz in einer eigenen, überzeitlichen Ordnung. Wie der Text der Antike für den Sprachcode wird Dichtung als autonomes System zur Gefahr für den sozialen Code. Sie muß in gleicher Weise zerstückelt werden; dies geschieht, indem sie nur in jenen ihrer Teile vorgeführt wird, die innerhalb der sozialen Hierarchie funktionieren bzw. ohne Kontrollverlust repräsentierbar sind. Die Strukturierung der Poeterey durch die Zeitökonomie und die Dominierung ihrer Sprache durch ökonomisches Begriffsinventar sind die Spuren, die der vereinnahmende Übergriff durch die soziale Ordnung im Schreiben hinterläßt.

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Neudruck in Iulius Caesar Scaliger: Poetices libri Septem. Sieben Bücher Uber die Dichtkunst 3. Hg, Luc Deitz. Stuttgart/Bad Cannstatt 1995.

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Der Autor: Autorität und Authentizität Das eigentliches Problem der Poeterey ist nun ein Darstellungsproblem: wie kann Wesentliches über einen Gegenstand gesagt werden, von dem Wesentliches ungesagt

bleiben muß? Chiffre dieser Darstellungsaporie ist der Autor. Dieser führt in der Beschreibung der Poeterey eine Doppelexistenz: als Dichter ist er Privatmann, als Beamter eine Person des öffentlichen Lebens. In diesem Licht stellt sich Opitz selbst dar, wie er verzweifelt um Schreibzeit ringt, und zeigt er die griechischen und lateinischen Dichter in ihrer doppelten funktionalen Verankerung als die Autoren der Klassik und die Autoren der sozialen Wirklichkeit. Diese beiden Wirklichkeiten sind nicht autonom denkbar, sondern durchdringen sich über die funktionalen Zusammenhänge der Sprache. Sie begegnen sich im Raum einer sprachlichen Gegenwart, im Ist-Zustand der Sprache. Das von Opitz und zahlreichen anderen frühneuzeitlichen Poetologen formulierte Postulat der Sprachpflege ist auf die Veränderung eben dieser sprachlichen Präsenz ausgerichtet. Daß Opitz seine Forderung aber mit dem Argument des Nutzens für das Vaterland sanktioniert, zeigt, daß im sprachpflegerischen Projekt mehr ein institutionelles Interesse sich durchsetzt, dessen Werksteller der Dichter ist, als daß hier ein Individuum-Dichter bei der Arbeit an seinem Material sichtbar wäre. Und das, obwohl es der Poeterey gerade in der Darstellung des Dichters um die Abgrenzung des Allgemein-Poetischen vom KonkretRealen, des Poeten von den 'Anderen' geht und als solche versteht „die jenigen, welche aus der Poeterey nicht weiß ich was für ein geringes wesen machen" (S. 9), „diejenigen, welche [...] verse fodern" (S. 11), „Leute", die die Poesie „verfolgen" (S. 14). Doch bleibt die Abgrenzungsfigur nicht reine Rhetorik. „Poetische gemüter", so heißt es weiter, sind „vnterweilen etwas sicherer vnd freyer", „als es eine vnd andere zeit leidet" (S. 12). Auch könne niemand „durch gewisse regeln vnd gesetze zu einem Poeten" gemacht werden (S. 7). Der Dichter, dies ist der Poeterey wichtig, steht sowohl über seiner/der Zeit als auch Uber den sprachlichen Normen seiner/der Zeit. Weiter heißt es, der Dichter müsse „von sinnreichen einfallen vnd erfindungen sein" und „ein grosses vnverzagtes gemüte" besitzen (S. 11). Nun konkretisiert die Poeterey die Erfindungsgabe nicht (wie sie etwa an anderer Stelle ein Regelwerk für den Gebrauch der poetischen Sprache bereitstellt), sondern beschränkt sich auf die topische inspirationspoetologische Anmerkung, sie verdanke sich einer „regung des Geistes welchen Ovidius vnnd andere vom Himmel her zue kommen vermeinen" (ebd.). Der Umstand, daß die Poeterey nur an dieser einen Stelle einen Zugriff auf die Inspirationstheorie vornimmt, ist beispielhaft für die oben geschilderte Anwendung des klassischen im frühneuzeitlichen Text in der Imitatio. Exemplarisch läßt sich an dieser Stelle auch zeigen, wie die Rede der Poetik-Forschung vom topischen Charakter zahlreicher Renaissance- und Barockpoetiken kollabiert. Denn gerade weil das Inspirationskonzept nur als einzelnes Versatzstück dargestellt wird, erhält es argumentatives Gewicht, denn es fällt aus dem

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Rahmen der vorherrschenden Kosten-Nutzen-Ökonomie der Repräsentation. Es ist insofern nichts weniger als ein unreflektiertes, topisches Einsprengsel, sondern viel eher „a fragment of discourse which is constantly rewritten in order to produce new texts. [...] The repetition of the topos in successive texts causes a replacement or displacement of the meanings produced by that same topos in other contexts.'23 Die Übernahme des Gemeinplatzes von der göttlichen Herkunft der Dichtung funktioniert folglich als Signal, „as emblem[s] of how the texts manifest their own problems."24 Auf die Poeterey übertragen heißt dies, daß diese vermittels der topischen Rede von der originären Poetik dem Text, der aus den Wolken fällt das dominante institutionalisierte Bild von Dichter und Dichtung als Größen der gesellschaftlichen Zeitökonomie untergräbt. Und so kommt es amüsanterweise dazu, daß sich die vitale Gegenrede der Poeterey am besten mit einem bekannten Konzept beschreiben läßt, das der Regel- und Nachahmungspoetik allenfalls in abgeschliffener Form zugestanden wird: der Originalität. Damit ist bei Opitz sowohl die Innovationsleistung der dichterischen Erfindung gemeint als auch (und vor allen Dingen) die schöpferische Fähigkeit des Dichters an sich, wofür die Poeterey sich selbst als bestes Beispiel inszeniert. Denn dieser Text modelliert geradezu obsessiv seinen Schreibprozeß von dem Augenblick, wo der Verfasser „die feder erst angesetzt" hat bis zum „Beschluß dieses bûches" (S. 53). Opitz als Urheber der Darstellung tritt dabei in die Darstellung ein, insofern ganz deutlich gemacht wird, daß die originelle Darstellungsökonomie seinen Entscheidungen geschuldet ist: was „noch niemand [...] genawe in acht genommen" hat (S. 38), wird von ihm erstmalig beschrieben. Damit löst sich nun der anfängliche Selbstwiderspruch der Repräsentation. Anders als die sich im Lauf der Geschichte immer weiter verändernde, durch Fremdelemente kontaminierte Muttersprache bleibt die Poeterey von der Kontingenz bewahrt, weil ihr Anfang (nämlich der Autor Opitz) durch die Einschreibungen gegenwärtig bleibt, so daß der Text und sein Ursprung als identisch gelten können. Obwohl also das Geschriebene durch die Kürze der Zeit hetzt, legitimiert als zeitlose Präsenz der Verfasser die Existenz der Poeterey in der gleichen Weise wie anfangs die Einschreibung Gottes (des absoluten Anfangs) die Dichtung insgesamt legitimiert hatte, welche ja zuerst nichts anderes als eine „verborgene Theologie" gewesen war. Zusammengefaßt: Es ist der Poeterey sehr wichtig, die Kraft des Dichters, einen Anfang zu schaffen, der ihn in Analogie zum göttlichen Schöpfer zum alter deus macht, als wesentliche Kategorie zu etablieren. Dieses Verfahren untersteht dem Zweck, auf poetischer Seite einen originären, auf sprachlicher Seite einen authentischen Diskurs herzustellen. Einerseits kann nur von einem Ort aus, der der Geschichtlichkeit entzogen ist, ein Text entstehen, der sich durch autoritativen Zugriff auf bereits kanonisierte Texte zu profilieren vermag. Sprachliche Authentizität

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T. Cave, Cornucopian Text (1979), S. xix. T. Cave, Cornucopian Text (1979), S. xiii.

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wiederum verlangt nach einem unproblematischen selbstidentischen Ursprung, der die Ungeschichtlichkeit einer natürlichen Sprache nachahmen kann. Tatsächlich wird in der Poeterey gar nicht über Dichtung gesprochen. Gesprochen wird nur über die beiden gegenläufigen Diskurse, die das Sprechen über Dichtung unmöglich machen und die verwirrenderweise über die gleiche Metaphorik der Zeitlichkeit und der Ökonomie abgewickelt werden. Die Idee der Originalität funktioniert in beiden Diskursen und gelangt in der Poeterey zu Präsenz als stärkstes Mittel, poetische

Freiheit einzuschränken. Im selben Moment, in dem der Dichter die Position des Urhebers und Schöpfers einnimmt, muß er sich allen Verantwortlichkeiten für das von ihm Geschaffene, für das Geschäft, unterwerfen: er hat ein „ampte" zu versehen, das in Normierung der Sprache und moralischer Erziehung besteht, weshalb er auf Integrität verpflichtet wird, sich von ,,nachleßige[m] wandel", „schände", „gifftigen Kräuter[n]" fernhalten und „ehrlich" und „keusch" sein muß (S. 13). Die Waffe Sprache wird nur durch rechten Gebrauch zum Instrument „With a sword thou maist kill thy Father, and with a sword thou maist defende thy Prince and Country."25 Zu diskutieren ist schließlich, ob die verunmöglichte Repräsentation tatsächlich ein Scheitern darstellt (die Regelpoetik spricht nur von den Regeln und verpaßt das Eigentliche) oder nicht im Gegenteil gerade die Ermöglichung der Repräsentation. Denn an den Stellen der Poeterey, an denen Opitz von der Dichtung als solcher spricht, wird deutlich, daß die Verallgemeinerung des Gegenstandes (von der Gelegenheitsdichtung zur Dichtung im Allgemeinen) gerade nur um den Preis von Einschränkungen möglich zu sein scheint: „Die Poeterey ist anfanges nichts anders gewesen als eine verborgene Theologie" (S. 7), „Die Erfindung der dinge ist nichts anders als eine sinnreiche faßung aller sachen" (S. 17). 'Nichts anderes' schließt die Möglichkeit aus, das etwas Anderes sein kann, und ein Dichter, der in einer Dichtung des 'Nichts anderes' gefangen wäre, müßte sein Handeln besonders einer Regel unterwerfen, nämlich „das [er] nicht der zeiten vergeße, vnd in ihrer Wahrheit irre." (S. 20)

Ökonomie der 'Kârtheet'26 nogh: Nu föllier."27 Dieser in der Manuductio immer wiederkehrende Überleitungssatz am Ende eines Kapitels ist symptomatisch für die Textökonomien der schwedischen Dichtungslehre. Zurückhaltung in bezug auf den Umfang der Darstellung ist hier oberstes Gebot, in Relation zu ihren Gegenständen muß die Repräsentation schlichtweg 'reichen'. Diesen Auftrag formuliert die Manuductio ostentativ in selbstreferentiellen Äußerungen: an einer Stelle des Textes wird gerade

„Här om ware

25

26 27



Philip Sidney: An Apology for Poetry. G. Gregory Smith (ed.): Elizabethan Critical Essays "1967, S. 187. 'Kürze', A. Arvidi, Manuductio (1651), S. [145]. 'Hiervon nun genug: jetzt folgt.', A. Arvidi, Manuductio (1651), S. [7],

1.

London

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'genug vom Maß der schwedischen Wörter gesprochen', hier eine Lehre 'kurz formuliert und in Regeln gefaßt', dort 'in aller Kürze das gesagt, was von Trochäus und Jambus anzumerken ist'.28 In der Überzeugung, genug gesagt zu haben, schließt das Buch: 'Und dies also ist die kurze Anleitung, [...] die ich habe zusammenschreiben wollen. Ich vermute sicher, daß diejenigen, die sich meine gutgemeinte Arbeit gefallen lassen, weder die Zeit noch das Geld reuen wird, die sie auf diese Anleitung verwandt haben.,29 Doch scheint es trotz allem nicht ganz genug gewesen zu sein: denn es folgt noch ein 'Appendix' zur Interpunktion. Auch aufs Ganze betrachtet wirkt der Appendix als wichtigste Repräsentationspraxis dieses Textes, die dem Ideal der Inklusivität zur Durchsetzung verhelfen soll, denn er ermöglicht Vollständigkeit in der Kürze. So wird im Text häufig das, was in syntagmatischer Rede zu weitschweifig wäre, in paradigmatischer Form, etwa als Tabellen, 'beigefügt' (S. 39), wie es heißt. Die Übersichtstafeln der verschiedenen neulateinischen Versarten und das Reimlexikon sind für diese Repräsentationsstrategie exemplarisch.30 Dieses Verfahren unterscheidet Arvidis Text freilich deutlich von Opitz' Dichtungslehre. Wo die Poeterey ihre darstellerische Exklusivität und Fragmenthaftigkeit beklagt und der Zeitknappheit anlastet, sieht sich die Manuductio als inklusorischen, vollständigen Text insofern, als sie sich durch Lektüreanweisungen frühere Texte eben an den Stellen einverleibt, an denen ihre Integrität bedroht ist: 'Und da im Schwedischen keine anderen Tropi und Figuren üblich sind [...] als jene, die in den Schriften der Lateiner behandelt [...] werden, will man die Lehre betreffend des Ansehens der schwedischen Wörter hier nicht weitläufiger ausführen, sondern den günstigen Leser auf die lateinischen Oratores und Rhetores verweisen.'31 Der Verweis auf diesen Ort, der von der synchronisierenden Lektüre, die wiederum nichts anderes als eine imitatio auctoris ist, hergestellt wird und an dem sich die Texte 'griechischer, lateinischer, französischer und deutscher' (S. [2]), 'lebender oder toter' (S. [5]) Autoren versammeln, macht es zur Sache des Lesers, die Fragmente mit der 'Anleitung zusammenzufügen' (ebd.), also die Manuductio zu einer Ganzheit zu komplettieren. Im Vergleich der Manuductio mit ihrer wichtigsten Quelle, der Poeterey, wird deutlich, daß es Arvidis Text in bezug auf die Imitatio nicht um ein additives Ausschreiben, sondern ein gezieltes Auslesen dessen geht, was an einem anderen Text 2,1

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30 31

„Och thetta ware sâ nogh talat om the Swenske Ordsens Mâtt", S. [32]; „wil man kârteligen denna Läran fatta, och sluta vthi fölliande Reglor.", S. [115]; „Och thetta är thet wij vthi kärtheet, om the Trochaiske och Jambiske slags Verser hafwa til at märkia.", S. [145]. „Och thetta är altsä then karte Handleedningen [...], hwilken iagh [...] hafver sammanskrifwa weelat. Jagh förmodhar wisserligen, at thesse. thetta mitt wälmeente arbete, sigh behaga lata, och skal them inthet ângra then Tijdh, och the Penningar, hwilka the vppâ thenne Handleedningen anwända.", A. Arvidi, Manuductio (1651), S. [210], Vgl. A. Arvidi, Manuductio (1651), S. 146-147, 148-149, 170-171, 190-191 und S. 39-115. „Och allthenstund inge andre Tropi och Figurer vthi Swenskan öflige äre [...] än the, hwilka vthi the Latiners Skriffter omröras [...], wil man thenna Läran, angâende the Swenske Ordsens Anseende, widlyffteligen icke vthföra, vthan then gunstige Läsaren til the Latiniske Oratores och Rhetores affwijsa.", A. Arvidi, Manuductio 1651 S. 1120].

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interessiert. Opitz' Regelwerk der Gattungskatalog (S. [ 10]-[l7]), die Ausführungen zu Ornatus, Sprachpurismus und Morphologie (S. 119]-[26]; S. [117]-[ 119]), werden von der Manuductio zu Syntax (S. [ 115]-[ 116]) und Tropik (S. 1120]) übernommen und zum Teil direkt übersetzt.32 Ergänzend treten Ravns Reim- und Prosodieabschnitte, Zesens Reimlexion, Harsdörffers Anweisungen für Rechtschreibung und Interpunktion (S. [210]-[219]) hinzu.33 Die Manuductio verschafft sich mit dieser sehr selektiven Art der Lektüre, indem sie andere Texte zu Appendizes ihrer selbst erklärt, ein komplettes Manual, um die Handhabung der (poetischen) Sprache zu vereinfachen. Der Zugriff auf entsprechende Textvorlagen ist allerdings nur möglich unter der Voraussetzung, daß diese in keinem Konkurrenzverhältnis zum eigenen Text stehen, also in dessen Argumentation importiert werden können, ohne sie mit Widersprüchen aufzuladen, die ihre Vollständigkeit und Integrität unterlaufen würden 'Und soll man deshalb die Schriften der griechischen, lateinischen, französischen und deutschen Poeten hier keineswegs verachten, sondern sie gründlich studieren, denn sie können leicht zuwege bringen, daß man um so schneller ein guter schwedischer Dichter wird, wenn man sie mit diesem Werk zusammenfügt.'34 Was hingegen keinen Einlaß in Arvidis Text findet, ist eine allgemeine Annäherung an Dichtung, die in der Poeterey die ersten vier Kapitel beansprucht. Opitz' gattungsgeschichtlichen und apologetischen Betrachtungen fehlen vollständig, weder wird die Dichterfigur in ihrer sozialen Einbettung lokalisiert noch die historische Schreibzeit thematisiert. Insgesamt scheint die Kontigenz kein Zugehör jener 'Reim- und Verskunst' zu sein, über die Arvidi sprechen will. Vor diesem Hintergrund fällt nun die einzige Übernahme aus dem ersten Abschnitt der Poeterey in die Manuductio besonders auf, nämlich die Apologie für die Muttersprache. Arvidi bezeichnet diese als 'Hauptsprache' (S. [2]), die 'den ihr gebührenden Respekt, Ehre und Lobesworte gewinnen muß', um 'Ruhm und Ehre der Nation' ([B jr-B jv]) zu garantieren. In dieser Weise verknüpft mit der Geschichte der Nation wird die Sprache als kontingent dargestellt, während die Dichtung dies nicht ist. Letztere wird in paradoxer Weise als trennbar vom schwedischen Idiom gedacht, dessen Kontingenz ihr insofern keine Schwierigkeit bereitet, als sie selbst im schon ausgeführten Verstand originär ist. In der 'Vorrede' benennt Arvidi als erste 'Ursache' seiner Poetik 'das hohe und große Ansehen, das der schwedischen Dichtung eignet', und schreibt:

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Vgl. M.Opitz, Deutsche Poeterey (1963), S. 17-23; 24-28; 29. ludichaer; H.M. Ravn, Ex Rhythmologia [1649/1953), Kap. 3-4; P. v. Zesen, Helicon [1641/1971], S. 78-240, S. 417-570; G.P. Harsdörffer, Trichter 1 [1647/1969], S. 123-137. „Och hör man für thenskul, Grekiske, Latiniske, Frantzyske och Tyske Poeters Skriffter ingalunda här förachta, vthan them wäl igenom studera, ty the kunna lätteligen til wäga bringa, at man en godh Swensk Poet thes hastigare blifwa kan, när man them medh thetta Werket sammanfogar.", A. Arvidi, Manuductio 1651 S. [3].

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'Denn sie [die Poeterey] zeigt und lehrt uns nicht nur, wie wir allerlei Vorhaben und jedes Ding und Geschehen, sei es geistlich oder weltlich, mit Maß und Laut bestimmter Silben nach Art und Weise der Griechen und Lateiner artig ausführen sollen, was die schwedischen Dichter hinreichend vom gemeinen Pöbel, dessen gewöhnlicher und gemeiner Redeweise, unterscheidet, und wie wir etwas Höheres ins Werk setzen können: sondern sie lehrt uns darüberhinaus, mit gewissen Ccesuris und Reimendungen, und zugleich mit einer unverdrehten Wortstellung, zahlreiche Dinge so viel artiger auszusprechen, als es sonst die Griechen und Lateiner fordern.'35

In dieser Darstellung, die aus der Doppeldeutigkeit des Substantivs 'poeteri' (als Dichtung und als Lehre von der Dichtung) schöpft, nimmt die Dichtung alle jene Charakteristika an, die einer natürlichen Sprache eignen; sie wird so als Naturgegebenheit repräsentiert, hinter die nicht zurückgegangen werden kann und die in der Zeit nicht fortschreitet, da sie selbst einen selbstidentischen Ursprung darstellt. Die schwedische Poesie, so die Meinung der Manuductio, verfügt bereits über jenen Normenapparat, der in der deutschen Poeterey erst geschaffen werden mußte, um die Muttersprache aus ihrer Kontingenz resp. Veränderlichkeit zu befreien. In Form der muttersprachlichen Dichtung ist auch das Schwedische ungeschichtlich, weshalb auch der 'gemeinen' Alltagssprache zugestanden werden kann, daß sie, wie es heißt, 'aus so vielen verschiedenen Sprachen zusammengesetzt ist' (S. [3]), also kontingent ist. Indem die Dichtung von Arvidi unter Verwendung des doppeldeutigen 'poeteriet' als etwas, das außerhalb der Praxis steht, dargestellt wird, kann er im oben angeführten Zitat folgern, daß nicht die Regelpoetik die poetische Sprache instruieren muß, sondern die poetische Sprache selbst Prosodie, Metrik, Syntax zu lehren vermag. In dieser umgekehrten Perspektive greift daher auch nicht Ökonomie des 'Au-

ßerhalb-des-Textes' in die Ökonomie der Repräsentation ein, sondern die Dichtung 'zeigt', wie Wirklichkeit repräsentiert werden soll, sie verfügt über die Gesamtheit des 'geistigen und weltlichen' Wissens. Und endlich ist es nicht notwendig, die schwedischen Poeten durch Anleitung in einen Status der Ebenbürtigkeit mit Zeitgenossen und klassischen Vorläufern zu erheben, denn sie übertreffen bereits beide. Diese Argumentation funktioniert in einem Zirkelschluß, der sich durch die Gesamtheit der Manuductio hindurch wiederholt: 'da die schwedische Dichtung hohes und großes Ansehen hat, hat sie hohes und großes Ansehen'. Eben mit dem Bild des Zirkels läßt sich der Wunsch der Manuductio, eine originäre Dichtung außerhalb der weltlichen Zeit her- und festzuschreiben, am treffendsten illustrieren. 35

„Ty thet, icke allenast vthwijsar och lärer oß, huru som wij allehanda Ärender och hwariehanda Saak och Handel, ware sigh Andeligh eller Werldzligh, medh wissa Stafwelsers Matt och Liud, effter the Grekers och Latiners Sätt och Wijs, artigt skola vthföra, hwilket the Swenske Poeter nogsampt ifrân then gemeene hopen, Then sitt wahnlige och gemeene sätt til at tala öfwar och brukar, afskillia, och nâgot högre pâ Brädet ställa künde: Vthan och ther ofwan vppâ lärer thet oß medh wisse Caesuris och Rimslutande, theslijkest och medh oförwänd Ordning pâ Orden, allehanda saker sä myckit artigare vthsäya kunna, än elliest the Greker och Latiner fordra.", A. Arvidi, Manuductio (1651), [A vijv-

A viif].

Arvidis Manuductio und Opitz' Deutsche Poeterey

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Hatte die Kontingenz als zentrales Darstellungsproblem der Poeterey noch zur Ausklammerung des eigentlichen Gegenstandes, der Dichtung, aus der Darstellung geführt, so löst die textuelle Zeitlichkeit in der Manuductio keine argumentative Krise aus; sie fehlt im Text, und deshalb kann Arvidi bei seiner imitatio auctoris jene Elemente der Poeterey auslassen, die die Überwindung der Krise leisten sollen, ohne die Vollständigkeit der Manuductio in Frage zu stellen. Aus diesem Grunde auch erörtert Arvidi den Komplex Original ität-Originarität anläßlich der Figur des Dichters nicht. An einer Stelle wird Gott als 'Künstler vor allen anderen' apostrophiert, an einer anderen vom Dichter 'eine natürliche Veranlagung' zur Dichtkunst gefordert;36 die Verbindung zwischen artifex divinus, der die Schöpfung komponiert wie ein Bild, Fied oder Gedicht37 und der poetischen, Autorität verleihenden Kreativität durch das/nror-Konzept, wie es die Poeterey vorgibt, wird nicht versucht.38 Ebenso unterläßt sie die Rückbindung dichterischer Freiheit an die öffentliche Ordnung durch das Gebot (moralischer) Wahrhaftigkeit: die Manuductio referiert weder den Vorwurf poetischer Faster- und Fügenhaftigkeit, noch beschneidet sie den poetischen Erfindungsreichtum und damit die Poiesis als Ganzes: Gegenstand und Darstellung sollen 'tief und scharfsinnig', 'dienlich' und 'schön'39 sein (nicht etwa 'gut' und 'wahr').40

'Grentzesteenar'41 der Repräsentation

Im Gegensatz zum Dichter, den die Poeterey präsentiert, erfreut sich Arvidis Poet also moralischer und ästhetischer Uneingeschränktheit, dies v.a. deshalb, weil die im Text nicht thematisierte dichterische Originalität der Repräsentationsökonomie der 'Kürze' entzogen ist. Betreffend der Inventio wiederholt die Manuductio diese Geste der Einschließlichkeit. Die schwedische Dichtung, so liest man, 'beschäftigt sich mit allen möglichen Dingen, himmlischen wie irdischen, ja auch mit denen, welche über dem Himmel und unter der Erde begriffen und erfaßt werden können, ob mit Leben 36

37

„GVdh [...], som är en Konstnäär öfwer alla"; „En naturligh Bequämligheet til sielfwe Konsten", A. Arvidi, Manuductio (1651), (B jv);(S. [5]). Vgl. E.N. Tigerstedt: The poet as creator. Comparative Literature Studies V (1) March 1968, S. 455488: 465.

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Opitz leitet die Inspiration auf die drei klassischen Aspekte zurück, die Scaliger zusammenfaßt: die Naturbegabung, durch die „die regung des Geistes welchen Ovidius vnnd andere vom Himmel her zue kommen vermeinen" (S. 11), gesteuert werden kann, die Inspiration durch künstlichen Rausch („Eschilus [hat] dem Sophocles vorgeworffen, der wein hette seine Tragedien gemacht, nicht er", S. 13) und die göttliche Besessenheit des in Versen sprechenden Orakels („Bardi, Vates vnnd Druiden", S. 15). Vgl. J.C. Scaliger, Libri Septem 1 [1561/1994], S. 83-85. „diup och skarpsinnigh"; „tienligit, [...] och skönt", A. Arvidi, Manuductio (1651), S. [8]. Die Poeterey führt gegenüber dem Vorwurf, daß „die Poeten mit der warheit nicht allzeit übereinstimmen", die Größen Mimesis und Wahrscheinlichkeit ein: „soll man auch wissen, das die gantze Poetery [sie.] im nachäffen der Natur bestehe, vnd die dinge nicht so sehr beschreibe wie sie sein, als wie sie sein köndten oder solten.", M. Opitz, Deutsche Poeterey (1963), S. II. 'Grenzsteine'

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und Geist begabt oder nicht'.42 Am Schluß des Kapitels, in der sich diese Aussage findet, scheint die Repräsentation sich jedoch selbst zu dementieren, denn hier steht

wiederum: „Och thetta ware sä kortelighen talat om the saaker hwilka thet Swenske Poeterij anseer".43 Damit gibt die Manuductio zwar vor, daß in der Kürze alles gesagt wurde, was über das 'Alles' der Erfindung zu sagen ist. Doch wird in diesem Kapitel über die poetische Erfindung v.a. deutlich, daß tatsächlich nicht alles, sondern nichts gesagt worden ist. Denn das Mißverhältnis zwischen Überdimensionierung des Gegenstandes (alles zwischen Himmel und Erde) und Kürze der Repräsentation (elf Seiten) löst Arvidi, indem er stillschweigend statt der rerum inventio die rerum dispositio zum Gegenstand macht und eine Gattungspoetik präsentiert. Damit tritt die Form an die Stelle des Inhalts. Diese Differenz von res und verba greift Arvidi auch an anderer Stelle auf, wo sie sich als Differenz von originär/originell und kontingent beschreiben läßt. 'Nun ist nichts klarer, als daß die Dinge, die mit dem Verstand begriffen und erfaßt werden können, von Natur aus den Worten vorausgehen, mit denen sie ausgesprochen werden, denn die Worte hängen ja zusammen mit und entspringen aus den Concepten der Dinge, die man mit dem Verstand gewonnen hat'.44 Das Konzept (res) ist naturgegeben und existiert alleine im Geist des Dichters. Verbum hingegen ist das, was nachgeordnet und kontingent ist; die Form, in der die Idee mittelbar wird. Doch da es die Form ist, welche die Manuductio zum Objekt ihrer Darstellung macht, und da sie sowohl über den Dichter wie über die Gegenstände der dichterischen Erfindung schweigt, spricht wie die Poeterey auch die Manuductio nicht über Dichtung. Daß es dennoch zu einem poetologischen Text kommen kann, wird ermöglicht durch die Unterscheidung Arvidis von zwei unterschiedlichen Arten von Dichtung: eine, die aus „föregäende [...] dichtade Concepter" besteht, und eine, die er bezeichnet als

„thet Poeterij som anseer Orden".45 Letztere ist es, die Arvidi beschreibt, erstere läßt er in seinem Text außer acht. 'Meine Verse sind fertig, so daß nichts mehr fehlt als nur die Worte.'46 Dieser Opitz entliehene, auf die Inspirationstheorie rekurrierende poietische Selbstbeschreibung steht wie in der Poeterey auch bei Arvidi isoliert unter formalästhetischen Erörterungen. Dies aber heißt wiederum nichts anderes, als daß in dem Maße, wie die Manuductio die Verse ohne Worte nicht in Worte fassen will (also auch keine Re-

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„Thet Swenske Poeterij ansar allehanda Saker, sä Himmelske som jordiske, Ja och the som ofwan Himmelen och vnder Jordenne kunna begrepne och fattade warda, antingen the medh Lijff och Anda begâfwade äre eller och icke", A. Arvidi, Manuductio (1651), S. [7]-[8J. 'Und dies also hatte in Kürze von den Sachen, die die schwedische Dichtung behandelt, gesagt werden sollen', A. Arvidi, Manuductio (1651), S. [19J. „Nu är intet klarare än thet, at ju Sakerne, som medh Förnufftet grijpas och fattas, äre äff Naturen förr framme än Orden, medh hwilka the vthalas, ty Orden the hängia och flyta äff thet Concept, som man om Sakerne medh Förnufftet tagit hafwer.", A. Arvidi, Manuductio 1651 S. [6], 'vorausgehenden [...] erdichteten Concepten'; 'die Dichtung, die die Worte betrachtet', A. Arvidi, Manuductio (1651), S. [6]-[7]. „Mine Vers är färdige, at intet fattas meer än blätta Orden.", A. Arvidi, Manuductio (1651), S. [7].

