Gott handhaben: Religiöses Wissen im Konflikt um Mythisierung und Rationalisierung 9783110410969, 9783110410884

Sacred religious scriptures often include significant reflective and practical knowledge about the ways that man has to

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Gott handhaben: Religiöses Wissen im Konflikt um Mythisierung und Rationalisierung
 9783110410969, 9783110410884

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Teil 1: Strategien der Distinktion
Minnemärtyrer: Opfer-Szenarien in der höfischen Literatur
Die Reformation schweizerischoberdeutscher Prägung und ihre Auswirkungen auf die Bestattungsplätze
Death and Burial in Medieval and Post-Reformation Scandinavia. Change and continuity in popular religious practices
Wissen von der heiligen Hand des Bischofs im Katholizismus des Ancien Régime. Boileau-Despréaux, Godeau und die Petri Aurelii Theologi Opera
Handhabung Gottes: Catharina Regina von Greiffenbergs poetische Praxis der Unbegreiflichkeit und Hans Blumenbergs Theorie der Unbegrifflichkeit
Teil 2: Der Kampf um das Expertentum
Bonus agricola: À propos de quelques figures de saints prêtres dans l’hagiographie carolingienne
Carolingian Rural Priests as Local (Religious) Experts
Konkurrierende Experten: Priester, Prediger und Mönche als Experten konfessionellen Wissens im Speyer des 16. Jahrhunderts
Göttliche Offenbarung, Täuschung des Teufels oder natürlich verursacht? „Gesichter“ als eine Herausforderung für die lutherische Theologie im Heiligen Römischen Reich (ca. 1630–1650)
Teil 3: Gott handhaben – männlich oder weiblich
Beyond David and Solomon: Biblical models for Carolingian laymen
Maria voll der Gnade: Die Gottesmutter als Opponentin des richtenden Gottes im Guldein Abc des Mönchs von Salzburg
Teil 4: Medien der Handhabung Gottes
Reims, ville des sacres
Anselm von Canterbury und die englischen Investiturkonflikte. Perspektiven historischer Netzwerkanalyse
Das begreifbare Sakrament: Zur Medialität von Taufgefäßen zwischen Entwurfs- und Offenbarungsmoment
Gott und seine Töchter am Ende des Mittelalters. Personifikationen zwischen Text, Bild und Theater
Transformations du savoir religieux dans le théâtre français du Moyen Âge
Dem nechsten auch zw nucze. Das Meisterlied bei Hans Sachs als Instrument zur Kommunikation über religiöses Wissen als handlungsleitendem Movens innerhalb des städtischen Gemeinwesens
Die Liturgie der Aufklärung zwischen Verehrung Gottes und sittlicher Besserung des Menschen
Register
Namenregister
Ortsregister
Sachregister

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Steffen Patzold, Florian Bock (Hrsg.) Gott handhaben

Steffen Patzold, Florian Bock (Hrsg.)

Gott handhaben

Religiöses Wissen im Konflikt um Mythisierung und Rationalisierung

Die Drucklegung dieses Bandes wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.

ISBN 978-3-11-041088-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-041096-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-041110-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Cover: © Musei Vaticani Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Für die Mitarbeit am vorliegenden Band gebührt in vielerlei Richtung Dank. Neben den AutorInnen haben wir auch den Diskussionsleitern und Diskutanden der Tagung zu danken. Als unverzichtbar erwies sich im Vorfeld das Organisa­tions­ talent von Christine Ruppert; während unseres Aufenthalts in Reims wurden wir äußerst fürsorglich von Marie-Hélène Morell betreut. Institutionellen Rückhalt erfuhr das Tübinger Graduiertenkolleg durch die Université de Reims Champagne Ardenne, die Institute Historique Allemand de Paris und Universitaire de France und das Centre d’Etudes et de Recherche en Histoire Culturelle (CERHIC) in Reims. Letztgenannte Einrichtung, namentlich Prof. Dr. Isabelle Heullant-Donat, erwies sich als hervorragende Gastgeberin. Die höchst präzise Redaktion der einzelnen Beiträge übernahm Frau Sophie Drescher, M. A. Für die Fahnenkorrektur haben wir Anke Krüger und Matthias Wulz zu danken. Beide kümmerten sich auch mit großer Umsicht um das Register. Tübingen, im Februar 2016

Steffen Patzold, Florian Bock

Inhaltsverzeichnis Vorwort 

 V

Florian Bock Einleitung   1

Teil 1: Strategien der Distinktion Ingrid Kasten Minnemärtyrer: Opfer-Szenarien in der höfischen Literatur 

 15

Dominik Gerd Sieber Die Reformation schweizerisch-oberdeutscher Prägung und ihre Auswirkungen auf die Bestattungsplätze   35 Kristina Jonsson Death and Burial in Medieval and Post-Reformation Scandinavia 

 57

Milan Wehnert Wissen von der heiligen Hand des Bischofs im Katholizismus des Ancien Régime   67 Daniel Kazmaier Handhabung Gottes: Catharina Regina von Greiffenbergs poetische Praxis der Unbegreiflichkeit und Hans Blumenbergs Theorie der Unbegrifflichkeit   93

Teil 2: Der Kampf um das Expertentum Charles Mériaux Bonus agricola: À propos de quelques figures de saints prêtres dans l’hagiographie carolingienne   115 Carine van Rhijn Carolingian Rural Priests as Local (Religious) Experts 

 131

VIII 

 Inhaltsverzeichnis

Daniela Blum Konkurrierende Experten: Priester, Prediger und Mönche als Experten konfessionellen Wissens im Speyer des 16. Jahrhunderts   147 Susanne Kofler Göttliche Offenbarung, Täuschung des Teufels oder natürlich verursacht? „Gesichter“ als eine Herausforderung für die lutherische Theologie im Heiligen Römischen Reich (ca. 1630–1650)   163

Teil 3: Gott handhaben – männlich oder weiblich Rachel Stone Beyond David and Solomon: Biblical models for Carolingian laymen 

 189

Britta Bußmann Maria voll der Gnade: Die Gottesmutter als Opponentin des richtenden Gottes im Guldein Abc des Mönchs von Salzburg   203

Teil 4: Medien der Handhabung Gottes Patrick Demouy Reims, ville des sacres 

 227

Jana Pacyna Anselm von Canterbury und die englischen Investiturkonflikte. Perspektiven historischer Netzwerkanalyse   239 Jörg Widmaier Das begreifbare Sakrament: Zur Medialität von Taufgefäßen zwischen Entwurfsund Offenbarungsmoment   267 Cornelia Logemann Gott und seine Töchter am Ende des Mittelalters 

 297

Darwin Smith Transformations du savoir religieux dans le théâtre français du Moyen Âge   325

Inhaltsverzeichnis 

 IX

Uta Dehnert Dem nechsten auch zw nucze Das Meisterlied bei Hans Sachs als Instrument zur Kommunikation über religiöses Wissen als handlungsleitendem Movens innerhalb des städtischen Gemeinwesens   341 Benedikt Kranemann Die Liturgie der Aufklärung zwischen Verehrung Gottes und sittlicher Besserung des Menschen   365

Register Namenregister   389 Ortsregister   394 Sachregister   395

Florian Bock

Einleitung Das Titelbild dieses Sammelbandes zeigt die Disputation der Heiligen Katharina von Alexandrien, nach einer legendären Passio die Tochter des Königs von Zypern, mit den Philosophen des Kaisers Maxentius.1 In der ältesten Überlieferung dieser Legende gelang es Katharina, Gott „handzuhaben“. Ob ihrer glasklaren Argumentationsweise in einer öffentlichen Diskussion konvertierten die fünfzig besten heidnischen Philosophen und Wissenschaftler des römischen Kaisers zum Christentum, da sie Katharinas Argumente nicht widerlegen konnten. Darauf möchte das Fresko aufmerksam machen. Praktiken wie diejenige Katharinas, Gott „handhabbar“ zu machen, sind grundsätzlich in allen drei abrahamitischen Religionen bekannt. Christentum, Judentum und Islam gehen gemeinsam davon aus, dass Gott sich aus der Unverfügbarkeit seiner Transzendenz heraus selbst verfügbar gemacht hat. Das göttliche Wesen und sein Wille werden zum Beispiel in den heiligen Schriften auf eine Weise erkennbar, die eine Alltagsübersetzung geradezu zwangsläufig nach sich zieht: Religiöses Wissen ist wesentlich verfasst als reflexives und praktisches Wissen darum, wie der Mensch Gott zur Verfügung zu stehen hat. Umgekehrt geht es den institutionellen Religionen, aber auch den sozialen Gruppen und Individuen ihrerseits darum, Gott handzuhaben. Dabei ist für sie wesentlich, die Welt mit jenen transzendenten Potentialen aufzuladen, die Leben sichern und auch über sein Scheitern und Ende hinaus „aufbewahren“. Die Allmacht Gottes wird demnach trotz der Versuche, ihn verfügbar zu machen, nicht verneint. Der Glaube an sie ist vielmehr die Triebfeder für das Handeln der Akteure. Sind es unverfügbares Charisma, thaumaturgisches Handeln und asketische Wunderperformanz religiöser Virtuosen und Artefakte, die das Transzendente verfügbar machen? Oder stehen doch rationale Expertise, kontrollierte Verfahren zum Beispiel in Bildung und Erziehung sowie sozialplanerisches Handeln für die Modi, in denen sich die Anwesenheit von Wesen und Willen Gottes ausdrückt? Diesem besonderen Konfliktpotential der Handhabung Gottes gilt es nachzuspüren, um den vormodernen Wegen zur modernen Wissensgesellschaft näher zu

1 Pinturicchio, eigent. Bernardino di Betto, Disputation der hl. Katharina von Alexandria mit den Philosophen vor Kaiser Maxentius, 1492–1494, Vatikan Appartamento Borgia, Sala dei Santi. Abgedruckt in Steffi Roettgen, Wandmalerei der Frührenaissance in Italien, Bd. 2 Die Blütezeit 1470–1510 (München 1997), Abb. 105, 283.

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kommen. Der vorliegende Band zeichnet nach, wie die Konflikte um das Zu-Handen-Machen Gottes dazu beigetragen haben, Institutionen, Verfahren und soziale Gruppen zu generieren und so das Verhältnis von vormoderner und moderner Wissensgesellschaft auszutarieren. Er ist dabei durch die Zusammenarbeit von Theologen, Germanisten, Historikern, Archäologen und Kunsthistorikern konsequent interdisziplinär aufgebaut. Ferner sticht das Buchkonzept durch Kohärenz hervor: Der Band stellt die verschriftlichen Ergebnisse der ersten internationalen Tagung des Graduiertenkollegs 1662 „Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800–1800)“ dar, welche im September 2013 im französischen Reims stattfand. Sämtliche Beitragende setzen sich in enger Kooperation mit der Frage nach der Handhabung Gottes auseinander. Schließlich ist die Argumentationsstruktur des Bandes strikt epochenübergreifend: Er führt – mit Schwerpunkten im 8./9. und im 15./16. Jahrhundert – bisher getrennte Perspektiven zusammen. Insgesamt vier Forschungsfelder strukturieren dabei den Sammelband und fragen (1) nach Strategien der Distinktion, (2) dem religiösen Expertentum, (3) den Gender-Kategorien der Handhabung Gottes und (4) ihren Medien. Alle beruhen auf dem Gegensatz zwischen „Mythisierung und Rationalisierung“ beziehungsweise „Verzauberung und Entzauberung“.

1 Strategien der Distinktion Allenthalben lässt sich der Versuch von Institutionen und Gruppen ausmachen, die Handhabbarkeit Gottes zu zergliedern. Das religiöse Wissen wird benutzt, um ein Kompetenzgefälle zu konstruieren zwischen denen, die den transzendenten Potenzialen der Lebenssicherung nahe stehen und denen, die der Vermittlung bedürfen. Diese Unterscheidungen beruhen auf Zentrierung, Normierung und Skalierung. Gott handhaben heißt in diesem Zusammenhang, die Inhalte religiöser Bildung oder religiös orientierter Praxis festzulegen und den Einzelnen darauf zu verpflichten. Gott handhaben und sich selbst beziehungsweise soziale Gruppen handhaben, gehen hier oftmals in eins. Die Distinktionsmerkmale aber sind umkämpft: Beruht die Kompetenzzuschreibung eher auf der Kraft zur „Verzauberung“ oder auf einer Strategie der „Entzauberung“, welche die beanspruchte exklusive Wirkmächtigkeit von Position und Ritual bewusst enttabuisiert? In welchen historischen Kontexten sind mythisierende Strategien erfolgreich? Unter welchen Umständen haben Rationalisierungen Konjunktur? In den Mittelpunkt von Ingrid Kasten (Berlin) rückt die Kategorie des Opfers, die nach einer These des Londoner Romanisten Simon Gaunt in der Figur des

Einleitung 

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mittelalterlichen Minnemärtyrers ihren charakteristischen Ausdruck fand – und zwar im so genannten „Opfer-Begehren“ (engl. „sacrificial desire“): Hier verbindet sich die Vorstellung des Todes aus unerfülltem Begehren mit der Lust am Opfer und der Lust am Leiden. Indem der Liebende zum Märtyrer wird und sein Leben durch Verzicht und Askese der Liebe zum Opfer bringt, ist er der ethisch Überlegene. Eine solche Ethik des Begehrens versteht Erlösung nicht mehr religiös, sondern als leidenschaftliche körperliche Bindung an einen anderen Menschen. Damit ist nach Gaunt die Grundlage für die Entstehung moderner Auffassungen von Subjektivität, Sexualität und Ethik gelegt. Trotz einiger Kritikpunkte (Heterogenität der theoretischen, allesamt postmodernen Ansätze, unscharfe Definition des Opfers, durchweg männliche Konzeption des Minnemärtyrers) kommt Gaunt dabei nach Kasten das Verdienst zu, im Minnemärtyrer Ansätze einer säkularen Ethik erkannt zu haben, die allerdings stark mit religiösen Sinndimensionen verschränkt sind. Seine Reflexionen über eine solche ästhetische Dimension von Literatur fordern zur weiteren Sinnsuche heraus. Dominik Gerd Sieber (Sigmaringen) beschreibt vor der Folie der schweizerischoberdeutschen Reformation ein bislang wenig beachtetes und kaum erforschtes reformatorisches Aktionsfeld, das sich in einem breiten Spektrum, das von Übergriffen auf einzelne Grabmonumente bis hin zur Abräumung und Nivellierung ganzer Nekropolen reichte, äußerte. Charakteristisch für die Friedhofskultur der oberschwäbischen Reichsstädte war demnach die tendenzielle Zurückhaltung gegenüber Grabmonumenten und weiteren Elementen se­ pulkraler Ausstattung. Erst das Interim und dann der Augsburger Religionsfrieden scheint dem sepulkra­len Minimalismus sukzessive ein Ende gesetzt zu haben. Reminiszenzen dieser Entwicklung hielten freilich noch bis ins 17. Jahrhundert hinein: So blieben etwa Grabkreuze auf katholischer Seite ein Zeichen konfessioneller Distinktion und konnten Anstoß zum Konflikt mit reformiert-protestantischen religiösen Wissensbeständen über den Tod, das Jenseits und die Bilder werden. Die Archäologin Kristina Jonsson (Stockholm) nimmt Bestattungsbräuche in Skandinavien vom Mittelalter bis in die nachreformatorische Zeit in den Blick. Dabei konnten sich religiöse Rituale und Bräuche oft über tausende von Jahren am Leben halten – unabhängig von anderweitigen religiösen Transformationsprozessen. Was sich jedoch verändert hat, ist die Möglichkeit der öffentlichen Praxis solcher Rituale. Das Weihen der Erde, das Fegefeuer etc. wurde durch die Reformation abgeschafft, was die Angehörigen häufig zu einer neuen, adaptierten Interpretation frühmittelalterlicher Bestattungsritten zwang: Die Toten wurden wieder in Särgen und nicht mehr in Leichentüchern begraben, mit Grabbeigaben ausgestattet etc. In seinem Beitrag „Wissen von der heiligen Hand des Bischofs im Katholizismus des Ancien Régime“ rückt Milan Wehnert (Rottenburg am Neckar) französi-

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sche Bischofsbilder zwischen 1630 und 1680 in den Blick. Der episkopale Status erfuhr dabei seine Legitimation – je nach Betrachterstandpunkt – durch innerkirchliches Vertragsrecht seitens der Jesuiten oder einer symbolischen Rückmythisierung seitens des Pseudonymus „Petrus Aurelius“ (1632/33). Letztere Rückmythisierung konzentrierte sich in ihrer publizistisch-pastoralen Verbreitung vor allem auf das symbolische Kapital, das von der Sakralität der bischöflichen Hand ausging. Außerhalb des kirchlichen Steuerungsradius sorgte diese Legitimationsstrategie eher für Spott. Die Klerikersatire Le Lutrin (1683) provozierte zur ra­tio­ na­listischen Gegendurchleuchtung – getragen von einem grundsätzlich skeptischen Blickfeld auf priesterliche Semiotik und deren Wirklichkeitsanspruch. Daniel Kazmaier (Saarbrücken) legt sein Augenmerk auf die Sonette Catharina Regina von Greiffenbergs (1633–1694). In ihrer Lyrik äußert sich die Unbegreiflichkeit oder  – mit dem Philosophen Hans Blumenberg gesprochen  – die Unbegrifflichkeit Gottes vor allem über das Symbol der Hand. Greiffenbergs Geistliche Sonnette, Lieder und Gedichte überblenden die Hand Gottes und die Hand der Schreibenden im rhetorischen Aussageakt und machen Gott verfügbar, indem sie die Hand Gottes konsequent mit der Hand der Schreibenden engführen. Reimschema, Versstruktur, syntaktische Hyperbezüglichkeit und symbolische Anschauung produzieren gemeinsam eine Handhabung Gottes, die präzise das Spannungsfeld zwischen Rationalisierung und Mythisierung ausmisst.

2 Der Kampf um das Expertentum Die Rolle des religiösen Experten kann sich auf verschiedene Kompetenzprofile gründen, die sich wiederum auf die Kernalternative von Mythisierung und Ra­tio­ na­lisierung zurückführen lassen. Expertentum, dem die Handhabung Gottes allgemein zugetraut wird, kann sich gründen auf asketische Virtuosität, auf Konzepte des vir Dei oder der famula Dei, auf die Selbstwirksamkeit korrekt vollzogener Rituale etc. – oder auf institutionell umschriebene Amtsbefugnisse, auf Büchergelehrsamkeit, auf die Autorität des gesprochenen Wortes, das beherzigt und dem gehorcht wird. Alle diese Expertentypen konkurrieren untereinander um den Zugang zur jeweils ‚gültigen‘, d.  h. als relevant geltenden Distinktion. Welche Wissensbestände tragen diese Konflikte? Auf welche Weise wird mittels solcher Konflikte neues Wissen generiert? Wann und warum werden die jeweils dominanten Expertentypen von den Nicht-Experten fraglos akzeptiert? Unter welchen Umständen werden Konflikte zwischen Expertengruppen auch zum allgemeinen Konflikt zwischen Experten und Nicht-Experten? Welche Konsequenzen hat das für die strukturelle Festigkeit von Institutionen?

Einleitung 

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Die durch Normierung und Reglementierung legitimierten Akteure verkörperten ein Expertentum, dessen Bedingungen und Formationen durchaus verschieden aussehen können: Heiliges Charisma oder praktisches Anleitungswissen bilden disparate, zum Teil diachron zu unterscheidende Verbindungswege zu Gott; Relationen, die das Unverfügbare und das Verfügbare einander annähern sollen. Komplizierter wird die Situation, wenn das Expertentum nicht nur manifest werden soll, sondern in Abgrenzung zu konkurrierenden Ansprüchen durchgesetzt werden muss. Gott handhaben hieß hier, religiöses Wissen zwischen verschiedenen Optionen zu beurteilen, auf seine Substanz zu überprüfen und diese Substanz im öffentlichen Raum zu verhandeln. Der Beitrag von Charles Mériaux (Lille) referiert über den hagiographischen Diskurs bei karolingischen Landpfarrern. Durch Heiligenverzeichnisse des 9. Jahrhunderts, wie sie in besonderer Ausprägung in der Diözese Le Mans aufzufinden sind, lässt sich eine priesterliche Tendenz verorten, stärker das Charisma als die kirchliche Hierarchie zu betonen. Thematisch knüpft Carine van Rhijn (Utrecht) an die karolingische Landgeistlichkeit an und beschäftigt sich mit dem religiösen Wissen dieser Gruppe, das im Verlauf des 9. Jahrhunderts immer stärker durch so genannte „bischöfliche Statuten“ bestimmt wurde: Sie enthielten detaillierte und praktische Anweisungen als Anleitung für die Priester vor Ort, variierten in den einzelnen Regionen aber sehr stark. Nur einige wenige Elemente, wie die Betonung eines rechtgläubigen Verständnisses der Trinität, lassen sich als allgemeingültig charakterisieren – was für die These Peter Browns spricht, stärker von lokalen „Mikro-Christentümern“ zu sprechen. Daniela Blum (Tübingen) untersucht Priester, Prediger und Mönche als konkurrierende Experten im Speyer der 1570er Jahre. Anhand von drei Fallbeispielen (reformierte Geistliche, evangelische Prediger, Dominikaner) kann sie die Ausdifferenzierung von Wissensfeldern in religiöses, politisches und rechtliches Wissen aufzeigen. Die Verbindung von Personalisierung und performativer Darstellung von Wissen führten zu einer Intensivierung religiöser Praxis und zu „performativen“ Wahrheitsszenen, wie Gott unterschiedlich handhabbar gemacht werden konnte. Diese Auseinandersetzungen wiederum generierten wichtige soziale und institutionelle Veränderungen – wie etwa die Vertreibung des Calvinismus aus Speyer. Susanne Kofler (Tübingen) thematisiert „Gesichter“, die im Lübeck und Stettin des 17. Jahrhunderts eine Kontroverse unter lutherischen Geistlichen auslöste: Wirkte Gott (noch) durch Visionen oder war es der Teufel? Ließen sich (und wenn ja wie?) von Gott gewirkte „Gesichte“ mit Gewissheit erkennen? Wie verhielt sich also menschliche Erkenntnisfähigkeit gegenüber „transzendenter Medialität“? Dabei verband sich die Kontroverse um den Stellenwert von „Gesichten“ mit der Frage nach dem Expertenstatus der Geistlichen innerhalb ihrer Konfessionskultur. Während die eine Seite die mediale Verbreitung von Druckwerken

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über göttliche „Gesichter“ für nützlich hielt, bannte sie die andere Seite als Teufelswerk.

3 Gott handhaben – männlich oder weiblich Generell gilt für alle abrahamitischen Religionen und ihre jeweiligen ‚konfessionellen‘ Spielarten, dass Frauen von bestimmten Zugängen zur Expertenrolle ausgeschlossen bleiben. Das gilt für die größte Zahl der Ämter, also der fest umrissenen Befugnisse im Rahmen von Institutionen. Das gilt auch für die höhere Bildung, sofern sie sich in mehr oder weniger fest gefügten Ausbildungsgängen und abstrakt gültigen Gelehrsamkeitsausweisen vollzieht. Weibliches Expertentum benötigt daher andere Formen der Etablierung, die in der Regel Amtsträgerschaft und Bildung nicht ausschließt, oft sogar in hohem Maß einschließt, darauf aber nicht gründet. Als Beispiele lassen sich Mystik, Prophetie, Stigmatisation, stellvertretendes Gebet etc. nennen. Weibliches Expertentum bedarf aber stets der männlichen Akzeptanz und ist daher der Kontrolle, Normierung, Einhegung und Modellierung unterworfen. Umgekehrt kann weibliches Expertentum, einmal etabliert, enorme Macht in männlichen Domänen religiösen Wissens entfalten. Das gilt nicht nur für die Expertinnen ‚auf Erden‘, sondern auch für deren transzendente Vorbilder: zum Beispiel im Christentum Maria und die weiblichen Heiligen und im Judentum die biblischen Prophetinnen. Auch für die Nichtexperten muss im konfliktiven Diskurs um das religiöse Wissen das für Männer und Frauen „Geziemende“ stets neu entworfen werden. Gott zugänglich zu machen, bedeutet in diesem Zusammenhang, Identifikations- und Vermittlungsmuster bereitzustellen, die auf Gendervorgaben nicht immer, aber durchaus auch reagieren. Rachel Stone (London) stellt unter dem programmatischen Titel „Mehr als David und Salomo: Biblische Vorbilder für karolingische Laien“ zumeist alttestamentliche Vergleichsfiguren vor, die die karolingischen Reformer zur laikalen Inspiration offerierten. Die Herausforderung bei der Auswahl der Beispielfiguren (zum Beispiel David, Salomo und Josef im Vergleich mit Karl dem Großen) lag dabei vor allem darin, die sozialen Kategorien der Bibel mit denen des 9. Jahrhunderts abzugleichen, schon das Konzept der Laikalität erwies sich als problematisch. Weitere Problemfelder bestanden etwa in den alttestamentlichen Sexual- und Ehevorstellungen, die in Differenz zu den religiösen Idealen der Karolingerzeit standen. Auch galt es, die Interpretation der „fehlerhaften Helden“ des Alten Testaments über eine entsprechende moralische Anweisung in geordnete Bahnen zu lenken. Britta Bussmann (Oldenburg) akzentuiert die Rolle der Gottesmutter

Einleitung 

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als Advokatin und Fürsprecherin für die Belange der Menschen in der Sequenz Ave, Balsams Creatur (dem sog. Guldein Abc) des Mönchs von Salzburg (vor 1400). Dabei bedient sich der Mönch vor allem des so genannten Interzessionsmotivs, das die seit dem 12. Jahrhundert verbreitete Vorstellung beinhaltet, dass Maria durch das Vorweisen ihrer entblößten Brüste Gerichtssituationen zugunsten der sündigen Menschen beeinflussen kann. Ja mehr noch: Der Mönch von Salzburg weitet dieses Modell sogar noch aus, indem er Maria geradezu die Fähigkeit zur Miterlösung zuspricht. Gleichzeitig tritt dabei die göttliche Instanz zurück und die Passivität des Menschen wird betont. Die Heilserwartung liegt nun ganz in der Hand der Gottesmutter. Bußmann analysiert auf Basis der sapientologischen Mariologie und des von Bernd Hamm entwickelten Konzepts der „normativen Zentrierung“ die herausragende Stellung Marias als von der Schwäche der Menschen her zu verstehen: Marias Stärke fungiert als Heilsgarantie; in ihr hat man demnach das zentrale Trostangebot der Sequenz zu sehen.

4 Medien der Handhabung Gottes Die in 1.–3. beschriebenen Konfliktfelder kommen stets nur medial zum Austrag. Die Handhabbarkeit Gottes wird im überzeugenden interpersonalen Transfer religiösen Wissens inszeniert. Die Frage ist freilich, ob sich diese Transfers medientheoretisch überhaupt sinnvoll in Mythisierungen und Rationalisierungen klassifizieren lassen. Sind Kult, Wunder, Schauspiel vorwiegend als Verzauberungen zu konzeptualisieren, Buch und Wort hingegen als Entzauberungen? Welchen Platz nimmt dann das Bildwerk ein? Wie muss religiöses Wissen medialisiert, also in Bezug auf Inhalt und Form transformiert werden, damit es von den Akteuren und ihren Zielgruppen als Handhabbarkeit Gottes wahrgenommen wird? Und wenn solche Transformationen als Strategien zu beschreiben sind: Lässt sich das Paradox eines rationalisierenden Kalküls der Mythisierung beschreiben? Warum wirken bestimmte Medien langfristig plausibel, um kurzfristig in ihrer Glaub-Würdigkeit völlig zu erodieren? Wie wirken Medien des religiösen Wissens gruppen- und institutionenbildend? Welche Medienkonflikte führen zu sozialer Spaltung und Institutionenzerfall? Alle Beiträge verdeutlichen, in welchem Ausmaß gerade Materialisierungen – sofern sie ästhetisch geformt sind – genutzt wurden, um die Unverfügbarkeit Gottes verfügbar, d.  h. anschaubar, erlebbar, performativ nachvollziehbar zu machen. Patrick Demouy (Reims), anerkannter Experte für die Stadtgeschichte von Reims, rückt die städtische Kathedrale als exklusivem Krönungsort der französi-

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schen Könige in den Mittelpunkt. Grundlage dafür bildete die Taufe, die der fränkische König Chlodwig dort um etwa 500 n. Chr. von Bischof Remigius empfangen hat. Dabei ist die Legende vom heiligen Salböl entscheidend: Durch die vom Erzbischof vorgenommene Salbung wurde der Frankenkönig zu einem von Gott gewählten, königlichen Gründer, dem wundertätige Kräfte verliehen wurden. Durch eine schrittweise Erweiterung dieser Ursprungserzählung kam Chlodwig immer mehr die archetypische Rolle des „heiligen Königs“ zu, ohne dass er tatsächlich heilig gesprochen wurde. Jana Pacyna (Heidelberg) stellt ihr Forschungsvorhaben zu hochmittel­ alterlichen Korrespondenznetzwerken am Beispiel der frühen Briefe Anselms von Canterbury (1070–1078) vor. Dabei geht es Pacyna zunächst um Schlüsselbegriffe religiösen Wissens in der anselmschen Briefsammlung, die von Fragen nach dem göttlichen Willen und der menschlichen Lebensführung geprägt waren. Die mittels Netzwerksoftware betriebene Analyse soll aber nicht nur einzelne Termini in den Blick nehmen, sondern im Sinne eines umfassenden semantischen Zugriffs auch die wechselseitige Beeinflussung von sozialer Struktur, Wort (Bedeutung und Bedeutungsverschiebung) sowie Handlungsspielraum untersuchen. Der Beitrag verharrt dabei nicht bei einer deskriptiven Untersuchung des Umfelds der Akteure, sondern bietet eine genauere Analyse von interpersonalen oder auch anders gearteten Beziehungsgeflechten. Jörg Widmaiers (Tübingen) Beitrag zu Taufbecken „zwischen Erkenntnis- und Offenbarungsmoment“ verfolgt die Frage nach dem medialen Status sowie den religiös-kulturellen Vorraussetzungen dieses „begreifbaren Sakramentes“. Dabei geht Widmaier im Falle des Taufaktes von einer multisensoriellen Gemengelage aus: Rituelles Handeln, gesprochenes und gesungenes Wort, beteiligte Menschen und deren Körper, vorgezeigte Bilder und inszenierte Texte sowie verwendete Liturgiegeräte treffen hier aufeinander, wie unter anderem anhand des Tauf­ beckens von Beckum-Vellern (Nordrhein-Westfalen) aus der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts illustriert werden kann. Liturgische Metaphern in Inschrift und Bild zieren dieses Taufbecken, besondere Beachtung verdient zudem die Tatsache, dass die Inschrift auf die gestalterische Wirkung des Liturgiegerätes verweist. Am Artefakt werden so nicht nur das Sakrament selbst, sondern – medienreflexiv – auch dessen materielle Ausstattung in den Blickpunkt gerückt. Intermediale Bezüge zwischen Text und Bild sowie zwischen Artefakt und Funktion ermög­ lichen die Rekonstruktion von Rezeptionsprozessen, die den Akt der Taufe metaphorisch und typologisch ausdeutbar machen und eine narrative Strategie der Mehrfachlesbarkeit erkennen lassen. Der Beitrag von Cornelia Logemann (München) hebt auf die personifizierten Tugenden zwischen Text, Bild und Theater des 14. Jahrhunderts ab. Die Personifikationen (zum Beispiel die allegorischen Pilgerreisen des Guillaume

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de Digulleville) sind dabei für die Kommunikation mit Gott zuständig. Ähnlich Schutzengeln leisten sie der menschlichen Seele Beistand, wodurch sie gleichsam zu Nebengöttinnen avancieren. Jedoch ist der ontologische Status dieser Mittlerfiguren nur schwer festzulegen: Im Gegensatz zu den oftmals verzerrten, ja monströsen Lastern werden sie als „Töchter Gottes“ bezeichnet, sind aber kaum als allegorische Wesen zu identifizieren – die Charakteristika ihrer überirdischen Präsenz sind nicht klar bestimmt. Auch unterscheidet sich ihre Visualisierung, die zwischen weiblichen Heiligen und Engeln liegt, von der des klassischen Personals der Heilsgeschichte, so dass sie schließlich im Laufe des 14. Jahrhunderts vollends ihren Status als quasi-göttliche Wesen einbüßen. Darwin Smith (Paris) präsentiert Transformationsformen religiösen Wissens im französischen Theater des Mittelalters. Über die Analyse der Art der Abfassung der Manuskripte, die Analyse des Textgehalts, die Untersuchung ihrer Gattung und die Klärung ihrer Entstehung konzentrierte sich Smith vor allem auf zwei Modi der Wissensumwandlung: Zum einen nannte der Theaterwissenschaftler den gezielten Einsatz von auftretenden Personen, zum anderen die performative Funktion der Glosse. Diese Wandelprozesse lassen sich mit dem Modell des Denkkollektivs (Ludwik Fleck) erklären: An der Abfassung eines Theaterstücks als künstlerisches Denkgebilde sind mehrere Personen beteiligt, es bildet sich ein kleiner esoterischer und ein größerer exoterischer Kreis von Denkkollektivteilnehmern. So kann von einer „stufenweisen Hierarchie“ des Eingeweihtseins mit entsprechenden Längst- und Querverbindungen gesprochen werden. Uta Dehnert (Tübingen) stellt am Beispiel des Meisterlieds von Hans Sachs vor, wie religiöses Wissen in der Aneignung und dem Versuch der Umsetzung in die konkrete lebensweltliche Praxis gebunden wird an situative Elemente des eigenen Erfahrungsraums wie zum Beispiel der Stadt. Hans Sachs wählte Fabelstoffe, die sich für sein aktuelles städtisches Umfeld (das Nürnberg des 16. Jahrhunderts) eignen und die sich mit seinem herausgearbeiteten didaktischen Ziel vereinbaren lassen. Auf dieser städtisch-sozialen Intention basierend lässt sich ergänzend eine politisch-reformatorische Intention definieren, die sich aus dem übergreifenden Zusammenhang von Stadt und Reformation ableitet und auf städtische Alltagssituationen reagiert. Im Meisterlied lässt sich der Anspruch erkennen, sowohl auf das Verhalten sozialer Gruppen Einfluss nehmen zu wollen, als auch deren Handlungsspielräume nach Maßstäben zu reglementieren, die durch das religiöse Wissen des Reformationszusammenhangs bestimmt werden. Benedikt Kranemann (Erfurt) verweist mit Bezug auf den Tagungstitel darauf, dass in der Aufklärung Theologen den Versuch, Gott „handhaben“ zu können, als Aberglaube abqualifiziert hätten. Sehr wohl aber hätte es in das theologische Selbstverständnis gepasst, Religion handhabbar zu machen: Die Liturgie mit Ästhetik, Vielfalt und Abwechslung hatte gleichzeitig einheitlich gestaltet

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zu sein, die liturgiefeiernde Gemeinde, die als Adressat sittlicher Belehrung und Erbauung verstanden wurde, stand im Mittelpunkt. Dabei sollten sowohl Teile von Tradition als auch Teile der Gegenwartskultur integriert werden, wofür man wiederum über klare Strategien verfügte: Eine gezielte Bildung des Klerus und eine entsprechende Unterweisung der Gemeinden wären hier zu nennen. Liturgie galt so nicht als etwas per se Heiliges und Gegebenes, sondern konnte im Sinne der Medialität für den Gottesglauben auf neue Erkenntnisse und Herausforderungen hin verändert werden: Als Medium, um den Glaubenden zur Sittlichkeit zu befähigen. Insofern kann auch von einer „Entzauberung“ der Liturgie gesprochen werden. Zusammenfassend2 lässt sich festhalten, dass das Zu-Handen-Machen der Unverfügbarkeit Gottes notwendig erscheint, um die Ver-Bindung zwischen Mensch und Gott zu sichern und praktikabel zu machen. Pointierter formuliert: Erst in der Verfügbarkeit kann die Unverfügbarkeit Gottes im konkreten Sinn handlungsleitend werden. Dabei scheinen es gerade die Konfliktstellen, Reibungspunkte und Divergenzen zu sein, welche auf vielfach-produktive Weise die vormoderne Wissensgesellschaft in eine moderne überführen. Insgesamt können drei Typen/ Stufen der Handhabung Gottes unterschieden werden: 1. Organisation des persönlichen Lebens (individuelle Ebene) 2. Organisation des gesellschaftlichen Lebens (soziale Ebene) 3. Manipulation Gottes, d.  h. der Wille, Gott durch aktive Steuerung zu etwas zu zwingen Gott handhaben heißt vor diesem Hintergrund: 1. religiöses Wissen so anzuwenden, dass gleichsam manipulativ Gott selbst auf sein Wohlwollen hin verpflichtet wird; 2. religiöses Wissen praktikabel oder pragmatisch als Wissens-, Anschauungsoder Identifikationsangebot an soziale Gruppen oder Einzelne weiterzu­ geben; 3. religiöses Wissen zum Verhandlungsort einer dynamisch-rationalen Auseinandersetzung zwischen Experten zu machen; 4. religiöses Wissen in performativen Strategien, im Erleben, auch im ästhetischen Erlebnis zu vermitteln.

2 Für die Bereitstellung ihres Tagungsresümees sind wir Annette Gerok-Reiter (Tübingen) zu Dank verpflichtet.

Einleitung 

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Systematisch lässt sich damit zum einen beim jeweiligen Adressaten und der Funktion der „Übersetzung“ ansetzen. Sie zielt (1) auf einen Einfluss auf Gott, (2) auf verbindliche Steuerung sozialer Gruppen beziehungsweise des Einzelnen oder auf (3) Expertenkonturierung in gegenseitiger Abgrenzung. Quer zu dieser dreischichtigen Adressatenorientierung ist zum anderen (4) die Medialität des Zugriffs zu sehen: Der Zugriff kann argumentativ-rational ansetzen ebenso wie sich performativ-emotional vollziehen. Beide Zugriffsarten werden sowohl in dokumentarischen als auch in ästhetischen Quellen verhandelt und in Relation gesetzt. Schließlich steht damit auch die Qualität des Wissens selbst, das thematisiert wird, zur Debatte. Deutlich wird, dass sich rationales und emotionales, argumentatives und suggestives, transzendentes und sinnlich-praktikables Wissen beständig in den einzelnen Verhandlungen überlagern. In diesen Überlagerungen könnte eine spezifische Qualität religiösen Wissens liegen. Sie sind Ursache seiner Dynamik ebenso wie seiner Integrationsfähigkeit.

Teil 1: Strategien der Distinktion

Ingrid Kasten

Minnemärtyrer: Opfer-Szenarien in der höfischen Literatur 1 Einleitung Liebe ist in allen nur erdenkbaren Facetten ein schier unerschöpfliches Sujet der Kunst und Literatur. Auch der Zusammenhang von Liebe und Tod sowie das Thema des Selbstmords aus unerfüllter Sehnsucht oder enttäuschter Liebe sind Gegenstand vielfältigster literarischer Gestaltungen. Mittelalterliche Diskurse über die Liebe und Konfigurationen von Liebe und Tod bilden daher ein privilegiertes Forschungsfeld auch der Mediävistik1, und es ist alles andere als erstaunlich, dass der Tristan in seinen verschiedenen Bearbeitungen dabei eine zentrale Rolle spielt. Bei der Thematisierung dieses Zusammenhangs in der höfischen Literatur greifen vielfach eine religiöse und eine weltliche Dimension ineinander.2 Dieses Phänomen scheint die Frage nach der „Handhabbarkeit Gottes“, die Thema des vorliegenden Sammelbandes ist, nicht unmittelbar zu berühren, und

1 Speziell übrigens der Tübinger Mediävistik; ich verweise hier nur auf die Studien von Walter Haug, „Eros und Tod: Erotische Grenzerfahrung im mittelalterlichen Roman,“ in Brechungen auf dem Weg zur Individualität: Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, ed. Walter Haug (Tübingen 1995), 197–232; Burghart Wachinger, „Zur Rezeption Gottfrieds von Straßburg im 13. Jahrhundert,“ in Deutsche Literatur des späten Mittelalters, Hamburger Colloquium 1973, ed. Wolfgang Harms und L. Peter Johnson (Berlin 1975); Christoph Huber, „Spiegelungen des Liebestodes im Tristan Gottfrieds von Straßburg,“ in Tristan und Isolde: Unvergängliches Thema der Weltkultur. Tristan et Iseut: Un thème éternel dans la culture mondiale, Wodan 57, ed. Danielle Buschinger und Wolfgang Spiewok (Greifswald 1996), 127–140; Klaus Ridder, „Liebestod und Selbstmord: Zur Sinnkonstitution im Tristan, im Wilhelm von Orlens, und in Partonopier und Meliur,“ in Tristan und Isolt im Spätmittelalter, Chloe: Beihefte zum Daphnis 29, ed. Xenja von Ertzdorff (Amsterdam / Atlanta 1999), 303–329. Vgl. außerdem mit der Fokussierung des Opfergedankens Ingrid Kasten, „Der Liebestod im Tristan,“ in Martyrdom in Literature: Visions of Death and Meaningful Suffering in Europe and the Middle East from Antiquity to Modernity, ed. Friederike Pannewick, Literaturen im Kontext 17 (Wiesbaden 2004), 245–267. Christoph Huber, „Liebestod: Varianten im höfischen Roman und antike Prätexte,“ Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur 135 / 3 (2013), 378–398. 2 Dies wurde auch für die Romanistik bereits vor mehr als drei Jahrzehnten herausgearbeitet von Rainer Warning, „Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors,“ in Deutsche Literatur im Mittelalter: Kontakte und Perspektiven, Hugo Kuhn zum Gedenken, ed. Christoph Cormeau (Stuttgart 1979), 120–159. Das Problem der Überblendung von Säkularem und Religiösem ist – genereller – auch Gegenstand des Sammelbandes Geistliches in weltlicher und Weltliches in geist-

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doch betrifft es ein zentrales Problem im Umgang mit religiösem Wissen, nämlich die Art und Weise, in der das transzendierende Potential religiöser Modelle der Sinnstiftung im Medium der Literatur produktiv gemacht worden ist. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist ein bereits vor einigen Jahren erschienenes Buch des heute am King’s College in London lehrenden Romanisten Simon Gaunt. Er vertritt darin die Auffassung, dass für den Zusammenhang von Liebe und Tod in der höfischen Literatur des Mittelalters die Figur des Minne­ märtyrers besonders charakteristisch sei. Deshalb hat er seine Monographie Love and Death in Medieval French and Occitan Courtly Literature auch mit dem Untertitel Martyrs to Love („Minnemärtyrer“) versehen.3 Diese Monographie hat, soweit ich sehe, in der (germanistischen) Mediävistik bislang keine Beachtung gefunden, anders als ein 1995 veröffentlichtes Buch, in dem Gaunt sich mit den Relationen von Gender und Gattung in der französischen Literatur des Mittel­ alters befasst.4 Möglicherweise erklärt sich diese Zurückhaltung durch das komplexe postmoderne Theoriedesign, das den Zugang zu seinen Überlegungen nicht gerade erleichtert. In der romanistischen Mediävistik sind die von ihm verwendeten Ansätze allerdings durchaus eingeführt. Gerade deshalb ist das Buch gut dazu geeignet, Unterschiede in fachspezifischen Wissensdiskursen der romanistischen und germanistischen Mediävistik exemplarisch deutlich zu machen und sie in ihrer Bedingtheit zu reflektieren. Wenn im Folgenden die Ansätze und Leitgedanken in Gaunts Buch Love and Death skizziert werden, dann geschieht dies also nicht zuletzt, um eine Brücke zwischen den Disziplinen zu schlagen und das interdisziplinäre Gespräch anzuregen.5 Im Zentrum steht die Frage, was die Zuspitzung auf die Figur des Minnemärtyrers bei Gaunt zu bedeuten hat und ob und wie religiöse Modelle dabei adaptiert und transformiert werden. Gaunts Untersuchungen beziehen sich auf die französische beziehungsweise die okzitanische Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts. Da es ihm um eine Figuration geht, die er zwar vorrangig in der Lyrik realisiert sieht, aber – in modifizierter Form – auch in der erzählenden Dichtung, beschränken sich seine Ausführungen nicht auf die Lyrik (in diesem Fall auf die Lyrik der Troubadours, die seit dem Ende des 12. Jahrhunderts im Südwesten Frankreichs wirkten). Gegenstand

licher Literatur, ed. Christoph Huber (Tübingen 2000). Im frühen deutschen Minnesang scheint dieses Phänomen indessen weniger ausgeprägt zu sein als in der ältesten Lyrik der Troubadours. 3 Simon Gaunt, Love and Death in Medieval French and Occitan Courtly Literature: Martyrs to Love (Oxford 2006). 4 Simon Gaunt, Gender and Genre in Medieval French Literature (Cambridge 1995). 5 Es bedarf noch erheblicher Anstrengungen, um den interdisziplinären und zugleich inter­na­ tio­na­len Dialog in der Mediävistik voranzutreiben. Wichtige Untersuchungen werden wechselseitig oft gar nicht oder erst verspätet wahrgenommen.



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seiner Analysen sind auch Ehebruchsgeschichten, darunter selbstverständlich die von Tristan und Isolde, die von Lancelot und Guenièvre und die in Deutschland weniger bekannte Erzählung von der außerehelichen Liebe zwischen dem griechischen Thronfolger Cligès und der deutschen Kaiserstochter Fenice, die der französische Romanautor Chrétien de Troyes  – mit kontrastivem Blick auf den Tristan  – glücklich enden lässt. Hinzu kommen novellistische Dreiecks­ geschichten des höfisch-galanten Typus, die das Thema des Liebestods aufgreifen, darunter die Erzählung Le châtelain de Coucy, eine französische Bearbeitung der Geschichte vom gegessenen Herzen, die in der deutschen Literatur vor allem durch das Konrad von Würzburg zugeschriebene Herzmäre bekannt ist. Zunächst komme ich zur grundlegenden These Gaunts. In seiner Kon­zep­ tualisierung der Figur des Minnemärtyrers hat, wie zu zeigen sein wird, der Begriff des „sacrificial desire“ („Opfer-Begehren“) eine wichtige Bedeutung. Weitere Überlegungen gelten dem postulierten Zusammenhang von Opfer, Begehren und Subjekt sowie verschiedenen literarischen Opfer-Szenarien, die Gaunt analysiert. Die abschließende Bilanz wird durch einen vergleichenden Blick auf eine neuere Studie zum Liebestod aus dem Bereich der germanistischen Mediävistik ergänzt.

2 Die grundlegende These Es überrascht, dass Gaunt sich in der Einleitung zu seiner Monographie auch auf ein Buch des Schweizer Publizisten und Kulturpolitikers Denis de Rougemont beruft, das 1939 unter dem Titel L’amour et l’occident erstmals veröffentlicht wurde und das 1956 in revidierter Fassung auf den Markt kam (1966 erschien unter dem Titel Die Liebe und das Abendland dann auch eine deutsche Übersetzung).6 Als fachfremder „Außenseiter“ behauptete de Rougemont in diesem Buch, dass im Mittelalter eine Liebeskonzeption entwickelt worden sei, die einen unheilvollen Einfluss auf die Kultur Europas gehabt habe: Begehren, Askese, Religion, Ehebruch und Tod seien in dieser Liebeskonzeption so miteinander verschränkt worden, dass die symbolische Ordnung, die in dieser Konfiguration entworfen wurde, sich im gleichen Zuge selbst destruierte. Leitend in de Rougemonts Überlegungen waren weniger mediävistische Forschungen oder die Frage nach den spezifischen Bedingungen der literarischen Kommunikation im Mittelalter. Im Zentrum stand vielmehr die Auseinandersetzung mit dem Tristanstoff, und zwar 6 Denis de Rougemont, L’amour et l’occident (Paris 1939); deutsch Die Liebe und das Abendland (Köln / Berlin 1966) [mit der Vorrede an den Leser von 1938 und dem Vorwort zur überarbeiteten Fassung von 1956].

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in der Rezeption durch Richard Wagner. Es ging de Rougemont dabei vor allem um eine kritische, auf die damalige Gegenwart gerichtete Kulturdiagnose. Seine Thesen sind wohl deshalb in der Mediävistik weitgehend unbeachtet geblieben. Zu den wenigen Gelehrten, die Stellung dazu bezogen haben, gehört Walter Haug. In einem (zuerst 1993 erschienenen) Aufsatz zeichnet Haug, auch mit Blick auf den historischen Kontext, die Überlegungen de Rougemonts nach und betont, dass der „Impetus, aus dem heraus er sein Buch über Liebe und Tod geschrieben hat, letztlich ein moralischer war“7, kritisiert aber zu Recht den simplifizierenden Ansatz und die pauschale Verfasstheit der Thesen. Insgesamt gesteht er dem Buch zu, allenfalls Denkanstöße vermitteln zu können.8 Warum nun beruft sich Gaunt ausgerechnet auf den fast vergessenen Schweizer Publizisten? Er äußert zwar die zu erwartenden Vorbehalte gegenüber den fehlenden historischen und philologischen Grundlagen der Überlegungen de Rougemonts9, er stimmt jedoch der Auffassung zu, dass in der höfischen Literatur des Mittelalters ein spezifischer Zusammenhang von Religion, Askese und Begehren (Gaunt spricht von „desire“, ich verwende dafür den Terminus „Begehren“) entwickelt worden sei, der die westliche Kultur maßgeblich geprägt habe und den er in seinem Buch nun  – auf der Basis moderner Theoriebildungen  – neu beleuchten wolle.10 In seiner Analyse von höfischen Dichtungen aus dem 12. und 13. Jahrhundert fokussiert er allerdings im Unterschied zu de Rougemont weniger das destruktive denn das produktive Potential der Konfigurationen von Liebe, Tod und Begehren. Grundlegende These ist, dass die höfische Literatur in Ansätzen bereits Vorstellungen über Subjektivität, über Sexualität und über eine säkulare Ethik entwickelt habe, auch wenn es diese Vorstellungen im modernen Sinn begrifflich noch nicht gab. Entsprechend wendet Gaunt sich gegen die verbreitete, unter anderem von Foucault vertretene These, nach der im 16. Jahrhundert in der westlichen Geschichte der Subjektivität ein Bruch stattgefunden habe und betont dagegen die Kontinuität der kulturellen Entwicklung. Auf die Disziplinierung des Körpers gerichtete Techniken seien schon in der höfischen Literatur zu belegen.

7 Haug 1995 (wie Anm. 1), 198. 8 Eine explizite Verurteilung des Faschismus findet sich in de Rougemonts Werk nicht. Dies hat bereits Peter von Matt, Liebesverrat: Die Treulosen in der Literatur (München / Wien 1989), 70–72, festgestellt. Zur Rolle von de Rougemonts Thesen in der Begriffsgeschichte der „höfischen Liebe“ vgl. Ingrid Kasten, „Der amour courtois als überregionales Kulturmuster: Skizze zu einem ­Problem der Begriffsgeschichte,“ in Interregionalität der mittelalterlichen Literatur im europäischen Mittelalter, ed. Hartmut Kugler (Berlin / New York 1995), 161–174. 9 Gaunt 2006 (wie Anm. 3), 10  f. 10 Gaunt 2006 (wie Anm. 3), 12.



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Gaunt setzt bei der Überblendung von religiösen und weltlichen Sinndimensionen in der Literatur des Mittelalters an und konzentriert seine Überlegungen auf die Frage, warum dies so ist, welche Bedeutung die christlichen Vorstellungen in der höfischen Literatur erlangen und welcher emotionale Mehrwert für die Konzeptualisierung der profanen Liebe aus diesem Prozess der Adaption und Transformation resultiert. Zwischen der weltlichen und religiösen Bedeutung könne in der mittelalterlichen Literatur zwar nicht scharf differenziert werden, aber durch die Überblendung der Semantiken entstünden „fusselige beziehungsweise unscharfe Ränder“ („fuzzy edges“), die zu untersuchen sich lohne, um den diskursiven Raum auszuloten, der die Bedingung für die Möglichkeit eröffne, eine Ethik des Begehrens ohne den Rekurs auf die Religion zu konstituieren. Mit Nachdruck betont Gaunt, dass die Analogisierung von Weltlichem und Religiösem in der höfischen Literatur mit großem Ernst vollzogen werde.

2.1 Die Figur des Minnemärtyrers: Das „Opfer-Begehren“ Die Verschränkung weltlicher und religiöser Bedeutungsdimensionen findet sich bereits in der frühen Liebeslyrik der Troubadours, die Gaunt als „Forum einer ethischen Debatte“ („forum for ethical debate“)11 bezeichnet. Um das ihn interessierende Phänomen zu illustrieren, verweist er einleitend unter anderem auf die „Fernliebe“ (amor de lonh) Jaufre Rudels und auf Chrétiens Karrenritter. Jaufre Rudel gehört zur Generation der ältesten Troubadours, Spuren seines Lebens finden sich zwischen 1125 und 1148; einiges deutet darauf hin, dass er 1148 eine Fahrt ins Heilige Land unternommen hat, wo er möglicherweise gestorben ist.12 Mit dem Motiv der „Fernliebe“, dem in der Germanistik seit einem programmatischen Aufsatz von Horst Wenzel häufig eine politische Bedeutung zugeschrieben wird13, hat die „Fernliebe“ Jaufre Rudels wenig, wenn überhaupt etwas gemein. Sie kann als eine Spielart der Hohen Minne aufgefasst werden, die in besonderer Weise mit religiöser Semantik aufgeladen ist. Dies zeigt sich auch in Jaufre Rudels berühmtestem Lied Lanqand li jorn son lonc en mai („Wenn die

11 Gaunt 2006 (wie Anm. 3), 27. 12 Vgl. hierzu die Ausführungen von Martín de Riquer, Los trovadores. Historia literaria y textos I (Barcelona 1975), 148–154. 13 Hier zeigt sich, dass dem Konzept der „Fernliebe“ in der Romanistik eine andere Bedeutung zugeschrieben wird als in der Germanistik, in der die „Fernliebe“ nicht mit einem religiösen, sondern mit einem politischen Sinngehalt verbunden wird, vgl. Horst Wenzel, „Fernliebe und Hohe Minne: Zur räumlichen und sozialen Distanz in der Minnethematik,“ in Liebe als Literatur: Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland, ed. Rüdiger Krohn (München 1983), 187–208.

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Tage im Mai lang sind“). In diesem Lied besingt der Troubadour die Liebe zu einer nie gesehenen und unerreichbaren fernen Dame, eine Liebe, die gleichermaßen Genuss wie Schmerz hervorruft und in der sich erotische wie religiöse Sinn­ dimensionen unauflösbar verschränken. Ein weiteres Beispiel entnimmt Gaunt einer zentralen Episode aus dem Karren­ritter von Chrétien de Troyes: Lancelot, der keine Mühen gescheut hat, um die Königin Guenièvre zu befreien, nachdem sie von einem Ritter entführt worden war, ist es endlich gelungen, zu ihr durchzudringen. Er hat sich mühsam den Weg zu ihrer Kemenate gebahnt, in der die beiden eine Liebesnacht verbringen werden – die einzige, von der die Dichtung erzählt. Als Lancelot vor der Königin steht, heißt es14: […] Et puis vint au lit la reine, Si l’aore et si li ancline, Car an nul cors saint ne croit tant.

Lancelots Verhältnis zu Guenièvre hat, wie diese Stelle zeigt, Züge einer quasireligiösen Anbetung. Zugleich ist sie von der rhetorischen Figur der Überbietung geprägt: Die Liebe des Ritters zu seiner Dame gleicht nicht nur einer religiösen Verehrung, der Zuversicht, mit der ein gläubiger Mensch auf einen cors saint, eine Heiligenreliquie, vertraut, die Intensität seiner Liebe übersteigt diesen religiösen Glauben sogar. Das kann, wie Gaunt annimmt, ernst gemeint sein. Doch lässt sich die Redefigur der Überbietung – gerade bei Chrétien – auch als Signal für eine ironische Distanzierung verstehen. Da das liebende Subjekt sich in der Lyrik wiederholt als „Märtyrer“ (martire) bezeichnet  – und Liebende in der erzählenden Dichtung mitunter ebenso bezeichnet werden –, postuliert Gaunt, dass die Figur des christlichen Märtyrers, der in der Nachfolge Christi sein Leben für den Glauben opfert, beim Entwurf des höfisch Liebenden Modell gestanden habe. Die mehrfach belegte Rede von der profanen Liebe als „schönem, süßem Martyrium“ in der Troubadourlyrik deutet er als Indiz dafür, dass die säkulare Liebe in der höfischen Literatur – in Analogie zu religiösen Vorstellungen – als Begehren sich zu opfern konzipiert werde. Dieses „Opfer-Begehren“  – Gaunt nennt es, wie bereits erwähnt, „sacrificial desire“ –, in dem sich in charakteristischer Weise die Vorstellung des Todes aus

14 Chrétien de Troyes, Chevalier de la charrette, ed. Charles Méla (Paris 1992), V.4651–3. Übersetzung: „Und dann kam er zum Bett der Königin, / er betet sie an und verneigt sich vor ihr, / denn an keine Heiligenreliquie glaubt er mehr.“



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unerfülltem Begehren mit der Lust am Opfer und der Lust am Leiden verbindet, ist der zentrale Komplex, auf den sich seine Aufmerksamkeit richtet. Die Triade Liebe, Tod und Begehren wird so um die Kategorie des Opfers erweitert. Indem der Liebende die Position eines Märtyrers übernimmt und sein Leben durch Verzicht und Askese der Liebe zum Opfer bringt, manifestiert sich nach Gaunt seine ethische Überlegenheit. Die Vorstellung „Liebe als Opfer“ bildet demnach die Basis für eine Ethik des Begehrens („ethics of desire“), die sich nicht auf ein religiöses Ziel richte, sondern in menschlicher Körperlichkeit und Se­xua­ li­tät gründe. Indem die höfische Literatur sich religiöse Modelle von Opfer und Begehren „einverleibe“, werde ein alternativer, von institutionalisierter Religiosität freier ethischer Raum erzeugt, in dem Erlösung nicht religiös gedacht sei, sondern als leidenschaftliche körperliche Bindung an einen anderen Menschen („a passionate attachment to another human being, rather than to God“15). Dieser Raum bilde eine Grundlage für die Entstehung moderner Auffassungen von Subjektivität, Sexualität und Ethik. In der Figur des Minnemärtyrers werden demnach weltliche und religiöse Bedeutungsdimensionen bei der Thematisierung von Liebe, Tod und Begehren nicht nur in besonderer Weise verknüpft, die Figur wird auch als strukturelle Voraussetzung für die Begründung einer Ethik des Opfers und des Verzichts angesehen, der Gaunt eine zentrale Bedeutung für die westliche Kultur zuschreibt.

2.2 Opfer, Begehren und Subjekt Gaunt betont, dass er von einer hoch entwickelten Reflexivität der mittelalter­ lichen Literatur ausgeht und dass er sich in seinem Buch nicht mit Erfahrungen und Repräsentationen des Todes in der faktischen Realität auseinandersetzt, sondern mit der Evokation des Todes (als Folge des Verliebtseins) in der literarischen Fiktion, auf der Ebene des Imaginären.16 Ohne dies eingehender auszuführen, spricht er damit Möglichkeiten ästhetischer Erfahrung an, welche die mittelalterliche Literatur eröffnet. Bei der Definition der leitenden Kategorien Begehren und Opfer sowie bei der Frage nach deren Zusammenhang folgt Gaunt poststrukturalistischen Theoriebildungen. Für sein Verständnis von „Begehren“ ist erklärtermaßen der sowohl psychoanalytisch

15 Gaunt 2006 (wie Anm. 3), 10. 16 Gaunt 2006 (wie Anm. 3), 6  f. verweist darauf, dass das Schrei­ben über die Liebe in ovidianischer Tradition in der höfischen Kultur als intellektuelles Spiel verstanden wurde, betont jedoch zugleich die didaktische Funktion der literarischen Liebesdiskurse.

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als auch sprachphilosophisch begründete Ansatz von Jacques Lacan leitend.17 Nach Lacan ist das „Begehren“ eine existentielle Erfahrung, die durch einen Mangel  – Lacan spricht auch von einer Lücke, einer Spalte, einem Riss  – verursacht wird. Dieser Mangel, der das Begehren erzeugt, entsteht ontogenetisch stufenweise durch den Verlust der symbiotischen Verbindung des Kindes mit der Mutter und mit dem Eintritt des Subjekts in die Welt der Sprache18 (in der Terminologie Lacans: in die Welt des Symbolischen, der kulturellen und sozialen Ordnung). Sprache ist demnach nicht als Repräsentation von Psychologie zu verstehen, sondern ist umgekehrt die Voraussetzung für die Entstehung von Psychologie und die Ausbildung von Identität. Das nach diesem Modell entstandene Begehren resultiert aus dem Verlust einer „Fülle“ beziehungsweise „Ganzheit“ und ist grundlegend für die Konstitution des Subjekts, das sich durch das Andere beziehungsweise den Anderen – „l’autre“/„l’Autre“ in der Sprache Lacans – definiert, wobei anders als im Deutschen das französische Wort beide Bedeutungen abdeckt. Mit diesem Subjektbegriff nimmt Lacan (und mit ihm Gaunt) kritisch Abstand von der (modernen) Vorstellung, „in which [the subject] conceives of itself as the locus of active agency and the environment as passive“19 und in der das Ich blind ist gegenüber „the fragility of its own construction […]“ und gegenüber seiner eigenen Geschichte.20 Begehren gehört nach dieser Theorie immer in den Bereich des „Anderen“. Dabei kann das begehrte Andere sowohl eine transzendente Instanz oder ein Ideal bezeichnen als auch ein menschliches „Er“ oder „Sie“. Insofern ist der Terminus „der beziehungsweise das Andere“ von einer Mehrdeutigkeit geprägt, die dadurch noch gesteigert wird, dass zwei Subjekt-Objekt-Relationen ins Spiel gebracht und miteinander verknüpft werden. Einerseits geht es um das Begehren des Subjekts nach dem „Anderen“, anderseits aber auch um das Begehren des Anderen nach dem Subjekt, das damit den Status eines Objekts erlangt. Mit dem

17 Gaunt 2006 (wie Anm. 3), 7, Anm. 11, „My basic approach to ethics is Lacanian“. Gaunt beruft sich vor allem auf folgende Schriften Lacans: L’éthique de la psychanalyse. Le séminaire VII (Paris 1986); Le Transfert: Le séminaire VIII (Paris 22001); Les Quatres Concepts fondamentaux de la ­psychanalyse: Le séminaire XI (Paris 1990); Encore: Le séminaire XX (Paris 1999). Zur Entwicklung von Lacans Denken im Kontext zeitgenössischer und historischer philosophischer Strömungen vgl. die Studie von Guy le Gaufey, C’est à quel sujet? (Paris 2009). Auf das Buch machte mich dankenswerter Weise die Kollegin Isabelle Heullant-Donat auf der Tagung in Reims aufmerksam. 18 Le Gaufey, C’est à quel sujet? 141, spricht von „[…] ce fonctionnement de la chaîne signifiante qui donne lieu à un sujet conçu comme intervalle, scansion et rupture entre signifiants.“ 19 Gaunt 2006 (wie Anm. 3), 41, unter Berufung auf Teresa Brennan, History after Lacan (London / New York 1997). 20 Gaunt 2006 (wie Anm. 3), 42.



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doppelsinnigen Diktum „Le désir de l’autre“ bringt Lacan diese Denkfigur auf den Punkt. Sie umfasst in paradoxer Weise das Begehren des Subjekts nach dem „Anderen“ und das Begehren des „Anderen“ nach dem Subjekt. Gaunt schreibt diesem Paradox eine zentrale Bedeutung in den Konfigurationen des „sacrificial desire“, des „Opfer-Begehrens“, zu. Leitend in seinem Verständnis des OpferBegriffs sind neben den Schriften Lacans auch Überlegungen des französischen Philosophen Jacques Derrida.21 Außerdem beruft er sich auf den Kulturanthropologen und Religionsphilosophen René Girard22, den Schriftsteller Georges Bataille23 und den italienischen Philosophen Giorgio Agamben.24 Grundsätzlich versteht Gaunt den Opfer-Diskurs in der Literatur, wie bereits gesagt, als eine imaginäre Struktur, durch die ein Subjekt die Existenz des „Anderen“ (im Sinne Lacans)  – und damit seine eigene  – zu bestätigen sucht. Das Opfer hat nach dieser Theorie des Subjekts die Funktion, eine enttäuschende Erfahrung zu vermeiden – Gaunt spricht von einem Trauma –, nämlich die Erfahrung, dass der „Andere“ das Begehren nicht erwidert, dass er dem Subjekt die erwartete Bestätigung verweigert25 oder dass er vielleicht auch gar nicht existiert. Das Subjekt opfert sich selbst oder gibt sich hin, bietet sich als Objekt des Begehrens des „Anderen“ dar. Mit dem Opfer, das der Liebende mit seinem Verzicht erbringt, wird die Möglichkeit negiert, dass sein Begehren ins Leere läuft, weil es die Existenz des „Anderen“ voraussetzt. Die Konstitution des Subjekts beruht demnach auf dem Zusammenhang von Begehren und Verzicht (oder, anders formuliert, das Subjekt konstituiert sich, indem es sich negiert beziehungsweise opfert). In dieser Logik existiert das Subjekt (nur), weil es liebt. Dem „Opfer treu bleiben“, so Gaunt, entspreche in der Theorie Lacans dem psychoanalytischen Begriff des „Durchkreuzens“ oder „Auslebens“ des fundamentalen, durch den Mangel erzeugten Fantasmas („la traversée du fantasme“ beziehungsweise „traversing the fantasy“)26, und dem „Opfer-Begehren“ treu bleiben sei nach Lacan der einzig mögliche ethische Akt. Äußere Hindernisse, die den Zugang zum

21 Jacques Derrida, Donner la Mort / L’Ethique du don, Jacques Derrida et la pensée du doned, ed. Jean-Michel Rabaté und Michael Wetzel (Paris 1992). 22 René Girard, La violence et le sacré (Paris 1972). 23 Georges Bataille, L’Érotisme (Paris 1957). Georges Bataille, Théorie de la religion, ed. Thadée Klossowski (Paris 1999). 24 Giorgio Agamben, Homo sacer: il potere sovrano e la nuda vita (Turin 1995). 25 Die Bestätigung kann auch, vor allem in der Lyrik, durch Blicke erfolgen, denen Gaunt daher in seinen Analysen eine besondere Bedeutung zuweist. 26 Was damit gemeint ist, konkretisiert Gaunt 2006 (wie Anm. 3), 106  f., am Beispiel Antigones und an Tristans Liebestod.

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Objekt verweigern, seien genau deshalb da, um die Illusion zu erzeugen, das Objekt wäre (unmittelbar) zugänglich.27 Unabdingbare Voraussetzung des Opfers ist nach Gaunt, dass der Akt des Sich-Schenkens, der Hingabe, nicht von der Hoffnung auf eine Gegengabe begleitet ist, weil nur so eine Ethik des auf Verzicht basierenden Begehrens begründet werden könne. Indem der Liebende mit der Hingabe seines Lebens dem „Anderen“ ein Geschenk mache, das nicht ökonomischen Erwägungen unterworfen sei, ein „don sans économie“ (Derrida)28, unterliege das Opfer nicht der Tauschlogik von Gabe und Gegengabe. Der Liebende, der sich opfert, darf zudem nicht selbst eine ethische Position für sich reklamieren oder in dem Bewusstsein handeln, ein Opfer zu erbringen, weil dies die „Reinheit“ der Gabe beeinträchtigen würde. Die Gabe müsse mit einem Geheimnis, mit einem Nicht-Wissen, verbunden sein. Eine weitere Frage für Gaunt ist, welchen Gewinn das Opfer für wen bringt. Aus der Perspektive des Subjekts sei es das vorrangige Ziel, dem „Anderen“ „Genuss“ zu bereiten. Um die Besonderheit dieses „Genießens“ zu markieren, verwendet Gaunt den von Lacan entlehnten Terminus jouissance, den er vom bloßen Vergnügen („pleasure“) abgrenzt und als „den vollkommenen und zerstörerischen Selbstverlust“ („the total and destructive loss of self“)29 beschreibt, als Genuss am Gefühl des Verlustes, als den Zusammenfall von Begehren und Verzicht, dessen äußerste Steigerung der Tod als das absolut „Andere“ sei. Eine besondere Form des Genießens liege in dem Akt der Transgression, in der Überschreitung einer Grenze. Grundsätzlich bezeichnet jouissance den vom Subjekt imaginierten Genuss des „Anderen“, aber auch die unbegrenzte ästhetische Lust am Leiden, die das Subjekt im endlosen Scheitern seines Opfers erfährt. Dies gilt nach Gaunt im strengen Sinne jedoch nur für die Liebeslyrik und den Diskurs über die fin’amor (der im Deutschen in etwa dem über die Hohe Minne entspricht), und hier auch nicht überall in gleichem Maße. In narrativen Zusammenhängen würde die Konfiguration des „sacrificial desire“ grundlegend verändert. Da Gaunt annimmt, dass das Konzept des Opfer-Begehrens zuerst in der Lyrik entwickelt und erst später in narrativen Zusammenhängen produktiv wurde, fragt er, wie unter den Bedingungen der Narration die Unbedingtheit des Begehrens artikuliert wird und was an die Stelle des unerfüllten Begehrens des (männlichen) lyrischen Subjekts tritt. 27 Gaunt 2006 (wie Anm. 3), 38  f., zitiert hier den wiederholt von ihm berufenen Philosophen und Lacan-Exegeten Slavoj Žižek, The Metastases of Enjoyment: On Women and Causality (London / New York 1994). 28 Gaunt 2006 (wie Anm. 3), 25  ff., verweist auch auf Derridas Diktum Donner la mort („die Gabe des Todes“). 29 Gaunt 2006 (wie Anm. 3), 36.



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In narrativen Zusammenhängen wird, wie er ausführt, die Perspektive der ersten Person durch die einer dritten Person ersetzt, durch die des Erzählers, der von einem Geschehen berichtet und es kommentierend bewertet. Hinzu komme, dass durch weitere Figuren andere Perspektiven eingeführt würden und das Subjekt nicht mehr nur allein als männlich, sondern auch als weiblich markiert sein könne. Außerdem verweist Gaunt auf die andere Dimension der Zeit in der Narration, die nicht, wie in der Lyrik, gleichsam still gestellt ist, sondern als ­linearer Ablauf in Erscheinung tritt, so dass die für die „Reinheit“ der Gabe notwendige Zeitlosigkeit nicht gegeben sei. Alles in allem gehe es in der Narration nicht mehr um ein Selbstopfer. Fokussiert werde nicht die Erfahrung des Opfers durch das Subjekt, es werde vielmehr ein „Schauspiel“ inszeniert, bei dem ein Objekt geheiligt werde und durch diese Heiligung in einem gemeinschaftsbildenden Ritual dem Subjekt unterworfen werde. Den Teilnehmern an einem Opfer­ ritual biete dieser Akt die indirekte Erfahrung einer grenzenlosen Verschmelzung.30 Der Zuschauer oder Rezipient könne zum Subjekt des Opfers werden, dem der Gewinn zufalle, ohne dass er selbst das Risiko des Selbstverlusts auf sich nehmen müsse.31 Als Äquivalent für das unerfüllte Begehren in der Lyrik könne man in der Narration das Ideal des „gemeinsamen Todes“ („shared death“) ansehen, in dem das Begehren sich zu opfern als gegenseitig imaginiert werde.

2.3 Szenarien von Opfer und Begehren Die Konzeption der Liebe als Opfer im Sinne einer „Gabe ohne Gegengabe“ sieht Gaunt am konsequentesten umgesetzt in der Lyrik des Troubadours Bernart de Ventadour.32 Die religiöse Dimension liege dabei nicht so sehr in der Anbetung der Dame als vielmehr in dem Begehren des Liebenden, sich zu opfern. Verstetigt werde deshalb auch nicht, wie gelegentlich angenommen, der Verzicht, sondern das Begehren.33 Spätere Troubadours entwickelten ein anderes Modell höfischer Ethik, das von einer ökonomischen Logik geprägt sei und in dem die Verbindung

30 Gaunt 2006 (wie Anm. 3), 80  f. 31 Gaunt 2006 (wie Anm. 3), 40, betont, dass das religiöse Opfer real und deshalb gefährlicher sei als das Opfer in der höfischen Literatur. 32 Bernart de Ventadour wirkte vermutlich zwischen 1147 und 1170 überwiegend an Höfen Südfrankreichs, zeitweilig wohl auch am Hof des englischen Königs Heinrich II. Plantagenet und seiner Gattin Eleonore von Aquitanien, vgl. de Riquer, Los trovadores. Historia literaria y textos I, 342–350. 33 Gaunt 2006 (wie Anm. 3), 34, unter Berufung auf Judith Butler, The Psychic Life of Power (Stanford 1997).

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von Liebe und Macht stärker betont werde als die von Liebe und Tod. Die Dame werde hier als machtvolle Herrscherin, als Souverän, gezeichnet, das Vergnügen, sie zu lieben, resultiere aus der Unterwerfung des Liebenden. Dieser werde dabei oft, einem homo sacer (Agamben) gleich, als zwischen Leben und Tod befindlich entworfen, in einer liminalen Zone des lebendigen Todes, in welcher er vom Objekt der Macht zum Subjekt der Macht transformiert werde. Dies mache deutlich, dass der überlegene Status des Souveräns durch eine Ethik konstituiert wird, die seine Macht zugleich unterminiert: durch die Ethik der Gnade, welche die uneingeschränkte Machtvollkommenheit des Souveräns begrenzt. Während Bernart de Ventadour das Subjekt als grundlegend ethisch konstruiere und den „Anderen“ auffordere, es deswegen anzuerkennen, will das Subjekt in dem zuletzt skizzierten Szenario wegen der Tugend, die es dem „Anderen“ zuschreibt (und so gleichsam von ihm fordert), anerkannt werden, einer Tugend, die der „Andere“ im Akt der Gnade beweisen muss. Der Appell an die Gnade des Souveräns bedeute deshalb im Grunde nichts anderes als den Versuch der Selbstermächtigung des Subjekts. Zur Debatte stehe damit die Konstruktion und Legitimation von Herrschaft, die – wie die „Dame“ – als ein Effekt des Diskurses reflektiert werde. Hier wird eine Struktur sichtbar, die deutlich werden lässt, wie eine scheinbar unverfügbare Macht „handhabbar“ gemacht wird. Dabei können sich eine religiöse und eine profane Sinndimension überblenden; eine strikte Trennung zwischen der religiösen Ebene und der politisch-sozialen Ebene der Vasallität ist jedenfalls nicht möglich. Einen Übergang vom lyrischen Modell zu narrativen Entwürfen des OpferBegehrens sieht Gaunt in einigen Verserzählungen, in die lyrische Elemente interpoliert worden seien. An zwei von ihnen, in denen jeweils eine Dreiecksgeschichte im Zentrum steht, geht er der Frage nach, welcher Logik das Opfer-Begehren in ihnen folgt. Darunter ist auch die bereits erwähnte französische Bearbeitung der Geschichte vom gegessenen Herzen, Le Châtelain de Coucy (ca. 8000 Verse, Ende 13. Jahrhundert)34: Ein Kastellan, der zugleich als Liederdichter gekennzeichnet ist, und eine verheiratete Dame lieben sich. Der Ehemann der Dame bemerkt dies. Um weitere Begegnungen zu unterbinden, veranlasst er, dass der Kastellan sich auf einen Kreuzzug begibt. Durch den vergifteten Pfeil eines nicht-christlichen Gegners wird dieser tödlich verwundet. Vor seinem Tod aber bittet er darum, man möge ihm das Herz aus der Brust schneiden, es einbalsamieren und in einem kostbaren Kästchen seiner Dame darbringen. Als der Bote kommt, um der Dame das Käst-

34 John E. Matzke und Maurice Delbouille, Hg., Le Roman du Castelain de Couci et de la Dame de Fayel par Jakemes (Paris 1936).



Minnemärtyrer: Opfer-Szenarien in der höfischen Literatur 

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chen zu bringen, wird es ihm von ihrem Ehemann abgenommen. Dieser erkennt, worum es sich bei der Gabe handelt, er lässt das Herz zerstückeln, mit feinen Gewürzen zubereiten und setzt es seiner Gemahlin als Speise vor. Erst nachdem die Dame das Mahl zu sich genommen hat, erklärt er ihr, was sie gegessen hat, und sie stirbt an gebrochenem Herzen. Beide Liebende sterben, so Gaunt, als Minnemärtyrer; sie seien zwar Opfer von Gewalt, die der Ehemann ausübe, sie würden retrospektiv aber als Opfer konfiguriert, die an dem Begehren nach dem je anderen sterben. In der anschließenden Analyse der Beziehungen berühmter Liebespaare steht die Frage im Mittelpunkt, ob und in welcher Weise sie das Ideal des „gemeinsamen Todes“ erfüllen oder verfehlen. Warum sterben Tristan und Isolde, warum nicht auch Lancelot und Guenièvre oder Cligès und Fenice? Die logische Folge des „sacrificial desire“ in der Narration wird nach Gaunt am konsequentesten in der Bearbeitung des Tristanstoffs durch Thomas von England entwickelt. Tristan weigere sich, den symbolischen, „metaphorischen“ Status der Verbindung von Liebe und Tod anzuerkennen und nehme sie als das „Reale“, er habe ein buchstäbliches, ein antimetaphorisches Verständnis von Liebe. Sobald er sich verliebt hat, wisse er, dass er den Raum zwischen zwei Toden betreten habe, den „Zwischenraum“ zwischen dem Tod durch den Ausschluss aus der gesellschaftlichen Ordnung und dem physischen Tod. Der Tod werde hier programmatisch mit dem Begehren assoziiert und zunehmend als Objekt des Begehrens installiert. Der Tod der Liebenden sei, wie in der novellistischen Fassung einer Episode aus dem Tristanstoff von Marie de France35, frei von jeder christlichen Vorstellung eines Lebens nach dem Tode und mithin gleichsam „gottlos“.36 Taten, die in einem christlichen Rahmen als sündhaft gelten, würden als erlösend imaginiert und positiv bewertet, so dass der Raum für eine säkulare Ethik eröffnet werde. Zwar könne der Minnetrank als Metapher für den „shared death“ angesehen werden, der „gemeinsame Tod“ im eigentlichen Sinne, das gemeinsame Sterben, werde Tristan und Isolde jedoch verweigert. Deutlich markiert werde, dass der OpferDiskurs in der Lyrik und im Tristan als symbolische Struktur zu verstehen ist, die nicht in der Realität, sondern allein auf der Ebene des Imaginären imitiert werden soll. Lancelot in Chrétiens Karrenritter bringe nicht selbst das höchste Opfer (Gaunt konzentriert seine Analyse hier auf die Episode, in der beide Liebende glauben, der andere sei tot): Sein Selbstmordversuch scheitere, sein Tod werde – ähnlich

35 Marie de France, “La Chèvrefeuille,” in: Lais. Traduits, présentés et annotés par Laurence Harf-Lancner, éd. Karl Warnke (Paris 1990), 262–269. 36 Gaunt 2006 (wie Anm. 3), 208, spricht von einem „Godless death“.

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wie der Guenièvres – immer wieder verschoben. Er stirbt nur „beinahe“ und sie stirbt nur „beinahe“. Die komischen Züge in der Inszenierung des Selbstmordversuchs Lancelots seien als Indiz für eine kritische Distanz auf Seiten Chrétiens zu verstehen, der das Konzept des „sacrificial desire“ damit als ein textuelles, literarisches Konstrukt habe markieren wollen. Lancelot und Guenièvre weigerten sich im Grunde beide, als Liebesmärtyrer zu sterben. Sie evozierten permanent das Fantasma des Liebestodes, aber agierten es nicht aus. Dies gilt nach Gaunt im Grunde auch für den Cligès. Fenices Leben nach dem Trank, der sie in den Zustand des Scheintodes versetzt hat, sei in gewisser Weise buchstäblicher ein Leben zwischen zwei Toden als das von Tristan und Isolde, aber das Opfer sei nur ein Simulacrum; sie und Cligès wollten nicht sterben. Im Lancelot wie im Cligès und in anderen Dichtungen habe das Reden über den Liebestod im Grunde die Funktion, das Leben zu bewahren.

3 Resümee – Bilanz – Ausblick „Großen Erzählungen“ wird heute zu Recht mit Skepsis begegnet, und Gaunts Buch mit der zentralen These, dass die westliche Kultur von einer Ethik des Verzichts und des Opfers geprägt sei, die bereits im Mittelalter entwickelt wurde, gehört zweifellos in die Kategorie der „großen Erzählung“. Doch auch wenn man seiner These, die mit Blick auf die heutige Konsum- und Mediengesellschaft erstaunlich, wenn nicht gar befremdlich anmutet, nicht zustimmt, bewegen sich seine Überlegungen auf einem hohen intellektuellen Niveau und sind vielfach anregend. Allerdings verlangt Gaunt den Leserinnen und Lesern mit seinen überaus voraussetzungsreichen theoretischen Überlegungen einiges ab. Ein naheliegender Einwand gegen das Buch ist natürlich, dass Gaunt eben diese modernen Theorien als Filter für seine Analysen benutzt. Meines Erachtens ist es aber durchaus legitim, mittelalterliche Texte in einen Verstehenshorizont der Gegenwart zu rücken, sofern das Verfahren methodisch reflektiert wird. Dennoch besteht dabei stets die Gefahr, dass die historischen Dimensionen der Texte verfehlt werden. Im Unterschied zu de Rougemont steht Gaunt mit seinem literarhistorischen Expertenwissen auf einem soliden Fundament und betont selbst ausdrücklich die Notwendigkeit der Historisierung moderner Theorien wie die der Psychoanalyse Lacans.37 Gleichwohl schreibt er ihr offensichtlich eine universale Geltung zu, die wohl auch deshalb in seinen Augen keiner näheren

37 Gaunt 2006 (wie Anm. 3), 41.



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Begründung bedarf. Mit dem Hinweis, dass Lacan selbst sich an Modellvorstellungen der christlichen Tradition und der höfischen Kultur orientiert hat, behauptet er zudem eine Kontinuität, die nicht zuletzt deshalb trügerisch ist, weil mit dieser These der Blick auf mögliche Differenzen verstellt wird. Ein weiteres Problem besteht in der Heterogenität der theoretischen Ansätze, die bei den einzelnen Analysen jeweils ins Spiel gebracht werden. Die schrittweise Einspeisung von Theoriebausteinen erklärt sich wohl daraus, dass Teile der Monographie bereits zuvor in Form von Aufsätzen erschienen waren und Gaunt darauf verzichtet hat, sie im Nachhinein zu einem übergreifenden konsistenten Konstrukt zu verdichten. Im Ergebnis führt dies zu Widersprüchen und zu einem mitunter irritierenden Facettenreichtum. Und dies umso mehr, als die Kategorien nicht immer klar definiert und voneinander abgegrenzt werden. So müssen die Leser im Blick behalten, dass etwa das „Reale“ je nach theoretischem Ansatz etwas anderes bedeuten kann, und Voraussetzungen und Konsequenzen der theoretischen Annahmen mitbedenken. Denn das Reale ist etwa für Lacan keinesfalls mit einem herkömmlichen Begriff von „Realität“ gleichzusetzen, es ist vielmehr das, was nicht sagbar ist, was sich der Symbolisierung, der strukturierten Ordnung der Sprache, verweigert. Auch der weit gefasste Begriff des Opfers, den Gaunt ansetzt, wirft Verständnisfragen auf. Offenbar versteht er das Opfer als kulturellen Gründungsakt. Doch es ist nur bedingt nachvollziehbar, wie Gaunt die verschiedenen Opfertheorien, auf die er sich beruft (Girard, Lacan, Bataille), in Relation zueinander setzt und wie er sie mit der Differenz von Lyrik und Narration zu vermitteln sucht. Anders als im Deutschen stellt sich im Englischen und im Französischen nicht die Frage, ob der Begriff des Opfers im Sinne von engl. sacrifice/frz. sacrifice oder von engl. victim/frz. victime verwendet wird. Vorherrschend insgesamt ist bei Gaunt die zuerst genannte Bedeutung, obwohl in den verwirrenden Subjekt-Objekt-Relationen auch die Bedeutung von victim/victime ins Spiel kommt, ein Terminus, der als explizit eingeführte Kategorie größere Klarheit hätte schaffen können. Da Gaunt seine These vom „Opfer-Begehren“ vor der Folie der christlichen Religion entwirft, wäre es zudem nahe liegend gewesen, dass er sich  – zumindest kontrastiv  – auch mit theologischen Diskursen über das Opfer, insbesondere über den Opfertod Christi befasst hätte, in denen das Wissen und die Freiwilligkeit des Opfers (im Sinne von sacrifice) sowie der Gedanke der stellvertretenden Buße eine wichtige Rolle spielen.38 Ein weiteres Problem stellen die impliziten und expliziten Wertungen dar. Dass Verzicht und Opfer ethische Dimensionen haben

38 Gaunt 2006 (wie Anm. 3), 26, erklärt es ausdrücklich für überflüssig, näher auf den christ­ lichen Opfer-Diskurs einzugehen.

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können, leuchtet ein, aber inwiefern ist es gerechtfertigt, das „sacrificial desire“ (wie den „gemeinsamen Tod“) als „Ideal“ zu betrachten? Zeigt nicht gerade die Konstruktion des Minnemärtyrers, dass es hier um eine Figur geht, die Gegenläufiges in der Schwebe hält, das durchaus in die eine oder andere Richtung kippen kann? Ambivalenzen – die Gaunt durchaus sieht – werden dabei stellenweise zu sehr eingeebnet. Problematisch erscheint es im Übrigen, dass er mit der Figur des Minnemärtyrers von einem Subjektbegriff ausgeht, der nahezu umstandslos als männlich konzipiert ist. Auch hier macht sich der vielfach kritisierte universalistische Ansatz Lacans geltend. Gender-Aspekte kommen zwar zur Sprache39, sie sind jedoch nicht in das Minnemärtyrer-Konzept integriert und bleiben eher oberflächlich. So stellt Gaunt die Frage, ob Frauen „anders“ sterben als Männer, und er kommt zu dem Ergebnis, dass die Tode von Frauen „ethischer“ seien, weil sie als Folge spontaner, unkontrollierter Emotionen gestaltet würden, während die Männer häufig über den Liebestod sprechen, in der Regel aber nicht sterben. Außerdem verweist er auf Szenarien, in denen eine dritte Person – außerhalb des Liebespaars  – die Position des Minnemärtyrers übernimmt, wie beispielsweise die Dame von Escalot im Lancelot en Prose, die Lancelot ohne Gegenliebe liebt und die den Liebestod stirbt (wobei sie einen Brief hinterlässt, der verheerende Folgen haben wird, weil er den Ehebruch zwischen Lancelot und Guenièvre indirekt offenbart).40 Gaunt konstatiert auch, dass der Liebestod von Frauen eine Bedeutung für die Entwürfe von Männlichkeit hat, geht aber der Frage, wie die Subjekt-Objekt-Relationen zwischen weiblichen und männlichen Figuren gestaltet werden, nicht näher nach. Dennoch ist der Versuch, anhand der Konfigurationen von „Minnemärtyrern“ ein Denk- und Sinnmuster der höfischen Kultur in gattungsübergreifenden Zusammenhängen zu erhellen, insgesamt gewinnbringend. Dieser Versuch könnte auch der interdisziplinär orientierten Mediävistik Impulse vermitteln. Zu fragen wäre etwa, ob die Kategorie des Opfers auch für andere Texte produktiv gemacht werden kann und wie die verschiedenen Konfigurationen und Szenarien beschrieben werden können. Insbesondere müsste geprüft werden, wie sich die Entwürfe männlicher von denen weiblicher Minnemärtyrer unterscheiden. Zu denken ist hier etwa nicht nur an die Mutter Tristans oder an Isolde in den verschiedenen Fassungen des Tristanstoffs, an den Tod Herzeloydes oder Sigunes im

39 Vgl. Gaunt 2006 (wie Anm. 3), vor allem Kap. 5. Hier steht die Frage nach dem „Gendering Death“ im Zentrum. 40 Gaunt 2006 (wie Anm. 3), 155  f. Eigentlich, so Gaunt, hätte Guenièvre den Liebestod sterben müssen.



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Parzival, sondern auch an novellistische Gestaltungen des Liebestods von Frauen wie im Herzmäre oder in der Frauentreue.41 Ohne Zweifel gibt Gaunt mit seinem Buch auch Anstöße zur Auseinandersetzung mit dem Begriff der Ethik. Besonders spannend ist der Versuch, die Kategorie des Opfers jenseits einer Tauschlogik zu denken, nicht nur, weil damit ein zentrales Problem der christlichen Erlösungslehre berührt wird. Die Analysen Gaunts deuten darauf hin, dass in den untersuchten Texten verschiedene Grade des Anökonomischen feststellbar sind. Es wäre daher lohnend, die Skalierung des Opfer-Begriffs nach dem Grad seiner Rückbindung an eine (beziehungsweise seiner Ablösung von einer) Tauschlogik auch in deutschsprachigen Texten und in anderen Zusammenhängen herauszuarbeiten. In Ansätzen ist dies in der germanistischen Mediävistik bereits geschehen.42 Weitere Untersuchungen zu diesem Komplex könnten erweisen, ob und wie sich mittelalterliches Denken gerade in der Gabenlogik von modernen Vorstellungen unterscheidet. Damit würde mög­ licher­weise ein Moment der Alterität greifbar, der Gaunt mit seiner Kontinuitätsthese keine Bedeutung beimisst. Da er sich mit so großer Entschiedenheit darum bemüht, in der mittelalterlichen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts die Emergenz einer säkularen Ethik nachzuweisen, verwundert es auch nicht, dass ästhetische Dimensionen der untersuchten Texte weniger Beachtung finden, obwohl diese (auch durch die Kategorie des Imaginären) durchaus in den Blick kommen. Dem gegenüber stellt Christian Kiening in einer neueren Studie zum Liebestod – in Gottfrieds Tristan, im Herzmäre und in der Frauentreue – nicht die Frage nach der Ethik, sondern nach der Ästhetik ins Zentrum.43 Anders auch als Gaunt, der die Kontinuität betont, operiert Kiening mit dem Paradigma der Alterität, der Andersheit der mittelalterlichen Literatur und Kultur, das in der germanistischen Mediävistik trotz mancher Vorbehalte nach wie vor Geltung hat. Während es nach einer verbreiteten Meinung zu dieser Andersheit gehört, dass sich eine Ästhetik als eigenes System noch nicht ausgebildet hat, geht Kiening davon aus, dass 41 Zur Frage, ob und wie Subjektivität in der Gestaltung literarischer Texte im Mittelalter eine Rolle spielt, vgl. etwa den Sammelband Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, ed. Martin Baisch, Jutta Eming, Hendrikje Haufe und Andrea Sieber (Königstein 2005) oder auch Judith Klinger, „Möglichkeiten und Strategien der Subjekt-Reflexion im höfischen Roman: Tristan und Lancelot,“ in Mittelalter: neue Wege durch einen alten Kontinent, ed. JanDirk Müller und Horst Wenzel (Stuttgart / Leipzig 1999), 127–148. 42 Vgl. Margreth Egidi u.  a., Hg., Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, PhSt 240 (Berlin 2012). 43 Christian Kiening, „Ästhetik des Liebestods: Am Beispiel von Tristan und Herzmaere,“ in Das fremde Schöne: Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, ed. Manuel Braun und Christopher Young, TMP 12 (Berlin / New York 2007), 171–193. Gender-Aspekte spielen in Kienings Überlegungen keine Rolle.

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die vormoderne Ästhetik einen spezifischen Status habe und versucht, diesen zu bestimmen. Das Ästhetische bilde im Mittelalter zwar noch kein eigenes System, es „durchquere“ aber verschiedene Diskurse. Er exemplifiziert diese These am Beispiel des Liebestods, der seinen Ausführungen zufolge auf der Vorstellung einer Transzendenz beruht, die christlich und nicht-christlich zugleich sei, die eine Einheit paradoxiere, die möglich und zugleich unmöglich sei. In diesem Zusammenhang tauchen bei ihm Begriffe auf, die eine zentrale Rolle auch bei Gaunt spielen: der des Opfers, der Gabe, der Liminalität. Die Liebenden, so erklärt Kiening allerdings, seien gleichzeitig victimes und sacrifices: „Opfer der Umstände, opfern sie sich selbst und erlauben den Texten eine Engführung von Gabe und Hingabe […].“44 Durch die semantische Überblendung des Liebestodes mit religiösen Mustern wie der Eucharistie ermögliche die Literatur es, eine emphatische Einheitserfahrung präsent zu machen und eröffne so einen Raum für die Partizipation an quasi kulthaft-rituellen Formen des Vollzugs. Christliche Vorstellungen wie die „Einheit der Seelen“ würden aufgenommen, aber von christlichen Jenseitsvorstellungen abgekoppelt. Der Liebestod sei nicht einfach „Ausdruck“ liminaler Liebe, sondern Anhaltspunkt zur Erzeugung literarischer Liminalität, die erfahrbar machen solle, was nur im Imaginären erfahrbar sei. Dabei legt Kiening einen besonderen Akzent auf das „Lesen“ als reproduktiven und imaginativen Prozess. Berührungspunkte und vor allem Differenzen in der Argumentation Gaunts und Kienings machen sich besonders in ihren Interpretationen der Geschichte vom gegessenen Herzen geltend, die nicht allein den beträchtlichen Unterschieden in der Gestaltung des Sujets in der französischen und der deutschen Literatur geschuldet sind und die detaillierter gegenüber zu stellen sich deshalb lohnen würde. Beide sind sich indessen in der Auffassung einig, dass das Paradigma des Liebestods in den Texten ernst genommen wird.45 Gleichwohl ist zu fragen, ob – zumindest im Herzmäre, aber auch in der Frauentreue – nicht gegenläufige Bewegungen greifbar sind, die ein parodistisches Potential transportieren oder Ambiguisierungstendenzen enthalten, die das vordergründig propagierte Ideal der (außerehelichen) Liebe unterminieren. Zwar lassen sich im Herzmaere keine explizit komischen Stilisierungstendenzen nachweisen wie es in Inszenierungen des Liebestods in schwankhaften Kurzerzählungen, beispielsweise in Strickers Der begrabene Ehemann, der Fall ist, in dem – wie im Herzmäre – zwei Modelle

44 Kiening 2007 (wie Anm. 43), 179. 45 Dies gilt auch für die Lektüre des Textes durch Bruno Quast, „Literarischer Physiologismus: Zum Status symbolischer Ordnung in mittelalterlichen Erzählungen von gegessenen und getauschten Herzen,“ ZfdA 129 / 3 (2000), 303–320.



