Sizilianer, Flamen, Eidgenossen: Regionale Kommunen und das soziale Wissen um kommunale Conjuratio im Spätmittelalter 9783110507102, 9783828205482

In Sizilien, Flandern und der Innerschweiz formierten sich um 1300 großräumige, stadt- und landübergreifende Kommunen. U

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Sizilianer, Flamen, Eidgenossen: Regionale Kommunen und das soziale Wissen um kommunale Conjuratio im Spätmittelalter
 9783110507102, 9783828205482

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Conjuratio und Rebellion: Eine ereignisgeschichtliche Einführung
3. Die Schwurgenossen der regionalen Kommunebildungen: Soziale Differenziertheit und die Gruppen innerhalb der Gruppe
4. Die Beweggründe zur Kommunebildung und die Ziele der Akteure
5. Formen kommunaler Organisiertheit
6. Die auf die Regionalkommune bezogene Gruppenidentität der Akteure
7. Schlussbetrachtung
Verzeichnis der Siglen
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Orte und Personen

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Sizilianer, Flamen, Eidgenossen Kai-Henrik Günther

Quellen und Forschungen zur Agraigeschichte Herausgegeben von Stefan Brakensiek Erich Landsteiner Heinrich Richard Schmidt Clemens Zimmermann

Band 57

Kai-Henrik Günther

Sizilianer, Flamen, Eidgenossen Regionale Kommunen und das soziale Wissen um kommunale Conjuratio im Spätmittelalter

®

Lucius & Lucius ·

Anschrift des Autors: Kai-Henrik Günther Himmelsruh 32 37085 Göttingen [email protected]

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8282-0548-2 ISSN 0481-3553

© Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH · Stuttgart · 2013 Gerokstraße 51 · D-70184 Stuttgart · www.luciusverlag.com

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Einband: BELTZ Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza Printed in Germany

Vorwort

Die vorliegende Studie wurde im Dezember 2007 von der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen als Dissertation angenommen. An dieser Stelle möchte ich jenen Personen und Institutionen herzlich danken, die zu ihrem Entstehen beigetragen haben, allen voran meinem Doktorvater Prof. Dr. Frank Rexroth, der mir stets mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat. Ferner gilt mein Dank Prof. Dr. Otto Gerhard Oexle, der nicht nur das Korreferat übernommen, sondern mich vor allem bei der Auswahl des Themas inspiriert hat. Prof. Dr. Peter Blickle hat dankenswerterweise den Erscheinungsort vermittelt, Prof. Dr. Heinrich Richard Schmidt tatkräftige Unterstützung bei der Drucklegung geleistet. Bei Prof. Dr. Patrick J. Geary und seiner Frau Mary möchte ich mich für die seinerzeit überaus freundliche Aufnahme in Los Angeles bedanken. Ohne ein Georg-Christoph-Lichtenberg-Stipendium der Promotionsförderung des Landes Niedersachsens wäre diese Arbeit nicht zu Papier gebracht worden. Ebenso bin ich dem Konstanzer Exzellenzcluster 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration" für die Übernahme der Druckkosten zu Dank verpflichtet. Darüber hinaus danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des ehemaligen Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen, in dessen Bibliothek ich als Mitglied der International Max Planck Research School „Werte und Wertewandel in Mittelalter und Neuzeit" meinen Arbeitsplatz hatte. Seinen Eltern beim Erreichen eines Zieles zu danken, ist für viele sicherlich ein Allgemeinplatz, einen Beitrag am Zustandekommen haben sie ja stets geleistet, dennoch möchte ich dies noch einmal ausdrücklich tun. Last but not least ist die Abfassung einer Doktorarbeit ohne die Unterstützung wahrer Freunde vermutlich möglich, aber umso schwerer. Eine überaus große Hilfe war mir zu jeder Zeit und in jeder Lebenslage Marco Böhme. Detlef Haase und Robert „die Gefahr" Brade sorgten im Zweifelsfall, und oft genug unaufgefordert, für die nötige Abwechslung von der Schreibtischarbeit. Gleiches gilt für die Mitglieder der Turm-Mensa-Runde. In den anstrengenden letzten Wochen vor der Abgabe war Nicole Michaelis immer für mich da. In liebevoller Erinnerung sei diese Arbeit Marie Hinze gewidmet. Göttingen, im April 2013

Kai-Henrik Günther

Inhaltsverzeichnis

VII

Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Einleitung 1.1 Fragestellung 1.2 Sizilien, Flandern, Schweiz: Zum Stand der jeweiligen Forschung 1.2.1 Sizilien: Freiheitskampf oder aragonesisch-byzantirusch-ghibellinische Verschwörung? 1.2.2 Flandern: Nikolas Zannekin und der flämische Freiheitskampf im Mittelalter 1.2.3 Schweiz: Die Staatsgründung im Mittelalter 1.3 Die Quellen 1.3.1 Sizilien 1.3.2 Flandern 1.3.3 Schweiz Kapitel 2 Conjuratio und Rebellion: Eine ereignisgeschichtliche Einführung 2.1 Sizilien 1282 2.1.1 Die sizilianische Kommunebewegung nach dem Tod Kaiser Friedrichs II. 2.1.2 Das Jahr 1282: Von der Sizilianischen Vesper zur commumtas Siäliae 2.2 Flandern 1323 bis 1328 2.2.1 Von der Schlacht bei Kortrijk bis zum Frieden von Athis-sur-Orge: Der Krieg mit Philipp IV. von Frankreich 1302 bis 1305 2.2.2 Der Aufstand von 1323 bis 1328: quasi una commumtas Flandrie 2.3 Die schweizerische Eidgenossenschaft zwischen 1291 und 1370/1393 2.3.1 Conjuratio ohne Rebellion: Die urkundliche Überlieferung bis zum Sempacherbrief 1393 2.3.2 Die sogenannte Befreiungstradition: Von Conrad Justinger bis zum Weißen Buch von Samen 2.4 Ergebnisse

1 1 14 15 19 23 28 29 32 33

37 38 38 42 49 49 53 67 67 80 86

VIII

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 3 Die Schwurgenossen der regionalen Kommunebildungen: Soziale Differenziertheit und die Gruppen innerhalb der Gruppe

89

3.1 Sizilien

89

3.2 Flandern

99

3.3 Schweiz

117

3.3.1 Der soziale Status der Schweizer in der urkundlichen Uberlieferung

117

3.3.2 Der soziale Status der Schweizer in der Befreiungsgeschichte

129

3.4 Ergebnisse

132

Kapitel 4 Die Beweggründe zur Kommunebildung und die Ziele der Akteure

135

4.1 Sizilien

136

4.1.1 Aufständische Erfahrungshorizonte: Die „mala signoria" unter Karl I. von Anjou 4.1.2 Aufständische Handlungsmotivationen: Für .Freiheit' und .Gleichheit'

136 149

4.1.2.1 .Freiheit'

149

4.1.2.2 .Gleichheit'

154

4.1.3 Zusammenfassung 4.2 Flandern 4.2.1 Der Beginn: Für „Frieden", „Ruhe" und „Gemeinnutz"

157 158 160

4.2.2 Aufständische Erfahrungshorizonte: Von der „Goldsporenschlacht" bis zum Tod Graf Roberts von Bethune

165

4.2.3 Die Etablierung der flämischen Großkommune: Für .Freiheit' und .Gleichheit'

172

4.2.3.1 .Freiheit*

172

4.2.3.2 .Gleichheit'

178

4.2.4 Zusammenfassung 4.3 Schweiz

188 190

4.3.1 Erfahrungshorizonte im Spiegel der Bündnisverträge von 1291 bis 1353 sowie des Paffen -und Sempacherbriefes

191

4.3.1.1 Das Bündnis von 1291

191

4.3.1.2 Das Bündnis von 1315

193

4.3.1.3 Das Bündnis mit Luzern 1332

196

Inhaltsverzeichnis

IX

4.3.1.4 Das Bündnis mit Zürich 1351

197

4.3.1.5 Das Bündnis mit Zug 1352 und Bern 1353

201

4.3.1.6 Das Büdnis mit Glarus 1352

201

4.3.1.7 Der Paffenbrief 1370 und der Sempacherbrief

203

4.3.2 Die Entstehung der schweizerischen Eidgenossenschaft: Für ,Frieden', .Freiheit' und .Gleichheit'

204

4.3.2.1 .Frieden'

205

4.3.2.2 .Freiheit'

205

4.3.2.3 .Gleichheit'

207

4.3.3 Freiheit vs. tyrannische Herrschaft: Die Sichtweise der Befreiungstradition im 15. Jahrhundert 4.3.4 Zusammenfassung 4.4 Ergebnisse

209 211 213

Kapitel 5 Formen kommunaler Organisiertheit

219

5.1 Formen kommunaler Organisiertheit der communitas Siätiae

220

5.1.1 In den einzelnen Kommunen

220

5.1.2 Auf der Ebene der regionalen Gesamtkommune

227

5.2 Formen kommunaler Organisiertheit der communitas Flandrie

235

5.2.1 In den ländlichen Kommunen

235

5.2.2 In den Stadtkommunen

240

5.2.3 Auf der Ebene der regionalen Gesamtkommune

244

5.3 Formen kommunaler Organisiertheit der schweizerischen Eidgenossenschaft 248 5.3.1 In den ländlichen Kommunen

248

5.3.2 In den Stadtkommunen

250

5.3.3 Auf der Ebene der regionalen Großkommune

256

5.3.4 Der Befund der chronikalischen Überlieferung und die Frage, ob es vor 1291 einen innerschweizerischen Geheimbund gab 5.4 Ergebnisse

258 264

Kapitel 6 Die auf die Regionalkommune bezogene Gruppenidentität der Akteure

271

6.1 Sizilien: Die Vesper als Geburtsstunde einer sizilianischen Identität

272

χ

Inhaltsverzeichnis

6.2 Flandern: Ausdrucksformen einer flämischen Kommunal-Idendtät 6.3 Schweiz 6.3.1 Aller unser Ejdgenosschtrfl 6.3.2 Die Gruppenidentität der Eidgenossen in der Befreiungsgeschichte 6.4 Ergebnisse

281 287 287 290 292

Kapitel 7 Schlussbetrachtung

295

Verzeichnis der Siglen Quellenverzeichnis Literaturverzeichnis Orte und Personen

303 305 311 333

1. Einleitung

1.1 Fragestellung und Methode Am Anfang standen Eide, genauer Versprechenseide. Damit konstituierten die Eidleistenden eine .geschworene Einung' oder auch .Schwureinung' bzw. .Conjuratio', wobei letzterer Begriff sich von einem in den lateinischen Quellen häufig verwendeten Ausdruck ableitet1. Auf diese Weise schufen die Beteiligten jedoch keine Conjuratio im klassischen Sinn, das heißt keine Gilde oder Zunft, keine Bruderschaft, keine Universität und auch keine städtische oder bäuerliche Kommune. Die beiden letztgenannten kommunalen Ausprägungen der Conjuratio deuten jedoch in die hier interessierende Richtung. Der maßgebliche Unterschied zwischen einer Kommune und den anderen genannten Formen der Schwureinung liegt darin begründet, dass erstere immer örtlich „radiziert" war, also immer ein bestimmtes Territorium besetzte2. Im Folgenden soll es um kommunale Conjurationes gehen, die weit über den räumlichen Rahmen einer üblichen mittelalterlichen Stadt- oder Landkommune hinausreichten. Vielmehr handelte es sich bei ihnen um Kommunen, die sich über eine ganze Region erstreckten, also - wenn man so möchte - um .regionale Kommunen'. Diese kommunalen Großgebilde entstanden in Flandern, auf Sizilien und in der Schweiz und datieren in einen Zeitraum zwischen dem Ende des 13. und der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Sie etablierten ihre kommunale Herrschaft über mehrere zehn- bis hunderttausend Menschen unterschiedlichster sozialer Milieus. Konkret geht es, geordnet nach der Dauerhaftigkeit ihres Bestehens, um die commmitas Siciliae von 1282, um die communitas Flandrie von 1323 bis 1328 und um die schweizerische Eidgenossenschaft, deren Formierung in den letzten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts ihren Anfang nahm. Zwar war der Prozess um die Entstehung der Eidgenossenschaft am Ende des 14. Jahrhunderts mitnichten abgeschlossen, aber er war bereits so weit fortgeschritten, dass die Voraussetzung gegeben war, die weitere Entwicklung entscheidend zu prä1 Bei der Verwendung des Forschungsbegriffes .Conjuratio' orientiere ich mich an Otto Gerhard OEXLE: Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit, in: Herbert JANKUHN (Hg.), Das Handwerk in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, Teil 1, Historische und Rechtshistorische Beiträge und Untersuchungen zur Frühgeschichte der Gilde (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse, 3. Folge, Bd. 122), Göttingen 1981, S. 284-354. Ders.: Soziale Gruppen in der europäischen Geschichte, in: Max Planck Gesellschaft Spiegel 3 (1988), S. 24-29. Ders.: Soziale Gruppen in der Ständegesellschaft: Lebensformen des Mittelalters und ihre historischen Wirkungen, in: Ders. / Andrea HÜLSEN-ESCH, Die Repräsentation der Gruppen. Texte - Bilder - Objekte, (Veröffentlichungen des Max Planck Instituts für Geschichte 141), Göttingen 1998, S. 9-44. 2 Otto Gerhard OEXLE: Die Kultur der Rebellion. Schwureinungen und Verschwörung im frühund hochmittelalterlichen Okzident, in: Marie Theres FÖGEN (Hg.): Ordnung und Aufruhr im Mittelalter, Frankfort a. Μ. 1995, S. 119-137, S. 122.

2

Einleitung

gen. Nach momentanem Forschungsstand sind diese drei in etwa zeitgleich entstehenden Regionalkommunen die ersten ihrer Art, die sich im mittelalterlichen Europa beobachten lassen. Die mit der jeweiligen regionalen Großkommunebildung im Zusammenhang stehenden Ereignisse, das heißt der blutrünstige Aufstand der „Sizilianische Vesper", der sogenannte „flämische Bauernaufstand" (der eigentlich gar kein reiner Bauernaufstand war) und der berühmte Bundesschwur von 1291, sind von der Geschichtswissenschaft alles andere als unberücksichtigt geblieben und werden zum Teil nach wie vor kontrovers diskutiert. Wie ist also zu rechtfertigen, sich ihrer erneut anzunehmen, außer vielleicht damit, dass die genauen Vorgänge auf Sizilien, in Flandern und in der Schweiz der geschichtswissenschaftlichen Öffentlichkeit hierzulande recht unbekannt sein dürften? Die Antwort ist einfach: Bisher hat niemand die Form der sozialen Gruppenbildung durch Conjuratio, wie sie in allen drei Regionen erfolgte, in den Mittelpunkt seiner Betrachtung gestellt. Diese Perspektive bietet jedoch eine gänzlich andere Zugangsweise zu den entsprechenden historischen Vorgängen als die bisherigen Arbeiten. Aber damit nicht genug, auch die landläufige Betrachtung der mittelalterlichen Gesellschaft als hierarchisch gegliederte Ständegesellschaft gerät mittels dieses anderen Blickwinkels auf den Prüfstein. Deutlichster Ausdruck für die Alternativität dieses Forschungsansatzes ist die obige und für diese Untersuchung zentrale Feststellung, der zufolge die besagten Ereignisse allesamt zum Prozess einer regionalen Großkommunebildung gehörten. Ein Umstand, der bislang nicht nur deshalb nicht explizit herausgestrichen werden konnte, weil die Form der sozialen Gruppenbildung nicht im Fokus der Betrachtung stand, sondern vor allem weil der in diesem Kontext verwendete Begriff der .regionalen Kommune* sich erst aus dem Gruppenansatz ableiten lässt. Er ist als wissenschaftlicher Ordnungsbegriff völlig neu, und erst mit dieser Studie wird das Ziel verfolgt, ihn in der Forschungslandschaft zu etablieren. Ausgangspunkt der mit dem besagten Begriff der .regionalen Kommune' verbundenen Fragestellung ist das vom Mittelalterhistoriker Otto Gerhard Oexle entwickelte Konzept der sozialen Gruppe. Oexle konzipierte seinen Gruppenansatz an verschiedenen Arbeiten zu Gilden, Kommunen und Universitäten im frühen und hohen Mittelalter1. Er lässt sich dabei von Otto von Gierkes „Rechtsgeschichte der deutschen 1 Zu den Gilden vgl. neben den in Anm. 1 genannten Arbeiten Otto Gerhard OEXLE: Die mittelalterlichen Gilden: Ihre Selbstdeutung und ihr Beitrag zur Formung sozialer Strukturen, in: Albert ZIMMERMANN (Hg.): Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters, Bd. 1 (Miscellanea Medievalia 12,1), Berlin/New York 1979, S. 203-236. Ders.: Conjuratio und Gilde im frühen Mittelalter, in: Berent SCHWINEKÖRPER: Gilden und Zünfte. Kaufmännische und gewerbliche Genossenschaften im frühen und hohen Mittelalter (VuF 29), Sigmaringen 1985, S. 151-214. Ders.: Die Kaufmannsgilde von Tiel, in: Herbert JANKUHN u. Else EBEL (Hgg.): Untersuchungen zu Handel und Verkehr der vor- und frühgeschichtlichen Zeit in Mittel- und Nordeuropa, Teil 6: Organisationsformen der Kaufmannsvereinigungen in der Spätantike und im frühen Mittelalter. Bereicht über Kolloquien der Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas 1980 bis 1985 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse, 3. Folge, Bd. 183), Göttingen 1989, S. 173-196. Zur Kommune vgl. neben Anm. 2 Otto Gerhard

Fragestellung und Methode

3

Genossenschaft", von der Historischen Kulturwissenschaft um 1900 sowie von sozialhistorischen Forschungen aus Frankreich inspirieren. Neben Marc Bloch, der sich in seiner „La societe feodale" auch den Gilden und Kommunen als horizontalen Sozialgebilden zugewandt hat, wenn auch nur auf sehr wenigen Seiten2, sei als weiterer Vertreter der französischsprachigen Geschichtswissenschaft Pierre Michaud-Quanrin genannt, der in einer begriffsgeschichtlichen Typologisierung auf breiter Quellenbasis die „collectives medievales" auf genossenschaftlicher Basis untersucht hat3. „Es geht dabei nicht um den Adel und die Bauern, nicht um das Mönchtum, nicht um die Ministerialität und Rittertum, nicht um städtische Ober-, Mittel- und Unterschichten"4. Oexle möchte die mittelalterliche Gesellschaft als eine Gesellschaft von Gruppen beschreiben, ohne dabei jedoch die Fragestellungen, die sich mit Ständen, Schichten oder Klassen auseinandersetzen, grundsätzlich abzulehnen. Er versteht seinen Ansatz komplementär dazu: „Welches Bild der mittelalterlichen Gesellschaft ergibt sich, wenn man sie nicht als ein Gefuge von Ständen und Schichten betrachtet, sondern vielmehr als ein Gefuge von unterschiedlich konstituierten und strukturierten Gruppen als Formen des Zusammenlebens von Menschen"5? Er entwickelt mit Rückgriff auf den Soziologen Leopold von Wiese vier Kriterien, die erfüllt sein müssen, um von einer .sozialen Gruppe' sprechen zu können: erstens die Existenz von Regeln und Normen, in denen die Ziele der Gruppe zum Ausdruck kommen und die zugleich die Vorstellungen von der Gruppe sowohl bei ihren Mitgliedern als auch den Außenstehenden konstituieren; zweitens die Abgrenzung der Gruppe nach außen, die sich vor allem in den Wechselwirkungen zu anderen Gruppen zeigt; drittens die innere Organisiertheit und funktionale Differenzierung der Gruppe und viertens die Dauer-

OEXLE, Gilde und Kommune. Über die Entstehung von .Einung' und .Gemeinde' als Grundform des Zusammenlebens in Europa, in: Peter BLICKLE (Hg.): Theorien kommunaler Ordnung (Schriften des Historischen Kollegs 36), München 1996, S. 75-97. Dass es sich bei .Kommune' und .Gemeinde' um Parallelbegriffe handelt, bestätigt auch der Rechtshistoriker Gerhard Dilcher. Dazu Karl Siegfried / Gerhard DILCHER: Deutsche Rechtsgeschichte. Land und Stadt - Bürger und Bauer im Alten Europa, Berlin/Heidelberg 1999, S. 366, Anm. 121. Jüngst ist erschienen Otto Gerhard OEXLE: Wie die Kommunen das Königtum herausforderten, in: Bernhard JUSSEN (Hg.): Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, München 2005, S. 138-149. Zu den mittelalterlichen Universitäten vgl. Otto Gerhard OEXLE: Alteuropäische Voraussetzungen des Bildungsbürgertums. Universitäten, Gelehrte und Studierte, in: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil 1, Bildungssystem und Professionalisierung im internationalen Vergleich, Stuttgart 1985, S. 29-78. Ders.: Friede durch Verschwörung, in: Johannes FRIED (Hg.): Träger und Instrumentarium des Friedens im Hohen und Später Mittelalter (VuF 43), Sigmaringen 1996, S. 115-150, S. 130-132. Marc BLOCH: Die Feudalgesellschaft, Stuttgart 1999 (durchgesehene Neuausgabe nach der Übersetzung bei Propyläen 1982), S. 543-546. 3 Pierre MICHAUD-QUANTIN: Universitär. Expressions du mouvement communautaire dans le Moyen-Age latin (L'EgJise et l'Etat au Moyen Age 13), Paris 1970. 4 Oexle, Soziale Gruppen in der Ständegesellschaft, S. 12. 5 Ebd., S.12. 2

4

Einleituflg

haftigkeit ihrer Existenz6. Diese definitorischen Grundgegebenheiten ermöglichen ihm eine Unterscheidung in formelle und informelle (oder okkasionelle) Gruppen. Nur die formellen Gruppen zeigten langfristige Wirkungen in der Geschichte. Gruppenbindungen wie „eine Familie, ein ,Haus', ein Adels-Geschlecht, eine Gilde, eine städtische oder bäuerliche Kommune, ein Kloster, die Gruppe der Vasallen eines Herrn" seien daher etwas qualitativ anderes als „ein Treffen der Frauen am Brunnen oder von Männern im Wirtshaus"7. Innerhalb der hier aufgezählten Formen von formellen Gruppenbildungen weist Oexle auf zwei, in ihrer Struktur verschiedenartige, Grundtypen hin: einerseits die auf realer oder imaginierter Verwandtschaft beruhenden Gruppen und andererseits Verbindungen zwischen nicht miteinander verwandten Menschen, die deshalb auf Vereinbarung und Konsens gründen und häufig durch Eid und Vertrag konstituiert werden. Ihre gesellschaftliche Bedeutung und geschichtliche Wirksamkeit sei besonders groß. Zu denken sei hier etwa an die Vasallität als ein Verhältnis zwischen Ungleichen. Auf Gleichrangigkeit hätten dagegen klösterliche Gruppen oder geschworene Einungen beruht8. In Hinblick auf die drei zu untersuchenden regionalen Kommunen auf Sizilien, in Flandern und in der Schweiz sind die Überlegungen Oexles zu den formellen sozialen Gruppen, die durch Conjuratio bzw. geschworene Einung oder Schwureinung entstanden waren, von besonderem Interesse. Mit Orientierung an den oben genannten Vertretern der Rechtsgeschichte, der Historischen Kulturwissenschaft und der französischsprachigen Geschichtswissenschaft definiert Oexle ,Conjuratio' als eine freie Verbindung von Individuen, die auf Vereinbarung, Konsens und Reziprozität gründet und in ein Vertragsverhältnis, das pactum, mündet9. Konstituiert werde sie durch den wechselseitig geleisteten promissorischen Eid, also durch Verschwörung der beteiligten Individuen untereinander. Der Eid werde dabei - im Gegensatz zum Beispiel zur Vasallität — auf Grundlage von gegenseitig zugestandener Gleichheit im Sinn von Parität geleistet10. Diese Gleichheit begründe unter den Schwörenden eine Verbrüderung11, und tatsächlich ist der Begriff der fratemitas einer der Leitbegriffe in den mittelalterlichen Quellen zu freien Einungen12. Wie bereits angedeutet, haben alle Typen von Conjuratio, also Zünfte, Gilden, Kommunen, Universitäten und geistliche Bruderschaften, diese Form des Zusammenschlusses gemeinsam. Die Form hatte zu-

Oexle, Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit, S. 290f. Ders., Soziale Gruppen in der europäischen Geschichte, S. 26. Ders., Soziale Gruppen in der Ständegesellschaft, S. 17. 7 Oexle, Soziale Gruppen in der Ständegesellschaft, S. 17f. 6

8

Ebd., S. 18f. Anm. 1.

9 Vgl.

10 Zum promissorschen Eid der Conjuratio die in Anm. 1 genannten Arbeiten. Darüber hinausgehend die breit angelegte Studie von Paolo PRODI: Das Sakrament der Herrschaft. Der politische Eid in der Verfassungsgeschichte des Okzidents (Schriften des Italienisch-Deutschen Instituts in Trient 11), Berlin 1997. 11 So Oexle nach Max Weber, vgl. Anm. 1. " Vgl. Kap. 6.4, S. 292f.

Fragestellung und Methode

5

gleich normativen Charakter und galt als Recht: „Die Form ist die älteste Norm"13. Den Zweck dieser durch Konsens- und Vertragshandeln entstandenen Verbrüderung sieht Oexle im gegenseitig gewährten Schutz und in gegenseitiger Hilfe, weshalb solche „geschworenen Einungen meist in Verhältnissen der Desorganisation entstehen"14. Die Conjuratio habe durch das Versprechen gegenseitiger Hilfe eine frieden sstiftende Wirkung entfaltet und Rechtssicherheit durch das selbstgesetzte, gewillkürte, gruppenbezogene, statutarische Sonderrecht garantiert15. In Anlehnung an die Historische Kulturwissenschaft und die Wissenssoziologie geht Oexle von einer eigenen Kultur der Conjuratio aus, die er als die Summe von gruppenspezifischen Wertmaßstäben, Denkformen und Sinnzuschreibungen versteht und die durch menschliches Handeln materielle und immaterielle Objektivationen erzeugt, wie zum Beispiel das gruppenbezogene Sonderrecht oder gruppeninterne Institutionen und Rituale16. Daraus leitet er einen mittelalterlichen „clash of cultures" ab, jedoch weniger zu verstehen als dialektisches Ausschlussverfahren, sondern eher als eine Dialogik der Gegensätzlichkeiten17. Die Kultur der Conjuratio habe mit ihren gruppenspezifischen Wert- und Normvorstellungen in Opposition zur Kultur der mittelalterlichen Ständegesellschaft und ihren universalen Wert- und Normvorstellungen gestanden, was entsprechende Konflikte zur Folge gehabt habe. Gleichheit und gruppenbezogenes Sonderrecht seien in Konkurrenz zur transzendent begründeten Ungleichheit, zum Prinzip der ständischen Gesellschaft: der Harmonie in der Ungleichheit, und dem obrigkeitlich gesetzten allgemeinen Recht getreten18. Weil gruppenexklusive Nonnen der Conjuratio wie Jraternitas, Caritas oder pax auch gleichzeitig universale Normen waren, habe daraus häufig ein Ausgreifen der partikularen Friedensordnung gegen den Widerstand anderer - und durchgesetzt mit Gewalt - resultiert. Diese „polare Spannung zwischen einer intendierten, exklusiven Partikularität und einer von vornherein darin angelegten Universalität" habe zusammen mit dem Widerspruch zwischen gruppeninterner Parität und gesellschaftlicher Ungleichheit, zwischen gruppenbezogenem Sonderrecht und allgemeinem Recht immer wieder die Bekämpfung, das Verbot und die Diffamierung von Schwureinungen, insbesondere 13 Wilhelm EBEL: Recht und Form. Vom Stilwandel im deutschen Recht (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart 449), Tübingen 1975, S. 14. 14 Oexle, Gilde und Kommune, S . 7 7 . Er bezieht sich hier auf Lujo B R E N T A N O : Die Arbeitergilden der Gegenwart 1: Die Geschichte der englischen Gewerkvereine, Leipzig 1871, S. XII. 15 Oexle, Friede durch Verschwörung, S. 127f. 16 Oexle, Die Kultur der Rebellion, S. 119. 17 Otto Gerhard OEXLE: Stände und Gruppen. Über das Europäische in der europäischen Geschichte, in: Michael BORGOLTE (Hg.): Das europäische Mittelalter im Spannungs bogen des Vergleichs. Zwanzig internationale Beiträge zu Praxis, Problemen und Perspektiven der historischen Komparatistik, Berlin 2001, S.39-48. Den Begriff der Dialogik übernimmt Oexle von Edgar Morin, ebd., S. 40f. 18 Zur Kultur der Ständegesellschaft Otto Gerhard OEXLE: Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im frühen und hohen Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Wissens, in: Frantisek GRAUS: Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme (VuF 35), Sigmaringen 1987, S. 89-117.

6

von Gilden und Kommunen, heraufbeschworen. Die Conjuratio sei in den Augen der Anderen demzufolge Rebellion gewesen, aber keine Rebellion im Sinn einer Sozialrevolutionären Bewegung. Sie habe nie auf den Umsturz der allgemeinen Ordnung gezielt»9. Laut Oexle ist die Conjuratio im Zug der Dekorporierungsmaßnahmen ab dem Ende des 18. Jahrhunderts aus dem politischen und sozialen Alltag der Menschen verschwunden, habe aber dennoch wesentliche Momente ihres Wertesystems an den modernen Staat weitergegeben20. Passend dazu galt die Conjuratio lange Zeit als ein soziales Phänomen, das auf den lateinischen Okzident beschränkt blieb, den Raum also, der gerne als Ursprungsort von Menschenrechten, Demokratie und Pluralismus angesehen wird. Eine Auffassung, die auf Max Webers postum veröffentlichte Schrift über die okzidentale Stadt zurückgeht, in der er betont, dass die durch Eid konstituierte städtische Gemeindeverfassung ebenso wie die durch Eid entstandenen Handwerker- oder Kaufleutevereinigungen ohne Beispiel in anderen Kulturen seien21. Wenn dies auch für die okzidentale Stadtgemeinde und die Organisation von Kaufleuten und Handwerkern zutreffen mag, so steht die Ausweitung dieser eurozentrischen Sichtweise auf alle Spielarten der Conjuratio inzwischen auf eher wackligen Füßen. Ein jüngst erschienener Aufsatz der georgischen Mittelalterhistorikerin Nino Okinaschwili belegt zum Beispiel eine Schwureinung kommunalen Charakters im Hohen Kaukasus22. Auch im Japan des 16. Jahrhunderts lassen sich ähnliche soziale Erscheinungen nachweisen23.

" Oexle, Die Kultur der Rebellion, S. 131-136. Das Zitat ebd. auf S. 132. Oexle, Wie die Kommunen das Königtum herausforderten, S. 148. 21 Max WEBER: Die Stadt, Gesamtausgabe Max Weber, Abt. 1, Bd. 22, Teilbd. 5, hg. v. Wilfried Nippel, Tübingen 1999, S. 100-145. Die Schrift auch in ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (Studienausgabe), hg. v. Johannes Winkelmann, Tübingen 51972, S. 727-814. Der Herausgeber Winkelmann hat dieses Kapitel mit „Die nicht legitime Herrschaft (Typologie der Städte)" überschrieben. Dazu wiederum Otto Gerhard OEXLE: Kulturwissenschaftliche Reflexionen über soziale Gruppen in der mittelalterlichen Gesellschaft: Tönnies, Simmel, Dürkheim und Max Weber, in: Christian MEIER (Hg.): Die okzidentale Stadt nach Max Weber. Zum Problem der Zugehörigkeit in Antike und Mittelalter (HZ Beihefte 17) München 1994, S. 115-159, S. 142-148, und neuerdings Benjamin SCHELLER: Das herrschaftsfremde Charisma der Coniuratio und seine Veralltäglichungen. Idealtypische Entwicklungspfade der mittelalterlichen Stadtverfassung in Max Webers „Stadt", in: HZ 281 (2005), S. 307-335. 22 Nino OKINASCHWILI: Gab es eine Eidgenossenschaft im Hohen Kaukasus? Untersuchungen zur Schwureinung anhand svanischer Gedenkaufzeichnungen, in: Yuri L. BESSMF.RTNY / Otto Gerhard OEXLE: Das Individuum und die Seinen. Individualität in der okzidentalen und in der russischen Kultur in Mittelalter und früher Neuzeit (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 163), Göttingen 2001, S. 127-151. 23 Adrian GERBER: Gemeinde und Stand der Gottesleute von Oyamazaki. Annäherungen an die spätmittelalterliche Geschichte einer zentraljapanischen Ortschaft aus außerkultureller Perspektive, 2 Bde., Masch. Diss. phil. Bern 2001, hier Bd. 2, S. 97ff. u. 145f, zitiert nach Peter BUCKLE: „Coniuratio". Die politische Karriere einer lokalen Gesellschaftsformation, in: Albrecht CORDES / Joachim RÜCKERT / Reiner SCHULZE: Stadt - Gemeinde - Genossenschaft. Festschrift für Gerhard Dilcher zum 70. Geburtstag, S. 341-360, S. 347. 20

Fragestellung und Methode

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Ausgehend von diesen Überlegungen Oexles zu sozialen Gruppen im Allgemeinen und zu Conjurationes im Speziellen lässt sich hinsichtlich der in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehenden drei Regionalkommunen zunächst einmal folgendes konstatieren: Entsprechend ihrer räumlichen Ausdehnung waren in ihnen Städter und Bauern genauso verschworen wie Adlige und Geistliche, insbesondere wenn sie dem niederen Adel bzw. der niederen Geistlichkeit angehörten. Es waren folglich zu einem guten Teil Personengruppen an der regionalen Herrschaft der drei Kommunen beteiligt, die, was die mittelalterliche Ständelehre betrifft, eigentlich von Herrschaft ausgeschlossen bleiben mussten. Sie überwanden das Imaginarium der Standesschranken und schufen eine Vergesellschaftung, die dem modernen Gesellschaftsbegriff schon nahe kommt24. Im Einklang damit brachte die ständeübergreifende Zusammensetzung die Artikulation einer gruppenbezogenen Identität mit sich, die so etwas wie nationale Züge trug. In Hinblick auf ihre jeweilige regionale Ausdehnung, ihre Mitgliederzahl, ihre heterogene soziale Zusammensetzung sowie in Hinblick auf dieses regionalkommunalen Wir-Gefühl, das die Akteure im Verlauf des kommunalen Entwicklungsprozesses formulierten, nehmen die drei Großkommunen also eine im mittelalterlichen Europa bis dahin noch nicht zu beobachtende Sonderstellung ein. Mit den mittelalterlichen Städtebünden gibt es zwar ein mit der regionalen Kommune verwandtes kommunales Großgebilde. Ähnlichkeiten sind vor allem hinsichtlich der Form der überregionalen politischen Organisation und den in den Bündnisverträgen vereinbarten Regelungen festzustellen, und schon die Lombardische Liga von 1167 oder auch der Rheinische Städtebund von 1254 zeigen diese Gemeinsamkeiten zur regionalen Kommune. Auch entwickelte gerade der Lombardenbund einen vergleichbaren aufständischen Impetus wie die drei zu untersuchenden Kommunen. Dennoch erscheint es angebracht, das kommunale Phänomen ,Städtebund' von dem der .regionalen Kommune' zu unterscheiden. So vereinigte die regionale Kommune im Gegensatz zum Städtebund städtische wie ländliche Gemeinden, und zwar gleichberechtigt nebeneinander. Ferner sei das oben angesprochene, bisweilen schon national aufgeladene regionalkommunale Gemeinschaftsgefühl als zweites zentrales Unterscheidungskriterium hervorgehoben25. Als weitere Großkommune des Mittelalters wäre der friesische UppstalsboomBund anzuführen. Ihm fehlt im Vergleich zu den regionalen Kommunen freilich ebenfalls die ständeübergreifende Zusammensetzung. Es handelt sich um eine rein bäuerliche Großkommune. Zudem war trotz eines gemeinfriesischen Bewusstseins die

Oexle, Wie die Kommunen das Königtum herausforderten, S. 145-148. Vgl. Eva-Marie DlSTLER: Städtebünde im deutschen Spätmittelalter. Eine rechtshistorische Untersuchung zu Begriff, Verfassung und Funktion (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 207), Frankfurt a. M. 2006. Gerhard DlLCHER: Lega Lombarda und Rheinischer Städtebund. Ein Vergleich von Form und Funktion mittelalterlicher Städtebünde südlich und nördlich der Alpen, in: Europa e Italia. Studi in onore di Giorgio Chittolini / Europe and Italy. Studies in Honour of Giorgio Chittolini (Reti Medievali E-Book 15), Florenz 2011, S. 155-180. 24

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gemeinsame politische Organisation der (riesischen Landesgemeinden rudimänterer entwickelt. Jedenfalls ist sie anhand der Quellen schwierig zu belegen26. In der Kombination aus den aufgeführten Charakteristika unterscheiden sich die regionalen Kommunen also deutlich von den zahlreichen mittelalterlichen Städtebünden oder vom friesischen Uppstalsboom-Bund. Überdies sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die historische Forschung das kommunale Zusammengehen von Städtern und Bauern in der Regel erst in die Reformationszeit datiert27. Ausgenommen davon ist allenfalls die schweizerische Eidgenossenschaft. Man greift mit den regionalen Kommunen folglich eine mittelalterliche Hochform kommunaler Conjuratio, die in viel umfangreichere Weise in direkte Konkurrenz zu adliger Fürstenherrschaft trat, als dies beispielsweise mittelalterliche Stadtkommunen jemals taten. Dementsprechend lässt sich an ihnen gleichsam wie durch ein Brennglas die Dynamik von den Vergesellschaftungsprozessen, aber auch von der politischen Machtentfaltung beobachten, die kommunale Ordnungsvorstellungen im Mittelalter entwickeln konnten. Die Feststellung von der besonderen Rolle der regionalen Kommune in der Welt des Mittelalters und das damit verbundene Verständnis, mit ihr eine sehr breit aufgestellte und umfassende Ausprägung mittelalterlicher Kommunebildung vor sich zu haben, ist die zentrale Arbeitshypothese dieser Untersuchung. Aufgrund der aufgezeigten besonderen räumlichen, sozialen und politischen Gestalt, die die regionale Kommune jeweils in deutlicher Konkurrenz zu einer bestimmten Fürstenherrschaft annahm, tritt bei ihr plastischer als bei jeder anderen Unterart der Conjuratio die spezifische Kultur zu Tage, die diese Form der sozialen Gruppenbildung auszeichnete. Gerade in der regionalen Großkommunebildung sollte sich also der spätmittelalterliche Wissensstand um Conjuratio in nuce widerspiegeln. Es geht dabei um jenes Wissen, das sich die Akteure im überlieferten Textmaterial selbst zuschrieben, das ihnen zugeschrieben wurde oder das der Historiker aus ihm ableiten kann und das sich im sozialen Handeln der Menschen manifestiert, das heißt im Handeln, das sich am Verhalten anderer orientiert und sich darauf bezieht28, mithin genauso, wie es bei dem Kollektivgebilde der kommunalen Conjuratio gegeben ist. Dieses handlungsleitende Wissen um Conjuratio im Spätmittelalter, man könnte es auch als .soziales Wissen' bezeichnen29, gilt es im Folgenden anhand der drei regionalen Kommunen aufzude-

Heinrich SCHMIDT / Ernst SCHUBERT: Geschichte Niedersachsens, Bd. 2, Teil 2, Geschichte Ostsfrieslands im Mittelalter, Hannover 1997, S. 967. 27 Vgl. Kap. 4.4, S. 217. 28 Dabei schafft die Externalisierung von .Wissen' im Handeln sowohl materielle als auch immaterielle Objektivationen. Es kommt zur Gewinnung einer .Wirklichkeit', die für den Menschen erfahrbar ist und als solche wieder internalisiert werden kann. Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung sind aufeinander bezogen und durchdringen sich wechselseitig. Dazu das programmatische Buch von Peter L. BERGER / Thomas LUCKMANN: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. " 2 0 0 3 , insbesondere S.139. Des Weiteren Peter L. BERGER: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie, Tübingen 1973, S. 3 f. 24

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Berger, Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit.

Fragestellung und Methode

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cken. Aber zugleich hebt die räum- und ständeübergreifende Ausbildung, also der „Gesellschafts-Charakter" der Großkommune30, das Konkurrenzverhältnis zwischen Conjuratio und Fürstenherrschaft insofern auf eine andere Ebene, als dass die regionale Kommune im Verlauf ihres Gruppenbildungsprozesses — um mit Oexle zu sprechen - nicht nur mit dem ,Staat' konkurrierte, sondern tatsächlich selbst zum ,Staat' wurde31. Ein Umstand, der deutlicher als viele andere soziale Phänomene der mittelalterlichen Welt die Frage nach der Modernität dieser Welt aufwirft32. Die Erkenntnis ist nicht neu, dass die Auseinandersetzung der Moderne mit der Vormoderne oder dem Mittelalter der politisch-sozialen Selbstvergewisserung der modernen Menschen diente - und immer noch dient In dieser Auseinandersetzung spiegeln sich wichtige Grundfragen der Moderne wider, wie etwa die Frage nach Fortschritt, Individualität oder religiösem Fanatismus. Die Vormoderne - und mit ihr das Mittelalter - werden sehr oft als Gegenbilder zur Moderne verstanden und zwar entweder zur fortschrittsgläubigen Absetzung von einer solch fernen Vergangenheit oder zur modernisierungsfeindlich motivierten Annäherung an sie33. Entscheidend ist, dass in beiden Fällen das Andere der vergangenen Epoche im Zentrum des Interesses steht. Als extreme Auffassungen sind diesem Anderen, je nach Standpunkt, zwei kontradiktorische Vorstellungen zuzuordnen. Einerseits werden die Vormoderne bzw. das Mittelalter als etwas abgrundtief Irrationales und abschreckend Archaisches, andererseits als etwas vermeintlich Heiles und leider Verlorenes angesehen. Solche Verständnisse sagen also letztlich mehr über die Bewusstseinslage derjenigen aus, die die Begrifflichkeiten in dem einen oder anderen Sinn verwenden, als denn über diese Vergangenheit selbst. So wichtig und hilfreich Epochenbegriffe sind, um Geschichte überhaupt denken zu können, bisweilen verbauen sie den Blick auf die historische Bedingtheit auch von modernem sozialen Wissen, ohne das bestimmte, heutzutage begegnende soziokulturelle Phänomene in ihrer zeitlichen Tiefe nur schwer zu fassen sind. Deshalb ist es zweifellos angebracht, nicht nur nach dem Fremden und Anderen, sondern auch nach dem Eigenen, das heißt in diesem Fall nach Komponenten der Moderne, in der Vormoderne bzw. im Mittelalter zu fahnden.

Oexle, Wie die Kommunen das Königtum herausforderten, S. 147. 3' Ebd., S. 146. 32 Vgl. dazu Frank REXROTH: Das Mittelalter und die Moderne in den Meisteretzählungen der historischen Wissenschaften, in: Zeitschrift für Literatur und Linguistik 38/151 (2008), S. 12-31, S. 28f. 33 Dazu Oexle in zahlreichen Aufsätzen, exemplarisch seien genannt ders.: Mittelalterforschung in der sich ständig wandelnden Moderne, in: Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung (Mittelalterstudien des Instituts für Interdisziplinäre Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens Paderborn 1), München 2003, S. 227-252. Ders.: Das Mittelalter und die Moderne. Überlegungen zur Mittelalterforschung, in: Ilko-Sascha KOWALCZUK (Hg.): Paradigmen deutscher Geschichtswissenschaft. Ringvorlesung an der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 1994, S. 32-63. Ders.: Das Bild der Moderne vom Mittelalter und die moderne Mittelalterforschung, in: FMSt 24 (1990), S. 1-22. 30

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Einleitung

Sowohl Oexle als auch der Frühneuzeithistoriker Peter Blickte thematisieren die Modernität der Conjuratio bzw. Kommune in ihren Arbeiten. Oexle hat beispielsweise das einer jeden Conjuratio zugrunde liegende Normensystem einmal provozierend verkürzt mit den Begriffen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit umschrieben34. Analog dazu versucht Blickle mit seinem Epochenbegriff Kommunalismus, die Ursprünge der pluralistisch-demokratischen Gesellschaftsordnungen in West- und Mitteleuropa auf die soziale Praxis in den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Dorf- und Stadtkommunen zurückzuführen35. Oexle und Blickle wenden sich mit ihren Konzepten bewusst gegen modernisierungstheoretische Deutungen von historischen Prozessen, die sich durch eine einseitig herrschaftsbezogene Sichtweise auszeichnen und dementsprechend ihren Blick nur auf Königs- oder Ständeherrschaft richten. Für Oexle sind beispielsweise die Frieden schaffenden und Frieden sichernden Regeln und Normen der Conjuratio ein nicht unerheblicher ,.Beitrag zum Prozess der Zivilisation in Europa [...], ein Prozess der eben nicht nur, wie es Norbert Elias in seiner Zivilisationstheorie wollte, durch Herrschaft, durch Königtum [...] vorangebracht wurde"36. Blickle empfand dagegen den Epochenbegriff Feudalismus und die „analog gebauten Unterbegriffe wie Absolutismus" als unzureichend zur Beschreibung und Charakterisierung der entsprechenden Jahrhunderte sowie zur Erklärung der Entstehung von Parlamentarismus und Demokratie37. Er möchte sie durch seinen Epochenbegriff Kommunalismus zumindest ergänzt wissen, denn „nicht wo am meisten diszipliniert worden war, wurde am frühesten demokratisiert, sondern wo am meisten kommunalisiert worden war"38. Die europäischen Demokratien schließlich hätten „das Bauprinzip der coniuratio auf die nationale Ebene gehoben"39. Beide bieten durch ihre Akzentuierung auf den Blick ,νοη unten' folglich Gegenentwürfe zu den gängigen Erklärungsmodellen historischer Großprozesse. Oexles Augenmerk liegt vor allem auf dem sozialen System .Conjuratio'. Er beschäftigt sich mit seiner Entwicklung ab dem frühen Mittelalter bis in das Hochmittelalter und thematisiert es in seinen verschiedenen, aus dieser Entwicklung erwachsenden Ausprägungen. Er behandelt Gilden, Zünfte, Universitäten und Kommunen. Blickle konzentriert sich vornehmlich auf Kommunen und die mit den kommunalen Enstehungsprozessen oft verbundenen Aufstände. Aus der Bauernkriegs- und Reformationsforschung kommend, liegt sein Hauptaugenmerk für das Mittelalter auf der schweizerischen Eidgenossenschaft. Sein Ansatz ist am ehesten als eine sozialgeschichtlich orientierte Verfassungsgeschichte zu beschreiben. 34 Oexle, Friede durch Verschwörung, S. 147. Zum Zusammenhang von Gleichheit und Brüderlichkeit bei Conjurationes vgl. ders., Soziale Gruppen in der Ständegesellschaft, S. 42. 35 Peter BLICKLE, Kommunalismus: Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform, Bd. 1, Oberdeutschland, Bd. 2, Europa, München 2000. 36 Oexle, Friede durch Verschwörung, S. 132. 37 Blickle, Kommunalismus, Bd. 1, Oberdeutschland, S. 5f. 38 Ebd., Bd. 2, Europa, S. 382. 39 Blickle, „Coniuratio", S. 342.