Arvidis Manuductio und Opitz' Deutsche Poeterey

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geln für sie aufstellt), der Dichter über diese Verse frei und ohne Einschränkung verfügen kann.47 Ein Blick auf die Manuductio als geschlossene Repräsentation, also das, was über die Aussparungen hinaus zu Text geworden ist, kann die Funktion der Unterscheidung von Dichtung ohne und mit Worten klären helfen. Arvidi behauptet, es werde in seiner Dichtungslehre 'genug gesagt'; es stellt sich die Frage, worauf sich die 'Genüge' bezieht, wie er seinen Gegenstand letztlich definiert. In dieser Hinsicht mißt die Manuductio mit zweierlei Maß. Da gibt es einmal die schwierige Dichtung, die Dichtung ohne Worte, die der Text in der Formel „Difficilia quae pulchra" (S. [4]) bloß als Repräsentationsschwierigkeit andeutet, dann aber wieder aus der Repräsentation fallen läßt, da sie sich der Darstellung im Wort entzieht. Zum anderen gibt es die einfache Dichtung, deren Repräsentation 'kurz' und „lätteligen" ('leicht', S. [37]) zu bewerkstelligen ist, die Dichtung mit Worten gleichsam, welche die Manuductio zu ihrem Thema macht. Von eben dieser Dichtung spricht Arvidi, wenn er behauptet, 'daß niemand eine Sprache durch und durch zu verstehen vermag, wenn er deren Verskunst nicht studiert hat'.48 Die Verskunst, von der der Text handelt, ist nun eben jener Regelapparat, den die Manuductio aus vielerlei Quellen zusammenträgt. Vermittels seiner Normen soll die kontingente Muttersprache nicht nur strukturell verstanden (die Dichtkunst 'lehrt' die richtige Sprache, hieß es bei Arvidi), sondern auch vereinheitlicht und stabilisiert werden. Über dieses mit dem germanischen Sprachpatriotismus verknüpfte und in der Poeterey analog formulierte Projekt hinaus scheint es mir aber an dieser Stelle auch um die Fähigkeit der Dichtungslehre zu gehen, das einzelne Wort als die formale Seite von Konzepten/Begriffen zu konstituieren, indem sie allein die formale Seite, die dichterische/sprachliche Praxis, zu ihrem Gegenstand macht. Insofern ist die Manuductio eine Anleitung zur Herstellung von Signifikanten. Dabei setzt sie ihre eigene Repräsentationspraxis als Exemplum ihrer Fehre ein, wenn sie sich selbst als vollständigen Text darstellt und die Wirkmechanismen ihrer Genese (Appendizes, Tabellen, imitatio etc.) hin zu textueller Integrität offenlegt. Hier geht es ihr darum, zu zeigen, auf welche Weise ein Text zustande kommt, der weder zuviel noch zuwenig, sondern gerade genug sagt. Mit dem umfangreichen Regelapparat als Operator ist die Produktion von Wörtern in resp. als Formen unkompliziert. Arvidi kann gerade deshalb 'in Kürze über die Herrlichkeit und Schönheit der schwedischen Wörter sprechen'49, weil diese Qualitäten keine schwer 47

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„Nicht das Erfinden und Schaffen ist also nach der Renaissancepoetik das Kriterium des Dichters, sondern die Gabe, das Wesen der Dinge, die Schönheit, das Wahre zu erkennen. So ist im Prinzip ein Dichter möglich, der gar nicht schreibt", Herbert Mainusch: Dichtung als Nachahmung. Ein Beitrag zum Verständnis der Renaissancepoetik. Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 10 (1960), S. 122-138: 129. „ingen sigh kan berömma, at han ett Sprâk grundeligen kan förstä, om han thes Verßkonst icke studerat", A. Arvidi, Manuductio (1651), S. [4], „Och thetta ware sâ kârteligen talat om the Swenske Ordsens Härligheet och skönheet.", A. Arvidi, Manuductio (1651), S. [28].

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faßbaren Abstrakta repräsentieren, sondern sich auf kombinatorisch erzeugbare Oberflächenstrukturen, bspw. Epitheta, beziehen, von denen es heißt: 'am Erdichten von Beiwörtern kann man den Poeten nicht weniger erkennen als den Löwen an seinen Klauen, denn darin liegt ein nicht eben geringes poetisches Meisterstück verborgen.'50 Der Poet dieser auf die Praxis bezogenen Verskunst steht dabei selbst als Produkt am Ende einer Funktionsgleichung. Zuerst braucht jemand eine natürliche Veranlagung zu dieser Kunst selbst, dann (wenn er befindet, daß er eine solche hat) soll er sich zu Lehrmeistern, seien sie lebend oder tot, verfügen, und von ihnen eine kurze Anleitung zur Verskunst erwerben [...]. Drittens muß er sich gemäß dieser Anleitung [...] fleißig üben, und zuerst Verse ohne Reimendung, mal nach der einen, mal nach der anderen Versart schreiben: Und dann kann er sich mehr und mehr vornehmen, bis er zum Schluß ein vollkommener Poet ist.51

An den 'Klauen des Gedichtes' ist nachprüfbar, ob der Dichter seine Sache geübt und gelernt hat. Naturbegabung, die in der Nähe dichterischer Originalität steht, verschwindet hinter „Lust [...] och Behagh" ('Lust [...] und Freude', A viijv) an der Verskunst.52 Und doch setzt die Regelmaschinerie ein gewisses Maß an Autonomie frei. Der werdende Poet befindet selbst über seine Fähigkeit, die sich der auf das Produkt orientierten Kontrolle entzieht. Der Eintritt in die Verskunst ist durch einen Akt von Eigenverantwortlichkeit markiert. Im Gebrauch der Muttersprache setzt sich diese fort: 'Jeder Schwede muß selbst wissen und verstehen, wie er die Worte richtig zusammenfügt, auf daß er die Gedanken seines Sinnes deutlich ausdrücke'.53 Die Manuductio thematisiert den multiplen Gebrauch von Sprache, den die Operationen des Regelapparats ermöglichen, und der numerisch unbegrenzte Signifikanten herstellt, in Termini, die wiederum die Verfahren der Verskunst betonen: mit Wörtern werde 'umgegangen' (S. [12]), sie werden 'verwandt' (S. [18]) und 'ausgeführt' (S. [28]).

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„ty vthaff Bijords Dicktande, kan man icke annorlunda känna een Poet, än som man känner ett Leyon äff thes Kloor, effter sâsom thervthinnan icke thet ringaste Poetiske Mästerstycke ligger fördolgt.", A. Arvidi, Manuductio (1651), S. [26]. „Forst, En naturligh Bequämligheet til sielfwe Konsten, hwilken när een befinner sigh hafwa, skal han sâdan förfoga sigh til Läremästare, the ware sigh lefwandes eller döda, och äff them skal fatta sigh til sinnes en kort Anledning til Verßkonsten [...]. Och sä omsider til thet tridie, mäste han effter then Anledning, [...] flitigt sigh öfwa och skrifwa sä först Verß vthan Rijmslutande, nu effter then ene

Verßarten, och nu effter then andre: Och altsâ kan han smâningom taga sigh meer och meer före, in til thes han pâ.sistonne blifwer en fullkommen Poet.", A. Arvidi, Manuductio (1651), S. [5]. Ludwig Fischer sieht das Fehlen eines barocken Begriffs von „schöpferischer Autonomie" in der Aspiration der Poesie auf einen Status als ars, für die vorbildhaft die Rhetorik steht, die „alle menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten durch Sprache als nach Regeln erlernbar und herstellbar behandelt.", Ludwig Fischer: Gebundene Rede. Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock in Deutschland. Tübingen 1968, S. 9. Der Beschluß des vorliegenden Aufsatzes will zu einer Relativierung dieses Ansatzes beitragen. „hwar och een Swensk mäste sielff weta och första, huru han Orden til hwar andra rätt foga skal, pä thet han sine Sinnes Tankar tydeligen kan vthryckia", A. Arvidi, Manuductio (1651), S. [115],

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Die Wirkung von der Form auf den Inhalt schließlich, die die Manuductio in bezug auf Sprache und Dichtung unterstellt, nimmt sie in gleicher Weise auch für das dichtende Subjekt an. Je nach der Gattung, in der zu schreiben er beabsichtigt, je nach Sprachgebrauch adaptiert der Dichter in Arvidis Perspektive nämlich zugleich auch eine andere Persönlichkeit. Der 'Komödienschreiber muß sich besonders auf die Sitten und Unsitten der verschiedenen Altersstufen verstehen', die Satiriker 'sich als schlimme Verfolger und Feinde aller möglichen Laster ausgeben', Eklogen sollen 'nach der einfältigen Bauernweise der Hirten' und silvae 'aus hitziger Gemütsbewegung in allergrößter Hast' verfaßt werden.54 Hinter einer Vielzahl poetischer Produkte steht, so die Meinung der Manuductio, eine Vielfalt von Eigenschaften. Zentral an dieser Haltung ist, daß die Produktionsmodi selbst keinem Normierungsversuch unterworfen werden, sondern unterstellt wird, jeder Dichter könne jederzeit seine Ausdrucksmittel verfügen. über frei Daß das generative Prinzip in Arvidis Dichtungstheorie eine größere Faszination ausübt als seine Erzeugnisse, läßt sich ebenfalls am Text selbst ablesen. Denn oft vernachlässigen Beispiele, mit denen die Anwendung der einen Regel illustrieren werden soll, eine andere, früher oder später aufgestellte Anweisung (stark rivalisierend sind etwa die Gebote der syntaktischen und der metrischen Korrektheit). In gleichem Sinne ist die Auswahl der poetischen Beispiele nicht daraufhin orientiert, die 'Schönheit und Herrlichkeit' der Wörter zu illustrieren, sondern vielmehr auf den Nachweis, daß die jeweilige Regel überhaupt funktioniert.55 In der Beliebigkeit ihrer Auswahl zeigt sich das Vertrauen der Manuductio in den Überfluß, den der Regelapparat der Dichtung garantiert. Dieser läßt nicht nur das einzelne Gedicht weniger ins Gewicht fallen, sondern führt auch den Dichter wieder implizit als Größe der Originarität/Originalität ein, als Instanz der Poiesis, die das sprachliche Instrumentarium handhabt und über die Qualität des Ergebnisses ent54

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„skal en Comedieskribent besynnerligen förstä sigh pâ allehanda Aiders Seeder och Oseeder"; „Hafwa förthenskull alle Satyriske Scribenter för art och maneer at gifwa sigh vth för allehanda Lasters arge Förfölliare och Fiender"; „Heerdewijsor [...] mäste städze pä Heerdars eenfaldige Bondewijs vthfördt warda."; ,£ylvœ [...], som [...] vthaff een hetsigh tilbeweekelse, vthi allsomstörsta hastigheet göras", A. Arvidi, Manuductio (1651), SSS. [14]-[16], Ein Beispiel ist folgender, als Trimeter Brachycatalecticus Mascuiinus angekündigter Vers, der die Operation des Silbenzählens und Akzentuierens veranschaulichen soll: „En hungriger Mag', han acktar ey Kräsligh Maat / Han tager tilgoda Strömmingen pä träfaat."; 'Ein hungriger Bauch fragt nicht nach feiner Kost, / Er tut sich am Hering im Holzfaß gütlich', S. [187],

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scheidet. Da die Poiesis aber explizit aus der Repräsentation der Manuductio ausgespart bleibt, ist es nicht notwendig, sie unter Kontrolle zu halten, wie es die Poeterey noch tut. Als 'Grenzsteine' (S. |210]) grenzen die Gesetze der Verskunst die Mehrdeutigkeit der Signifikanten auf die formale Eindeutigkeit ein; zugelassen hingegen wird die Vielfalt der Möglichkeiten, die Variablen erfinderisch zu füllen, die 'Dichtung ohne Worte'.

STINA HANSSON, GÖTEBORG

Repertoire und Tradition Über Schreibformen, Denkformen und Literaturgeschichte im 17. Jahrhundert In der Einleitung seiner Abhandlung Bach gär igen weist der schwedische Musikhistoriker Gunno Klingfors darauf hin, daß es zu Bachs Zeit nicht üblich war, sich für eine andere als die zeitgenössische Musik zu interessieren: „Musik som hade ca 20 âr eller mer pâ nacken betraktades som gammalmodig." Ferner macht Klingfors darauf aufmerksam, daß neukomponierte Kunstmusik einen selbstverständlichen und wichtigen Teil der kirchlichen und weltlichen Veranstaltungen der Zeit darstellte: „Tonsättarna skrev i normalfallet musik pâ beställning, och säväl uppdragsgivare som publik krävde att musiken skulle vara funktionell, modern, begriplig och underhallande."1 Was Klingfors über die Kunstmusik sagt, gilt auch für die Kunstliteratur in älterer Zeit - für Schweden und das übrige Skandinavien heißt dies die Literatur im 17. und im größten Teil des 18. Jahrhunderts, denn die Dichtung hatte ja ebenfalls und vornehmlich die Aufgabe, unterschiedliche Typen von sozialen Ereignissen, also Beerdigungen, Hochzeiten, Ernennungen und ähnliches, zu besingen. Auch Dichtung, die nicht unmittelbar Gelegenheitsdichtung war, besaß häufig Gelegenheitscharakter so kann man z.B. Stiernhielms Hercules auch als Propaganda für ein Adelsideal lesen, das direkt mit einem neuen politischen Bedürfnis zusammenhing, in diesem Fall dem Bedarf einer wachsenden Staatsverwaltung an gut ausgebildeten jungen Adligen. Der gewöhnlichste äußere Anlaß von Dichtung war, genau wie in der Musik, irgendeine Art der Bestellung. Zudem scheint die Ansicht, daß nur die zeitgenössischen Werke zählten, von den Dichtern dieser Zeit geteilt worden zu sein. Die letzte Behauptung wirkt auf den ersten Blick erstaunlich uns wurde immerhin beigebracht, wie traditionsgebunden die ältere Dichtung ist. Wir bestimmen die Dichtung ab der Renaissance als 'klassizistisch' und meinen damit, daß sie von den literarischen Formen, Modellen und Techniken abhängig ist, die das klassische Erbe bereithielt. Die Dichtung des 17. und des größten Teils des 18. Jahrhunderts steht zu

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Gunno Klingfors: Bach gär igen. Källkritiska studier i J S Bachs uppförandepraxis. Skrifter frân Musikvetenskapliga institutionen Göteborg 23. Göteborg 1991, S. 2. 'Musik, die ca. 20 Jahre oder mehr auf dem Buckel hatte, wurde als altmodisch angesehen.' 'Die Komponisten schrieben normalerweise Musik auf Bestellung, und sowohl die Auftraggeber als auch das Publikum verlangten, daß die Musik funktionell, modern, verständlich und unterhaltend sein sollte.'

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diesem Erbe ja auch in einem deutlich imitierenden Verhältnis. Horace Engdahl hat mit einem Begriffspaar, mit dem sich hier hervorragend arbeiten läßt, von dieser Dichtung als einer 'Repertoiredichtung' gesprochen, die er der romantischen und nachromantischen 'Werkdichtung' gegenüberstellt.2 Aber auch im Hinblick auf das Primat des Neuen gibt es meiner Meinung nach große Ähnlichkeiten zwischen den Dichtern und Komponisten. Natürlich stimmt es, daß die Schriftsteller des 17. und 18. Jahrhunderts die frühere Dichtung in weit höherem Maß wiederverwendeten, als es die Autoren der Romantik und späterer Zeit tun sollten. Doch dieselbe Art der Wiederverwendung kennzeichnet schließlich auch die ältere Musik so liehen z.B. Bach von Schütz und Mozart von Gluck, als sie ihre eigene aktuelle und 'moderne' Musik schufen. Ich möchte hier die These vertreten, daß unsere Erkenntnis über die starke Abhängigkeit der Dichtung des 17. und 18. Jahrhunderts von der früheren Dichtung einer anderen Erkenntnis den Weg verstellt hat, die mindestens genauso wichtig ist nämlich der, daß auch die ältere Dichtung den Anspruch erhebt, modern und aktuell zu sein. Als Stiernhielm 1668 seine Gedichtsammlung Musce Suethizantes veröffentlichte, gab er ihr den Untertitel

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„Thet är SängGudinnor/Nu först lärande Dichta och Spela pâ Swenska" ('Das sind Gesangsgöttinnen, die erst jetzt lernen, auf schwedisch zu dichten und zu spielen'). Bernt Olsson sieht in dieser Formulierung eine Renaissancehaltung, eine die alten, einfachen schwedischen Reimverse nun von einer gelehrten und klassisch beeinflußten Dichtung ersetzt wurden.3 Das ist völlig richtig. Aber man sollte auch beachten, daß Stiernhielm ebenfalls behauptet, daß diese klassizierende Dichtung in gewissem Sinn neu ist daß die Gesangsgöttinnen „Nu först" ('erst jetzt') gelernt haben, so zu singen, wie es eine neue Zeit verlangt. Die Unterscheidung zwischen einer starken Abhängigkeit vom literarischen Erbe auf der einen und einer starken Ausrichtung auf das Aktuelle auf der anderen Seite ist, nicht nur was Stiernhielm betrifft, sondern für die gesamte Dichtung von der Renaissance bis zur Romantik, wichtig. Denn obwohl diese Dichtung aus einem gemeinsamen Repertoire heraus geschaffen wurde das Engdahl als „ett förräd av material och tekniker, genom vilkas mellankomst verkligheten pâ sätt och vis redan

Behauptung, daß

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är förvandlad 2 3

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tili poetiska halvfabrikat" definiert -,4 fällt

doch gleichzeitig auf, daß

Horace Engdahl: Den romantiska texten. En essä i nio avsnitt. Stockholm 1986, S. 37-38. Bernt Olsson schreibt in Den svenska skaldekonstens fader in seiner Darstellung Den svenska skaldekonstens fader och andra Stiernhielmsstudier. Skrifter utg. av Vetenskaps-Societeten i Lund 69. Lund 1974, S. 12-13: „Det hade skrivits svensk poesi längt före Stiernhielm. Det visste han och det skulle han väl ocksâ ha erkänt. Men dâ Stiernhielm talar om Sâng-Gudinnorna avser han nâgot annat och mer kvalificerat an de visor som diktats av Forsius eller Wivallius. Här bakom ligger renässansens skarpa âtskillnad mellan den äldre mera folkliga poesien och den nya, lärda, klassiskt influerade." 'Schwedische Poesie war lange vor Stiernhielm geschrieben worden. Das wußte er, und das würde er wohl auch anerkannt haben. Aber wenn Stiernhielm über die Gesangsgöttinnen spricht, bezieht er sich auf etwas anderes und qualifizierteres als die Lieder, die von Forsius oder Wivallius gedichtet wurden. Dem liegt die scharfe Unterscheidung der Renaissance zwischen der älteren, volkstümlicheren und der neuen, gelehrten, klassisch beeinflußten Poesie zugrunde.' Engdahl, Den romantiska texten,S. 37. 'ein Reservoir an Material und Techniken, durch deren Auf-

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Repertoire und Tradition

das Repertoire die ganze Zeit über für höchst aktuelle Zwecke herangezogen wird. Es sind neue Siege, neue Sitten, neue Krönungen, neue 'Geburten und Todesfälle'

(„födslar och dödslar"), die den Dichtern Anlaß geben, das Repertoire aufzusuchen und es für ihre eigenen Werke zu plündern. 'Material und Techniken' des Repertoires wurden also in immer neuen Zusammenhängen vorgeführt. Der Feldherr, der als 'ein Hannibal' besungen wurde, war nicht der alte Hannibal, sondern sein modernes Ebenbild. Das Verhältnis der Repertoiredichtung zur Tradition war von durchdrungen. Nachdem ich meine Hauptthese dargelegt habe, möchte ich nun damit beginnen, zum 'Tatort' zurückzukehren, zu der konkreten Forschungsaufgabe, die mich veranlaßt hat, in diesen Bahnen zu denken Gedanken, die, was mich selbst betrifft, viele der Begriffe auf den Kopf gestellt haben, die wir gewöhnlich benutzen, wenn wir die ältere Literatur und ihre Geschichte beschreiben. Ich beginne mit einer Vorstellung der jungen Adligen Beata Rosenhane, geboren 1638 und gestorben 1674, Tochter von Schering Rosenhane, u.a. Reichsrat und Freiherr, und ihrer Studien während der späten 1640er und frühen 1650er Jahre.5 Danach werde ich die Repertoiredichtung und ihr Verhältnis zum Begriff 'Tradition' im Licht der neueren Forschung über Mündlichkeit und Schriftlichkeit diskutieren und mit einigen literaturhistorischen Schlußfolgerungen meiner Überlegungen enden. Aktualität

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Beata Rosenhanes Studien lassen sich in einem einzigartigen Material in der Universitätsbibliothek in Uppsala verfolgen acht dicke Schreib- oder Übungsbücher, die von Beata und zwei ihrer Schwestern fast 20 Jahre lang benutzt wurden.6 Beata hat das meiste darin geschrieben, von der Zeit an, als sie acht bis neun Jahre alt war, bis

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zum Alter von ca. 30, den größten Teil während der ersten sieben bis acht Jahre. Während dieser Jahre wohnte sie zuerst in Münster, wo der Vater während des Westfälischen Friedenskongresses schwedischer Resident war, danach ein Jahr in Paris, dann einige Jahre in Schweden und anschließend ein Jahr in Lübeck, Hamburg und Wismar, bevor sie wieder nach Schweden zurückkehrte. In den Übungsbüchern kann man ziemlich genau verfolgen, wie es vor sich ging, wenn ein junges adliges Mädchen lernte, das Repertoire zu beherrschen und selbst anzuwenden. Es gab wichtige Unterschiede zwischen den Studien der Jungen und Mädchen ich werde darauf zurückkommen -, und viele adlige Mädchen erhielten zu dieser Zeit überhaupt keine literarische Bildung. Aber betrachten wir zuerst, was Beata Rosenhane lernte. Die junge Beata mußte zunächst eine unendliche Reihe von Erzählungen über

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treten die Wirklichkeit gewissermaßen schon in poetische Halbfertigprodukte verwandelt ist' Meine Untersuchung über Beata Rosenhane und ihre Studien ist ausführlich dargelegt in Stina Hansson: Salongsretorik. Beata Rosenhane (1638-74), hennes övningsböcker och den klassiska retoriken. Skrifter utg. av Litteraturvetenskapliga institutionen vid Göteborgs universitet 25. Göteborg 1993. UUB R490-497. Angaben darüber, wo in den Übungsbüchern man die erwähnten Übungen wieder¬ findet, werden hier nicht gemacht; vgl. Hansson, Salongsretorik, für nähere Hinweise und ausführlichere Kommentare.

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historische Personen und bemerkenswerte Ereignisse lesen und in die Übungsbücher schreiben, sowohl aus römischer Antike und neuerer Geschichte als auch aus der zeitgenössischen Chronik. Diese Erzählungen können von bekannten Personen wie Alexander dem Großen oder Hannibal handeln, aber auch von mehr oder weniger zeitgenössischen, anonymen Männern und Frauen aus verschiedenen Orten in ganz Europa, wie zum Beispiel von einer neuentbundenen Frau in Deutschland, die einen solchen Überfluß an Milch hatte, daß man Käse und Butter daraus machte, oder von einem schottischen König, der nicht auf den Rat weiser Männer hörte und deshalb 'in der Blüte seiner Jugend' unterging.7 Beata las diese Erzählungen auf französisch, italienisch, deutsch oder lateinisch und gab sie manchmal in den Originalsprachen, vollständig oder in Zusammenfassung, manchmal in Übersetzungen von der einen in die andere Sprache wieder. Durch diese Übungen lernte sie Sprachen aber nicht nur das. Sie legte sich auch ein solides Reservoir an rhetorischen exempla an historischen oder fiktiven und Mustern verschiedener Tugenden und Untugenden Beschreibungen, wohin die eine oder andere Handlungsweise führen könnte. Zusätzlich lernte sie in diesen Übungen verschiedene Arten, Geschichten in kurzer Zusammenfassung oder längerer Umschreibung wiederzugeben. Das Lesen und Schreiben der Geschichten und Erzählungen vermittelte ihr also den Zugang zu einem Teil der moralischen Argumente, über die das Repertoire verfügte, und die Gewohnheit, sprachlich mit ihnen umzugehen. Die Erzählungen fungierten so auch als eine Art inhaltlicher Vorratskammer für die anderen Typen von Übungen, die sie machte. Beata schrieb auch, hauptsächlich auf französisch, der Hauptsprache der Übungsbücher, große Mengen einer Textsorte, die sie 'Diskurse' nennt. Ihr Lehrer während des Großteils der Jahre, um die es hier geht, der deutsche Sekretär ihres Vaters, Georg Heinrich Ludolf, der spätere Bürgermeister von Erfurth versah sie mit einer Liste von ca. 20 Punkten, die alle beachtet werden mußten, bevor man richtig über eine Sache sprechen konnte, egal um welches Thema es ging. Die Liste greift Punkte auf wie 'was die Sache ist', 'der Ursprung der Sache', 'der Unterschied zwischen der Sache und anderen angrenzenden Sachen', 'das Gegenteil der Sache', 'welchen Dingen die Sache ähnelt', 'der Nutzen der Sache', 'die Auswirkungen der Sache', 'Verse oder Sentenzen, die man darüber gesagt oder gemacht hat' und ähnliches. Die Punkte gehen auf die Verzeichnisse der antiken Rhetorik über die loci eben für 'Sachen'8 zurück, die jeder Redner während des ersten rhetorischen Ar-

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Dieses und alle weiteren Zitate aus Beata Rosenhanes Übungsbüchern wurden von der Verfasserin in eigener schwedischer Übersetzung angeführt und von den Übersetzerinnen ins Deutsche übertragen. Es gab auch loci für 'Personen', wo Dinge wie 'Familie', 'Geburt', 'Kindheit', 'Jugend und Erziehung', 'lobenswerte Taten' usw. aufgenommen wurden. Zu den loci vgl. Quintiiianus: The Institutio

oratoria of Quintilian, with an English Translation. 2. The Loeb Classical Library. London, Cambridge, Mass. 1953, S. 218-232, mit einer Zusammenfassung S. 232. Daß diese loci mit unverminderter Stärke in der Tradition des 17. Jahrhunderts überliefert werden, geht aus den Rhetoriklehrbüchern der Zeit hervor; vgl. z.B. Gerhardus Johannes Vossius: Elementa rhetorica eller retorikens grunder. Översatt och utgiven av Stina Hansson. Litteraturvetenskapliga institutionen vid Göteborgs

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Repertoire und Tradition

beitsschrittes, der inventio, in Gedanken durchgehen sollte. Aber weder der Begriff 'Rhetorik' noch die traditionellen rhetorischen Bezeichnungen werden irgendwo in den Übungsbüchern erwähnt, eine Eigenheit, die Beatas Ausbildung von jener unterscheidet, die die Jungen damals erhielten. Ludolf schrieb auch 150 Themen auf, die entsprechend der Punkte auf der Liste behandelt werden sollten. Die folgende kleine Auswahl soll ihre Beschaffenheit aufzeigen: 'über Leste', 'über Ballette', 'über Spiegel', 'über Priester', 'über Lehrer', 'ob es schwieriger ist, zu lehren als zu lernen', 'über die fünf Sinne', 'über die Sonne', 'über die Sterne', 'über Schmeichler', 'über Barbarei', 'über Anstand', 'über das Gedächtnis', 'über Bücher', 'über Llüsse', 'über Tische', 'über Bäume', 'über Mohammedaner', 'über die Stadt Rom', 'über Alexander den Großen', 'über Kaiser Augustus', 'über den römischen Senat'. Die Übungsbücher sind gefüllt mit Abhandlungen Uber alle diese Themen, wobei die eben genannten historischen exempla einen Teil des Materials ausmachen. Die allerältesten Diskurse sind kurzgefaßt und vom Lehrer stark korrigiert. Oft machte Beata dieselbe Übung zweimal und öfter. Mit der Zeit werden die Diskurse sprachlich immer ausgefeilter Beata lernte allmählich, alles zu finden, was man über eine Sache sagen kann und wie man in Einklang mit den Normen des Repertoires richtig darüber spricht oder schreibt. Beata erhielt auch im Briefeschreiben ein solides Training. Von Ludolf bekam sie 100 Briefthemen auf französisch, wie beispielsweise 'man bittet einen Lreund, mit auf einen Spaziergang zu gehen', 'man entschuldigt sich bei einem Lreund dafür, daß man abgereist ist, ohne sich zu verabschieden', 'man rät einem Lreund davon ab, jemanden zu heiraten, den er liebt', 'man ermahnt jemanden, ein tugendhafteres Leben zu führen', 'man rät jemandem, in den Krieg zu ziehen', 'man rät jemandem davon ab, in den Krieg zu ziehen', 'man tröstet einen Lreund, der sich im Gefängnis befindet', 'man klagt darüber, daß man Geld, das man jemandem geliehen hatte, nicht zurückbekommen hat' usw. Die Briefthemen auf Ludolfs langer Liste sind in Anlehnung an die Gattungen formuliert, die in der zeitgenössischen Briefrhetorik vorkamen Gattungen wie Bittbriefe, abratende, zuratende, ermahnende, vorwurfsvolle Briefe usw., die alle auf eine bestimmte Art und Weise geschrieben werden sollten. Die Schuljungen jener Zeit scheinen das Briefeschreiben in erster Linie mit Ausgangspunkt in eben diesen Gattungen gelernt zu haben, d.h. aus einer bestimmten rhetorischen Systematik heraus.9 Doch in Beatas Übungsbüchern werden die Gattungsnamen nie erwähnt. Alle ihre Briefthemen sind auf konkrete Situationen ausgerichtet, in erster Linie auf solche, die zum gesellschaftlichen Leben gehören. Auch die Anknüpfung an die konkreten Situationen statt an das rhetorische Regelwerk hängt damit zusammen, daß die Schülerin weiblichen Geschlechts war.