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der Paarbeziehung, Ehe und Minnedienst, gegeneinander gesetzt werden. Aber die melodramatisch anmutende Aufladung des Stoffs (Herausschneiden des Herzens aus dem Leib des toten Geliebten, seine Verwahrung in einem kostbaren Kästchen als Geschenk für die geliebte Frau, seine Zubereitung als Speise und seine buchstäbliche „Einverleibung“ durch sie) steht in eigentümlichem Kontrast zu der nüchternen sprachlichen Gestaltung, die, anders als in weiten Teilen des Tristan, nicht auf Empathie angelegt scheint. Meine Überlegungen galten der Frage, wie ein zentrales religiöses Sinnstiftungsmuster, das Opfer, im Medium der mittelalterlichen Literatur adaptiert, umbesetzt und transformiert worden ist. Das Opfer lässt sich als eine Denkfigur und eine Kategorie des religiösen Wissens definieren, die in der höfischen Literatur in vielfältiger Weise als produktives Modell gedient und die in der Figur des Minnemärtyrers einen charakteristischen Ausdruck gefunden hat. Allerdings stellt sich in Anbetracht der Überblendung von religiöser und profaner Bedeutungsebene die Frage, ob in dem Prozess der Adaption und semantischen Umbesetzung dieses Modells noch von religiösem Wissen gesprochen werden kann. Indessen ist es möglich, in der Auseinandersetzung mit der Kategorie des Opfers Ansätze zu einer säkularen Ethik und Reflexionen über ästhetische Dimensionen der Literatur zu erkennen. Durch Strategien wie etwa die der De-Metaphorisierung und der Ironisierung können diese gebrochen sein. Da die Verschränkung von säkularen und religiösen Sinndimensionen kaum auflösbar ist, eröffnet die Denkfigur des Opfers einen Raum der Unbestimmtheit, in dem etwas erfahrbar gemacht wird, das weder dem einen noch dem anderen ganz angehört, und der so zu weiteren Explorationen herausfordert.

Dominik Gerd Sieber

Die Reformation schweizerischoberdeutscher Prägung und ihre Auswirkungen auf die Bestattungsplätze 1 Einleitung „[…] uff Göttlichen eÿffer […] unser kirchen, kirchoff, sepultur zerbrochen und einen Marstall daraus gemacht […]“1 – mit diesen scharfen Worten geißelt der altgläubige Konstanzer Chronist und Historiograph Christoph Schulthaiß in seinem umfangreichen Geschichtswerk, den nach ihm benannten Kollektaneen, das Übergreifen der Reformation auf die überkommene Sepulkralkultur seiner Heimatstadt.2 Damit reihte sich die Entwicklung in Konstanz in diejenige der benachbarten oberschwäbischen Reichsstädte ein, die in den 30er und 40er Jahren des 16. Jahrhunderts ebenfalls eine tiefgreifende Umgestaltung ihrer Bestattungsplätze vornahmen. Dabei wurden die tradierten Begräbnisstätten Kirche, Kirchhof und Kloster in Räume für Tote transformiert, die der neuen Lehre entsprachen. Das Spektrum reichte dabei von der Entfernung einzelner Grabmonumente3 bis hin zur kompletten Abräumung ganzer Nekropolen und der Neunutzung der dadurch entstandenen freien Plätze. Im Folgenden sollen nun neben Konstanz vor allem Memmingen und Lindau näher untersucht werden, die alle der so genannten Tetrapolitana, also dem der Confessio Augustana alternativen Vierstädtebekenntnis, angehörten, und sich durch besonders konsequente Maßnahmen gegenüber den Stätten der Toten auszeichneten. Dieses mitunter radikal erscheinende Vorgehen, das Parallelen zur Bilderentfernung aufweist, muss vor allem vor dem Hintergrund der reformatorischen Entwicklung in der Eidgenossenschaft, allen voran im zwinglianischen Zürich gesehen

1 StadtA Konstanz, A I 8 / VII, Christoph Schulthaiß Collect. VII, 58 ½, in Bezug auf den Kirchhof des Chorherrenstiftes St. Johann in Konstanz. 2 Christoph Schulthaiß war von 1558–61 und 1564–77 Bürgermeister und Stadtvogt und zwischen 1550–57, 1562–63 und 1578–84 Mitglied des Kleinen Rates in Konstanz, vgl. Otto Leiner, „Die Mitglieder des Konstanzer Rates von 1550 bis 1800,“ Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 27 (1898), 148–160, hier 158. 3 Unter dem Begriff des Grabmonuments sollen in diesem Beitrag alle Ausprägungen sepulkra­ ler Objekte, wie Grabplatten, Grabsteine, Epitaphien und Totenschilde subsumiert werden, in vollem Bewusstsein der gegenwärtig differenzierten und zum Teil kontroversen kunstgeschichtlichen Definitionen.

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 Dominik Gerd Sieber

werden, um dieses Charakteristikum der „oberdeutschen Reformation“4 einordnen zu können.

2 Die oberdeutsche Reformation und ihr ­Verhältnis gegenüber Tod, Toten­ gedächtnis und der Bilderfrage Verständlich wird das Vorgehen gegen die Grabmonumente und Kirchhöfe aus religiösen Wissensbeständen der schweizerisch-oberdeutschen Reformation bezüglich Tod, Jenseits und den Bildern. Die oberdeutschen Reformatoren, allen voran Huldrych Zwingli, lehnten ein Purgatorium weit früher und konsequenter ab als etwa Martin Luther.5 Die nun durch die Reformation entworfene bipolare Jenseitstopographie kannte nur noch Himmel oder Hölle.6 Mit der Ablehnung eines postmortalen Purgatoriums wurde auch die Totenfürbitte obsolet. Stattdessen sollten die bisherigen Aufwendungen zum Seelenheil der nun von den

4 Trotz der vereinfachenden Problematik, die in dem ursprünglich von Bernd Moeller entwickelten Konzept der „oberdeutschen Reformation“ steckt, soll die Begrifflichkeit im vorliegenden Beitrag als Kategorie verwendet werden. Selbstverständlich wird der Terminus hier immer in dem Bewusstsein gedacht, dass es sich nicht um eine als monolithischen Block zu verstehende Variante der Reformation handelte, sondern unterschiedlichste Schattierungen und Ausprägungen eine Rolle spielten. Dennoch dürfte nicht zuletzt aufgrund der im Folgenden dargestellten Aspekte deutlich werden, wie berechtigt es ist, von einer „schweizerisch-oberdeutschen Reformation“ zu sprechen. Vgl. hierzu Martin Brecht, „Was war Zwinglianismus?,“ in Die Zürcher Reformation: Ausstrahlungen und Rückwirkungen, ed. Alfred Schindler und Hans Stickelberger. Wissenschaftliche Tagung zum hundertjährigen Bestehen des Zwinglivereins 29. Oktober bis 2. November 1997 in Zürich (Bern u.  a. 2001), 28–300 und Volker Leppin, „‚Nach Gottes Wort reformiert‘: Die andere Reformation – die neue Theologie in Oberdeutschland,“ in „… und alles, was wir erreichet haben, ist immer nur Anfang.“ Johannes Calvin: Umstrittener Kirchenreformer und Vater der Moderne, Wittenberger Sonntagsvorlesungen, ed. Evangelisches Predigerseminar, Lutherstadt Wittenberg, Hanna Kasparick (Wittenberg 2009), 7–23, vor allem 17. 5 Zur lutherischen Eschatologie vgl. Erhard Kunz, Protestantische Eschatologie: Von der Reformation bis zur Aufklärung (Freiburg i. Br. 1980), 3–22, wie auch zentral Otto Hermann Pesch, „Theologie des Todes bei Martin Luther,“ in Im Angesicht des Todes: Ein interdisziplinäres Kompendium, Bd. II, ed. Hansjakob Becker, Bernhard Einig und Peter-Otto Ullrich (St. Ottilien 1987), 709–789. Zur zwinglianischen Eschatologie vgl. Kunz 1980, 23–30. 6 Carsten Fleischhauer, „Der Wandel der Jenseitsvorstellungen durch die Reformation,“ in Wege ins Jenseits: Mit Walküren zu Odin, mit Engeln zu Gott, ed. Herwig Guratzsch und Claus von Carnap-Bornheim (Neumünster 2005), 68–75, hier 70–71; Irmgard Wilhelm-Schaffer, Gottes Beamter und Spielmann des Teufels: Der Tod in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Köln 1999), 83.



Die Reformation schweizerisch-oberdeutscher Prägung 

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weltlichen Obrigkeiten organisierten sozialen Fürsorge in Gestalt so genannter „Gemeiner Kästen“ zu Gute kommen. Demgegenüber galt es nach evangelischem Verständnis nur noch am Sterbenden, nicht aber mehr am Toten Dienst zu tun. Dementsprechend hatte die Sterbebegleitung und der Beerdigungsritus zu erfolgen. Die Bestattungsfeier hatte nun einzig der Tröstung der Hinterbliebenen zu dienen und sollte den Glauben der Lebenden festigen und zur Buße anregen.7 Darüber hinaus sah die schweizerisch-oberdeutsche Reformation die Frage der Bilder im Gegensatz zur lutherischen Lesart nicht als Adiaphora an, sondern betrachtete sie als ein zentrales Thema ihrer diesbezüglich ablehnenden Theologie, die sich auf das alttestamentliche Bilderverbot des Dekalogs stützte.8 Gemäß Zwingli sollten speziell die als „Götzen“ bezeichneten religiösen Bildwerke, die Gegenstand von Kulthandlungen waren, entfernt werden.9 Auch die oberdeutschen Reformatoren Martin Bucer und Ambrosius Blarer teilten diese Skepsis gegenüber religiösen Bildwerken und forderten konsequenterweise ihre Abschaffung ein.10 Obwohl sich die schweizerischen und oberdeutschen Reformatoren nicht explizit negativ in selbständigen Schriften gegenüber Grabzeichen äußerten, impliziert ihre Theologie doch eine negative Haltung ihnen gegenüber.11 Nicht

7 Katharina Peiter, Der Evangelische Friedhof: Von der Reformation bis zur Romantik (Berlin 1968), 83, 87; Bob Scribner, Religion und Kultur in Deutschland 1400–1600, ed. Lyndal Roper, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 175 (Göttingen 2006), 323. 8 Zur Bilderfrage, insbesondere für den oberdeutschen Raum, grundlegend die Dissertation von Gudrun Litz, Die reformatorische Bilderfrage in den schwäbischen Reichsstädten (Tübingen 2007), 20  ff. 9 Zu Zwinglis Haltung den Bildern gegenüber vgl. Hans-Dietrich Altendorf, „Zwinglis Stellung zum Bild und die Tradition christlicher Bildfeindschaft,“ in Bilderstreit: Kulturwandel in Zwinglis Reformation, ed. Hans-Dietrich Altendorf und Peter Jezler (Zürich 1984), 11–18, wie auch Peter Jezler, „Tempelreinigung oder Barberei? Eine Geschichte vom Bild des Bilderstürmers,“ in Bilderstreit: Kulturwandel in Zwinglis Reformation, ed. Hans-Dietrich Altendorf und Peter Jezler (Zürich 1984), 75–82, hier 76. 10 Zu Bucers und Blarers Haltung gegenüber den Bildern siehe Litz 2007 (wie Anm. 8), 40, 54  f. 11 Zwingli beschäftigt sich zwar mit der Anlage außerstädtischer Kirchhöfe und der Neuorganisation der innerstädtischen Sepulkraltopographie, vgl. Emil Egli, Hg., Huldreich Zwinglis sämt­liche Werke, Bd. IV (Zürich 1927), 661  ff., spart aber die konkrete Frage nach Grabmonumenten aus. Auch im Werk Martin Bucers finden sich lediglich Spuren: Neben dem Anhang zu den so genannten 18 Artikeln, der sich gegen die Totenschilde im Ulmer Münster wandte, findet sich zum Beispiel auch in einem Schrei­ben Bucers und Hedios an den Straßburger Rat vom 10. November 1529 die Forderung, solche Schilde abzuhängen, vgl. Christian Krieger und Jean Rott, Hg., Correspondance de Martin Bucer, Tome III (1527–1529) (Leiden 1995), 339–340, Nr. 260. Auch in der Forschungsliteratur wird die Haltung der schweizerischen und oberdeutschen Reformatoren in der Bilderfrage nur selten auf Grabmonumente bezogen.

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 Dominik Gerd Sieber

zuletzt ihre eigenen Gräber, die ursprünglich keinerlei Kennzeichnung aufwiesen, machen dies augenfällig, wie auch die konkreten Handlungen in den Städten ihres Wirkens, sowohl in der Eidgenossenschaft wie auch in den Reichsstädten Oberschwabens. Das Fehlen entsprechender Quellen ist mit ihrer Theologie plausibel nachvollziehbar. Für die oberdeutschen Reformatoren bedeutete der irdische Tod das Ende aller Handlungen der Gemeinde am Menschen. Das Schicksal des Verstorbenen hatte sich im Augenblick seines Todes entschieden, ohne dass die Hinterbliebenen daran etwas verändern konnten. Die Nachwelt hatte lediglich eine ehrenhafte Bestattung der sterblichen Überreste zu gewährleisten. Grabmonumente stellten demgegenüber geradezu eine Gefahr dar, boten sie doch einen konkreten Ort für Kulthandlungen in Form der Totenfürbitte und konnten zudem auch Träger problematischer ikonographischer Inhalte sein, die die Reformation doch auszumerzen bestrebt war. Wo immer ein gekennzeichnetes Grab vorhanden war, bestand die poten­ tielle Möglichkeit, an diesem nicht nur des Toten zu gedenken, sondern auch für ihn zu beten und somit in den alten „Papismus“ zurückzufallen. Ambrosius Blarer zieht daher die folgerichtige Schlussfolgerung, wenn er schreibt, „Es ist aber ouch ain schlechte gedechtnuß, die man von grebern unnd todten gmeld haben muß […]“12. Aus dieser Haltung heraus wurden die eidgenössischen und oberschwäbischen Kirchhöfe nivelliert und die Grabmonumente abgeschafft.

3 Die Vorreiterrolle Zürichs Die erstmalige Umsetzung der aus diesen religiösen Wissensbeständen hervorgehenden Konsequenzen auf die materielle Sepulkralkultur nahm das „erste evangelische Staatswesen überhaupt“13, nämlich das eidgenössische Zürich, vor. Damit hatte die Stadt an der Limmat eine vorbildhafte Wirkung für den oberdeutschen Raum. Die Beseitigung der altgläubigen Bilder vollzog sich in Zürich sukzessive.14 Nach ersten Übergriffen im Jahre 1523 kam es im Juni des folgenden Jahres zu

12 Friedrich Spitta, „Wie die Konstanzer Reformatoren A. Blaurer und J. Zwick über rechte Vorbereitung auf den Tod gepredigt und gedichtet haben,“ Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst 19 (1914), 333–336, hier 334. 13 Bernd Moeller, „Die Kirche in den evangelischen freien Städten Oberdeutschlands im Zeitalter der Reformation,“ in Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 112 (1964), 147–162, hier 147. 14 Peter Jezler, „Der Bildersturm in Zürich 1523–1530,“ in Bildersturm: Wahnsinn oder Gottes Wille?, ed. Cécile Dupeux, Peter Jezler und Jean Wirth (Bern 2000), 75–83, hier 75, weist auf die modellhafte Wirkung Zürichs bezüglich der Bilderbeseitigung hin.



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einer systematischen und obrigkeitlich organisierten Bilderentfernung.15 Analog dazu erfolgte noch im Herbst 1524 die Säkularisierung der städtischen Klöster zugunsten eines „Gemeinen Kastens“, dem unter anderem auch die Aufwendungen für die Toten, wie etwa Jahrzeiten, Vigilien oder Lichtdonationen, einverleibt wurden. Damit einhergehend wurde auch die Messe abgeschafft. Einen gewissen Abschluss dieser evangelischen Neuorganisation städtischen Lebens bildete der Erlass einer umfassenden Almosenordnung zu Beginn des Jahres 1525 und der Schaffung eines Ehe- und im Folgejahr eines Sittengerichtes.16 In diesen reformatorischen Aktionsrahmen eingebettet, wurde am 18. November 1525 die Wegräumung der Grabsteine durch den Rat mit folgenden Worten dekretiert17: Unnser herrenn Burgermeister unnd Ratt der statt Zürich verkunndent ouch allen. unnd wollent. das die so grabstein uff den kilchöffenn hie unnd andersthwo inn der statt allennthalben habint/ die selben in monats frist dem nöchstenn. hinweg fürenn oder tragen lassent. dann wo das nit beschicht. wollent unnser herren dannenthin. die grabstein durch ire werchmeister und amptluten hinwegfürenn unnd die zu gmeyner statt nutz und notturfft verwenden lassenn. darnach wuß sich menklich zurichten.18

Den Stiftern und Besitzern der Grabmonumente wurde also per Ratsbeschluss eine einmonatige Frist gewährt, diese abzuholen, bevor sie dem Baumeister für Bauzwecke anheimfallen sollten. Der 1525 initiierte Verzicht auf Grabkennzeichnungen sollte für die Zürcher Kirche maßgeblich sein. So erwähnt der Antistes Ludwig Lavater in seiner Schrift De Ritibus et Institutiones Ecclesiae Tigurina aus dem Jahre 1559, dass in Zürich weder Grabschriften noch -steine gebräuchlich seien.19 Auch andere Städte der Eidgenossenschaft, wie Bern, St. Gallen und vor

15 Zu den detaillierten Vorgängen siehe Altendorf 1984 (wie Anm. 9), 12–14; Peter Jezler, Elke Jezler und Christine Göttler, „Warum ein Bilderstreit? Der Kampf gegen die „Götzen“ in Zürich als Beispiel,“ in, Bilderstreit: Kulturwandel in Zwinglis Reformation, ed. Hans-Dietrich Altendorf und Peter Jezler (Zürich 1984), 83–102, hier 83–99; Jezler 2000 (wie Anm. 14), 77–79. 16 Hans Berner, Ulrich Gäbler und Hans Rudolf Guggisberg, „Schweiz,“ in Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung: Land und Konfession 1500–1650, Bd. 5: Der Südwesten, ed. Anton Schindling und Walter Ziegler (Münster 1993), 278–323, hier 284  f.; Jezler 2000 (wie Anm. 14), 80. 17 Martin Illi, Wohin die Toten gingen: Begräbnis und Kirchhof in der vorindustriellen Stadt (Zürich 1992), 131. 18 Emil Egli, Hg., Actensammlung zur Geschichte der Zürcher Reformation in den Jahren 1519– 1533 (Zürich 1879), 407, Nr. 865, ebenso wie Emidio Campi und Philipp Wälchli, Hg., Zürcher Kirchenordnungen 1520–1675, Teil 1 und 2 (Zürich 2011), hier Teil 1, 32. 19 Ludwig Lavater, De Ritibus et Institutiones Ecclesiae Tigurinae, opusculum (1559), 27. Eine deutsche Übersetzung gibt Ludwig Lavater, Die Gebräuche und Einrichtungen der Zürcher Kirche,

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allem Genf, transformierten ihre Sepulkralräume ganz ähnlich. Die Bestattungsplätze der reformierten Schweiz bewahrten sich ihren damals initiierten nüchternen Charakter zum Teil bis ins 18. Jahrhundert hinein.20

4 Konstanz – „[…] uff Göttlichen eÿffer […] unser kirchen, kirchoff, sepultur zerbrochen und einen Marstall daraus gemacht […]“21 Die Bischofs- und Reichsstadt Konstanz konnte an der Wende zur Frühen Neuzeit mit einer reichen Sakraltopographie und damit verbunden auch mit einer Vielfalt an Nekropolen aufwarten, die am Vorabend der Reformation angesichts latenter Seuchenzügen Zentralisierungstendenzen durch den Rat unterworfen wurden.22 So wurde der Kirchhof von St. Jodok in der Vorstadt Stadelhofen im Jahre 1520 zu einem allgemeinen Bestattungsplatz erklärt.23 Daran anschließend folgte 1541 die

erneut herausgegeben und erweitert von Johann Baptist Ott (Zürich 1987), 116: „In der Stadt gibt es vier Friedhöfe [entsprechend den 4 Stadtkirchen], wo die Toten beigesetzt werden. Sie werden sauber gehalten, und es ist gesetzlich bestimmt, daß auf ihnen keine gewöhnlichen Tätigkeiten ausgeübt werden dürfen [um die Totenruhe nicht zu stören]. Es besteht auf ihnen kein Unterschied weder nach Standort noch Begräbnis zwischen arm und reich. Auch werden keine Grabschriften mehr auf Grabsteine oder eherne Tafeln eingegraben. Die Gräber werden nicht mit zugehauenen Grabsteinen bedeckt, damit der frühere Gräberluxus nicht wiederkehrt. Die Gebeine der Toten werden nicht zu Haufen geschichtet, sondern in der Erde vergraben, damit sie gemäß dem Wort des Herrn wieder zu Staub zerfallen.“ 20 Jan Brademann, Mit den Toten und für die Toten: Zur Konfessionalisierung der Sepulkralkultur im Münsterland (16. bis 18. Jahrhundert) (Münster 2013), 63. 21 StadtA Konstanz, A I 8 / VII, Christoph Schulthaiß Collect. VII, 58 ½, in Bezug auf den Kirchhof des Chorherrenstiftes St. Johann in Konstanz. 22 Beerdigt wurde in und um die Stifts- und Pfarrkirchen von St. Stephan, St. Johann, St. Paul und St. Jodok, wie auch auf den Bestattungsplätzen des Heilig-Geist-Spitals, der Klöster der Dominikaner, Franziskaner und Augustiner-Eremiten, der Benediktinerabtei von Petershausen und dem Augustiner-Chorherrenstift in Kreuzlingen. Darüber hinaus bestand ein Sonderbestattungsplatz für das Siechenhaus. Die Bischöfe und Domherren hatten ihre Grablegen im Münster oder dessen Kreuzgang, vgl. Konrad Beyerle, Die Geschichte des Chorstifts und der Pfarrei St. Johann zu Konstanz (Freiburg i. Br. 1908); Theodor Humpert, Chorherrenstift, Pfarrei und Kirche St. Stephan in Konstanz (Konstanz 1957), 184  ff.; Helmut Maurer, Das Stift St. Stephan in Konstanz, Germania Sacra NF 15, Bistum Konstanz, Bd. 1 (Berlin / New York 1981), 24–25, 218  ff. und vor allem der umfangreiche Aufsatz von Gernot Blechner, „Wo die Konstanzer ihre Toten begruben: Von den römischen Straßengräbern zum Hauptfriedhof,“ Das DelphinBuch 8 (2006), 218–335. 23 Blechner 2006 (wie Anm. 22), 282.



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Anlage eines ersten regulären außerstädtischen Friedhofs auf dem Gelände des ehemaligen Schottenklosters, das mittlerweile in den Besitz der Stadt übergegangen und abgebrochen worden war.24 Zugleich wurden alle Friedhöfe intra muros, mit Ausnahme von St. Jodok, geschlossen, womit zukünftig nur noch dort und bei den Schotten beerdigt werden konnte.25 Inzwischen hatte seit den frühen 1520er Jahren die Reformation in der Bodenseestadt Einzug gehalten, und der Bischof und seine Domherren waren seit 1527 in Meersburg beziehungsweise Überlingen ins Exil gegangen.26 Zugleich wurde das monastische Leben aufgehoben und die Klöster lösten sich auf, wie auch kurz danach die Stifte.27 Folglich kam der altgläubige Gottesdienst weitgehend zum Erliegen, wobei die Messe endgültig erst im Frühjahr 1528 abgeschafft wurde. Gleichzeitig wurden die Bildwerke aus den Kirchenräumen der Reichsstadt entfernt.28 Zwecks politischer Absicherung dieser reformatorischen Maßnahmen trat Konstanz 1530 zusammen mit Straßburg, Memmingen und Lindau der so genannten Confessio Tetrapolitana bei. Die Folgezeit sah dann die innere Festigung und Vollendung der Reformation. Vor diesem Hintergrund begann die Stadt nun auch die Kirchhöfe der Pfarrund der verwaisten Stifts- wie auch Klosterkirchen massiv umzugestalten, um nun die „[…] gantze, volle, satte reformation […] aller ding […]“ umzusetzen, wie sich Ambrosius Blarer in einem Brief an Martin Bucer im Dezember 1543 ausdrückte.29 So wurden 1544 die Kirchhofmauern von St. Paul und des Franzis-

24 Zu den genauen Vorgängen vgl. Gernot Blechner, „Die Konstanzer Schottenkapelle: Ein kleines Baudenkmal mit einer wechselhaften Tradition,“ Die Kulturgemeinde. Monatsblatt der Volksbühne Konstanz e. V. 19 (1977), 2–4 und Wolfgang Dobras, „Konstanz zur Zeit der Reformation,“ in Konstanz in der frühen Neuzeit: Reformation, Verlust der Reichsfreiheit, Österreichische Zeit, Geschichte der Stadt Konstanz, ed. Martin Burkhardt, Wolfgang Dobras und Wolfgang Zimmermann, Bd. 3 (Konstanz 1991), 11–146, hier 73. 25 Blechner 2006 (wie Anm. 22), 230; 243; 284. 26 Zur Konstanzer Reformationsgeschichte vgl. Martin Brecht und Hermann Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte: Zur Einführung der Reformation im Herzogtum Württemberg 1534 (Stuttgart 1984), 63–64, 161–163, wie auch Dobras 1991 (wie Anm. 24). 27 Exemplarisch dazu die Übereignung von St. Stephan an die Stadt 1527, vgl. Otto Feger, „Die Übereignung von St. Stephan zu Konstanz an die Stadt 1527: Ein Beitrag zur Konstanzer Reformationsgeschichte,“ Freiburger Diözesanarchiv 69 (1950), 237–244. 28 Hans-Christoph Rublack, „Reformation in Vorderösterreich und Konstanz,“ in Luther und die Reformation am Oberrhein: Eine Ausstellung der Badischen Landesbibliothek und der Evangelischen Landeskirche in Baden in Zusammenarbeit mit dem Generallandesarchiv Karlsruhe und dem Melanchthonverein, Bretten, ed. Badische Landesbibliothek (Karlsruhe 1983), 103–127, hier 124. 29 Zitatauszug aus Traugott Schieß, Briefwechsel der Brüder Ambrosius und Thomas Blaurer 1509–1548, Bd. II (Freiburg i. Br. 1910), hier Bd. 2, Nr. 1049, 219  f.

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kanerklosters abgebrochen.30 Im folgenden Jahr 1545 musste dann die Kirchhofmauer um St. Stephan weichen. Die Grabmonumente wurden abgeräumt und der Kirchhof selbst eingeebnet.31 Auch die darauf befindliche Friedhofskapelle, die als Karner fungierte, wurde wohl abgerissen.32 Der so entstandene Platz wurde nunmehr als Marktplatz, dem so genannten „Schnettermarkt“, weiter genutzt. Auch der dem Augustiner-Eremitenkloster zugehörige Bestattungsplatz wurde 1545 dem Erdboden gleichgemacht und die Grabmonumente samt dem Beinhaus abgebrochen, um die vorbeiführende Straße zu erweitern.33 Ebenso erging es dem Kirchhof, dem Beinhaus und den Grabsteinen der Stiftskirche St. Johann.34 Selbst der Münsterkirchhof wurde nicht verschont und die umfassende Kirchhofmauer wurde demoliert.35

5 Lindau – „[…] der Kirchhof zu St. Steffan weg geraumt, und/ der Steeg dahin an baumgarten mit Grabsteinen/ besezt, und alles abgeebnet und abgetragen“36 Das vorreformatorische Lindau besaß mehrere Bestattungsplätze auf der ummauerten Stadtinsel, die sich die Reichsstadt mit dem benachbarten reichsunmittelbaren Benediktinerinnenstift teilen musste. Der primäre Bestattungsplatz für die Bürger lag im Kirchhof der Leutekirche St. Stephan, der sich auf das Areal zwischen der Stadtpfarrkirche und der Stiftskirche erstreckte.37 Zudem verfügte

30 Blechner 2006 (wie Anm. 22), 240, 266; Jörg Vögeli, Schriften zur Reformation in Konstanz 1519–1538: Mit Gregor Mangolts Konstanzer Reformationsgeschichte von 1562 zum Vergleich. Erste Gesamtausgabe. Bearbeitet und aus zeitgenössischen Quellen ergänzt und erklärt von Alfred Vögeli, I. Halbband: Texte und Glossar (Tübingen u.  a. 1972), 562. 31 Humpert 1957 (wie Anm. 22), 124; Maurer 1981 (wie Anm. 22), 20, 24–25; StadtA Konstanz, A I 8 / VII, Christoph Schulthaiß Collect. VII, 58 ½. 32 Blechner 2006 (wie Anm. 22), 231. 33 Konrad Beyerle, Das ehemalige Augustinerkloster zu Konstanz (Konstanz 1905), 29. 34 Beyerle 1908 (wie Anm. 22), 278–279; Blechner 2006 (wie Anm. 22), 236. 35 Laut Christoph Schulthaiß soll dies bereits 1538 geschehen sein, vgl. StadtA Konstanz, A I 8 / IV, Christoph Schulthaiß Collect. IV, 27, demgegenüber überliefert Gregor Mangolt das Jahr 1545. 36 StadtA Lindau, Lit. 33, Rönnich, Annales Lindavienses, Bd. I, 220. 37 Rosmarie Auer, Der alte Lindauer Friedhof in Aeschach, Neujahrsblatt 43 des Museumsvereins Lindau (Lindau 2003), 13. Das Stift und seine Angehörigen verfügten über separate Begräbnisstätten im Klosterbereich.



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das Franziskanerkloster seit 1296 über das ius sepulturae.38 Vor dem Hintergrund seuchenhygienischer Aspekte wurden die innerstädtischen Kirchhöfe ab 1520 nicht mehr belegt. Ersatz bot ein neuer ab 1510 angelegter Begräbnisplatz auf dem Festland in Aeschach. In der Inselstadt war reformatorisches Gedankengut ebenfalls bereits in den frühen 1520er Jahren virulent. Ab 1528 wurde die bürgerliche Kommune dann im Sinne der Reformation umgestaltet.39 Nachdem 1525 das Abendmahl erstmals in beiderlei Gestalt gereicht worden war, wurden 1528 die Messe und 1530 die Bilder abgeschafft. Abgesichert wurden diese Aktionen durch die Unterzeichnung der Confessio Tetrapolitana.40 Auf dieser Basis erfolgten dann 1533 die Errichtung einer Armenordnung und 1534 der Versuch, die Reformation auch im städtischen Territorium zu etablieren. Parallel dazu wurden die Lindauer Bestattungsplätze im Sinne der neuen Lehre umgeformt. Ein Anfang wurde zunächst mit dem Abbruch der Beinhauskapelle auf dem Kirchhof zwischen St. Stephan und dem Marienmünster des Klosters gemacht. Dieser aus dem 14. Jahrhundert stammende Rundbau wurde 1526 abgebrochen.41 Im Jahre 1529 folgte dann die Abtragung des eigentlichen Kirchhofes zwischen St. Stephan und der Stiftskirche. Die Kirchhofmauer wurde genauso entfernt wie die Grabsteine, die als Straßenbelag erneut Verwendung fanden. Dem so entstandenen freien Platz wurde der zuvor am Alten Markt angesiedelte Obst-, Besen- und Hanfmarkt zugewiesen.42 Die Vollendung

38 Allgemein zu den Lindauer Barfüßern vgl. Sigismund Keck, „Lindau, Franziskaner-Konventualen,“ in Bavaria Franciscana Antiqua (Ehemalige franziskanische Niederlassungen im heutigen Bayern): Kurze historische Beschreibungen mit Bildern, ed. von der bayerischen Franziskanerprovinz, Bd. V (München 1961), 551–604 und Johann Baptist Wolfgruber, „Die Barfüßer- spätere Dreifaltigkeitskirche in Lindau,“ Bodensee Heimatschau 18 / 6 (1938), 21–23. 39 Zur Reformation in Lindau vgl. Brecht / Ehmer 1984 (wie Anm. 26), 77–78, 165; Peer Frieß, „Wider Papst und Kaiser – Lindau im Zeitalter der Reformation,“ in Die Reformation in Lindau, ed. Museumsverein Lindau e. V., Neujahrsblatt 47 (2007), 17–42; Albert Schulze, Bekenntnisbildung und Politik Lindaus im Zeitalter der Reformation (Nürnberg 1971); grundlegend Karl Wolfart, Hg., Geschichte der Stadt Lindau im Bodensee, Bd. I, 1. Abteilung (Lindau 1909, ND 1979), 251  ff. 40 Dazu speziell Bernd Moeller, „Die Confessio Tetrapolitana als Station der Lindauer Reformation,“ in Die Reformation in Lindau, ed. Museumsverein Lindau e. V., Neujahrsblatt 47 (2007), 43–62. 41 Wolfart 1909 (wie Anm. 39), 302; StadtA Lindau, Lit. 25, Neukomm’sche Chronik, 86; StadtA Lindau, Lit. 143; Gunter Kilian, Die mittelalterliche Stadtanlage Lindau, (maschinenschr. Diss. Freiburg 1951), 44. 42 Auer 2003 (wie Anm. 37), 24; Wolfart 1909 (wie Anm. 39), 302; StadtA Lindau, Lit. 18, Jacob Lynn, Annales Lindavienses, 169–170; StadtA Lindau, Lit. 19, Bertlin’sche Chronik, 427; StadtA Lindau, Lit. 22, Hünlin’sche Chronik, 195; StadtA Lindau, Lit. 23, Krölls Annalen, 134; StadtA Lindau, Lit. 24, Kröl-Neukom’sche Chronik, 50; StadtA Lindau, Lit. 25, Neukomm’sche Chronik, 255;

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der Kirchhofeinebnung wird in den zeitgenössischen Quellen in die Zeit zwischen 1538 und 1540/41 gesetzt. 1541 jedenfalls wurde als krönender Abschluss auf dem neu geschaffenen Platz eine symbolträchtige Aufführung zelebriert: Die Annales Lindavienses aus der Feder des Jacob Lynn vermelden, am „19. Junÿ hatt man die Judith gar Kösstlich auff/ dem Kirchhoff gespilet.“43 Der Raum, der zuvor über Jahrhunderte eine Stätte der Toten war, der unter seiner Oberfläche deren sterbliche Überreste barg und auf dem mittels Grabkennzeichnungen wie Grabsteinen oder -platten die Möglichkeit zur konkreten Fürbitte gegeben war, wurde nun unter reformatorischen Vorzeichen abgeräumt und gemäß der neuen Lehre purifiziert. Als Abschluss und Höhepunkt dieses Transformationsprozesses wurde ein Reformationsdrama genau an diesem Ort inszeniert, auf dem nun umgedeutet und neu genutzt, die Bürgerschaft im reformatorischen Sinne belehrt wurde.44 Der Platz blieb in der Folgezeit bis heute als offener Raum erhalten. Auch der Bestattungsplatz bei den Barfüßern wurde berührt. Die letzten Franziskanerbrüder überschrieben im Januar 1528 ihr Kloster samt allen Rechten der Stadt und machten damit den Weg frei.45 Im Jahre 1530 wurde die Kirchhofmauer abgebrochen, die Kreuze und Epitaphien weggeräumt und das ganze Areal

StadtA Lindau, Lit. 28, Chronik von Lindau (Stolze-Pfister), 129; StadtA Lindau, Lit. 33, Rönnich, Annales Lindavienses, Bd. II., 173; StadtA Lindau, Lit. 84, Wolfgang Bensperg, Chronik Lindauer Kirchen, 5; StadtA Lindau, Lit. 143, Kilian 1951 (wie Anm. 41), 44; Archiv des Ev.-Luth. Pfarramtes Lindau St. Stephan, Nr. 165, Geschichtliche Notizen über die Prediger von Lindau 1522–ca. 1830, 4. 43 StadtA Lindau, Lit. 18, Jacob Lynn, Annales Lindavienses, 256; Wolfart 1909 (wie Anm. 39), 402 und darüber hinaus auch Ferdinand Eckert, „Geschichte der Lateinschule Lindau: Festschrift zum Gedächtnis der Gründung der Lateinschule Lindau vor 400 Jahren 1528–1928,“ Neujahrsblätter des Museumsvereins Lindau (Bodensee), Nr. 8 (Lindau 1928), 10 erwähnen das Theaterstück, ohne eine Quelle anzugeben. Lynns Annales sind die einzige Chronik, die diese Aufführung überliefert. 44 Bei dem Judith-Drama handelt es sich wohl um ein Werk von Sixt Birck. An dieser Stelle sei Judith Pfeiffer herzlich für ihre Informationen und den anregenden Austausch zu Birck und seinem Judith-Stoff gedankt! Auch im reformatorischen Nürnberg wurden auf den kurz zuvor aufgelassenen innerstädtischen Kirchhöfen „Comedien“ gespielt, vgl. Hubert Mattausch, Das Beerdigungswesen der freien Reichsstadt Nürnberg (1219–1806): Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung an Hand der Ratsverlässe und der vom Rat erlassenen Leichenordnungen (München 1970), 11. 45 Zur Auflösung des Konvents und deren Inkorporation durch den Magistrat vgl. Schulze 1971 (wie Anm. 39), 28; Wolfart 1909 (wie Anm. 39), 267–268, wie auch den Verzichts- und Auflösungsbrief von 1528 in Kopie im StadtA Lindau, A 72, 5.



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eingeebnet, um ebenfalls eine Freifläche zu erhalten, auf der nun der Brettermarkt erweitert wurde.46 Auch das dort vorhandene Beinhaus wurde eliminiert.47

6 Memmingen – „Sant martins pfleg will man lassen die Stain/ auff dem Kirchhof […] und nymant kain lassen und den Kirchhof/ zwein schuch tieff graben lassen“48 Auch das spätmittelalterliche Memmingen wies eine Vielzahl an inner-, aber auch außerstädtischen Sepulturen auf, die alle mit einer Kirche oder Kapelle verbunden waren. In der Stadt existierten folgende Bestattungsplätze: Die ältesten Nekropolen befanden sich zum einen um die Pfarrkirche St. Martin49, die dem Antoniterorden50 unterstand, und zum anderen im Kirchhof der zweiten Pfarrkirche Unser Lieben Frauen51, die dem Heilig-Geist-Orden inkorporiert war. Außerdem existierte ein weiterer Bestattungsplatz direkt südlich der Kreuzherrenkirche für die Insassen des Heilig-Geist-Spitals. Östlich der Stadt vor den Mauern konnte zudem noch das im 12. Jahrhundert gegründete benediktinische Schottenkloster

46 Keck 1961 (wie Anm. 38), 576; Wolfart 1909 (wie Anm. 39), 302; Wolfgruber 1938 (wie Anm. 38), 22. Daneben berichtet die Lindauer Chronistik über die Maßnahme: StadtA Lindau, Lit. 18, Jacob Lynn, Annales Lindavienses, 171; StadtA Lindau, Lit. 19, Bertlin’sche Chronik, 430; StadtA Lindau, Lit. 23, Krölls Annalen, 135; StadtA Lindau, Lit. 22, Hünlin’sche Chronik, 195; StadtA Lindau, Lit. 25, Neukomm’sche Chronik, 256; StadtA Lindau, Lit. 33, Rönnich, Annales Lindavienses, Bd. I, 354; StadtA Lindau, Lit. 84, Wolfgang Bensperg, Chronik Lindauer Kirchen, keine Paginierung hier; StadtA Lindau, Lit. 143, Kilian 1951 (wie Anm. 41), 50. 47 Es befand sich wohl in der Nähe der Ecke zur heutigen Ludwigstraße, vgl. Keck 1961 (wie Anm. 38), 582; StadtA Lindau, Lit. 143, Kilian 1951 (wie Anm. 41), 50. 48 StadtA Memmingen, A RP 1535, Ratsprotokoll vom 05. 11. 1535, 33r. 49 Grundlegend zur Martinskirche Günther Bayer, St. Martin und Kinderlehrkirche Memmingen (Memmingen 2006), wie auch Balthasar von Ehrhart, Geschichtliche Beschreibung der protestantischen Haupt-Pfarrkirche zu St. Martin in Memmingen (Memmingen 1846). 50 Zur Geschichte des Ordens siehe die Arbeiten des Antoniterexperten, exemplarisch für die Memminger Niederlassung, Adalbert Mischlewski, „Klöster und Spitäler in der Stadt (Antoniter, das Schottenkloster),“ in Die Geschichte der Stadt Memmingen: Von den Anfängen bis zum Ende der Reichsstadt, ed. Joachim Hahn, Wolfgang Bayer und Uli Braun (Stuttgart 1997), 247–291. 51 Friedrich Braun, Die Stadtpfarrkirche zu Unser Frauen in Memmingen: Ein Beitrag des oberschwäbischen Kirchenbaus (Kempten / München 1914); Theophil Haffelder, Die Geschichte der Frauenkirche von Memmingen mit neuen Erkenntnissen vom Ursprung der Frauenkirche und mit ihren Pfarrern (Memmingen 2000).

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mit einem Begräbnisplatz aufwarten.52 Dazu kam noch der Friedhof bei St. Leonhard, der Kapelle der Sondersiechenniederlassung, die sich ebenfalls außerhalb der Stadtmauern, noch weiter östlich des Schottenklosters, an der Augsburger Straße befand. Ähnlich wie in Konstanz und Lindau wurde auch in Memmingen um das Jahr 1520 aufgrund hygienischer Probleme eine Verlegung der Begräbnisse extra muros diskutiert.53 Endgültig realisiert wurde dieses Ansinnen dann im Jahre 1529 auf dem Areal des mittlerweile in den Besitz der Stadt übergegangenen Schottenklosters, das dazu komplett abgebrochen worden war. Inzwischen hatte sich die Reformation – trotz einer durch den Bauernkrieg bedingten kurzen Unterbrechung – in der Reichsstadt etablieren können.54 1527 wurden die Stiftungen mit Einverständnis des Magistrats aus dem Kirchengut herausgelöst und dem „Allgemeinen Kasten“ zugeführt, was parallel zur Einführung einer neuen, nun unter dezidiert reformatorischen Vorzeichen stehenden Bettelordnung geschah. Mit der endgültigen Abschaffung der Messe im Dezember 1528 wurden schließlich auch die Jahrtage nicht mehr gehalten. Im Jahre 1531 erfolgte dann die Bilderentfernung.55 Dennoch musste die protestantische Reichsstadt, die 1530 ebenfalls als Mitunterzeichnerin des Vierstädtebekenntnisses aufgetreten war, bis zum Ende ihrer Reichsunmittelbarkeit geistliche katholische Institutionen, wie etwa die schon erwähnten Kreuzherren, die Konvente der AugustinerEremiten wie auch der Franziskanerinnen, innerhalb ihrer Mauern dulden.56 Von diesen reformatorischen Umbrüchen blieben auch die Memminger Bestattungsplätze nicht unberührt. So berichtet das Ratsprotokoll vom 5. November 1535: „Sant martins pfleg will man lassen die Stain/ auff dem Kirchhof

52 Helmut Flachenecker, „Das mittelalterliche Schottenkloster St. Nikolaus zu Memmingen,“ Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 109 (1998), 185–209, hier 190. 53 Christa Koepff und Christoph Engelhard, Der Alte Friedhof in Memmingen, Materialien zur Memminger Stadtgeschichte, Reihe B: Forschungen, hrsg. vom Stadtarchiv Memmingen (Memmingen 2000), 11; Julius Miedel, „Von Memminger Friedhöfen,“ Memminger Geschichtsblätter 6 / 3 (1920), 23–24. 54 Zur Reformation in Memmingen vgl. exemplarisch Peter Blickle, „Memmingen – ein ­Zentrum der Reformation,“ in Die Geschichte der Stadt Memmingen: Von den Anfängen bis zum Ende der Reichsstadt, ed. Joachim Hahn, Wolfgang Bayer und Uli Braun (Stuttgart 1997), 349–418; Peer Frieß, „Die Zeit der Ratsreformation in Memmingen,“ in ebd., 419–456; Barbara Kroemer, Die Einführung der Reformation in Memmingen, Memminger Geschichtsblätter 1980 (Memmingen 1981); Wolfgang Schlenck, Die Reichsstadt Memmingen und die Reformation, Memminger Geschichtsblätter 1968 (Memmingen 1969). 55 Koepff / Engelhard 2000 (wie Anm. 53), 8; Litz 2007 (wie Anm. 8), 145  ff.; Schlenck 1969 (wie Anm. 54), 62. 56 Frieß 1997 (wie Anm. 54), 428  f.



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aufheb die sollens auch behalten/ und nymant kain lassen und den Kirchhof/ zwein schuch tieff graben lassen.“57 Der Kirchhof wurde also von Grabsteinen gesäubert und abgegraben. Zudem klingt die Möglichkeit für die Besitzer durch, die Totenmale vorher abzuholen, bevor sie der Kirchenpflege zur weiteren Verwendung überlassen werden sollten. Tatsächlich belegt dies ein von Johannes Oekolampad und Martin Bucer verfasstes Schrei­ben, das sie an den Rat der Stadt Memmingen richteten, aus dem hervorgeht, dass den Stiftern die Option geboten wurde, ihre „bild und grabstein zu sich zu nemmen“58. Darüber hinaus wurde auch der Bestattungsplatz des Spitals eingeebnet und abgegraben. Dies soll bereits im Jahre 1528 geschehen sein, was die durchgreifende und entschlossene Reformierung des Unterhospitals durch den Rat anschaulich illustriert, die zeitgleich in diesem Jahr durchgeführt wurde.59 Auch der Kirchhof um die Frauenkirche wurde eilig auf Geheiß des Rats umgestaltet, indem die Kirchhofmauer umgelegt und die wohl als Beinhaus dienende Michaels-Kapelle abgebrochen wurde.60 Begünstigt wurde dies durch die Schwäche und das vorübergehende Exil der Kreuzherren und ihres Spitalmeisters.

7 Resümee Die Nivellierung der Kirchhöfe und das Abräumen der Grabmonumente geschah in den oberschwäbischen Reichsstädten Konstanz, Lindau und Memmingen zu einer Zeit, als sich dieselben auf dem Höhepunkt ihrer jeweiligen reformatorischen Bewegung befanden. Dabei befanden sie sich ausnahmslos in einer Phase, in der geistliche Korporationen oder andere altgläubige Institutionen, die meist die Rechte an den städtischen Sakraleinrichtungen und Nekropolen innehatten, aufgrund der reformatorischen Ereignisse in die Defensive gedrängt worden waren und in vielen Fällen sogar die jeweiligen Städte verlassen hatten.

57 StadtA Memmingen, A RP 1535, Ratsprotokoll vom 05. 11. 1535, 33r.; StadtA Memmingen, A Handschriftliche Chroniken, 2, 28 a 4, Vollständige Memminger-Kronik von J. F. Unold, 2 Bde., hier Bd. I, 1826, ohne Paginierung, siehe Eintrag zum Jahr 1535. 58 Ernst Staehlin (Bearb.), Briefe und Akten zum Leben Oekolampads: Zum vierhundertjährigen Jubiläum der Basler Reformation, hg. von der theologischen Fakultät der Universität Basel, Bd. II: 1527–1593 (Leipzig 1934), 619. Das in Biberach entstandene Schriftstück datiert bereits auf den 6. Juli 1531. 59 Friedrich Döderlein, Hg., Memminger Chronik des Friedrich Clauß, umfassend die Jahre 1826–1892 (Memmingen 1894), 153. 60 Haffelder 2000 (wie Anm. 51), 51.

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Die Einebnung der Kirchhöfe und Beseitigung der Grabmonumente passierten, nachdem die Messe und somit das altgläubige Totenbrauchtum eingestellt worden waren. Diese Umgestaltungen des sepulkralen Raumes wurden häufig im nachgeordneten Rahmen oder als Vervollständigung der Bilderentfernung praktiziert. Dennoch gab es Ausnahmen, wie etwa im Falle des Spitalfriedhofes der Memminger Kreuzherren oder dem Beinhaus auf dem Lindauer Kirchhof von St. Stephan, die verhältnismäßig „früh“ beseitigt worden sind. Dabei mag die momentane Machtfülle des Rates eine Rolle gespielt haben, wie etwa im Memminger Fall, wo gegenüber den Spitalbrüdern kurzerhand bauliche Fakten geschaffen wurden. In Lindau mag man an eine ebenso bewusste Machtdemonstration gegenüber dem unmittelbar benachbarten adeligen Damenstift denken. Durchgängig wurde dabei den Stiftern und Eignern der sepulkralen Objekte eingeräumt, dieselben wieder an sich zu nehmen, bevor sie der öffentlichen Hand überantwortet wurden. Diese „recycelte“ die steinernen Grabmonumente nach Aussage der Quellen besonders häufig zu Straßen- und Platzbelägen. Im Memminger Fall wird vermutet, dass das Abbruchmaterial der Kirchhofmauer der Frauenkirche zum Ausbau der Stadtbefestigung verwendet wurde.61 Hintergrund dafür bildete der für die Protestanten ungünstige Reichsabschied von 1529, der in der Stadt Bedrohungsszenarien in Gestalt militärischer Interventionen altgläubiger Reichsstände evozierte.62 Offen bleiben muss, ob auch Grabmonumente zum Festungsbau verwendet wurden, wie etwa in Zürich, wo ein Grabstein im so genannten Oetenbachbollwerk in einer Schießscharte vermauert wurde.63 Besser dokumentiert und erforscht sind ganz ähnliche Begebenheiten im Münsteraner Täuferreich des Jahres 1534. Hier wurden unter massivem außenpolitischem Druck Bildwerke und vor allem Grabsteine und Epitaphien zum Ausbau der städtischen Wehrbauten verwendet.64 Die nun geschaffenen freien Flächen der vormaligen Kirchhöfe wurden häufig zur Erweiterung der binnenstädtischen Verkehrsinfrastruktur verwendet oder aber als offene Plätze konzipiert, auf denen die städtischen Märkte, meist

61 So Karl Fackler, Das alte Memmingen: Die baugeschichtliche Entwicklung der Stadt Memmingen von der Zeit ihrer Gründung bis zum Dreißigjährigen Kriege (Memmingen 1929), 43. 62 Zur genauen außenpolitischen Lage Memmingens im Jahre 1529 siehe Peer Frieß, Die Außenpolitik der Reichsstadt Memmingen in der Reformationszeit (1517–1555) (Memmingen 1993), besonders ab 97  ff. 63 Jezler 2000 (wie Anm. 14), 76. 64 Karl-Heinz Kirchhoff, „Bodenfunde aus der Täuferzeit in den Festungswerken der Stadt Münster,“ Westfalen: Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde 61 / II (1983), 1–8; Martin Warnke, „Durchbrochene Geschichte? Die Bilderstürme der Wiedertäufer in Münster 1534 / 35,“ in Bildersturm: Die Zerstörung des Kunstwerks, ed. Martin Warnke (München 1973), 65–99, hier 86.



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in erweiterter Form, angesiedelt wurden. Vor allem in Konstanz und Lindau lässt sich diese Weiternutzung anschaulich nachvollziehen. Insbesondere das Lindauer Beispiel markiert durch die Aufführung des Judith-Dramas die Neu­ interpretation des ehemaligen Kirchhofgeländes offenkundig. Die durch die aufgelassenen Kirchhöfe entstandenen Plätze blieben bis in die Gegenwart bestehen und wurden, wenn überhaupt, nur am Rande überbaut. Demgegenüber fielen die Begräbnisplätze der monastischen Gemeinschaft eher einer baulichen Überformung anheim, was wahrscheinlich mit ihrer überwiegend peripheren Lage im städtischen Weichbild zu erklären ist, die offene Plätze hier nicht notwendig erscheinen ließ. An dieser Stelle sei auf die stadtplanerische Komponente verwiesen, die mit der Schaffung neuer Plätze konstatiert werden kann. Die angeführten Beispiele haben gezeigt, dass die Schaffung des „kommunalen Platzes“65 in den oberdeutschen Städten unter anderem mit den reformatorisch motivierten Kirchhofeinebnungen einherging und somit diese religiösen Wissensbestände tiefgreifende, raumsoziologische Transformationen im Stadtraum mit sich gebracht haben.66 Eine gewisse Erleichterung zur Durchführung dieser reformatorischen Umgestaltungen mag dem Umstand geschuldet gewesen sein, dass auf den hier behandelten Kirchhöfen zur Zeit ihrer „Säuberung“ nicht mehr regulär bestattet wurde. Alle besprochenen Städte hatten bereits zuvor neue außerstädtische Bestattungsplätze eröffnet, ohne dass dies eine direkte Folge der Reformation gewesen ist. Nur Zürich war davon ausgenommen, das entgegen entsprechenden Planungen 65 Das Konzept vom „kommunalen Platz“ beziehungsweise die „Entdeckung“ desselben geht auf Daniel Gutscher zurück, welches von Carsten Igel weiterentwickelt und von Bern auf Osnabrück übertragen wurde. Dabei wird unter „kommunalem Platz“ ein Raum verstanden, der nicht unter dem Einfluss stadtherrlicher oder geistlicher Institutionen, sondern auf Initiative der Kommune beziehungsweise des Rates als deren Repräsentant, angelegt wurde, vgl. dazu Karsten Igel, „Die Entdeckung des Platzes: Die Entstehung und Gestaltung kommunaler Plätze – Methoden ihrer Erforschung,“ in Die mittelalterliche Stadt erforschen – Archäologie und Geschichte im Dialog, ed. Armand Baeriswyl, Georges Descoeudres, Martina Stercken und Dölf Wild, Beiträge der Tagung „Geschichte und Archäologie: Disziplinäre Interferenzen“ vom 7. bis 9. Februar 2008 in Zürich (Basel 2009), 79–88, vor allem 79. 66 Siehe auch Armand Baeriswyl, „Lebensräume und Strukturwandel,“ in Zwischen Tradition und Wandel: Archäologie des 15. und 16. Jahrhunderts, ed. Barbara Scholkmann, Sören Frommer, Christina Vossler und Markus Wolf, Tübinger Forschungen zur historischen Archäologie, Bd. 3 (Büchenbach 2009), 357–369, hier 361 zu Veränderungen im spätmittelalterlichen beziehungsweise frühneuzeitlichen Stadtgefüge und der Bebauungsstruktur, die er unter anderem auch in der Profanierung ehemaliger Nekropolen zur Schaffung neuer Plätze erblickt. Zu aktuellen Ansätzen der Raumsoziologie, speziell in urbanen Kontexten, siehe exemplarisch Martina Löw, „Epilog,“ in Zwischen Gotteshaus und Taverne: Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, ed. Susanne Rau und Gerd Schwerhoff (Köln 2004), 463–468.

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an den tradierten Kirchhöfen intra muros bis ins 17. Jahrhundert hinein festhielt.67 Hier muss der Bruch besonders krass in Erscheinung getreten sein, wurden doch Bestattungsplätze massiv verändert, die noch in vollem Gebrauch standen.

8 Die Wiederbelebung der innerstädtischen Kirchhöfe und Sepulkralkultur im Gefolge von Interim und Augsburger Religionsfrieden Der sepulkrale Minimalismus, der sich im Gefolge der oberdeutschen Reformation im Verzicht auf Grabmonumente und kahlen Kirchhöfen manifestierte, erlebte nach Mitte des 16. Jahrhunderts eine langsame Aufweichung. Ganz allgemein lässt sich nun ein Wiederaufleben der Grabmalskultur sowohl in der Eidgenossenschaft wie auch in Oberschwaben ausmachen. Eine Entsagung sepulkraler Repräsentanz ließ sich, speziell in den sozial gehobenen Kreisen des städtischen Bürgertums, nicht langfristig durchsetzen. In den oberschwäbischen Reichsstädten zeichneten hierfür vor allem die politischen Ereignisse des Interims von 1548, wie auch des Augsburger Religionsfriedens von 1555 verantwortlich. Nach dem Sieg Kaiser Karls V. über die protestantischen Reichsstände im Schmalkaldischen Krieg mussten sich auch die oberdeutschen Reichsstädte dem Reichsoberhaupt unterwerfen und wurden zur Annahme des Interims gezwungen, das vorübergehend den alten Glauben weitgehend wieder herstellte, bevor ein allgemeines Konzil die durch die Reformation hervorgerufene Glaubensspaltung beseitigen sollte.68 Die Realität sah dann eine  – wenn auch oberflächliche – Rückkehr zu den vorreformatorischen Zuständen und der Wiedereinführung des alten Kultus, mit allem, was dazu gehörte. Das in Augsburg verkündete Interim verlangte ausdrücklich die Verehrung der Heiligen und unterstrich damit auch die Wirksamkeit ihrer Fürbitten. Folglich wurde auch um das Gebet für die Toten angehalten und somit die Communio sanctorum bekräftigt. Damit einhergehend sollte auch die materielle Ausstattung sakraler Räume gewährleistet werden, um den Kern des Interims, die Wiedereinführung der Messfeier, korrekt zu gewährleisten. Neben Altären, Priesterornaten und Abend-

67 Vgl. dazu Illi 1992 (wie Anm. 17), 131. 68 Zum Augsburger Interim und seinen Aspekten vgl. die Beiträge im Sammelband von Luise Schorn-Schütte, Hg., Das Interim 1548 / 50: Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt (Heidelberg 2005) und natürlich grundlegend Horst Rabe, Reichsbund und Interim: Die Verfassungs- und Religionspolitik Karls V. und der Reichstag von Augsburg 1547 / 1548 (Köln 1971).



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mahlsgeräten sollten auch Fahnen, Kreuze, Kerzen, Bilder und Gemälde wieder angeschafft werden.69 Obwohl von den Kirchhöfen und ihrer Ausstattung nicht direkt die Rede ist, wurde auch dieser Bereich im Zuge der praktischen Durchführung des Interims reaktiviert, um eben konsequent alle Einschränkungen der altgläubigen Verhältnisse durch die Reformation zu beseitigen.

9 Die Rückkehr zum alten Glauben und den ­innerstädtischen Kirchhöfen in Konstanz, Lindau und Memmingen in Folge des Interims Besonders anschaulich führen das die Ereignisse in Konstanz vor Augen. Hier verlief die Wiedereinführung des alten Glaubens besonders dramatisch und von den benachbarten Reichsstädten deutlich verschieden. Die Reichsstadt am Bodensee hatte sich nach dem Schmalkaldischen Krieg dem Kaiser nicht beugen wollen. Das Reichsoberhaupt spielte nun die militärische Option aus und nahm Konstanz 1548 gewaltsam ein, wodurch es seine Reichsfreiheit einbüßte und zu einer vorderösterreichischen Landstadt degradiert wurde. Damit einhergehend kehrten die exilierten Konvente wieder zurück und die Stadt wurde rekatholisiert.70 Die Bürgerschaft wurde vertraglich dazu verpflichtet, die durch die Reformation enteigneten und geschädigten geistlichen Institutionen wieder in all ihre Rechte und Besitztümer zu setzen und so zu entschädigen, dass die vorreformatorischen Zustände wieder hergestellt waren. Darunter fielen auch die erst vor wenigen Jahren beseitigten Kirchhöfe, die wieder aufgerichtet werden sollten. So wurde beispielsweise zwischen der Stadt und dem Stift St. Stephan auf Weisung des Kaisers vereinbart, erneut eine sieben Schuh hohe Mauer um den Kirchhof durch die Bürgerschaft aufführen zu lassen.71 Da sich die tatsächliche Realisierung durch die Stadt verzögerte, wurden 1558 noch zusätzliche Abkommen zwischen der Stadt und den Konventen unterzeichnet. Im Frühjahr 1561 war es dann soweit: Die Kirchhofmauern wurden inklusive Toren und Steintreppen auf den

69 Joachim Mehlhausen, Hg., Das Augsburger Interim von 1548. Deutsch und lateinisch (Neukirchen-Vluyn 1970), 136–138 (hier die deutsche Übersetzung). 70 Rekatholisierung und katholische Konfessionalisierung sind für Konstanz intensiv von Wolfgang Zimmermann, Rekatholisierung, Konfessionalisierung und Ratsregiment: Der Prozeß des politischen und religiösen Wandels in der österreichischen Stadt Konstanz 1548–1637 (Sigmaringen 1994) untersucht worden. 71 StadtA Konstanz, A I 8 / VIII, Christoph Schulthaiß Collect. VIII, 48.

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alten Fundamenten wieder errichtet und endlich konnte der baulich restituierte Stephanskirchhof feierlich durch den Konstanzer Weihbischof Jakob Eliner am Nikolaustag „[…] mit gewonliche Ceremonien und Solomiteten“72 benediziert und seiner neuen alten Bestimmung als Bestattungsplatz übergeben werden. Analog zu St. Stephan erhielten die Stifts- und Pfarrkirchen von St. Johann73, St. Paul74, die Augustiner-Eremiten75 und die Franziskaner76 ihre Kirchhöfe zurück. Die Einfassung des Dombezirks, genauer des unteren Münsterhofes, wurde ebenfalls wieder hergestellt, aber bereits in einem Vergleich mit der Stadt 1614 zwecks besserer Verkehrsführung um einen Werkschuh zurückverlegt.77 In Memmingen zog die Interimsordnung einen in Folge ein halbes Jahrhundert währenden Rechtsstreit zwischen Bürgermeister und Rat auf der einen und Spitalmeister und Konvent der Kreuzherren auf der anderen Seite nach sich. Nach der offiziellen Annahme des Interims sollte zunächst der so genannte Pforzheimer Vertrag vom September 1549 zwischen der Stadt und den Kreuzherren vermitteln. Im Kern sah dieses Dokument vor, das Kreuzherrenkloster wieder in seine alten Rechte inklusive seinem Vermögen und seinen Einkünften zu setzen.78 Gegenstand der Verhandlungen waren aber auch die durch die Stadt abgebrochenen Kirchhofmauern der Spital- und Frauenkirche.79 Man kam überein, dass die Stadt die demolierte Umfassungsmauer um die Frauenkirche wieder aufzubauen hatte. Auch der alte Platz, an dem sich der kleine Friedhof des Spitals befand, musste den Kreuzherren zurück gegeben werden, wobei sich der Spitalmeister im Gegenzug dazu bereit erklärte, eine neue Kirchhofmauer auf seine eigenen Kosten aufführen zu lassen.80 Bürgermeister und Rat hatten wohl nie mehr mit einer Rückgabe gerechnet, da sie die Baulichkeiten inzwischen anderweitig nutzten und neben anderem dort einen Weinkeller eingerichtet hatten. Abgesehen von weiteren Problemen lag darin die nur schleppende Umsetzung des Pforzheimer Vertrages begründet, was

72 StadtA Konstanz, A I 8 / VIII, Christoph Schulthaiß Collect. VIII, 67. 73 Beyerle 1908 (wie Anm. 22), 276, 278–281; StadtA Konstanz, A I 8 / VIII, Christoph Schulthaiß Collect. VIII, 59 ½. 74 Blechner 2006 (wie Anm. 22), 240. 75 Beyerle 1905 (wie Anm. 33), 32–35; StadtA Konstanz, A I 8 / VIII, Christoph Schulthaiß Col­lect. VIII, 57–58. 76 Blechner 2006 (wie Anm. 22), 266. 77 Vgl. an dieser Stelle den Vertrag zwischen Stadt und Domkapitel bezüglich der Mauer um den unteren Münsterhof am kleinen Spital vom 10. 02. 1556, StadtA Konstanz, GII / Bände 1. 78 Vgl. hierzu Hannes Lambacher, Das Spital der Reichsstadt Memmingen: Geschichte einer Fürsorgeanstalt, eines Herrschaftsträgers und wirtschaftlichen Großbetriebes und dessen Beitrag zur Entwicklung von Stadt und Umland (Kempten 1991), 77–79. 79 Siehe StadtA Memmingen, A 374 / 9, Pforzheimer Vertrag vom 12. 09. 1549. 80 Zum Vertragstext vgl. StadtA Memmingen, A 374 / 9.



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erneut ein juristisches Nachspiel hatte und bereits 1569 in einen in Mindelheim geschlossenen Vertrag mündete, der aber die Frage nach den Bestattungsplätzen ausklammerte.81 Im Jahre 1574 jedenfalls wurde schließlich eine neue Kirchhofmauer um die Frauenkirche errichtet, bestehend aus „[…] stain und bögen/ und 2 gätter […]“82. Demgegenüber war die Kirchhofmauer um die Spitalkirche immer noch nicht erneuert worden. Inzwischen hatte das Spital einen neuen Küchenanbau aufgeführt, an dem sich der Magistrat störte. In einem Vergleich vom 9. April 1602 wurde der gemeinschaftliche Besitz des ehemaligen Kirchhöfleins zwischen Ober- und Unterhospital, also Kreuzherren und städtischer Spitalpflege, festgeschrieben und zugleich verzichtete der Spitalmeister auf einen Neubau der Kirchhofmauer und somit letztlich endgültig auf eine Nutzung als Bestattungsplatz.83 Auch Lindau bekam die Auswirkungen des Interims zu spüren.84 Seit August 1549 strengte nämlich der Ordensprovinzial der Franziskaner, Heinrich Stoll­ eisen, eine Rückgabe des Klosters an, indem er den 1528 erfolgten Übergabe- und Verzichtsvertrag mit der Stadt anfocht. Bürgermeister und Rat gelang es, die Verhandlungen so geschickt in die Länge zu ziehen, bis die juristische Auseinandersetzung letztendlich von der großen Reichsgeschichte eingeholt wurde und die Entwicklungen durch den Fürstenaufstand und den Augsburger Religionsfrieden die Gefahr einer Restitution des Barfüßerkonvents für die Stadt bannte.85 Wäre die Klage erfolgreich gewesen und wären die Minderbrüder wieder zurück in die Inselstadt gekommen, wäre sicherlich auch ihr Kirchhof auf Kosten der Bürgerschaft reaktiviert worden, mit Kirchhofmauer, Beinhaus und weiterem Mobiliar, so wie dies im benachbarten Konstanz und in geringerem Maße in Memmingen geschah.86

81 StadtA Memmingen, A 375 / 4, Mindelheimer Vertrag von 1569, wie auch StadtA Memmingen, A 375 / 4 U01 1569 I 21, Mindelheimer Vertrag, Originalurkunde von 1569. 82 StadtA Memmingen, A RP 1572–1575, Ratsprotokoll vom 15. 03. 1574, 95v. Auf dem FrauenKirchhof fanden in Folge – wenn wahrscheinlich auch nur in begrenztem Umfang und vor allem für die städtische Elite – Beerdigungen statt, wie etwa noch Mitte des 18. Jahrhunderts die des Johann Jakob Laminit, vgl. Haffelder 2000 (wie Anm. 51), 68. 83 Vgl. StadtA Memmingen, A 377 / 1, Vergleich zwischen Bürgermeister und Rat der Stadt Memmingen und dem Spitalmeister vom 09. 04. 1602. 84 Zum Interim in Lindau siehe auch die unveröffentlichte Zulassungsarbeit von Frauke Becker, Die Geschichte des Interims in der Reichsstadt Lindau (Examensarbeit im Fach Geschichte bei Prof. Dr. Dr. Horst Rabe, Universität Konstanz, Konstanz 1992). 85 Keck 1961 (wie Anm. 38), 583; Schulze 1971 (wie Anm. 39), 145. 86 Stattdessen blieb die Örtlichkeit als Marktplatz bestehen. 1590 wurde auf einem Teil der vormaligen Nekropole das städtische Gerichtshaus errichtet, vgl. Wolfgruber 1938 (wie Anm. 38), 22–23. Einen erneuten, aber ebenfalls vergeblichen Restitutionsversuch unternahmen die Franziskaner im Dreißigjährigen Krieg, vgl. dazu Wolfart 1909 (wie Anm. 39), 47.

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10 Zusammenfassung und Ausblick Die reformatorisch intendierte Zurückhaltung gegenüber Grabmonumenten in den ersten Jahrzehnten der Reformation kennzeichnet die spezielle Ausprägung evangelischer Friedhofskultur der hier thematisierten oberschwäbischen Reichsstädte. In dieser „ersten Phase“ reformatorischer Aktion bis zum Augsburger Religionsfrieden von 1555 zeigt sich der radikale Bruch mit der überkommenen Sepulkralkultur, die sich in der Einebnung der Kirchhöfe und der Liquidierung von Grabmonumenten äußerte. Die Verwirklichung eines „christlichen Gemeinwesens“ auf der Grundlage der biblischen Offenbarung und den daraus resultierenden religiös-konfessionellen Wissensbeständen um die letzten Dinge machte auch die „Reformation der Toten“87 auf diese umfassende Weise notwendig. Die zwinglianisch angehauchten oberschwäbischen Reichsstädte verzichteten damit auf ein wesentliches Medium der protestantisch-lutherischen wie auch katholischen Totenmemoria.88 Einzig die immaterielle, vom konkreten Ort losgelöste Erinnerung an die Toten war demnach erwünscht. Grabmonumente bargen die Gefahr der Totenfürbitte und damit einen Rückfall in den alten Glauben in sich, was den Idealen einer oberdeutsch-evangelischen „civitas christiana“ und damit dem Wohlwollen Gottes zuwidergelaufen wäre. Erst nach dem Schmalkaldischen Krieg und dem Interim, wie auch den dadurch bedingten Verfassungsänderungen und dem die konfessionellen Verhältnisse fixierenden und eine gewisse Rechtssicherheit schaffenden Augsburger Religionsfrieden begann man auch in den oberschwäbischen Reichsstädten wieder Grabmonumente zu setzen, was mit ihrer Hinwendung zum Luthertum einherging, das nun neben dem Katholizismus die alleinige Basis einer reichsrecht­lichen Legitimation legte. Dennoch blieben Reminiszenzen der schweizerisch-oberdeutschen Friedhofskultur noch lange Zeit bestehen und prägten die Gottesäcker der nunmehr protestantisch-lutherischen Reichsstädte Oberschwabens. So zeigen frühneuzeitliche Bildquellen lediglich Grabsäulen, -stelen oder -steine auf den reichsstädtisch-protestantischen Friedhöfen. Auf Grabkreuze, die auf keinem katholischen Bestattungsplatz fehlen durften und die auch im lutherischen Milieu unbefangen Verwendung fanden, wurde bewusst verzichtet. Obwohl die oberschwäbischen Reichsstädte spätestens seit dem Augsburger Religionsfrie-

87 In Anlehnung an Craig Koslofsky, The Reformation of the Dead: Death and Ritual in Early Modern Germany, 1450–1700 (Basingstoke u.  a. 2001). 88 Im Gegensatz zum kahlen reformierten Kirchenraum bildet das Epitaph laut Franz-Heinrich Beyer, Geheiligte Räume: Theologie, Geschichte und Symbolik des Kirchengebäudes (Darmstadt 2008), 96–97, geradezu ein konstituierendes Element lutherischer Sakralinnenarchitektur.



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den zwecks juristischer Absicherung nach außen hin dem Luthertum anhingen, überlebten in ihrem Inneren noch lange zwinglianische beziehungsweise oberdeutsche Elemente und Mischformen.89 Dies lässt sich unter anderem auch in der Friedhofsausstattung erkennen, wo in Gestalt des katholischen Kreuzes und der protestantischen Stele spezifische Grabkennzeichnungen existierten, die jenseits einer „unsichtbaren Grenze“90 die Konfessionen visuell voneinander schieden.91 89 Vgl. hierzu Kaspar von Greyerz, „Städtische Gesellschaft und Reformation in Oberdeutschland,“ Heimatkundliche Blätter für den Kreis Biberach; Sonderheft: Reformation und Katholische Erneuerung in Oberschwaben (1999), 11–19, hier 15–16. Ausgangspunkt der „Lutheranisierung“ bildete neben dem Beitritt zur Confessio Augustana die so genannte Wittenberger Konkordie von 1536 und erhielt einen neuen Schub durch den Augsburger Religionsfrieden von 1555 als neben dem Katholizismus nur das Luthertum legalisiert wurde, wohingegen die Reformierten davon ausgeschlossen waren und erst im Westfälischen Frieden von 1648 anerkannt wurden. Für Lindau macht Johannes C. Wolfart, „In zweifelhafter Deckung: Die historiographische Umsetzung des Augsburger Religionsfriedens im Falle Lindaus,“ in Der Augsburger Religionsfriede 1555: Ein Epochenereignis und seine regionale Verankerung, ed. Wolfgang Wüst, Georg Kreuzer und Nicola Schümann (Augsburg 2005), 217–223, ein Fortleben der zwinglianischen Einflüsse und damit eine praktische Koexistenz der drei konfessionellen Ausrichtungen noch bis in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts plausibel. 90 In Anlehnung an den einschlägigen Titel der Studie von Etienne François, Die unsichtbare Grenze: Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648–1806 (Sigmaringen 1991). 91 Auch in anderen reformierten Territorien des Reiches war die Absenz von Grabkreuzen typisch für die reformierte Konfession, siehe dazu Großes Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur: Wörterbuch zur Sepulkralkultur, 1. Volkskundlich-kulturgeschichtlicher Teil: Von Abdankung bis Zweitbestattung, bearbeitet von Reiner Sörries, hg. vom Zentralinstitut für Sepulkralkultur Kassel (Braunschweig 2002), 121–122, 252–253, 255. So werden die katholischen Visitatoren in der rekatholisierten Oberpfalz angehalten, das Vorhandensein von „cruces super sepulchra“ zu prüfen, vgl. Walter Hartinger, „… denen Gott genad!“ Totenbrauchtum und ArmenSeelen-Glaube in der Oberpfalz (Regensburg 1979), 99 (Visitationsprotokoll der Diözese Regensburg von 1590). Im westfälischen Hochstift Paderborn schrieb die Kirchenordnung von 1686 vor, verfallene hölzerne Grabkreuze auf den Kirchhöfen umgehend zu ersetzen, damit Reisende distinguieren konnten, ob es sich um katholische oder anders konfessionelle Friedhöfe handelte, siehe Jan Brademann, „Bekennen, Berichten, Bewirken: Sprachliche Kommunikation und das kulturelle Gedächtnis der Konfessionen auf dem ländlichen Friedhof in der Frühen Neuzeit,“ in Konfession und Sprache in der Frühen Neuzeit: Interdisziplinäre Perspektiven, Studien und Texte zum Mittelalter und zur Frühen Neuzeit, ed. Jürgen Macha, Anna-Maria Balbach und Sarah Horstkamp (Münster 2012), 123–156, hier 142, und in der calvinistischen Grafschaft Nassau-Dillenburg wurde 1572 eine Auflistung katholischer Bestattungsbräuche aufgestellt, die abzuschaffen seien, worunter auch die „Creutzs vff denen gräbern“ moniert wurden, vgl. Susann C. Karant-Nunn, „„Tod, wo ist Dein Stachel?“ Kontinuität und Neuerung bei Tod und Begräbnis in der jungen evangelischen Kirche,“ in Traditionen, Zäsuren, Umbrüche: Inschriften des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit im historischen Kontext, ed. Christine Magin, Ulrich Schindel und Christine Wulf, Beiträge zur 11. Internationalen Fachtagung für Epigraphik vom 9. bis 12. Mai 2007 in Greifswald (Wiesbaden 2008), 193–204, hier 200.

Kristina Jonsson

Death and Burial in Medieval and Post-Reformation Scandinavia Change and continuity in popular religious practices

1 Introduction Perceptions of what happens after death, and how people deal with issues related to them, are aspects of life that, of course, are affected by religious changes in society. Religious change on the other hand, does not only affect Faith, but also related practices and their execution. In Scandinavia, as in the rest of Europe to a larger or lesser degree, you could say that we have seen three major religious conversions during the last two millennia: the Christianization, the Protestant Reformation but also the more diffuse secularization that can be related to Modernity. All three have had a large impact on funereal matters, both from an ecclesiastical and a social point of view. The direct handling of the dead has also been affected by changes in the secular society, above all in Modern times through advances in medicine and biology, and the emergence of a professionalized funerary industry.1 The question that is addressed in this paper, however, is; to what extent can we really see major changes in practices and beliefs throughout history? Through a chronological exposé starting in the Middle Ages and ending in Modern times, it will be suggested that what may seem to indicate drastic actual change in burial practices may rather mirror the importance of religious control (or the lack of it). Funerary preparations and rites were focused on the hope of deliverance for the dead, and as such they can be seen as a form of strategy to address, and by extension to “manage” God – an endeavour that at times may have been reserved for religious specialists.

1 Cf. Ralph Howarth, “Death, church, and family in England between the late fifteenth and the early eighteenth centuries,” in The Changing face of death: Historical accounts of death and disposal, ed. Peter C. Jupp & Glennys Howarth (New York 1997), 120–134.

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 Kristina Jonsson

2 Death in the middle ages: ecclesiastical and popular beliefs In discussions of medieval religious behaviour, the need to distinguish between the theological understandings of the learned and the more “superstitious” beliefs to be found among the common people has often been stressed. Popular religion is often contrasted with the “non-popular” true Creed.2 This contrast, however, is far too influenced by the distinction between faith and fallacy of our own time, and medieval differences in world view and eschatology between the scholars and the uneducated may not have been as sharp as some would say.3 The illiterate public acquired its Christian learning through sermons, psalms, the stories of saints, paintings, and sculpture, and even if they weren’t capable of undertaking profound exegesis of the Scriptures, most of them had a relatively good knowledge of the key elements of those writings. Where, then, lay the real differences between official Christendom and popular culture? What drew the criticism and hostility of the clergy more than anything else, were active practices which questioned divine (or diabolical) intervention in what otherwise appeared to be supernatural events within the physical world. This means, from the point of view of the Church, that the main issue was not actually what was believed, but rather that it was believed that everything that was happening was in the hands of God. As a result, highly educated scholars did not completely deny the reality of phenomena such as ghastly revenants, magical amulets, and miraculous healing; however, they connected these phenomena with either a demonic presence or divine intervention. You could say that the medieval zeitgeist was characterized by a hybrid mentality, in which popular practices and religion were merged into a unity that need not necessary follow logical reasoning (in our eyes). There was no contradiction to see body and soul as two different elements and death as a reality, and at the same time believe it to be possible for dead bodies to walk the earth and also to have bodily needs in the realm beyond. Physical death was not seen as a definitive event, the dead were only resting in their graves awaiting Resurrection Day. This prevailing view on death as little more than a new phase of life made the dead a constant presence, almost like a

2 Carlo Ginzburg, Benandanti: “De goda häxmästarna” (Stehag 1991), 57; Aron Gurevitj, Den svårfångade individen: Självsyn hos fornnordiska hjältar och medeltidens lärde i Europa (Stockholm 1997), 209. 3 Eamon Duffy, The stripping of the altars: Traditional religion in England, c.1400–c.1580 (New Haven 1992), 2–3; Nancy Caciola, “Wraiths, revenants and ritual in medieval culture,” Past and Present 152 (1996), 3–45.



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gender- or age-group of its own, and people continued to have an active relation to them.4 The living were responsible for conducting prayers of intercession for the deceased, in order to ease their passage through Purgatory, but it was also of utmost importance that all practical procedures surrounding a death in the family were handled the right way before, during, and after the actual time of death.5 In this paper, religious rituals performed during the wake and the administration of Last Rites will not be addressed, however, since the scope is mainly to focus on popular practices. A practice that seems to have been widespread in medieval Europe was the immediate placing of the body of a newly deceased person on the floor. The women in the family, or possibly other specialized women, then washed and shrouded the body, and it was thereafter placed in a coffin or on a bier. Afterwards, objects, bed linen, and other materials that had been in contact with the deceased from the deathbed to the cemetery should be avoided, burned, or buried.6 In most cultures, women have been the ones responsible for handling dead bodies, due to cultural conceptions of women being connected to death and the concept of pollution.7 There has been a rich array of taboos and superstitions surrounding the dead and their supposedly polluting and dangerous powers since Antiquity8, and

4 Patrick J. Geary, Living with the dead in the Middle Ages (Ithaca 1994), 36; Peter Marshall, Beliefs and the dead in Reformation England (Oxford 2002), 7; Jonathan Finch, “A Reformation of meaning: Commemoration and remembering the dead in the parish church, 1450–1640,” in The Archaeology of Reformation 1480–1580: Papers given at the Archaeology of reformation conference, February 2001, hosted jointly by Society for Medieval archaeology, Society for post-medieval archaeology, ed. David Gaimster & Roberta Gilchrist (Leeds 2003), 437–449; Elisabet Regner, “Buried Bodies and Scattered Bones: Child Graves and Secondary Burials at Alvastra Abbey,” in Cultural interaction between east and west: Archaeology, artefacts and human contacts in northern Europe, ed. Ulf Fransson, Marie Svedin, Sophie Bergerbrant & Fedir Androshchuk, Stockholm Studies in Archaeology 44 (Stockholm 2007), 125. 5 Cf. Richard Rutherford, The death of a Christian: The rite of funerals (New York 1980); Bertil Nilsson, “Död och begravning: begravningsskicket i Norden,” in Tanke och tro: aspekter på medeltidens tankevärld och fromhetsliv, ed. Olle Ferm & Göran Tegnér, Studier till det medeltida Sverige 3 (Stockholm 1987), 133–150; Stina Fallberg Sundmark, Sjukbesök och dödsberedelse: Sockenbudet i svensk medeltida och reformatorisk tradition, Bibliotheca theologiae practicae 84 (Skellefteå 2008), 127–130. 6 Per Kristian Madsen, “Han ligger under en blå sten: Om middelalderens gravskik på skrift og i praksis,” Hikuin 17 (1990), 113–134; Roberta Gilchrist & Barney Sloane, Requiem: The medieval monastic cemetery in Britain (London 2005), 23–24. 7 Maurice Bloch & Jonathan Parry, Death and the regeneration of life (Cambridge 1982), 215–217. 8 Clare Gittings, Death, burial and the individual in Early Modern England (London 1984), 68; Hugh Lindsay, “Death-pollution and funerals in the city of Rome,” in Death and disease in the ancient city, ed. Valerie. M. Hope & Eireann Marshall (London 2000), 152–173; Anastasia Tsaliki,

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such beliefs likely contributed to the aversion of letting a dead body remain in a bed or on a table that later were to be used by the living.9 In the archaeological material, the burial customs are most varied in the early medieval period. People then seem to have been buried clothed; different kinds of objects such as tools, coins, adornments etc. were included in the grave; a large variety of coffin types occur, and also a number of specific features such as arrangements of stone around the body, beds of charcoal under the coffin, inclusion of wooden rods in the burial and so on.10 Some of these practices also have roots in Antiquity, as for instance the use of coins (cf. below). Others are more likely related to the complex views of the relationship between the living and the dead, and notions of dead bodies and their potential danger. There has, for instance, been suggested, that the enigmatic wooden rods that are sometimes found in Early Medieval burials (cf. Fig. 1) may have been used as measuring-sticks for measuring the dead body in order to build the coffin or dig the grave cut – there are examples of such practices in later day folklore.11 The act of measuring was in itself surrounded with mystical powers, and often used in, for instance, folk medicine.12 The “burial rods” may also for some other reason have

“Unusual burials and necrophobia: An insight into the burial archaeology of fear,” in Deviant burial in the archaeological record, ed. Eileen M. Murphy (Oxford 2008), 1–16. 9 Kristina Jonsson, “Dangerous death and dangerous dead: Examples from Scandinavian burial practices from the Middle Ages to the Early Modern Period,” in Döda personers sällskap: Gravmaterialens identiteter och kulturella uttryck (On the threshold: Burial archaeology in the twenty-first century), ed. Ing-Marie Back Danielsson, Ingrid Gustin, Annika Larsson, Nanouschka Myrberg and Susanne Thedéen, Stockholm Studies in Archaeology 47 (Stockholm 2009a), 173–186. 10 E.g. Ragnar Blomqvist & Anders W. Mårtensson, Thulegrävningen 1961: En berättelse om vad grävningarna för Thulehuset i Lund avslöjade, Archaeologica Lundensia, Investigationes de Antiqvitatibus Urbis Lundae II (Lund 1963); Anders W. Mårtensson, Uppgrävt förflutet för PK-banken i Lund: En investering i arkeologi, Archaeologica Lundensia 7 (Lund 1976); Anders W. Mårtensson, S:t Stefan i Lund: Ett monument ur tiden, Gamla Lund, Årsskrift 62 (Lund 1981); Jakob Kieffer-Olsen, Grav og gravskik i det middelalderlige Danmark – 8 kirkegårdsudgravninger (Højbjerg 1993); Göran Tagesson & Johan Westerlund, Domkyrkoparken, Linköping: Gravar från 1100-talet till 1810, Östergötland, Linköpings stad och kommun, Dnr 423–2055–2002, UV Öst, dokumentation av fältarbetsfasen 2004:1, Arkeologisk slutundersökning (Linköping 2004). 11 Kristina Jonsson, Practices for the living and the dead: Medieval and Post-Reformation burials in Scandinavia, Stockholm Studies in Archaeology 50 (Stockholm 2009b), 114–116. 12 Valter W. Forsblom, ”Huru barn botas för “kråsa”,” Folkloristiska och etnografiska studier 3, Skrifter utgivna av Svenska litteratursällskapet i Finland 165 (Helsinki 1922), 89–114; Valter W. Forsblom, Finlands svenska folkdiktning 7, Folktro och trolldom 5, Magisk folkmedicin, Skrifter utgivna av Svenska litteratursällskapet i Finland 195 (Helsinki 1927), 578–580; Jeanne Foster, Ulster Folklore (Belfast 1951), 89; Ronald C. Finucane, ”Sacred Corpse, Profane Carrion: Social Ideals and Death Rituals in the Later Middle Ages,” in Mirrors of Mortality: Studies in the Social



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Fig. 1: Graves with burial rods at the church of St Gregory in Trondheim, Norway. All graves were found east of the chancel in the cemetery, but have been assembled here from different drawings. After drawings by F. Damstuen and R. Lefenda. From the archive of Riksantikvaren in Trondheim, published with permission of Riksantikvaren.

been in contact with the dead body, for instance having been used for carrying the bier, and the disposal of them in the grave may have been linked to taboos as the ones mentioned above. There are also later examples of wooden sticks or rods being used as “locks” to keep the dead from walking. Other arrangements, such as charcoal beds and stones, could have been designed to delimit and mark the grave – both for the sake of protecting the dead that were to be kept safe down there, but also to protect the living from the dangerous dead. The control of the individual location of burials within the cemetery was probably regulated by Church authorities, but also in accordance with social hierarchy.13 Each individual funeral, though, was in the Early Middle Ages relatively private in character, and this is probably what has enabled the heterogeneity of inner burial arrangements. The dead were buried by their next of kin14, and there

History of Death, ed. Joachim Whaley, The Europa social history of human experience 3 (London 1981), 40–60; Ralph Merrifield, The archaeology of ritual and magic (London 1987), 90–91. 13 Nilsson 1987 (cf. n. 5), 149; Jonsson 2009b (cf. n. 11), 158–162. 14 Cf. Åke Holmbäck & Elias Wessén, Svenska landskapslagar: tolkade och förklarade för nutidens svenskar, Första serien, Östgötalagen och Upplandslagen (Stockholm 1933), 9; Åke Holmbäck & Elias Wessén, Svenska landskapslagar: tolkade och förklarade för nutidens svenskar, Femte serien,

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seems, of course within limits, to have been room for freedom of choice when it came to furnishing the grave. As a conclusion, the rich array of folkloristic practices taking place before, during, and after the funeral is telling evidence of personal interference by family members; interference with the ultimate scope of addressing God. In the High and Late Middle Ages the burial customs generally became more uniform and much more simplistic: the dead were in most cases buried in a winding sheet only, without coffin or grave goods. This development was most likely related to the Papacy gaining more influence in far off Scandinavia15, and family members being less active in arranging and performing the funerary service.16 There were also changes in the liturgical organization in the thirteenth century, a new part of which was the focus on rituals inside the church during funerals.17 Previously, many (if not all) had been performed by the graveside. This change, in combination with a new emphasis on prayers of intercession being more or less the only thing that counted if you wanted to help the dead, could have rendered the burial ceremony and the ceremonial furnishing of the grave less important – and also more controlled by the Church officials being the experts on religious exercise ant the managing of God. Magico-religious rituals were still practiced by the laity, however, but in more secluded settings since they were to a lesser degree tolerated by the Church.

3 After the Reformation The Protestant Reformers put great emphasis on cleansing the Faith from Catholic beliefs and practices that did not suit the new world view. Above all they targeted beliefs such as could be related to religious magic, like belief in objects and substances being able to have blessing and exorcising powers in themselves  – only God had the power to decide over each individual’s fate.18 The concept of

Äldre Västgötalagen, yngre Västgötalagen, Smålandslagens kyrkobalk och Bjärköarätten (Stockholm 1946), 431; Andy Boddington, Raunds Furnells: the Anglo-Saxon Church and Churchyard, Raunds area project, English heritage 1996, archaeological report 7 (London 1996), 69; Nilsson 1987 (cf. n. 5), 141; Kieffer-Olsen 1993 (cf. n. 10), 103. 15 Cf. Jarl Gallén, “Kyrkorätt,” Kulturhistoriskt lexikon för nordisk medeltid 10 (1965), 1–5. 16 Jonsson 2009b (cf. n. 11), 181. 17 Kieffer-Olsen 1993 (cf. n. 10), 168; cf Rutherford 1980 (cf. n. 5), 56–57; Philippe Ariès, The hour of our death (New York 1981), 176. 18 Keith Thomas, Religion and the decline of magic: Studies in popular beliefs in sixteenth and seventeenth century England (London 1971), 51–57



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Purgatory was abolished, and focus was placed on individual salvation and every single man’s or woman’s personal responsibility towards God. This also affected the funerary context: according to Protestant faith a burial in consecrated ground had no influence on the salvation of the soul; neither could the prayers of the living help the dead. Funerary rituals were minimized as the old Catholic ceremonies were deemed as superstition, and on the whole the Church again participated less in direct matters of death and burial.19 But there was still a need among the bereaved to care for the dead, and the archaeological record shows us that from the relatively simple burials that distinguish the larger part of the Middle Ages, after the Reformation there seems to have been a revival of inner burial customs that have parallels rather in Early Medieval or even pre-Christian notions on death and burial. The dead were once again buried in coffins with their clothes on, and sometimes also with what must be categorized as grave-goods meant to serve them on the other side. There was also an increase in the construction of manifest funerary monuments marking the exact positions of graves.20 All these efforts can be seen as an enhanced wish to protect the body in the ground, when the hallowed ground could no longer do so. There were also greater concerns for the future fate of the dead when it was no longer possible to interfere with the help of prayers and masses. Without Purgatory, the dead were no longer in a safe  – albeit quite uncomfortable  – place, but to a larger extent in risk of being lost in transition between life and death, thereby also constituting a potential threat to the living. In the absence of comforting rituals above ground at the funeral, the rituals and the safeguarding of the dead (as well as the living) were once again moved into the grave or the burial vault – also because it was made possible through the Church officials not being as involved as they had been before. Hence, the individualization of Faith and the focus on personalized communication with God had once again made it possible for “common people” to try to manage God.

19 Göran Lindahl, Grav och rum: Svenskt gravskick från medeltiden till 1800-talets slut, KVHAA handlingar, Antikvariska serien 21 (Stockholm 1969), 62–64; Gittings 1984 (cf. n. 8), 22; Ralph Houlbrooke, “Death, church, and family in England between the late fifteenth and the early eighteenth centuries,” in Death, ritual and bereavement, ed. Ralph Houlbrooke (London 1989), 25–42. 20 Jonsson 2009a (cf. n. 9), 139–150 with references.

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Fig. 2: Major Carl Horn’s coffin in the Horn-Wittenberg burial vault in Badelunda, Sweden. Photo: Stig Johansson. From the archive of the County Museum of Västmanland (Västmanlands läns museum).

4 The Modern death What becomes clear when studying 19th and 20th century folklore on practices and beliefs surrounding death and burial, is that they still had a lot in common with the medieval or even pre-Christian mixture of religion and magic. For instance, bed linen from a deathbed were still to be burnt, but could also be used in magic rituals.21 It was said that if you went out naked in the sunset and pulled a so called

21 Louise Hagberg, När döden gästar: Svenska folkseder och svensk folktro i samband med död och begravning (Stockholm 1937), 137–138; Margaret Cox, “Eschatology, burial practice and continuity: a retrospection from Christ Church, Spitalfields,” in Grave concerns: death and burial in England 1700 to 1850, ed. Margaret Cox, CBA Research Report 113 (York 1998), 112–125, 117.