Fragestellung und Methode

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Diese Arbeit knüpft zwar zweifelsohne an die beiden alternativen historischen Großdeutungen an, die mit den Begriffen Conjuratio und Kommunalismus verbunden sind. Ebenso ist von ihnen der Anspruch inspiriert, die zur Beschreibung des Mittelalters oft herangezogenen eindimensional herrschaftsbezogenen Sichtweisen oder die immer wieder postulierte Epocheneinteilung in Moderne und Vormoderne bzw. Mittelalter von Grund auf in Frage zu stellen. Aber nichtsdestoweniger laufen auch diese beiden Großdeutungen ihrerseits Gefahr, die historischen Prozessen inhärenten Widersprüche, Gegensätzlichkeiten und Brüche aus dem Blick zu verlieren. Die Gründe für diese tendenzielle Eindimensionalität dürften einmal in ihrem dekonstruierenden Ansatz selbst zu finden sein. Er bringt es zwangsläufig mit sich, dem einen vereinfachenden Bild von der Vergangenheit das andere entgegenzustellen. Zum anderen muss der Versuch, Kontinuitätslinien aus dem Mittelalter bis in die Gegenwart zu ziehen, mit einer gewissen Zwangsläufigkeit ebenfalls zur Vereinfachung fuhren. Deshalb soll der Mehrweit meiner Arbeit nicht nur daraus resultieren, in ihr eine soziokulturelle Formation der Vergangenheit zu beschreiben, die bisher von vielen Vertretern des Faches übersehen wurde. Vielmehr soll, im Gegensatz zu Oexle als auch zu Blickle, ein anderer Untersuchungsmaßstab an die mittelalterliche Kommune angelegt werden. Auf den folgenden Seiten soll nicht das kommunale System, sein Herkommen und sein Funktionieren, ob nun hinter dem Vorzeichen .Conjuratio' oder ,Kommunalismus' stehend, zentraler Gegenstand des Interesses sein, sondern die Menschen, die sich dieses Systems bedienten. Es soll um ihr historisch wirksames Handeln, ihre kollektiven Handlungsmotivationen sowie die kommunebezogenen Wir-Identitäten gehen. Mittels dieser an den historischen Akteuren ausgerichteten Perspektive gilt es, das Phänomen ,Kommune' im Mittelalter umfassend, und zwar anhand der „umfassenden" regionalen Kommune, darzustellen. Dazu sind die oben formulierten zwei zentralen Fragen, die nach dem handlungsleitenden sozialen Wissen um kommunale Conjuratio im Spätmittelalter sowie die nach der Modernität der Conjuratio, zu beantworten. Aus dieser an den Akteuren orientierten Untersuchungsweise ergibt sich auch der grundlegende Aufbau dieser Studie. Dies wäre die Rekonstruktion erstens: der sozialen Milieus, denen sie entstammten (Kapitel 3), zweitens: der Handlungsmotive und Handlungsziele, die sie dazu bewegten, sich großkommunal zu verschwören (Kapitel 4), drittens: der sozialen und politischen Organisationsformen, denen sich die Akteure bedienten, um ihr regionalkommunales Handeln zu ermöglichen (Kapitel 5) und viertens: die mit der jeweiligen regionalen Kommune verknüpfte Gruppenidentität (Kapitel 6). Last but hot least darf der Vergleich als weitere Methode der Vorgehensweise zur Bearbeitung der drei Regionalkommunen nicht unreflektiert bleiben40: Zunächst ein-

Zum Vergleich als Methode der Geschichtswissenschaft vgL Marc BLOCH, Für eine vergleichende Geschichtsbetrachtung der europäischen Gesellschaften, in: Matthias MlDDEL / Steffen SAMMLER 40

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Einleitung

mal bietet er sich aufgrund des Umstandes an, dass es sich bei den drei Untersuchungsgegenständen — wie schon erwähnt - um die ersten bis dato beobachtbaren regionalen Kommunebildungsprozesse in Europa handelte, die sich zudem ungefähr zeitgleich vollzogen. Allerdings vollzogen sie sich in geographischen Räumen, die sich nicht nur hinsichtlich ihrer naturräumlichen Gegebenheiten völlig unterschieden, sondern - sicherlich teilweise aus diesen Grundkonstellationen ableitbar - auch hinsichtlich ihrer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen. Demnach lagen zwischen der größten Insel des Mittelmeeres, der flämischen Kanalküste und ihrem Hinterland sowie dem schweizerischen Alpen- und Voralpenraum die sprichwörtlichen „Welten". Ein direkter kultureller Transfer größeren Ausmaßes zwischen den drei Regionen oder zumindest zwischen zweien von ihnen kann definitiv ausgeschlossen werden. Sizilien war ein Bindeglied zwischen Okzident und Orient und exportierte zusätzlich landwirtschaftliche Produkte, insbesondere Getreide, auf das italienische Fesdand. Flandern war mit seiner Tuchherstellung ganz auf England, das Rheinland, Norddeutschland und Oberitalien ausgerichtet. Hingegen kamen die Landgemeinden und Städte der im Werden begriffenen schweizerischen Eidgenossenschaft zu dieser Zeit über eine regionale Bedeutung nicht hinaus. Allenfalls der Verkehr über die alpenquerende Gotthardroute mag ein wenig internationales Flair in diese ansonsten weltabgeschiedene Gegend gebracht haben. Auch standen die drei Regionen im Mittelalter niemals unter ein und derselben Herrschaft. Aber immerhin haben einige zeitgenössische Geschichtsschreiber in ihren Werken parallel über die Aufstände auf Sizilien und in Flandern berichtet, womit sie die Möglichkeit gehabt hätten, Verbindungen zumindest zwischen zwei der drei regionalen Kommunen herzustellen. Diese Autoren gehörten zum einen in das Umfeld des französischen Königshofes41, zum anderen ist der Florentiner Chronist Giovanni Villani anzuführen42. Das Interesse der französischen Geschichtsschreiber an der Sizilianischen Vesper ist aber auch nur dann verständlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass mit ihr das Schicksal König Karls I. von Anjou auf das Engste verbunden gewesen war. Karl war nicht nur Graf der Provence, sondern vor allem der jüngste Bruder König Ludwigs

(Hg.): Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten, Leipzig 1994, S. 121-167. Heinz-Gerhard HAUPT / Jürgen KOCKA: Historischer Vergleich: Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung, in: Heinz-Gerhard HAUPT / Jürgen KOCKA: Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M./New York 1996, S. 9-45. Hartmut KAELBLE, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 1999, S. 48-92. Frank REXROTH: Der Vergleich in der Erforschung des europäischen Mittelalters, in: Michael BORGOLTE (Hg.): Das europäische Mittelalter im Spannungsbogen des Vergleichs. Zwanzig internationale Beiträge zu Praxis, Problemen und Perspektiven der historischen Komparatistik, Berlin 2001, S. 371-380. Michael BORGOLTE: Europa entdeckt seine Vielfalt 1050-1250 (Handbuch der Geschichte Europas 3), Stuttgart 2002. 41 Les Grandes Chroniques de France, Bd. 7, Louis VIII et Saint Louis, Bd. 8, Philipp III le Hardi, Philipp IV le Bei, Louis X Hutin, Philipp V le Long, Bd. 9, Charles IV le Bei, Philipp VI de Valois, hg. v. Jules Edouard Marie Viard, Paris 1932-1937. 42 Giovanni Villani: Nuova Cronica, hg. v. Giuseppe Porta, Parma 1991.

Fragestellung und Methode

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IX. (des Heiligen) von Frankreich. Das Interesse der Franzosen an Flandern mag für den heutigen Betrachter schon nachvollziehbarer sein. Die Grafschaft gehörte als nordöstlicher Vorhof nicht nur geographisch zur Einflusssphäre des französischen Königshauses, auch die politischen Verbindungen waren eng. Die französischen Könige waren Lehnsherren der flämischen Grafen. Dementsprechend hatten Karl IV. und Philipp VI. Valois direkt mit der flämischen Kommunebewegung zu tun, letzterer errang sogar den entscheidenden Sieg über die aufständischen Flamen im Jahr 1328. Wie noch zu zeigen sein wird, beinflussten auch Vorgänge aus den Regierungszeiten Philipps IV. (des Schönen), Ludwigs X. und Philipps V. die Ereignisse zwischen 1323 und 1328 stark43. Giovanni Villani aus Florenz wiederum war um das Jahr 1306 für die Handelsgesellschaft der Peruzzi in Flandern tätig gewesen, hatte offensichtlich die dortigen Geschehnisse auch in späteren Jahren nicht aus dem Auge verloren und sie schließlich in seinem Geschichtswerk verarbeitet44. Sein Bericht über die Sizilianische Vesper hingegen setzt bei Giovanni kein spezielles Interesse an der Mittelmeerinsel voraus. Vielmehr fand der Aufstand auf Sizilien im Jahr 1282 auch in Ober- und Mittelitalien ein solch breites Echo, dass sogar Dante ihn in seiner „Göttlichen Komödie" verewigte45. Doch trotz der parallelen Behandlung der flämischen und sizilianischen Ereignisse, in den jeweiligen Texten stellte keiner der Autoren explizite Verknüpfungen zwischen ihnen her. Demnach scheinen alle drei regionalen Kommunebildungen sowohl in der Wirklichkeit als auch in den Texten der erwähnten Chronisten voneinander unbeeinflusst existiert zu haben. Allenfalls in sprachlich-semantischer Hinsicht gibt es Hinweise darauf, dass der eine oder andere bei seiner literarischen Tätigkeit durch die Verwendung gleicher oder ähnlicher Begrifflichkeiten wenigstens unterbewusst Querverbindungen gezogen hat. Es können also keine kulturellen Transferleistungen in den Mittelpunkt der vergleichenden Betrachtung rücken. Aber das müssen sie auch gar nicht. Wie bekannt, bildet die soziale Form der kommunalen Gruppenbildung durch Conjuratio die Untersuchungsgrundlage. Es geht also um diese Form, der sich die mittelalterlichen Menschen bedienten, genauer: um den dieser Form zugrunde liegenden Stand des hand-

« Vgl. unten Kap. 2.2 Ernst MEHL: Die Weltanschauung des Giovanni Villani. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte Italiens im Zeitalter Dantes (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 33), Leipzig 1927, S. 1-5. 45 „Trincaria, die Schön [...], / Sie würde ihrer Könige noch harren, / Von Carl durch mich abstammend und von Rudolph, / Wenn schlechtes Regiment, das unterworfene / Bevölkerungen stets betrübt, Palermo / .Stirb, stirb!' zu rufen nicht bewogen hätte", Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie, Das Paradies, Gesang VIII, 67-75. Diese meines Erachtens sehr gelungene deutsche Übersetzung aus: Dante Alighieri's Göttliche Comödie, hg. v. Philalethes, 3. Teil, Das Paradies, 44

Leipzig 2 1871. Im Original lauten diese Zeilen: Ε al beUa Trincaria [...] / Attea avrtbbe Ii sum reg ancora,

/ Natiper me di Carlo e di Rudolfe, / Se mala agnoria, che semprt accora / Upopoti soggtü, non avesse / Mosso

Palermo a gridar ,Mora, mora!", Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie, Italienisch und Deutsch, 3. Teil, Das Paradies, Stuttgart 1957. Zu Dante spricht hier Karl Martell, ältester Sohn König Karls II. von Salerno und Enkel König Karls I. von Anjou.

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Einleitufig

hingsleitenden sozialen Wissens dieser Menschen in einem fest umrissenen zeitlichen Rahmen - weshalb es im Übrigen auch nicht interessiert, ob die jeweilige Regionalkommune nur wenige Monate (Sizilien), mehrere Jahre (Flandern) oder gar über Jahrhunderte (Schweiz) existierte - und um die Modernität der mit dieser Form verbundenen Wertvorstellungen und des entsprechenden Normensystems. So gilt es, Ähnlichkeiten und Unterschiede anhand der drei zu untersuchenden Großkommunen nach den aufgezeigten Untersuchungskriterien herauszuarbeiten, wobei wegen der besagten zwei zentralen Fragen, das heißt der nach Wissen und der nach Modernität, die Ähnlichkeiten mehr als die Unterschiede von Bedeutung sein werden. Es handelt sich demnach bei dem angestrebten Vergleich um einen generalisierenden (universalisierenden) Vergleich in Bezug auf das soziokulturelle Phänomen der regionalen Kommune an sich46. Ein Vergleich, der aber dennoch - jedenfalls vor dem Hintergrund des landläufigen Verständnisses der mittelalterlichen Gesellschaft als Ständegesellschaft - individualisieren (typisieren) möchte, soll doch eine alternative Betrachtung das ungemein wirkungsmächtige Deutungsschema Ständegesellschaft und die damit verbundene Meistererzählung47 dekonstruieren helfen48. Diese Absicht wird gestützt vom zentralen Ausgangspunkt dieser Untersuchung, dem zufolge die regionale Kommune die höchste Evolutionsstufe von kommunaler Conjuratio, ja von Conjuratio überhaupt, darstellte, eine Conjuratio nämlich, die versuchte, auf einer hohen Ebene gesellschaftlicher Ordnung ein konkurrierendes Herrschaftsmodell zu adliger Ständeherrschaft zu etablieren.

1.2 Sizilien, Flandern, Schweiz: Zum Stand der jeweiligen Forschung Wie eingangs schon angedeutet, sind die Ereignisse um die drei regionalen Kommunebildungen von der Geschichtswissenschaft keineswegs unbeachtet geblieben. Ja, mehr noch, in allen drei Fällen ging - und geht zum Teil noch immer - die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem jeweiligen Geschehen auf Sizilien, in Flandern und in der Schweiz einher mit der Konstruktion einer italienischen, flämischen (und allenfalls nachrangig belgischen) und sodann schweizerischen Nationalidentität:

Zum generalisierenden (universalisierenden) Vergleich vgl. Kaelble, Der historische Vergleich S. 26f. 47 Zur Meistererzählung nicht als polemischer Kampf-, sondern als Wissenschaftsbegriff Frank REXROTH: Meistererzählungen und die Praxis der Geschichtsschreibung. Eine Skizze zur Einführung, in: Ders.: Meistererzählungen vom Mittelalter. Epochenimaginationen und Verlaufsmuster in er Praxis mediävistischer Diziplinen (HZ Beihefte NF 46), München 2007, S. 1-22. 48 Zum individualisieren (typisierenden) Vergleich Kaelble, Der historische Vergleich S. 26f. 46

Forschungsstand

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1.2.1 Sizilien: Freiheitskampf oder aragonesisch-byzantinisch-ghibellinische Verschwörung? Für Italien spiegelt sich die identitätsstiftende Wirkung der Ereignisse um die Sizilianische Vesper vor allem in der 1946 im Zusammenhang mit der Ausrufung der italienischen Republik eingeführten Nationalhymne „Fratelli dltalia" wider. Den Text dichtete Goffredo Mameli, ein glühender Anhänger des Risorgimento, im Jahr 1847. Zwei Zeilen sind der Vesper gewidmet. Inspiriert wurde Mameli sehr wahrscheinlich vom bis heute grundlegenden Werk über den Aufstand der Sizilianischen Vesper, das der in Palermo geborene italienische Arabist, Historiker und Politiker des Risorgimento Michele Amari verfasste. Es erschien erstmals 1842 unter dem Titel „Un periodo dell istorie siciliane del secolo XIII" in Palermo1. Darin interpretierte Amari die Vesper als eine von republikanisch-patriotischem Geist getragene spontane Erhebung des Volkes gegen die gewalttätige Fremdherrschaft König Karls I. von Anjou. Diese Deutung brachte ihn umgehend in Konflikt mit den Behörden in Neapel, vertrugen sich doch Amaris freiheitlich-liberalen und damals noch sizilianisch-sezessionistischen Anschauungen in keiner Weise mit dem absolutistisch-reaktionären Regierungsstil der süditalienischen Bourbonendynastie. Tatsächlich las der königliche Polizeiminister das Werk vermutlich nicht zu unrecht als eine mehr oder weniger klar formulierte Aufforderung zur Revolte, so dass Amari gezwungen war, nach Paris ins Exil zu gehen2. Dort erschien dann 1843 die zweite Auflage unter dem später bekannten Titel „La guerra del vespro Siciliano", der bis 1886 sieben weitere folgen sollten3. Überdies wandelte sich in Paris Amaris politische Einstellung im Kontakt mit anderen italienischen Emigranten grundlegend. Er entwickelte sich von einem sizilianischen Sezessionisten zu einem Anhänger des Risorgimento; allerdings trat er fur eine föderale Struktur des eines Tages vereinigten Italiens ein. Er nahm 1860 an Garibaldis sizilianischer Expedition teil, fungierte als dessen Minister fur auswärtige Angelegenheiten und führte die Verhandlungen mit Cavour über den Anschluss Süditaliens an das sich formierende italienische Königreich. Er wurde zum Senator ernannt und war von 1862 bis 1864 Minister für Bildung und Unterricht4. Amari stand mit der von ihm entwickelten These von der Vesper als Volksaufstand konträr zur damals allgemein anerkannten Auffassung, der Aufstand in Palermo sei bewusst durch Agenten einer politischen Verschwörung herbeigeführt worden. Diese hätten König Peter III. von Aragon und der byzantinische Basileus Michael VIII. Palaiologos initiiert, um zum einen die von Karl von Anjou geplante Eroberung • Michele ΑΜΛΚΙ: Un periodo delle istorie siciliane del secolo XIII, Palermo 1842. Vgl. Salvatore TRAMONTANA: Gli anni del Vespro. L'immaginario, la cronaca, la storia, Bari 1989, S. 95-98. Zur Rezeptionsgeschichte vgL ferner Isabel SKOKAN: Germania und Italia. Nationale Mythen und Heldengestalten in Gemälden des 19. Jahrhunderts, Berlin 2009, S. 142-146. 3 Michele AMARI: La guerra del Vespro siciliano ο un periodo delle storie siciliane del secolo ΧΠΙ, 3 Bde., Mailand Ί 886. 4 Artikel „Amari, Michele", in: Meyers Konversationslexikon, Leipzig 6 1902. 2

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Einleitung

von Konstantinopel zu verhindern und um zum anderen Sizilien fur die aragonesische Krone zu gewinnen. Auf den ersten Blick scheinen die Vorgänge im Jahr 1282 tatsächlich die Intrigenthese zu bestätigen. Denn nach der erfolgreichen Vertreibung des Anjous durch die aufständischen Sizilianer und der kurzzeitigen Selbstregierung der commumtas Siciäae landete schließlich Peter III. Ende August 1282 in Trapani. Er war zuvor von den aufständischen Sizilianern um Hilfe und Unterstützung gebeten worden und übernahm nun die Regierung der Insel. Seine Ansprüche auf Sizilien leitete er aus der Ehe mit Konstanze ab, der Erbtochter des ehemaligen Stauferkönigs Manfred. Die Intrigenthese stützt sich vor allem auf drei sizilianische Chroniken, die aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts stammen sollen5. In ihnen erscheint der salernitanische Arzt Johann von Procida, eine tatsächlich existierende Person, als Wegbereiter des geheimen Bündnisses zwischen aragonesischem König und byzantinischem Kaiser. Johann war nach der Herrschaftsübernahme Karls I. als Anhänger der Ghibellinen an den aragonesischen Hof geflüchtet6. Amari meinte nun nach intensivem Quellenstudium nachweisen zu können, dass die aufständischen Sizilianer keineswegs die Herrschaft eines neuen Königs anstrebten, sondern sich zunächst - um seine Worte zu wählen - „republikanisch" verfassten und eine autonome Selbstregierung zum Ziel hatten7. Die Gründe für die Vesper suchte er allein in einer verfehlten Steuer- und Finanzpolitik der angiovinischen Herrschaft und vor allem in Willkürhandlungen gegenüber den Sizilianern, begangen durch königliche Amtsträger. Die Geschichte von der geheimen politischen Verschwörung sah er als frei erfunden an. Im Anschluss an Amari gelang es Isidora Carini, Otto Cartellieri, Giuseppe La Mantia und Helene Wieruszowsky durch Forschungen in spanischen Archiven, die von Amari vertretene These des spontanen, patriotischen Volksaufstands als alleinige Ursache der Vesper teilweise wieder zu revidieren8. Sie konnten eine intensive Verschwörer- und Agententätigkeit vor Ausbruch der sizilianischen Revolte nachweisen. Diese drei sind folgendermaßen betitelt: „Rebellamentu di Sichilia", „Liber Jani di Procita" und „Leggenda di Messer Gianni di Procida". Sie sind abgedruckt bei Amari, La guerra del Vespro Siciliano, Bd. 3, S. 26-196. 6 Vgl. Steven RUNCIMAN: The Sicilian Vespers: A History of the Mediterranean World in the Later Thirteenth Century, Cambridge 1958. Ebenso Antonio Menniti IPPOLITO: Artikel „Procida, Givanni da", in: LMA, Bd. 7, München 1995. 7 Amari, La guerra del Vespro Siciliano, Bd. 1, S. 191, S. 201 u. S. 259. 8 Isidore CARINI: Gli archivi e le biblioteche di Spagna in rapporto alia storia d'Italia in generale e Sicilia in particulate, 2 Bde., Palermo 1884-1887. Otto CARTEUJERI: Peter von Aragon und die sizilianische Vesper, Heidelberg 1904. Giuseppe La MANTIA: Codice diplomatico dei rei aragonesi di Sicilia Pietro I, Giacomo, Federico II, Pietro II e Ludovico dalla rivoluzione siciliana del 1282 sina al 1355, Bd. 1 (1282-1290), Palermo 1917. Ders., Studi sulla Rivoluzione siciliana del 1282, in: Archivio Storico per la Sicilia 6 (1940), S. 97-140. Helene WIERUSZOWSKY: Politische Verschwörungen und Bündnisse König Peters von Aragon gegen Karl von Anjou am Vorabend der sizilianischen Vesper, in: QFLAB 37 (1957), S. 136-191. Dies.: Zur Vorgeschichte der sizilianischen Vesper, in: QFLAB 52 (1972), S. 797-814. Diese und weitere Historiker auch in Tramontanes Monographie zur Rezeptionsgeschichte der Vesper vom Mittelalter bis in die jüngste Vergangenheit, ders., Gli anni del Vespro, S. 40f. 5

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Zentrum dieser Intrige sei der aragonesische Hof gewesen. Während Cartellieri versuchte, die Volksaufstandsthese mit der Intiigcnthese in Einklang zu bringen, war Wieruszowsky die konsequenteste Verfechterin der Intrigenthese. Für sie war allenfalls der unmittelbare Beginn des Vesperaufstands in Palermo eine von Spontanität getragene Erhebung9. Diese Auffassung übernahmen auch einige Vertreter der byzantinischen Geschichtsforschung, stellten aber Michael Palaiologos als deren Initiator in den Mittelpunkt10. Andere Byzantinisten bestritten wiederum einen herausragenden Beitrag des Palaiologen zum Gelingen des sizilianischen Aufstands11. Steven Runciman unternahm mit seiner 1958 publizierten Monographie über die Sizilianische Vesper einen weiteren Versuch, Komplott mit Volksaufstand zu vereinen12. Einen die Diskussion erneut anheizenden Beitrag legte Peter Knoch 1968 vor13. Knoch meinte anhand der Testamente Peters III. vom Juni 1282 und vom November 1285 darlegen zu können, dass es nicht die Absicht des Königs war, Sizilien für das Haus Aragon zu gewinnen. Er bestreitet in seinem Aufsatz zwar nicht die jahrelangen diplomatischen Vorbereitungen zur Eroberung der Insel, aber spätestens nach dem Ausbruch der Rebellion Ende März 1282 und der Entstehung der communitas SiciHae seien diese als gescheitert angesehen worden. Der König habe sich daher erst kurzfristig, nach dem Hilfegesuch der Sizilianer, zur Inbesitznahme der Insel entschlossen. Angezweifelt wurde Knochs These von Hans Schadek, der das Schweigen des Testaments von 1282 zur Sizilienfrage mitnichten als Verzicht auf die Erbansprüche Peters III. weitete. Vielmehr deutete er diesen Sachverhalt als einen politischen Schachzug, durch den Peter einer drohenden Exkommunikation im Eroberungsfall habe entgehen wollen, um sich auf diesem Wege auf jeden Fall sein christliches Begräbnis zu sichern. Der Kirchenbann sei zu befurchten gewesen, da Papst Martin IV. die Interessen Karls von Anjou unterstützte14. In jüngerer Zeit widmete sich der französische Mediävist Henri Bresc der Sizilianischen Vesper in erster Linie aus einer sozialgeschichtlichen Perspektive15. Er unterWieruszowsky, Politische Verschwörungen, S. 175. Colin CHAPMAN: Michel Paleologue restaurateur de l*Empire byzandn (1261-1282), Paris 1926. Georg OSTROGORSKY: Byzantinische Geschichte 324-1453, München 1965. 11 Deno J. GENEAKOPLOS: Emperor Michael Palaeologus and the West (1258-1282), Cambridge, 1959. 12 Runciman, The Sicilian Vespers. Die deutsche Übersetzung erschien 1959 in München unter dem Titel „Die Sizilianische Vesper: eine Geschichte der Mittelmeerwelt im Ausgang des 13. Jahrhunderts". 13 Peter KNOCH: Die letztwillige Verfugungen König Peters III. von Aragon und die Sizilien-Frage, in: DA 24 (1968), S. 79-117. 14 Hans SCHADEK: Tunis oder Sizilien? Die Ziele der aragonesischen Mittelmeerpolitik unter Peter III. von Aragon, in: Spanische Forschungen der Görresgesellschaft 28 (1975), S. 335-349. l s Henri BRESC: „1282": Classes sociales et revolution nationale, in: La sodetä mediterranea all'epoca del Vespro. XI Congresso di storia della Corona d'Aragon, Bd. 2, Palermo 1983, S. 241258. Die im Zusammenhang mit diesem Kongress in Palermo publizierten Beiträge sind in vier Bänden erschienen. Wie der Titel andeutet, dient die Sizilianische Vesper hier eher zur Bezeichnung eines bestimmten zeitlichen Abschnittes. In einer Vielzahl kleinerer Aufsätze werden politische, 9

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sucht die „classes sociales" auf der Insel, interpretiert die Vesper als „revolution nationale" und spricht von der communitas Siäüat als „une Suisse mediterraneenne fugitive", die er im Vergleich mit den großen europäischen Monarchien als „un type noveau d'Etat, confederal et republicain" ansieht. Allerdings stellt er diese Aussagen lediglich schlagwortartig in den Raum und arbeitet anhand des Quellenmaterials nicht heraus, was konkret darunter zu verstehen ist. Seine zentrale These gilt einmal mehr der Frage nach den Ursachen des Vesperaufstandes. Bresc steht dabei durchaus in der Tradition einiger französischer Historiker des 19. Jahrhunderts, namentlich Leon Cadier, Paul Durrieu und Alexis Guignard de Saint-Priest16, die mit ihren Werken u. a. auch das Ziel verfolgten, den vermeintlichen Landsmann Karl von Anjou, und mit ihm seine Regierungsweise, von den von Amari erhobenen Vorwürfen zu entlasten. Auch er glaubt nachweisen zu können, dass die in den Quellen allenthalben angeprangerten Übergriffe nicht von den ins Land gekommenen Franzosen, sondern von einheimischen Funktionsträgern begangen worden seien17. Des Weiteren gehe die vielgescholtene „mala signoria"18 Karls von Anjou bereits auf das Herrschaftssystem Friedrichs II. und seiner staufischen Nachfolger zurück19. Zuletzt nahmen sich Andreas Kiesewetter und Philipp M. Schneider der Sizilianischen Vesper und communitas Siäliae an. Kiesewetter tritt in einem Kapitel seiner 1999 erschienenen Dissertation über „Die Anfänge der Regierung Karls II. von Anjou" für die zusammenschauende Betrachtung von Revolte und Intrige ein, widerspricht aber der gängigen Interpretation als Volksaufstand. Für ihn ist die Vesper eine, wie er schreibt, vom „Adel" getragene Erhebung. So habe der Adel „das Volk nur als Werkzeug zur Ausführung seiner Pläne" benutzt. Diese Pläne seien ein autonomes Sizilien gewesen. Erst als die angiovinische Rückeroberung gedroht habe, hätten diejenigen Adligen, die einst in enger Verbindung zu den Staufern standen, den Kontakt zu Peter

wirtschaftliche und soziale Aspekte in ihrer den westlichen Mittelmeerraum umfassenden Dimension beleuchtet. Das eigentliche historische Ereignis der Vesper steht dabei nicht im Mittelpunkt.Weiterhin ders.: Un monde mediterraneen. Economie et societe en Sicile 1300-1500, 2 Bde., Palermo 1986. Ders.: Politique et societe en Sicilie, Xlle-XVe siecles, Norfolk 1990. Ders. / Genevieve Bresc-BAUTIER: Palerme 1070-1492. Mosaique de peuples, nation rebelle: la naissance violente de l'identite sicilienne, Paris 1993. Ders.: La „mala signoria" ou l'hypotheque sicilienne, in: L'etat angevin. Pouvoir culture et societe entre Xllle et XlVe siecle, Rom 1998, S. 577-599. 16 Leon CADIER: Essai sur l'administration du Royaume de Sicile sous Charles I et Charles II d'Anjou, Paris 1891. Paul DURRIEU: Les archives Angevines de Naples. Etude sur les registres du roi Charles Ier (1265 - 1285), 2 Bde. (Bibliotheque des Ecoles fra^aises d'Athenes et de Rome 46 u. 51), Paris 1886/1887. Alexis Guignard de SAINT-PRIEST: Histoire de la conquete de Naples par Charles d' Anjou frere de Saint Louis, 4 Bde., Paris 1847-1849. 17 Bresc spricht von „les Vepres antiamalfitaines", ders.,,,1282", S. 247-252, insbesondere S. 250. Dazu schon früher Karl Eduard Sthamer, vgl. Kap. 1.3.1, Anm. 3, und Kap. 6.1, Anm. 34. 'β VgL Kap. 1.1, S. 13, Anm. 45. 19 Bresc, La „mala signoria" ou l'hypotheque sicilienne, S. 578.

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III. gesucht20. Schneider zeigt zwar in seinem 2010 veröffentlichen Aufsatz deutlich die historische Tiefendimension der communitas Siätiae auf, indem er die Vorgänge auf Sizilien von 1254 bisl256 mit einbezieht. Allerdings charakterisiert er die sizilianische Regionalkommune als Städtebund, womit er die im Überlieferungsmaterial deutlich vorgetragene bäuerlich-landwirtschaftliche Dimension der Erhebung sowie die national-regionalkommunale Gruppenidentittät ihrer Akteure verkennt und sich untaugliche Vergleichspartner, nämlich andere Städtebünde, ins Boot holt21. I.2.2 Flandern: Nikolaas Zannekin und der flämische Freiheitekampf im Mittelalter Aus historiographischer Perspektive liegen die Ereignisse, die sich zwischen 1323 und 1328 in der Grafschaft Flandern um die dortige Regionalkommune entwickelten, im Schatten eines Machtkampfes, der sich zu Beginn des 14. Jahrhunderts zwischen dem flämischen Grafenhaus und dem französischen König Philipp IV. (dem Schönen) zutrug. Stationen dieser Auseinandersetzung waren die königliche Okkupation und anschließende Inbesitznahme der Grafschaft im Jahr 1300 sowie der darauffolgende Aufstand der grafentreuen Flamen in der „Brügger Mette"22 von 1302. Dieser Widerstand der Grafenanhänger fand sodann in der für sie siegreichen „Goldsporenschlacht" von Kortrijk (Courtrai) im Sommer 1302 seinen Höhepunkt. Diese Ereignisse sind bis auf den heutigen Tag die wichtigste Quelle fur die Konstruktion der flämischen Nationalidentität Sie sind nach wie vor mythisch verklärt und mit einer entsprechenden Symbolik behaftet So ist der Jahrestag der Schlacht von Kortrijk, der II. Juli, offizieller Feiertag der Vlaamse Gemeenschap (Flämischen Gemeinschaft), das heißt der institutionellen Vertretung der niederländischsprachigen Belgier, und im Jahr 2002, als Brügge den Titel „Kulturhauptstadt Europas" innehatte, inszenierte die Stadt das Gedenken an 1302 aus Anlass des 700-jährigen Jubiläums in Form eines flämisch-europäischen Festtages. Diese flämisch-nationale Aufladung jener mittelalterlichen Vorgänge reicht bis in die Gründungszeit des modernen belgischen Staates zurück und ist eng mit dem nach wie vor hochaktuellen Sprachenkonflikt in Belgien verknüpft. Die Steilvorlage dafür lieferte der 1839 veröffentlichte Historienroman

Andreas KIESEWETTER: Die Anfänge der Regierung König Karls II. von Anjou (1278-1295). Das Königreich Neapel, die Grafschaft Provence und der Mittelmeerraum am Ausgang des 13. Jahrhunderts, Husum 1999. Die Zitate auf S. 88. 21 Philipp M. SCHNEIDER: Die Siziianische Vesper und die communitas Siciliae von 1282. Über den Versuch eines sizilianischen Städtebundes, in: David ENGELS / Lioba GEIS / Michael KLEU (Hgg.): Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Herrschaft auf Sizilien von der Antike bs zum Spätmittelalter, Suttgart 2010, S. 337-350. 22 Diese Bezeichnung ist in Anlehnung an die Sizilianische Vesper zu verstehen und stammt aus dem 19. Jahrhundert, dazu vgl. Marc RYCKAERT: Artikel „Brügge, Mette von", in: LMA, Bd. 2, München 1983. 20

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„De Leeuw van Viaendeten" von Henri (Hendrik) Conscience23. Die Auswirkungen dieser Nationalisierung jener Vorgänge zu Beginn des 14. Jahrhunderts reichen bis in die gegenwärtige Geschichtswissenschaft. Auch die in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehenden Geschehnisse zwischen 1323 und 1328 werden von dieser Meistererzählung des flämischen Freiheitskampfes vereinnahmt. Sowohl die populärwissenschaftliche als auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Ereignissen in der Grafschaft Flandern zwischen 1323 und 1328, die nicht immer leicht voneinander zu unterscheiden sind, setzte mit der Publikation der Quellenedition „Recueil des chroniques de Flandre" durch Joseph Jean de Smet im Jahr 1837 ein24. De Smet nahm in seine Sammlung unter anderem das „Chroncion comitum Flandrensium" auf, das den ausfuhrlichsten Bericht über den flämischen Aufstand liefert25. In den anschließenden Jahren und Jahrzehnten wurde aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen die im Chronicon erwähnte Figur des aufständischen Hauptmannes Nikolaas Zannekin zur Integrationsfigur der modernen historischen Deutungen jener fünf Jahre des 14. Jahrhunderts, obwohl in der Erzählung des Chronicons auch andere Hauptmannsfiguren der aufständischen Flamen eine wichtige Rolle spielen. Erstmals erscheint Zannekin 1844 als Namensgeber eines politischen Vereins, der „Volks Maetschappy van Zannequin", der ihn in einem Manifest als Streiter für soziale Gerechtigkeit instrumentalisierte26. Zehn Jahre später feierte ihn Joseph Kervyn de Lettenhove im dritten, 1850 erschienenen Band seiner „Histoire de Flandre" als Kämpfer für nationale Selbstbestimmung. De Lettenhove sah Zannekin als Anführer der „Kerels", nach seinem Verständnis jene freien, bäuerlichen Küstenbewohner Flanderns, die von den Sachsen und Friesen abgestammten und die die Franken, und später Franzosen, zu unterwerfen getrachtet hätten27. Der Begriff der Kerels geht auf das sogenannte „Kerelslied" zurück, ein Spottlied auf Bauern, das sich in der berühmten, am Ende des 14. Jahrhunderts entstandenen „Gruuthuse Handschrift" überliefert hat und das sich angeblich auf den Kampf gegen eben jene aufständischen flämischen Bauern zwischen 1323 und 1328 beziehen soll. Für diesen postulierten Zusammenhang gibt es jedoch keinerlei harten Beweise28. Dessen un-

Ausfuhrlich dazu Gevert H. NÖRTEMANN: Im Spiegelkabinett der Historie. Der Mythos der Schlacht von Kortrijk und die Erfindung Flanderns im 19. Jahrhundert, Berlin 2002. Eine Kurzdarstellung in ders.: ImagiNaAo». Nationale Mythologie und literarische Selbststilisierung in Belgien im 19. Jahrhundert Henri Conscience und die Schlacht der Goldenen Sporen, in: Historische Anthropologie 9 (2001), S. 27-53. 24 Joseph Jean de SMET: Recueil des chroniques de Flandre / Corpus chronicorum Flandriae, 4 Bde., Brüssel 1837-1865. " Ebd., Bd. 1, Brüssel 1837, S. 34-257. 26 Jacques MERTENS: Zannekin en de evolude van het beeld van een volksheld, in: De Franse Nederlanden (1978), S. 24-37, S. 30 u. S. 33. 27 Joseph Marie Bruno Constantin Kervyn de LETTENHOVE: Histoire de Flandre, Bd. 3, 1304-1384, Brüssel 1847, S. 118-122. 28 Vgl. zum Lied David NICHOLAS: Medieval Flanders, New York 1992, S. 253f, und Mertens, Zannekin en de evolutie van het beeld van een volksheld, S. 34. 23

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geachtet kam es in den nachfolgenden Jahrzehnten zu einer regelrechten KerelsRomantik in den niederländischsprachigen Teilen Belgiens29. Selbst Henri Pirenne, obwohl er den Konflikt um die commumtas Flandrie als erster Historiker klar als einen sich an sozialen Fragen entzündenden Aufstand von Bauern und Städtern erkannte, konnte sich nicht vollständig dieser nadonalistischen KerelsDeutung entziehen: „La Jacquerie fut un soulevement desespere de malheureux ruines et foules par les guerres: la rebellion flamande eut pour auteur un peuple sain et robuste, compose pour la plus grande partie de petits proprietaires et de fermiers libres. Le paysan flamand, tel que nous le decrit le Kerelslied, se trouve aux antipodes du Jacques affame et deguenille"30. Das Zitat stammt aus dem ausfuhrlichen Vorwort seiner Quellenedition zum flämischen Aufstand, die er im Jahr 1900 publizierte31. Dennoch können dieses Werk und das entsprechende Kapitel in seiner ab 1900 mehrmals aufgelegten „Histoire de Belgique", die im Übrigen zuerst 1899 im Rahmen der „Geschichte der Europäischen Staaten" in deutscher Sprache unter dem Titel „Geschichte Belgiens" erschien32, als die ersten Interpretationen der flämischen Ereignisse in den Jahren von 1323 bis 1328 gelten, die wissenschaftlichen Maßstäben genügen. Nur wenig galt Pirennes letztendlich ausgewogene Sichtweise zum 600-jährigen Jubiläum der Schlacht von Cassel, in der im Jahr 1328 nicht nur Nikolaas Zannekin den Tod fand, sondern zugleich ein flämisch-kommunales Aufgebot durch ein flämisch-französisches Ritterheer vernichtend geschlagen wurde, was das Ende der gesamtflämischen Kommunebewegung bedeutete. Es erfolgte eine neue Welle der Verehrung Zannekins. Ihm wurde nicht nur eine nationalistisch gefärbte Biographie gewidmet, sondern zu seinem Gedenken stellte man in seinem Heimatdorf Lampernisse ein an eine mittelalterliche Grabplatte erinnernden Gedenkstein an der Dorfkirche auf33. Es bedurfte erst eines niederländischen Historikers, um eine von diesen flämisch-nationalisdschen Deutungen unbeeinflusste Untersuchung zu bekommen. Frederick Willem Nicolaas Hugenholtz veröffentlichte 1949 seine Dissertationsschrift „Drie boerenopstanden uit de veertiende eeuw". In ihr vergleicht er, eventuell von

Mertens, Zannekin en de evolutie van het beeld van een volksheld, S. 34f. Henri PlRENNE: Le soulevement de la Flandre maritime de 1323-1328. Documents inedits, Brüssel 1900, S. XXXIV. 3· Ebd. 32 Henri PlRENNE: Geschichte Belgiens, 4. Bde, Gotha 1899-1913. Zum hier im Mittelpunkt stehenden Aufstand vgl. Bd. 2, der 1902 erschien. Die französische Ausgabe ders.: Histoire de Belgique, 7 Bde, Brüssel 1900-1932. Der flämische Aufstand wird wiederum in Bd. 2 abgehandelt, ebenfalls 1902 publiziert. Das letztlich nationale Deutungen für Pirenne keine Rolle bei der Interpretation der Ereignisse spielten, mag folgendes Zitat belegen: „Die Revolution des vierzehnten Jahrhunderts vollzieht sich hingegen auf dem sozialen Gebiete. Jedes Nationalbewusstsein ist ihr fremd und diejenigen, welche sich an ihr beteiligen, haben keineswegs den politischen Zustand der Niederlande verändern und ihre verschiedenen Territorien zu einem gemeinsamen Vaterlande vereinigen wollen", Pirenne, Geschichte Belgiens, Bd. 1, S. 408. 33 Mertens, Zannekin en de evolutie van het beeld van een volksheld, S. 35. 29

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Pirenne inspiriert34, die von ihm als Bauernaufstand interpretierten flämischen Ereignisse mit der Jacquerie 1358 und dem englischen Bauernaufstand von 1381. In seiner breit angelegten Untersuchung, in der er auch an sozial- und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen interssiert ist, nimmt er jedoch keine grundlegende Neubearbeitung des überlieferten Textmaterials vor35. In Belgien selbst erschien erst wieder 1978, aus Anlass des 650-jährigen Jubiläums des Zannekin-Todes, ein Beitrag zu dieser Periode der flämischen Geschichte, diesmal als Sammelband36. In den Beiträgen werden unter anderem geographiehistorische und archäologische, ereignis- und militärgeschichtliche sowie sozial- und rezeptionsgeschichtliche Fragen auf einem eher populärwissenschafitlichen Niveau erörtert. Eine kritische Reflektion der modernen Beschäftigung mit der Person Zannekins und den Ereignissen um den vermeintlichen Bauernaufstand seit dem 19. Jahrhundert findet nicht statt. Vor dem Hintergrund des Publikationsanlasses mag dies auch nicht weiter verwundern. So untersucht beispielsweise Marc Boey den Zusammenhang zwischen Zannekin und dem Kerelslied als ein Motiv der Flämischen Bewegung, zieht jedoch ein ernüchterndes Fazit: „Sehen wir die Flämische Bewegung [...] in einer breiten Perspektive, als den Willen, die Eigenart der Flämischen Gemeinschaft zu bewahren, ihre Selbstverwaltung zu verwirklichen und in dieser Gemeinschaft das Wohl ihrer Mitglieder zu befördern, dann ist Zannekin unzweifelhaft eine begeisternde Figur, weil man nicht leugnen kann, dass ihn soziale Beweggründe geleitet haben"37. Demnach scheint auch 1978 der Missbrauch der mittelalterlichen Vergangenheit und ihrer vermeintlichen Protagonisten für politische Fragen der Gegenwart alles andere als überwunden, sondern eher zentrales Motiv der Beschäftigung mit dieser Vergangenheit gewesen zu sein. Tatsächlich wurde erst wieder 1992 eine ernsthafte wissenschaftliche Arbeit zu den hier interessierenden Ereignissen publiziert, die an das Niveau der Untersuchungen von Pirenne und Hugenholtz anknüpft. Sie stammt vom belgischen Historiker Jacques Sabbe und bietet auf breitester Quellenbasis eine detaillierte Aufarbeitung der ereignisgeschichtlichen Zusammenhänge jener Jahre von 1323 bis 132838. Sabbe kann klar herausarbeiten, dass der Widerstand gegen Graf und König keinesfalls nur von 34 Pirenne parallelisiert den flämischen Aufstand sowohl mit der Jacquerie als auch dem englischen Bauernaufstand von 1381, vgl. zur Jacquerie das Zitat auf der vorherigen Seite, zum englischen Aufstand ders., Pirenne, Le soulevement de la Flandre maritime, S. XXXVI. 35 Frederick Willem Nicolaas HUGENHOLTZ: Drie boerenopstanden uit de veertiende eeuw. Viaanderen, 1323-1328. Frankrijk, 1358. England, 1381. Onderzoek naar het opstandig bewustzijn, Haarlem 1949. 36 Nikolaas Zannekin en de Slag bij Kassel 1323-1978. Bijdrage tot de Studie van de 14de eeuw en de landelijke geschiedenis van de Westhoek, Diksmuide 1978. 37 Marc BOEY: Zannekin en het Kerelslied: motief in de Vlaamse Beweging, in: Nikolaas Zannekin en de Slag bij Kassel 1323-1978. Bijdrage tot de Studie van de 14de eeuw en de landelijke geschiedenis van de Westhoek, Diksmuide 1978, S. 185-195. Das Zitat auf S. 193. 38 Jacques SABBE: Viaanderen in opstand 1323-1328. Nikolaas Zannekin, Zeger Janszone en Willem De Deken (Vlaamse Historische Studies 7), Brügge 1992.

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Bauern getragen wurde, womit er die allgemein vertretene These vom flämischen Bauernaufstand widerlegt Ebenfalls gibt es keinen Zannekin-Kult mehr. Sabbe versäumt lediglich, sich ausdrücklich von der national bis nationalistisch eingefärbten Meistererzählung vom Freiheits- und Unabhängigkeitsstreben der mittelalterlichen Flamen zu distanzieren. Zumindest leichtes nationales „Rauschen" durchzieht dementsprechend auch seine Ausführungen39. Dennoch ist sein Buch das aktuelle Standardwerk über den flämischen Aufstand. Die jüngste Untersuchung zu ,1323 bis 1328' stammt vom US-amerikanischen Historiker William H. TeBrake. Im Gegensatz zu Sabbe versucht TeBrake die Ereignisse in einen größeren Kontext zu stellen, in dem er sie erneut als einen spätmittelalterlichen Bauernaufstand interpretiert, den er, von einer sozialhistorischen Perspektive ausgehend, allgemein in die mittelalterlichen Widerstandsbewegungen der westeuropäischen Bauern versucht einzuordnen. Zur Untermauerung seiner Thesen spielt er aber nicht bloß die Rolle der flämischen Klein- und Großstädte explizit herunter, ja, er unterstellt ihren Akteuren gleichsam Verrat an der Sache der Bauern. Nicht nur, dass er auf diese Weise die überaus gängige Meistererzählung vom mittelalterlichen Bauern als ewigem Opfer herrschaftlicher Willkür bedient, gleichzeitig - und wohl völlig unbewusst - zeichnet er damit letztlich wieder das viel beschworene und nationalistisch eingefarbte Bild von den wackeren flämischen Kerels nach. Ganz in diese Linie passt dann auch, dass TeBrake bewusst solches Quellenmaterial unterschlägt, das zweifelfrei die Beteiligung von Städtern an den Unruhen in den Jahren von 1323 bis 1328 belegt«. 1.2.3 Schweiz: Die Staatsgründung im Mittelalter Ausgangspunkt für die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Ausbildung der schweizerischen Eidgenossenschaft im 13. und 14. Jahrhundert waren die zwischen 1786 und 1805 publizierten „Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft" des aus Schaffhausen stammenden Johannes von Müller41. Müller wiederum ließ sich vom 1734 bis 1736 in gedruckter Fassung erschienenen, aber bereits 1571 abgeschlossenen „Chronicon Helveticum" des Aegidius Tschudi inspirieren. Er entwarf die Geschichte der Schweiz als einer Nation mit individuellem Charakter und Nationalgeist, die ihren festen Platz im Kreis der europäischen Nationen habe, und pries die idealisiert dargestellte mittelalterliche Eidgenossenschaft als vorbildhaft für die Gegenwart Der überragende Erfolg seines epenhafte Züge tragenden Werkes auch Schiller nahm es für seinen „Wilhelm Teil" zur Hand - beruhte wohl vor allem darauf, dass er das im kollektiven schweizerischen Traditionsbewusstsein verankerte μ Vgl. Kap. 4.2, S. 158-160. 40 William H. TEBRAKE: Α Plague of Insurrection. Popular Politics and Peasant Revolt in Flanders, 1323-1328, Philadelphia 1993. Zu seinen Schlussverfolgerungen und der Unterschlagung vgl. Kap. 3.2, S. 115f. 41 Johannes von MOLLER: Der Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft, Leipzig 1786-1805.