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universitet, Meddelanden 5. Göteborg 1990. Über den Unterricht im Briefeschreiben in Schweden zu dieser Zeit vgl. Stina Hansson: Svensk brevskrivning. Teori och tillämpning, Skrifter utg. av Litteraturvetenskapliga Institutionen vid Göteborgs universitet 18. Göteborg 1988, S. 2141, S. 131-176.

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Beata wurde auch darin beraten, wie das Briefeschreiben vor sich gehen soll. Sie sollte zuerst versuchen, sich die Umstände vorzustellen, die zu dem Brief Anlaß geben, weil diese die Grundlage für die Ausführungen bilden, die der Brief beinhalten soll. Ludolf verdeutlicht: 'Will man jemanden ermahnen, im Dienste seines Herrn treu und fleißig zu sein, so kann man sich zum Beispiel vorstellen, daß der Herr ihm große Wohltaten erwiesen und ihn immer geliebt hat, und daß es deshalb angemessen ist, sich im Gegenzug gut zu benehmen. Oder man kann sich auch vorstellen, daß seine Eltern ihre Ehre darauf gesetzt haben, daß er sich gut benimmt, und daß sich anders zu verhalten hieße, die Eltern zu beleidigen.' Beata schrieb nach Ludolfs Themen Brief auf Brief, die meisten auf französisch an fiktive Herren und Damen. Es gibt auch eine ganze Reihe Briefe, die an den Vater oder die fast gleichaltrigen Brüder gerichtet sind, aber auch diese haben meist einen deutlichen Übungscharakter. Einen frühen Brief an den Vater beantwortete

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dieser mit einigen Zeilen direkt im Buch in denen er darauf hinweist, wie Beata sich stattdessen hätte ausdrücken sollen! In den Briefen griff Beata auf ihre

in verschiedenen Themen zurück, jetzt aber, um zu argumentieren und zu belehren. Sie verwendete ihr Repertoire an historischen exempla wieder und zog auch einen Teil ihrer übrigen Erzählungen heran, offensichtlich um zu lernen, ihre Adressaten zu unterhalten. Aber auch in diesem Fall handelte es sich in erster Linie um ein Training darin, eine Sache auf die 'richtige' Art, im Einklang mit den Forderungen des Repertoires, darzustellen. Als Beata in einem Brief an ihren Vater eine ihrer merkwürdigen Geschichten erzählt hat, schreibt sie, daß sie, wenn er die Form der Geschichte nicht angemessen fände, diese gerne nochmals in einer anderen Form schreiben wolle. Eine wichtige Gattung in den Übungsbüchern ist auch die Poesie. Viele der poetischen Texte sind Abschriften. Aber es gibt auch Gedichte, die Beata als ein Glied in ihrer Ausbildung selbst verfaßte. Das poetische Training wurde ziemlich spät in Angriff genommen, als Ludolf bereits nach Deutschland zurückgereist war, wurde aber dafür bis ins Erwachsenenalter hinein fortgesetzt man mußte schon recht gut Prosa schreiben können, ehe man sich an die Poesie wagen durfte. Beata schreibt fast ausschließlich französische Poesie, und die dominierende Gattung ist die Schäferdichtung, die damals in Frankreich à la mode war. Die Gedichte knüpfen manchmal an typische Briefübungsthemen an, wie ein französisches Gedicht mit dem Titel 'Um einen flatterhaften Hirten dazu zu überreden, zum Landleben zurückzukehren'. Aber hierzu kommt auch ein Training, verschiedene verstechnische und sprachlich-literarische Arten poetischer Formen und Inhalte aus dem Repertoire beherrschen zu lernen. Die poetischen Aufgaben wurden so eine Einübung des spezifischen poetischen Repertoires. In einem ihrer Diskurse schreibt Beata, daß die Poesie sich von anderem Schreiben dadurch unterscheidet, daß sie auch 'von erfundenen Sachen handeln oder die eine oder andere angenehme Lüge hinzufügen kann'. Nach ihren eigenen Gedichten zu urteilen, beinhaltet das zum einen, daß der Dichter sich mitten auf die Bühne das Gedichts stellt und sein Geschehen mit einem Dichterblick Diskursübungen

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beschreibt, der eine Erscheinung nach der anderen fokussiert, und zum anderen, daß er seine Schilderung mit Hilfe verschiedener kürzerer und längerer mythologischer Elemente ausweiten und kolorieren soll. Durch die Übungen im Gedichteschreiben wurden somit Beatas Kenntnisse über das Repertoire sowohl durch Kenntnisse darüber, wie unterschiedliche Poesie geschrieben werden sollte, als auch durch die antike Mythologie ergänzt. Beata eignete sich also in ihrer Ausbildung eine Menge rhetorischer Kenntnisse an, doch sie lernte keine rhetorischen Termini. Die rhetorischen Regeln, denen sie zu folgen lernte, wurden auch nicht als 'Regeln' in einem gelehrten System, sondern als abhängig von einer bestimmten Situation dargestellt oder als die selbstverständliche Art, in der man sich ausdrücken sollte. Das war charakteristisch für die französische preziöse Tradition, nach deren Normen Beata unterrichtet wurde, und für die Karriere als Salondame, auf die ihre Ausbildung sie vorbereiten sollte. Hier ging es in erster Linie um Konversation und galantes Briefeschreiben, zwei Tätigkeiten, bei denen das scheinbar Spontane eine Tugend war und die 'Kunst' daher als zweite Natur erscheinen sollte. Nach Mademoiselle de Scudéry, zu dieser Zeit eine der größten Autoritäten auf diesem Gebiet, kam es darauf an, „daß man niemals wisse, was man sagen wird, und trotzdem immer genau weiß, was man sagt".10 In einem solchen Zusammenhang würden Regelkenntnisse und andere rhetorische Pedanterie nur hemmend wirken. Besser war es da, so meinte offensichtlich Beatas Lehrer, daß ihr die Kunst beigebracht wurde, ohne daß sie die Kunstgriffe kennenlernte, so als lerne man Radfahren oder Schwimmen. Es gibt also in dieser Zeit gewisse klare Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher Ausbildung, die damit zu tun hatten, auf welche Tätigkeit die Ausbildung vorbereiten sollte. Aber auch in der Ausbildung der Jungen hatte man ja zu diesem Zeitpunkt in der französisch beeinflußten Aristokratie angefangen zu unterscheiden zwischen einem älteren Typ von pedantischer, rhetorischer Buchgelehrsamkeit, der für Priester und Gelehrte angemessen war, und der modernen, vielseitigen Bildung, die sich nicht um gelehrte Distinktionen kümmerte und die für les honnestes hommes, die adlige Elite, konzipiert war. Die Jungen erwarben aber einen größeren Teil des Repertoires, als dies Beata vergönnt war; sie machten sowohl Übungen, die auch zu Beatas Pensum gehörten, als auch andere Arten von Übungen. Beatas etwa gleichaltrige Brüder wurden von Hauslehrern unterrichtet und kamen bereits im Alter von zehn Jahren an die Universität. Ihre grundlegende Ausbildung unterschied sich nicht wesentlich von jener der gewöhnlichen Schuljungen. Doch während der Universitätszeit begannen die politischen Studien eine immer wichtigere Rolle zu spielen, und während der langjährigen Studienreise ins Ausland, die die Ausbildung der Brüder abschloß, studierten und praktizierten sie in erster Linie eben die politischen Themen. Gleichzeitig lernten sie dabei auch moderne Fremd10

Das Zitat von Madeleine de Scudéry stammt aus ihrer „Konversation über die Konversation": Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Geschichte der europäischen Konversationstheorie. Hg. von Claudia Schmölders. München 1979, S. 166-177, hier S. 175.

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sprachen und eigneten sich einen adligen Schliff an, indem sie am Gesellschaftsleben in den europäischen Hauptstädten, die sie besuchten, teilnahmen. Beide

wurden im Briefeschreiben trainiert. In der männlichen Ausbildung übte man jedoch auch offiziellere Typen des Briefeschreibens. Die Briefübungen der Jungen fungierten außerdem als Einführung in fortgeschrittenere rhetorische Studien, und die Termini und Begriffe wurden hier allmählich eingeführt. Auch Diskurs- und Gedichteschreiben waren Teil des rhetorischen Trainings der Jungen. Aber sie beschäftigten sich darüberhinaus mit ausschließlich männlichen Übungsformen wie Disputationen, Oppositionen und Orationen, Übungen, die als Vorbereitung nicht nur für die Gelehrtenlaufbahn, sondern auch für eine Karriere als Diplomat oder höherer Beamter unumgänglich waren. Typisch für die Ausbildung sowohl der Jungen als auch der Mädchen war jedoch der enge Zusammenhang zwischen Lernen und Anwenden. Beata hatte schon als kleines Mädchen ihre Probestücke in der Kunst der Konversation am Hof von Kristina anzubringen. Ihr Bruder Johan Rosenhane schreibt über seine Universitätsstudien: „Methoden att studera i Upsala, bestod icke endast uti at wara i sin kammare, läsa och skrifwa; utan man borde ock lämpa alt til utöfningen". Ja, sogar als er und die Brüder im Sommerurlaub zu Hause beim Vater waren, sollten sie laut Johan „pa ögnablicket" antreten können und „göra en Oration pâ Latin, öfwer nâgot Politiskt ämne, som han oss förelade"." Das Ziel aller theoretischen Ausbildung zu dieser Zeit war also, daß man in der Lage sein sollte, das Erlernte im eigenen Sprechen und Schreiben anzuwenden. Es galt, wie es in der schwedischen Schulordnung von 1649 hieß, dem Schüler beizubringen, „lappa ihop ât sig en tröja med tyg frân Tullii purpurdräkt", das er später als sein eigenes vorzeigen können sollte.12 Dieses Gewand sollte man direkt, im Lauf der Ausbildung, anwenden, um sich so noch besser auf den Bereich vorzubereiten, in dem man später vermutlich tätig werden würde: Beata Rosenhane in der Welt der Salons, ihr Bruder Johan in Diplomatie und Verwaltung und die anderen Schuljungen vom Katheder oder von der Kanzel. Die Kinder lernten somit das als notwendig angesehene Repertoire nicht als etwas Historisches und Vergangenes. Sie verinnereine Sprache mit lichten es stattdessen als eine Art Sprache höherer Ordnung einem großen und spezifischen Vokabular, das aus den 'Sachen' des Repertoires bestand, und mit einer festgelegten Kombinatorik, den 'Formen' des Repertoires -, die so schnell wie möglich selbst praktisch in Gebrauch genommen werden sollte. Geschlechter

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Johan Rosenhane: Mémoires de Mr. le baron Jean Rosenhane, président, écrites par lui même, Anecdoter om namnkunniga [...] swenska man 2. Stockholm 1773, S. 56-117, die auch eine schwedische Parallelübersetzung enthält, S. 69, S. 71. 'Die Methode, nach der in Uppsala studiert wurde, bestand nicht nur darin, in seiner Kammer zu sein, zu lesen und zu schreiben; sondern man sollte auch alles zur Anwendung bringen'; 'augenblicklich |...| eine Oratio auf Latein halten können, über irgendein politisches Thema, das er uns vorlegte' Sveriges allmänna läroverksstadgar 1561-1905. Utg. av B. Rud. Hall et al. Arsböcker i svensk undervisningshistoria 4. Stockholm 1921, S. 76. 'sich ein Wams aus dem Stoff des Purpurgewands des Tullius zusammenzuflicken'

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Wie alle Schüler in dieser Zeit wurde Beata Rosenhane in der Kunst der Poesie unterrichtet. Wie ihr Bruder Johan schrieb sie auch eigene Gedichte. Daß keiner von ihnen einer der Dichter wurde, über die wir in den Literaturgeschichten lesen, beruht sowohl darauf, daß sie die Kunst der Poesie nie öffentlich ausübten, als auch darauf, daß sie es vermieden, auf schwedisch zu schreiben. Dennoch stellen sie beide typische Repräsentanten der Zunft der Repertoiredichter dar. Beatus Gelegenheitsgedichte erinnern trotz des französischen Sprachgewands auffallend an Lucidors - der übrigens exakt dasselbe Geburts- und Todesjahr wie sie hatte und ein Huldigungsgedicht zu ihrer Hochzeit 1672 schrieb -, was den Aufbau wie Bilder und Thematik betrifft. In der Literaturgeschichte begegnen wir normalerweise fertigen Dichtern. In Beatas Fall erhalten wir nicht nur das Endergebnis, sondern können auch den Weg untersuchen, wie ein werdender Dichter das Repertoire erobert. Und eben dieser Umstand führte mich von Beatas Studien und Dichtung zu einem anderen Bild des Verhältnisses, das die gesamte ältere Dichtung zum Repertoire hat. Wir sind, wie ich einleitend erwähnt habe, daran gewöhnt, die Repertoiredichtung als traditionalistisch in allen Bedeutungen des Wortes aufzufassen. Das Problem bei dieser Sicht der Dinge ist, daß sie den Begriff 'Tradition' voraussetzt. Ich würde gerne den Spieß umdrehen und behaupten, daß es Tradition in unserem Sinne zur Zeit der Repertoiredichter nicht gab und daß gerade dieser Mangel das Phänomen Repertoiredichtung konstituiert. Auf jeden Fall ist das genau die Perspektive, die sich eröffnet, wenn man diese Dichtung in bezug auf das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit betrachtet.13 Selbst wenn die eigentliche Voraussetzung für Literatur in der buchstäblichen Bedeutung dieses Worts eben die Schrift ist, so zeigt unter anderem gerade die Literatur, daß mündlich geprägte Formen, Verhaltensweisen und Denkmodelle noch sehr lange weiterlebten. Walter J. Ong behauptet beispielsweise, daß sie in der englischen Literatur erst mit der Romantik „effectively obliterated" wurden und daß die Rhetorik die Hauptverantwortung für ihr langes Überleben trägt.14 Zwei der langlebigen mündlichen Züge, die Ong hervorhebt, sind die Wortfülle die copia der Rhetorik, die in mündlichen Schilderungen zweckmäßig war, in denen die Bedeutung eines Ereignisses an seiner zeitlichen Dauer gemessen wird, aber weniger sowie das übertriebene Lobadäquat in der Schrift, die sich ja im Raum entwickelt15

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In erster Linie muß hier Walter J. Ongs Darstellung Orality and Literacy. The Technologizing of the Word. London, New York 1982, genannt werden. Ong wird früheren Forschungsleistungen in dieser Tradition allerdings nicht gerecht. Ein vollständigeres Bild erhält man in Jan Lindhardts Tale og skrift - to kulturer. Kpbenhavn 1989, das Ongs Arbeit ergänzt und weiterentwickelt. Ong, Orality and Literacy, S. 26. Ong, Orality and Literacy, S. 41: „They [the rhetoricians] continued to encourage it [copia], by a kind of oversight, when they had modulated rhetoric from an art of public speaking to an art of writing. Early written texts, through the Middle Ages and the Renaissance, are often bloated with 'amplification', annoyingly redundant by modern standards. Concern with copia remains intense in western culture so long as the culture sustains massive oral residue- which is roughly until the age of

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preisen, das laut Ong mit der Ausrichtung auf Kampf und Wettbewerb zusammenhängt, die seiner Ansicht nach die mündliche Welt prägte.16 Ong weist auch darauf hin, daß sich die schriftliche Literatur lange Zeit aus einer mündlichen Erzählsituation mit in die Texte eingeschriebenen 'fiktionalisierten Zuhörern' konstituierte.17

Und bestimmt ist eben dieser Zug auch typisch für die Dichtung des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Die Gedichte sind aus einer klassisch-rhetorischen Methodik heraus geschrieben und oft mit Anknüpfung an die verschiedenen Haupt- und Untergattungen der klassischen Rede geformt, wobei vor allem von den Textmodellen, die zum genus demonstrativum der Rhetorik den 'darlegenden', lobpreisenden oder tadelnden Reden gehörten, ausgiebig Gebrauch gemacht wurde. Wortreichtum ist bis zum Durchbruch des französisch-klassizistischen Geschmacks im 18. Jahrhundert ein tragendes Gestaltungsprinzip. Übertriebenes Lobpreisen ist während der gesamten Zeitspanne eine ebenso wichtige Zutat in den Gedichten, in erster Linie in der Gelegenheitsdichtung, jedoch auch in anderen Gattungen. Eingeschriebene, fiktionalisierte Zuhörer sind beinahe obligatorisch es wirkt so, als ob die Dichter erst zu reimen beginnen konnten, wenn sie den Text mit Zuhörern ausstaffiert hatten, die an ihrem Werk teilnahmen. Die Literatur war zudem in hohem Maß an den mündlichen Vortrag angepaßt sie glänzte mit Stilmitteln, die ihren richtigen Effekt erst beim Anhören bekommen und legte generell großen Wert darauf, daß das Gedicht wohlklingend war. So war ja beispielsweise das Aufeinandertreffen von Vokalen verboten, wenn die zusammenstoßenden Vokale nicht elidiert werden konnten. Daß mündliche Züge noch so lange weiterlebten, beruht also nach Ong in erster Linie auf der konservierenden Kraft der klassischen Rhetorik. Jan Lindhardt sieht eine ergänzende Erklärung darin, daß die Renaissance eine Sonderstellung im langen Prozeß hin zur Schriftlichkeit innehatte. Die gelehrte Kultur hatte, so Lindhardt, schon im Mittelalter einen ausgeprägt schriftsprachlichen Charakter erhalten. Aber die Volkskultur war immer noch mündlich, und daran paßte sich auch die Kirche in ihrer Lehre und Verkündigung an. Die Grenze zwischen gelehrter Schriftsprachlichkeit auf der einen Seite und mündlicher Volkskultur auf der anderen wurde daher durch das Lateinische gezogen. Die nationalsprachliche Mündlichkeit war nach Lindhardt erst in der Renaissance bedroht, als man begann, die Nationalsprachen als Literatursprachen zu benutzen.18 Dazu paßt auch Ongs Hinweis, daß sogar das Lateinische, obwohl es die Sprache der Schriftkultur war, viele mündliche Züge bewahrte. Die lateinische Sprache war eine lebendige Verbindung zu einer gelehrten Kultur, deren oberstes Ziel es gewesen war, öffentliche Redner auszubilden, nicht aber effektive Schreiber. Sie holte dazu ihren grundlegenden Wortschatz und ihre

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Romanticism or even beyond." Ong, Oralitv and Literacy, S. 45, S. 111. Ong, Orality and Literacy, S. 103. Lindhardt, Tale og skr ift, S. 115ff.

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Grammatik aus jener Sphäre, die Ong „this old oral world" nennt.19 Daß es eben die Schriftlichkeit ist, die ein Geschichts- und damit auch ein Traditionsbewußtsein schafft, wird sowohl von Ong als auch von Lindhardt unterstrichen. In einer rein mündlichen Kultur ist eigentlich alles zeitgenössisch niemand ergreift das Wort, um etwas zu erzählen, was nicht hier und jetzt, sowohl für den, der spricht, als auch für den, der zuhört, relevant ist. In einer solchen Kultur, schreibt Lindhardt, ist man sich nicht bewußt, daß die Tradition, die man tatsächlich hat, eben eine 'Tradition' ist, da man sie nur in ihren gegenwärtigen, nicht-fremden oder nicht-historischen Aspekten erlebt. Die Schrift versetzt die Menschen in die Lage, auf eine neue Art und Weise zwischen früher und heute zu unterscheiden, fährt Lindhardt fort, indem sie auch bewahrt, was inaktuell geworden ist, solche Dinge, die das menschliche Gedächtnis nicht bewahrt. Das Geschriebene kann

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vise mig, hvad jeg mente i gär eller for et är siden, hvis jeg har skrevet det ned uansedt jeg mener noget helt andet i dag. Det er denne historiske dimension af fremmedhed, som bliver muliggjort ved skriften. Begrebet tradition kan säledes anskues som et faenomen, der er betinget af skriften f.]2"

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faßt Lindhardt zusammen. Die Einstellung Beata Rosenhanes, der Repertoiredichter und der gesamten damaligen literarischen Kultur zum Repertoire ähnelt sehr stark dem Verhältnis, das laut Lindhardt zwischen mündlich geprägten Kulturen und dem literarischen Erbe, das sie wiederverwenden, besteht. Man wendet die ganze Zeit die älteren Stoffe wieder an, aber für neue Zwecke in neuen aktuellen Situationen. Die Haltung Beatas und der älteren Dichter zum Repertoire gleicht damit auch in vielerlei Hinsicht unserem eigenen Verhalten gegenüber de Saussures langue, der Sprache als System, den Bausteinen aus Wörtern und Formen, aus denen sich unser tägliches Sprechen parole zusammensetzt. In beiden Fällen werden kulturell tradierte Formen und Stoffe zu neuen Äußerungen mit Relevanz für neue Zuhörer in neuen Kontexten zusammengestellt. Die Sachen und Formen des Repertoires erschienen den Repertoiredichtern daher wahrscheinlich genauso wie die Sprache den heutigen Sprachbenutzern als etwas, von dem man natürlich unter einem gewissen Aspekt sagen kann, daß es eine Geschichte hat, das aber in der Anwendung keineswegs in einer 'historischen' Dimension aufgefaßt wird. Das Repertoire sollte dennoch als ein System verstanden werden können, das den Benutzern als ein zeitgenössisches und im Grunde genommen zeitloses Hilfsmittel zur Verfügung stand. In Ongs Terminologie erscheint Dichten in diesem Rahmen als ein Typ sekundär mündlicher Schilderung, die uns aufgrund der eigentümlichen Logik der Geschichte durch das Medium der Schrift erreicht hat. Mary J. Carruthers

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Ong, Orality and Literacy, S. 113. Lindhardt, Tale og skrift, S. 103ff. 'mir zeigen, welcher Ansicht ich gestern oder vor einem Jahr war, falls ich es niedergeschrieben habe egal, ob ich heute ganz anderer Ansicht bin. Es ist diese historische Dimension der Fremdheit, die durch die Schrift ermöglicht wird.'; 'Der Begriff Tradition kann als ein Phänomen angesehen werden, das durch die Schrift bedingt ist.' so

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hat eine andere Unterscheidung bezüglich der Einstellung zum kulturellen Erbe eingeführt: Sie unterscheidet zwischen fundamentalistischen und textualistischen literarischen Kulturen. In den fundamentalistischen wird der Text als etwas Selbständiges, vom Verfasser Gegebenes und seine Form als fertig, vom aktuellen Kontext

aufgefaßt. In den textualistischen Kulturen nimmt man die Texte in Gebrauch, webt daran weiter und formt sie nach den aktuellen Bedürfnissen um.31 Die letztgenannte Verhaltensweise ist nach Carruthers charakteristisch für die Kultur des Mittelalters, und sie sollte dann auch noch der klassizistischen Dichtung des 17. und 18. Jahrhunderts ihren Stempel aufdrücken. Und abgesehen davon, welche Bezeichnung man für das Phänomen wählt, scheint es klar zu sein, daß das Repertoire nicht als eine Tradition in unserem Sinne des Wortes als etwas Historisches und Vergangenes - betrachtet werden darf, sondern als eine im Prinzip zeitlose Sprache zweiten Grades, die den Dichtern als ein aktuelles Hilfsmittel zur Verfügung stand. Für Ong ist die Kunst des Buchdrucks eine der wichtigsten verändernden Kräfte im Übergang von einer sekundär mündlichen zu einer schriftlichen Kultur.22 Sie gab, so meint Ong, dem geschriebenen Wort eine Räumlichkeit, die es zuvor nicht gehabt hatte: „Print embedded the word in space more definitively.'2'1 Aber zugleich trug sie auch dazu bei, wie man hier ergänzen kann, die literarischen Inhalte und Formen mindestens ebenso unbeweglich in eine historische Dimension zu stellen. Die Wörter der geschriebenen und vor allem der gedruckten Bücher erschienen allmählich gebunden an bestimmte Urheber und Situationen in einer anderen Zeit als der, in der das Lesen selbst stattfand. Damit wurde auch, um mit Carruthers zu sprechen, eine textualistische Haltung dem literarischen Erbe gegenüber langsam durch eine fundamentalistische ersetzt. Die Entwicklung hin zur Schriftlichkeit war, wie Ong dargestellt hat, ein irreversibler Prozeß, der das menschliche Bewußtsein umstrukturiert hat.24 Erst kraft dieser Veränderung bekamen also die bereits geschriebenen oder gedruckten Texte die Dimension von Historizität, die wir selbst ihnen mehr oder weniger automatisch zusprechen. Zur Zeit der romantischen Literaturrevolution hatten sich das Repertoire bereits von einem Hilfsmittel zur Tradition und die Dichtung von einer Repertoirezu einer Werkdichtung verwandelt. Es war den Dichtern immer noch möglich, von den Sachen und Formen der Tradition zu leihen. Aber eine solche Vorgehensweise erschien nun eben auch als Leihen von etwas, das das Eigentum eines anderen und der Ausdruck einer anderen Zeit war. In dieser neuen Haltung zur früheren Dichtung unabhängig

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Mary J. Carruthers: The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture. Cambridge Studies in Medieval Literature 10. Cambridge u.a. 1990, S. 13-14. Ong, Orality and Literacy, S. 117. Ong, Orality and Literacy, S. 123. Carruthers polemisiert gegen Ongs Auffassung, daß eben die Schrift und der Buchdruck eine 'Raumplazierung' der Wörter beinhalten sollten: schon in der antiken und mittelalterlichen Erinnerungskunst wurden sie an bestimmte Stellen im Gehirn desjenigen plaziert, der den betreffenden Text memorierte, und das waren die ursprünglichen loci. Vgl. Carruthers,

of Memory, S. 32. Ong, Orality and Literacy. Kapitel 4 trägt eben den Titel „Writing restructures consciousness".