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“corpse sheet” over a field of peas you could rid it from lice. One parallel example with much older dating can be read in the Greek poet and farmer Hesiod’s handbook Works and Days, compiled in the 7th Century B.C. On seeding and harvesting he writes: “Naked, sow the seed, plow with your oxen naked, and, naked harvest the crop if you wish to do all of the tasks of Demeter at proper season – and so in their proper season, shall your crops increase”.22 As often, though, when meaning is recounted through generations its origi­ nal purpose gets distorted and adjusted to new needs and beliefs. One telling example is the practice of placing coins with the deceased that was mentioned above: it is believed to have its roots in Ancient Greece, where the custom was to place an obolus (a sixth of a drachma) in the mouth of the dead, to serve as payment to the ferryman Charon for the ride over the river Styx.23 In Modern times, coins were said to be for St Peter, to make him open the Pearly Gates – but coins were also placed on the eyelids of the deceased, to keep him or her in the grave and to protect both living and dead from evil.24 The birth of the modern funerary profession and industry can be said to have its roots in the changes after the Reformation. The refraining of the Church in dealing with matters of death eventually placed the responsibility of taking care of the dying on doctors, and the caretaking of the dead on undertakers. The increased focus on the individual also stressed the wish for expressing personal grief and loss within families, manifesting it through professionalized arrangements of display.25 The industrialization and urbanization also contributed to people frankly having less time to deal with funerals. Of course there were large regional differences: in urbanized areas in, for instance, Britain the first specialists emerged already in the 17th century, while in rural Scandinavia the deceased were still kept at home until the day of the funeral at least into the 1950s, and in certain areas and families to even later days still.26 Hence, the gradual marginalization of old beliefs can in a way be seen as a result of modern secularization and 22 Author’s translation from Elof Hellquist, Hesiodos’ verk och dagar (Lund 1923), 22–23. 23 Paul Barber, Vampires, burial, and death: Folklore and reality (New Haven & London 1988), 47. 24 Troels Frederik Troels-Lund, Att dö i Norden: Föreställningar om livets slut på 1500-talet (Stockholm 1984), 127–128; Keld Grinder-Hansen, “Penge til færgemanden? Mønter i dødekulten,” in Nationalmuseets Arbejdsmark 1988 (København 1988), 115–126; Arne Bugge Amundsen, … alle like, både fattige og rike? Død og begravelse i Østfoldtradisjonen (Sarpsborg 1990), 20. 25 Howarth 1997 (cf. n. 1), 121. 26 Gittings 1984 (cf. n. 8), 15; Julian Litten, “The funeral trade in Hanoverian England 1714– 1760,” in The Changing face of death: Historical accounts of death and disposal, ed. Peter C. Jupp & Glennys Howarth (Houndmills 1997), 48–61; Birgitte Kragh, Til jord skal du blive …: Dødens og begravelsens kulturhistorie i Danmark 1780–1990, Skrifter fra museumsrådet før Sønderjyllands amt 9 (Aabenraa 2003), 50–55.

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professionalization, but it was not completed until in the 20th century. It has been suggested that one reason for old rituals gradually disappearing could be that the undertaker profession was strictly male.27 Since women traditionally were responsible of handling the dead and performing the rituals, the practices may have been dismissed as “female superstitions” by the new male professionals.

5 Concluding remarks To conclude, practices, customs, and beliefs are characterized by both constancy and change: a dualism that sometimes makes it hard to access their original meaning and sender. Religious rituals embraced by the Church, may initially have been influenced by beliefs emanating from popular culture and vice versa. In times when religion was ever present in everyday life, also everyday actions found their way into religious beliefs. With time, however, the Church gained sovereignty in addressing  – and thereby managing  – God, and thereby also a monopoly on the execution of religious rituals. The Reformation brought on further refrainment of what could be accepted within the religious frame, and the Enlightenment movement in the 18th century also widened the gap between the educated and the masses, putting a stress on science and rationality. However, fundamental thoughts concerning life and death are, and have probably always been, governed by people’s subjective perceptions and feelings, as well as having been affected by cultural traditions. Therefore, as we have seen above, have traditions been kept alive throughout centuries and maybe even millennia, only waiting to be officially reintroduced at times when external control has been subdued. So, one overarching conclusion drawn from this paper must be that old habits die hard, since death is a subject that never will stop affecting people on a level that defies rationality and orthodoxy. Another conclusion, in extension to this, is that social and religious control may have deterred people from openly trying to interfere with heavenly powers, but on a personal level the wish not only to address but to personally communicate with (and maybe even manage?) God has always prevailed.

27 Ruth Richardson, Death, dissection and the destitute (London & New York 1987), 21.

Milan Wehnert

Wissen von der heiligen Hand des Bischofs im Katholizismus des Ancien Régime Boileau-Despréaux, Godeau und die Petri Aurelii Theologi Opera Eine literarische Szene, die seit ihrer Veröffentlichung 1683 zum kommunen Vorstellungsgut gebildeter Kreise des französischen Kulturraums gehört: Schauplatz ist der Vorhof einer prominenten Pariser Sakralstätte, der Sainte Chapelle. Hier begegnen sich zwei Gruppen von Geistlichen und liefern sich eine wüste Prügelei, indem sie mit liturgischen Folianten und sakralem Gerät auf einander einschlagen. Über dieser Schlacht erscheint schließlich, wie ein Deus ex machina, ein Bischof. Der Prälat ist willens, die Ordnungsgewalt eines kirchlichen Zeichens zu erproben und tritt zu einem semiotischen Spektakel an: Gut sichtbar über dem Tumult platziert, bewegt er seine Rechte aus dem Mantel, legt deren Finger in kultischem Gestus längs aneinander, „ses doigts, saintement allongez“1, und schlägt ein einfaches Kreuzeszeichen über das Gemenge der Priester. Auf die miniatureske Zeichengabe von bischöflicher Hand folgt ein grotesker Umschlag der Szene: Die Geistlichen geraten in höchstes Erschrecken, stürzen, überwältigt durch ein von ihnen als nahezu epiphanisch erfahrenes Moment, rücklings die Stiege hinunter und nehmen Posen einer tief spirituell empfundenen Anbetung ein. Das Geschehen verläuft ganz im Sinne des Bischofs und markiert einen semio­ti­schen Sieger, die erhobene bischöfliche Hand: Dans le Temple aussi-tôt le Prélat plein de gloire, Va gôuter les doux fruits de sa sainte victoire.2

Mit der geschilderten Szene schließt der Chant Cinquième von Boileau-Despréaux’ 1683 erschienenem Spottgedicht Le Lutrin.3 Bis zum Ausgang des Ancien Régime bleibt dieses „poème héroï-comique“ die meistgelesene Klerikersatire des französischen Sprachraumes. Zahlreiche Editionen und eine Fülle von begleitenden 1 Nicolas Boileau-Despréaux, Le Lutrin. Poeme heroï-comique, Chant V, V. 223, zitiert nach: Oeuvres de Nicolas Boileau-Despréaux, avec des éclaircissements historiques donnez par lui-meme (Paris 1729), Bd. 1, 323–78. 2 Boileau-Despréaux 1780 (wie Anm. 1), Chant V, V. 245  f. 3 1672–74 veröffentlicht Boileau-Despréaux die Chants I bis IV; die Chants V und VI folgen 1683. Vgl. Harold Andrew Mason, “Boileau’s Lutrin,” Cambridge Quarterly 4 (1969), 362–80, 363.

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Illustrationen namhafter Graphiker belegen den anhaltenden Satire- und Imaginationswert des Lutrin und seiner klerikalen Szenen.4 Von den Kommentatoren des Siècle des Lumières ist hierbei nicht zuletzt die sarkastische Präzision, die noch in der Übersteigerung gewahrte „verité“ der Darstellung bemerkt worden. Aus detaillierter Schilderung und in „plus petites choses“5 trete die Einfühlung des Verfassers in die Eigenart eines markanten klerikalen Denk- und Zeremonialraums hervor – und mache dessen literarische Abstoßung umso wirkungsvoller. Der kulturelle Zusammenhang, den Boileau-Despréaux karikiert, mag sich dem heutigen Betrachter nicht ohne weiteres erschließen. Gleicherweise bedürfen die ideellen Voraussetzungen, in denen die Szene vor der Sainte Chapelle für ihre Rezipienten ab den 1680er Jahren spektakulär „comique“ geworden ist, der Erläuterung. Mit der sich erhebenden Hand des Bischofs und ihrer „sainte victoire“ reflektiert Boileau-Despréaux ein Diskursgeschehen im französischen Katholizismus des 17. Jahrhunderts. Hier war es, ausgehend von der Dynamisierung des Trienter Konzils (1545–1563), zu spannungsvollen und stark antinomischen Verhandlungen gekommen, die den Stellenwert der bischöflichen Hand – ihrer Segnungen, Konsekrationen und Ordinationen – im kirchlichen Symbolsystem zu bestimmen suchten. Vereinfacht gefasst: Kam der zeremoniellen Hand des Bischofs eine herausragende „Handhabbarkeit des Göttlichen“ zu oder waren ihre Zeichengaben nur beliebige priesterliche Handzeichen unter anderen, wohlmöglich substanzielleren Akten kirchlicher Gnadenmittlung? Aus der Verhandlung dieser Frage ging im französischen Katholizismus ein ekklesiologisches Ordnungswissen von der heiligen Hand des Bischofs hervor. Dieses soll im Folgenden in wesentlichen Stationen seiner institutionellen Generierung und anhand seiner kulturpraktischen Konsequenzen dargestellt werden.

1 Die bischöfliche „sainte victoire“ in Boileau-Despréaux’ Le Lutrin von 1683 Da Boileau-Despréaux’ Lutrin eine plastische Annäherung an diesen Phänomenkreis ermöglicht, seien zunächst weitere Angaben zu der markanten Handerhebung vor der Sainte Chapelle angeschlossen. Der Autor bündelt einen Komplex

4 Mason 1969 (wie Anm. 3), 362  f. 5 Jean Marie Bernard, Septieme lettre a Monsieur de Voltaire ou Entretiens sur le poeme epique, relativement a la Henriade (Paris 1775), 325.



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semiotischer Sensibilitäten und religiöser Vorstellungen, wie er sich innerhalb des französischen Klerus in den vorangehenden Jahrzehnten formiert hatte. Hieraus entstehen Typenbilder von Pariser Weltgeistlichen der 1670er Jahre, die nach spezifischer Denkungsart und Bildungswelt agieren und in solchen Konturen von zeitgenössischen Lesern als gut getroffen honoriert werden konnten. Hauptfigur des Lutrin ist ein geweihter Bischof, der „Prélat“. Über dessen konkrete diözesane Anbindung macht Boileau-Despréaux keine Angaben. Gleichwohl wird deutlich, dass dieser Bischof innerhalb der Pariser episkopalen Hierarchie einen hohen Rang einnimmt, da er Inhaber des gewichtigen Titels eines „Trésorier de la Sainte Chapelle“ ist. Der Prälat hat neben seiner Bischofswürde also auch eine „première Dignité“6 über das Kanonikerkapitel der Sainte Chapelle, der Aufbewahrungsstätte der Dornkronenreliquie, inne. Der Chant premier führt ins luxuriöse Schlafgemach des Bischofs. Nicht allein, dass der Geistliche halb schlafend zwischen Dejeuner und Diner auf weichem Bett lagert7, amüsiert den Leser, sondern welche Gedanken es sind, mit denen sich der Prälat plagt: Seine Amtswürde stünde auf dem Spiel, da sich das Kapitel der Sainte Chapelle allzu selbstbewusst als geistliche Elite gerierte und die Oberhoheit seiner „Evêché“8 über ihre Körperschaft und ihren Kirchenraum missachtete. Insbesondere ein wirkungsvoll auftretender liturgischer Sänger ist es, der den Prälaten verärgert. Im Einvernehmen mit den Chanoines maße sich dieser – bei Gebetsoffizien und Prozessionen  – eine herausgehobene Sichtbarkeit an, wie sie nur einem geweihten Bischof zukäme. Vor allem dies wird dem Évêque unerträglich: Bei öffentlichen Auftritten des Kapitels pflege der Chantre seine Hand im bischöflichen Segensgestus über Volk und Geistliche zu erheben, „fait de Processions et répand à grands flots les bénédictions“.9 Es fehle nur, dass sich der eitle Chorsänger eine Mitra aufsetze: „sans bulle et sans titre, il te ravisse encore le Rochet et la Mitre“.10 Diesen „orgueil extrême“11 von Chantre und Chapitre abzustrafen, fasst der Bischof einen Plan. Die Getreuen des Prälaten sollen nachts ein altertümliches, übergroßes Chorpult, den namengebenden Lutrin, herbeischaffen und vor dem Platz des Sängers aufstellen. Dieses Möbel würde zum bischöflichen Strafinstrument werden. Hinter dem Pult müsste die Person des Chantre

6 Oeuvres de Nicolas Boileau-Despréaux (1729), 323–378, Argument, 326. 7 „C’est là que le Prèlat muni d’un déjeuner, Dormant d’un leger somme, attendoit le diner.” Boileau-Despréaux 1780 (wie Anm. 1), Chant I, V. 63  f. 8 Boileau-Despréaux 1780 (wie Anm. 1), Chant I, V. 80. 9 Boileau-Despréaux 1780 (wie Anm. 1), Chant I, V. 75  f. 10 Diese Worte spricht die „Déesse Discorde”, die dem Bischof in Gestalt eines alten Geistlichen seiner Entourage erscheint. Boileau-Despréaux 1780 (wie Anm. 1), Chant I, V. 77  f. 11 Boileau-Despréaux 1780 (wie Anm. 1), Chant I, V. 193.

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ganz verschwinden; dieser wäre fortan nur mehr zu hören, nicht aber zu sehen. Weiterhin würde das unförmige Sakralmöbel die liturgische Selbstdarstellung des gesamten Kapitels in seiner „illustre Église“12 nachhaltig stören und an Eindrücklichkeit und Frontalität verlieren lassen – so der gekränkte Prälat in seinem Bett. Der Bischof lädt zum zweiten Lever; rasch sind drei „Guerriers“13 für den Anschlag gefunden, der zur kommenden Nacht ausgeführt wird. Als am nächsten Morgen die Chanoines in die Sainte Chapelle einkehren und das monumentale Möbel entdecken, beschließen sie, das bischöflich verordnete Pult sogleich mit Hämmern zu zerschlagen. In diesem Moment zieht die Entourage des Prälaten auf. Es kommt zum Eklat, zu einer Prügelei unter Priestern, die von Boileau-Despréaux in ironisch eingesetztem Vergilschen Schlachtenpathos besungen wird.14 Hier schließt die oben beschriebene und in den angeführten Lutrin-Illustrationen von 1747 und 1770 dargestellte Finalszene15 von der „sainte victoire“ des Prälaten an. Der Bischof erscheint auf erhöhter Stelle über dem Kampfplatz, stößt einen grellen Schrei aus, der den Himmel durchdringt, „un cri qui pénètre la nuë“16, und erhebt dann siegreich seine „dextre vengeresse“17 über die Geistlichen. Diese Erhebung der bischöflichen Hand in zeremoniellem Gestus trägt innerhalb des karikierten Milieus offenbar eine forcierte religiöse Zeichenbedeutung. Sie ist, so entwirft es Boileau-Despréaux, semiotischer Nukleus der himmlisch autorisierten „droits“ des Bischofs und Organ seiner pneumatischen „vigueur“.18 Dies spiegeln die heftigen Reaktionen, wie sie im Text und in den Illustrationen von 1747 (Abb. 1) und 1770 (Abb. 2) erkennbar werden: Der Chantre, der sich, eigen-

12 Boileau-Despréaux 1780 (wie Anm. 1), Chant I, V. 3. 13 Boileau-Despréaux 1780 (wie Anm. 1), Chant II, V. 111. 14 Zum literaturgeschichtlichen Kontext der sarkastischen Bezüge auf Vergils Aenäis vgl. Thomas Stauder, “Le Lutrin de Boileau et Le Virgile travesty de Scarron: Étude comparative des procédés et des fonctions,” Papers on French Seventeenth Century Literature 31 (2004), 461–79. 15 Die spektakelhaft angelegte und breit ausgeführte Szene vor der Sainte Chapelle im Chant V bildet das Finale des Lutrin. Im Chant VI schließt diesem Showdown eine Beratung der Personifikation der „Pieté“ – begleitet von „Foi“, „Espérance“ und „Charité“ – mit Thémis, der „Déesse“ der Gerechtigkeit, an. Knappe sechs Verse deuten an, dass sich der Bischof nach der errungenen „sainte victoire“ mit dem „Chantre obéïssant“ (V. 152) versöhnt habe. Dieser habe das Pult eigenhändig in die Sainte Chapelle zurückgetragen,„de sa main, reportà le Pupitre“ (V. 154) und entsprechend bischöflicher Weisung vor seinem Platz aufgestellt. Hierauf habe sich der Bischof, „de ses respects content“, (V. 155) zu einem Zeichen christlicher Milde bereitgefunden und auf eine Aufstellung vor diesem Platz verzichtet. 16 Boileau-Despréaux 1780 (wie Anm. 1), Chant V, V. 218. 17 Boileau-Despréaux 1780 (wie Anm. 1), Chant V, V. 222. 18 „Pour soûtenir tes droits, que le Ciel autorise, Abîme tout plutôt, c’est l’esprit de l’Eglise. C’est par là qu’un Prélat signale sa vigueur“, Boileau-Despréaux 1780 (wie Anm. 1), Chant I, V. 185  ff.



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Abb. 1: Le Lutrin, Illustration zu Chant V, in: Oeuvres de M. Boileau Despréaux, Paris 1747, Bd. 2, o. S. © Universitätsbibliothek Tübingen, Kf III 7–2.

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Abb. 2: Le Lutrin, Illustration zu Chant V. „Le Lutrin. A Paris chez Gaillard Graveur rue St. Jacques au dessus des Jacobins entre un Peruquier et une Lingere“, Paris 1770. © Wehnert 2015.

mächtig und über die Konsequenzen unklar, einer entsprechenden, bischöflich reservierten Gestik bedient hatte, erschaudert und flieht, „il tremble, il cède, il fuit“.19 Auch die rebellierenden Chanoines lassen in dem kleinen pneumatischen Handzeichen des Évêque eine immense Zwinggewalt gelten. In der Konfrontation mit diesem Sakralgestus fallen umgebende Autonomieansprüche priesterlichkörperschaftlicher „vigueur“ in sich zusammen. Wie sind die religiösen Sinnempfindungen gegenüber der heiligen Hand des Bischofs und die entsprechende körperschaftliche Konditionierung der von Boileau-Despréaux entworfenen Pariser Geistlichen der 1670er Jahre kirchenhistorisch zu verorten?

19 Boileau-Despréaux 1780 (wie Anm. 1), Chant I, V. 231.



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2 Das pontifikale Zeremonialsystem als „Monde merveilleux“ im Schrifttum der 1650er–80er Jahre Boileau-Despréaux beobachtet und karikiert die Wirksamkeit eines Diskurses, einer für die Subjektivität der beteiligten Geistlichen tiefgreifend konditionierenden Ordnung von Sinn und Wirklichkeit. Über die interne Kommunikation französischer Geistlicher der 1660er Jahre und über die unter diesen zirkulierenden religiösen Sinnempfindungen erfahren wir weiteres aus den Schriften Antoine Godeaus: Godeau, Bischof von Vence, profiliert sich ab den 1640er Jahren als gefragter Publizist des französischen Episkopats. Zentraler Gegenstand seiner geistlichen Instruktionsschriften sind die kirchliche Ämterhierarchie und die in ihr verwahrten „mysteres“ einer Handhabbarkeit des Göttlichen. Als Spitze dieser Hierarchie markiert Godeau die Bischöfe.20 Sie verfügten über ein „droit divin“ und einen Pool an Gnadenmitteln, aus dem heraus sie selbst als „vervollkommnet und nahezu göttlich“, „perfectionnez […] et comme divinisez“, zu gelten hätten.21 „Le plus haut degré de grace en la terre, est celui de l’episcopat“, so fasst es Godeau in seinen Eloges des Évêque francais von 1662.22 Wenn in der Kirche göttliche Gnade kommuniziert werde, erfolge dies stets in einer mittelbaren Ableitung aus dem „Ordre Episcopal“. Segnungen, Konsekrationen und Ordinationen von der Hand der Bischöfe vermöchten es, eine „sur-essentielle Beauté, sur-essentielle Sagesse, sur-essentielle Bonté“23 an die Empfänger dieser Zeichenhandlungen auszuteilen. Dies gelte für die Salbungen, die der Bischof einem Priester oder König spendet ebenso wie für die Segnung von Altären, Paramenten und Kirchgebäuden. Zugleich räumt Godeau ein, dass diese Bedingtheit des kirchlichen Gnadenhandelns im Bischofsamt zu allen Zeiten Gefahr gelaufen sei, von der Gemeinschaft der Gläubigen geringgeschätzt und nicht gewusst zu werden. Denn die episkopalen Mysterien seien verborgen und zeichenhaft ver-

20 „Obviously bishops like […] Godeau were in the best possible position to express their opinions on, for example, episcopal grace and droit divin, to their fellow bishops through their many published works”, Alison Forrestal, Fathers, Pastors, Kings: Visions of French Episcopacy, Studies in early modern European history (Manchester 2004), 216. 21 Antoine Godeau, Discours sur les Ordres sacrez ou toutes les ceremonies de l’Ordination selon le Pontifical Romain sont expliquées. Par Mre. Antoine Godeau Evesque de Vence (Paris 1658), 58. 22 Antoine Godeau, “Eloge de Jean-Baptiste Gaut, Évêque de Marseille,” in Eloges des Evèques français qui se sont rendus illustres par leur doctrine et leur sainteté, depuis l’établissement de la Religion dans les Gaules, jusqu’au dix-septième siècle (Paris 1802), 345–361, 353. 23 Godeau 1658 (wie Anm. 21), 58.

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hüllt – „caché” unter liturgischen „figures et ceremonies“. Als ein tausendjähriges Erbteil der kirchlichen Tradition bedeuteten die anspruchsvollen pontifikalen Zeremonien ein „livre muet“.24 Dieses stumme Buch verwahre zwar in sich die volle Wirksamkeit der Gnadenmysterien, sei andererseits aber stets neu in seinen Sinnbedeutungen vernehmbar zu machen und der Kenntnisnahme der Gläubigen zu erschließen. Godeaus erfolgreiche, in den 1650er bis 80er Jahren zahlreich reedierten Schriften operieren in dieser Intention: Sie bieten groß­angelegte Exegesen des bischöflichen Zeremonialsystems an und wollen ein normativ gültiges Wissen von den in diesen verwahrten „mysteres“ formatieren. Dies verdeutlicht sich beispielhalft in Godeaus erstmals 1653 veröffentlichten Discours sur les Ordres sacrez ou toutes les ceremonies de l’Ordination selon le Pontifical Romain sont expliquées, mit dem der Autor ein prominentes Gnadenmonopol der Bischöfe ausleuchtet, die Priesterweihe. Godeau beschreibt dieses sakramentale Geschehen unter dem Aspekt einer exklusiv bischöflichen „Handhabung des Göttlichen“: Was meinten sie, so fragt Godeau seine priesterlichen Leser, geschehe auf ihrem „fond de l’ame“25, wenn sie sich im Vollzug des Ordinations­sakramentes unter die pneumatischen Handzeichen eines Bischofs neigten? Initialisiert durch die Handauflegungen, die Kreuzeszeichen und das liturgische Beten des Bischofs schließe sich über und in ihnen eine neue Welt auf, „un autre Monde exempt de corruption, un Monde de lumiere, un Monde de grace, un Monde de sainteté, un Monde de gloire, un Monde d’eternité“.26 Auf die bischöfliche Zeichengabe hin verwandle Gott den zu weihenden Adepten in einen Heiligen, „il vous rende Saints“.27 Der in dieser Weise in die „Monde de lumiere“ hineingenommene Neupriester sei seinerseits befähigt, in den priesterlichen Sakralmentalhandlungen Gnade an ihm unterstehende Empfänger  – an die Laien­schaft  – zu distribuieren, vollführe dies aber nur in Anbindung und Ableitung aus dem überlegenen Gnadenpool der Bischöfe. Dieser bedeute gegenüber allen denkbaren Subformaten der priesterlichen Hierarchie immer die größere „Monde merveilleux“. Unter bischöflichen „figures et ceremonies“ stehe die göttliche Gnade so freigiebig ihrer Distribution bereit, dass es scheinen möchte, Gott „verausgabe und erschöpfe“ sich: Allein die episkopalen Sakralzeichen vermöchten es – so Godeau – ein solch eminentes Wirkungsfeld göttlicher Gnade abzustecken, „où Dieu semble épuiser sa Puissance et sa Liberalité.“28

24 Vgl. Godeau 1658 (wie Anm. 21), 198. 25 Godeau 1658 (wie Anm. 21), 331  f. 26 Godeau 1658 (wie Anm. 21), 205  f. 27 Godeau 1658 (wie Anm. 21), 331  f. 28 Godeau 1658 (wie Anm. 21), 206.



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Kehren wir bereits hier auf die Finalszene des Lutrin von 1683 zurück. Godeaus Schriften zur priesterlichen Hierarchie werden unter französischen Weltgeist­lichen der 1650er bis 80er Jahre breit rezipiert. Insbesondere der vielfach reedierte Discours sur les Ordres sacrez bildet den kanonischen Lesestoff, mit dem sich junge Weltgeistliche auf ihre Priesterweihe vorbereiten. Die bei Boileau-Despréaux beobachtete und karikierte Sensibilisierung Pariser Priester für ein nahezu numinoses Potential, über das die Angehörigen des Bischofsstandes verfügten, wird von hier klarer verstehbar. Mit dem Kreuz, das die bischöfliche Rechte bei Boileau-Despréaux in die Luft schlägt, stehen alle „benedictions“, „sanctifications“ und „consecrations“29 zur Verhandlung, über die sich die hier versammelten Geistlichen als religiöser Expertenstand definieren. In diesem Sinne lässt Boileau-Despréaux einen der Chanoines ausrufen „Profanes, à genoux“30, als er das Kreuzeszeichen des Bischofs über sich kommen sieht. Das aber heißt: Auf die Knie vor diesem pneumatischen Gestus, sonst seid ihr bloße „Profanes“  – verleugnet also gerade jenes System von hierarchischen Gnadenmittlungen, über die ihr euch als ordinierte „Saints“ behauptet. In der persiflierten Denkungsart dieses klerikalen Milieus kann der episkopalen „vigueur“, wie sie mit der erhobenen Bischofshand in ihrem performativen Angelpunkt aufgefahren wird, nicht anders als mit umgehender Subordination repliziert werden.

3 Die kommunikative Herausforderung ­weltgeistlicher Kirchlichkeit in der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts Kirchengeschichtlich verortet geht die bei Godeau angemahnte, bei Boileau-Despréaux karikierte Betonung bischöflicher Sakralzeichen aus massiven Infragestellungen und Widerständen gegen eben dieses System von episkopalen „benedictions“, „sanctifications“ und „consecrations“ hervor. Um den Diskursrahmen klarer zu fassen, in dem entsprechende ideelle Oppositionen im französischen 17. Jahrhundert akut werden, muss eine kurze Skizze zum klerikalen Feld und seiner institutionellen Struktur eingeschaltet werden. Katholische Geistlichkeit teilt sich grundsätzlich in zwei Organisationsformate. Der erste Block ist die Weltgeistlichkeit, die diözesane Kirchlichkeit von Erzbischöfen und Bischöfen bis

29 Vgl. Godeau 1658 (wie Anm. 21), 331  f. 30 Boileau-Despréaux 1780 (wie Anm. 1), Chant I, V. 228.

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zu den Pfarreigeistlichen. Diesem im französischen Sprachraum als Clercs séculiers bezeichneten Zusammenhang stehen die Clercs réguliers gegenüber, die Ordensgeistlichen. Durch päpstliche Privilegien sind die Angehörigen der Orden, etwa Dominikaner, Jesuiten und Kapuziner, gegen die Kirchenhoheit der Diözesanbischöfe weitgehend exemt. Sie unterstehen kraft ihrer in Rom approbierten Konstitutionen unmittelbar dem Papst, beziehungsweise werden durch papstunmittelbare Ordensobere gesteuert.31 Seit das skizzierte Ordnungssystem zu Beginn des 13. Jahrhunderts seine vollen Konturen ausgebildet hat, sind in dieser Konstellation des klerikalen Feldes vielfältige Formen der Kooperation und konstruktiven Verflechtung, aber auch Oppositionen und scharf ausgetragene gesellschaftskulturelle, jurisdiktionelle wie ekklesiologische Rivalitäten möglich. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts bahnt sich im französischen Katholizismus eine hartnäckige „querelle“32 zwischen den beiden Organsiationsformaten an, die für die klerikale Kultur des Ancien Régime folgenreich wird. Diese „querelle des Évêques et des réguliers“ ab den 1620er Jahren fusst auf einem Gefälle klerikalen Kommikationsvermögens und gesellschaftskulturellen Renomees. Nach dem Konzil von Trient sind die Ordenskleriker sehr viel schneller in der Lage, sich zu reformieren, beziehungsweise als ein effizienter Austräger der notwendigen Reformimpulse zu profilieren.33 Insbesondere der Jesuitenorden legt binnen kurzem ein „ever-expanding network“34 Grund und spannt in diesem ein neuartig eindrucksvoll gemachtes katholisches Kulturidiom aus: Er errichtet Kollegien für den Nachwuchs der Noblesse, in denen ein christlicher Honnête homme geformt wird, eröffnet glanzvolle Kirchen und betreibt durch geschultes Ordenspersonal eine breitenwirksame Pastoral. Nicht zuletzt führt der Orden eine in diesem Zeitkontext affizierende, tridentinische Liturgie auf. In dieser Kapazität vermögen es Jesuiten und neben ihnen – unter je eigenen Strategien – die Orden der Kapuziner, Rekollekten, Minimen und Dominikaner, sich mit breiten Kreisen der französischen Gesellschaft, insbesondere mit den Eliten, zu verzahnen.35 Diese tridentinische Dynamik der Orden fällt mit einem internen Entwicklungsgeschehen der französischen Gesellschaft im Übergang zum absolutistischen Staat zusammen: Nach dem Kollaps der Valois-Dynastie und nach den gesellschaftskulturellen Zerrüttungen der Religionskriege stehen zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Zeichen

31 Joseph Bergin, Church, Society, and Religious Change in France 1580–1730 (New Haven/London 2009), 224. 32 Bergin 2009 (wie Anm. 31), 224. Vgl. Forrestal 2004 (wie Anm. 20), 8. 33 Henri-Jean Martin, Livre, pouvoirs et société à Paris au XVIIe siècle 1598–1701 (Paris/Genf 1969), Bd. 1, 185. 34 Bergin 2009 (wie Anm. 31), 324. 35 Bergin 2009 (wie Anm. 31), 113.



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auf eine umfassende Neuordnung kirchlichen und staatlich-gesellschaftlichen Lebens. Mit König Heinrich IV. tritt 1594 die noch junge bourbonische Dynastie an die Herrschaft, die bald eine frühabsolutistische Monarchiekonzeption vertritt und ihre Steuerungsmacht auszuweiten sucht. In diesem Sinne macht besonders der Richelieusche Ministerialstaat unter Ludwig XIII. in den Jesuiten einen wirkungsvollen klerikalen Partner und Kommunikator aus. Mit diesem ließen sich neue Symbole staatlich-kirchlicher Einheit generieren und entsprechende Zentrie­rungen des sozio-religiösen Verkehrsfeldes einsetzen.36 Beiden Operanten ist während der 1620er und 30er Jahre an der Ausweitung ihrer Spielräume gegenüber vorbestehenden gesellschaftlichen Akteursformationen gelegen, und das bedeutet – auch – an der Limitation bischöflicher Hoheitsansprüche im staatlichen und kirchlichen Leben. Für den Episkopat bedeutet die „Sakralisierung des Staates“37, wie sie in der strategischen Partnerschaft zwischen der Monarchie und den selbstgerierten tridentinischen Priestereliten operiert wird, ein bedrohliches Szenario: Mit dieser Verzahnung ließen sich, so deuten es weite Kreise des Säkularklerus, semiotische und jurisdiktionelle Freiräume gegenüber dem Episkopat gewinnen. Den traditionellen Zentrierungsansprüchen der säkularen Kirchlichkeit drohte durch das „Jesuit undermining of proper episcopal authority“38 eine schleichende, aber nachhaltige kommunikative Devaluierung. Diese Spannungen gelangen auf eine neue Eskalationsstufe als 1630 Texte publik werden, die von englischsprachigen Jesuiten verfasst sind.39 In diesen Abhandlungen werden die ablaufenden Pro36 Dieser Prozess verdichtet sich in seiner Initialphase exemplarisch in der Übertragung der Herzurne Heinrichs I. an das von ihm geförderte Jesuitenkolleg im westfranzösischen La Flèche im Jahr 1610. Vgl. Jean-Pierre Babelon, “Henri IV à La Flèche, une affaire de cœur,” in Henri IV et les Jésuites: Actes de la journée d’études universitaires de La Flèche, actes de la journée d’études universitaires, samedi 18 octobre 2003 à La Flèche, ed. Université du Maine (La Flèche Prytanée national militaire 2004), 13–23. Vgl. Eric Nelson, The Jesuits and the Monarchy: Catholic Reform and Political Authority in France 1590–1615 (Aldershot 2005), 107. Auch die frühabsolutistische Neukonturierung Saint Louis’, des heiliggesprochenen Kapetingers Ludwigs IX., geht hervor aus einer Kooperation zwischen Monarchie und Jesuitenorden. Vgl. Damien Tricoire, Mit Gott rechnen: Katholische Reform und politisches Kalkül in Frankreich, Bayern und Polen-Litauen (Göttingen 2013), 166. 37 Tricoire 2013 (wie Anm. 36), 224. 38 Anthony David Wright, The Divisions of French Catholicism, 1629–1645: The Parting of the Ways (Farnham 2011), 187. 39 Die wesentlichen Texte sind Edward Knott, A Modest Briefe Discussion of Some Points Taught by M. Doctour Kellison in his Treatise of the Ecclesiasticall Hierarchy (o. O. 1630) und John Floyd, An Apology of the Holy See Apostolicks Proceeding for the Government of the Catholicks of England during the Tyme of Persecution: With a Defense of a Religious State (Rouen 1630). Die jesuitischen Texte und ihre Angriffe auf den Bischofsstand entstehen im Kontext des englischen Unter-

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zesse einer gesellschaftlichen Devaluierung des Säkularklerus nicht nur umfassend ausgedeutet, sondern auf einer ekklesiologischen und gnadenökonomischen Ebene als folgerichtig gewertet. Mit Provokation wird hierbei nicht gespart: Die Kirchlichkeit der Bischöfe und Pfarreien stehe vor der Ablösung; sie sei von je eine Kirchlichkeit zweiter Klasse gewesen. Die Heiligkeit der Säkulargeistlichen sei nur zweitrangig gegenüber den Charismen der Ordensgeistlichen, mit deren Professgelübden sich die apostolische Vollkommenheit der frühen Kirche erneuere und durch die ein Ordenskleriker zu herausragenden Leistungen in Pastoral und Kult befähigt werde.40 Das bischöfliche Amt sei zudem nicht göttlichen Rechtes, sondern fuße auf einem Vertrag mit der Laiengesellschaft.41 Insbesondere das Zeremonialsystem und der liturgische Hoheitsanspruch der Bischofskirchen werden hierbei als ein überholtes Relikt des späten Mittelalters angegriffen. Monopole der bischöflichen Liturgie werden marginalisiert: Das Sakrament der Firmung etwa wird als bloße Zutat, als zum Heil der Gläubigen nicht notwendig ausgewiesen.42 Die Priesterweihe wird zwar als notwendige sakramentale Handlung bestätigt, zugleich aber aus ihrer Verankerung in einer flächendeckend diözesanen Kirchenordnung ausgelöst. Wenn es irgendwo in der Welt genügend Restbischöfe gäbe, die einer ausreichenden Zahl von Weihadepten die priesterliche Ordination spendeten, sei ein Zustand denkbar und legitim, in dem es, etwa in Spanien und Frankreich, gar keine Diözesanbischöfe mehr geben müsste.43 Die Kirchlichkeit der Orden habe volle Lizenzen und sei bereits im Vollzug, die diözesane Hierarchie abzulösen und breite Bestände ihrer zeremoniellen Praxis als obsolet auszuweisen. Als die englisch verfassten Texte zu Beginn der 1630er Jahre in Paris publik werden, reagieren die Sorbonne und der Erzbischof von Paris mit Härte. Die jesuitischen Schriften werden zensiert. Eine von vierunddreißig Bischöfen unterzeichnete Lettre circulaire wird aufgesetzt und in alle Diözesen,

grundkatholizismus. Hier eröffnet sich während der 1620er Jahre die Möglichkeit einer episkopalen Supervision der dortigen katholischen Zellen. Diese waren zuvor weitgehend von Jesuiten betreut worden. Bischof Smith, der den jesuitischen Einfluss zurückzudrängen sucht, wird aus dem französischen Säkularklerus unterstützt. In diesem Sinne wirken die Text­pro­duk­tio­nen der englischen Konfrontation massiv auf den französischen Schauplatz zurück. Vgl. Allison Anthony, “Richard Smiths Gallican Backers and Jesuit opponents,” Recusant history 18 (1987), 329–401. 40 Die jesuitischen Propositionen und der jeweilige Zensurkommentar der Sorbonne referiert bei: Abbé Minard, Histoire particuliere des Jésuites en France. Ou Actes, Dénonciations, Conclu­ sions et Jugemens de la faculté de Theologie de Paris, touchant les Jésuites et leur Doctrine, avec les Piéces qui y ont rapport. Depuis l’année 1550, jusqu’à ce jour (Paris 1762), 193. 41 Minard 1762 (wie Anm. 40), 190  f. 42 Minard 1762 (wie Anm. 40), 202. 43 Minard 1762 (wie Anm. 40), 207.



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„ad archiepiscopos et episcopos regni Galliae“ versandt.44 Dieses Rundschreiben unterrichtet über einen regularklerikalen Anschlag auf die Fundamente weltgeistlicher Kirchenordnung und ruft zu Gegenmaßnahmen auf.

4 Die Petri Aurelii Theologi Opera über episkopale „mysteria abstrusiora“ Die forciert regularklerikale Ekklesiologie von 1630 löst ihrerseits die Neuformatierung eines forciert weltgeistlichen Kirchenwissens aus, dessen langfristiges kulturpraktisches Echo noch in Boileau-Despréaux’ Lutrin von 1683 hervortreten wird. Unmittelbar nach der Verurteilung der jesuitischen Schriften 1631 veröffentlicht ein Pseudonymus, „Petrus Aurelius“, Texte, in denen die Zensurakten der Sorbonne und des Pariser Erzbischofs sowie der körperschaftliche Rundbrief ausführlich kommentiert werden. Diese Schriften der Jahre 1632–33, etwa die Vindicae Censurae Facultatis Theologiae Parisiensis und die Assertio Epistolae Illustrissimorum Galliae Antistitum, enthalten scharfe Angriffe gegen den Jesuitenorden. Die ekklesiologischen Konstruktionen der jesuitischen „libri venales“ seien nicht nur unhaltbar, sie entsprängen auch einer gefahrvollen „libido“ dieses Ordens. Dessen „lues“ stelle sich an, die französische Gesellschaftsordnung und ihre verbürgten Sakralzentren, die Bischofskirchen, zu verderben.45 Autor dieser Schriften ist der Priester Jean Duvergier de Hauranne. Als geistlicher Directeur der Zisterzienserinnen von Port-Royal wird Duvergier de Hauranne in den 1630er Jahren zu einem prominenten Netzwerker des französischen Anti-Jesuitismus und zur Symbolfigur des frühen Jansenismus.46 Hierbei greift er besonders die moraltheologischen Positionen der Gesellschaft Jesu an und wendet sich gegen eine „Verderbnis“ christlicher Moral durch den expansiven jesuitischen Pastoralbetrieb. Wegen dieser Attacken gegen den Orden und wegen der Infragestellung politischer Direktiven Richelieus wird der Abbé 1638 auf Geheiß des Kardinals in Haft genommen und stirbt bald nach seiner Entlassung 1643.47 Anti-jesuitisch

44 Pierre Le Merre, Hg., Recueil des Actes, Titres et Mémoires concernant les affaires du Clergé de France. Augmenté d’un grand nombre de pieces et d’observations sur la Discipline présente de l’Eglise (Paris 1771), Bd. 1, De la Foi Catholique et de la Doctrine de l’Eglise, 581. 45 Jean Duvergier de Hauranne [Petrus Aurelius], “In Appendicem ad Censuram Illustrissimi ac Reverdenissimum Archiepiscopi Parisiensis,” in Petri Aurelii Theologi opera iussu et impensis Cleri Gallicani denuo in lucem edita. In tres tomos distributa (Paris 1646), Bd. 2, 355–96, 358. 46 Wright 2011 (wie Anm. 38), 185  f. 47 Bergin 2009 (wie Anm. 31), 403  f.

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ist auch, was Duvergier de Hauranne unter dem Pseudonym „Petrus Aurelius“ veröffentlicht. Gleichwohl operiert dieses Schrifttum in einem ekklesiologisch engeren, episkopal ausgerichteten Beobachtungsrahmen. Eigenständiges Thema ist hier die Verteidigung des bischöflichen „droit divin“.48 In diesem Sinne werden die Texte in der französischen Weltgeistlichkeit allen voran als „Ouvrages où l’authorité Episcopale est si vigoreusement defendue“49 rezipiert. Die Identität und der jansenistische Horizont des Verfassers bleiben bis weit nach dem Tod Duvergier de Haurannes unentdeckt.50 Was stellt der „Petrus Aurelius“ als Wissen auf? Die jesuitischen „libri venales“ hatten argumentiert, dass das Bischofsamt nicht göttlichen Rechts sei, dass die mittelalterlich formatierten Hoheitszeichen der Bischofskirchen im Wesentlichen längst der pneumatischen Kapitaldeckung entbehrten und dass es Diözesanbischöfe so nicht mehr geben müsste. So grundstürzend wie die Formulierungen der jesuitischen Texte gehalten sind, so absolut fällt aus, was „Petrus Aurelius“ über die Sakraldignität der Diözesanbischöfe angibt: Diese seien göttlichen Rechtes: „Deus instituit Episcopatum, ut summam et plenitudinem Ecclesiasticae potestatis“.51 Das stehe nicht zur Verhandlung. Die bischöfliche Vollmacht sei „immutabilis et aeterna […], neque coelo ipso et terra transeunte“52. Der Bischof selbst sei – im Rahmen seiner Diözese – herausragendes Bild Christi und als dessen Stellvertretung autorisiert: „Episcopus refert Christum, et eius imago eximia est in totius Dioeceseos ambitu“.53 Mehr noch: Christus habe den Aposteln in höchstem Maße Gnade gemittelt; die Bischöfe stünden als Nachfolger der Apostel weiterhin unter dieser Gnadengarantie. Aus ihr bezögen sie ein juris­dik­ tio­nel­les „supremum ius“ und eine pneumatische „suprema in omnia Sacramenta

48 Forrestal 2004 (wie Anm. 20), 91. 49 “Illustria de Petro Aurelio Testimonia,” in Petri Aurelii Theologi opera iussu et impensis Cleri Gallicani denuo in lucem edita. In tres tomos distribute (Paris 1646), Bd. 1, o. S. 50 In der Fahndung nach dem unbekannten Autoren schreibt die Assemblée du Clergé von 1646 „offres de gratification“ und „toutes sortes de tesmoignage d’honneur“ aus. Der verdiente Verfasser halte sich, so wird gemutmaßt, aus heiligmässiger „modestie extraordinaire“ vor den ihm angebotenen Kirchenehrungen verborgen. Zu diesem Zeitpunkt ist Duvergier de Hauranne bereits verstorben. Zur Ausschreibung der Assemblée vgl. “Illustria de Petro Aurelio Testimonia” 1646 (wie Anm. 49), o. S. 51 Jean Duvergier de Hauranne [Petrus Aurelius], Propositiones Collectae ex Libro qui ­inscribitur Apologia pro processione Sedis Apostolicae quantum ad gubernationem Catholicorum in Anglia, durante tempore persecutionis, cum defensione Religiosi status [Vindicae Censurae facultatis Theologiae Parisiensis] (Paris 1632), 226. 52 Duvergier de Hauranne 1632 (wie Anm. 51), 110. 53 Duvergier de Hauranne 1632 (wie Anm. 51), 110.



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potestas characteri Sacerdotali incommunicabilis“.54 Jegliches sakramentale Geschehen in der Kirche speise sich aus der priesterlichen Kapazität des Bischofs, des „summus sacerdos“. Bleibe diese „suprema potestas“ unübertragbar allein auf den Bischofsstand limitiert, so habe andererseits die Vielheit einzelner kirchlicher Gnadenmittlungen als aus ihr abgeleitet zu gelten: Kirche insgesamt, das geistliche Leben jedes Getauften, ob eines Laien oder Priesters, von der Segensspende bis zur Feier der Sakramente und der Versammlung der Gläubigen in der Messfeier, sei mittelbar in pneumatischer Inkraftsetzung durch den Bischofsstand bedingt. Kirche sei entsprechend als „flux et emanatio“55 der bischöflichen „potestas“ vorzustellen. Sie habe auch jurisdiktionell in einer diözesanbischöf­ lichen Ordnung verankert zu sein, „nulla lege, nullo casu mutabilis“.56 Diese Doktrin wird durch den französischen Episkopat entschlossen approbiert. Auf seinen Assemblées von 1641 und 1646 bewundert der Clergé de France die „eminente doctrine“ und die „eloquence admirable“ des Verfassers.57 Mit profunder Kenntnis der Kirchenväter und der gallikanischen Kirchenhistorie habe dieser ein Wissen von den „mysteria abstrusiora“58 der Bischofskirchen und ihres Zeremonialsystems neu zugänglich gemacht. Dieses Wissen sei in seiner „force de raisons“59 geeignet, den regularklerikalen Angriffen zu entgegnen. Daher beschließt der Clergé de France, die Einzelschriften zu kompilieren und zur Edition als umfangreiches Kanonwerk vorzubereiten. Die Opera, so projektiert die Assemblée, sollen „iussu, ordo et expenso clero gallicano“ gedruckt werden. Ein gleichlautendes Siegel wird 1646 gut lesbar auf dem Titelblatt platziert. Mit dem offiziösen, hochkirchlichen Editionsrahmen der Opera wandelt sich der institutionelle Kontext dieses Schrifttums. Die pseudonym verfassten Schriften der frühen 1630er Jahre werden als kanonisches Ordnungswissen des weltgeistlichen Großblocks lanciert und ab 1646 als Petri Aurelii Theologi Opera in die Diözesen ausgeliefert.

54 Duvergier de Hauranne 1632 (wie Anm. 51), 110. 55 Duvergier de Hauranne 1632 (wie Anm. 51), 226. 56 Duvergier de Hauranne 1632 (wie Anm. 51), 110. 57 “Illustria de Petro Aurelio Testimonia” 1646 (wie Anm. 49), o. S. 58 Antoine Godeau, “Petro Aurelio Theologo, veritatis amatori acerrimo, Hierarchiae Vindici iustissimo, Episcoporum Defensori invictissimo, Elogium. Generalis Coetus Cleri Gallicani Patres Congregati Anno Christi M. D. C.XLVI. scripsere,” in Petri Aurelii Theologi opera iussu et impensis Cleri Gallicani denuo in lucem edita. In tres tomos distributa (Paris 1646), Bd. 1, o. S. 59 “Illustria de Petro Aurelio Testimonia” 1646 (wie Anm. 49), o. S.

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5 Die Petri Aurelii Theologi Opera in ihrem nachtridentinischen Zeitkontext Verdeutlichen wir uns den Zeitkontext dieses Wissens und seiner körperschaftlichen Offizialisierung durch den französischen Episkopat der 1640er Jahre in einem breiteren Beobachtungsrahmen  – dem des nachtridentinischen Katholizismus: Unter den auf dem Konzil von Trient 1545–63 versammelten Klerikern wird die Frage nach dem Ius divinum des Bischofsstandes kontrovers verhandelt.60 Gerade in diesem Bereich, der festzustellenden jurisdiktionellen Autonomie und der gnadenökonomischen Reichweiten des Bischofsstandes, bilden sich zwei Blöcke aus, an deren Antinomie das Konzil in seiner abschließenden dritten Sitzungsperiode zu scheitern droht: Die Partei der „oltramontani“ verneint ein Ius divinum des Bischofsstandes. Das römische Bischofsamt allein sei göttlicher Einsetzung und verbürge die hierarchischen Gnadenmittlungen an die Gesamtkirche. Während diese Position allen voran durch papstunmittelbare Regularkleriker, besonders durch Theologen des Jesuitenordens vertreten wird, formiert sich eine weltgeistliche, diözesanbasierte Konzilspartei. Dieser Block wird aus Kirchenlandschaften mit starken episkopalen Traditionen, aus dem französischen und dem spanischen Kulturraum, vertreten und ist nicht bereit, vom Konzept des bischöflichen Ius divinum abzurücken. Da sich in diesen Fragen keine Annäherung ergibt, verzichtet das Konzil auf eine doktrinäre Festlegung in seinen Dekreten. Hiermit geben die Konzilsväter den Komplex ungeklärter binnenkirchlicher Verhältnisbestimmungen als ein fortdauerndes Spannungsmoment in die Ausbildung nachtridentinischer Klerikalkultur ein.61 Innerhalb dieser nachtridentinischen Klerikalkultur kann ein frühes, weit ausstrahlendes Exempel für eine episkopalistische Kirchendirektion in der Erzdiözese Mailand beobachtet werden. Erzbischof Carlo Borromeo sucht in den 1570er und 80er Jahren das Konzept einer episkopalen „Handhabung des Göttlichen“ mit Nachdruck im öffentlichen Raum zu verankern. In seinen Discorsi von 1591 erinnert sich ein Mailänder Weltgeistlicher, dass gerade hierin die Eigenart des bischöf­lichen Stils Borromeos bestanden habe: Der Erzbischof habe die öffentlichen Erhebungen seiner segnenden, weihenden und ordinierenden Hand in neuen Dimensionen ausgestalten lassen. Nicht nur die Spende des Firmungssakramentes und der Priesterordination, auch Weihen von Kirchen, Segnungen von Kirchglocken und Altären seien in bewusst gesteigerter Quantität, „quasi senza 60 Zum Folgenden vgl. Alain Tallon, Le Concile de Trente (Paris 2000), 72  f. Vgl. auch J. Pégon, “Episcopat et hiérarchie au Concile de Trente,” Nouvelle Revue Théologique 82 (1960), 580–88. 61 Tallon 2000 (wie Anm. 60), 72  f.



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numero“62 vollzogen worden. Selbst kleinere, vermeintlich marginale Glieder dieses Zeremonialsystems – etwa die „benedictio“ von liturgischen Gefäßen und Gewändern – seien mit gehobenem personalem wie rituellem Aufwand umgeben worden und hieran zu beträchtlicher performativer Qualität gelangt. Derartig ausgestaltet hätte die Erhebung der bischöflichen Hand ihre Beiwohnenden  – Laien wie Kleriker  – in einen Zustand „stupito della maiestà et esquisitezza“63 versetzt. Seinem performativen Idiom nach kann dieser Ritualismus als ein für den nachtridentinischen Katholizismus typisches Phänomen gelten. Gleichwohl erkannten zeitgenössische Beobachter um 1600 in diesen Vollzügen noch etwas anderes: Bei den geschilderten Performanzen handle es sich um ein „capo di funtione meramente episcopale“64, um Monopole also und Hoheitszeichen einer exklusiv bischöflichen Gnadenmittlung. Diesem episkopalen Zeremonialsystem sei in Mailand ein neuer gesellschaftlicher und religiöser Kapitalwert zugeleitet worden. In diesem Sinne antwortet die diözesane Praxis des Borromeoschen Mailand den Zielvisionen jener Partei, die auf dem Konzil von Trient für eine Doktrin vom Ius divinum des Bischofsstandes und eine Betonung seiner gnadenökonomischen Reichweiten eingetreten war. Dem entspricht, dass das ekklesiologische wie zeremonialpraktische Schrifttum der Mailänder 1570er und 80er Jahre im 17. Jahrhundert gerade durch jene klerikalen Kabinette rezipiert wird, die in der Nachfolge der episkopalen Konzilspartei von Trient stehen: Im französischen Katholizismus ist es Bischof Antoine Godeau, der in seiner Vie de Saint Charles Borromée von 1657 den Amtsstil des Mailänders analysiert und zu deutlichen Schlussfolgerungen in Sachen „droit divin“ kommt: An „esprit“ und „zele“ des Heiligen Carlo werde jedem Zweifelndem ersichtlich, dass der göttlich eingesetzte Stand des Diözesanbischofs unter allen Ämtern und Professionen der Kirche der einzige sei, der bis zur Vollendung der Heilsgeschichte bestehen bleiben werde.65 Kehren wir von diesem Ausblick auf die Trienter Konzilsparteien der 1560er und das Mailänder Exempel der 1570er und 80er Jahre zurück auf den französischen Schauplatz. Hier werden 1646 die Petri Aurelii Theologi Opera durch den französischen Episkopat nachdrücklich approbiert. Der „Petrus Aurelius“ stellt dem französischen Episkopat ein ekklesiologisches Wissen bereit, das im voran-

62 Giovanni Battista Possevino, Discorsi della Vita et attioni di Carlo Borromeo Prete Cardinale di Santa Chiesa del titolo di Santa Prassede Arcivescovo di Milano di Giovanni Battista Possevino (Rom 1591), 120. 63 Possevino 1591 (wie Anm. 62), 120. 64 Possevino 1591 (wie Anm. 62), 115. 65 “L’Ordre Episcopal […] seul subsistera jusqu’à la fin des siecles, tandis que les Ordres succedant les uns aux autres, s’aboliront entierement.” Antoine Godeau, Vie de Saint Charles Borromée Cardinal du Titre de Sainte Praxede et Archevéque de Milan (Paris 1684), 373  f.

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Abb. 3: Die Segnung eines Altares, aus dem Pontificale Romanum, Rom 1611, S. 319. © Dombibliothek Hildesheim.

gehend skizzierten, nach-tridentinischen Spannungsfeld äußerst verwertbar ist. Dies lässt sich plastisch veranschaulichen, wenn wir Graphiken des Pontificale Romanum hinzu­ziehen. Das Pontificale Romanum erscheint erstmals 1596 in Rom. Das Werk bietet eine vereinheitlichende und normierte Übersicht über die vielfältigen Zeremonien der Kathedralkirchen. Mit den dargebotenen Gebetstexten und mit detaillierten rituellen Angaben leiten die Bände einen sachgerechten, äußeren Vollzug pontifikaler Zeremonien an – von den beiden bischöflichen Sakramenten bis zu einer Vielzahl an bischöflichen Sakramentalien.66 Die mitgelieferten Illustrationen bilden prägnante Figuren und Handreichungen dieser Zeremonien ab: Die Hand des Bischofs erhebt sich über Objekte und Personen  – über einen Altar,

66 Zum Konzept der Sakramentalien vgl. Reinhard Messner, „Sakramentalien,“ TRE 29 (1998), 648–63. Für eine breite Verhandlung bischöflicher Liturgie und der sie tragenden Ekklesiologien vgl. besonders Winfried Haunerland u.  a., Hg., Manifestatio Ecclesiae: Studien zu Pontifikale und bischöflicher Liturgie. Festschrift Reiner Kaczynski, Studien zur Pastoralliturgie 17 (Regensburg 2004).



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Abb. 4: Die Segnung liturgischer Objekte, aus dem Pontificale Romanum, Rom 1611, S. 198. © Dombibliothek Hildesheim.

über liturgische Gefäße, über priesterliche Gewänder oder  – im Ordinations­ sakrament  – über das Haupt eines Adepten zum Priesteramt. Sollten entsprechende Zeremonien wieder zu zentrierenden Performanzen katholischer Kirchlichkeit werden, hatten sie mit „majestá et esquistezza“67 ausgeführt zu werden, so war es im Borromeoschen Mailand formuliert worden. Zugleich aber wurde in Mailand betont, dass es galt, unter Geistlichen wie unter Laien ein Wissen vom „perche si facesserò“68, ein Wissen davon bereitzustellen, warum die heilige Hand des Bischofs der Kirche so notwendig sei und was durch sie vollzogen werde. In diesem Sinne hatte auch Antoine Godeau in seinem Discours sur les Ordres sacrez selon le Pontifical Romain von 1658 zwischen den „figures  et ceremonies“ der äußerlich vollzogenen Bischofsliturgie und den unter diesen verborgenen „mysteres“ unterschieden.69 Die Erneuerung diözesanbischöflicher Kirchlichkeit fuße

67 Possevino 1591 (wie Anm. 62), 120. 68 Possevino 1591 (wie Anm. 62), 120. 69 Vgl. Godeau 1658 (wie Anm. 21), 198.

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Abb. 5: Die Segnung priesterlicher Gewänder, aus dem Pontificale Romanum, Rom 1611, S. 356. © Dombibliothek Hildesheim.

darauf, dass gerade auch die letzteren, die „mysteres“, der Kognition und dem religiösen Sensorium ihren Partizipanten erschlossen würden. Als Godeau 1646 im Auftrag der Assemblée générale eine Eloge latin auf den „Petrus Aurelius“ verfasst, wird die entscheidende Wissensleistung der Opera innerhalb dieser Spannung formuliert. In einem kirchlichen Entwicklungs­ moment, als jesuitisches Schrifttum den Komplex pontifikaler Zeremonialität zu­fragmentieren und zu dekonstruieren suchte, sei der „Petrus Aurelius“ zu tiefliegenden „mysteria abstrusiora“70 des diözesanbischöflichen Symbolsystems vorgedrungen. Er habe den unter diesem wirksamen Gnadenzusammenhang begreifbar gemacht. Tatsächlich machen die Petri Aurelii Theologi Opera ihre profiliertesten Angaben auf diesen Horizont hin. Sie begreifen Kirche als „flux et emanatio“71, ausfließend nicht nur aus den bischöflichen Sakramenten, Firmung und Ordination, sondern befestigt in einem Kranz bischöflicher Weihund Segnungszeremonien. Die Erhebung der Segenshand über die priesterlichen

70 Godeau 1646 (wie Anm. 45), o. S. 71 Duvergier de Hauranne 1632 (wie Anm. 51), 226.



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Abb. 6: Die Priesterweihe, aus dem Pontificale Romanum, Rom 1611, S. 43. © Dombibliothek Hildesheim.

Gewänder wie in Abb. 5 ist eine Sakramentalie, kein Sakrament. Im Sinne des „Petrus Aurelius“ ist sie gleichwohl gewichtig. Sie ist Einzelglied eines hierarchischen Distributionssystems, in dem „ab Episcopo fluens“ die Gesamtheit der pneumatischen Mittlungsakte der Kirche in Fluss gesetzt werde. In ihr verdichte sich – ausgehend von der bischöflichen „fons omnis Sacerdotalis functionis“72 – ein weitreichender Emanationsprozess, ein „ab eo ut a capite et fonte in Ecclesiis fluere“.73 Gemäß dieser Interpretation setzt sich unter den im Pontificale dokumentierten liturgischen Akten ein heilsgeschichtlicher Prozess fort. Dessen Gnadenfluss verlaufe von Christus über die Apostel, werde durch die Handauflegung von den Aposteln auf die Bischöfe gemittelt und reiche, über die bischöflichen Handzeichen, in jeglichen priesterlichen Vollzug der Kirche hinein.

72 Duvergier de Hauranne 1632 (wie Anm. 51), 109. 73 Vgl. Duvergier de Hauranne 1632 (wie Anm. 51), 109.

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6 „L’approbation et l’estime qu’en fait ledit Clergé“ – Die Opera als weltgeistliches Kanonwerk Die Assemblées du Clergé de France der 1640er Jahre schätzen das Wissen der Opera als gewichtig ein. Dies belegt die sorgfältig geplante Distribution dieses Schrifttums. Zwei Exemplare der Bände seien an jeden Erzbischof und Bischof zu übersenden. Die Bände sollen zudem einer ausgewählten Gruppe von über fünfzig namhaften Gelehrten des französischen Sprachraumes überstellt werden.74 Zugleich ernennt der Episkopat 1646 einen Autor aus seiner Mitte, Antoine Godeau, der mit der Abfassung einer Eloge auf die Opera und ihren Verfasser beauftragt wird, „pour servir d’un tesmoignage solemnel à la posterité de l’approbation et de l’estime qu’en fait ledit Clergé“.75 Der anonyme Autor wird als ein „Episcoporum Defensor invictissimus“76 heroisiert. Die Schriften des „Petrus Aurelius“ seien in einem kritischen Zeitmoment entstanden, in dem es gelte, das episkopale Fundament der Kirche zu verteidigen. Hiermit überblickt Godeau Antinomien des klerikalen Feldes, die so bereits auf dem Konzil von Trient hervorgetreten waren. Mäßigung der Einsätze oder gar Vertagung einer Entscheidung – wie in Trient – steht den Akteuren des französischen klerikalen Feldes zu Beginn der 1640er Jahre nicht mehr im Sinn: Auf der Assemblée du Clergé 1646 hält der Erzbischof von Toulouse eine Rede, in der er den diözesanen Kirchenblock auf einen Überlebenskampf einzuschwören sucht. Es scheine, der Teufel selbst habe, im Instrument jesuitischer Agitation, Absichten zu einem endgültigen Schlag gegen die diözesane Hierarchie gefasst. Seit einigen Jahren, seit die Texte englischer Jesuiten in Frankreich bekannt geworden seien, sähe man sich mit einer fundamentalen Ordnungsbedrohung, mit „tant d’entreprises contre l’Episcopat“77, konfrontiert. Diese Rhetorik des körperschaftlichen Alarms hat nicht allein die Jesuiten im Blick, sondern auch die erfolgreiche Kooperation dieses Ordens mit der frühabsolutistischen Monarchie, wie sie vorangehend als ein wesentlicher Geschehensrahmen der französischen 1630er und 40er Jahre skizziert worden ist. Mit den „tant d’entreprises“ blickt der Erzbischof von Tou-

74 “Extraict du Proces verbal de l’Assemblee generale du Clergé de France, tenüe en la ville de Mante, en l’année 1641,” in Petri Aurelii Theologi opera iussu et impensis Cleri Gallicani denuo in lucem edita. In tres tomos distribute (Paris 1646), Bd. 1, o. S. 75 “Illustria de Petro Aurelio Testimonia” 1646 (wie Anm. 49), o. S. 76 Godeau 1646 (wie Anm. 45), o. S. 77 “Extraict du Proces verbal de l’Assemblee generale du Clergé de France en l’année 1641” 1646 (wie Anm. 74), o. S.



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louse auf ein weiteres Eskalationsmoment in der Editionsgeschichte des „Petrus Aurelius“ zurück: Die von der Assemblée 1641 vorbereitete Publikation der Petri Aurelii Theologi Opera war zur Machtprobe zwischen monarchischer Kirchenhoheit und Episkopat geworden. Auf Anordnung Kanzlers Seguiers wurde die Veröffentlichung der Opera verboten. Die bereits gedruckten Bände wurden konfisziert.78 Die Gründe hierfür sind offensichtlich. Der „Petrus Aurelius“ enthält scharfe Angriffe auf den jesuitischen Kirchenbetrieb und seine Strategien, gesellschaftlichen Einfluss zu erlangen. Hiermit stellen die Opera zugleich die monarchiestaatliche Förderung des Ordens in Frage. In Fortführung der Konzeption vom bischöflichen Ius divinum legen die Opera weiterhin dar, dass beide, ein französischer Monarch und jeder einzelne Bischof, über einen gottgegebenen „principatus“ verfügten. Kein Zweifel aber könne daran bestehen, dass der „principatus“ des Bischofs auf einer überlegenen heilsgeschichtlichen Grundlage stehe, dass er göttlicher, „imo altior, sanctior, divinior“79 sei als jener des Königtums. Die episkopalen Mythisierungen des „Petrus Aurelius“ tragen somit eine deutlich politische Dimension, deren geschärfte Symbolansprüche einer frühabsolutistischen Zentrierung kirchlichen und staatlichen Lebens gegenoperieren. Erst nach dem Tod Richelieus – in einem vorübergehenden Moment der Schwächung monarchiestaat­licher Zentralgewalt unter der Regentin Anna von Österreich und unter Kardinal Mazarin  – gelingt es der Assemblée, erfolgreich einen Neudruck zu veranlassen. Mit der „iussu, ordo et expenso clero gallicano“ verfügten Edition von 1646 vermisst die Assemblée somit einen Radius episkopaler Autonomie. Dieser Durchsetzung nach außen entspricht das Bestreben, den unmittelbar den Bischöfen unterstehenden weltgeistlichen Binnenraum auf die Kirchendoktrin des „Petrus Aurelius“ zu verpflichten. Nur in Verkürzung kann hier die Reichweite dieses Diskursgeschehens skizziert werden, das dem Clergé séculier ganz eigene Sinn- und Denkfiguren aufprägt. Vervielfältigt durch das Schrifttum weltgeistlicher Publizisten wie Jean Pierre Camus, François Hallier und Antoine Godeau wird das Postulat einer „entiere et parfaite soumission et dependance des Evesques“80 in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zum Schibboleth weltgeistlicher Kultur.81 Der doktrinäre Ertrag der 1630er und 40er Jahre wird noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts als Grundreglement behandelt,

78 “Extraict du Proces verbal de l’Assemblee generale du Clergé de France en l’année 1641” 1646 (wie Anm. 74), o. S. 79 Duvergier de Hauranne 1632 (wie Anm. 51), 359. 80 Jean Pierre Camus, Le Noviciat clerical (Paris 1643), 131. 81 Gleichwohl kommt es auch zu Konstellationen des weltgeistlichen Widerstandes gegen diesen episkopalen Absolutismus. Eine solche Phase bieten die 1650er Jahre und der Presbyte­ria­ nis­mus der Grandes Paroisses, vgl. hierzu Bergin 2009 (wie Anm. 31), 423. Für eine breitere Dar-

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wenn in der internen Kommunikation der Clercs séculiers eine „étroite dépendance des Ecclésiastiques envers leur Évêque“82 eingefordert wird. Dieser französische Episkopalismus hatte sich ausgehend von ekklesiologischen Antinomien des Konzils von Trient formiert, war zum anderen aber in Auseinandersetzungen mit frühabsolutistischer Staatlichkeit bedingt. Dem entspricht, dass sich die Konjunktur entsprechender episkopalistischer Tendenzen im Gegenüber mit dem vollen monarchischen Absolutismus noch steigert, sich zugleich aber in ihrem Geltungsraum differenziert. Konfrontiert mit massiven staatskirchlichen Limitationen bischöflicher Autonomie ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verteidigt der Episkopat umso nachhaltiger seine Hausrechte im intern weltgeist­ lichen Verkehrs- und Zeremonialfeld. Die von Boileau-Despréaux 1683 in der Szene zwischen Chanoines und Évêque entworfene Konstellation reflektiert  – noch in ihrer Übersteigerung  – die Geltungsansprüche eines solchen bischöf­ lichen Absolutismus im säkularklerikalen Binnenraum. Die „sainte victoire“, die sich der gekränkte Prälat durch die Erhebung seiner Hand erringt, wird möglich in einem geschlossen weltgeist­lichen Ordnungs- und Sinnsystem. Dessen tragendes Prinzip ist die „dépendance absolue des Évêques“83  – semiotisch manifest gemacht und in ihren ekklesiologischen Implikationen verdichtet auf der heiligen Hand des Bischofs.

7 Wissen von der heiligen Hand des Bischofs zwischen Mythisierung und Rationalisierung Die vorangehenden Beobachtungen zur bischöflichen „Handhabung des Gött­ lichen“ haben Phasen der Dynamisierung von religiösem Wissen im französischen Katholizismus der 1630er bis 80er Jahre referiert. Ursächlich traten hinter dieser Dynamisierung je eigene Konstellationen von Mythisierung und Rationalisierung hervor. Die Petri Aurelii Theologi Opera antworteten einer Entzauberung: Jesuitische Autoren hatten den Hoheitsstatus des Bischofsstandes in Frage gestellt, indem sie diesen, unter anderem, nicht in göttlicher Autorisierung, sondern in innerweltlichem Vertragsrecht begründet sein ließen. Die entsprechenden Argustellung vgl. Richard M. Golden, The Godly Rebellion: Parisian Curés and the Religious Fronde, 1652–1662 (Chapel Hill 1981). 82 M. de Nicéville, Mémoire pour les vénérables Grand-Doyen, Chanoines et Chapitre de la Cathédrale de Toul contre Frere Jacques-Simon Pierre, Chanoine Régulier de la Congrégation de NotreSauveur, à lui joint Frere Hyacinthe Pillerel, Général de ladite Congégation (Nancy 1765), 59. 83 M. de Nicéville 1765 (wie Anm. 82), 60.



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mentationen wurden durch den Bischofsstand als Deva­luierung seines religiösen Kapitals, seiner sakralen Aura und seiner gesellschaftskulturellen Geltung gewertet. Hiergegen erarbeitete der „Petrus Aurelius“ eine Rückmythisierung bischöflicher Kirchlichkeit und ihrer „mysteria abstrusiora“. Die hierbei verfassten Einzelschriften wurden wegen ihrer „force de raisons“ auf Veranlassung des Episkopats 1646 zum Kanonwerk der weltgeistlichen Großkörperschaft kompiliert und unter Siegeln hochkirchlicher Offizialität ediert. Dieses ekklesiologische Wissen wurde durch Publizisten der 1640er bis 80er Jahre weiter entfaltet und in seinen Mythisierungsimpulsen passgenau gemacht für jeweilige institutionelle Binnenvollzüge der Clercs séculiers, etwa für die Priesterausbildung. Hier war beispielhaft auf Antoine Godeau zu verweisen. Den Ge­ne­ra­tio­nen von Priestern, die im ideellen Spannungsfeld von Godeaus Discours sur les Ordres sacrez und Eloges des Évêque francais formiert wurden, war eine starke religiöse Sensibilisierung für die Sakralität der bischöflichen Hand eigen. Der Prozess dieser forcierten Mythisierung eines einzelnen Abschnitts des kirch­lichen Zeichenbestandes ist nicht abzutrennen von steuernder körperschaftlicher Ra­tio­na­li­tät. Denn die Leitungsgremien der Clercs séculiers nahmen im Zuge dieses Prozesses ein sich in seiner Effizienz steigerndes, kommunikations- und distributionstechnisches Wissen in Betrieb. Dieses Know How vermochte es, einzelne Stränge des heilsgeschichtlichen Zusammenhangs mit besonderem Nachdruck in der Wirklichkeitswahrnehmung priesterlicher Subjekte zu verankern. Es konditionierte französische Weltgeistliche auf ein sehr spezifisch formatiertes Wissen von den Mysterien des Christentums. Welche Konsequenzen aber hatte diese Mythisierung des bischöflichen Zeremonialsystems auf eine Ausdifferenzierung von Wirklichkeitswissen und Wissensfeldern außerhalb des kirchlichen Steuerungsradius? In Boileau-Despréaux’ Klerikersatire Le Lutrin kündigte sich bereits eine ganz eigene rationale Option auf dem Anweg zur Moderne an, der „rationalisme incroyant des èlites“84 des Aufklärungsjahrhunderts. Die Erhebung der bischöflichen Hand und der Spott über das „heilige Erschaudern“ Pariser Priester im fünften Chant des Lutrin von 1683 bedeuten ein besonders frühes Beispiel für die „critique sarcastique du cérémonial“85, mit der sich die katholische Hochkirche im Siècle des Lumières konfrontiert sah. Das institutionell einseitig forcierte Mysterienwissen provozierte im französischen Kulturraum einen Prozess gerade in die Gegenrichtung. Es bot Beobachtern und Kommunikatoren außerhalb des Klerus Angriffsfläche

84 Cécile Davy-Rigaux und Bernard Dompnier, Les cérémoniaux catholiques en France à l’époque modern: Une littérature de codification des rites liturgiques (Turnhout 2009), 41. 85 Davy-Rigaux/Dompnier 2009 (wie Anm. 84), 41.

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zu einer rationalistischen Gegendurchleuchtung der veranschlagten „mysteria abstrusiora“. Es beschleunigte in diesem Sinne eine Entmythisierung jenes religiösen Expertenstandes, der sich mit dem Wissen der Petri Aurelii Theologi Opera im gesellschaftlichen Verkehrsfeld intangibel zu machen suchte. Besonders die einleitend platzierte Lutrin-Illustration von 1770 (Abb. 2) verdeutlicht den Schritt zu einer bewussten Dekonstruktion des hier karikierten Gemenges von Christusmysterium, priesterlichem Zeichenanspruch und gesellschaftlicher Anerkenntnis. Der implizierte Betrachter schätzte den Sakralwert der bischöf­lichen Handerhebung als gewiss übertrieben ein. Zugleich aber reichte der kritische Esprit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch weiter als in Boileau-Despréaux’ Text von 1683. In der Graphik von 1770 erhebt sich die Hand des bischöflichen „summus sacerdos“ hieratisch ruhend und mit besonderer Selbstgewissheit. Sie hebt sich nicht nur in eine zentrale Position des Bildfeldes, sondern misst, ihrer Intention nach und im Wahrnehmen der umgebenden Bildpersonage, die Höhe und Weite des kirchlichen Offenbarungsraumes aus. Mit der analytischen Queransicht auf die „sainte victoire“ des Bischofs bot die Graphik eine Perspek­tive an, in der das Wirklichkeitswissen der adorierenden Priester im Ganzen als verunklärt erscheinen musste. Die Lutrin-Illustration suchte ihrem zeitgenössischen Betrachter ein grundsätzlich skeptisches Blickfeld auf priesterliche Semiotik und deren Wirklichkeitsanspruch zu öffnen. Im Zeitkontext der französischen Aufklärung und ihres „ungläubigen Rationalismus“ boten sich hierbei nicht mehr nur die komischen Figuren des Lutrin dem Gelächter dar, sondern der innerstaat­ liche, der gesellschaftliche und der intellektuelle Geltungsbereich von Händen, die pneumatische Zeichen schlagen, stand insgesamt einer Hinterfragung offen.

Daniel Kazmaier

Handhabung Gottes: Catharina Regina von Greiffenbergs poetische Praxis der Unbegreiflichkeit und Hans Blumenbergs Theorie der Unbegrifflichkeit 1 Unbegrifflichkeit/Unbegreiflichkeit Wenn man über die Medien der Handhabung Gottes nachdenkt, was liegt da näher, als die Hand selbst zum Medium dieser Handhabung zu erklären? Genau dieses möchte ich im Folgenden anhand des Symbols beziehungsweise des Motivs der Hand in einigen Sonetten Catharina Regina von Greiffenbergs tun. Die Hand als das Organ des Schreibens und gleichzeitig des Greifens steht in einer Nachbarschaftsbeziehung zum Begriff. Gott handhabbar und begreifbar zu machen sind also verwandte Gesten. Aus dieser Verwandtschaft schlägt Greiffenberg rhetorisches Kapital, mit dem sie das Spannungsfeld zwischen Rationalisierung und Mythisierung, zwischen literarischer Verfügung und göttlicher Unverfügbarkeit bewirtschaftet. In seiner postum herausgegebenen Theorie der Unbegrifflichkeit macht Hans Blumenberg auf diese Nachbarschaft zwischen Hand und Begriff in anthropologischer Hinsicht aufmerksam, wenn er den Menschen als Handelnden durch die Distanz kennzeichnet.1 In seinem philosophischen Projekt sieht er einen großen anthropologisch motivierten Prozess am Werk, der den Tastsinn und den quasi wörtlich zu nehmenden Begriff miteinander in eine notwendige Beziehung setzt. Dieser Prozess mündet in eine großangelegte Verwandlung des Begriffs mit dem paradoxen Effekt, dass der Mensch sich mittels des Begriffs die Wirklichkeit vom Leibe hält. Sich dies wie jenes vom Leibe halten zu können, das ist die elementare Fähigkeit des Menschen. Sie führt vom ersten Abwehrakt durch Steinwurf bis hin zum Begriff, der die Welt in der Schreibstube versammelt, ohne daß ein Sandkorn von ihr gegenwärtig sein müßte.2

1 Vgl. Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, aus dem Nachlass herausgegeben von Anselm Haverkamp (Frankfurt a. M. 2007), 10. 2 Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen, aus dem Nachlass herausgegeben von Manfred Sommer (Frankfurt a. M. 2006), 578.

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Blumenberg vollzieht am Beispiel von Descartes’ Discours de la Méthode eine regelrechte techné des Begriffs nach, die mit der vollständigen Terminologisierung auch eine Vollständigkeit der Erkenntnis erreichen würde. Dessen Leistungsprofil beschreibt er eben nicht nur als eine „Ersetzung der Gegenwärtigkeit“3 der gegenständlichen Dinge, sondern auch als eine Ersetzung dessen „was überhaupt nicht gegenwärtig werden kann, weil es nicht die Art eines Gegenstandes hat, wie zum Beispiel: die Welt, das Ich, die Zeit, der Raum (Ideen  – Regeln, als ob sie Gegenstände wären).“4 Aus diesen Zeilen spricht nicht nur der Stolz auf die Leistungen des Begriffs, sondern ebenso ein gehöriges Maß an Misstrauen dem Begriff gegenüber, denn Blumenberg unterscheidet zwischen der Leistung der Vernunft als menschlicher Welterschließung und der Leistung des Begriffs als terminologische und klassifizierbare Weltdarstellung. Menschliche Welterschließung, so kann man das latente Unbehagen zusammenfassen, geht über den Begriff hinaus, sie ist nicht deckungsgleich mit einer techné des Begriffs. Im Gegenteil „es bedarf der Erwägung, ob die Vollendung des Begriffs nicht die Erfüllung der Ansprüche der Vernunft behindert oder gar inhibiert.“5 Doch die Ersetzung der Gegenwärtigkeit durch die begriffliche Sprache hat auch eine produktive Rückseite, die im Medium der Sprache eine abstrakte Gegenwärtigkeit bezeichnet, und damit eine Wirklichkeit erst herstellt, die nicht von der gegenständlichen Realität gedeckt ist. Diese Art von Wirklichkeit ist eben nicht im Begriff verankert, der, je nach Perspektive, als Schwundstufe oder als Sublimation der sinnlichen Realität erscheint, sondern sie verdankt sich dem Paradigma der Unbegrifflichkeit. Man kann Blumenbergs Theorie der Unbegrifflichkeit als die konsequente Fortsetzung seiner Metaphorologie betrachten. Anselm Haverkamp spricht in seinem editorischen Nachwort zur Theorie der Unbegrifflichkeit vom „Neuansatz der Unbegrifflichkeit“6, der das „Paradigma Metapher insgesamt“7 hinterfragt. Blumenberg will die Metaphorologie nicht nur als „Substrat für die Transformation ins Begriffliche“ verstanden wissen, sondern auch „als eine katalysatorische Sphäre, an der sich […] die Begriffswelt bereichert, aber ohne diesen fundierenden Bestand dabei umzuwandeln und aufzuzehren.“8 Sein Anspruch verbleibt aber im Bannkreis des Begriffs, wenn er feststellt, dass „die Metaphorologie […] an die Substruktur des Denkens heranzukommen [sucht], an den Unter3 Blumenberg 2007 (wie Anm. 1), 9. 4 Blumenberg 2007 (wie Anm. 1), 9. 5 Blumenberg 2007 (wie Anm. 1), 11. 6 Anselm Haverkamp, „Editorisches Nachwort,“ in Blumenberg 2007 (wie Anm. 1), 119. 7 Haverkamp 2007 (wie Anm. 6), 116. 8 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (Frankfurt a. M. 1999), 11.



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grund, die Nährlösung der systematischen Kristallisationen“.9 Die Metaphern der Nährlösung und der Kristallisation enthalten eine implizite auf den Begriff ausgerichtete Teleologie, die Blumenberg um der „Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen“ willen „innerhalb deren Begriffe ihre Modifikationen erfahren“10 entfaltet. Dieser Befund genügt ihm methodisch nicht, weil er zu sehr auf die positivistische Leistung der Metapher bezogen ist, ihr deshalb grundlegendes fehlt: „[D]ie Metapher kennt die Negation nicht“.11 Die Verbindung, die das Paradigma der Unbegrifflichkeit stiftet, erlaubt hingegen „auch das zu erkennen und wahrzunehmen, was es nicht gibt, also Lücken im Erfahrungskontext überhaupt festzustellen“.12 Konsequenterweise konturiert er damit das Funktions- und Leistungsprofil des Begriffs als „auf das Abwesende bezogen […], da er nicht nur, um es anwesend zu machen, sondern auch, um es abwesend sein zu lassen, da ist.“13 Dergestalt formuliert er den Auftrag, den das Paradigma der Unbegrifflichkeit zu leisten hätte: „Der Nachweis, daß das theoretische Bedürfnis durch die Leistung des Begriffs in Urteilen und Urteilsverbindungen nicht erschöpft wird, läßt sich nur so führen, daß die Grenze des Begriffs und das jenseits dieser Grenze zu Leistende beschrieben werden.“14 Die Unbegrifflichkeit kommt also an genau der Stelle ins Spiel, an der die Begriffssprache in die „absolute Metapher“ umspringt und so wieder zum Mythos wird. In Blumenbergs Worten: „nun möchte ich zeigen, wie die Spitze dieses Steigerungsprozesses abbricht und dabei in die Metaphorik und den Mythos hinabfällt.“15 Die Unbegrifflichkeit bezeichnet mit anderen Worten genau die Grenze zwischen der Rationalisierungsleistung des Begriffs und der Welterklärungsleistung der Metapher. Tatsächlich führt sie Blumenberg zu einer Verbindung des Begriffs mit der Negation. „Der selektive Vorteil des Begriffs wird nur erfaßbar, wenn man sich vergegenwärtigt, daß eine seiner wichtigsten Funktionen die Verbindung mit der Negation ist.“16 So formuliert Blumenberg das Programm einer aus der Metaphorologie hervorgehenden Via negativa der Unbegrifflichkeit als ein spannungsgeladenes Dreiecksverhältnis zwischen Metapher, Begriff und Negation.

9 Blumenberg 1999 (wie Anm. 8), 13. 10 Blumenberg 1999 (wie Anm. 8), 13. 11 Blumenberg 2007 (wie Anm. 1), 78  f. 12 Blumenberg 2007 (wie Anm. 1), 78. 13 Blumenberg 2007 (wie Anm. 1), 79. 14 Blumenberg 2007 (wie Anm. 1), 34. 15 Blumenberg 2007 (wie Anm. 1), 80. 16 Blumenberg 2007 (wie Anm. 1), 78.

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Während Blumenberg dergestalt an einem theoretischen Zuschnitt von Unbegrifflichkeit arbeitet, arbeitet sich Catharina Regina von Greiffenberg in ihrer konkreten poetischen Praxis der Geistlichen Sonnette, Lieder und Gedichte17 wie auch in ihrem Andachtswerk an der Unbegreiflichkeit Gottes ab. Das Sonett „Auf die unbegreiffliche Glaubens Art“ (67) bestimmt den Glauben als Seinsmodus, der auf Gott bezogen ist, und definiert ihn als „unbegreifflich seyn“ (67, V. 2): „Begreiffestu schon nicht / mein Herz/das was du glaubest; // schadt nicht; deß Glaubens Art/ist unbegreifflich seyn“ (67, V. 1–2).18 In der Untersuchung der Sonette Greiffenbergs liegt mein Augenmerk auf einem speziellen Phänomen, dessen im weitesten Sinne metaphorisches Potenzial ich auszuloten versuche, nämlich dem der Hand. Die Unbegrifflichkeit/Unbegreiflichkeit wird gerade anhand des Symbols der Hand in Greiffenbergs Sonetten deutlich. Catharina Regina von Greiffenbergs Geistliche Sonnette, Lieder und Gedichte überblenden die Hand Gottes und die Hand der Schreibenden im rhetorischen Aussageakt und machen Gott insofern verfügbar, als sie ihn über seine Hand konkret habhaft machen, und zwar indem sie die Hand Gottes konsequent mit der Hand der Schreibenden engführen. Auf diese Weise fallen rhetorischer Aussageakt des Gedichts und Gnadenakt Gottes zusammen. Die Hand wird zum Medium der Handhabung und zum Symbol der göttlichen Zuwendung im Gedicht und durch das Gedicht. Das Symbol funktioniert (nur) rhetorisch als Trope, die für die Handlung steht, die das Gedicht als literarischer Text vollzieht. Handlung meint hier nicht eine Narration, die eine doppelte Zeitlichkeit im Text abbildet, sondern den im weitesten Sinne rhetorisch zu nennenden Effekt des Gedichts in seiner literarischen Faktur selbst, nämlich der Versicherung des Heils, des Lobs

17 Catharina Regina von Greiffenberg, Geistliche Sonnette, Lieder und Gedichte; Anhang: Nachwort – Materialien – Register, Sämtliche Werke, Bd. 1, ed. Martin Bircher und Friedhelm Kemp (Millwood, N. Y. 1983). Nachweise der Sonette Greiffenbergs folgen dieser Ausgabe und werden unter Angabe der Gedichtnummer und der Verszahl direkt im Text nachgewiesen. 18 Unter dem Titel Begriff des Unbegreiflichen untersucht Christina M. Pumplun die Metaphorik in den Geburtsbetrachtungen Greiffenbergs; jenem Teil ihres monströsen Andachtswerks von über 3000 Druckseiten, das die Geburt, das Leben, Leiden und Sterben Jesu andächtig mit- und nachvollzieht. Christina M. Pumplun, „Begriff des Unbegreiflichen“: Funktion und Bedeutung der Metaphorik in den Geburtsbetrachtungen der Catharina Regina von Greiffenberg (1633–1694) (Amsterdam 1995); Catharina Regina von Greiffenberg, Sämtliche Werke, Bd. 3–10., herausgegeben von Martin Bircher und Friedhelm Kemp, (Millwood, N.Y 1983). Die Andächtigen Betrachtungen gliedern sich in drei Teile: die Geburts-, die Lebens- sowie die Leidens- und Sterbensbetrachtungen. Der Allerheiligsten Menschwerdung, Geburt und Jugend Jesu Christi; Zwölf Andächtige Betrachtungen; Des Allerheiligsten Lebens Jesu Christi, Sechs Andächtige Betrachtungen; Des Allerheiligsten Lebens Jesu Christi Ubrige Sechs Betrachtungen; Des Allerheiligst- und Allerheilsamsten Leidens und Sterbens Jesu Christi, Zwölf andächtige Betrachtungen.



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und der Anbetung Gottes. Gleichzeitig macht das Symbol der Hand in diesem Zuschnitt aufmerksam auf die Tatsache, dass diese Verbindung von rhetorischem und göttlichem Aussageakt durch keinerlei Erfahrung gedeckt ist und niemals begrifflich eingeholt werden kann. Die Frage nach dem Spannungsfeld von Mythisierung und Rationalisierung erlaubt eine Lektüre, die sich mit der Frage konfrontieren lässt, „ob das Wort das Wort, das Bild das Bild“19 ist oder ob sich nicht in der Faktur des Textes selbst Bruchstellen zeigen lassen, die genau auf dem Grat zwischen der eindeutigen Zuordnung zum Bereich des Religiösen auf der einen und dem des Ästhetischen auf der anderen Seite wandeln. Erst dadurch wird auch das Potential der Greiffenbergschen Texte sichtbar: nämlich in der literarischen Gestaltung genau dieses Spannungsfeld von Ästhetik und Religion zu bespielen ohne dabei das eine gegen das andere auszuspielen. Denn noch immer sind Greiffenbergs Gedichte, wie Waltraud Wiethölter anmerkt, nicht so sehr Gegenstand von Lektüren, die im beharrlichen Nachvollziehen des Textes Rücksicht nehmen auf die „sich Wort für Wort und Buchstabe für Buchstabe manifestierende Materialität“20, sondern vielmehr Gegenstand von Analysen, die die großen geistes- und ideengeschichtlichen Leitlinien verfolgen.21 Alle Sonette, die ich untersuchen möchte, verhandeln die Beziehung zwischen der figurierten Aussageinstanz und Gott über die Hand als Trope der rhetorischen Aussage- beziehungsweise Schreibinstanz. Das Symbol der Hand als ein konkretes sinnliches Zeichen, als empirisches Phänomen, stößt diese Bedeutungsbewegung in den Sonetten Greiffenbergs an und unterhält sie. „Symbolen des metaphorischen Typs liegt auch eine […] indizielle Kontiguität zugrunde.“22 Diese Kontiguität zwischen der Hand und den Schreibenden erweist sich als eine vom Gedicht als poetischem Gebilde „gesetzte Kontiguität.“23 Ihr metaphorisches Potenzial entfaltet die Hand in Greiffenbergs Sonetten genau dort, wo sie als Symbol im Text das Schreibverfahren ins Bild setzt und über diese konkrete Figu19 Waltraud Wiethölter, „‚Schwartz und Weiß auß einer Feder‘ oder Allegorische Lektüren im 17. Jahrhundert: Gryphius, Grimmelshausen, Greiffenberg, Teil II,“ Deutsche Vierteljahrsschrift für Geistesgeschichte und Literaturwissenschaft 73,1 (1999), 122–51, hier 127. 20 Wiethölter 1999 (wie Anm. 19), 127. 21 Vgl. zuletzt den Sammelband von Gesa Dane, Hg., Scharfsinn und Frömmigkeit: Zum Werk von Catharina Regina von Greiffenberg (1633–1694) (Frankfurt a. M. 2014). Darin vor allem Jörg Jungmayr, „Mystische Traditionen bei Catharina Regina von Greiffenberg,“ 79–100. Wiethölter zielt mit ihrer Formulierung der „Rechnung […] ohne die Texte“ (127) vor allem auf Kempers pauschales Urteil ab. Vgl. Hans-Georg Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, III: Barock-Mystik (Tübingen 1988), 245–78. 22 Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol (Göttingen 2009), 86. 23 Kurz 2009 (wie Anm. 22), 86.

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ration genau die Spannung zwischen Rationalisierung und Mythisierung – und das heißt für das Gedicht gesprochen –, zwischen allegorisch genau zu bestimmender Funktion einerseits und unkontrollierter Bilderproduktion beziehungsweise Schreibgenese andererseits trifft. Alles was folgt, ist somit der mediale Nachvollzug dieser Konstellation, die Gott als den Ganz-anderen denkt und dabei gleichzeitig „den schwierigsten rhetorischen Akt“ unternimmt, „nämlich den, sich mit diesem Gott zu vergleichen.“24 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wessen Hand schreibt denn die Geistlichen Sonnette, Lieder und Gedichte? Was Hans Blumenberg als Theorie der Unbegrifflichkeit expliziert, wird bei Greiffenberg über das Symbol der Hand im Geistlichen Sonett zur poetischen Praxis der Unbegreiflichkeit. Ich stelle das Argument in drei Schritten dar. Erstens als problemloses Lob, zweitens als paradoxes Lob, das in einer Variante das Lob des Handelns Gottes ausstellt und drittens als demütiges Lob, das durch die strenge Form des Sonetts eine Überbezüglichkeit erzeugt, die Begrifflichkeit und Metaphorik hinter sich lässt.

2 Lob der Hand Gottes Greiffenbergs Lob der Hand Gottes mündet in den epigrammatischen Schlussversen des Sonetts in eine dichterische Symbiose zwischen der Kunst der Sprechinstanz und der Hand Gottes, von der die Sprechinstanz ihre „Kunst“ (46, V. 14) ableitet. (46) Uber die unverkürzte Hand Gottes. WIe? solt wol unsre Noht den Allmachts Arm selbst binden? ist sie zu lang’ und hoch/ daß dieser nicht hinreicht/ der doch die Meer=Abgründ’ und Sternen=Kreiß durchstreicht? Er kan die Trübsal auch/ Allherrschend überwinden Mein sagt mir/ was sich würd’ ohn sein’ Erhaltung finden/ dem iedes Ding gehorcht/ auch iede Sache weicht? das schützen ist Ihm so/ wie das erschaffen/ leicht. der alles werden heist/ macht alles auch verschwinden. Dir/ dir befihl ich mich/ du Allerschaffungs Hand/ mit dir getraut’ ich mir auch übermenschte Thaten zu üben/ ob sie auch schon über Krafft und Stand.

24 Hans Blumenberg, „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik,“ in ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben (Stuttgart 1981), 104–136, hier 135.

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das was du segnest/ geht (tobt Höll und Welt) von statten. Ich zweifle nun nicht mehr (kan ich schon nichts) an mir. Mein ganze Kunst ist die/ geleitet seyn von dir.