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Bild vom Werden und Wachsen der Eidgenossenschaft, einschließlich der TeilGeschichte, in seine Deutung der Vergangenheit eingearbeitet hatte42. Als erster im wissenschaftlichen Sinn moderner Historiker stellte Joseph Eutych Kopp dieses Geschichtsbild in seinen Arbeiten ab 1835 in Frage43. Ganz in positivistischer Manier ließ er allein die urkundliche Überlieferung als authentisch gelten. Tatsächlich sind die Datierungen der Urkunden, vor allem die des ersten überlieferten Bundes der drei Waldstätte von 1291, nicht mit jenen Daten in Deckung zu bringen, die die spätmittelalterliche und vor allem frühneuzeitliche Chronistik für die von ihr überlieferten Geschehnisse um die Gründung der mittelalterlichen Eidgenossenschaft anbietet. Noch viel schwerer wiegt, dass die urkundliche Uberlieferung in keiner Weise von einem Freiheitskampf gegen die Habsburger berichtet. Daraus zog Kopp den Schluss, dass das seit dem 15. Jahrhundert entstandene Befreiungsnarrativ, das heißt die Geschichte um den Vogt Geßler, den Stauffacher, Wilhelm Teil und den Burgenbruch, ins Reich der Sagen zu verweisen sei. Trotz einer im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts um sich greifenden Popularisierung des Stoffes der Befreiungstradition in allen erdenklichen Bereichen des Lebens, sogar Dampfschiffe auf dem Genfer- und Vierwaldstätter See wurden nun nach Teil benannt, setzte sich nach heftigen Debatten in den Historikerkreisen die kritische Sichtweise in Anlehnung an Kopp durch. Ausdruck dafür mag die am Ausgang des Jahrhunderts im Rahmen der „Geschichte der Europäischen Staaten" erschienene Schweizergeschichte von Johannes Dierauer44 oder das direkt zur 600-Jahr-Feier des Bundes von 1291 im Auftrag des schweizerischen Bundesrates herausgebende Werk Wilhelm Oechslis „Die Anfange der Schweizerischen Eidgenossenschaft" sein45. In diesem Sinn weniger radikal war Karl Dändliker, der in seiner zwischen 1884 und 1887 publizierten „Geschichte der Schweiz" immerhin noch versuchte, urkundliche Überlieferung und Befreiungstradition zu versöhnen, indem er bei letzterer nur das verwarf, was sich als eindeutig falsch erwiesen hatte46. Gemeinsam ist allen drei Arbeiten eine von bürgerlich-liberalem Gedankengut getragene und dementsprechend am Guy P. MARCHAL: Das Mittelalter und die nationale Geschichtsschreibung der Schweiz, in: Susanna BURGHARTZ / Hans-Jörg GILOMEN (Hgg.): Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift Frantisek Graus, Sigmaringen 1992, S. 91-108, S. 94, und ders.: Die „Alten Eidgenossen" im Wandel der Zeiten. Das Bild der frühen Eidgenossen im Traditionsbewusstsein und in der Identitätsvorstellung der Schweizer vom 15. bis in das 20. Jahrhundert, in: Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft. Jubiläumsschrift 700 Jahre Eidgenossenschaft, Bd. 2, Gesellschaft - Alltrag - Geschichtsbild, Ölten 1990., S. 309-403, S. 350f. Allgemein zum schweizerischen Geschichtsbewusstsein und seiner historischen Entwicklung ders.: Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität, Basel 2006. Zu von Müller ebd., S. 81 f. 43 Joseph Eutych KOPP: Urkunden zur Geschichte der eidgenössischen Bünde, Luzern 1835. Ders.: Geschichte der eidgenössischen Bünde, Leipzig 1845-1862. 44 Johannes DIERAUER: Geschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 5 Bde., Gotha 18871917. 45 Wilhelm OECHSLI: Die Anfange der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 1891. 46 Karl DÄNDLIKER: Geschichte der Schweiz mit Rücksicht auf die Entwicklung des Verfassungsund Kulturlebens von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, 3 Bde., Zürich 1884-1887. 42

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vermeintlich staatsghindenden Friedens-, aber vor allem Freiheitsstreben der Alten Eidgenossen im Kampf gegen die Habsburger orientierte Ausdeutung der mittelalterlichen Vorgänge um die Conjuratio von 1291. Das Telos dieser im Mittelalter eingeleiteten Entwicklung ist in allen drei Texten der schweizerische Bundesstaat mit seiner 1848 in Kraft gesetzten Verfassung. Ein Ausrufezeichen in Bezug auf die Erforschung der Anfange der mittelalterlichen Eidgenossenschaft setzte erst wieder Karl Meyer 1927 in seiner „Urschweizer Befreiungstradition", in der er, den Stoff der Befreiungsgeschichte im Kern als Bericht über historische Tatsachen ansehend, den Versuch unternimmt, die sich eigentlich widersprechenden Datierungen und inhaltlichen Aussagen der chronikalischen und der urkundlichen Überlieferung zu vereinbaren47. Seine ganze Schärfe gewinnt das von Meyer gezeichnete Bild der mittelalterlichen Vergangenheit der Schweiz erst, wenn man seinen Aufsatz „Italienische Einflüsse bei der Entstehung der Eidgenossenschaft" berücksichtigt48. In ihm hatte er bereits 1920 die These aufgestellt, das fur das Mittelalter Singulare an der Eidgenossenschaft, nämlich „ihre demokratische Geisteshaltung" und ihr ländlich-bäuerlicher Aufbau, sei auf die „kommunale Ideenwelt" zurückzuführen. Die „kommunale Idee" wiederum sei, über die Gotthardroute aus Italien kommend, wo sich „der Selbstbestimmungswille bürgerlicher und bäuerlicher Verbände" im 11. Jahrhundert durchgesetzt habe, in die Gebiete der Innerschweiz eingesickert49. Die italienische Kommunebewegung — und somit natürlich auch die schweizerische - war für ihn in erster Linie eine Freiheitsbewegung, die das Ziel hatte, die persönliche Freiheit des Einzelnen und die politische Autonomie der Gemeinde durchzusetzen. Resümierend stellt er fest, nachdem er den Siegeszug der italienischen Signorie versucht hatte zu erklären: „So blieben die partikularistisch-demokratischen Gemeinwesen Italiens nur kurzlebige Übergangsformen, Schrittmacher für den persönlich-absolutistischen Großstaat der neueren Jahrhunderte. Einzig in der Schweiz hat diese Übergangsform sich kontinuierlich erhalten. Die Eidgenossenschaft ist heute das einzige, letzte Denkmal einer bedeutsamsten Geistesbewegung, des ländlichkommunalen Staatsgedankens des mittelalterlichen Europas"50. Als sich ab den dreißiger Jahren in der Schweiz als Antwort auf die faschistische und nationalsozialistische Bedrohung und vor dem Hintergrund des Versagens der westlichen Demokratien gegenüber dieser Herausforderung die sogenannte Geistige Karl MEYER: Die Urschweizer Befreiungstradition in ihrer Einheit, Überlieferung und Stoffwahl. Untersuchungen zur schweizerischen Historiographie des 15. und 19. Jahrhunderts, Zürich 1927. Eine zusammenfassende Version ders.: Die Gründung der Eidgenossenschaft im Lichte der Urkunden und Chroniken, in: Karl Meyer Aufsätze und Reden, Zürich 1952, S. 94-129. Eine junge, aber etwas skurrile Gegendarstellung stammt von Paul WYRSCH-lNEICHEN: Die Befreiungstradition führte in die Irre, in: Der Geschichtsfreund. Mitteilungen des Historischen Vereins der Fünf Orte Luzern, Uri, Schwyz, Unterwaiden ob und nid dem Wald und Zug 152 (1999), S. 127-148. 48 Karl MEYER: Italienische Einflüsse bei der Entstehung der Eidgenossenschaft, in: Karl Meyer Aufsätze und Reden, Zürich 1952, S. 33-82. 49 Ebd., S. 34f. 50 Ebd., S. 81. 47

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Landesverteidigung als eine Art Notstandskulturpolitik etablierte51, entsprach das Geschichtsbild Meyers genau diesen neuen Anforderungen. Er übertrug seine Interpretation der Ereignisse von 1291 „einem erratischen Block gleich"52 in die Gegenwart und versuchte auf diesem Weg, dem völkischen Nationalismus und dem Führerstaat die vermeintlich Schweizer Grundwerte von nationaler Vielfältigkeit, föderaler und direkter Demokratie sowie der Freiheit des Menschen entgegenzuhalten, die seit 650 Jahren organisch im Schutz der Alpen gewachsen seien53. Auch jetzt bemühte er wieder den Denkmalcharakter der Schweiz, ließ allerdings das ländlich-bäuerliche Element in den Hintergrund treten: „Die Schweizerische Eidgenossenschaft ist ja das letzte Denkmal einer großen abendländischen Epoche, der hoch- und spätmittelalterlichen Epoche der Kommunenfreiheit", und weiter, „das einzige Denkmal jener stolzen Freiheitsbewegung, jener zweiten demokratischen Welle der Weltgeschichte nach der hellenischen"54. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg sind zweierlei Tendenzen in der Beschäftigung mit den Anfangen der Eidgenossenschaft zu beobachten: Zunächst einmal verlor die Lesart der Befreiungsgeschichte als historischer Tatsachenbericht gänzlich an Boden. Sodann wandelte sich die geschichtswissenschaftliche Interpretation der innerschweizerischen Geschehnisse im 13. und 14. Jahrhundert grundlegend. Die Anfänge der mittelalterlichen Eidgenossenschaft werden heutzutage nicht mehr als Freiheitskampf gegen die Habsburger, sondern allein als Ausdruck einer Friedensbewegung angesehen, die Conjuratio von 1291 entsprechend als Landfriedensbündnis55. Zugleich setzte sich damit bei einigen Historikern die Erkenntnis durch, dass der Bund der drei Waldstätte mitnichten der Ursprung einer staatsbildenden Entwicklung gewesen sein kann, da es solche Landfriedensbündnisse in Form von Städtebünden ebenso in anderen Gebieten der späteren Eidgenossenschaft gegeben hat. So spricht etwa Guy P. Marchai von einer „burgundischen Eidgenossenschaft", wenn er die Städtebünde in der Westschweiz um Bern meint, die bereits sicher in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts zu datieren sind; oder er verweist auf die Städtebünde des Bodenseeraumes, denen Zürich regelmäßig angehörte56. Das über Jahrzehnte gültige Bild von einem ersten Bündnis der „Urkantone" Uri, Schwyz und Unterwaiden, dem sich Zur Geistigen Landerverteidigung in der schweizerischen Geschichtswissenschaft vgl. Marchai, Schweizer Gebrauchsgeschichte, Kap. 1.6, insbesondere S. 148-154. 52 Marchai, Das Mittelalter und die nationale Geschichtsschreibung der Schweiz, S. 104. 53 So in einer Rede nachzulesen, die Meyer am 22. September 1938 auf einer öffentlichen Kundgebung der Freisinnigen Partei der Stadt Zürich vor dem Hintergrund der Sudetenkrise hielt, ders.: Das Gebot der Stunde. Die internationale Lage und wir, in: Karl Meyer, Aufsätze und Reden, Zürich 1952, S. 460-474. μ Ebd., S. 466f. 55 Hans Conrad PEYER: Die Entstehung der Eidgenossenschaft, in: Handbuch der Schweizer Geschichte, Bd. 1, Zürich 1972, S. 161-238. Guy P. MARCHAL: Die Ursprünge der Unabhängigkeit (401-1394), in: Geschichte der Schweiz und der Schweizer, Bd.l, Basel 2 1983, S. 105-210. Eine dritte Auflage dieses Buches erschien 2004. 56 Marchai, Die Ursprünge der Unabhängigkeit, S. 164. 51

Forschungsstand

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sukzessive die Stadt- und Landkommunen Luzern, Zürich, Glarus, Zug und Bern angeschlossen hätten, um schließlich so etwas wie einen eidgenössischen ,Staat* zu bilden, gilt inzwischen als überholt. Jüngere Arbeiten zeigen, dass jeder nachmalig eidgenössische Ort in einer Vielzahl von vertraglichen Verpflichtungen unterschiedlichster Qualität eingebunden war. Insbesondere bei den beiden größeren Städten Zürich und Bern blieb das eidgenössische Bündnis mitnichten die einzige außenpolitische Option. Je nach politischer Lage und daraus resultierender Zweckmäßigkeit wählten die politisch Verantwortlichen aus der besagten Vielzahl aus. Zürich beispielsweise unterhielt Verbindungen zu den Reichstädten am Bodensee, zum Kaiser oder sogar zu den habsburgischen Herzögen von Österreich. Daneben ist die jüngere schweizerische Geschichtsforschung sehr bemüht, Disharmonien und Konflikte zwischen den einzelnen eidgenössischen Orten herauszustellen, um die Meistererzählung von jener angeblich bereits im Mittelalter staatlich wohl geordneten schweizerischen Eidgenossenschaft zu entkräften57. Eine weitere Variante zu den vermeintlichen Anfangen der Alten Eidgenossenschaft am Ausgang des 13. Jahrhunderts legte im Übrigen Peter Blickle vor und zwar im Rahmen der Jubiläumsschrift „700 Jahre Eidgenossenschaft"58. Blickle kann darin in überzeugender Weise zeigen, dass der Bund von 1291 allein der Friedenssicherung diente. Weil Blickle jedoch bei der Interpretation der Ereignisse auf seinen Epochenbegriff Kommunalismus zurückgreift, kommen bei ihm - gleichsam durch die Hintertür - der Begriff der Freiheit und alle damit in der Moderne verbundenen Assoziationen als Handlungsmotiv der Urschweizer wieder auf die Tagesordnung. Auch wenn er konstatiert, Freiheit stehe „nicht am Beginn der geschichtlichen Entwicklung der Innerschweiz, sondern an ihrem Ende", oder wenn er etwa das Adjektiv .demokratisch' im Zusammenhang mit der Bewertung der politischen Machtverteilung innerhalb der schweizerischen Kommunen vermeiden und statt dessen durch die Wortschöpfung „kommunaler Parlamentarismus" ersetzt wissen möchte59: Ein wenig scheint das alles nach dem eigentlich schon überwunden geglaubten Metanarrativ vom Schweizer FreiBernhard STETTLER: Die Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert. Die Suchen nach einem gemeinsamen Nenner, Menziken 2004. Ferner vgl. Regula SCHMID: Die schweizerische Eidgenossenschaft - Ein Sonderfall gelungener politischer Integration?, in: Werner MALECZEK (Hg.): Fragen der politischen Integration im mittelalterlichen Europa (VuF 63), Ostfildern 2005, S. 413-448, S. 415f, S. 4 1 8 f und die entsprechend angegebenen Literatur, und Michael JUCKER: Gesandte, Schreiber, Akten. Politische Kommunikation auf eidgenössischen Tagsatzungen im Spätmittelalter, Zürich 2004. Deutlich zum nach wie vor vorhandenen Unbehagen an der klassischen Meistererzählung jüngst Guy P. MARCHAL: Die Schweizer und ihr Mittelalter, II. Warum soll und wie kann das eidgenössische Mittelalter im 21. Jahrhundert weiterhin erzählt werden?, in: Schweizerische Zeitschrift fur Geschichte 59 (2009), S. 119-134. Vgl. weiterhin Thomas MAISSEN: Die ewige Eidgenossenschaft : (wie) ist im 21. Jahrhundert Nationalgeschichte noch schreibbar?, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 59 (2009), S. 7-20. 57

Peter BLICKLE: Friede und Verfassung. Voraussetzungen und Folgen der Eidgenossenschaft von 1291, in: Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft, Bd. 1, Verfassung - Kirche — Kunst, Ölten 1990, S. 15-202. 5' Ebd., S. 93f. Das Zitat auf S. 93. 58

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Einleitung

heitskampf und von der jahrhundertealten, seit dem Mittelalter bestehenden Schweizer Demokratie zu klingen. Nicht gerade zu seiner Entlastung vertritt er ebenfalls die oben skizzierte „Kernthese" und bezeichnet demgemäß die Vertragsbriefe von 1370 und 1393, das heißt den sogenannten Pfaffen- und Sempacherbrief, als Verfassungsbriefe. Wenn er auch diese Titulierung in seinen Ausführungen in Anführungszeichen setzt, beiden Briefen weist er ausdrücklich eine staatsbegründende Rolle zu60. Wohl auch aufgrund der Tatsache, dass sich das Bild vom Befreiungskampf und der mittelalterlichen Staatsgründung der Eidgenossenschaft in der nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit der Schweiz nach wie vor hartnäckig hält, ist mit Blickle - trotz seines unbestritten hohen wissenschaftlichen Niveaus - ein recht versöhnlicher Autor für die Schrift zum 700-jährigen Jubiläum der Eidgenossenschaft gefunden worden. Und selbst für diejenigen Schweizer, die noch immer den Stoff der Befreiungsgeschichte um die Figur des Wilhelm Teil als mittelalterliche Realität ansehen, konnte Blickle zumindest einen kleinen Trost bieten. In die Fußstapfen Karl Meyers tretend, versucht er, aus dem Text der Bündnisurkunde von 1291 die Existenz eines geheimen Schwurbundes nachzuweisen, welcher schließlich durch den Bundesschwur von 1291 neutralisiert worden sei61. Die Parallelen zur Befreiungssage sind evident und sicherlich nicht zufällig. Bekanntlich geht in ihr die geheime Gesellschaft des Stauffachers, die durch den Rütlischwur entstanden und der auch Wilhelm Teil noch vor seinen Apfelschuss beigetreten war, im „offiziellen" Bund der drei Länder auf. Die jüngste Studie, die sich im Gegensatz zu Blickle sehr kritisch mit den tradierten Anfangen der Schweiz auseinandersetzt, stammt von Roger Sablonier62. Er möchte „die politischen und gesellschaftlichen Vorgänge in der Innerschweiz um 1300 in ihren zeitgenössischen Zusammenhängen, Rahmenbedingungen und Ereignissen als Ganzes fassen". Es geht ihm gerade nicht darum, sie als Vorgeschichte der Eidgenossenschaft zu verstehen. Dennoch möchte er eine Antwort darauf finden, was 1291 und in den Jahren danach geschah, wenn nicht die Gründung. Sein Blickwinkel ist ausdrücklich herrschaftsorientiert63. Hervorhebenswert ist Sabloniers Kritik an einigen Schlüsseldokumenten der klassichen eidgenössischen Historiographie. Methodisch angeregt von den Forschungen zu Verschriftlichungsprozessen im Mittelalter, die von einer völlig anderen Kommunikationssituation im Vergleich zu späteren Jahrhunderten ausgehen, kommt er zu einigen spektakulären Neuinterpretationen. So datiert er beispielsweise die vermeintliche eidgenössische Gründungsurkunde von 1291 ins Jahr 130964.

» Ebd., S. 40 u. S. 42. " Ebd., S. 33f. 62 Roger SABLONIER: Gründungszeit ohne Eidgenossenschaft. Politik und Gesellschaft in der Innerschweiz um 1300, Baden 2008. « Ebd., S. 25. M Ebd., S. 163-178, insbesondere die S. 167-172.

Quellen

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1.3 Die Quellen Im Folgenden seien die wichtigsten Quellentexte, auf denen sich die Untersuchung der jeweiligen regionalen Großkommune zur Hauptsache stützt, das heißt narrative Quellen wie Geschäftsschriftgut, aber auch Streitschriften, in aller Kürze vorgestellt 1.3.1 Sizilien Chroniken sind die wichtigsten Informationsträger zur communitas Siciäae. Die ausfuhrlichste Schilderung über die Ereignisse des Jahres 1282 liefert das Werk des Messinesen Bartholomaeus de Neocastro1. Er lässt es 1293 enden. Bereits um 1285 hatte er eine erste Ausführung seiner Geschichte Siziliens in Versform verfasst, die allerdings zum größten Teil verloren ist2. Bartholomaeus ist der einzige sizilianische Chronist dieser Epoche, über den mehr als der Name bekannt ist. Er taucht ab 1270 als iudex auf, spätestens ab 1274 war er als solcher in Messina tätig. Auch während der Herrschaft der communitas Siciliae bekleidete er dieses Amt. Unter Peter III. von Aragon wurde er, wie viele in den sizilianischen Kommunen engagierte Eliten der ehemaligen angiovinischen Herrschaft, mit einem hohen Verwaltungsamt betraut und zum magster portulanus et procurator fur die östliche Inselhälfte ernannt. Wenige Zeit später fiel er jedoch aus unbekannten Gründen in Ungnade, und erst unter König Jakob II. bekleidete er wieder höhere Ämter. Aufgrund seines Nachnamens erlagen viele Historiker der Annahme, Bartholomaeus würde aus dem kalabrischen Nicastro stammen. Aber es gab im mittelalterlichen Messina ein Stadtviertel, das als Neocastron bezeichnet wurde und wo er vermutlich zur Welt kam3. Aufgrund seiner Biographie ist die eindeutig pro-sizilianische und pro-aragonesische Einstellung, die sein Werk auszeichnet, wenig verwunderlich. Die zweite wichtige Chronik zu den Vorgängen um die Vesper verfasste Saba Malaspina4. Nach eigenen Angaben schloss er sie nach dem Tod Papst Martins IV. ab, der am 28. März 1285 starb. Im Text bezeichnet er sich als Magister und gebürtig aus Rom stammend. Ab 1273 oder auch 1274 war er Dekan der Kirche von Mileto in Kalabrien, nach Herbst 1283 deren Bischof. Unter dem Ponöfikat Nikolaus' ΙΠ. war er als Skriptor an den päpstlichen Hof berufen worden. Saba verbrachte viele Jahre 1 Bartholomaei de Neocastro, Historia Sicula (aa. 1250-1293), RIS nuova edizione, Bd. 13, Teil 3, Bologna 1921-1922 (Abk. im weiteren Verlauf: Bartholomaeus de Neocastro). 2 Teile sind wohl in den Anales de la Corona de Aragon von Jeronimo Zurita überliefert, dazu vgl. Kap. 5.1.2, Anm. 54. 3 Vgl. die Einleitung von Paladino zur Edition der Chronik von Bartholomaeus de Neocastro, S. III-XL Weiterhin Karl Eduard STHAMER: Aus der Vorgeschichte der sizilianischen Vesper, in: QFIAB 19 (1927), S. 262-372, S. 306. Francesco GlUNTA: Medioevo e medievisti. Note de storiografia, Caltanissetta/Rom 1971, 62-71. Gina FASOLI: Cronache medievali di Sicilia. Nota d'orientamento, Bologna 2 1995, S. 33-38. 4 Die Chronik des Saba Malaspina, MGH Scriptores, Bd. 35, hg. v. Walter Koller / August Nitschke, Hannover 1999.

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seines Lebens im angiovinischen Königreich und kannte die dortigen Verhältnisse aus eigener Anschauung. Zwar steht Karl von Anjou als Lehnsmann der Kirche und Kämpfer gegen die letzten Staufer ganz im Zentrum seiner Geschichte und wird positiv in Szene gesetzt, dennoch können seine Urteile über den Anjou, aber auch über die Päpste durchaus kritisch ausfallen. Auch seine Schilderung der Ereignisse auf Sizilien im Frühjahr und Sommer 1282 ist bemerkenswert differenziert. So mangelt es nicht an Kritik gegenüber der angiovinischen Herrschaftspraxis. Seine Informationen basierten vor allem auf Texten, die als Rundschreiben, Proklamationen und Streitschriften einem größeren Kreis von Interessenten zugänglich waren. Des Weiteren wird er seine Anschauungen zu den Ereignissen durch persönliche Erlebnisse oder mündliche Mitteilungen gewonnen haben5. Eine Generation nach Bartholomaeus und Saba schrieb Nicolaus Specialis aus Noto im südöstlichen Sizilien seine so genannte „Historia Sicula"6. Er lässt seinen Bericht mit dem Vesperaufetand in Palermo beginnen und schließt ihn mit dem Tod Friedrichs II. von Aragon im Jahr 1337 ab7. Weitere Details über ihn sind nicht bekannt, seine Geschichte bietet aber einen recht eigenständigen Bericht über die Vorgänge im Jahr 1282. Weniger aufgrund eines solchen eigenständigen Berichts als denn aufgrund des besonderen Aufbaus seiner Schilderung ist das „Chronicon Siciliae" oder auch „Chronicon siculum" von großer Bedeutung. Der unbekannte Autor verarbeitete in seiner Erzählung zahlreiche Originaldokumente8. Darunter befinden sich allen voran zwei aufständisch-kommunale Streitschriften9, denen eine zentrale Rolle bei der Interpretation der communitas Siciliae zukommt. Die erste Streitschrift richteten die Akteure der frisch konstituierten Kommune Palermos am 13. April an die Einwohner der Stadt Messina, um selbige zur Teilnahme am Aufstand gegen Karl I. von Anjou zu bewegen. Sie ist parallel dazu im Kodex Ms. Latini 4042 der Pariser Nationalbibliothek erhalten. Eine zweite Streitschrift stammt bereits aus der Periode nach der sizilianischen Regierungsübernahme König Peters III. von Aragon, die am 4. September 1282 erfolgte. Sie ist an Papst Martin IV. adressiert, scheint nur im Chronicon überliefert worden zu sein und weist eine auffällige sprachliche Ähnlichkeit zur ersten Streitschrift auf, was auf ein und denselben Autor schließen lässt. Nicht minder spekulativ sind die biographischen Angaben zum unbekannten Verfasser des Chronicon Siciliae Vgl. August NlTSCHKE: Untersuchungen zu Saba Malaspina, in: DA 12 (1956), S. 160-186 (Teil 1) u. S. 473-492 (Teil 2). Ebenso Die Chronik des Saba Malaspina, hg. v. ders. / Koller, S. 1-41. 6 Nicolaus Specialis, Historia Sicula, RIS, hg. v. L. A. Muratori, Bd. 10, Mailand 1727, S. 913-1092. ι Vgl. ebd., S. 41-48. 8 Chronicon Siciliae auctore anonymo, ebd., S. 801-910. 9 Zur Quellengruppe der Streitschriften im Süditalien des 13. Jahrhunderts Nitschke, Untersuchungen zu Saba Malaspina. S. 165-177. Allgemein zum Propagandabegriff im Zusammenhang mit mittelalterlichem Schriftgut Karel HRUZA: Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit im Mittelalter, in: Ders.: Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit (11.-16. Jahrhundert) (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Denkschriften 307), Wien 2002, S. 9-25. 5

Quellen

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selbst. Vermutlich lebte er in Palermo, hatte Zugang zum königlichen Archiv und war dort vielleicht sogar als Archivar tätig. Vom Chronicon existieren auch zwei auf Katalanisch verfasste Ausgaben und eine sizilianische. Die lateinische und die beiden katalanischen Erzählungen brechen im Jahr 1345 ab. Die sizilianische Variante fuhrt den Bericht bis 1348 weiter. Das Chronicon wird also spätestens zu dieser Zeit entstanden sein10. Der bereits im Zusammenhang mit der ersten Streitschrift der Aufständischen erwähnte Kodex Ms. Latini 4042 der Pariser Nationalbibliothek überliefert überdies noch eine weitere Streitschrift, die zwischen die beiden erstgenannten zu datieren ist, genauer in die Tage bzw. Wochen nach einer am 7. Mai 1282 vom Papst angedrohten Exkommunikation der aufständischen Sizilianer11. Sie ist an das Kardinälekolleg und Papst Martin IV. doppeltadressiert. Insgesamt enthält der Kodex drei Dokumente, die in den unmittelbaren Kontext der Sizilianischen Vesper und der Entstehung der communitas Siciliae gehören. Nach der Schrift der Palermer an die Messinesen folgt im Anschluss die Bulle Martins IV. vom 7. Mai und sodann die Schrift an das Kardinälekolleg und den Papst. Der Kodex selbst stammt wohl aus dem späten 13. oder frühen 14. Jahrhundert und enthält hauptsächlich Briefe, unter anderem des Kardinals Thomas von Capua. Eine Edition dieser doppeltadressierten Streitschrift findet sich in Amaris „La guerra del Vespro siciliano" in der Auflage von 188612. Ein weiteres wichtiges schriftliches Zeugnis zur communitas Siciliae ist eine Bündnisurkunde, die eine Anfang April 1282 in Palermo geschworene überörtliche Conjuratio zwischen Palermo und Corleone bezeugt Das Dokument hat sich im Gemeindearchiv von Corleone erhalten13. Es handelt sich bei ihm um die einzige erhaltene Bündnisurkunde der sizilianischen Regionalkommune. Zahlreiche Textzeugnisse aus dem weiten Feld des angiovinischen und auch aragonesischen Geschäftsschriftgutes, die durchweg in gedruckter Form vorliegen, ergänzen die aus dem bisher vorgestellten Quellenmaterial zu gewinnenden Informationen14. Anszumerken bleibt noch, dass die narrativen Quellen, die die Verschwörung um Johann von Procida beleuchten, hinsichtlich der communitas Siciliae und ihrer Protagonisten völlig unergiebig sind, weshalb sie nicht in die Betrachtung einfließen15. Vgl. Fasoli, Cronache medievali di Sicilia, S. 48-54. Codex Italiae diplomaticus, hg. v. Johann Christian Lünig, Bd. 2, Frankfurt/Leipzig 1726, Nr. 55, S. 997-999. 12 Aman, La guerre del Vespro siciliano, Bd. 3, Nr. 10, S. 308-323. 13 Atto di confederatione tra la cittä di Palermo e la terra di Corleone, hg. v. Raffaele Starrabba, in: Ricordi e documenti del Vespro Siciliano pubblicati a cura della Societä Siciliana per la Storia Patria, Bd. 1, Palermo 1882, S. 125-132. Im selben Band findet sich ein Faksimile der gut erhaltenden Urkunde. 14 De rebus regni Siciliae (9 settembre 1282-26 agosto 1283). Document) inediti estratti dall'archivio della Corona d'Aragona, hg. v. Giuseppe Silvestri (Documenti per servire alia storia di Sicilia, 1. Serie, Bd. 5), Palermo 1882. Romualdo TRIFONE: La legislazione angioina, Neapel 1921. 15 Vgl. Kap. 1.2.1, Anm. 5. 10 11

Einleitung

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13.2 Flandern Wie für die communitas Siätiae stammen die wichtigsten Informationen zur communitas Flandrie aus erzählenden Quellen. Der bereits angesprochene zentrale Text schlechthin fur die Ereignisse in der Grafschaft Flandern zwischen 1323 bis 1328 stammt aus der Feder eines unbekannten Mönches der Zisterzienserabtei von Ciairmarais in der Nähe von Saint-Omer in der Grafschaft Artois, also unmittelbar an der flämischen Westgrenze gelegen. Der Editor De Smet bezeichnete das Werk als „Chronicon comitum Flandrensium"16. Der anonyme Autor war nicht nur Zeitgenosse der Ereignisse in Flandern, sondern möglicherweise sogar gebürtiger Flame. Seine am damals gängigen Deutungsschema gesellschaftlicher Ordnung ausgerichtete Sichtweise auf die turbulenten Vorgänge in seiner Nachbarschaft mag folgerndes Zitat illustrieren: „Und so endete diese Seuche innerhalb des Volkes, das gegen seine Obrigkeiten rebellierte"17. Die Verhältnisse in Flandern in den unmittelbaren Jahrzehnten vor der Etablierung der flämischen Großkommune beleuchtet ebenfalls ein unbekannter Mönch. Er war Franziskaner aus Gent, lebte also direkt in der Grafschaft. Seine „Annales Gandenses" decken die Zeitspanne von 1297 bis 1310 ab, und nach eigenen Worten hat er mit ihrer Niederschrift Anfang des Jahres 1308 begonnen. In der sich im Berichtszeitraum zutragenden Auseinandersetzung zwischen dem flämischen Grafen- und dem französischen Könighaus gehören seine Sympathien zweifellos dem ersteren. Zudem zeigt er ein größeres Interesse an den „einfachen Leuten", das heißt an den Mitgliedern der städtischen und bäuerlichen Kommunen, die in der Regel das Grafenhaus unterstützten18. Weniger in Bezug auf die von ihm gelieferten Details als vielmehr in Bezug auf die aussagekräftige Bezeichnung für die flämische Regionalkommune ist die Chronik des Willem Procurator hervorhebenswert. Willem war Benediktermönch der Abtei von Egmond in Nordholland, und er verstarb im Jahr 1335. Von ihm stammt die Charakterisierung der Ereignisse von 1323 bis 1328 als communitas Flandrie19, die im Übrigen dies sei ausdrücklich unterstrichen — von den bisherigen Bearbeitern jener Zeitspanne nicht wahrgenommen worden zu sein scheint. Zu guter Letzt sei der bereits erwähnte Florentinische Chronist Giovanni Villani angeführt, der sich als Bankier im Jahr 1306 in der Grafschaft Flandern aufgehalten und wohl auch deshalb in der Folgezeit das Interesse an den dortigen Geschehnissen nicht verloren hatte. Seine zwischen 1320 und 1330 geschriebene und als Weltchronik

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Vgl. Kap.1.2.2, S. 19.

Sicque cessavit hatepesfispopularium contra superions suos rebellantium, Chronicon Flandrensium, S. 208f. Annales Gandenses / Annals of Gent, hg. v. Hilda Johnstone, Oxford 2 1985. 19 Willelmi capellani in Brederode postae monachi et procuratoris Egmondensis chronicon, hg. v. C. Pijnacker Hordijk, Amsterdam 1904 (Abk. im weiteren Verlauf: Wilhelm Procurator). Zur Bezeichnung der flämischen Regionalkommune vgl. auch Kap. 2.2.2, S. 60. 17 18

Quellen

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konzipierte „Nuova Cronica" lässt er 1346 enden. Giovanni starb 1348 in seiner Heimatstadt an der Pest20. Entscheidend ergänzt werden die Aussagen der erzählenden Quellen durch zwei Sammlungen von Geschäftsschriftgut. Die kleinere betrifft Friedensverhandlungen, die der Graf von Flandern und sein Onkel im Frühjahr 1324 führten, nachdem es ab Herbst 1323 zu ersten Unruhen gekommen war. Die entsprechenden Dokumente liegen allesamt ediert vor21. Die zweite, größere Sammlung gehört in den Kontext der letztlich endgültigen Niederschlagung der communitas FlanJrie in der Schlacht von Cassel im August 1328. Die Folge dieser Niederlage waren sowohl königliche als auch gräfliche Untersuchungskommissionen, die zahlreiche Anklageschriften verfassten und Inventare zur Güterkonfiskation anlegten. Dazu kommen Geisellisten, Unterwerfungsschreiben und ein Dokument, das das Verhör des später hingerichteten Brügger Bürgermeisters Willem de Deken in Paris wiedergibt22. Der größte Teil dieser Zeugnisse ist ebenfalls ediert, lediglich eine gräfliche enqueste von aufständischen Handlungen in Aardenburg liegt nur im Original vor23.

1.3.3 Schweiz Ganz im Gegensatz zur flämischen und sizilianischen Regionalkommune stützt sich die zeitgenössische Überlieferung für die schweizerische Eidgenossenschaft fast ausschließlich auf Urkunden, allen voran jenen Bündnisurkunden von 129124, 1315, 1332, 1351, 1352 und 1353, die sich von den überörtlichen Conjurationes zwischen Uri,

20 Villani, Nuova Cronica. 21 Pirenne, Le soulevement de la Flandre maritime, Nr. 2, S. 165-168, Nr. 3, S. 168-170, Nr. 4, S. 171-180. Sodann das Inventaire des archives de la ville de Bruges, Section premiere, Inventaire des chartes, 1. Serie, Treizieme au seizieme siede, Bd. 1, hg. v. Louis Gilliodts-van Severen, Brügge 1871, Nr. 294, S. 342-346. 22 Henri STEIN: Les consequences de la bataille de Cassel pour la ville de Bruges et la mort de Guillaume De Deken, son ancien bourgmestre (1328), in: Bulletin de la Commission Royale d'Histoire 68 (1899), S. 647-664. M. de PAUW: L'enquete de Bruges apres la bataille de Cassel, in: Bulletin de la Commission Royale d'Histoire 6 8 (1899), S. 665-704. Jacques MERTENS: La confiscation dans la Chättellenie du Franc de Bruges apres la bataille de Cassel, in: Bulletin de la Commission Royale d'Histoire (Handelingen van de Koninlijke Commissie voor Geschiedenis) 134 (1968), S. 239-284, das Inventar auf den S. 245-284. Ders.: De economische en sociale toestand van de opstandelingen uit het Brugse Vrije, wier goederen na de slag bij Cassel (1328) verbeurd verklaard werden, in: Revue Beige de Philologie et d'Histoire (Belgisch Tijdschrift voor Filologie en Geschiedenis) 47 (1969), S. 1 1 3 1 - 1 1 5 3 . M . VANDERMAESEN: De Rekening der Brugse gijzelaars 1 3 2 8 - 9 / 1 3 3 8 - 4 1 , in: Handelingen van het Genootschap voor Geschiedenis gesticht onder de benaming Societe d'Emulation te Brugge 115 (1978), S. 1-16. 23 Rijksarchief Gent, Chartes des comtes de Flandre, Fond Saint-Genois, Nr. 1455. Bei diesem sehr umfangreichen Dokument, das aus mehreren zusammengenähten Pergamentrollen besteht, handelt es sich um die Ergebnisse einer Untersuchung, die ein gewisser contt Gualdelot und Olivier de le Most für die Aufstandsereignisse in Aardenburg, Yzendijke und Oostburg durchführten. 24 Zur Kritik an dieser Datierung vgl. Kap. 1.2.3, Anm. 64.

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Einleitung

Schwyz, Unterwaiden, Luzern, Zürich, Glarus, Zug und Bern überliefert haben25. Ferner seien die beiden Vertragsbriefe erwähnt, einmal der „Pfaffenbrief' von 1370 und zum anderen der „Sempacherbrief" von 1393. Beide Briefe waren jedoch keine Conjurationes, sondern einfache Verträge26. Hinzukommt im jeweiligen Ereignisumfeld entstandenes Geschäftsschriftgut, wie königliche und kaiserliche Privilegien oder Friedensverträge der Kommunen mit den habsburgischen Herzögen von Österreich27. Die einzige erzählende Quelle, die vor die engere Ausgestaltung des eigentlichen Befreiungsnarratives im 15. Jahrhundert datiert, ist die Chronik des Zisterzienserabtes Johannes von Viktring28. Sie bietet zwar recht wenige, dafür aber umso brauchbarere Aussagen zum Wissen um Conjuratio im Zusammenhang mit dem Entstehungsprozess der schweizerischen Eidgenossenschaft. Johannes war ein Zeitgenosse der Ereignisse in der Innerschweiz zu Beginn des 14. Jahrhunderts. Ab 1312 war er Abt des Zisterzienserklosters Viktring in Kärnten und in den dreißiger Jahren des Jahrhunderts zunächst Kapellan Herzog Heinrichs von Böhmen und später Herzog Albrechts II. von Habsburg-Österreich. Er ist zwischen 1345 und 1347 verstorben29. Erstaunlicherweise ist Johannes' Chronik von der schweizerischen Geschichtswissenschaft bisher nicht weiter berücksichtigt worden. Den zweiten großen Komplex der spätmittelalterlichen Überlieferung zur Entstehung der Eidgenossenschaft bilden natürlich die Autoren des 15. Jahrhunderts mit ihren Fassungen der Befreiungsgeschichte, wobei gerade die Gegenüberstellung von urkundlicher und chronikalischer Überlieferung eine interessante Perspektive auf das spätmittelalterliche Wissen um Conjuratio verspricht. Den Anfang des narrativen Überlieferungsstranges machte der Berner Stadtschreiber Conrad Justinger in seiner um 1420 entstandenen Chronik30. Ihm folgte das anti-eidgenössische und in Dialogform geschriebene Pamphlet des Züricher Chorherren Felix Hemmerli31 und die

QW, Abteilung I, Urkunden, Bd. 1,1; Bd. 1,2; Bd. 2,1; Bd. 2,2; Bd. 3,1, Aarau 1933-1964. Quellenbuch zur Verfassungsgeschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Kantone von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. v. Hans Nabholz u. Paul Klaui, Aarau 1940, S. 33-39. 27 Vgl. das »inter Anm. 25 genannte Editionswerk. Des Weiteren vgl. auch: Die Eidgenössischen Abschiede aus dem Zeiträume von 1245 bis 1420, hg. v. Anton Philipp Segesser (Amtliche Sammlung der älteren Eidgenössischen Abschiede 1) Luzern 2 1874. Regesta Imperii, Bd. 8, Die Regesten des Kaiserreichs unter Kaiser Karl IV. 1346-1378, hg. v. Alfons Huber, Innsbruck 1877. 28 Iohannis Abbatis Victorienses liber certarum historiarum, MGH Scriptores rer. Germ. 36, 2 Bde., Hannover/Leipzig 1909-1910. 29 Anton SCHARER: Die werdende Schweiz aus österreichischer Sicht, in: Mittelungen des Instituts für Österreichische Geschichtforschung 95 (1987), S. 235-270, insbesondere ab S. 251. 30 Die Berner-Chronik des Conrad Justinger, hg. v. G. Studer, Bern 1871. 31 Felix Hemmerli: Felicis malleoli vulgo hemmerlein: Decretorum doctoris iureconsultissimi. De Nobilitate et Rusticitate Dialogus. Sacre Theologie: iurium: Philosophorum: poetarum sententiis hystotiis et sacriis refertissimus. Eiusdem de Switensium ortu: nomine: confederatione: moribus: et quibusdam (vtinam bene) qestis. Euidam processus iudicarius cora(m) deo habitus: inter nobiles et Thuricenses ex vna: et Switenses partibus ex altera: cum sententia diffinitiva et eius executine, Straßburg (Prüss) um 1500. 25 26

Quellen

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Chronik des Schwyzer und Luzerner Schreibers Hans Fründ32. Beide verfassten ihre Werke unmittelbar vor der Jahrhundertmitte. Sodann legte rund 25 Jahre nach Hemmerli und Fründ der Landschreiber Unterwaldens, der den bezeichnenden Namen Hans Schriber trug, das sogenannte „Weiße Buch von Samen" an33. Eine Bezeichnung, die auf den weißen Ledereinband des Originals zurückgeht Das Weiße Buch besteht aus zwei Teilen unterschiedlichen Inhalts. Der erste Teil ist ein historiographischer Bericht über die Entstehung und anschließende Ausformung der schweizerischen Eidgenossenschaft bis zum 15. Jahrhundert Der zweite Teil bietet eine Sammlung der wichtigsten Unterwaldner Landesurkunden bis 1474, der später von anderer Hand weiter gefuhrt wurde. Das Weiße Buch scheint demnach ein der juristischen Praxis dienendes Kanzleihandbuch gewesen zu sein34. Schriber bietet mit dem narrativen Teil seines Werkes, in dem erstmals in einem sicher datierbaren Schriftstück die Figur des Wilhelm Teil mit allen - von Schiller bekannten - klassischen Motiven erscheint35, die inhaltlich ausgeschmückteste und detailreichste Darstellung zum Entstehen der Eidgenossenschaft im Kreis der vorgestellten Autoren. Deshalb bietet es sich an, mit seiner Erzählung die Reihe der Texte zur Befreiungssage enden zu lassen. Zur Wahrung der Vollständigkeit sei zu guter Letzt auf das sogenannte „Tellenlied" hingewiesen, das ebenfalls in das 15. Jahrhundert datiert wird. Eine genauere zeitliche Einordnung der Ursprungsfassung ist jedoch nicht zu leisten. -Angeblich ist es bereits vor dem Weißen Buch von Samen entstanden36, was jedoch nicht mit letzter Sicherheit zu sagen ist. Es bietet eine eher rudimentäre Geschichte über Teil, die ohne den Hut auf der Stange, dem Sprung auf die Tellsplatte und die Ermordung des Vogtes Geßler auskommt, also das Motiv des Apfelschusses und die Gefangennahme Teils in den Mittelpunkt rückt Unmittelbar daran anschließend schildert es den Aufstand des Volkes, aus dem sich die Eidgenossenschaft entwickelt habe37.