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liegt sicher auch ein Teil der mentalitätsbedingten Ursache für die hohe Wertschätzung des Originellen in der romantischen Ästhetik. Die Einstellung zur Repertoiredichtung, die ich hier vertrete, hat recht weitreichende literaturhistorische Konsequenzen. Man muß sich vorstellen, daß die sukzessive Entstehung der Schriftlichkeit und die Anpassung der Schriftsteller und Dichter an die neuen Umstände die Möglichkeiten, das Repertoire auf eine Art und Weise zu verwenden, die den frühen Renaissanceautoren noch selbstverständlich gewesen war, langsam zerstörten und schließlich ganz und gar auslöschten. Man muß daher die Phänomene, die man gewöhnlich mit Begriffen wie 'Renaissance', 'Barock' und 'Französischer Klassizismus' zu umreißen sucht, vor dem Hintergrund dieses Prozesses untersuchen. Die Schriftsteller schrieben während der gesamten Periode von der Renaissance bis zur Romantik mit Ausgangspunkt im klassizistischen Repertoire und der klassischen Rhetorik, aber sie wurden sich gleichzeitig des 'historischen' Charakters, der Traditionsseite dieses Erbes immer bewußter. Ebenso schärfte sich ihr Bewußtsein für die Tatsache, daß ihr Medium die Schrift war und daß die schriftlichen Wirkungsmittel von anderer Art waren als jene, die die stillschweigende Voraussetzung der früheren Dichtung ausgemacht hatten. Damit wurde auch ihre Einstellung zu Sachen und Formen des Repertoires komplizierter als früher. Mehrere der stilistischen Eigenheiten, die als kennzeichnend für den Barock wurden, können auch als Lösungen für die neuen Probleme betrachtet werden, mit denen man sich auf dem Weg vom Textualismus zum Fundamentalismus, von der sekundären Mündlichkeit zur Schriftlichkeit konfrontiert sah. Das gilt zum Beispiel für die barocken Manierismen. Um weiterhin mit Ausgangspunkt im Repertoire schreiben zu können, aber dennoch etwas mit eigener Stimme zu sagen, konnte der Schriftsteller seinen Ausdruck noch eine halbe oder ganze Umdrehung weiter hochschrauben.25 Das erhöhte Bewußtsein vom Text als einem einzigartigen und historisch fixierten Schriftprodukt öffnete gleichzeitig auf verschiedenen textuellen Ebenen neue Möglichkeiten für Spiele mit den 'Sachen' und Formen der Tradition und mit der Art, wie andere Verfasser diese anwendeten; dies könnte die scharfen Kontraste in gewissen barocken Texten, das Metaphernspiel und andere avancierte textuelle Kunstgriffe erklären. Bildgedichte sind ebenfalls eines der Phänomene, die mit dem Schriftbewußtsein zu tun haben. Die Veränderung hin zu einem spezifischen Barockstil in der schwedischen Literatur, die Bernt Olsson festgestellt und auf die Zeitspanne von 1670 bis 1730 gelegt hat, kann auch in diesem Licht gesehen werden. Unter anderem beinhaltet diese Entwicklung einen Übergang von einem Nominal- zu einem Verbalstil,26 von einem angesehen

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Ernst Robert Curtius' Hinweis, daß Manierismen in der Dichtung vieler verschiedener Epochen zu finden sind, widerspricht diesem Gedanken keineswegs, da sich die Schriftlichkeit in verschiedenen Sprachsystemen und literarischen Kulturen zu unterschiedlichen Zeitpunkten durchgesetzt hat. Bernt Olssons Untersuchungen sind dargelegt in seinem Aufsatz Schwedische Barockdichtung und ihre Rezeption. Europäische Barock-Rezeption. Hg. von Klaus Garber in Verbindung mit Ferdinand van Ingen et al., 2. Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 20. Wiesbaden 1991, S. 1101 -1 107, sowie in Bernt Olsson, Ingemar Algulin: Litteraturens historia i Sverige. Stockholm 1987, S. 90-99.

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Stil, der mit seinem sukzessiven Charakter gut zum Zuhören geeignet ist, hin zu einem Stil, der mit Über- und Unterordnungen, Antithesen und Paradoxen arbeitet und damit vorauszusetzen scheint, daß der Adressat eben ein Leser ist, der den Text vor sich liegen hat und der die Möglichkeit besitzt, sich darin nicht nur vorwärts, sondern auch rückwärts zu bewegen. Aber auch der französische Klassizismus erscheint obwohl er andere Lösungen für die von demselben Übergangsprozeß geprägt Probleme bereithält. Seine neuen und strengeren Regeln für die Dichtung ermöglichten es, die Tradition weiterhin auszubeuten und dennoch 'neu' zu schreiben ältere Dichtung der gleichen Art konnte ja als weniger geschmackvoll und damit als überholt abgetan werden. Sein neues Interesse für le mot propre und seine Kritik am früheren Wortreichtum kann so als Ausdruck dafür gesehen werden, daß man sogar in der Theorie begann, die Augen für die Nachteile der copia zu öffnen daß man ein neues Bewußtsein für die speziellen Voraussetzungen, denen sich eine schriftgebundene Literatur fügen muß, bekam. Unter diesem Blickwinkel muß also die Dichtung von der Renaissance bis zur Romantik als eine einzige zusammenhängende Epoche aufgefaßt werden, in der das Repertoire die Hauptquelle der Dichtung ist; Begriffe wie 'Barock' und 'Französischer Klassizismus' sind dann zu verstehen als verschiedene Strömungen, verschiedene Arten, mit den Komplikationen umzugehen, die während des epochenspezifischen Übergangs von einer primär mündlichen zu einer primär schriftlichen Dichtung entstanden. Erst im Zusammenhang mit der Romantik, als das Bewußtsein für die Schrift das Repertoire definitiv zur Tradition gemacht und es damit in den Bereich der Geschichte abgeschoben hatte, treffen wir auf eine neue Epoche in der Literatur. Und dieses Umdenken begann also, was mich betrifft, mit der kleinen Beata

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Rosenhane und ihren Studien.27

Übersetzung: Benedicte Christen, Kerstin Kirpal

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Vgl. auch Olssons Beitrag im vorliegenden Band. Resultate dieses Umdenkens finden sich in einer kürzlich erschienenen Reihe von Studien zur schwedischen Literatur des 17.-19. Jahrhunderts: vgl. Stina Hansson: Frän Hercules tili Swea. Den litterära textens förändringar. Skrifter utgivna av Litteraturvetenskapliga institutionen vid Göteborgs universitet 39. Göteborg 2000.

KURT JOHANNESSON, UPPSALA

Alexander und die Zeit der schwedischen Großmacht

Mythen und Exempel Im fünften Akt von Shakespeares Hamlet steht der dänische Prinz mit einem Totenschädel in der Hand auf einem Friedhof. Der Schädel ist eben durch den Spaten des Totengräbers zum Vorschein gekommen. Wer war es? Oh, der arme Yorick, der Hofnarr. Sah Alexander ebenso aus, als er in der Erde lag? Und stank er ebenso gräßlich? Natürlich, Alexander starb, Alexander wurde begraben, Alexander wurde zu Staub, zu Erde, zu Lehm, mit dem man ein Bierfaß hätte abdichten können. Dasselbe gilt für den großen Caesar. Er wurde zu Erde und mit dieser könnte man gegen den Luftzug ein Loch stopfen: O, that that earth which kept the world in awe Should patch a wall t'expel the winter's flaw!

Man spricht zur Zeit viel von Europa. Was aber macht Europa aus und hält es zusammen? Keine gemeinsame Sprache; im Gegenteil, es scheint eine neue babylonische Sprachverwirrung auszubrechen, sobald man eine gesamteuropäische Konferenz einberuft. Keine gemeinsame Religion; die zerstrittenen Kirchen und Sekten haben in Europa unzählige Kriege entfacht und tun dies auch heute noch. Nicht einmal genaue geographische Grenzen. Wo endet Europa im Osten, an der polnischen oder an der russischen Grenze, am Uralgebirge, wie de Gaulle einst sagte, oder in Wladiwostok, im fernsten Osten? Und auch in den anderen Himmelsrichtungen ist die Grenzziehung diffus. Viele, die in Amerika, Afrika, Australien oder Neuseeland wohnen, betrachten sich in irgendeiner Weise als Europäer. Deshalb ist Europa in erster Linie eine Kultur, und die zusammenhaltenden Kräfte sind eine Art 'Erinnerung'. Ohne diese kollektiven Erinnerungen gäbe es kein Europa. Dies gilt natürlich auch für andere Kulturen, wie beispielsweise die chinesische, die indische oder die islamische. Einige dieser Erinnerungen sind Erzählungen oder Mythen, die in Europa von Männern wie Sokrates und Jesus, von Kolumbus, Luther, Faust, Napoleon, Einstein, Hitler und einigen anderen handeln. Jede Erziehung hat zum Ziel, die kommenden Generationen diese Mythen zu lehren, damit sie ein selbstverständlicher Teil des Denkens und Fühlens werden. Hamlet erklärt niemals, wer Alexander und Caesar

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Kurt J ohannesson

waren, das Wissen um sie wird vorausgesetzt. Auf diese Weise kann eine Kultur zusammengehalten und ihre Identität über Jahrtausende hinweg bewahrt werden. Was ist nun diesen mythischen Gestalten gemein? Sie scheinen alle Grenzen des Normalen und Möglichen zu überschreiten, sie sind 'Übermenschen'. Deshalb wekken sie Erstaunen und Bewunderung, denn sie sind zugleich vieldeutig und rätselhaft. Sind sie gut oder böse, Genies oder Betrüger, Wohl- oder Übeltäter? Wir suchen nach einer Antwort, wissen aber, daß diese provisorisch und unsicher sein muß, denn es bleibt immer ein Teil, der sich einer Erklärung verweigert. Man könnte auch sagen, daß diese Mythen exempla im rhetorischen Sinn sind. Gemäß der klassischen Rhetorik gibt es zwei Möglichkeiten, etwas zu erklären oder zu beweisen, um die Menschen zu überzeugen. Man kann mit verschiedenen logischen Schlußfolgerungen oder Beweisen an die menschliche Vernunft appellieren. Man kann sich aber auch konkreter Beispiele aus der Geschichte oder dem Alltag des Menschen bedienen, wobei man in diesem Falle die Exempel selbstverständlich so auswählt und deutet, daß sie genau die These, die man selbst verficht, unterstützen. Diese Studie handelt von solch einem Exempel: Alexander. Sie handelt auch von einer Epoche in der schwedischen Geschichte, die üblicherweise als „Stormaktstiden" ('Großmachtzeit') bezeichnet wird. In dieser Zeit unterrichtete man an allen höheren Schulen über Alexanders Leben und Taten, man schmückte viele Schlösser mit Gemälden und Gobelins, die die hervorragende Tapferkeit und den Edelmut des makedonischen Herrschers zeigten, und verglich die schwedischen Könige in Gedichten, Orationen und Schauspielen ständig mit Alexander. Aber was wollte man mit diesem Exempel 'Alexander' erklären, beweisen und legitimieren?

Alexander und die antiken Historiker Im Lauf der Zeit haben viele versucht, das Leben Alexanders zu beschreiben. Geboren wurde er 356 v.Chr. als Sohn König Philipps von Makedonien. Dessen Reich lag auf der Balkanhalbinsel, nördlich von reichen und mächtigen Handelsstädten wie Athen, Theben oder Sparta. Dort konnte man mit einer gewissen Verachtung auf das unentwickelte und etwas barbarische Makedonien herabsehen. Aber Philipp errang in einer Reihe von Kriegen Erfolge gegen andere Stämme nördlich und östlich von Makedonien und es gelang ihm, Einfluß auf die griechischen Städte im Süden zu gewinnen, teils durch Drohungen, teils durch Versprechungen. Zu dieser Zeit hielt Demosthenes seine berühmten Reden in Athen, um seine Landsleute vor Zugeständnissen gegenüber Philipp und den Makedoniern zu warnen. Schließlich brach ein

Krieg aus, den Philipp 338 in der Schlacht von Chaironeia für sich entscheiden konnte, was gewöhnlich als das Ende von Athens politischer Größe und Selbständigkeit betrachtet wird. Philipp erzwang nun einen Verbund der griechischen Städte, dessen Führung er selbst innehatte. Was den Bund einen sollte, war ein Krieg gegen

Alexander und schwedische Großmachtzeit

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die gewaltige Großmacht im Osten, Persien. Doch bevor Philipp diesen Krieg ernsthaft beginnen konnte, wurde er 336 ermordet. Die Thronfolge war unklar, Alexander gelang es, die Macht zu ergreifen. Zu diesem Zeitpunkt war er zwanzig Jahre alt. Einige griechische Städte versuchten, sich aus dem Verbund mit Makedonien zu lösen, doch Alexander zwang sie durch die Belagerung und vollständige Zerstörung der Stadt Theben zur Unterwerfung.

Zwei Jahre später zog er nach Kleinasien und schlug eine persische Armee am Fluß Granikos. Danach marschierte er gen Osten und traf in der Schlacht bei Issos 333 auf den persischen Großkönig Darius und seine Armee, auch hier siegte Alexander. Dann zog er nach Süden durch die heutigen Länder Syrien und Libanon, Küstenstädte wurden erobert oder fielen freiwillig vom Perserkönig ab, dasselbe geschah in Ägypten, wo er eine Stadt gründete, die seinen eigenen Namen tragen sollte, Alexandria. Hiernach wandte sich Alexanders Armee gen Norden und besiegte den Perserkönig in einer Schlacht bei Gaugamela in Assyrien. Jetzt eroberte Alexander auch die Königsstädte Babylon, Susa und Persepolis mit ihren unermeßlichen Reichtümern, rief sich selbst zum Perserkönig aus und zum 'König über Asien' und verfolgte Darius, der in seine östlichen Provinzen geflüchtet war, bis dieser von seinem Satrapen Bessos ermordet wurde. In weiteren Kriegszügen eroberte Alexander die unwegsamen Gebirgsprovinzen im Nordosten bis hin nach Samarkand. Von dort zog er gen Indien, wo die Fürsten die Oberhoheit des Perserkönigs bereits anerkannt hatten. Er unterwarf sich das Tal des Indus und wollte noch weiter nach Osten vorrücken, wurde aber von seinen Truppen zur Rückkehr nach Westen gezwungen. Gewissen Quellen zufolge soll er Kriegsunternehmen zur Unterwerfung Arabiens und ganz Nordafrikas bis hin nach Gibraltar geplant haben, als er an Fieber erkrankte und im Jahr 323 starb. Zu diesem Zeitpunkt war er zweiunddreißig

Jahre alt.

In einem Zeitraum von zwölf Jahren hatten Alexander und die Makedonier eines der größten Reiche geschaffen, das die Welt je gesehen hatte. Wie war dies möglich? Und wer war dieser Alexander? Während der Kriegszüge hatte er seine eigenen Historiker bei sich und nach seinem Tode wurden andere Historien geschrieben, von Männern, die in seiner Nähe gewesen waren. Auf diese Weise entstand schon in der Antike eine vielfältige Literatur über Alexander, der den Schritt in die Welt der Mythen hinein getan hatte.1 Vor allem vier Werke sollten das Bild Alexanders in der Nachwelt ganz besonders prägen. Das erste ist der Alexanderroman, der im 3. Jahrhundert v.Chr. von einem Griechen in Alexandria kompiliert wurde. Er schildert Alexanders Feldzüge und Siege, aber auch eine Reihe phantastischer Reisen und Abenteuer, in denen sich Alexander bis ans Ende der Welt begibt, eine Art Flugmaschine konstruiert, um die höheren Sphären zu erforschen, eine Taucherglocke aus Glas entwickelt, um in die Vgl. z.B. Paul Pédech: Historiens compagnons d'Alexandre. Paris 1984; Nicholas Geoffrey Lempriere Hammond: Three historians of Alexander the Great. The so-called Vulgate authors, Diodorus, Justin

and Curtius. Cambridge 1983.

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Tiefen des Meeres hinabzusteigen usw. Diese Erzählung wurde in gut achtzig verschiedenen Versionen verbreitet und in mindestens vierundzwanzig Sprachen übersetzt, europäische und orientalische. Dadurch wurde Alexander zu einer der berühmtesten Sagengestalten der Welt, von Island im Westen bis nach China im Osten. Im Auftrag des Marschalls Bo Jonsson Grip wurde der Alexanderroman im 14. Jahrhundert auch in schwedische Knittelverse übertragen.2 Das zweite dieser Werke ist Justinus' Historia aus dem 3. Jahrhundert n.Chr., eigentlich eine Zusammenfassung eines viel umfangreicheren Werkes von Pompejus Tragus. Aufgrund ihrer Kürze und einfachen Sprache wurde diese Historia zu einem weitverbreiteten Lehrbuch in den Schulen. Als Saxo Grammaticus am Ende des 12. Jahrhunderts seine große Geschichte über das Schicksal der Dänen schreibt, entlehnt er laufend Phrasen und vielleicht auch Motive und Ideale aus Justinus' Schilderung von Philipp und Alexander.3 Das dritte Werk sind Plutarchs Lebensbeschreibungen, in denen er einen berühmten Griechen mit einem gleichermaßen bekannten Römer vergleicht. Als er Beispiele für die größten Feldherren und mächtigsten Herrscher der Geschichte geben soll, zeichnet er zwei suggestive Portraits von Alexander und Julius Caesar. Es ist mit Sicherheit Plutarch, der Shakespeare zu Hamlets Meditationen über Alexanders und Caesars verschwundene Macht und Ehre inspiriert hat. Das vierte dieser Werke ist eine Geschichte über Alexanders Leben, die vom Römer Quintus Curtius Rufus geschrieben wurde. Man nimmt an, daß er zur Zeit von Kaiser Claudius gelebt hat, aber es ist sehr wenig über ihn bekannt. Moderne Historiker haben sich ziemlich herablassend über dieses Werk geäußert: „Anlagt pâ underhâllning, utan spar av kritik och retoriskt färgat är arbetet närmast att betrakta som en historisk roman f...]."4 Trotzdem war es vor allem Curtius Rufus, der das Alexanderbild des 17. Jahrhunderts prägte.

Magistra vitae Krieg war im Schweden des 17. Jahrhunderts Alltag, Krieg war für große Teile der Bevölkerung, Adlige wie Nicht-Adlige, ein Beruf. Manche aber betrachteten den Krieg auch als Kunst und Wissenschaft. Gustav II. Adolf ist als der große Feldherr in die Geschichte eingegangen. Gemäß diesem Bild zeigte er seine wahre Genialität auf den Schlachtfeldern, wo er auch den 1

Ludvig Holm-Olsen, Carl Ivar Stähle: Alexandersagaen. Kulturhistoriskt lexikonför nordisk medeltid,

3

Kurt Johannesson: Saxo Grammaticus. Komposition och världsbild i Gesta Danorum. Stoekholm

l.Malmö

1956, Sp. 75-79.

1978, S. 22-23. 4

v. Curtius: Quintus C. Rufus. Svensk uppslagsbok 6. 2. omarb. och utvidg. uppl., Malmö 1955, Sp. 727. 'aufUnterhaitung angelegt, ohne Spuren von Kritik und rhetorisch gefärbt, ist die Arbeit am ehesten als historischer Roman zu betrachten [...].'

Vgl.

s.

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Tod fand. Aber was wurde damals von einem Feldherrn erwartet? Gustav II. Adolf beantwortete diese Frage selbst in einer Schrift, die er Om Krigsmänspligter ('Von den Pflichten der Krieger') nannte. Dort heißt es, daß ein 'Kriegsoberster' fünf Gaben besitzen müsse, nämlich Tugend, Wissen, Vorsicht, Autorität und Glück. Wissen könne ein Feldherr auf zwei verschiedene Arten erwerben, entweder durch fleißiges Studieren oder durch lange Erfahrung. Studien seien sicherer, da man dabei nicht so viele Gefahren bestehen müsse und dennoch durch Glück und Unglück anderer weise werden könne, weswegen denen, die Feldherren werden wollten, empfohlen werde, all ihren Fleiß den Studien zu widmen. Was sollte man lesen? Verordnungen und Vorschriften über Aushebungen und Exerzieren seien wichtig, ebenso was die 'Geometrie' darüber lehren kann, wie Lager und Befestigungen angelegt werden sollten. Aber man sollte auch die Geschichte studieren. Sie ist ein Lehrmeister fürs Leben, schreibt Gustav II. Adolf, indem er einen Begriff Ciceros aus dessen De oratore verwendet, magistra vitae. Aus der Geschichte kann man lernen, wie andere Feldherren ihre Feldzüge geplant und sie tapfer durchgeführt, aber auch, welche ernsthaften Fehler sie manchmal begangen haben. Dies kann man dann nachahmen oder verwerfen, je nachdem, in welcher Situation man sich selbst befindet. Es gibt keinen leichteren Weg zu diesem Wissen über das Leben als die Beachtung der Vergangenheit, und zwar durch Studien und eifriges Lesen.5 Wir stellen uns die Feldherren des 17. Jahrhunderts gerne als ergraute Veteranen mit einer unendlichen Erfahrung von Märschen, Belagerungen und Schlachten und einem illusionslosen Bild der Wirklichkeit vor, aber das Ideal Gustav II. Adolfs ist ein junger und studierter Mann, der ganz besonders in der Geschichte belesen ist. Dieses Wissen durch Erfahrung zu erwerben, ist sehr riskant und dauert zu lange. Viele verlieren auf dem Weg dorthin „heisa, lust och förmögenhet" ('Gesundheit, Lust und Vermögen') und erreichen niemals das Ziel. In den Zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts begann Gustav II. Adolf auch seine eigene Geschichte zu schreiben. Dort diskutiert er ausführlich, welchen Nutzen die Geschichte vermitteln kann: Livius är een hedning, sijr lijkawist thenna nyttigheet wara âth historien, att therutinnan äre tig exempel för ögonen stalte, them tu beskäda kant, hwadan tu och tig taga kant lofliga effterdömme, bâde för tigh och titt regemente tryggeligen att effterföllia; sâsom och skönia hwad slemt är att böria och skittit att enda: thet tu fly mäste. Polybius säger, intet är

beqwämare tili thet mennisklige lefwernes underrättelse, än wetta hwad fordom är händt. Och en annan hedning säger historien wara sanningens liuus och lijfsens mesterinna.6

5

6

Gustav II Adolf: Om Krigsmäns pligter, Konung Gustaf II Adolfs skrifter. Utg. av Carl Gustaf Styffe. Stockholm 1861, S. 63ff. K. Gustaf Adolfs egen historia. Skrifter. 1861, S. 70-71. 'Livius ist ein Heide, doch sieht er, daß die Geschichte von Nutzen ist, da sie dir Exempel vor Augen führt, die du betrachten kannst und von welchen du dir auch löbliche Vorbilder nehmen kannst, damit du und dein Regiment ihnen sicher nachfolgen können; außerdem kannst du erkennen, was schlecht anzufangen und böse abzuschließen

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Der dritte dieser 'heidnischen' oder antiken Schriftsteller ist natürlich Cicero. Die Geschichte soll also Wissen über das Vergangene vermitteln. Aber dem rein theoretischen Wissen, 'wie es eigentlich gewesen ist', wurde im 17. Jahrhundert wenig Bedeutung beigemessen. In der Geschichte sucht man vor allem exempla oder Vorbilder. Es ist die große Aufgabe der Geschichtsschreibung, den Menschen solche exempla vor Augen zu führen, so daß sie daraus leben und handeln lernen können. Diese exempla haben zwei Aufgaben. Sie dienen als Mustersituationen, die demonstrieren sollen, wie gewisse äußere Faktoren, Absichten, Pläne und Handlungen bestimmte Konsequenzen nach sich ziehen. Durch die gewissenhafte Analyse solcher Fälle werden sie zu einer Erfahrung, die uns, vor eine ähnliche Situation gestellt, nützlich sein kann. Aber die exempla der Geschichte sollen uns auch lehren, daß der Ausgang immer und unwiderruflich von gewissen Eigenschaften der handelnden Akteure bestimmt wird. Es geht hier um die 'Tugenden' und 'Laster' der Menschen.

Die Begriffe mögen heutzutage abstrakt erscheinen. Wir leben „After Virtue", wie dies Alasdair Maclntyre 1981 in einem Buch mit eben diesem Titel ausdrückte.7 Deshalb haben wir auch keine von vornherein gegebene Sprache, um moralische Probleme, z.B. in der Politik oder Geschichtswissenschaft, zu diskutieren. Dies verhielt sich in der Epoche, die sich von der Antike bis ins 19. Jahrhundert erstreckte, anders. Damals versuchte man, verschiedene Tugenden und Laster so genau wie möglich zu definieren und sie manchmal auch zu einem kunstvollen System zusammenzufügen, wodurch man zeigen wollte, daß es trotz allem eine Ordnung in der anscheinend unendlichen und verwirrenden Vielfalt an Individuen und Verhaltensformen gab. Ein solches System war die stoische Lehre von den vier Kardinaltugenden, fortitudo oder Tapferkeit, temperantia oder Maßhaltung, iustitia oder Gerechtigkeit und prudentia oder Klugheit, welche dann in verschiedene Untertugenden unterteilt werden konnten. Hierzu fügte die christliche Kirche ihre Systeme Tugenden, Laster oder Sünden. Darüberhinaus versuchte man, diese moralischen Begriffe durch Verwendung von exempla und Symbolen zu konkretisieren und zu beleben. Die Bilderpracht in Kirchen und Palästen diente diesem Zweck, aber auch all die kunstvollen exempla für verschiedene Tugenden und Laster in Predigten, Legenden, Gedichten, Dramen und Geschichtswerken. Diese Erziehung prägte natürlich das Erleben der Welt und des eigenen Ichs. Um vergangene Zeiten verstehen zu können, ist es deshalb notwendig, sich in dieses moralische Bild des Menschen und der Welt hineinzuversetzen, soweit dies für uns, die wir mit anderen psychologischen und moralischen Modellen erzogen worden sind, überhaupt möglich ist.

theologischer

und darum zu meiden ist. Polybios sagt, daß nichts besser ist für den Unterricht des menschlichen Lebens, als zu wissen, was früher geschehen ist. Und ein anderer Heide sagt, daß die Geschichte das Licht der Wahrheit und die Lehrerin des Lebens sei.'

Alasdair Maclntyre: After Virtue. A study in moral theory. London 1981.

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Ein weiterer Umstand: Tugenden und Laster waren vor allem die Fähigkeit, auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln oder zu leben. Es reichte nicht aus, eine gute, tapfere, gerechte oder kluge Gesinnung zu haben, man mußte diese auch in seinem Leben und seinen Handlungen umsetzen können. Oder, wie es Stiernhielm in seinem Hercules ausdrückt, diesem bemerkenswerten Gedicht, das zu zeigen versucht, wie die Tugenden und Laster alles in unserem Leben bestimmen und wie sie die eigentliche Grundlage der menschlichen Gemeinschaft darstellen: Dygd utan dadlige Mildheet, een dunst är; en mälning i watne: Skugg' utan kropp; een fyllning af wind; et hliom, och et Nord-blys [...] (V. 451 -52)s

In seltenen Fällen waren gewisse Tugenden angeboren. Aber in den meisten Fällen mußte sich der Mensch Tugenden durch Studien, Imitation von exempla, eigene Erfahrungen erwerben. Deshalb genoß die Ausbildung als schnellster und sicherster

Weg zu den Tugenden auch so hohes Ansehen. 'ExempeT und 'Tugend' sind deshalb zentrale Begriffe zum Verständnis des Geschichtsbewußtseins des 17. Jahrhunderts. Ein dritter ist 'Regiment', ein Wort, das Gustav II. Adolf häufig gebrauchte. Es kommt vom lateinischen regere, 'steuern'. Rex oder 'König' stammt vom selben Wort und bedeutet eigentlich 'Steuermann'. Das Wort 'Politik' bezeichnete im 17. Jahrhundert die Kunst, den Staat zu steuern und die Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten. Ein Überbleibsel dieser Sichtweise ist das Wort 'Polizei' als Bezeichnung für diejenigen, die heutzutage die innere Ordnung der Gesellschaft schützen.

Wie aber erlernte man die politische Kunst? Die Antwort kann vielleicht überraschend scheinen: auf dieselbe Art und Weise wie die militärische Kunst, durch Studien. Und was man vor allem studieren sollte, war die Geschichte. Was Gustav II. Adolf über sein Geschlecht und sein eigenes Leben schrieb, sollte „som i een spegel" ('wie in einem Spiegel') zeigen, wer durch seine Tugenden dem Regiment nützlich gewesen war und wer im Gegensatz dazu diesem zum Schaden gereichte. Vielleicht würden sich dann einige umwenden und hiernach durch ihre Tugenden dem Vaterlande zum Nutzen werden.9

Politik und Rhetorik Um die politische und militärische Kunst zu beherrschen, mußte man also studieren. Aber wo sollten diese Studien vor sich gehen? Man konnte natürlich zu Schulen und Akademien auf dem Kontinent reisen, was auch geschah. Tausende von Schweden

9

Am Ende der In der Übersetzung von Wilhelm Friese: „Hercules": Text schwedisch/deutsch Welt". Zur skandinavischen Literatur der frühen Neuzeit. Artes et Litterae Septentrionales 1. Leverkusen 1989, S. 111 : 'Tugend ohne tätige Milde ist ein Dunst; eine Malerei im Wasser; Schatten ohne Körper; ein Windhauch; ein Nachklang, und ein Nordlicht [...]' K. Gustav Adolfs egen historia. Skrifter. 1861, S. 71-72.