Überhaupt stellt sich das Gedicht als eine einzige Ableitung des eigenen Tuns aus der Hand Gottes dar, als ein Nachvollzug dessen was Gott wirkt. Eine exclamatio führt in das Gedicht ein. Ebenso rhetorisch wie die exclamatio fragt die Sprechinstanz weiter, ob „unsre Noht den Allmachts Arm selbst binden“ (V. 1) könne. Die beiden rhetorischen Fragen des ersten Verses stellen dergestalt die Sprechhaltung des Gedichts auf die Notwendigkeit von Gottes Allmacht ein. Indem hier der rhetorischen Frage eine exclamatio vorgeschaltet ist, bekommt der angespielte, ex negativo konstruierte Notwendigkeitsraum eine emotionale, affektive Färbung. Das „WIe?“ (V. 1) stellt die affektive Erfahrung ganz auf diesen insinuierten Notwendigkeitsraum ab, den die rhetorische Frage entfaltet. Die einleitende Gedankenfigur des Gedichts vollzieht die Notwendigkeit im gestischen Sinne, nämlich als ein Denkexperiment, dass die Not der Menschen, wie auch immer sie inhaltlich gefüllt sein möge, durch das Eingreifen Gottes gewendet wird. Notwendigkeit und Möglichkeit greifen im Setting der rhetorischen Frage dergestalt ineinander, dass am Ende der ersten Strophe das Ich eine affektive Gewissheit artikulieren kann. „Er kan die Trübsal auch/Allherrschend überwinden“ (V. 4). In der zweiten Strophe lobt das Ich Gottes Allmacht, indem es das „Allherrschend“ aus der ersten Strophe ausschreibt. Gott wird „Erhaltung“ (V. 5) zugeschrieben, die Verbkette „gehorchen“, „weichen“, „schützen“ sowie „erschaffen“, „heißen“ und „verschwinden“ buchstabiert paradigmatisch Gottes Allmacht aus. Die ersten beiden Verse lassen sich wiederum als eine rhetorische Frage lesen, auf die die beiden letzten Verse die offensichtliche Antwort geben. Tatsächlich wiederholt der zweite Teil der Strophe in der Abfolge seiner Verben die Trias von „erhalten“, „gehorchen“ und „weichen“. Als „schützen“, „heißen“ und „verschwinden“. Die Abfolge der dergestalt repräsentierten Handlungen dreht sich lediglich im Mittelglied perspektivisch um vom Gehorchen zur Tätigkeit des Befehlens. In diese geradezu chiastische Konstellation interveniert die Apostrophe im ersten Terzett. Der Adressatenwechsel, den die Apostrophe erzeugt, entspricht der Teilung des Sonetts in Oktett und Sextett. Als Adresse fungiert in metonymischer Verschiebung des „Allmachts Arm[s]“ (V. 1) die „Allerschaffungs Hand“ (V. 9). Von der rhetorischen Frage in Verbindung mit der emphatisch aufgeladenen exclamatio führt die Rede über den „Allmachts Arm“ (V. 1) hin zur konkreten Anrede an die „Allerschaffungs Hand“. Indem es sich der „Allerschaffungs Hand“ anvertraut, kann das Ich über sich hinauswachsen. Es weist dann auch seine Taten als „übermenscht[]“ (V. 10)

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aus, die es trotz der Beteuerung, dass sie „über Krafft und Stand“ (V. 11) gingen, ausübt. In der Hinwendung an die göttliche Instanz, die lediglich über ihre „Hand“ figuriert ist, legitimiert sich das Ich als Sprechinstanz des Gedichtes. Diese Legitimation bezieht es aus der durch die Apostrophe gestifteten letztlich rhetorisch organisierten Beziehung, die im letzten Terzett einerseits als Aussage über die Sprechakte Gottes erscheint: „das was du segnest/ geht […] von statten“ (V. 12), andererseits aber durchschlagende Wirkungen auf das Ich als Aussagesubjekt selber hat. Denn der Zweifel ist durch die rhetorische Allianz zwischen der Hand Gottes und dem Aussagesubjekt verschwunden, so dass „Mein ganze Kunst“ (V. 14) und damit das Gedicht sowohl als „übermenschte That“ (V. 10) wie auch als von Gott „geleitet seyn“ erscheinen kann. Indem es den Sprechakt des Segnens in das eigene Schrei­ben des Gedichts implementiert, weist es über die figurierte Hand Gottes das Schrei­ben des Gedichts als einen Akt ohne eindeutig zuweisbaren Urheber aus. Denn weder Gott noch das Ich zeichnen allein verantwortlich für den Segen, zumindest dort nicht, wo sich das Ich als Subjekt mit einem Erfahrungshorizont geriert. Als reine Textfunktion des Gedichtes allerdings kann das Ich als Aussageinstanz sowohl die Position der Gedichterschaffungs-Hand als auch die des Geleitet-seins annehmen. Auf diese Weise bespielt das Gedicht in seiner rhetorischen Figuration genau die Grenzlinie zwischen dem Verfügbarmachen der Transzendenz bei gleichzeitiger Behauptung der Unverfügbarkeit. Das neuplatonische Denkschema der Emanation ist hier problemlos auf das Dichten übertragen. Wenn die Kunst als Ableitung aus dem Wirken Gottes angesehen wird, dann ist das Gedicht eine problemlose explicatio dei im Medium des Gedichts. Allerdings ist damit im strengen Sinne inhaltlich noch nichts über ein genaue­res Verhältnis von Schreibakt und Transzendenz ausgesagt. Das Gedicht klärt lediglich die Voraussetzung eines Schreibens zum Lob Gottes, das in der Formel von der „Deoglori“ (I, S. 251) als Greiffenbergs Motto fungiert und den zur explicatio komplementären Begriff der complicatio poetologisch aussagt.25 Indem es die explicatio darstellt, so der Anspruch, vollzieht das Gedicht die complicatio als Lob beziehungsweise als Deoglori.

25 Vgl. zur explicatio und complicatio im Diskurs der negativen Theologie Dirk Westerkamp, Via negativa: Sprache und Methode der negativen Theologie (München 2006), 133–136.

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3 Paradoxes Lob des Schreibens Am Begriff der complicatio hängt nun das poetologische Problem, aber auch die Triebfeder von Greiffenbergs Schrei­ben. Denn sie ist „die ununterschiedene Einfaltung unendlich vieler Differenzen […] in eine unendliche Einfalt“26 wie Westerkamp mit Blick auf Cusanus festhält. Mit der Darstellung der Deoglori geht also auch immer das Programm einer sinnlichen Darstellung mithin einer Figuration der complicatio einher. Dieses philosophisch-theologische Problem wird bei Greiffenberg zu einem poetologischen. So stellt das Sonett Auf den/meinem Heiland gegebenen/Rohrstab (151) insofern eine Kontrafaktur des optimistischen Gedichtes Uber die unverkürzte Hand Gottes (46) dar, als es ein paradoxes Lob des Schreibens in Szene setzt und die problemlose Übertragung von Gottes Wort in poetischen Text durchstreicht. Der Titel des Sonetts führt bereits eine verdoppelte Konstellation des Schreibens ein, verrechnet man den Rohrstab als einen Griffel mit dem Schreibwerkzeug. Das Possessivpronomen „meinem“ führt die Aussageinstanz in ihre eigene Rede über ihr Schreibwerkzeug ein. Schlägt man das Gedicht nun der Seite der Schriftlichkeit zu, dann wirken im Paratext des Titels zwei Instanzen an der Aussagestruktur des Sonetts mit: Jesus, der als Schreibender imaginiert wird und ein Ich, das als Aussageinstanz verantwortlich für den Text des Sonetts zeichnet. (151) Auf den/ meinem Heiland gegebenen/ Rohrstab Ich bin das brochne Rohr: O HErr/ erhalte mich. Zerbrich mich nur nicht gar/ erbarme dich der Schwachen. Ein leichter anstoß=Wind kan mich bald wanken machen. In mir ist keine Krafft: Ach binde mich an dich! es lasse/ was dein Geist einbläst/ vernemen sich! es schallen aus dem Mund/ die eingegebnen Sachen! ach halt’ es an dein Herz/ da dir die Knecht’ einstachen: so wird dein Blut/ seim Mark/ recht Herzergetzbarlich. Laß mich die Röhren seyn/ nach deinem hohen Willen/ durch die dein’ Ehr und Lob das Land pflegt anzufüllen/ und wider Preiß und Dank durch sie gen Himmel steigt: der Segen werd’ herab/ der Ruhm hinauf/ geneigt. Nur würdig mich/ mein GOtt/ dein Gnad in mich zu giessen. Ob ich schon solche Ehr muß Leben=lassend büssen.

26 Westerkamp 2006 (wie Anm. 25), 133.

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Die Dopplungsstruktur, die der Titel bereits vorführt, realisiert sich im ersten Vers in der Metapher des gebrochenen Rohrs, durch die die Aussageinstanz sich zuallererst ins Bild setzt. Auf diese Weise als GlaubensSchwachheit27 ins Bild gesetzt, zieht das Gedicht seine rhetorischen Konsequenzen. Gerade die Schwachheit ist der Modus, der die zentrale exklamatorische Apostrophe veranlasst, die negative Aufforderung beziehungsweise das Unterlassen an die Geste des Erbarmens zu koppeln. Der Parallelismus, der durch die Zäsur des Alexandriners erzeugt wird, bindet beide Gesten aneinander. Im ersten Vers entsprechen Ich und Gott einander insofern als die Selbstcharakterisierung des Ichs als „brochne[s] Rohr“ (V. 1) die Bitte „erhalte mich“ (V. 1) herausfordert. Dem „Ich bin“ (V. 1) entspricht in der gleichen metrischen Position nach der Zäsur die Anrede „O Herr“ (V. 1). Der erste Teil des zweiten Verses nimmt die Bildlichkeit seines darüberstehenden Halbverses auf und das Ich als halb zerbrochenes Rohr ernst und formuliert eine Bitte, die das Schlimmste abwenden möchte: „Zerbrich mich nur nicht gar“ (V. 2). Der zweite Halbvers dagegen weitet den Fokus vom Ich auf die Schwachen im Allgemeinen. Damit betreibt Greiffenberg eine Selbstauslegung seiner allegorischen Struktur und übersetzt die Metapher des Rohrs über die Geste der dreifachen Bitte und der Miniallegorese in einen allgemeinverbindlichen Zustand der Schwachheit. Mit der Erweiterung und der Umstellung von Singular auf Plural, die an die Minial­legorese des prominent an den Anfang gesetzten Individualbildes des Rohrs andockt, formuliert Greiffenberg die Möglichkeit einer „Inklusionsindividualität“28, die dennoch auf der Vorstellung einer Subjektivität beruht. Die Konstellation, die die erste Strophe entwirft, wird fortgeführt durch den Wind, der als Gegenspieler und Feind die Integrität der Aussageinstanz Ich bedroht. Die erste Strophe endet mit einer exclamatio, in der das Ich Gott anruft und um eine therapeutische Verbindung bittet. Gerade die Bekundung schwach zu sein, führt das Ich zu der Bitte an Gott, sich mit dem Ich zu verbinden. Sinnfällig wird dies im Bild des geknickten Rohrs. Dieses zeigt sich in der Lage, die Pascal in seinem berühmten Schilfrohrfragment noch als potentiell beschreibt, dessen Schwäche er jedoch ebenso wie Greiffenberg betont. „L’homme n’est qu’un roseau, le plus faible de la nature, mais c’est un roseau pensant. Il ne faut pas que l’univers entier s’arme pour l’écraser; une vapeur, une goutte d’eau suffit pour le tuer.“29

27 Vgl. Michel de Certeau, GlaubensSchwachheit, ed. Luce Giard (Stuttgart 2009). 28 Eva Kormann, „Heterologie und geistliche Virtuosität: Zur Ich-Konzeption in Greiffenbergs Gedichten,“ in Scharfsinn und Frömmigkeit: Zum Werk von Catharina Regina von Greiffenberg, ed. Gesa Dane (Frankfurt a. M. 2014), 145–62, hier 150. 29 Blaise Pascal, Pensées, opuscules et lettres. Pensées édités par Philippe Sellier selon la copie



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Der einzige Vergleich, der, nach meiner Kenntnis, bisher in der komparatistischen Forschung zwischen Greiffenberg und Pascal angestellt wurde, stammt von Helen Watanabe O’Kelly. Sie vergleicht Pascal mit Greiffenberg ebenso wie Johannes Scheffler und stellt diesen ihren Vergleich unter das Vorzeichen der Ways of knowing.30 Dass Pascal die Vernunft nicht einfach aufgibt und sich einer einfachen Gottesverehrung hingibt, zeigt schon allein die mathematische Strenge des Pascalschen Stils, dessen Lieblingsfigur das Paradox ist.31 Pascal „sets about putting reason to a particular use“32, anstatt die Vernunft zu verabschieden. Er gebraucht damit die Vernunft funktional, um sie in ihren eigenen mathematischen Prinzipien an ihre Grenzen zu führen. Aus dieser Standortbestimmung der Vernunft leitet er anthropologische Einsichten in die Größe und Nichtigkeit des Menschen ab. Vor der Folie der Pascalschen Doppelnatur des Menschen zwischen Größe und Niedrigkeit, betrachtet Watanabe O’Kelly die Texte von Scheffler und Greiffenberg. Ihre Beobachtungen und Feststellungen bleiben allerdings bei der grundsätzlichen Einsicht stehen, dass „Greiffenberg, […] Pascal and Scheffler, make[] the reader use reason to move beyond reason.“33 Die spezifischen Eigenarten und literarischen Ausformulierung des „désaveu de la raison“34 bleiben hingegen unterbelichtet. Gerade dort zeigen sich jedoch spannende Unterschiede, die erst vor der gemeinsamen Betrachtung relevant werden und nicht funktionieren, wenn man einen Text beziehungsweise eine AutorIn unter die Folie eines oder einer anderen subsumiert. Was in Pascals Fragment über die Metapher des Schilfrohrs im Modus der Möglichkeit in Aussicht gestellt wird, ist in Greiffenbergs Sonett Realität. Das Rohr ist laut Selbstauskunft des Ichs schon zerbrochen. Die Gegenüberstellung von Mensch und Naturgewalten trägt bereits im Fragment Pascals in sich eine Schieflage, denn „le roseau“ ist integraler Bestandteil der Natur. Die Metapher des „roseau“ bezeichnet gerade diese Schieflage, die Pascal als Gleichzeitigkeit von Größe und Elend des Menschen beschreibt. Indem der Mensch als

de référence de Gilberte Pascal; Opuscules et lettres édités par Laurence Plazenet et Philippe Sellier (Paris 2010), Fr. 231. 30 Helen Watanabe O’Kelly, “Ways of knowing: Blaise Pascal, Angelus Silesius and Catharina Regina von Greiffenberg,” in The Present Word: Culture, Society and the Site of Literature. Essays in Honour of Nicholas Boyle, ed. John Walker (London 2013), 92–101. 31 Immer noch einer der besten Überblicksaufsätze zu Pascal ist von Hugo Friedrich, „Pascals Paradox: Das Sprachbild einer Denkform,“ in Romanische Literaturen: Aufsätze, ed. ders. (Frankfurt a. M. 1972), 84–138. 32 Watanabe O’Kelly 2013 (wie Anm. 30), 93. 33 Watanabe O’Kelly 2013 (wie Anm. 30), 99. 34 Pascal 2010 (wie Anm. 29), Fr. 213.

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Schilfrohr metaphorisiert wird beziehungsweise werden kann, ist zweierlei ausgesagt, nämlich die Subsumierung unter die natürliche Ordnung wie deren Überschreitung. Denn gerade weil diese metaphorische Zuschreibung so leicht gelingen kann, macht sie auf das aufmerksam was sie ist: eine Zuschreibung und keine Identifizierung. In Greiffenbergs Sonett nun gerät diese Schieflage in der Oppositionsbildung endgültig in einen metaphorischen Strudel. Die Opposition von „anstoß-Wind“ (V. 3) und kraftlosem (Schilf)rohr führt zur quasi syllogistischen conclusio „In mir ist keine Krafft: Ach binde mich an dich!“ (V. 4), mit der die erste Strophe in einer Handlungsaufforderung mündet. Zugleich spricht hier ein Ich für alle Schwachen im Modus der Subjektivität derjenigen, die „ich“ sagen können, während Pascal eine Aussageinstanz ohne Subjektivität installiert.35 Die zweite Strophe wagt eine riskante Verbindung des in der ersten Strophe entworfenen Settings vom gebrochenen Schilfrohr, das zum Kanal der Offenbarung werden soll. Die oppositionelle Stellung des Windes wird umgedeutet zur Offenbarungsmetapher des Geist-Einblasens. War in der ersten Strophe der „leichte[] anstoß-Wind“ (V. 3) Anlass für den Ausruf „In mir ist keine Krafft“ (V. 4), so wird daraus in der zweiten Strophe die Forderung nach der Manifestation des Göttlichen im Modus der Anrede. Die Metaphorik des Windes funktioniert zweipolig und schaltet um von der Bedrohung des Ichs zur Offenbarung: „es lasse/ was dein Geist einbläst/vernemen sich!“ (V. 5). Die unpersönliche Konstruktion „es lasse“, die hier noch den Modus des Wunsches oder der Forderung anzeigt, verwandelt sich zum nächsten Vers in einen Indikativ, in dem „die eingegebnen Sachen“ (V. 6) tatsächlich schon erklingen. Wessen Mund dort allerdings schallt, ist nicht zu beantworten. Diese Umdeutung macht den Weg frei für den Bildwechsel beziehungsweise für die Assoziierung eines zweiten Bildbereichs, nämlich des sterbenden Christus am Kreuz. Der Vers „ach halt’ es an dein Herz/da dir die Knecht’ einstachen:“ (V. 7) stellt die entscheidende Weiche. Über die Ähnlichkeit des Schilfrohrs mit der Lanze, die der römische Soldat Jesus in die Seite stach, stellt die Aussage­ instanz einen Kontakt in Aussicht. Von der Feststellung „das brochne Rohr“ (V. 1) zu sein über die Anspielung auf die Lanze, mit der der römische Schildknecht Jesus von seinem Leiden am Kreuz erlöst hat, wechselt das Ich im ersten Vers der Terzette über in eine neue Apostrophe, die beide Anschauungsbereiche miteinander verschaltet und die

35 Vgl. zum Ich ohne Subjektivität bei Pascal, Karlheinz Stierle, „Gespräch und Diskurs. Ein Versuch im Blick auf Montaigne, Descartes und Pascal,“ in Das Gespräch, ed. Karlheinz Stierle und Rainer Warning, Poetik und Hermeneutik 11 (München 1984), 297–334, vor allem 332.

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eigentliche Aussage- beziehungsweise Schreibinstanz erst generiert. „Laß mich die Röhren seyn/nach deinem hohen Willen“ (V. 9). Aus dem Ich als „brochne[m] Rohr“ des ersten Verses, das sich als schwach generiert, entsteht eine Aussageinstanz beziehungsweise eine Schreibinstanz, die sich durch eine „heterologe“36 Erfahrung in Szene setzt und sich in der Bitte nach Erhalt, die die grundlegende rhetorische Geste des Gedichts markiert, auf eben die Metapher der Röhre beruft, und so die Inklusionsindividualität rhetorisch grundiert. Das Schrei­ben erschafft dabei das tertium comparationis über den Kreislauf der Flüssigkeiten, der durch das Reservoir religiösen Wissens, das die Analogiebildung zwischen Tinte und Blut sowie Griffel und Lanze geradezu herausfordert, das Blut Christi als die bessere und gewissermaßen heterologe Tinte fungiert, die dem Sonett seine Autorität verleiht.

3.1 Lob des Handelns Gottes Die Deoglori Greiffenbergs als poetologisches Problem arbeitet sich hier an der Zweiteilung von Kirchen und Gläubigen ab, die zusammen zu einer Einheit verschmelzen sollen. Am symbolischen Schauplatz der Kirche versucht sich Greiffenberg an einer poetischen complicatio. (47) Uber Gottes unbegreiffliche Regirung/ seiner Kirchen und Glaubigen. Wer kan deinen Sinn ersinnen/ unersinnter Gottheits Schluß? dein’ Vnendlichkeit verschwämmt alle Fünklein der Gedanken. dir ist gleich mein Vrtheil=Liecht/wie dem Meer ein kleiner Fanken. All mein gründen/ist gegründet im ungrundbarn Gnadenfluß: Da ich/ dir die Ehre gebend/ mir auch Hoffnung geben muß. weil dein’ Allmacht ohne End’/ ist auch dieser ohne Schranken: weil die Grundfest nimmermehr/ kan auch das Gebäu nicht wanken: denn dein Ehr erhält’ die Spitzen/ auf der Gnad besteht der Fuß. Ach wie kan/ was Gottes Hand bauet/ hält und schützet/ fallen? kan auch seiner Allhülf steuren/ einigs Erden widerspiel? Aller weltlich Widerstand muß mit Schand zu rucke prallen/ oder Kunst=verkehrt selbst dienen/ zu dem GOtterwehlten Ziel. faß dir tausend Herz/ mein Herz! deine Sache treflich stehet/ durch viel tausend widerstand in ihr rechtes Ziel doch gehet.

36 Kormann 2014 (wie Anm. 28), 147. Kormann beruft sich mit dem Konzept einer heterologen Subjektkonzeption auf Verena Olejniczak Lobsien, „Konturen frühneuzeitlichen Selbstseins jenseits von Autonomie und Heteronomie,“ LiLi 26 (1996), 6–36.

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Greiffenberg gibt der Unbegreiflichkeit eine räumliche Anschauung. Den Raum der Kirche schließt sie mit dem „ungrundbaren Gnadenfluß“ (V. 4) zusammen. Im zweiten Quartett verweist der zweite Vers durch das Demonstrativpronomen „dieser“ (V. 6) auf den „ungrundbaren Gnadenfluß“, nur um im darauf folgenden Vers aus dem „schrankenlosen“, „unersinnten“, „unendlichen“ und „ungrundbaren“ Handeln Gottes, das als „Gottheits Schluß“ (V. 1) das Sonett eröffnet, durch eine Kausalverbindung eine „Grundfest“ zu machen. Mit dieser sprachlichen Verbindung implementiert Greiffenberg die räumliche Metaphorik des „Gebäu[des]“ (V. 7), wie es der Titel mit der Ankündigung der Kirche bereits versprochen hatte. Das Demonstrativ „dieser“ (V. 6) leitet über zur Aussage über die „Grundfest“ (V.  7), die nicht wanken kann. Das Prinzip der unähnlichen Ähnlichkeit wird hier vollzogen. Über die kausale Motivierung durch die anaphorische Reihe aller Versanfänge des gesamten zweiten Quartetts „Da“ (V. 5), „weil“ (V. 6 und 7) und „denn“ (V. 8), sind die beiden Strophen eng miteinander verbunden. Diese anaphorische strukturierte und kausal motivierte Reihe beginnt mit der Feststellung: „All mein gründen/ist gegründet im ungrundbaren Gnadenfluß“ (V. 4). Aus diesem leitet sich die gesamte zweite Strophe ab und fundiert dessen Aussage. Insbesondere der erste der beiden Mittelverse nimmt diese Aussage auf, indem er sie von der zeitlichen Erscheinungsform Gottes „dein‘ Allmacht ohne End‘“ auf die räumliche Erscheinungsform „ist auch dieser ohne Schranken“ (V. 5) seiner Wirkung umlegt und so den „ungrundbaren Gnadenfluß“ auf Gottes „Vnendlicheit“ (V. 2) zurück bezieht. Auf die Opposition von Wasser und Feuer gegründet, sind Gedanken-Fünklein und Urtheil-Licht nichts im Gegensatz zu der Unendlichkeit, die „verschwämmt“ (V. 2), und dem „Meer“ (V. 3). Im Chiasmus, den der zweite und der dritte Vers über die Wasser- und Feuermetaphorik bilden, schließt das Wasser das Feuer räumlich ein und verbildlicht die Position Gottes sowohl in der Bildlichkeit als auch in der räumlichen Konfiguration des Gedichts als allumfassend. Dieser Chiasmus verdankt sich allerdings nur dem Hyperbaton des dritten Verses, das ihn erst durch seine rhetorische Umstellungsleistung als figura per transmutationem herstellt. Darüber hinaus steuert das Hyperbaton die Ein­ebnung des Vergleichs, der genau die Formel von der „Ähnlichkeit bei je größerer Unähnlichkeit“37 ins Bild setzt: Das Bild, das natürlich erst durch die chiastische Konstellation der „Fünklein“ (V. 2) und „Fanken“ (V. 3) im „Meer der Unendlichkeit“ entstehen kann.

37 Walter Haug, „Zur Grundlage einer Theorie des mystischen Sprechens“ in Abendländische Mystik im Mittelalter, ed. Kurt Ruh (Stuttgart 1986), 494–508, hier 496.



Handhabung Gottes 

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Das erste Terzett fasst den Gedankengang rhetorisch fragend zusammen: „Ach wie kan/was Gottes Hand bauet/hält und schützet/fallen?“ (V. 9). Gott selbst als der Baumeister kann allein die riskante Kausalverbindung – weil ungegründet, deshalb fest gegründet – als gültig ausweisen, weshalb auch nur er derjenige sein kann, der sowohl Kirche als auch Gläubige regiert. Denn das Verfahren kann nicht auf eigene Rechnung eines Menschen funktionieren wie das Ich nachdrücklich betont. „All mein gründen/ist gegründet im ungrundbaren Gnadenfluß“ (V. 4). Eben weil das Ich von vornherein bereits diese Sicherheit des eigenen Gründens ausstellen kann, nämlich bereits am Ende des ersten Quartetts, das als erstes Résumé der dichtenden Mensch-Gott-Beziehung fungiert, kann auch das Gedicht als räumliches Gebilde der Anschauung entstehen. Weil das Gründen des Ichs in der Schreibbewegung mit dem zugesprochenen Gründen Gottes zusammenfällt, gelingt das Gedicht. Warum trägt das Sonett den Titel Uber Gottes unbegreiffliche Regirung/seiner Kirchen und Glaubigen, wenn es doch kaum von der Kirche spricht? Einzig „das Gebäu“ (V. 7) und der Verweis auf das, „was Gottes Hand bauet“ (V. 9), lassen Rückschlüsse zu, die auf die Kirche verweisen. Damit nimmt man allerdings schon von vornherein an, dass es sich um die Kirche als Gebäude handeln muss. Nimmt man den Hinweis auf die Regierung der Kirchen und Gläubigen ernst, und wendet den Anspruch, der sich in diesem Titel artikuliert, auf das Gedicht selbst an, dann entsteht eine doppelte Engführung, die erstens den Schreibakt an die Gattung des Sonetts koppelt und zweitens dessen räumliche Anschauungsform mit der „Kirche[]“ verkoppelt. So erscheint das Gedicht als der symbolische Körper der Kirche, damit des Leibes Christi und damit Gottes. In einer metonymischen Reihe sondergleichen verschaltet Greiffenberg das Schrei­ben eines Gedichtes mit der spirituellen Funktion der ecclesia. Das „rechte Ziel“ (V. 14) als Ziel des Gedichts, das sich gegen die Kunstabsicht stellt und nur „Kunst=verkehrt“ (V. 12) zu haben ist, vollzieht in einer performativen Negation die complicatio dei.

4 Poetologische Wende: Demut Zuletzt gibt Greiffenberg der complicatio eine poetologische Wende, indem sie die Form des Sonetts selbst als complicatio begreift und so der Unbegreiflichkeit eine adäquate Anschauung gibt. Bezeichnenderweise hängt dies inhaltlich mit der Demut und dem Loslassen zusammen, mit dem sie hier das Projekt der Deoglori weiterverfolgt. Denn alle Gedichte wollen vor allem eins: Loben. Die zeitgenössischen Poetiken sind in Bezug auf eine Theorie des Sonetts und dessen Formmerkmale uneinheitlich. Das veranlasst Ruth Liwerski und, an sie

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anschließend, Waltraud Wiethölter dazu, „eine spätere Poetologie“38 zur Erklärung des Greiffenbergschen Sonetts heranzuziehen. Zwar erlaube die barocke „Sonett-Theorie“39 einen Einblick in die „im deutschen Sprachraum einmalige[] Mannigfaltigkeit sonettistischer Produktion“40, aber sie sei nicht in der Lage, die komplexe Struktur des Sonetts angemessen zu beschreiben: Dementsprechend fällt ihr Urteil aus: „Das sonettistische Strukturgesetz war den barocken Poetologen verschlossen.“41 Liwerski arbeitet in ihrem Beitrag zur Sonett-Ästhetik des Barock: Das Sonett der Catharina Regina von Greiffenberg einen „Greiffenberg-Typ“42 des Sonetts heraus, den sie mit der Strukturformel (4 + 4) + (4) + (2) beschreibt. Das Greiffenbergsche Sonett weicht die Unterscheidung beziehungsweise die strenge ­Einteilung des Sonetts in Quartette und Terzette auf, indem es das Sextett über sein Reimschema nicht als zwei Terzette, sondern als ein Quartett mit abschließendem Paarreim auflöst. Durch den dergestalt abgetrennten letzten Paarreim bekommt das Greiffenbergsche Sonett einen epigrammatischen Charakter, der sich der „konzise[n] reimgebundene[n] Aussage“43 verdankt. Liwerski sieht im Reim die strukturbildende Operation des Gedichts. Denn über den formalen Zuschnitt, den der eigenwillige Sonett-Stil Greiffenbergs aufweist, stellt sich eine Aussageordnung her. „Die vom Reim angewiesene Versgruppierung wird von dem syntaktischen Gefüge nachdrücklich bestätigt.“44 Greiffenbergs Sonette setzen über das Reimschema gesteuert dergestalt eine „Schnittverschiebung“45 des Sextetts ins Bild, weil sie von der genuinen Sextett-Zäsur abweichen und statt zwei Terzetten ein Quartett und einen Paarreim bilden. Liwerski fasst dieses formale Phänomen als „Verhältnis 4 zu 3“46 und beschreibt es mit der rhetorischen Figur des Antithetons. Was das Antitheton gegenüber der Anithese auszeichnet, ist die bloße Anordnung der Gegensätze ohne diese begrifflich zu fassen. In diesem Sinne stellt Greiffenberg unbegriffliche Gegensätze her, die nur über die formale Struktur greifbar beziehungsweise fassbar werden.

38 Ruth Liwerski, „Ein Beitrag zur Sonett-Ästhetik des Barock: Das Sonett der Catharina Regina von Greiffenberg,“ Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 49 (1975), 215–264, hier 215. 39 Liwerski 1975 (wie Anm. 38), 215. 40 Liwerski 1975 (wie Anm. 38), 215. 41 Liwerski 1975 (wie Anm. 38), 239. 42 Liwerski 1975 (wie Anm. 38), 248 und passim. 43 Liwerski 1975 (wie Anm. 38), 251. 44 Liwerski 1975 (wie Anm. 38), 251. 45 Liwerski 1975 (wie Anm. 38), 258. 46 Liwerski 1975 (wie Anm. 38), 258.



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Heinrich Lausberg beschreibt das Antitheton als „Gegenüberstellung zweier inhaltlich gegensätzlicher res.“47 Die rhetorische Figur des Antitheton tendiert zur „Kontaktstellung“48 der verschiedenen res, zur „Herstellung von Isocola“49 und intendiert eine „Kontrastwirkung“50 durch die räumliche Nähe. Bei Greiffenberg sind diese Gegensätze nicht inhaltlicher, sondern formaler Art. Wiethölter nennt diese Überlagerung des Vers- beziehungsweise Reimschemas den „Doppelcode“51 der Greiffenbergschen Sonettstruktur. Dieser formale Doppelcode verdankt sich nicht nur einer bloßen Kontaktstellung, sondern einer Überlagerung der Verse beziehungsweise ihres Selbstausweises durch den Reim als sowohl der einen Struktureinheit (dem Quartett) als auch der anderen (dem Terzett) zugehörig. Indem die Versstruktur des Greiffenbergschen Sonetts dergestalt das „Verhältnis 4 zu 3“52 herstellt, formuliert es ein Oxymoron, das sich eben dieser Überlagerung der Struktureinheiten verdankt. Mit Lausberg gesprochen sind die Struktureinheiten Quartett und Terzett, die aus dem Sextett des herkömmlichen Sonetts hervorgehen, eben diejenigen res, die in eine derart widersprüchliche Kontaktstellung geraten, dass sie ein Oxymoron produzieren. Mit dem Oxymoron schließt Lausberg denn auch seine Auflistung der besonderen Figuren des Antithetons ab.53 Topisch gesprochen platziert die Versstruktur des Greiffenberg-Sonetts mehrere imagines an ein und demselben locus.54 Liwerski bezieht diesen formalen Aspekt auf die erkenntnistheoretische Prämisse der coincidentia oppositorum. „Insofern die dicht zusammengerückten Glieder des Antitheton als Oxymoron definiert werden, hat man im Greiffenbergischen Sextett ein vollendetes Oxymoron vor sich, ein Oxymoron, welches die coincidentia oppositorum in formaler Artistik fixiert.“55 In rhetorischer Terminologie reformuliert, bezeichnet die coincidentia oppositorum genau jene Unmöglichkeit einer Doppelbelegung des topischen locus. In philosophisch-erkenntnistheoretischer Hinsicht lässt sich diese Unmöglichkeit eben als Unbegrifflichkeit fassen, in poetologischer Hinsicht als Unbegreiflich-

47 Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik: Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft (Stuttgart 2008), § 787. 48 Lausberg 2008 (wie Anm. 47), § 791. 49 Lausberg 2008 (wie Anm. 47), § 793. 50 Lausberg 2008 (wie Anm. 47), § 795. 51 Wiethölter 1999 (wie Anm. 19), 141. 52 Liwerski 1975 (wie Anm. 38), 258. 53 Vgl. Lausberg 2008 (wie Anm. 47), § 797. 54 Vgl. zur Topik in der Sonettforschung Thomas Borgstedt, Die Topik des Sonetts (Tübingen 2009). 55 Liwerski 1975 (wie Anm. 38), 258.

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keit. Die Inszenierung der Hand als Aussage- beziehungsweise als Schreibinstanz verhilft der Unbegrifflichkeit/Unbegreiflichkeit gerade über den im weitesten Sinne bildlichen Aspekt des formalen Ausdrucks der coincidentia oppositorum zur Anschauung. Keine narratio steuert diese Anschauung, sondern ein durch das Format des Sonetts gestützter figurativer Schreibakt, der im Symbol der Hand sein unbegriffliches Zentrum findet. (9) Demütiger Entschluß/GOtt zu loben Was fang’ ich an? was untersteh’ ich mich/ das höchste Werk auf Erden zuverrichten? mein schlechtes Lob wird ihn vielmehr vernichten. Er ist und bleibt/ der Höchst geehrt für sich. Fahr fort/ mein’ Hand/ preiß Gott auch inniglich; befleiße dich/ sein Wunder=Lob zu dichten! Du wirst dadurch zu mehrerm ihn verpflichten/ daß Er mit Freud auch wunderseeligt dich. Laß Lob/ Ruhm/ Preiß/ zu wett den Engeln/ klingen mit Lust: ists schon so Heilig lieblich nicht/ und nicht so hoch/ noch mit solch hellem Liecht: GOtt weiß doch wol/ daß sich nicht gleich kan schwingen die kleine Schwalb dem Adler: Ihm beliebt/ was treu gemeint/ ob es schon schlecht verübt.

Demut ist der Modus, in dem das Gotteslob, Greiffenbergs Deoglori, selbstreflexiv und poetologisch wird. Schon die Eingangsfragen stellen den selbstreflexiven Charakter heraus, wenn sie ihr eigenes Tun im wahrsten Sinne des Wortes befragen und gleichzeitig anzeigen, dass sie es tun, dass sie nämlich als Lob tatsächlich „das höchste Werk auf Erden []verrichten“ (V. 2). Weil sich das „verrichten“ (V. 2) auf „vernichten“ (V. 3) reimt, erreichen die Fragen gerade nicht „das Gegenteil des Gewünschten“56, sondern sie vollziehen poetologisch die apophatische Wende der Deoglori. Denn das zweite Quartett gibt die Richtung vor, wie ein solcherart apophatisches Lob auszusehen habe. Die Selbstaufforderung „Fahr fort/mein’ Hand/preiß Gott auch inniglich; // befleiße dich/sein WunderLob zu dichten!“ (V. 5–6) ist nur die logische Konsequenz aus der Erkenntnis der apophatischen Wende. Erstens soll das Lob „innerlich“ vollzogen werden und damit dem Schweigen entsprechen. Dieses innerliche Schweigen erscheint als der Gipfelpunkt der für die negativen Theologien typischen Übersteigungslogik, die sprachliche Bilder im Übermaß produziert, nur um diese Proliferation als

56 Kormann 2014 (wie Anm. 28), 154.



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ungenügend zurückzuweisen. Die Innerlichkeit zusammen mit der Aufforderung weiter zu „dichten“, setzen diese apophatische „Aussagenlogik“57 in Gang, als deren formales Äquivalent die strenge Form des Sonetts erscheint. Denn in der räumlichen Anordnung der Aussagen wird die apophatische Aussagenlogik des Gedichts als Demut erst sinnfällig. Die Terzette setzen das „um die Wette loben“ in Szene und negieren ihren Erfolg im gleichen Atemzug. Im letzten Terzett mündet diese Übersteigungslogik durch immer neue Negationen in ein religiöses Wissen, das als Wissen Gottes ausgezeichnet ist „Gott weiß doch wol“ (V. 12). Dieses religiöse Wissen garantiert, dass man den Begriff nicht für die Sache nimmt und die Metapher nicht durch ein Eigentliches ersetzen kann, sondern, dass letztlich eine genuine Unbegrifflichkeit/Unbegreiflichkeit am Werk ist, die den Gegensatz von „treu gemeint und schlecht verübt“ (V. 14) einebnet, wie sie ebenso den Gegensatz von „Schwalb“ (V. 13) und „Adler“ (V. 13) im Schrei­ben entdifferenziert. Die Gewissheit dieser Entdifferenzierung veranlasst die Aussageinstanz demgemäß auch fortzufahren mit dem expliziten Verweis auf die Hand: „Fahr fort/mein’ Hand/preiß Gott auch inniglich“ (V. 5). Die Hand als Symbol setzt das Problem des angemessenen Lob Gottes ins Bild und entfaltet ihr metaphorisch-metonymisches Potential dadurch, dass sie für diese Entdifferenzierung qua Schreibverfahren einsteht. Gleichzeitig steht die Hand jedoch für das Schrei­ben als konkretem Akt, der per se nicht „inniglich“ (V. 5) sein kann, weil er Schrift und damit etwas Äußerliches produziert.58 Aber damit nicht genug der Entdifferenzierungsleistung. Am entscheidenden Ort des „Verhältnisses 4 zu 3“59 zeigt sich die Konsequenz dieser Handhabung des Schreibverfahrens. Die Unentscheidbarkeit des Bezugs, die das Personalpronomen im Syntagma „Ihm beliebt“ (V. 13) produziert, steht letztendlich für eine Unbegrifflichkeit/Unbegreiflichkeit, die weder den Begriff (Gott) noch die Trope (Adler) als Bild letztverbindlich gelten lässt. Stattdessen entscheidet das Gedicht durch die Unentscheidbarkeit des Bezugs auf syntaktischer Ebene die Diskussion mit einem „weder noch“ und setzt die Unbegrifflichkeit/Unbegreiflichkeit eben durch seine Figuration als literarischer Text in Szene. Gleichzeitig projiziert

57 Vgl. zur „Aussagenlogik“ beziehungsweise zur Sprachkonzeption der Negativen Theologie und der Mystik Walter Haug, „Zur Grundlage einer Theorie des mystischen Sprechens,“ (wie Anm. 37); Mariele Nientied, Reden ohne Wissen: Apophatik bei Dionysius Areopagita, Moses Maimonides und Emmanuel Levinas. Mit einem Exkurs zu Niklas Luhmann (Regensburg 2010), 24 und Westerkamp 2006 (wie Anm. 25). 58 Vgl. allgemein zum Schrei­ben, Schrei­ben als Kulturtechnik: Grundlagentexte, ed. Sandro Zanetti (Frankfurt a. M. 2012). 59 Liwerski 1975 (wie Anm. 38), 258.

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das Sonett damit den von der Forschung herausgearbeiteten „Greiffenbergschen Haupttypus“60, der durch die formale Überlagerung von zwei Gliederungsschemata des Sextetts entsteht, auf die syntaktische Ebene. Die syntaktische Hyperbezüglichkeit schließt sowohl die beiden letzten Verse mit dem zwölften Vers zu einem Schlussterzett zusammen und trennt gleichzeitig das letzte Reimpaar von einem dritten Quartett ab. Damit realisiert das Sonett sowohl in seiner formalen Gestaltung des Strophenschemas wie auch in seinen syntaktischen Bezügen eine poetische Praxis der Unbegreiflichkeit. In dieser Hyperbezüglichkeit wird deutlich, was eine poetische Praxis der Unbegreiflichkeit leistet. Es geht hier nicht um die Versöhnung von mensch­ lichem und göttlichem Sprechen. Es geht auch nicht darum, eine wie auch immer geartete Erkenntnis auszusprechen. Im Gegenteil: Das religiöse Wissen des Gedichts drückt sich in eben dieser Unbegrifflichkeit aus, die es durch seine syntaktischen Strukturen und rhetorisch-bildlichen Verfahren in Szene setzt. Die Hand ist, gerade weil sie in ihrem bildlichen Fundus den Zugriff des Schreibens ins Bild setzt, die Mastertrope dieser Unbegrifflichkeit/Unbegreiflichkeit. Es geht nicht darum, einer begrifflichen Dialektik das Wort zu reden, die über einen Umschlag, der durch die Verneinung gesteuert ist, ein neues positives Wissen herstellt. Bei Greiffenbergs Schrei­ben im Besonderen ebenso wie beim mystischen Sprechen im Allgemeinen handelt es sich eben „nicht um ein dialektisches Modell.“61 Greiffenbergs poetische Praxis der Unbegreiflichkeit kalkuliert mit allen Ebenen des literarischen Textes: Reimschema, Versstruktur, syntaktische Hyperbezüglichkeit und symbolische Anschauung produzieren gemeinsam eine Handhabung Gottes, die präzise das Spannungsfeld zwischen Rationalisierung und Mythisierung ausmisst.

60 Wiethölter 1999 (wie Anm. 19), 141. 61 Haug 1986 (wie Anm. 37), 497.

Teil 2: Der Kampf um das Expertentum

Charles Mériaux

Bonus agricola: À propos de quelques figures de saints prêtres dans l’hagiographie carolingienne Dans les années 860, l’archevêque Adon de Vienne composa la Vie d’un saint d’envergure tout à fait locale, saint Theudère, et l’adressa à la communauté dont il était le saint patron. Dans le prologue, Adon insiste sur la valeur exemplaire de ce texte: «Par cet écrit, j’ai résolu de recommander à votre sainteté la vie de votre père, le bienheureux Theudère: je désire vous inciter davantage, suivant son exemple, à aimer la vie éternelle. Car je veux que vous l’imitiez et que vous rivalisiez avec lui.»1 Ce faisant, Adon rappelle qu’un saint n’est pas seulement un intercesseur dont on invoque la puissance miraculeuse, mais aussi un modèle dont la vie terrestre est susceptible d’être imitée. Au IXe siècle, la réflexion sur la mise en ordre de la société autour de groupes de plus en plus précisément définis – moines, chanoines, clercs séculiers et laïcs – s’est accompagnée de la promotion de saints, certes antérieurs, mais incarnant les idéaux réformateurs développés de manière plus théorique dans les capitulaires royaux et les actes des conciles. C’est ainsi qu’un bon nombre de Vies de saints évêques et de saints abbés – voire de saints moines  – ont été écrites ou réécrites au cours du IXe siècle.2 Or il se trouve que, parmi les clercs séculiers, se dégage au même moment un groupe

1 Vita Theudarii (BHL 8130), éd. Bruno Krusch, dans MGH, SSRM, III (Hanovre 1896), 325–330, c. 1, 527: «Patris vestis vitam, id est beati Teudarii, idcirco vestrae sanctitati scriptis meis commendare disposui, ut vos eius exemplis ad amorem vitae aeternae amplius incitarem. Cupio enim, eius imitatores et aemulatores vos existere, cuius patrocinium Dei munere adquisisse plurimum congaudeo»; je m’inspire de la traduction donnée par Marie-Céline Isaïa, «L’hagiographie contre la réforme dans l’Église de Lyon au IXe siècle,» Médiévales 62 (2012), 83–104, ici 103. La Vie de saint Theudère est conservée dans le légendier de Saint-Gall Stiftsbibl. 566, adressé par Adon lui-même à l’abbé Grimald. Sur l’abbaye Saint-Theudère (aujoud’hui Saint-Chef, dép. Isère, arr. La Tour-du-Pin, cant. Bourgoin-Jallieu Nord), voir Nathanaël Nimmegeers, Évêques entre Bourgogne et Provence: La province ecclésiastique de Vienne au haut Moyen Âge (V e–XIe siècle) (Rennes 2014), 250–251. 2 Pour les Vies d’évêques comme miroir des représentations de l’office épiscopal au IXe siècle, voir Steffen Patzold, Episcopus: Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts, Mittelalter-Forschungen 25 (Ostfildern 2008), 467–508; de manière plus générale sur les réécritures hagiographiques, voir Monique Goullet, Écriture et réécriture hagiographiques: Essai sur les réécritures de Vies de saints dans l’Occident médiéval (VIIIe–XIIIe siècle), Hagiologia 4 (Turnhout 2005).

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bien particulier et de plus en plus différencié, celui des prêtres ruraux. Ce qui est d’abord une réalité sociologique – l’implantation du clergé dans les campagnes – fait l’objet de l’attention de l’épiscopat qui cherche à préciser le comportement de ces prêtres isolés au moyen de prescriptions normatives connues sous le nom de capitula episcoporum.3 La question à laquelle cet article cherchera à apporter quelques éléments de réponse est donc simple4: à côté de cette production normative, peut-on déceler une entreprise de composition de Vies de saints qui incarneraient le modèle du prêtre local, comme le laisse par exemple entendre la Vie de saint Riquier, ce prêtre du Ponthieu qu’Alcuin compare au «bon paysan (bonus agricola), déracinant du champ du Seigneur les ronces des pécheur grâce au soc de l’Évangile»5? La question peut paraître incongrue dès lors que l’on connaît la place encore extrêmement modeste occupée par les simples prêtres dans les procès de canonisation de la fin du Moyen Âge.6 Aussi faut-il constater d’emblée qu’aucun prêtre ayant vécu au IXe siècle n’a été élevé à la sainteté. Mais une autre possibilité était de présenter un saint mérovingien, souvent obscur, sous les traits plus actuels d’un prêtre local. L’écriture hagiographique pouvait ainsi participer à sa manière à l’émergence de ce type social qu’est le prêtre carolingien. Dans cette entreprise, on soulignera toutefois l’obstacle que représente la transmission des textes hagiographiques du haut Moyen Âge dont chacun sait qu’elle est passée au filtre sélectif des légendiers des communautés monastiques et canoniales, excluant de ce fait un grand nombre de textes jugés d’importance mineure, sur le fond comme dans la forme, qui ont pourtant beaucoup circulé sous la forme plus fragile de livrets.7

3 MGH, Capitula episcoporum, I, éd. Peter Brommer (Hanovre 1984); II, éd. Rudolf Pokorny et Martina Stratmann (Hanovre 1995); III, éd. Rudolf Pokorny (Hanovre 1995); IV, éd. Rudolf Pokorny (Hanovre 2005); Carine Van Rhijn, Shepherds of the Lord: Priests and Episcopal Statutes in the Carolingian Period, Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 6 (Turnhout 2007). 4 Cet article complète ce que j’ai déjà pu écrire dans «Vitae presbyterorum: Remarques sur quelques Vies de prêtres ruraux du haut Moyen Âge,» dans Normes et hagiographie dans l’Occi­ dent médiéval (V e–XVIe siècles), ed. Marie-Céline Isaïa et Thomas Granier, Hagiologia 9 (Turnhout 2014), 363­–378, où sont présentés d’autres dossiers: ceux des saints Eptade, Gamalbert, Lonochilius et Valentin qui ne seront donc pas évoqués ici. 5 Voir infra n. 31. 6 André Vauchez, La sainteté en Occident aux derniers siècles du Moyen Âge d’après les procès de canonisation et les documents hagiographiques, Bibliothèque des Écoles françaises d’Athènes et de Rome 241 (Rome 1981), 358–364; je remercie Catherine Vincent qui m’a adressé deux articles sous presse, l’un sur le bienheureux Thomas Hélie de Biville (†1257), l’autre sur les transformations du culte de saint Thibaut de Provins aux XIIIe et XIVe siècles. 7 Joseph-Claude Poulin, «Les libelli dans l’édition hagiographique avant le XIIe siècle,» dans Livrets, collections et textes. Études sur la tradition hagiographique latine, éd. Martin Heinzel-



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Cette contribution examinera dans un premier temps ce que l’on peut tirer des grands martyrologes carolingiens confrontés aux Vies qui ont été conservées. Elle développera ensuite l’exemple du diocèse du Mans au IXe siècle que documentent non seulement les Actus des premiers évêques et les Gesta Aldrici, mais aussi des Vies de saints dont certaines leur sont incontestablement contemporaines.

1 Vues d’ensemble Bien que la plupart des saints honorés au cours du haut Moyen Âge fussent hérités de l’Antiquité tardive, avec une très forte représentation des martyrs et des évêques, les listes conservées permettent tout de même d’apprécier la valorisation de la figure du prêtre. Les entrées du Martyrologe Hiéronymien, complété à Auxerre à la fin du VIe siècle, sont encore trop succinctes pour prendre la mesure du phénomène. En revanche les œuvres hagiographiques de Grégoire de Tours peuvent être exploitées en raison de leur caractère que l’on peut considérer comme systématique. Dans son Liber in gloria confessorum, l’évêque enregistre les premiers modèles d’une sainteté fondée non plus seulement sur le retrait du monde, mais sur une vie religieuse marquée par le contact avec les fidèles: Amabilis, prêtre du vicus de Riom, «d’une admirable sainteté» (c. 32); Romanus au castellum de Blaye en Gironde (c. 45); deux prêtres anonymes inhumés dans l’église de Bouliac au diocèse de Bordeaux (c. 46); Justinus et Similinus respectivement prêtres au vicus Sexciacensis et à Tarbes (c. 48); ainsi que trois prêtres inconnus enterrés à Aire-sur-l’Adour (c. 51). L’éloge le plus explicite est celui du prêtre Severus (c. 49–50). D’origine noble, il avait été ordonné prêtre. Il avait fait édifier sur ses domaines deux églises dans lesquelles il avait déposé des reliques et où il célébrait successivement la messe le dimanche. Sa vie durant, il desservit les deux sanctuaires et mit ses biens au service des pauvres.8 Évidemment, rapportée à la bonne centaine de notices que rédige Grégoire, cette petite dizaine de saints prêtres fait figure de parent pauvre dans le sanctoral du VIe siècle. mann, Beihefte der Francia 63 (Ostfildern 2006), 15–193; id., «La Conversio s. Lucii de Saint-Gall: un libellus hagiographique dans son contexte européen,» dans Schrift, Schriftgebrauch und Textsorten im frühmittelalterlichen Churrätien, éd. Heidi Eisenhut, Karin Fuchs, Martin Hannes Graf et Hannes Steiner (Bâle 2008), 41–64. 8 Grégoire de Tours, Liber in gloria confessorum, éd. Bruno Krusch, dans MGH, SSRM, I-2 (Hanovre 1885), 294–370; trad. anglaise Raymond Van Dam, Gregory of Tours: Glory of the Confessors, Translated texts for historians 4 (Liverpool 1988); sur les prêtres mérovingiens en général, voir Robert Godding, Prêtres en Gaule mérovingienne, Subsidia hagiographica 82 (Bruxelles 2001).

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Au IXe siècle, les martyrologes dits historiques  – qui consacrent à chaque saint un bref éloge – permettent de se faire une idée un peu plus précise de la valorisation de la sainteté sacerdotale.9 Il faut d’ailleurs préciser que plusieurs capitula épiscopaux demandent aux prêtres de posséder un livre de ce genre10; et que quelques bibliothèques d’églises locales attestent que ces recommandations, sans être suivies partout, ne sont pas absolument restées lettre morte.11 Le martyrologe le plus emblématique est celui qu’a composé le moine Usuard de Saint-Germain-des-Prés dans les années 850–860, lequel a pu aussi s’appuyer sur des informations rassemblées avant lui par Florus de Lyon et Adon de Vienne.12 Au total, Usuard fait apparaître une cinquantaine de saints gaulois ou francs qui ne soient qualifiés ni de martyr, ni d’évêque, ni d’abbé, mais de prêtre ou de confesseur. Comme on peut le vérifier par des indications antérieures ou contemporaines, ce titre de prêtre ou de confesseur consacre parfois une carrière d’évêque (Loup de Troyes) ou d’abbé (Wandrille de Fontenelle). Ceci doit nous conduire à retirer un bon tiers des saints sous ces noms. Il faut toutefois être vigilant à ne pas exclure trop vite des saints dont les reliques étaient certes conservées au sein de monastères, mais sur lesquels les religieux avaient projeté a posteriori un modèle de sainteté qui correspondait à leur vie présente comme les saints Basle (de Verzy), Bavon (de Gand), Évroult (d’Ouche), Florent (en Poitou), Laumer (de Corbion), Valéry (en Ponthieu) ou encore Vulmer (de Samer, près de Boulogne). Ces réserves étant posées, il convient de retenir qu’Usuard enregistre, sous le nom de prêtres, un nombre non négligeable de saints locaux: Beatus de Vendôme (9 mai), Benoît de Quinçay (23 octobre), Donatus de Sisteron (19 août), Galmier (Baldomerus) de Lyon (27 février), Laetus d’Orléans (5 novembre), Leo

9 Jacques Dubois, Les martyrologes du Moyen Âge latin, Typologie des sources du Moyen Âge occidental 26 (Turnhout 1978). 10 MGH, Capitula episcoporum (cit. n. 3), I, 40 (Gerbald de Liège), 63 (Ruotger de Trèves), 189 (Gautier d’Orléans) et 223 (Capitula Florentina); ibid., II, 93 (Willebert de Châlons) et 103 (Riculf de Soissons); ibid., III, 87 (Capitula Silvanectensia secunda), 117 (Capitula Sangallensia) et 124 (Capitula Ottoboniana); voir aussi Das Sendhandbuch des Regino von Prüm, éd. Wilfried Hartmann, Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe 42 (Darmstadt 2004), Inquisitio, c. 94, 38; Robert Amiet, «Une ‹Admonitio synodalis› de l’époque carolingienne: Étude critique et édition,» Medieval Studies 26 (1964), 12–82, ici c. 97, 68; cf. Baudouin de Gaiffier, «De l’usage et de la lecture du martyrologe: Témoignages antérieurs au XIe siècle,» Analecta Bollandiana 79 (1961), 40–59, spéc. 52–54. 11 Le polyptyque et les listes de cens de l’abbaye de Saint-Remi de Reims (IXe–XIe siècle), éd. JeanPierre Devroey, Travaux de l’Académie nationale de Reims (Reims 1984), 14 (bibliothèque de l’église de Ville-en-Selve). 12 Dubois 1978 (cit. n.  9), 45–56; Le martyrologe d’Usuard: Texte et commentaire, éd. Jacques Dubois, Subsidia hagiographica 40 (Bruxelles 1965).



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de Troyes (25 mai), Leonius de Melun (12 novembre), Marianus et Silvanus de Bourges (19 août et 22 septembre), Ostianus en Vivarais (30 juin), Sabinus en Poitou (11 juillet), ou encore Vincentius dans le Nivernais (17 octobre). La mention de leur nom fournit déjà l’indice d’une valorisation hagiographique de la fonction sacerdotale, même si les éloges d’Usuard ne permettent guère d’en saisir les caractères. La dimension régionale et confidentielle du culte de ces saints explique qu’ils n’eurent généralement pas les honneurs d’une Vie que l’on puisse dater avec assurance de l’époque carolingienne, ou du moins que celle-ci ne nous est pas parvenue. Il y a heureusement quelques exceptions. J’en retiendrai deux ici. L’une concerne un saint d’envergure très modeste, Ostianus; l’autre un saint dont le culte connut une beaucoup plus grande diffusion en raison de l’importance du monastère dont il était le saint patron, Riquier.

2 Deux exemples: saint Ostianus et saint Riquier Usuard est le premier à faire mention au 30 juin de la fête de saint Ostianus, «prêtre et confesseur en Vivarais». Les autres documents liturgiques carolingiens  – calendriers et litanies  – n’ont pas conservé le souvenir de ce saint au rayonnement très local.13 Usuard a très vraisemblablement eu connaissance de son culte lors du voyage qu’il fit en Espagne en 857–858 pour obtenir des reliques de saint Vincent de Valence. On sait en effet qu’il emprunta la vallée du Rhône et traversa le Vivarais avant de rejoindre Barcelone puis Cordoue où, faute des reliques de saint Vincent, il reçut finalement celles de trois martyrs de la persécution de 825, George, Aurèle et Nathalie. Le retour se fit par le même itinéraire.14

13 Le martyrologe d’Usuard (cit. n. 12), 258; le nom d’Ostianus passe ensuite dans les versions complétées du martyrologe d’Adon: Le martyrologe d’Adon, ses deux familles, ses trois recensions. Texte et commentaire, éd. Jacques Dubois et Geneviève Renaud, Sources d’histoire médiévale publiées par l’Institut de recherche et d’histoire des textes (Paris 1984), 210; mais il ne figure ni dans les litanies éditées par Astrid Krüger, Litanei-Handschriften der Karolingerzeit, MGH Hilfsmittel 24 (Hanovre 2007), ni dans les calendriers dépouillés par Arno Borst, Der karolingische Reichskalender und seine Überlieferung bis ins 12. Jahrhundert, MGH Libri memoriales 2 (Hanovre 2001), 3 volumes. 14 Aimoin de Saint-Germain, De translatione sanctorum martyrum Georgii monachi, Aurelii et Nathaliae, éd. Jean-Baptise Du Sollier, AA SS Julii, VI (Anvers 1729), 459–469 (BHL 3409), spéc. c. 3, 460 et c. 20–21, 464 pour la traversée du Vivarais, à l’aller comme au retour; sur ce voyage, voir Le martyrologe d’Usuard (cit. n. 12), 128–134 et, récemment, Sofia Meyer, Der heilige Vinzenz von Zaragoza: Studien zur Präsenz eines Märtyrers zwischen Spätantike und Hochmittelalter, Beiträge zur Hagiographie 10 (Stuttgart 2012), 175–176 (avec bibliographie).

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Par la suite, Usuard ne semble pas avoir quitté son monastère; il n’a donc plus eu l’occasion d’avoir une connaissance personnelle des cultes locaux, semblables à celui d’Ostianus, qui existaient ailleurs en Gaule. En somme, les raisons de la présence d’un saint aussi modeste dans le martyrologe d’Usuard permettent de supposer que de tels saints étaient nettement plus nombreux à l’époque où travaillait le moine de Saint-Germain-des-Prés. En introduisant le nom d’Ostianus dans son propre martyrologe, Adon de Vienne précise qu’il en possède les gesta.15 La formule est assez banale, mais elle mérite ici d’être prise au sérieux car une très brève Vita Ostiani se trouve en effet copiée avec la Passion d’un autre saint du Vivarais, le martyr Andéol, à la suite du martyrologe d’Adon dans un manuscrit du Xe siècle.16 L’auteur affirme se fonder sur le témoignage de contemporains du saints qui vécut au début du VIe siècle sous le pontificat de l’évêque Venantius de Viviers, attesté au concile d’Epaône (517).17 La Vie insiste sur trois points: Ostianus s’installe comme ermite avec l’accord de son évêque à trois milles de la cité, en un lieu nommé Baina, à la source d’un ruisseau du nom de Ticinus; il mène une vie austère, occupée par la prière et le jeûne18; à une époque de grande sécheresse, un aveugle est averti par un ange de venir le trouver pour que, par ses prières, il intervienne auprès de Dieu et obtienne le retour de la pluie, ce qu’il fit avec succès après avoir été sollicité par la population des environs.19 Certes, le bref portrait d’Ostianus s’inscrit encore dans la lignée des hommes de Dieu, solitaires et charismatiques, si présents dans l’œuvre de Grégoire de Tours: les holy men chers à Peter Brown. Il reste que la Vie propose avec précision trois enseignements qui rencontrent des préoccupations exprimées régulièrement par les autorités carolingiennes: l’obéissance à l’évêque, la sobriété du comportement (particulièrement à table)

15 Voir supra n. 13. 16 Bruxelles, Bibl. royale, 1791–1794, fol. 73v–75v; Vita Ostiani (BHL 3989), éd. Analecta Bollandiana 2 (1883) p. 355–358; sur ce manuscrit, voir Catalogus codicum hagiographicorum Bibliothecae regiae Bruxellensis, Subsidia hagiographica 1 (Bruxelles 1886–1889), I, 297–298. 17 Topographie chrétienne des cités de la Gaule, III, Provinces ecclésiastiques de Vienne et d’Arles (Paris 1986), 59. 18 Vita Ostiani (cit. n. 16), 356–357: «… vigiliis jejuniis, orationibus multis Deo nocte ac die serviens, oblationis sacrificium implebat, modico pane vitam sustentans, rare tantum, quando infirmitas cogeret, legumina sale confecta pregustans, vino semper abstinens, nisi cum in sacramentis Christi inde preliberet, quia nec sine vino ipsa rite complentur.» 19 Vita Ostiani (cit. n. 16), 357: «Et gratias Deo agens quod tantam calamitatem effugerit, causam suae visionis populo exponit, monuitque ad hominem Dei pergerent, quia illius orationibus omnipotens Deus terrae repropitiaretur. Cumque universus populus de quibuscumque regionibus cellam ipsius beneficia expostulans ambiret, vir Dei intelligens ex Deo tantam misericordiam se consecuturum, optulit sacrificium, et ecce subito tanta inundatio pluviae facta est …»



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et l’efficacité des actions liturgiques du prêtre (messes, prières et bénédictions) face aux éléments naturels.20 Sans chercher à pousser plus loin l’analyse d’un texte dont la date et les circonstances de composition restent difficiles à préciser, observons que, s’il circulait au Xe siècle, il ne devait pas manquer de faire preuve d’une certaine actualité auprès des lecteurs et des auditeurs. Plus explicite est la figure de saint Riquier de Centule, le célèbre monastère établi au nord de l’estuaire de la Somme dont Angilbert, un proche de Charlemagne, fut abbé entre 790 et 814. C’est lui qui sollicita Alcuin pour une réécriture du texte mérovingien de la Vie de saint Riquier.21 Alcuin a respecté les événements de la vie du saint tels qu’ils étaient déjà présentés dans la biographie primitive. À l’évidence, le souvenir de Riquier était encore suffisamment vivant pour qu’Alcuin (ou son commanditaire) ne puisse prétendre faire a posteriori du saint un modèle de vie monastique ni n’occulte le fait qu’il avait longtemps vécu dans le siècle. Ce point mérite d’être souligné: il montre que la fin de l’époque mérovingienne avait déjà développé quelques modèles hagiographiques qui concernaient au premier chef les clercs séculiers. Né à Centule avant le milieu du VIIe siècle, Riquier est présenté comme le fondateur de l’église du bourg dont il assuma la direction pendant plusieurs années, avant de mener une existance plus solitaire dans la forêt de Crécy en un lieu que la tradition a désigné sous le nom de Forest-Montiers.22 À la suite de la Vie primitive, Alcuin dresse le portrait d’un prêtre dont l’origine modeste n’a pas été un obstacle à la pratique des vertus sacerdotales telles qu’elles sont présentées au IXe siècle dans les sources normatives: un comportement exemplaire sans

20 Voir par exemple, chez Hincmar de Reims, le premier capitulaire épiscopal de 852, c. 5 (bénédictions «per mansiones et agros ac vineas, super pecora quoque sua atque super pabula eorum, nec non et super cibos et potum suum») c. 11 et 13–14 (interdits concernant la boisson): cf. MGH, Capitula episcoporum (cit. n. 3), II, p. 36, 39 et 41. 21 Vita Richarii primigena (BHL 7245), éd. Bruno Krusch, dans MGH, SSRM, VII (Hanovre 1919), 444–453; Alcuin, Vita Richarii (BHL 7223–7227), éd. Bruno Krusch, MGH, SSRM, IV (Hanovre / Leipzig 1902), 389–401; j’utilise ici l’édition des deux textes (accompagnée d’une traduction française) donnée par de Christiane Veyrard-Cosme, L’œuvre hagiographique en prose d’Alcuin: Vitae Willibrordi, Vedasti, Richarii. Édition, traduction, études narratologiques, Per Verba. Testi mediolatini con traduzione (Florence 2003), 14–27 et 110–137. 22 Alcuin, Vita Richarii, c. 12 (cit. n. 21), 126; pour la mention de Forest-Montiers, voir la Chronique de l’abbaye de Saint-Riquier (Ve siècle–1104), éd. Ferdinand Lot, Collection de textes pour servir à l’étude et à l’enseignement de l’histoire (Paris 1904), l.  I, c.  19, 32: «in loco qui nunc Forestis-Cella dicitur, distans a Centula X passuum milibus»; ibid., l. III, c. 3, 95 (pour l’existence d’une communuté de trente chanoines dépendant de Saint-Riquier sous le règne de Louis le Pieux). – Saint-Riquier: dép. Somme, arr. Abbeville, cant. Ailly-Le Haut Clocher; Forestmontiers: dép. Somme, arr. Abbeville, cant. Nouvion.

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lequel il ne peut y avoir de prédication efficace, ce qu’Alcuin résume dans une belle formule: quod ore praedicavit exemplo ostendit23; le soin et la guérison des malades24; la redistribution des biens donnés par les fidèles25; la fréquentation convenable d’une sainte femme nommée Rictrude26; un discours sans compromission à l’égard des puissants, en l’ocurrence le roi Dagobert lui-même auquel le saint reprocha de «s’enorgueillir de sa puissance dans le siècle»27; le refus des honneurs et des richesses, avec un exemple concret puisque Riquier abandonne son cheval pour un âne.28 Il reste que la pratique des vertus sacerdotales n’explique pas à elle-seule la sainteté de Riquier puisque celui-ci poursuivit le reste de son existence en ermite. Alcuin a pu se trouver embarrassé par certains épisodes du texte primitif, mais il justifie toujours ce qui se présente comme des entorses à l’éthique sacerdotale carolingienne. Ainsi, Riquier se trouve-t-il invité par le roi Dagobert à un banquet  – chose contraire aux prescriptions des évêques  –, ce qu’Alcuin justifie en invoquant l’exemple du Christ qui, «loin de repousser les banquets du siècle, saisissait l’occasion de prêcher».29 De même la Vie mérovingienne montrait le saint partir enseigner en Bretagne, donc hors de l’église qui lui avait été confiée, mais Alcuin passe très vite sur cet épisode pour assurer aussitôt que Riquier revint à Centule: «à moissonner pour le compte d’autrui, il craignait de perdre le profit de sa propre récolte».30 Seul manque le thème carolingien de l’obéissance à l’évêque diocésain, une figure totalement absente de l’une comme de l’autre Vie. En définitive, on relèvera la valorisation de la fonction modeste du prêtre – ce bon paysan (bonus agricola) qui «déracine du champ du Seigneur les

23 Alcuin, Vita Richarii, c.  4 (cit. n.  21), 114: «Unde et omnibus praedictus uir Dei Richarius honorabilis factus est et carus quia quod ore praedicavit exemplo ostendit viam vitae quam aliis sermone monstrauit ipse prior actu percucurrit.» 24 Alcuin, Vita Richarii, c. 6 (cit. n. 21), 116. 25 Alcuin, Vita Richarii, c. 5 (cit. n. 21), 114; ibid., c. 7, 116. 26 Alcuin, Vita Richarii, c. 10 (cit. n. 21), 120–122: «Visitavit enim equitando quandam Deo devotam feminam Richthrudam nomine et cum iam post dulces vitae epulas et post conloquia salubria …» 27 Alcuin, Vita Richarii, c.  11 (cit. n.  21), 124: «sacerdotali auctoritate libera voce castigavit, denuntians ei ne in saeculari superbiret potentia …» 28 Alcuin, Vita Richarii, c. 11 (cit. n. 21), 122. 29 Alcuin, Vita Richarii, c.  11 (cit. n.  21), 124: «Qui, Christi confortatus exemplo saecularium non respuentis convivia ut praedicationis nancisceretur occasionem, venit cum rege ad mensam suam totaque die illa et nocte inter epulas laetitiae verbi Dei dapes salutiferas convivis suis ministravit.» 30 Alcuin, Vita Richarii, c. 9 (cit. n. 21), 120: «Igitur praedicationis officio in Britannia transacto, cum multiplici verbi dei fructu reversus est in patriam ne dum in aliena messe quaereret mercedem in propria perderet …»



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ronces des péchés grâce au soc de l’Évangile»31 – qui peut conduire à la sainteté, même si elle n’est pas suffisante pour y parvenir. Il n’est pas sans intérêt de confronter les différents éléments relevés dans la Vie de saint Riquier avec ce petit «miroir» de la fonction sacerdotale qu’est la formule d’examen sacerdotal naguère attribuée par Wilfried Hartmann à l’évêque Halitgaire de Cambrai (817–831).32 Elle insiste sur sept points principaux: 1) l’instruction, 2) la stabilité et l’attachement d’un seul prêtre à une seule église, 3) l’obéissance à l’évêque, 4) le célibat et la chasteté, 5) la célébration de la messe, la prédication et l’administration des sacrements (en fait surtout le baptême et l’onction des malades), 6) l’imitation, autant que possible, de la vie régulière (notamment par la célébration des offices), 7) la générosité à l’égard des nécessiteux et des captifs, 8) l’interdiction des activités considérées comme séculières (boisson, chant, danse, chasse) et de manière plus générale l’exemplarité du comportement. La Vie de Riquier ne les mentionne pas tous, mais la plupart trouvent tout de même un écho dans le texte. Rien ne dit que la Vie de Riquier, en définitive peu diffusée, ait été particulièrement lue par des prêtres, tout du moins peut-on penser qu’Alcuin pensait à eux, lui dont la correspondance manifeste un certain intérêt pour les questions pastorales.33 Ces deux dossiers hagiographiques témoignent chacun à leur manière que l’écriture hagiographique a pu accompagner l’entreprise normative d’encadrement du groupe des prêtres ruraux, en ancrant dans le passé des modèles susceptibles l’inspirer leur comportement. C’est cependant dans le diocèse du Mans que la documentation laisse entrevoir un projet plus systématique.

3 Les saints prêtres du diocèse du Mans L’histoire carolingienne du diocèse du Mans est documentée par les œuvres exceptionnelles que forment les Actus pontificum Cenomannis in urbe degentium, composés à la demande de l’évêque Aldric (832–857), et les Gesta Aldrici, rédigés 31 Alcuin, Vita Richarii, c. 4 (cit. n.  21), 114–115: «velut bonus agricola spinas peccatorum de agro Domini evangelico vomere eradicavit.» 32 Wilfried Hartmann, «Neue Texte zur bischöflichen Reformgesetzgebung aus den Jahren 829 / 31: Vier Diözesansynoden Halitgars von Cambrai,» Deutsches Archiv 35 (1979), 368–394, ici ­392–394; cf. aussi MGH, Capitula episcoporum (cit. n. 3), III, 62–64 et ibid., IV, 44. 33 Alcuin, Epistolae, éd. Ernst Dümmler, dans MGH, Epistolae, IV (Berlin 1895), 1–481, n° 111, 159–162 (à propos de l’attitude des prêtres francs en Saxe), n° 169, 278 (à Arn de Salzbourg pour lui demander d’instruire ses prêtres), n° 298, 457 (au sujet des prêtres des églises de Saint-Martin de Tours situées dans le diocèse de Limoges).

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à l’initiative de son son successeur, l’évêque Robert (859–878). Outre le fait que ces textes répondent à un projet mémoriel assez répandu au sein de l’épiscopat carolingien, les travaux de Walter Goffart et de Philippe Le Maître ont montré la volonté des auteurs de rappeler les droits, juridiques et économiques, de l’évêque du Mans sur les communautés de son diocèse et en particulier de celle de Saint-Calais, une entreprise qui passa par la confection de nombreux faux.34 Il s’ensuit une présentation précise des circonstances (imaginées) de la fondation des différents monastères qui insiste toujours sur le rôle que les évêques auraient joué au VIe siècle. Parallèlement, on conserve aujourd’hui une dizaine de Vies de saints honorés comme fondateurs de ces établissements, en particulier les saints Almir, Alveus, Boamir, Constantien, Lonochilius, Ricmir et Rigomer. Ces Vies entretiennent entre elles, ainsi qu’avec les Actus et les Gesta, des relations qu’il reste assez difficile d’éclaircir précisément, en raison d’une tradition manuscrite incertaine. C’est la raison pour laquelle ces textes assez sommaires – sur le fond comme sur la forme – n’ont pas été étudiés pour eux-mêmes, mais toujours en marge d’autres dossiers textuels.35 La simplicité de ces Vies est un bon indice de la modestie du public visé. Surtout, leur présence dans des manuscrits antérieurs à l’an mille montre que certaines compositions remontent indiscutablement l’époque carolingienne. Même s’il est difficile de savoir exactement dans quel contexte elles ont été composées, ces textes manifestent l’intérêt de leurs auteurs ou de leurs commanditaires pour des figures de sainteté de clercs ayant mené une vie qui n’était pas exclusivement monastique. Quant à celles qui sont connues par une tradition plus tardive, il est vrai qu’elles doivent être considérées avec davantage de réserve car il n’est pas

34 Geschichte des Bistums Le Mans von der Spätantike bis zur Karolingerzeit, éd. Margarete Weidemann, Romanisch-germanisches Zentralmuseum. Forschungsinstitut für Vor- und Frühgeschichte 56 (Mayence 2002), 3 volumes; cf. Walter Goffart, The Le Mans Forgeries: A chapter from the history of Church property in the ninth century, Harvard Historical Studies 76 (Cambridge, Massachusetts 1966); Joseph Van der Straeten, «Hagiographie du Mans: Notes critiques,» Analecta Bollandiana 85 (1967), 473–516; Philippe Le Maître, «L’œuvre d’Aldric du Mans et sa signification (832–857),» Francia 8 (1980), 43–64. 35 Exception faite de l’article de Philippe Le Maître, «Évêques et moines dans le Maine (IV e–VIIIe siècle),» dans La christianisation des pays entre Loire et Rhin (IV e–VIIe siècle), éd. Pierre Riché (Paris 1993), 91–101 qui exploite ces Vies pour décrire la situation religieuse du VIe siècle ce qui revient à leur accorder une valeur historique qu’elles n’ont sans doute pas.  – Pour l’étude de ces Vies en relation avec l’hagiographie de l’abbaye de Micy, voir Albert Poncelet, «Les saints de Micy,» Analecta Bollandiana 24 (1905), 5–104; pour les rapports avec les Actus du Mans, voir Goffart 1966 (cit. n. 34), 50–58 et 339–350.



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exclu qu’elles appartiennent en fait à la vague de réforme du clergé séculier porté par la Réforme grégorienne.36 Certes, les Vies du Mans insistent sur la vie monastiques qu’auraient observée ces saints, jusqu’à citer mot pour mot des passages de la Règle de saint Benoît.37 On a vu plus haut que cette imprégnation régulière n’était pas nécessairement en contradiction avec l’éthique proposée aux prêtres ruraux. Le formulaire d’examen attribué à Halitgaire de Cambrai y fait longuement référence: «par-dessus tout, que [le prêtre] ne néglige pas de se rendre dans l’église et d’y dire avec assiduité les offices divins, c’est-à-dire l’office de la nuit, de matines, prime, seconde, tierce, sexte, none, vêpres et complies. Ces offices, qu’il les accomplisse du mieux qu’il pourra en compagnie de clercs religieux».38 Cette attention étonnerait d’autant moins de la part d’un évêque comme Aldric qui, formé à la cour puis au sein du chapitre cathédral de Metz, devait être convaincu de la nécessité d’introduire une certaine régularité dans la vie des religieux séculiers.39 Les Vies du Mans mettent en scène leurs modèles dans une telle palette de situations pastorales qu’il est difficile de penser que le public visé était exclusivement monastique. Il est partout question de l’obéissance à l’évêque, de la conversion de laïcs, de la lutte contre les superstitions, de la guérison de malades et de possédés, des rapports avec les potentes locaux, de l’administration de la pénitence, de la lutte contre les unions illégitimes et de la médisance dont les clercs étaient victimes concernant leurs relations avec les femmes. Ce sont autant de thèmes qui peuvent être précisément rapprochés d’injonctions figurant dans 36 Tel pourraît être le cas de la Vita Constantiani (BHL 1931) qui semble bien faire allusion aux chanoines réguliers, éd. Dom Bouquet, Recueil des historiens des Gaules et de la France, III (Paris 1741), 449: «Ad praefatum nempe vicum Hebron sanctae Cenomannicae matris Ecclesiae titulatus ac presbyter ordinatus fuit jamdictus Constantianus a memorato sancto Innocente episcopo, illucque ad praedicandum ab eo directus. Cum enim vicum (accepisset) sanctus Constantianus a saepedicto episcopo quo aliquam cellulam ad animas Deo lucrandas construeret, atque in ea quosdam monachico ordine edoctos congregaret, nuti Dei antedicti episcopi fretus auxilio facere meruit. Erat enim tunc consuetudo, quae hactenus apud nos servatur, ut in omnibus vicis fratres congregati in unum communem vitam ducerent, et omnia in commune haberent»; sur cette Vie, voir Poncelet 1905 (cit. n. 35), 88–89. 37 L’expression ad lucrandas animas (RB 58) revient à de nombreuses reprises tant dans les Vies que dans les Actus. 38 Hartmann 1979 (cit. 32), 393: «Insuper, ut ecclesiam in officiis divinis, id est in missis nocturnis, matutinis, primis, vel secundis, tertiis, sextis nonisque, vesperis et completoriis frequentare non neglegat, et haec officia, prout melius potest, peragat cum clericis religiosis»; la «seconde» heure ne figure pas dans la Règle de saint Benoît, mais dans celle de Fructueux de Braga (je remercie Anne Wagner de m’avoir apporté cette précison). 39 Sur la formation d’Aldric, voir Gesta Aldrici, c. 1, éd. Weidemann, Geschichte des Bistums Le Mans, (cit. n. 34), I, 118–120.

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les textes pastoraux du IXe siècle, à commencer par l’examen d’Halitgaire qui a été cité plus haut. Or ces normes étaient portées à la connaissance des prêtres du Mans. Si l’on en croit le témoignage des Gesta Aldrici, cet évêque composa à l’intention de ses consacerdotes une collection de canons reprenant en particulier la législation religieuse de Pépin le Bref, Charlemagne et Louis le Pieux.40 De la sorte, il ne serait pas étonnant que des auteurs manceaux aient utilisé l’hagiographie pour transmettre ces modèles. L’exemple le plus indiscutable d’une rédaction carolingienne est fourni par la Vie du prêtre Rigomer. Son culte apparaît à plusieurs reprises dans la documentation mancelle puisque la basilique suburbaine dans laquelle il fut enterré est déjà mentionnée dans le testament de l’évêque Bertrand (616).41 Sa Vie est aujourd’hui conservée dans un légendier de la première moitié du Xe siècle.42 Rigomer aurait vécu au temps de Childebert Ier (511–568) et de son épouse Ultrogothe. Il est associé par l’auteur aux saints Calais et Laumer dont les Vies figurent aussi dans le manuscrit de Bruxelles, mais sans que l’on puisse repérer des emprunts formels à leurs Vies. La question n’est pas de savoir si Rigomer a bien existé, mais de constater qu’il se voit attribuer par son biographe bien des caractères que la législation épiscopale du IXe siècle exige des prêtres ruraux. Originaire du Sonnois – la région qui couvre les environs de Mamers –, il fut instruit par un prêtre nommé Launillus, puis élevé au sacerdoce.43 L’auteur condense en un bref paragraphe l’idéal sacerdotal  carolingien: la prédication, l’administration de la pénitence,

40 Gesta Aldrici, c. 17, éd. Weidemann, Geschichte des Bistums Le Mans, (cit. n. 34), I, 133. 41 Topographie chrétienne des cités de la Gaule, V, Province ecclésiastique de Tours (Paris 1987), 54–55; pour la mention d’un autel Saint-Rigomer dans la cathédrale au temps d’Aldric, voir Gesta Aldrici, c. 3, éd. Weidemann, Geschichte des Bistums Le Mans (cit. n. 34), I, 125; c’est la raison laquelle la Vie ne cherche pas à localiser précisément les lieux où vécut le saint, à l’exception de la cellula de Subligniacus (c. 12, 788), généralement identifié avec Souligné-sous-Ballon, dép. Sarthe, arr. Le Mans, cant. Ballon; cf. Philippe Rouillard, «Rigomero e Tenestina,» Bibliotheca Sanctorum, XI (Rome 1968), 187–188. 42 Bruxelles Bibl. royale 8550–8551, fol.  151v–154v; cf. Catalogus codicum hagiographicorum (cit.  n.  16), II, 216–218. C’est à partir de ce manuscrit (qui était conservé dans la bibliothèque des Bollandistes sous la cote 47) qu’a été établie l’édition de Jean Pien, dans AA SS Augusti, IV (Anvers 1739), 786–788 (= BHL 7256). 43 Vita Rigomeri, c. 4 (cit. n. 42), 787: «In illis quidem temporibus, ut veracium et fidelium hominum testimoniis approbatur, cognitum est per multos fideles, ortus est in condita Saugonensi ex liberis parentibus, vir sanctus ac religiosus, et bonis moribus ornatus Rigomerus Dei famulus, qui ab infantia sacris literis eruditus est a quodam religioso presbytero [sancto] Launillo de Arverno, vel a quibus potuit quaesivit de verbo Dei bonum consilium humilitatis, et castitatis, vel sanctæ meditationis: et quod diligenter quaesivit super prudentiae testimonio, Domino largiente, invenit, et fide conservavit, et moribus se esse devovit, ac proinde ex Dei providentia, testimonio fidelium populorum, sacerdos Dei probatus effectus est.»



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l’appel à l’hospitalité et à la charité, la guérison des malades par l’onction d’huile sainte.44 La lutte contre les superstitions est illustrée par le récit de la destruction d’un fanum à la place duquel Rigomer fit édifier une église où les fidèles apportèrent alors leurs offrandes, ce qui ancrait dans un passé lointains et héroïques une obligation économique désormais courante à l’époque carolingienne.45 Toute la suite de la Vie est consacrée à une femme nommée Tenestina qui était alors fiancée mais refusait le mariage et voulait recevoir le voile consacré. Elle recevait les visites de Rigomer qui fut alors dénoncé au fiancé.46 Il se justifia au palais du roi grâce à un miracle et Tenestina put finalement s’installer au Mans et y recevoir le voile des mains de l’évêque. De toute évidence, l’auteur reprend ici le thème de la relation spirituelle entre un religieux et une religieuse qui se trouvait déjà développé dans la Vie d’un autre saint manceau, Lonochilius.47 Plus largement cependant, on peut y voir un petit exemplum illustrant les précautions que doivent prendre les prêtres et les dangers que font courir les médisances. Sans doute aussi doit-on y lire une mise en garde bien réelle à l’intention des prêtres qui, «en séduisant les femmes des autres», seraient tentés d’enfreindre le respect du célibat imposé par les canons, une situation qui, sans nécessairement être générale, se rencontre sous une forme ou une autre dans les actes de la pratique du IXe siècle.48

44 Vita Rigomeri, c. 5 (cit. n. 42), 787: «Et coepit circumquaque verbum Domini praedicare tam parentibus quam et proximis vicinis, et quoscumque potuit tam ad poenitentiam exhortari, quam ad reliquam observationem justitiae, et causas misericordiae, et ut hospitales esse deberent, sive eleemosynas in pauperes alacriter largirentur, et voluntarie erogarent, ut ipsi pro his supernae pietatis misericordiam possent promereri, frequentissime admonebat; et nec profanas causas, nec ad fontes vel ad arbores vota facerent, sed potius ad ecclesias vel ad sacerdotes recurrerent, et pro infirmitatibus suis oleum benedictionis postularent. Et ipse quidem Dei famulus se expetentes infirmos oleo sanctificato ungebat, et in nomine Domini multos ex ipsis ad sanitatem perducebat, rogans ut ex hoc Deo gratias referrent.» – La visite et l’onction des malades font partie des obligations fréquemment rappelées aux prêtres, voir Das Sendhandbuch des Regino von Prüm (cit. 10), Inquisitio, c. 19, 26: «Si visitet infirmos, si eos reconciliet, si eos unguat oleo sancto iuxta apostolum, si eos propria manu communicet et non per quemlibet laicum» (repris du second capitulaire d’Hincmar de Reims: MGH, Capitula episcoporum (cit. 3), II, c. 30, 48). 45 Vita Rigomeri, c. 6 (cit. n. 42), 787. 46 Vita Rigomeri, c.  8 (cit.  n.  42), 787: «Tamen ipsa Deo devota nihil curavit de adversitate detrahentium, sed magis ac magis Dei famulum suprascriptum Rigomerum diligebat, qui ei verbum Domini praedicabat. Tunc ipsi maligni homines sponso ipsius puellae, Severo nomine, nuntiaverunt dicentes quod sponsa ipsius Tenestina quemdam clericum nimis singulari dilectione diligeret: unde et ipsam indigna opinione inimici homines diffamabant dicentes, quod plus illum clericum, quam sponsum suum omnino amaret.» 47 Mériaux (cit. n. 4). 48 Vita Rigomeri, c. 10 (cit. n. 42), 788: «Sed aliqui seniores verba blasphemiae, praesente rege,

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La Vie de saint Mervé donne à voir la vie exemplaire d’un prêtre local, mais d’une manière un peu différente. Son appartenance au groupe des Vies de saints du Mans se justifie non seulement par des emprunts à la seconde Vie de saint Calais, mais aussi par quelques arguments supplémentaires présentés récemment par Joseph-Claude Poulin.49 La Vie est loin d’être une pièce littéraire remarquable. Restée longtemps inédite, elle a retenu l’attention de Jean-Pierre ­Brunterc’h en 1983 en raison des renseignements topographiques précis qu’elle donne sur la frontière entre le Rennais et le Maine.50 Sa datation carolingienne est incontestable puisqu’elle se trouve copiée dans un fragment de légendier de la fin du IXe siècle ou du tout début du Xe siècle originaire de Fleury.51 Le terminus post quem de sa rédaction est fixé par les emprunts à la seconde Vie de saint Calais rédigée vers 860. La Vie présente Mérvé comme un ermite qui choisit de s’installer d’abord à Coriacus (dans le diocèse de Rennes, aujourd’hui Saint-M’Hervé), puis, en raison de l’affluence croissante des fidèles, à Crucicula (dans le diocèse du Mans, aujourd’hui La Croixille).52 Après sa mort, les Rennais et les Manceaux se disputèrent son corps qui fut emporté de nuit par les premiers et déposé au lieu de son premier ermitage. Bien que Mervé soit présenté sous les traits d’un solitaire, la Vie insiste aussi sur l’exercice du ministère sacerdotal. Elle donne même ce qui ressemble à une petite leçon d’économie paroissiale, en assurant que Mervé travaillait les peaux d’animaux et partageait ses revenus en trois parts: l’une pour le seigneur du lieu (senior terrenus) nommé Ghiso, l’autre pour les pauvres et la troisième pour sa propre subsistance.53 On retrouve d’une certaine manière la répar-

dixerunt: ‹O sacerdotes tales, qui aliorum seducant uxores!›»; sur les accusations portées à tort ou à raison contre les prêtres dans ce domaine, voir les exemples rémois analysés par Gerhard Schmitz, De presbiteris criminosis: Ein Memorandum Erzbischof Hinkmars von Reims über straffälliger Kleriker, MGH Studien und Texte 34 (Hanovre 2004), 7–14. 49 Joseph-Claude Poulin, L’hagiographie bretonne du haut Moyen Âge. Répertoire raisonné, Beihefte der Francia 69 (Ostfildern 2009), 260–263, spéc. 262. 50 Jean-Pierre Brunterc’h, «Géographie historique et hagiographie: la Vie de saint Mervé,» Mélanges de l’École française de Rome: Moyen Âge. Temps modernes 95–1 (1983), 7–63, avec édition du texte, 57–63 (BHL 5941). 51 Bibliotheca Apostolica Vaticana, Reg. Lat. 318, fol. 222r–226v; pour le contenu du manuscrit, voir Albert Poncelet, Catalogus codicum hagiographicorum latinorum Bibliothecae Vaticanae, Subsidia hagiographica 11 (Bruxelles 1910), 213–315; cf. Brunterc’h 1983 (cit. 50), 24–39; et Poulin 2009 (cit. 49), 260–261. 52 Saint-M’Hervé: dép. Ille-et-Vilaine, arr. Fougères-Vitré, cant. Vitré-Est; La Croixille: dép. Mayenne, arr. Laval, cant. Challiand. 53 Vita Merovei, c. 3 (cit. 50), 58: «Preterea, incipiens beatus Moreveus operari sedulo, cervorum ac beluarum ceterorum pelles conficere ac exornare studiose curabat. Et ad pulchritudinem eas

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tition de la dîme en trois (ou quatre) parts, telle qu’elle est prescrite par les capitulaires carolingiens: pour l’église (en fait le propriétaire qui l’entretient), pour les pauvres, pour le prêtre et, éventuellement, pour l’évêque dont l’absence ici est significative de l’installation de Mervé à la frontière des diocèses de Rennes et du Mans.54 On voit aussi le saint guérir un boiteux55, bénir les fidèles qui viennent à lui et apaiser leurs querelles.56 L’épisode qui occupe une bonne partie de la Vie présente la colère du seigneur qui s’en prend à Mervé et se trouve miraculeusement immobilisé sur son cheval puis libéré par le saint.57 Au IXe siècle, les relations que la Vie prête à Mervé et à Ghiso sont l’occasion de rappeler implicitement le respect mutuel (Mervé, de son côté, l’avait manifesté en versant sa part de revenus) qui, idéalement, devait régner entre les prêtres et les élites laïques, locales, souvent propriétaires des églises. *

perducens intuentium in tantum ut contemplantium placerent visibus, in tribus dividebat partibus pretium acceptionis eorum. Nam ex hac pretii adquisitione seniori terreno nomine Ghisoni acceptabilem deferebat honorem, ut eius animum semper haberet pacificum, nolens vir tantae bonitatis non solum caelestis sed nec terreni offendere senioris mentem. Alteram veo acceptionis pretii sui partem, pro redemptione animae suae pauperibus distribuebat. Assidua meditabatur cogitatione quia si misericorditer erga pauperes ageret, in die iudicii remuneraretur. De qua remuneratione dicturus est bonorum Remunerator operum: ‹Quod uni ex minimis meis fecistis, michi fecistis›. Tertiam autem pretii operationis suae partem ad sustentandum fragilitatis corpus retinebat.» 54 Jean-Pierre Devroey, «Dîme et économie des campagnes à l’époque carolingienne,» dans La dîme dans l’Europe médiévale et moderne, éd. Roland Viader, Flaran 30 (Toulouse 2010), 37–62; le principe de la division en quatre parts remonte au pape Gélase Ier. 55 Vita Merovei, c. 5 (cit. 50), 59. 56 Vita Merovei, c. 10 (cit. 50), 62: «Cumque et ibi cognitus fuisset gloriosus Dei confessor Meroveus, plurimi ad eum veniebant et ea quae ad salutem animae pertinebant cum benedictione sancta percipientes, aedificati remeabant ad propria. Si quisquam discordiae stimulis percussus fuisset et in eius veniret presentia, procul dubio caritate repletus redibat»; sur le rôle du prêtre dans la résolution des conflits locaux, voir le capitulaire de Ver (884), éd. MGH, Capitularia regum Francorum, éd. Alfred Boretius et Victor Krause, II-1 (Hanovre 1890), n° 287, 371–375, c. 14, 375: «Volumus, ut presbyri et ministri comitis villanis praecipiant, ne collectam faciant, quam vulgo geldam vocant, contra illos, qui aliquid rapuerint. Sed causam suam ad illum presbyterum referant, qui episcopi missus est, et ad illos, qui in illis locis ministri comitis super hoc existunt, ut omnia prudenter et rationabiliter corrigantur»; cf. Otto Gerhard Oexle, «Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit,» dans Das Handwerk in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, I, éd. Herbert Jankuhn, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Klasse, Dritte Folge 122 (Göttingen 1981), 284–354. 57 Vita Merovei, c. 6–8, (cit. 50), 60–61.

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La Vie de saint Mervé autorise une dernière remarque qui pourra servir de conclusion, en abordant le problème de la diffusion, de l’usage et du public de ce type de textes consacrés à des ermites et prêtres locaux. Elle est en effet aujourd’hui copiée dans un fragment de légendier de l’abbaye de Fleury. Or le même manuscrit contient deux textes similaires par bien des aspects, la Vie du prêtre Valentinus de Griselles, en Bourgogne, et celle du prêtre Beatus de Vendôme.58 Certes, il ne faut pas exagérer ce rapprochement car l’organisation du fragment obéit aussi à une logique géographique (on trouve ainsi aux fol. 235r–249v un dossier concernant les premiers évêques du Mans), mais la présence de ces trois modèles de sainteté pourrait trouver une explication si l’on suit une disposition exprimée par Théodulfe d’Orléans au début du IXe siècle. L’évêque prévoyait en effet que Fleury puisse accueillir les jeunes parents de prêtres séculiers pour qu’ils soient instruits.59 Comme l’on peut aussi penser que les moines n’étaient pas indifférents à la formation des desservants de leurs propres églises, il y aurait là l’indice que ces textes hagiographiques, plus sommaires sur le fond comme sur la forme, pouvaient viser un public autre que les moines de la communauté. Autrement dit, pour reprendre les termes d’Adon de Vienne cités au début de cet article, les prêtres locaux ont pu aussi être invités à devenir imitatores et aemulatores de saints incarnant le ministère sacerdotal que les capitula episcoporum étaient alors en train de définir à leur intention.