Die Chronik des Hans Fründ, Landschreiber zu Schwytz, hg. v. Christian Immanuel Kind, Chur 1875. 33 QW, Abteilung III: Chroniken, Bd. 1, Das Weiße Buch von Samen, hg. v. Georg Wirz, Aarau 1947. μ Ebd, S. U l i . 35 Eine etwas rudimentärere Form bietet das sogenannte „Tellenlied", vgl. unten. 36 QW, Abteilung III, Bd. 2,1, Das Lied von der Entstehung der Eidgenossenschaft Das Urner TeUenspiel, hg. v. Max Wehrli, Aarau 1952, S. 3-32. 37 Ebd., S. 14-16. 32

2. Conjuratio und Rebellion: Eine ereignisgeschichtliche Einführung

Wie die Kapitelüberschrift ankündigt, soll es im Folgenden in erster Linie darum gehen, die ereignisgeschichtlichen Hintergründe des jeweiligen großkommunalen Entstehungsprozesses auf Sizilien, in Flandern und in der Schweiz vorzustellen und zugleich das entsprechende kommunale Handeln der Akteure nachzuzeichnen. Darüber hinaus gilt es, die Vergleichbarkeit der drei Fallbeispiele vor Augen zu fuhren. Einerseits lässt sich so die Individualität und Originalität der einzelnen Ereignisse veranschaulichen. Andererseits werden die angeführten Quellentexte und vor allem die in diesen Texten gewählte Wortwahl zeigen, dass den drei kommunalen Großgebilden die gleiche Form der Gruppenbildung, nämlich die durch Conjuratio, zugrunde lag. Dabei spielt für diesen Befund weder die Quellengattung noch die Perspektive der Autoren eine Rolle, das heißt es ist in letzterem Fall irrelevant, ob der Autor auf Seiten der Kommunen stand, ihnen feindlich gesinnt oder einfach nur außenstehender Beobachter war. Weiterhin wird sich aus dem Entstehungsprozess der jeweiligen Großkommune ohne weiteres der geographische Rahmen erklären lassen, der der Bearbeitung jeder einzelnen zugrunde liegt. Es wird sich herausstellen, dass er eben nicht von außen, das heißt etwa durch die nationalen Geschichtsschreibungen, an die Phänomene herangetragen ist, sondern dass er sich von selbst aus dem Prozess der Kommunebildung ergibt. Ferner verfolgt die für die Vorstellung der sizilianischen und flämischen Kommune gewählte Perspektive, die auch zeitlich vorausgegangene Geschehnisse in den Blick nimmt, das Ziel, jenen Erfahrungshorizont der Akteure nicht aus den Augen zu verlieren, der nicht nur durch persönlich Erlebtes, sondern durch Wissensvermittlung der Vorgängergeneration geprägt war1. Die gleiche Form der Wissensvermittlung gab es natürlich auch in der schweizerischen Großkommune, allerdings verlief der Kommunebildungsprozess im Vergleich zu den beiden anderen Kommunen wesentlich geradliniger. Für die Eidgenossenschaft soll deshalb ihre fast ausschließlich in urkundlichen Quellen dokumentierte Genese ab dem Ende des 13. Jahrhunderts mit der zu Beginn des 15. Jahrhunderts einsetzenden Überlieferung der sogenannten Befreiungstradition kontrastiert werden. Es wird sich zeigen, dass im 15. Jahrhundert eine Neuauslegung der Ereignisabläufe des 13. und H.Jahrhunderts vollzogen wurde. Die Antwort auf die Frage, warum dies geschah, wird im weiteren Verlauf der Arbeit helfen können zu klären, wie das Wissen um kommunale Conjuratio im Spätmittelalter generell ausgesehen haben mag.

1 Zum diesem sogenannten kommunikativen Gedächtnis Jan ASSMANN: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 4 2002, S. 50-52.

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2.1 Sizilien 1282 2.1.1 Die sizilianische Kommunebewegung nach dem Tod Friedrichs II. Der deutlichste Unterschied zwischen dem Geschehen auf Sizilien im Jahr 1282 und den beiden anderen in dieser Studie zu untersuchenden regionalen Kommunebildungen ist der Zeitpunkt, an dem sich in den drei Regionen überhaupt erstmals kommunale Schwureinungen etablierten. Während sich nämlich in Norditalien sowie in Westund Mitteleuropa, also auch in Flandern und in der Schweiz, spätestens ab dem 12. Jahrhundert das kommunale Modell auf breiter Basis durchzusetzen begann, blieben Süditalien und die Insel Sizilien dieser Entwicklung zunächst außen vor. Hauptgrund dafür dürfte die zentral organisierte Herrschaft der normannischen Könige gewesen sein1. Auch Kaiser Friedrich II. stützte sich in Süditalien auf die überkommenen normannischen Herrschaftsprinzipien. Die Folge war, dass es weder feudale noch kommunale Autonomien gab2. Erst mit dem Tod Friedrichs II. im Jahr 1250 erreichte die kommunale Bewegung auch Süditalien. Bereits wenige Wochen nach seinem Ableben befanden sich viele Städte des süditalienischen Fesdandes im offenen Aufstand gegen seinen Nachfolger Konrad IV. Sie konstituierten sich als Kommunen und verschworen sich auch untereinander zu Städtebünden. Unterstützung fand diese Bewegung an der Kurie. Papst Innozenz IV. war sehr daran interessiert, den seit Jahrzehnten verlorenen päpstlichen Einfluss in der Region zu ungunsten der staufischen Gegner wieder auszubauen. Inwieweit die sizilianischen Städte von dieser ersten Welle des kommunalen Aufbegehrens erfasst wurden, bleibt jedoch unklar. Auf der Insel sind Kommunen erst nach dem Tod König Konrads im Mai 1254 sicher nachzuweisen und zwar durch päpstliche Privilegierungen3. Schließlich entwickelte sich ab Anfang 1255 offener Widerstand gegen den noch von Konrad eingesetzten Vikar für Kalabrien und Sizilien, Pietro Ruffo, Graf von Catanzaro, der offensichtlich versuchte, nach dem Tod des Königs sein Vikariat in eine selbständige Herrschaft zu überführen4. Dies berichtet 1 Hubert HOUBEN: Politische Integration und regionale Identitäten im normannisch-staufischen Königreich Sellien, in: Werner MALECZEK (Hg.): Fragen der politischen Integration im mittelalterlichen Europa (VuF 63), Ostfildern 2005, S. 171-184. 2 Im Königreich Sizilien waren unter Friedrich II. Schwureinungen jeder Art verboten, vgl.: Die Konstitutionen Friedrichs II. für das Königreich Sizilien, MGH Const, Bd. 2, Supplementum, hg. v. Wolfgang Stürner, Hannover 1996,1 49, S. 208, u. I 50, S. 209. Ebenfalls dazu Hermann DlLCHER: Die sizilianische Gesetzgebung Kaiser Friedrichs II. Quellen der Constitutionen von Melfi und ihrer Novellen (Studien und Quellen zur Welt Kaiser Friedrichs II. 3), Köln 1975, S. 212-215. 3 MGH Epp. saec. XIII, Bd. 3, hg. v. Karl Rodenberg, Berlin 1884, Nr. 330, S. 301 f. Ebenso finden sich diesbezügliche Nachweise in den Regesta Imperii, Bd. 5, Die Regesten des Kaiserreichs unter Philipp, Otto IV, Friedrich II, Heinrich (VII), Conrad IV, Heinrich Raspe, Wühlern und Richard 1198-1272, Bd. 2, Abteilung 3 u. 4, Päpste und Reichssachen, hg. v. Julius Ficker u. Eduard Winkelmann, Innsbruck 1892/1894, Nr. 8920, S. 1410. 4 Eine eigenständige Arbeit zu den Ereignissen gibt es bislang noch nicht. Ansonsten zu dieser ersten sizilianischen Kommunebewegung Francesco CALASSO: La legislazione Statutana delTItalia meridionale, Bd. 1, Le basi storiche: la libertä cittadine dalla fondazione del regno all'epoca degli

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zumindest der als Nicolaus Jamsilla bekannte Chronist Er war Anhänger Manfreds von Staufen5. Manfred war ein illegitimer und später legitimierter Sohn Friedrichs II., der nach dem Tod Konrads IV. die Krone Siziliens nach längeren Kämpfen 1258 an sich reißen konnte. Laut dem so genannten Jamsilla sagte sich Palermo als erste Stadt von Pietro Ruffo los. Zwar konnte der Vikar noch einen Aufstand in Patti niederringen, als jedoch die Bewohner Calatagirones in Zentralsizilien st cum Panomitams ad nbellandum confederate parabant, löste dies eine Kettenreaktion aus6. Es entstand wohl innerhalb kürzester Zeit vielleicht keine regionale, aber immerhin überörtliche Kommune auf Sizilien. Jedenfalls bestätigte Papst Alexander IV. umgehend die conventiones etpactiones inter ävitates et castra et aüa loca regni Suihat imtas1. Die siziüanischen Ortschaften sagten sich von Cefalü an der Nordküste in einem breiten Streifen entlang des Flusses Salso bis nach Terranova (Eraclea) an der Südküste von Pietro Ruffo los. Zwar gelang dem Vikar, noch mit einigen Mühen Castrogiovanni (heute Enna) zu erobern, dies aber wohl nur deshalb, weil die Verteidiger als Bauern unerfahren im Kriegshandwerk waren: homines rustici, et bellicae exercitationes ignarfi. Mit diesem Zitat wird nicht nur deutlich, dass auf Sizilien die bäuerlichen Bevölkerungsteile durch die Siedlungskonzentration des Incastellamento9 in stadtähnlichen Ortschaften lebten, was eine Unterscheidung zwischen Stadt- und Landbevölkerung im Gegensatz zu Flandern und den Gebieten der Innerschweiz erschwert. Zudem zeigt es die ständeübergreifende Zusammensetzung der ersten sizilianischen Kommunebewegung. Trotz der Eroberung Castrogiovannis scheiterten letztlich die Versuche Ruffos, die kommunale Aufstandsbewegung, die sich gegen ihn und sein Vikariat entwickelt hatte, unter Kontrolle zu bringen. Er musste sich nach Messina zurückziehen. Aber selbst dort stieß seine Herrschaft nun auf Ablehnung. Die Einwohnerschaft stürzte ihn unmittelbar nach seiner Rückkehr und verbannte ihn und seine Familie aus der Stadt. Nach diesem Sieg der Kommunebewegung unterstellten sich die daran beteiligten Sizilianer direkt dem Heiligen Stuhl. Im Frühjahr 1255 sandte Papst Alexander den Franziskaner Roffinus de Placentia als Legaten nach Sizilien. Der als Nicolaus Jamsilla statuti, Rom 1929, S. 145-153. Aktueller ist Salvatore TRAMONTANA: La monarchia normanna e sveva, in: II Mezzogiorno dai Bizantini a Fedetico II (Stotia dltalia 3), Turin 1983, S. 755-757. 5 Niccolo Jamsilla, Delle geste di Federico II imperatore e de suoi figli Corrado e Manfredi re di Puglia e di Sicilia, hg. v. Giuseppe Del Re, Cronisti e scrittori sincroni napoletani (Storia della Monarchia 2), Napoli 1868, S. 104-200, S. 163. Der letztlich unbekannte Autor des Geschichtswerkes wird irrtümlicherweise als Nicolaus Jamsilla bezeichnet, dazu August NlTSCHKE: Die Handschriften des sogenannten Nikolaus Jamsilla, in: DA 11 (1954/55), S. 233-238. Dennoch zitiere ich ihn im Folgenden weiterhin unter diesem Namen. 6 Niccolo Jamsilla, S. 163f, das Zitat auf S. 163. 7 Das Zitat nach August KARST, Geschichte Manfreds vom Tode Friedrichs II. bis zu seiner Krönung (1250-1258), Berlin 1897, S. 133. Vgl. aber auch Regesta Imperii, Bd. 5, Die Regesten des Kaiserreichs, Bd. 2, Abteilung 3 u. 4, Päpste und Reichssachen, Nr. 8923, S. 1410. 8 Niccolo Jamsilla, S. 164-166, das Zitat auf S. 164. 9 Vgl. Alessandra MOLINARI: L'incastellamento in Sicilia in epoca normanno-svevo: II caso di Segesta, in: L'incastellamento, Actes des rencontres de Gerone (26-27 novembre 1992) et de Rom (5-7 mai 1994) (Collection de l'Ecole Fran?aise de Rome 241), Rom 1998, S. 271-290.

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bekannte Chronist bezeichnet ihn folgendermaßen: nomine Ecc/esiae Romanae Siätiae praepoätur, und nicht nur das, laut seines Berichtes wurde er von den Sizilianern tamquam Domino nomine Ecc/esiae Romanae anerkannt10. Der päpstliche Legat bereiste in jenen Wochen die gesamte Insel, und auch die Kommune Messinas bestätigte ihn in seinem Amt11. Das Ende dieser ersten sizilianischen Kommunebewegung unter päpstlicher Oberhoheit wurde ein Jahr nach den soeben beschriebenen Ereignissen mit der Aufstellung eines ghibellinischen Heeres im östlichen Teil Siziliens, dem so genannten Val di Mazara, eingeleitet. Die Stauferanhänger eroberten im April 1256 Palermo, wobei ihnen der oben genannte päpstliche Legat in die Hände fiel12. Der Gegenangriff eines vermutlich kommunalen Aufgebotes unter dem Kommando eines gewissen Rogerius Fimettus — aus der Sicht Jamsillas omnibus nbelkum Siätiae caput — wurde in der Ebene von Favara zurückgeschlagen13. Im Mai schließlich gelang es Federico Lancia, König Manfreds Vikar für Kalabrien und Sizilien, Messina einzunehmen. Die Stadt wurde zu jener Zeit von einem Podesta namens Iacobus de Ponte, der aus Rom stammte, regiert14. Unter ihm habe die civitas angeblich more ävitatum Ljombardiae et Tusäae gelebt15. Weil weder die messinesische Oberschicht noch das einfache Volk bereit gewesen seien, ihre Stadt gegen das anrückende staufische Heer zu verteidigen, habe sich der besagte Podesta letztlich gezwungen gesehen, Messina per Schiff in Richtung Rom zu verlassen. Anschließend ergab sich die Bevölkerung den Stauferanhängern16. Nach dem Fall Messinas waren nur noch einige wenige Ortschaften Zentralsiziliens nicht unter staufischer Kontrolle. Sie ergaben sich jedoch sehr schnell, und nur das bereits zuvor erwähnte Castrogiovanni musste mühsam ausgehungert werden17. Offenbar waren seine Einwohner von einem besonderen Unabhängigkeitswillen beseelt, hatten sie doch angeblich bereits die päpstliche Oberhoheit nicht anerkannt. Jedenfalls hätten sie einen Kastellan, der auf Weisung des päpstlichen Legaten für Sizilien das Kastell des Ortes bezog, kurzerhand umgebracht und die Befestigung bis auf die Grundmauern geschleift. Jamsilla kommentierte diese von ihm geschilderten Vorgänge mit folgenden Worten: „Ab dieser Zeit fing die Stadt, als sie sich von der Zügel dieses Kastells befreit hatte, an, so frei zu handeln wie sie wollte"18. Niccolo Jamsilla, S. 194. Bartholomaeus de Neocastro, Kap. 4, S. 5. 12 Annales Siculi, MGH Scriptores, Bd. 16, Hannover 1866, S. 499. Die Annalen datieren dieses Ereignis in das Jahr 1254. » Niccolo Jamsilla, S. 195. 14 Ebd., S. 195. 15 Annales Siculi, S. 499. Die Annalen setzen die Amtszeit in den Zeitraum von Oktober 1253 bis Mai 1254, vgl. auch Anm. 12. 16 Niccolo Jamsilla, S. 199. ' 7 Ebd, S. 199f. 10

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Ex quo tempore avitas ipsa, quasi ab ipnus castrifraeno hberata, coepit üben agert quod vokbat, ebd., S. 2

Zu diesen Vorgängen der Jahre 1254 bis 1256 vgl. Tramontana, La monarchia normanna e sveva, S. 762-764.

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Nach der Einnahme Castrogiovannis gab es auf Sizilien unter König Manfred keine Kommune als autonome Rechtskörperschaft mehr. Auch sein Nachfolger Karl I. von Anjou war kein Anhänger kommunaler Autonomien in seinem Herrschaftsbereich. Schon in den fünfziger Jahren hatte er als Graf der Provence die Eigenständigkeit der provenzalischen Kommunen, so weit es ihm möglich war, eingeschränkt. In Marseille schaffte er die Kommune 1257 gänzlich ab19. Nicht anders sah es in seinem Königreich Sizilien aus. Autonome kommunale Rechtskörperschaften existierten bei ihm genausowenig wie bei den Normannen und Staufern. Aber im Gegensatz zu seinen normannischen und staufischen Vorgängern ist unter Karl immerhin die Tendenz zu beobachten, im fiskalischen und rechtlichen Bereich gewisse Selbstverwaltungsaufgaben zu gestatten. Tatsächlich ist in den einschlägigen Quellenzeugnissen gar von der universitas als der Gesamtheit derjenigen Einwohner eines Ortes die Rede, die besagte Selbstverwaltungsaufgaben wahrnahmen20. So gestatte Karl I. im Mai 1273 der universitas von Palermo, für die Einnahme der jährlich zu entrichtenden direkten Steuer, der sogenannten colkcta oder subventio generalis21, jeweils zwei taugliche und treue Männer „von den Großen und Reichen" (de meäoribus et ditioribus), den „Mittleren" (de mediocribus) und „Kleinen" (de minoribus), also insgesamt sechs Personen, durch ein parlamentum bestimmen zu lassen. Solche Wahlverfahren haben sich ebenfalls für Mazara und Trapani überliefert22. Im Januar 1277 erließ Karl für alle univemtates des Königreiches eine Regelung, der zufolge die Steuereinnehmer zwar nur noch de meäoribus et ditioribus gewählt werden durften, jedoch sollte sich zu ihrer Wahl (in quorum electiont) die gesamte Gemeinde (tota universitas) versammeln fconcurratJ23. Auch Richter für Zivil- und Straffälle innerhalb der universitas durfte die Einwohnerschaft aus ihrer Mitte ernennen. Auf welcher Grundlage diese Wahlberechtigten organisiert waren, ob durch Schwureinung oder nicht, ist nicht ganz eindeutig festzustellen. So heißt es etwa in einem Dokument, die Wahl von Steuereinnehmern sei unter Mitwirkung communis universitatis ipsius erfolgt Doch trotz dieses sehr eindeutigen Hinweises auf kommunale, also durch Conjuratio konstituierte, Formen der Selbstverwaltung, das Vorschlagsrecht oder zumindest die letztgültige Zustimmung zu einer solchermaßen gewählten Person lag in je-

" Knut SCHULZ: „Denn sie lieben die Freiheit so sehr...", Kommunale Aufstände und die Entstehung des europäischen Bürgertums im Hochmittelalter, Darmstadt, 2 1995, S. 271f. 20 Zu den angiovinischen univerätates vgl. Luciano CATALIOTO: Tene, baroni e cittä in Sicilia nell'etä di Carlo I d'Angiö, Messina 1995, S. 179-186. Giuseppe GALASSO: II regno di Napoli, Bd. 1, II mezzogiorno angiovino e aragonese (Storia d'Italia 15), Turin 1993, S. 408-411. Peter HERDE: Karl I. von Anjou, Stuttgart 1979, S. 76. 21 Zu dieser Steuer vgl. Kap. 4.1.1, S. 145-147. 22 Catalioto, Terre, baroni e citta in Sicilia nell'etä di Carlo I d'Angiö, S. 183, Anm. 11. Die Zitate ebd. Zu den Parlamenten und ihren Abstimmungsverfahren vgl. auch Kap. 5.1 dieser Arbeit. 23 Trifone, La legislazione angioina, Nr. 45, S. 55. Ein weiterer Hinweis in einem Mandat Kails I. von Anjou vom 10. Juni 1282, also schon aus der Zeit nach dem Ausbruch der Sizilianischen Ves-

per Item colkrtores, sindici et aüe personae, que ab univerütatibus sub voceportulani [...] pro servitüs nostre curie eligantur, ebd., Nr. 58, S. 80.

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dem Fall immer bei dem zuständigen Justitiar, mit anderen Worten bei einem hohen Beamten der königlichen Provinzverwaltung24. 2.1.2 Das Jahr 1282: Von der Sizilianischen Vesper bis zur conununitas

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Sowohl die Erfahrungen der ersten sizilianischen Kommunebewegung von 1254 bis 1256 unter päpstlicher Oberhoheit als auch die Erfahrungen der sich teilweise selbstverwaltenden universitates unter der Herrschaft Karls von Anjou mündeten in ein Wissen, das das Handeln der sizilianischen Akteure im Jahr 1282 entscheidend mitbestimmen sollte. Zunächst kam es jedoch Ende März — quasi als Initialzündung der sich im Anschluss überschlagenden Ereignisse um die Entstehung der Regionalkommune - zum berüchtigten Osteraufstand in Palermo, der als „Sizilianische Vesper" in die historische Überlieferung eingehen sollte25. Er richtete sich gegen die vordergründig fest etablierte angiovinische Herrschaft, die mit einem für mittelalterliche Verhältnisse modern wirkenden Beamtenapparat zentral organisiert war. Einzigartig ist die Blutrünstigkeit der Erhebung, der Salimbene de Adam in seiner Chronik mit wenigen Worten Ausdruck verlieh: „Die Sizilianer erhoben sich gegen Karl von Anjou und in der Stadt Palermo alle Franzosen, Mann und Frau, getötet und die kleinen Kinder an einem Stein zerschmettert und den Schwangeren die Bäuche aufgeschlitzt"26. Ausgangspunkt für dieses Massaker war ein traditionelles Fest der Palermer, das sie am Ostersonntag, -montag oder am Dienstag nach Ostern 1282 — die genaue Datierung ist nicht sicher - vor den Mauern ihrer Stadt bei der Kirche Santo Spirito begingen. Ebenfalls zu den Feierlichkeiten erschien eine Gruppe von Amtsdienern des in Palermo residierenden Justitiars, Jean de Saint-Remi mit Namen, der den König in der gesamten westlichen Inselhälfte vertrat. Sowohl der Justitiar als auch seine Bediensteten auf dem Fest stammten aus der Heimat Karls von Anjou, waren also Franzosen. Ob die besagten Amtsdiener beim Tanzen mit den unverheirateten jungen Frauen den einheimischen Ehrenkodex missachteten und es aus der Sicht der Palermer zu unsittlichen Berührungen kam, was wüste Beschimpfungen zur Folge hatte und die solchermaßen geschmähten Fremden zum Anlass nahmen, ihre Macht zu demonstrieren, indem sie alle Festteilnehmer, einschließlich der Frauen, nach versteckt getragenen Catalioto, Terre, baroni e cittä in Sicilia nell'etä di Carlo I d'Angiö, S. 182f. Das Zitat ebd., S. 183, Anm. 12. Zur letztendlichen Entscheidungshoheit des Justitiars ebd., S. 183, Anm. 12 und Herde, Karl I. von Anjou, S. 76. 25 Die Herkunft dieser Bezeichnung ist nicht ganz eindeutig, Cartellieri, Peter von Aragon und die sizilianische Vesper, S. 222. Vermutlich stammt sie aus dem 15. Jahrhundert, Moses I. FlNLEY / Denis Mack SMITH / Christopher DUGGAN: Geschichte Siziliens und der Sizilianer, München 21998, S. 122. Den denkbaren Zusammenhang zwischen Beginn des Aufstandes und der Vesperstunde belegen die zeitgenössischen Texte ebenfalls nicht. 26 Siquidem Siculi rtbelks fuerunt rtg Kart/la et in ävitate Panormitana inteifectrunt omnes Galileos, viros et mulierts, et parvulos alüserunt adpetram etpregnantes apperuerunt, Cronica Fratris Salimbene de Adam Ordinis Minorum, MGH Scriptores, Bd. 32, hg. v. Oswald Holder-Egger, Hannover/Leipzig 1905-1913, S. 508f. 24

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Waffen untersuchen wollten, wie der anjoufireundliche Chronist Saba Malaspina berichtet27; oder ob die französischen Amtsträger von vornherein mit schikanösen Absichten die Feierlichkeiten besuchten und so auf den Einfall mit den versteckten Waffen und der Durchsuchung aller Festteilnehmer kamen, wie der pro-sizilianische Chronist Bartholomaeus de Neocastro behauptet28, ist nicht eindeutig zu beantworten. Entscheidend war, dass im Königreich Sizilien tatsächlich das Tragen von Waffen in der Öffentlichkeit verboten war29. Die Männer des Justitiars hätten dieses Gesetz also durchaus zum Vorwand nehmen können, um sich an jungen Palermerinnen zu vergreifen. Die auf diese Weise versinnbildlichte Macht und die offensichtliche Ohnmacht der Einheimischen provozierte einen Tumult, der darin gipfelte, dass die anwesenden Palermer Männer die französischen Amts träger in einem kurzen Kampf überwältigten. Laut Saba Malaspina geschah dies auch mit Schwertern, also ganz offensichtlich mit zuvor versteckt geführten Waffen30, während Bartholomaeus die Meinung vertrat, es seinen nur aufgelesene Steine zum Einsatz gekommen31. Wie dem auch immer gewesen sein mag, dieser erste Kampf bewirkte die völlige Entfesselung der anwesenden Einheimischen. Unter dem Ruf: Moriantur, Galtiri, moriantur!, stürzten sie in die Stadt32. Manche besetzten die Tore, andere gingen zu den Häusern der Franzosen und töteten alle Personen, die sie antrafen, sowohl Männer als auch Frauen. Sodann versuchte man den befestigten Amtssitz des Justitiars zu stürmen. Als das Tor aufgebrochen und etliche Wachen getötet waren, sah sich der inzwischen verletzte Jean de Saint-Remi gegen Mitternacht gezwungen, aus Palermo zur Burg Vicari zu fliehen33. Was dann geschah, beschreibt Bartholomaeus de Neocastro folgendermaßen: „Nun jedoch bestimmten die Bürger selbst über den Status der Stadt, und während sie die R omanae Mains Eccksiae anriefen, machten sie den Status als Kommune fest, und während sie unter dem Spielen von Trommeln und Zimbeln eine Fahne mit dem kaiserlichen Adler, unter dem die Bürger sich angewöhnt hatten, glücklich zu Saba Malaspina, S. 287f. Bartholomaeus de Neocastro, Kap. 14, S. 1 lf. 29 Trifone, La legislazione angioina, Nr. 43, S. 45-47. Dort das Verbot für alle Bewohner des Königreiches arma probibita zu tragen, um Fehden zu unterbinden. Der Erlass stammt vom 15. Februar 1277 und knüpft an die Gesetzgebung Friedrichs II. an, vgl.: Die Konstitutionen Friedrichs II. für das Königreich Sizilien, I 10, S. 160f, u. I 11, S. 161 f. Dazu ebenfalls Dilcher, Die sizilianische Gesetzgebung Kaiser Friedrichs II., S. 160. 30 Saba Malaspina, S. 288. 31 Bartholomaeus de Neocastro, Kap. 14, S. 12. 32 Ebd., Kap. 14, S. 12. Bei Saba Malaspina, S. 288. Auch viele andere Chronisten, die über den Osteraufstand berichten, bieten die eine oder andere Version dieses Ausrufes. So heißt es im Chronicon Siciliae, S. 830 (C): Moriantur GalMri, moriantur Gallia! Der katalanische Chronist Ramon Muntaner schreibt: Murien ä franctsqui!, ders., Crönica, hg. v. Vincent Escarti, 2 Bde. (Biblioteca d' autors valencians 4), Valencia 1999, Bd. 1, S. 111. Bei seinem Landsmann Bemat Desclot heißt es: A mort als Francesos!, ders., Cronica del rey en Pere, Chroniques etrangeres relatives aux expeditions fitancaises, pendent le X l l l e siecle, hg. v. Jean Alexandre Buchon, Paris 1840, S. 629. Auch Dante verarbeitete ihn in seiner Divina Commedia, Paradiso 8, 75: Mosso Palermo a gridar. Mora! Mora! 33 Bartholomaeus de Neocastro, Kap. 14, S. 12. 27 28

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leben, hissten, wählten sie Rogemm de Magistro Angtlo, einen ihrer Mitbürger, zum Kapitan und andere zu seinen a>nsikmof'M. Zum selben Sachverhalt wusste der anonyme Autor des Chronicon Siciliae zu berichten: „Die Palermer [...] unterstellten sich dem Schutz und der Herrschaft der Römischen Kirche ohne Unterwerfung unter die Herrschaft irgendeines Königs, und sie regierten und verfassten sich in communz"35. Demnach fanden sich noch um Mitternacht die Einwohner Palermos zusammen, um sich zu einer Kommune zu verschwören. Als Symbol der neuen Unabhängigkeit wählte man die alte kaiserliche Fahne, die in einem feierlichen Akt gehisst wurde. Anschließend wurden durch Wahlverfahren die Ämter der neuen Kommune vergeben. Die Anrufung der „Römischen Mutter Kirche", der sakrosanten Oberlehnsherrin des Königreiches Sizilien, und die Unterstellung unter ihren Schutz und ihre Herrschaft weist dabei auf ein Wissen um kommunale Conjurado, das den Akteuren offenbar noch aus jenen Jahren der ersten Kommunebewegung präsent war, als Papst Alexander IV. den sizilianischen Kommunen genau diesen Schutz der Kirche gewährt hatte36. Nach der Konstituierung der Kommune waren die Rachegelüste der Palermer aber mitnichten befriedigt. Bereits am nächsten Morgen zog eine bewaffnete Menge zur Burg Vicari, und die Angreifer „lechzten danach, die Schwerter im Blut des Justitiars zu baden"37. Ein Vorhaben, das nach kurzer Belagerung in die Tat umgesetzt werden konnte, weil es durch eine List gelang, Jean de Saint-Remi und einige seiner Getreuen in einem günstigen Augenblick mit Pfeilen von der Burgmauer zu schießen. Die Leichname zerstückelte man und warf sie den Hunden zum Fraß vor38. Nach dieser Tat war der Blutdurst der Palermer aber keineswegs gestillt, sondern er war vielmehr auf ein Neues angefacht. Denn kaum waren die Bewaffneten nach Palermo zurückgekehrt, begannen sie, systematisch alle erdenklichen Verstecke nach den Überlebenden des ersten Mordens abzusuchen. Die Aufgespürten wurden laut Bartholomeus „sowohl in ihren Häusern wie auch auf öffentlichen Plätzen mit Schwertern abgeschlachtet"39. Weiter heißt es bei ihm: „Es wurde Rücksicht weder auf Geschlecht noch Alter genommen. Die Frau starb anstelle des Mannes, die Tochter für den Vater und aus den Leibern der Schwangeren [...] wurde das Kind herausgerissen. Die Alten fielen und die Kleinkinder, weil sie noch nicht um Gnade bitten konnten, wurden im Blut

Cum autem avis ipsi de statu civitatis ipsius salubn disponerent, nomen Romanae Matris Ecclenae invocantes, statum communem firmant, et vexillum imperahs aquilae, quod sempe äves ipsi consueverunt geirrt feüciter, cum tubis et cymbatis erigentes, Kogerium de Magistn Angela conävem eorum in capitaneum, et aüos in suos conatiarios procrearunt, ebd., Kap. 14, S. 12. 35 Panormitani [...] subjicientes seprotectione et domimo Eccksiae Romanae, absque subjectione domini aücujus reges, et rtgntes seu tenentes se in communi, Chronicon Siciliae, S. 832 (D). » V g l . Kap. 2.1.1. 37 Et vibrantesgladios anhelant in sanguinempraesidis, Bartholomaeus de Neocastro, Kap. 15, S. 12. 38 Ebd., Kap. 15, S. 12. 39 Mactantur in has domesticis, et inpkteispubhct gladiis fenuntur, ebd., Kap. 15, S. 12. 34

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der Mutter getötet. Anschließend wurde den Getöteten die Bestattung verweigert"40. Saba Malaspina weiß zusätzlich von schwangeren Sizilianerinnen zu berichten, die dasselbe Schicksal wie die französischen Schwangeren ereilt habe, wenn sie denn von Franzosen ein Kind erwartet hätten41. Spätere sizilianische Chroniken erwähnen das gezielte Suchen und Töten von französischen Mönchen in den städtischen Konventen der Franziskaner und Dominikaner42. Nach diesem zweiten zügellosen Gewaltausbruch innerhalb weniger Tage schlossen sich immer mehr Ortschaften der Erhebung gegen die Franzosen und damit gegen die Herrschaft Karls von Anjou an. Auch scheint es zu weiteren Verfolgungen und Ermordungen gekommen zu sein, jedoch nicht mehr in diesem Ausmaß wie in Palermo. Bartholomaus de Neocastro berichtet mit Bezug auf diese gewalttätigen Übergriffe erstaunt, wie sich zwar zahlreiche Sizilianer an ihnen beteiligt hätten, sie dabei aber a Regis Karoli nomine non declinanZ43. Zunächst schlossen sich den Palermern die Orte des westlich gelegenen Val di Mazara an, und wie in Palermo ernannten die Aufständischen eigene populäre Anfuhrer: Eriguntur in terris populäres rectores et capitanä fiunt in pkbibuj44. Gleichfalls aus dieser frühen Phase der sich formierenden communitas Siciliae stammt der Vertrag zwischen Palermo und dem Ort Corleone45. Er hält den wechselseitigen Schwur zu einer „Union, Treu- und Bruderschaft", ad [...] unionem fidelitatem etfraternitatem, also zu einer überörtlichen Conjurado, und die Verpflichtung „zur Hilfe in allem durch alles", ad adiuvandum [...] in omnibus etper omnia, in schriftlicher Form fest46. Saba Malaspina berichtet, wie nach dem Abschluss dieses Bündnisses die Schwurgenossen eine gemeinsame Fahne mit den päpstlichen Schlüsseln als Wappenmotiv zu ihrem Zeichen erhoben und sie anschließend Boten zu allen Orten Siziliens mit der Aufforderung geschickt hätten, durch Abgesandte den bonum statum contrate und die Sycilie libertaiem schwören zu lassen. Zudem sollte den Palermern und der römischen Kirche Gehorsam geleistet und im Gegenzug der Treueid gegenüber Karl I. aufgekündigt werden47. Aber die auf diese Weise langsam Formen annehmende sizilianische Regionalkommune setzte nicht nur auf friedliche Verhandlungen, sondern sie übte durch Androhung und vielleicht auch Anwendung von Gewalt einen Beitrittszwang aus. So beschreibt das Chronicon Siciliae, wie drei hostes seu acits et congregationes gentium, also vermutlich drei Abteilungen einer kommunalen Miliz, Richtung Cefalü, Castrogiovanni und Calatamauro in Marsch gesetzt worden seien. Sie sollten durch Druck der Waffen die ävitates, terrae, castra et loca ganz Siziliens, „ob so wollten Negatur venia sexut, negatur et aevo; moriuntur matronae pro maribus, moriuntur nymphae pro patribus, et a maternis visceribus [...] infam extrabitur, senes cadunt, etparvuh, cum veniampetere nesäant, cum matrum sanguine poUuuntur. Neganturpostfunus exequiae bumanat, ebd., Kap. 15, S. 12f. 40

Saba Malaspina, S. 288f. Michele Amari, La guerra del vespro sidliano, Bd. 1, S. 198. 43 Bartholomaeus de Neocastro, Kap. 18, S. 14. Das Zitat ebd. 44 Saba Malaspina, S. 289. "5 Vgl. Kap. 1.3.1, S. 30. 46 Atto di confederatione, S. 129. 47 Saba Malaspina, S. 293. Die Zitate ebd. 41

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oder nicht {idem velle idem nolle)" zum Betritt und damit zum Kampf gegen die Franzosen zwingen48. Auch Saba Malaspina wusste um diesen Beitrittszwang zur Großkommune. Er lässt den capitaneus von Palermo in einer Rede, die er angeblich vor der versammelten Einwohnerschaft gehalten haben soll, erklären, dass alle Orte bis nach Messina sich entweder durch Furcht oder freiwillig ihrer voluntati unterwerfen müssten49. .Voluntas' meint in diesem Fall also nicht schlicht .Willkür', sondern scheint mit „selbst gesetztem kommunalen Recht" oder vielleicht auch schlicht mit „kommunaler Herrschaft" (als Ausdruck dieses Rechtes) übersetzt werden zu müssen50. Ledigjüch gegenüber Messina waren diese hier geschilderten Zwangsmaßnahmen nicht von Erfolg gekrönt. Die dortige Führung blieb nicht nur in den Händen von Anhängern Karls von Anjou, sondern sie versuchte auch, die inselweite Erhebung zu bekämpfen. Sieben Galeeren schickte man nach Palermo, um den dortigen Hafen zu blockieren51; Mitte April eine Abteilung Bewaffneter ins südlich gelegene Taormina, angeblich um den Ort gegen Raub und ungewöhnliche Vorkommnisse (insolentid) zu beschützen52. Offensichtlich galt es, eine dort drohende Erhebung gegen die angiovinische Herrschaft zu verhindern. Dennoch blieb auch in Messina die Lage keineswegs ruhig. Erste anti-angiovinische Übergriffe zwangen beispielsweise die vor Ort einquartierten königlichen Truppen, die noch vor der Vesper für einen bevorstehenden Kriegszug auf dem Balkan zusammengezogen worden waren, hinter die sicheren Mauern des innerhalb der Stadt gelegenen königlichen Kastells. Schließlich beging der königliche vicarius, das heißt der für die Kastelle der östlichen Inselhälfte zuständige und in Messina residierende königliche Beamte, am 24. April den folgenschweren Fehler, von seinen Bewaffneten gleichfalls eine Abteilung nach Taormina zu beordern. Kaum waren die Soldaten des Vikars vor Ort angelangt, gerieten sie mit denen der Stadtregierung gewaltsam aneinander, und die letzteren fraternisierten mit den ohnehin aufständisch gesinnten Einwohnern Taorminas. Der kleine Ort am Fuß des Ätna sagte sich von Karl I. los, die königliche Fahne wurde vom Rathaus gerissen. Am 28. April erreichte die Nachricht vom Abfall Taorminas Messina, wo sie sofort auf fruchtbaren Boden fiel. Ein gewisser Batholomaeus de Maniscalco, alter depopulo, hisste zusammen mit Mitstreitern und unter öffentlichem Schmähen Karls von Anjou die Fahne der alten messinesischen Kommune aus der Zeit der ersten sizilianischen Kommunebewegung. In der darauffolgenden Nacht kam es zu blutigen Übergriffen gegenüben denjenigen Franzosen, die nicht im königlichen Kastell untergekommen waren. Zugleich übernahm der Ritter Baldoinus Mussonus die Führung der aufständischen Messinesen53. Tags darauf, also dem 29. April 1282, wählte eine Volksversamm48

Chronicon Siciliae, S. 832 (D).

Das Zitat lautet vollständig: Quod vei timort vel vokntate terras usque Messanam nostrae voluntati sine nsistentia submittemus, Saba Malaspina, S. 291.

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Allgemein zur voluntas im Zusammenhang mit Conjurariones vgl. Kap. 1.1, Anm. 15. si Bartholomaeus de Neocastro, Kap. 15, S. 13. 52 Ebd., Kap. 24, S. 18. 53 Ebd., Kap. 24, S. 18f.

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lung besagten Baldoinus Mussonus offiziell in das Amt des städtischen Kapitans (capitaneum urbis). Zugleich wurden durch diese Versammlung consilarii et magstm urbis sowie Henker in ihre Ämter eingesetzt Diese Handlungen geschahen, wie in Palermo einen Monat zuvor, unter Anrufung der „Heiligen Mutter Kirche", und ebenso wie dort wurde nun auch offiziell ein voälBum communis zum Symbol der kommunalen Herrschaft erhoben und zwar mit einem Kreuz als Wappenmotiv54. Am 30. April unterrichteten die Messinesen ihre Panormitanos fratrts durch Boten über diesen Umsturz in ihrer Heimatstadt55. Zum Abschluss dieser Schilderung meint Bartholomaeus de Neocastro unterstreichen zu müssen, dass der messinesische populus durch seinen Aufstand „die entstandene Kommune Siziliens {communitatem imtiam Siciüat)" gestärkt habe56. Wenn es auch in Messina zunächst nicht zu solchen Gewaltausbrüchen wie in Palermo gekommen war, der Hass auf die Franzosen sollte auch hier noch Opfer kosten. Zunächst sorgte jedoch der neue Kapitan Baldoinus Mussonus dafür, dass beispielsweise der königliche vicarius per Schiff die Stadt verlassen konnte. Ebenso erhielt von ihm der königliche Kastellan, also der direkte Kommandant des königlichen Kastells, mit 70 Mann seiner Kastellbesatzung und deren Familienangehörigen die Möglichkeit, sich nach Kalabrien einzuschiffen. Unglücklicherweise gelang es diesen Franzosen jedoch wegen ungünstiger Witterungsbedingungen nicht, aus dem Hafen auszulaufen. Nach mehreren Tagen, die sie auf ihrem Schiff verbringen mussten, fielen sie schließlich einer aufgebrachten Menge zum Opfer. Im Anschluss wurde auch das Rathaus gestürmt In ihm waren einige Franzosen aus Gründen ihrer persönlichen Sicherheit untergebracht Sie fielen jetzt dem rasenden Mob in die Hände und wurden allesamt erschlagen57. Nachdem sich mit Messina die letzte größere Stadt dem sizilianischen Aufstand angeschlossen hatte, ließen auch die ersten Gegenmaßnahmen der alten Herrschaftsträger nicht lange auf sich warten. Am 7. Mai 1282 forderte Papst Martin IV. als Oberlehnsherr über das Königreich Sizilien die Unterwerfung der Sizilianer unter Kurie und König. Er drohte mit Exkommunikation, verurteilte das Massaker in Palermo und verbot jedwede societatem, conjurationem out foedus mit den Aufständischen58. Sodann erklärte er: „Wir lösen nämlich die Konföderationen und Bündnisse jeglicher Art, ob sie zwischen den Kommunen oder denselben oder wem auch immer anderen geschlossen wurden [...], vollständig auf, und ebenso erklären wir die von ihnen geleisteten Eide [...] gänzlich für aufgelöst"59. Mit diesem päpstlichen Schreiben hatte sich

Μ

55 5« 57 58

Ebd., Kap. 25, S. 19. Ebd., Kap. 30, S. 21. Ebd., Kap. 44, S. 29. Ebd., Kap. 30, S. 21 f. Die Bulle im Codex Italiae diplomaticus, Nr. 55, S. 999.

Nos enim confoederationts, seu obkgationts quashbet, ή quae inter Cornmunitates easdem, vtl ipsas et quoscumque alios initas [...],penitus dissolventes, acjurammta de iläcis servandis [...] nlaxantes ernnino, ebd., Nr. 55, S. 59

999.

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die Hoffnung der aufständischen Sizilianer endgültig zerschlagen, wie zwischen 1254 und 1256 Rückendeckung von der römischen Kurie zu erhalten. Auch lässt diese päpstliche Drohung erkennen, dass die politisch Verantwortlichen unter den Aufständischen den Einfluss Karls I. in Rom völlig unterschätzt hatten. Vielmehr scheinen sie blind auf die Erfahrung der fast 30 Jahre zurückliegenden Ereignisse nach dem Tod Friedrichs II. und Konrads IV. vertraut zu haben. Papst Martin jedoch, eigentlich Simon de Brion, war ein Landsmann Karls I. und unter massiver Einflussnahme des Königs in Viterbo ins höchste Kirchenamt gewählt worden60. Er war also nicht nur ein treuer Parteigänger des Anjou, sondern spielte angeblich sogar mit dem Gedanken, seine Residenz ins angiovinische Marseille zu verlegen61. Gegenreaktionen erfolgten jedoch nicht nur von Seiten des Papstes, sondern natürlich auch von König Karl selbst. Zunächst erließ er am 10. Juni 1282 eine Reihe von Konstitutionen, die das Verhältnis seiner Amtsträger zu seinen Untertanen genau regeln, die bisherige Gesetzgebung zusammenfassen und Missstände im Königreich abstellen sollten62. Demnach waren ihm die Übergriffe und Willkürhandlungen seiner Beamten, die den Aufstand offensichtlich mit auslösten, nicht unbekannt geblieben. Aber auch militärisches Vorgehen ließ nicht lange auf sich warten. Am 24. Juni kam es bei Milazzo zu einem Gefecht zwischen angiovinischen und messinesischen Truppen, das die ersteren fur sich entscheiden konnten63. Nachdem ein letzter Umstimmungsversuch der Rebellen von Seiten des eigens von Martin IV. zum Legaten für Sizilien ernannten Kardinalbischofs von Sabina gescheitert war, begann Karl Ende Juli die Belagerung Messinas mit einem Heer, das eigentlich für einen Feldzug gegen Byzanz hätte zum Einsatz kommen sollen64. Wohl unter dem Eindruck dieses massiven militärischen Druckes entschlossen sich die Aufständischen, König Peter III. von Aragon um Hilfe zu bitten. Kontakte zum aragonesischen König hatten wohl schon seit dem Beginn der Erhebung bestanden, vor allem von Seiten Palermos. Den einschlägigen Chronisten zufolge habe bereits im April eine Palermer Gesandtschaft dem König die Krone Siziliens angeboten, die er damals noch abgelehnt habe65. Inzwischen war Peter jedoch gut gerüstet an der algerischen Küste in Wartestellung gegangen. Ende August nahm er dort das Angebot einer weiteren, diesmal gesamtsizilianischen Gesandtschaft an und schiffte sich kurz darauf in Trapani ein66. Am 4. September wurde er in PalerHerde, Karl I. von Anjou, S. 95f. Kiesewetter, Die Anfange der Regierung König Karls II. von Anjou, S. 89. 62 Trifone, La legislazione angioina, Nr. 58, S. 76-93. 63 Bartholomaeus de Neocastro, Kap. 33-36, S. 23-25. Saba Malaspina datiert ihn deutlich später, in die Zeit der Belagerung Messinas ab Ende Juli, ders., S. 313f. Zur Belagerung selbst vgl. ebenfalls diese Seite. 64 Bartholomaeus de Neocastro, Kap. 38-42, S. 25-28. Zu den eigentlich für einen Feldzug gegen Byzanz bestimmten Truppen Kiesewetter, Die Anfänge der Regierung König Karls II. von Anjou, S. 90. 65 Bartholomaeus de Neocastro, Kap. 21-23, S. 16-18. Gleiches bestätigen aber auch Saba Malaspina, S. 314f, das Chronicon Siciliae, S. 833f, und Nicolaus Specialis, S. 928f. 66 Bartholomaeus de Neocastro, Kap. 44 u. 45, S. 29f. 60 61

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mo zum König von Sizilien gekrönt?7. Umgehend marschierte er mit einem Heer auf Messina. König Karl gelang bis in die letzten Septembertage hinein kein entscheidender Durchbruch bei der Belagerung, so dass er sich schließlich mit seinen Truppen vor dem anrückenden Peter auf das italienische Festland zurückziehen musste68. Im Zusammenhang mit diesen letzten Tagen der Belagerung von Messina berichtet Bartholomaeus de Neocastro von einer genuesischen Gesandtschaft an den Hof des byzantinischen Kaisers Michaels VIII. Palaiologos, die ihn im Namen Messinas und Siziliens ebenfalls um Hilfe bitte sollte69. Dies ist nicht nur einer der ganz wenigen zumindest indirekten Hinweise auf jene vermutete Verschwörung zwischen sizilianischen Ghibellinen und Anjougegnern, zwischen Peter III. von Aragon und dem byzantinischen Β as ileus mit dem Ziel, die angiovinische Herrschaft empfindlich zu schwächen70. Darüber hinaus lässt Bartholomaeus den Genueser Gesandten vor dem byzantinischen Kaiser kurz die bisherigen Ereignisse auf der Insel zusammenfassen, wobei er seine Leser über die neue politische Organisationsform auf der Insel aufgeklärt: „Das gesamte Volk der Stadt Messina [...] und ganz Sizilien verbannte den Namen König Karls, erhob sich gegen ihn und lebt nun als Kommune (/« communi)"11. Aber auch unabhängig von dieser eindeutigen Formulierung in der Chronik des Bartholomaeus de Neocastro tauchte in den ersten Tagen der aragonesischen Herrschaft die Bezeichnung communitas Siciliae für die Selbstregierung der Sizilianer im Geschäftsschriftgut der Aragonesen auf. Peter III. bediente sich ihrer in mehreren Schreiben, während er begann, seine Herrschaft über die Insel zu organisieren72. Zusätzlich findet die verwandte Formulierung univenitas Siculorum terrae in jenervermutlich ungefähr zeitgleichen sizilianischen Streitschrift Verwendung, die an Papst Martin IV. adressiert war und im Chronicon Siciliae tradiert wurde73.