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unternahmen manchmal mehrjährige Studienreisen. Niemals zuvor oder danach besaß die schwedische Elite eine so ausgeprägte Ambition, die nationalen Begrenzungen zu überwinden und in Sprache, Denkweise und Handeln europäisch zu werden. Aber dies war teuer, nur wenige verfügten über solche ökonomischen Ressourcen. Zudem war es schwer für den schwedischen Staat zu kontrollieren, welche Denkweisen sich junge Schweden während dieser Auslandsstudien aneigneten. Deshalb wurde beschlossen, die schwedischen Schulen aufzurüsten und sie zugleich so zu reformieren, daß der Staat die Männer bekam, die er brauchte, um das Land zu führen. Seit Gustav Vasa in Schweden die Macht ergriffen hatte, war die Universität in Uppsala die meiste Zeit geschlossen oder fristete ein kümmerliches Dasein. Aber während der Regierungszeit Gustav II. Adolfs wurde in Uppsala eine Reihe neuer Lehrstühle errichtet. Man erstellte ein neues Universitätsgebäude und erweiterte unter anderem durch reiche Kriegsbeute die Bibliothek. Schließlich zeigte Gustav II. Adolf sein Wohlwollen, indem er die gustavianischen Erbgüter stiftete und eine Reihe königlicher Stipendien einrichtete. Kurz vor seinem Tode gründete er für die schwedischen Territorien im Baltikum die Universität in Dorpat. Seine Nachfolger setzten diese umfassende Reform des schwedischen Bildungswesens fort. Neue Akademien wurden 1640 in Abo und 1666 in Lund gegründet und die unteren Schulen wurden ebenfalls ausgebaut. In der Mitte des Jahrhunderts besaß Schweden acht Gymnasien und 21 sog. Trivialschulen.10

-

-

Aber mit der Freigebigkeit des Staates waren strenge Anforderungen verbunden. Dies geht eindeutig aus einem Mahnschreiben hervor, das Gustav II. Adolf 1620 an den Pfarrersstand richtete, denn es waren die Männer der Kirche, die in Schweden seit je die Verantwortung für alle Arten von Unterricht trugen. Die Lehrer waren in aller Regel Pfarrer oder hatten Theologie studiert. Deshalb konnte der Religionsunterricht von ihnen gehalten werden. Weil die Lehrer aber, wie es im königlichen Brief heißt, nicht verstünden oder achteten, „hwadh tili regementett eller ett borgerligt lefwerne hörer" ('was zum Regiment oder einer bürgerlichen Lebensart gehört'), könnten sie auch niemand darin unterrichten. Sie ließen auch nicht „hwart ingenium excellera i dedh dedh inclinerar tili" ('jede Begabung sich in dem auszeichnen, wozu sie neigt'), sondern führten die Studierenden gleich von Kindesbeinen an weg von Regimentsangelegenheiten. Besonders habe man beim Adel wie auch bei Nichtadligen Haß und Unbehagen gegenüber dem Kriegswesen geweckt. Dadurch sei das Land steril und unfruchtbar an nützlichem Volk geworden.11 Das Politiker- und Offiziersideal des 17. Jahrhunderts war also ein studierter Mann, der sich vor allem in Geschichte auskannte. Deshalb unterstützte man den Geschichtsunterricht an der Universität eben als politische Wissenschaft. Es gab ja eine unendliche Anzahl politischer und militärischer exempla, mittels derer man konkrete und praktische Fertigkeiten erwerben konnte. Nach Axel Oxenstierna, der 10

Vgl. allgemein Sten Lindroth: Svensk lärdomshistoria. Stormaktstiden. Stockholm 1975, S. 15-69. 1. Handlingar 1477-1654. Uppsala 1877,

" Claes Annerstedt: Upsala Vniversitets Historia. Bihang S.

147.

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höchsten Autorität in der schwedischen Politik, sollten die Professoren den Studenten beibringen, historische Schriften auf diese Weise zu lesen und außerdem zu „exponera consilia et causas rerum gestarum atque eventus".12 Modern ausgedrückt:

erklären, wie gewisse Ratschläge und Ursachen zu bestimmten Handlungen und Konsequenzen führen. Das Studium der Geschichte sollte mit anderen Worten eine Übung in politischem Denken und Handeln sein. Zugleich gewann der Unterricht in 'Beredsamkeit', eloquentia, eine immer größere Bedeutung. Das mag uns heute seltsam vorkommen, aber die Beredsamkeit wurde zu dieser Zeit als praktische und politische Kunst definiert. Alle, die mit Regimentsangelegenheiten beschäftigt waren - Fürsten, Beamte, Priester mußten den gemeinen Mann führen und erziehen können. Und kein Mittel war dabei mächtiger als das Wort. Wer Schweden gegenüber dem Ausland vertrat, mußte natürlich auch die lateinische Beredsamkeit beherrschen. Latein war zu dieser Zeit in Europa die große Sprache der Diplomatie, Wissenschaft und Kultur. Um sich ein korrektes und elegantes Latein anzueignen, sollte man die größten Redner und Autoren der Geschichte studieren und nachahmen, wobei Cicero selbstverständlich das Ideal darstellte. Durch die Beredsamkeit und ihre Theorie, die Rhetorik, sollte man aber auch lernen, die Sprache als ein politisches Instrument anzuwenden, um Menschen zu führen und zu überzeugen oder

-

Gegner zu besiegen. Johan Skytte war einst Lehrer Gustav IL Adolfs gewesen und hatte den zukünftigen Monarchen in dieser klassischen Beredsamkeit ausgebildet. Danach bekam er wichtige diplomatische Aufträge und wurde zum Reichsrat erhoben, eine wahrhaft blendende Karriere für den Sohn eines einfachen Bürgers. 1622 wurde er zum Kanzler der Universität Uppsala ernannt, der er mit Eifer und Strenge vorstand. In einem Brief machte er 1634 darauf aufmerksam, daß der Unterricht in der lateinischen Beredsamkeit dermaßen vernachlässigt worden sei, daß nur ganz wenige Studenten bei der Kanzlei, bei Gesandtschaften und für andere Aufträge gebraucht werden könnten.13 Drei Jahre darauf visitierten er und Axel Oxenstierna zusammen die Universität, wobei letzterer mit Nachdruck betonte, daß die Professur in Beredsamkeit,

die vierzehn Jahre lang vakant gewesen war, mit sofortiger Wirkung besetzt werden sollte, da es dem Staat an Personen fehle, die Briefe und Dokumente in lateinischer und schwedischer Sprache aufsetzen könnten.14 Auch Johan Skytte unterstrich die neuen Anforderungen des Staates durch einen symbolischen Akt. 1622 stiftete er einen besonderen Lehrstuhl für Beredsamkeit und Politik. Viele Familien des Hochadels ließen in der Folge ihre Söhne bei den skytteanischen Professoren studieren, aber dorthin kamen auch nicht-adlige Studenten, die von einer Karriere im Dienst des Staates träumten. Wie unterrichtete man nun während des 17. Jahrhunderts Politik und Beredsamkeit? Ganz einfach: mittels der antiken Geschichte. Jahraus und jahrein hielten die 12 13 14

Annerstedt, Upsala Universitets Historia, 1, 1477-1654. Uppsala 1877, S. 282. Annerstedt, Bihang 1, 1877, S. 316. Annerstedt, Bihang 1, 1877, S. 281.

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Professoren Vorlesungen über Livius, Sallust, Tacitus usw. Wie uns die Lehrbücher und die Notizhefte der Studenten beweisen, taten sie dies nach einer bestimmten Methode. Es war alte humanistische Praxis, einen Text viermal zu lesen. Zuerst pflegte der Professor den Inhalt, beispielsweise eines Kapitels bei Livius,

um danach eine grammatische Analyse des Textes zu geben, ungewöhnliche oder schwere Worte und Konstruktionen zu erklären usw. Hinzu kam eine rhetorische Analyse von Stil und Argumentation im Text oder von Briefen und Reden, die in ihn eingefügt sein konnten. Schließlich machte er moralische und politische observationes, zeigte, wie eine Person im Text bestimmte Tugenden oder Laster besaß, oder mit großer Klugheit in einer problematischen Situation handelte usw. Auf diese Weise sollte das intensive Studium eines antiken Historikers Einsichten in Grammatik und Rhetorik sowie Fähigkeiten in Beredsamkeit vermitteln. Es sollte aber auch ethische und politische exempla und Regeln lehren, die der zusammenzufassen,

im eigenen Leben und Handeln befolgen konnte. Die Geschichte sollte eine wirklich magistra vitae sein. Aber mußten künftige Reichsräte, Beamte und Offiziere tatsächlich alles über Caesars Kriegszüge oder die Intrigen an Kaiser Tiberius' Hof wissen? Hatten sich Kriegskunst und Politik seit der Antike nicht weiterentwickelt und verändert? Studierende

war man sich dieses Problems bewußt. Die Professoren wiesen manchmal darauf hin, daß man in zeitgenössischen Kriegen andere Waffen und eine andere Taktik einsetzte. Zugleich war man aber davon überzeugt, daß Politik und Kriegskunst in gewisser Hinsicht zeitlos waren, denn es handelte sich immer um einen gewissen Typ von Konflikten und Problemen. Es wurden dieselben Anforderungen an die Klugheit und Erfahrung der Menschen, an ihre Tapferkeit, Gerechtigkeit, ihr Pflichtgefühl und andere Tugenden gestellt. Man war davon überzeugt, daß die Antike das wahre Wesen der Politik und Kriegskunst besonders gut verstanden hatte, wodurch damals einige der mächtigsten Staaten entstanden waren, die die Welt jemals zu Gesicht bekommen hatte. Man war aber auch davon überzeugt, daß die antiken Historiker dieses Wissen besser als andere Autoren vermitteln konnten, weshalb es kein schnelleres und effektiveres Vorgehen gab, sich dasselbe Wissen und Können anzueignen, als die antike Geschichte zu studieren. Dies kann an einem Beispiel von Königin Christinas Hof belegt werden. Dem französischen Botschafter Chanut zufolge las die junge Königin jeden Tag ein wenig Tacitus. Durch dieses kontinuierliche Studium erwarb sie sich trotz ihrer Jugend eine große politische Erfahrung, die sie dann im Reichsrat einsetzte, wo sie mit fast absoluter Macht die Sinne alter und weiser Ratgeber dorthin lenkte, wohin sie selbst wollte.15 Das Studium der Geschichte war ihre politische Schule. Es gab auch einen anderen Grund für dieses intensive Studium der antiken Geschichte. Ein Universitätsprofessor, Höfling oder Diplomat konnte natürlich nicht Natürlich

15

J.

Arckenholtz: Mémoires pour servir à l'histoire de Christine reine de Suede, 1-4. Amsterdam, 1751-60, hier 1, S. 345.

Leipzig

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frei über Mängel und Laster der Fürsten, Aristokraten und Feldherren seiner Zeit, über Korruption, unsinnige Kriegszüge, Intrigen und Konspirationen, die im 17. Jahrhundert genauso wie in anderen Jahrhunderten vorkamen, reden. Aber dies konnte indirekt durch Anspielungen auf die antike Geschichte oder mit Hilfe von Schlüsselromanen, Dramen und Kunstwerken, in denen sich die Gegenwart in antikem Gewände spiegelte, geschehen. Dadurch gab die antike Geschichte dem 17. Jahrhundert eine Möglichkeit an die Hand, offen und realistisch sowohl über die hellen als auch die dunklen Seiten der Politik zu sprechen. Und noch ein Vorteil: Wohin ein zeitgenössischer Politiker im damaligen Europa auch reiste, so hatte er an den Toren der Städte, den Wänden von Rathäusern und Palästen, in Festzügen und Theatern immer dieselben Gestalten der antiken Geschichte vor Augen. Durch die Anwendung dieser exempla in Gedichten und Orationen oder in Konversationen während einer Audienz konnte er der Welt zeigen, daß er über die überlegene Klugheit und die edlen Tugenden verfügte, die diese Gestalten symbolisierten. Sie bildeten Teil einer Sprache und Gedankenwelt, die die Elite im Europa des 17. Jahrhunderts über alle nationalen Grenzen hinweg zusammenhielt.

Alexander in der Schule Man studierte also Geschichte, um die eloquentia und die Tugenden, v.a.prudentia, zu erwerben, die von einem Politiker verlangt wurden. Dasselbe galt für das Studium von Curtius Rufus' Alexandergeschichte, wie ich im folgenden mit einigen Beispielen belegen möchte. 1649 hält Johannes Henrici Boeclerus, ein gelehrter Straßburger, der von Königin Christina auf die Professur für eloquentia berufen worden war, in Uppsala Vorlesungen über Curtius Rufus. Mittels des Notizhefts eines Studenten sind wir in der Lage, den Vorlesungen während eines Halbjahres zu folgen.16 Boeclerus geht nach der üblichen Methode vor. Wenn im Text Briefe vorkommen, diskutiert er deren rhetorische Formen ausführlich. Die von Curtius Rufus eingefügten Orationen dienen ihm dazu, den Unterschied zwischen einem Rhetoriker und einem Historiker zu diskutieren und darauf hinzuweisen, welche verschiedenen Typen von Argumenten in diesem Genre angewandt werden können. Aber Boeclerus verwendet den Text auch dazu, eine Menge politischer Observationen und Lehren zu formulieren: wie man Truppen mustern, Ratgeber auswählen, das Vertrauen von Besiegten gewinnen soll usw. Zudem formuliert er eine Reihe von Problemen: Handelte Alexander auf seinen Kriegszügen unbedacht oder klug? Kann man Soldaten anderer Nationalitäten vertrauen? Steht die antike Kriegskunst auf 16

„Observationes in Q. Curtium R. ex publicis Excell. et Cl. virj Joh. Henrici Boecleri Professons Eloq. Regij Praelectionibus excerptae. Ann. 1649 Junij." Handschrift N 49, Kungliga biblioteket, Stockholm.

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einem höheren Niveau als die heutige? Boeclerus greift auch besonders problematische Situationen heraus, in denen Alexander einige seiner engsten Vertrauten des Verrats verdächtigt und sie mit äußerster Härte oder Brutalität bestraft. Handelte Alexander hier richtig? Hierzu führt Boeclerus eine weitläufige juristische Analyse über verschiedene Formen des Verrats und des Aufruhrs durch und läßt einige Studenten an Übungen teilnehmen, in denen sie als Alexanders Ratgeber auftreten und für unterschiedliche Handlungsweisen bezüglich dieser Fälle argumentieren sollen. Das antike Exempel und die Übungen waren für viele der Studenten sicherlich von brisanter Aktualität, da sie aus hohen Adelsfamilien stammten und von Vätern und Verwandten gehört hatten, wie leicht man in der Gunst eines Fürsten fallen konnte. Jetzt sollten sie selbst ihre Sinne für die Intrigen, Risiken und Gefahren in der Welt des Hofes und der Politik schärfen. Einmal lädt Boeclerus gar die ganze Universität und eine Reihe von Honoratioren ein, eine Übung, in der siebzehn Studenten solche lateinischen Orationen halten müssen, mitanzuhören.'7 Ein weiteres Beispiel: Während des Semesters 1678/79 führt der Poesieprofessor Johannes Columbus private Kollegien über Curtius Rufus' Alexandergeschichte durch, in denen die Studenten mit Ausgangspunkt in verschiedenen Ereignissen im Text als Alexander, Darius oder jemand aus ihrem Gefolge Briefe oder Orationen schreiben mußten. Manchmal diktiert Columbus diese Briefe und Reden auf schwedisch, damit die Studenten sie ins Lateinische übersetzen, manchmal gibt er ihnen, im Rahmen einer anspruchsvolleren rhetorischen Übung, nur die Argumente und die Disposition.18 Solcherart war Alexander in der Schule des 17. Jahrhunderts dauernd präsent. Manchmal wurden sogar Szenen aus Curtius Rufus' Geschichte dramatisiert und einem geladenen Publikum vorgeführt. Dies geschah besonders häufig an der Deutschen Schule in Stockholm, die über enge Verbindungen zum Hof verfügte.19

Gustav

II. Adolf und Christina

Eigentlich entwirft Curtius Rufus ein widersprüchliches Bild von Alexander. In seiner Jugend zeigt er die edelsten Tugenden, eine übermenschliche Tapferkeit im Kampf, eine großartige Generosität gegenüber Freunden und Besiegten und eine gleichfalls grandiose Gleichgültigkeit gegenüber Reichtümern und Genüssen. Dann aber folgt Alexanders 'SündenfalF, wenn er das einfache Leben der Makedonier gegen die persische Pracht und Lasterhaftigkeit vertauscht, wenn er glaubt, Sohn 17

18

19

Das Einladungsprogramm ist abgedruckt in Johannes Henricus Boeclerus: Orationes quaedam. Accesserunt programmata academica. Straßburg 1654, S. 181. „Annotationes in Curtii lib: 3tium observatae a Professore Columbo in Collegio privato d. 8 okt. 1678." Handschrift R 317, Uppsala universitetsbibliotek. G. E. Klemming: Sveriges dramatiska litteralur tili och med 1875. Stockholm 1863-1879, S. 64. Vgl. hierzu auch das Drama von Isaac A. Börk: Darius, das 1688 in Lejonkulan als Huldigung an Karl XI. aufgeführt wurde; gedruckt in: Lejonkulans dramer. Skrifter utg. av Litteratursällskapet i Uppsala 21.

Uppsala 1908.

Alexander und schwedische Großmachtzeit

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eines Gottes zu sein und seine treuesten Männer mit erschreckender Brutalität behandelt. Hier erhält Alexander die beängstigende Vieldeutigkeit, die die mythischen

Figuren der Geschichte auszeichnet. Aus diesem Grund werden zahlreiche Fürsten des 17. Jahrhunderts dafür gepriesen, daß sie alle Tugenden Alexanders, nicht aber seine Schwächen und Laster besitzen. Der skytteanische Professor Johannes Loccenius schreibt, als er 1638 Curtius Rufus' Geschichte herausgibt, daß jeder edle Jüngling an Alexander viel zu verurteilen finden wird, aber auch manches, das zu bewundern und dem nachzueifern sich lohnt. Denn Curtius Rufus wollte Alexanders Tugenden von seinen Lastern wie das Gold von der Schlacke trennen und damit in edlen Brüsten den brennenden Eifer, ihn nachzuahmen, wecken. Übrigens widmet Loccenius seine Ausgabe der jungen Königin Christina, die er für ihr hingebungsvolles Studium der Geschichte lobt. Hierin war sie dem Beispiel ihres hohen Vaters Gustav II. Adolfs gefolgt, der eine besondere Vorliebe für Curtius Rufus' Geschichte hatte. Als Knabe wollte er die großen Taten Alexanders nachahmen, als Erwachsener hatte er sie übertroffen. Alexander besiegte Feinde, die weit größere Armeen hatten als er selbst und unterwarf sich eine große Zahl von Ländern. Gustav II. Adolf machte dasselbe. Er wurde aber nicht wie Alexander von Ehrgeiz getrieben, ihn trieb vielmehr sein Eifer für die Religion und die Freiheit zu den Waffen.2" Als Christina das Buch überreicht wurde, war sie zwölf Jahre alt und hatte laut ihrem Lehrer bereits einen großen Teil von Curtius Rufus sowie Livius' erstes Buch cum formulis loquendi et aphorismis Politicis gelesen. Man studierte Geschichte also in der gleichen Weise wie an der Universität, um Phrasen und rhetorische Konstruktionen, politische Sentenzen und Regeln zu lernen. 1639 sollte Christina eine Reihe Orationen aus antiken Geschichten memoriter, aus dem Gedächtnis, rezitieren; außerdem mußte sie kleine Aufsätze in französischer Sprache über die Tugenden von Alexander und anderen antiken Helden schreiben.21 Schon in jungen Jahren wurde Christina selbst in unzähligen Gedichten, Orationen und Dedikationen gefeiert. Auch hier wurde ihr nachgesagt, sie besäße Alexanders Tugenden, nicht aber seine Laster.22

1654 verließ Christina ihren Thron und Schweden, konvertierte zur katholischen Lehre und ließ sich in Rom nieder. Zugleich begann sie damit, Briefe und Dokumente

mit Christina Alexandra zu unterzeichnen, was von vielen als Höflichkeit gegenüber Papst Alexander VI. gedeutet wurde, dessen 'Tochter' sie nun sein sollte.23 Das mag stimmen, aber auch der antike Alexander hatte in diesen Jahren für 20

Außer der Stockholmer Auflage von 1638 erfuhr Loccenius' ausführlich kommentierte Edition noch Auflagen in Amsterdam 1648, 1659 und 1663, in Lübeck 1651 und in Frankfurt am Main 1672 und 1680.

21

22

23

Vgl. Handschrift Nordin 183, Uppsala universitetsbibliotek; in korrigierter Form bei Arckenholtz, Mémoires, 4, 1760, S. 195. Iiro Kajanto: Christina heroina. Mythological and Historical Exemplification in the Latin Panegyrics on Christina Queen of Sweden. Helsinki 1993, bes. S. 120. Der schwedische Pfarrersstand beklagte sich 1660 darüber, daß Christina ihren früheren Vornamen

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sie eine tiefe, persönliche Bedeutung. Christina hinterließ unter anderem einen

großen

Essay über Alexanders Leben und Taten, demzufolge sich alle Fürsten darum bemühen sollten, seinen Tugenden nachzueifern, auch wenn dies schwer oder darin gibt sie den Historikern unmöglich war. Sicherlich hatte auch er seine Fehler recht -, z.B. verurteilt sie seine Trunksucht. Doch selbst die Sonne hat ihre Flecken, und die Fehler der großen Männer haben größeren Wert als die Tugenden gewöhnlicher Menschen, heißt es mit provdcativer Schärfe. Wer Alexander kritisiert, ist kaum mit dem göttlichen Feuer vertraut, das Seelen der höchsten Sphäre bewegt und bei ihnen eine solch großartige Wirkung auslöst. Darum hat Alexander, unvergleichlich und bewundernswert, bei den Menschen nur Ungerechtigkeit und Undank geerntet. Gott allein schenkt den wahren Heroen ihre Belohnung und Ehre, weshalb sie die Urteile der Menschen für nichts erachten. Christina setzt sich auch mit einem ständigen Problem in der Alexanderliteratur auseinander. Als Alexander Darius besiegt hatte, nahm er den Titel eines persischen Großkönigs an und begann, persische Kleider zu tragen und persisches Hofzeremoniell einzuführen. Dies erregte bei seinen eigenen Männern großen Anstoß als Betrug an der makedonischen Einfachheit und Tugend. Christina verteidigt Alexander in diesem Punkt leidenschaftlich. Ihrer Ansicht nach sollte er dafür gepriesen werden, daß er die Bräuche des Volkes annahm, das er unterworfen hatte. Außerdem gehörten große Männer nicht einem einzelnen Volk an, die ganze Welt sei ihre Heimat, alle Bräuche seien für sie natürlich und paßten gleich gut zu ihnen. Der Himmel habe sie auf die Erde gerufen, um zu herrschen.24 Dies ist eine bemerkenswerte Verteidigungsrede für Alexander aber auch für Christina selbst. Sie wußte, daß viele ihre Abdikation und ihren Übertritt zum Katholizismus verurteilten. Dem begegnete sie mit der Behauptung, sie gehöre wie Alexander zu den Heroen oder Übermenschen, weshalb kein gewöhnlicher Mensch ihr Handeln verstehen könne und genausowenig ein Recht darauf habe, dies zu verurteilen. Wie Alexander sei sie von der Vorsehung zum Herrschen ausersehen worden. Deshalb konnte sie weiterhin wie eine Königin auftreten, auch nachdem sie Schweden und der vom Vater geerbten Krone den Rücken gekehrt hatte, und zeitweise Ansprüche auf den Thron von Polen, Neapel oder erneut den von Schweden erheben. Denn ebenso wie Alexander war sie nicht an ein einziges Volk gebunden, sondern konnte wie er sich allen Gebräuchen anpassen. Zu dieser Zeit beginnt sie auch ihre eigene Geschichte niederzuschreiben, genau wie es ihr Vater zuvor getan hatte. Darin berichtet sie von den hohen Gedanken, die ihr die Lektüre von Curtius Rufus und der römischen Geschichte eingegeben hatte und daß Cyrus, Alexander, Scipio und Caesar ihre Helden gewesen waren, die sie

-

-

24

Augusta, der durch Vertauschen der Buchstaben im Namen ihres Vaters zustande gekommen war, gegen das verhaßte Alexandra gewechselt hatte; vgl. Arckenholtz, Mémoires, 2, 1751. S. 45-46. „Reflexions diverses sur la vie et les actions du grand Alexandre", „Ouvrage de loisir de Christine reine de Suede". Arckenholtz, Mémoires, 2, 1751, S. 55ff.

Alexander und schwedische Großmachtzeit

69

mehr schätzte als ihren eigenen Vater.25 Außerdem schreibt sie zwei Sammlungen Aphorismen, von denen viele von Alexander in der Rolle als Heros oder Übermensch handeln. „On compare des gens avec Alexandre le Grand, qui méritent à peine d'être comparés à son Bucéfal", heißt es dort höhnisch und feurig.26

Die drei Karle Bei ihrer Abdankung 1654 überließ Christina den schwedischen Thron ihrem Cousin, Karl X. Gustav, der in seiner Jugend ebenfalls Curtius Rufus gelesen hatte und von dem ein Entwurf zu einem Aufsatz über Alexanders Tugenden und Laster erhalten ist.27 1663 wurden für die Lehrer seines Sohnes Karl XI. Instruktionen verfaßt, deren Ziel auch jetzt eloquentia und prudentia waren. Zu diesem Zweck sollte sich der junge Prinz darin üben, Orationen aus den Werken der Historiker, besonders von Curtius Rufus, zu rezitieren.28 1682 erschien übrigens aus der Feder des translator regius, Johan Sylvius, die erste schwedische Übersetzung von Curtius Rufus. In seiner Dedikation an den König schreibt Sylvius, dieser besitze alle Tugenden Alexanders, vor allem Männlichkeit und Tapferkeit, wobei Alexander sich für den Sohn eines Gottes hielt und der persischen Pracht und Wollust verfallen sei, während Karl XI. seinem ganzen Hof und allen Untertanen durch seine edle Gottesfurcht, Zucht und Klarheit als Exempel dienen könne. Im selben Jahr, 1682, wurde Karl XII. geboren. In den Augen der Nachwelt wurde er eng mit Alexander verbunden, insbesondere durch Voltaires Histoire de Charles XII roi de Suède über den schwedischen Kriegerkönig. Dort findet sich folgende

Erzählung:

eut quelque connaissance de la langue latine, on lui fit traduire Quinte-Curce: il prit pour ce livre un goût que le sujet lui inspirait beaucoup plus encore que le style. Celui qui lui expliquait cet auteur lui ayant demandé ce qu'il pensait d'Alexandre: „Je pense, dit le prince, que je voudrais lui ressembler. Mais, lui dit-on, il n'a vécu que trente-deux ans. Ah! reprit-il, n'est-ce pas assez quand on a conquis des royaumes?" On ne manqua pas de rapporter ces réponses au roi son père, qui s'écria: „Voilà un enfant qui vaudra mieux que moi, et qui ira plus loin que le grand Gustave."

Dès

qu'il

-

-

Auch später vergleicht Voltaire Karl XII. mit Alexander, wenn nämlich ersterer heimlich Offiziere nach Ägypten und Asien schickt, um die Stärke dieser Reiche zu erforschen:

25

26

37 28

„Esquisse de l'Histoire de la Reine Christine Auguste". Arckenholtz, Mémoires, 4, 1760, S. 288ff. „Sentimens et dits mémorables de Christine, Reine de Suede". Arckenholtz, Mémoires, 4:6, 1760, S. 25; vgl. auch „Ouvrage de loisir". Arckenholtz, Mémoires, 2, 1751, S. 2ff. Hilding Rosengren: Karl X Gustafföre tronbestigningen. Uppsala 1913, S. 8, Anm. 3. „Instruktion för Karl XI:s preceptor Edmund Gripenhielm. 1663". Handschrift Nordin 870, Uppsala universitetsbibliotek.

Kurt J oh annesson

70

Il est certain que si quelqu'un eût pu renverser l'empire des Persans et des Turcs, et passer ensuite en Italie c'était Charles XII. Il était aussi jeune qu'Alexandre, aussi guerrier, aussi entreprenant, plus infatigable, plus robuste et plus tempérant; et les Suédois valaient peutêtre mieux que les Macédoniens.

Laut Voltaire soll sogar Peter der Große geäußert haben: „'Mon frère Charles, dit-il, prétend faire toujours l'Alexandre; mais je me flatte qu'il ne trouvera pas en moi un Darius.'"29

Mit diesen und anderen Beispielen will Voltaire zeigen, wie Karl XII. ständig Alexander vor Augen hatte und ihn sein ganzes Leben lang nachzuahmen versuchte, was seine unersättliche Gier nach Kriegstaten, Eroberungen und Ehre erklären soll. Als Frans G. Bengtsson 1935-36 eine Monographie über Karl XII. herausgibt, empfindet er Voltaires Theorie als „alltför stärkt poängterad" ('allzu stark betont'), aber nicht grundlos. Er unterstützt sie sogar noch durch neue Erzählungen darüber, wie Karl XII. ab und an lateinische Zitate aus Curtius Rufus vor sich hin murmelt und während seiner Feldzüge immer ein Portrait Gustav II. Adolfs und eine kleine Buches bei sich trug.30 Was aber bedeutete Alexander für Karl

Taschenausgabe des

XII. wirklich?

Das

wirft die Frage auf,

wie das 17. Jahrhundert die Geschichte überhaupt betrachtete und verwendete. Als Karl XII. vier Jahre alt war, wurde der Professor für Beredsamkeit, Andreas Norcopensis-Nordenhielm, zu seinem Präzeptor ernannt. Laut einer Instruktion von 1690 sollte man die kurzen Biographien von Cornelius Nepos über große Männer der Antike lesen: Det blifwer dâ ett ömnigt tilfälle, at discourse-wis föreställa hwars och ens mogna förständ, diupa eftertancka och högst berömliga försichtighet, som giordt deras anslag wäl grundade, deras företagande merendels lyckosamma, och dem sielfwa ansenliga och namnkunniga. [Während der Lektüre] discourerar, raisonerar, quaestionerar och controverterar Praeceptoren med Honom öfwer det samma; Sä kommer bâde förstandet och tungan i öfning, at nyttia altsammans i tal och swar.31

Dies sind die gleichen Methoden und Ideale, denen man in den Notizheften der Studenten begegnet: Das Studium der Geschichte soll eine Übung in eloquentia und prudentia, den größten Tugenden eines Politikers oder Feldherren, darstellen. Im Jahre 1697 berichtet Karls Lehrer Thomas Polus, daß er mit dem jungen Prinzen 29

30 31

Voltaire: Œuvres historiques. Texte établi, annoté et présenté par René Pomeau. Bibliothèque de la Pléiade 128, Paris 1962, S. 62, S. 144, S. 151; weitere Vergleiche zwischen Alexander und Karl XII. finden sich auf den Seiten 79, 117, 128, 175, 273. Frans G. Bengtsson: Karl XII:s levnad. Till uttäget ur Sachsen. Stockholm 1935, S. 16. Jöran Nordberg: Konung Carl den XII:tes historia. Stockholm 1740, S. 13. 'Es ergibt sich dabei eine glänzende Gelegenheit, im Diskurs den reifen Verstand, das tiefsinnige Nachdenken und die sehr rühmenswerte Vorsicht eines jeden einzelnen aufzuzeigen, die ihre Pläne wohl begründet, ihre Vorhaben größtenteils glücklich, und sie selbst ansehnlich und berühmt machten.' [Während der Lektüre] 'diskuriert, räsoniert, questioniert und kontrovertiert der Präzeptor mit ihm darüber, wodurch sowohl der Verstand, als auch die Zunge geübt werden, um beide in Rede und Antwort zu benutzen.'