58 Bibliotheca Apostolica Vaticana, Reg. Lat. 318, fol. 49r–50v (Vita Valentini BHL 1066a) et fol. 134r–137r (Vita Beati BHL 8457); cf. supra n. 51. 59 MGH, Capitula episcoporum (cit. n.  3), I, c.  19, p. 115–116: «Si quis ex presbyteris voluerit nepotem suum aut aliquem consanguineum ad scolam mittere, in ecclesia sanctae Crucis aut in monasterio sancti Aniani aut sancti Benedicti aut sancti Lifardi aut in ceteris de his coenobiis, quae nobis ad regendum concessa sunt, ei licentiam id faciendi concedimus»; sur ce type d’écoles, voir en dernier lieu, à partir de l’exemple bien documenté de Fulda, Janneke Raaijmakers, The making of the monastic community of Fulda (c. 744–c. 900), Cambridge studies in medieval life and thought, 4th series 83 (Cambridge 2012), 293–294.

Carine van Rhijn

Carolingian Rural Priests as Local (Religious) Experts 1 Introduction The Carolingian Franks, who ruled over large parts of Europe between the eighth and the tenth century, had a special relation with their God. They considered themselves as a Chosen People, the New People of Israel, and just like the first People of Israel, they were led by the stern but just God of the Old Testament.1 Being a Chosen People had the advantage of having a very strong ally in heaven who would smite enemies and make the land prosper, and who would take care of His people in times of need. On the other hand, all this help and prosperity came at a price: in order to keep their special position, the People of God were expected to obey His laws and be faithful in everything. And here problems began, as Carolingian intellectuals realised, for what exactly was the will of God? The kings of the period relied to a large extent on the wise advice of their bishops and other learned men, who were invited to the court from all the corners of the kingdom.2 It were these people who combed the Bible and the writings of the Fathers of the Church for relevant knowledge, and who scrutinized the world around them for signs of the Divine Will. Failed harvests, disease and plundering heathens, to mention but a few examples, were in many cases sure signs of divine displeasure, which should be countermanded by fasting, penance and exemplary behaviour by all.3

1 See Mary Garrison, “The Franks as New Israel? Education for an identity from Pippin to Charlemagne,” in The uses of the past in the early middle ages, ed. Yitzhak Hen and Matthew Innes (Cambridge 2000), 114–161; Mayke de Jong, “Charlemagne’s church,” in Charlemagne, empire and society, ed. Joanna Story (Manchester 2005), 103–135. 2 See Donald A. Bullough, “Charlemagne’s ‘men of God’: Alcuin, Hildebald, Arn,” in Story 2005 (cf. n. 1), 136–150; Linda Dohmen, “Wanderers between two worlds: Irish and Anglo-Saxon scholars at the court of Charlemagne,” in Difference and identity in Francia and Medieval France, ed. Meredith Cohen and Justine Firnhaber-Baker (Farnham 2010), 77–79; Michael Edward Moore, A sacred kingdom: Bishops and the rise of Frankish kingship 300–850 (Lanham 2011), esp. ch. 7. 3 See, for instance, a letter written by Charlemagne to Bishop Gerbald of Liège, in which he orders Gerbald to organise a period of fasting in his diocese to avert a famine. Karoli ad Ghaerbaldum episcopum epistula (805), ed. A. Boretius, MGH Cap. I (Hanover 1883), no. 124, 244–246. On this case see Rob Meens, “Politics, mirrors of princes and the Bible: sins, kings and the well-being of the realm,” Early Medieval Europe 7 (1998), 345–357.

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This “by all” we should take literally here: it was firmly believed by those in power that the entire Frankish-Christian population should collaborate to ensure future divine favour, from the king and his family down to the humblest peasant. In a world where the majority of the population consisted of the uneducated inhabitants of small, rural settlements, this was an ideal not easily realised. It meant that all these people should be taught how to behave, what to believe and how to think in ways deemed both “correct” and “Christian” by the experts of the day. Only then would they know how to save their souls and enter the Heavenly Kingdom after death. In theory, the king was ultimately responsible for the souls of his entire people, but the episcopate shared in his ministerium in the sense that they were expected to care for the spiritual well-being of the inhabitants of their own dioceses. However, these dioceses were often too large for bishops to supervise what went on in every last village, and therefore they delegated the responsibilities of pastoral care and education of the local laity to their priests, who lived with their lay flocks and, at least ideally, looked after their beliefs, morals and behaviour.4 It is these local experts that will take centre stage in what follows, for in the larger scheme of things, their expertise was crucial to the well-being of the majority of Charlemagne’s subjects. The local priests of the Carolingian period probably lived rather isolated lives in their village communities. Because of their ministry they were not allowed to participate in the events that marked the lives of local laymen, such as feasts and hunting, or just having a drink in the local tavern, and they were “on duty” day and night in case an emergency baptism needed to be performed or somebody needed their last sacrament. Priests who did not live in the direct neighbourhood of the episcopal city saw their bishops on no more than a handful of occasions every year (for instance during local synods or the yearly episcopal visitation), so most of the time they were left to their own devices. For practical problems and advice pertaining to their day-to-day duties they were, then, dependent on other local clergy.5 All the same, quite a lot of knowledge and abilities was expected of them: their knowledge and pastoral abilities were deemed so important by

4 The term “parish” is avoided on purpose in this article, as the term refers to a state of affairs that post-dates the Carolingian period. See Christine Delaplace ed., Aux origines de la paroisse rurale en Gaule méridionale, IVe–IXe siècles (Paris 2005). An excellent recent case-study of local communities is Thomas Kohl, Lokale Gesellschaften: Formen der Gemeinschaft in Bayern vom 8. bis zum 10. Jahrhundert (Ostfildern 2010). About the duties of Carolingian local priests see Carine van Rhijn, Shepherds of the Lord: Priests and episcopal statutes in the Carolingian period (Turnhout 2006). 5 Charles Mériaux, “Ordre et hiérarchie au sein du clergé rural pendant le haut moyen âge,” in



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the king and his advisors that we find such requirements in texts composed at the highest political levels. This pre-occupation with the education of the local clergy, which was part of a wider political programme called the Carolingian reforms, connected court and countryside. As I will show below, decisions taken on this subject at the court and transmitted to the priests by their bishops, did at least reach the countryside to some extent – and probably its inhabitants too.6 In a famous text called the Admonitio Generalis, which was issued in the year 789 by Charlemagne, we can clearly see how this chain of command was envisaged.7 The king admonished his bishops to take care that their priests be well-educated and able to deal with all aspects of their ministry; the priests, in turn, should teach the laity what to believe and how to behave as good Christians. The text in its entirety can be read as one big blueprint for the reform, moral correction (correctio) and improvement (emendatio) of the realm, in which everybody had a part to play. Lay beliefs and behaviour were, understandably, important issues to the king and his advisory committee, and a substantial proportion of the text is devoted to explaining the details of what priests should teach them. In a section addressed to “the leaders and pastors of the Church”, for instance, we find a whole series of matters that were entrusted to our local experts, for instance baptism, teaching the Creed and the Lord’s Prayer, preaching and giving instruction about correct doctrine. What exactly this “correct doctrine” entailed is explained later on in the text, where we find a whole list of subjects such as the Holy Trinity, the virginity of Mary, the Resurrection, the Last Judgement and the Afterlife in the Eternal Kingdom of Heaven or, for those less fortunate, in the Eternal Fire. Of course, the average lay Frank should also know what he might do to avoid such a nasty fate, and therefore his local priest should teach him about sins and crimes, about penance and about good works.8 All these admonish-

Hierarchie et stratification sociale dans l’Occident médieval (400–1000), ed. François Bougard, Dominique Iogna-Prat and Régine Le Jan (Turnhout 2008), 117–136. 6 About the Carolingian reforms see – among a vast amount of literature on the subject – Philippe Depreux, “Ambitions et limites des réformes culturelles à l’époque carolingienne,” Revue Historique (2002), 721–753; Giles Brown, “Introduction: the Carolingian renaissance” in Carolingian culture: emulation and innovation, ed. Rosamond McKitterick (Cambridge 1994), 1–52; Matthew Innes, “Charlemagne’s government,” in Story 2005 (cf. n. 1), 71–89. 7 Hubert Mordek, Klaus Zechiel-Eckes and Michael Glatthaar ed., Die Admonitio Generalis Karls des Großen (Hanover 2012). Note that this new edition numbers the capitula differently than the old MGH edition. The importance and working of admonishment (as opposed to enforcing laws, which is an anachronistic notion for this period) is explained by Thomas Martin Buck, Admonitio und Praedicatio: Zur religiös-pastoralen Dimension von Kapitularien und kapitulariennahen Texten (507–814) (Freiburg 1997). 8 Admonitio Generalis, c. 80, 234–239.

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ments in the Admonitio Generalis were part of one master plan of moral improvement and education, which should ultimately lead to the creation of a kingdom of Christian Franks, who would serve their God in the right way and thereby keep His favour. It is important here to underline that “serving God” was something that did not only happen in church on Sun- and feastdays: good Christian behaviour was an umbrella that covered every single aspect of life, including things like travelling, building houses, dealing with sickness and even growing beans (see below). This means, in turn, that we should consider Carolingian local priests as more than religious experts in our modern sense: if the itinerary to the Eternal Kingdom of God involved many things that we would nowadays consider to be “secular”, priests needed to be able to educate and steer people in those matters too.

2 Educated priests? One of the problems that I find particularly interesting in this context is if and how all this knowledge about good Christian beliefs and behaviour in the wide sense of the word was meant to reach the priests and the lay population in the many rural communities of the Frankish world. In the Admonitio Generalis, as in many related texts, the task to educate the local laity was entrusted to the local priests, whose education, in turn, was the responsibility of the diocesan bishop.9 Rural priests were, in all these texts, considered to be the local religious experts from whom the laity should learn everything they needed to know. However, we have next to no information about their own education, about the lives they led locally, about their backgrounds. The main evidence for the lives of local priests and their communities are prescriptions issued by kings or bishops, and how and in how far these were implemented is a matter on which scholars hold different opinions.10 The prescriptions by themselves, in other words, give us very little indeed to decide whether or not we should think of local priests as religious 9 Steffen Patzold, „Bildung und Wissen einer lokalen Elite des Frühmittelalters: das Beispiel der Landpfarrer im Frankenreich des 9. Jahrhunderts,“ in La culture du haut moyen âge, une question d’élites?, ed. François Bougard, Régine Le Jan and Rosamond McKitterick, Haut Moyen Âge 7 (Turnhout 2009), 377–391. See also his Episcopus: Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts (Ostfildern 2008), esp. 118–134. 10 Chris Wickham, for instance, isn’t very optimistic about this, while Matthew Innes holds the view that such ideals might well have reached the localities. See Chris Wickham, The inheritance of Rome: A history of Europe from 400 to 1000 (London, 2009), 414–415; Matthew Innes, Introduction to early medieval Western Europe, 300–900 (London 2007), 456–457.



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experts in the first place. In a world where rules could never be imposed, but were dependent on the goodwill and collaboration of all involved, they should, after all, not be interpreted as our modern laws but rather as tools of communication and government. In this sense, the texts that outline the ideals of the Carolingian reforms express intentions rather than what actually happened, so we should be very careful to draw conclusions.11 All the same, we do have a rather large amount of rules and admonishments telling local priests what they should know how to do, ranging from performing a whole series of different masses and sacraments, to dealing with sinners of all kinds, to keeping the local church clean and pure, to being able to calculate the Easter date. Most important of all, perhaps, is that they should know enough to be able to teach, preach and give advice about a bewildering range of aspects of the daily lives of lay Christians.12 The crucial question that needs to be asked here is this: can we really expect that priests were up to these tasks? Or, in other words, do we have evidence that the ideals that were communicated as prescriptions actually reached their intended audience and had any effect at all? At first glance, scepticism seems to be in order. One type of prescription was obviously systematically ignored, which is the oft-repeated rule that priests should not be involved with secular business.13 Recent research that covers large parts of Carolingian Europe shows priests were active members of the local, land-owning elite, involved in activities very different from teaching and preaching. They wrote, signed and witnessed charters for 11 This point was convincingly made by Buck 1997 (cf. n. 7). The discussion about capitularies as ‘law’ is an old one, see for instance François-Louis Ganshof, Wat waren de capitularia?, Verhandelingen van de Koninklijke Vlaamse Akademie voor Wetenschappen, Letteren en Schone Kunsten van België, Klasse der Letteren, Verhandeling 22 (Brussels 1955); Carlo De Clercq, La législation religieuse franque de Clovis à Charlemagne: Étude sur les actes de conciles et les capitularies, les statuts diocésains et les règles monastiques (507–814), 2 vols. (Louvain 1936); Hubert Mordek, „Karolingische Kapitularien,“ in Überlieferung und Geltung normativer Texte des frühen und hohen Mittelalters: Vier Vorträge, gehalten auf dem 35. Deutschen Historikertag 1984 in Berlin, idem. ed., Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter 4 (Sigmaringen 1986). For a more recent interpretation that considers capitularies as tools for communication and government rather than law see Christina Pössel, “Authors and recipients of Carolingian capitularies, 779– 829,” in Texts and identities in the early middle ages, ed. Richard Corradini, Rob Meens, Christina Pössel and Philip Shaw (Vienna 2006), 253–274. 12 The most detailed and evocative among these prescriptions are the episcopal statutes, see for instance the first one by Theodulf of Orléans, ed. Peter Brommer, MGH Capitula episcoporum I (Hanover 1984), 103–142. 13 The term used is negotia saecularia, and such a prohibition can be found as early as the Council of Chalcedon (451), c. 3 and 4, repeated in the Admonitio Generalis c. 23 and many times before and after.

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themselves and others, bought, sold and exchanged land and real estate, sometimes together with members of their family, sometimes on behalf of their lay lord. Some of them did well for themselves and became rather wealthy, others became experienced in secular transactions as scribes or witnesses.14 All in all, the charter material shows a reality rather different from what we find in the prescriptions mentioned above: the hand that offered the bread and wine during Mass could clearly very well write official documents, in the same way that religious know-how and familiarity with land-transactions were not mutually exclusive. That involvement in secular business had been forbidden to priests for centuries by canon law was clearly conveniently forgotten, which reminds us that we should be aware of the fact that no one set of sources tells us the full story. Local priests, then, were neither just the pious shepherds from the Carolingian prescriptions nor were they only the experienced businessmen of the charters, but both, and even more than that. The little that we hear about local priests in non-prescriptive sources of the Carolingian period shows us individual cases that describe negative examples, highlighting the ideals behind them. For instance, one priest, famously mentioned in a letter by Pope Zachary to Boniface, did not know his Latin and baptised in the name of the Fatherland and the Daughter (patriae et filiae), a next one was suspected of living with a woman, a third one tried to kill somebody after a fight in a local tavern.15 All authors who wrote about these cases, mostly bishops, express strong disapproval, which means that at least they were well aware of the ideals of priesthood. Still, one may wonder if these priests were really the local religious experts of the Admonitio Generalis, who ought to be shining examples of virtuous living for the laity in order to make the Carolingian reforms a success. Were these people ignorant, or did they conveniently forget what they had been taught? Were such priests the exceptions that merited special attention as bad examples, or did they represent a majority? Although there is no way to answer such questions, we can say that without educated priests who stuck by what they had learned, the whole undertaking of correctio and emendatio on which Charlemagne cum suis embarked, would be doomed to fail.

14 A series of case-studies has recently been published in Steffen Patzold and Carine van Rhijn ed., Men in the middle: Local priests in early medieval Europe (Berlin 2016). 15 The famous letter mentioning this case was sent by Pope Zachary to Boniface in 746 and is no. 68 in the edition by Michael Tangl, Die Briefe des heiligen Bonifatius und Lullus, MGH Epp. sel. I (Berlin 1916), 141–142. There are various cases of priests suspected of co-habitation with a woman, for instance a priest called Hunold about whose case Hincmar of Rheims wrote a letter, see J.-P. Migne ed., PL 126, Epistola XXXIV, col. 253C–254C. The case of Trising, who tried to murder somebody, is also discussed by Hincmar, Ad Adrianum papam, PL 126, col. 646–648.



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The “Kampf um das Expertentum” was, in this sense, not so much a battle between competing religious opinions, as efforts to ensure that well-educated experts were available locally in the first place. Or, as Peter Brown has put it so well, the effort of reform boiled down to an empire-wide battle against ignorance.16 Whether Charlemagne and his advisors managed to organise this, is a matter for debate, and if we only look at charters and listen to these anecdotes, things do not sound very hopeful. But there is another side to this discussion, which brings us to manuscripts used by local priests.

3 Priests’ manuscripts The question whether or not we should believe that rural priests knew enough to fulfil all the responsibilities that the prescriptive texts contain has thus far been mostly conducted on the basis of the prescriptive texts themselves, the anecdotal evidence, and scholarly ideas about the (lack of) possibilities to implement prescriptions locally. Unsurprisingly, the conclusions drawn are often not very optimistic. However, the entire discussion leaves to the side an important collection of manuscripts that, to my mind, changes the outlook of the problem substantially. Over the past decades, a handful of articles has seen the light, each of which discussing one or two manuscripts that may well have belonged to local priests.17 In 2002 and again in 2012, numbers of priests’ manuscripts recognised as such went up quite dramatically when the late Susan Keefe published her work about baptismal tracts and Creed comments respectively and, as a sideline, identified some twenty handbooks for local priests and some thirty manuscripts probably intended for the education of the secular clergy.18 Rudolf Pokorny, in turn, added another twelve manuscripts to this collection, and new additions to the corpus surface on a regular basis.19 Presently, the total number of ninth-century manuscripts that were probably used by priests, or studied by them during

16 Peter Brown, The rise of western Christendom: Triumph and diversity, A. D. 200–1000, 2nd. ed., (Oxford 2003), 426. 17 For instance Raymond Étaix, “Un manuel de pastorale de l’époque carolingienne (Clm 27152),” Revue Bénédictine 91 (1981), 105–130; Yitzhak Hen, “Knowledge of canon law among rural priests: the evidence of two Carolingian manuscripts from around 800,” Journal of Theological Studies 50 (1999), 117–132. 18 Susan A. Keefe, Water and the word: Baptism and the education of the clergy in the Carolingian empire, 2 vols. (Notre Dame 2002), esp. vol. I, 160–163 and eadem, A catalogue of works pertaining to the explanation of the Creed in Carolingian manuscripts (Turnhout 2012), passim. 19 Rudolf Pokorny, MGH Capitula episcoporum IV (Hanover 2005), 9.

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their education, stands at about 75, but this number will no doubt go up. It is these manuscripts that concern us hereafter, for I think that they may help to understand how knowledge about God, religion and many other matters was dispensed to local lay communities via their priests. The manuscripts used and studied by priests, in other words, show what shape local “Expertentum” took in this period. Let me first, briefly, sketch what kinds of manuscripts we are dealing with here. All these books, often simple, undecorated, small manuscripts, contain up to two dozen different texts that are, in one way or the other, connected to aspects of the priestly ministry.20 We mostly find texts that should help priests in their daily tasks, for instance explanations of Mass, of baptism, of the Creed and the Lord’s Prayer, handbooks of penance, collections of canon law, sample sermons (often falsely ascribed to Fathers of the Church), questions and answers about a wide range of subjects related to the Church, episcopal instructions, prayers. Many if not most of these texts are anonymous, in many cases they are rather short and to the point in the sense that they, for instance, explain a prayer line by line or word by word, but without lengthy and sophisticated theological expositions. Some manuscripts, often schoolbooks, may also contain longer and more complicated texts, such as extracts from Amalarius of Metz’ Liber officialis, texts about computus, or lengthy explanations of Mass.21 Even though the Latin used in the manuscripts is in many cases not very much like that employed by the intellectuals of the time, the books do make a wide range of knowledge available. I think we can, therefore, conclude that the priest who knew the contents of such a book might rightly be called a local expert. This does not mean that the entire Frankish empire was filled with well-educated rural priests, but given the distribution of these manuscripts such people did exist throughout the realm, and they were trained to know their jobs and teach the laity, as well as fulfil a series of other functions. In what follows I would like to discuss three fields of expertise, relevant to local priests and their communities, which on the one hand shows how priests were central figures in their communities because of their expertise, but also that religious and other knowledge were not always easy to tell apart, which means that we should consider these priests as more than religious experts alone. The way in which knowledge about God was made available to local lay communities

20 See Keefe 2002 (cf. n. 18), II for the contents of many such manuscripts. 21 A good example is an anonymous explanation of Mass called the Dominus vobiscum, which survives in over a dozen of priests’ manuscripts. See J. M. Hanssens, Amalarii opera liturgica omnia I (Vatican City 1948), 284–338. The text is no longer ascribed to Amalarius.



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is the first, for here we can clearly see how the priest’s duty of “preaching and teaching” demanded his explanation of abstract and complicated concepts to an uneducated audience that might nevertheless ask difficult questions. Secondly, I will briefly go into the implications of the priests’ knowledge of computus, the reckoning of time, texts about which are a recurrent element in their manuscripts. Of course these texts and tables were needed to calculate the Easter date and all dates derived from it, but they could also be put to wider uses that might have been highly relevant for local communities. One very interesting collection of “prayers for everyday use” will, finally, show us how priests were expected to be experts about virtually every problem that might occur in a local agricultural community, and how they offered alternatives to non-Christian usages that were frowned upon as “superstitious” or outright “stupid” by the bishops of the day. Taken together, all this will hopefully show that early medieval religion did not just happen in church, and that priests therefore had to acquire expertise in many areas in order to live up to the expectations of their bishops and lay flocks both.

4 Knowledge about God In the handbooks for local priests, knowledge about God comes in many shapes and forms, and runs through many different texts. The emphasis, however, is on straightforward explanations and often practical knowledge rather than on lengthy theological expositions. Even though the subjects are often far from easy to grasp for the uninitiated layman (for instance the Holy Trinity, the Immaculate Conception or the dual nature of Christ), the authors of the texts do their best to explain them in simple language. A few examples from a northern French priest’s handbook (now Laon, Bibliothèque Municipale ms 288) dating from the second quarter of the ninth century bear this out. The manuscript is a small book of 91 folia, written by four different not very practiced hands (plus one later corrector) in rather creative Latin. The manuscript contains explanations of the Lord’s Prayer and the Creed, a Mass commentary, a set of questions and answers about religious subjects and a series of homilies. Woven throughout these texts is a lot of basic, to-the-point information about what good Christians should know and believe. A good example is a very brief, matter-of-fact explanation of the Holy Trinity that is part of a longer, line by line explanation of the Apostles’ Creed. It reads as follows:

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In the same way that we believe in the Father, we should also believe in the Son and in the Holy Spirit, who are three personae in one deity, and equal in glory, co-eternity and majesty.22

The next text in the manuscript, a commentary on the Athanasian Creed, warns against the mistaken beliefs by Arius and Sabellius, and emphasises in various ways how the three members of the Trinity are equal and one – so, for instance, we should not consider them as three Gods, nor should we think that one of these three might be less omnipotent than the other two.23 This is something we often find in the priests’ books: the same idea or principle is explained in different ways, which is a clear sign of the educational purpose of such a text. It also underlines how important correct knowledge of the Trinity was considered to be for all Christian Franks. We also find slightly more exotic material, for instance an explanation about the creation of Adam, who was, according this text, created by God out of eight different materials: loam, sea, sun, clouds, wind, stone, Holy Spirit and light of the world. In the text, all these components are identified as parts of Adam’s body: his heart was made of loam, his blood of the sea, his eyes of the sun – and so forth. After this explanation, the meaning of these materials is explained: the wind, for instance, of which Adam’s breath was made, stands for both his quick temper and his velocity.24 The reach of these books is, in other words, wider than just the very basics of Christianity and shows how even simple local priests would be acquainted with, for instance, some sense of the different layers of meaning in biblical texts. What we also encounter throughout the texts are answers to questions that a layman may have asked his priest. Such a layman would, for instance, have learned that God is Almighty and that He can do everything, but might have wondered if this could be really true. For if he can do everything, can he also fail? Can he die? Can he end? Can he fall ill? The answer to these questions is, of course, a resounding “no”:

22 Laon BM 288, f. 4v: “quomodo credimus in patre ita debemus credere in filium et spiritum sanctum que tres personas in una deitate aequalis gloria coeterna maistas (sic)”. This exposition has not been edited, but survives in several Carolingian priests’ manuscripts, see Keefe 2002 (cf. n. 18), II, 26 n. 2; the text is no. 353 in Keefe 2012 (cf. n. 18), 184. 23 The text is the earliest commentary on the Quicumque vult, known as the “Fortunatus-commentary”, see Keefe 2012 (cf. n. 18), no. 269, 155. Laon BM 288  ff. 6r–15r. 24 Another unedited text, explaining the creation of Adam and his sins. Laon BM 288, ff. 55r– 59r. That this text, titled somewhat misleadingly “Interrogatio sacerdotalis”, was considered to be important is evident from its many corrections.



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He cannot fail, for He is Truth; He cannot fall ill, for He is health; He cannot die, for He is immortal; He cannot end, for He is infinite and eternal.25

In this way, many texts in the manuscripts for priests seem to be connected to the practice of pastoral care, and prepared the priests for interaction with attentive lay people who might ask difficult but common-sense questions. In the examples just mentioned, we are still firmly with matters religious in our modern sense of the word; that this was only part of the priest’s expertise is born out by other texts in the same manuscripts, for instance those about computus.

5 The many uses of computus The term computus has two early medieval meanings: first of all, the ability to calculate time and dates and work with a calendar; secondly it describes the texts and tables needed to do so. We therefore find a computus in lists of books that every priest should have, but computus is also required knowledge for priests.26 Usually, both are taken to refer to the same thing: a priest needed to be able to calculate the correct Easter date, for which he needed texts and tables. After all, all moveable dates that mark the Christian calendar derive from Easter. At least as important to Carolingian priests was the fact that it was only allowed to baptise at Easter or Pentecost, which was one of their main duties. Being able to calculate the correct Easter date was therefore a fundamental skill, and doing so was something that required education and practice, for Easter falls on the first Sunday after the first full moon after the beginning of Spring. For its calculation one needed to use a table for the movements of the moon (a cycle of 19 years) and one for the sun (a cycle of 28 years)27, as well as a table that shows how they move in relation to each other, plus a method to find out when it would be Sunday at any

25 This is part of the Fortunatus-commentary cited above, f. 8v: “Falli non potest, quia veritas est, infirmare non potest, quia sanitas est, mori non potest, quia inmortalis uita est, finire non potest, quia infinitus et perennis est.” 26 This is a general requirement in the episcopal statutes, see for instance in the Capitula Moguntiacensia, where the ability to calculate time is meant, MGH Cap.ep. I, 180, c. 7. For the general definition see U. Ebel, „Computus,“ Lexikon des Mittelalters III, col. 107. 27 The astronomical beginning of spring depends on the cycle of the sun: spring starts when night and day are of the same length. On Carolingian computus see Arno Borst’s introduction to Der Karolingische Reichskalender und seine Überlieferung bis ins 12. Jahrhundert, MGH Libri mem. II (Hanover 2001) with extensive bibliography.

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given day in the future. And it went without saying that errors should be avoided at all cost, for the God of the Franks did not like imprecisions at all. Small wonder, then, that many manuscripts used for the education of future priests contain a computus in the sense of a set of texts related to the reckoning of time. However, no two of such collections of texts are the same. The relevant tables for the calculation of Easter are always there (including handy shortcuts, such as a brief text telling you what to do “if you are unable to calculate the age of the moon”28), but in addition related texts may be included that are especially interesting here, for some of them are not about the calculation of the Easter date at all. A rather famous “schoolbook” from Lorsch, Vatican library pal. lat 485, for instance, shows that computus could be used for more than calculating feast days. This manuscript contains everything needed to calculate the Easter date, but also a list of so-called “Egyptian days”, unlucky days of the month on which it was unwise to do bloodletting or take medicines. It is followed by a list of days of the moon (counting from the new moon), indicating how likely it was to get better when falling ill for every specific day (for instance: “On the seventh day of the moon he will struggle and survive. On the eighth day of the moon he shall not live long.”29) Yet another list tells the reader what best to eat and not to eat in each month of the year (“In August don’t eat cabbage but leeks, and don’t drink beer and mead”30.) A later addition to the quire lists the days of the moon when bloodletting is safe. Computus, then, was also considered to be closely related to matters of health and disease, and whoever could work with a moon-table and knew the right texts had access to this important knowledge.31 Another type of text found often in the context of computistic collections are calendars, which as far as I know always contain more than saints’ feasts and were often added to by different users in the course of time. The calendar in the manuscript just mentioned, for instance, also includes astronomical information

28 As in manuscript Bamberg, Staatsbibliothek lit 131, f. 58r: “de aetate lunae si quis computare non potest.” 29 BAV pal.lat.  485  f.  13r: “Lunae vii laborabit et resurget. Lunae viii non diu uiuit.” On this manuscript see Fred Paxton, “Bonus liber: a late Carolingian clerical manual from Lorsch (Bibliotheca Vaticana MS Pal.lat. 485),” in The two laws: Studies in medieval legal history dedicated to Stephan Kuttner, ed. Laurent Mayali and Stephanie A. J. Tibbetts, Studies in Medieval and Early Modern Canon Law vol. I (Washington 1990), 1–30. 30 BAV pal.lat. 485  f. 14r: “Mensis augusti nullo penitus caule manducet, agriamen manducet, ceruisam et mettum non bibet.” 31 On the connection between computus and matters of health see Margaret S. Schleissner ed., Manuscript sources of medieval medicine: A book of essays (New York / London 1995) and especially the article by Faith Wallis, who also discusses the Vatican manuscript: “Medicine in medieval calendar manuscripts,” 105–143.



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(“sun in Aquarius” or “beginning of summer”), important events from the bible (“the first day of the world”, or “the devil was defeated by the Lord”), local events (“bishop Hruodgang died” or “the holy Nazarius arrived in Lorsch”) and also contemporary “historical events” (“War between Charles and Louis”).32 In this sense, a calendar may be considered as a window on the wider world that gave its users a sense of different kinds of history or chronology (local, biblical, Christian, Frankish). Up to a certain extent, it also tied the many regions of the kingdom together. Although no two calendars in these manuscripts are the same, comparison between them shows that at least parts were shared: for instance, people could celebrate a whole range of saints’ days and religious feast days everywhere, which sits well with royal and episcopal decisions about feast days that should be celebrated everywhere in the realm. A priest who knew his computus and owned the right texts, then, was able to do more than calculate the main Christian feast days correctly. With the aid of the same tables he would use to establish the Easter date, he had access to knowledge about health and disease that would be highly useful to his flock. What is more, such knowledge, anchored as it was in patently Christian computus, provided alternatives to more traditional (or, in the opinion of Carolingian bishops, “superstitious”) forms of medicine that were often strongly disapproved of.33 This last point is born out even stronger in the final example, which also demonstrates how what we would call “religious” knowledge blends into other expertise without clear distinction.

6 Alternative practices As the examples concerning health and disease have shown, well-educated local priests were capable of offering approved Christian alternatives to local practices considered superstitious or otherwise misguided. It is important to emphasise that we should not interpret this as a “battle against pagan remnants” or something like it – bishops of the time consequently wrote about “stupid superstitions”

32 The calendar can be found on ff. 6r–11v. 33 One only needs to consult a handbook of penance, also part of every priest’s library, to find examples of unapproved forms of healing, see for instance the well-known Paenitentiale pseudoEgberti VIII,2, that imposes five years of penance to women who put their children on the roof or in the oven in order to cure their fever. Hermann Joseph Schmitz ed., Die Bussbücher und das kanonische Bussverfahren: Nach handschriftlichen Quellen dargestellt, vol. II, 663–674. This prescription and similar ones can be found in most handbooks of penance.

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held by people who knew no better, and do not use the term “pagan” in this context.34 These were areas where priests needed to educate their flocks and to teach them the difference between superstitio and religio, between bad behaviour and its good Christian alternative. One way of doing so was simply by giving local laymen the right example: one oft-repeated requirement for a good Carolingian priest was to teach by both word and example. That a local priest could be called upon in a wide range of circumstances, including those of spiritual and physical health, can be gleaned from an extensive collection of prayers (sometimes interspersed with other bits of liturgy), included in the same Vatican manuscript that contains the medical material. It claims to be “From the authentic sacramentary of the holy pope Gregory of the city of Rome”, after which 123 mostly very short prayers follow.35 Fred Paxton has shown how the collection is a mix between Gregorian texts, material from Frankish Gelasian sacramentaries and bits and pieces with yet a different provenance, as well as unprecedented prayers that might have been new creations.36 Many themes addressed in the prayers are conventional: prayers for the sick, prayers related to baptism and penance, prayers of exorcism for those possessed by a demon, prayers for the dying. Mixed in with these wellknown themes, however, we find much that would have taken the priest out of his church to other areas of the lives of his lay flock. There are prayers to influence the weather, for instance, when it rains too much or too little, or to avert lightning. Other prayers are related to life on the farm in other ways, such as a couple for sick livestock, or those that ask for a good harvest of grain, green beans or olives. We find blessings for newly dug wells, or houses just finished. There is one peculiar prayer to be said over “pots found in an old place” (oratio super vasa in loco antiquo reperti), and one to be said before having one’s hair cut. The collection is, in other words, a very mixed bag indeed, but all the same it is very well suited for a local priest teaching, and supporting his lay flock in every possible way. Clearly,

34 See, for instance, the tract by bishop Agobard of Laon against people who claimed they could send or avert thunderstorms and the different interpretations it has received in recent scholarship, as explained in Rob Meens, Penance in early medieval Europe, 600–1200 (Cambridge 2014), 1–2. A lot has changed in the way in which scholars regard early medieval paganism, and it is outside the scope of this article to enter into this discussion here. See James Palmer, “Defining paganism in the Carolingian world,” Early Medieval Europe 15 (2007), 402–425; Jonathan Couser, “Inventing paganism in eigth-century Bavaria,” Early Medieval Europe 18 (2010), 26–42. The discussion is well summarized in Meens 2014, “Introduction”. 35 See ms Vatican, pal.lat. 485  f. 49r–63v: “Ex authentico libro sacramentorum sancti Gregorii papae urbis Rome.” 36 Paxton 1990 (cf. n. 29), 15–18. As far as I know, this collection of prayers is unique, although other, comparable collections exist, for instance in ms Sélestat, Bibliothèque Humaniste 132, ff. 32–63v.



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praying for the sick was as relevant as blessing a house just finished, in the same way that one needed prayers for both exorcisms and blessings of the harvest. Moreover, all these activities, both inside and outside church, were equally part of a Christian life, and every single activity seems to have required an approved Christian way of going about them. A priest was needed as a local expert in all these matters. Interestingly, again the theme of physical health and disease appears in the collection of prayers, indicating once again that priests were concerned with more than their flock’s spiritual well-being alone. This is all the more interesting in the light of the doubts that bishops of the time voiced about traditional ways of healing, which they often considered to be superstitious or even diabolical. In conciliar decrees of the time, for instance, practices such as incantations were forbidden, but one may wonder how different a prayer chanted by a priest sounded to the ears of the bystanders.37 The same goes for the prayers about the weather, which provided alternatives for what a disgruntled bishop of the period called “stupid superstitions” of weather magicians.38 Taken as a whole, the prayer collection shows how a priest who owned it was well-equipped to participate in all the important events that marked the life of a local community, including threats to people, cattle or harvest. Any division between “religious” and “secular” is absent in the collection: for local priests and their flocks the outlook on life as a whole was Christian, no matter if one was in church or ploughing a field. Divisions between religious behaviour and its secular counterparts are likewise informed by anachronistic notions of religion as a separate sphere of life that can be isolated from other spheres  – to the priests of the Carolingian period, such divisions did not exist. There was no single aspect of life uninformed by Christian ideas, and perhaps one could say that early medieval Christianity should be regarded as a comprehensive way of life (including religious aspects) rather than a religion in the modern sense of the word. Here lies, to my mind, the connection to ideals of correctio: priests were not only trained and equipped for their tasks in and around the church, but should be able to be jacks-of-all-trades and in that sense central members of the local community. It was to the priest that laymen should go for advice about anything that worried them; it was to him that they should look for solutions to problems – especially those traditionally solved in ways that were no longer deemed acceptable and would certainly not please God.

37 A prohibition of this kind can be found in the Admonitio Generalis, cc. 18 and 64. 38 See note 34 above.

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7 Conclusion Witnessing the rather large corpus of Carolingian manuscripts for local priests, we can, I think, safely assume that there existed such a thing as “local Expertentum” about God, Christianity and the Church in this period, but such knowledge blended into other kinds of expertise that we nowadays would not immediately consider to be “religious”. Yet, to the early medieval priests, there was no clear distinction: whether he said Mass, heard confession, blessed salt to cure a sick cow or sang a prayer to avert thunder, it was all part of doing things “in the right way” so as to please the stern God of the Franks. Both by their preaching and teaching, and by their knowledge of good Christian ways of doing more or less everything in daily life, they were, within their communities, the people to whom laymen could go for advice on all aspects of their lives. At this stage of the middle ages, the battle for expertise was, I think, most of all about getting all this knowledge to the people as a whole, and about making sure that local experts were educated enough to fulfil their many tasks. It is through their manuscripts that we can discover what exactly local priests knew, and the wide range of material in these books shows how diverse local Christianities were in this period.

Daniela Blum

Konkurrierende Experten: Priester, Prediger und Mönche als Experten konfessionellen Wissens im Speyer des 16. Jahrhunderts 1 Bartolomeo Porcia in Speyer In den 1570er Jahren war der Apostolische Nuntius Bartolomeo Porcia heimlich im Deutschen Reich unterwegs. Er wollte sich ein Bild über den Zustand der Katholiken nördlich der Alpen machen. In seiner Korrespondenz findet sich ein Brief, den er am 4. April 1576 verfasst und an Kardinal Tolomeo Gallio, besser bekannt als Como, geschickt hatte. Darin schrieb Porcia über die Katholiken in Speyer: „Truovai, che nella città non vi sono 30 persone catholiche, se si leva il clero assai numeroso con le famiglie et l’altre parimenti degl’ assessor catholici, che sono 21 di numero, come tanti a punt sono gl’heretici.“1 Der Nuntius beschrieb die konfessionelle Situation Speyers durchaus realistisch. Der Speyerer Rat hatte nach einer längeren Zeit des Sympathisierens mit den reformatorischen Lehren 1540 einen lutherischen Prediger als städtischen Prädikanten angestellt. In der Folgezeit etablierte der Rat in verschiedenen Kirchen die lutherische Predigt und entwickelte für sich selbst das Selbstverständnis als lutherisches Kirchenregiment. Die Reformation in Speyer blieb jedoch unvollständig. Der Bischof, das Domkapitel und deren Personal – topografisch das Areal um den Kaiser- und Mariendom im Osten der Stadt – sowie die zahlreichen Klöster und die überwiegend katholischen Mitglieder des Reichskammergerichts bildeten gleichsam die altgläubigen Reste innerhalb der lutherischen Stadt. Auch die durch Kurpfalz protegierte calvinistische Gemeinde an der Kirche St. Ägidien verhinderte eine konfessionelle Homogenität.2

1 „Ich habe vorgefunden, dass in dieser Stadt [Speyer] keine dreißig katholischen Personen sind, wenn man von dem zahlreichen Klerus und den katholischen Familien und gleichfalls den anderen des Gerichts [Reichskammergericht] absieht, die 21 an der Zahl sind, auch wenn viele von ihnen Häretiker [Protestanten], sind“; Apostolischer Nuntius Bartolomeo Porcia an Kardinal Tolomeo Gallio, genannt Como, 4. April 1576, in Nuntiaturberichte III. Abt. 1572–1585, ed. Preußisches Historisches Institut in Rom und Preußische Archivverwaltung, Bd. 5, Die süddeutsche Nuntiatur des Grafen Bartholomäus von Portia (1575 / 1576), bearbeitet von Karl Schellhass (Berlin 1909), Nr. 95, 399. 2 Zum Zeitpunkt des Augsburger Religionsfrieden 1555 machten die Calvinisten und Katholiken jeweils 0,5 % der Gesamtbevölkerung aus. Der Anteil der Calvinisten verringerte sich zeit-

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Porcia beschrieb die katholische Minderheitenstruktur aber in einem signifikanten Missverhältnis: Den wenigen katholischen Laien stand ein überaus zahlreicher Klerus gegenüber.3 Neben dem Franziskaner- und dem Dominikanerorden in der männlichen und in der weiblichen Linie waren in Speyer im Spätmittelalter Augustinerchorherren, Karmeliten, Wilhelmiten, Heiliggrabbrüder, Deutschherren, mehrere Beginenkonvente und Klosterhöfe zusätzlich zu den zehn Pfarrkirchen und dem Dom beheimatet, der noch über die drei Nebenstifte St. Guido, St. German und das Allerheiligenstift verfügte.4 Der Großteil dieser katholischen Infrastruktur überlebte die Reformation. Religiöse Experten gab es auf den ersten Blick eigentlich genug. Nun ist der religiöse Zustand des katholischen Klerus anno 1576 ernüchternd. Das Konzil von Trient hatte zwar schon zwölf Jahre zuvor die letzten Reformdekrete verabschiedet, nur die Wirklichkeit der Praxis hatten diese Dokumente noch selten erreicht. Oft genug lebten in den Speyerer Pfarrund Ordenshäusern in den 1570er Jahren einige Kleriker oder Mönche, deren spirituelles und moralisches Gebaren den Lutheranern zum Spott oder zum Ärgernis gereichte. Vom Zustand der vermeintlichen Experten berichtet Nuntius Porcia auch Como, etwa wenn er über die Speyerer Dominikaner Folgendes schreibt:

weilig mit der Vertreibung des calvinistischen Predigers von St. Ägidien 1576 / 77, der katholische und der calvinistische Bevölkerungsanteil nahmen spätestens im 17. Jahrhundert deutlich zu. Als Einführung in die konfessionelle Situation Speyers vgl. Paul Warmbrunn, „Speyer,“ in Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit: Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum, ed. Wolfgang Adam und Siegrid Westphal, Bd. 3, Nürnberg / Würzburg (Berlin / Boston 2012), 1787–1831; Wolfgang Eger, „Speyer und die Reformation: Die konfessionelle Entwicklung in der Stadt im 16. Jahrhundert bis zum Dreißigjährigen Krieg,“ in Geschichte der Stadt Speyer, ed. Wolfgang Eger, Bd. 3 (Stuttgart 1989), 291–347. Zur katholischen Reform vgl. Hans Ammerich, „Das kirchliche Leben in der Reichsstadt Speyer im Zeichen der katholischen Reform,“ in Gegenwart in Vergangenheit: Beiträge zur Kultur und Geschichte der Neueren und Neuesten Zeit. Festschrift für Friedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag, ed. Georg Jenal (München 1993), 31–54; Hans Ammerich, Das Bistum Speyer und seine Geschichte, Bd. 3, Von der Reformationszeit bis zum Ende des alten Bistums (Kehl am Rhein 2000). 3 1592 ist bei einer Bevölkerungszahl von ungefähr 8.000 Personen von 30 bis 40 katholischen Laien auszugehen, gleichzeitig betrug der Anteil des katholischen Klerus an der Gesamtbevölkerung 17 %, der des zum größten Teil katholisch besetzten kaiserlichen Kammergerichts 8 %. Vgl. Willi Alter, „Von der Konradinischen Rachtung bis zum letzten Reichstag in Speyer (1420 / 22 bis 1570),“ in Geschichte der Stadt Speyer, ed. Wolfgang Eder, Bd. 1 (Stuttgart u.  a. 1982), 369–570, hier 550–558. 4 Für die mittelalterlichen Pfarr-, Stifts- und Klosterkirchen Speyers mit jeweils einem kurzen Einblick in deren Geschichte im 16. Jahrhundert vgl. Renate Engels, Palatia Sacra: Kirchen- und Pfründebeschreibung der Pfalz in vorreformatorischer Zeit, Teil I, Bistum Speyer, Bd. 1.2, Die Stadt Speyer: Pfarrkirchen, Klöster, Ritterorden, Kapellen, Klausen und Beginenhäuser, Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 61.1.2 (Mainz 2005).



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Il clero regolare m’è descritto per tale, che non può essere più difformato. V’è un monasterio di S. Dominico, in cui hor vi si truova un monacho hor due […]. Intend, che in tre monasterii (uno ch’è residenza del loro capo, l’altro in Spira et il terzo in Constanza) sono dieci d’habito religiosi, tutti simili a quel priore Spirense, che poco prima dell’arrivo mio in quella parte era stato carcerato dal senato et punito publicamente per stupor; nè a pena è uscit, che sono venute in luce molt’ alter ribalderie, per la quali il vescovo procurava d’haverlo nelle mani.5

Dieses lebhafte Dokument Porcias weiß um den dramatischen Zustand gerade der katholischen Experten in der Stadt um 1576. Allerdings ist die Rede von Experten hier unangemessen, insofern es sich bei dieser Form katholischen Klerus in zweierlei Hinsicht nicht um konfessionelle Experten handelte. Zum einen überlagerten sich bei vielen katholischen Geistlichen Wissensbestände, die wir heute in religiöses, politisches und rechtliches Wissen differenzieren. Zum anderen war der Wissensbestand an religiösem Wissen, das sich, wie eben entfaltet, immer mit anderen Wissensformen vermischte, bei diesen Personen unkonkret, schwer fassbar, irgendwie angeeignet, meist durch Praxis und nicht in der Theorie. Dabei soll dezidiert nicht behauptet werden, dass die katholische Geistlichkeit in Speyer in den 1570er Jahren über kein religiöses Wissen verfügte. Der Inhalt religiösen Wissens veränderte sich in den anlaufenden Reformmaßnahmen des Katholizismus, insofern er sich vereindeutigte. Aber, in einer These zugespitzt, erst die Systematisierung und Verbalisierung religiös-katholischen Wissens durch konfessionelle Experten und dessen performative Darstellung machte das vorher unkonkrete Wissen handhabbar, dadurch zugänglich und schließlich mit den Wissensgehalten anderer Konfessionen konkurrierbar. Diese These soll anhand von drei Beispielen entfaltet werden, die alle zeitlich ungefähr um 1570 angesiedelt sind.

5 „Der Regularklerus, so wurde mir durch Erzählungen berichtet, kann abweichender nicht sein. Es gibt ein Dominikanerkloster, in dem sich ein oder zwei Mönche befinden […]. Ich habe gehört, dass in den drei Klöstern (eines in ihrem Hauptort, das andere in Speyer und das dritte in Konstanz) zehn Religiosen wohnen, die alle jenem Speyerer Prior ähneln, der wenig vor meiner Ankunft in der Gegend durch den Rat eingekerkert und öffentlich bestraft wurde; kaum dass er gegangen ist, sind viele andere Schurken gekommen, die sich der Bischof eingeholt hat“; Apostolischer Nuntius Bartolomeo Porcia an Kardinal Tolomeo Gallio, genannt Como, 4. April 1576, in Nuntiaturberichte III. Abt. 1572–1585, Nr. 95, 400 (wie Anm. 1).

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2 Katholische Kleriker als konfessionelle Experten? 2.1 Der Bischof Marquardt von Hattstein6 wurde 1561 zum Fürstbischof von Speyer gewählt und nahm dieses Amt bis zu seinem Tod 1581 wahr. Er gehörte noch ganz jenem Typus katholischer Elitegeistlichkeit an, die sich zwar als Elite, weniger jedoch als Geistlichkeit verstand. Marquardt präsentierte sich als ungeheuer gewandter Politiker und später als bedeutender Jurist: Er gehörte zum Beraterkreis des Kaisers und wurde 1569 zum Mitglied des in Speyer residierenden Reichskammergerichts, als dessen Präsident Marquard hohes Ansehen genoss. Zu seinen besten Freunden zählte Pfalzgraf Friedrich III.7, der auf radikale Weise die Pfalz zum einzigen reformierten Flächenstaat im Reich formte und 1563 mit dem Heidelberger Katechismus ein zentrales Bekenntnisdokument der reformierten Bewegung initiierte. Auch Ludwig VI.8, der lutherisch gesinnte Sohn des Pfalzgrafen, und

6 Marquardt von Hattstein (*1529, 1560–1581) entstammte einer hessischen Adelsfamilie. Er wurde 1559 zum bischöflichen Koadjutor des kranken Bischofs von Speyer, Rudolf von Frankenstein, bestellt und ein Jahr später zum Bischof ernannt. Er gilt als gewandter Politiker, Jurist und Diplomat, der allerdings die geistlichen Angelegenheiten seines Bistums lasch behandelte und die katholische Reform weitgehend dem Domkapitel überließ. Schwere Krankheiten erschwerten gegen Ende seines Lebens hin zusätzlich seine Regierung. Zur Person vgl. Hans Ammerich, „Hattstein, Marquard von,“ in Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1448 bis 1648: Ein biographisches Lexikon, ed. Erwin Gatz (Berlin 1996), 258–260; Franz Xaver Remling, Hg., Neuere Geschichte der Bischöfe zu Speyer: Sammt Urkundenbuche (Speyer 1867), 47. 7 Friedrich III. (*1515, 1559–1576) wurde als Nachfolger des kinderlosen Kurfürsten Ottheinrich Pfalzgraf von Simmern-Sponheim und Kurfürst von der Pfalz. Friedrich III. neigte sich in seinen Amtsjahren schrittweise dem reformierten Bekenntnis zu und initiierte 1563 den Heidelberger Katechismus. Während seiner Regentschaft wurden die Anhänger der lutherischen Lehre aus der Pfalz vertrieben und der Calvinismus in großer Bestimmtheit durchgesetzt. Für eine ausführliche Biografie Friedrichs III. vgl. Volker Press, Calvinismus und Territorialstaat: Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559–1619, Kieler Historische Studien 7 (Stuttgart 1970), 221–266. 8 Ludwig VI. (*1539, 1576–1583) vollzog die Wende seiner Familie zum reformierten Bekenntnis nicht mit und blieb dem lutherischen Bekenntnis treu. Als Statthalter der Oberpfalz führte er scharfe konfessionelle Konflikte mit dem Vater aus. 1576 übernahm er die Regentschaft über die Kurpfalz. In diesem Amt suchte er weniger den Konflikt als den konfessionellen Ausgleich mit den calvinistischen Kräften in der Pfalz und mit seinem Bruder Johann Casimir, ging aber gegen alle reformierten Theologen in der Pfalz vor. Zu Person und Amtszeit vgl. Press 1970 (wie Anm. 7), 267–298.



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sein reformierter Bruder Johann Casimir9 gehörten zu Bischof Marquards Korrespondenzpartnern. Der Kirchenhistoriker Ludwig Stamer machte auf das konfessionsspezifische Paradox der Pfalz in den 1560er und 1570er Jahren aufmerksam, insofern daß ein weltlicher Fürst, der Kurfürst von der Pfalz, für den weltlichen Bereich seines Pflichtenkreises nur wenig übrig hat, vielmehr diesen Bereich ganz seinem geistlichen Ziel, der Ausbreitung des Kalvinismus unterordnet und ganz den geistlichen Aufgaben sich widmete  […], sodaß die Nachbarn den „Papst“ in Heidelberg verspotteten, daß man von einer „pfälzischen Heiligkeit“ sprach und ihm schließlich in der Geschichte den Beinamen „der Fromme“ erteilte, während der Bischof von Speier, der seinem Beruf entsprechend die weltlichen Sorgen den geistlichen hintansetzen und in erster Linie den geistlichen Nöten seine Aufmerksamkeit widmen sollte, für diese so wenig übrig hat, daß der päpstliche Nuntius Gropper i. J. 1573 von der Diözese Speier nach Rom berichtete, daß die geistlichen Dinge im ganzen Bistum mit Gleichgültigkeit behandelt würden.10

In Speyer trat der Bischof in Paarung mit dem pfälzischen Kurfürsten in der Frage der calvinistischen Kirche auf. Die Kirche St. Ägidien11 unterstand Kurpfalz und wurde 1572 von Friedrich III. mit einem calvinistischen Pfarrer besetzt, Georg Infantius.12 Nach dem Tod Friedrichs III. übernahm sein Sohn Ludwig VI. die Kurwürde und die Herrschaft über die Pfalz. Er hatte die Wendung seiner Familie zur reformierten Konfession nicht mit vollzogen und versuchte nach seinem Amts­antritt, dieses Bekenntnis in der Pfalz zurückzudrängen. Im Zuge der Re­installierung lutherischer Prediger und Schulmeister wurde Georg Infantius als Pfarrer von St. Ägidien in Speyer abgesetzt. Der Rat beschuldigte Infantius,

9 Johann Casimir (1543–1592) wurde als Anhänger der reformierten Konfession früh von seinem Vater Friedrich III. bevorzugt und in die Regierungsgeschäfte einbezogen, während sein älterer Bruder Ludwig VI. Statthalter in der Oberpfalz war. Als er 1576 nach dem Tod des Vaters Landesherr von Pfalz-Lautern wurde, entwickelte sich sein Territorium zum Exil für die von seinem Bruder entlassenen lutherischen Theologen, Pfarrer und Schulmeister. Nach dem Tod seines Bruders 1583 sicherte er sich die Vormundschaft über seinen neunjährigen Neffen und wurde Kuradministrator der Pfalz. Vgl. Press 1970 (wie Anm. 7), 267–368. 10 Ludwig Stamer, Kirchengeschichte der Pfalz, Bd. 3 / 1, Das Zeitalter der Reform (1556–1685) (Speyer 1955), 18. 11 Zu der Geschichte der Kirche und ihrer Gemeinde bis ins 16. Jahrhundert vgl. Engels 2005 (wie Anm. 4), 26–36. 12 Infantius, geboren in Merxheim, immatrikulierte sich 1555 in Wittenberg. 1565–72 Pfarrer in Kettenheim, 1572–77 Pfarrer in Speyer, 1577 bei Einführung des lutherischen Bekenntnisses abgesetzt und aus Speyer vertrieben. Vgl. Georg Biundo, Hg., Pfälzisches Pfarrer- und Schulmeisterbuch, Palatia Sacra 1 (Kaiserslautern 1930), 598. Zur Begeisterung der Speyerer über Infantius vgl. Instructio des Rates der Stadt Speyer an Stadtschreiber Joseph Feuchter, 16. Januar 1577; StA Speyer 1 A, Bü 450 / 10, fol. 9r.

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einen Aufruhr in der Stadt zu planen und vertrieb ihn deshalb aus der Stadt.13 Wie die Korrespondenz zeigt, wusste der Rat aber, dass St. Ägidien nicht der Unruheherd war.14 Aber der Rat nutzte den Zeitpunkt, an dem Infantius als calvinistischer Prediger nicht mehr unter dem Schutz von Kurpfalz stand und der nun lutherisch gesinnte Kurfürst ihn nicht mehr deckte, um den calvinistischen Prediger loszuwerden. Die Rolle des Bischofs in dieser Szene ist aufschlussreich. Seine Rolle war keine religiöse, sondern eine Informanten- und Diplomatenrolle zwischen Stadt, Kurfürst und Kaiser. Der Bischof stand in engem, vertrautem Kontakt zu Kurfürst Ludwig wie zu dessen reformierten Bruder und auch zum Kaiser. Alle drei informierte er wechselseitig über das Geschehen bei St. Ägidius, das Handeln des Rates und seine Vermutungen über die Motive des Rates.15 In geistlichen Dingen, gar in der Reform des katholischen Lebens, zeigte der Bischof keinerlei Ambitionen. Die katholische Reform des Bistums übernahm weitgehend das Domkapitel unter Führung des überaus ambitionierten Dom­ dechanten Andreas von Oberstein.16 Dieser hatte die Gründung eines Jesuiten­ kollegs mit angeschlossener Schule vorangetrieben. Marquardt von Hattstein jedoch sträubte sich 1573 gegen den vom Domkapitel geplanten Aufbau eines Jesuitenkollegiums. Er wünschte gar, dass „der teufel die Jesubiter alle hinfure.“17 Obwohl Marquardt von Hattstein die geistliche Reform seines Bistums nicht selbst betrieb und seine Politik durchaus konfessionsübergreifend verstand, sicherte die Freundschaft des Bischofs zum Pfälzer Kurfürsten im Ergebnis überhaupt den Fortbestand des Hochstifts und damit der Diözese.18 Gleichzeitig wurde diese Freundschaft wiederum zur Bedrohung: Kurfürst Friedrich III. plante, mithilfe des Bischofs eine Pfälzer Sekundogenitur in Speyer zu errichten.

13 Vgl. Instructio des Rates der Stadt Speyer an Stadtschreiber Joseph Feuchter, 16. Januar 1577; StA Speyer 1 A, Bü 450 / 10, fol. 11r. 14 Vgl. Schrei­ben des Rats der Stadt Speyer an Kaiser Rudolf II., 19. Februar 1577; StA Speyer 1 A, Bü 450 / 10, fol. 109r. Die Unruhen in der Stadt löste wohl die Unzufriedenheit einiger Bürger mit der Regierungsführung des Rates aus. Vgl. die Leugnung dieses Zusammenhangs im Schrei­ben des Rats der Stadt Speyer an Kurfürst Ludwig, 21. Februar 1577; StA Speyer 1 A, Bü 450 / 10, fol. 111. 15 Vgl. die zahlreichen Schrei­ben von und an Bischof Marquardt von Hattein in StA Speyer 1 A, Bü 450 / 10. 16 Andreas von Oberstein, seit 1556 Kanoniker in Speyer, amtierte bald als Scholaster und leitete von 1568 bis 1603 als Dechant das Speyerer Domkapitel. Er verfügte über internationale Beziehungen und war u.  a. in Rom gewesen. Vgl. zur Person Marc R. Forster, The Counter-Reformation in the Villages. Religion and Reform in the Bishopric of Speyer, 1560–1720 (Ithaca / London 1992), 60. 17 Bericht über die Jesuiter, November 1573; StA Speyer 1 A Bü. 408 / 1, fol. 2r. 18 Vgl. Stamer 1955 (wie Anm. 10), 23.



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Der Bischof wagte jedoch nicht, die von Kurpfalz angestrebte, evangelische Koadjutorwahl durchzusetzen.19 Die Person Marquards und seine religiöse Haltung ist in diesem Kontext und in dieser Zeit keineswegs ungewöhnlich. Entscheidend ist, dass im Geflecht seiner vielfältigen Beziehungen zu Kaiser- und Fürstenhof wie in der Regierung des Hochstifts religiös-konfessionelles Wissen nicht handlungsleitend war.

2.2 Die protestantischen Prädikanten Als entscheidender Schritt der freien Reichsstadt Speyer in die Reformation wird gemeinhin die Besoldung und Festanstellung des Augustinerpriors Johann Michael Diller20 als Prediger an der Augustinerkirche 1540 angesehen. Schon seit 1532 predigte der Karmeliterprior Anton Eberhard21 an St. Ägidien nach lutherischer Lehre. Diller änderte die Predigtzeiten, verteilte den Gläubigen die Kommunion unter beiderlei Gestalt und wehrte sich vehement gegen den Opfercharakter der Messe.22 Für den ehemaligen Augustinerprior war die Änderung der Abendmahlspraxis als performativer Akt der Gemeinde der entscheidende Schritt hin zur Reformation. Umgekehrt deutete gerade die Abendmahlspraxis auf das Bekenntnis einer Gemeinde. Was ist das Abendmahl anderes als der Versuch, den transzendenten Gott in Brot und Wein handhabbar zu machen? Diller kam es offensichtlich darauf an, die von Christus zugesprochene Gnade im Sakrament sichtbar und schmeckbar zu machen. In Berufung auf die überlieferte Lehre der Kirche und der Kirchenväter hielt er fest, dass der Mensch Gnade nur durch Christus

19 Zu den Pfälzer Plänen vgl. Eike Wolgast, Hochstift und Reformation: Studien zur Geschichte der Reichskirche zwischen 1517 und 1648, Beiträge zur Geschichte der Reichskirche in der Neuzeit 16 (Stuttgart 1995), 303–306. 20 Johann Michael Diller, 1529 Prior des Augustinerklosters, 1538–1540 Pfarrer an St. Augustin in Speyer, 1540 städtischer Prediger in Speyer, 1541 / 44 / 48 zeitweise entfernt. Daraufhin in Basel nachweisbar, 1552–56 Superintendent und Hofprediger in Neuburg, 1556–70 Hofprediger und Kirchenrat in Heidelberg. Vgl. Georg Biundo, Hg., Pfälzisches Pfarrer- und Schulmeisterbuch, Palatia Sacra 1 (Kaiserslautern 1930), 593. 21 Anton Eberhard, Prior des Speyerer Karmeliterordens von 1518 bis 1551. Er suchte für sich offenbar einen Mittelweg zwischen den Konfessionen, indem er einerseits bis zu seinem Tod Prior blieb und auch von der Ordensleitung nicht abgesetzt wurde, andererseits bereits seit 1529 der Reformation zustrebte und zwischen 1538 und 1543 in der Pfarrkirche St. Ägidien nach der lutherischen Lehre predigte. Vgl. Engels 2005 (wie Anm. 4), 344–347. 22 Vgl. die Berichte über Diller in StA Speyer 1 A, Bü 450 / 6.

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erlangen könne. Notwendig für das Heil des Menschen sei allein der Glaube.23 Diese ersten beiden lutherischen Prädikanten Speyers haben offensichtlich die Herzstücke lutherisch-religiösen Wissens verstanden. Es zeichnete die nicht-katholischen Prediger der Stadt in der unmittelbaren Nach-Reformationszeit aus, dass sie gewisse Vorstellungen davon hatten, welche religiösen Gehalte innerhalb ihrer eigenen Konfession unumgänglich waren. Dieser Befund zeigt sich auch an einem Konflikt zwischen dem lutherischen Prädikanten Bernhardus Bernhardt24 und dem Calvinisten Georg Infantius, dem vorhin bereits erwähnten Pfarrer von St. Ägidien. Konfliktanlass war wiederum das Abendmahl. Während eines Gottesdienstes reichte Infantius einem Mann die Kommunion mit der Aufforderung, „er solts besehen, ob Er fleisch oder bein darin finden wu[e]rd“. Nachdem der Mann die Hostie gegessen hatte, fragte Infantius ihn, „was meinstu das du jtzt gessen habest, wan du den wahren leib Christi gessen, was wu[e]rd dan der andere, so neben dir gestanden, essen“.25 Dieser Seitenhieb sollte den lutherischen Pfarrer Bernhardt treffen, den Infantius beschuldigte zu lehren, „das der leib Christi in mit oder vnder dem brott sein solt“.26 Infantius selbst war der Überzeugung, dass sich Brot und Wein keinesfalls im Abendmahl in Leib und Blut Christi verwandelten, Bernhardt hingegen folgte der lutherischen Linie und gab die Transsubstantiationslehre nicht auf. Der Rat berichtete zu diesem Zeitpunkt auch an den Kaiser, dass es Schlägereien in der Stadt gab, weil die Calvinisten „gotslesterliche ergerliche reden von des herrn Nachtmal leichtfertiglich verlauten lassen“27 hatten und deswegen von den Lutheranern verprügelt worden seien. Diese Konflikte bestätigen die These, dass der Versuch, Gott handhabbar zu machen, ein besonderes Konfliktpotential in sich barg. Gerade weil das reformierte Bekenntnis die Handhabbarkeit Gottes gänzlich verweigerte, trat Infantius in den provokativen Konflikt zu den Luthera-

23 Vgl. Franz Xaver Remling, Hg., Urkundenbuch zur Geschichte der Bischöfe zu Speyer, Bd. 2, Jüngere Urkunden (Aalen 1970), 536. 24 Bernhardt war ab 1573 Pfarrer in Siegen, 1573–84 Pfarrer an der Predigerkirche in Speyer, in den Folgejahren Pfarrer und Superintendent in Wiesloch. Vgl. Georg Biundo 1930 (wie Anm. 20), 595. 25 Alle Zitate aus: Bericht über den Zank zwischen den städtischen Prädikanten und dem Pfarrer von St. Gilgen, Absender und Adressat unbekannt, undatiert; StA Speyer 1 A, Bü 450 / 9, fol. 30v–31r; ähnlich fol. 28r. Die Polemik des Infantius richtete sich gegen Lutheraner wie Katholiken, vor allem aber auch gegen die Ubiquitätslehre, die im benachbarten Württemberg Bekenntnis geworden war. 26 Bericht über den Zank zwischen den städtischen Prädikanten und dem Pfarrer von St. Gilgen, Absender und Adressat unbekannt, undatiert; StA Speyer 1 A, Bü 450 / 9, fol. 34v. 27 Vgl. Schrei­ben des Rats der Stadt Speyer an Kaiser Rudolf II., 19. Februar 1577; StA Speyer 1 A, Bü 450 / 10, fol. 107r.



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nern. Damit bestätigt diese Szene die These dieser Tagung, dass die konfessionell spezifische Handhabbarkeit Gottes im Abendmahl – oder gerade deren Verweigerung  – als praktikable Weitergabe religiösen Wissens für die jeweiligen konfessionellen Gruppen ein hohes Identifikationsideal entfaltet hat. Nur deshalb funktionierte die Provokation des Infantius überhaupt als solche. Jedenfalls zeigen diese Beispiele aus den 1570er Jahren, dass die protestantischen Experten religiösen Wissens ihrer Rolle in der Vermittlung von religiösen Gehalten in Predigt und Abendmahl gerecht wurden und diese Wissensgehalte in Szene zu setzen wussten. Das Abendmahl wurde, auch das eine These dieser Tagung, zum performativen Verhandlungsort dynamischer Aushandlungsprozesse religiösen Wissens. Sobald sich religiöse Experten ausgebildet hatten, generierten sich öffentliche Auseinandersetzungen im Abendmahl und damit an der Stelle, an der religiöses Wissen praktisch und Transzendenz verfügbar wurde  – oder gerade nicht, wie die Calvinisten insistierten.

2.3 Die katholische Ordensgeistlichkeit Im selben Jahr, in dem der calvinistische Prediger Infantius und sein lutherischer Kollege Bernhardt sich über die Abendmahlspraxis stritten, berichtete der Apostolische Nuntius von den Dominikanern nach Rom, dass der Zustand des Konvents deformierter nicht sein könne. Von ihrem geistlichen und moralischen Zustand berichtet der eingangs zitierte Brief Porcias: Sie hielten das Stundengebet nach Gutdünken oder gar nicht, lebten in Konkubinaten und konnten eigene Glaubensinhalte nicht zur Sprache bringen. Auch dieser Zustand ist keineswegs ungewöhnlich, und doch ist auffällig, dass sich die Protestanten wegen Glaubenswissen prügeln konnten, die katholischen Experten in gänzlich unkonkreter Weise über ihre religiösen Inhalte verfügten. An einem Streit zwischen den Dominikanern und den Ratsherren zeigt sich auch bei der Ordensgeistlichkeit die angesprochene Vermengung von heute getrennten Wissensfeldern deutlich. In der Nacht vom 11. auf den 12. Juni 1569 öffneten vom Rat angestellte Handwerker die Türen zum Schiff der Dominikanerkirche.28 Einige Bürger bewachten das Gebäude die Nacht hindurch und stellten Stühle in das Schiff; am nächsten Morgen, einem Sonntag, predigte ein vom Rat neu angestellter, lutherischer

28 Zum Dominikanerkloster, insbesondere zur besonderen Nähe des Speyerer Bürgertums zum Kloster vgl. Engels 2005 (wie Anm. 4), 291–314.

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Prädikant im Langhaus der Dominikanerkirche. Schließlich entschied der Kaiser in einem Mandat vom 8. September 1570 zugunsten eines Kompromisses: Einerseits sei die gewaltsame Öffnung der Dominikanerkirche durch den Rat illegitim gewesen, andererseits führe die Enge in den beiden lutherischen Kirchen zu der Notwendigkeit einer weiteren lutherischen Predigtstätte – die Dominikanermönche mussten auf den Chorraum zurückweichen.29 Im Vorfeld dieser kaiserlichen Entscheidung hatte der Rat versucht, sein Vorgehen gegenüber dem Kaiser zu begründen. Darin zitierte der Rat immer wieder den Augsburger Religionsfrieden von 1555, der den Lutheranern die Praktizierung ihrer Religion garantierte. Auf den Vorwurf Maximilians II., mit der Öffnung der Kirche den Landfrieden gebrochen zu haben, antwortete der Rat mit den Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens, wonach „der Augspurgischen Confession verwandte Stendt wider Ire Conscientz gewissen vnnd wilh von der selben Augspurgischen Confession, Religion, glauben, kirchen gebreuchen, ordnung vnnd Ceremonien, die sie vffgericht oder nochmals uffrichten mochten, in keinerlei weiß oder wegk beschwert werden sollen“.30 Mit dem Verweis auf Paragraf 15 des Augsburger Religions­ bescheids, den das Schrei­ben an dieser Stelle wörtlich zitiert31, legitimierte der Rat sein Vorgehen in der Dominikanerkirche als dem Reichsrecht entsprechendes Handeln zur Praktizierung der eigenen Konfession. Jüngst hat Axel Gotthard wieder für den Augsburger Religionsbescheid betont, dass die „Ausdifferenzierung von Recht und Glauben, Jus und Theologie […] noch kaum begonnen hatte, man könnte auch sagen: das Recht war noch

29 Vgl. Abschied Kaiser Maximilian II. an den Rat der Reichsstadt Speyer sowie den Generalvikar des Dominikanerordens, 8. November 1570; StA Speyer 1 A, Bü. 402 / 7, fol. 69  f. 30 Schrei­ben des Rates an Kaiser Maximilian II., undatiert; StA Speyer 1 A, Bü. 402 / 7, fol. 24v. 31 „Und damit solcher frid auch der spaltigen religion halben, wie auß hievor vermeldten und angezogen ursachen die hoche nodturft des Hl. Reichs teutscher nation erfordert, desto be­sten­ di­ger zwischen der röm. ksl. Mt., uns, auch Kff., Ff. und stenden des Hl. Reichs teutscher nation angestellt, aufgericht und erhalten werden möge, so sollen di ksl. Mt., wir, auch Kff., Ff., und stende des Hl. Reichs khainen standt des Reiches von wegen der augspurgischen confession und derselbigen leer, religion und glaubens halben mit der thadt gewaltigerweiß uberziechen, beschedigen, vergwältigen oder in andere wege wider sein conscienz, gewissen und willen von dieser augspurgischen confession religion, glauben, kirchengebreuchen, ordnungen und cerimonien, so sy aufgericht oder nachmals aufrichten möchten, in iren furstenthumben, landen und herrschaften tringen oder durch mandat oder in ainicher anderer gestalt beschwern oder verachten, sonder bei solcher religion, glauben, kirchengebreuchen, ordnungen und ceremonien, auch iren hab, guettern, ligend und varend, landt, leuten, herrschaften, oberkhaiten, herlichaiten und gerechtigkaiten ruigclich und fridlich beleiben lassen“; ARF § 15, in Rosemarie Aulinger, Erwin E. Eltz und Ursula Machoczek, Hg., Der Reichstag zu Augsburg, Deutsche Reichstagsakten, JR 20 / 4 (München 2009), Nr. 390, 3102–3158, hier 3108  f.



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nicht säkularisiert“.32 In den Augsburger Verhandlungen ging es den Gesandten beider Seiten nicht nur um Paragraphen, sie verhandelten um exklusive Wahrheiten und das Seelenheil möglichst Vieler. Die Verschränkung politischer und religiöser Sphären bildet genau jene Folie, auf der auch die Auseinandersetzungen um die Dominikanerkirche gelesen werden müssen. Es ist mehr als eine Floskel, wenn der Rat betonte, dass er einer weiteren Kirche bedürfe, um das Seelenheil der lutherischen Gläubigen zu sichern.33 Und mit der Verfügung über einen Teil ihrer Kirche überließen die Dominikaner in ihrer Wahrnehmung Ketzern das Wort, die ihre Zuhörer gerade nicht zum Heil führen würden. In Augsburg wie in Speyer kämpften die konfessionellen Gruppen um Glaubenswahrheiten. Umgekehrt gilt: Gerade weil der Augsburger Religionsfrieden nicht in Glaubensartikeln, sondern in Paragraphen geschrieben worden war, verfochten die unterschiedlichen Parteien ihre Wahrheit im Medium der Auslegung. Es bedurfte auch der Interpretation der Rechtssätze; schließlich hatte das Reich seine rechtlichen Lösungen in „unklare, auslegungsoffene Vernebelungsformel[n]“34 gegossen, die sich in manchen Passagen von vornherein auslegungsbedürftig präsentierten. So kämpften die Speyerer Ratsherren im Konflikt um die Dominikanerkirche nicht nur um ein paar Quadratmeter Fläche zur Ausübung der eigenen Konfession, sondern um Glaubensüberzeugungen, um exklusiv verstandene Wahrheiten und um die richtige Auslegung des Augsburger Religionsfrieden. Nur hatte der Bescheid ihre Fragen gerade nicht geregelt. Die Dominikaner glaubten auch nicht, dass er auf ihren Konfliktfall überhaupt zutraf. Im Kampf um das Langhaus der Dominikanerkirche wird deutlich, wie auf der Handlungsebene des Augsburger Reichstags wie auch auf der Handlungsebene der Stadt religiöse, rechtliche und politische Handlungsfelder in einer Weise vermengt waren, dass sie in der Analyse nicht mehr voneinander getrennt werden konnten. Obwohl es eine katholische Infrastruktur gab, fast zwei Dutzend Klöster, Kirchen und Stifte, lag das religiöse Leben darnieder. Erst mit der Ankunft der katholischen Experten in Gestalt von sechs Patres der Societas Jesu änderte sich der Zugang zum katholischen Wissensbestand. Die Jesuiten waren vom Domkapitel engagiert  – als Kompensation für den eigenen mangelhaften Klerus und

32 Axel Gotthard, Der Augsburger Religionsfrieden, Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 148 (Münster 2004), 583. 33 Vgl. Schrei­ben des Rates an Kaiser Maximilian II., undatiert; StA Speyer 1 A, Bü. 402 / 7, fol. 25r. 34 Gotthard 2004 (wie Anm. 32), 580.

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als Rettungsanker für das katholische Leben der Stadt insgesamt.35 Außerdem kannte das Kapitel die Trienter Konzilsdekrete, die einen Bildungs- und Professionalisierungsschub für den Katholizismus insgesamt forderten.36 In diesem Anliegen aber waren die Domherren auf die Jesuiten angewiesen, denn sie wussten, „das sonsten die theologie schwerlich zu bekommen“.37 Die Jesuiten übernahmen mit der Domkanzel und der Ausbildung der Schüler wichtige Schaltstellen des altgläubigen Speyers. Die Patres begannen bald nach der Gründung des Kollegs mit Katechismusunterricht und theologischen Vorlesungen. Der Orden zog in Speyer jenes Programm durch, das mit der Jugend und den katholischen Eliten insbesondere des Reichskammergerichts eine neue katholische Basis zu schaffen suchte.38 Das heißt, durch Katechismus, Unterricht und Predigt systematisierten und verbalisierten die Jesuiten das katholisch-religiöse Wissen in performativer Weise und machten es dadurch handhabbar und allererst verfügbar. Gleichzeitig sind die Jesuiten als katholische Kadertruppe zu verstehen, deren religiöses Expertentum sich nicht nur auf die Laien, sondern besonders gegen die evangelischen Geistlichen richtete. Als quasi konkurrenzlose katholische Experten religiösen Wissens, wie sie sich gerade auch in Speyer präsentierten, verstanden die Jesuiten ihr Wirken immer auch in Abgrenzung zum Protestantismus  – dessen mediale Strategien der Verbalisierung, Performanz und religiösen Unterweisung sie aber weitgehend übernahmen. Religiöses Wissen ereignete sich nun auch im

35 Die Domkapitelsprotokolle berichten bereits im Februar 1567 von einem Durchbruch in den Verhandlungen mit dem Jesuitenorden, dem der baldige Einzug der Jesuiten folgte. Die Stiftungsurkunde des Kollegs ist aber erst auf den 16. Februar 1571 ausgestellt. Zur Urkunde vgl. Franz Xaver Remling, Hg., Urkundliche Geschichte der ehemaligen Abteien und Klöster im jetzigen Rheinbayern, Bd. 1 (Neustadt / W. 1836 / Neudruck 1973), 359  ff.; Protokolle des Domkapitels zu Speyer, 15. Dezember 1571; GLA Karlsruhe 61–10942, 630. Für einen kurzen Abriss der Gründung des Speyerer Jesuitenkollegs vgl. Ammerich 2000 (wie Anm. 2), 13–16. 36 „[W]eil die reformation und concilium tridentinum clärlich ausweist, die cantzel und schulen mit gelerten leuthen gnugsam zu versehen“; Protokolle des Domkapitels zu Speyer, 24. April 1566; GLA Karlsruhe 61–10941, 174. 37 Protokolle des Domkapitels zu Speyer, 5. August 1566; GLA Karlsruhe 61–10941, 245. 38 Pater Lambert Auer, der aus Mainz stammende und als Domprediger eingesetzte Jesuit, berichtete schon 1566, dass viele Doktoren und Assessoren des Reichskammergerichts im Auditorium seiner Dompredigten saßen. Vgl. Ammerich 1993 (wie Anm. 2), 42. Die Zusammenstellung des Auditoriums bestätigte der Jesuit Daniel Papebroch auf seiner Durchreise durch Speyer 100 Jahre später: „Und hier [=in der Christophskirche der Jesuiten, DB] kommen fast alle katholischen Bürger zu religiösen Übungen zusammen. Zwar sind das wenige, aber einflußreiche. Dazu kommt die Mehrheit der Mitglieder der kaiserlichen Kammer mit ihren Bediensteten“; Udo Kindermann, Kunstdenkmäler zwischen Antwerpen und Trient. Beschreibungen und Bewertungen des Jesuiten Daniel Papebroch aus dem Jahre 1660: Erstedition, Übersetzung und Kommentar (Köln u.  a. 2002), 97.



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Katholizismus auf der Domkanzel, in den Schulen und im Katechismusunterricht sowie im Theater.39

3 Fazit Diese drei kurzen Beispiele veranschaulichen, dass die Frage nach den katholisch-religiösen Experten im nachreformatorischen Speyer auf zwei unterschiedlichen Ebenen zu beantworten ist. Zum einen gab es Kleriker, die keine konfessionellen Experten waren. Dazu zählten Leute wie Bischof Marquardt von Hattstein und die Dominikanermönche. Gewisse Kenntnisse religiösen Wissens der eigenen Konfession sind anzunehmen, aber in einer unkonkreten, unverfügbaren Form. Sie verkörperten jene Pluralität unterschiedlicher religiöser Wissen, die vor der Reformation, durchaus konkurrierend, nebeneinander existieren konnten. Gleichzeitig sind diese Personen in der heutigen Perspektive der Ausdifferenzierung der Wissensfelder schwer zu fassen: Von Bischof Marquardt zu behaupten, er sei kein religiöser Experte, trifft nicht den Kern seiner Person, in dessen Amtsausübung religiöse, politische und juristische Wissensfelder sich überlagerten. Interessanterweise übernahmen weltliche Autoritäten, der Speye­ rer Rat und der Pfalzgraf, in der Nach-Reformationszeit genau diese Funktion im Schnittfeld der Wissensfelder. Der Pfalzgraf und der Rat übernahmen religiöse Kompetenzen und Zuständigkeiten in dem Moment, als sich konfessionelle Experten ausbildeten. Der Pool konfessioneller Experten, auf der zweiten Ebene, füllte sich auf protestantischer Seite rasch, und zwar mit Predigern – Predigern, keinen Theologen. Ihr Expertentum beruhte von Anfang an nicht nur auf der wissenschaftlichen Ausbildung, sondern auf einer profunden Fähigkeit, Glaubensinhalte in der Predigt zur Sprache bringen zu können. Gerade sprachliche und performative Kompetenzen sollten bei den evangelischen Prädikanten idealerweise zusammenfallen. Sie versorgten ihr Auditorium mit grundsätzlichen Wissens- und Lehrgehalten, die die Konfession mit sich brachte. Dadurch dass der Protestantismus bis 1577 in zwei unterschiedlichen Ausprägungen in Speyer existierte, gab es zwischen

39 1574 berichten die Domkapitelsprotokolle von Zuwendungen an die Jesuiten „wegen des gehaltenen spiels und Comedian“; Protokolle des Domkapitels zu Speyer, 31. August 1574; GLA Karlsruhe 61–10943, 138. 1574 sind auch in den Jahresberichten des Kollegs erstmals Theateraufführungen erwähnt. Vgl. Joseph Hansen, Hg. Rheinische Akten zur Geschichte des Jesuitenordens 1542–1582, Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 14 (Bonn 1896), Nr. 532, 704.

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den Predigern Kontroversen um religiöse Wissensgehalte, gerade um die Abendmahlspraxis, in der sich religiöses Wissen in praktische und rituelle Handlungen goss. Die Strategie der Installierung religiösen Expertentums übernahmen die Katholiken in den 1570er Jahren ebenfalls und zwar im Schema von Konkurrenz und Überbietung, indem sie sich von außen die Jesuiten als Wissensträger in die Stadt holten, die ihr religiöses Wissen in der Dompredigt und im Gymnasium an die katholische Stadtbevölkerung weitergeben sollten. Ein systematischer Blick auf die religiösen Experten im Speyerer Katholizismus des 16. Jahrhundert ergibt Folgendes: Nachdem die ursprünglichen Experten des Katholizismus, gebildete Leute wie Diller und Eberhard, die ihr religiöses Wissen formulieren konnten, in das Luthertum abgewandert waren, erstarb mit dem Ausbleiben der Experten das katholische Leben. Erst die Reinstallierung von Experten von außen, der Jesuiten, konnte den Katholizismus in der Stadt stärken. Endgültig revitalisierte sich der Katholizismus, als mit Fürstbischof Eberhard von Dienheim40 und Generalvikar Beatus Moses41 1580 zwei Experten das Bistum übernahmen, die selbst durch die jesuitische Schule gegangen waren und mit tridentinischen Reformmaßnahmen sowie intensiven Visitationen des Klerus in der Stadt begannen. Die lutherischen Prediger, die Jesuiten, Bischof Eberhard und sein Generalvikar entsprechen dem klassischen Bild von Experten religiösen Wissens. Dieses Expertentum grenzte sich aber nicht nur weitgehend vom politischen und juristischen Wissen ab, sondern verstand sich in Abgrenzung zum bereits zuvor entwickelten Expertentum des Protestantismus. Zugleich wurden auch aus den genuin religiösen Experten der jesuitischen Anfangsjahre rasch wieder politische Berater an den europäischen Höfen. Aber die Jesuiten blieben für die Frühe Neuzeit die konfessionellen Experten des Katholizismus schlechthin.

40 Eberhard von Dienheim (* um 1540, 1581–1610) stammte aus einem mittelrheinischen Adelsgeschlecht. Als Domizellar in Speyer studierte er an verschiedenen Orten und wurde 1561 Mitglied des Speyerer Domkapitels. Erst Domkantor, wählte ihn das Kapitel  1581 zum Bischof. Er bemühte sich um die Reform des Bistums im tridentinischen Sinne und beauftragte seinen Generalvikar Beatus Moses mit der Visitation der Landpfarreien. Allerdings gefährdete seine beständige finanzielle Misswirtschaft wiederholt die Reform des Bistums. Zur Person Dienheims vgl. ausführlich Hans Ammerich, „Dienheim, Eberhard von,“ in Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1448 bis 1648: Ein biographisches Lexikon, ed. Erwin Gatz (Berlin 1996), 124–126. 41 Beatus Moses, Generalvikar unter Eberhard von Dienheim, führte 1583 bis 1588 die Visitation der diözesanen Landgemeinden durch. Er hat neben Weihbischof Heinrich Fabricius wesentlich die katholische Reform im Bistum angestoßen und umgesetzt. Zur Person, auch zu Fabricius, vgl. Herbert Vossebrecher, „Das Speyerer Gesangbuch 1599 als Zeugnis der pastoralen Erneuerungsbewegung im 16. Jahrhundert,“ in Alte Catholische Geistliche Kirchengeseng auff die fürnemste Feste: Das Speyerer Gesangbuch von 1599. Eine Einführung, ed. Heribert Pohl (Speyer 2003), 39–54.



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Der Weg zu konfessionellen Experten wird ein erfolgreicher sein. Der Rekurs auf die Schrift sowie traditionelle Wissensbestände und deren Träger waren im Laufe des 16. Jahrhunderts im Prozess einer Selektion und Reaktivierung vereindeutigt worden. Das Ergebnis des Rekurses hatte jede Konfession festgeschrieben. Die Theologien waren scharf gestellt worden, die Prediger auch. Im 17. Jahrhundert, als alle Konfessionen konfessionalisierte Experten auf die Speye­ rer Kanzeln und Katechismuslehrstühle gestellt hatten, traten diese in heftige Konkurrenz zueinander. Die angeführten Beispiele zeigen gerade für den Katholizismus, dass erst die Verbindung von Personalisierung und performativer Darstellung von Wissen die Konfession sicherstellen konnte. Eine umfangreiche institutionelle Infrastruktur, wie sie die nachreformatorische Speyerische Klosterlandschaft zeitigte, reichte gerade nicht. Nun könnte der Einwand kommen, dass es ja auch an katholischen Laien fehlte. Aber Porcias Argument, um zum Eingangszitat zurückzukehren, muss man genau lesen. Er sprach von weniger als dreißig Laien, aber dazu kamen 21 katholische Familien des Reichskammergerichtspersonals. So wenige waren es nicht. Aber diese Laien, Laien im religiösen wie im wissenstechnischen Sinn, bedurften der Anleitung und Katechese durch genuine Wissensträger. Die Ausdifferenzierung von Wissensfeldern in religiöses, politisches und rechtliches Wissen, wie wir sie in Speyer beobachten konnten, und die Verbindung von Personalisierung und performativer Darstellung von Wissen führten unmittelbar zu einer Intensivierung religiöser Praxis in der Stadt und zu „performativen Wahrheitsszenen“42, wie Gott unterschiedlich handhabbar gemacht werden kann. Diese Konflikte um die Handhabbarkeit Gottes wiederum generierten wichtige soziale und institutionelle Veränderungen, etwa die temporäre Vertreibung des Calvinismus und seiner Anhänger aus Speyer. Langfristig führte diese Entwicklung, das ist zumindest die Annahme, auch dazu, dass Politik und Recht ohne Religion leben konnten – aber die Säkularisierung ist eine andere Frage.

42 Rudolf Schlögl, Elf Thesen zur Reformation als städtischem Ereignis, Manuskript, http://www. geschichte.uni-konstanz.de/professuren/prof-dr-rudolf-schloegl/publikationen [02. 07. 2013], 28.

Susanne Kofler

Göttliche Offenbarung, Täuschung des Teufels oder natürlich verursacht? „Gesichter“ als eine Herausforderung für die lutherische Theologie im Heiligen Römischen Reich (ca. 1630–1650) Mit dem Blick auf das „Imaginäre“ im europäischen Christentum untersucht die geschichtswissenschaftliche Forschung unter anderem Berichte über Erscheinungen von Engeln und Dämonen, über Visionen und Ekstasen ebenso wie über Teufelsbesessenheiten und über Träume und Zeichen.1 Besonders diskutiert wird derzeit vor allem die Verbindung zwischen einem in der Frühen Neuzeit angesiedelten Interpretationswandel gegenüber dem „Imaginären“ und dem „Übernatürlichen“ und der „Entstehung“ des modernen Subjekts. Denn für die Zeitspanne zwischen Barock und Aufklärung ist bisher vor allem eine Entwicklung diskutiert worden, durch die extraordinäre Erlebnisse und Ereignisse, wie Träume, Erscheinungen, Visionen und Ekstasen, tendenziell immer weniger als Hinweise Gottes an die menschliche Gesellschaft erklärt und akzeptiert wurden, sondern vor allem auf natürliche Ursachen zurückgeführt und als Ausdruck des menschlichen Subjekts beziehungsweise seiner Seele oder Psyche interpretiert wurden. Eine zunehmende Pathologisierung, Psychologisierung und Indivi­dua­ lisierung bei der Interpretation des „Imaginären“ gelten dann als Symptome für

1 Die sozialen, politischen und religiösen Dimensionen des „Imaginären“ sind vor allem im anglo-amerikanischen und französischen Raum etablierte Forschungsfelder vgl. stellvertretend die Arbeiten von Peter Burke, “L’histoire sociale de rêves,” Annales (ESC) 28 (1973), 329–342; Jacques Le Goff, Die Geburt des Fegefeuers (Stuttgart 1984); Jacques le Goff, Phantasie und Realität des Mittelalters (Stuttgart 1990); Kelly Bulkeley, The wilderness of dreams (Albany 1994) und Marc Bloch, Die wundertätigen Könige (München 1998). Verwiesen sei daneben lediglich exemplarisch auf die Arbeiten von Stuart Clark, Thinking with demons (Oxford / New York 1997); Lorraine Daston, Wonders and the order of nature 1150–1750 (New York 1998); Marion Kintzinger, „Träumend auf der Suche: Übergangsformen historischen Denkens im 17. Jahrhundert,“ in Dimensionen der Historik: Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute, ed. Horst Walter Blanke u.  a. (Köln 1998), 221–236; Angels in the early modern world, ed. Alexandra Walsham und Peter Marshall (Cambridge 2006); Traum und res publica: Traumkulturen und Deutungen sozialer Wirklichkeiten im Europa von Renaissance und Barock, ed. Peer ­Schmidt und Gregor Weber (Berlin 2008).

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eine ‚Genese‘ der Moderne und des modernen Subjekts.2 Allerdings wird jüngst zunehmend darauf hingewiesen, dass sich diese Verschiebungen in der Interpretation des Imaginären und des menschlichen Erlebens nicht ausreichend nachzeichnen und erklären lassen, wenn lediglich ein „Decline of Magic“ und ein Prozess der zunehmenden Säkularisierung unterstellt wird und dabei eine Konfrontation zwischen religiös konnotierten, ‚vormodernen‘ Gesellschafts- und Wissensordnungen einerseits und einer an der ‚Vernunft‘ orientierten Aufklärung andererseits angenommen wird.3 Zwar wird nicht hinterfragt, dass es im 18. Jahrhundert zu einem „grundlegenden Paradigmenwechsel“ gekommen sei, aber vor allem Transformationen in den Deutungen des „Imaginären“ in der Zeit zwischen Reformation und Aufklärung finden vermehrt Beachtung.4 Kritik an angeblich übernatürlichen Offenbarungen wurde zudem und zu allererst von Seiten der Theologie formuliert und verbreitet.5 Dabei ist auch schon hervorgehoben worden, dass es im Heiligen Römischen Reich vor allem lutherische, orthodoxe Theologen waren, die den Verweis auf Gott als Verursacher von extraordinärem Erleben bekämpften und stattdessen natürliche Erklärungen oder den Teufel als Verursacher von Visio­nen favorisierten, weil sie die Kommunikation mit dem Gött­lichen vor allem auf die Heilige Schrift beschränkt wissen wollten.6 Im

2 Vgl. stellvertretend Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft (Frankfurt a. M. 1973), 240–253 und Keith Thomas, Religion and the decline of magic (Harmondsworth, Middl. 1973). 3 Peer ­Schmidt und Gregor Weber, „Traumkulturen in den frühneuzeitlichen Gesellschaften: Eine Einführung,“ in S ­ chmidt / Weber 2008 (wie Anm. 1), 9–25, hier 15–19. In dieser Ausrichtung auch Religion and culture in Germany (1400–1800), ed. Robert W. Scribner und Lyndal Roper, (Leiden 2001); Andrew Kitt, “The Miraculous Body of Evidence: Visionary Experience, Medical Discourse, and the Inquisition in the Seventeenth-Century Spain,” Sixteenth Century Journal 36 (2005), 77–96; Renate Dürr, „Prophetie und Wunderglaube – zu den kulturellen Folgen der Reformation,“ Historische Zeitschrift 281 (2005), 3–32 und Claire Gantet, Der Traum in der Frühen Neuzeit: Ansätze zu einer kulturellen Wissenschaftsgeschichte (Berlin / New York 2010). 4 ­Schmidt / Weber 2008 (wie Anm. 3), 17–18. 5 Claire Gantet, „Zwischen Wunder, Aberglaube und Fiktion: Der Traum als politisches Medium ­ chmidt / Weber 2008 (wie Anm. 1), 307–326, hier 310. Daneben auch in Frankreich, 1560–1620,“ in S ­ chmidt / Weber 2008 (wie Anm. 1), Gantet 2010 (wie Anm. 3), 189–196 und Axel Rüdiger, Rez. zu S sehepunkte 10 (2010), Nr. 5 [15. 05. 2010], URL: http://www.sehepunkte.de/2010/05/16592.html: „Die Rückführung politischer Träume auf natürliche Ursachen, so der allgemeine Schluss, muss keineswegs immer einen aufklärerisch-ideologiekritischen Hintergrund haben, sondern kann im Gegenteil durchaus den doktrinären Status quo rechtfertigen.“ 6 Besonders prägnant hat dies Rüdiger 2010 (wie Anm. 5) mit Verweis auf Uhlman Weiß, „Traumglaube und Traumkritik im älteren deutschen Luthertum: Eine Skizze,“ in ­Schmidt / Weber 2008 (wie Anm. 1), 227–256 und Holger Berg, “The Limited Political Relevance of Dreams in two Lutheran Realms: Observations from Scandinavia in the 17th and 18th Centuries,” in ­Schmidt / Weber 2008 (wie Anm. 1), 343–372, herausgestellt. Zu einem Länder- und Kon­fes­sions­vergleich bei der



Göttliche Offenbarung, Täuschung des Teufels oder natürlich verursacht? 