2.2 Flandern 1323 bis 1328 2.2.1 Von der Schlacht bei Kortrijk bis zum Frieden von Athis-sur-Orge: Der Krieg mit Philipp IV. von Frankreich 1302 bis 1305 Bevor ich auf den Ereignisablauf der Jahre von 1323 bis 1328 eingehe, ist es unerlässlich, den ersten großen Konflikt, der die Grafschaft Flandern gleich zu Beginn des 14. Jahrhunderts erfasste, kurz vorzustellen. Wie auf Sizilien die erste Kommunebewegung unter päpstlicher Kontrolle gehörte er zur mittelbaren Vorgeschichte der hier im «7 Ebd, Kap. 45, S. 30. 68 Kiesewetter, Die Anfänge der Regierung König Karls II. von Anjou, S. 95. 69 Bartholomaeus de Neocastro, Kap. 50, S. 36f. 7° Dazu Kap. 1.2.1, S. 15.

Cunctuspepulus civitatis Messanae, [...] et tota Siciäa, ejecto nomine Caroti regis, se opposuerunt contra ipsum, et vivunt in communi, Bartholomaeus de Neocastro, Kap. 50, S. 36.

71 72 7J

De rebus regni Siciliae, Nr. 93, S. 87; Nr. 414, S. 305; Nr. 608, S. 554. Vgl. Kap. 1.3.1, S. 30.

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Fokus stehenden flämischen Großkommunebildung. Viele der auch in den folgenden Kapiteln noch zu thematisierenden Zusammenhänge lassen sich nur vor seinem Hintergrund hinreichend verstehen. Die flämisch-französischen Auseinandersetzungen begannen sich auf ihren Höhepunkt zuzubewegen, als Philipp IV. von Frankreich die Grafschaft Flandern im Jahr 1300 besetzte. Aber nicht nur das. Der flämische Graf Gui von Dampierre, sein Sohn und designierte Nachfolger Robert von Bethune sowie zahlreiche flämische Adlige teilten ein gemeinsames Schicksal als Gefangene des Königs. Darüber hinaus setzte Philipp einen königlichen Statthalter ein, um auf diese Weise die Einverleibung Flanderns in die königliche Krondomäne zu besiegeln1. Die Gründe für diese Eroberung und Annektierung Flanderns sind im schon Jahre zuvor stark belasteten Verhältnis zwischen Philipp IV. und Gui von Dampierre zu suchen. Sie waren in erster Linie dem Unabhängigkeitsstreben verschuldet, mit dem Gui versuchte, seine Position gegenüber seinem königlichen Lehnsherrn zu stärken. Bereits 1294 hatte er sich dem englischen König angenähert, was ihm eine Vorladung vor den königlichen Hof in Paris und sogar eine viermonatige Haft einbrachte. Kaum war diese Krise durchgestanden, führte 1296 die strittige Frage um die Stadtherrschaft über Valenciennes zu einer erneuten Konfrontation. Gui musste wieder in Paris erscheinen. Das über ihn gesprochene Urteil war vielleicht nicht hart, aber unmissverständlich. Als Lehnsherr konfiszierte Philipp die Grafschaft Flandern und gab sie erst gegen Zahlung einer Strafsumme zurück. Der König hätte seine Macht kaum eindrucksvoller inszenieren können. Solchermaßen erniedrigt, beging der flämische Graf Anfang Januar 1297 den verhängnisvollen Fehler, seinen Lehnsvertrag zu widerrufen und sich auf die Seite König Edwards I. von England zu schlagen, den er zugleich als neuen Oberlehnsherren über seine Grafschaft anerkannte. Edward schiffte sich zwar noch mit Truppen nach Flandern ein, schloss aber bereits im Oktober 1297 einen befristeten Frieden mit Philipp IV. Nachdem dieser Waffenstillstand im Januar 1300 ausgelaufen war, war für den französischen König der Zeitpunkt gekommen, mit dem abtrünnigen Gui endgültig abzurechnen. Die Folge war die oben beschriebene Besetzung. Als königlichen Statthalter setzte Philipp den flämischen Adligen Jacques de Chätillion ein. Jedoch schon im Jahr darauf entwickelte sich Widerstand gegen diese Einverleibung der Grafschaft in die königliche Krondomäne. Ausgangspunkt war ein innerstädtischer Aufstand in Brügge, der sich an der Frage der Verwendung des kommunalen Steueraufkommens entzündete. In der Folge verzahnte sich diese kleinere inners1 Zur Geschichte des mittelalterlichen Flanderns nach wie vor aktuell Henri PiRENNE: Geschichte Belgiens, Bd. 1, Bis zum Anfange des 14. Jahrhunderts, Gotha 1899, und Bd. 2, Bis zum Tode Karls des Kühnen (1477), Gotha 1902. Die französische Ausgabe ders.: Histoire de Belgique, Bd. 1, Des origines au commencement du XTVC siecle, Brüssel 51929, und Bd. 2, Du commencement du XIV e siecle ä la mort de Charles le Temeraire, Brüssel 31922. Des Weiteren vgl. Algemene Geschiedenis der Nedertanden, Bd. 2, Middeleeuwen, Haarlem 1982. Die jüngste Überblickdarstellung aus der Feder von Nicholas, Medieval Flanders. Zur Bedeutung der nachfolgend geschilderten historischen Ereignisse in Hinblick auf die Konstruktion eines flämischen Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert vgl. Kap. 1.2.2.

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tädtische Revolte mit der Auseinandersetzung zwischen den Unterstützern der französischen Krone und den Anhängern des alten Grafen Gui, der sich noch immer in königlicher Gefangenschaft befand. Während sich die städtische Führungsschicht in Brügge grundsätzlich eher königtreu gab, standen die in Gilden organisierten Kaufleute, Handwerker und Gewerbetreibenden auf Seiten des Grafen. Sie unterstützten seine Sache, weil er in den Jahren vor dem für ihn unglücklich verlaufenen Krieg gegen Philipp IV. ihr Anliegen nach einer Beteiligung am städtischen Regiment gefördert hatte. Diese Beteiligung verhinderte die oligarchische Praxis der Ämtervergabe, an deren Fortbestand die die Macht innehabenden scabini et majores1 — sprich: die „Schöffen und Großen", also das regierende Patriziat - verständlicherweise interessiert waren. Für Gui war die Verteilung der politischen Macht auch auf breitere Schichten der städtischen Einwohnerschaft vor allem deshalb von Interesse, weil es ihm nur auf diese Weise gelingen konnte, die politische Schlüsselstellung des in seiner Mehrheit auch schon vor dem Jahr 1300 königstreuen Patriziats zu untergraben3. Das Ineinandergreifen von innerstädtischem Aufstand und königlich-gräflichem Gegensatz und vor allem die damit verbundene Parteienbildung in Königs- und Grafentreue dokumentieren am besten die entsprechenden jährlichen Einträge des anonymen Autors der Genter Annalen, der die Umstände dieses Konfliktes recht ausfuhrlich schildert4. Zum Jahr 1302 spricht er von den Königstreuen erstmals als LJliardP. Eine Titulierung, die sich aus der Lilie im französischen Königswappen ableitet In Lodewijk van Velthems ebenfalls zeitgenössischem „Spiegel Historiael" heißen sie ebenfalls UHardt oder auch LJyar&. Heutzutage werden sie als ,Leliaarts' bezeichnet. Die Anhänger der gräflich gesinnten Partei nennt Lodewijk Liebarte oder Lyebarts1. Das mittelniederländische »Liebaart' bedeutet ,Löwe' und bezieht sich in diesem Fall auf den Löwen im flämischen Wappen8. Annales Gandens es, S. 13. Zu diesen Zusammenhängen vgl. die unter Anm. 1 genannte Literatur. Vgl. auch Maie BOONE, Brügge und Gent um 1250: die Entstehung der flämischen Städtelandschaft, in: Wilfried HARTMANN (Hg.): Europas Städte zwischen Zwang und Freiheit Die europäische Stadt um die Mitte des 13. Jahrhunderts (Sonderband der Schriftenreihe der Europa-Kolloquien im Alten Reichstag), Regensburg 1995, S. 97-110. 4 Zu den Annales Gandenses vgl. Kap. 1.3.2, S. 37. s Annales Gandenses, S. 20f, S. 25-27, S. 29, S. 32-34. 6 Lodewijk van Velthem's voortzetting van den Spiegel Historiael (1248-1316), Bd. 2, Brüssel 1931, 4. Buch, Kap. 41, Vers 2950 u. 2955, S. 348. ' Ebd., Vers 2951 u. 2953, S. 348. 8 Vor dem Hintergrund des in Kapitel 1.2.2 präsentierten Forschungsstandes zur flämischen Regionalkommune erstaunt es kaum noch, wenn diese Bezeichnungen in der modernen wissenschaftlichen Literatur erschreckend unreflektiert benutzt werden. So wird auf ihre ursprüngliche Herkunft an keiner Stelle verwiesen. Vielmehr zitiert der eine Autor den anderen. Symptomatisch für diese unbefriedigende Situation ist die ebenfalls kursierende Bezeichnung der Grafentreuen als ,Klauwaarts', nach den Klauen des Wappenlöwen, fur die ich trotz intensiver Suche im zeitgenössischen Quellenmaterial keine Entsprechung finden konnte. Sie scheint aus späterer Zeit zu stammen, was von den einschlägigen Historikern jedoch niemanden zu interessieren scheint, vgl. die Überblicksdarstellungen zur flämischen Geschichte wie unter Anm. 1 zitiert. Zur Problematik Kap. 1.2.2. 2 3

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Entscheidend ist nun, dass dieser Kampf um die politische Macht zwischen Leliaarts und Liebaarts in jenen Monaten kein auf Brügge beschränktes Phänomen blieb. Er fand seine Entsprechung genauso in den anderen flämischen Großstädten. Vermutlich waren selbst etliche kleinere Städte und sogar die ländlichen Kommunen Flanderns von ihm erfasst. Demnach gab es die in Brügge zu beobachtende Parteienbildung auch keineswegs nur dort, sondern sie breitete sich über die ganze Grafschaft aus. Diese schwelenden Spannungen kamen wiederum in Brügge offen zum Ausbruch. Als direkte Folge jener ersten Unruhen um die Steuergeldverwendung ereignete sich dort im Frühjahr 1302 unter der Führung des Webers Peter Conink ein Massaker an königlichen Soldaten, die unter dem Kommando des Statthalters Jacques de Chätillion standen. Dieser gewaltätige Ausbruch anti-königlicher Einstellungen sollte als sogenannte „Mette von Brügge" in die Geschichte eingehen9. Er kulminierte in der „Goldsporenschlacht" von Kortrijk 1302, in der ein Aufgebot von flämischen Kommunalmilizen unter Führung von Mitgliedern der gräflichen Familie spektakulär ein französisches Ritterheer, das nach Flandern einmaschiert war, besiegen konnte10. Das grafentreue Heer bestand dabei aber nicht nur aus Städtern, sondern auch aus den Bewohnern der kommunal organisierten ländlichen Kastellaneien Flanderns11. Die kommunale Miliz der Kastellanei von Brügge, das heißt des ländlichen Gebietes um Brügge, war gar groß genug, ein eigenes Kontingent in der Schlachtaufstellung zu bilden12. Während 1303 die Kampfhandlungen für die Flamen durchaus erfolgreich verliefen, mussten sie 1304 zwei militärische Niederlagen verkraften. Wohl auch deshalb wurden 1305 Friedensverhandlungen aufgenommen, die im Juni dieses Jahres zum Frieden von Athis-sur-Orge führten. Die Bedingungen des Vertrages waren ausgesprochen unvorteilhaft für die Flamen, und sie spiegelten in keiner Weise mehr den Erfolg von 1302 wider. Die Grafschaft sollte in wenigen Jahren enorme Strafsummen aufbringen. Die den Leliaarts zugefügten Schäden sollten entschädigt werden. Die Befestigungen der größeren Städte waren zu schleifen, städtische Privilegien wurden annulliert. Als Strafe für die „Mette von Brügge" hatte die Stadt Brügge 3000 Bürger

Zur Mette vgl. Kap. 1.2.2, Anm. 22. Die Beschreibung des Massakers in den Annales Gandenses, S. 24. 10 Dazu aus der Sicht der Zeitgenossen die Annales Gandenses, S. 13—38. Ansonsten vgl. Anm. 1. Des Weiteren sind zum 700jährigen Jahrestag der Schlacht erschienen Randall FEGLEY: The Spurs of Kortrijk. How the Knights of France fell to the Foot Soldiers of Flanders in 1302, Jefferson 2002. Raoul C. Van CAENEGEM (Hg.): 1302 - Le Desastre de Courtrai. Mythe et realite de la bataille des Eperons d'or, Anvers 2002. Neu aufgelegt wurde Jan F. VERBRUGGEN: The Battle of the Golden Spurs (Courtrai 11 July 1302). A Contribution to the History of Flanders' War of Liberation, 1297-1305, Woodbridge 2002. Zum Mythos der Schlacht von Kortrijk vgl. abermals Nörtemann, Im Spiegelkabinett der Historie. " Dazu Kap. 5.2.1. 12 Verbruggen, The Battle of the Golden Spurs, S. 152 u. S. 229. Er orientiert sich dabei vermutlich an Lodewijk van Velthem's Spiegel Historiael, Buch 4, Kap. 29, Vers 2005-2105, S. 310-314. Die Bewohner der Brügger Freie werden erwähnt in Vers 2085-2089, S. 313.

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auf eine Bußwallfahrt zu entsenden. Überdies mussten der Graf, die Adligen, die städtischen Schwurgenossen und alle übrigen männlichen Flamen, die älter als vierzehn waren, dem französischen König einen ewig gültigen Treueid leisten. Bis zur vollständigen Erfüllung des Vertrages blieben die Kastellaneien und Städte Lille, Douai und Bethune sowie die Burgen in Kortrijk und Cassel in den Händen des Königs13. Weil der alte Graf Gui von Dampierre Anfang März in der Gefangenschaft gestorben war und sein Sohn und Nachfolger Graf Robert von Bethune sich noch nicht auf freiem Fuß befand, setzte Roberts Sohn, Graf Ludwig I. von Nevers, die Unterschrift unter das Vertragswerk. 2.2.2 Der Aufstand von 1323 bis 1328: quasi una communitas Flandrie Der Aufstand begann im Herbst 1323 in den ländlichen Gebieten der Kastellaneien von Bourbourg, Bergues, Veurne und Brügge, wobei der zuletzt genannte Distrikt die Bezeichnung „Freiamt von Brügge" (Franc du Bruges) oder kurz „Brügger Freie" (Brugse Vrije) führte14. Wie die Sizilianer 1282 erhoben sich die flämischen Bauern gegen eine bestehende Herrschaft, die - ebenfalls ähnlich wie auf der Mittelmeerinsel - auf einem für die Zeit durchaus fortschrittlichen Verwaltungssystem beruhte15. Die gewaltsamen Proteste richteten sich gegen die lokalen Herrschaftsträger. In Gänze zur Ruhe gekommen war die Grafschaft Flandern aber eigentlich seit dem Frieden von Athis-sur-Orge nicht mehr. In den Jahren 1309, 1311 und 1316 war es zu lokalen Unruhen gekommen. Dementsprechend beiläufig fielen zunächst die Reaktionen der Herrschaft auf die Erhebung von 1323 aus. Der amtierende Graf Ludwig II. von Nevers, Enkel Graf Roberts von Bethune und Sohn jenes Ludwig I. von Nevers, der den Friedensvertrag von 1305 für die Grafschaft unterzeichnete, versuchte eher halbherzig die Wogen durch Verhandlungen und Zugeständnisse an die Aufständischen zu glätten. Dabei übersah er vollkommen, dass die Brisanz der Situation auch und gerade mit seiner Person verknüpft war. Während nämlich sein Großvater Robert den aus dem Frieden von Athis resultierenden königlichen Forderungen stets sehr ambivalent gegenüber gestanden und die Konfrontation nicht gescheut hatte - immerhin hatte er mit seinem Vater Gui von Dampierre jahrelang in königlicher Haft zugebracht, war Ludwig willfahriges Instrument der Flandernpolitik des französischen Königs. Um es mit der Terminologie des Autors der Genter Annalen oder der Lodewijk van Velthems auszudrücken: Graf Robert von Bethune konnte oder wollte sich von seiner 13 Der Inhalt des Vertrages ist zu erschließen aus Inventaire des archives de la ville de Bruges, Section premiere, Inventaire des chartes, Bd. 1, Nr. 228, S. 276-289. 14 Chronicon Flandrensium, S. 187. Zur Datierung in den Herbst Pirenne, Le soulevement de la Flandre maritime, S. XVI. Dazu auch Julius P. VUYLSTEKE, Gentsche stads- en bajuwsrekeningen 1280-1336/Comptes de la ville et baillis de Gand 1280-1336 (Oorkondenboek der Stad Gent/Cartulaire de la ville de Gand, Abteilung 1, Rekeningen/Comptes), Teil 1, Gent 1900, Teil 1, S. 341. 15 Pirenne, Geschichte Belgiens, Bd. 1, S. 347-352. Moderner ist Nicholas, Medieval Flanders, S. 7789.

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Liebaart-Gesinntheit nicht wirklich lösen. Bis zu seinem Tod im Jahr 1322 war der Vertrag von Athis mehr oder weniger offen geblieben und die Umsetzungen der Vertragsbedingungen allenfalls in einem bescheidenen Umfang erfüllt worden. Nach seinem Tod übernahm nun sein Enkel Ludwig II. die Nachfolge. Dies war 1320 im Vertrag von Paris mit dem französischen König festgelegt worden. Ludwig war am französischen Hof aufgewachsen, hatte - ebenfalls ein Produkt des Pariser Vertragswerkes - eine königliche Prinzessin geheiratet und war insgesamt dem Königshaus treu ergeben16. Mit seiner Regierungsübernahme gab man sich am königlichen Hof in Paris vermutlich nicht ohne Grund der Hoffnung hin, das offene Kapitel um Flandern endgültig schließen zu können. Dass die Grafschaft aber mit Ludwigs Regierungsübernahme mitnichten zur Ruhe kommen sollte, zeigt der beginnende Aufstand in den westlichen Kastellaneien, der rasch an Dynamik zulegen konnte und die gräfliche Herrschaft bis an den Rand des völligen Zusammenbruchs brachte. Zunächst jedoch gelang es Graf Ludwig, im Frühjahr 1324 die Unruhen noch einmal durch vertragliche Übereinkünfte mit den Aufständischen einzudämmen. Entweder handelte er diese Friedensverträge17 persönlich aus oder er delegierte die Verhandlungen an seinen Onkel, Graf Robert von Cassel, der bei dieser Aufgabe von Vertretern der drei Städte Brügge, Gent und Ypern unterstützt wurde18. Im Umfeld dieser Friedensverträge finden sich nun die ersten Hinweise auf die kommunalen Strukturen, mit deren Hilfe sich die Aufständischen organisierten. Sie mussten nämlich ihre aiyanchen, [...] eide ende [...] ghelove, das heißt ihre „Allianzen, Eide und Gelöbnisse", auflösen. Zudem war ihnen das Leuten der Glocke zum Zusammenrufen der Gemeindeversammlung und das Wählen von eigenen Anfuhrern, den sogenannten booftmanne (auf lateinisch capitanei, zu deutsch „Hauptmänner") verboten19. Der anonyme Autor des Chronicon Flandrensium beschwerte sich dann auch darüber, dass laut der ausgehandelten Vereinbarungen die Aufständischen lediglich ihre conjurationes nicht aufrecht erhalten durften, für Vergehen wie Mord, Plündern, Ungehorsam und Verschwörung jedoch unbehelligt blieben20. Unzweifelhaft hatten sie sich also durch Conjuratio wechselseitig verschworen. Dass diese Conjurationes auch nicht nur lokal begrenzt, sondern bereits Stadt- und landübergreifend waren, belegt ein Text, der im Rahmen besagter Friedensverhandlungen im März 1324 entstanden ist: „Es sind gekommen die Schwurgenossen vom Aufstand und der KomAls treuer Vasall der französischen Krone fiel Ludwig von Nevers im Pfeilhagel der englischen Langbogenschützen in der Schlacht von Crecy 1346. 17 So Sabbe, Viaanderen in opstand, S. 29. 18 Der mit Graf Ludwig ausgehandelte Vertrag ist abgedruckt im Inventaire des archives de la ville de Bruges, Section premiere, Inventaire des chartes, Bd. 1, Nr. 294, S. 342-346. Der mit Robert von Cassel ausgehandelte Vergleich bei Pirenne, Le soulevement de la Flandre maritime, Nr. 4, S. 171180. Zwei weitere von Pirenne edierte Dokumente gehören in diesen Kontext, ebd., Nr. 2, S. 165168 und Nr. 3, S. 168-170. 19 Pirenne, Le soulevement de la Flandre maritime, Nr. 4, S. 179. 20 Chronicon Flandrensium, S. 187. 16

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mune vom Territorium von Veurne und jene der Städte Veurne, Nieuwpoort und Lombardsijde, weil sie mit jenen aus dem vorgenannten Territorium verschworen sind"21. Zweifellos waren demnach die Bewohner der ländlichen Gebiete der Kastellanei von Veurne mit den Stadtbewohnern aus Veurne selbst, aber auch mit den Städtern aus Nieuwpoort und Lombardsijde in einer Kommune vereinigt. Auch die Bewohner der Kastellanei von Bergues scheinen mit den Bewohnern der gleichnamigen Stadt Bergues auf diese Weise verbunden gewesen zu sein. Jedenfalls verhafteten H commutt et Ii hotfnan de k castelrie de Berghes Ende 1323 einen gewissen Ghis du Boos zusammen mit seinen compmngnons. Diese Personen sperrten sie sodann ins Gefängnis der besagten Stadt22. Mag die Formulierung „Kommune der Kastellanei von Bergues" noch nicht automatisch auf gemeinsame, Stadt und Land übergreifende Organisationsstrukturen schließen lassen, die Inhaftierung von Ghis und seiner Leute in der Stadt Bergues deutet diese an. Das Chronicon Flandrensium liefert gar einen Hinweis auf eine gemeinsame Schwureinung der drei westlichen Kastellaneien Bourbourg, Bergues und Veurne. Angeblich war der aufständische Hauptmann Nikolaas Zannekin, der aus Lampernisse in der Kastellanei von Veurne stammte und sich bekanntlich zu einer führenden Figuren des Aufstandes entwickeln sollte, in primo tumultu capitantus [...] temtorii Fumensis et totius terrae occidentalism. Dies würde bedeuten, dass die Aufständischen jener drei Kastellaneien ein gemeinsames Führungsamt einrichteten, das Zannekin innehatte. Ohne eine wechselseitige Conjuratio der Aufständischen dieser drei Kastellaneien wäre ein solches Amt schwer vorstellbar. Nicht auszuschließen ist jedoch eine bewusst gewählte Übertreibung des Autors, um die Gefährlichkeit und kompromisslose Radikalität Zannekins herauszustellen. Im Gegensatz zu den Kastellaneien von Veurne und Bergues gibt es fur die in der Brügger Freie liegenden Kleinstädte, wie zum Beispiel Aardenburg, Damme, Gistel, Oostende, Oudenburg oder Diksmuide, keine Hinweise auf deren Beiteiligung an dieser ersten Phase der Erhebung. Ferner ist sehr unklar, ob die Stadt Brügge bereits in diese Phase involviert war. Vermutlich hatte die Brügger Kommune offiziell noch nicht die Seiteewechselt, hätten doch andernfalls ihre Vertreter kaum mit Graf Robert von Cassel die Übereinkünfte mit den Aufständischen aushandeln können. Jedoch mag es zu einem Aufstand von Teilen der Stadtbevölkerung gekommen sein. Jedenfalls legen dies die Schilderungen der beiden Chronisten Giovanni Villani und Guillaume de Nangis sowie ein Vermerk in den Genter Stadtrechnungen nahe. Alle drei Texte erwähnen zudem die unterstützende Hilfe von Bauern bzw. Aufständischen aus der Brügger Freie, die den Stadtbrüggern zuteil wurde24. Möglich wäre also eine frühe, Sont vertut ä compaigton dt l'esmeute et k commun dou termir de Fumes et chil des vilks dt Fumes, dt Nuefport et dt hombardie, comme serementes aveuc cbeaus dudit termir, Pirenne, Le soulevement de la Flandre maritime, Nr. 2, S. 166. Ebd., Nr. 16, S. 212. 23 Chronicon Flandrensium, S. 189. Zum modernen Zannekin-Kult vgl Kap. 1.2.2, S. 19-22. 24 Villani, Nuova Cronica, Buch 10, Kapitel 232, S. 413. Zu Guillaume de Nangis vgl. die Chronique La tine de Guillaume de Nangis de 1113a 1300 avec les continuations de cette chronique de 1300 a 21

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auf Conjuratio beruhende Vereinigung von Großstadt- und Landbewohnern, in diesem Fall allerdings nur zwischen bestimmten Gruppen der städtischen Einwohnerschaft und den Bauern des Freiamtes. Zu denken wäre beispielsweise an eine weiterhin grafentreue städtische Herrschaftselite, die somit das offizielle Brügge repräsentierte, während sich die ohnehin aufstandsfreudigen Gildemitglieder der Erhebung in den ländlichen Bezirken anschlossen25. Eine ähnliche Verbindung von Teilen der städtischen Bürgerschaft mit in diesem Fall anderen Stadtgemeinden begegnet auch bei einem innerstädtischen Konflikt in Ypern aus der Zeit zwischen dem Frieden von Athis und dem Ausbruch des hier im Mittelpunkt stehenden Aufstandes26. Vielleicht mag gerade der Umstand, dass die bäuerliche Miliz aus dem Brügger Freiamt bereits auf dem Schlachtfeld von Kortrijk Seite an Seite mit den Gildegenossen der Stadt Brügge gekämpft hatte, auch über zwanzig Jahre später ein Zusammengehen und ein gemeinsames Handeln zwischen Städtern und Bauern erleichtert haben. Nachdem die gräfliche Herrschaft im Frühjahr 1324 nun die Friedensverträge mit den Aufständischen abgeschlossen hatte, blieb es für einige wenige Monate ruhig. Doch schon im Spätsommer, vermutlich nach dem Einbringen der Ernte, begann die zweite Phase der Erhebung. Zunächst waren offenbar wieder nur die Bewohner der ländlichen Gebiete der Grafschaft beteiligt. Bezüglich der Brügger Stadtkommune gibt es immerhin schwache Hinweise auf eine zumindest aufstandsfreundliche Haltung. So ging besagter Hauptmann Nikolaas Zannekin, nachdem er nach der Beendigung der ersten Aufstandsphase seine Heimatkastellanei Veurne verlassen musste, nach Brügge, wo er das Bürgerrecht als Ausbürger besaß und wo er offenbar großes Ansehen genoss27. Auch scheinen seine Kontakte zu den Aufständischen aus dem Brügger Freiamt ausgesprochen gut gewesen zu sein. Denn Ende Januar 1325 sah sich Graf Ludwig genötigt, seinen Onkel Robert von Cassel damit zu beauftragen, gegen „diejenigen aus der Brügger Freie, Nikolas Zannekin und die anderen, die ihnen helfen und mit ihnen verbündet sind (chaus du Franc de Bruges, Colin Zannekin et les autres leur aidant et a/iiet)", mit kompromissloser Härte vorzugehen28. Dieser Versuch des Grafen, mittels seines Onkels die Rebellion unter Kontrolle zu bekommen, und vor allem die Hoff-

1368, Bd. 2, Paris 1843, S. 52. Zu den Genter Stadtrechnungen Vuylsteke, Gentsche stads- en bajuwsrekeningen 1280-1336, Teü 1, S. 341. 25 Dies würde zumindest die folgende Schilderung von Guillaume de Nangis, S. 52, nahelegen: Hoc eodem tempore orta est Brugis dissensio. Nam cum comes villis ruratibus talliam imposuisset satis gravem, collectores autem longe majorem levaverant quam imporita fuisset; unde rurales seu forenses grainierprovocati, inito cum mediocribus de villa consilio quos connmititer majores de villa gravaverunt,fuit ab ipsis per diäas villulas unanimiter ordinatum, quod certa hora campanae in eorum ecclesiis pulsarentur, et omnes ad sonitum pararentur. Et sie congregati villam de Brugis subito pariter sunt ingressi, et praecedente quodam quem sibi ad hoc ducem statuerunt, quosdam de gentibus comitis et quosdam de majoribus occiderunt. 26 Dazu vgl. Kap. 4.2.3.2, S. 180. 27 Chronicon Flandrensium, S. 189. 28 Codex diplomaticus Flandriae ab anno 1296 ad usque 1327 ou recueil de documentes relatifes aux guerres et dissensions suscitees par Philipp-le-Bel, roi de France, contre Gui de Dampierre, comte de Flandre, hg. v. Thierry de Limburg-Stirum, Bd. 2, Brügge 1889, Nr. 348, S. 369.

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nung, mit einer Politik der verbrannten Erde die Aufständischen einzuschüchtern, war aber alles andere als wirkungsvoll. Ganz im Gegenteil, von nun an gewann der Aufstand richtig an Schwung. Dem Hauptmann Lambert Bonin aus dem Brügger Freiamt gelang es, mit einem Milizaufgebot Aardenburg zu belagern, wenn auch zunächst noch erfolglos. Im Verlauf des Februars konnte ein anderer Hauptmann, Segher Janszone, wie Bonin ebenfalls aus der Freie stammend, die Kleinstadt Gistel einnehmen, wobei sich die lokalen populäres sofort und bereitwillig der Erhebung anschlossen29. Die gefangen genommenen grafentreuen Verteidiger wurden nach Brügge überstellt, womit der erste eindeutige Beleg für eine aktive Aufstandsbeteiligung der Stadt an der Zwin vorliegt. Folglich bezeichnet der unbekannte Autor des Chronicon Flandrensium die Brügger nach der Schilderung dieser Begebenheit um Gistel auch als mit den Aufständischen verschworen: „Denn mit diesen waren sie fest verschworen"30. Er kommentierte die Lage wie folgt: .Jedoch wandte sich die ganze Zeit hindurch das Volk dem Volk zu, und sobald es sich miteinander verschwört, wird ein einziges Volk geschaffen31". Weiter: „Und jetzt zeigte sich mit aller Klarheit, dass jene aus Brügge auf der Seite des Volkes standen32". Die Ereignisse begannen sich zu überschlagen: Während Graf Ludwig am 14. März in einer recht hilflos wirkenden Maßnahme der Stadt Brügge alle verliehenen Privilegien aberkannte33, brachten die beiden zuvor erwähnten Hauptmänner Segher Janszone und Nikolaas Zannekin große Teile Westflanderns mit Hilfe der von ihnen befehligten Milizen unter Kontrolle der Aufständischen. Die dort lebenden Bewohner schlossen sich ihnen durch Eid an, eine regionale Kommune, in der die Städte Nieuwpoort, Veurne, Dünkirchen, Bergues, Cassel, Torhout, Roeselare, Kortrijk, Bailleul und Poperinge integriert waren, nahm Gestalt an. Laut dem Chronicon Flandrensium hätten Janszone und Zannekin das Ziel gehabt, die Flamen durch Eid in einer einzigen Kommune zu vereinigen: „Segher Janszone und Nikolaas Zannekin wollten sich mit dem ganzen Volk Flanderns durch Eid verbinden"34. Letzterer hatte inzwischen das Kommando über die Miliz aus seinem Heimatdistrikt von Veurne übernommen, wo ihn die Leute „wie ein Engel des Herrn" aufgenommen hätten35. Im Raum östlich von Brügge gelang es einem dritten Hauptmann aus dem Brügger Freiamt namens Walter Ratgheer, das Gebiet der Vier Ambachten unter aufständische Kontrolle zu bekommen, die Stadt Assende zu besetzen und erneut Aardenburg zu belagern36. Zu Beginn des Jahres 1325 hatten sich somit weite Teile der Grafschaft der Rebellion angeschlossen. Graf Ludwig stand in Gefahr, die Kontrolle zu verlieren. 29

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Chronicon Flandrensium, S. 189.

Nam cum eis erantfirmiter conjurati, ebd., S. 189. Populus autem continuo conversus est cumpopulo, et simuljurantes, unuspopulus sunt cffecü, ebd., S. 189. Et tunctiquidopatuit,quod ilti de villa Brugmhfavebant hispopultmbus, Chronicon Flandrensium, S. 189.

Sabbe, Vlaanderen in opstand, S. 36.

Sigerus Johannis et Nicolaus Zannekin volentes sibi totum populum Flandriae astringertjuramento, Chronicon

Flandrensium, S. 190. " Ebd., S. 190. Μ Ebd., S. 190-192.

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Wohl aufgrund dieser erdrückenden Erfolge sah sich Ludwig genötigt, Verhandlungen mit den Rebellen zu aufzunehmen. Am 24. März 1325 trat ein Waffenstillstand in Kraft, die Belagerung von Aardenburg wurde abgebrochen. Verhandlungsbevollmächtigter auf der Seite des Grafen war einmal mehr sein Onkel Graf Robert von Cassel. Dazu kamen Vertreter der noch loyalen Städte Gent und Ypern. Am 25. April erklärte der bereits erwähnte Hauptmann Lambert Bonin seine Unterwerfung unter die Botmäßigkeit Ludwigs II.37. Ansonsten verliefen die Unterhandlungen wohl eher schleppend. So forderte man auf aufständischer Seite, nicht nur die von ihnen begangenen Rechtsverletzungen, sondern gleichfalls die von Adligen an den Aufständischen begangenen Verbrechen zu untersuchen. Diese letztgenannten sollten zudem nach den Statuten der aufständisch-flämischen Kommune verhandelt werden38. Ein für den 11. Juni in der Abtei von Ter Duinen anberaumtes Vermittlungstreffen scheiterte. Grund dafür war ein gegen den gräflichen Verhandlungsführer Robert von Cassel geplanter und in die Wege geleiteter Mordanschlag, dem er nur knapp entging. Diesen Anschlag hatten jedoch mitnichten Aufständische vorbereitet, sondern einflussreiche Adlige aus der engsten Umgebung Graf Ludwigs. Robert von Cassel zog es gezwungenermaßen vor, sich auf seiner Burg in Nieppe in Sicherheit zu bringen39. Der Versuch, Flandern ein weiteres Mal über den Verhandlungsweg zu befrieden, war damit vorerst gescheitert. Graf Ludwig befand sich zu dieser Zeit in Ypern. Dort erreichte ihn die Nachricht von den gescheiterten Verhandlungen. Als er sodann erfuhr, dass die Brügger sechs Gesandte nach Kortrijk geschickt hätten, um die weitere Teilnahme der Stadt am Aufstand sicherzustellen, rückte er mit mehreren hundert Bewaffneten dorthin aus. Als die Kunde vom anmarschierenden Ludwig der Stadt erreichte, nahmen die Kortrijker die Vertreter Brügges kurzerhand in Gewahrsam. Man übergab sie dem Grafen bei seinem Einzug in die Stadt, bei dem ihn die Einwohnerschaft laut dem Chronicon Flandrensium freudig begrüßte. Die Situation spitzte sich jedoch rasch zu, als die Brügger Kommune ihre Miliz Richtung Kortrijk in Marsch setzte, um die Freilassung der gefangengenommenen Gesandtschaft notfalls durch Waffeneinsatz zu erzwingen. Um bei dem nun drohenden Angriff eine Verteidigung von Kortrijk zu gewährleisten, beschlossen der Graf und seine Berater, die nördlich der Leie gelegene Vorstadt mit Einwilligung der Kortrijker Stadtregierung niederzubrennen. Da es aber nicht nur ausgesprochen trocken, sondern auch sehr windig war, geriet das gelegte Feuer schnell außer Kontrolle und erfasste auch die südlich der Leie gelegene Altstadt. Die Stimmung unter den Einwohnern schlug abrupt um — zu ungunsten Ludwigs. Zunächst sei eine rasende Menschenmenge, Männer wie Frauen, über die in der Stadt lagernden Soldaten hergefallen. Sodann sei die städtische Sturmglocke geläutet worden, woraufBonins Erklärung in Pirenne, Soulevement de la Flandre maritime, Nr. 5, S. 180-182. Chronicon Flandrensium, S. 193f. 39 Dazu der Bericht des Grafenonkels Robert von Cassel, ediert von Henri Pirenne als Un memoire de Robert de Cassel sur sa participation a la revoke de la Flandre maritime en 1324-1325, in: Revue du Nord 1 (1910), S. 45-50, besonders S. 47f. 37

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hin die kommunale Miliz zu den Waffen geeilt sei. Anschließend entwickelte sich ein blutiger Kampf in den Straßen und Gassen. Auf Seiten der Kortrijker fielen Frauen und Kinder, der Graf verlor neben anderen Adligen viele Mitglieder aus seinem Regierungsrat. Er selbst geriet in Gefangenschaft. Lediglich Graf Johann von Namur, Großonkel und enger Berater Ludwigs, konnte während des Handgemenges fliehen und sich in Sicherheit bringen. Am folgenden Tag schlossen sich die Kortrijker den anrückenden Brüggern an und übergaben ihnen ihren prominenten Gefangenen*'. Die Datierung dieser Ereignisse ist nicht ganz eindeutig, entweder fanden sie am 13. oder 20. Juni 1325 statt41. Ungefähr zeitgleich mit diesen Vorfällen um Kortrijk erschien Nikolaas Zannekin mit den von ihm befehligten aufständischen Truppen vor Ypern, wo die Patrizier im Angesicht des für sie herannahenden Unheils bereits geflohen waren und aufständisch gesinnte Einwohner die Regierung übernommen hatten42. Mit Ypern wechselte die drittgrößte Stadt Flanderns auf die Seite der anti-gräflichen Partei. Unglücklicher hätten sich die Verhältnisse für Graf Ludwig kaum entwickeln können. Nicht genug damit, dass innerhalb weniger Monate ein Großteil seiner Untertanen von ihm abgefallen war, er selbst war auch noch in die Hände dieser Aufständischen gelangt. Loyal waren lediglich die Genter Kommune und das von ihr kontrollierte Umland geblieben. Für die Akteure des kommunalen Flanderns wandelte sich die Lage insbesondere mit der Gefangennahme Graf Ludwigs II. nochmals grundlegend. Denn durch einen geschickten Schachzug gelang es der politischen Führung Brügges, den gefangenen Grafen dazu zu bewegen, zwar nicht seine formale Oberhoheit über die Grafschaft aufzugeben, aber immerhin seinen Oheim Robert von Cassel als Regenten zu akzeptieren. Am 30. Juni 1325 wurde er durch seinen Neffen Ludwig und durch die Brügger Stadtregierung, wobei letztere zugleich fur die eigene Kommune, die Stadt Ypern, die Brügger Freie und im Namen ihrer anderen confederate et conjuraüs urkundete, als socher eingesetzt43. Robert war der zweite Sohn Graf Roberts von Bethune und damit der jüngerer Bruder von Ludwigs Vater, das heißt Ludwigs I. von Nevers. Im Krieg von 1302 bis 1305 hatte er auf Seiten der Liebaarts für die Rechte seines Geschlechtes an der Grafschaft Flandern gekämpft. Aber auch in den Jahren nach dem Frieden von Athis-sur-Orge hatte er die königsfeindliche Politik seines Vaters unterstützt Im Vertrag von Paris 1320 hatte er, wohl auf Druck des französischen Königs, zugunsten seines Neffen Ludwig seine durchaus legitimen Ansprüche auf den Grafenthron aufgeben müssen. Durch den auf ihn geplanten und nur knapp gescheiterten Mordanschlag, den engste Kreise um Ludwig vorbereitet hatten, allen voran Johann von Namur, war er zwangsläufig in das Lager der flämischen „Kommunarden" getrieben worden. Mit seiner Ernennung hatten die in politischen Fragen erfahrenen Brügger Zu den Ereignissen in Kortrijk vgl. Chronicon Flandrensium, S. 194f. Sabbe datiert die Ereignisse auf den 13./14. Juni, ders., Viaanderen in opstand, S. 42f. Hingegen nennt TeBrake den 20./21. Juni, ders., Α Plague of Insurrection, S. 85. 42 Chronicon Flandrensium, S. 195. « Codex diplomaticus Flandriae, Bd. 2, Nr. 350, S. 371-373. Das Zitat auf S. 372. 40 41

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Politiker nicht nur der kommunalen Bewegung den Anschein von herrschaftlicher Legitimität gegeben, ohne selbst die Zügel aus der Hand zu legen. Auch war wenige Tage zuvor in Gent - wie erwähnt die letzte Bastion der Grafenanhänger - der aus Kortrijk geflüchtete Großonkel des Grafen und vermeintlicher Intimfeind Roberts, Johann von Namur, bereits zum Regenten von Flandern ernannt worden44. Ihm und seinen Unterstützern fehlte jetzt jedoch die gräfliche Legitimation, die die Aufständischen für ihren Kandidaten erlangen konnten, wie auch immer sie zustande gekommen sein mag. In logischer Konsequenz begannen die Aufständischen im Anschluss an die Ernennung Roberts, gegen Gent militärisch vorzugehen, um die gesamte Grafschaft unter ihre Kontrolle zu bekommen. Der bereits erwähnte Chronist Willem Procurator kommentierte dieses Vorgehen nach Roberts Regentschaftsübernahme folgendermaßen: „Unterdessen bemühte sich eine beinahe allgemeine Kommune Flanderns (universalis quasi Flandrie communitas und) mit den Briiggern, zum Krieg zu rüsten [...] und ihn eifrigst zu betreiben"45. Den Schwurgenossen aus dieser einen, fast ganz Flandern umfassenden Kommune gelangen bis zum Beginn des Winters weitere beachtliche Erfolge. Die Miliz aus Brügge unter dem Kommando Roberts von Cassel konnte ein Genter Aufgebot bei Deinze vernichtend schlagen. Ein gemeinsames Aufgebot aus Briiggern und Bewohnern der Brügger Freie eroberte Aardenburg. Der Hauptmann Walter Ratgheer konnte die Vier Ambachten und das Waasland auf die Seite der Aufständischen ziehen. Er stand schließlich mit Milizen aus dem Freiamt, den Vier Ambachten und dem Waasland in Langebrugge, nur wenige Kilometer nördlich von Gent. Diese militärische Beteiligung der Leute aus den Vier Ambachten und der Waasländer legt, auch ohne dass ein Hinweis auf eine Conjuratio mit den übrigen flämischen Aufständischen vorliegt, einen solchen eidlichen Anschluss nahe. Die Aufständischen rückten aber der Genter Grafenpartei nicht nur durch diese militärischen Erfolge zu Leibe, sondern sie versuchten auch durch die Provokation eines politischen Umschwunges in der Leiestadt, ihrem Ziel einer gesamtflandrischen Kommune näher zu kommen. Im Verlauf des Sommers gelang es der Brügger Diplomatie, ein geheimes Bündnis zwischen ihrer Kommune und den Genter Webern zustande zu bringen. Allerdings konnte die grafentreue Genter Stadtregierung diese Conjuratio aufdecken. Daraufhin wurden laut Aussage des Chronicon Flandrensium viele Weber aus der Stadt verbannt46. Nachdem Johann von Namur mit seinen Truppen in Gent Quartier genommen hatte, fühlte sich die Genter Führung stark genug,

44 Dies geht aus dem in der vorherigen Fußnote genannten Dokument hervor: Predictus comes, ad hoc perpredictos dominum Rübertum, burgnmagstros, scabinos et consults sepedictos inatatus, rewcavit et rewcat expresse auctoritatem et potestatem quascunque, si quas rttroactis temporibus concesserit comiti Namurcensi, super amministratione, gubematione vel rtgminepredict! Flandrie comitatus, ebd., Bd. 2, S. 372. 45 Interea universalis quasi Flandrie communitas una cum Brugensibus se nititur ad bella disponere et [...] properare

Wilhelm Procurator, S. 161. 46 Imo

gecerunt extra villam suam fere omnes textores, propter quamdam proditionem quam fecerant, et quia dicebanturesse favorabiks Brugtnsibus et cum ipsis confoederati, Chronicon Flandrensium, S. 197. Weitere De-

tails bei Sabbe, Viaanderen in opstand, Anm. 208, S. 102.

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Ausschreitungen gegen die noch nicht verbannten Weber anzuzetteln. Angeblichen flohen 3000 von ihnen und verbündeten sich mit den Brüggern47. Die Gefangennahme Graf Ludwigs, die Ernennung Roberts von Cassel zum Regenten und die Offensive gegen Gent, sprich die Gefahr, dass aus der einen, quaä ganz Flandern umfassenden Kommune tatsächlich eine ganz Flandern umfassende Kommune zu werden drohte, rief schließlich den französischen König Karl IV. auf den Plan. Ende September bestätigte er den Gegenkandidaten Roberts von Cassel, Johann von Namur, in seinem Amt als Regent von Flandern. Am 4. November 1325 befahl er dem Erzbischof von Reims, dem Abt von Saint-Denis und den Bischöfen von Senlis, Tournai und Therouanne, die aufständischen Flamen zu exkommunizieren und über ihrem Territorium das Interdikt zu verhängen. Grundlage dazu waren die angeblich nicht eingehaltenen Bestimmungen des Friedensvertrages von Athis-surOrge 1305, die Gewalttaten, die man gegen Graf Ludwig II. von Nevers begangen hatte, und die zwischen den Rebellen geschworenen conjurationes et collegationes, mittels derer sie sich versprochen hätten, „dass sie sich gegenseitig helfen und verteidigen werden gegen alle (quodjuvabunt adinvicem et defendent contra omnes)"46. Zudem ließ Karl Truppen und Ausrüstung in Lille und Saint-Omer für einen Feldzug gegen Flandern zusammenziehen. Diese Maßnahmen verfehlten ihre Wirkung nicht. Robert von Cassel kehrte der Aufstandspartei umgehend den Rücken. Er begab sich auf seine Besitzungen nach Nieppe, von wo aus er wenige Monate zuvor nach Brügge aufgebrochen war, um des Regentenamt aus den Händen seines inhaftierten Neffen und der flämischen Schwurgenossen zu empfangen. Das mit der Exkommunikation und dem Interdikt verbundene Handelsembargo zwang insbesondere die Großstädte in die Knie. Am 1. Dezember 1325 wurde Graf Ludwig aus seiner Gefangenschaft in Brügge entlassen, nachdem er einen Tag zuvor auf das heilige Blut in der St Basilius Kirche geschworen hatte, den Rebellen zu vergeben, alle Regierungsmaßnahmen Roberts von Cassel anzuerkennen und eine Untersuchung gegen die aus aufständischer Sicht illegitime Regentschaft Johanns von Namur einzuleiten. Anschließend begab sich Ludwig zunächst nach Gent, dann nach Paris. Dort leistete er einen erneuten Schwur, diesmal gegenüber Karl IV., der seinen ersten ab adsurdum führte. Ludwig verpflichtete sich gegenüber dem französischen König, mit den Aufständischen keinen Separatfrieden zu schließen, was er letztlich ja bereits in der Kirche des heiligen Basilius zu Brügge getan hatte. Diese zweite eidliche Verpflichtung gibt einmal mehr Einblick in die opportunistische Denkweise des Grafen, der bisher nicht nur sehr wankelmütig, sondern vor allem äußerst ungeschickt agiert hatte. Sahen im Januar 1326 die Vorbereitungen auf französischer Seite noch nach einem Kriegszug gegen Flandern aus, um Graf Ludwig mit Gewalt in den Besitz der Grafschaft zu restituieren, nahmen — nach einer Aufforderung Ludwigs im Februar — er selbst und die Vertreter der aufständischen Städte und Kastellaneien im März in Ar47 48

Chronicon Flandrensium, S. 197. Codex diplomaticus Flandriae, Bd. 2, Nr. 352, S. 376.