Alexander und schwedische Großmachtzeit

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Curtius Rufus' Geschichte gelesen und mit Caesars De hello Gallico begonnen habe: „Hans kongl: höghet hafwer sielf textum explicerat pâ Swenska eller Tyska, sedan hafwer man däraf hämtat de förnämsta monita Politica och excercerat hans kongl: höghet in Phraseologia et elegantis linguae latinae."32 Im selben Jahr bestieg Karl XII. den Thron und begann bald darauf seine Kriegsund Siegeszüge, die das Interesse ganz Europas weckten. Zu seinen Ehren verfaßte man in Schweden wie im Ausland eine lange Reihe von Gedichten und Orationen, in denen er mit Alexander verglichen oder in denen über ihn gesagt wurde, daß er diesen an Jugend, Tapferkeit und Ehre noch übertreffe. Eines dieser Gedichte erinnert an die Erzählung Plutarchs, in der Caesar eine Statue Alexanders zu Gesicht bekommt und in Tränen ausbricht. Denn Alexander hatte im Alter von dreißig Jahren die ganze Welt erobert, während er selbst nur so wenig Macht und Ehre errungen hatte. Aber wenn Alexander und Caesar sehen könnten, so heißt es bei diesem Dichter, was Karl XII. im Alter von achtzehn Jahren gewonnen hatte, brächen sie beide in Tränen aus.33 Andere gingen den entgegengesetzten Weg und hoben die Ungleichheiten oder Gegensätze zwischen Karl XII. und Alexander hervor.34 Dies ist von Bedeutung: Gemäß der Rhetorik kann man ein Exempel auf drei verschiedene Arten anwenden. Man kann behaupten, daß vollständige Übereinstimmung zwischen zwei Phänomenen herrscht. Man kann auch darauf bestehen, daß Übereinstimmungen nur in gewissen Punkten vorliegen. Schließlich kann man zeigen, daß es sich um Gegensätze handelt.35 Die Rhetorik lieferte also eine Methode, die es ermöglichte, das Eigentümliche, das Komplexe und das schlichtweg Widersprüchliche in einer menschlichen Gestalt oder einem Geschehen zu analysieren und hervorzuheben.

Die Präzeptoren Karls XII. lehrten ihn, die Geschichte auf diese Weise zu sehen, wobei es niemals um sentimentale Heldenverehrung oder sklavische Imitation ging. Männer wie Alexander oder Caesar besaßen sicherlich Tugenden, die man bewundern und nachahmen sollte, aber sie besaßen auch Schwächen und Laster, die man verachten und vermeiden mußte. Man konnte aus ihren Handlungen lernen, mußte aber alles der Situation anpassen, in der man sich selbst befand. Das Studium der Geschichte bedeutete somit eine ständige Übung in der Fähigkeit, das Vergangene und die Gegenwart analytisch, kritisch und distanziert zu betrachten.

32

Handschrift Palmsköld 52, Uppsala universitetsbibliotek, S. 6-7. 'Seine königliche Hoheit hat selbst den Text im Schwedischen oder Deutschen dargelegt, daraufhin hat man die wichtigsten politischen Gedanken herausgeholt und seine königliche Hoheit in der Phraseologie und der eleganten lateinischen

33

de Charles XII". Handschrift Palmsköld 57, Uppsala universitetsbibliotek; de auch Charles „Portrait XII" im gleichen Band mit einem ausführlichen Vergleich zwischen vgl. Alexander und Karl XII. Vgl. Olov Vesterlund: Karl XII i svensk litteratur frân Dahlstierna tili Tegnér. Lund 1951, S. 10, S. 17, S. 21, S. 44.

Sprache geübt.'

34

35

„A la gloire immortelle

Kajanto, Christina heroina, 1993, S. 42, unter Hinweis auf Quintilian.

Kurt J oh annesson

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Karl XII. war sich natürlich bewußt, daß er mit Alexander verglichen wurde. Aber er wußte auch, daß dahinter eine panegyrische Formel steckte, die auf unzählige Fürsten und Feldherren vor ihm angewendet worden war. Darum ist es kaum wahrscheinlich, daß er sich in seiner Politik und Kriegskunst dazu verführen oder verleiten ließ, Alexander schlichtweg zu imitieren, wie dies Voltaire und Frans G. Bengtsson behaupteten. Dies würde im Widerspruch zu aller prudentia und allem Realismus stehen, die ihm seine Lehrer beizubringen versuchten. Es würde auch gegen die Einstellung des 17. Jahrhunderts zu den exempta der Geschichte verstoßen, die man andauernd, jedoch mit bemerkenswerter Distanz und Freiheit verwandte. Der fanatische Glaube Karls XII. an den Krieg als politisches Mittel und sein rätselhaftes Wesen müssen sicher auf andere Weise erklärt werden.

Mit der Macht des Exempels Das 17. Jahrhundert verstand Alexander als ein Exempel für die Tugenden, die ein guter Fürst und ein großer Feldherr besitzen sollte, gleichzeitig aber auch als Exempel

für die Laster, die es zu meiden galt. Für Königin Christina wurde er außerdem zu einem Exempel für das souveräne Recht und die Freiheit, die jeder heroische Mensch vom Himmel erhalten hat. In anderen Zeiten aber sollte Alexander anders gedeutet werden. Im 18. Jahrhundert und während der Aufklärung symbolisierte er manchmal die Ruhmsucht und die Kriegshysterie, die soviel Leid in der Welt verursacht haben. Jetzt wurde auch die von Philipp und Alexander angerichtete Zerstörung der griechischen Demokratie, die Demosthenes vergeblich zu verteidigen versucht hatte, betrauert. Als J. G. Droysen im Jahre 1833 seine berühmte Geschichte Alexanders des Grossen publiziert, wird Alexander dafür gepriesen, daß es ihm gelang, die zerstrittenen Hellenen zu einen. So wird Alexander für die Preußen zur Ermahnung, auf dieselbe Weise ein Reich zu schaffen, das alle Deutschen umfaßt. Dies bringt die neue Strömung des Nationalismus in der Politik und Geschichtsschreibung zum Ausdruck. Droysen lanciert auch eine andere Idee, nämlich daß Alexanders Leben das erste große Kräftemessen zwischen dem jungen Westen und dem alten Osten darstellt. Seine Siege deuteten auf die Erfolge und die Kolonialreiche der Europäer im 19. Jahrhundert voraus. Danach dominieren lange Zeit deutsche Wissenschaftler die Alexanderforschung, bis englische und amerikanische Historiker ihnen in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts den Rang ablaufen.36 Nun begegnen wir neuen Erklärungen von Alexanders Persönlichkeit und Lebenswerk. Er wollte eigentlich einen neuen Welt-

36

Eine Übersicht gibt Ernst Badian: Some recent interpretations of Alexander. Alexandre le Grand. Image et réalité. [...] Entretiens préparés par E. Badian. Entretiens sur l'antiquité classique 22, Genève 1976, S. 279-311.

Alexander und schwedische Großmachtzeit

73

frieden und eine Brüderschaft, die alle Völker umfassen sollte, stiften - diese These verficht der Engländer W. W. Tarn.37 Er wollte auch einen neuen Welthandel schaffen und die edle griechische Kultur bis an die Grenzen Indiens verbreiten - dies ist eine andere Deutung von Alexanders Kriegszügen und Eroberungen, auf die man bei amerikanischen Forschern trifft und die möglicherweise die Vorstellung von der Rolle der USA in der modernen Welt widerspiegeln.38 Während der letzten Jahre haben Alexander und sein Vater Philipp durch die Konflikte auf dem Balkan eine neue Aktualität erhalten. Als ein Teil des früheren Jugoslawien sich als neuer Staat den Namen Makedonien zulegte, weckte dies in Griechenland heftige Proteste. Viele Griechen behaupteten jetzt, daß die früheren Makedonier Griechisch geredet und der griechischen Kultur angehört hätten, weshalb der neue Staat nicht das Recht habe, den sechzehnzackigen Vergina-Stern in seiner Staatsflagge zu führen. Dieser befindet sich auf einem Goldschrein, den Archäologen 1977 in Thessaloniki gefunden hatten, einem Schrein, der Philipps Grab gewesen sein soll. Im 17. Jahrhundert 'diskurieren' junge Fürsten und ihre Präzeptoren Alexanders Kriegszüge und Tugenden, während Studenten sich darin üben, als Alexanders Ratgeber lateinische Orationen zu halten. Dies mag uns fremd erscheinen, aber eigentlich verwenden wir die Geschichte in einer ganz ähnlichen Weise. Dies zeigen die ständigen Diskussionen über die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, die französische Revolution oder aber die Umdeutungen von Alexanders Leben und Werk. Sie alle werden zu einer Art moderner exempla, die verschiedene politische Maximen und Gesetze beweisen sollen. Wir wollen weiterhin glauben, daß die Geschichte uns lehren kann, wie wir leben sollen als eine wahre magistra vitae.

-

Übersetzung: Thomas Dosch

37 38

W. W. Tarn: Alexander the Great. Cambridge 1948, bes. 2, S. 399-449. Ein Beispiel hierfür wäre Robin Lane Fox: The search for Alexander. Boston 1980.

LAILA AKSLEN, SOFIEMYR

Norwegische Kirchenlieder im 17. Jahrhundert im Kontext der deutsch-nordischen Erbauungsliteratur Sigmund Skard schrieb 1932 über Petter Dass: Det er ikkje seg sj0lv eller sitt han ber fram, men eit gjeve Stoff, der bâde innhald og tone har gamal tradisjon; berre ei gransking til detaljen vil kunna skilja ut kva som er heilt hans, boka om Petter Dass' religion er enno uskriven. [...] Like füllt har desse verka og personlege saerdrag, bâde menneskjelege og kunstnarlege.'

Skard erkannte etwas Wichtiges für die Dichtung im 17. Jahrhundert: sie steht mit ihren Inhalten und Formen in einer alten Tradition und ist zugleich Ausdruck einer Dichterpersönlichkeit, die ihrer Dichtung innerhalb dieser Tradition ein persönliches Gepräge gibt. Das Buch über Petter Dass' Religiosität ist auch nach 70 Jahren noch nicht geschrieben, ebensowenig das Buch über sein ganzes literarisches Lebenswerk. Zur Zeit arbeitet man aber glücklicherweise an einer wissenschaftlichen Ausgabe seiner Schriften. Beim Lesen der oben zitierten Zeilen von Skard stelle ich mir einige Fragen, die nicht nur Petter Dass' Dichtung betreffen, sondern die gesamte, vor allem die religiöse Dichtung im 17. Jahrhundert: Welche Traditionen kommen in dieser Dichtung

zum Ausdruck

- rhetorische,

künstlerische, sprachliche, theologische, Welche Normen für Dichtung, für Inhalte und Formen gab es in diesen Traditionen? Und welche Kriterien für gute Dichtung lassen sich aus diesen Traditionen herausstellen? Welche Rolle spielt die Tradition und welche die Dichterpersönlichkeit mit ihren Voraussetzungen und Talenten? Eine Aussage von H. Blom Svendsen über Dorothe Engelbretsdatter hat mich schon seit langem sowohl skeptisch als auch neugierig gemacht: „Likeledes kan man ved â gjennomgâ hennes sangbpker rekonstruere hennes bibliotek. Der er hele kapitler, dels fra Johan Arnd, dels fra andre andaktsbpker, omsatt pä vers."2 In seiner Auffassung ist dies eindeutig kunstgeschichtliche...?

1

Sigmund Skard: Petter Dass. Edda 32 (1932), S. 1-17, hier S. 13. 'Nicht seine eigene Person oder etwas Eigenes präsentiert er hier, sondern einen vorgegebenen Stoff, der bezüglich des Inhalts und der Sprache von alter Tradition ist; nur eine detaillierte Untersuchung kann ermitteln, was ausschließlich von ihm stammt, das Buch über Petter Dass' Religion ist noch immer nicht geschrieben. [...] Dennoch weisen diese Werke auch persönliche Züge auf, sowohl in menschlicher als auch in künstlerischer

2

Zitiert bei Kristen Valkner: Dikter eller versemaker. Om mulige „län" i Dorothe Engelbretsdatters

Hinsicht.'

Laila Akslen

76

negativ, für ihn sind die persönliche Eigenart und das „Volkstümliche" das Wertvolle in ihrer Dichtung, während die Traditionstreue negativ beurteilt wird. Das eben Zitierte zeigt aber auch, daß Blom Svendsen einen Blick für den Kontext dieser Kirchenlieder hat. Seiner Meinung nach verhindert dieser Kontext jedoch die dichterische Originalität, die für ihn ein sehr wichtiger Aspekt ist. Wie Kristen Valkner3 richtet er die Aufmerksamkeit auf sogenannte dichterische Jan" ('Anleihen'), und er beschuldigt Dorothe Engelbretsdatter des Abschreibens bei Johann Arndt und anderen Andachtsbüchern. Stimmt das? Gibt es z.B. viele Reflexe von Johann Arndt in Dorothe Engelbretsdatters Liedern? Wie kann man gemeinsame loci, Bilder, Erklärungen, Bibelstellen und Bibelinterpretationsweisen in den Texten erklären? Schöpfen sie nicht alle aus einer gemeinsamen Tradition, und war es nicht damals ein Ideal, dieser Tradition treu zu sein?

Schema und Erfüllung

Eine Antwort auf diese Fragen gibt Hans-Henrik Krummacher in seinem Artikel Das barocke Epicedium: Worauf es in solcher Dichtung ankommt, das ist nicht die vermeintliche Loslösung vom Schema, seine Überwindung, sondern seine Erfüllung. Nur in der Art und Qualität seiner Erfüllung, in der selbständigen Aneignung und Abwandlung des Schemas liegen die Kriterien, nach denen sich ein einzelnes Beispiel einer Gattung wie des Epicediums beurteilen läßt. Nur indem man sie konsequent in ihren eigenen Voraussetzungen aufsucht und an ihnen mißt, läßt sich die Literatur dieser Epoche überhaupt verstehen.4

Was Krummacher hier als „Schema" bezeichnet, ist eben die Tradition, und in seinem Buch Der junge Gryphius und die Tradition schreibt er: In der Auswahl des Tradierten aber, in seiner Verarbeitung, in den thematischen Schwerpunkten zeigt sich eine persönliche, das Überlieferte bewußt ergreifende Haltung, werden die Dichtungen zur Bekundung persönlicher Überzeugung und Entschiedenheit.5

3

diktning. Edda 40 (1940), S. 321-336, hier S. 321. 'Ebenso kann mit einer Analyse ihrer Gesangbücher ihre Bibliothek rekonstruiert werden. Ganze Kapitel, teils aus Johan Arndts Texten, teils aus anderen Andachtsbüchern, sind in Verse übertragen worden.' Vgl. auch H. Blom Svendsen: Norsk salmesang. Bergen 1935, wo er schreibt: „Men som menneskelig dokument, som tidsbillede, er Dorothe Engelbretsdatters diktning hpist interessant." (S. 159) 'Aber als menschliches Dokument, als Zeitbild, ist Dorothe Engelbretsdatters Dichtung hochinteressant.' Vgl. z.B. Kristen Valkner: Dikter eller versemaker. Edda (1940), S. 321-336. In der Nationalbibliothek Oslo gibt es in der Sammlung von Valkners Handschriften Dokumente, die sich mit dieser Problematik

4

5

beschäftigen.

Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 89-147, hierS. 138. Hans-Henrik Krummacher: Der junge Gryphius und die Tradition. München 1976, S. 467.

Norwegische Kirchenlieder im 17. Jahrhundert

77

Krummachers Schlußfolgerungen dienen als Grundlage für meine Untersuchungen zu den Perikopenliedern von fünf norwegischen Dichtern im 17. Jahrhundert: Petter Dass, Peder Matthiss0n Offvid, Dorothe Engelbretsdatter, Samuel Olsen Bruun und Ingeborg Grytten. Über Petter Dass und Dorothe Engelbretsdatter habe ich in meinem Buch Norsk barokk geschrieben,6 in dem ich die beiden auf Grund von Texten mit gemeinsamen Themen verglichen habe. Meiner Meinung nach, und sehr knapp ausgedrückt, ist Petter Dass ein echter lutherischer Pfarrer-Dichter in einem im weiteren Sinne kirchlichen Raum, während Dorothe Engelbretsdatter auch in die Reformorthodoxie und in die Andachtsräume gehört. Genauere Untersuchungen zu den Perikopenliedern werden vielleicht neue Resultate bringen. Die Dichter, die ich jetzt ausgewählt habe, zeigen in ihren Liedern einen gemeinsamen Bezugspunkt, nämlich die Perikopentexte aus der Bibel. Als Textgrundlage dienen die Lieder für die großen kirchlichen Feste Weihnachten, Neujahr, Passion, Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten. Der älteren Forschung folgend könnte man annehmen, daß diese Lieder einander sehr ähnlich sein müßten. Mit Krummacher werde ich meine Texte deshalb danach befragen: Was ist in den Beispielen „Schema", und was ist persönliche „Erfüllung" des Schemas? Und wie sieht die persönliche Erfüllung bei den einzelnen der fünf Dichter aus, und warum sind ihre Texte verschieden? Und weiter: Können die Antworten auf solche Fragen etwas über Gebrauchssituation, besondere christliche Traditionen, Publikum, Wirkungsabsichten, Zwecke dieser Dichtung für jeden Dichter aussagen? Und auf diesem Hintergrund: Worin besteht die persönliche und eventuell geschlechtsspezifische Eigenart?7 Die Tradition, von der ich rede, ist nun wesentlich eine rhetorisch-christliche Tradition. Zuerst also etwas über die Rhetorik! Ich werde in meiner Arbeit Begriffe der rhetorischen Dichtungstraditionen benutzen, so wie sie im 17. Jahrhundert in Theorie und Praxis formuliert wurden. Ich verstehe Rhetorik nicht als eine elocutio-Lehre, sondern als eine Theorie, die auch eine Menschenauffassung umfaßt, und eine Diskussion über die Mittel, die zur Anwendung kommen, um diese Menschen mit Verstand, Willen und Gefühlen zu überzeugen. Grundlegend in der rhetorischen Theorie sind die Überlegungen über das Prinzip des decorum, z.B. welche Ausdrucksmittel zu welchen Situationen, Themen und Absichten passen. Im Lichte dieser hier nur sehr knapp skizzierten rhetorischen Tradition werde ich die Texte der fünf Kirchenlieddichter kritisch prüfen und interpretieren.

-

Zweitens wende ich mich der christlichen Tradition oder dem christlichen Kontext zu. Valborg Lindgärde schreibt in ihrem Buch über schwedische Passionslieder im 17. und 18. Jahrhundert, daß sie „har [...] blivit allt mer övertygad om vikten av att se det enskilda verket i en kontext och i ett samspel med andra texter, i detta fall huvudsakligen predikningar och prosabetraktelser."8Das ist auch meine Überzeu6

Vgl. Laila Akslen: Norsk barokk. Dorothe Engelbretsdatter og Petter Dass i retorisk tradisjon, Oslo

7

Eine größere Arbeit wird ausführlicher auf diese Fragen eingehen. Valborg Lindgärde: Jesu Christi Pijnos Historia Rijmwijs betrachtad. Svenska passionsdikter under

1997. 8

Laila Akslen

78

gung. Über diesen Kontext schreibt auch Hans-Henrik Krummacher ausführlich in seinem Werk Der junge Gryphius und die Tradition: Einen religiösen poetischen Text könne man nur richtig verstehen, wenn man ihn „im Zusammenhang mit der ganzen übrigen geistlichen Literatur" sehe.9 Sowohl Krummacher als auch Lindgärde sind der Meinung, daß theologische und literarische Fragestellungen und Perspektiven beim Studium der religiösen Poesie notwendig sind. Hier haben wir einen Forschungsbereich, in dem eine Zusammenarbeit über Landesgrenzen und Fachdisziplinen hinweg nötig ist.

Perikopenlieder und Postillen In meiner Untersuchung begrenze ich mich auf eine kleine Auswahl christlicher Prosaliteratur. Für eine Untersuchung der Perikopenlieder habe ich zwei verschiedene Postillen-Verfasser - einen Dänen und einen Deutschen - ausgesucht: Jesper Brochmand und Johann Arndt. Beide legen die Perikopentexte aus, erklären und applizieren sie, und zugleich ist klar, daß sie verschiedene Richtungen in der lutherischen theologischen Predigtliteratur vertreten."1 Das Verhältnis zwischen Kirchenlied und Predigt ist in der Fachliteratur" erörtert worden. Man sagt etwa, daß die Predigt das „Wort" und das Kirchenlied die „Antwort" ist, oder man spricht von „Anrede" und „Antwort". Diese Problematik möchte ich an Hand der Texte untersuchen und erörtern. Dabei werde ich auch Konzeptionen der Homiletik benutzen, z.B. die Theorien über die einzelnen Teile einer Predigt wie Paraphrase, explicatio und applicatio eines Bibeltextes. Kann es sein, daß ein Kirchenlied sowohl „Wort" als auch „Antwort", Rede, Anrede und Antwort ist? Und haben die Dichter der Kirchenlieder ihre Schwerpunkte nur auf einige dieser Teile gelegt, und werden vielleicht dadurch verschiedene Vermittlungsabsichten und Gebrauchssituationen erkennbar? Ich werde mich den Texten mit der folgenden Fragestellung nähern: Wie werden die Perikopentexte in den Kirchenliedern repräsentiert?

Als Verkündigung eines Textes, der Christus nahe bringt? Als Meditations- und Betrachtungsszenen oder -bilder? Als Fundgrube für dogmatische Belehrung? Für Mahnung, Warnung, Trost? Als Grundlage einer Argumentation oder einer Polemik? Als Ausgangstext für Allegorese oder Typologie? a) Als Paraphrase?

1600- och 1700-talet. Lund 1996, S. 383. 'sich zunehmend davon überzeugt habe, wie wichtig es sei, im Zusammenspiel mit anderen Texten zu sehen, in diesem Falle hauptsächlich Predigten und Prosabetrachtungen.' Krummacher, Der junge Gryphius, 1976, S. 460. Vgl. Jesper Brochmand, Sabbati Sanctificatio, I-II, Kpbenhavn 1636-1638; Johann Arndt, Postille, Frankfurt 1713. Vgl. Martin Rössler: Die Liedpredigt. Geschichte einer Predigtgattung. Göttingen 1976; Inge Mager: Das lutherische Lehrlied im 16. und 17. Jahrhundert. Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 82 (1984), S. 77-95. das einzelne Werk im Kontext und

9 10

11

79

Norwegische Kirchenlieder im 17. Jahrhundert

b) Wie sieht die explicatio in den Kirchenliedern aus? Eine Auslegung von dogmatischen loci? Erklärungen mit Hilfe von allegorischen Bildern und Typologie? Volkstümliche Vergleiche? Holt man eine Lehre, ein Evangelium, Argumente, Trost, Mahnungen aus einem Bibeltext? c) Wie ist die Anwendung oder die applicatiol Eine Zusage oder ein Zuspruch des Evangeliums im Bibeltext? Eine Vermittlung des Evangeliums eines Bibeltextes als Gabe, pro meln Oder als eine Aufgabe, als imitatio oder Nachfolge Christi? Als persönlicher oder kollektiver Trost und Hilfe, im Leben und im Tod? Als Hoffnung auf eine ewige Seligkeit? Als eine persönliche Aneignung oder auch Verinnerlichung? Als eine „Christus in mir"-Erfahrung? Als Mystik im Luthertum? Johann Arndt hat im Vorwort seinen Lesern erklärt, warum er eine Postille schreibt: Zum siebende hoffe ich / es werden diese Auslegungen und Erklerungen darumb erbaulich seyn / weil dieselbe auff die vornembsten Fundamenta, welche in allen Erklerungen der Schrifft in acht müssen genommen werden / gegründet seyn / welche da seyn: [...] 1. die Wichtigkeit und Krafft der Wort. 2. Wie eins aus dem andern mit gutem Grunde folge / und geschlossen werde. 3. Die Übereinstimmung der Zeugnissen der Schrifft. 4. Die Application, Gebrauch / und Erfahrung des Gewissens und inwendigen Menschens. 5. Gottes Ehre / und der Menschen Trost und Seligkeit.13

Finden wir auch in den Kirchenliedern ähnliche Zielsetzungen?

Die Behandlung der Bibeltexte

In diesem Artikel beschäftige ich mich nur mit den Liedtexten zu Weihnachten. Der wichtigste Perikopentext zu diesem Fest ist Luk 2,1-14 (15), also ein Evangelientext. Aber auch die anderen Perikopentexte und besonders die Prophezeiungen, die Jesu Geburt voraussagen, klingen am Weihnachtstag mit. Der Text von Petter Dass besteht fast nur aus Paraphrasen in Strophen des Evangelientextes. In der Überschrift Christi naaderige fpdsell ('Christi gnadenreiche Geburt') liegt aber eine Interpretation, und einige eigene Zusätze zeigen, wo Dass seine Schwerpunkte legt. Verhältnisse werden beschrieben und erklärt, z.B.: Merkeligt hendet sig, udj de dage Dend thid da kejser Augustus til Rom. Strengelig lod med mandater uddrage Skatten at ydis all jorderig om, Een skat veil stor, som af gik ord Dend allerfprste mand mindis paa jord,

12 13

Vgl. Paul Althaus: Die Theologie Martin Luthers. Gütersloh, Arndt, Postille, Vorrede an den Christlichen Leser, S. 22.

J.

2.

Aufl. 1963,

S. 167

ff.

Historische

Laila Akslen

80 Og dend paastod, da Cyrus god Vaar udj Syrien landet betrod.14

Er deutet auch auf die bekanntesten Prophezeiungen hin, jene vom Geburtsort Bethlehem (Micha 5) und von einer königlichen Geburt aus dem Geschlecht Davids (Jes 11,1 ff.: 'Reis vom Stamme Jesaja'). Aber Petter Dass legt auch Gewicht darauf, daß dieses königliche Kind „sperlemet og kleen" ('zart und zierlich') in einer Krippe lag und in „Kluder og Pialter" ('armselige Lumpen') gewickelt war. Seine Armut und sein Elend ist für Dass aber nicht so wichtig; das Kind ist „faver og skipn" ('lieblich') und „frelser s0d" ('der wonnige Erlöser').15 Diese Erweiterungen mit den Einzelheiten, die den Zuhörern resp. Singenden zum Teil vertraut sind, fördern die Anschaulichkeit und die Identifikationsmöglichkeiten. Eigentliche Interpretationen gibt es bei Dass sehr wenig, nur eine kleine Ergänzung zur Botschaft der Engelschar. Der Bibeltext ist bei Dass zu einer Krippe des Evangeliums, Christus selbst, einem Evangelium für den Verstand und die Herzen geworden. Norager Pedersen schreibt über die lutherische Predigt: „[...] praedikenen er at forstâ som en genfortaelling af den episode fra Jesu liv og virke som teksten beretter om." ('Die Predigt ist als Nacherzählung jener Episode aus Jesu Leben und Wirken zu verstehen, von der der Text berichtet.') Und weiter: Genfortœllingen sikrer kontinuiteten, ja, identiteten mellem ham, der engang gik hernede og gjorde sine velgerninger mod mennesker, og ham, der i dag kommer til den lyttende menighed i sit ord og g0r de santme ting for den. Som den opstandne g0r den historiske Jesus sig samtidig med skiftende generationer, idet der i praedikenen fortaelles om Guds store gerninger ved ham.

Petter Dass befindet sich mit seiner Behandlung des Bibeltextes in dieser ersten, lutherischen Predigttradition, aber sein Text ist natürlich wesentlich kürzer als eine Predigt und bietet deshalb keinen Raum für alle Kleinigkeiten, die in einer Predigt Christus in das wirkliche Leben der Zuhörer bringen könnten.

14

15

16

Sämtliche Zitate von Petter Dass nach: Petter Dass: Samlede verker I-1II. Hrsg. von Kjell Heggelund und Sverre Inge Apenes. Oslo 1980. Hier Band III, S. 206-207, Strophe 1. 'Merkwürdiges ereignete sich in den Tagen, der Zeit, als von Kaiser Augustus zu Rom in strenger Weise der Befehl ausging, das Steuergeld im ganzen irdischen Reich zu geben, [dies war] ein so hoher Steuerbetrag, daß von ihm die Rede ging, er sei der erste dieser Art, und das war wohl zu der Zeit, als dem guten Cyrus die Provinz Syrien anvertraut war.' Vgl. Marie Luise Wolfskehl: Die Jesusminne in der Lyrik des deutschen Barock. Gießen 1934, S. 37 ff. über „Das kindliche Eros". A. F. Nprager Pedersen: Prœdikenes idéhistorie. Kobenhavii 1980, S. 174 und 179. ('Die Nacherzählung bewahrt die Kontinuität, ja die Identität zwischen ihm, der einst hier auf Erden umherging und seine Wohltaten für die Menschen verrichtete, und ihm, der heute der lauschenden Gemeinde in seinem Wort begegnet und auf diese Weise dieselben Wohltaten tut. Als Auferstandener wird der historische lesus zum Zeitgenossen der unterschiedlichen Generationen, indem in der Predigt Gottes große Taten durch ihn verkündigt werden.') Nprager Pedersen beschreibt auch andere Kennzeichen einer lutherischen Predigt, die sich in Dass' Text finden.