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Rahmen dieses Beitrages wird an diese Forschungsdebatten angeknüpft und an Hand einer Kontroverse lutherischer Theologen über die Möglichkeit und Relevanz von göttlichen Visio­nen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts exemplarisch gezeigt, wie unterschiedlich die Deutung von potentiell divinatorischen Offenbarungen ausfallen konnte. Abschließend soll diskutiert werden, ob und in welcher Weise Kontroversen über die Relevanz göttlichen Wirkens in der Welt, die nicht von außen an die Theologie herangetragen wurden, sondern gerade im Kreis der Theologen entstanden, zu einem allgemeinen Bedeutungsverlust von Transzendenzerfahrungen als Deutungsmustern und Legitimationsgrundlagen für gesellschaftliches Handeln führte und damit langfristig eine Individualisierung solcher Erfahrungen begünstigte. Die Debatte darüber, ob Gott in nachapostolischer Zeit „sonderliche Gesichter geben, und dadurch die Menschen unterrichten wolle“7, soll zudem mit Hilfe zweier miteinander verbundener Fragehorizonte systematisiert und erschlossen werden: Erstens lässt sich beobachten, dass die an der Kontroverse beteiligten Geistlichen unterschiedliche Positionen darüber vertraten, welchen Stellenwert „Gesichter“, als eine Form unmittelbarer göttlicher Offenbarung8, in Relation druckmedialen Verbreitung des Traumes Peer S ­ chmidt, „‚Wan er auch aufwachet/ ihm eben ist/ als einem der aus der Schlacht entrunnen‘: Träume im Dreißigjährigen Krieg,“ in ­Schmidt / Weber 2008 (wie Anm. 1), 257–283, hier 278–280. 7 Jacob Stolterfoht, Consideratio Visionum (VD 17 23:666752B) (Lübeck 1636), 108. Alle Zitate werden in Schriftbild und Orthografie deutlich modernisiert: Schrägstriche werden als Kommata wiedergegeben, Umlaute werden nach heutigem Schriftbild wiedergegeben, die Schreibungen „v“ und „j“ werden als die Lautwerte „u“ und „i“ modernisiert. Alle anderen grafischen Eigenarten sind beibehalten. 8 Da das Phänomen und damit die Begriffe „Gesichte“, „Gesicht“ oder „Vision“ und „Visio“ nicht nur im Luthertum, sondern in der gesamten Geschichte des Christentums stets Aushandlungen unterlag, sollen hier allein die Theologen mit ihren Definitionen von „Gesichter“ zu Wort kommen, deren Positionen in diesem Beitrag genauer behandelt werden. Stolterfoht, Consideratio (wie Anm. 7), 1, 9–10: „Das Teuschte Wörtlein Gesicht kompt vom Wort Sehen, wie auch das lateinische Wörtlein Visio à videndo.“ „Wann wir aber allhie von Gesichten reden, so ist die meinung nicht von natürlichen Ansehen, auch nicht von des Menschen Angesicht und Geberden, auch sehen wir nicht eigentlich auff die Propheten Weissagungen und Predigten: Sondern wie das Wort Gesicht strictissimè in der Schrifft gebraucht wird, also nehmen wir es allhie auch, daß dadurch verstanden wird Visio imaginaria, wie es von dem berühmten Scholastico Thomá Aquinate I.part. Summae Theo.quest. 12. art.3 genennet wird, da GOtt der HERR den Patriarchen, Propheten und Aposteln sonderliche Dinge in hellen und klaren Bildnußsen, gleichsamb mit lebendigen Farben, hat fürgestellet.“ Jacob Fabricius, Probatio Visionum (VD17 23:622867W) (Nürnberg 1642), 9–10: „Mann verstehet hiedurch nicht actum videndi, die Verrichtung deß Sehens, welche als denn geschicht, wenn ein Mensch mit dem Gesicht seiner Augen etwas beschawet, das für jhm schwebet: Sondern die Visiones und Gesichter bedeuten allhie res visas, dieselbigen Dinge, Händel und Sachen, welche jemande gezeiget werden, entweder mit Leiblichen, oder Geist­

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zur schriftlich vermittelten Offenbarung der Bibel einnehmen sollten. Damit entzündete sich die Kontroverse an verschiedenen Offenbarungstheorien. Die Geistlichen stritten im Verlauf der Debatte außerdem darum, ob und wie sich von Gott gewirkte „Gesichter“ mit Gewissheit erkennen ließen und folglich über die menschliche Erkenntnisfähigkeit gegenüber dem sich selbst offenbarenden Gott. In diesem Kontext diskutierten sie vor allem, welche Akteure und Verfahren zur Bewertung von Visionen autorisiert seien. Dabei konnte die lutherische Geistlichkeit als eine Gruppe adressiert werden, der eine besondere Erkenntnisfähigkeit gegenüber göttlichen Offenbarungsformen zugestanden wurde oder aber der Expertenstatus der Geistlichen konnte negiert werden. Somit verband sich eine vordergründig theologische Debatte über das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit göttlicher Offenbarung mit einer Diskussion über Erkenntnis­theo­ rien und die Autorisierung bestimmter Akteure beim Erkennen des göttlichen Willens.

1 Die Schriften der „Enthusiasten“ als Heraus­ forderung für die lutherische „Orthodoxie“ Mit dem Beginn des 17. Jahrhunderts wurde für die lutherische Theologie im Heiligen Römischen Reich die Auseinandersetzung mit Visionen, die im deutschen Sprachgebrauch auch als „Gesichter“ oder „Gesichte“ bezeichnet werden konnten, nochmals virulent. Denn die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in den Bekenntnisschriften konsolidierte Lehrmeinung, dass die göttliche Offenbarung nur vermittels der Heiligen Schrift zugänglich sei, wurde in dieser Zeit erneut durch Positionen herausgefordert, die betonten, dass Gottes Wille auch oder nur durch unmittelbare Gotteserfahrungen zu erfahren und zu erkennen sei.9 In Norddeutschland, namentlich im Geistlichen Ministerium der

lichen Augen zu besichtigen, und solche Sachen heissen eben darumb Visiones, dieweil sie so gar gewisse sind, als ein Ding seyn kann, wenn es für unsern Augen stehet.“ „Derohalben wolle es der günstige Leser in acht nehmen, daß die Visiones und Gesichter, von denen wir reden, zu Teutsch eben so viel heissen, als geoffenbarte wunderliche Dinge, Händel und Sachen, […].“ 9 Zum Verhältnis von lutherischer Reformation, „Spiritualismus“ und „Orthodoxie“ sowie „Pietismus“ vgl.  stellvertretend Johannes Wallmann, Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock (Tübingen 1995); Johannes Wallmann, Pietismus und Orthodoxie (Tübingen 2010); Johannes van den Berg und Martin Brecht, Hg., Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert (Göttingen 1993) und Martin Brecht und Friedhelm Ackva, Hg., Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert (Göttingen 1995).



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Stadt Lübeck, lassen sich ab den 1630er Jahren Bemühungen feststellen, solche spiritualistischen Strömungen als vom Teufel verursachte Irrlehren zu verunglimpfen.10 Auf Initiative des Geistlichen Ministeriums von Lübeck kamen im März 1633 Angehörige der Geistlichen Ministerien der Städte Lübeck, Hamburg und Lüneburg in Mölln zusammen, um ein gemeinsames Vorgehen gegen die so genannten „Enthusiasten“ abzustimmen. Der Beschluss dieses „Möllner Konvents“ betonte, dass die Ordnung der lutherischen Gemeinden im niedersächsischen Reichskreis durch die Irrtümer der „Enthusiasten“ gefährdet sei und entwarf ein umfangreiches Programm, wie man ihnen und ihren Schriften begegnen solle.11 Betrachtet man die Ratschläge, mit denen sich die Verfasser des Beschlusses an die weltlichen Obrigkeiten ihrer Städte richteten, ist auffällig, dass sie darin sowohl die Funktion verschiedener Medien als auch die Verantwortung aller Teile des städtischen Gemeinwesens thematisierten: Sie empfahlen sowohl die mündliche Kommunikation der Predigt und Unterweisung durch die Geistlichen12, die Meldung oder Denunziation vor der geistlichen und welt­ lichen Obrigkeit durch die Untertanen13, sowie Maßnahmen der Zensur und Inspektion, vor allem von Buchdruckereien und Schulen, von Seiten der weltlichen Obrigkeit.14 Die Geistlichen boten auch eine Erklärung an, warum ihre Gemeinden für diese Irrlehre empfänglich seien. Es sei nämlich bekannt, dass „vieler Leute Gemüther zu allerley Neulichkeit geneigt“ seien, „daß [es] scheinet, als wäre man das lieben Evangelii fast satt, und überdrüßig, und wolte eine neue Lehre haben […].“15 Den Menschen würde aber von diesen „allerley novitäten etwas, so an ihnen hängen bleibet, […] das Gemüth wandelbahr, und unbeständig gemachet“ so, „daß man sich hernach einen jeden Wind der Lehre wiegen, und wegen läst […].“16 Die Rezeption von „novitäten“ könnte schlimmstenfalls sogar zu einer Verwirrung des Glaubens und damit zum Seelenuntergang führen.17 Deshalb sei

10 Zur Kirchengeschichte Lübecks stellvertretend Wolf-Dieter Hauschild, Kirchengeschichte Lübecks (Lübeck 1981). 11 Der Beschluss datiert auf den 29. März und liegt ediert vor in Caspar Heinrich Starck, Lubeca Lutherano-Evangelica, das ist, der Kayserlichen, Freyen, und des Heil. Römischen Reichs Hanseund Handel-Stadt Lübeck Kirchen-Historie […] (Hamburg 1724), 977–980. 12 Starck, Lubeca Lutherano-Evangelica (wie. Anm. 11), 977. 13 Starck, Lubeca Lutherano-Evangelica (wie. Anm. 11), 977. 14 Starck, Lubeca Lutherano-Evangelica (wie. Anm. 11), 980. 15 Starck, Lubeca Lutherano-Evangelica (wie. Anm. 11), 977. 16 Starck, Lubeca Lutherano-Evangelica (wie. Anm. 11), 978. 17 Starck, Lubeca Lutherano-Evangelica (wie. Anm. 11), 978: Die Geistlichen sollten den Gläubigen, bei denen „eine inclination zu novitäten gespühret wird zu Gemühte“ führen, dass sie, erstens, aus den „neuen Sachen“ „keinen Nutzen erlangen, noch ihnen dasselbige einigerley

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es notwendig, dass die Geistlichkeit ihre Gemeindemitglieder in jeder sich ergebenden Kommunikationssituation, nämlich „in Predigten, Beichtstühlen, vnd gemeiner Conversation“18, über die Gefährdung des Gemüts, Glaubens und des Seelenheils durch die Rezeption von „novitäten“ unterrichte und jeden Gläubigen auffordere, dass er „seinen Fürwitz lasse.“19 Dem Druckmedium maßen die Autoren bei der Evokation der Neugierde eine besondere Gefährlichkeit bei. Denn durch die Rezeption von enthusiastischen Druckwerken werde die Neugier des Menschen in besonderem Maße befriedigt und gleichzeitig angestachelt.20 Im Anschluss führten die Autoren aus, wie die Geistlichkeit gegenüber einem solchen glaubens- und seelengefährdenden Medienverhalten vorgehen sollte. Die Autoren gaben zu bedenken, man habe „[…] billich in consideration zu ziehen, daß man zwar den Christen frey lasse alles zu prüfen, und das gute zu behalten, um welcher Ursachen man nicht gemeynet, das Pabstische Joch abermahls über Christen Leute zu ziehen; Nichts destoweniger wie alle Christen fürsichtiglich wandeln sollen, also müssen die Prediger zuforderst durch ernste Vermahnungen jhren Zuhörern diese Unvorsichtigkeit verweisen […].“21 Die Notwendigkeit einer Prüfung von kursierenden Lehrmeinungen leiteten die Geist­ lichen aus der Heiligen Schrift ab, wo es im 2 Thess 5,21 heißt: „Pruefet aber alles, vnd das gute behaltet.“22 Damit betonten sie eine biblisch angemahnte Prüfung unterschiedlicher Lehrpositionen durch alle Gläubigen als Teil ihres Selbstverständnisses sowie der eigenen Religions- und Medienpraxis als ‚wahre Gläubige‘. Sie taten dies, indem sie ihre Position mit einer angeblichen Medienpraxis der Altgläubigen kontrastierten. Aufbauend auf der biblischen Forderung, dass von den Christen alles zu prüfen sei, und gleichzeitig mit Rückgriff auf die Idee, dass den Geistlichen das Lehramt und die Kirchenzucht vorbehalten sei, formulierten die Geistlichen hier eine konfessionsspezifische Norm für den Umgang mit

Wege zur Erbauung dienen könne.“ Zweitens würden „sie sich in grosse Seelen-Gefahr begeben“ da „in diesem Fall Syrachs Wort pfleget erfüllet zu werden: Wer Pech angreifft, der besudelt sich damit […].“ Drittens hielten sie die Mitteilung an die Gläubigen für nötig, dass „ […] sie hieraus in Verwirrung ihres Glaubens, zugleich auch in ihrer SeelenUntergang leiblich möchten gestürtzet werden […].“ 18 Starck, Lubeca Lutherano-Evangelica (wie. Anm. 11), 978. 19 Starck, Lubeca Lutherano-Evangelica (wie. Anm. 11), 978. 20 Starck, Lubeca Lutherano-Evangelica (wie. Anm. 11), 978: „Und weil sich […] dieser Fürwitz ziemlich sehr damit erweiset, daß mancher allerley fanatische, und Enthusiastische Bücher aus allen Winckeln zusammen suchet, Nacht, und Tag darüber lieget, und in denselben, als hohen Sachen, die nicht ein jeder wisse, sich belustiget, […].“ 21 Starck, Lubeca Lutherano-Evangelica (wie. Anm. 11), 978. 22 Vgl. WA. DB 7, 1546, 249.



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„abweichenden“ Lehrpositionen und den zugehörigen Druckschriften.23 Dabei hatte – so ihre Überzeugung – ihr „Zuhörer“, der lutherische Laie, unter Führung der Geistlichkeit zu stehen. Denn die Bewertung von Lehren und Prophetien hatte  – so führte der Möllner Beschluss mehrfach aus  – durch einen Vergleich mit der Heiligen Schrift und damit von Seiten der zur Schriftauslegung autorisierten ordinierten Geistlichen zu erfolgen.24 Der von ihnen betonte Vorrang der kirchlichen Amtsträger in der Beurteilung der Lehre entsprach dabei dem damalig vorherrschenden lutherisch-orthodoxen Verständnis des Kirchenamtes (ministerium): So zählte Johann Gerhard die Beurteilung von Lehre und Irrlehre zu den Amtspflichten der ordinierten Geistlichen.25 Zwar gingen die Autoren von keinem qualitativen Unterschied zwischen kirchlichen Amtsträgern und anderen Gläubigen aus, aber die Geistlichen hatten auf Grund ihres Amtes über die reine Lehre zu wachen und gegenüber den Gemeindemitgliedern eine belehrende und anleitende Funktion einzunehmen. Mit dem Verweis auf die Vorrangstellung der Geistlichen in der Verantwortung für die rechte Lehre etablierten die in Mölln versammelten Geistlichen – zumindest normativ – eine Hierarchie innerhalb der lutherischen Konfessionskultur.26

23 Die vordergründig theologische Debatte über das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit göttlicher Offenbarung verband sich somit nicht nur mit einer Diskussion über die Befähigung und Autorisierung sozialer Akteure zur Erkenntnis des göttlichen Willens, sondern auch über geeignete Verfahren zur Erkenntnis des göttlichen Willens und über Potentiale und Gefahren des Druckmediums. Es ließe sich daher weiter fragen, ob und in welchem Ausmaß das jeweilige Gottes- und Menschenbild der Theologen mit einer bestimmten Medientheorie und -praxis gegenüber dem Druckmedium korrelierte, womit eine Forderung der Medienwissenschaftlerin Johanna Haberer und des Kirchenhistorikers Berndt Hamm aufgegriffen wird, sowohl die medienverändernde Dynamik von Theologie, Frömmigkeit und Kirchlichkeit wie auch die wiederum vom Mediensystem ausgehenden Impulse auf Theologie, Frömmigkeit und Kirchlichkeit zu betrachten, Johanna Haberer und Berndt Hamm, Hg., Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz: Die Nähe des Heils im Verständnis der Reformation (Tübingen 2012), VI. Allerdings kann dieses Verhältnis im Rahmen dieses Beitrages nicht eingehender, dafür aber in meiner Dissertation differenziert betrachtet werden. Für eine differenzierte Analyse s. Susanne Kofler, Prophetie als Partizipation am Heilsplan, Leipzig 2017 (in Vorbereitung). 24 Starck, Lubeca Lutherano-Evangelica (wie. Anm. 11), 977. 25 Holsten Fagerberg, „Amt / Ämter / Amtsverständnis VIII,“ Theologische Realenzyklopädie 2 (1992), 574–593, hier 580. 26 Zur „Konfessionskultur“ vgl. Thomas Kaufmann, Konfession und Kultur (Tübingen 2006), 14–16.

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2 Stolterfohts Consideratio Visionum über „Gesichter“ einfältiger Leute Weil die orthodoxen Geistlichen davon ausgingen, dass die „Enthusiasten“ Visionen als eine Form der unmittelbaren Gotteserfahrung wertschätzten, agierten sie auch gegen „Gesichter“. Ein ausführliches Werk über „Gesichter in der heutigen Zeit“ gab Jacob Stolterfoht (1600–1668) unter dem Titel Consideratio Visionum erstmalig im Jahr 1634 und erneut 1636 heraus.27 Stolterfoht war ab 1626 Prediger an der St. Marien Kirche in Lübeck und stieg im Jahr 1649 in das Amt des Pastors an dieser Kirche auf. Stolterfoht wollte in seinem Werk nicht die Visionen von Enthusiasten behandeln, sondern „Gesichter“, die „einfältigen“, aber frommen Christen angeblich wiederfahren sein sollten. In seinem Buch heißt es zu dieser Unterscheidung: „Wir wollen aber die jenigen Leute, welche etwan solche Gesichter unnd Offenbarungen mögen geschehen seyn, unnd sie aus Einfalt, und Unverstand diesselben annehmen, nicht eben für Enthusiasten, Ketzer, Schwermer unnd dergleichen außschreyen, sondern lassen sie gern, dafür sie gehalten werden, für Christliche, fromme Leute passieren.“28 Für ihn gab es demzufolge „Enthusiasten, Ketzer und Schwärmer“, die wissentlich in dem Irrtum verblieben, Gott bediene sich noch Visionen. Von diesen unterschied er solche Personen, die wegen mangelnder Kenntnisse und Fähigkeiten „Gesichter“ irrtümlich als göttlich gewirkt betrachten würden. Auf Grund seines öffentlichen Kirchenamtes sah sich Stolterfoht sowohl in der Pflicht als auch in der Lage den „einfältigen Gläubigen“ darzulegen, was von „Gesichtern“ zu halten sei.29 Dass einfältige und gutgläubige Leute gegenüber Visionen irren könnten, beunruhigte Stolterfoht vor allem, weil er überzeugt war, dass der Teufel versuche, die Menschen durch Visionen von der Heiligen Schrift als alleiniger Grundlage des wahren Glaubens abzubringen. Als biblischer Beweis für die Potenz des Teufels, Erscheinungen und Visionen zu wirken, die den Gläubigen als göttlich erscheinen mochten, galt ihm vor allem 2 Kor  11,14. Als

27 Die Auflagen von 1634 wurden gedruckt und verlegt durch Valentin Schmalhertz und Franz Dunder, Lübeck (VD17 23:280782T und VD17 3:604041W). Die Auflage von 1636 (VD17 23:666752B) wurde gedruckt durch Schmalhertz und verlegt durch Heinrich Schernwebel, beide zu Lübeck. Ich stütze mich auf die dritte Auflage von 1636. 28 Stolterfoht, Consideratio (wie Anm. 7), 157–158. 29 Stolterfoht, Consideratio (wie Anm. 7), fol. 49v–50r: „Solche heilige Arbeit habe ich nun […] mir fürgenommen, nicht eben für hochverständige, gelahrte, unnd Schriffterfahrene, welche ohn das wol werden wissen, was von dieser Sache zu halten sey; sondern vielmehr für einfältige Leute, damit die nicht mögen in Irrthum verführet, und von dem klaren Wort GOttes abgeleitet werden.“



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Folge stellte er in Aussicht: „Wann dann die Englischen Gesichter, und Erscheinungen erstlich so viel Authoritet, und Ansehen haben, daß man ihnen in Religion unnd Glaubens-Sachen trawen, und folgen sol, was kann dann der Teuffel weiter dadurch nicht einführen, und auff die Bahn bringen? Da würde dann bald fallen das Wort, die Schrift, das Predigtampt, und folgendes das gantze Christenthumb.“30 Stolterfoht führte in seinem Werk den Beweis, dass Gott in nachapostolischer Zeit zwar sehr wohl „Gesichter“ bewirken könne, sich dieser Kommunikationsform aber nicht mehr bedienen wolle. Denn da alles heilsrelevante Wissen den Menschen in der Heiligen Schrift offenbart worden sei, benötige es in nachapostolischer Zeit keine andere Form der göttlichen Offenbarung mehr.31 Daraus folgerte er, dass die „Gesichter“, von denen zu seinen Tagen berichtet werde, nicht göttlich verursacht seien könnten, sondern andere Ursachen haben müssten. Stolterfoht behandelte im Anschluss vier Ursachen für die „Gesichter heutiges Tages“: Berichte über „Gesichter“ könnten erstens von Menschen erdichtet sein. „Gesichter“ könnten zweitens aus der (durch Exilerfahrungen ausgelösten) Melancholie oder der menschlichen Einbildung über die „Heiligkeit“ der eigenen Person entspringen. Sie könnten drittens Possen und Betrügereien der Menschen sein. Oder viertens und schlimmstenfalls „Larven des Satans“, der versuche, die Gläubigen mit „Gesichtern“ vom wahren Glauben abzubringen.32 Als ein zusätzliches ‚Indiz‘, das Gesichter verdächtig mache, sah Stolterfoht die Eigenschaften derjenigen Personen an, die angeben würden, ein Gesicht erfahren zu haben:

30 Stolterfoht, Consideratio (wie Anm. 7), fol. 46r. 31 Stolterfoht, Consideratio (wie Anm. 7), 108–154, führt vier Ursachen an, die beweisen würden, dass Gott keine Visionen mehr geben wolle: Erstens fehlende Verheißung von „Gesichtern“ in der Heiligen Schrift, zweitens fehlender Befehl aus der Heiligen Schrift, auf Visionen zu warten oder um solche zu bitten, drittens die mangelnde Nützlichkeit der „Gesichter“ heutigen Tages, da sie weder Gott zur Ehre noch dem Menschen zur Wohlfahrt dienen, viertens der in Hebr 1 bewiesene Abschluss der prophetischen Offenbarung durch und in Christus. 32 Stolterfoht, Consideratio (wie Anm. 7), 177–226. Die vier Ursachen von Visionen wurden schon ein Jahr vor Stolterfoht in einer Schrift des Generalsuperintendenten von Lüneburg-Celle Johannes Wetzel (1570–1641) behandelt, Johannes Wetzel, Christliche Predigt (VD17 7:644683H) (Celle, 1633), fol. 5v-6v. Somit hat nicht Philipp Jakob Spener (1635–1705) als derjenige zu gelten, der bei der Erklärung der Ursachen von Visionen als Erster „nicht mehr mit der traditionellen Alternative: entweder von Gott oder vom Teufel […]“ arbeitete, vor die noch Luther sich gestellt gesehen hätte, wie Wallmann 1995 (wie Anm. 9), 245, meint. Mit dieser Vierteilung bestand außerdem eine Kontinuität zu vorreformatorischen Klassifikationen zur „Unterscheidung der Geister“ (discretio spirituum), vgl. zur Unterscheidung der Geister stellvertretend Cornelius Roth, Discretio spirituum (Würzburg 2001).

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Dann sihet man an, die Personen, welche die Gesichter sollen gehabt haben, so ist dz Werck alßbald schon etwas verdächtig, unnd fast ungereimbt. Sintemahl man da nicht höret, das solchen Personen, die im öffentlichen, reinen Evangelischen Lehr- unnd Predigtampt sitzen, Gesichter sollten geoffenbaret seyn; sondern etwa Schulmeistern in Marcktflecken (da man wol weiß, wie hoch sich solche Leute zum offtern verstiegen haben,) etwa Bawren, etwa Mägden, und dergleichen einfältigen Leuten, die zum offtern von Gottes Wort wenig vergessen haben.33

Für Stolterfoht war eine göttliche Ursache hinter den Visionen von Schulmeistern, Bauern und Mägden wegen ihres Status als Laien, in Abgrenzung zu den Trägern des geistlichen Amtes, unwahrscheinlich. Zwar wisse der Bibelkundige – sprich wiederum der Geistliche –, dass Gott im Alten Testament „zu weilen Leute hinter dem Pflug […] hinweg genommen“, „zu Propheten gemacht, unnd zu seinem Volck gesandt“ habe; aber ein solches Vorgehen Gottes hielt Stolterfoht für seine Gegenwart für nicht mehr notwendig. Denn Gott habe solche Leute immer nur dann berufen, wenn die „ordentlichen“ Priester geschwiegen, ihr Amt nicht redlich ausgeübt hätten oder getötet worden seien. Woraufhin Stolterfoht es der göttlichen Gnade zurechnete, dass solche Zustände in seiner Zeit glücklicherweise nicht herrschen würden.34 Falls überhaupt noch jemand von Gott durch Visionen ausgezeichnet werden sollte, dann wären dies – aus seiner Sicht – die ordinierten Prediger, da sie ihm als die Nachfolger der Propheten und Apostel galten.35 Stolterfoht bezog sich bei dieser Argumentation  – ohne einen expliziten Verweis  – auch auf eine Unterteilung der „weyssagung“, die Luther in seinem Kommentar zu Röm  12,7: „Hat jemand Weissagung so sei sie dem Glauben ähnlich“, vorgenommen hatte.36 Allerdings hatte Luther weder hier, noch in anderen Schriften, die Möglichkeit einer von Gott initiierte Weissagung über

33 Stolterfoht, Consideratio (wie Anm. 7), 320–321. 34 Stolterfoht, Consideratio (wie Anm. 7), 321–325. 35 Denn das Neue Testament beweise, dass nur die Apostel und zwar auf Grund ihres Lehramtes, Visionen erhalten hätten, Stolterfoht, Consideratio (wie Anm. 7), 332–336: „Gleichwol aber findet man nirgend im Newen Testament, daß Bawren, Mägde, unnd dergleichen Leute, sonderliche Gesichter sollten gehabt haben, sondern die Aposteln, deß HErrn, also Petrus, Paulus, Johannes, welche im öffentlichen Lehrampt gewesen.“ Mit Rückgriff auf Martin Luther erklärt er, dass die biblische Bezeichnung als „Propheten des Herren“ in nachapostolischer Zeit „vielmehr auff Lehrer unnd Prediger, als welche in der Schrifft auch Propheten heissen, dann auf Bawren, Mägde, und dergleichen, heut zu Tag gezogen werden [sollte]. Gestalt auch der S. Herr Lutherus diesen Spruch von denen, so das KirchenRegiment zu verwalten haben, erkläret hat. Tom. II. Witteb.fol.140.a.“ 36 WA. 17,II, Fastenpostille 1525, 38–39: „Weyssagung ist zweyerley, Eyne, die von zukunfftigen dingen sagt, wie alle propheten ym allten testament und die Apostel gehabt haben. Die ander ist auslegung der schrifft […].“



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zukünftige, „äusserliche Dinge“, den „Zustand der Kirchen“ oder „Veränderungen im Weltregiment“ in nachapostolischer Zeit kategorisch ausgeschlossen – ein Umstand, den sich Stolterfohts späterer Gegner Fabricius zu Nutzen machte.37 Luther hatte aber auch betont, und in diesem Punkt griff Stolterfoht ihn auf, dass diese Form der Weissagung „ym newen testament eyn unnoettige weyssagung“ sei, „denn sie leret noch bessert den Christlichen glauben nicht.“38 Insgesamt kontrastierte Stolterfoht die lutherischen Geistlichen mit den Laien und entwarf ein Kompetenzprofil des lutherischen Geistlichen als religiösen Experten in der nachapostolischen Zeit, das auf einer Hierarchie der Erkenntnisfähigkeit gegenüber göttlichen Offenbarungen zwischen Geistlichen und Laien fußte: Die Phase der prophetischen Weissagung habe mit Christus und dem Evangelium ihr Ende gefunden, so dass die glaubensrelevante, göttliche Offenbarung in der daran anschließenden Zeit allein durch das äußerliche Schriftwort der Bibel zugänglich sei. Zur Exegese seien wiederum allein die Geistlichen legitimiert, da sie in der Nachfolge der Patriarchen, Propheten und Apostel das kirchliche Amt bekleideten. Stolterfoht zeichnete somit ein Bild vom Luthertum als einer hierarchisierten Glaubensgemeinschaft, in der den Geistlichen auf Grund ihres Amtes und ihrer Gelehrsamkeit eine höhere Erkenntnis- und Beurteilungsfähigkeit gegenüber der Heiligen Schrift als alleiniger Vermittlungsinstanz des von Gott geoffenbarten, glaubensrelevanten Wissen zugewiesen wurde als den Laien.

3 Jacob Fabricius’ Widerspruch gegenüber dem Anspruch der orthodoxen Geistlichen bei der Beurteilung von „Gesichtern“ Stolterfohts Position blieb nicht unwidersprochen. Es war Jacob Fabricius (1593–1654), der im Jahr 1642 mit seiner Probatio Visionum39 eine Gegenschrift zu

37 Vgl. zu Fabricius’ Rezeption von Martin Luther in diesem Beitrag S. XXX. 38 WA. 17,II, Fastenpostille 1525, 38–39. Aus der fehlenden Relevanz von neuen Offenbarungen im Vergleich zur Heiligen Schrift leitete Stolterfoht folgende Handlungsanweisung für die Gläubigen ab, Stolterfoht, Consideratio (wie Anm. 7), 173: „Also, will es jemand glauben, was von den sonderlichen Gesichtern, und Offenbarungen außgesprenget wird, er gleube immer hin: Wil es aber jemand nicht glauben, sondern verbleibet nur fein in seiner Einfalt, unnd gleubet dem, was uns in Gottes Wort kund gethan ist, er thut daran auch keine Sünde, unnd wird keines weges zu verdammen seyn, sondern gehet viel mehr sicherer, als jener.“ 39 Jacob Fabricius, Probatio Visionum (VD17 23:622867W), 1642, verlegt in Nürnberg durch Wolfgang Endter den Älteren. Jonathan Strom hat auf eine zweite Auflage der Probatio Visionum von

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Stolterfohts Consideratio Visionum herausbrachte. Fabricius’ Werdegang ist von der Geschichte des Herzogtums Pommern während des Dreißigjährigen Krieges einerseits und durch Fabricius’ Verbindung mit dem schwedischen Königshaus und Heer andererseits bestimmt. Fabricius, der seit 1620 Hofprediger des letzten Herzogs von Pommern – Bogislaw XIV. – war, wurde nach der Landung des schwedischen Heeres unter Führung des Königs Gustav II. Adolf zum Superintendenten der schwedischen Feldprediger und zum Beichtvater des Königs ernannt.40 Nach dem Tod Gustav II. Adolfs 1632 kehrte Fabricius ins Herzogtum Pommern und nach Stettin zurück. Dort wurde ihm 1634 von Bogislaw XIV. das Amt des Super­intendenten von Hinterpommern  – mit Sitz in Stettin  – verliehen.41 Als ­Bogislaw XIV. am 10. März 1637 verstarb, befand sich das Herzogtum Pommern in einer prekären Situation42: Zwar war durch mehrere Verträge die Erbfolge dem Kurfürsten von Brandenburg zugesichert worden, aber faktisch war das Herzogtum zu diesem Zeitpunkt von Schweden besetzt. Darüber hinaus existierte ein vertraglich abgesichertes Bündnis zwischen der schwedischen Krone und ­Bogislaw XIV. von 1630, aus dem der schwedische Reichsrat ableitete, dass es Schweden nach dem Tod des Herzogs erlaubt sei, das Herzogtum so lange zu „verwalten“, bis der Nachfolger von Bogislaw XIV. die noch ausstehenden Kriegskosten des Herzogtums an Schweden auszahle. Die Räte des Herzogtums, die nach dem Tod des Herzogs zunächst versuchten, eine selbstständige, zivile Regierung aufrechtzuerhalten, befanden sich durch diese Ausgangslage in einem vielschichtigen Konflikt zwischen der schwedischen Krone, Ferdinand II. als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und dem reformierten Kurfürsten von Branden-

1643 hingewiesen, die in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena vorhanden ist, die in das VD17 aber noch nicht aufgenommen ist, vgl. Jonathan Strom, „Jacob Fabricius, Friedrich Breckling und die Debatte um Visionen und neue Offenbarungen,“ in Der radikale Pietismus: Perspektiven der Forschung, ed. Wolfgang Breul u.  a. (Göttingen 2010), 249–270, hier 249. Starck, Lubeca Lutherano-Evangelica (wie Anm. 11), 875, weist eine französische Übersetzung der Probatio Visionum von 1659 in Amsterdam aus. Diese trägt den Titel Preuve des visions, c’est à dire sentiment chrestien appugé de la parole de Dieu, & des écirts des théologiens orthodoxe und ist vorhanden in der Bibliothèque nationale et universitaire de Strasbourg (BNU) 40 In seiner Zeit beim schwedischen Heer publizierte Fabricius u.  a. Druckschriften, die das militärische Eingreifen Schwedens im Heiligen Römischen Reich und militärische Gewalt gegen den Kaiser von protestantischer Seite rechtfertigten, vgl. dazu Robert von Friedeburg, Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt (Berlin 1999), 94–95. 41 Zu Fabricius’ Biographie Gottfried von Bülow, „Fabricius, Jacob,“ Allgemeine Deutsche Biographie 6 (1877), 514–515 und Hermann Kellenbenz, „Fabricius, Jacob,“ Neue Deutsche Biographie 4 (1959), 735. 42 Zur Entwicklung des Herzogtum Pommerns im Dreißigjährigen Krieg vgl. stellvertretend Roderich ­Schmidt, Das historische Pommern (Köln 2007), 12–14.



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burg und Herzog von Preußen, Georg Wilhelm. Auf Grund dieser Konfliktlage traten die Räte im März 1638, ein Jahr nach dem Tod Bogislaws XIV., von ihren Ämtern zurück. Eben in dieser Umbruchsphase, begleitet von den erheblichen sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges, nahm die Kontroverse über die Bedeutung von „Gesichtern“ ihren Anfang unter den Geistlichen in der Stadt Stettin: Als Fabricius im April 1638 von den anderen Geistlichen von Stettin angegriffen wurde, weil er die Visionen eines aus Meißen stammenden Bauern namens Johann Werner anerkannte, fanden er und Johann Werner Unterstützung von Seiten der schwedischen Verwaltung.43 Weil die Geistlichen von Stettin sich auf Stolterfohts Consideratio Visionum von 1634 bezogen, kam schon 1638 das Gerücht auf, dass Fabricius eine Gegenschrift verfassen wolle.44 Zu dieser Veröffentlichung kam es aber erst im Jahr 1642; vermutlich, weil Fabricius 1641 von der schwedischen Krone in seinem Amt als Superintendent bestätigt wurde.45 Die Auseinandersetzung zwischen Stolterfoht und Fabricius war demnach in hohem Ausmaß von den wechselnden konfessions- und reichspolitischen, letztlich auch militärischen Begebenheiten zwischen 1642 und 1649 sowie seinen eigenen Beziehungen zu politischen und militärischen Autoritäten bestimmt. Die Kontro­ verse über die Bewertung von „Gesichtern“ führten Stolterfoht und Fabricius zwischen 1642 und 1649 in insgesamt neun deutschsprachigen Druckwerken46;

43 Starck, Lubeca Lutherano-Evangelica (wie Anm. 11), 846, 1017. In den Visionen Johann Werners wurde das schwedische Heer als von Gott ausgesandte Rettung für die Lutheraner im Reich dargestellt und gleichzeitig diejenigen lutherischen Obrigkeiten verdammt, die den Prager Frieden unterzeichnet hatten. Zu Johann Werner, der sich nach seiner göttlichen Berufung „Warner“ nannte, vgl. stellvertretend Jürgen Beyer, „George Reichard und Laurentius Matthaei: Schulmeister, Küster, Verfasser, Buchhändler und Verleger im letzten Jahrzehnt des Dreißigjährigen Krieges,“ in Lesen und Schrei­ben in Europa 1500–1900: Vergleichende Perspektiven, ed. Alfred Messerli und Roger Chartier (Basel 2000), 299–333; Johan Nordström, “Den svenske fältprofeten: En bortglömd gestalt från 30-åriga krigets dagar,” ed. Jürgen Beyer, Personhistorisch tidskrift 99 (2003), 5–16; ­Schmidt 2008 (wie Anm. 6), 257–283 und Jürgen Beyer, „Werner, Johann,“ Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, 33 (2012), 1482–1483. 44 Starck, Lubeca Lutherano-Evangelica (wie Anm. 11), 846, 874. 45 1642 richtete Schweden in Pommern ein neues kirchliches Konsistorium und ein neues Hofgericht ein. Fabricius behielt nicht nur sein Amt als Superintendent, sondern wurde auch zum Konsistorialmitglied ernannt und erhielt das Pastorat an der St. Marienkirche und die damit verbundene, erste theologische Professur am Pädagogium der Stadt Stettin; 1653 wurde er zum ersten schwedischen Superintendenten für Schwedisch-Pommern ernannt, vgl. Stewart P. Oakley, War and peace in the Baltic, 1560–1790 (London, New York 1992), 69–77. 46 Stolterfoht, Consideratio Visionum (VD17 23:280782T, VD17 3:604041W und VD17 23:666752B), in drei Auflagen 21634 und 1636; Fabricius, Probatio Visionum (VD17 23:622867W), 1642; Stolterfoht, Consideratio Visionum Apologetica (VD17 1:062614E), 1645; Fabricius, Invicta Probatio Visionum (VD17 23:327916B), 1646; Stolterfoht, Warheit- und Ehrenrettung (VD17 1:062616V; die beiden

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die veröffentlichten Streitschriften gegen und von weiteren Personen, die für die eine oder andere Seite Partei ergriffen, nicht eingerechnet.47 Stolterfohts Werk und die sich daran im Jahr 1638 entzündende theologische Debatte zwischen den Geist­lichen von Stettin und Lübeck, die Weiterführung dieser Kontroverse in gedruckten Streitschriften in den Jahren 1642 bis 1649, sowie die Rezeption der Streitschriften im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert sind jüngst bereits in einigen Arbeiten behandelt worden.48 Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Stolterfohts und Fabricius’ Position gegenüber „Gesichtern“ lassen sich am besten mit Hilfe der von ihnen selbst verwendeten Begriffe von der Notwendigkeit und Nützlichkeit der Visionen herausstellen: Beide gingen davon aus, dass Gott den Gläubigen alles glaubens- und damit heilsrelevante Wissen durch die Heilige Schrift offenbart habe, so dass die Bibel beiden als höchste Autorität für den Glauben galt. Auch Fabricius bezog sich auf die Unterteilung der „Weissagung“, die Luther in seinem Kommentar zum Vers „Hat jemand Weissagung so sei sie dem Glauben ähnlich“ aus Röm 12,7 vorgenommen hatte und betonte, dass alles heilsrelevante Wissen in der Bibel offenbart worden, die Weissagung zukünftiger Dinge in nachapostolischer Zeit damit nicht mehr notwendig zum Erlangen des Heils und daher weder ihre Annahme oder Ablehnung glaubensrelevant sei. Ich sage es aber rund herauß, daß die von Gott eingegebene Visiones, Gesichter und Offenbarungen mit der Apostel Zeit nicht allerdings sich geendiget haben: Sondern daß viel derselbigen, nach dem tödtlichen Hintrit der H. Apostel, in allen seculis anoch zu dieser Zeit ebens so wol sich begeben, als sie vor unser Lebenszeit sich haben zugetragen. Jedoch aber

Teile einzeln VD17 1:062619T und VD17 1:06261P), 2 Bd., 1647 und 1648; Fabricius, Ablehnung (VD17 23:623391X), 1647; Fabricius, Discussio Nugarum Stolterfothicarum (VD17 23:623389B), 1649; Stolterfoht, Nochmalige Widerholung (VD17 1:063024H), 1649. 47 Die gedruckten Stellungsnahmen sind: Samuel Plaster, Entdeckung und Hintertreibung, gegen Stolterfoht (VD 17 7:707360H), 1646; Stolterfoht, „Kurtze Antwordt“ auf Plaster (VD17 1:062625U), 1646; Plaster, Gründliche Gegen-Antwort auf Stolterfoht (VD17 23:623392E), 1646; Tobias Wagner, Theologisches Bedencken gegen Johann Werner (VD17 12:113904E), 1642 und erneuet Wagner, Unvorgreiffliche Propheten-Predigt (VD17 23:632120G), 1648, diesmal gegen Hans Keil. Im Jahr 1648 außerdem Joachim Brockwedel mit seiner Considerationis Stolterfothianae Consideratio gegen Stolterfoht (VD17 23:721440F). Jonathan Strom hat herausgearbeitet, dass Fabricius’ Probatio Visionum nicht nur von Friedrich Breckling, sondern auch von Johann Amos Comenius (1592–1670) in seiner Lux in tenebris von 1657, fol. 2v und Johann Wilhelm Petersen (1649–1727) im Send-Schrei­ben von 1691, § 35 bei der Bewertung von Visionen positiv rezipiert wurde. Augustin Pfeiffer, ein Nachfolger Nicolaus Hunnius im Amt als Lübecker Superintendent dementierte die Probatio Visionum noch im Jahr 1692 in seiner Schrift Anthienthusiasmus, vgl. Strom 2010 (wie Anm. 39), 249–250. 48 Berg 2008 (wie Anm. 6); Strom 2010 (wie Anm. 39) und Gantet 2010 (wie Anm. 3), 259–267.



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muß man diesen meinen Satz, durch falsche Deuteley, nicht dahin verdrehen, als sollte ich statuiren, daß noch heutiges Tages newe Glaubens-Artickul könten und müsten, durch Göttliche Gesichter, auff die Bahn gebracht werden.49

Um seine Position zu legitimieren, zitierte Fabricius Aussagen Martin Luthers, die sich als positive Aussagen über die (gesellschaftliche, innerweltliche) Relevanz von göttlichen Visionen in nachapostolischer Zeit lesen ließen50: Wann aber die Visiones keinen einigen Artickel deß Seeligmachenden Glaubens anfechten: Sondern lassen unsere Christliche Religion in allen ihren puncten und Clausulen gantz unverrückt verbleiben, zielen aber sonst nur auff andere äusserliche dinge, die den Zustand der Kirchen, oder die vorstehende Veränderung des Politischen Regiments, oder das Glück und Unglück der Menschen im gemeinen Leben angehen und betreffen, in solchem Fall konnen sie wol gedultet werden. […] Wo darüber (nemblich über die newe Lehre) etwas weiter geoffenbaret wird, so muß es dem Glauben ähnlich seyn, und muß eine Offenbarung seyn, nach dem Verstand der H. Schrifft. Dann wenn mir auch schon ein Engel würde fürkommen, so wolte ich ihn doch nicht hören, es were denn, daß er mir etwas anzeigete von jrgend einer nötigen Sach im Welt-Regiment. Aber in Geistlichen Glaubenssachen sollen wir nach den Engeln nicht fragen.51

Fabricius hielt folglich, mit Rückgriff auf biblische Zitate, Exempel aus der Kirchengeschichte und Positionen bedeutender vorreformatorischer Kirchenlehrer und Theologen der jüngsten Vergangenheit, wie Martin Luther und Friedrich Balduin, solche göttliche Weissagung für möglich und nützlich, die den äußerlichen Zustand der Kirche und das weltliche Regiment betreffen würde.52 Ausgehend von dieser Position warf Fabricius Stolterfoht vor, jener behaupte, dass

49 Fabricius, Probatio Visionum (wie Anm. 8), 117: „Jedoch aber muß man diesen meinen Satz, durch falsche Deuteley, nicht dahin verdrehen, als sollte ich statuiren, daß noch heutiges Tages newe Glaubens-Artickul könten und müsten, durch Göttliche Gesichter, auff die Bahn gebracht werden. Nein, solche Meinung hat es keines Weges nicht […].“ 50 Zu Luthers Position gegenüber Engeln vgl. stellvertretend Philip M. Soergel, “Luther and the angels,” in Walsham / Marshall 2006 (wie Anm. 1), 65–82; zu Luthers Position zu Träumen vgl. stellvertretend Weiß 2008 (wie Anm. 8). 51 Fabricius, Probatio Visionum (wie Anm. 8), 17–19. Fabricius bezog sich mit dieser Aussage, ohne expliziten Verweis, auf einen Kommentar Luthers zu Gen  22. Zur Rezeption von Luthers Genesis-Vorlesung bei Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke bei der Legitimation von divinatorischen Träumen und „Gesichtern“ vgl. Wallmann 1995 (wie Anm. 9), 243–245. 52 Fabricius, Probatio Visionum (wie Anm. 8), 117: „[…] ich halte es dafür, […] daß, außerhalb der Christlichen Glaubens-Artickel, derer Grund uns in H. Schrifft sattsam gelehret ist, andere solche nützliche Dinge […] geoffenbaret werden, die den eusserlichen Zustand der Christlichen Kirchen, oder jhrer Feinde, wie auch die Policey betreffen […].“

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„durch niemand mehr, als nur durch die ordentliche Prediger, gute und nützliche Weissagungen geschehen: Die übrigen aber, so andere Christen durch ohnmittelbahre erleuchtung Gottes thun, schilt er, ohn unterscheid über einen Hauffen und ins gesampt, fur unnötig, für ungewiß, für gefährlich, und ungereimbt, Ja wol gar für Teufelisch.“53 Hinzu kam, dass Fabricius die Position von Stolterfoht kritisierte, die Heilige Schrift hätte als alleinige Grundlage für jegliche Erkenntnis des göttlichen Willens zu gelten und die Geistlichkeit als exklusive Gruppe zur Verkündigung des göttlichen Willens.54 Fabricius betonte nämlich generell die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit gegenüber der von Gott dem Menschen überantworteten Offenbarung; geschweige denn gegenüber Gottes verborgenem Wesen und Wollen: „Besinne dich auch, O Mensch, wieviel dir selbst noch fehle am Erkäntniß nützlicher Dinge: Es were denn, daß du dich woltest weit klüger, geschickter und gelahrter düncken lassen, als S. Paulus ist gewesen, der es bekennet, daß sein und aller Menschen Wissen in dieser Welt nur Stückwerck sey, und daß die Weissagung auch nur Stückwerk sey.“55 Die menschliche Erkenntnisfähigkeit charakterisierte Fabricius damit als provisorisch und betonte vor diesem Hintergrund um so mehr die Relevanz von gött­lichen „Gesichtern“, denn in diesen gäbe Gott den Fortgang seiner Heilsordnung und sein Urteil über die Gläubigen und Ungläubigen schließlich selbst zu erkennen.56 Hier verbanden sich zwei Argumentationsstränge, die zusammengenommen auf eine umfassende Kritik am Anspruch der orthodoxen Geistlichen auf eine Vorrangstellung bei der Erkenntnis des (geoffenbarten) göttlichen Willens hinaus-

53 Jacob Fabricius, Invicta Probatio Visionum (VD17 23:327916B) (Stettin, 1646), fol. 9v. 54 Damit verbunden wandte Fabricius sich auch gegen den von Stolterfoht erhobenen Exklusivitätsanspruch der Geistlichen als „religiöse Experten“, Fabricius, Probatio Visionum (wie Anm. 8), 67: „Man findet über diß etliche Theologos, welche zu den schon erzehlten Kennzeichen der Göttlichen Visiones noch mit hinzuthun Notitiam videntis insignem eine sonderbare Wissenschafft deß Sehers, die er müsse an sich haben. Und hierauß will von rigidis censoribus erzwungen werden, daß ein solcher Mensch, dem Göttliche Visiones geschehen sind, müsse alle Academische Subtilitäten wissen, und von allen Dingen, darumb er befraget wird, auff solche manier und Weise, auch mit solchen Terminis technicis & phrasibus reden können, als die Hochgelährtesten Disputatores zu reden pflegen. Wo jhm aber an solcher Academischen Redens-Art vnd Kunst etwas fehlet, so schreiet man flugs, derselbige Mensch könne keine Göttliche Offenbarung gehabt haben, dieweil er nicht von allen den Dingen, umb welcher er gefraget wird, subtile Rechenschafft wisse zu geben.“ 55 Fabricius, Probatio Visionum (wie Anm. 8), 72. 56 Laut der Diagnose von Fabricius würden viele Geistliche sich aber die Grenzen der mensch­ lichen Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit gegenüber der göttlichen Offenbarung nicht in Demut vor Augen halten, sondern aus einem falsch verstandenen „Amtseifer“ heraus vorschnell gegenüber den Visionen und den „Sehern“ urteilen, Fabricius, Probatio Visionum (wie Anm. 8), 4–5.



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liefen: Fabricius hielt seinen Gegnern vor, fälschlicherweise davon auszugehen, dass Gott seinen Willen nur vermittels der Heiligen Schrift mitteile. Die daran anschließende Schlussfolgerung, dass Gott nur durch die Bibelauslegung der Geistlichen und nicht auch durch andere Formen und Personen erfahrbar und erkennbar sei, sei daher ebenfalls falsch. Und er betonte, dass alle Menschen in ihrem Versuch, Gottes offenbarten Willen zu erkennen, irren könnten. Für Fabricius war damit sowohl ein Vorrang der Geistlichen in der „Handhabung Gottes“ unzulässig wie auch der damit verbundene Anspruch, ihre Position medial verbreiten zu dürfen, gleichzeitig dies den unmittelbar von Gott berufenen Personen aber verbieten zu können. Fabricius verwies hierzu auf die angeblichen Positionen von Martin Luther und Friedrich Balduin und fasste diese wie folgt zusammen: „Wir zweifeln nicht daran, daß Gott nit solte noch heutiges Tages bißweilen etlichen Leuten solche zukünfftige Dinge offenbaren, die da gehen auff den Zustand der Christlichen Kirchen und deß Weltlichen Regiments, sind dannenher auch nutzlich den Menschen zu verkündigen.“57 Fabricius stellte damit neben die glaubens- und heilsrelevante Schriftauslegung durch die Geistlichen die Weissagung „äußerlicher“, „nützlicher“ Dinge, durch die Gott Einblicke in den Ablauf der irdischen Heilsordnung erlaube. Die Geistlichen waren dadurch nicht alleinige Richter darüber, ob die bestehende weltliche wie geistliche Ordnung mit dem geoffenbarten Willen Gottes übereinstimme, sondern Gott selbst konnte, neben der Heiligen Schrift, aktualisierend durch die Berufung von Visionären sein Urteil über das bestehende Gemeinwesen kommunizieren. Aus dieser theologisch und kirchengeschichtlich argumentierenden Stellungnahme für zeitgenössische göttliche Visionen konnte aus Sicht seiner Gegner aber die Gefahr erwachsen, dass jeder, der sich von Gott berufen sah, postulieren konnte, göttlich-normative Aussagen über politische Entwicklungen zu treffen. Denn in letzter Konsequenz bedeutete die von Fabricius vorgetragene Argumentation, dass Gott durch Visionen differenzierter als in der Heiligen Schrift den bisherigen Verlauf und den Fortgang der Heilsordnung erklären könne, wolle und würde. Durch diese Lesart von „Gesichtern“ wurden die in ihnen verhandelten Ereignisse und Entwicklungen heils-politisch aufgeladen: Die „Gesichter“ stellten dann retrospektive Erklärungen dar, durch die Gott beispielsweise den Ausgang einer Schlacht aufdeckte, oder Gott bot mit ihnen Ausblicke in die von ihm gewollte irdische Zukunft der Gläubigen und Ungläubigen.58 Mit Rückgriff

57 Fabricius, Probatio Visionum (wie Anm. 8), 17–19. 58 Zur politischen Dimension von christlichen Prophetien in der Frühen Neuzeit vgl.  stellvertretend Hans-Jürgen Goertz, „Träume, Offenbarungen und Visionen in der Reformation,“ in Reformation und Revolution: Beiträge zum politischen Wandel und den sozialen Kräften am

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auf Fabricius’ Position konnte den Obrigkeiten die herausfordernde Frage gestellt werden, wie das obrigkeitliche Handeln – beispielsweise der Beitritt zum Prager Frieden oder die Weigerung, die schwedische Armee zu unterstützen – zu rechtfertigen und beizubehalten sei, wenn Gott durch unmittelbar berufenen Propheten zu verkünden schien, dass dieses Verhalten gegen seinen Willen gerichtet sei. Darüber hinaus nannte Fabricius für jedes Jahrhundert Beispiele von göttlich berufenen Prophetinnen und Propheten, darunter auch zeitgenössische Personen und ihre Visionen, die er als von Gott unmittelbar Berufene anerkannte: Für das „jetzt lauffende 17. Seculo“ nannte er Christina Poniatowska, Margaretha Heidewetter, Benigna König, Susanna Rügerin, David von Oppen, Johann Werner und Georg Reichard als von Gott unmittelbar berufene Propheten.59 Nicht zu vernachlässigen ist, dass diese Personen mit Verweis auf die Position von Fabricius ihre Visionen als rechtgläubig darstellen konnten.60 Überblickt man die gesamte

Beginn der Neuzeit, ed. Rainer Postel und Franklin Kopitzsch (Stuttgart 1989), 171–192; Silvia Serena Tschopp, Heilsgeschichtliche Deutungsmuster in der Publizistik des Dreißigjährigen Krieges (Frankfurt a. M. 1991) und ­Schmidt / Weber 2008 (wie Anm. 1), in diesem Kontext vor allem ­Schmidt 2008 (wie Anm. 6), 281. 59 Fabricius, Probatio Visionum (wie Anm. 8), 157–159. Die Unterschiede zwischen dem Auftreten von weiblichen und männlichen Visionären, ihren Botschaften und den Reaktionen auf sie können hier nur oberflächlich angesprochen werden, für eine eingehende Analyse sei auf meine Dissertation verwiesen: Auffallend ist, dass, verbunden mit dem Geschlecht der Visionäre, zwei weitere Aspekte klar zu unterscheiden sind. Erstens bei der „Selbstermächtigung“ im druckmedialen Diskurs. Denn die genannten Visionärinnen veröffentlichten ihre Visionsberichte nicht selbst, sondern diese wurden durch Theologen (darunter Johann Amos Comenius und Jacob Fabricius) herausgegeben. Werner und Reichard, sowie der von Fabricius nicht genannte Hermann von der Hude, traten dagegen mit selbst verantworteten Veröffentlichungen hervor. Zweitens ist auffällig, dass die von den Frauen geschilderten Träume und Visionen sich weitaus weniger auf politische und militärische Ereignisse bezogen, als die der männlichen Visionäre. Mit diesen Distink­tions­merkmalen war verbunden, dass die Theologen die Visionärinnen und Visionäre tendenziell unterschiedlich beurteilten: Beispielsweise fanden die Visionen von Heidewetter und König als von Gott gewirkte Entzückungen beim Generalsuperintendenten von LüneburgCelle Johannes Wetzel im Jahr 1633 Anerkennung, Hermann von der Hude verurteilte er dagegen als „falschen Propheten“, vgl. Wetzel, Christliche Predigt (wie Anm. 32), fol. 5v. 60 Stolterfoht hatte Fabricius 1647 im ersten Teil seiner Warheit- und Ehrenrettung (VD17  1:062619T) vorgeworfen, dass der Visionär Georg Reichard in einer seiner Schriften auf die Probatio Visionum verwiesen hätte. Fabricius erklärte daraufhin, dass man ihn nicht dafür anklagen könne, wenn seine Schriften von anderen Personen „angezogen“ und fälschlich ausgelegt würden vgl. Fabricius, Ablehnung (VD17 23:623391X), 1647, fol. 2v. Fabricius verglich die unautorisierte Nutzung seiner Schrift mit der unautorisierten Nutzung der Bibel: „Dann wer weiß es nicht? das fast alle Kätzer die Bibel commendiren und sich auff dieselbige beruffen? wird aber die Bibel darum zu einem Ketzerbuch […]? Das sey ferne.“ Jürgen Beyer hat gezeigt, dass Schriften über die Visionen Georg Reichards und Johann Werners, sowie weiteren Personen, im skan-



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Debatte, scheint es, dass den politischen und gesellschaftlichen Schlussfolgerungen, die man aus Fabricius’ Aussagen ableiten konnte, eine weitaus höhere Brisanz zugesprochen wurde als seinen theologischen Positionen. Es bleibt also vor allem festzuhalten, dass Stolterfoht und seine Parteigänger bestimmte Personen, darunter Paul Nagel, Hermann von der Hude, Johann Werner und Georg Reichard, nicht als von Gott Berufene und ihre Aussagen nicht als göttliche Urteile über den Status des Gemeinwesens und das Handeln der Obrigkeiten anerkannten, während Fabricius und seine Unterstützer dies bei einigen der genannten Personen taten.61 Fabricius’ Gegner sorgten sich nicht allein um die „reine“ Lehre, sondern auch und vor allem um die Autorität der weltlichen und geistlichen Obrigkeit und die Stabilität der öffentlichen Ordnung.62 Dies kann abschließend besonders an dem Urteil augenfällig werden, das die theologische Fakultät der Universität Wittenberg im Sommer 1643 zu Fabricius’ Probatio Visionum abgab.63 Sie bemängelten insgesamt fünf Punkte, dabei sei das „allerschwerste, daß die Application auff etliche Propheten, so sich bey uns befunden, pag. 158. so wohl auch auff die veränderung jetziger Regimenter in der Christenheit, pag. 168. gemacht wird, und die Propheten nicht auff bescheidenheit oder zur Prob ausgesetzet, sondern unter die exempla authentica angeführet,

dinavischen Raum (Livland) gemeinsam mit Fabricius’ Probatio Visionum vertrieben wurden, um ihnen Autorität zu verleihen, vgl. Beyer 2000 (wie Anm. 43), 299–333. 61 So deutete Fabricius die Visionen von Johann Werner über den Triumph der Lutheraner über Kaiser, spanische Monarchie und Papst unter der Führung eines „Löwen von Mitternachts“ als göttliche Legitimation für das militärische Agieren des schwedischen Königshauses und Heeres im Heiligen Römischen Reich. Zum (Traum-)Motiv des „Löwen von Mitternachts“ im Dreißigjährigen Krieg vgl. Marion Kintzinger, „Trösten, hoffen, rächen: Traumdiskurse im Alltag. Träume und Offenbarungen des Nicolaus Drabicios und ihre Verbreitung durch Johann Amos Comenius,“ in ­Schmidt / Weber 2008 (wie Anm. 1), 285–306 und ­Schmidt 2008 (Anm. 6), vor allem 268–274. Claire Gantet hat treffend geurteilt, dass Fabricius zum „Hauptakteur eines ‚Sakralitätstransfers‘ von Friedrich V. über Gustav Adolf und schließlich zur schwedischen Armee geworden“ war, vgl. Gantet 2010 (wie Anm. 3), 263. 62 Johan Nordström hat schon im Jahr 1936 darauf hingewiesen, dass die Debatte zwischen Stoltefoht und Fabricius weniger durch theologische Unstimmigkeiten und stärker durch ihre „politisch“ motivierten Standpunkte gegenüber den Visionären, wie Johann Warner, und ihren Aussagen über die öffentliche Ordnung geprägt war, vgl. Nordström 2003 (wie Anm. 43), 10. 63 Die Urteile wurden erst zehn Jahre nach Fabricius’ Tod (1654) von der theologischen Fakultät Wittenberg veröffentlicht: Consilia Theologica Witebergensia (VD17 3:610307T) (Nürnberg 1664), 804–806, 807–817. Auf den Seiten 803–804 findet sich auch ein Urteil über Johann Werner und seinen Visionen, datiert auf den 16. Dezember 1635, als Werner noch in Kursachsen als Prophet tätig war. Stolterfoht scheint sich während der Auseinandersetzung mit Fabricius – vergeblich – darum bemüht zu haben, dass die ablehnenden Urteile gegenüber Fabricius’ öffentlich gemacht würden, vgl. Starck, Lubeca Lutherano-Evangelica (wie Anm. 11), 875–876.

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die Vermuthungen auch der künfftigen veränderungen nach dieser Propheten Weissagung auch determiniret werden.“64

4 Zusammenfassung und Ausblick Debatten über das Verhältnis von Gottes Gegenwart im äußerlich vermittelten Schriftwort und durch den im Gläubigen wirkenden Heiligen Geist begleiteten die lutherische Reformation, Theologie und Konfessionskultur seit ihrem Beginn.65 Dieser Beitrag betrachtete exemplarisch eine Kontroverse im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation in den Jahren 1642 bis 1649, in der die beteiligten lutherischen Theologen unterschiedliche Positionen gegenüber der Möglichkeit und Relevanz von Visionen als Offenbarungsformen Gottes vertraten. Dabei debattierten sie auch über die Potentiale, Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Erkenntnis und verschiedene Verfahren der Erkenntnisgewinnung gegenüber diesen göttlichen Offenbarungsformen. In der Kontroverse stritten die Theologen somit letztlich um Offenbarungs- und Erkenntnistheorien sowie um Autoritätszuschreibungen. Gerade bei der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Erkenntnis gegenüber potentiell göttlichen Kom­mu­ni­ka­ tions­formen entwickelten die Theologen Positionen, die einer Individualisierung von divinatorischen Erlebnissen, ebenso wie von Verfahren zu ihrer Bewertung Vorschub leisten konnten. Ihre Kontroverse über „Gesichter“ beförderte nämlich eine Debatte darüber, was für den (gläubigen) Menschen überhaupt wissenswert sei und in welcher Hierarchie „religiöses Wissen“ zu „anderem“ Wissen stand. Für den Lübecker Prediger Jacob Stolterfoht (1600–1668) lag alles glaubens- und heilsrelevante Wissen, das Gott den Menschen überantwortet hatte, im äußerlich vermittelten Schriftwort der Bibel. Ausgehend von dieser Position bestritt Stolterfoht nicht die Möglichkeit, aber die Relevanz von göttlich gewirkten Visionen für den Glauben und das Heil.66 Auch sein Gegner Jacob Fabricius,

64 Consilia Theologica Witebergensia (wie Anm. 64), 806. 65 Johannes Wallmann hat diese Spannung anschaulich charakterisiert, wenn er zwischen einer Sichtweise unterscheidet, die „bei der Objektivität der Gegenwart Gottes in seinem Wort“ ansetzte, und einer Anschauung die „beim Subjekt, beim Glauben“ beginne, Wallmann, Theologie und Frömmigkeit (wie Anm. 9), 220–221. 66 Denn „Gesichter“, von denen man schließen dürfe, dass sie von Gott gewirkt seien, müssten mit der Offenbarung der Heiligen Schrift übereinstimmen, Stolterfoht, Consideratio (wie Anm. 7), 134–135: „Unnd zwar so müssen die sonderliche Befehl, so den Menschen durch die Gesichter zukommen, mit Gottes Wort zustimmen, oder nicht. Geschiehet dieses, daß sie mit GOttes Wort überein kommen, so hat mans je zuvor in Gottes Wort, unnd darff da keiner newen Gesichter.



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Superintendent für Hinterpommern (1593–1654), erklärte ausdrücklich, dass divinatorische „Gesichter“  – anders als die Bibel  – nicht glaubens- und heils­ relevant seien. Aber Fabricius betonte darüber hinaus, dass Gott sich sehr wohl noch durch „Gesichter“ mitteile und zwar um den Menschen Einblicke in „äußerliche“, „nützliche“ Dinge zu geben.67 Fabricius’ Position hatte zur Folge, dass er eine Überprüfung einer potentiellen Vision an Hand der Bibel, der lutherischen Glaubensartikel sowie eine genaue Beobachtung der Person und der Begleitumstände der Visionen für notwendig hielt, um entscheiden zu können, welche Ursachen eine Vision habe. Eine von Gott gewirkte Vision erschien ihm dann als wahrscheinlich, wenn die visionär erhaltene Botschaft, wie auch die berufene Person, in ihren Aussagen und in seiner religiösen Praxis mit der Heiligen Schrift, den Glaubensartikeln und der (lutherischen) Glaubenspraxis übereinstimmten. Zwar vertraute Fabricius dabei bis zu einem bestimmten Punkt auf die Erkenntnis­ fähigkeit des Menschen und erklärte, dass Gott den Menschen dazu aufgefordert habe, sich gegenüber angeblichen Visionen seiner intellektuellen Fähigkeiten zu bedienen, weshalb er eine Systematik zur Überprüfung von Visionen entwickelte. Aber gleichzeitig hielt Fabricius daran fest, dass auf Grundlage solcher Beurteilungsschemata der visionären Inhalte und der Person, die eine Vision erfahren habe, niemals eine eindeutige Verifikation geleistet werden könne, sondern die daraus erhaltenen Resultate lediglich zu Wahrscheinlichkeitsaussagen herangezogen werden konnten. Mit diesem Hinweis auf die Begrenztheit der mensch­ lichen Erkenntnisfähigkeit gegenüber göttlichen Visionen und Offenbarungen und mit der Betonung der Passivität des Menschen und der Aktivität Gottes im Akt der religiösen Erkenntnis steht Fabricius in einer langen, vorreformatorischen Tradition bei der „Unterscheidung der Geister“.68 Er akzeptierte ein Wirken des Heiligen Geistes neben der Heiligen Schrift, forderte gleichzeitig aber dazu auf,

Geschiehet jenes, daß sie mit Gottes Wort nicht zustimmen, so ists vergeblich, […].“ Ähnlich auch das Urteil von Gantet, Traum in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 3), 259. 67 Fabricius, Probatio Visionum (wie Anm. 8), 17–19: „Wann aber die Visiones keinen einigen Artickel deß Seeligmachenden Glaubens anfechten: Sondern lassen unsere Christliche Religion in allen ihren puncten und Clausulen gantz unverrückt verbleiben, zielen aber sonst nur auff andere äusserliche dinge, die den Zustand der Kirchen, oder die vorstehende Veränderung des Politischen Regiments, oder das Glück und Unglück der Menschen im gemeinen Leben angehen und betreffen, in solchem Fall konnen sie wol gedultet werden.“ 68 Wallmann 1995 (wie Anm. 9), 247, hat zwar geurteilt, dass Philipp Jakob Spener „mög­ licherweise als erster in der Kirchengeschichte“ die „Urteilsenthaltung“ gegenüber Visionen und Offenbarung „aus einer tiefen Einsicht in die Grenzen menschlich-religiösen Erkennens“ begründet habe, aber ein solcher Hinweis auf die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis findet sich beispielsweise auch bei Pierre d’Aillys Überlegungen zur „Unterscheidung der Geister“, vgl. Roth 2001 (wie Anm. 32), 56–57.

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dieses potentielle Wirken des Heiligen Geistes mit Hilfe von dem menschlichen Intellekt zugänglichen Operationen möglichst weit zu validieren, zum Beispiel durch Vergleich der visionären Botschaften mit der Heiligen Schrift und den Glaubensartikeln oder durch medizinische und juristische Urteile über die angeblich berufene Person. Letztlich betonte Fabricius dadurch den immer nur provisorischen Charakter der menschlichen Erkenntnis gegenüber Gott, Gottes Willen und dem Verlauf der göttlichen Heilsordnung. Allein aus eigener Anstrengung könne der Mensch Gottes Willen gegenüber den Gläubigen in der diesseitigen Welt eben nicht erkennen, sondern für Fabricius wirkte Gott durch den Heiligen Geist – wie er es in der Bibel und der Geschichte bewiesen sah – immer auch in ausgewählten Menschen, um den Christen in besonders bedrängten Zeiten zu eröffnen, was Gott von ihnen zur Erfüllung des Heilsplanes verlange.69 Und diese Angewiesenheit des gläubigen Menschen auf das Wirken Gottes in der Welt galt – laut Fabricius – auch für die „Unterscheidung der Geister“. Denn zwar reichte für ihn die menschliche Erkenntnisfähigkeit aus, um eine Vision systematisch zu überprüfen und um damit ihre Ursachen wahrscheinlich zu machen. ‚Überzeugend‘ wurde eine Vision aber erst wenn in ihr Gottes Wirken entweder spontan erfahren wurde oder auch bei eingehendster Prüfung die Vision sich nicht allein auf natürliche oder dämonische Ursachen zurückführen ließ, wenn folglich ein Wirken des ‚guten‘ Geistes sowohl in der Botschaft wie auch in der berufenen Person erfahren wurde. Die Argumentation, die Stolterfoht gegenüber Fabricius in Stellung brachte, basierte dagegen darauf, zu erklären, dass angeblich divinatorische Visionen in Relation zum religiösen Wissen der Heiligen Schrift unwichtig seien.70 Daneben betonte er, dass sie sich vor allem auf das Wirken des Teufels zurückführen ließen oder Symptome natürlich verursachter Krankheiten, wie der Melancholie, seien. Um aber entweder den Teufel oder eine Krankheit hinter den angeblich gött­lichen Visionen aufdecken zu können, verlangte Stolterfoht  – ebenso wie Fabricius  – eine genaue Untersuchung der Botschaft und der betroffenen Person. Auf der Verfahrensebene ist den beiden Kontrahenten folglich gemeinsam, dass sie die Verfahren zur Überprüfung von angeblichen „Gesichtern“ in der

69 Zweifellos wurde mit diesem Fabricius’ vorher geäußerter Vorbehalt, Gott offenbare durch „Gesichter“ nur noch „nützliche“ Dinge über den äußerlichen Zustand der Kirchen und des weltlichen Regiments, untergraben: Denn ob man solche divinatorischen Visionen annahm oder ablehnte, entschied zwar nicht über „das“ Heil oder „den“ Glauben, aber immerhin über den Erfolg oder Misserfolg des „wahren“ Glaubens in der diesseitigen Welt. Fabricius hatte somit ein heilsgeschichtlich aufgeladenes Verständnis vom Verlauf der Welt. 70 Und als von Gott zur Schriftauslegung autorisiert galten ihm allein die Geistlichen, als diejenigen Personen, die „im öffentlichen, reinen Evangelischen Lehr- unnd Predigtampt sitzen […].“ Stolterfoht, Consideratio (wie Anm. 7), 320–321.



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Tradition der „Unterscheidung der Geister“ zu systematisieren und auszuweiten versuchten. Dabei stützten sie sich nicht allein auf die Heilige Schrift und die Glaubensartikel, sondern auch auf vorreformatorische und zeitgenössische theologische Lehren von der „Unterscheidung der Geister“, auf die Dämonologie, Medizin und Jurisprudenz. Während Fabricius sich auf diese Verfahren der menschlichen Erkenntnisgewinnung bezog, um gerade herauszustellen, dass nicht jedes Gesicht auf natürliche oder dämonische Ursachen zurückgeführt werden konnte, sondern ein nicht-erkennbarer und nicht-erklärbarer, wundersamer „Rest“ das Wirken Gottes erkennen ließ, versuchte Stolterfoht mit Rückgriff auf diese Verfahren alles Übernatürliche auszuschließen. Stolterfoht war an einer solchen Überprüfung also vor allem interessiert, um die für die Glaubensgemeinschaft alleinig gültige Autorität der Heiligen Schrift als offenbartes Wissen über Gott und die Autorität der Geistlichen als die Interpreten dieses Wissens herauszustellen.71 Fabricius wiederum akzeptierte die von Stolterfoht vorgenommene Engführung auf die Bibel und das Predigtamt als exklusive Wege, in denen Gott sich gegenüber der Menschheit offenbare und in denen dem Menschen Gottes Wille eindeutig erkennbar sei, nicht. Er griff dieses Konzept vor allem an, indem er die intellektuelle, akademische Schriftgelehrsamkeit als alleinige und verlässliche Form der (Gottes-)Erkenntnis relativierte. Denn Fabricius suchte das Wirken des Heiligen Geistes nicht allein in der Bibel, sondern sowohl in den visionären Aussagen, als auch in der Person des Visionärs; man könnte auch sagen im schriftlich fixierten Gotteswort der Bibel ebenso wie im Wort, das Gott im Gläubigen zu sprechen schien, und im daraus erwachsenden Glauben und Lebenswandel. Das Wirken Gottes durch Gesichter musste für ihn von Seiten der berufenen Person außerdem nicht intellektuell durchdrungen sein, sondern vor allem auf intuitiv und innerlich erfahrener Glaubensüberzeugung basieren, die sich eben in Frömmigkeit und Lebenswandel sichtbar äußerte. Auch wenn ihm diese Kommunikation Gottes mit der Welt zwar nicht als unmittelbar heils- und glaubensrelevant galt, so verstand er sich doch auch nicht nur als tröstendes und stärkendes Eingreifen Gottes im Leben einzelner Gläubiger, sondern als göttliche Handlungsaufforderung an menschliche Gemeinschaften.

71 Stolterfoht, Consideratio (wie Anm. 7), 173: „Also, will es jemand glauben, was von den sonderlichen Gesichtern, und Offenbarungen außgesprenget wird, er gleube immer hin: Wil es aber jemand nicht glauben, sondern verbleibet nur fein in seiner Einfalt, unnd gleubet dem, was uns in Gottes Wort kund gethan ist, er thut daran auch keine Sünde, unnd wird keines weges zu verdammen seyn, sondern gehet viel mehr sicherer, als jener.“

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Die Gegner von Fabricius haben diesen Hinweis auf die gesellschaftliche Bedeutung von angeblich göttlichen Gesichtern besonders kritisiert. Als Fabri­ cius für die Visionen des zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges auftretenden Bauern Johann Werner über die Rettung der Lutheraner durch die schwedische Krone und das schwedische Heer, gesamtgesellschaftliche Relevanz beanspruchte, hielten sie ihm vor allem vor, wie er einerseits die gesellschaftliche Relevanz dieser Visionen behaupten könne, wo er sie andererseits doch als ein Wirken Gottes im einzelnen Menschen darstellen würde. Auf das frühneuzeit­ liche Nebeneinander von „religiöser Introspektion“ durch divinatorische Träume und ähnliche Phänomene in der Sorge um das persönliche Seelenheil einerseits und ihre gleichzeitige Einbettung in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge andererseits, „im Sinne einer handlungsorientierenden sowie legitimierenden Deutungsleistung kultureller und politischer Phänomene“, haben bereits Peer ­Schmidt und Gregor Weber hingewiesen.72 Und so ließ sich auch hier zeigen, dass Stolterfoht die gesellschaftliche Relevanz von angeblich göttlichen Visionen vehement bestritt und solche Erfahrungen allenfalls als sehr selten auftretende, individuelle Gnadengaben Gottes verstanden wissen wollte, während Fabricius die gesellschaftliche Relevanz göttlicher Visionen betonte. Festzuhalten bleibt aber über diesem Nebeneinander von auf das Individuum oder die Gesellschaft abzielenden Interpretationen, dass die von Stolterfoht und Fabricius favorisierten Verfahren zur Überprüfung potentiell göttlicher Visionen identisch waren. Beide betonten die Notwendigkeit auf den jeweiligen Fall ganzheitlich und individuell eingehender Untersuchungen und versuchten gleichzeitig dieses Vorgehen durch Systematiken zu vereinheitlichen. Mit einem ähnlichen Verfahren intendierten sie entweder die Bedeutung von divinatorischen Gesichtern für das Zusammenleben der Menschen herauszustellen oder zu wiederlegen. In diesem Modus des Prüfens könnte aber eine Antwort auf die Frage liegen, wie im Konflikt über Offenbarungs- und Erkenntnistheorien und Autoritätszuschreibungen divinatorische Offenbarungen ihre gesellschaftliche Relevanz verloren und vermehrt als Ausdruck individueller Frömmigkeit galten: Im Versuch, das eigene Urteil möglichst vielseitig und kompetitiv abzusichern und die Erklärung als göttliche Einflussnahme möglichst weit wegzuschieben, wurde möglicherweise, ohne dass es intendiert war, die Vorrangstellung religiöser Wissensbestände und der Expertenstatus kirchlicher Amtsträger bei der Bewertung von „Gesichtern“ und damit generell in der Beurteilung innerweltlicher, politisch und gesellschaftlich relevanter Ereignisse untergraben.

72 ­Schmidt / Weber 2008 (wie Anm. 3), 13.

Teil 3: Gott handhaben – männlich oder weiblich

Rachel Stone

Beyond David and Solomon: Biblical models for Carolingian laymen In 796 AD, Theodulf of Orléans wrote a verse-epistle to the Frankish king Charlemagne, which included the extravagant praise: “Your name recalls your grandfather, your noble understanding Solomon’s, your strength reminds us of David and your beauty is Joseph’s own.”1 Theodulf’s Latin verses are elegiac couplets2, and his poem included classical references, but his points of comparison are to Biblical figures, specifically Biblical men. Such a comparison is one obvious route to making God manageable; modelling oneself on those in the past who had privileged access to Him, while also avoiding the sins of those whom God has directly punished. This uses of Biblical models is already visible within the Bible itself. The Epistle to the Hebrews lauds a row of Israelite figures for their faith3, while the fate of Sodom is remembered as an awful warning in both the Old and New Testaments. Yet the sins for which the Sodomites perished were understood differently in different books of the Bible.4 While Biblical models are in theory eternal, their handling (and the handling of God this involves) is very historically specific. Which figures are chosen and why they are chosen says much about societies and their outlook. The three Biblical figures to whom Theodulf compared Charlemagne were David, Solomon, and Joseph. Scholars have often discussed the importance of Davidic and Solomonic kingship as models for Carolingian kings, but those were not the only models and images presented to either kings or noble laymen.5 Arch-

1 Theodulf, Ad Carolum regem, ed. Ernst Dümmler, MGH Poet. I (Berlin 1881), Carmen 25, 484, vv. 29–30: “Nomine reddis avum, Salomonem stemmate sensus, / Viribus et David, sive Ioseph specie.” Translation and discussion in Peter Godman, Poetry of the Carolingian Renaissance (London 1985), 11–13, 150–163. 2 Charles Witke, Latin satire: The Structure of Persuasion (Leiden 1970), 171–172. 3 Hebr 11,1–40. (English quotations from the Bible are taken from the Authorised Version). 4 Compare Ez 16,49: “Behold, this was the iniquity of thy sister Sodom, pride, fullness of bread, and abundance of idleness was in her and in her daughters, neither did she strengthen the hand of the poor and needy” and Jud 1,7: “Even as Sodom and Gomorrah, and the cities about them in like manner, giving themselves over to fornication, and going after strange flesh, are set forth for an example, suffering the vengeance of eternal fire.” 5 See e.g. Aryeh Graboïs, “Un mythe fondamental de l’histoire de France au Moyen Age: Le ‘roi David’ précurseur du ‘roi très chrétien’,” Revue historique 287 (1992), 11–31; Mary Garrison, “The Franks as the New Israel? Education for an identity from Pippin to Charlemagne,” in The Uses of

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bishop Hincmar of Rheims wrote an ordo (order of service) for the coronation of Louis the Stammerer as King of West Francia in 878. The prayer during the anointing remembers how God had brought triumph and peace to Abraham, Moses, Joshua, David and Solomon.6 In this chapter I want to look briefly at some of the other figures whom Carolingian reformers suggested as inspiration for laymen. Exploring their selection of models provides us with a way into the thought world of the period and demonstrates how difficult ninth-century Franks actually found using the Bible was. What was once called the Carolingian Renaissance is now more often seen primarily as a reform movement, an attempt to correct both church institutions and the lives of Christians in the Frankish empire.7 It was an ambitious plan, as Carine van Rhijn and Steffan Patzold discuss, seeking to reach from the ruler himself down to the level of rural parishes8; men and women, free and unfree, laypeople, clerics and monks were all expected to change their behaviour in order to ensure God’s favour on society. The key to this behavioural change was education; everyone needed to know what God’s will was, so that they could then fulfil it. At the parish level this meant ensuring a basic knowledge of faith by all, both the priest and his flock. This was a period in which it could not yet be presumed that priests knew more Latin than the laity. For the lay elite of the empire, meanwhile, the men and women who helped to control and run local societies, reform also involved encouraging Biblical

the Past in the Early Middle Ages, ed. Yitzhak Hen und Matthew Innes (Cambridge 2000), 114–161; Paul J. E. Kershaw, Peaceful Kings: Peace, Power and the Early Medieval Political Imagination (Oxford 2011). 6 Hincmar of Rheims, Ordinatio coronatis Hludowici Balbi, in Capitularia regum Francorum, ed. Alfred Boretius and Victor Krause, MGH Leges nat. Germ., Sectio II, 2 vols. (Hanover 1883–1897), no. 304, II, 461: “Omnipotens sempiterne Deus, creator et gubernator coeli et terrae, conditor et dispositor angelorum et hominum, qui Abraham famulum tuum de hostibus triumphare fecisti, Moysi et Iosue populo tuo praelatis multiplicem victoriam tribuisti, humilem quoque David puerum tuum regni fastigio sublimasti eum que de ore leonis et de manu bestiae atque Goliae, sed et de gladio maligno Saul et omnium inimicorum eius liberasti et Salomonem sapientiae pacisque ineffabili munere ditasti”. On Hincmar, see Rachel Stone und Charles West ed., Hincmar of Rheims: Life and Work (Manchester 2015). 7 For an overview, see Giles Brown, “Introduction: the Carolingian Renaissance,” in Carolingian Culture: Emulation and Innovation, ed. Rosamond McKitterick (Cambridge 1994), 1–51. For discussions of the role of the Bible in Carolingian culture, see John J. Contreni, “Carolingian Biblical Studies,” in Carolingian Essays, ed. Uta-Renate Blumenthal (Washington, DC 1983), 71–98; Wilfried Hartmann, “Die karolingische Reform und die Bibel,” Annuarium Historiae Conciliorum 18 (1986), 58–74; Celia Chazelle und Burton Van Name Edwards ed., The Study of the Bible in the Carolingian Era, Medieval Church Studies 3 (Turnhout 2003). 8 See Chapter 2 of this book.



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learning. We have several texts called lay mirrors from the period: handbooks addressed to individual lay noblemen giving them moral instruction.9 One of their demands was that their recipients should read or have read to them the Bible, or at least extracts from it.10 Nor was such instruction just a pious wish; we have evidence of at least some well-educated lay men and women, people who have even been described as lay intellectuals.11 One of these lay mirrors was actually written by a laywoman: Dhuoda, married to a man who had been one of Louis the Pious’ most prominent courtiers. Dhuoda’s handbook shows a deep knowledge of the Bible; it is permeated by Biblical quotations and examples. Pierre Riché, who edited the text, listed over 600 different Biblical passages cited.12 Dhuoda, discussing her “quest for God”, describes herself as a “female puppy”, eating up the crumbs from under her master’s table.13 Her reference to the Gospel story of the Syrophoenician woman is

9 On the lay mirrors, see Franz Sedlmeier, Die laienparänetischen Schriften der Karolingerzeit: Untersuchungen zu ausgewählten Texten des Paulinus von Aquileia, Alkuins, Jonas von Orleans, Dhuodas und Hinkmars von Reims, Deutsche Hochschuledition, 86 (Neuried 2000); Rachel Stone, Morality and Masculinity in the Carolingian Empire, Cambridge Studies in Medieval Life and Thought, 4th Series, 81, (Cambridge 2012), 1–2, 36–42. The four main lay mirrors are Alcuin, De virtutibus et vitiis liber, PL 101, col. 613–638; Paulinus of Aquileia, Liber exhortationis, PL 99, col. 197–282; Jonas of Orléans, De institutione laicali, (DIL), PL 106, 101–278 and also partially edited (Books 1–2.16) in Odile Dubreucq, ed., Instruction des laïcs, Tome 1, Sources chrétiennes, 549 (Paris 2012); Dhuoda, Liber manualis (LM), edited in Pierre Riché ed., Manuel pour mon fils, Sources chrétiennes, 225 (Paris 1975) and also in Marcelle Thiébaux ed., Handbook for her warrior son: Liber manualis, Cambridge Medieval Classics, 8 (Cambridge 1998). I give the page numbers for Thiébaux’s edition. 10 Alcuin, De virtutibus et vitiis liber, c. 5, PL 101, cols 616–617 is entitled “De lectionis studio”; Paulinus of Aquileia, Liber exhortationis, c. 9, PL 99, col. 205 commends the reading of scripture. Cf. Jonas of Orléans, DIL, Preface, 124: “utile dignumque iudicatum est in hoc negotio tuae beniuolae petitioni adsensum praebere, et sententias, ut dictum est, Veteris, Nouique Testamenti, et sanctorum Patrum dicta excerpere”. 11 See Patrick Wormald and Janet L. Nelson ed., Lay Intellectuals in the Carolingian World (Cambridge 2007). On lay ownership of Biblical texts and access to exegesis, see Pierre Riché, “Les bibliothèques de trois aristocrates laïcs carolingiens,” Le moyen âge 4e Sèrie, 18 (1963), 87–104; Rosamond McKitterick, The Carolingians and the written word (Cambridge 1989), 252–270. 12 Riché 1975 (cf. n. 9), 375–382. 13 Dhuoda, LM 1–2, 60: “Nam solet fieri ut aliquotiens importuna catula, sub mensa domini sui, inter catulos alteros, micas cadentes valeat carpere et mandere.” On Dhuoda’s approach to using Scripture, see Marie Anne Mayeski, “A Mother’s Psalter: Psalms in the Moral Instruction of Dhuoda of Septimania,” in The Place of the Psalms in the Intellectual Culture of the Middle Ages, ed. Nancy Van Deusen (Albany, N. Y. 1999), 139–151; on Dhuoda’s claim to maternal authority, see Janet L. Nelson, “Dhuoda”, in Lay Intellectuals in the Carolingian World, ed. Patrick Wormald und Janet L. Nelson (Cambridge 2007), 106–120 at 109–112.

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part of her own authorisation for writing.14 The Bible was not and could not be a book for men only, even if the Carolingian moral texts we possess are overwhel­ mingly addressed to a male audience. So who specifically were elite laymen being advised to emulate? In a few cases we have explicit statements about appropriate models. Jonas of Orléans wrote two versions of his lay mirror De institutione laicali15; in the second version, written around 828, he added an extra section to his lengthy discussion of marriage, which stated: “The life of good spouses is symbolised by Job”.16 Jonas goes on to cite a theory, first developed by Origen with reference to verses from Ezekiel, according to which Job symbolises the married laity, Noah the “order of those placed over [the church]” and Daniel the celibate religious.17 These three “orders of the faithful” together comprise the church.18 Almost forty years later, Christian of Stavelot, in a commentary on the story of the rich young ruler in the gospel of Matthew also discusses models for the different groups within the church, saying: All have Christ as an example, and his apostles, who ought to be imitated. But laity have Nicodemus, Gamaliel and Joseph [of Arimathea], and if they are more powerful, they can find in divine scriptures him whom is to be imitated, both in worldly power and in gentleness and the humility of Christ. Behold, let me propose to you the rich and poor man of God; take an example from him and do just as he himself did. Let us see how Job was just, who never heard the law in writing, and yet held worldly power, and kept the document of the gospel, bringing work forth many years later.19

14 Mt 15,21–28; Mk 7,26–29. 15 On the two versions see Dubreucq 2012, “Introduction,” (cf. n. 9), 33–114 at 88–104. 16 Jonas, DIL 2–1, 314: “Et quod bonorum coniugatorum uita per Iob sit significat”. 17 Jonas, DIL 2–1, 326: “Et cum per Noe praepositorum ordo, per Danihelem abstinentum, per Iob quoque bonorum coniugum uita signatur”. The original inspiration for Jonas was Origen, Homilia in Ezekiel IV, 1, discussing Ez 14,13–14 and Ez 14,19–20. 18 Jonas, DIL 2–1, 326: “tres sunt in Ecclesia ordines fidelium, doctorum, abstinentum et coniugatorum.” 19 Christian of Stavelot, Expositio in Matthaeum evangelistam, c. 43, PL 106, col. 1261–1504 at col. 1420 (discussing Mt 13,16–27): “Omnes tamen habent Christum in exemplum, et apostolos ejus quos imitari debent. Laici autem habent Nicodemum, Gamaliel, Joseph, et si potentiores sunt possunt in Scripturis divinis invenire quem imitentur et in potentia saeculari, et in mansuetudine, et humilitate Christi. Ecce proponam vobis divitem et pauperem Dei: ab ipso capite exemplum et facite sicut ipse fecit. Videamus Job quomodo justus fuerit, qui legem litterae nunquam audierat, et tamen potentiam saeculi tenebat, et Evangelii documenta postea multo tempore prolata opere custodiebat.” On Christian, see M. L. W. Laistner, “A Ninth-Century Commentator on the Gospel According to Matthew,” Harvard Theological Review 20 (1927), 129–49; R. B. C. Huygens, “À propos de Christian dit de Stavelot et son explication de I’évangile selon Matthieu,” Sacris Erudiri 44 (2005), 247–73.



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More frequently, however, we have only indirect evidence for the models seen as particularly suitable for laymen. Sedulius Scottus, for example, wrote a poem of praise for Eberhard of Friuli: not Hector nor mighty Achilles can rival Eberhard, and none but Gideon, perhaps can match him. Eberhard is a lover of goodness and tranquil peace, a valorous lord, and a glittering star on earth; like Jacob, he ascends a ladder with wings of justice, his strong right hand dispensing splendid gifts.20

Such Biblical references appear in almost every genre of Carolingian literature, as well as less literary sources. Not surprisingly, Biblical models are common in pastoral works. For example, a late ninth-century sermon attributed to St Eligius and probably preached to a mixed clerical and lay audience explained the importance of doing penance; it uses the examples of the Israelite kings David and Manasseh, as well as the harlot who washed Jesus’ feet with her tears.21 Biblical figures also appear frequently in Carolingian political propaganda. When Bishop Agobard of Lyon in 833 wanted to provide a justification for Louis the Pious’ sons deposing him, he wrote two polemical works, which are now jointly known as the Liber Apologeticus. The text of the second of these works provided awful warnings about Biblical figures who had listened to the bad advice of their wicked wives. Agobard carefully claims that he is not comparing Louis to “such wicked and unfaithful kings”, but his moral message is still clear.22 Wilfried Hartmann has shown how Carolingian legislation, both secular and ecclesiastical, also became filled with Biblical quotations from 789 onwards.23 20 Sedulius Scottus, Ad Everhardum Comitem, ed. Ludwig Traube, MGH Poet. III (Berlin 1896), Carmen 67, 221, vv. 17–22: “Non hunc aequiperat Hector, non magnus Achilles, / Forsan eum Gedeon assimulare potest. / Est bonitatis amans; placidae fit pacis amator / Hic dux bellipotens, sidus in orbe micat: / Iustitiae pennis per scalam scandit Iacob / Nec mancus dextra splendida dona serit.” Translation from Edward Gerard Doyle, On Christian Rulers and the Poems, Medieval and Renaissance Texts and Studies 17 (Binghamton, NY 1983), 162. 21 Pseudo-Eligius, Homilia 15, PL 87, col. 648–649 (on 2 Sam 11,1–12,23; 2 Chr 33,1–13; Lk 7,37–50). On the collection and its date see James C. McCune, “Rethinking the Pseudo-Eligius Sermon Collection,” Early Medieval Europe 16 (2008), 445–76. 22 Agobard, Liber apologeticus, ed. L. Van Acker, in Agobard Lugdunensis opera omnia, CCCM 52 (Turnhout 1981), II, 7, 319: “Neque ullo modo hec idcirco dicimus, ut domnum quondam nostrum imperatorum impiis et infidelibus regibus compararemus.” The Biblical figures used in Liber Apologeticus II are Ahab and Jezebel, Samson and Delilah and Nebuchadnezzar. On this text, see Mayke de Jong, The Penitential State: Authority and Atonement in the Age of Louis the Pious, 814–840 (Cambridge 2009), 229–231. 23 Hartmann 1986 (cf. n. 7).