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ques bei Saint-Omer erste Verhandlungen zu einem Friedensschluss auf. Als es dort Ende März oder Anfang April zu einer erfolgreichen Einigung kam, brachen Bevollmächtigte zu König Karl IV. auf, der den so genannten Frieden von Arques am 19. April 1326 im Val Coquatrix bei Corbeil ratifizierte. Bezüglich der ausgehandelten Inhalte sind die Wiedereinsetzung des Grafen, die Auflösung der zwischen den Aufständischen geschworenen alliances ou confiderationes und die Entmachtung der aufständischen Hauptmänner einleuchtend; ohne diese Zugeständnisse wäre es wohl zu keiner Einigung mit Graf und König gekommen49. Ansonsten waren die Friedensbedingungen ausgesprochen hart Die aufständischen Städte und Gemeinden mussten eine Strafsumme von 200.000 livres an den französischen König entrichten; eine an den Grafen zu zahlende Strafsumme Brügges, die auf das Jahr 1322 zurückging, wurde von 66.000 livres auf 100.000 erhöht; 300 Bürger Brügges und Kortrijks sollten sich auf eine Bußwallfahrt begeben; alle während des Aufstandes gebauten Befestigungsanlagen waren abzureißen; den durch den Aufstand geschädigten Kirchen und Abteien wurde eine Entschädigung zugestanden, ebenso sollten alle verbannten Adligen ihre Güter zurückbekommen und Anspruch auf Wiedergutmachung haben; diejenigen Genter Weber jedoch, die auf der Seite der Rebellen standen und im September 1325 aus ihrer Stadt verbannt worden waren, durften nicht in ihre alte Heimat zurückkehren50; schließlich waren alle noch ausstehenden Strafsummen des inzwischen mehr als 20 Jahre zurückliegenden Friedens von Athis-sur-Orge an den französischen König zu entrichten. Dagegen nehmen sich die Zugeständnisse an die Seite der Aufständischen eher bescheiden aus: Die Rücknahme der Exkommunikation und des Interdiktes, was zugleich die Wiederaufnahme des Handels zwischen Flandern und Frankreich bedeutete51. Der Abschluss des Friedensvertrages von Arques markiert das Ende der zweiten Aufstandsphase in Flandern. Sie scheint jedoch fließend in die dritte Phase übergegangen zu sein. Zumindest hatte der Friede auf dem Pergament keinen Frieden im Land zur Folge. Laut dem Chronicon Flandrensium sorgten vor allem die verbannten Aufständischen aus Gent, die nicht zurückkehren durften, und die Hauptmänner, die ihr in den Augen der gräflichen Herrschaft unrechtmäßiges Amt niederlegen sollten und dazu offenbar nicht bereit waren, dafür, dass sich die Spannungen nicht merklich abbauten52. Vermutlich wird aber das gesamte Vertragswerk von Arques auf wenig Gegenliebe bei den betroffenen Bewohnern Flanderns gestoßen sein. So scheint insbesondere in den ländlichen Gebieten der Widerstandsgeist nicht im mindestens abgeflaut zu sein. Diesbezüglich sei an erster Stelle das Wirken des Hauptmanns Jacob Peyt aus der Kastellanei von Bergues erwähnt. Insbesondere seine angebliche Häresie « Ebd, Nr. 356, S. 389f. 50 Zu den Webern finden sich im Vertragswerk bezeichnenderweise keine Angaben. Eine Aussage des Chronicon deutet aber darauf hin, dass ihnen die Genter Stadtfuhrung die Rückkehr verweigerte: nec bannitos de Gandavo voluerunt a se rtpellm, Chronicon Flandrensium, S. 201. 51 Codex diplomaticus Flandriae, Bd. 2, Nr. 356, S. 387-394. 52 Chronicon Flandrensium, S. 201.

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fand ein breites Echo53. Auf Geheiß der Kommune von Bergues wurde unter Leitung Peyts mindestens ein Niederadliger, der es gewagt hatte, sich mit dem Frieden von Arques einverstanden zu erklären, aus der Kommune verbannt und sein Vermögen konfisziert54. Es ist unwahrscheinlich, dass es sich dabei um einen Einzelfall gehandelt hat. Ab dem Beginn des Jahres 1327 verdichten sich auch wieder die Hinweise auf eine erneute Beteiligung Brügges an diesen aufständischen Umtrieben. Nunmehr war Willem de Deken, der insbesondere in dieser letzten Phase des Aufstandes eine fuhrende Rolle spielen sollte, Bürgermeister der Stadt. Sodann scheinen die Brügger im März 1327 erneut zum offenen Kampf gegen Gent übergegangen zu sein, zumindest ist in den Stadtrechnungen Gents von einem Parlament in Eklo jegen die van Br. die Rede55. Eine auf den 6. April 1327 datierte päpstliche Urkunde, in der Johannes XXII. den Flamen einen erneuten Kirchenbann in Aussicht stellte, hielten sie sich nicht an den Frieden von Arques, kann als Versuch aufgefasst werden, ein erneutes Aufflammen der Rebellion zu verhindern. Im Dokument werden die Orte aufgezählt, über die im Zweifelsfall das Interdikt ausgesprochen werden sollte. Exkommuniziert werden sollten in einem solchen Fall die Schöffen, Bürgermeister und Einwohner aus Brügge und der Brügger Freie, aus Damme, Aardenburg, Sluis, Muide, Monnikerede, Yzendijke, Oostburg, Torhout, Oudenburg, Gistel, Lombardsijde, Oostende, Blankenberg?, Diksmuide, Kortrijk, Ypern, Waarsten, Mesen, Roeselare, Bailleul, Poperinge, Veurne, Nieuwpoort, Dünkirchen, Mardyck, Bergues, Bourbourg, Gravelines und Cassel56. Diese Orte verteilen sich auf die zum Teil gleichnamigen Kastellaneien von Bourbourg, Cassel, Bergues, Bailleul, Veurne, Ypern, Brügge und Kortrijk und machen anschaulich, wo die Herrschaftsträger den Kern der Rebellion, wohl basierend auf den Erfahrungen der vorangegangenen Monate, erwarteten. Aber dieses Schriftstück, falls es den Aufständischen überhaupt bekannt war, nützte wenig. Im Sommer schickte die Kommune Brügges ein militärisches Aufgebot nach Diksmuide und Aardenburg, während die Genter die Kleinstadt Biervliet besetzten. Im Februar/März 1328 brachen die Brügger, immer noch unter Führung Willems de Deken, erneut offen mit Graf Ludwig von Nevers, nachdem der von ihm zur Bestätigung des neu gewählten Stadtrates geschickte Herr von Axel unter Todesdrohungen gezwungen wurde, die Stadt zu verlassen57. Damit nicht genug, de Deken knüpfte sogar Kontakte zur englischen Krone58. Bis Mitte des Jahres schlossen sich die Stadtkommunen Yperns, Cassels und Gistels ebenfalls wieder dem Lager der Aufständischen an59. Wohl zur gleichen Zeit versuchte Philipp von Valois, seit dem Tod Karls IV. am 1. Februar 1328

» Ebd, S. 202. ^ Vgl. Kap. 5.2.1, S. 236. 55 Vuylsteke, Gentsche Stads- en Baljuwsrekeningen, Teil 1, S. 540. 56 Lettres de Jean XXII (1316-1334), hg. v. Arnold Fayen, Bd. 2, Brüssel/Paris/Rom 1912, Nr. 1942, S. 116. 57 Sabbe, Viaanderen in opstand, S. 59. 58 Vgl. Kap. 4.2.3.1, S. 175. 59 Sabbe, Viaanderen in opstand, S. 59.

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Regent von Frankreich, nochmals durch Verhandlungen mit Mitgliedern des gräflichen Rates und Vertretern der flämischen Städte in Therouanne zu einer friedlichen Einigung zu gelangen60. Spätestens nachdem er im Mai als Philipp VI. zum König von Frankreich gekrönt worden war, gab er diese Bemühungen um eine friedliche Lösung auf, falls sie nicht ohnehin schon früher gescheitert war. Im Juni ließ er ein zweites Mal die Aufständischen exkommunizieren und ein Interdikt verhängen61. Offizielle Grundlage dafür war jene oben erwähnte Bulle Papst Johannes' XXII., in der er den Flamen mit einem erneuten Kirchenbann gedroht hatte, stellten sie ihr aufständisches Handeln nicht augenblicklich ein. Bis zum 31. Juli sammelte Philipp den königlichen Heerbann im südlich der Grafschaft Flandern gelegenen Arras, während sich Graf Ludwig und Johann von Namur mit Unterstützung der Genter darauf vorbereiteten, die Aufständischen im Osten anzugreifen. Wohl aufgrund dieser zweiseitigen militärischen Bedrohung und aufgrund der unklaren Vormarschsroute des königlichen Heeres sahen sich die aufständischen Flamen genötigt, ihre Aufgebote aufzuteilen. Die Milizen aus Westflandern sammelten sich um Cassel, diejenigen aus Ypern, Kortrijk und Umgebung postierten sich nördlich von Lille, Aufgebote aus Brügge und der Brügger Freie standen an der Scheide bei Tournai. Sehr wahrscheinlich ist weiterhin, dass ein großer Teil der Brügger Milk und der Miliz aus dem Freiamt östlich von Brügge postiert war, um einen von dort drohenden Angriff Graf Ludwigs und der Genter begegnen zu können62. Auf diese Weise waren alle möglichen Anmarschwege aus Richtung Arras und Gent gesichert. Der König rückte am 9. August über SaintOmer nach Cassel, wo er am 20. August auf die westflämischen Milizen traf, die unter anderen unter dem Kommando Nikolaas Zannekins (Veurne) und dem Hauptmann Winnoc le Fiere aus der Kommune von Bergues standen. Die Aufteilung der kommunalen Milizen hatte eine empfindliche Schwächung der einzelnen Abteilungen des gesamtkommunalen Aufgebotes zur Folge, obwohl man noch rasch Verstärkungen nach Cassel führte, als der Vormarschweg des französischen Königs offensichtlich war. So schickte Brügge 100 Bogenschützen; auch aus dem Brügger Freiamt, genauer aus der Cassel am nächsten liegenden West-Freie, scheint es Unterstützung gegeben zu haben63. Nichtsdestoweniger konnte Philipp mit seinem Ritterheer, als es am 23. August nach einigen Tagen, in denen sich die beide Aufgebote nur untätig gegenüberstanden, endlich zur Schlacht kam, einen leichten Sieg erringen. Interessant in Hinblick auf die in der Kapiteleinleitung angesprochene generationenübergreifende Wissensvermittlung sind die Worte, die das Chronicon FlandrenTeBrake, Α Plague of Insurrection, S. 119. Sabbe, Viaanderen in opstand, S. 67. « Ebd., S. 67f. 63 Für die Bogenschützen ebd., Anm. 352, S. 108. Die Anwesenheit von Aufständischen aus der West-Freie belegen zwei von dort stammende Kirchspielbewohner, Henri f. Boidin aus Slijpe und Hanin Ghizelin aus Mannekensvere, die in einem nach der Niederschlagung des Aufstandes angelegtem Inventar, das der Güterkonfiskation diente, als gefallen in der Schlacht von Cassel vermerkt wurden, Mertens, La confiscation dans la Chittellenie du Franc de Bruges apres la bataille de Cassel, S. 268 u. 271. 60 61

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sium Nikolaas Zannekin während einer Ansprache an seine Männer vor dem Beginn der Schlacht von Cassel in den Mund legt: „Sind wir etwa nicht tapfere Männer, die sich ganz Flandern unterworfen haben und es nicht gewohnt sind, irgend jemanden zu furchten. Nach keinen Menschen haben wir mehr verlangt als nach dem König der Franzosen. Und siehe da, dieser König befindet sich direkt vor uns mit wenigen Truppen: Lasst ihn uns mit unserer Tapferkeit angreifen"64. Es greift sicherlich zu kurz, diese feindselige Einstellung gegenüber dem König allein auf die überaus harten Friedensbedingungen des Vertrages von Arques oder die erneute Exkommunikation der Flamen zurückzuführen. Vielmehr verweist gerade der Frieden von Arques mit seiner Forderung nach Zahlung der noch nicht beglichenen Strafsummen des Friedens von Athis-sur-Orge nachdrücklich darauf, wie aktuell den Akteuren auch diese mehr als zwanzig Jahre zurückliegenden Ereignisse noch gewesen sein müssen. Es ist also mehr als wahrscheinlich, dass die Erfahrungen aus der Zeit des ersten Krieges gegen die französische Krone nach wie vor handlungsleitendes Wissen der Aufständischen waren. Dieses Wissen war durch die verzörgerte Umsetzung des Vertrages von Athis unter Graf Robert von Bethune, durch den Vertrag von Paris 1320 und schließlich durch die Regierungsübernahme des königstreuen Ludwig II. 1322 konserviert worden. Jedenfalls wird man als Leser den Eindruck nicht los, dass der unbekannte Chronist mit diesen Zeilen auf jene Liebaart-Gesinntheit bei den Aufständischen verweisen wollte, wie sie schon im Krieg von 1302 bis 1305 eine Rolle gespielt hatte. Die Niederlage in der Schlacht bei Cassel löste eine Kettenreaktion aus. Bereits einen Tag später lieferten sich Dünkirchen, am 26. August Veurne, Nieuwpoort, Lombardsijde und einige kleinere Ortschaften der Gnade des Königs aus. So ging es in den nächsten Tagen weiter. Am 2. September kapitulierte Ypern als erste der beiden aufständischen Großstädte. Unterdessen hatten ebenfalls die Genter ihre Offensive begonnen, so dass Brügge selbst unter militärischen Druck geriet. Hier beschloss man am 8. September, sich dem König zu unterwerfen, was einen Tag später förmlich erfolgte65. Der flämische Aufstand, der - mit einigen kurzen Unterbrechungen - die Region über annähernd fünf Jahre in Atem gehalten hatte, war wenige Tage nach der Schlacht von Cassel niedergeschlagen. Die anschließenden Repressionen waren vielfaltig. Unmittelbar auf die Schlacht bei Cassel folgten Raub, Mord und Vergewaltigung durch die zurückkehrenden Niederadligen und Patrizier, die sich wohl auf diese Weise für die an ihnen begangene Vergehen rächten66. In den anschließenden Wochen und Monaten prüften königliche und gräfliche Untersuchungskommissionen in den einzelnen Städten und Kastellaneien die Beteiligung dort Ansässiger am Aufstand. Etliche fühNumquid non sumus nos viri fortes, qui nobis subegmus totam Flandriam, et neminem tmere consuevimusi Nullum maps solebamus appetere quam regem Francorum, ut ipäus superbiam humitiare possemus. Et ecce hie rex ante nos cumpauas: adeamus cum infortitudine nostra, Chronicon Flandrensium, S. 205. 64

65 Zum Feldzug Philipps VI. Jules fidouard Marie VlARD: La guerre de Flandre (1328), in: Bibliotheque de l'Ecole des Chartes 83 (1922), S. 362-382, besonders S. 364-376. 66 Chronicon Flandrensium, S. 206.

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rende Köpfe, darunter der Brügger Bürgermeister Willem de Deken67, wurden hingerichtet, Hunderte von Personen verbannt und die Güter von Aufständischen als Wiedergutmachung für begangenes Unrecht konfisziert. Neben diesen Maßnahmen, die den Einzelnen bzw. seine Familie betrafen, gab es gleichwohl auch kollektive Strafen. Die Städte mussten einmal mehr ihre Befestigungsanlagen schleifen, die Handwerkergilden durften keine Wappen mehr fuhren, in Brügge wurden sie gar unter gräfliche Aufsicht gestellt. Ferner waren alle Strafzahlungen, die seit dem Frieden von Athissur-Orge 1305 angefallen waren, zu erfüllen. Zusätzlich bekamen Brügge, das Brügger Freiamt und Ypern neue Strafsummen auferlegt. Die alten Selbstverwaltungsrechte und Privilegien der aufständischen Stadtkommunen und Landgemeinden wurden massiv beschnitten oder kamen unter Kontrolle des Grafen68. Hunderte von Bürgern mussten als Geiseln an Philipp VI. oder Graf Ludwig von Nevers überstellt werden69. Aber auch wenn der Widerstandswille der Bewohner unter den Hufen der französischen Ritterpferde bei Cassel niedergetrampelt schien, und wenn die königliche/gräfliche Herrschaft mittels der Repressionen seit dem Spätsommer 1328 auch die letzten Keime der Revolte auszudörren bestrebt war, im Februar 1329 zeigte sich, dass nach wie vor noch Reste des alten Aufstandsgeistes vorhanden waren. Der einzige namhafte Hauptmann, der nach der Schlacht von Cassel seinen Verfolgern entkommen konnte, war der nach Seeland geflohene Segher Janszone aus der West-Freie. Er kehrte mit 200 Getreuen per Schiff nach Flandern zurück und ging bei Oostende, aus dessen Umgebung er stammte und wo er vermutlich noch am ehesten auf Unterstützung der Bevölkerung hoffen konnte, an Land. Tatsächlich schlossen sich ihm umgehend die Bewohner Oostendes und seines Heimatortes Bredene an. Sodann bekam er auch noch Oudenburg unter seine Kontrolle. Aus Brügge schickte man in Willem de Deken wurde, nachdem er in Calais festgenommen worden war, nach Verhör und Folter an einem der Weihnachtsfeiertage 1328 in Paris gehängt, Stein, Les consequences de la bataille de Cassel, S. 656-658. Das Datum nennt Guillaume de Nangis, Bd. 2, S. 104. Sabbe vermutet aufgrund des Ortes der Gefangennahme eine Flucht nach England, ders., Viaanderen in opstand, S. 80. Dazu vgl. auch unten Kap. 4.2.3.1, S. 175. Laut Guillaume de Nangis sei Willem nach der Niederschlagung des Aufstandes nach Brabant geflohen, um den dortigen Herzog um Unterstützung zu bitten. Angeblich habe er diesem dafür Pferde, Harnische und Geld versprochen. Jedoch habe ihn der Herzog an König Philipp von Valois ausgeliefert, Guillaume de Nangis, Bd. 2, S. 103f. 68 Zu den Repressalien nach der Niederlage bei Cassel zusammenfassend Sabbe, Viaanderen in opstand, S. 77-81 und TeBrake, Α Plague of Insurrection, S. 123-125. Vgl. auch Marc BOONE: Städtische Selbstverwaltungsorgane vom 14. bis 16. Jahrhundert. Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit im spätmittelalterlichen flämischen Raum am Beispiel Gent, in: Wilfried EHBRECHT (Hg.): Verwaltung und Politik in Städten Mitteleuropas. Beiträge zu Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit in altständischer Zeit (StF A 34), Köln (u.a.) 1994, S. 21-46, S. 28. 69 Zu den Brügger Geisellisten, in denen insgesamt 774 Personen genannt sind, vgl. Kap. 3.2, S. 149f. Ypern musste u. a. dem französischen König 300 Geiseln stellen, von denen 97 jedoch wieder begnadigt wurden. Diese mussten Flandern fur drei Jahre verlassen und in Frankreich verbleiben, Recueil de documents relatifs a l'histoire de l'industrie drapiere en Flandre, hg. v. Georges Espinas / Henri Pirenne, 1. Teil, Des origines ä l'epoque bourguignonne, Bd. 3, Brüssel 1920, Nr. 888, S. 754f. Die gleiche Strafe wurde ferner 500 Webern und 500 Walkern aus Ypern auferlegt, Ebd., Nr. 887, S. 750-753. 67

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aller Eile Truppen, um diesem erneuten Aufstandsversuch sofort Herr zu werden. In der irrigen Annahme, seine Ankunft hätte auch in Brügge einen Umschwung herbeigeführt und die Brügger würden mit ihrer kommunalen Miliz anrücken, zog Janszone den gräflichen Truppen entgegen. Seine kleine Streitmacht wurde sofort zerstreut Er konnte sich zwar noch mit seinem Sohn Jan und 20 weiteren Getreuen nach Oudenburg flüchten, schließlich wurden sie jedoch überwältigt. In Brügge wurden er und seine Mitstreiter nach öffentlicher Folter geköpft und zur Schau gestellt Diese Hinrichtungen markierten das definitive Ende des flämischen Aufstandes und damit der Stadt- und landübergreifenden regionalkommunalen Herrschaft über weite Teile der Grafschaft Flandern70.

2.3 Die Schweizerische Eidgenossenschaft zwischen 1291 und 1370/1393 2.3.1 Conjuratio ohne Rebellion: Die Geschichte der urkundlichen Überlieferung bis zum Sempacherbrief 1393 Eine Geschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft in ihrer Frühphase zu schreiben, kann der Historiker nicht mehr so unbedacht vornehmen wie noch vor wenigen Jahren71. Wenn in dieser Arbeit dennoch der Versuch gewagt werden soll, diese Geschichte ausgehend vom Bund von 1291, das heißt auf konservative Weise, zu schreiben, dann nicht mit dem Ziel, die alten Deutungen wieder aufzugreifen. Interessenschwerpunkt ist bekanntlich das auf Conjuratio beruhende kommunale Großgebilde, das zwischen dem Ende des 13. und dem Ende des 14. Jahrhunderts aus den schweizerischen Städten und Ländern entstand; und dies vor dem Hintergrund des Vergleichs mit den beiden anderen, bereits vorgestellten regionalen Kommunen. Einmal mehr steht also die Frage nach dem handlungsleitenden Wissen um kommunale Conjuratio, nach der Modernität dieses Wissens und nach den Akteuren, die Träger dieses Wissen waren, im Mittelpunkt72. Der für die schweizerische Großkommune gewählte Ausgangspunkt ,1291' und der Endpunkt, der Sempacherbrief von 1393, ergeben sich also einmal aus Gründen der zeitlichen Parallelität aller drei Kommunebildungen und sind durch die komparatistische Fragestellung bedingt. Andererseits erklären sich diese Eckdaten auch aus den historischen Zusammenhängen: Die Partner des ersten Bündnisses von 1291, das heißt Uri, Schwyz und Unterwaiden, waren die einzigen Kommunen, die ausnahmslos an allen Conjurationes beteiligt waren, die vor dem Pfaffenbrief von 1370 und dem Sempacherbrief von 1393 zwischen den so genannten acht alten Orten der Eidgenossenschaft geschworen worden waren. Diese Chronicon Flandrensium, S. 207-210. Vgl. Kap. 1.2.3. 72 Vor diesem Hintergrund ist auch die genaue Daderung des ersten Bundes, ob 1291 oder 1309 von mehr oder weniger untergeordneter Berdeutung, vgl. zu diesen Datierungen ebd., Anm.64. Weiterhin vgl. unten Anm. 76 u. 77. 70 71

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beiden Briefe wiederum schlossen 1370 immerhin sechs dieser acht Kommunen ab, 1393 dann alle acht Kommunen. Dabei waren im letzteren Fall erstmals auch diejenigen Orte eine gemeinsame vertragliche Verpflichtung eingegangen, die sich zuvor nicht direkt durch Conjuratio miteinander verbunden hatten. Sodann ist in den zwei Briefen von aller unser Eydgenosschaft (Pfaffenbrief) bzw. unser Eitgenoschaft (Sempacherbrief) die Rede73. Erstmalig taucht die Formulierung unser Eitgnosscbaft zwar schon im Züricher Bund von 1351 auf, jedoch noch nicht in einem so weit gefassten Verständnis74. Sowohl Paffen- als auch Sempacherbrief scheinen also tatsächlich so etwas wie eine neue Qualität in den Beziehungen zwischen den beteiligten Stadt- und Landkommunen zu markieren. Dennoch soll nicht verschwiegen werden, wie wenig spezifisch dieser Begriff .Eidgenossenschaft' noch war, weshalb der Begriff .Verfassungsbrief in diesem Zusammenhang anachronistisch anmutet. So war beispielsweise neben den acht alten Kommunen auch die Stadt Solothurn am Vertragswerk von 1393 beteiligt. Zwar war Solothurn seit dem Ende des 13. Jahrhunderts mit Bern durch Schwureinung verbündet, trat aber erst Anfang der 1480er Jahre offiziell der dann von den Akteuren sicher anders verstandenen Eidgenossenschaft bei. Doch trotz aller Unsicherheit, die dieser Selbstbezeichnung im Pfaffen- und Sempacherbrief noch anhaftet, beide Texte belegen eine neue Perspektive auf die Bündnisse seit 1291. Ab dem Ende des 14. Jahrhunderts entwickelte sich das im Entstehen begriffene kommunale Großgebilde .Eidgenossenschaft' zu einer festern Größe in der Region, und auch die Akteure fingen an, konkrete Vorstellungen mit dieser Eidgenossenschaft zu verbinden75. Am Anfang der schriftlich sicher datierbaren Schwureinungen, aus denen in einem jahrzehntelangen Prozess jene Eidgenossenschaft von 1370 und 1393 hervorgehen sollte, stand - wie gesagt - das Bündnis von 1291. Dieses Bündnis ging laut Urkundentext wiederum auf ein älteres Bündnis (antiquam formam confederations) zurück, das auf diesem Weg erneuert werden sollte. Wann, zwischen wem genau und mit welchen Inhalten diese eventuell erste Conjuratio geschworen wurde, ist unbekannt. Anfang August 1291 jedenfalls verschworen sich die „Leute der Talschaft Uri" (homines vallis Uranie), die „Gemeinde der Teilschaft Schwyz" (unversitas vallis Schwity und die „Kommune der Leute der unteren Talschaft von Unterwaiden (communitas bominum lntramontanorum vallis inferioris) also die Leute aus Nidwaiden (oder doch schon Unterwaiden)76, wechselseitig und verpflichteten sich gegenseitig zu Hilfe, Rat und Unters-

Vgl. unten Anm. 141 u.146. Vgl. S. 75. 75 Vgl. Kap. 6.3. 76 Es ist nicht ganz eindeutig, wer mit der Formulierung communitas bominum lntramontanorum vallis inferioris gemeint ist, da das Siegel der Urkunde mit univemtaHs bominum de Stannes umschrieben ist; Stans ist der Hauptort Nidwaldens. Erst nachträglich wurde das Siegel um den fur Obwalden stehenden Zusatz et vallis superioris erweitert. Das Verhältnis zwischen Nid- und Obwalden zu dieser Zeit ist letztlich ungeklärt. Das gleiche Siegel findet sich aber auch an der Urkunde des Bundes von 1315, vgl. Emil WEBER: Artikel „Nidwaiden", in: HLS (www.hls-dhs-dss.ch, 03.11.2011). 73 74

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tützung77. Die Schwurgenossen bezeichnen sich im Text entweder als coniurati oder conspiratf8, die vereinbarten Regelungen ihrer „drei Gemeinden und Talschaften" {triam univmitatum et va/äum)79 nennen sie Statuten (suprascriptis statuHi)m. Demnach handelte es sich bei diesem Bündnis unzweifelhaft um eine überörtliche Conjuratio zwischen den drei Talgemeinden Uri, Schwyz und Nid- bzw. Unterwaiden. Die Talgemeinde Uri war 1231 von König Heinrich (VII.) für reichsunmittelbar erklärt worden 81 , Schwyz 1240 von Kaiser Friedrich Π82. Das Privileg für Uri soll im Zusammenhang mit der Öffnung des Gotthardpasses und der Passpolitik der Staufer stehen. Das Privileg für Schwyz wird in Verbindung mit der Aufspaltung des Hauses Habsburg 1232 in eine ältere und jüngere Linie gebracht, wobei letztere als HabsburgLaufenburg bezeichnet wird. Der Laufenburger Rudolf III. übte die landgräflichen Rechte in Schwyz und Unterwaiden aus und stellte sich 1239 auf die Seite des Papstes, woraufhin Friedrich II., um seinen Widersacher zu schwächen, die Schwyzer für reichsunmittelbar erklärt haben soll83. Einen mit diesen beiden Talkommunen vergleichbaren Rechtsstatus erhielt Unterwaiden erst 1309 von König Heinrich VII.84. Nichtsdestoweniger bezeugen die Formulierungen von 1291, dass die Bewohner Nid-

QW, Urkunden, Bd. 1,2, Nr. 1681, S. 776-783. Quellenkritisches zum Bundesbrief bei Pascal LADNER: Urkundenkritische Bemerkungen zum Bundesbrief von 1291, in: Josef WlGET (Hg.): Die Entstehung der Schweiz. Vom Bundesbrief 1291 zur nationalen Geschichtskultur des 20. Jahrhunderts, Einsiedeln, 1999, S. 103-126. Zum Bundesbrief als Fälschung Roger SABLONIER: Der Bundesbrief von 1291: Eine Fälschung? Perspektiven einer ungewohnten Diskussion, in: Josef WlGET (Hg.): Die Entstehung der Schweiz. Vom Bundesbrief 1291 zur nationalen Geschichtskultur des 20. Jahrhunderts, Einsiedeln, 1999, S. 127-146, und Sablonier, Gründnungszeit ohne Eidgenossen, S. 167-178. Sablonier vermutet hinter der aus seiner Sicht etwas seltsamen Bezeichnung der Nid- bzw. Unterwaldner als Intramontani eben nicht die erstgenannten, sondern die Bewohner Urserens, mit denen 1291Uri und Schwyz ein Bündnis geschlossen hätten, ebd., S. 172-175. Den Bund von 1291 datiert er auf 1309, nun allerdings mit den Unterwaldnem, wobei der Bund von 1291 mit den Ursern als Vorlage gedient habe. Letztlich ist Sabloniers Beweisführung genauso auf Spekulationen angewiesen wie diejenige der gängigen Lehrmeinung. 78 QW, Urkunden, Bd. 1,2, Nr. 1681, S. 780-783. Zur Diskussion um die vermeintlich unterschiedliche Bedeutung vgl. Kap. 5.3.4. 79 Ebd., S. 783. *> Ebd., S. 783. β· Ebd., Bd. 1,1, Nr. 325, S. 152f. 82 Ebd., Bd. 1,1, Nr. 422, S. 197f. 83 Vgl. Hans Conrad PEYER: Die Entstehung der Eidgenossenschaft, in: Handbuch der Schweizer Geschichte, Bd. 1, Zürich 1972, S. 175-177. 84 Am 3. Juni 1309 privilegierte der König die alten Freiheiten und Rechte Unterwaldens, QW, Urkunden, Bd. 2,1, Nr. 479, S. 230f. Am gleichen Tag befreite er zudem Uri, Schwyz und Unterwaiden von auswärtigen weltlichen Gerichten mit Ausnahme seines Hofgerichtes, ebd., Nr. 480, S. 231 f. Sablonier vermutet, dass es sich zumindest bei den Dokumenten zu Uri und Unterwaiden um Nachstellungen aus späterer Zeit handelt, wohl aus dem Zeitraum nach 1315, vgl. ders., Gründungszeit ohne Eidgenossen, S.116-119. Seine Einschätzungen zur Überlieferungssituation sind nachvollziehbar, stellen meinen Agumentationsaufbau auf den folgenden Seiten und in den folgenden Kapiteln allerdings nicht in Frage, sondern stärken ihn, alles um einige Jahre nach hinten datiert, sogar. 77

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oder Unterwaldens — im ersteren Fall dann zu einem späteren Zeitpunkt zusammen mit den Leuten aus Obwalden85 - schon während dieses Bundesschlusses genossenschaftlich organisiert waren. Leider liegen die Umstände, die zum Schwur von 1291 führten, aus ereignisgeschichtlicher Perspektive weitestgehend im Dunkeln. Ein Zusammenhang mit dem Tod König Rudolfs I. von Habsburg am 15. Juli 1291 ist durchaus wahrscheinlich, hatte er doch eine Destabilisierung der Verhältnisse im Reich und antdhabsburgische Aufstände in Kärnten, der Steiermark und in Schwaben zur Folge86. Vermutlich hat in den Gebieten der Innerschweiz nicht nur der Tod Rudolfs als König eine entscheidende Rolle gespielt, sondern auch der als habsburgischer Graf. Die Habsburger hatten in der Innerschweiz mannigfache Herrschaftsrechte inne. Damit war der Ausgangspunkt ,1291' tatsächlich, wie in der Überschrift zu diesem Kapitel zum Ausdruck gebracht, eine Conjuratio ohne Rebellion. Jedenfalls deutet nichts auf einen Aufstand gegen habsburgische oder irgendwelche anderen Herrschaftsträger hin. Vielmehr scheint das Bündnis eine Antwort auf die herrschaftliche Krise nach dem Tod König Rudolfs I. gewesen zu sein. Sablonier geht fur die Zeitperiode um 1300 sogar allgemein von der Auflösung alter Adelsstrukturen und einer generellen Herrschaftskrise aus87. Die ersten Schritte jener Eidgenossenschaft, wie sie uns 1370/1393 entgegentritt, unterschieden sich also grundsätzlich von den Anfangen der regionalen Kommunebildungen auf Sizilien und in der Grafschaft Flandern. Eine Parallele ist allenfalls in der Situation auf Sizilien nach dem Tod Friedrichs II. zu entdecken, in der sich die erste sizilianische Kommunebewegung formieren sollte88. Mehr Licht fallt erst auf die Abfolge der Ereignisse, die am 9. Dezember 1315 zu Brunnen in Schwyz zur Erneuerung der Conjuratio von 1291 führten89. Vorausgegangen war dieser Bündniserneuerung die Schlacht am so genannten Morgarten, einem Gelände am südlichen Ende des Ägerisees. In ihr konnten die Schwyzer Mitte November 1315 einen Angriff des habsburgischen Herzogs Leopold von Österreich erfolgreich abwehren. Der Herzog war mit einem Ritterheer gegen die Talgemeinde von Schwyz gezogen, weil die Schwyzer schon seit Jahren das unter habsburgischer Vogtei stehende Kloster Einsiedeln befehdeten. In Streit geraten waren sie mit dem Kloster wegen der Nutzungsrechte an einem großen ehemaligen Waldgebiet. Dieser Forst erstreckte sich einst um das Kloster herum und war von Kaiser Heinrich II. an die Mönche verliehen worden. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts hatte der bereits deutlich ältere Konflikt eine neuerliche Verschärfung erfahren und war zu einer regelrech-

Vgl. oben Anm. 76. Dazu Clemence Thevenaz MODESTIN / Jean-Daniel MOREROD: Gotthard- und Simplonachse um 1291. Beitrag zu einer ereignisgeschichtlichen Neubetrachtung der Anfangszeit der Eidgenossenschaft, in: Der Geschichtsfreund. Mitteilungen des Historischen Vereins der Fünf Orte Luzern, Uri, Schwyz, Unterwaiden ob und nid dem Wald und Zug 155 (2002), S. 181-207. 87 Sablonier, Gründungszeit ohne Eidgenossen, S. 40 u. S. 60. 88 Vgl. Kap. 2.1.1. 89 QW, Urkunden, Bd. 2,1, Nr. 807, S. 411-415.

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ten Fehde geworden. Im Jahr 1309 war der Landammann von Schwyz mit 15 weiteren Schwyzern wegen Übergriffe gegen das Kloster unter Kirchenbann gefallen. Erst ein Appell an den Papst konnte diesen wieder aufheben90. Die Art und Weise, wie die Schwyzer die Auseinandersetzung führten, geht aus einem 1311 vom Abt und Konvent erstellten, sehr umfangreichen Klagerodel hervor. Ihm zufolge raubten die Schwyzer auf Einsiedler Grundbesitz Vieh, plünderten Häuser und erschlugen Menschen91. Hierbei handelte es sich also um gängige Fehdepraktiken der Zeit Auch Schiedsgerichte konnten letztlich keine Beruhigung der Situation herbeifuhren. Eher im Gegenteil, denn am 6. Januar 1314, also dem Dreikönigstag, kam es zu einem Überfall der Schwyzer auf das Kloster selbst, das sie bei dieser Gelegenheit ausgiebig plünderten. Die Mönche gerieten in schwyzerische Gefangenschaft92. Die Gegenmaßnahmen des österreichischen Herzogs endeten dann allerdings, wie dargelegt, bevor sie richtig begonnen hatten, in der Schlacht am Morgarten. Die Schlacht war aber mitnichten das Ende jener Auseinandersetzung zwischen den Habsburgern und den Schwyzern. Vielmehr war dieser Konflikt die Keimzelle für den Jahrhunderte andauernden Gegensatz zwischen den habsburgischen Herzögen von Österreich sowie den von ihnen später gestellten Königen und Kaisern auf der einen und den Orten der schweizerischen Eidgenossenschaft auf der anderen Seite. Zunächst konnte die Schwyzer Kommune nur auf die Unterstützung der mit ihnen verschworenen beiden anderen Talkommunen Uri und Unterwaiden bauen. Auf Grundlage der urkundlichen Überlieferung kann jedoch gezeigt werden, wie sich aus der Ursprungs-Conjuratio von 1291 sowie um diesen habsburgisch-schwyzerischwaldstättdschen Kernkonflikt herum jene regionale Kommune entwickelte, die 1370 im Pfaffenbrief und 1393 im Sempacherbrief erstmals als „ E i d g e n o s s e n s c h a f t " b e _ zeichnet werden sollte93. Gerade hinsichtlich des Territoriums, das die drei Talkommunen beanspruchten, bietet der Morgartenbrief von 1315 einen ersten wichtigen Hinweis. Im Unterschied zu 1291 ist nun nicht mehr nur von Landleuten und Eidgenossen, sondern auch von den drei Ländern die Rede. Parallel dazu taucht ab 1300 in den Quellen vermehrt die Bezeichnung „Wäldstätte" als gemeinsame Bezeichnung für Uri, Schwyz und Unterwaiden auf. Es wäre möglich, darunter das Territorium jener Reichsvogtei .Waldstätte' zu verstehen, für das Graf Werner von Homberg 1309 als Pfleger des Reiches amtete94. In diese Reichsvogtei hinein sollte sich die gleichnamige überörtliche Kommune entwickeln: „Die Waldstätte stellen nach 1320 [...] so etwas wie eine Reichvogtei ohne Reichsvogt dar"95. Blickte, Friede und Verfassung, S. 19f. QW, Urkunden, Bd. 2,1, Nr. 579, S. 281-291. 92 Bliclde, Friede und Verfassung, S. 18f. 93 Dazu vgl. unten Anm. 95. 94 Sablonier, Gründungszeit ohne Eidgenossen, S. 129f. 95 Ebd., S. 129. Sablonier bezeichnet die drei Waldstätte „als einen der Gravitationspunkte der Eidgenossenschaft", allerdings erst „ab 1450", ebd. 90 91

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Conjuratio und Rebellion

In den ersten Jahren nach Morgarten wussten die Schwyzer im Verbund mit den zwei anderen Talgemeinden die durch die Königsdoppelwahl im Reich entstandene Pattsituation geschickt auszunutzen. Sie näherten sich dem Wittelsbacher Ludwig dem Bayern an, der seinerseits an einer Schwächung seines habsburgischen Gegenkandidaten, Friedrichs des Schönen, interessiert sein musste96. So hatten die Eidgenossen bereits im Mai 1315, also noch vor Morgarten, ein Unterstützungsschreiben König Ludwigs erhalten. In ihm verlieh er seiner Hoffnung Ausdruck, ihnen bald Hilfe zukommen lassen zu können, und sprach ihnen Mut zu, indem er sie als äußerst standhafte Männer bezeichnete, die sich nicht von ihrem Gegner einschüchtern ließen. Die vom Abt von Einsiedeln nach dem Überfall von 1314 erneut verhängten Bannurteile hob er auf, und zugleich befahl er all seinen Vögten und Getreuen sowie den Adligen und Städten, die Schwurgenossen zu verteidigen und zu schirmen, sofern sie danach verlangten97. Ende März 1316 bestätigte Ludwig zusätzlich die alten Privilegien der drei Kommunen98. Wenige Tage zuvor hatte er zudem die Herzöge von Österreich, also auch seinen Gegenkandidaten Friedrich, wegen fortgesetzten Widerstandes der Majestätsbeleidigung für schuldig befinden lassen und alle ihre Höfe, Rechte und Güter, die in den Täler von Uri, Schwyz und Unterwaiden lagen bzw. die sie dort besaßen, für an das Reich gefallen erklärt. Damit verbunden war die Bestimmung, dass nur er, Ludwig, und das Reich als die wahrhaftigen Herren und Besitzer der besagten Rechte und Güter anzuerkennen und alle sich daraus ergebenden Zinsen und Rechte nur ihm und dem Reich zu leisten seien99. Mag den innerschweizerischen Schwurgenossen mit diesen Urkunden, falls sie denn tatsächlich zeitgenösssich sind100, auf diplomatischem Weg ein beachtlicher Erfolg beschieden gewesen sein, im Juli 1318 schlossen sie dennoch einen Waffenstillstand mit den örtlichen Herrschaftsträgern der habsburgischen Herzöge. Er sollte bis Ende Mai 1319 gelten und ließ die Konfiskation Ludwigs hinfällig werden, erkannten sich doch beide Parteien gegenseitig die Rechte im Gebiet des anderen an, sicherten sich alle seit 1315 nicht geleisteten Abgaben zu und benannten die räumliche Ausdehnung eines Friedensbezirkes101. Dieser Waffenstillstand wurde nun in der Folge mehrfach verlängert102. Nachdem er letztmalig am 15. August 1322 erneuert worden war,

Allgemein zu den Eidgenossen und ihre Verflechtung in die Reichspolitik Peter MORAW: Reich, König und Eidgenossen im späten Mittelalter, in: Jahrbuch der Historischen Gesellschaft zu Luzern 4 (1986), S.15-33. Sablonier vermutet hinter den in Anm. 25, 26 u. 27 genannten Dokumenten spätere Herstellungen um 1327/28, ders., Gründungszeit ohne Eidgenossen, S. 125-127. 97 QW, Urkunden, Bd. 2,1, Nr. 769, S. 386f. » E b d , Nr. 831, 832, 832b, S. 424-426. 99 Ebd, Nr. 830, S. 423f. 100 Vom Gegenteil ist Sablonier überzeugt, ders, Gründungszeit ohne Eidgenossen, S. 125-130. Diebezüglich gilt im Übrigen das Gleiche, was bereits oben in Anm. 84 gesagt worden ist. 101 QW, Urkunden, Bd. 2,2, Nr. 937, S. 477-480. 102 Ebd, Nr. 981, S. 502f, Nr. 985, S. 504, Nr. 986, S.504f, Nr. 989, S. 506f, Nr. 1029, S. 527-529.

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galt er von da an bis vier Wochen nach seiner Aufkündigung103, wozu es freilich in den nächsten Jahren nicht kommen sollte. Ungeachtet dieses Waffenstillstandes behielten die drei Talkommunen aber weiterhin ihre Rolle im Machtkampf zwischen den Wittelsbachern und Habsburgern bei. König Ludwig stellte den Schwyzern in einem Schreiben, das in den Mai 1324 datiert, einen baldigen Angriff gegen Herzog Leopold, das heißt jenen Leopold, der auch schon am Morgarten gegen sie gekämpft hatte, in Aussicht und forderte sie dementsprechend auf, ihren Waffenstillstand mit den Habsburgern aufzukündigen104. Einen Tag später erneuerte er das acht Jahre zuvor verkündigte Konfiskationsedikt bezüglich der Güter und Rechte der Herzöge von Österreich, die sie in den drei Waldstätten besaßen105. Herzog Leopold hingegen verbündete sich Ende Juli 1324 mit König Karl IV. von Frankreich. Dabei verpflichtete sich der Habsburger, eine Wahl Karls zum römischen König gegen Ludwig den Bayern zu unterstützen. Karl hingegen garantierte, im Fall seiner Wahl die Habsburger in den Besitz der beiden Täler Schwyz und Unterwaiden und ihrer dortigen Rechte einzusetzen, stünden sie ihnen doch nach Erbrecht zu106. Uri findet keine Erwähnung, offenbar weil es zum Reichsgut gezählt wurde. Doch trotz aller Privilegienverleihungen und Unterstützungszusagen von Seiten Ludwigs - die Eidgenossen waren letztlich nur unbedeutendere Spielfiguren im Machtspiel um die römische Königswürde, die zu opfern der König schnell bereit war. Dies wird ab dem Zeitpunkt sichtbar, als die beiden Gegenkönige begannen, sich in der strittigen Frage ihrer Königswürde anzunähern, Ludwig gar seinen Widersacher Friedrich als Mitkönig anerkannte. So konnte Friedrich als auf diesem Weg anerkannter König seinen Brüdern im Februar 1326 das reich sfreieUri verpfänden, das damit zumindest auf dem Papier unter habsburgische Herrschaft kam107. Zwar bestätigte König Ludwig im Mai 1327, gerade auf dem Weg nach Rom zu seiner Kaiserkrönung, ein weiteres Mal den drei Talgemeinden alle von ihm und seinen Vorgängern verliehenen Privilegien und Rechte108. Darüber hinaus sicherte er ihnen zu, nach seiner bevorstehenden Erhebung zum Kaiser obige Bestätigung zu wiederholen109, was dann im Dezember 1331 auch geschah110. Indes kam es im Sommer 1334 zu einem völligen Richtungswechsel in Ludwigs Politik gegenüber den innerschweizerischen Schwurgenossen. Denn nun sprach er die beiden Talkommunen Schwyz und Unterwaiden den Habsburgern zu, wobei er anerkannte, das er kein rebt an den Waltstetten hat. Auch widerrief Ludwig alle dieftyung, der er in getan hat, die der herschaft schedelich werennx. Ebd., Nr. 1085, S. 553f. >m Ebd., Nr. 1198, S. 602f. 105 Ebd., Nr. 1199, S. 604f. >

Vgl. Marchai, Pahlburger, bourgois forains, buitenpoorter, bourgois du roi. Gerber, Gott ist Burger zu Bern, S. 144. Ebd., S. 1 4 4 - 1 5 0 .