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M. Offvid benutzt in seinem ersten Lied über Christi Geburt den Bibeltext und seine eigene Nacherzählung als Fundgrube einer dogmatischen Auslegung und P.

Ermahnungen:

[..]

Oc det treffed saa lige / Da / at hendis Tijd var forhand Hun skulle Verdens Frelsermand F0de / foruden Quide:

Fluilcken hun udi Klud' oc Lind' Su0bte oc flittig pleyed' / Oc andre Raad hun ey kund' find' / End ham i Kryben legged: Flans indgang var gandsk' underlig / Oc har alt saadant (synderlig Til voris Best') udstanden / Hans lidelse / da / f0rst angick / Som i D0den en Ende fick / For Adams B0rn saa mange.17 3.

Das Lied ist eine Art belehrende Rede an ein Publikum. Nur mit den Gebeten wendet sich der Dichter an Christus, aber auch die Gebete enthalten eine religiöse Lehre. Bei Dorothe Engelbretsdatter finden wir den Bibeltext nicht nur als Paraphrase,

sondern auch als Betrachtung: Velkommen Frelser milde, Velkommen JEsu lilde, Ah vaer velkommen hid, Fryd dig du Zions Dronning, See nu er /F.rens Könning, F0ed i en salig Tid.18

Diese Vermittlungsformen werden auch die Grundlage für Belehrung und Applikation. Das Lied ist hauptsächlich eine Antwort der Gemeinde oder des Gläubigen. Die in ihm enthaltene Lehre ist eine persönlich angeeignete Lehre, als Glaubensbekenntnis oder Doxologie formuliert, und nicht dozierend wie bei P. M. Offvid, sondern

rhetorisch-poetisch

17

18

:

Peder Matthiasspn Offvid: Aandens Glœde. Kpbenhavn 1648, S. 13-14. 'Undso ereignete es sich, daß sie, als ihre Zeit gekommen war, den Erlöser der Welt ohne jegliche Schmerzen gebären sollte: 3. Den sie in Windeln wickelte und für ihn sorgte. Und sie wußte sich nicht weiter zu helfen, als ihn in eine Krippe zu legen. Sein Eintreten in die Welt war ganz wundersam, und er hat all dies ausgestanden (besonders zu unserem Besten), sein Leiden, das erst im Tod sein Ende fand, für alle Kinder

Adams.' Dorothe Engelbretsdatter: Samlede skrifter I-II. Hg. von Kristen Valkner. Oslo 1955. Hier Bd. I, S. 67. 'Willkommen, milder Erlöser, willkommen, kleiner Jesus, ach sei willkommen hienieden. Freue dich, Zions Königin, siehe, nun ist der König der Ehren in eine glückselige Zeit geboren worden.'

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Hvad kunde ham dog tvinge, At hand saa slaet og ringe Sig dybt fornedre lod, Og tog blant 0xen Leyer, Een Larff hand neppe eyer, Om Hoffved heller Fod. Du JEsu vilde stige, Her ned til Jorderige,

I saadan ussel Stand, At hielpe

os

aff vaade,

Ved din bondlpse Naade, Som voris Frelser Mand.

[...] Jeg med min svage Tunge, Vil Hosianna siunge,

Dig nyfpd

S0de

Noor,

Sig alle Knae maa bpye,

Og Prise i det hoye. Dig Liffsens Fprste stoor."

Samuel Olsen Bruun konzentriert sich im ersten Teil des Liedes auf einen dogmatischen Schwerpunkt: Inkarnation und Jungfrauengeburt. Ihm ist es wichtig, diese Punkte der christlichen Lehre zu interpretieren und erklären, z. T. durch Bibelstellen aus dem Alten Testament, die er als Prophezeiungen oder Typologien für die wunderbare Geburt Jesu ausarbeitet. Darauf folgt die Anwendung: Diese Erfüllung und

die Überwindung von Satans Macht, bedeutet für alle Gläubigen Trost und Hoffnung auf das Heil. Im zweiten Teil betrachtet auch Samuel Olsen Bruun das Kind in der Krippe, und diese Betrachtung mündet in eine persönliche applicatio: Jesu neue Geburt im Herzen des Menschen, eine Geburt, die den Gläubigen mit Freude und Jubel erfüllt:

Mit Hierte jeg nu har for dig tilreede, Der hvor jeg dig ved Troen vil indlede, Hvile der spdt, o livsaligste Frelser! Jeg dig omhalser.

I Engle! eders Stemme med

os f0ye,

Siunger saa at det klinger i det H0ye, Tire vaer' GUd og Fred vaere paa Jorden.

GUD Mennesk' vorden."

"

D. Engelbretsdatter, Samlede skrifler, I, S. 68-70. 'Was konnte ihn doch dazu zwingen, daß er sich so erniedrigen ließ und beim Ochsen [in der Krippe] sein Lager nahm, nicht einmal ein armseliges Deckchen am Kopf oder am Fuße besaß er. Du, Jesus, wolltest hierher auf die Erde herabsteigen, in einen so schlechten Stand, um uns aus der Not zu helfen in Deiner übergroßen Gnade, als unser Retter. Mit meiner schwachen Zunge will ich Hosianna singen. Vor Dir, dem süßen neugeborenen Kind, mögen sich alle Knie beugen, und Dich, den mächtigen Fürst des Lebens, preisen.'

-

-

Norwegische Kirchenlieder im 17. Jahrhundert

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Ingeborg Grytten gibt uns den Bibeltextals Paraphrase und Betrachtungsszenen, die ständig von Auslegungen und Anwendungen unterbrochen werden. Sie spricht selbst oft in den Bibeltext hinein:

f...]

Indviklet udi arme Kluder, Blev han i Krybben nederlagt, Foruden nogen Seng og Puder, Kom Siael og flittig det betragt.

Stor Armod lider han, Paa det du kan frigipres, Og hen til Gl;ede fpres; Ey nogen taenke kan Den ubegribelige Glaede, Som JEsus Christus skisenke vil GUds Bprn udi sit Himmel-Saede; Ach Frelser! hielp mig og dertil!21

Die Applikationen sind sehr persönlich, als Selbstermahnung und als Erfahrung von Jesu geistiger Geburt im eigenen Herzen, die Trost, Freude und Gewißheit auf das ewige Heil bringt: Kom Siael, kom derfor hid, Trav ikke som den Blinde, Skynd dig, at du kan finde Din Frelser mild og blid. Vaer snar min Siael, vaer snar at lobe Med Hyrderne til Krybben hen, Tag Barnet JEsum og det svpbe I hiertet dit f...]22

Zusammenfassend können wir zur Behandlung der Bibeltexte feststellen, daß bei Petter Dass fast nur Paraphrasen eines historisch fundierten und buchstäblich angenommenen Bibeltextes zu finden sind. Sein Text weist viele Merkmale einer lutheri-

20

Samuel Olsen Bruun: Den siungende Tiids-Fordriv Eller Korsets Frugt. Kpbenhavn 1768, S. 30. 'Mein Herz habe ich nun für Dich bereitet, dort will ich Dich im Glauben hineinführen, ruhe dort lieblich, o beseligender Erlöser! Dich schließe ich in meine Arme. Ihr Engel! Eure Stimmen mögen uns begleiten, singt, so daß es in den Höhen schalle, Ehre sei Gott und Friede auf Erden. Gott ist Mensch

-

21

geworden.' Ingeborg Grytten: Denne Bog eller Kors-Frugt. Kpbenhavn 1786, S. 70. 'In armselige Lumpen gewickelt, wurde er in die Krippe gelegt, ohne Bett und ohne Kissen. Komm, o Seele, und betrachte dies sorgfältig. Große Armut leidet er, auf diese Weise kannst du erlöst und zur Freude geführt werden; nicht auszudenken ist die unbegreifliche Freude, die Jesus Gottes Kindern im Himmelreich schenken will; ach, Herr, Erlöser! Hilf auch mir dazu!' I. Grytten, Denne Bog, S. 70-71. 'Komm, o Seele, darum her, und stolpere nicht wie der Blinde einher. Säume nicht, den Retter zu finden, deinen Erlöser mild und sanft. Beeile dich, o meine Seele, mit den Hirten zusammen zur Krippe zu laufen, nimm das Christuskind in deine Arme, und hülle es in dein Herz [laß es einziehen in dein Herz]'.

-

22

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sehen, reformatorischen Predigt auf und entspricht damit der ältesten Stufe in der Predigttradition. Peder M. Offvids Text stellt in erster Reihe eine Vermittlung der

orthodox-lutherischen Lehre, auf der Grundlage einer Nacherzählung des Bibeltextes, dar. Er legt den Text nicht Vers für Vers aus, wie J. Brochmand dies tut, sondern konzentriert sich auf einige wichtige dogmatische loci. Sein Text repräsentiert damit eine Weiterentwicklung in der lutherischen Predigtkunst. Die Betrachtung des Bibeltextes und die persönliche Aneignung der Botschaft, die sich daraus ergibt, sind die Schwerpunkte bei Dorothe Engelbretsdatter. Sie vermittelt eine zentrale, lutherische Heilslehre ohne Allegoresen und Typologien. Verglichen mit der Entwicklung in der Predigtkunst vertritt Engelbretsdatter eine Mittelstellung; sie nähert sich den Predigten in den Andachtsbüchern, die auf das innere Leben des Gläubigen, eine persönliche Aneignung der frohen Botschaft und eine persönliche Lobpreisung als Antwort auf diese Botschaft gerichtet ist. Samuel Olsen Bruun dagegen vertritt mit seinen Allegoresen und Typologien eine Weiterentwicklung der ursprünglichen lutherischen Tradition. Auch in der Anwendung bewegt er sich ein Stück weiter in Richtung einer Mystik-Tradition: Christi Geburt wird als neues Christusleben im Inneren des Gläubigen erfahren. Wenn einer dieser Verfasser Johann Arndt nahe steht, dann ist es Olsen Bruun und nicht Engelbretsdatter. Bei Olsen Bruun spüren wir die Schilderungen der inneren Christuserfahrungen, die sich dann im Pietismus weiterentwickeln. Ingeborg Grytten benutzt alle Vermittlungsformen, was sich bei ihr jedoch hervortut, sind die Schilderungen von der Geburt Christi im Herzen und die starken Ermahnungen an das Publikum und an die Seele. Das persönliche Engagement in der Nacherzählung, Auslegung und Anwendung ist kraftvoll und eindringlich. Grytten läßt sich nicht so leicht einordnen, aber ich würde sagen, daß sie sich auf einer relativ späten Entwicklungsstufe befindet.

Motive und Themen Nach dieser Untersuchung der Verwendung von Bibeltexten werde ich im folgenden Themen und Motiven, oder der inventio, in meinen Texten nachgehen. Weil diese Themen und Motive in den Postillentexten ausführlicher ausgearbeitet werden, können diese als Interpretationshilfe dienen. Dabei geht es beispielsweise um die Auswahl der loci, ihre Schwerpunkte und ihre Zusammenstellungen. Es handelt sich dabei vor allem um eine Bibel-inventio und um eine Bibelinterpretations-fnvenho. Petter Dass findet es wichtig hervorzuheben, daß Jesu Geburt eine Geburt in der Geschichte der Menschen, ein historisches Faktum ist:23 Auch die Prophezeiungen gehören zu dieser Heilsgeschichte; Jesus wurde in Bethlehem geboren und ist der neue Messias, und deshalb ist seine Geburt königlich, obwohl das Jesuskind in einer Krippe in „Kluder og pialter" ('armseligen Lumpen') liegt. Die frohe Botschaft, die 23

Vgl. Zitat oben (Anm. 14).

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„I dag

er f0d en frelser s0d / Som eder alle forl0ser af n0d" ('Heute ist ein lieblicher Erlöser geboren, der euch alle aus der Not erretten wird').24 Diese Erlösung aus der Not ist eine universelle Erlösung, die Freude und

Dass im Bibeltext findet, ist:

Frieden für alle Menschen mit sich bringt. Bei Dass ist das Geschehene „Merkeligt" ('merkwürdig, bemerkenswert'), aber sonst schreibt er weder über Inkarnation und Jungfrauengeburt noch über Jesu Geburt als Beginn des Leidens Christi. Bei ihm wird auch der Glanz, das Licht und die Lobpreisung der Engel hervorgehoben. Dass' Text ist lutherisch im ursprünglichen Sinne: Der Bibeltext ist eine Art Sakrament, in dem Christus für die Menschen da ist. P. M. Offvid sieht Jesu Geburt auch als ein geschichtliches Ereignis und eine Erfüllung von Prophezeiungen. Jesus wurde als Mensch geboren und als Menschenkind von seiner Mutter erzogen. Aber zugleich ist diese Geburt „underlig" ('wundersam'); sie ist Anfang seines Leidens „Til voris Best" ('zu unserem Besten'), und dadurch ist auch „GUds Vred mod eder nu Stild" ('Gottes Zorn gegen euch nun erloschen'), und „it nyt Forbund" ('ein neuer Bund') ist da. Christus ist der Herr, „Fredens Fprst" ('Friedensfürst') und Heiland für alle „Som ved Troen er udkaaren" ('die im Glauben auserwählt sind'). Der Dichter befindet sich in einem kirchlichen Raum und vergißt nicht zu unterstreichen, daß der Glaube durch das Wort Gottes kommt, und er formuliert die kirchliche Lehre von Jesu Heilstaten in dogmatischen loci. Die Botschaft ist zwar für „Adams Bprn saa mange" ('für sämtliche Kinder Adams'), aber Offvid findet es auch notwendig zu betonen, daß diese Heilsbotschaft von Menschen in einer „Christenhed" ('Christenheit') angeeignet werden muß. Die Hirten und Maria sind Vorbilder für Menschen, die das Wort Gottes glauben und dadurch selig werden: Oc huo som denne Tal' fornam / Stor Forundrelse de bekam / Dog äff mange foractet: Men der om / Ord oc all tildret /

Hafuer Maria ey forgiet / Men stetze vel betractet.

9. Oc Hyrderne med Hiertens

Mod

Lofved Gud med Gl cede / Dermed gick de til deris Hiord / Oc der der's Embed teede.25

24

25

III, S. 209. Aandens M. Offvid, Glœde, S. 15-16. 'Und diejenigen, die diese Rede vernahmen, gerieten darüber in große Verwunderung, aber wurden von vielen verachtet: All diese Worte jedoch hat Maria nicht vergessen, sondern immer wieder für sich betrachtet. 9. Und die Hirten priesen Gott aus ganzem In Offvids zweitem Herzen, gingen hinaus zu ihren Herden und verrichteten dort ihre Aufgabe.' Lied zu Weihnachten ist die Jungfrauengeburt ein Hauptthema. Offvid legt Gewicht darauf, daß Maria auch nach Jesu Geburt „en Jomfru kysk oc skier" ('eine keusche und reine Jungfrau') blieb. P. Dass, Samlede verker,

P.

-

-

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Das Hauptthema bei Dorothe Engelbretsdatter ist, daß das Kind in der Krippe in seinem geringen Stand zugleich der himmlische König ist. Dieser hat sich erniedrigt. Das „nyfpd spde Noor" ('süße neugeborene Kind') ist „Liffsens Förste stoor" ('der mächtige Fürst des Lebens'), den sowohl die Hirten als auch das lyrische Ich

und anbeten. Das größte Wunder und Paradoxon in der christlichen Lehre wird in diesem Lied Hauptthema: das Kind in der Krippe war Gott und Mensch. Gott in der Krippe wird als der himmlische König geschildert, von dem viele Prophezeiungen im Alten Testament sprechen, z.B. Jes 11,1 ff., Sach 9,9 und Micha 5,1.26 Zu diesen Königsmotiven knüpft Engelbretsdatter Themen aus der HoheliedAllegorese; der König im Hohelied hat eine „Dronning" ('Königin') auf der Erde, die Gemeinde, oder den einzelnen Gläubigen, und deshalb ist Jesu Geburt eine Art königliche Ehe zwischen Christus und der Gemeinde oder dem Gläubigen. Dieser König hat aber seinen Reichtum und seine Würde geopfert, er ist arm und hilflos geworden. Seine Armut kommt in einer Betrachtung zum Ausdruck: lobpreisen

Hand Pruncked ey med Puder, Lod svpbe sig i Kluder, Og f0rte ingen Prägt, Med Asen-Stold hand teckis, Men ey der offver sveckis, Hans Herred0mmis Magt. Een Krybbe var hans Vugge Hand lader sig ey rugge, Endog hand var Guds S dir7

Nach dieser Betrachtung von Jesu Armseligkeit folgt die entscheidende Frage: Warum hat Christus sich erniedrigt? Und die Antwort ist eine zentrale, lutherische: das ist pro me geschehen. Und nicht nur für „mig", sondern für alle Leute, zu allen Zeiten, und an allen Orten für die Hirten, für mich, in Bergen wie in Bethlehem:

-

O Bethlehem med tere, Du lyckelig maa vaere, Mens det sig saa tildrog, At dig al Verdens Frelser Som os nu alle heiser,

Til F0de-By

26 27

antog.28

Vgl. D. Engelbretsdatter, Samlede skrifier, I, Strophen 1-3, S. 67. D. Engelbretsdatter, Samlede skrifter, I, Strophen 1-3, S. 68. 'Er prunkte nicht mit Kissen, ließ sich in Lumpen wickeln und war ganz ohne Pracht, mit einem Eselsstall war er zufrieden, aber das schmälerte nicht die Macht seiner Herrschaftlichkeit. Eine Krippe war seine Wiege, er ließ sich nicht wiegen, obwohl er Gottes Sohn war'. D. Engelbretsdatter, Samlede skrifter, I, Strophen 1-3, S. 67. 'O Bethlehem, mit Ehre magst du glückselig sein, als es sich so zutrug, daß der Erlöser der Welt, der uns nun alle grüßt, als Geburtsort

-

28

erwählte.'

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Für die Menschen bedeutet das eine „salig Nat" ('selige Nacht') auf der Erde, mit Frieden, Freude und Jubel. Und mit den Hirten und dem „Jeg" antworten sie mit Anbetung und Lobpreisung.29 Engelbretsdatter bringt die historischen Ereignisse ganz nahe an die Leser in der Paraphrase und den Betrachtungen, doch zugleich interpretiert sie, was sie sieht, und läßt die Interpretation in einer zentralen Strophe klar und einfach zum Ausdruck kommen. Diese Interpretation ist gleichzeitig eine persönlich vermittelte Botschaft, ein frohes Evangelium für alle Menschen auf der ganzen Erde, für Menschen in der Kirche und für den Gläubigen bei seiner Andacht, und sie gibt selbst eine Antwort auf diese Botschaft in der persönlichen Aneignung und Verinnerlichung und in der Lobpreisung und Anbetung. Bei Samuel Olsen Bruun sind wie bei Offvid Inkarnation und Jungfrauengeburt die Hauptthemen. Aber Olsen Bruun interessiert sich nicht für die Marienlehre, sondern für das Inkarnationswunder: Gott und Mensch im Jesuskind. Der dogmatisch den eine durch locus zwei Naturen Christi Adam-Christuswird von schwierige die Erzählung von Mose und dem brennenden Busch30 erklärt: und durch Typologie Moses saae Busken staae i Lue brande, Luen dog ey den mindste Green antaendte, Saa Guddommen og har Mennesket bivseret,

Dog ey

fortaeret.31

Sehr stark wirkt das Motiv einer Umarmung von Himmel und Erde, mit religiösen Fruchtbarkeitsmotiven. Aber was Gott „nedregnet" ('niederregnen ließ'), war

„Retfaerdighed" 'Gerechtigkeit' )32: Himmelen har Retfaerdighed nedregnet Og Jorden en Velsignelse tilegnet, Himmel og Jord hverandre har omarmet, GUD sig forbarmet.33

Arons „Kiep" ('Stab') ist in Strophe 6 Typos, während Christus Antitypos ist und deshalb eine vollkommenere Entwicklungsstufe repräsentiert: Aarons Kiep paa een Nat bar modne Mandler Uden Rood og Jord, var en selsom Handel, Under meer, at af Jesse tprre Stamme Den Qvist kand bramme.34

29 30 31

32 33

Vgl. Zitat oben (Anm. 19). Vgl. 2 Mos 3,1-4. S. Olsen Bruun, Den siungende Tiids-Fordriv, S. 26-27. 'Moses sah den Busch lichterloh brennen, doch die Flamme entzündete nicht den geringsten Zweig, so war die Göttlichkeit auch im Menschen zugegen, hat sie aber nicht verzehrt.' Jes 45,8; Ps 85,12-13. S. Olsen Bruun, Den siungende Tiids-Fordriv, S. 27. 'Der Himmel hat Gerechtigkeit herniederregnen lassen und der Erde Segen gespendet, Himmel und Erde haben einander umarmt, Gott hat sich erbarmt.'

34

Tiids-Fordriv, S. 27-28. Vgl. auch 4 Mos 17,1-11. 'Aarons Stab trug in einer Nacht reife Mandeln, ohne Wurzeln und Erde, ein seltsames Geschehen. Noch wunderbarer

S. Olsen Bruun, Den siungende

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Marias Leib war „t0rr" ('trocken'), wie Arons „Kiep" und „Jesse tprre Stamme", ohne den fruchtbringenden „Saft" eines Mannes, aber trotzdem bringt sie ein blühendes, königliches Kind auf die Welt. Einen anderen Bibel-Typos finden wir in Strophe 7: Jesu Geburtsnacht war hell und eigentlich eine Erfüllung der BileamProphezeiung („stjerne fra Jacob" 'Ein Stern geht in Jakob auf, Num. 24,17), und ein starker Kontrast zu einer anderen Geburtsnacht (derjenigen Hiobs), welche sehr dunkel war. Durch diese Typologien sind nun dogmatisch schwierige loci erklärt und die Heilgeschichte des Alten und Neuen Testaments entfaltet, von der Schöpfung über den Sündenfall, durch Israels Geschichte bis hin zu dem Tag, an dem Gott Mensch wurde und alles vervollkommnet wird. In dieser neuen Zeit blüht die Liebe und die Gerechtigkeit, Gott ist bei den Menschen, und die Geburt Jesu bedeutet Segen, Licht, Wärme, neues Leben und innige Liebe. Die Inkarnation bedeutet: Gott ist in unserer Welt, und das ist Erfüllung in einer neuen Zeit, Segen und helle Freude. Im zweiten Teil vermittelt Bruun eine Betrachtung vom Kind in der Krippe, aus der einige persönlich angeeignete Lehrthemen und Motive entwickelt werden: die Erniedrigung Christi pro me, und der Reichtum, der Christus der Seele durch seine Geburt gibt. Christi Geburt macht ein intimes Liebesverhältnis zwischen der Seele und dem Bräutigam möglich; Jesus wird in der Seele des Gläubigen geistig neu geboren. Aber die vollkommene Vereinigung findet erst im Himmel statt, wo ein Platz für den Frommen bereitet ist:

-

-

O vaer velkommen, du min Frelser lille, Som ret usel for min Skyld f0des ville.

Din Fattigdom for min Riigdom jeg regner, Og mig tilegner.

O! du min Siœles aedelste Klenode, Du min Skat, Eyendom og ypperste Gode, Min Juveel og min dyrebarest Demante, Min Blods-Forvante.35

Bei Olsen Bruun versucht der Mensch das Inkarnations wunder mit der Vernunft, den Sinnen und den Gefühlen zu greifen. Der Dichter fängt mit Themen aus der Christologie an, die hauptsächlich durch Typologien erklärt und interpretiert werden, geht zu Betrachtungen vom Kind in der Krippe über und endet bei Themen aus einer Art Erfahrungstheologie. Das Kind in der Krippe erlebt das „Jeg" zum Seelenbräutigam :

Dig blev i Herberget ey Rum forundet, Derved jeg i din Himmel Rum har vundet,

6

[gemeint ist Jesus] hervorsprießen kann.' 'O sei willkommen, du mein kleiner Erlöser, der du recht armselig geboren wurdest um meinetwillen, deine Armut rechne ich mir als meinen Reichtum O! du kostbarstes Kleinod meiner Seele, du mein Schatz, Eigentum an und mache sie mir zueigen. und höchstes Gut, mein Juwel und teuerster Diamant, mein Blutsverwandter.' ist es, daß aus Jesses trockenem Stamm dieser Zweig S. Olsen Bruun, Den siungende Tiids-Fordriv, S. 29.

-

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Helligste lad dig ogsaa Rum behage Hos mig at tage.

Mit Hierte jeg nu har for dig tilreede, Der hvor jeg dig ved Troen vil indlede, Hvile der s0dt, o livsaliste Frelser! Jeg dig omhalser.36 Jesu Geburt ist also

-

für Olsen Bruun eine Geburt in der Zeit und eine Geburt über

alle Zeiten im Inneren des Gläubigen.37 Wie Dorothe Engelbretsdatter und Samuel Olsen Bruun schildert auch Ingeborg Grytten Christi Erniedrigung und Armseligkeit, und sie gibt auch eine Antwort auf das

„warum":

GUds S0n af Miskundhed Og af sit Fader-Hierte Paatager sig vor Smerte, Stor Frost og Kuld han leed, Lod som et Barn sig ogsaa linde, Han som dog med sin stterke Arm Mon Satan med sit Saelskab binde I Helveds Svovel-P0le varm.'38

Sie läßt uns auch das Kind in der Krippe betrachten, aber die Hauptsache bei ihr sind die Kampfmotive: Christus kämpft gegen die historischen Feinde im Bibeltext, und

gegen Satan, den Tod und die Hölle. Alle Heilstaten Jesu, die mit seiner Geburt anfangen, sind Rettung von den Feinden, und das Heil wird als Befreiung von diesen Feinden ausgemalt: O! love Gud min Siael, Forglem hans Godhed ikke. Der mon sin S0n hidskikke, For os at slaaes ihiel; Thi GUd vor Fader mon anskue, Os arme Stpv med Miskundhed, GUds S0n mon Helveds Porthund kue, Og har os evig Liv bereed."

36

37

38

39

S. Olsen Bruun, Den siungende Tiids-Fordriv, S. 30. 'Dir wurde in der Herberge kein Platz gegeben, dadurch habe ich in deinem Himmel einen Platz gefunden. Heiligster, möge es dir auch gefallen, bei mir einen Platz zu finden. - Mein Herz habe ich nun für Dich bereitet, dort will ich Dich im Glauben hineinführen, ruhe dort lieblich, o beseligender Erlöser! Dich schließe ich in meine Arme.' Vgl. J. Arndt, Postille, S. 79. I. Grytten, Demie Bog, S. 70. 'Aus Mitleid und aus väterlicher Liebe hat Gottes Sohn unsere Schmerzen auf sich genommen, große Kälte hat er ertragen, ließ sich wie ein Kind wickeln, er, der doch mit starkem Arme Satan und seine Brut in den Schwefelsee der Hölle zwingen wird.' I. Grytten, Denne Bog, S. 73. 'O! Lobe Gott, meine Seele, vergiß nicht seine Güte, die uns seinen Sohn herniedersandte, der für uns getötet wurde; Denn Gott unser Vater sieht wohl mit Barmherzigkeit auf uns arme sterbliche Menschen [wörtl.: Staub] nieder, Gottes Sohn hat den Wachhund vor der Höllenpforte bezwungen und uns das ewige Leben erkämpft.'