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Documentary texts, too, sometimes feature Biblical models. A late ninth-century charter from the church of Brioude in the Auvergne, includes a fearsome penalty clause. If anyone opposes the donation made: “let him incur the wrath of God and the offence of the saints, and may he spend eternal ages in hell with the accursed men Dathan, Abiron and Judas.”24 While Judas is an obvious figure of doom, Dathan and Abiron appear only in the Book of Numbers, where they are swallowed up by the earth for opposing Moses and Aaron.25 Were their names’ inclusion in the charter simply a flight of fancy by the scribe?26 Or was there a hope that such Biblical references would contribute to a wider cultural knowledge on the part of the donating couple and their supporters, part of a project that placed all aspects of life within a network of Biblical models, both positive and negative? The sheer quantity of Biblical references, rather than any individual one, is what is most noticeable in Carolingian texts; John Contreni has talked of “the creation of the first Biblical culture in Europe.”27 But what patterns are visible in these constant references, and can the selection of models tell us anything about Carolingian society? An obvious point, first of all, is that the choice of Biblical models is almost always gendered: women predominantly get female models and men male ones. Several texts by Hincmar are particularly revealing in this respect. His coronation ordo for Louis the Stammerer in 878 included only male figures. In 866 Hincmar had previously composed an ordo for the coronation of Queen Ermintrude, wife of Charles the Bald; a prayer in this requested that Ermintrude “might marry faithfully and chastely in Christ and remain an imitator of holy women”.28 Specifically,

24 Henri Doniol ed., Cartulaire de Brioude: Liber de honoribus Sto Juliano Collatis (Clermont-Ferrand 1863), 218, no. 207 from 892–893: “potiusque quam hoc fecerit iram Dei omnipotentis sanctorumque offensam incurrat, & cum maledictis hominibus Dathan, Abiron, Juda in infernis aeterna secula consumat”. 25 Num 16. 26 The Marculfi Formulae, ed. Karl Zeumer, MGH Formulae (Hanover 1886) include a formula (II, I, 73) penalty containing Dathan, Abiron and Gehazi (2 Kön 5,20–27); another formula from manuscript Leiden BPL 114 (edited as Formulae Bituricenses 9, MGH Formulae, 172) refers only to Dathan and Abiron. On the Bourges “collection”, see Alice Rio, Legal Practice and the Written Word in the Early Middle Ages: Frankish Formulae, c. 500–1000, Cambridge Studies in Medieval Life and Thought, 4th series, 75 (Cambridge 2009), 61, 111–112. 27 John J. Contreni, “Carolingian Biblical culture,” in Iohannes Scottus Eriugena: The Bible and Hermeneutics, ed. Gerd Van Riel, Carlos Steel, und James McEvoy, Ancient and Medieval Philosophy, De Wulf-Mansion Centre, Series 1, 20 (Leuven 1996), 1–23, at 14. 28 Hincmar of Rheims, Coronatio Hermintrudis reginae, MGH Capit. II, no. 301, II, 454: “Fidelis et casta nubat in Christo imitatrixque sanctarum permaneat feminarum.”



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she should be “lovely as Rachel to her husband, wise as Rebecca, long-lived and faithful as Sarah.”29 When Hincmar urged men to repentance, he frequently uses the Biblical examples of the apostle Peter after his denial of Christ and King David after his killing of Uriah.30 In contrast, when he addressed a nun, Duda, who was guilty of rebellion and unchastity, Hincmar informed her that in her penance she should imitate the prostitute who watered Jesus’ feet with her tears.31 She should also remember the example of Hannah, who obtained what she asked for from God, because, after crying, she persevered in strength of mind.32 There is no mention of either Peter or David, even though their situation was more analogous to Duda than Hannah’s tears, which were of distress rather than repentance. Yet among such comparison of women to Biblical women, there is one obvious exception: all women, just like all men, were supposed to be imitators of Jesus. Laymen, however, are rarely reminded of female Biblical figures, apart from in discussions about their expected behaviour to their wives. In Dhuoda’s handbook for her son William, for example, only three specific women from the Bible are mentioned, as opposed to more than forty named Biblical men. These three are St Peter’s mother-in-law (used as an example of God’s healing), Rebecca (whose brothers pray that she may be a “mother to thousands of thousands”) and Susanna (as an example of those who call to God for help when in distress).33 Dhuoda also explicitly encourages William to manly behaviour, but her words suggest some unexpected implications. She tells William: About this combat with the serpent, the blessed Peter tells us to resist the serpent manfully. He says: ‘Be vigilant, because your adversary the Devil roars like a lion that looks around him to see whom he can devour. Oppose him, strong in the faith!’ [1 Petr 5,8–9]. My son, you must be vigilant and battle manfully by performing good works.34

29 Hincmar (cf. n. 28), 455: “Sit amabilis ut Rachel viro, sapiens ut Rebecca, longaeva et fidelis ut Sarra.” 30 Mt  26,69–75; Mk  14,66–72; Lk  22,56–62; Joh  18,17–27; 2 Sam  11,1–12,23. See e.g. Hincmar of Rheims, De divortio Lotharii regis et Theutbergae reginae, ed. Letha Böhringer, MGH Concilia 4, Supplementum 1 (Hanover 1992), Responsio 6, 156; Hincmar of Rheims, Vita Remigii episcopi remensis, ed. Bruno Krusch, MGH SRM 3, (Hanover 1896), 239–341 at c. 16, 306. 31 Council of Douzy, 874, in Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 860–874, ed. Wilfried Hartmann, MGH Concilia 4 (Hanover 1998), no. 13B, 587–596 at c. 7, 593 inference to Lk 7,37–50. 32 Ebd., 594: “et assidue illi in memoria maneat, quod sancta femina Anna ideo obtinere meruit quod poposcit, quia se post lacrymas in eodem mentis vigore servavit.” The reference is to 1 Sam 1,1–20. 33 Dhuoda, LM 5–8, 178; 9–4, 214; 5–7, 176. 34 Dhuoda, LM 4–5, 140: “Beatus namque Petrus de hac serpentis pugnatione ut resistamus viriliter nos admonet dicens: ‘Vigilate quia adversarius vester diabolus tanquam leo rugiens circuit

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Behaving manfully (viriliter) is therefore a duty for “us”, a duty that Dhuoda shares with her son, and the required course of action – performing good works – is one that is implicitly available both to men and women. The examples of holy men that Dhuoda urges William to imitate are also not necessarily noted for the supposedly male virtues of physical prowess or autonomy. She cites Jacob as an example of how William should “struggle manfully”, but she also says that Jacob deserved to be saved “through love and obedience to his father.”35 Dhuoda in the same chapter praises Joseph: “Beautiful of face, more beautiful of mind, beautiful in his bearing, more beautiful in his intelligence: chaste in body, humble of heart”.36 Joseph protected his chastity, so Dhuoda says, “by withdrawing and running away” from Potiphar’s wife.37 Carolingian ideals of manliness, therefore, do not necessarily have the connotations we might expect. Job, as I have already mentioned, is frequently seen as an exemplar for married laymen in Carolingian texts. Yet in the Old Testament, he has a largely passive role, that of accepting suffering. The only time Job is described as behaving manfully in the Bible is during his encounters with God at the end of the book. He is twice told by God “Gird up now thy loins like a man,” but only so that he may be reminded of his total inferiority compared to God.38 Any simplistic view of manliness as being solely about strength and power cannot easily survive an encounter with a Bible that reminds its hearers of the frailty of all humans, and of Jesus’ deliberate choice to renounce power by becoming a man.39 Thus, although Biblical role-models for Carolingian laymen are male, they do not necessarily share the ideals of manliness that we might expect nowadays. Another characteristic of these male role models is that they are taken more often from the Old Testament than from the New. Excluding Jesus, the five Biblical figures to whom Dhuoda refers most frequently are Abraham, Jacob, David, Isaac and Joseph. There are some obvious reasons for such an Old Testament emphasis; it is a much longer work than the New Testament, so there are simply more people to refer to. In addition, Biblical exegesis had already established the prin-

quaerens quem transvoret: cui resistite fortes in fide.’ Vigilandum est tibi, fili, et cum exsecutione operis boni viriliter certandum”. 35 Dhuoda, LM 3–3, 90: “Sicque Iacob diligendo et obediendo patrem de multis tribulationis et pressurarum angustiis ereptus esse meruit […] et si tunc in illo, ita tu pugna, pete et pulsa, atque in omnibus viriliter certa”. 36 Dhuoda LM, 3–3, 90: “Pulcher in facie, pulchrior in mente, pulcher in forma, pulchrior in sensu, castus in corpore, humilis in corde”. 37 Dhuoda LM, 3–3, 90: “se cavens atque elongatus fugiens”. 38 Ijob 38,3; 40,7: “accinge sicut vir lumbos tuos”. 39 Phil 2,5–8.



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ciple of typology: the Old Testament as prefiguring both events in the life of Jesus and ones in later history. Readers of the Old Testament were therefore already sensitised to parallels to their own times. I would also argue that in some ways Carolingian authors found the social structures of Iron-Age Israel more congenial to them than those of first-century Palestine. First of all, the only good kings of the Bible are to be found in the Old Testament, which celebrates at least some kings of Israel. Carolingian reformers aiming to create a Christian kingdom in this world, rather than the next, by necessity had to look to such models.40 The Old Testament also provided concrete examples of how judges and courtiers should act.41 The New Testament, in contrast, offers few positive role models for those in positions of authority, with its emphasis on the socially humble and the imminent end of this world. In particular the New Testament was hard to relate to the militarised laymen of post-Roman Europe. Almost the only advice it gives to soldiers is John the Baptist’s instructions to them: “Rob no one by violence or by false accusation, and be content with your wages.”42 In late antiquity, such statements still had resonance. Around 534 AD, Fulgentius Ferrandus of Carthage wrote a treatise for Count Reginus, who had probably just been appointed to administer the newly-reconquered North African provinces.43 Ferrandus devoted an entire section of his letter to an elaboration of John the Baptist’s statement.44 By the time of the Carolingians, however, such paid professional armies no longer existed. Israelite kings as leaders of war bands were more directly translatable images. Dhuoda’s comments to William about sons, which I have already highlighted, show another significant advantage of the Old Testament for Carolingian authors; it was far more positive about families than the New Testament was. The anti-familial aspect of Christianity had its roots in the words of Jesus himself: “if any man come to me, and hate not his father, and mother, and wife, and children, and brethren and sisters, yea, and his own life also, he cannot be my disciple.”45 Such views were taken up by late antique ascetics and achieved considerable

40 Hartmann 1986 (cf. n. 7) at 73. 41 Daniel’s conduct in the case of Suzanna, for example [Dan  13], influenced ideas on legal process, see e.g. Hincmar, De divortio, Responsio 5, 21, 145–146, 226; Dhuoda’s chapters on giving counsel to kings (LM 3–5–3–7, 96–104) cite a number of examples of good and bad Old Testament counsellors. 42 Lk 3,14. 43 Fulgentius Ferrandus, Ad Reginum comitem paraeneticus, PL 67, col. 928–950; Kate Cooper, The fall of the Roman household (Cambridge 2007), 31–37. 44 Fulgentius Ferrandus, Ad Reginum comitem, c. 6, col. 933–935. 45 Lk 14,26.

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influence.46 However, while Carolingian reformers retained an assumption that celibacy was superior to the married life, they took care to promote a positive ideology of marriage, for which the Old Testament patriarchs provided important exemplars.47 Yet Carolingian use of both the Old and New Testaments also encountered difficulties with the social structures they found in there. There were considera­ ble problems in matching up some social categories with their supposed Biblical precedents. In particular, the very concept of a layman was unknown to Biblical thought. There is only one use of the term laicus in the whole text of the Vulgate: in 1 Samuel, Ahimelech the priest tells David that he has no lay bread (panes laicos) to give to him and his followers, but only holy bread (panem sanctum).48 There is a paradox here: the most prominent interpreters of the Bible in the Carolingian period were celibate clerics and monks, but the vast majority of the men whom the Bible holds up as role models were neither. Even those who were priests were also married men. Carolingian authors arguing for the need for fathers to control their sons turned most often to the figure of an Old Testament priest, Eli, to show the disaster that paternal weakness could bring.49 The Carolingian reform movement might want the whole of society neatly divided into ordines, with suitable rules of conduct and models for each group, but this did not fit neatly with the more general use of Biblical figures to exemplify individual virtues and vices. Noah was not a priest, but Jonas, adapting Ezekiel, shows him as the symbol of priesthood. Dhuoda, however, uses not only Job as a model for her son, but also Noah, praising him for his “chastity” in marriage.50

46 Elizabeth A. Clark, “Antifamilial Tendencies in Ancient Christianity,” Journal of the History of Sexuality 5 (1995), 356–380. 47 On Carolingian attitudes towards marriage, see Pierre Toubert, “La théorie du mariage chez les moralistes carolingiens,” Il Matrimonio nella società altomedievale, 22–28 Apr 1976, Settimane 24 (Spoleto 1977), I, 233–85; Pierre Toubert, “The Carolingian Moment (Eighth-Tenth Century),” in A History of the Family. Volume 1: Distant Worlds, Ancient Worlds, ed. Andre Burguière et al. (Cambridge 1996), 379–406; Stone 2012 (cf. n. 9), 257–278. 48 1 Sam  21,4. This passage became important to arguments for the need for early medieval priests to be celibate: see e.g. Radulf of Bourges, Capitula, ed. Peter Brommer, Capitula episcoporum, MGH Capit. Episc. 1 (Hanover 1984), 227–268 at c. 28, 256. 49 1 Sam 2,12–36. This example is quoted by Jonas, DIL 2–14, 442, Dhuoda, LM 4–8, 154; Sedulius Scottus, Liber de rectoribus christianis, ed. Siegmund Hellmann, Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters, Band 1, Heft 1 (Munich 1906), c. 19, 85. 50 Dhuoda, LM 4–6, 144: “Castus enim fuit Enoch, Noe, Abraam, Ysach, Iacob, Ioseph, Moyses et ceteri qui in thoro coniugatorum militantes mundum in Christo cor studuerunt servare.”



Beyond David and Solomon: Biblical models for Carolingian laymen  

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Along with Noah, Dhuoda also praises the “chaste” marriages of Enoch, Abraham, Isaac, Jacob, Joseph and Moses, demonstrating another potential difficulty of Old Testament models. Dhuoda saw sexual activity as acceptable only within marriage, but moral standards concerning some aspects of marriage, such as polygamy, had changed between Judaism and Christianity. Several Carolingian authors felt the need to explain away Old Testament marriage practices. Jonas, for example, discussing the need for fidelity in marriage, cites Ambrose on Abraham taking Hagar as a concubine. Ambrose said this was acceptable since it was before the giving of the Law to Moses, so that God had not yet condemned adultery, and because Abraham was motivated by a desire for children, rather than lust.51 Hincmar comments on King David: “because of the condition of the time, he was not forbidden from having many wives”.52 Similarly, Hrabanus Maurus felt the need to provide an elaborate justification of his use of Old Testament rules on incest.53 References to Old Testament models always contained this potential for tension: which models of behaviour were still applicable and which were not? Carolingian scholars were clear that interpreting the Bible was not a simple matter; indeed God had deliberately made the Bible obscure in order to discourage human pride.54 Theodulf of Orléans and his contemporary Alcuin drew different lessons about suffering from the Biblical example of Job, with Theodulf stressing the justice of divine dispensation and Alcuin emphasising the unknowability of God.55 The ninth century was marked by a series of theological controversies on the correct understanding of the nature of Jesus and the conditions for salvation.56 The conflicting arguments of scholars on these matters relied heavily on citations from Biblical and patristic sources (which led to a persistent tendency to

51 Jonas, DIL 2–4, 358–360, quoting Ambrose, De Abraham, i. 4.23–4; see Ambrose, De Abraham, ed. Karl Schenkl, Sancti Ambrosii opera. Pars prima, CSEL 32:1 (Vienna 1897), 501–638, at 518. 52 Hincmar of Rheims, De coercendo et exstirpando raptu viduarum, puellarum ac sanctimonialium, PL 125, c. 14, col. 1028: “Sed et regem, qui pro conditione temporis illius non prohibebatur plures habere uxores, potuisse legitime accipere cujuslibet defuncti uxorem?” 53 Hrabanus, Epistola 31, ed. Ernst Dümmler, MGH Epp. 5 (Berlin 1899), 455–458. 54 Contreni 1996 (cf. n. 27), 6, citing Hrabanus Maurus, De institutione clericorum libri tres, ed. Alois Knoepfler, Veröffentlichungen aus dem kirchenhistorischen Seminar München 5, (Munich 1900), III–3, 192–193 (which in turn cites Augustine’s De Doctrina christiana II, 5–6). 55 Mary Garrison, “The Bible and Alcuin’s Interpretation of Current Events,” Peritia 16 (2002), 68–84 at 78–9. 56 For overviews, see David Ganz, “Theology and the Organisation of Thought,” in The New Cambridge Medieval History, Volume II: c.700–c.900, ed. Rosamond McKitterick (Cambridge 1995), 758–85; Celia Chazelle, The Crucified God in the Carolingian Era: Theology and Art of Christ’s Passion (Cambridge 2001).

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forge or misrepresent the latter).57 A man such as Hrabanus Maurus, particularly noted for his biblical learning, could command considerable power and influence across the Frankish kingdoms, even before he became an archbishop.58 We can occasionally see hints not only of tensions around the lessons to be learned from Old Testament figures, but also of worries about who might carry out such interpretation. Jonas’ citation from Ambrose, mentioned above, starts with Ambrose stating: Let us imitate Abraham, therefore, so that we may be inheritors of the earth through justice of faith, through which that one was made inheritor of the world. But perhaps someone might say: ‘In what way do you propose Abraham should be imitated by us, when he received a son from an unfree woman?’59

The implication is that it is laymen asking such questions of Ambrose and also, perhaps, of Jonas. The encouragement of Bible study by lay people may have increased such personal interpretations. Dhuoda commends King David’s supporters Joab and Abner to her son William as examples of those “desiring to please their lord more than themselves”.60 In 2 Samuel, however, Abner initially fought against David, for the house of Saul, before abandoning Saul’s son Ish-bosheth after a quarrel about a former concubine of Saul’s. Joab shortly afterwards murdered Abner to revenge Abner’s killing of his own brother Asahel.61 If William read this story, what did he make of it, and how might he have modelled himself on Abner or Joab? William died a few years later fighting against his former lord Charles the Bald.62 Was he acting in an Old Testament-inspired world in which such an act of rebellion might be justified? Was Charles the Bald David to William or might he perhaps have been Saul, a king abandoned by God?

57 See in particular, on the vast complex of forgeries known collectively as Pseudo-Isidore forgeries, Horst Fuhrmann, “The Pseudo-Isidorian Forgeries,” in Papal Letters in the Early Middle Ages, ed. Detlev Jasper und Horst Fuhrmann (Washington, DC 2001), 135–195. 58 Mayke de Jong, “Old Law and New-Found Power: Hrabanus Maurus and the Old Testament”, in Centres of Learning: Learning and Location in Pre-Modern Europe and the Near East, Brill’s Studies in Intellectual History, 61, ed. J. W. Drijvers und A. A. Macdonald (Leiden 1995), 161–176 at 163. 59 Jonas, DIL 2–4, 358: “Imitemur ergo Abraham, ut haeredes simus terrae per iustitiam fidei, per quam ille mundi heres factus est. Sed fortasse dicat aliquis: ‘Quomodo Abraham nobis imitandum proponis, cum de ancilla susceperit filium?’” 60 Dhuoda, LM 3–4, 92: “Quid dicam et de Ioab Abnerque et ceteros erga Davidem regem […] magis seniori quam sibi placere cupiebant”. 61 2 Sam 3,1–39. 62 Janet L. Nelson, Charles the Bald (London 1992), 161.



Beyond David and Solomon: Biblical models for Carolingian laymen  

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Occasionally, the possibility of misinterpreting specific Biblical stories is mentioned by Carolingian authors. One notable example is Hincmar’s discussion of the mass abduction marriages of Judges 20–21. In his treatise against abduction, Hincmar devotes three chapters out of twenty to this text, recalling how the majority of the tribe of Benjamin had been killed by the other Israelite tribes, who had also sworn not to give their daughters in marriage to them. Now, concerned that the whole tribe might die out, they encouraged the Benjaminites to abduct and marry virgins gathered at Shiloh for a religious festival, thus allowing marriage without the explicit breaking of their own vow. Hincmar stresses that these abductions were carried out from necessity, rather than lust, and goes on: All that therefore rationally provided, rationally done, rationally finished, for the sake of public utility, by public authority and prayer, is thus unique and not to be imitated at all, it is to be read as a mystery, done once and never again repeated. Chapter 17 Therefore may it not happen that what the Scripture of God narrates for the memory of piety or for the praise of spiritual mystery, the stupid and impudent are permitted to usurp, licentious with petulance, as an example or defence of their shamelessness.63

In other words, just because the Israelites had abducted women, did not make the practice acceptable for Frankish men. Biblical models should not always be followed, but Carolingian reformers had as yet no clearly articulated method for restricting interpretations of such texts. Carolingian authors drew repeatedly on Biblical models when they addressed laymen, but as the examples I have quoted demonstrate, they sometimes found difficulties in doing so. Translating Biblical figures into contemporary terms was not a simple process in the eighth and ninth century any more than it is in the twenty-first. Part of this was a mismatch in social categories: was the appropriate behaviour for a Jewish high priest or a Galilean fisherman also suitable for northern European noblemen? But there were also other issues. To return to gender, Biblical models for men were particularly problematic. The vast majority of women in the Bible are simple images of good or evil: Judith or Jezebel,

63 Hincmar, De coercendo, c. 16–17, col. 1030: “Totum igitur istud rationabiliter provisum, rationabiliter factum, rationabiliter finitum, pro publica utilitate, publica auctoritate, atque intercessione, ita singulare est et minime imitandum, vel potius mysticum, ut semel legatur gestum, et nunquam ulterius iteratum. CAP. XVII. Quapropter quod Scriptura Dei narrat ad memoriam pietatis, vel ad commendationem mysterii spiritualis, absit ut stulti et impudenti petulantia dissoluti usurpare permittantur ad exemplum vel defensionem suae procacitatis.”

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madonnas or whores. In contrast, the detailed stories of Biblical heroes make them more complex and ambiguous figures. The patriarchs were not purely admirable: the flaws and failings of Abraham, Jacob and Joseph, to take three of Dhuoda’s favourite figures, are clearly visible. David and Solomon could be used as warnings almost as much as examples to follow. There are so many Biblical models appearing in early medieval texts that it is tempting to focus on only a few. In particular, David and Solomon as model kings, leading the Franks as the New Israel, make obvious sense to historians. We can recognise a coherent ideology there. But if we look more widely, such a coherent use of figures may be the exception rather than the rule. There are many far more idiosyncratic or even contradictory models visible as well, such as Hincmar’s story from Judges, which laymen were to learn from, but absolutely not to imitate. I want to end by returning to the quotation from Theodulf of Orléans’ verse to Charlemagne: “Your name recalls your grandfather, your noble understanding Solomon’s, your strength reminds us of David and your beauty is Joseph’s own.” I think it may not be a coincidence that when Theodulf uses a series of Biblical exemplars, he feels the need to recall the precise virtue each embodies. Biblical models may have needed, then as now, to be tied down in this way in order to avoid all misinterpretations. Handling God via handling the Bible is intrinsically a tricky operation, for men as well as women.

Britta Bußmann

Maria voll der Gnade: Die Gottesmutter als Opponentin des richtenden Gottes im Guldein Abc des Mönchs von Salzburg Der Wunsch, einen als intangibel verstandenen Gott trotz seiner Unverfügbarkeit verfügbar zu machen, ist immer dann besonders groß, wenn man selbst durch die Entscheidungen der göttlichen Instanz direkt betroffen ist. Es überrascht daher nicht, dass im Lauf der christlichen Glaubensgeschichte gerade mit Blick auf die die drohende Gerichtssituation nach dem Tod, in der der Rex justitiae unwiderruflich über die Aufnahme in den Himmel oder den Sturz in die Hölle entscheidet, eine Reihe von Strategien entwickelt worden sind, um den Gläubigen zumindest bis zu einem gewissen Umfang Einflussmöglichkeiten auf das sie erwartende Urteil einzuräumen. Immer schon existierte in diesem Zusammenhang die Vorstellung, dass die prekäre Kommunikationssituation zwischen einem aus der Ferne heraus agierenden, potentiell unversöhnlichen Gott und den Menschen zugunsten der Gläubigen verändert werden kann, indem zunächst Christus, später dann die Gottesmutter Maria oder andere Heilige als je dritte, vermittelnde Instanz in den Dialog eingeschalten werden. Stets vorausgesetzt wird dabei die grundsätzliche Sündhaftigkeit der Menschen, die die Gesprächsführung durch einen Dritten allererst notwendig macht. Als Konsequenz übernehmen die Mediatoren in diesem Modell von vornherein eine doppelte Funktion, weil sie als den Menschen näher stehende Ansprechpartner die kommunikative Distanz verkürzen und eine direkte Kontaktaufnahme mit dem zürnenden Richtergott überflüssig machen, gleichzeitig aber auch als Fürbitter für den einzelnen Sünder agieren. Das Gelingen der Kommunikation beruht damit wesentlich auf dem herausgehobenen Status der Vermittlerfiguren: Selbst menschlich und insofern den menschlichen Schwächen gegenüber aufgeschlossener als Gott, stehen Christus durch seine eigene Göttlichkeit, Maria durch ihre Gottesmutterschaft und die Heiligen durch ihren Märtyrertod doch stets über den gewöhnlichen Menschen. Im Dialog mit Gott besitzt ihre Stimme mithin ein größeres Gewicht und vermag auf diese Weise das Heil zu sichern, das die Gläubigen aus eigener Kraft nicht erlangen könnten.1

1 Seit dem 13. Jahrhundert unterscheidet die christliche Lehre zwischen dem Partikulargericht direkt nach dem Tod, bei dem Gottvater über die Seele urteilt, und dem Weltgericht am Ende der Zeit, bei dem sich die Seele mit dem Auferstehungsleib vereinigt und Christus als Weltenrichter

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Im vorliegende Beitrag möchte ich untersuchen, wie die Rolle der Gottesmutter als Fürbitterin für die Menschen in der spätmittelalterlichen deutschen Dichtung ausgeformt wird und wie sich in dieser spezifischen Rollenzuweisung ein Weg öffnen konnte, den göttlichen Ratschluss verfügbar zu machen, ohne an der Vorstellung eines intangiblen Gottes rühren zu müssen. Ich werde mich hierzu auf eine Interpretation der Mariensequenz Ave, Balsams Creatur (G 1) des sogenannten „Mönchs von Salzburg“ stützen. Die in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstandene Sequenz ist als Abecedarium (Alphabet-Gedicht) gestaltet und trägt in den Handschriften, die sie überliefern, regelmäßig den Beinamen Guldein Abc.2 Sie bietet sich vorrangig aus dem Grund für eine exemplarische Lektüre an, weil sie in einer Epoche geschrieben worden ist, die als Hochphase der Marienfrömmigkeit zu gelten hat und in der durch die Pestepidemie der Jahre 1347–1353 zudem das Bewusstsein dafür gewachsen ist, dass man plötzlich und unvorbereitet aus dem Leben scheiden kann und dann umso mehr auf einen Fürbitter angewiesen ist. Aufgrund dieses frömmigkeitsgeschichtlichen Kontextes ist vorauszusetzen, dass jegliche Strategie, Maria als Gegenfigur zu einem intangiblen Gott zu installieren, in der Sequenz (wie auch in anderen Texten der Zeit) wie unter einem Vergrößerungsglas zu beobachten sein wird.3

das Urteil des Partikulargerichts ratifiziert. Vgl. Peter Jezler, „Jenseitsmodelle und Jenseitsvorsorge – eine Einführung,“ in Himmel – Hölle – Fegefeuer: Das Jenseits im Mittelalter. Ausstellungskatalog, ed. Peter Jezler (München 1994), 13–26, sowie Berndt Hamm, „Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert: Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie,“ Zeitschrift für historische Forschung 26 (1999), 163–202, hier 185, Anm. 75. Zur Mediatoren-Rolle und der Problematik ihrer Übertragung auf Maria vgl. Knut Backhaus und Karl-Heinz Menke, „Mittler,“ Lexikon für Theologie und Kirche 7 (1998), 342–346; Franz Courth, „Mittlerschaft, Miterlöserschaft Marias,“ Lexikon für Theologie und Kirche 7 (1998), 346  f., sowie Reinhard Frieling, „Maria  /  Marienfrömmigkeit III / 1,“ Theologische Realenzyklopädie 22 (1992), 137–143, insbes. 139  f. 2 Ich zitierte das Guldein Abc und alle weiteren in diesem Aufsatz herangezogenen geist­lichen Lieder des Mönchs nach: Franz Viktor Spechtler, Hg., Die geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg (Berlin / New York 1972). Andere Lieder des Mönch-Corpus als das Guldein Abc identifiziere ich dabei mithilfe der Liednummer dieser Ausgabe. Längeren Zitaten füge ich Übersetzungen bei, die ich im Fall des Guldein Abc verglichen habe mit den Übersetzungen von Andreas Kraß, „Das Goldene Abc: Spiel und Ernst in einem Marienlied des Mönchs von Salzburg (14. Jh.),“ in Spiel und Ernst: Formen – Poetiken – Zuschreibungen. Zum Gedenken an Erika Greber, ed. Dirk Kretzschmar u.  a., Literatura 31 (Würzburg 2014), 125–137, hier 128–130, und von Fritz Peter Knapp, Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1237 bis 1439, Halbbd. II: Die Literatur zur Zeit der habsburgischen Herzöge von Rudolf IV. bis Albrecht V. (1358–1439), Geschichte der Literatur in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart 2 / 2 (Graz 2004), 462  f. 3 Hamm beschreibt das 14. bis 17. Jahrhundert als eine von „Ängsten“ und „Sicherungsbedürfnissen“ geprägte Epoche. Eine direkte Verbindung zu den Pestepidemien stellt er dabei nicht



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1 Der Mönch von Salzburg und das Guldein Abc Gemessen an seiner Produktivität und der Anzahl der Überlieferungsträger ist der Mönch von Salzburg der bedeutendste deutschsprachige Dichter-Komponist des Spätmittelalters: Die Forschung schreibt ihm heute 53 weltliche und 49 geist­ liche Lieder zu, von denen allein die geistlichen in über 80 Handschriften tradiert werden.4 Gleichwohl ist nur wenig über seine Person bekannt. Zwar steht außer Frage, dass der Mönch in den letzten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts im Umfeld oder sogar direkt am Salzburger Hof gearbeitet hat, da Erzbischof Pilgrim II. von Puchheim (gestorben 1396) sowohl in den Paratexten der Corpus-Handschriften A (München, BSB, Cgm 715), C (München, BSB, Cgm 628) und E (Wien, ÖNB, Cod. 4696), die biographische Informationen bieten, als auch in innerliterarischen Zeugnissen als sein Mäzen aufscheint. Andere in dieser Zeit urkundlich nachweisbare Mitglieder des erzbischöflichen Hofes finden in den Liedern ebenfalls Erwähnung.5 Die Forschung sieht in dem Mönch daher gewiss zu Recht „die zentrale Künstlergestalt“ eines von Pilgrim und verschiedenen Hofbeamten gebildeten Kreises literarisch Interessierter.6 Eine über diese zeitliche und geographische Verortung hinausreichende Identifizierung scheitert indes bereits daran, dass offenbar schon um die Mitte des 15. Jahrhunderts, als die großen CorpusHandschriften zusammengestellt worden sind, nicht mehr bekannt war, wer sich hinter dem Dichter-Pseudonym „Mönch von Salzburg“ eigentlich verbarg. A, C und E offerieren jedenfalls hinsichtlich des Namens und der Ordenszugehörigkeit

her, doch verweisen Marti und Mondini auf die Fürbitt-Rolle Marias in der Pestikonographie, die auf das durch die Pest gesteigerte „Bewußtsein der Todesnähe“ antworte. Vgl. Hamm 1999 (wie Anm. 1), 168 (Zitate 1 und 2), sowie Susan Marti und Daniela Mondini, „‚Ich manen dich der brüsten min, Das du dem sünder wellest milte sin!‘“ Marienbrüste und Marienmilch im Heilsgeschehen,” in Jezler 1994 (wie Anm. 1), 79–90, hier 84 (Zitat 3). 4 Vgl. Burghart Wachinger, Der Mönch von Salzburg: Zur Überlieferung geistlicher Lieder im späten Mittelalter, Hermaea N. F. 57 (Tübingen 1989), 1  f. Wachinger bezeichnet die geistlichen Lieder des Mönchs als „das am breitesten überlieferte Liederœuvre des deutschen Mittelalters“ (ebd., 2). Siehe zudem Knapp 2004 (wie Anm. 2), 450  f. und 477  f. 5 So beispielsweise Reicher von Radstadt, der Hofmeister des Erzbischofs, dem die Marien­ sequenz Richer schatz der höchsten freuden (G 3) durch ein Akrostichon gewidmet ist. Zu den über den Mönch erschließbaren biographischen Informationen vgl. die Einleitung der Liededition (Spechtler 1972 [wie Anm. 2], 9–25); Burghart Wachinger, „Mönch von Salzburg,“ ²Verfasserlexikon 6 (1987), 658–670, insbes. 658–660, sowie zuletzt Knapp 2004 (wie Anm. 2), 448–450, und – ausführlich – Christian Schneider, Hovezuht: Literarische Hofkultur und höfisches Lebens­ ideal um Herzog Albrecht III. von Österreich und Erzbischof Pilgrim II. von Salzburg (1365–1396), Beiträge zur älteren Literaturgeschichte (Heidelberg 2008), 83–93. 6 Wachinger 1987 (wie Anm. 5), 658.

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des Mönchs derart widersprüchliche Informationen, dass eine Entscheidung über die Authentizität einzelner Aussagen schwer fällt.7 Das Pseudonym muss daher im Forschungsdiskurs bis auf Weiteres den Eigennamen des Dichters ersetzen. Unsicherheit herrscht zudem darüber, wie und wo das Mönch-Corpus aufgeführt und rezipiert wurde. Dies betrifft insbesondere die geistlichen Lieder.8 Für Diskussionen sorgt hier vor allem, dass der Mönch in einem in der deutschsprachigen Lieddichtung zuvor unbekanntem Ausmaß die lateinische Liedkunst des Mittelalters mit den ihr eigenen Liedtypen und Schmuckformen adaptiert hat. Bei vielen seiner Lieder handelt es sich um auf die Originalmelodien sangbare Übersetzungen oder Neuvertextungen (Kontrafakturen) lateinischer Hymnen und Sequenzen.9 Das Guldein Abc fügt sich nahtlos in dieses Bild. Zwar gilt es als Eigenkomposition, folgt aber als Sequenz lateinischen Gattungsvorgaben.10 Mit der Anlage als Abecedarium rekurriert der Mönch überdies ebenfalls ausdrücklich auf die lateinische Dichtung: Während Marienabecedarien hier seit dem 9. Jahrhundert belegt sind, finden sie sich in deutscher Sprache erst im Spätmittelalter. Das Guldein Abc ist wahrscheinlich eines der frühesten volkssprach­ lichen Beispiele.11 Ob die formalen Anleihen darauf hindeuten, dass die geist­ lichen Lieder des Mönchs analog zu ihren lateinischen Vorlagen eine liturgische Funktion übernehmen konnten, bleibt dennoch zu bezweifeln. Eine solche hängt

7 A nennt ihn „her Herman ein Münich Benedictiner Orden czw Salczburgk“, C „maist[er] Johanns predig[er] orde[n]s“ und E „her Johanns ain Munich“ (zitiert nach Spechtler 1972 [Anm. 2], 9  f., wobei ich die Abkürzungen aufgelöst habe). Gemäß Wachinger 1987 (wie Anm. 5), 659, ist die Zugehörigkeit des Mönchs zum Benediktinerorden wahrscheinlicher, weil sein Cisioia­­nus (G 45) dem benediktinischen Kalender folgt, doch können die Namen in beide Richtungen verlesen sein. Ähnlich äußern sich Knapp 2004 (wie Anm. 2), 450, und Schneider 2008 (wie Anm. 5), 91. 8 So schon Horst Brunner, „Tradition und Innovation im Bereich der Liedtypen um 1400: Beschreibung und Versuch der Erklärung,“ in Textsorten und literarische Gattunge: Dokumentation des Germanistentages in Hamburg vom 1. bis 4. April 1979, ed. vom Vorstand der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten (Berlin 1983), 392–413, hier 410. 9 Brunner 1983 (wie Anm. 8), 410. 10 In der Forschung wird das Guldein Abc gelegentlich auch der Gattung des Leichs zugeordnet. Mit Blick auf den konsequenten Aufbau aus zwölf sog. Doppelversikeln (Versikel =  Strophenhälfte) und die Bezeichnung in der Überlieferung entscheiden sich Brunner 1983 (wie Anm. 8), 405, und Hans Waechter, Die geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg: Untersuchungen unter besonderer Berücksichtigung der Melodien, Göppinger Arbeiten zur Germanistik 724 (Göppingen 2005), 51, jedoch dafür, das Guldein Abc als Sequenz aufzufassen. 11 Vgl. Franz-Josef Holznagel und Rudolf Weigand, „Abecedarien,“ Marienlexikon 1 (1988), 12  f., hier 12. Holznagel und Weigand bezeichnen das Guldein Abc nicht ausdrücklich als frühestes deutschsprachiges Beispiel, sondern als „bekannteste[s]“ (ebd.), führen allerdings keine älteren Lieder an. Zudem wertet Knapp die Sequenz des Mönchs ebenfalls als frühestes deutsches Marien-Abecedarium (Knapp 2004 [wie Anm. 2], 463  f.).



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im 14. Jahrhundert noch vielfach an der lateinischen Sprache. Mit Johannes Janota wird man die Mönch-Lieder deswegen weniger als „Gemeindelieder der Salzburger Kirche“ denn als „Liedgut der Salzburger Hofgesellschaft“ ansprechen müssen.12 Vorstellbar ist dabei einerseits, dass die Stücke im höfischen Rahmen zu repräsentativen Zwecken aufgeführt worden sind.13 Andererseits könnten sie, vielleicht in privater Lektüre, auch der eigenen Andacht gedient haben.14 Ich halte es nicht für sinnvoll, beide Rezeptionsweisen gegeneinander auszuspielen. Immerhin trägt im Fall des Guldein Abc die formal-rhetorische Auszierung, die den repräsentativen Charakter der Sequenz wesentlich bestimmt, ebenso wesentlich dazu bei, die Vermittlung des religiösen Sinngehalts zu intensivieren.15 Wie genau Form und Inhalt aufeinander abgestimmt sind, zeigt sich bereits im ersten Versikel, hat der Mönch ihn doch geradezu als formale und inhalt­liche Engführung der gesamten Sequenz gebaut. Seine Analyse kann folglich dazu dienen, einen ersten Überblick über die Themenstellung und den Aufbau des Guldein Abc zu geben. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang zunächst, dass der Versikel nicht nur mit dem Wort „Ave“ (I,1) als Träger des durch das Schema des Abecedariums geforderten Buchstabens A beginnt. Er ist vielmehr zu Gänze aus den Anfangswörtern der folgenden 23 Versikel montiert, bildet also gleichsam ein Abecedarium im Abecedarium und wiederholt damit auf einer Mikro­ebene die Makrostruktur des gesamten Liedes16:

12 Johannes Janota, Studien zu Funktion und Typus des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter, MTU 23 (München 1968), 63 und 261 (Zitate). Für einige der Lieder des Mönch-Corpus, vor allem das Kindelwiegenlied G 22 und das Passionslied G 24, beschreiben die Beischriften freilich einen liturgischen oder zumindest liturgienahen Gebrauch. Wachinger 1989 (wie Anm. 4), 130, hält sie aber aus stilistischen Gründen dem Ursprung nach nicht für Lieder des Mönchs: Dieser hätte sie höchstens zu vielstrophigen Liedern umgearbeitet. 13 Dies vermutet Brunner 1983 (wie Anm. 8), 410. 14 Auszeichnungsmittel wie Abecedarien oder Akrosticha, die visuell wahrgenommen werden müssen, gelten in der Regel als Hinweis darauf, dass die private Lektüre als Rezeptionsweise zumindest mitgedacht wird. 15 Den kunstvollen Charakter des Liedes betont zuletzt Kraß, auch unter Hinweis auf das in den Liedüberschriften der Codices tradierte Dichterlob der Zeitgenossen: Kraß 2014 (wie Anm. 2), 125. Gemäß Knapp nutzt der Mönch den ornatus difficilis im Guldein Abc allerdings „weniger dicht und verfremdend […] als in manchen Nachdichtungen“. Er beurteilt dies als strategische Entscheidung, da die „eindringliche Vermittlung des religiösen Sinngehalts […] sich frei entfalten können“ soll (Knapp 2004 [wie Anm. 2], 464). 16 Zur formalen wie inhaltlichen Spiegelung der Gesamtsequenz im ersten Versikel vgl. Kraß 2014 (wie Anm. 2), 132–134. Die Sequenz ist insgesamt aus 24 Versikeln zusammengesetzt. Die Anzahl erklärt sich daraus, dass die Buchstaben I / J und U / V zusammenfallen. Zum Aufbau der Sequenz vgl. Knapp 2004 (wie Anm. 2), 463, und Kraß 2014 (wie Anm. 2), 131  f.

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Ave, Balsams Creatur, Du Englische Figur, Got Hat Jn Keuschlichem Lob Mariam Naturen Ob; Prich Qual, Ruff Sündlichen Toren Vnd Wend Xpisto Ymmer Zoren. (I,1–6)

Ave, Geschöpf von Balsam, du engelsgleiche Gestalt, Gott hält im Preis der Keuschheit Maria über die Natur; zerbrich die Qual, ruf die sündigen Toren und wende jederzeit Christi Zorn.

Der Versikel artikuliert darüber hinaus die wichtigsten Themen der Sequenz: den Marienpreis (I,1  f.), Marias keusches Empfangen des Gottessohns als besondere Quelle des Lobes (I,3  f.) und schließlich die Bitte um Gnade und Beistand gegenüber dem göttlichen Zorn (I,5  f.). Dabei ist die Anordnung der einzelnen Argumente auch im Detail eng mit dem Gesamtaufbau der Sequenz verzahnt. Schon im ersten Versikel deutet sich nämlich der Wechsel zwischen Lob- und Bittteil an, der in der Folge den Aufbau der gesamten Sequenz prägen wird, da durch den Umschlag von einsilbigen („Creatur  – Figur“; „Lob  – Ob“) zu zweisilbigen („Toren – Zoren“) Versschlüssen die letzten beiden Verse mit der Formulierung des Hilfegesuchs an Maria vom Rest des Versikels separiert erscheinen. Die Bitte wird insofern als gedanklicher Neuansatz inszeniert.17 Endgültig wird der Umschlag zum Bittteil mit Versikel XV vollzogen, dessen Anfangswort „Prich“ (aus der Bitte: „Prich gottes zoren, fraw, und sprich“; XV,113) als 15. Wort des ersten Versikels hier zugleich die Gnadenbitte der letzten beiden Verse einleitet: „Prich Qual, Ruff Sündlichen Toren“ (I,5).18 Der Versikel XV setzt allerdings lediglich den Schlusspunkt unter eine längere Phase des Übergangs, die den Themenwechsel vorbereitet und zwischen beiden Teilen vermittelt. Denn bereits ab Versikel XI konzentriert sich der Marienpreis nahezu ausschließlich auf den Umstand, dass die Gottesmutter den Teufel besiegt hat („du hast des slangen / haup übergangen“; XI,79  f.), dass sie die die Gläubigen ängstigende Bedrohung durch Teufel oder Dämonen auch zukünftig abwehren wird („sie kan verswellen / die uns wellen / laidlich vervellen.“; XII,92–94) und dass sie die Menschen zu einem sündenfreien Leben bekehren kann („wann sie kan leren / von sünden keren“; XII,85  f.). Preiswürdig erscheint also insbesondere ihre Fähigkeit, den Menschen in ihrer Not zur Hilfe zu kommen, auf der die Formulierung des Hilfegesuchs letztlich auch fußt. Den Übergang vom Lob- zum Bittteil gestalten die Versikel XIII und XIV überdies zusätzlich, indem sie tradi­

17 Grundsätzlich deutet sich die Zweiteiligkeit der Sequenz auch bei Knapp 2004 (wie Anm. 2), 464  f., an. Kraß hingegen sieht zumindest im ersten Versikel eher eine Dreiteilung in Preis (I,1  f.), Bekenntnis (I,3  f.) und Bitte (I,5  f.). Vgl. Kraß 2014 (wie Anm. 2), 132–134. 18 Für diese Beobachtungen danke ich Dr. Justin Vollmann (Tübingen).



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tionelle Marienpreisformeln in einer Weise umformulieren, dass sie nun konkret auf die Gnadenerwartung bezogen sind.19 Die Basis für diese Umformulierung bietet jeweils ein in überraschender Form aufgelöster Vergleich, der mit seiner unerwarteten Wendung die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf sich zieht. Der Mönch beginnt den Versikel XIII mit dem Lobpreis, Marias „adel“ übertreffe die „[n]aturen“ aller Edelsteine (XIII,95–97). In logischer Fortführung dieses Gedankens wäre zu vermuten, dass der im nächsten Vers herausgehobene „rubin“ (XIII,98) ebenfalls die Tugenden der Jungfrau versinnbildlicht, so wie es der Mönch in seiner Sequenz Richer schatz der höchsten freuden (G 3) übrigens tatsächlich artikuliert. Dort heißt es: „Rubein roter, fein poliret, / keuscher smaragd, durchfloriret, / diamant ward nie so vest.“ (G 3,X,57–59). Doch zum wahren Zielpunkt des chiastisch organisierten Vergleichs werden die durch Marias „unvermailte[n] gruss“ an den „sünder“ hervorgerufenen „tausentvalten freuden“, die als Signal der gewährten Gnade für den bedürftigen Menschen ungleich wertvoller sind als der kostbare Stein (XIII,101–103). In ähnlicher Form hintergeht der Versikel XIV die Erwartungen der Rezipienten. Wiederum böte sich der mit „aller kreuter art“ und „aller wurzen früchten“ angefüllte „gart“ (XIV,104–106) als passendes Bild für die Tugendfülle der Jungfrau an, das der Mönch an anderer Stelle auch in diesem Sinne nutzt: „Aller kreuter frucht zu rümen / chan dein nam hoch überblümen, / wann Maria ist der pest.“ (G 3,X,60–62). Wiederum entscheidet er sich allerdings gegen diese traditionelle Lesart. Er betont stattdessen die jahreszeitlich bedingte Vergänglichkeit der Blütenpracht („dem legs doch in dem winder hart“; XIV,107) und setzt ihr die Unerschöpflichkeit von Marias Gnade entgegen: „ie me du paremherzig pist, / ie völler ist dein vas von tag zu tag.“ (XIV,111  f.).20 In den folgenden Versikeln (XV–XXIV) ergießt sich dann eine Kaskade an Bitten an die Gottesmutter, die – bald in der zweiten Person als direkter Appell an sie gerichtet, bald in der dritten Person über sie sprechend – immer wieder ihren Beistand gegen Gottes Zorn und höllische Strafen erflehen. Die Angst, im alles konsumierenden Feuer wie ein dürrer Zweig („als die dürren spachen“; XXI,175) zu zerspringen, wird vor allem in Versikel XXI drastisch in Worte gefasst. Das Lied endet schließlich mit einem eschatologisch perspektivierten Ausblick auf das Jüngste Gericht, bei dem die sündigen Menschen dringlich auf Marias Hilfe angewiesen sind, um Heil und Erlösung zu erlangen: „Zoren an dem jungsten tag / gar verjag“ (XXIV,196  f.).

19 Knapp 2004 (wie Anm. 2), 465. 20 Der Umschlag zwischen Lob- und Bittteil wird zusätzlich durch das Reimschema hervorgehoben – Versikel XI und XII weisen jeweils sechs a- und b-Reime auf, so dass die Teilung der Versikel in jeweils zwei gleiche Hälften zugleich die Mitte des Liedes betont (Kraß 2014 [wie Anm. 2], 131).

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Angesichts dieses über das gesamte Lied verfolgten Argumentationsbogens wird man schließen dürfen, dass die durch den Kadenzwechsel akzentuierte Zweiteiligkeit des ersten Versikels (wie der gesamten Sequenz) nicht allein auf die Identifizierung und Separierung der beiden Hauptargumentationsstränge des Liedes zielt. Die spezielle Markierung der letzten beiden Verse mit dem Hilfegesuch an die Gottesmutter nimmt vielmehr immer schon eine Hierarchisierung zugunsten dieses Gedankens vor. Nicht auf dem Lobteil, wie es gerade die ältere Forschung häufig voraussetzt, sondern auf dem Bittteil liegt daher der eigent­ liche inhaltliche Schwerpunkt des Guldein Abc.21

2 Maria, Gott und die Menschen Die Zweiteiligkeit der Sequenz strukturiert auch das Marienbild, weil Lob- und Bittteil Maria in divergierende Beziehungsnetze einstellen und jeweils erschiedene Rollen von ihr realisieren, nämlich als Gottes Erwählte und Erste unter allen Frauen einerseits und als Fürsprecherin und Advocata andererseits. Wenngleich der Mönch auf eine explizite argumentative Verzahnung dieser Vorstellungen verzichtet, suggeriert die Zusammenschau der Teile doch eine grundsätzliche Verknüpfbarkeit beider Auffassungen. Folgt man dieser impliziten Logik, kann Maria primär deswegen erfolgreich für die Gläubigen eintreten, weil sie mit Gott (vor allem in seinen ersten beiden Personen) in spezieller Weise verbunden ist. Dabei hebt der Lobteil zunächst Marias besonderes Verhältnis zu Gottvater hervor. Grundlage für die Darstellung ist die bereits im ersten Versikel verklausuliert angesprochene Verkündigungsszene (vgl. I,3  f.), die freilich – wie es in der spätmittelalterlichen Mariendichtung durchaus üblich ist  – umgedeutet wird zur Vereinigung des von „der minne pfeil“ (VIII,49) getroffenen dreieinigen Gottes („drei ganz person“; VIII,50) mit „der schönsten praut“ (VIII,54).22 Maria

21 Siehe etwa Hermann Degering, der in der Zusammenfassung des Inhaltes allein auf das Marien­lob abhebt (Hermann Degering, Sequenz von unser lieben frouwen des munches von salczburg, Jahresgabe für den Verein der Freunde der Königlichen Bibliothek [Berlin 1916], 6). Vgl. aber Knapp 2004 (wie Anm. 2), 464  f. Er stellt ganz richtig das artikulierte Gnadenhoffen heraus und weist zudem darauf hin, dass die dreifache Anfangsbitte (I,5  f.) in der gesamten Sequenz immer wieder aufgegriffen wird. 22 Diese erotische Mariologie stützt sich auf die mit Rupert von Deutz einsetzende Auslegung der Braut des Hohenliedes auf Maria und die liturgische Verwendung einzelner Hohelied-Verse für Marienfeste. Vgl. Peter Kesting, Maria – Frouwe: Über den Einfluß der Marienverehrung auf den Minnesang bis Walther von der Vogelweide, Medium Aevum 5 (München 1964), 30–39, sowie Barbara Newman, God and the Goddesses: Vision, Poetry, and Belief in the Middle Ages, The



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wird demnach als von Gott regelrecht Begehrte gezeigt, deren vom Deus artifex höchstselbst gestaltete Schönheit23 und Keuschheit Gott vom Himmel zur Erde gezogen und ihn hier heimisch gemacht haben: „dein keuscher nam / got machet zam / der aller werld was wild.“ (IV,24–26). Infolge dieser Deutung tritt das heilsgeschichtlich bedeutsame Ziel der Verkündigungsszene, die Inkarnation, unwillkürlich in den Hintergrund.24 Stattdessen wird der Eindruck erweckt, Gott habe Maria nicht bloß als Mutter des Gottessohns, sondern um ihrer selbst willen ausgewählt, und seine Gefühle ihr gegenüber seien ein wesentlicher Motor für das Heilsgeschehen. Der sich anschließende Bittteil thematisiert hingegen das Aufeinandertreffen von Rex justitiae und Menschen in der Gerichtssituation und positioniert Maria innerhalb dieses Dialogs als Fürbitterin und Streiterin für die Belange der Gläubigen. Das wechselseitige Verhältnis von göttlicher Instanz, der Gottesmutter und den Menschen modelliert der Mönch hier vor der Folie des Interzessionsmotivs, das heißt vor dem Hintergrund der seit dem 12. Jahrhundert verbreiteten Vorstellung, dass Maria durch das Vorweisen ihrer entblößten Brüste Gerichts­situationen zugunsten der Sünder beeinflussen könne. Literarische und bildliche Darstellungen des göttlichen Partikulargerichts, also der Abwägung über gute und schlechte Taten direkt nach dem Tod, inszenieren diesen Vorgang häufig als Heilstreppe: Maria wendet sich dann mit nackter Brust an Christus, der ihre Fürbitte aufnimmt und sie unter Vorzeigen seiner Seitenwunde an seinen richtenden Vater weiterreicht. Doch auch beim Jüngsten Gericht am Ende der Zeit kann Maria auf diese Weise den Weltenrichter Christus um Gnade anflehen.25 Unabhängig davon, welche dieser beiden Optionen zur Wiedergabe kommt, gilt demzufolge, dass Marias Möglichkeit zur Einflussnahme vordringlich auf ihrer Position als Gottesmutter und ihrer daraus resultierenden Bindung an ihren göttlichen Sohn beruht.

Middle Ages Series (Philadelphia 2003), 199. Vokabeln wie „minne pfeil“ (VIII,48) zeigen zudem Anleihen bei der Sprache der höfischen Liebe. Dies ist für die Lieder des Mönchs nicht ungewöhnlich. So weist Kraß darauf hin, dass in der Mönch-Übersetzung des Ave praeclara maris stella die Mariendarstellung höfische Züge trägt. Vgl. Andreas Kraß, „‚Ich gruess dich gerne‘: Aspekte historischer Intertextualität am Beispiel von gereimten deutschen Übersetzungen der Mariensequenz Ave praeclara maris stella in Mittelalter und Früher Neuzeit,“ in Grundlagen: Forschungen, Editionen und Materialien zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, ed. Rudolf Bentzinger u.  a., Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Beihefte 18 (Stuttgart 2013), 301–314, hier 308. Zum Phänomen allgemein siehe Kesting 1964. 23 „Got vater hat sein maisterschaft / an dir, Maria, wol behaft; […] er straich dich aus seins herzens saft […] dein schön sein götlich aug erwitert.“ (VII,43–48). 24 Die Sprecher-Instanz merkt freilich an, dass Maria „keusch frucht […] gesuchet“ habe (V,33). 25 Vgl. Marti / Mondini 1994 (wie Anm. 3), 80–84.

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Innerhalb des Guldein Abc wiederholt der Mönch das Interzessionsmotiv in vier Varianten, wobei die entsprechenden Textpartien größtenteils im Bittmodus formuliert sind. Berichtet wird also kein bereits geschehenes Ereignis, die in der Wir-Form stellvertretend für das Kollektiv der Gläubigen agierende Sprecher-In­ stanz erfleht vielmehr ein bestimmtes Verhalten der Jungfrau in der (zukünftig zu denkenden) Gerichtssituation.26 Aufgegriffen wird das Interzessionsmotiv zuerst in dem in Versikel XV an Maria gerichteten Appell: Prich gotes zoren, fraw, und sprich: Zerbrich Gottes Zorn, Herrin, und sprich: ‚sich, ich han schon gesauget dich, ‚Siehe, ich habe dich schon gesäugt, mein kind, du musst geweren mich, mein Kind, du musst mir gewähren, durch all dein güt so pald nicht rich; räche dich um all deiner Güte willen nicht so  [schnell; wie leicht dein parmung in entwich, wenn dein Erbarmen leicht von ihnen wiche, so wär der teufel fro. dann wäre der Teufel froh. mein kind, tů nicht also; Mein Kind, handele nicht so; du solt sie ee ergeben mir, du sollst sie zuvor mir übergeben, die du gepildet hast nach dir!‘ die du nach dir gebildet hast!‘ (XV,113–121)

Ausgestaltet wird in dieser Szene allerdings nicht die vollständige Gnadentreppe mit ihren drei Stationen Maria  – Christus  – Gott, der Mönch konzentriert sich vielmehr auf die Bitte der Gottesmutter um Schonung, deren Wortlaut er konkret ausformuliert und ihr als direkte Rede in den Mund legt. Außerdem wird das Vorzeigen der Brüste nicht expliziert, sondern schamhaft in den Sprechakt der Gottesmutter verlegt und auch hier nur implizit thematisiert („sich“ als verbalisierter Zeigegestus; „gesauget“; XV,114). Der Bezug zum Interzessionsmotiv bleibt gleichwohl erkennbar und wird zudem dadurch betont, dass das Reimschema der ersten fünf Verse die für die Identifizierung des Motivs wichtigen Elemente heraushebt. Es betont einerseits die Abfolge der die Bittformulierungen tragenden Verbketten „Prich – sprich“ (Bitte der Betenden an Maria) und „sich – rich – entwich“ (Fürbitte der Gottesmutter an Christus) (XV,113  f.116  f.), andererseits die Personalpronomen „ich – dich – mich“ (XV,114  f.), die das Verhältnis zwischen Maria und ihrem von ihr angesprochenen Sohn beschreiben. Demgegenüber bleibt der Rückgriff auf das zugrunde liegende Muster in den späteren Wiederholungen des Interzessionsmotivs in den Versikeln XVIII, XX und XXIV viel punk­tuel­ler. Maria

26 Dies gilt für die Versikel XV, XVIII, XX und XXIV. Versikel XX ist allerdings präsentisch formuliert. In meinen Augen heißt dies: Mit der Sprechsituation ist primär eine Aussage zur temporären Verortung getroffen, keine Aussage über den faktischen Gehalt – das, was man Maria zutraut, und was man von ihr deswegen erbittet, kann und wird sie auch erfüllen.



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wird zwar in der Position der für die Menschen Bittenden imaginiert, sie soll aber nicht mehr an ihre Mutterschaft erinnern, um Gott oder Christus zum Einlenken zu bewegen.27 Bis auf den Schlussversikel XXIV, der durch die zeitliche Verortung klar einen Bezug zum „jungsten tag“ (XXIV,196) herstellt, wird überdies die anvisierte Sprechsituation  – die Stunde des Gerichts über die Menschen  – nur indirekt identifiziert, indem die Sequenz auf die den Menschen drohenden höllischen Strafen verweist. So soll Maria, wie schon in Versikel XV, in Versikel XVIII darum bitten, dass der Mensch „icht prinn“ (XVIII,149); in Versikel XX wird ihr zugetraut, die Sünder vor den „abgründ“ (XX,162) bewahren zu können. Für den Rezipienten irritierender als die nur punktuelle Bezugnahme auf das Interzessionsmotiv wirkt freilich, wie wenig trennscharf der Mönch in den verschiedenen Reprisen des Schemas zwischen der ersten und der zweiten Person der Trinität unterscheidet. Schon in Versikel XV, als der Mönch das Motiv zum ersten Mal aufgreift, wird Maria zwar zuerst aufgefordert, den schemagerecht zornigen Gott zu besänftigen („Prich gotes zoren“; XV,113), soll sich dann aber an Christus wenden und ihn überdies in einer Weise anreden, dass er als richtende Instanz erscheint: „mein kind, du musst geweren mich, / durch all dein güt so pald nicht rich“ (XV,115  f.). In ihrem Richteramt fallen beide göttlichen Personen daher gleichsam in eins, so dass als Konsequenz auch die angesprochene Gerichtssituation verunklärt wird.28 Diese Ungenauigkeit der Formulierung ist in gewisser Weise symptomatisch für das gesamte Lied. In Versikel XVIII beispielsweise sollen sich die von Maria erbetenen Verteidigungsbemühungen ebenfalls zunächst an Gott („würch plümlein mit subtilem sinn, / lustleich zu sehen gotes minn“; XVIII,146  f.), dann an Christus richten, wobei dieser als Adressat der konkret ausformulierten Schonungsbitte wiederum eher als Richter denn als zweiter Fürbitter zu identifizieren ist: „dein kind treut liblich pei dem kinn / und sprich: ‚wend, das der mensch icht prinn‘“ (XVIII,148  f.). Und in dem das Weltgericht thematisierenden Schlussversikel XXIV fürchten die Menschen ausdrücklich „gotes slag“ (XXIV,199), obschon am Jüngsten Tag nach christ­ licher Überzeugung der Messias als Richter agiert.29 Offenbar strebt der Mönch eine präzise Differenzierung also gar nicht an, und zwar weder in Bezug auf die

27 In den von Maria imaginierten Gesten deutet sich ihre Mutterschaft gleichwohl an, so etwa, wenn sie ihr Kind „liblich pei dem kinn“ fassen soll (XVIII,148). 28 Entscheidend für die Unsicherheit in der Zuordnung der Gerichtssituation ist also nicht der Umstand, dass sowohl Gott als auch Christus angesprochen werden – dies wäre bei einer Partikulargerichts-Darstellung mit voll ausgebildeter Heilstreppe ja der Fall. Wichtig ist vielmehr, dass unklar bleibt, wer als Richter agiert. 29 Wiederum fällt Versikel XX aus dem Rahmen, da hier nur Gott angesprochen wird und Christus gar nicht in Erscheinung tritt.

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gemeinte Situation noch auf die göttliche Person. Tatsächlich ist es für das Gelingen seiner Argumentation vor allem wichtig, die in Opposition zu Maria stehende Richterposition überhaupt auszufüllen, weil sich die Gnade der Gottesmutter im Kampf gegen eine gegen sie agierende unversöhnliche Kraft besonders wirkungsvoll demonstrieren lässt: Siegerin zu sein setzt schließlich die Überwindung eines Gegners voraus. Wer die Systemstelle dann konkret besetzt, ist für den Erfolg der Argumentation zweitrangig. Wenngleich der Rex justitiae eher vage konturiert erscheint, heißt dies nicht, dass der Mönch an der Allmacht Gottes zweifelt. Die Urteilsgewalt bleibt bei der göttlichen Instanz (vgl. XXIV,203), und dies muss auch so sein, da Marias Fürbitte sonst ihren Sinn verlöre. Paradoxerweise wird die göttliche Entscheidungsmacht dennoch von vornherein begrenzt, weil der Mönch schon zu Beginn der Sequenz Gottes Richterspruch ausdrücklich an Marias Bewertung des einzelnen Menschen bindet: „wes du dich, fraw, wilt annemen, / der mag got nicht widerzemen“ (II,11  f.). Den Rezipienten wird damit eine Art Heilsautomatismus in Aussicht gestellt, nach dem Marias Vergebung sich fraglos bis hin zu Gott fortschreibt. Dem entspricht, dass die Sequenz durchweg größeres Gewicht auf die Darstellung der Urteilsfindung als auf die Verkündigung des Urteilsspruchs an sich legt.30 Fokussiert wird folglich jener Teil des Sündengerichts, den die Regina misericordiae beeinflussen kann, indem sie – wie die Sprecher-Instanz hofft – die Schuld der Sünder vollständig auf sich nimmt („Maria, unser schuld denn trag“; XXIV,202) oder ihre wenigen guten Taten in einer derart mit rhetorischen Blüten gespickten Verteidigungsrede präsentiert, dass der richtende Gottessohn der Argumentation folgen muss: wie klain der sünder guts beginn, Wie wenig der Sünder Gutes angefangen hat, o himelische kaiserinn, oh himmlische Kaiserin, die drümer dann zusamme spinn. webe die Stücke dann zusammen. würch plümlein mit subtilem sinn, Fertige Blümlein mit kunstfertigem Sinn, lustleich zu sehen gotes minn; die für Gottes Liebe angenehm zu sehen sind; dein kind treut liblich pei dem kinn dein Kind liebkose lieblich am Kinn und sprich: ‚wend, das der mensch iht und sprich: ‚Wende ab, dass der Mensch  [prinn;  [brennt; die blümlein sendt er dir von erd.‘ diese Blümlein sendet er dir von der Erde.‘ (XVIII,143–150)

30 Dieser Zuschnitt der Gesprächssituation hat zur Folge, dass die Barmherzigkeit nur als Eigenschaft Marias zur Darstellung kommt, nicht aber als Qualität Gottvaters: Sein Redepart mit dem Urteilsspruch, der die Gnadenbitte der Jungfrau und des Sohnes erhört, fällt dann nämlich weg. Anders als in späteren bildlichen Darstellungen des Partikulargerichts, die Hamm untersucht (vgl. Hamm 1999 [wie Anm. 1], 171  f., Anm. 31, und 187), ist Gottes durch die Fürbitte ausgelöstes Erbarmen mit den Gläubigen hier also nicht der Zielpunkt der Szene.



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Diese letzte Passage entstammt einem der vier Interzessions-Versikel, und es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass Christus hier nicht als Erwachsener gezeichnet wird (wie er es als Richter des Weltgerichts müsste), sondern eher als Kleinkind, das Maria zärtlich liebkosen soll: Als Kind ist der Gottessohn gemäß Lk 2,51 seiner Mutter Gehorsam schuldig. Gerade in diesem Bild offenbart sich eine Umkehrung des Machtgefüges zwischen Bittstellerin und Bittgewährer, die insgesamt typisch ist für die Art und Weise, wie der Mönch das Interzessionsmotiv nutzt. Denn in Übersteigung der ursprünglich mit dem Motiv verbundenen Marienvorstellung, die die Gottesmutter auf die Rolle als Fürsprecherin festlegt, geht der Mönch in seiner Inszenierung grundsätzlich von einer Maria eigenen, autonomen Kraft zur Miterlösung aus. Das deutet sich bereits in der ausführlich zitierten Fürbitte in Versikel XV an: Hier nämlich soll Maria ihren Sohn nicht etwa vor die Alternative stellen, die Menschen zur Hölle zu verdammen oder in den Himmel aufzunehmen, sondern fordern, er möge sie statt dem Teufel lieber ihr überantworten: „du solt sie ee ergeben mir“ (XV,120). Logische, wenngleich an dieser Stelle nicht artikulierte Folge des Vorschlags ist, dass sie den in ihre Obhut übergebenen Menschen aus eigenem Vermögen den Weg zum Heil ebnen wird. Klarer spricht der Text den Gedanken in der Reprise des Interzessionsmotivs in Versikel XX aus. Die Jungfrau verhandelt in dieser Szene direkt mit Gott über die Seelen der Sünder, und das kollektive Sprecher-Wir setzt seine Hoffnung dezidiert darauf, dass Maria nicht von ihrer Fürbitte ablassen werde, „bis got sein zoren gar verswünd / und [ir] die sel zu lösen günd“ (XX,166  f.).31 Dass zumindest ein Teil des Erlösungswerks an die Gottesmutter übertragen werden kann, scheint der Text demnach vorauszusetzen. Das Lob der Engel, und mit dieser Versicherung schließt der Versikel,

31 Als wie programmatisch man diese Verse versteht, hängt auch davon ab, wie man sie genau übersetzt. Sowohl Kraß als auch Knapp sind sich darin einig, dass die von dem Verb „günd“ abhängige Infinitivkonstruktion „und dir die sel zu lösen“ Marias Handlung beschreibt. Sie übertragen sie dementsprechend mit: „und dir die Gunst erweist, die Seele zu erlösen“ (Kraß 2014 [wie Anm. 2], 130) beziehungsweise „und dir gestattete, die Seele zu lösen“ (Knapp 2004 [wie Anm. 2], 463). Beide erkennen Maria damit eine aktive Rolle zu. Uneinig sind sie sich über die Wiedergabe des Verbs „lösen“. Die beiden Übersetzungen schöpfen den Bedeutungsspielraum des Verbs („erlösen“ oder „lösen“; vgl. Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch: Zugleich als Suppelement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Benecke – Müller – Zarncke, Bd. 1: A–M [Leipzig 1872], 1958  f.) aus, wobei Knapps Übersetzung vielleicht rückbezüglich ist auf XX,163  f.: „noch k[ü]nd dein trost für hellisch pünd / erdenken paremherzig fünd.“ („künd“ statt „kund“ der Edition zur Herstellung des Binnenreims). Mit Blick auf die gesamte Sequenz scheint mir Kraß’ forciertere Übersetzung jedoch in jedem Fall eine zumindest gleichwertige Alternative zu bieten.

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stützt sich jedenfalls ausdrücklich darauf, dass Maria sowohl barmherzig als auch mächtig ist, dass sie mithin „genad ha[t] und gewalt“ (XX,170). Gegenüber dieser sehr aktiven Maria wirken die Menschen selbst unter der Voraussetzung seltsam passiv, dass das aufgerufene Fürbitt-Modell die Handlungsoption immer schon stärker bei der zwischen Gott und den Sündern vermittelnden Instanz sieht. Das Sprecher-Wir ist fest von der nicht aus eigener Kraft korrigierbaren Schuldhaftigkeit der Menschen überzeugt. Als „[t]oren“ seien sie der „torhait“ der Sünde hilflos ausgeliefert (XIX,151), zumal bereits die Ureltern Adam und Eva den Sündenfall nicht hätten vermeiden können: „seind der erst man sich nicht besan / wie kan der mensch dann widerstan / der werlt, im selbs, des tifels pan?“ (XIX, 152–155). Eine direkte Mahnung zur Umkehr fehlt dem Lied daher. Zwar ist dem Sprecher-Wir prinzipiell bewusst, dass eine Orientierung an Marias Vorbild einen besseren Lebenswandel lehren könnte („wann sie kan leren / von sünden keren“; XII,85  f.), doch trotz des Bedauerns über das eigene Fehlverhalten fehlt eine aktive Entscheidung für ein zukünftiges sündenfreies Leben. Formulierungen wie „ler uns swachen vestikleich wachen“ (XXI,172) oder „hilf uns darnach ringen, / das wir twingen der hochvart swingen“ (XXII,182  f.) verweisen die entscheidende Initiative zur Veränderung stattdessen an die Gottesmutter.

3 Der Punkt im Kreis Überblickt man die Gesamtargumentation, so rückt die Sequenz eindeutig Maria in den Fokus der Heilserwartung. Dies zeigt sich nicht erst dann, wenn die Gottesmutter in den Gerichtssituationen des Bittteils als Miterlöserin agiert. Schon zu Beginn des Liedes wird Maria vielmehr als „punct in der zirkelmass, / die got und uns umbvahet“ (VI,38  f.) gepriesen, erscheint also innerhalb des Glaubenssystems, das der Text entwirft, als zentrales, den Zusammenhalt garantierendes Element. Dass sie (und nicht etwa Gott) hier als aktiver Part angesprochen wird, dem die Rettung der Menschen obliegt („wend, frau, wer davon gahet, / das in dein hilf icht lass“; VI,41  f.) bestätigt diese Perspektive ebenso wie die auf Maria bezogene Ausschließlichkeitsformulierung „seind unser trost ie an dir lag“ (XXIV,201), mit der die Sequenz in Versikel XXIV endet. Äußerungen wie diese gestatten es, die im Guldein Abc vertretene Glaubenspraxis nicht einfach als in ihrer exaltierten Marienfrömmigkeit typisch spätmittelalterlich zu klassifizieren, sondern sie konkret mit jener letztlich alle Gesellschaftsbereiche erfassenden Entwicklung in Verbindung zu bringen, die Berndt Hamm als normative Zentrierung bezeichnet. Bezogen auf die religiöse Praxis beschreibt Hamm mit dem Terminus



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ein Frömmigkeitsverständnis, das auf ein allein heilbringendes Prinzip, das heißt auf bestimmte Zentralgedanken oder Zentralgestalten, zugespitzt ist. Das Bedürfnis der spätmittelalterlichen Gläubigen nach Heilssicherheit und pastorale Strategien gehen dabei in der Ausbildung der Zentrierungsvorgänge offenbar Hand in Hand: Folgt man Hamm, so antwortet die Seelsorge mithilfe dieser bewusst eingegangenen Reduktion und Verdichtung der Glaubensinhalte nämlich auf die seit dem 14. Jahrhundert zunehmende Verunsicherung der Menschen durch die auch die Lieder des Mönchs dominierende Trias von Sündenangst, Gerichtsangst und Dämonenangst, indem sie einfache (und für jeden zugängliche) Wege zum Heil propagiert.32 Neben dem Passionschristus ist im Spätmittelalter vor allem Maria als „Zen­ tral­gestalt der göttlichen Barmherzigkeit“ und damit als Zielpunkt der Heils­erwar­ tungen der Gläubigen „omnipräsent“.33 Das Guldein Abc formuliert demnach keineswegs eine Einzelmeinung. Dennoch bleibt das „Phänomen[ ] d[er] ‚mächtigen Maria‘“, die ihre Barmherzigkeit aus eigener Kraft ausagieren kann, aus Sicht der modernen theologischen Forschung problematisch.34 Sie erklärt es hauptsächlich unter Berufung auf gendertheoretische Konzepte: So lässt sich die Ausweitung von Marias Machtbefugnissen etwa als Reaktion auf die patriarchialische Ausrichtung des christlichen Glaubens deuten, das heißt als Versuch, innerhalb eines männlich gedachten göttlichen Prinzips „eine[r] lange verdrängte[n], als weiblich konnotierte[n] Komponente Raum“ zu gewähren.35 Wahrscheinlich ist diese Art der Mariendarstellung aber auch deswegen so weit verbreitet, weil sie zumindest bis zu einem gewissen Grad an eine sich im Verlauf des Mittelalters allgemein etablierende Praxis anknüpfen kann, bestimmte Bibelstellen marianisch auszulegen. Sie steht folglich nicht grundsätzlich schon im Widerspruch zur kirchlichen Lehrmeinung.

32 Zum Konzept der normativen Zentrierung siehe Bernd Hamm, „Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Reformation: der Prozeß normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland,“ Archiv für Reformationsgeschichte 84 (1993), 7–81, sowie Hamm 1999 (wie Anm. 1), insbes. 163–167 und 177  f. (zur Rolle der Seelsorge). Für ähnliche Formulierungen wie im ­Guldein Abc siehe etwa ebd., 172: Hamm zitiert hier Stephan Fridolin (gestorben 1498), der den Pas­sions­christus in einer Predigt als den „punct, das centrum, das mytelst stetlein unßer hoffnung“ bezeichnet. 33 Hamm 1999 (wie Anm. 32), 172. Freilich bleibt zu konstatieren, dass Hamm in diesem Zusammenhang zwar die „schutzgewährende Rolle Mariens“ (ebd., 178) betont, sich jedoch nicht direkt zu solchen Konzepten äußert, die Maria selbst eine autonome Macht als Miterlöserin zuerkennen. 34 Ich verweise hier beispielhaft auf Marti / Mondini 1994 (wie Anm. 3), 89 (Zitat ebd.). 35 Marti / Mondini 1994 (wie Anm. 3), 89.

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Zunächst wäre in diesem Zusammenhang auf den im hohen Mittelalter einsetzenden Wandel in der Interpretation des Engelsgrußes an Maria hinzuweisen. Während der Anruf „ave gratia plena Dominus tecum“ (Lk 1,28)36 erst so verstanden wurde, dass Maria in der Situation der Verkündigung ganz mit der Gnade Gottes erfüllt wird, diese also passiv empfängt, setzt sich ungefähr ab der Mitte des 12. Jahrhunderts die Auffassung durch, Maria besitze selbst die Fülle der Gnade und könne sie daher aktiv und nach eigener Erwägung an bedürftige Menschen verteilen.37 Vielfach werden beide Lesarten des „gratia plena“ kausal miteinander verknüpft. Imaginiert wird dann ein doppelter Gnadenfluss, von Gott zu Maria und von der Jungfrau zu den Menschen. Geradezu zur Sentenz geronnen artikuliert sich diese Vorstellung in der Mariensequenz Uterus virgineus (13. Jahrhundert), die ich beispielhaft wiedergebe38: In te pluit, In te fluit  Deus suam gratiam; Ergo tuae Nobis plue  Gratiae clementiam.

In dich lässt Gott regnen, in dich lässt er entströmen, seine Gnade; deshalb lass auf uns die Sanftmut deiner Gnade regnen.

Genau diese Vorstellung eines doppelten Gnadenflusses zitiert der Mönch im Guldein Abc an, wenn er in Versikel XIV Marias von Gott empfangenen Gnadenschatz („die voll genad hat dich pewart / mit aller gut genüchten“; XIV,109  f.) als Basis ihrer Hilfetaten darstellt, wobei diese den Schatz freilich nicht aufbrauchen, sondern ihn im Gegenteil immer wieder erneuern: „ie me du paremherzig pist, / ie völler ist dein vas von tag zu tag“ (XIV,111  f.). Entscheidender noch für die Ausbildung der Idee der gleichermaßen machtvollen wie barmherzigen Gottesmutter scheint allerdings die Gleichsetzung von Maria und alttestamentlicher Sapientia, insbesondere die Übertragung der beiden Selbstrühmungen der Weisheit (Prov  8,22–31; Sir  24,5–31) auf die Gottesmutter. Der Transfer ist durchaus brisant, da sich die Weisheit in den Monologen die

36 Ich zitiere: Robert Weber und Roger Gryson, Hg., Biblia sacra iuxta vulgatam versionem (Stuttgart 2007); Übersetzungen längerer Zitate folgen Alfons Deissler und Anton Vögtle, Hg., Neue Jerusalemer Bibel: Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel (Freiburg u.  a. 2007). In der Wiedergabe von Lk 1,28 habe ich die hebräische Form des Grußes „have“ durch das im Mittelalter geläufige lateinische „ave“ ersetzt. 37 Kesting 1964 (wie Anm. 22), 54. Siehe überdies Frieling 1992 (wie Anm. 1), 139  f. 38 Clemens Blume S. J., Hg., Analeca hymnica medii aevi, Bd. 54: Die Sequenzen des Thesaurus hymnilogicus H. A. Daniels und anderer Sequenzausgaben, Bd. 2 / 1 (Leipzig 1915), 389–391, hier Versikel 17  f.



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Präexistenz vor allen Dingen und sogar die Teilhabe an der Schöpfung zuspricht (Prov  8,22  f.27–30; Sir  24,14).39 In Sir  24,24–31 wird diese herausgehobene Position überdies mit expliziten Heilszusagen verknüpft, die in der Zusicherung gipfeln: qui audit me non confundetur et qui operantur in me non peccabunt qui elucidant me vitam aeternam habebunt (Sir 24,30  f.).

Wer auf mich hört, wird nicht zuschanden, wer mir dient, fällt nicht in Sünde. Wer mich ans Licht hebt, hat ewiges Leben.

Es überrascht daher nicht, dass die göttliche Sapientia in den neutestamentlichen Schriften und in der frühen Väterexegese noch ausschließlich auf Christus hin ausgelegt worden ist.40 Die Basis für die marianische Umdeutung der Passagen legten offenbar liturgische Entscheidungen der Karolingerzeit: Ausschnitte aus den Weisheitsbüchern wurden für die vier neu entstandenen großen Marienfeste Verkündigung, Geburt, Reinigung (Lichtmess) und Himmelfahrt als Lesungstexte gewählt; sie sind in dieser Funktion seit der Wende vom 7. zum 8. Jahrhundert belegt.41 Ob die Wahl selbst schon als erstes Indiz für einen Wandel in der Auslegungstradition gelten muss oder die Maria-Sapientia-Akkomodation sich (durch die Sogwirkung der weiblichen Sprecher-Instanz der in der Liturgie besonders häufig verwendeten Weisheits-Monologe) erst schrittweise entwickelt hat, ist in der Forschung umstritten: Seethaler vermutet, dass zunächst die alte christologische Deutung vorherrschend blieb, dass Maria in den Lesungen also ursprünglich als Mutter der in Christus verkörperten und durch sie geborenen göttlichen Weisheit gepriesen wird.42 Spätestens ab der Mitte des 12. Jahrhunderts aber, und das ist der für meine Argumentation wichtige Punkt, ist eine direkte Auslegung der Sapientia auf Maria Standard und inspiriert eine veritable sapientologische Mariologie, für die insbesondere die Prädestination der Gottesmutter ein gegebe-

39 Vgl. grundsätzlich: Paula Seethaler: „Die Weisheitstexte in der Marienliturgie,“ Benediktinische Monatsschrift 34 (1958), 111–120, sowie Newman 2003 (wie Anm. 22). Interessant in diesem Kontext ist vor allem Kap. 5: “Sapientia: The Goddess Incarnate,” 190–244, hier insbes. 190–200. 40 Seethaler 1958 (wie Anm. 39), 112–118; Newman 2003 (wie Anm. 22), 192. 41 Seethaler 1958 (wie Anm. 39), 111  f. sowie 115; Newman 2003 (wie Anm. 22), 196  f. 42 Seethaler 1958 (wie Anm. 39), 115  f.; vgl. aber Newman 2003 (wie Anm. 22), 197: Sie weist darauf hin, dass die Texte schon vor ihrer Verwendung für die Marienliturgie als Lesungstexte für die Feste weiblicher Heiliger genutzt worden seien. Ursache hierfür sei die weibliche Bildlichkeit, die eine Übertragbarkeit auf Frauen nahe legte; die Übernahme in die Marienliturgie sei als Erweiterung dieses Vorgangs zu betrachten.

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nes Faktum darstellt.43 Von ihr geht auch der Mönch ganz fraglos aus: „Du pist in götlichem herzen / […] fraw, ie und ie gewesen schon“ (IV,20–22). Die angefügte Quellenangabe „küng Salomon / dir des gestatt“ (IV,23  f.) verdeutlicht dabei zur Genüge, dass er sich hier konkret auf den Weisheits-Monolog in den Proverbia bezieht – sie gelten im Mittelalter noch sicher als salomonische Schrift.44 Der Mönch zitiert darüber hinaus auch den Sirach-Monolog mit seinen konkreten Heilszusagen an.45 Denn das Marienlob „Balsams riechen suss und stark“ (II,7), mit dem die zweite Strophe anhebt, greift Sir 24,21 „et quasi balsamum non mixtum odor meus“ auf, eine der vegetabilen Preisformeln vom Ende des Monologs, kurz bevor dieser in die abschließende Kaskade von Heilsversprechen übergeht.46 Prima vista scheint diese Übernahme wenig spektakulär. Die Preisformel wird schon in der Väterliteratur breit genutzt und bezieht sich dann zumeist auf Marias Liebe zu Gott und den Menschen oder ihre Tugendfülle.47 Ein konkreter Bezug zur Quelle ist damit nicht notwendig gegeben. Doch der Mönch nutzt die Formel nur in solchen Fällen auf diese unverbindliche Weise, in denen er entsprechende Vorgaben seiner lateinischen Vorlagen übersetzt.48 Wenn er aber die Anrede „Balsam“ aus eigenen Antrieb in frei textierte Lieder einfügt, stellt er jeweils eine direkte Verbindung zu Marias Gnadenhandeln her49 und verweist so auf den erweiterten Kontext von Sir 24,21 als Rückhalt für seine Darlegung. Dies gilt auch für den zweiten Versikel des Guldein Abc, in dem die heilende Wirkung

43 Seethaler 1958 (wie Anm. 39), 199. Seethaler datiert diesen Umschwung in der Deutung sogar schon etwas früher, nämlich aufs 11. Jahrhundert. Vgl. Seethaler 1958 (wie Anm. 39), 119. 44 Die heutige Forschung verweist hingegen darauf, dass der Ton des Buches „zu anonym“ sei, um die Autoridentifizierung im Prolog (Prov 1,1) zu bestätigen. Siehe hierzu die Einleitung zum Buch der Sprichwörter in der Neuen Jerusalemer Bibel (Deissler und Vögtle 2007 [wie Anm. 36], 861  f., hier 861). Zur Identifizierung der vom Mönch anzitierten Passage vgl. Knapp 2004 (wie Anm. 2), 465. 45 Wie die Übernahme dieser Partie als Lesungstext sich auf das Marienbild des hohen und späten Mittelalters auswirkt, ist in der Forschung weit weniger gut untersucht als die Rezeption von Prov  8,22  f. Newman merkt lediglich in allgemeiner Form an, dass die Nutzung der Weisheitstexte in der Marienliturgie einer Vergöttlichung der Gottesmutter Vorschub geleistet habe (Newman 2003 [wie Anm. 22], 200). 46 Knapp 2004 (wie Anm. 2), 465. Knapp identifiziert zwar die Referenz, doch spielt dies für seine Interpretation des Guldein Abc keine Rolle. 47 Anselm Salzer, Die Sinnbilder und Beiworte Mariens in der deutschen Literatur und lateinischen Hymnenpoesie des Mittelalters: Mit Berücksichtigung der patristischen Literatur. Eine literar-historische Studie (Darmstadt 1967 [ND]), 144  f. Vgl. auch Kraß 2014 (wie Anm. 2), 132. 48 Vgl. G 5,I,4; G 7,III,17 und G 8,III,17. 49 Außer im Guldein Abc ist dies nur in zwei anderen Liedern des Corpus der Fall, nämlich in G 3, VI,34–36: „Balsam früchtig, mach got züchtig, / so wir süchtig werden flüchtig / under deines mantels val.“, sowie in G 18,II,14: „balsams aller genaden reiche“.



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des Balsamduftes umgemünzt wird auf Marias Fähigkeit, die Menschen von ihren Sünden zu befreien50: Balsams riechen suss und stark du jüngest plut und mark; wer in sünden ist veraltt, der gewinnt ain gut gestalt, wes du dich, fraw, wilt annemen, der mag got nicht widerzemen. (II,7–12)

Süßer und starker Duft des Balsam, du verjüngst Blut und Mark; wer in Sünden alt geworden ist, der gewinnt ein gutes Aussehen, wessen du, Herrin, dich annehmen willst, der kann Gott nicht missfallen.

Dabei wird die Anrede der Jungfrau als „Balsamduft“ dem Mönch geradezu zum Sprungbrett, um abschließend Marias Urteil über die Gläubigen als leitend selbst für Gott präsentieren zu können. Das Machtreservoir, das die Maria-SapientaAkkomodation für die Mariendarstellung des Guldein Abc erschließt, deutet sich damit erstmals an einem Punkt an, der für die Gesamtargumentation überaus wichtig ist: Die Verse bereiten schließlich die Basis für die Handlungsspielräume als Miterlöserin, die die Sequenz Maria im Bittteil zuerkennt.

4 Fazit In seiner Sequenz entwirft der Mönch von Salzburg ein Bild der Gottesmutter, das insbesondere durch die Zuweisung der beiden Eigenschaften „genad“ und „gewalt“ bestimmt ist. Die Maria des Guldein Abc wird auf diese Weise nicht allein durch ihre allumfassende Güte gekennzeichnet, sondern ebenso durch die ihr zugesprochene Macht, die Gnade auch wirksam werden zu lassen, wobei sich ihre Position der Stärke primär in ihrer Rolle als Miterlöserin manifestiert. In der Aufwertung der Gottesmutter liegt damit die Antwort auf das eingangs thematisierte Paradoxon, wie man den göttlichen Ratschluss in der Gerichtssituation verfügbar machen kann, ohne Gott selbst in seiner Unverfügbarkeit zu beschä-

50 In durchaus vergleichbarer Weise stellt Konrad von Megenberg einen Zusammenhang zwischen der Bezeichnung der Jungfrau als Balsam und ihrem Gnadenhandeln her. Im 1348–1350 verfassten Buch der Natur heißt es: „Dem balsem geleicht sich unser frawe in der geschrift und spricht: ‚ich hân ainen smack geben als ein wolsmeckender balsem.‘ zwâr, daz spricht si mit lauterr wârheit, wan sie aller tugenden wol sträwet ir grôz parmherzichait auf uns arm sündær mit sô vil genâden, daz wir den himel mêr besitzen mit gewalt wan mit reht“, Franz Pfeiffer, Hg., Das Buch der Natur von Konrad von Megenberg: Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache (Hildesheim 1962 [ND]), 361,6.

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digen. Denn indem Maria ins Zentrum der Heilserwartung rückt, richten sich die Hoffnungen der Gläubigen auf eine Figur, die durch ihre eigene Menschlichkeit und ihre Barmherzigkeit in hohem Maß tangibel ist, jedoch gleichzeitig durch ihre Einbindung in den Heilsplan Anteil an der göttlichen Sphäre hat. Im Gedankensystem der Sequenz wird Maria dementsprechend auch deswegen zur beweglichen Figur, weil Gott unbeweglich bleiben soll. In dem mit ihrer Machtposition verknüpften bedingungslosen Heilsversprechen offenbart sich zudem das ultimative Trostangebot der Sequenz, das dezidiert mit Blick auf die von der Sprecher-Instanz artikulierte Schwäche und Sündenverfangenheit der Menschen hin konzipiert ist: Anders als im direkten Kontakt mit Gott, für den im Guldein Abc anscheinend das Vergeltungs-Prinzip vorausgesetzt wird (Gott lohnt gute Taten), gilt in der Auseinandersetzung mit Maria das Gnaden-Prinzip. Anstelle von Umkehr und aktiver Buße reichen daher Reue und das unerschütterliche Vertrauen auf die Gottesmutter aus, um Rettung erlangen zu können. Deutlicher noch als in dem hier besprochenen Abecedarium formuliert der Mönch diesen Gedanken in der bereits zitierten Sequenz Richer schatz der höchsten freuden (G 3). Der Gottesmutter sei, so versichert die Sprecher-Instanz, „zu pös chain pöser“, so lange er sie zu Lebzeiten angerufen habe; ihre Hilfe entziehe sie nur demjenigen, der an dieser Überzeugung zweifle: „trutz, der sprech: ‚in sölchen massen / ist zu gross mein missetat‘“ (G 3,VII,38.41  f.).51 Gerade aus dieser Perspektive ist es allerdings sinnvoll, Marias Stärke zu betonen, weil sie durch ihre autonome Kraft zur Erlösung und durch ihre Überzeugungskünste die fehlenden guten Taten der Menschen gleichsam zu ersetzen hat. Es kann daher nicht überraschen, wenn sich in anderen Liedern des MönchCorpus noch plakativere Formulierungen für diesen Sachverhalt finden. So schließt G 21: Von anegeng der sunne klar, eine Übersetzung des Weihnachtshymnus A solis ortus cardine52, etwa mit einer Doxologie, die gegenüber dem Original

51 Diese Haltung ist gemäß Hamm ebenfalls typisch für die Entwicklung der seelsorgerischen Theologie im späten Mittelalter. Die Absenkung der zur Sündentilgung notwendigen Bußleistung zum guten Willen muss dabei als Gegenentwurf zu dem in derselben Zeit zu beobachtenden Streben nach geistiger Vollkommenheit gelten, wie es etwa in den Ordensreformen propagiert wurde. Vgl. Hamm 1999 (wie Anm. 1), 171  f., Anm. 31 (hier für die Religiosität um 1500 formuliert), sowie ausführlicher Bernd Hamm, „Wollen und Nicht-Können als Thema der spät­mittel­alter­ lichen Bußseelsorge,“ in Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis, ed. Berndt Hamm und Thomas Lentes, Spätmittelalter und Reformation N. F. 15 (Tübingen 2001), 111–146. 52 Wachinger 1989 (wie Anm. 4), 32–36, äußert bezüglich der Autorschaft des Mönchs Zweifel, doch ist G 21 recht breit in vier der acht Mönch-Corpushandschriften überliefert. Aus der Perspektive der Redaktoren fügt sich der Hymnus mit seiner theologisch brisanten Doxologie also durchaus in das Mönch-Corpus ein, selbst wenn er doch von einem anderen Verfasser übersetzt worden sein sollte.



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in einer Weise umgestaltet worden ist, dass sie Maria in die Trinität einreiht, diese mithin zur Quaternität erweitert und die Jungfrau folglich so nah an Gott heranführt, wie es überhaupt denkbar ist53: Dem höchsten got sei lob gesait, darzu dem kind und auch der maid und auch des heiligen geistes nar von werlt zu werlt an ende gar. Amen. (G 21,VIII,29–32)

Dem höchsten Gott sei Lob gesagt, dazu dem Sohn und auch der Jungfrau und auch dem Heil des heiligen Geistes von Welt zu Welt ganz ohne jedes Ende. Amen.

53 A solis ortus cardine ist eigentlich als 23-strophiges Abecedarium verfasst. Die Weihnachtsfassung, die allein deutsche Übersetzungen inspiriert hat, nutzt nur die ersten 7 Strophen des Hymnus und versieht sie mit einer Doxologie anderer Herkunft (Franz Josef Worstbrock und Burghart Wachinger, „Sedulius,“ ²Verfasserlexikon 11 [2004], 1408–1413, hier 1411). Im Bre­viarium romanum lautet die mit dem Hymnus verbundene Doxologie: „Jesu, tibi sit gloria / qui natus es de virgine, / cum Patre et almo Spiritu, / in sempiterna saecula“ (Breviarium romanum ex decreto Sacrosancti Concilii tridentini restitutum, S. PII V. Pontificis Maximi jussu editum, Clementis VIII. ac Urbani VIII. auctoritate recognitum, cum officiis sanctorum novissimis usque ad SS. D. N. Pium  VI. pro recitantium commoditate diligenter dispositis. Pars hiemalis. A Dominica prima adventus usque ad dominicam primam quadragesimae [Kempten 1791], 233; online eingesehen unter http://digitale.bibliothek.uni-halle.de/urn/urn:nbn:de:gbv:3:1–327541 [02. 09. 2014]. Aufgrund der ungewöhnlichen Wendung „des heiligen geistes nar“ (G 21,VIII,31), die wohl „almo Spiritu“ wiedergegeben soll, halte ich diese Doxologie für die Vorlage des Mönchs.