Dazu Guy P. MARCHAL: Sempach 1386. Von den Anfängen des Territorialstaates Luzern. Beiträge zur Frühgeschichte des Kantons Luzern, Basel 1986, S. 118-185. 42

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Soziale Differenziertheit

fur Schwyz und Nidwaiden recht gut belegen. In beiden Kommunen nutzten diese Möglichkeit insbesondere Grundholden von Klöstern, in Schwyz vom Kloster Einsiedeln, in Nidwaiden vom Kloster Engelberg. Im Schwyzer Landrecht standen zudem noch viele Bauern aus dem Amt Zug, der March und der Arth43. Die Frage, ob diese ländlichen Ausbürger auch zu den politisch mündigen Landleuten gehörten, ist nur für die Arther eindeutig mit einem Ja zu beantworten44. Hingegen scheinen die Übrigen keine diesbezüglichen Rechte genossen zu haben. Im Fall der ehemaligen Abhängigen vom Kloster Einsiedeln ist nicht nur von Pflichten gegenüber dem Landammann und den Landleuten von Schwyz die Rede, sondern die Grundholden waren dem Schwyzer Landammann und den Schwyzer Landleuten, die als ihre Herren bezeichnet werden, auch zu Gehorsam verpflichtet45. Sind die Frauen mit Bürgerrecht und die Ausbürger noch zu den Bürgern bzw. Landleuten gemeinlich zu zählen? Immerhin standen sie ja im Bürger- oder Landrecht, wenn auch nicht gleichberechtigt mit den Vollbürgern und vollberechtigten Landleuten. Leider liegt es völlig im Dunkeln, wie die Autoren der Bündnisurkunden die Minderberechtigten hinsichtlich dieser Frage bewerteten. Immerhin gestaltet sich die Beantwortung besagter Frage deshalb recht einfach, weil es nur zwei Antwortmöglichkeiten gibt: ja, sie wurden dazu gezählt, oder nein, sie wurden es nicht. Für ein Ja spräche, dass mit besagter Formel ein die gesamte Gemeinde umfassender Vertretungsanspruch seinen Ausdruck fand, den zwar nur die stimm- bzw. wahlberichtigten Landleute und Bürger wahrnehmen konnten, jedoch die minderberechtigten und unterbürgerlichen Gruppen der Stadt- und Landgemeinden mit einschloss. Einen diesbezüglichen Hinweis liefert vor allem eine Formulierung im Urkundentext des Glarner Bundes von 1352. Im neunten Artikel, der den Glarnern Strafe für den Fall androht, dass sie zum Schaden der Eidgenossen agieren würden, heißt es: Wer och, das der lantluten jeman von Glarus, er wer rieh oder arm, man oder wip, wie der geheissen were*6. Demnach waren reich und arm, Mann und Frau unter dem Begriff der Landleute zusammengefasst. Dabei sollte das ,Reich' und das ,Arm' auch nicht allein wörtlich, das heißt im ökonomischen Sinn, verstanden werden, sondern diese Paarung benennt oft auch ganz allgemein gesellschaftliche Hierarchien, wie sie etwa in den lateinischen Quellen zu Sizilien und Randern mit den Bezeichnungen de maionbus et ditioribus, de mediombus und de minoribus (Sizilien) bzw. majores und minores/populäres (Flandern) umschrieben werden47. Vermutlich schließen diese .Armen' auch minderberechtigte Ausbürger unabhängig von ihrem Vermögen mit ein. Letztlich könnte bereits das homines des Bundes von 1291, wenn neutral als „Menschen" verstanden, ebenfalls auf ein solch weidäufiges Verständnis der Zugehörigkeit verweisen. Falls der Begriff der land« Blickle, Friede und Verfassung, S. 148-152. 44 Ebd, S. 149. "5 Ebd, S. 149. 46 QW, Urkunden, Bd. 3,1, Nr. 989, S. 668 (Zitat aus dem „Original Zürich"). 47 VgL für Sizilien Kap. 2.1.1, S. 41, Kap. 3.1, S. 94 u. Kap. 5.1.1, S. 223. Für Flandern vgl. Kap. 2.2.2, S. 51 u. Kap. 3.2, S. 116.

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lute tatsächlich so weit gefasst wurde, wie hier nachgezeichnet, ist für die burger der schweizerischen Städte das Gleiche anzunehmen. Um diejenigen Personen klar benennen zu können, die sicher als Akteure des eidgenössischen Kommunebildungsprozesses in Frage kommen, macht es dieses breit gefasste Verständnis also nötig, die weitere Unterteilung in voll- und minderberechtigte Landleute und Bürger gmeinlich vorzunehmen. Bei einem Nein wäre nur die politische Mündigkeit das Kriterium fur besagte Titulierung gewesen. Eine solche Antwort würde sich auf den grundsätzlich konsensuellen Charakter von Conjurationes stützen und auf der Vorstellung beruhen, dass Entscheidungen, die alle Schwurgenossen betrafen, immer den Konsens aller Schwurgenossen benötigten. Die Konsensfindung setzt zwingend voraus, vollberechtigter Schwürgenosse zu sein und zwar mit einer Stimme in der Gemeindeversammlung, in einem dementsprechend delegierten Vertretergremium oder wenigstens fur die Wahl eines solchen Vertretergremiums. Dieses Verständnis ließe die Akteursrolle sehr viel konkreter fassen. Nur weil es, im Gegensatz zur Antwort mit Ja, keine expliziten Quellenbelege fur diese engere Deutung der lantlute und burger gemeinlich gibt, wäre es trotzdem gewagt, sie von vornherein kategorisch auszuschließen. Völlig andere Antwortmöglichkeiten ergäben sich, würde der Historiker andere Maßstäbe an die Akteure setzen und sich vom Prozess, den die Bündnisurkunden mit ihren Formeln lantlute und burger gemeinlieh abbilden, entfernen. Zur Veranschaulichung sei nur ein Beispiel angeführt, das zwar nicht die Frauen, aber die Ausbürger betrifft: Sie waren trotz ihres Status' als minderberechtigte Schwurgenossen aufgrund ihrer militärischen Dienstpflicht sehr wahrscheinlich an jenen zahlreichen militärischen Unternehmungen beteiligt, die die eidgenössischen Länderorte und Städte zwischen 1291 und 1393 durchführten und fur die die vielen Waffenstillstände, Friedensvereinbarungen und Schlachtenüberlieferungen ein beredtes Zeugnis abgeben. Im Fall eines anders gewählten Blinkwinkels auf das Werden jener Eidgenossenschaft von 1370/1393 wären die dienstpflichtigen Ausbürger also auf jeden Fall als Akteure der regionalen Kommunebildung anzusehen. 3.3.2 Der soziale Status der Schweizer in der Befreiungsgeschichte Die Autoren der Befreiungsgeschichte gehen recht unterschiedlich mit dem sozialen Status ihrer Protagonisten um. In Justingers Geschichte taucht keine sozialspezifische Bezeichnung der Eidgenossen auf. Die Akteure seiner Geschichte sind die fromen oder erbern lüteFründ bietet überhaupt keine verwertbaren Aussagen. Für Hemmerli sind die Eidgenossen eigentlich Bauern, allerdings nur, wenn die Bezeichnung rusticus sich nicht von rure, also „vom Lande", herleiten ließe, sondern von ruditate, also „von Roheit"49; lebten und wirtschafteten sie doch seiner Meinung nach entgegen aller herge48 49

Die Berner-Chronik des Conrad Justinger, S. 45. Hemmerli, De Nobilitate et Rusricitate Dialogus, fol. CXXIXV.

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brachten bäuerlichen Gewohnheiten. Nicht die Frauen, sondern die Männer melkten und stellten Käse her, ihre Kleidung schmückten sie mit Kuhschwänzen, und ihre Kühe ritten sie wie Pferde, ja, zu seinem Entsetzen würden sie sogar sexuelle Beziehungen zu ihren Tieren pflegen50. Hinter dieser Fassade aus Diffamierungen verbirgt sich ganz offensichtlich die Vorstellung, die schweizerischen Eidgenossen seien allesamt Großviehbauern. Eine fur spätere Zeiten durchaus wirkungsmächtige Denkform, die jedoch die sozialen Verhältnisse im Untersuchungsgebiet nur unzureichend wiedergibt51. Allein Hans Schriber verortet seine Protagonisten im Weißen Buch differenzierter. Zunächst einmal macht er schon in seinen Erläuterungen zum Herkommen der Bewohner der drei Waldstätte ihren bäuerlichen Hintergrund deutlich. Sie seien in diese Gebiete gekommen, um dort ruten und da nvnen, also um dort „zu roden und zu wohnen"52. Auch in den Einzelbeschreibungen der herrschaftlichen Missetaten ordnet Schriber die Figuren implizit bestimmten sozialen Milieus zu. So versuchte bekanntlich der in Samen residierende Vogt derer von Landenberg, einem Bauern im Melchtal ein Ochsengespann abzunehmen. Als sich dessen Sohn dagegen zur Wehr setzte und deshalb fliehen musste, ließ der Vogt den Bauern nicht nur festnehmen, sondern auch enteignen. Das Ochsengespann und die Enteignung deuten darauf hin, dass man sich diese Bauernfamilie also nicht als mittellos vorstellen darf. Da das Gespann zudem im Zusammenhang mit dem Pflügen erwähnt wird, scheint der Bauer auf jeden Fall Ackerwirtschaft betrieben zu haben. Der Mann aus Altsellen, dessen Frau ein anderer Herr begehrte, besaß ein Haus, der Stauffacher aus Steinen in Schwyz gar ein hübsch stein hus, auf das wiederum der Vogt Geßler ein Auge geworfen hatte53. Unter den beiden erstgenannten Opfern herrschaftlicher Willkür könnte man sich am ehesten im Tal lebende bäuerliche Hofstättenbesitzer vorstellen; auf gar keinen Fall scheint sich Schriber unter ihnen Angehörige einer bäuerlichen Unterschicht vorgestellt zu haben. Der Stauffacher ist mit seinem Steinhaus sogar eher der lokalen Oberschicht zuzuordnen, was auch der historische Befund über diese Familie bestätigt54. Bleibt als letzte Person Schribers Teil, der laut ihm ein redlicher man und ein gut schüt£ war sowie ein hübschi kind hatte. Darüber hinaus war er Schwurgenosse in Stöupachers gesellschaff>s. Seine soziale Einordnung ist über sin ambrest möglich56, jedenfalls wenn man von der Vorannahme ausgeht, dass die Anschaffungskosten einer Armbrust zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert annähernd stabil geblieben sind.

50 Ebd., Kap. 33, fol. CXXIX'-CXXX'. 51 Vgl. Matthias WEISHAUPT: Bauern, Hirten und „frume edle puren". Bauern- und Bauernstaatsideologie in der spätmittelalterlichen Eidgenossenschaft und der nationalen Geschichtsschreibung der Schweiz, Basel/Frankfurt a. M. 1992. 52 QW, Das Weiße Buch von Samen, S. 3. 53 Vgl. Kap. 2.3.2, S. 84. * Vgl oben S. 126f. 55 QW, Das Weiße Buch von Samen, S. 15. Die Bezeichnung Stöupachersgcsellscbaft auf S. 19. «Ebd., S. 17.

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Mittels zweier Waffenverzeichnisse der Stadt Luzern, 1349 und 1353 erstellt57, und des Steuerrodels derselben Stadt, 1352 angelegt58, ist es aufgrund von Doppel- und Dreifachnennungen einzelner Bürger möglich, den Besitz einer Armbrust mit dem Vermögen des Besitzers in Beziehung zu setzen, wobei sich das persönliche Gesamtvermögen aus der zu entrichtenden Steuersumme ermitteln lässt59. Demnach besaßen im Luzerner Stadtteil Ante Portam 1349 nur jene Männer mindestens eine Armbrust, die 1352 eine Steuer zwischen über einem und elf Pfund entrichten mussten, das heißt Vermögenswerte zwischen über 120 und 1320 Pfund ihr Eigen nannten. Ludwig von Ruswil, mit 2100 Pfund auf Platz acht der vermögendsten Bürger, ist dann auch gleich mit zwei Armbrüsten verzeichnet. Das gleiche Verteilungsmuster von Armbrüsten in den Händen der Bürger ergibt sich, wenn der Vergleich mit Personen durchgeführt wird, die in einem anderen Stadtviertel lebten oder im Waffenverzeichnis von 1353 auftauchen. Bei einer durchschnittlichen Steuersumme von knapp über 22 Schilling, was einem Vermögenswert von 134 Pfund entsprach, ist also davon auszugehen, dass der Besitz einer Armbrust mit einem gewissen Vermögen korrelierte. Dementsprechend finden sich keine Armbrustbesitzer, die aufgrund ihrer bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnisse unterdurchschnittlich wenig Steuern zahlten. Dies bedeutet für den Armbrustbesitz, dass sich die ärmeren Luzerner Bürger wohl keine solche Waffe leisten konnte. Zwar wird sie zur Mitte des 14. Jahrhunderts kein ausgesprochenes Luxusgut gewesen sein, aber die Anschaffung hat mit Sicherheit den weniger vermögenden Teil der Bevölkerung finanziell überfordert. Demnach ist der Armbrustbesitzer Wilhelm Teil ebenso wenig wie die anderen Figuren Schribers einer armen Schicht der Innerschweizer Bevölkerung zuzurechnen. Vielmehr scheinen sich in ihnen jene Schwurgenossen der Landgemeinden wieder finden zu lassen, die zusammen mit den Bürgern die Akteure der Bündnisse und Verträge zwischen 1291 und 1393 stellten, und die in ihrer Mehrzahl so etwas wie einer sozialen Mittelschicht angehört haben werden. Den komplexen rechtlichen Status, den die einzelnen lantlute im 14. Jahrhundert hatten, blendet Schriber bei seinen Protagonisten gänzlich aus. Demgegenüber suggeriert er mit seiner Darstellung von der Besiedlung und Urbarmachung der drei Waldstätte und dem Bericht, wie die drei Lender sich freiwillig König Rudolf von Habsburg zu des Rychs banden untertänig machten60, eine ursprüngliche Autonomie und Freiheit, sowohl der Länder als auch seiner Bewohner, die die besagten Kommunen und ihre Mitglieder niemals besessen hatten, sondern in einem Jahrzehnte währenden Prozess vor allem gegen landfremde Herrschafts träger durchzusetzen verstanden, ohne jedoch

QW, Urbare und Rödel, Bd. 3, S. 246-271. Vgl. oben Anm. 6. 59 Pro Pfund Vermögen wurden zwei Pfennig eingezogen, Schnyder, Reich und Arm im spätmittelalterlichen Luzern, S. 57. Dabei rechnet er mit einem Pfund zu 20 Schilling, den Schilling wiederum zu 12 Pfennig. « Vgl. Kap. 2.3.2, S. 83. 57

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darauf zu verzichten, selbst wider Herren zu werden wie beispielsweise über die oben beschriebenen Ausbürger. Völlig selbstverständlich ist für alle vorgestellten Autoren die ständeübergreifende Zusammensetzung der Eidgenossenschaft, jedenfalls solange sie sich auf Städter und Bauern bezieht Weder Justinger, Fründ, Hemmerli oder Schriber hielten es an irgendeiner Stelle auch nur ansatzweise für hervorhebenswert, dass sich die Bauern der drei Waldstätte Uri, Schwyz und Unterwaiden nach dem Kampf gegen die Herren mit den Stadtkommunen Luzern, Zürich, Zug und Bern verbündeten. Sie scheinen dies völlig selbstverständlich und ohne ständische Ressentiments getan zu haben.

3.4 Ergebnisse Trotz der unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen und trotz völlig unterschiedlichen Quellenmaterials sind zunächst einmal vier wichtige Untersuchungsergebnisse hinsichtlich der sozialen Verortung der Schwurgenossen auf Sizilien, in Flandern und in der Schweiz festzuhalten: Erstens lässt sich für jede Großkommune ganz zweifelsfrei die ständeübergreifende Ausrichtung festmachen - und damit eine der zentralen Arbeitshypothesen bestätigen. Uberall waren Niederadlige, Bürger und Bauern, Kaufleute und Handwerker, Großgrundbesitzer und Kleinbauern sowie in Flandern und der Schweiz auch die Geistlichkeit eidlich zusammengeschlossen und am Prozess der kommunalen Gruppenbildung beteiligt. Zweitens ist fur alle drei Regionen augenfällig, dass die überwiegende Mehrheit der an den Kommunebildungen beteiligten Schwurgenossen einer gesellschaftlichen Mittelschicht zuzurechnen ist. Im ländlichen Flandern kann sie sehr eindeutig anhand von Land- und Hausbesitz festgemacht werden, in der ländlichen Schweiz sprechen zahlreiche Indizien ebenfalls für einen solchen Befund. In den flämischen und schweizerischen Städten sowie auf Sizilien war das Kriterium der Steuerpflichtigkeit vermutlich die Bemessungsgrundlage. Auf jeden Fall scheinen Arme, Elende und andere sozial randständige Gruppen innerhalb der untersuchten kommunalen Gesellschaften keine vollberechtigten Mitglieder gewesen zu sein. Dieser Befund deckt sich mit bisherigen Forschungsergebnissen der städtischen und ländlichen Sozialgeschichte. Drittens entstammten die Führungspersonen der Kommunen fast durchweg einer gesellschaftlichen Oberschicht. Auf Sizilien ragen Niederadlige, Großbürger und Großbauern aus der Masse der Schwurgenossen heraus, insbesondere wenn sie bereits unter der angiovinischen Herrschaft in der königlichen Verwaltung aktiv gewesen waren. In Flandern und in der Schweiz stellen ebenfalls Niederadel, alte stadtbürgerliche Geschlechter, Großbürger, Gilde- bzw. Zunftmeister und Großbauern die Mitglieder der kommunalen Herrschaftselite. Viertens spielte die Hälfte der Bevölkerung, nämlich die weibliche, überhaupt keine bis nur untergeordnete Rolle. Während in den Quellen zur flämischen Regionalkommune nur eine Frau in einem unbedeutenden Zusammenhang erwähnt wird,

Ergebnisse

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scheinen Frauen in der Schweiz zumindest in Bern den Status als Schwurgenossinnen erhalten zu haben, wenn auch nur in minderberechtigter Form. Demgegenüber gab es auf Sizilien immerhin Frauen, die sich aktiv an der Verteidigung des kommunalen Messina beteiligten, und sogar eine Frau, Machalda di Scarletta, die das Führungsamt der Kommune von Catania innehatte, allerdings nur in Vertretung ihres Mannes. Aber gerade vor dem Hintergrund der beiden anderen Großkommunen und den allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen wäre es sicherlich überinterpretiert, anhand dieser wenigen Beispiele auch nur im Ansatz von einer weiblichen Gleichberechtigung während der communitas Siciliae auszugehen. Der ständeübergreifende Zusammenschluss der drei regionalen Kommunen tritt also klar vor Augen. Die Besonderheit der regionalen Kommunen im Vergleich zu „normalen" mittelalterlichen Stadt- oder Landkommunen spiegelt sich in der umfassenden Art und Weise wieder, in der die Standesschranken überwunden wurden. Zwar war die soziale Zusammensetzung mittlerer und großer Stadtkommunen nicht viel weniger umfassend, insbesondere wenn man die Bevölkerungsteile des städtischen Territoriums vor den Stadtmauern berücksichtigt. Allerdings kamen die ländlichen Bewohner dieses Contado in der Regel selten über einen minderberechtigten Status hinaus. Diese minderberechtigten Kommunemitglieder im direkten Einflussbereich der Städte gab es, wie wir gesehen haben, auch in den regionalen Kommunen. Es gab in ihnen jedoch auch immer gleichrangige ländliche Kommunen, deren Mitglieder mit den Stadtbürgern auf einer sozialen Stufe standen. Folglich müssen die Akteure von einem sozialen Wissen bewegt worden sein, das nicht nur in den Augen vieler zeitgenössischer Beobachter ständischen Vorstellungen widersprach, sondern das ebensowenig mit den Vorstellungen vieler moderner Historiker in Einklang zu bringen ist Die regionalkommunale Conjuratio belegt also einmal mehr, dass solche wirkungsmächtigen Deutungsschemata, wie etwa das von der funktionalen Dreiteilung der okzidentalen Gesellschaft in einen Bet-, Wehr- und Nährstand (oratores, bellatom, laboratores) oder die strenge Unterscheidung von städtischer und ländlicher Gesellschaft, die komplexen sozialen Verhätnisse der mittelalterlichen Lebenswirklichkeit allenfalls auf ein leicht verständliches Maß reduzieren. Sicherlich gehörte auch adliges Standesbewusstsein oder die Diffamierung des Bauern zu dieser Wirklichkeit, erinnert sei nur an die Titulierung Rudolf Bruns und Johannes von Attinghausen als ritter oder die bauernfeindlichen Äußerungen Felix Hemmeriis. Die drei regionalen Großkommunen belegen aber dennoch, wie umfangreich Formen ständischer Nivellierung bereits im Mittelalter ausfallen konnten.

4. Die Beweggründe zur Kommunebildung und die Ziele der Akteure

Das Instrumentarium, das aus einer einfachen Ursache fur einen historischen Vorgang einen akteursbezogenen Beweggrund, also ein Handlungsmotiv, macht, ergibt sich einmal mehr aus der Frage nach dem handlungsleitenden, sozialen Wissen, das den Akteuren im überlieferten Textmaterial zugeschrieben wurde oder das der Historiker aus ihm ableiten kann. Wie zu zeigen sein wird, kristallisierte es an Begriffen wie .Frieden' und .Gemeinnutz' oder .Freiheit' und .Gleichheit' aus, die in den Quellentexten entweder explizit geäußert werden oder indirekt über das dort Geschilderte zu erschließen sind. Die mit diesen Begriffen verbundenen Wertvorstellungen waren Leitwerte, an denen die damaligen Akteure ihr Handeln ausrichteten. Erst durch diese Leitwerte gelang es ihnen, die Geschehnisse um sie herum wahrzunehmen, sie also zu erfahren und zu bewerten. Das solchermaßen Erfahrene veranlasste die Akteure nicht nur, ihr Wissen um Conjuratio im Handeln umzusetzen, sondern besagtes Wissen stellte ihnen auch die Handlungsoptionen bereit, die es ermöglichten, auf eben diese Erfahrungen zu reagieren und Handlungsziele zu definieren. In diesem Kapitel soll es darum gehen, zweierlei herauszuarbeiten: erstens dasjenige, was erfahren wurde, das heißt die Politik der gekrönten Häupter, Maßnahmen der Herrschaftsverdichtung, Konjunkturzyklen, Klimaschwankungen, Naturkatastrophen oder dem jeweiligen Kommunebildungsprozess zeitlich vorausgegangene Begebenheiten wie etwa auf Sizilien die erste Kommunebewegung von 1254 bis 1256 oder in Flandern der Krieg mit dem französischen König von 1302 bis 1305 und seine Folgen1; mithin also das, was man als Ursache bezeichnen könnte. Zweitens gilt es die Art und Weise zu ergründen, wie erfahren wurde, das heißt wie diese objektiven Ursachen von den Akteuren zu subjektiven Beweggründen verarbeitet wurden. Bei diesem .Wie' rücken die Inhalte des soeben angesprochenen sozialen Wissens, das die Akteure von Conjuratio besaßen, in den Mittelpunkt des Interesses. Es geht demnach um die grundlegenden Wertvorstellungen, die mit der Entstehung der drei großkommunalen Conjurationes im Zusammenhang standen. Mit Hilfe dieser Vorstellungen deuteten die Menschen die sie umgebende Welt und verliehen ihrem Handeln Sinn. Bei der Herausarbeitung dieser Motive gilt es also, eine akteursbezogene Erklärung dafür zu finden, warum es zur Bildung der Großkommunen kam. Anzumerken bleibt, dass selbstverständlich auch immer das, was erfahren wird, zum sozialen Wissen der Menschen werden kann und dass die Art und Weise, wie etwas erfahren wird, zwar mit dem sozialen Wissen korreliert, dieses Wissen aber grundsätzlich auch immer auf Erfahrung beruht. .Erfahrung' und .Wissen' pflegen ι Vgl. Kap. 2.1.1 u. Kap. 2.2.1.

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Beweggründe und Ziele

also ein sehr komplexes Verhältnis zueinander, sie sind eng aufeinander bezogen und durchdringen und bedingen sich wechselseitig.

4.1 Sizilien Die Ursachen für den Ausbruch der Sizilianischen Vesper wurden seit dem Ereignis selbst diskutiert und regten teilweise zur Legendenbildung an. Man denke etwa an den Verschwörer Johann von Procida. Die moderne Geschichtswissenschaft kronzentriert sich vor allem auf zwei Thesen: einerseits auf die von der ghibellinisch-aragonesischbyzantinischen Verschwörung, andererseits auf die vom Volksaufstand gegen das schlechte Herrschaftssystem, sprich: die „mala signoria", König Karls I. von Anjou. Weder möchte ich zur Ehrenrettung Karls von Anjou beitragen, was einige französische Historiker meinten tun zu müssen, noch Geschichtswissenschaft zur Legitimation von zunächst sizilianisch-sessezionistischen bzw. später italienisch-unionistischen und damit verknüpften Freiheitsvorstellungen betreiben, wie Aman es getan hat. An dieser Stelle geht es genausowenig darum, die eine Deutung zugunsten der anderen zu verwerfen. Auch ist es nicht angestrebt, die Möglichkeiten einer Zusammenschau beider Positionen aufzuzeigen. Denn Verschwörung und Volksaufstand müssen sich ja nicht zwangsläufig gegenseitig ausschließen - was im Übrigen viele der historischen Arbeiten, die seit 1900 zum Thema erschienen sind, unterstreichen1. Im Folgenden ist jedoch eine simple Feststellung bestimmend: Selbst wenn es sich 1282 um eine politische Verschwörung des Königs von Aragon, des byzantinischen Kaisers und der Ghibellinen gegen Karl von Anjou gehandelt haben sollte, sie allein hätten niemals genügend „manpower" mobilisieren können, um die durchschlagende Dynamik eines inselumfassenden Aufstandes zu entwickeln. Es müssen daher die Handlungsmotivationen der breiten Masse der aufständischen „einfachen" Sizilianer im Mittelpunkt stehen, das heißt die von ihnen gemachten kollektiven Erfahrungen und das kollektive soziale Wissen, mit dessen Hilfe sie diese Erfahrungen deuteten und das ihr aufständisches Handeln leitete und regulierte.

4.1.1 Aufständische Erfahrungshorizonte: Die „mala signoria"2 unter Karl I. von Anjou Anhaltspunkt schlechthin für das Anliegen, die Umstände kennenzulernen, die die Sizilianer zu ihrer flächendeckenden Erhebung bewegten, sind natürlich die aufständischen Streit- bzw. Propagandaschriften. Sie wurden sehr wahrscheinlich noch während des Aufstandes von unbekannten sizilianischen Autoren verfasst. Ihre Überlieferungssituation habe ich in Kapitel 1.3.1 erläutert3. Während die älteste dieser Schriften, • Vgl. Kap. 1.2.1. * Vgl. Kap. 1.1, S. 13,Anm. 45. 3 Vgl. Kap. 1.3.1, S.29f.

Sizilien

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die die Kommune Palermos an diejenige von Messina richtete, um diese von der Beteiligung an der Aufstandsbewegung zu überzeugen, hinsichtlich der Frage nach den Beweggründen der aufständischen Sizilianer recht unergiebig ist, ist dies bei den beiden anderen Streitschriften nicht der Fall. So heißt es beispielsweise in dem zugleich an das Kardinälekolleg und Papst Martin IV. adressierten Pamphlet: „Der verfluchte Hunger nach Gold drängt die Herzen zur Gier und das angefachte Verlangen treibt die rasenden Gemüter dazu, durch neue Lügen tausend neue Arten zu erfinden um zu schaden. Große Mengen werden durch Steuern abgepresst und durch Proskriptionen verringert. Es gehört nicht uns, Väter [damit sind die Kardinäle gemeint, d. Verf.], was ihr in unseren Nöten als hilfreich annehmt Wir sind nur die Unterstützer der französischen Schlechtigkeit. Ο wenn doch magere und einfache Nahrung für die Armen zurückbliebe! Ο wenn sie doch nur unser Hab und Gut verlangten und sich nicht nach uns selbst so gierig verzehrten! Weder verschaffen die Menschen den Besitzungen, noch die Besitzungen den Menschen Hilfe. Alles leeren, alles verzehren diese unheilvollen Verprasser. Schließlich werden wir Unwürdigen dazu verurteilt werden, mit wilden Geiern selbst zusammenzuleben. Ο wenn doch die gequälte Erde uns aufnähme oder die Weiten des lichten Himmels uns emporhöben oder ein unheilvoller Brand und eine wilde Flamme diese wieder erwachten Ungerechtigkeiten einfach beende"4. Konkretisiert werden diese Anklagen in der jüngsten Streitschrift, deren Adressat nur Papst Martin IV. war und die der unbekannte Autor bereits nach der Landung König Peters III. auf Sizilien verfasste: „Der zweite [Pharao, gemeint ist Karl von Anjou, d. Verf.] verpflichtete das Volk der Sizilianer zu unmöglichen Dingen (indem die überflüssige Verpflichtung dazu per Gesetz beschlossen wurde), weil er von den Zuteilungen an Weizen und Gerste für die Felder, nachdem sie durch die königlichen Massarien den Bauern gewaltsam aufgezwungen worden waren, eine feste Menge der vorgenannten Lebensmittel abverlangte; des Weiteren jährlich pro hundert Schafen eine bestimmte Zahl an Lämmern sowie festgelegte Mengen an Käse und Butter, außerdem überall für Schweine eine an Ferkeln. Und darüber hinaus muss nicht erwähnt werden, dass er von den Hühnern eine bestimmte Zahl an Küken und Eiern oder stattdessen bestimmtes Geld und pro Bienenkorb, obwohl die Bienen wilde Tiere sind, eine festgelegte Menge an Honig und Wachs einforderte. [...] Ο Wahnsinn des dreisten Gemüts, der nicht an die Fröste des Winters dachte; der nicht daran denken konnte, dass durch Schnee des Winters, Flammen der Hitze, Eiseskälte und Getreide-

Cogt auri sacrafames avariüe pectora, novosque milie nocendi modos novis adinvenire faJlaajs, et instinguibiüs sitis excogtatis malitie artibus ä f f t et afftat furibunda ingnia. Vincitur exactionibus numerus, proscritiombus angustatur. Non nostra sunt, Patres, que cemiüs nostris nectssitatibus pnjutura; cultorts sumus tantummodo gaiüce promtatis. Ο utinam victus exi/is et tenuis miseris reünquatur! Ο utinam nostro sitirent, et KOS non sie avide devorartnt! Non persone rebus, non res personis s u f f r a f fum prestant; totum ebibunt, totum exauriunt, insanabiles mustionts: summam expice, ipso (ipsis) [sie!] Jens vohicribus conviviart judicabimus indigni. Utinam nos assumeret terra dascens, vel spatia levis aheris elevarent, vel insanabiüs rogus voraxque fama (flamma) [sie!] rtnascentes injurias teminaret.', Aman, La guerra del Vespro siciliano, Bd. 3, Nr. 10, S. 314. 4

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brand vernichtet wird! Niemals dachte er sich, dass die Fortpflanzungsbereitschaft so schwinden und der Frühlingsreiz durch schwere Zeitumstände so in Unordnung gebracht werden kann, dass der gewöhnliche Lauf der Dinge sich ändert und Frucht und Saat nicht wie gewohnt gedeihen. [...] Konnten etwa auf Befehl dieser [gemeint sind die Sizilianer, d. Verf.] Schafe, Schweine, Bienen und zugleich Hühner befruchtet werden? Außerdem brachte er eine andere Art von Pestilenz hervor. [...] Vom Gold berauscht kam ein zweiter Krösus wie kein anderer zum Vorschein, der selbst nicht von der ansteckenden Berührung seiner eigenen Krankheit infiziert wurde, der Kontakt mit ihr jedoch das Leiden entsetzlicher Armut verursachte, weil er befahl, dass den Reichen wider Willen die Pflichten der Sekreten, den Mitderen fürwahr die Abgaben des Baiulats verliehen wurden, von denen er nicht gemäß dem Lauf der Zeit, nach dem die Amtsträger ihre Pflichten versahen, die Einnahmen der Ämterstellen forderte, sondern nach der Rate des Jahres der vergangenen VII. Indiktion, in der es die vorgenannten Erträge im Überfluss gab"5. Einige Zeilen weiter heißt es zu Übergriffen und Willkürhandlungen von herrschaftlichen Amtsträgern: „Und es darf nicht die unsägliche Bosheit der Mundschenke verschwiegen werden, die Städte und Gaststätten schädigten, als sie unter Vorwand Fuhren des einzigartigen Weines aus Salerno versiegelten, die die durstigen Kehlen ihrer Herren bis zum Erbrechen für lange Zeit stillen konnten. Denn unter sicherer Strafe hielten sie diese Fuhren, die sie gänzlich für ihre Herren aufbewahren wollten, zurück, damit sie nicht auf irgendeine Weise angerührt werden. Ihrer Masse an Schlechtigkeiten vermochten die Wirte nicht zu widerstehen und sie lösten ihre eigenen Fuhren mit Geld aus. Jenem Fall ähnlich beschlagnahmten tückische Amtsträger den Hausrat von Armen, von denen sie, gemäß ihrer unvorteilhaften Lage und die Rechtsordnung auf den Kopf gestellt, später Denare forderten, damit sie von diesen Herren dasselbe Hab und Gut zurückbekämen"6. 5 Stcundus autem ad imposnbtia obligabat populum Siculorum, cum impossiblium obligatio per leges supervacua judicetur, quoniam de sakra tritici et hordei data per regfos maxarias violenter agricolis certam expetebat in areis supradictorum victuaHum quantitatem, de centenario omnium determinatum agnorum numerum et agnarum, et certum pondus casei et butin, pro quaiibet sue praeterea certum porcellorum numerum annuatim. Nec est recitandum insuper de galünis, pro quarum quaiibet certus pullos et ova, aut pro ipsis pecuniam determinatum; pro quoübet opium alveario, cum sint ferae naturae, mellis et cerae certam exigent quantitatem. [...] Ο protervi cordis insania, quae non cogftabat algpres hyemis; brumaeque pruinas, colons flammas, extingui gelu atque uredine segetes posse! Numquam cogitabat quod posset deßcere foecunditas a nuptiali, et vemaHs amoenitas... [sie!] tempore perturbato posset cursum mutare sotitum, etflores et herbes nonproducere consuetas. [...] Numquid ad eorum nutum oves, sues, apes, simulque galinae poterant foecundari? [...]Auro ebrius alter Crtsus, ut nullus evaderet, qui non sui morbid contagjoso contagio tangtrrtur, cujus contactus horribiüs horrendae paupertatis aegritudinem afferebat, quoniam divitibus invitis faäebat dari o f f i c i o seerttuu, mediocribus vero bajulationis dohanas, certasque tabellas modicas, a qmbus non secundum cursum temporis, quo officials jungebantur offieiis, officiorum introitus expetebat; sed secundum ratam anni VII. Indictionis primo praeteriae, in quo praedicti proventus abundantius valuerunt., Chronicon Siciliae, S. 839-840. Zu den erwähnten Reichen {divitibus) und Mitderen (mediocribus) vgl. Kap. 2.1.1, S. 41.

Nec est sub ältntio contegenda nefanda maügnitas pincemarum, qui sub praetextu unius vegetis de SaJento, quae spado magni temporis suorum dominorum poterat usque ad nausum insatiabiks satiare voragfnis, omnes avitates et

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Auch die beiden zeitgenössischen Chronisten der Sizilianischen Vesper, Bartholomaeus de Neocastro und Saba Malaspina, können Ahnliches berichten. Insbesondere Saba scheint die Anprangerungen der zuletzt zitierten Streitschrift aufgenommen und seinen Lesern dann noch einmal detaillierter wiedergegeben zu haben. So erwähnt er auch das Gesetz, das Karl erlassen habe, und kennt die genauen Mengen der von den Bauern abzuliefernden Abgaben. Ob er als Dekan und später Bischof der Kirche von Mileto, die im Besitz von Pfründen in Messina war, Einblicke in die sizilianischen Verhältnisse gewonnen hat oder ob seine Angaben seiner Phantasie entsprungen sind, vielleicht angeregt durch die Kenntnis der obigen Streitschrift, bleibt offen7. Auf jeden Fall legt er zu Beginn seiner Ausführungen Wert darauf herauszustellen, dass diese Fordeningen nicht König Karl ersonnen, sondern seine schlechten Berater ihn dazu gedrängt hätten8, die im Übrigen nur für Sizilien gegolten zu haben scheinen9. Reichen sizilianischen Bauern seien zur Bewirtschaftung der königlichen Güter Schweine, Schafe und Pferde oder Ochsen zum Ackerbau durch jenes Gesetz zwangsverpachtet worden. Sie hätten nun jährlich einen bestimmten Ertrag von und mit diesen Tieren erwirtschaften müssen, der an den königlichen Fiskus abzuführen war. Saba schlüsselt diese Abgaben genau auf: Von einer Sau seien pro Jahr in zwei Würfen zehn Ferkel erwartet worden, pro Wurf jeweils zwei männliche und drei weibliche. Drei dieser Jungsauen sollten im selben Jahr gleichfalls fünf Ferkel werfen. Von diesen insgesamt 25 Schweinen seien jährlich 20 an den Fiskus abzuführen gewesen. Derjenige, der Pferde in seine Obhut bekommen hatte, habe für zwölf Stuten jährlich zehn Fohlen, vier Hengst- und sechs Stutenfohlen abliefern sollen. Bezüglich der Schafe haben pro 100 Tiere zehn cantan10 Käse, zwei cantari Ricotta und vier cantari Wolle produziert werden müssen. Für einen cantarus Käse sei ein Verkaufspreis von 12 tareni, fur ein cantarus Ricotta von 6 tareni und für ein cantarus Wolle von 10 tareni festgesetzt worden, so dass 100 Schafe in einem Jahr die Summe von 172 tareni hätten einbringen sollen. Zusätzlich wurden von 90 trächtigen Schafen 90 Lämmer verlangt und zwar 60 weibliche Tiere und 30 Böcke. Selbst von den Feldern, die während der Brache durch die Schafe gedüngt worden waren, seien pro salmata11 ein salmtP- Getreide fällig gewesen. cauporaneos affligabant, universarum cauponarum videkctt vegttes sigilantet. Sub certa igturpoena inbibentis eisdem, ne praedictas vegetes tangere quotibet modo attmtarent, quas pro praefaüs dominis valebant ptnitus conservari: cujus nequentiae mokm sustinere tabernarii non vakntis, vegetes proprias pecunia redimebant. Illud idem ministri sceleris de supellectibus pauperumfaciebant a quibus post habititatem suorum corporum iniquorum, turbatojuris ordine, ut ipsa patmnis supelkctiüa redderant, denarios expetebant, Chronicon Siciliae, S. 840. Dabei handelte es sich um Einnahmen aus Färbereien, Kornspeichern und anderweitiger Rechte, vgL Saba Malaspina, Einleitung, S. 4. 8 Saba Malaspina, S. 251 f. Dazu mehr bei August NlTSCHKE: Die Folgen einer neuen, an Gewinnsteigerung orientierten Landwirtschaftspolitik im 13. Jahrhundert: Die Sizilianische Vesper, in: Hans-Peter BAUM / Rainer LENG / Joachim SCHNEIDER (Hgg.): Wirtschaft - Gesellschaft - Mentalitäten im Mittelalter. Festschrift zum 75. Geburtstag von Rudolf Sprandel (Beiträge zur Wirtschafte- und Sozialgeschichte 107), Stuttgart 2006, S. 165-178, S. 169-174. ' Ebd, S. 252. 10 1 cantarus entsprechen 80 Kilogramm. 11 1 salmata entsprechen 2,231 Hektar. 7

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Ochsen wiederum seien zur Urbarmachung von Neuland ausgegeben worden. Im ersten Jahr haben die Pächter mit einem Ochsenpaar sechs salmatae Brachland in Ackerland umwandeln müssen. Von dieser Fläche habe sodann die Abgabe ab dem zweiten Jahr 30 salmae Weizen oder Gerste jährlich betragen. Als Aufwandsentschädigung für seine Arbeit sollte der Pächter 2 augustaks13 pro Joch Ochsen erhalten14. Weiterhin erwähnt Saba recht unspezifisch colkctas et exaetiones innumeras und beklagt die Einfuhrung neuer Münzen im Königreich. Darüber hinaus schildert er wie in der zuletzt angeführten Streitschrift Fälle von Amtsanmaßung und herrschaftlicher Willkür, die er angeblich persönlich erlebt habe: frequentisnme vidi15. Saba berichtet von königlichen Amtsträgern, die den Armen die Betten samt Bettzeug geraubt hätten, aber auch höher gestellten Personen ihre kostbaren Kleider. Wer es gewagt habe, sich dagegen zu widersetzen, sei geschlagen und ins Gefängnis gesperrt worden, aus dem er sich nur durch eine gewisse Summe Geldes habe freikaufen können. Insbesondere die herausragenden Persönlichkeiten eines Verwaltungsbezirks seien zur Bewachung von Gefängnissen oder zu Botengängen an den königlichen Hof abkommandiert worden. Diesen zeitraubenden Aufträgen hätten sie nur durch Zahlung von Geld entgehen können. Bei der Erhebung der colkcta bzw. subventio generalis hätte der executor - also der vom Justitiar beauftragte Unterbeamte - von den in den Verwaltungsbezirken gewählten, lokalen Steuereinnehmern, den sogenannten colkctores, ein Aufgeld gefordert. Diese seien gezwungen gewesen, es zu bezahlen, weil ihnen andernfalls Gefängnis gedroht hätte. Im Fall eines Mordes in einem Verwaltungsbezirk habe der Justitiar, auch wenn der Delinquent gefasst worden sei, von den Einwohnern trotzdem jene 100 augustaks verlangt, die eigentlich nur für den Toten eines unaufgeklärten Mordes zu zahlen gewesen wären16. Den Mörder habe er sogar freigelassen, obwohl ihn eigentlich die Todesstrafe erwartet hätte. Neben diesen mehr oder weniger raffinierten Methoden der Gelderpressung seitens der königlichen Beamten nennt Saba 12 Nach Pen, Uomini cittä e Campagne, S. 289, hatte eine salma 275 Liter. Bei einem Hektolitergewicht von ca. 70 Kilogramm ergibt das 192, 5 Kilogramm. Vgl. ebenfalls Erich MASCHKE: Die Wirtschaftspolitik Kaiser Friedrichs II. im Königreich Sizilien, in: VSWG 53 (1966), S. 289-328, S. 307, Anm. 110. Dazu auch Kiesewetter, Die Anfange der Regierung König Karls II. von Anjou (1278-1295), S. 108, Anm. 5. 13 12 tartni entsprechen 1 augustaks. 14 Saba Malaspina, S. 252f. '5 Ebd., S. 255. 16 Unter Friedrich II. musste ein Verwaltungsbezirk, in dem ein unaufgeklärter Mord begangen worden war, für einen toten Christen mit den besagten 100 augustaks, für einen toten Juden oder Sarazenen mit 50 augustaks büßen, Die Konstitutionen Friedrichs II. für das Königreich Sizilien, I 28, S. 181-183. Vgl. auch Dilcher, Die sizilianische Gesetzgebung Kaiser Friedrichs II, S. 148f. Diese Strafe wurde unter Karl von Anjou 1266 nach Größe des Bezirks gestuft und erhöht. Bei unter 500 Einwohnern mussten 100 augustaks, bei 500 bis 1000 Einwohnern mussten 200 augustaks und größere Verwaltungsbezirke mussten 400 augustaks zahlen, Trinfone, La legislazione angioina, Nr. 9, S. 6f. Weitere Verordnungen bestimmten, dass diese Summen nicht ohne Anweisung des Hofes eingezogen werden durften und dass die Buße nicht über die gesetzlich festgelegten Summen hinaus erhöht werden durften, ebd., Nr. 18, S. 157; Nr. 50, S. 64; Nr. 52, S. 69.