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Die Befreiung von den Feinden bringt die große Freude und die Gewißheit, daß „Himlens Fryde-Sahl" ('der himmlische Freudensaal') bereitsteht: Hvor vi med Lyst og Fryd skal h0re Et helligt, helligt, helligt Lyd.40

Bei Grytten treten auch Bekehrungsmotive in den Vordergrund; die Hirten sind in dieser Hinsicht Vorbilder für die Leser.41 Wie Samuel Olsen Bruun entfaltet auch sie sehr intensiv das Motiv vom Seelenbräutigam. Sie bittet: Nyef0dte Sitele-Lys! Jeg usle

vil begiere,

Kom, gi0r mig dog den Tire, Boe i mit Hiertes Huus; Ach! lad mig dog den Glatde nyde, At du gi0r mig til Vaaning din, AI Synd og Ondskab du udryde, Bliv saa hos mig, o JEsu min!42

Das

Motiv von der Sündenreinigung in der „Brautkammer" finden wir nur bei

Grytten. Überhaupt sind Bekehrungs- und Bußermahnungen bei ihr sehr oft zu finden, wie auch in diesem Lied. Diese Vielfalt von Themen, mit denen sie in einem kurzen Lied zurechtzukommen versucht, sind für Grytten bezeichnend. Johann Arndts Predigt zum Evangelientext ist von der allegorischen und typologischen Bibeltextinterpretation geprägt. Wie Samuel Olsen Bruun sieht er z.B. Jesu Geburt als Antitypos zu Adams Geburt, als eine neue Schöpfung nach dem Sündenfall, und der neugeborene Christus ist „die Rute Aarons / die in den Propheten des Alten Testaments gegrünet / in seiner Menschheit geblühet mit Lehr und Wunderwercken / in uns aber muß er Frucht bringen."43 Arndt interpretiert diese Typologien im Rahmen der Heilsgeschichte, aber der Schwerpunkt ist bei ihm seine applicatio: Jesu Geburt muß in den Gläubigen ein neues Christus-Leben erwecken, das zu einer imitatio Christi in dieser Welt führt. Bei Arndt finden wir auch Polemik, z.B. gegen Vertreter einer anderen Lehre über Christi zwei Naturen, was unsere Dichter nicht ausdrücken. Christi Armseligkeit wird bei Arndt allegorisch in vier Punkten ausgelegt; die Krippe Christi etwa ist eigentlich ein Himmelspalast oder das Herz des Menschen. Und in Christi Armseligkeit liegt ein Exemplum für die Menschen: Der Mensch soll „geistig arm" und demütig in der Nachfolge Christi leben. Arndt hat mehrere Themen und Motive mit den hier behandelten Dichtern gemeinsam, beson-

40

41

42

43

I. Grytten, Denne Bog, S. 73. 'Wo wir mit Lust und Freude den Klang des Heilig, Heilig, Heilig hören werden.' Vgl. I. Grytten, Denne Bog, S. 70-71, Strophe 5. I. Grytten, Denne Bog, S. 71. 'Du neugeborenens Licht der Seele! Ich Arme/r habe einen Wunsch: komm, erweise mir doch die Ehre, im Hause meines Herzens zu wohnen. Ach! lasse mich doch die Freude erfahren, daß du mich zu deiner Wohnstatt machst. Alle Sünde und Bosheit nimmst du fort, bleib so bei [in] mir, o mein Jesus!' J. Arndt, Postille, S. 77.

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ders mit Samuel Olsen Bruun und Ingeborg Grytten. Die applicatio von Jesu Geburt auf die Leser als ein Christus-Leben in der Form einer imitatio Christi ist aber für

Arndt speziell und charakteristisch. Bei den Dichtern und bei Arndt kommt die große Freude bei Jesu Geburt voll zum Ausdruck, ebenso der Lobpreis. Der Grund dieser Freude liegt in den Fleilstaten Christi, die etwas unterschiedlich beschrieben und interpretiert werden. Jesper Brochmand kommentiert den Bibeltext Vers für Vers, legt ihn aus und appliziert ihn auf seine Zuhörer oder Leser. Viele Stellen aus anderen Teilen der Bibel werden als Argumente, Belege und Erklärungen benutzt. Er zeigt ein großes Interesse für die Menschen in der Welt, die Christus nicht empfangen wollten, z.B. Augustus und die Juden. Diese Menschen bilden einen Kontrast zu Ochse und Esel, die ihren Herrn und dessen Krippe kannten (Jes 1,3), und zu „uns", die im Kind in der Krippe Christus erkennen. Das Erniedrigungsthema und das Thema „des wunderbarlichen Wechsels" legt auch Brochmand aus. Typologien und Allegorien gibt es bei ihm praktisch nicht, und er äußert kein Wort über Jesu neue Geburt im Inneren des Menschen. Der Mensch kann aber Jesus mit „glad Hierte oc stadig Troe [...] faffne."44 Aber auch bei Brochmand ist Jesus ein Exempel für ein ethisch richtiges Leben in der Welt. Und auch Brochmand jubelt über die göttliche Herrlichkeit, den Frieden auf der Erde und die große Freude. Brochmand legt also Vers für Vers den Bibeltext aus und interpretiert ihn dabei als Jesu erste Heilstat pro me, dabei appliziert er den Text auch auf seine Zuhörer.

Wir können feststellen,

daß die

fünf Dichter in ihrer thematischen Verarbeitung

gemeinsamen Bibeltextes verschiedene Lieder geschaffen haben, die selbständige Interpretationen und Applikationen und individuelle Schwerpunkte enthalten und eine unterschiedliche Bibel-inventio und B i be i n terpretat i on s-/n ven t io aufzeigen. Aber zugleich ist diese selbständige Verarbeitung eine Aneignung und eine Abwandlung einer gemeinsamen Tradition, die z.B. in den vielen, gemeinsamen

eines

1

dogmatischen loci und Bibeltopoi zum Ausdruck kommt. Die Texte werden auf diese Weise Ausdruck verschiedener Dichterpersönlichkeiten, verschiedener Gebrauchssituationen, Absichten und historisch-kultureller Kontexte. Und sie können auch Entwicklungstendenzen in der Perikopendichtung demonstrieren. Petter Dass und P. M. Offvid befinden sich beide im Raum der Kirche, aber während Dass Schwerpunkte im Bibeltext hervorhebt, um den Text selbst als Gottes Wort seinen Zuhörern in den Verstand und die Herzen zu bringen, dient der Bibeltext bei P. M. Offvid dem Hauptzweck, eine Lehre über Christus zu geben und darüber, wie der Mensch gläubig wird. Sowohl Dass' als auch Brochmands Text sind „Reden" und keine „Antworten". Dorothe Engelbretsdatters Text scheint sowohl in der Kirche als auch im Andachtsraum ihren Sitz zu haben; die Gemeinde ist da, der lutherische Kern im Weih44

Brochmand, Sabbati Sanctificatio, I, S. 116. 'Jesus mit frohem Herzen und beständigem Glauben umarmen' J.

Laila Akslen

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nachtsevangelium wird aus dem Text heraus interpretiert, und die persönliche und innerliche Betrachtung und Aneignung vollzieht sich am Ende. Engelbretsdatters Text ist sowohl „Rede" als auch „Antwort". Eine weitere Entwicklung dieser Innerlichkeit, die an die Mystik grenzt, spürt man bei Samuel Olsen Bruun und Ingeborg Grytten, deren Texte in die Andachtssphäre zu gehören scheinen. Bruuns „gelehrte" Typologien und tief gefühlte Betrachtungen erinnern an Arndts Predigtweise. Wenn jemand bei Arndt „abschreibt",45 dann wäre es Olsen Bruun und nicht Engelbretsdatter! Aber keiner von ihnen kopiert Arndt. Ingeborg Gryttens Text ist vielfältig und scheint Ausdruck einer bußfertigen und kämpfenden Frau zu sein, die ihren Zuhörern oder Lesern sehr viel auf einmal beibringen möchte.

Stil und Form In der Fachliteratur ist immer eine rege Diskussion über den Stil in der christlichen Literatur geführt worden. In der letzten Zeit haben z.B. Hans-Henrik Krummacher und Debora Shuger46 umfassende und wichtige Beiträge geliefert. Ein Hauptthema in diesen Erörterungen ist die Dreistillehre und die Benutzung des hohen Stils in der christlichen Literatur. Es scheint mir, daß es immer leichter ist, den docere-Stil und den movere-Stil zu erklären und aufzuspüren als den delectare-Stil. Aber könnte man nicht behaupten, daß es auch in der christlichen Literatur die Aufgabe des Unterhaltens in einem besonderen Sinne gibt? In meiner Arbeit versuche ich, den delectare-Stil in Verbindung mit Erbauung im engeren Sinne zu bringen, einer Erbauung des schon Gläubigen. Zum delectare gehören die milden, christlichen Gefühle, z.B. der inneren Christus-Erfahrungen. In diesem Stil sind Tropen wichtiger als Figuren, besonders die Appellfiguren. Evidentia ist auch ein wichtiger Teil dieses Stils, weil sie viel mit der meditativen Andachtspraxis und der Kontemplation zu tun hat und als Überbrückung zwischen der Welt des Bibeltextes und der Welt des Gläubigen dient. Der Zweck dieses delectare kann es sein, Trost, Liebe, Freude, Hoffnung zu spenden - kurz: Erbauung des Frommen. Den movere-Stil reserviere ich für die Aufgabe des Bekehrens, der Bußmahnungen, der Warnungen und der Polemik, wobei es grundlegend ist, die starken und leidenschaftlichen Gefühle wie Furcht vor Gott und dem Gesetz und den ernsthaften Folgen für die Ungläubigen nach dem Tod zu erregen. Der niedrige Stil eignet sich für den christlichen Unterricht, die christliche Lehre und die ethischen

-

-

Ermahnungen. Zuletzt ein paar Worte über die Aufgabe der Tropen oder Bilder in der christlichen Literatur. Die Bilder sind meistens nicht so sehr Zier und Schmuck, sondern Verstehens- und Erbauungshilfe. Vergleiche, Beispiele aus der Bibel, Allegorien 45

Vgl. meine Ausführungen zu Beginn dieses Aufsatzes. Vgl. Debora Shuger: Sacred Rhetoric. The Christian Grand Style in the English Renaissance. Princeton/New Jersey, 1988.

Norwegische Kirchenlieder im 17. Jahrhundert

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und Typologien spielen eine große Rolle. Die Bilder dienen auch der Doxologie und dem Gefühlsreichtum der inneren Erlebnisse der Gläubigen. Sie rufen Gefühle hervor, berühren das Herz, worauf z.B. schon Augustin großen Wert gelegt hat: Glaube war für ihn eine Art Liebesgefühl, auf Gott bezogen, und Gott und seine Welt lassen sich eigentlich nur durch Bilder erkennen. Petter Dass erzählt von Personen, Dingen und Geschehnissen und benutzt dabei die Präteritumform und die dritte Person des Personalpronomens. Ein paarmal läßt er Personen in der direkten Rede sprechen. In seinem Nacherzählen benutzt er einige wenige evidentia-Figuren und volkstümliche Redewendungen, die den Text in das

Leben der Zuhörer bringen. Erklärungen, beispielsweise über „Skat" ('Steuern'), Josephs Familie, Städte und Personen erleichtern das Verständnis und fördern die Identifikation mit historisch fernen Umständen und Personen. Charakterisierende Adjektive prägen teilweise den Text. Dass' Ziel ist wahrscheinlich das Verstehen und Einprägen eines Bibeltextes, eine Identifikation mit Personen und ein Einleben in den Text, so daß eine Aneignung des Evangeliums oder Christi im Wort den Zuhörern möglich wird - mit Hilfe eines einfachen Stils. P. M. Offvid paraphrasiert den Bibeltext im einfachen, erzählenden Stil. Danach fordert er zur Freude auf, aber gibt den Singenden keine Worte für die Freude. Bei ihm findet man keine Heilszusage, sondern Aufforderungen und Ermahnungen zum Glauben. Das Ziel scheint das docere von Bibelkenntnissen und lutherischer Lehre zu sein. In seinem Text gibt es keine Appell- und wenige evidentia-Figuren, und wir würden seinen Stil als kraftlos und leblos charakterisieren. Bei Dorothe Engelbretsdatter finden wir in den Strophen 1-3 Überbrückungsfiguren, die die Zeit, die Orte, die Ereignisse im Bibeltext mit dem „Jetzt" der Dichterin verbinden. Apostrophen, Ausrufe, Aufforderungen und Wünsche verleihen dem Text Kraft und Lebendigkeit. Die Verbformen sagen aus, daß etwas geschehen ist, aber Präsens zusammen mit „nu" trägt dazu bei, den Zeitabstand zu überwinden. Viele Tropen sind Kenning-Typen, Bilder aus der Bibel und der Interpretationstradition (z.B. „Den JEsse Roed udkaaren" ['die auserwählte Wurzel Jesse'] und „Zions Dronning" ['Zions Königin']). Das alles ergibt einen Stil, der Bewegung, Anschaulichkeit, Lehre und Freude vermittelt und die Gefühle anspricht. In den Strophen 4-6 gibt es Betrachtungen und Interpretationen aufgrund von Szenen oder Bildern in den Betrachtungen. Hier finden wir mehrere Evidentia-Figuren, die den Text lebhaft und lebensnahe gestalten. Zum Beispiel enthält Strophe 7 eine didaktische Frage, scheinbar direkt aus der Betrachtung des Kindes in der Krippe entstanden. Strophe 8 vermittelt die Antwort auf diese Frage in der Form eines persönlichen Glaubesbekenntnisses, direkt und deutlich formuliert. Die Strophen 9-11 sind von Überbrückungsmitteln, Paraphrasen und Zitaten geprägt. Das lyrische Ich verläßt den Bibeltext und geht mit den Hirten an die Krippe, um „det nyeföd spde Noor" ('das süße neugeborene Kind') anzubeten. Der weite Ausblick am Anfang ist nun mit einer persönlichen Anbetung und Lobpreisung in einem innigeren Stil ergänzt worden, aber „Liffsens Förste stor" ('der mächtige Fürst des Le-

Laila Akslen

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bens') ist noch immer da. Der Jubel der Vielen am Anfang des Liedes ist nun ein Hosianna von „min svage Tunge" ('meiner schwachen Zunge'). Im Ganzen finden wir bei Engelbretsdatter einen mittleren Stil, mit dem delectare als Hauptaufgabe, so wie wir diese Aufgabe verstehen. Es geht hier um die Erbauung einer Gemeinde und des schon Gläubigen und um die milden und zum Teil warmherzigen Gefühle. Dieser Stil macht eine Überbrückung zwischen der Welt des Bibeltextes und der Welt des Gläubigen möglich und vermittelt Trost, Liebe, Freude und Hoffnung.47 Bei Samuel Olsen Bruun sind auch Überbrückungsmittel auffällig, und dazu kommt eine kraftvolle Eröffnung mit einer exclamatio, die Jubel und Freude ausdrücken. Typologien wirken auch durch die Vorstellungen und die Anschaulichkeit, die sie hervorbringen wirken auf Verstand und Gefühle, oft mit Kontrasten und Steigerungen verstärkt. Anschaulich und stark auf die Sinne und Emotionen wirkend sind die Personifikationen von Himmel und Erde als Mann und Frau in Umarmung und vom Himmel als Mann, der „Rettferd" ('Gerechtigkeit') über die Erde „regnet", also seinen Segen oder seine Schöpferkraft über die Erde (als Frau) fließen läßt. Olsen Bruuns Stil im ersten Teil des Gedichts ist sehr bildreich, lebhaft und pädagogisch gelungen; er spricht sowohl Verstand als auch Gefühle an und spendet Trost, Hoffnung, Freude die milden Gefühle. Das docere ist ohne Zweifel ein Zweck, aber der Dichter führt diese Aufgabe in einem erbaulichen Stil aus, der überwiegend an die warmen und freudevollen Gefühle appelliert. Die Betrachtung geht in eine persönliche Anwendung mit Figuren wie interrogate, invocatio und exclamatio über. Die Sprache ist hier mitreißend und eindringlich, besonders in Strophe 13 mit den Hohelied-Allegorien und der amplification es handelt sich um einen heftigen, starken und brennenden Stil. Dazu erwecken die Bilder Vorstellungen von Glanz, Pracht und Reichtum. Die Anspielungen auf Bibelstellen und Wortspiele mit dem Topos des Ortes („rum") sind spielerisch und zugleich leicht greifbar. Die Bilder von der kosmischen Umarmung werden ergänzt durch Bilder von der inneren Brautkammer und der dort stattfindenden „omhalsing" ('Umarmung'). Er schildert ein Liebesverhältnis zwischen „jeg" / der Seele und Jesus als Bräutigam in eindringlichen Bildern. Am Ende wendet der Dichter sich wieder dem Bibeltext und einer kollektiven und weltoffenen Perspektive zu. Lobpreis von Engeln und Menschen mit Worten vom Bibeltext beschließt den Text, aber mit einer letzten Ergänzung, die zugleich sein Hauptthema zusammenfaßt: „GUD Mennesk' vorden" ('Gott ist Mensch geworden'). Olsen Bruuns Text steht meiner Meinung nach im delectare-Stil, aber teilweise hat sein Stil eine Kraft, die ihn auf die höchste

-

-

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Ebene bringt.

Ingeborg Grytten fängt mit einer expressiven und kraftvollen Eröffnung, exclamatio und invocatio, an:

47

Beispiele für den Stil bei den fünf Dichtern siehe in den Zitaten oben.

apostrophe,

Norwegische Kirchenlieder im 17. Jahrhundert

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Lycksalig Jule-Tiid, O Gltede over Gkede!'18

Grytten scheint nicht die Ruhe zu haben, wirkliche Betrachtungen zu gestalten; sie abstrahiert und kommentiert den Bibeltext, legt ihn aus und erklärt ihn zwischen den kurzen einzelnen Szenen. Dies ist ein Muster im ganzen Lied. Dazu kommen ständige Aufforderungen und Ermahnungen an verschiedene Adressaten vor: an die Leser, sich selbst oder „Siael" ('die Seele') und Personen und Engel im Bibeltext. Auch bei ihr gibt es viele Bilder, z.B. ist Jesu Krippe eine Metapher des menschlichen Herzens, in dem Jesus wiedergeboren und „svppt" ('gewickelt') ist. Oder das Herz ist die Brautkammer für den Jesus-Bräutigam, eine Kammer, die bei Grytten von den Sünden gereinigt werden muß, bevor Jesus einziehen kann. Typisch für Grytten sind die Kampfbilder, die sonst meistens nur in Verbindung mit Ostertexten auftreten. Grytten ist eine Art Regisseurin, die aus dem Bibeltext ein Drama schafft, und die ihre „Bühnenfiguren", sich selber und „uns" anspricht, mit Aufforderungen und Ermahnungen, zur Lehrbetrachtung, zur Buße und zum Lobpreis. Dazu benutzt sie zahlreiche Imperativformen und expressive Figuren. Zum Teil ist sie auch pathetisch. Bei ihr finden wir alle Stilebenen und Zielsetzungen, die sowohl das docere, delectare als auch das movere umfassen. Im Vergleich mit den anderen Dichtern zeigt sich das Besondere ihres Stils in der Kraft und Heftigkeit ihrer appellierenden und expressiven Figuren und Bilder und in den dramatisch gestalteten Szenen. Zusammenfassend können wir auf Grund dieser Stiluntersuchungen einer sehr begrenzten Anzahl Texte folgendes sagen: Bei Petter Dass überwiegt der niedrige Stil, der sich für den christlichen Unterricht für nichtlesende Zuhörer in einem kirchlichen Raum eignet. Aber es ist ein lebendiger Stil, der den Zuhörern Gottes Wort in den Verstand und in die Herzen bringt, ein Wort, in dem Christus selbst mit seinem Evangelium anwesend ist. Wir könnten annehmen, daß P. M. Offvid seine Aufforderungen und Ermahnungen in einem kraftvollen Stil vermitteln würde. Das ist aber nicht der Fall. Vielleicht hat er die Kunst der rhetorischen Dichtung nicht beherrscht; auch andere Zeichen in seinen Texten sprechen dafür, z.B. die Rhytmik, die zeigt, daß er die neuen Regeln für die Metrik in der Muttersprache nicht meistert. Jedenfalls würden wir seinen Stil als eine Art niedrigen Stils betrachten, der hauptsächlich das docere als Ziel hat. Sowohl Dorothe Engelbretsdatters als auch Samuel Olsen Bruuns Texte sind unseres Erachtens gute Beispiele eines mittleren Stils, der auf die Erbauung des schon Gläubigen ausgerichtet ist. Dieser Stil vermittelt die innigen, milden christlichen Gefühle sowie Freude und Jubel, Trost, Liebe und Hoffnung und, besonders bei Bruun, die Liebesgefühle einer inneren Christus-Erfahrung. Dieser Stil fördert eine Anschaulichkeit, die sowohl zum Verstehen als auch zur Stärkung des Glaubens beiträgt und auch eine meditative Betrachtung auf Grund einer stilistischen Überbrückung zwischen der Welt des Bibeltextes und der Welt des Gläubigen vermittelt. Er ist auch für den Lobpreis und die Danksagung 48

I. Grytten, Denne Bog,

S. 69.

'Selige Weihnachtszeit, o Ubergroße Freude!'

Laila Akslen

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geeignet. Ingeborg Gryttens Stil weist Merkmale auf, die auf alle drei Stilebenen hinweisen. Aber das Typische für sie ist wie erwähnt die Expressivität, die starken Appellfiguren und die dramatischen Bilder und Szenen, die die starken, ernsthaften und leidenschaftlichen Gefühle erregen.

Schlußfolgerungen und Ausblicke Für sichere Schlußfolgerungen brauchen wir natürlich eine viel größere Textauswahl als die hier demonstrierte. Vorläufig und teilweise haben wir aber feststellen können, daß es auch für unsere fünf Dichter stimmt, was Krummacher Uber Gryphius sagt.49 Im Rahmen einer rhetorisch-christlichen Tradition haben die Dichter ihre Texte verschiedenen Gebrauchssituationen und Wirkungsabsichten angepaßt und auch den Liedern ihr persönliches Gepräge gegeben. Die Gebrauchssituationen lassen sich nicht genau beschreiben, und die Dichter haben vielleicht mehrere Gebrauchssituationen vor Augen gehabt. Die Zielsetzungen können auch gemischter und vielfältiger sein, als wir sie hier beschrieben haben. Aber mit Ausnahme von P. M. Offvid können wir feststellen, daß die Texte dieser Verfasser nach unseren Kriterien50 als gelungene und wertvolle Dichtung gelten können. Besondere geschlechtsspezifische Eigenarten haben wir in den Texten nicht gefunden; der Mann Samuel Olsen Bruun ist z.B. in seinen Liebesbildern ebenso „feminin" wie die Frau Ingeborg Grytten. Und keiner unserer Dichter „kopiert" Johann Arndt oder Jesper Brochmand. Samuel Olsen Bruun teilt zwar mit Arndt die Vorliebe für Typologien und Allegorese, und für die „Christus in mir"-Erfahrung, aber weder er und noch viel weniger Dorothe Engelbretsdatter schreiben bei Arndt oder anderen Andachtsbüchern ab.51 In unseren weiteren Untersuchungen eines größeren Textmaterials hoffen wir, sicherere und differenziertere Antworten auf die einleitenden, grundsätzlichen Fragen finden zu können. Wir möchten auch Klarheit gewinnen über die Aufgaben und Absichten, die die verschiedenen Dichter sich gesetzt haben, und über die Art der Belehrung, Erbauung und Ermahnung, die sie vermitteln wollten. Auch möchten wir mehr über die Gebrauchssituationen und das Publikum wissen, das die Dichter vor sich hatten oder sich vorgestellt haben. Schließlich geht es um die Beschreibung der verschiedenen inhaltlichen und formalen Entwicklungsstufen. Auf einer solchen Grundlage werden sich dann wahrscheinlich auch unsere Texte genauer und umfassender beurteilen lassen.

49 50 51

Vgl. oben Anm. 5. Vgl. meine Ausführungen zu Beginn des Aufsatzes. Zu Blom Svendsen vgl. oben Anm. 2.

BERNT OLSSON, LUND

Renaissance, Barock und Klassizismus in der schwedischen Literatur Seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts spricht man in der schwedischen Literaturgeschichtsschreibung nicht nur von Renaissance und Klassizismus, sondern auch von Barock. Die Termini sind jedoch nur als Bezeichnungen für literarische Strömungen, nicht als Epochenbezeichnungen benutzt worden. Für die Einteilung in Epochen hat man gewöhnlich die politischen Bezeichnungen „Stormaktstiden"

('Großmachtzeit') und „Frihetstiden" ('Freiheitszeit') verwendet. Doch ist manchmal auch „Upplysningen" ('Aufklärung') für die Literatur der „Frihetstid" und für die gustavianische Literatur benutzt worden. Es herrscht keine Einstimmigkeit darüber, wann der Barock die Renaissance oder wann der Klassizismus den Barock ablöst. Stiernhielm kann folglich sowohl als Renaissancedichter wie als Barockdichter bezeichnet werden. Um näher zu bestimmen, wofür die Bezeichnungen Renaissance, Barock und Klassizismus stehen und was sie umfassen können, habe ich in einem umfangreichen Material den Stil schwedischer Poesie von ca. 1600 bis ca. 1760 untersucht. Ich sah bald, daß ich vor mehrere Fragen gestellt war. Die Literatur ist nicht so einheitlich, daß man mit einer durchgehenden, gleichartigen Veränderung von einem Zeitalter zu einem anderen rechnen kann. Die Gattung spielte im 17. Jahrhundert und zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine große Rolle. Es konnte sehr wohl der Fall sein, daß sich beispielsweise der Barockstil gerade in einer Gattung geltend machte. Verschiedentlich ist festgestellt worden, daß eine schlichte Gattung wie das Lied sogar im Barock seine Schlichtheit behält, während die Panegyrik zu extremen Stilwendungen tendiert. Der Gattungsfaktor mußte also unter Kontrolle gehalten werden. Es war auch zu fragen, welche Rolle einzelne Schriftsteller für die Stilentwicklung spielten; interessant schien der Gesichtspunkt, wie sich einzelne Schriftsteller zu einem eventuellen Epochenstil verhielten, ob sie Vorgänger, typische Vertreter oder Epigonen waren. Da ich mehrere Aspekte untersuchen wollte, benötigte ich sehr viel

Material. Ich habe mit mehr als einer Million Wörter gearbeitet, verteilt auf über 500 Samples mit je 2000 Tokens. Diese Samples wurden aus allen Gattungen der Poesie gesammelt: weltliche Epik, Panegyrik, Begräbnisgedichte, Hochzeitsgedichte, Gesellschaftsgedichte, didaktische Poesie, Satire und Liebeslyrik unter den profanen Genres, Bibelepik, Lieder und Didaktik unter den geistlichen Gattungen. Aus dem Material habe ich für Poesie 150 Samples mit je 2000 Tokens genommen.

Bernt Olsson

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Ich werde hier nicht meine Vorgehens weise darlegen. Ich erwähne nur kurz, welche Elemente ich untersucht habe. Es waren zum Teil Wortklassen und ihre funktionellen und grammatischen Unterklassen, also z.B. Adverbien mit den Unterklassen Zeit- und Raumadverbien, Adverbien der Art und Weise, des Grades und Satzadverbien, bei denen ich Negationen, Adverbien, die die Sprechereinstellung angeben, modifizierende Adverbien u.ä. unterschied. Zum Teil waren es ausgewählte semantische Klassen wie zeitbestimmende oder raumbestimmende Wörter, Wörter für Lage und Bewegung, Wörter für Leben und Tod, Böse und Gut, Gefühle usw. Zuletzt untersuchte ich das Vokabular, seine Größe und Struktur. Im Hinblick darauf ging die Arbeit in vier Etappen vor sich. In einer ersten, rein deskriptiven Etappe zeigte ich, wie sich die Wörter, gruppiert nach 20-Jahres-Perioden, Gattungen und Verfassern, auf die Wortklassen und Unterklassen im Material verteilten. In der zweiten Etappe versuchte ich, durch das Studium des Zusammenhangs zwischen den in Etappe untersuchten Klassen unterschiedliche Stile zu bestimmen. Wo eine statistische Kalkulation eine signifikante positive Korrelation zwischen Klassen zeigte, welche unter stilistischem Gesichtspunkt auf sinnvolle Weise zusammengehören konnten, führte ich diese Klassen zusammen und sah sie als Stilindikatoren. Ich ermittelte so einen Dialogstil im Gegensatz zu einem erzählenden Stil, wobei der Dialogstil durch eine große Zahl von Pronomen in der ersten und zweiten Person gekennzeichnet ist, der erzählende Stil von Pronomen in der dritten Person. Auf die gleiche Weise ermittelte ich einen deskriptiven und einen definierenden Stil. Ferner untersuchte ich das Bestimmungsfeld mit Kriterien wie définit und indefinit, persönlich und unpersönlich. Ferner richtete ich die Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen einfacher und komplizierter Form der Mitteilung, wobei ich besonders die Rolle der Negationen und der adversativen Wörter aufzeichnete. Zum Schluß dieser Etappe untersuchte ich die Textbindung mit der Unterscheidung zwischen loser und fester Bindung. Die dritte Etappe, die eine semantische Analyse beinhaltete, ging von einer neuen Einteilung der Wörter aus, wobei ich wie erwähnt eine Anzahl verschiedener semantischer Klassen herausnahm. Ich stellte dabei Zeitorientierung gegen Raumorientierung, Nähe gegen Abstand, Lage gegen Bewegung. Ferner bezog ich äußere Lokalisierung, Licht und Dunkelheit, Farben, Wärme und Kälte, Auditives und Visuelles ein. Ich untersuchte die Anzahl Wörter für Leben und Tod, Böse und Gut und für Gefühle und ordnete die Wörter in positiv und negativ. Die letzte Etappe betraf das Vokabular. Ich arbeitete dabei mit einer Anzahl verschiedener Wörter per Token, also N/V, Hapax-Wörtern und niedrigfrequenten Wörtern und mit verschiedenen Maßen für die Konzentration des Vokabulars und die Verteilung auf Frequenzklassen, all dies in der totalen Anzahl von Wörtern wie in den verschiedenen Wortklassen. Ich studierte auch die verschiedenen Einzelwörter und unterschied zwischen Frequenz und Häufigkeit, untersuchte nach Pierre Guirauds Prinzipien Themawörter und Schlüsselwörter, neue Wörter und aussterbende Wörter und im Zusammenhang damit auch den Stilwert. 1

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Renaissance, Barock und Klassizismus

Ein erstes Resultat ist, daß sich die Gattungsstile stark unterscheiden. Profane Epik und Panegyrik hat einen ganz anderen Charakter als Liebeslyrik und Satire. Wir können das Verhältnis hinsichtlich der Größe der Nominalformen in Abbildung 1

sehen:

Abb. 1: Nominale in den sieben Perioden. Mittelwerte im Totalmaterial, individu¬ elle Werte der Texte in drei Gattungen