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aber auch einfache Fälle von Straßenraub durch die Amtsträger: Reisenden seien die Pferde gestohlen worden, den Bauern die Esel mit Arbeitsgerät, Stroh, Holz und anderen Gegenständen17. Auch Bartholomaeus de Neocastro wiederholt letztlich das in den Streitschriften und bei Saba Malaspina Niedergeschriebene: „Warum die Dekrete der Massarien und Forstverwaltung; warum die Unerschöpflichkeit der unerträglichen Gier; [...] warum die unglaubliche Abgabe auf die Tierjungen und die drückende Abgabe auf die Felder, auch wenn die Trockenheit des Himmels im Herbst verdörrte oder später glühende Sommerhitze die Ernte verbrannte; [...] warum die den Adligen zugefugten Schläge; warum die noch nie da gewesene Gewohnheit der vollkommenen Besteuerung? Jedes Jahr befahl er [Karl von Anjou, d. Verf.], dass für die Denaren neue Münzen aus dem minderwertigsten Metall geschlagen werden, und dass, was viel gravierender war, obwohl der Wert der Denaren bis zum vierhundertfachen fur einen Tarenus anstieg, [...] indessen jedem zehnmal in Folge für einen einzelnen Denar ein dreifach entwerteter Denar ausgezahlt wird. Warum die Generalkollekte, für deren Zahlung die Mittel der Menschen kaum ausreichten?"18. Aus den beiden Streitschriften und den beiden Chroniken lassen sich demnach grob zwei Arten von Vorwürfen herausarbeiten, mit denen die Autoren versuchten, das aufständische Handeln der Sizilianer zu erklären: erstens den ausgeprägten Fiskalismus der angiovinischen Königsherrschaft (1); zweitens den offensichtlich ausufernden Machtmissbrauch königlicher Amtsträger (2). (1) Zur besseren Einordnung der Klagen um die angeblich zu hohen Abgaben für die Pächter einer königlichen Massaria, die in der Schrift an Papst Martin IV. auftauchen, sehr ausführlich von Saba Malaspina vorgestellt werden und andeutungsweise auch bei Bartholomaeus de Neocastro durchklingen, möchte ich diese zunächst mit den Angaben zu den geforderten Erträgen in Beziehung setzen, die das Statutum massariarum et primo de grege porcorum überliefert hat19. Diese königliche Verordnung zu den Abgaben der einzelnen königlichen Gutsbetriebe stammt vermutlich aus der Zeit König Manfreds oder aus der Anfangszeit der Herrschaft Karls von Anjou20. Auf jeden Fall wurde es unter der Regierung des letztgenannten 1275 ergänzt. Dort werden nun von einer Sau zwar auch zwei Würfe im Jahr erwartet, aber mit jeweils nur Saba Malaspina, S. 255-257. Quid massariarum et forestarum decreta? quid mtolerabitis famis insatiabititas? [...] quid animatium foetuum inexcogitabitis reditus fructuosus et agrorum luxuries, etiam ή coeü siccitas sub autumno torperet, out messes aestuaret in posterum fervens cancer? [...] quid verbera inficta nobiBbus? quid exacti census inauSta maneries? Denariorum quidem novam monetam incudi mandabat ex aere purisnmo quotibet anno, et, cum usque in quadringntos pro tareno uno asctnderent [...], sed, quod detenus erat, deaes tripticatum denarium α quotibet pro denario stngulo comminum exsohi. Quid collecta pecuniae gnerah, pro cujus solutione fix suffiäebant hominum jacuhatts?, Bartholomaeus de Neocastro, Kap. 12, S. 10. 19 Acta imperii inedita seculi XIII. Urkunden und Briefe zur Geschichte des Kaiserreichs und des Königreichs Sizilien in den Jahren 1198-1273, hg. v. Eduard Winkelmann, Bd. 1, Innsbruck 1880, Nr. 998, S. 754-759. 20 Vgl. Pen, Uomini cittä e Campagne, S. 214. - Vgl. Saba Malaspina, S. 252, Anm. 60. 18

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vier Ferkeln. Dabei sollten aus dem ersten Wurf zwei und aus dem zweiten Wurf ein Schwein großgezogen werden. Von hundert Schweinen mussten darüber hinaus lediglich fünfzig pro Jahr gebären. Bei den Stuten wurde zwar pro Jahr auch ein Jungtier erwartet, aber wie bei den Schweinen musste nur die Hälfte von hundert Pferden ein Fohlen zur Welt bringen21. Für die Schafe galt dieselbe Berechnungsgrundlage von 100 Tieren; eine Wurferwartung wird aber nicht genannt. Allerdings wird der erhoffte Gewinn pro 100 Schafen und Jahr angegeben: Anstatt der 172 tareni, die Saba nennt, werden nur 100 gefordert22. Bezüglich der Getreideabgaben werden im Statutum massariarum von den Pächtern pro salma Aussaat zehn salmae Ertrag beim Weizen und sogar zwölf salmae bei der Gerste verlangt23. Selbst vor dem Hintergrund der heutigen Verhältnisse der Landwirtschaft stellen die von Saba Malaspina dargelegten Reproduktionsraten bei den Schweinen, Pferden und Schafen die biologische Obergrenze dar. Sie ist allenfalls in der Theorie zu erzielen. Entweder ist die angestrebte Vermehrungsrate gänzlich unmöglich, wie bei den Pferden, oder, wie bei den Schweinen, auf längere Sicht nicht aufrechtzuerhalten. Lediglich die bei den Schafen angepeilte Geburtenrate könnte im Bereich des Realisierbaren gelegen haben24. Im Gegensatz dazu dienen dem Statutum massanarum jeweils hundert Tiere als eine Art prozentualer Berechnungsgrundlage. Von diesen hundert Tieren sollten mindestens fünfzig pro Jahr Nachwuchs haben. Diese prozentual aufgeschlüsselten Reproduktionsraten sind auch hoch, scheinen aber eher umsetzbar. Das im Statum angestrebte Verhältnis von Aussaat zu Saat von 1:10 beziehungsweise 1:12 ist für Sizilien bei mitderen und guten Ernten normal, bei schlechten waren allerdings nur noch Erträge von 1:8 zu erwarten25. Diese Forderungen sind also bei einer Acta imperii inedita, S. 757. 22 Ebd., S. 758. 23 Ebd., S. 757. 24 Pferde: Die verlangte Abgabe von 4 Hengst- und 6 Stutenfohlen bedeutet bei einem Geschlechterverhältnis von 1:1 zwölf Fohlen im Schnitt, so dass jede Stute erfolgreich gedeckt werden muss (Zwillingsgeburten kommen mit einer Wahrscheinlichkeit von ein bis rwei Prozent vor). Die Konzeptionsrate in einem modernen Gestüt liegt bei 70 Prozent, die von Saba geschilderten Erwartungen sind also nicht ansatzweise zu erfüllen. Schweine: Die bei den Schweinen angesetzte Zahl von 6 Ferkeln pro Wurf (Geschlechterverhätnis 1:1) scheint knapp möglich. Die Tragzeit beträgt heute 112-115 Tage, die Zwischenwurfzeit 200 Tage, was knapp ein zweimaliges Abferkeln jährlich erlaubt, aber nicht auf längere Sicht. Die Jungsauen sind nach 7-9 Monaten zur Zucht verwendbar und damit ebenfalls knapp in der Lage noch im gleichen Jahr selbst zu werfen. Auf die Dauer lässt sich die angestrebte Reproduktionsrate jedoch nicht aufrechterhalten. Schafe: Die Wurferwartung von 120 Lämmern bei 90 trächtigen Schafen (Geschlechterverhältnis 1:1) scheint von allen angestrebten Reproduktionsraten nach am wahrscheinlichsten. Heutige Rassen variieren zwischen 0,8 und 2,3 Lämmern pro Mutterschaf, Zwillingsgeburten sind häufig. Diese detaillierten Angaben stammen von den Herausgebern der Chronik des Saba Malaspina, Walter Koller und August Nitschke, Saba Malaspina, S. 253, Anm. 65. 21

25 Diese Verhältnisse von Aussaat zu Saat in Sizilien stammen aus dem Jahr 1550, vgl. Maschke, Wirtschaftspolitik Friedrichs II., S. 389, Anm. 217. Im Gegensatz zu Sizilien lag selbst noch im 17./ 18. Jahrhundert das Verhältnis von Aussaat zu Ertrag in Mitteleuropa im groben Durchschnitt bei 1:3 oder 1:4, vgl. Wilhelm ABEL: Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter

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oder mehreren schlechten Ernten in Folge nicht zu erfüllen. Von Saba wird das Verhältnis von Aussaat zu Ernteertrag zwar nicht mitgeteilt, so dass die von ihm angegebenen Mengen schwer einzuordnen sind26, aber er wird sie kaum für erwähnenswert gehalten haben, wenn er sie nicht auch als zu hoch eingeschätzt hätte. Die Frage, die sich aufdrängt, ist die nach der Authentizität der von Saba Malaspina ausfuhrlich geschilderten Zahlen. Natürlich ist es mit letztendlicher Sicherheit nicht mehr zu klären, ob diese ohne Zweifel schikanösen Abgaben tatsächlich vom Hof in Neapel gefordert wurden oder ob Saba einfach nur Übertreibungen der sizilianischen Propaganda zur besseren Anschaulichkeit um Mengenangaben ergänzte, die seiner Phantasie entsprungen waren. Dagegen spräche aber vor allem seine grundsätzlich pro-angiovinische Position. Nicht umsonst versucht er, Karl I. aus der Schusslinie zu nehmen, indem er seinen Lesern mitteilt, diese überhöhten Forderungen gingen voll und ganz auf das Konto der schlechten Berater des Königs. Außerdem unterhielt er, wie angedeutet, als Dekan und Bischof der Kirche von Mileto enge Beziehungen zur Insel und könnte von daher Einblick in die dort herrschenden Verhältnisse gewonnen haben. Dementsprechend wird er natürlich auch über Missstände informiert gewesen sein27. Geht man also davon aus, dass die von Saba gemachten Angaben auf einer realen Grundlage basierten, liefert die Streitschrift an Papst Martin einen Hinweis, wie es überhaupt zu diesen unrealistischen Forderungen an die Pächter gekommen sein könnte. Denn die im Statutum massariamm angegebenen Erträge scheinen ja viel eher realisierbar gewesen zu sein als die von Saba beschriebenen. In besagter Streitschrift wird nun die Kritik vorgebracht, die viel zu hohen Ertragserwartungen seien auf Grundlage der offensichtlich hervorragenden Erträge der VII. Indiktion (1. September 1278 bis 31. August 1279) bemessen gewesen, die aber wegen eines allgemeinen Ertragseinbruches durch die Pächter dann nicht mehr zu erfüllen gewesen seien. Die letzte bekannte Ergänzung des Statutum wurde am 12. August 1275, das heißt in der III. Indiktion (1. September 1274 bis 31. August 1275), vorgenommen. Daher ist es durchaus vorstellbar, dass wegen des ständigen Geldbedarfes des königlichen Hofes die Abgabemengen erhöht wurden, vielleicht weil aufgrund guter Erträge die Vorausbis zum 19. Jahrhundert (Deutsche Agrargeschichte 2) Stuttgart 3 1978, S. 16 u. S. 236. Pen bietet einen umfassenden Überblick über die Verhältnisse von Saat und Ernte in den Jahrhunderten und in verschiedenen Regionen Europas. Er fuhrt sogar Cicero an, der fur Sizilien ein Verhältnis von 1:8 bis 1:10 erwähnt, vgl ders., Uomini, cittä e campagna, S. 320f, Anm. 5. 26 Auf den von den Schafen gedüngten Flächen betrug die abzuliefernde Menge 6 saJmae, also 1155 Kilogramm pro Fläche sabnata, das heißt pro 2,231 Hektar. Dies würde einem Hektarertrag von rund 5,18 Dezitonnen entsprechen. Der erwartete Hektarertrag des von den Ochsen urbar gemachten Landes betrug 4,31 Dezitonnen. In Mitteleuropa kann im 17./18. Jahrhundert je nach geographischer Lage, Qualität des Bodens und Intensität der Bearbeitung für Weizen ein Hektarertrag von 8 bis 9 Dezitonnen und fur Gerste zwischen 6 und 6,5 Dezitonnen angenommen werden, vgl. Wilhelm Abel, Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert (Deutsche Agrargeschichte 2), Stuttgart 3 1978, S. 238. 2'Vgl. Kap. 1.3.1, S. 29.

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Setzungen dafür günstig erschienen. Als es dann zu einem Ertragsrückgang kam, der möglicherweise durch normale Klimavariabilitäten ausgelöst wurde, sah sich der königliche Hof dann jedoch nicht genötigt, die gestellten Forderungen dieser neuen Situation anzupassen und nach unten zu korrigieren28. Die sowohl von Saba Malaspina als auch von Bartholomaeus de Neocastro beklagte Verschlechterung der Münzen nutzte Karl von Anjou nach Ausweis der Sekundärliteratur ebenfalls zur Erhöhung seiner Einnahmen. Demnach sind jährlich oder sogar halbjährlich über sieben Millionen neue Münzen ausgegeben worden, vor allem minderwertige denarii, die durch Zwangsumtausch der Goldmünzen in Umlauf gebracht wurden. Teilweise enthielten solche Münzen nur noch einen Bruchteil ihres Edelmetallanteils. Einige Geldstücke seien bis zu 1666 Prozent überbewertet gewesen29. Kiesewetter kennt einen konkreten Umtauschkurs: Für einen tarenus mit 0,6 Gramm Gold seien 24 denarii mit nur 0,408 Gramm Silber ausbezahlt worden30. Durch diese erzwungenen Umtauschaktionen flössen natürlich große Mengen an Edelmetall in die königliche Kassen, sie werden aber gleichzeitig zur raschen Verarmung der Bevölkerung gefuhrt haben. Darüber hinaus kritisiert Saba recht allgemein den finanziellen Druck durch die zahlreichen weiteren Steuern und Abgaben, während Bartholomaeus ganz konkret auf die colkcta generalis abhebt. Sabas Kritik lässt sich vortrefflich auf die zahlreichen indirekten Steuern und Abgaben sowie Gebühren beziehen, die im angiovinischen Königreich erhoben wurden. So gab es Einfuhr-, Ausfuhr- und Transitzölle, Hafen-, Weg-, Platz- und Brückengelder. Hinzu kamen Wald- und Weideabgaben, Abgaben für das Wiegen und Messen von Waren, Abgaben für die Benutzung von Backöfen, Mühlen, Schlachthäusern und Abgaben für bestimmte Lebensmittel wie Öl, Käse oder Wein. Diese königlichen Einnahmequellen stammten letztlich schon aus staufischer Zeit, und der Leistungskatalog war in ius vetera und ius nova unterteilt31. Wenn auch die Belastungen des Einzelnen nicht zu erschließen sind, so lässt doch allein die ungeheuere

Anders sieht es Nitschke, Die Folgen einer neuen, an Gewinnsteigerung orientierten Landwirtschaftspolitik im 13. Jahrhundert, S. 174-177. 29 Jean DUNBABIN: Charles I of Anjou. Power, Kingship and State-Making in Thirteenth-Century Europe, London/ New York 1998, S. 103. Vgl. ebenfalls Sthamer, Aus der Vorgeschichte der sizilianischen Vesper, S. 297f. 30 Kiesewetter, Die Anfänge der Regierung König Karls II. von Anjou, S. 80, Anm. 2. Hier auch zahlreiche weitere Literatur zur Münzpolitik Karls I. 31 Zur jura vetera gehörten: dohana, pascua, portus et piscaria,jus glandium et similium, anchoragium, becharia, jus trfßdaturae, jus tumuti, scalaticum, passagfum vetus, herbaff um, jus casei et o/ei (non ubique). Die jura nova waren folgende: jus fundia, jus resinae sen reficae maioris et minoris (non ubique, sed Neapohs), jus fern, jus saponis,jus a%ari,jus molendini,jus picis, becharia nova, jus Staterae seu ponderaturae, imbarcatura,jus mensuraturae, jus portus et piscariae de novo, jus setae, jus exiturae, jus cambii, jus decini, jus lignaminum (non ubique), tentoria et celendra,jus gabellae auripeltis (non ubique), jus marchium,jus gallae (non ubique, sed in Aputia), jus baüstrarum, vgl. Galasso, II regno di Napoli, Bd. 1, II mezzogiorno angiovino e aragonese, S. 503. 28

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Vielfalt beträchtliche Einkünfte vermuten. Zudem sind seit den Regierungsjahren der staufischen Herrscher Steigerungsraten kaum auszuschließen32. Bei der von Bartholomaeus beanstandeten und inzwischen schon wiederholt erwähnten colkcta generalis handelte es sich um jene direkte Steuer, die allen Haushalten auferlegt wurde. Sie existierte bereits unter dem Normannenkönig Wilhelm II. (1166 bis 1189)33. Zur normannischen Zeit war ihre Erhebung aber nur im Fall von Krieg, einer Invasion des Reiches oder zum Freikauf eines gefangengesetzten Königs gedacht. Die einzuziehende Summe durfte 50.000 Goldunzen nicht überschreiten. Eine Summe von maximal 25.000 Unzen durfte bei der Heirat der Königskinder eingefordert werden34. Auch unter Friedrich II. war die Generalkollekte zunächst gemäß der überkommenden Traditionen zu entrichten und auch noch fallweise begründet worden35. Aber ab 1235 wurde sie dann regelmäßig im Januar eines jeden Jahres erhoben. Nur aus den Jahren 1238, 1242 und 1248 sind die Gesamtsummen dieser jährlichen Erhebungen bekannt. Wurden 1238 102.000 Goldunzen erhoben, so war in den Anweisungen für das Jahr 1242 mit 70.000 Unzen ein Drittel weniger vorgesehen. Im Jahr 1248 waren wiederum 130.000 Unzen aufzubringen. Sie überstiegen damit die ursprünglich festgelegten Summen aus normannischer Zeit um ein Vielfaches. Schon 1224/25 gab es warnende Stimmen, das Königreich durch die Kollekten nicht zu sehr zu erschöpfen. Und tatsächlich geht aus Anweisungen für die Kollekte des Jahres 1248 hervor, dass einzelne Verwaltungsbezirke schon im Vorjahr über ihre finanziellen Möglichkeiten hinaus belastet worden waren, so dass noch Restforderungen bestanden36. Obwohl der Steuerdruck also offensichtlich schon derartig hoch war, dass Teile des Königreichs in Zahlungsrückstand geraten waren, verzichteten auch Friedrichs unmittelbare Nachfolger nicht auf die colkcta als jährlich zu entrichtende Steuer37. Karl I. von Anjou verpflichtete sich zwar bei seiner Investitur mit dem Königreich, zu den Traditionen der normannischen Herrscher zurückzukehren38, auf die jährlichen Einnahmen durch die Kollekte konnte aber auch er nicht verzichten. Das Aufkommen schwankte in den siebziger Jahren des 13. Jahrhunderts zwischen 60.000 und 70.000 Unzen. Wegen seines immensen Geldbedarfs sah sich der König schließlich sogar genötigt, in den Jahren 1280 und 1281 die Generalkollekte zweimal pro Jahr 32 Vgl. Helene ARNDT: Studien zur inneren Regierungsgeschichte Manfreds (Heidelberger Abhandlungen 31), Heidelberg 1911, S. 30f. 33 Zu Wilhelm und seiner Regierung vgl. Annkristin SCHLICHTE: Der „gute" König. Wilhelm II. von Sizilien (1166-1189), Tübingen 2005. 34 Giuseppe GALASSO: II Regno di Napoli, Bd. 1, II Mezzogirno angiovino e aragonese (Storia d'Italia 15), Turin 1993, S. 54. 35 Die Kollekte von 1223 wurde mit der Bekämpfung der Sarazenen begründet, 1227 wurde sie für den Kreuzzug verwandt, vgl. Maschke, Wirtschaftspolitik Friedrichs II., S. 354. 36 Vgl. ebd., S. 353-355. Weiterhin Tramontane, La monarchia normanna e sveva, S. 687. 37 Die einzig verfugbare Zahlenangabe zur Höhe der Generalkollekten unter König Manfred stammt aus der Provinz Siciha ultra. Sie fiel um 50 Prozent höher aus als die höchste unter Friedrich II. bekannte Summe, vgl. Arndt, Studien zur inneren Regierungsgeschichte, S. 28f. 38 Herde, Karl I. von Anjou, S. 46.

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einzufordern. Allein das Steueraufkommen der Doppelerhebung 1280 fiel mit 142.503 Unzen um mehr als 105 Prozent höher aus als bei der letzten zahlenmäßig bekannten Erhebung im Jahr 1277. Die Steuereinkünfte 1281 waren im Vergleich zu 1277 mit 182.654 Unzen sogar um mehr als 163 Prozent gesteigert worden39. Zusätzlich scheint die Insel Sizilien bei der Steuererhebung auch deutlich benachteiligt worden zu sein, jedenfalls betrug das Steueraufkommen Palermos im Jahr 1277 286,6 Prozent desjenigen Neapels. Am Vorabend der Vesper sorgten aber nicht nur allein diese enormen finanziellen Belastungen durch die Doppelerhebungen der Generalkollekte und eine ungerechte Verteilung der Steuerlast für Brisanz. Im Königreich waren die traditionellen Regelungen bezüglich der Kollekten aus der Zeit der normannischen Könige noch nicht gänzlich aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwunden40. Dementsprechend mag die Generalkollekte nicht nur als zu hoch, sondern auch als unrechtmäßig empfunden worden sein, ohne dass man jedoch genau gewusst zu haben scheint, wie die Steuerpraxis zu normannischer Zeit gehandhabt worden war41. Sehr aufschlussreich bezüglich der Finanzpolitik des angiovinischen Hofes sind die am 30. März 1283 beschlossenen Kapitel von S. Martino. Sie wurden auf einem in der Ebene von S. Martino einberufenen Generalparlament für die noch unter angiovinischer Herrschaft stehenden Teile des süditalienischen Fesdandes beschlossen. Federfuhrend war Karl II. von Anjou, Sohn und Nachfolger Karls I. und zu jener Zeit aufgrund väterlicher Abwesenheit Regent. Allein schon die Einberufung dieses Parlamentes, auf dem sich die Geistlichkeit, der Adel und die Vertreter der universitates versammelten, ist als Antwort auf die diesbezügliche Praxis der communitas Siciliae und der aragonesischen Herrschaft auf Sizilien zu bewerten42. Insgesamt war mit diesem Parlament nichts weniger als eine Neuordnung der Verhältnisse im Königreich angestrebt. An der Spitze der beschlossenen Reformmaßnahmen, die ohne Zweifel im Zusammenhang mit der im Zuge der Vesper geäußerten Klagen standen, ist eine umfassende Steuerreform zu nennen. Karl II. stellte der Bevölkerung eine Abschaffung all jener Abgaben in Aussicht, die seit dem Tod des oben genannten normannischen Königs Wilhelm II. eingeführt worden waren. Dies war - wie ebenfalls oben angedeuFür die Provinzen des Fesdandes brachten die Generalkollekten insgesamt folgende Summen in Goldunzen ein: 1270: 75.038,1271: 61.416, 1275: 75.331, 1276: 46.385, 1277: 52.045, 1280: 53.439, 1280: 53.500, 1281: 58.818, 1281: 88.272. Dazu müssen die Einnahmen aus Sizilien addiert werden. Dort betrug die Kollekte 15.000 Unzen im Jahr 1276,17.270 Unzen im Jahr 1277, 17.762 Unzen im Jahr 1278, 17.782 Unzen im Jahr 1280 und ebenfalls 17.782 Unzen im Jahr 1281, vgl. Galasso, II regno di Napoli, Bd. 1, II mezzogiorno angiovino e aragonese, S. 54f. Leider lässt es Galasso offen, ob die für Sizilien angegebenen Summen der Jahre 1280 und 1281 ebenfalls doppelt erhoben wurden. Ich bin bei meinen Überlegungen davon ausgegangen. Cartellieri kommt zu abweichenden Zahlen. Laut ihm belief sich die collacta im Jahr 1282 auf insgesamt 107.891 Goldunzen, vgl. ders., Peter von Aragon, S. 135, Anm. 3. Vgl. zusätzlich Amari, La guerra del Vespro siciliano, Bd. 1, S. 79, Anm. 2. Zahlreiche weitere Literatur bei Kiesewetter, Die Anfänge der Regierung König Karls II. von Anjou (1278-1295), S. 79, Anm. 6 u. S. 80, Anm. 1. 40 Vgl. Galasso, II regno di Napoli, Bd. 1, II mezzogiorno angiovino e aragonese, S. 54. 41 Vgl. nächster Absatz. 42 Dazu Kap. 5.1. 39

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tet - schon im Lehnsvertrag seines Vaters mit Papst Clemens IV. geregelt, aber nicht umgesetzt worden. Da die genauen Einzelheiten des alten normannischen Steuersystems allerdings in Vergessenheit geraten seien, sollte Papst Martin IV. entscheiden, welche Steuer zu entfallen habe. Karl II. gelobte, dass sich sein Vater in jedem Fall an die Weisungen des Papstes halten würde. Darüber hinaus sollten alle Steuerrückstände der Provinzen gestundet werden, bis der Papst seine Entscheidung gefallt habe. Ebenso nahm sich der Königssohn der Münzverschlechterung an und versprach, in nächster Zeit nur noch ein einziges Mal neue Münzen auszugeben und zwar mit einem garantierten Feinmetallgehalt43. (2) Auch die in den Streitschriften und in den beiden Chroniken angeprangerten Zustände von herrschaftlicher Willkür, Amtsanmaßung und Machtmissbrauch entbehrten keineswegs einer lebensweltlichen Grundlage. Schon in den 1270er Jahren hatte Karl von Anjou Untersuchungskommissionen (inqumtores curie) eingesetzt, die die Provinzen des Königreiches bereisten, um vor Ort die Amtsführung der königlichen Vertreter zu kontrollieren und zu überprüfen44. Demnach waren auch dem König die Übergriffe und Willkürhandlungen seiner Beamtenschaft nicht entgangen. Die erste derartige Untersuchung behandelte die Vorgänge in der X. bis I. Indiktion, also in dem Zeitraum vom 1. September 1266 bis zum 31. August 1273. Der Untersuchungszeitraum dieser Kommission erstreckte sich demnach über mehrere Jahre. Die Instruktionen für die inqumtores datieren vom 10. und 28. Februar 1274, und die Untersuchungen dauerten bis Ende 1277. Eine zweite inquisitio untersuchte den Zeitraum der II. bis V. Indiktion (1. September 1273 bis 31. August 1277). Diese Kommission nahm ihre Tätigkeit Anfang 1278 auf und hat offenbar bis kurz vor Ausbruch der Sizilianischen Vesper gearbeitet45. Aus dem ersten Untersuchungszeitraum haben sich Zeugenverhöre aus Eboli, südöstlich von Salerno, aus dem zweiten Untersuchungszeitraum ebensolche aus Neapel erhalten46. Interessanterweise war Bartholomaeus de Neocastro als iudex persönlich an einer ähnlichen, nicht so umfassenden Untersuchung in der XIV. Indiktion (1. September 1270 bis 31. August 1271) auf Sizilien beteiligt47. Die in den Untersuchungsberichten vorgebrachten Klagen über das Gebaren der königlichen Amtspersonen bestätigen oder ergänzen die in der Schrift an Papst Martin IV. angeprangerten Missstände und die von Saba Malaspina angeblich selbst gemachten Beobachtungen: Es wird auch hier von zum Teil extrem hohen Abstandszahlungen berichtet, die die Bevölkerung gegenüber den Justitiaren oder ihren Unterbeamten entrichten musste, um aufgezwungenden Dienstleistungen aller Art, zum Beispiel der Bewachung von Vgl. Kiesewetter, Die Anfange der Regierung König Karls II. von Anjou, S. 109. Eine Edition der Kapitel von S. Martino ebd., S. 557-587. Des weiteren Trifone, La legislazione angioina, Nr. 58, S. 100. 44 Sthamer, Aus der Vorgeschichte der sizilischen Vesper, S. 262-372. « Ebd., S. 274-276. « Ebd., S. 278f. 47 Ebd., S. 306. 43

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Gefangenen, zu entgehen. Ebenso tauchen die Klagen über die executores auf, die von den colkctores - das heißt den von den angiovinischen univemtates gewählten Steuereinnehmern — bei der Erhebung der collecta generalis ein unrechtmäßiges Aufgeld forderten48. In beiden Orten haben aber auch die gewählten lokalen Steuereinnehmer von den Steuerpflichtigen regelmäßig höhere Summen eingezogen, als diese eigentlich hätten entrichten müssen. Bei Zwangsanleihen, die sowohl den Einwohnern von Eboli als auch von Neapel auferlegt wurden, nahmen es die Justitiare oder die damit beauftragten Beamten des Hofs nicht besonders genau mit der Rückzahlung oder erpressten sogar einen zusätzlichen Betrag, den sie selbst einbehielten. In Neapel forderte der Justitiar von den Einwohnern eine Steuer ähnlich der collecta, die laut Untersuchungsbericht völlig willkürlich und unrechtmäßig war. Baiuli, die in den Verwaltungsbezirken die Zivil- und die niedere Strafgerichtsbarkeit, die Ortspolizei und einige administrative Befugnisse innehatten49, erpressten bei jeder sich bietenden Gelegenheit Geld von der Bevölkerung. In Neapel verlangten sie einmal jährlich „wegen nicht geringer Straftaten" von den ärmeren Bevölkerungsschichten eine Summe von 50 Unzen Gold. Ahnlich verhielten sich die eher mit fiskalischen Aufgaben betrauten Beamten, namentlich der secreti und magfstri portulani et procuratores. Sie requirierten Getreide, das eigentlich im Auftrag der Zentralregierung gekauft werden sollte, und betrieben Missbrauch bei der ihnen obliegenden Kontrolle der Maße und Gewichte. In Eboli erregten Stützbögen an Häusern, die sich über die Straßen und Gassen spannten, Anstoß beim secretus. Die Anwohner konnten deren Abriss nur durch die Zahlung von Geld verhindern. Die örtlichen Gerber mussten für das Waschen von Fellen in einem Wasserlauf beträchtliche Summen an den secretus entrichten. Andere Bewohner wurden von einem secretus zu Instandsetzungsarbeiten an Mühlen und Gebäuden der Krone gepresst. Die obligatorischen Abstandszahlungen wurden dann vom örtlichen baiulus eingezogen. Objekt besonderer Ausbeute war für die königlichen Beamten immer wieder die Judengemeinde Neapels50. Weitere Bestätigung für die bisher aufgezeigten Missstände bieten auch jene schon in Kapitel 2.1.2 angeführten Konstitutionen51, die König Karl am 10. Juni 1282 parallel zum um sich greifenden sizilianischen Aufstand erließ. Sie sollten bisherige Regelungen zusammenfassen und mögliche Übertretungen vorbeugen. Der Zeitpunkt ihrer Inkraftsetzung macht es sehr wahrscheinlich, dass sie dazu dienen sollten, der kommunalen Aufstandsbewegung Wind aus den Segeln zu nehmen. Analog zu den bisher vorgestellten Willkürhandlungen finden sich darin das Verbot der Gelderpressung beim Einzug der collecta generalis·, das Verbot, Geschenke und andere Zuwendungen von den univemtates zu verlangen; genaue Regelungen, wann jemand eingesperrt werDiese und die nachfolgend beschriebenen Übergriffe und Amtsübertretungen bei ebd., S. 279306. 49 Zum Aufgabenbereich der bmuli vgl. ebd., S. 288f und Kiesewetter, Die Anfänge der Regierung König Karls II. von Anjou, S. 105, Anm. 119. 50 Sthamer, Aus der Vorgeschichte der siziüschen Vesper, S. 302. 51 Vgl. Kap. 2.1.2, S. 48. 48

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den durfte und schließlich das Verbot der Beschlagnahmung von Wein ohne königlichen Befehl. Weiterhin war es den Justitiaren, secrtti und maffstri procuraions etportulam verboten, eigene Gebühren für das Siegeln zu veranschlagen. Magstri massarii und ihren suboffiäaks war es zukünftig untersagt, Privatpersonen Handdienste aufzuzwingen und auf ihr eigenes Weide- und Ackerland zu übertragen52. Diese unmittelbar mit dem Aufstand der Sizilianer im Zusammenhang stehenden Konstitutionen wurden sodann ein zweites Mal in den oben erwähnten Kapiteln von S. Martino bestätigt.

4.1.2 Aufständische Handlungsmotivationen: Für »Freiheit' und »Gleichheit' 4.1.2.1 .Freiheit' Im überlieferten Textmaterial, insbesondere in dem auf Seiten der Aufständischen entstandenen, ist nicht nur thematisiert, was erfahren wurde. Der soeben nachgezeichnete Abgabendruck und die beschriebenen Willkürakte der königlichen Amtsträger riefen Reaktionen hervor, die offenbaren, wie erfahren wurde. So schreibt Bartholomaeus de Neocastro: „Und darüber hinaus muss berichtet werden, dass, obwohl wir glaubten, vom Vater der Väter einen König bekommen zu haben, wir viel eher den Antichristen des sizilianischen Königreiches erhielten; als wir an eine Vermehrung von Menschen und Gütern glaubten, ließ er in unsere Schafställen wilde Wölfe ein, die alles gnadenlos verschlangen, was er verlangte und wollte. Gleichwie der schlimmste Drachen, während er das Land heimsucht, samt und sonders verdirbt und zerstört"53. Ahnlich äußert sich der unbekannte Autor der Streitschrift an Papst Martin IV.: „Denn wir glaubten am Anfang ihrer Herrschaft, nachdem die beschwerlichen Streitereien wegen der vertriebenen Vorgänger begraben waren, uns an einem Überfluss von Frieden und der Pracht der Ruhe zu erfreuen [...]. Deshalb glaubten wir, dass wir Schutz bekommen, dann \cdoch, proh dolor, vermehrten sie die unerträglichen Schäden, weil es [das sizilianische Volk, d. Verf.] überall aufgespürt werden konnte, nachdem die beweglichen Besitztümer bereits enteignet waren. Und nachdem sie die Häuser der Steuerschuldner niedergerissen hatten, habe sie Leuten aus dem einfachen Volk und Adligen, Männern und Frauen, Jugendlichen und Jungfrauen, Alten und Kindern erbarmungslos eiserne Handfesseln angelegt, und nachdem sie auf solche Weise gefesselt waren, verweigerten sie solange Essen und Trinken, bis man den gottlosen Steuereintreibern vom verlangten Geld opferte. Überdies wurden wir von den frevelhaften Amtsdienern auf solche Weise durch alle möglichen Arten von Hieben traktiert, da ein jeder immer Dolch und Schwert an der Seite sowie einen Knüppel in der Hand 52

Trifone, La legislazione angioina, Nr. 58, S. 78-88.

53 Et

ulterius referendum est quod, cum regem a Patre Patrum suscepisse crediderimus, recepimus potius Regni Sicuti Antichristum; cum gentis et rerum augmentatorem crediderimus, immettens in nostra lupos voraces oviäa, non partenti rnorso cuncta, quae Jussit et voluit, devorarunt; et velut draco factus nequisnmus, terram circuens, omnia perdit, singula destrueturus, Bartholomaeus de Neocastro, Kap. 12, S. 10.

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mit sich führte [...]. Weil sie mit den Schlägen und den Enteignungen nicht zufrieden waren, bedrängten sie uns mit der Entführung unserer Töchter, Schwestern und Weiber, und während sie sie gefangen hielten, vergewaltigten sie grausam die keuschen Jungfrauen und entehrten auf schändlichste Weise die züchtigen Ehefrauen."54. Deutlich wird insbesondere im letzteren Text ein ausgeprägtes Ohnmachtsgefühl, das von der Hilflosigkeit gegenüber den erpresserischen Methoden der Steuereintreibung bis hin zu den offensichtlich sexuell motivierten Übergriffen gegenüber den Jungfrauen eine kontinuierliche Steigerung erfährt. Diese Vergewaltigungen könnten sich auf die Vorgänge während des Osterfestes vor den Mauern Palermos anspielen und sind demnach als der sprichwörtliche Tropfen zu sehen, der das Fass zum Überlaufen brachte. In ihnen lässt der unbekannte Verfasser das gesamte ungerechte Verhalten und alle Rechtsverletzungen kulminieren, die er und seine Schwurgenossen von der angiovinischen Herrschaft meinten erfahren zu haben. Die Beweggründe zum Aufstand und zur anschließenden Großkommunebildung stellt dieser sizilianische Autor somit zum einen als eine wirtschaftliche Zwangslage dar, wie sie auch im vorherigen Abschnitt aufgezeigt wurde; aber zum anderen zeichnet er das Bild permanenter Ehrverletzungen55, denen man sich, als sie eine gewisse Grenze überschritten, habe erwehren müssen. Es wird hier eine Lage skizziert, die die Betroffenen als unerträglich empfunden zu haben scheinen. Eine nahezu logische Konsequenz dieser ausführlich nachgezeichneten angiovinischen Tyrannei war die Forderung nach Freiheit. Die Streitschrift, die zugleich an das Kardinälekolleg und Papst Martin IV. gerichtet war, unterstreicht diese Art der Deutung besonders anschaulich in einer knappen Aussage: „Diese Dinge, Väter [gemeint sind also die Kardinäle, d. Verf.], die euch zu Ohren gekommen sind, sind keine Rebellion, kein Rückzug von der Brust der heiligen Mutter (gemeint ist die Kirche, d. Verf.], sondern [...] gerechte Verteidigung gegen Ungerechtigkeiten, gerechte Verteidigung der reinen Liebe und des keuschen Eifers, Bewahrung der [...] Jungfräulichkeit und der heilige Schutz der Freiheit"56. 54 Nam putavimus in ipsorum dominations primordio, predecessorum exaetorum sepultis jurgis importunis, sub pads copia et opukntia, rtquie gaudert \..\.Unde credidimusprovenire subsidium, inde, proh dolor! invalent intokrabik detrimentum, quoniam distractis bonis mobihbus ubicumque poterant reperiri. Et domibus dirutis debitorum, populäres et nobiües, mans et joeminas, juvenes, virgines, senes et etiam juniores manicas ferreis immisericorditer a/Mgbant, esculenta et pocuknta negantes laliter aiügatis, donec impiis exactoribus saarificaret de pecunia postulata. Quaäter insuper a mnistris impietatis caederemur divenis generibus flagellorum, cum unusquisque ipsorum pugionem semper ad latus, gkdium super femur, baculum seu clavam in manibus deportaret [...]. Flagellis et bonorum distractionibus non contenti, ad raptum fißarum nostrarum, sororum pariter et uxorum impedentibus fatigabant, violenter pudicas virgjnes violantes et immaculatos thoros turpiter macukntes, Chronicon Siciliae, S. 838-839. 55 Zu Ehrkonflikten in mittelalterlichen Gesellschaften vgl. Klaus SCHREINER / Gerd SCHWERHOFF: Verletzte Ehre - Überlegungen zu einem Forschungskonzept, in: Dies. (Hgg.): Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln 1995, S. 1-28. Des Weiteren die Beiträge von Martin Dinges und Jörg Rogge im selben Band. 56 Non igftur hec quam cemitis, Patres, rebeUio est, non recessus ingratus a pie matris uberibus, sed [...] injunarum justa dtfenao, castus amor, prudidäe splus, virgfnitatis [...] custudia, Santa tuytio übertatis, Amari, La guerra del Vespro siciliano, Bd. 3, Nr. 10, S. 311.

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Auch die anderen Autoren nennen als Motiv zum Aufstand .Freiheit'. In der Propagandaschrift der Palermer an die Messinesen heißt es dazu: „Lass deine Augen kreisen, um den Himmel und den neuen Ruhm der Freiheit (Hbertatis) zu betrachten"57. Als Gegenbegriff zu dieser Freiheit tauchen, wenig verwunderlich, Bezeichnungen wie tyrannita pravitas oder tyrannica servitus auf, und Karl von Anjou wird, in Anlehnung an das 2. Buch Mose, als neuer Pharao sowie zusätzlich als Drache, Satan, Teufel, Luzifer, Nero, wilder Wolf und Löwe diffamiert58. Das Pharaomotiv taucht ebenfalls in der Streitschrift an das Kardinälekolleg und Papst Martin IV. sowie in dem nur an Martin adressierten Pamphlet auf59. Ferner heißt es bei Bartholomaeus de Neocastro in einem von ihm angeführten Schreiben, das die Kommune Palermos an jene von Messina geschickt haben soll und das sich inhaltlich auf die soeben erwähnte Propagandaschrift stützt: „Wir glaubten, euch zu helfen [...] und die Freiheit ganz Sizilien zu unterstützen"60. Saba Malaspina wiederum lässt auf jenem parlamentum, das die Palermer und Corleonesen aus Anlass ihrer überörtlichen Conjuratio abgehalten hätten, den Kapitan der Kommune Palermos in seiner Ansprache den bonum statuta und vor allem die libertatem omnium Syculorum als Ziel des nun gemeinsamen Handelns hervorheben61. Nach dem Zusammenschluss seien sodann Boten zu allen Orten Siziliens mit der Aufforderung geschickt worden, durch Abgesandte den bonum statum contrate und die Sjciiie libertatem schwören zu lassen62. An dieser Stelle fällt besonders die von Saba vollzogene Zweiteilung des Wissens um Freiheit auf. Einmal geht es ihm um eine Freiheit der Person, um die „Freiheit eines jeden Sizilianers". Darunter ist wohl die freie Verfügung des Einzelnen über seinen Körper und seinen Besitz zu verstehen. Andererseits um eine Freiheit im Sinn von politischer Autonomie und Autokephalie, das heißt um die „Freiheit Siziliens". Wie eng beide Freiheiten jedoch im Verständnis der Zeit aufeinander bezogen sind63, belegt nicht nur ihre parallele Verwendung im Text So berichtet Nicolaus Specialis als einziger Autor von einer sizilianischen Gesandtschaft an Papst Martin IV., die noch vor Ausbruch des Vesperaufstands aufgebrochen sei. Der Bischof von Patti und ein 57

heva in arcuito occulos tuos, et contemplan caelum et novamghriam tibertatis, Chronicon Siciliae, S. 832.

5» Ebd., S. 832. 59 Zu diesem Motiv vgl. Kap. 6.1, S. 273-275. 60

Vestram [...] et totius Siatiae quidemprocurare crtdidimus libertatem, Bartholomaeus de Neocastro, Kap.

19, S. 15. μ Saba Malaspina, S. 291. ω Ebd, S. 293. 63 Eine andere Auffassung zur Freiheit im Mittelalter vertritt Rolf KÖHN: Freiheit als Forderung und Ziel bäuerlichen Widerstandes (Mittel- und Westeuropa, 11.-13. Jahrhundert), in: Johannes FRIED (Hg.): Die abendländische Freiheit vom 10. zum 14. Jahrhundert. Der Wirkungszusammenhang von Idee und Wirklichkeit im europäischen Vergleich (VuF 39), Sigmaringen 1991, S. 325-388, obwohl auch er einerseits „tibertas als allgemein und umfassend gedachter Begriff von Freiheit im Sinn politischer Unabhängigkeit und herrschaftlicher Souveränität", andererseits „kbertas als konkrete Privilegien im rechtlichen Status [...], mithin [...] das Gegenteil von persönlicher Unfreiheit (servitus)" interpretiert, wobei sich der letztgenannte Freiheitsbegriff auf die Freiheit oder Unfreiheit der individuellen Person beziehe, ebd, S. 348, fordert er eine strikte Trennung beider Freiheiten.

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Dominikanermönch hätten die Klagen der Sizilianer vorgetragen, denen sich der Papst jedoch verschlossen habe. Dem nicht genug, er habe die beiden Geistlichen sogar an Karl von Anjou verraten. Bei der Rückreise nach Sizilien sei der Mönch deshalb verhaftet worden, und der Bischof sei nur durch Zahlung von Bestechungsgeld entkommen64. Es handelte sich hierbei also angeblich um den Versuch, über die enge Beziehung Martins zu Karl I. eine Verbesserung der Verhältnisse für den einzelnen Sizilianer herbeizufuhren. Die kirchliche Delegation zielte also auf die individuellen Lebenssituationen, letztlich jedoch ohne Erfolg. Bezieht man diese Schilderung auf Saba Malaspinas Wissen um Freiheit, wäre es dem Bischof und dem Mönch demnach um eine Freiheit der Person gegangen. Sie sollte durch die Befreiung von den zahlreichen finanziellen Belastungen und den als Ehrverletzungen begriffenen Willkürhandlungen realisiert werden. Dabei mag der Einzelne diese Übergriffe, wie in den Texten der Propaganda- und Streitschriften aufgezeigt, als tyrannis und, als Folge davon, als servitus empfunden haben65. Wenig später brach der Aufstand in Palermo los, und die Aufständischen erkämpften in kürzester Zeit in einem Akt der Selbstbefreiung diese persönliche Freiheit, aber auch eine Freiheit, die die herrschaftliche Unabhängigkeit Siziliens bedeutete. Es ist also ganz offensichtlich, dass die sizilianischen Akteure mit ihrer kommunalen Conjuratio nicht nur diese sizilianische Unabhängigkeit durchsetzen wollten, sondern auch das, was sie als ihre persönliche Freiheit verstanden. Beide Freiheiten müssen in den Augen der Sizilianer aufeinander bezogen und — spätestens nach dieser gescheiterten Mission an den Papst, falls sie denn keine reine literarische Fiktion ist - die eine nicht ohne die andere denkbar gewesen sein. Die herrschaftliche Autonomie der communitas Siäliae stellte demnach das Ende jener Zustände von servitus in Aussicht, die aus den wirtschaftlichen Belastungen und den ständigen herrschaftlichen Übergriffen entstanden waren. Das von den Autoren angeführte Wissen um Freiheit hing also eng mit dem Wissen um kommunale Conjuratio zusammen, ja, es scheint geradezu integraler Bestandteil dieses Wissens gewesen zu sein. Da Bartholomaeus de Neocastro und, vielleicht in einer noch ausgeprägteren Weise, die Autoren der Streitschriften zugleich Akteure der sizilianischen Aufstandsbewegung waren, scheinen diese Vorstellungen von Freiheit nicht nur der literarischen Verarbeitung der Geschehnisse gedient zu haben, sondern tatsächlich Leitvorstellungen des aufständischen Handelns gewesen zu sein. Die einzige über diesen konkreten kommunalen Wissenszusammenhang zwischen Freiheit und Conjuratio hinausgehende Ausnahme bildet jene Streitschrift, die an das Kardinälekolleg und Papst Martin IV. adressiert war. In ihr stellt er einen Analogieschluss zwischen den sizilianischen Aufstandsereignissen und dem republikrömischen Grundungsmythus her, indem er an die beiden mythischen Frauengestalten der römischen Geschichte, nämlich an Lucretia und Verginia, erinnert. Sie beide sind fester

64 65

Nicolaus Specialis, S. 924f. Vgl. oben die Streitschift der Palermer an die Messinesen.

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Bestandteil der Griindungslegende der römischen Republik und gehören zum Sujet des Freiheitskampfes des römischen Volkes. Die als sehr tugendhaft geltende Lucretia wurde der Legende nach von einem Sohn des Königs Tarquinus Superbus vergewaltigt. Nachdem sie ihren Mann und ihren Vater aufgefordert hatte, sie zu rächen, nahm sie sich das Leben. Die öffentliche Zurschaustellung der Leiche provozierte das Volk dazu, die Monarchie zu stürzen und die Republik zu gründen. Die Jungfrau Verginia wiederum war die Tochter eines angesehenen Centurios und Verlobte eines Tribunen, also eines Volksvertreters, die in den Machtkampf zwischen Patriziern und Plebejern geriet Sie wurde von einem mächtigen Patrizier heiß begehrt, der zum damals höchsten politischen und rechtlichen Gremium der Stadt, den Decemviri, gehörte und der zugunsten des Decemvirats einen Umsturz zur Entmachtung der Volkspartei angeführt hatte. Durch juristische Winkelzüge gelang es dem unbeachtet gebliebenen Verehrer, Verginia zur Sklavin einer seiner Anhänger zu erklären, woraufhin der Vater das Mädchen unmittelbar nach der Urteilsverkündung tötete. Anschließend bewog er seine Soldaten, die noch Waffendienst leistende Bürger waren, den gerade geführten Feldzug aufzugeben. Sie zogen zunächst auf den Aventin und von dort auf das Kapitol. Dies sei die zweite so genannte secessto plebis, der Auszug der Plebs, gewesen, die den unmittelbaren Sturz des Decemvirats zur Folge gehabt haben soll66. Zweifellos versuchte der unbekannte Verfasser der sizilianischen Streitschrift mit der Schilderung dieses römischen Legendenstoffes den Aufstand gegen Karl von Anjou zu rechtfertigen; einen Aufstand, den offensichtlich auch Ehrverletzungen an Frauen auslösten und den er selbst als gerechte Verteidigung gegen Ungerechtigkeiten, als Bewahrung der Jungfräulichkeit und als heiligen Schutz der Freiheit bezeichnet hat67. Mit dem Rekurs auf diese republikrömischen Gründungsgestalten offenbart er also ein auf Kenntnis der römischen Geschichtsschreiber beruhendes Wissen um Freiheit, mit dem er sich gegen ein Unrecht beförderndes, ehrverletzendes und tyrannisches Herrschaftssystem aussprach. Im Fall der Lucretia war dies die Monarchie, bei Verginia die unrechtmäßige Herrschaft des Decemvirats. Neben Freiheit als Bestandteil des Wissens um Conjuratio, wie sie bei den anderen oben genannten zeitgenössischen Autoren der communitas Siäliae nachzuweisen ist, belegt diese Streitschrift also ein ergänzendes Wissen um Freiheit, das sich auf antike Autoren stützt und die herrschaftliche Legitimität der sizilianischen Regionalkommune in rühmlicher Vergangenheit verankert. Inwieweit es als Handlungsmotivation für eine größere Zahl von Akteuren gedient hat, muss offen bleiben. Der allgemeinen Kenntnis antiker Schriften Vgl. Lutz KAPPEL: Artikel „Lucretia", in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Stuttgart 1996-2003, und Christian MÜI1£R: Artikel „Verginia", in: ebd. Ferner sei aus rechts- und rezeptionsgeschichtlicher Perspektive angeführt Marie Theres FÖGEN: Römische Rechtsgeschichten. Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 172), Göttingen 2002, insbesondere S. 21-55 (Lucretia) und S. 61-63 sowie S. 99-124 (Verginia).