Teil 4: Medien der Handhabung Gottes

Patrick Demouy

Reims, ville des sacres «Reims, ville des sacres». La formule sonne comme un théorème historique et nous replonge dans un passé immémorial. Au plus haut de sa façade, la cathédrale affirme son privilège par la monumentale galerie des rois, dont cinquante-six statues entourent le baptême de Clovis par saint Remi. Ce long cortège marque une continuité enracinée dans les origines même du royaume des Francs. Continuité mythique.

1 Du baptême de Clovis au sacre des rois de France Il est bien sûr tout à fait exact que le baptême de Clovis a eu lieu à Reims et qu’il justifie le choix de la ville pour la célébration du sacre royal, mais entre l’acte fondateur et les cérémonies en question il s’est écoulé plusieurs siècles. La date exacte du baptême de Clovis fait problème.1 La mémoire collective a retenu 496, à la lecture de l’Histoire des Francs de Grégoire de Tours. Mais celui-ci écrivait à une époque  – le VIe siècle  – ignorant l’usage du millésime; il a articulé son récit, comme les panégyriques impériaux, en période de cinq ans, les lustres, et leurs multiples. Roi à quinze ans, baptisé à trente (comme le Christ), mort à quarante-cinq, Clovis aurait régné autant ante legem que sub lege, avant et après sa conversion, point culminant de son existence. Nouveau Constantin  – Grégoire le compare explicitement au premier empereur chrétien – il aurait embrassé la foi chrétienne à la suite d’une bataille providentiellement victorieuse contre les Alamans. L’étude des campagnes militaires de Clovis et le regroupement de multiples sources conduisent à placer cette conversion au plus tôt en 498 ou 499. Le lieu du baptême est bien attesté par les documents les plus anciens et se justifie pleinement par le contexte. Exerçant d’abord une autorité de roi fédéré – donc légitimé par Rome – dans la cité de Tournai, au nord de la province de Belgique

1 Bruno Dumézil, Les racines chrétiennes de l’Europe (Paris 2005), 219, rappelle les débats sur la date du baptême de Clovis, qui sont depuis plus d’un siècle l’objet d’une querelle historiographique sans fin. Mark Spencer, «Dating the baptism of Clovis, 1886–1993,» Early Medieval Europe 3 (1994), 97–116, présente les arguments des deux camps opposés, entre datation haute vers 498 et datation basse jusqu’à 506.

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Seconde, Clovis a progressivement étendu son pouvoir à la Gaule du Nord. Quelles que soient les relations, sans doute étroites, établies entre sa famille et l’évêque de Reims, le choix de ce dernier pour procéder au baptême apparaît d’abord institutionnel.2 Reims était la métropole de la vaste province dont Clovis s’était rendu maître; l’évêque métropolitain – on dira plus tard archevêque – était l’ecclésiastique du rang le plus élevé, interlocuteur ipso facto du chef politique et militaire. La conversion de Clovis lui a valu le ralliement rapide des évêques gallo-romains («Votre foi, c’est notre victoire», lui écrivit celui de Vienne, saint Avit)3; ils avaient trouvé leur champion pour rétablir l’ordre politique, dans un pays éclaté en royautés barbares, et l’ordre religieux contre ces mêmes royautés – wisigothique et burgonde – dont les chefs soutenaient l’hérésie ancienne. Effectivement Clovis s’empara du royaume des Wisigoths, la dynamique de la victoire unit dernière lui les autres royaumes francs et ses fils s’emparèrent de celui des Burgondes. C’est à juste titre qu’on a considéré le baptême de Clovis comme l’acte fondateur de ce royaume des Francs qui – à terme et avec bien des fluctuations de frontières – devait devenir le royaume de France. Un royaume où dès l’origine le christianisme fut un facteur d’unité, l’épiscopat étant associé à l’exercice du pouvoir. Mais il faut clairement affirmer que Clovis n’a pas été sacré; s’il a reçu effectivement une onction de saint chrême, ce fut l’onction post-baptismale conférée par l’évêque au néophyte adulte, plus tard dissociée et différée pour devenir le sacrement de confirmation quand se fût généralisé le baptême des enfants.4 Si le baptême de Clovis est à l’origine de l’autorité en Gaule de la dynastie mérovingienne, le sacre est la conséquence de son effondrement puisque le premier roi sacré est Pépin le Bref, confortant par l’onction sa prise du pouvoir ou plus exactement du titre royal avec l’aval de la papauté; le pape Zacharie avait déclaré «qu’il valait mieux appeler roi celui qui avait plutôt que celui qui n’avait pas le pouvoir royal».5 Fort de cet appui le puissant maire du palais réunit les grands à Soissons en novembre 751 et se fit élire roi des Francs à la place du faible Childéric III, tonsuré et envoyé à Saint-Bertin. De même que Clovis avait dû en grande partie sa domination sur la Gaule à l’onction du baptême, de même Pépin

2 Marie-Céline Isaïa, Remi de Reims (Paris 2010), 87–113. 3 «Vestra fides nostra victoria est »: lettre 46; Alcimi Ecdicii Aviti …, MGH, A. A., VI / 2, ed. Rudolf Peiper (Berlin 1883), 75. 4 Victor Saxer, «Les rites du baptême de Clovis dans le cadre de la pratique paléochrétienne,» in Clovis, Histoire et Mémoire, I, Clovis en son temps, l’évènement, ed. Michel Rouche (Paris 1997), 229–241. 5 «Et Zacharias papa mandavit Pippino ut melius esset illum regem vocari, qui potestatem haberet, quam illum qui sine regali potestate manebat»: Annales regni, ann.749–750, MGH in usum scholarum, ed. Friedrich Kurze (Hannover 1895), 8.



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allait-il fonder la sienne sur l’onction royale administrée par les évêques. Ce parallélisme allait engendrer rapidement une confusion … largement volontaire. L’onction royale n’était pas une tradition franque mais wisigothique (dans l’Espagne du VIIe siècle) et surtout bien évidemment biblique, quand le prophète inspiré par Dieu prenait la corne d’huile pour instituer le chef et le doter des grâces nécessaires à la fonction: «Samuel prit la corne d’huile et l’oignit au milieu de ses frères. L’esprit de Yahvé s’empara de David à partir de ce jour-là».6 Outre de don de l’Esprit, l’onction assurait l’inviolabilité personnelle. David épargna son prédécesseur Saül qui cherchait à le faire périr: «Yahvé me garde d’agir ainsi à l’égard de mon seigneur, de porter la main sur lui, car il est l’oint de Yahvé».7 Ce n’était pas le moindre avantage du sacre, compte tenu des risques du métier … On comprend son intérêt en 751 dans le contexte de l’avènement d’un nouveau roi étranger à la famille de Clovis, présenté comme l’élu de Dieu. En 754, Pépin profita de la venue en France du pape Etienne II pour se faire à nouveau sacrer, à Saint-Denis, avec ses deux jeunes fils Charles et Carloman.8 C’était la reconnaissance d’une nouvelle dynastie. En 768, après la mort de son père, Charles se fit sacrer une deuxième fois, à Noyon. Cette longue digression était nécessaire pour bien montrer que Reims n’a été en rien concernée par les premiers sacres. Il faut attendre pour cela le 5 octobre 816, soit plus de trois siècles après le baptême de Clovis, mais l’ombre de celui-ci plane sur l’événement. Restaurateur de l’empire d’occident, Charlemagne a reçu, comme chacun sait, la couronne des mains du pape à Rome le 25 décembre 800. A la fin de sa vie, il voulut, à la manière romaine, associer son fils au pouvoir impérial. En 813 Louis reçut un diadème des mains de son père ou, à son instigation, le prit sur l’autel de la chapelle palatine d’Aix. Mais Louis, à juste titre surnommé le Pieux, ne pouvait se satisfaire de cette cérémonie accomplie sans l’intervention de l’Église. Après le règne conquérant d’un David (c’est ainsi que l’on surnommait Charlemagne à la cour), Louis voulait inaugurer le règne de paix et de justice d’un Salomon en donnant à l’Église sa vraie place, le première.9 Charlemagne l’avait dominée de toute son autorité. Les évêques demandaient moins d’empiètement des laïques. Louis y était prêt, par conviction profonde car pour lui l’empereur était

6 1 Samuel 16,13. 7 1 Samuel 24,7. 8 Charles Mériaux, «Du nouveau sur les sacres de Pépin le Bref (751 et 754),» in Passion de la découverte, culture de l’échange, ed. Frédéric Gugelot (Langres 2005), 164–177. 9 Karl-Ferdinand Werner, «Hludovicus Augustus: Gouverner l’empire chrétien. Idées et réalités,» in Charlemagne’s Heir: New Perspectives on the reign of Louis the Pious, 814–840, ed. Peter Godman and Roger Collins (Oxford 1990), 3–123.

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dans l’Église et non au-dessus et il appartenait aux évêques de garder les âmes, y compris celles des princes. Assumant l’idée d’un ministère royal, un pouvoir exercé au service d’un bien transcendant, il lui fallait la grâce de l’onction. Certes il avait déjà été sacré, à Rome, en 781, mais à l’âge de trois ans, ce qui justifiait, comme l’avait fait son père, une cérémonie inaugurant son règne effectif. C’est à Reims qu’elle fut organisée, sous la présidence du pape Etienne IV. Pourquoi Reims? Parce que Louis était un nouveau Clovis. On ne prête pas toujours assez attention à la force des noms. Clodovecus, Hlodovicus, Ludovicus, Chlodwig, Ludwig, Louis … c’est tout un. Le nouvel empereur ne s’appelait pas Clovis / Louis par hasard; le nom médiéval est porteur d’un message. Charlemagne avait déjà disposé pour ses trois premiers fils des noms carolingiens portés par un roi, Pépin, Carloman et Charles. Au lieu de donner aux suivants un nom familial non royal (comme Arnoul ou Drogon, que l’on retrouve pour ses enfants illégitimes) il choisit des noms royaux mérovingiens pour les jumeaux qui naquirent en 778, Clovis et Clotaire, Louis et Lothaire; ce dernier est mort en bas-âge mais le nom fut repris à la génération suivante puisque Louis le Pieux appela son fils aîné Lothaire. Clotaire avait été le premier fils de Clovis né après son baptême, le premier fils d’un roi franc chrétien. En choisissant ces noms, Charlemagne assumait l’héritage de la royauté mérovingienne, en s’appuyant sur une fiction généalogique, forgée pour la circonstance, qui atténuait l’usurpation de 751: le sang de Clovis  – certes par les femmes  – coulait dans les veines des carolingiens. Louis le Pieux en était bien persuadé quand il écrivit à l’archevêque de Reims, peu après le sacre:  «C’est dans cette église [la cathédrale] que par la grâce de Dieu et la coopération de saint Remi, notre nation des Francs, avec son roi de même nom que nous (cum aequivoco nostro rege) a été lavée dans les eaux sacrées du baptême et enrichie des sept dons de l’Esprit Saint; c’est là que ce très noble roi fut jugé par la clémence divine digne de l’onction de la puissance royale».10 Le mythe était lancé, la projection sur le baptême de Clovis de l’origine du sacre en passant de l’onction de la confirmation (les sept dons de l’Esprit) à l’onction royale. Clovis était roi, Louis était empereur avant la cérémonie. Celle-ci renforçait le pouvoir, le renouvelait. A Reims Clovis était devenu chrétien, Louis voulait rendre l’empire plus chrétien encore; mettant l’accent sur le peuple des Francs baptisé avec son roi, il entendait bien, par son sacre, accorder un état de grâce tout spécial à l’Occident. Mais le

10 Philippe Depreux, «Zur Echtheit einer Urkunde Kaiser Ludwigs des Frommen für die Reimser Kirche (BM2801),» Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 47 / 2 (1991), 1–16.



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geste de Louis le Pieux ne suffit pas à fonder une tradition, d’autant plus que son règne, bien commencé, tourna vite à la catastrophe, les conflits avec ses enfants, la déposition de 833–835, la guerre civile, une triste mort en 840, suivie trois ans plus tard du partage de l’empire entre les fils. Le 6 juin 848, à Orléans, le métropolitain de Sens Wénilon sacra Charles le Chauve roi de Francie occidentale. En 869 celui-ci s’empara de la Lotharingie – le royaume médian – à la mort de son neveu Lothaire II et s’empressa de se faire couronner à Metz, le berceau de la famille carolingienne, par l’archevêque de Reims Hincmar. Dans les Annales de Saint-Bertin, dont il tenait la plume, Hincmar éprouva le besoin de se justifier: le siège de Trèves, métropole de Belgique Première où se trouvait Metz, était vacant; les deux Églises étant sœurs, le métropolitain de Belgique Seconde remplaça son confrère pour la circonstance.11 Cela montre qu’à l’évidence Reims n’avait encore aucune prérogative particulière et que le sacre devait être conféré ordinairement par le métropolitain du lieu, l’ecclésiastique du rang le plus élevé. L’exemple d’Orléans où officia l’archevêque de Sens le confirme. C’est alors qu’apparut la Sainte Ampoule.

2 La Sainte Ampoule Procédant, le 9 septembre 869, au sacre messin de Charles le Chauve, Hincmar déclara que «le glorieux Clovis roi des Francs a été oint et consacré comme roi à l’aide d’un chrême venu du ciel que nous possédons encore».12 Grégoire de Tours, pourtant peu avare en récits miraculeux ou providentiels, n’a pas soufflé mot de ce prodige. Hincmar l’a-t-il purement et simplement inventé pour conquérir une légitimité ou l’a-t-il trouvé dans les traditions liturgiques rémoises? Il est bien difficile de trancher.13 Ce qui est sûr c’est qu’il a considérablement développé le miracle de la Sainte Ampoule en rédigeant au terme de son existence (autour de 880) la Vie de Saint Remi. Pour expliquer l’origine de cette légende, Jacques Le Goff a émis l’hypothèse d’une contamination de l’iconographie du baptême du Christ.14 L’Evangile mentionne l’Esprit de Dieu descendant sous la forme d’une colombe; dans les baptistères de Ravenne celle-ci apporte une fiole à Jean-Bap-

11 Félix Grat et al. ed., Annales de Saint-Bertin (Paris 1964), 162–163. 12 «caelitus sumpto chrismate unde adhuc habemus», Annales de Saint-Bertin, ibid. 13 Marie-Céline Isaïa, «Objet du sacre, objet sacré? L’exemple de la Sainte Ampoule,» in Objets sacrés et objets magiques de l’Antiquité au Moyen Age, ed. Charles Delattre (Paris 2007), 151–167. 14 Jacques Le Goff, «Reims, ville du sacre,» in Les lieux de Mémoire: La Nation, I, ed. Pierre Nora (Paris 1986), 89–184.

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tiste ou diffuse elle-même un chrême rayonnant, signe de dons de l’Esprit. Une plaque d’ivoire du musée de Picardie, provenant de la reliure d’une Vie de Saint Remi du IXe siècle, montre bien l’adaptation du modèle christique au baptême de Clovis, colombe comprise. On peut y voir une image symbolique insistant sur l’analogie entre le baptême fondateur de l’Église et le baptême fondateur du royaume chrétien des Francs, sur l’analogie entre le roi sacré et le Christ, l’oint du Seigneur par excellence (c’est ce que signifie le mot Christos). Mais puisque la colombe tient une fiole dans son bec, on peut lire au premier degré l’image d’un prodige, l’envoi d’une «céleste liqueur» dans un flacon. Car la Sainte Ampoule a bel et bien existé, a été vue et touchée par d’innombrables témoins avant d’être brisée par un conventionnel en mission sur la ci-devant place Royale de Reims le 7 octobre 1793. On la conservait dans le tombeau de saint Remi, dans le chœur de l’abbatiale élevée au sud de la cité. Quand il y avait un sacre à la cathédrale, les moines bénédictins l’y emportaient en procession, sous bonne escorte, puis la renfermaient aussitôt dans le mausolée de l’apôtre des Francs. Il paraît logique d’associer l’ampoule au saint évêque qui l’avait reçue du Ciel, mais pourquoi la garder dans son tombeau? Peut-être tout simplement parce que c’est là qu’on l’avait trouvée. L’examen de ses reliques montre que saint Remi a été embaumé; une translation dans une nouvelle châsse a eu lieu en 852 sous la présidence de l’archevêque Hincmar. A-t-il trouvé à cette occasion une fiole d’aromates restée près du corps? C’est une hypothèse séduisante. En tout état de cause, ce qui importe c’est le message que voulait faire passer Hincmar en exaltant ce miracle. Il avait appris à Saint-Denis comment écrire l’histoire des Francs et l’interpréter comme l’œuvre de Dieu à travers ses saints.15 La volonté de Dieu avait été réalisée par saint Remi à travers Clovis, dont le baptême  / sacre avait fondé l’ordre chrétien dans le royaume. Dans son hagiographie Hincmar présente le «binôme» Clovis – Remi comme la source de l’équilibre de la cité terrestre. Pour qui sait lire entre les lignes, comme l’a montré Jean Devisse, c’est de l’entente entre le roi, héritier de Clovis, et l’archevêque de Reims, successeur de saint Remi, que devait naître un gouvernement juste, pacifique et stable. Suivez son regard … Pour consacrer cet ordre chrétien Dieu avait tout exprès dépêché un saint chrême miraculeux à Reims, centre spirituel des Francs où devait se renouer la chaîne des temps de génération en génération, d’onction en onction, issue du même flacon. Quelle fut la réception de ce discours? En 877 Hincmar obtint une demi-sat­ isfaction en sacrant Louis le Bègue, non pas à Reims mais dans la chapelle du

15 Jean Devisse, Hincmar, archevêque de Reims, 845–882, II (Genève 1976), 671 sq.



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palais de Compiègne (qui était dans sa province). Si nous considérons rapidement la liste des sacres jusqu’au début du XIe siècle, force est de constater une grande dispersion et la compétition entre deux officiants: 879, Louis III et Carloman à Ferrières-en-Gâtinais (archevêque de Sens); 888, Eudes à Compiègne (archevêque Sens); 893, Charles III à Saint-Remi de Reims (archevêque Reims), premier sacre royal stricto sensu dans la ville puisque celui de Louis le Pieux était impérial; 922, Robert 1er à Saint-Remi (archevêque Sens); 923, Raoul à Soissons (archevêque Sens); 936, Louis IV à Laon (archevêque Reims); 954, Lothaire à Saint-Remi (archevêque Reims); 979, Louis V à Compiègne (archevêque Reims); 987, Hugues Capet à Noyon (archevêque Reims); 987, Robert II à Orléans (archevêque Reims); 1017, Hugues, roi associé, à Compiègne (archevêque Reims). Sur onze sacres, neuf ont eu lieu dans la province de Reims, qui était le refuge des derniers carolingiens, la province où ils conservaient l’essentiel de leur pouvoir et où leurs compétiteurs robertiens venaient manifester leur autorité en important leur archevêque, celui de Sens. Eudes, Robert et Raoul étaient possessionnés entre Paris et Orléans, donc dans la province de Sens (il ne faut pas oublier que Paris n’est archevêché que depuis le XVIIe siècle). Le retournement a commencé à s’opérer avec Hugues Capet, qui devait largement son élévation au trône à l’archevêque de Reims Adaldéron. Mais il faut attendre 1027 (Henri 1er) pour que les sacres se fixent à Reims, désormais dans la cathédrale, et ce jusqu’à la fin de l’Ancien Régime (Charles X en 1825), à l’exception de Louis VI (1108) et Henri IV (1594), soit trente sur trente-deux. On est donc loin des cinquante-six statues de la galerie des rois et du baptême de Clovis! Michel Bur a bien montré la corrélation entre cette localisation dans la cathédrale de Reims et le fait que le roi y accentuait sa présence par grand vassal interposé.16 C’est en effet dans les années 1020 que l’archevêque reçut les droits comtaux sur la cité. Le suzerain montrait qu’il était chez lui. Dans toute cette affaire, aucun texte ne dit mot de la Sainte Ampoule, qu’on semble avoir plus ou moins oubliée. Il faut attendre le XIIe siècle pour la voir réapparaître. En 1131 le roi Louis VI eut la douleur de perdre son fils aîné Philippe, roi associé, à la suite d’une chute de cheval. Il dut faire sacrer le puîné, Louis, et prit la route de Reims. Par une heureuse coïncidence se tenait dans la cathédrale un important concile convoqué par le pape Innocent II et c’est le souverain pontife lui-même qui procéda au sacre le 25 octobre. La chronique de Morigny précise qu’il y avait là treize archevêques et deux cents trente-six évêques, que le pape a commencé

16 Michel Bur, «Reims, ville des sacres,» in Les sacres des Rois, Actes du colloque international d’histoire sur les sacres et couronnements royaux, Reims 1975 (Paris 1985), 39–47.

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par rappeler que c’est par la volonté de Dieu que les rois règnent, puis a procédé au rite en usant de l’huile reçue d’un ange par saint Remi pour rendre chrétien Clovis, roi des Francs.17 A l’exception d’une petite phrase sceptique d’Hucbald de Saint-Amand parlant en 907 du «chrême amené du Ciel, à ce que l’on raconte»18, c’est la première mention explicite de la Sainte Ampoule depuis qu’Hincmar avait déclaré en 869 que son Église possédait encore la fiole miraculeuse. Et quelle mention! Le clergé rémois a réussi à faire authentifier la Sainte Ampoule par le pape au sein d’un concile général. Dès lors il était clair que puisque cette huile miraculeuse était conservée à Reims, le sacre devait y être nécessairement administré par le successeur de saint Remi. Aucune autre Église ne pouvait rivaliser avec elle. Et le roi lui-même ne pouvait que trouver des avantages à cette onction, qui le mettait dans une position exceptionnelle par rapport aux autres souverains. Pendant la Guerre de Cent Ans, on ne devait pas manquer de rappeler que le roi d’Angleterre était sacré avec une huile achetée chez les merciers, autrement dit chez l’épicier du coin.

3 Le roi Thaumaturge La nouvelle exaltation de la Sainte Ampoule allait avoir aussi pour conséquence l’intégration dans le sacre des croyances populaires qui attribuaient au roi des pouvoirs thaumaturgiques. Depuis le maître livre de Marc Bloch publié en 192419, les travaux de Jean-Pierre Poly ont renouvelé notre connaissance de la genèse du miracle royal, invitant à retrouver dans les zones refoulées de la superstition une croyance qui à l’origine de doit rien à l’Église.20 Flodoard raconte dans ses Annales qu’à la fin de l’été 954 le roi Louis IV, se rendant de Laon à Reims, tomba de cheval en poursuivant une espèce de loup (quasi lupus)21; on l’emporta grièvement blessé à Saint-Remi, le mal dégénéra en langueur puis en crise d’éléphantiasis dont il mourut. Autrement dit, il succomba à une tuberculose ganglionnaire, appelée vulgairement écrouelles (scrofulae, de scrofa, la truie, en raison de l’en-

17 «oleo quo sanctus Remigius per angelicam manum sibi presentato Clodoveum regem Francorum in christianum unxerat»: Chronique de Morigny, ed. Léon Mirot (Paris 1912), 60. 18 Vita Rictrudis (Acta Sanctorum, Maii III), citée par Henri Platelle, «Le peuple franc et Clovis vus par Hucbald de Saint-Amand en 907,» Childéric-Clovis, 1500e anniversaire (Tournai 1982), 220. 19 Marc Bloch, Les rois thaumaturges (Strasbourg 1924). 20 Jean-Pierre Poly, «Le capétien thaumaturge: Genèse populaire d’un miracle royal,» in La France de l’an mil, ed. Dominique Iogna-Prat et Robert Delort (Paris 1990), 282–308. 21 Philippe Lauer ed., Annales de Flodoard (Paris 1906), 138.



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flure du cou qui donnait au malade une allure porcine). Dans cette histoire le loup apparaît comme un agent du châtiment divin, se manifestant au passage de l’Aisne, près de Corbeny. Or il y avait là un domaine que la mère du roi avait légué à Saint-Remi, mais dont Louis IV s’était emparé. Il eut le temps de le restituer aux moines avant de mourir, mais la malédiction du loup n’était pas terminée puisque la tuberculose est contagieuse. En 986 Lothaire expirait, frappé par une «peste» qui avait atteint les ganglions de l’aine. Après avoir récupéré Corbeny, les moines y établirent un prieuré. L’église avait pour patron saint Marcoul, un missionnaire de Basse-Normandie, dont les reliques avaient abouti là au moment des raids vikings. Derrière ce personnage obscur se profilent des êtres fabuleux, familiers des récits populaires, le magicien Marcolf, compagnon du roi Salomon, et l’Anglo-saxon Marcwulf c’est-à-dire «le loup de la marche» ou «le loup de la forêt»; Marcwulf était le roi les loups, qui sont les chiens des anciens dieux païens. Les légendes ont sans doute contribué à la célébrité de Marcoul et vont beaucoup plus loin que l’étymologie familière – Marcoul, mal au cou – que rappelle Marc Bloch. Car saint Marcoul, outre les morsures du loup, soignait par excellence les écrouelles, comme le montrent les récits de miracles rassemblés au début du XIIe siècle. Autour de 1120, l’abbé Guibert, de Nogent-sous-Coucy (à une quarantaine de kilomètres de Corbeny) rapporte que le roi Louis VI usait d’un prodige habituel: «ceux qui souffrent des écrouelles à la gorge ou quelque part sur le corps, je les ai bien vus accourir en foule à lui pour qu’il les touche, avec un signe de croix … La gloire de ce miracle, son père Philippe quoiqu’il l’exerçait avec joie, le perdit à la suite de je ne sais quelle faute».22 C’est le premier témoignage du toucher royal des écrouelles. Faut-il avec Jean-Pierre Poly invoquer le pardon du loup qui donna à Louis VI – premier capétien à porter ce nom – le pouvoir de guérir le mal auquel succomba Louis IV? Toujours est-il qu’il y a un arrière-plan de superstition populaire que traversent les loups si présents dans nos légendes. Soucieux de christianiser les campagnes, les clercs se sont efforcés de faire entrer tout cela dans une vision épurée associant le saint guérisseur Marcoul à la thaumaturgie royale et celle-ci au sacre. C’est après avoir été oint, par la main d’un pontife, du chrême miraculeux de la Sainte Ampoule, que le roi disposait de son pouvoir surnaturel. En 1315, Louis X fit pour la première fois le pèlerinage à Saint-Marcoul de Corbeny, initié par ses successeurs; le toucher avait lieu en général le surlendemain du sacre. A partir de 1654 la cérémonie fut transférée à Reims. Elle pouvait être répétée pendant le règne (Louis XI touchait les écrouelles chaque semaine) après que le roi se fût confessé. Il devait être en état de grâce pour transmettre une guérison qui venait de Dieu, comme l’exprimait le rituel du signe de la croix

22 Traité des reliques (P. L. 156, col. 616), cité par Bloch 1924 (cit. n°19), 30.

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sur les plaies et la formule: «Le roi te touche, Dieu te guérit». A la fin de l’Ancien Régime la formule avait changé: «Le roi te touche, Dieu te guérisse». Le subjonctif marquait-il une prière plus qu’une certitude? Les malades continuaient pourtant à se presser, deux mille pour Louis XIV et Louis XV, deux mille quatre cents pour Louis XVI. Il n’en restait plus que cent-vingt pour Charles X, la royauté sacrée était près de disparaître. Il est clair que pour les hommes et les femmes du Moyen Age, le roi exerçait une fonction sacrée, en lien avec les pouvoirs surnaturels, qui faisait de lui un intermédiaire entre Dieu et son peuple. C’est ce qu’expriment les rites du sacre, notamment les onctions investissant les sièges vitaux de la force d’en-haut (de la tête aux mains, en passant par les épaules, la poitrine et les bras) et les insignes du pouvoir, en particulier le sceptre – bâton du messager divin dans la tradition antique  – et le manteau bleu hyacinthe semé de lis rappelant celui du grand prêtre d’Israël («Sur sa robe talaire était tout l’univers»).23 A la fin de la cérémonie il était conduit sur un trône surélevé, entre ciel et terre, comme il convenait à un être sacré. «Que le médiateur de Dieu et des Hommes vous établisse médiateur du clergé et du peuple» lui disait l’archevêque.24 Pour autant le roi de France n’était pas un roi-prêtre. Aux XIe et XIIe siècles en particulier, l’Église a fixé les bornes séparant les ordres de la société. Elle n’accorda au roi que des concessions rituelles, dans le costume en particulier, de caractère quasi épiscopal (sceptre haut comme une crosse, couronne avec bonnet pointu comme une mitre, anneau, superposition de la tunique, de la dalmatique et du manteau), mais le roi restait un laïc. Il n’empêche que celui qui était au-dessus des hommes était ipso facto plus près de Dieu. Le mot juste se trouve sous le plume de Jean Golein quand il écrivait à Charles V à propos du début de la cérémonie du sacre: «Quand le roi se dépouille, c’est signifiance qu’il abandonne l’état mondain de par devant pour prendre celui de religion royale».25 Il faut entendre religion au sens d’état consacré, comme l’état monastique. Le prince entrait en religion, en religion royale, qui faisait de lui un autre homme. Quand la succession héréditaire se fût imposée, le sacre pouvait être administré assez longtemps après l’avènement, près d’un an pour Philippe III le Hardi, ce qui ne l’empêcha pas d’agir en roi dès la mort de son père et de dater de celle-ci le début de son règne. Tel était le roi des légistes,

23 Sagesse 18,24. Sur les ornements il faut se référer au beau livre d’Hervé Pinoteau, La symbolique royale française, V e–XVIIIe siècles (La Roche-Rigault 2003). 24 Jacques Le Goff et al. ed., Le sacre royal à l’époque de Saint Louis (Paris 2001), 286. L’édition de référence des ordines est due à Richard Jackson, Ordines coronationis Franciae: Texts and ordines for the coronation of frankish and french kings and queens in the Middle Ages, 2 vol. (University of Pennsylvania 1995–2000). 25 Cité par Bloch 1924 (cit. n°19), 483.



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pénétrés de droit romain: il détenait automatiquement la souveraineté. Toutefois pour les clercs et le peuple seule l’onction avec l’huile de la Sainte Ampoule lui donnait pleinement sa légitimité. On ne peut expliquer autrement l’épopée de Jeanne d’Arc, sa marche sur Reims après la victoire d’Orléans et son obstination à appeler Charles VII gentil dauphin, sept ans après la mort de Charles VI, tant qu’il ne fut pas oint dans la cathédrale. Alors seulement il devint pour elle vrai roi de France. Il n’y a de plus clair témoignage d’adhésion à la religion royale. A cette date (1429) la galerie des rois n’était sans doute pas encore totalement achevée. Le programme iconographique est en parfaite adéquation avec cette vision cléricale et populaire. Ce qui est mis en évidence au centre de la façade, c’est le miracle de la Sainte Ampoule reçue par saint Remi, et le baptême fondateur montrant que la mission du roi est de conduire son peuple vers un royaume qui n’est pas de ce monde.

Jana Pacyna

Anselm von Canterbury und die englischen Investiturkonflikte. Perspektiven historischer Netzwerkanalyse Geschichte(n) „erzählen“ anhand tradierter Texte und Artefakte, die quellenkritisch eingeordnet und inhaltsanalytisch aufgearbeitet werden – dies beschreibt in wohl unverantwortlicher Kürze das genuin methodologische Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft. Dem Vorwurf des Konstruierens von Geschichte, aufgrund lückenhafter Quellenüberlieferung und Subjektivierung von Quelleninhalten im Zuge ihrer Deutung, versuchte man mit diversen Verfeinerungen der hermeneutischen Methodiken, beispielsweise mittels präziser kontextueller Einordnung von Informationen zu begegnen. Mit einer Vielzahl von Disziplinen hat man kooperiert, um Theorien und Methoden zu entwickeln, die die Geschichtswissenschaft näher an das Ideal des „Objektiven“ heranführen. Unter anderem experimentieren Geschichtswissenschaftler heute mit Formen der Quellenbearbeitung, die im „Zählen“ von Quelleninhalten einen Abstraktionsprozess und verstärkt strukturellen Zugriff implizieren, die als Chance, aber auch als Risiko begriffen werden. Die Anwendbarkeit und Potentiale eines in diese Richtung weisenden methodischen Ansatzes, der historischen Netzwerkanalyse, sollen folgend im Kontext des Forschungsfeldes der englischen Investiturkonflikte näher beleuchtet werden.

1 Anselm und die Investiturkonflikte Der Investiturstreit, seine Ausprägungen und Konsequenzen werden in der deutschen Forschung als Phänomen der mittelalterlichen Reichsgeschichte seit langem akribisch analysiert. Im Bewusstsein, dass Investiturkonflikte kein ausschließliches Reichsphänomen darstellten, sondern auch in anderen europäischen Regionen greifbar waren, wurde in den letzten Jahren zunehmend die Auseinandersetzung mit den englischen Investiturkonflikten des 11. und 12. Jahrhunderts bzw. der angelsächsischen Hochmittelalterforschung angeregt. Durch den Vergleich der historischen Verläufe auf personeller und struktureller Ebene, aber auch durch die Adaption neuer methodischer Zugriffe erhoffte man kon­

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struktive Impulse für die hiesige Investiturstreitforschung.1 Ludger Körntgen und Dominik Waßenhoven verbinden mit dieser Herangehensweise die sinnvolle Einordnung des Investiturstreits als „ein begrenztes Problem von partieller Relevanz innerhalb der Vielfalt kultureller und globaler Perspektiven“.2 Dennoch bleiben die deutschen Beiträge zu den englischen Investiturkonflikten bislang recht übersichtlich. Am intensivsten haben sich wohl zuletzt Hanna Vollrath sowie Thomas Michael Krüger, Roland Zingg und Stefanie Schild in ihren Dissertationen mit den Auswirkungen der Investiturverbote von 1078/80 im zehn Jahre zuvor durch die Normannen besetzten England auseinandergesetzt.3 Trotz dieses politischen Umbruchs, so Vollrath, besaß England eine effiziente Gemeinwesen- und Kirchenstruktur, die durch die normannische Eroberung zu großen Teilen unberührt blieb. Die bereits etablierte Hierarchie der Zehnschaften, Hundertschaften sowie der Grafschaften und das daran gebundene, nicht mediatisierte Sheriffamt ermöglichte auch dem normannischen König die unmittelbare lokale Herrschaft – mit Blick auf das Reich ein entscheidender struktureller Unterschied. Desgleichen blieb die auf Gregor den Großen zurückgeführte und vor Ort durch Augustinus, den ersten Erzbischof von Canterbury, umgesetzte Organisation der angelsächsischen Kirche grundlegend für die Kirchenstruktur unter normannischer Herrschaft.4 In angelsächsischer Zeit vertrat der Erzbischof von Canterbury, als mehr oder weniger unumstrittener Primas der englischen Kirchenhierarchie und daher Repräsentant der Bischöfe, gegenüber König und Papst die Belange der eng­ lischen Kirche. Deren enge Rombindung wurde in der Kirchengeschichte Bedas mittels einer mythologischen Überhöhung ihrer Herkunftserzählung in lateini-

1 Ludger Körntgen und Dominik Waßenhoven (Hg.), Religion and Politics in the Middle Ages. Germany and England by Comparison/Religion und Politik im Mittelalter. Deutschland und England im Vergleich, Prinz-Albert-Studien 29 (Berlin / Boston 2013), 14–15; Hanna Vollrath, „Der Investiturstreit begann im Jahr 1100. England und die Päpste in der späten Salierzeit,“ in Salisches Kaisertum und neues Europa. Die Zeit Heinrichs IV. und Heinrichs V., ed. Bernd Schneidmüller und Stefan Weinfurter (Darmstadt 2007), 217–245. 2 Körntgen / Waßenhoven 2013 (wie Anm. 1), 12. 3 Vollrath 2007 (wie Anm. 1). Thomas Michael Krüger, Persönlichkeitsausdruck und Persönlichkeitswahrnehmung im Zeitalter der Investiturkonflikte. Studien zu den Briefsammlungen des Anselm von Canterbury (Hildesheim 2002); Roland Zingg, Die Briefsammlungen der Erzbischöfe von Canterbury, 1070–1170: Kommunikation und Argumentation im Zeitalter der Investiturkonflikte (Köln, Weimar, Wien 2012); Stefanie Schild, Der Investiturstreit in England (Husum 2015). 4 Vollrath 2007 (wie Anm. 1), 219–221. Vollrath argumentiert hier gegen die lange aktuelle, heute allerdings weitgehend widerlegte Annahme, die angelsächsische Kirche sei zur Zeit der Eroberung alles in allem „moralisch verkommen und reformbedürftig“ gewesen.



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scher und altsächsischer Sprache weithin tradiert; was nicht nur eine ausgeprägte Verehrung des Hl. Petrus und seiner Stellvertreter zur Folge hatte, sondern auch den unmittelbaren Konnex päpstlicher und erzbischöflicher Machtentfaltung.5 Den Beginn der Investiturkonflikte im nun normannischen England markierte weniger der konkrete und eher symbolische Konflikt um die Bischofs­investitur, sondern das Bewusstwerden einer zunehmenden Diskrepanz zwischen kirchlichen canones bzw. der regula benedicti und den weltlichen Herrschafts- und Patronatsrechten. Zingg und Krüger zufolge verschleierten im zweiten Drittel des 11. Jahrhunderts sowohl das Vertrauensverhältnis zwischen König Wilhelm I. und Erz­bischof Lanfranc (1070−89) als auch die großzügige materielle Förderung der Kirche durch den König das bereits vorhandene Konfliktpotential, welches in der königlichen Ablehnung der libertas ecclesiae angelegt war. Wilhelm verstand sich als Herr „seiner“ Kirche, die er allein (und nicht „seine“ Bischöfe) gegenüber Rom vertrat und praktizierte aller Wahrscheinlichkeit nach auch als erster eng­lischer König die Bischofsinvestitur mit Ring und Stab. Nach dem Tode Wilhelms  I. 1087 und Erzbischof Lanfrancs 1089 und der Einsetzung Anselms durch König Wilhelm II. Rufus nach vierjähriger Vakanz des erzbischöflichen Stuhles waren völlig andere Voraussetzungen geschaffen. Inwieweit Anselm sich schon jetzt als ein entschiedener Vertreter der libertas ecclesia-Idee verstand und handelte, ist umstritten. Zumindest verließ er sowohl unter Wilhelm II. als auch seinem Nachfolger Heinrich I., der wieder eine eher kirchenfreundliche Politik verfolgte, das Land und ging ins Exil. Im ersten Fall stand insbesondere die Frage im Raum, ob der Erzbischof von Canterbury unmittelbar oder nur mittelbar über den englischen König mit dem Papst in Kontakt treten durfte. Im zweiten Fall ging es vor allem um die Umsetzung der päpstlichen Verbote der Laieninvestitur, bei deren Formulierung auf den Konzilien in Bari 1098 und Rom 1099 Anselm aufgrund seines ersten Exils von 1097−1100 persönlich anwesend war. Diskutiert wird, ob Anselm bereits 1095 vor den Konzilien von Bari und Rom, durch eine Nachricht über das Konzil von Clermont und durch Vertreter des Reformpapsttums über das Verbot der Laieninvestitur informiert war und warum er dann die päpstlichen Verbote erst 1100 verkündete. Letztlich kam es 1107 mit dem „Vertrag von London“, auch „Londoner Konkordat“ genannt, zu einer Kompromiss­lösung, wobei der König auf die zeremonielle Investitur verzichtete und der Papst im Gegenzug den Lehnseid der Bischöfe tolerierte. Wie es zu dieser Einigung kam und welche Personen daran, in welcher Form beteiligt waren, darüber besteht immer noch eine gewisse Uneinigkeit unter Anselm-Forschern. Man versuchte

5 Vollrath 2007 (wie Anm. 1), 219–221; Zingg 2012 (wie Anm. 3), 293–294; Krüger 2002 (wie Anm. 3), 30–31.

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u.  a. der Sache über die Betrachtung Anselms als Kirchenpolitiker auf den Grund zu gehen.6 In der Korrespondenz Anselms von Canterbury sind ganz unterschiedliche Ausprägungen von Investiturkonflikten fassbar; nicht nur der englische Investiturstreit mit Wilhelm II. und Heinrich I., sondern gleichsam die Kontroversen um Kaiser Heinrich IV. und das Reformpapsttum sowie diverse Konflikte im Bereich der Abtsinvestitur und der Primatsstreit mit dem Erzbistum York. Angesichts dieser sehr verschieden gearteten „Investiturkonflikte“ vertrat Anselm, Krüger zufolge, recht ambivalente kirchenpolitische Positionen, die mal auf Gewissensfragen, mal auf traditionalistischen oder legalistischen Argumenten beruhten und den Erzbischof als inkonsequenten Kirchenpolitiker charakterisierten. Krüger argumentiert zunächst, dass die Vorstellung von der libertas ecclesiae, die sich im 11. Jahrhundert in weiten Teilen Europas ausbreitete, eng an das benediktinische Reformmönchtum gebunden war, welches über Wilhelm von Volpiano, Johannes von Fécamp und Lanfranc von Bec zunächst in der Normandie und nach 1070 auch in England Fuß fasste. Im Anschluss an Walter Fröhlich und die Amerikanerin Sally N. Vaughn stellt er dann allerdings etwas vorschnell fest, dass sich Anselm sofort nach Antritt des erzbischöflichen Amtes, angesichts des unter Wilhelm II. nicht länger verschleierten königlichen Herrschaftsanspruchs gegenüber Kirchen und Klöstern, als entschiedener und langjähriger Vertreter der/und Kämpfer für die libertas ecclesiae zu erkennen gab und mit dem „Londoner Konkordat von 1107“ regelrecht im Alleingang und lange vor einer Einigung im Reich (1122) eine Lösung des Konflikts erzwang.7 Eine recht heldenhafte Darstellung, die zwar aus den biographischen Abrissen der theologisch-philosophischen und auch der älteren historischen Anselm-Forschung weithin bekannt ist, heute jedoch von vielen Anselmexperten als eindimensional und unzureichend in Frage gestellt wird. Charles Hollister und Richard Southern gingen allerdings so weit zu behaupten, dass Anselm alles andere als ein eigenständiger oder fähiger Kirchenpolitiker gewesen sei. Lange Zeit hätte er überhaupt keine Position zur Investiturfrage bzw. zur Frage der libertas ecclesiae entwickeln können; die Lösung des Investiturkonflikts sei letztlich ein reiner Obödienzakt Anselms gegenüber dem Papst gewesen.8

6 Krüger 2002 (wie Anm. 3), 30–34; Zingg 2012 (wie Anm. 3), 13–16; Schild 2015 (wie Anm. 3), 9–20. 7 Krüger 2002 (wie Anm. 3), 9–10; 33–34; 45–46; 71–82, 231–233; Sally Vaughn, Anselm of Bec and Robert of Meulan. The Innocence of the Dove and the Wisdom of the Serpent (Berkeley 1987), 132–140, 149  ff., 214  ff.; The Letters of Saint Anselm of Canterbury 1, Übers. Walter Fröhlich (Kalamazoo 1990), 52. 8 Charles Warren Hollister, “St. Anselm on lay investiture,” Anglo-Norman Studies 10 (1988), 150–156, 158; Richard Southern, Saint Anselm. A Portrait in a Landscape (Cambridge 1990), 233  ff. Vgl. auch Vollrath 2007 (wie Anm. 1), 214; Zingg 2012 (wie Anm. 3), 123–124.



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Diese Diskussion ist mittlerweile in eine argumentative Sackgasse geraten, was folgenden Problemfeldern geschuldet sein dürfte: Zum einen ist man im Hinblick auf die Erörterung der kirchenpolitischen Vorgänge um 1100 zum großen Teil auf die Briefsammlung Anselms sowie die von Eadmer verfassten Vita Anselmi und Historia novorum zurückgeworfen, die man versucht hat, inhaltsanalytisch aufzuarbeiten und zu kontextualisieren. Beide Quellengruppen haben sich jedoch in ihrer Überlieferung und intentionalen Überformung als problematisch erwiesen. Insbesondere im Hinblick auf die Überlieferung und Deutung der Briefsammlung „the positions have splintered to such an extent that the victor of the debate is unclear“.9 Auch da es jeder Seite gelingt, durch die Auswahl bestimmter Überlieferungsstränge, einzelner Briefe und Chronikauszüge ihre Position argumentativ zu untermauern. Zum anderen betrachtet man Anselm oftmals noch völlig isoliert als historische Einzelperson. Beide Vorgehensweisen spiegeln traditionell qualitative Methodiken, die durch einen strukturellen Zugang  – wie über die Netzwerkanalyse  – fruchtbar ergänzt werden könnten. Wichtig wäre es den Erzbischof als Teil seines Geflechts sozialer Bindungen erfahrbar zu machen, welches nicht nur seine Einflusssphäre abbildet, sondern auch handlungsleitende Orientierungshilfe bot. Zudem könnte der systematische Blick auf die Briefquellen Ergebnisse generieren, die erstens unabhängiger von vorformulierten Forschungsmeinungen sind und zweitens das Überlieferungsproblem und die intentionale Überformung der Briefsammlung umgehen, da zunächst weniger die einzelnen Briefe und Inhalte sowie ihre Empfänger/Verfasser, sondern die strukturelle Position und Handlungsoption der Korrespondenten innerhalb des Netzwerks im Vordergrund stehen.

2 Theoretisch-methodische Grundlagen der Netzwerkanalyse Theorie und Methodik bezieht die Netzwerkanalyse aus der Soziologie und Mathematik. Seit einigen Jahren findet sie vermehrt Anwendung in den Geschichtswissenschaften, wird aber als Methode hinsichtlich Umsetzbarkeit und Erkenntnisgewinn bzw. Mehrwert immer wieder kritisch diskutiert. Im Mittelpunkt der Netzwerkanalyse steht die Erfassung von sozialen Ressourcen bzw. sozialem Kapital zur Analyse von Handlungsoptionen der Akteure und Gruppen innerhalb einer Sozialstruktur. Dabei erheben Netzwerkforscher nicht den Anspruch, eine

9 Samu Niskanen, The Letter Collections of Anselm of Canterbury (Turnhout 2011), 29–30.

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irgendwie geartete Realität abzubilden, sondern ausreichend Daten zu sammeln, zu systematisieren, modellieren und zu analysieren, um generelle Muster und Entwicklungstendenzen sichtbar zu machen, anhand derer Zustandekommen, Funktionsweise, Veränderung und Bedeutung von Netzwerkbeziehungen (in  Bezug auf Handeln, Wort, Werte) sowie die Positionierung der Akteure darin studiert werden können. Forderungen nach einer systematischen Bearbeitung von interpersonalen oder auch anders gearteten Beziehungsgeflechten  – wie Begriffs-, Zitations-, Text-, Organisations- und Warennetzwerken – anhand historischen Quellenmaterials sind in der Forschungsliteratur in den letzten Jahren mehrfach formuliert worden. Historischen Netzwerkanalysen der „ersten Stunde“ (1980er Jahre) wurde noch berechtigterweise vorgeworfen, jegliches Ereignis auf Strukturen zurückzuführen und damit die Handlungsfähigkeit der Akteure sowie kulturelle Normen völlig zu ignorieren. Daraus entwickelte Netzwerkmodelle wurden als lediglich graphische Darstellungen von Beziehungen, die man aus Kontext und Zeit gerissen hatte, problematisiert. Doch sowohl Software als auch Netz­werk­ theo­rien wurden seitdem erheblich weiterentwickelt; Datenerhebung, Matrizenbestückung und Datenanalyse berücksichtigen nun auch Akteursattribute, Verhaltensweisen, kulturelle Normen und historische Ereignisse. Dabei minimiert der systematische Zugriff nicht nur die Gefahr der Beeinflussung durch Vorannahmen in den Quellen oder tradierte Interpretationen im Forschungsdiskurs. Die softwaregestützte Netzwerkanalyse lässt auch die Verarbeitung enormer Datenmengen bei gleichzeitiger Reduktion von Komplexität zu und ermöglicht somit deren Komparabilität, Interpretation und die Bestimmung signifikanter Muster. Neue Hypothesen können entwickelt und getestet, Forschungs­ ergebnisse überprüft oder leichter kommuniziert werden. Arbeitet man mit Zeitschnitten können auch strukturelle Veränderungen der dynamisch aufgefassten sozialen Netzwerke eruiert werden, wie beispielsweise Isolation und Integra­ tion von Akteuren oder Zusammenwachsen oder Zerfall eines Beziehungsgeflechts.10

10 Morten Reitmayer und Christian Marx, „Netzwerkansätze in der Geschichtswissenschaft,“ in Handbuch der Netzwerkforschung, ed. Christian Stegbauer und Roger Häußling (Wiesbaden 2010), 869–870; Johannes Preiser-Kapeller, Letters and Network Analysis, http: //www.academia. edu/4045334/Letters_and_Network_Analysis [Juli 2013]; Marten Düring und Linda v. Keyser­ lingk, Netzwerkanalyse in den Geschichtswissenschaften: Historische Netzwerkanalyse als Methode für die Erforschung historischer Prozesse, http: //www.academia.edu/449150/Netzwerkanalyse_in_den_Geschichtswissenschaften._Historische_Netzwerkanalyse_als_Methode_fur_ die_Erforschung_von_historischen_Prozessen [Mai 2013]; Claire Lemercier, „Formale Methoden der Netzwerkanalyse in den Geschichtswissenschaften: Warum und Wie?,“ Österreichische Zeit-



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Doch gerade im Hinblick auf die Anwendung von Netzwerkansätzen in den historischen Disziplinen wird schnell die Frage nach der lückenhaften Quellengrundlage und statistischen Signifikanz der entsprechenden Daten aufgeworfen. Die Annahme einer erreichbaren Vollständigkeit des Datensatzes ist nach Ansicht vieler Netzwerkforscher jedoch realitätsfern, da entweder die Menge der zu sammelnden Beziehungsdaten zu einer bestimmten Personengruppe zu umfänglich oder  – betrachtet man eine einzelne, historische Person  – die Möglichkeit der Rekonstruktion all ihrer Beziehungen nicht gegeben ist. Diese Art der „Bruchstückhaftigkeit“ sei jedoch kein Problem der Netzwerkanalyse allein, sondern letztlich allen historischen Untersuchungen gemein.11 Eine fundierte und aussagekräftige Netzwerkanalyse stützt sich allerdings – wie bereits erwähnt – nicht nur auf das Auszählen bestimmter Daten, sondern ist im Prozess der Datenerhebung sowie bei Auswertung der Graphen und numerischen Indikatoren auf qualitative Methoden angewiesen.

2.1 Handlungstheorie Ein wesentlicher theoretischer Baustein der Netzwerkanalyse ist die in der Soziologie entwickelte strukturelle Handlungstheorie12, welche bestrebt ist, die zwei Komponenten sozialer Ordnung  – Struktur und Individuum  – im Hinblick auf Verhalten sinnvoll zusammen zu denken. Man geht davon aus, dass Interessen und Handlungsressourcen von Akteuren von ihrer Einbettung (embeddedness) in die Gesellschaft als Sozialstruktur abhängig sind. Die Position in der Sozialstruktur und die durch die Position in der Sozialstruktur bestimmten Interessen bilden die „Zwänge“ (constraints) der Handlung. Allerdings wirken die Handlungen der Akteure auf die soziale Struktur zurück; sie reproduzieren sie und verändern sie gegebenenfalls. Die daran anschließende Netzwerktheorie bewegt sich zwischen den Vorstellungen des Strukturalismus (Parson 1976), Individualismus (Hobbes/Smith) und Relationalismus (Wellman 1988). Sowohl das übersozialisierte Modell des Strukturfunktionalismus, worin Verhalten als durch einmal internalisierte Normen

schrift für Geschichtswissenschaften 23 / 1 (2012), 30–36; Robert Gramsch, Das Reich als Netzwerk der Fürsten. Politische Strukturen unter dem Doppelkönigtum Friedrichs II. und Heinrichs (VII.) 1225–1235 (Ostfildern 2013), 21–34. 11 Preiser-Kapeller 2013 (wie Anm. 10), 4–5. 12 In diesem Kapitel beziehe ich mich auf: Dorothea Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen Methoden, Forschungsbeispiele (Wiesbaden 2006), 11–33; Gramsch 2013 (wie Anm. 10), 21–45.

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determiniert gedacht und die individuelle Handlungsmotivation völlig ausgeschlossen wird, als auch das untersozialisierte Akteurskonzept, welches die soziale Isoliertheit von Individuen und ihrer Entscheidungen und damit einen voluntaristischen Individualismus unterstellt, werden als Theorietraditionen in ihrer Ausschließlichkeit abgelehnt. Netzwerkanalytiker interessiert nicht das Individuum als solches, sondern seine Beziehungen zu anderen Individuen sowie seine Einbettung in eine bestimmte Struktur (Sozialstruktur/Netzwerk). Dabei wird Sozialstruktur als eine relationale Ordnung von Personen (soziales Beziehungsgefüge) begriffen, wodurch nicht zwingend die individuellen, sondern vor allem die relationalen Merkmale von Personen im Fokus stehen. Diese fokussierten Beziehungen sind zwar oft gegenseitiger Natur, aber nicht zwingend eng, positiv oder symmetrisch, sondern möglicherweise schwach, antagonistisch, unausbalaciert. Manchmal werden sie unfreiwillig eingegangen. Die strukturelle Analyse geht jedoch über die direkten Beziehungen der Individuen/Akteure im Netzwerk hinaus und bezieht indirekte und weitläufige Beziehungsmuster ein, die wiederum auf die direkten Akteurskontakte rückwirken. Sichtbar werden eng miteinanderverbundene Cluster oder Gruppen, wie auch Abgrenzungen und Verbindungen zwischen diesen Clustern und Gruppen. Nicht Normen, Motive oder Ziele der Individuen/Akteure, sondern ihre Einbettung in diese Strukturen prägen durch Handlungsoptionen und Handlungszwänge ihr Verhalten; sie bestimmen den Zugang zu Ressourcen und prägen Kooperation und Konkurrenz zwischen den Individuen/Akteuren. Diese Handlungsoptionen und -zwänge individueller oder auch korporativer Akteure innerhalb eines sozialen Netzwerks werden durch das so genannte soziale Kapital beeinflusst und definiert. Eine entscheidende Frage hierbei: Inwieweit ist soziales Kapital eine individuell anzueignende Ressource oder ein Kollektivgut mit Auswirkungen auf die Ausbildung von Institutionen und Identitäten? Gemeinhin wird angenommen, dass sich anders als ökonomisches Kapital oder Humankapital soziales Kapital nie vollständig im Besitz eines Einzelakteurs befinden kann, da es immer auch von den direkten und indirekten Beziehungen zu den anderen Akteuren innerhalb der Sozialstruktur, des Netzwerk abhängt. Trotz dieser Abhängigkeit bleibt es möglich das eigene soziale Kapital zu optimieren und strategisch verfügbar zu machen. Es werden sechs immaterielle und materielle Ressourcen angenommen, die soziales Kapital vermitteln: –– Familien- und Gruppensolidarität (Coleman 1988, Sabel 1994, Crouch 2001) –– Vertrauen in die Geltung von Normen (Coleman 1990, Putnam 1993, 2000) –– Informationen (Granovetter 1973) –– Macht durch strukturelle Autonomie (Burt 1982, 1992)



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–– S elbstorganisationsfähigkeit von Kollektiven –– Macht durch sozialen Einfluss Daraus ergeben sich Forschungsfragen auf drei verschiedenen Analyseebenen: Auf der Ebene der Einzelakteure: Wie zentral ist ein Akteur im Netzwerk, welches Ansehen genießt er, welche Macht besitzt er? Setzen jene Akteure mit hoher Zentralität Innovationen als erste um oder übernehmen sie besonders schnell Innovationen von anderen Netzwerkakteuren? Macht strukturelle Autonomie einen Akteur „erfolgreich“ im Hinblick auf die Umsetzung seiner Handlungsabsichten und -ziele? Auf der Ebene der Akteursgruppen: Hier geht es um die Suche und Analyse von eng miteinander vernetzten und nach außen abgegrenzten Cliquen einerseits sowie andererseits um die Gruppierung von ähnlich positionierten Akteuren (Rollenmuster), die vernetzt sein können, aber nicht müssen. Dabei interessiert beispielsweise die Über- und Unterordnung von Gruppen und Positionen, der Grad ihrer Polarisierung und Durchsetzungsfähigkeit (Vorteile/Zwänge). Auf Ebene des Gesamtnetzwerks: Gefragt wird dabei nach der Leistungs­ fähigkeit von Netzwerken. Implizit ist dabei der Vergleich, das heißt die Gegenüberstellung verschiedener Netzwerke beispielsweise im Hinblick auf ihre Konfliktanfälligkeit, Instabilität und Innovationsfähigkeit.

2.2 Graphentheorie Eine weitere für die Netzwerkanalyse grundlegende Theorie ist die auf Algorithmen basierende Graphentheorie. Mathematisch sind Graphen definiert als ein Set von Knoten (z.  B. Akteure, Unternehmen, Texte, Artefakte) und einem Set von Kanten (Verbindungen zwischen den Knoten). Es wird angenommen, dass die Verbindungen zwischen den Netzwerkelementen, den Knoten, weder rein regulär noch rein zufällig sind. Stattdessen sind Netzwerke durch die spezielle Verteilung im Auftreten ihrer Elemente bzw. Knoten (Gradverteilung), durch einen Clusterkoeffizienten (Maß für die Cliquenbildung) und eine bestimmte Gemeinschaftsstruktur oder eine ausgeprägte hierarchische Struktur bestimmt. In der algorithmischen Berechnung und Visualisierung von Netzwerkgraphen können nicht nur die relational bedingte Position der Netzwerkakteure (Zentralität, Gruppenzugehörigkeit, Rollenmuster), sondern auch die Gerichtetheit und Intensität ihrer Beziehungen und andere Qualitäten berücksichtigt werden.13

13 Jansen 2006 (wie Anm. 12), 91–99.

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3 Das anselmsche Korrespondenznetzwerk 1070−1078 Netzwerkanalytiker zählen Privatbriefe zu ihren wichtigsten Quellengruppen, da sie – vor allem in historischer Perspektive – den seltenen Beweis für eine Interaktion zwischen zwei Personen erbringen und – soweit häufig ausgetauscht – eine wesentliche Stütze der sozialen Beziehung zwischen Individuen darstellen.14 Sie überliefern Kommunikation privater oder semi-öffentlicher Natur und berühren dabei nicht selten aktuelle Diskurse in Wissenschaft, Religion und Politik.15 Auch Germanisten wie Christine Wand-Wittkowski und Arne Holtdorf begreifen alle, durch die „Anrede von Person zu Person“ charakterisierten epistolographischen Quellen ihrer Funktion gemäß „als Gesprächsersatz zwischen räumlich getrennten Kommunikationspartnern“.16 Ihrer Auffassung nach zeichnete sich insbesondere das Hochmittelalter durch wesentliche Modifikationen innerhalb dieses Gesprächsersatzes aus; provoziert durch „die reflektierte Erfahrung menschl. Existenz zw. Diesseits und Jenseits in der hochma. höf. Adelsgesellschaft und ihrer Literatur“ sowie die neu erworbene „Fähigkeit des persönl. Erfahrens und Erlebens […], die zur Verarbeitung fremden Erfahrungsgutes ebenso drängt wie zur Mitteilung des eigenen.“17 Neben der Welt der Minne und der Reiseerfahrung des Kaufmanns ist seiner Meinung nach das „Erlebnis Gottes“ ein zentrales Thema der hoch- und spätmittelalterlichen Briefkultur. Fragen nach dem gött­ lichen Willen und der menschlichen Lebensführung prägen auch die anselmsche Briefsammlung. Quellengrundlage im vorliegenden Artikel sind die von Anselm in den Jahren als Prior von Bec (1070−1078) verfassten Briefe.

14 Isabelle Rosé, “Reconstitution, représentation graphique et analyse des réseaux de ­pouvoir au haut Moyen Âge: Approche des pratiques sociales de l’aristocratie à partir de l’exemple d’Odon de Cluny († 942),” REDES – Revista hispana para el análisis de redes sociales 21 (2011, http://revista-redes.rediris.es), 7–10; Preiser-Kapeller 2013 (wie Anm. 10), 1–5. 15 Fröhlich 1990 (wie Anm. 7), 23. 16 Christine Wand-Wittkowski, Briefe im Mittelalter: Der deutschsprachige Brief als weltliche und religiöse Literatur (Herne 2000), 9–10, 22–23. 17 Arne Holtdorf, „Brief,“ Lexikon des Mittelalters 2 (2003), Sp. 664–665.



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Abb. 1: anselmsches Akteursund Briefnetzwerk 1070−78.

3.1 Datenerhebung Zunächst werden aus den Briefen systematisch Daten zu den Netzwerkakteuren und den unter ihnen bestehenden Beziehungen erhoben und in Exceltabellen organisiert. Hat man es mit einem spezifischen Quellenbestand wie einer Briefsammlung zu tun, ist es sinnvoll, zunächst alle in den Briefen erwähnten Personen als Netzwerkakteure aufzunehmen18 und vorhandene Interaktionspotentiale und Interaktionen zwischen ihnen sowie deren Frequenz/Intensität zu markieren. Diese Daten werden dann in die Netzwerksoftware importiert. Die Netzwerkakteure können zusätzlich durch die Eingabe von Attributen näher beschrieben werden, beispielsweise über Herkunft, Stand, Geschlecht, Amt, Standort und Lebensdaten. Ähnliches gilt für die Beziehungen zwischen ihnen; auch diese können qualitativ bestimmt werden, beispielsweise als Blutsverwandtschaft, spirituelle Verwandtschaft, Lehnsbeziehung, Freundschaft oder Feindschaft. Nach Bestückung der Matrizen liefert die Netzwerk-Software zwei auf verschiedenen Algorithmen beruhende Ergebnisse, die verschiedentlich analysiert werden können: 1. Visualisierungen wie Graphen (Abb. 1) und Diagramme (Abb. 2) sowie 2. Zahlenwerte (Tab. 1):

18 Das Set an Knoten (Akteure) wird anhand anderer Quellen im Verlauf der Forschungsarbeit um weitere Akteure ergänzt.

Abb. 2: Diagramm zur Berechnung der degree centrality der Netzwerkakteure.

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Tab. 1: Zahlenwerte zur authority centrality der Netzwerkakteure. Rank

Source nodes

Value

 1  2  3  4  5  6  7  8  9 10 Min: 0,009 Mean: 0,055 Max: 0,579 Std.dev: 0,101

Anselmus Lanfrancus Mauritius Henricus_1 Gundulfus Herluinus_2 (Abt) Herluinus_1 (Mönch) Osbernus_2 Albertus (Mediziner) Lanfrancus_2 (Neffe Lanfrancus)

0,579 0,437 0,339 0,271 0,269 0,227 0,226 0,154 0,135 0,110

3.2 Visuelle Graphenanalyse Der erste Schritt der Datenanalyse kann in einer visuellen Graphenanalyse bestehen, die erste Schlüsse zur Struktur des Netzwerkes erlaubt. Zunächst zeigt die Position der Einzelakteure innerhalb des Graphen an, wie bedeutsam sie für die Netzwerkstruktur sind (gemessen an Zentralität, Gruppenzugehörigkeit, Einfluss etc.). Das so genannte Ego (Anselm) befindet sich im Zentrum des Netzwerkgraphen (Abb. 3), bedeutendere Netzwerkakteure sind im Inneren des Netzwerks sichtbar (Abb. 4), weniger bedeutende befinden sich an der Peripherie (Abb. 5). Des Weiteren zeigt der Graph Netzwerkverdichtungen, die als Cluster oder Cliquen bezeichnet werden (Abb. 6) sowie Netzwerkakteure, die diese distinkten Gruppen oder auch Einzelpersonen miteinander verbinden (=  Broker) (Abb. 7). Sowohl diese Akteure, die als Verbindungsbrücken zwischen Netzwerkgruppen fungieren (= Broker) als auch die Netzwerkgruppen selbst gelten als einflussund erfolgreich hinsichtlich Nutzung und Modifikation des Netzwerks. Der mutmaßliche Einflussbereich der einzelnen Akteure innerhalb des Netzwerks kann zusätzlich über ein spezielles Softwaretool als Ausschnitt des Graphen visualisiert werden. Damit wird ein konkreter Personenkreis als sogenannte sphere of influence eines Akteurs sichtbar (Abb. 8 und 9). Die Visualisierung des anselmschen Korrespondenznetzwerks über einen Graphen wurde auch genutzt, um die verschiedenen Überlieferungsschichten der umstrittenen Briefsammlung Anselms zu rekonstruieren bzw. leichter erfassbar und vergleichbar zu machen und so womöglich den Wert der Edition für die

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Abb. 3: Anselm im Akteurs- und Briefnetzwerk 1070−78.

Abb. 4: Bedeutendere Netzwerkakteure im Akteurs- und Briefnetzwerk 1070−1078.



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Abb. 5: Weniger bedeutende Netzwerkakteure im Akteurs- und Briefnetzwerk 1070−1078.

Abb. 6: Großer Netzwerkcluster im Akteurs- und Briefnetzwerk 1070−1078.

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Abb. 7: Netzwerkakteure mit Brückenfunktion im Akteurs- und Briefnetzwerk 1070−1078.

Anselm-Forschung allgemein, aber auch für den netzwerkanalytischen Ansatz in Bezug auf die Frage nach der Position Anselms im englischen Investitur­ konflikt Ende des 11./Anfang des 12. Jahrhunderts neu zu bestimmen. Das heißt, in welchem Maß unterliegen die überlieferten Manuskripte der Briefsammlung einer bewussten Formung über die Auslassung, Ergänzung oder Anordnung der Briefe? Wie ist mit Überlieferungslücken umzugehen? Welchen Einfluss hat diese problematische Überlieferungsgeschichte der Briefsammlung auf ihre Nutzbarkeit in Bezug auf konkrete Forschungsfragen zur Kirchenpolitik Anselms? Wie ist netzwerkanalytisch damit umzugehen? Testweise wurde das auf der Edition basierende Korrespondenznetzwerk (1070−78) mit den Korrespondenznetzwerken verglichen, die aus zwei der frühen Hauptmanuskripte der Briefsammlung rekonstruiert wurden. Die zwischen 1946 und 1963 vorlegte und bis heute gültige Edition von Franz S. Schmitt (475 Briefe) integriert die Überlieferung aus verschiedenen Manuskripten der Zeit von 1086 bis mindestens 1300, basiert jedoch hauptsächlich auf der Handschrift L, Lambeth Palace 59 (389  Briefe). Die Edition umfasst für den Zeitraum von 1070−1078 83 Briefe mit 75 Akteuren. Der Netzwerkgraph, der anhand dieser 75 Akteure und ihrer aus den Briefen sichtbaren Beziehungen und Kontakte erzeugt wurde, zeigt eine bedeutende Netzwerkverdichtung, auch Cluster genannt, dem ausschließlich Mitglieder der Klöster Bec und Christ Church Canterbury angehören (Abb. 7). So ein Cluster setzt eine hohe Interaktions- bzw. Kommunikationsdichte voraus und lässt vermuten, dass die daran beteiligten Institutionen und Personen das



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Abb. 8: Einflussbereich eines bedeutenden Netzwerkakteurs – Erzbischof Lanfranc von Canterbury.

Abb. 9: Einflussbereich eines weniger bedeutsamen Netzwerkakteurs – Lanzo, zunächst Laie, später Mönch in Cluny.

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Netzwerk in seiner Struktur, Funktionsweise und Modifikation sowie in Bezug auf Informationsfluss, Informationsinhalten und Interessendurchsetzung weitgehend dominieren und damit für das Ego Anselm und seine spirituellen, theologischen und kirchenpolitischen Positionen nicht ohne Bedeutung sein dürften. Zudem werden im Graph drei Akteure als so genannte Broker erkennbar, die eine Vielzahl von Beziehungen auf sich konzentrieren und den großen Netzwerkcluster mit anderen Netzwerkteilen verbinden (Abb. 8). Diesen Akteuren (Erzbischof Lanfranc von Canterbury, Abt Herluin von Bec und Gundulf) kann ein besonderer Einfluss auf den Netzwerkcluster, das Gesamtnetzwerk und damit auch auf Anselm unterstellt werden. Für den Zeitraum von 1070−1078 wird dieser Befund keinen Anselm-Forscher in Erstaunen versetzten, was zunächst als ein Funktionieren der Netzwerkmethodik ausgelegt werden kann. Interessant wird es aber, wenn jene Zeitschnitte netzwerkanalytisch untersucht werden, die unmittelbar vor und während der Investiturkonflikte verlaufen und solche bedeutenden Mentoren wie Lanfranc oder Herluin längst verstorben sind und Gundulf kirchen­ hierarchisch aufgestiegen ist. Gibt es neue Ratgeber oder Gruppen, die Anselm in seinem kirchenpolitischen Handeln beeinflussen könnten? Die gleiche graphenbasierte Analyse wie anhand der Edition Schmitt wurde an einem der älteren Hauptmanuskripte, der bereits erwähnten Handschrift  L (London, Lambeth Palace 59) durchgeführt. Die Handschrift L wird in der Anselm-Forschung als zentrale Überlieferung einer von Anselm authorisierten Briefsammlung sehr kontrovers diskutiert. Der Editor Schmitt (1931, 1936, 1955), Norman Cantor (1958), späterhin Walter Fröhlich (1979, 1990), Sally N. Vaughn (1987) und Thomas Michael Krüger (2002) datieren die Handschrift um 1100 und nehmen an, dass sie unter der Leitung Anselms mit der Intention entstand, sein öffentliches Image sorgfältig zu pflegen und insbesondere „of making known his views on church-state relations“.19 Damit geriet das Manuskript in den Verdacht, eine Version der Briefsammlung zu überliefern, die bewusst zur erzbischöf­ lichen Selbstdarstellung im Kontext des englischen Investiturkonflikts kompiliert worden war.20 Richard Southern wandte sich früh (1963, 1988, 1990) gegen

19 Norman Cantor, Church, Kingship, and Lay Investiture in England 1089–1135 (Princton 1958), 169. 20 Fröhlich 1990 (wie Anm. 7), 52: “Therefore manuscript ‚L‘ containing this letter collection is a deliberate monument to Anselm’s righteousness and firm demeanour as a churchman vigorously pursuing the demand for libertas et reformatio ecclesiae and defending the Church of God resolutely in the face of threats and isolation as well as personal suffering and disadvantage. This survey of the letters omitted from this manuscript would make appear that Anselm took great care to suppress any correspondence which would have damaged the picture of himself which he intended for posterity.” Vaughn 1987 (wie Anm. 7), 132–140; Krüger 2002 (wie Anm. 3), 71–82.



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Abb. 10: Netzwerkcluster im Akteursund Briefnetzwerk 1070−78 nach Manuskript L (Lambeth Palace 59).

diese Datierung und Deutung des Manuskripts L, indem er einen Entstehungszeitraum post mortem Anselmi von 1123−1130 herausarbeitete und den frommen Mönch und brillianten Theologen Anselm als unambitioniert, wenn nicht gar unfähig im Hinblick auf kirchenpolitische Angelegenheiten und seine diesbezüglichen erzbischöflichen Pflichten beschreibt.21 Die 2011 von Samu Niskanen vorgelegte kodikologische Untersuchung der anselmschen Briefsammlung bestätigt zunächst die Datierung der Handschrift auf den Zeitraum von 1120−1130.22 In Christ Church Canterbury angefertigt, bezeugt sie vorrangig den so genannten Canterbury-Zweig der Briefsammlung und damit deren zweite Sammlungsschicht.23 Das Manuskript überliefert für den Zeitraum von 1070−1078 77 Briefe mit 71 Akteuren. Der zugehörige Netzwerkgraph zeigt noch immer den großen Bec-Canterbury-Cluster (Abb. 10). Allerdings sind die als Broker identifizierten Akteure (Erzbischof Lanfranc, Abt Herluin und Gundulf) nicht mehr als solche erkennbar (Abb. 11), wodurch ihr Einfluss auf den Cluster, das Gesamtnetzwerk und damit auf Anselm durch die Überlieferung im Manuskript L nicht bestätigt wird. Ein Befund, der sicher im Kontext der Debatte um Lambeth Palace 59 weiter ausgearbeitet werden sollte.

21 Southern 1990 (wie Anm. 8), 458–481. 22 Niskanen 2011 (wie Anm. 9), 112. 23 Ausführlicher zur Debatte um Lambeth Palcace 59, Handschrift L: Niskanen 2011 (wie Anm. 9), 33–39. Ausführlicher zur kodikologischen Untersuchung der Handschrift L: Niskanen 2011 (wie Anm. 9), 110–126.

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Abb. 11: Netzwerkakteure mit Brückenfunktion im Akteurs- und Briefnetzwerk 1070−78, nach Manuskript L (Lambeth Palace 59).

Das zweite Vergleichsmanuskript, die Handschrift N (London, British Library, Cotton Nero A. VII) wurde nach neueren Erkenntnissen im Kloster von Rochester zwischen 1086 und 1093, womöglich im Umfeld des Bischofs Gundulf (1077−1108) angefertigt. Gundulf, ein ehemaliger Zellengenosse und regelmäßiger Korrespondent Anselms, war − wie einige andere aus Bec und Caen stammende Mönche − über Christ Church Canterbury nach Rochester gekommen. Die Handschrift N bezeugt den Bec-Zweig der Briefsammlung und damit deren erste Sammlungsschicht. Diese Sammlungstätigkeit erfolgte noch zu Lebzeiten Anselms und sehr wahrscheinlich auch unter seiner Direktive. Das Manuskript tradiert für die Zeit des Priorats von 1070−1078 67 Briefe mit 71 Akteuren. Das heißt, sechzehn der für diesen Zeitraum beispielsweise über die Handschrift L überlieferten Briefe fehlen in der Handschrift N, die allerdings drei Briefe enthält (Ep. 18 [N16], Ep. 26 [N46], Ep. 27 [N48]), die über kein anderes Manuskript auf uns gekommen sind.24 Im Netzwerkgraph zur Handschrift N treten Erzbischof Lanfranc, Abt Herluin und zum Teil Gundulf wieder etwas deutlicher als Broker in Erscheinung (Abb. 12), doch der Bec-Canterbury-Cluster ist kaum noch erkennbar (Abb. 13), wodurch seine Bedeutung für das Gesamtnetzwerk und Anselm nach dieser Überlieferung zunächst in Frage gestellt wird.

24 Niskanen 2011 (wie Anm. 9), 74–86; Krüger 2002 (wie Anm. 3), 85–91.



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Abb. 12: Netzwerkakteure mit Brückenfunktion im Akteurs- und Briefnetzwerk 1070−78, nach Manuskript N (Cotton Nero A).

Abb. 13: Netzwerkcluster im Akteursund Briefnetzwerk 1070−78 nach Manuskript N (Cotton Nero A).

Die fehlende Dichte ist wohl auf das Fehlen der sechzehn Briefe zurückzuführen, wovon die Hälfte an einen Mönch namens Maurice gerichtet war. Dieser, dem Kloster Bec entstammend, hielt sich von 1070−1078 und darüber hinaus in Christ Church Canterbury auf. Die Bedeutung des einfachen und lange Zeit weniger im Fokus der Anselm-Forschung stehenden Mönchs für das anselmsche Korrespon-

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denznetzwerk wird unter Punkt 3.1.2 (Zentralitäts- und Cliquenanalyse) detaillierter in den Blick genommen. Wie kommen nun diese – durch die Struktur der Netzwerkgraphen auf einen Blick sichtbaren  – Unterschiede zwischen Edition und den zwei Zeugen der Überlieferungen zustande? Ein erstes Problem besteht in der damaligen Praxis des Zusammentragens der Briefe zu einer mal mehr, mal weniger strukturierten Sammlung. Entweder hat ein Verfasser von Anbeginn ein solches Projekt berücksichtigt und von all seinen Briefen vor Versand eine Kopie anfertigen lassen oder er musste im Nachgang mühsam und zeitaufwendig für die Rückführung der versandten Briefe oder für die Anfertigung von Kopien sorgen. Die Folge sind meist unfreiwillige Lücken insbesondere in den frühen Überlieferungs­varianten einer Briefsammlung. Damit könnte, muss man jedoch nicht das Fehlen nahezu aller Briefe Anselms an den Mönch Maurice im Manuskript N erklären. Das Fehlen von Briefen vor allem in den frühen Varianten der Briefsammlung, die noch unter Anselm oder seinen Schülern entstanden und das Hinzutreten von Briefen in den späteren Varianten, könnten natürlich auch bewusste Auslassungen und Ergänzungen darstellen, die zur Etablierung einer bestimmten Narration oder zu konkreten Lehrzwecken vorgenommen wurden. Diese Praktiken machen mittelalterlichen Briefsammlungen, die sich als Quelle zunächst sehr reizvoll darstellen, derart problematisch im methodischen Umgang, was sich im Falle Anselms in einer sehr kontrovers geführten Diskussion zur erzbischöf­ lichen Kirchenpolitik auf Grundlage der Briefe niederschlägt. Hier könnte die Netzwerkanalyse, die in einem ersten Schritt − anders als im Zuge eines qualitativen Zugriffs auf die Briefe – weniger den einzelnen Brief und seinen Inhalt, den einzelnen Kontakt oder die einzelne Person, sondern die aus einer Vielzahl von Daten gewonnene Struktur und Funktionsweise des Korrespondenznetzwerks fokussiert, ein neuer methodischer Ansatz sein, der die aktuelle Diskussion um die Kirchenpolitik Anselms aus ihrer Sackgasse herausführt. Auch wenn die Überlieferungsproblematik der Briefsammlung innerhalb einer netzwerkanalytischen Untersuchung zur Kirchenpolitik Anselms nicht ­ignoriert werden kann, so wird doch das Hinzufügen oder Fehlen von Briefen – insofern es keine relevanten Mengen sind, die erhebliche strukturellen Veränderungen im Netzwerk verursachen – zunächst weniger bedeutsam sein. Erst wenn die durch die Netzwerkanalyse gewonnenen Ergebnisse in einem zweiten Schritt qualitativ zu kontextualisieren sind, muss gegebenenfalls auf die Einzelüberlieferung zurückgegriffen werden.



Anselm von Canterbury und die englischen Investiturkonflikte  

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3.3 Zentralitäts- und Cliquenanalyse Neben der visuellen Graphenanalyse können mit Hilfe der Netzwerksoftware auch so genannte Zentralitäts- und Cliquenanalysen im Netzwerk durchgeführt werden, die als Zahlenwerte oder Graphen abrufbar sind. Die degree centrality ist beispielsweise eine recht simple Zentralitätsberechnung basierend auf der Anzahl von direkten Verlinkungen eines Akteurs mit anderen Akteuren (das heißt, er hat viele oder wenige Kontakte), was sich auf seine Handlungsoptionen im Netzwerk auswirkt. Ein Akteur ist im Sinne der authority centrality zentral wenn seine in-links von Akteuren kommen, die viele out-links haben. Individuen, die als Autoritäten im Netzwerk handeln, erhalten beispielsweise Informationen von einem weiten Kreis von Akteuren. Die Berechnung der betweeness centrality korrespondiert mit der Funktion eines Akteurs als Mittler zwischen anderen Personen des Netzwerks, das heißt, je häufiger der Akteur zwischen anderen Personen des Netzwerks als Verbindungsglied in Erscheinung tritt, desto zentraler ist er im Netzwerk. Diesen brokern wird besondere Bedeutung im Hinblick auf den Informationsfluss im Netzwerk unterstellt. Zentrale Akteure verfügen über Ansehen, Macht und „Innovationen“ innerhalb des Netzwerks, was ihnen im Handeln eine gewisse strukturelle Autonomie und damit Interessendurchsetzung ermöglicht.25 Darüber hinaus für den Historiker besonders interessant sind die Cliquenanalysen. Der clique count zeigt beispielsweise an, zu wie vielen distinkten Cliquen jeder Agent gehört, wobei eine Clique als Gruppe von drei oder mehreren Akteuren definiert ist, die alle miteinander verbunden sind. Auch hier kann man wieder mit der Visualisierung eines Graphen arbeiten, wobei die Größe des abgebildeten Punktes anzeigt, ob der Akteur vielen oder wenigen Cliquen angehört (Abb. 14). Ferner ist die Isolierung von einzelnen Cliquen möglich, wenn interessiert in welchen Cliquen die Akteure hauptsächlich operieren (Abb. 15). Eine weiteres Tool zur Cliquenanalyse ist das sogenannte newman grouping: Auch hier wird mit Hilfe des Newman-Algorithmus’ die Hauptgruppenzugehörigkeit eines jeden Akteurs des Netzwerks farbig (Abb. 16) oder in Gruppen (Abb. 17) angezeigt. Untersucht werden auch kleinere Gruppeneinheiten wie Dyaden und Triaden, also Zweier- und Dreierbeziehungen im Netzwerk. Robert Gramsch entwickelte in diesem Kontext seinen Ansatz zur strukturellen Balance. Deren Bestimmung über die Untersuchungen von Dyaden und Triaden erlaubt Aussagen zu dynamischen

25 Rosé 2011 (wie Anm. 14), 5–6; Jansen 2006 (wie Anm. 12), 127  ff.

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Abb. 14: clique count der Netzwerkakteure im Akteurs- und Briefnetzwerk 1070−78.

Abb. 15: Cliquen im Akteurs- und Briefnetzwerk 1070−78. Blau: Vernetzte Cliquen, rot: Zugehörige Akteure.



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Abb. 16: newman grouping im Akteurs- und Briefnetzwerk 1070−78.

Abb. 17: Teilgruppen nach Newman-Algorithmus und zugehörige Akteure im Akteurs- und Briefnetzwerk 1070−78. Blau: Vernetzte Gruppen nach Newman-Algorithmus, rot: Zugehörige Akteure.

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Abb. 18: Intensität der Beziehungen im Akteurs- und Briefnetzwerk 1070−78.

Prozessen in den Netzwerken; vor allem die Bedeutung negativer Beziehungen (Opposition und Konflikt) für die Dynamik von Netzwerken hat Gramsch dabei herausarbeiten können.26 Die aufgrund ihrer Zentralität, Cliquenzugehörigkeit und Netzwerkposition fünf auffälligsten Akteure des Korrespondenznetzwerks 1070−1078 sind: Lanfranc (der Erzbischof von Canterbury), Maurice (der bereits erwähnte Mönch aus Bec in Canterbury), Gundulf (Mönch in Bec und Canterbury, Prior von Caen und Bischof von Rochester), Henry (der Prior von Canterbury), Herluin (der Abt von Bec) (Abb. 18). Zuvor Prior von Bec und Abt von Caen, wird Lanfranc 1070 von König Wilhelm I. zum Erzbischof von Canterbury erhoben; im Zentrum seines Wirkens soll die Reform der englischen Kirche stehen. Im Zeitraum von 1070−1078 ist er nicht nur  – abgesehen von Anselm selbst  – die zentralste und wohl einflussreichste Person des Netzwerks, was ihm Macht und Einfluss zukommen lässt, sondern er bindet auch einen Großteil anderer Akteure an den großen Bec-Canterbury-Cluster. In dieser Brückenfunktion muss er als für die Dichte und Kohäsion und damit für die Funktionsfähigkeit des Netzwerks zu großen Teilen mitverantwortlich gelten. Diese Signifikanz des als Lehrer Anselms geltenden Geistlichen

26 Gramsch 2013 (wie Anm. 10), 34–45. Vgl. Jansen 2006 (wie Anm. 12), 193  ff.



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für das Korrespondenznetzwerk ist allerdings erwartbar und wenig erstaunlich; interessant ist aber die Frage, wie sich das Netzwerk nach seinem Tod im Jahr 1089 modifizieren wird. Es erstaunt auch nicht sonderlich, dass Gundulf zu den engeren und zentra­ leren Kontakten Anselms zählt. Auch er kommt ursprünglich aus dem Kloster Bec, wo er eine enge Freundschaft mit Anselm pflegte, dessen Zimmergenosse er war. Gundulf folgte Lanfranc 1063 nach Caen, wo er Prior des Klosters wurde, später als einfacher Mönch nach Canterbury; am Ende des Briefwechsels von 1070–1078 wird er zum Bischof von Rochester erhoben (1077). Ähnlich wie Lanfranc fungiert er vor allem als Mittler zwischen verschiedenen Netzwerkakteuren und Netzwerkgruppen; auch ablesbar an seinem hohen betweenness-Wert. Die herausragende Position des einfachen und jungen Mönchs Maurice, der – anders als die anderen zentralen Personen des Netzwerks – nie theologische, kirchenhierarchische oder kirchenpolitische Bedeutung erlangen wird, ist zunächst überraschend. Maurice war wie bereits angedeutet ein Mönch des Klosters Bec, welcher erkrankt von Anselm in das Kloster Christ Church Canterbury gesandt wurde, um dort durch den Weltgeistlichen Albert  – Arzt und Vertrauter Lanfrancs – Heilung zu erfahren. Seine Zentralität beruht hauptsächlich auf den direkten Verknüpfungen mit andern Akteuren, über die er laut degree-Wert in großen Mengen verfügt. Daher profitieren das Netzwerk und insbesondere der Bec-Canterbury-Cluster im Hinblick auf die strukturelle Dichte und womöglich auch im Hinblick auf die erfolgreiche Verbreitung von Informationen ganz wesentlich von ihm. Warum Maurice zu einer derartigen Bedeutung im Netzwerk gelangt, bleibt dennoch rätselhaft. Niskanens Untersuchung zur Überlieferungsgeschichte der Briefsammlung Anselms bietet jedoch einen wichtigen Hinweis. Niskanen vermutet, dass Anselm Maurice ab irgendeinem Punkt vor 1092 beauftragt hatte, seine Briefe von den Empfängern zurückzuholen und zu sammeln. Was wir über Maurice und die Art der Zusammenstellung von mittelalterlichen Briefsammlungen wissen, würde damit korrespondieren. Als Maurice in den 1070er Jahren in Christ Church Canterbury lebte, hatte ihm Anselm aufgetragen Manuskripte für Bec zusammenzutragen und zu kopieren; zu dieser Zeit unterstützte Maurice Anselm auch bei der Veröffentlichung seiner ersten substantiellen Arbeit, dem Monologion. In den 1080er Jahren, als sich Maurice in Conflans aufhielt, erhielt er eine Skizze des Anselmtraktates De casu diaboli. So entsteht der Eindruck, dass Maurice für Anselm die Funktion eines „literarischen Sekretärs“ ausfüllte; Männer in ähnlichen Positionen standen oft hinter den Briefsammlungen des Mittelalters. Maurice’ weites Netzwerk, das aus seiner Karriere als umherreisender Mönch zwischen England und Nordfrankreich resultierte, machte ihn besonders geeignet für diese Aufgabe. Ein Brief aus dem Jahr 1092 lässt vermuten, dass Maurice der Hüter des anselmschen Briefarchivs in Bec

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war.27 Dies alles passt hervorragend zu der anderweitig rätselhaften Position des Mönchs Maurice im anselmschen Korrespondenznetzwerk von 1070−1078. Der netzwerkanalytische Befund stützt demnach die von Niskanen formulierten Vermutungen zur Position und Funktion des Mönchs im anselmschen Umfeld. Auch Henry – ursprünglich Mönch des Klosters Bec – folgte Lanfranc nach England, wo er 1074 Prior des Klosters Christ Church Canterbury wurde. Seine zentrale Positionierung im anselmschen Korrespondenznetzwerk liegt womöglich darin begründet, dass er für den auch als Prior in Bec wirkenden Anselm die hierarchisch gleichwertige Verbindung zum zweiten Hauptstandort des Netzwerkes – Canterbury – darstellte. Der Grund für die zentrale Rolle Herluins ausgerechnet im Korrespondenznetzwerk Anselms erschloss sich hingegen nicht sofort, da er als Gründer und Abt des Klosters von Bec am selben Ort wie Anselm (zu dieser Zeit Prior von Bec) vermutet werden darf und daher die Abfassung von Briefen unnötig war. Aber Herluins zentrale Position wird nicht durch konkrete Briefkontakte bestimmt, sondern kommt durch die zahlreichen Bezugnahmen auf ihn in den Briefen zustande. Dies lässt vermuten, dass Herluins Rolle im Gesamtnetzwerk Anselms von 1070−1078 um ein Vielfaches bedeutsamer gewesen sein dürfte, als im hier fokussierten Korrespondenznetzwerk; sehr wahrscheinlich sogar jene Lanfrancs übersteigend.

4 Schlussbemerkung Perspektivisch soll das anselmsche Korrespondenznetzwerk bis zu seinem Tod im Jahr 1109 untersucht und um weitere soziale Kontakte ergänzt werden (mög­ liche Quellen hierbei: Chroniken, Vitae, Sydonallisten, Urkunden). Schlussendlich wird das soziale Gesamtnetzwerk Anselms in drei Zeitschnitten rekonstruiert und analysiert: seine Zeit als Prior von Bec 1070−1078, als Abt von Bec 1078−1093 und als Erzbischof von Canterbury 1093−1109. Besondere Aufmerksamkeit wird der Zeit um 1100 und den Auseinandersetzungen mit Wilhelm II. Rufus und Heinrich I. im Kontext der Investiturfrage geschenkt.

27 Niskanen 2011 (wie Anm. 9), 90–94.

Jörg Widmaier

Das begreifbare Sakrament: Zur Medialität von Taufgefäßen zwischen Entwurfs- und Offenbarungsmoment Für das Phänomen von Begreifbarem und Unbegreifbarem im sakramentalen Akt bemühte Hugo von St. Viktor im 12. Jahrhundert ein eingängiges Sinnbild: In seinem Traktat De sacramentis fidei Christianae beschreibt er die göttliche Gnade des Sakraments als Medizin oder Gegengift für den heilsbedürftigen Menschen.1 Dabei differenziert er diese immaterielle Substanz vom erfassbaren Sakra­ment, beispielsweise dem Wasser der Taufe, welches er als Gefäß (vas) begreift, das diese Medizin zwar enthält, selbst jedoch keine Gnadenwirkung besitzt. Einen ähn­lichen Zusammenhang gibt ebenso eine Inschrift wieder, welche auf dem Beckenrand des Taufgefäßes von Merseburg um 1180 eingeschlagen wurde (Abb. 1): „Reinige, Gott, die, die hier die Woge reinwäscht, damit von innen geschehe, was äußerlich geschieht“.2 Das Wasser säubert den Menschen, die göttliche Gnade jedoch reinigt erst die Seele. Wenn im Folgenden derartige Taufgefäße des 12. und 13. Jahrhunderts besprochen werden, welche das Wasser als real vorhandene Gefäße im Zuge von Wasserweihe oder Taufe aufnehmen, so gilt es – denkt man Hugos Sinnbild vom Taufwasser als Medizingefäß weiter  – die nächste Ebene des Sinnbildlichen zu betreten und quasi eine Betrachtung von Medikamentenverpackungen anzustellen. Ein solches Sinnbild mag zwar zunächst ungewöhnlich erscheinen, jedoch tragen auch die künstlerisch ausgestalteten Taufbecken ähnlich wie diese Medikamentenverpackungen im wahrsten Sinne des Wortes „Gebrauchshinweise“ zu dem in ihnen vollzogenen Sakrament.3

1 Die Vorstellungen Hugos basieren dabei in weiten Teilen auf älteren Ausführungen von Augustinus, Ivo von Chartres oder Ps.-Haimo von Halberstadt. Vgl. Heinrich Weisweiler, „Sakra­ment als Symbol und Teilhabe. Der Einfluss des Ps.-Dionysius auf die allgemeine Sakramentenlehre Hugos von St. Viktor,“ Scholastik: Vierteljahresschrift für Theologie und Philosophie 27 (1952), 321–343, 336  f.; Heinrich Weisweiler, Die Wirksamkeit der Sakramente nach Hugo von St. Viktor (Freiburg i. Br. 1932), 11  ff.; Claus Blessing, Sacramenta, in quibus principaliter salus constat (Wien 2009), 109. 2 „HOS DEUS EMUNDA QUOS ISTIC ABLUIT UNDA FIAT UT INTERIUS QUO FIT ET EXTERIUS“. 3 Dabei werden im Folgenden die Begriffe Taufbecken, Taufgefäß, Taufstein, Taufgerät und Artefakt als Synonyme verwendet. Während „Taufstein“ zu einseitig das Material beschreibt (denn es existieren auch metallene Taufgefäße), legt „Taufbecken“ den semantischen Schwerpunkt auf den Tauchakt und „Taufgefäße“ sind im Sinne des Wasserbehälters zu verstehen. Die Bezeichnung „Taufgerät“ stellt den funktionalen Gebrauch als Liturgiegerät heraus, während

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 Jörg Widmaier

Es scheint bemerkenswert, dass die Zeitgenossen, diesen Taufbecken, wenn überhaupt, dann nur beiläufig eine Beachtung schenkten.4 Dass das Taufgefäß als Artefakt – statt der Quelle oder dem heilsbringenden Wasser – selten im funktionalen Zusammenhang betrachtet wird, scheint gerade dessen medialen Status im Sakrament zu marginalisieren. Passend dazu ist ein Großteil der erhaltenen Taufgefäße dieser Zeit nicht viel mehr als ein einfaches Becken ohne Verzierung: Generell benötigen die Artefakte also keinerlei Schmuck, um als Liturgiegerät zu fungieren. Auf der anderen Seite sind jedoch figürliche Taufgefäße – wie jenes in Merseburg – produziert worden, denen ein mediales Potential eingetragen sein konnte, selbst wenn diese Medialität für eine erfolgreiche sakramentale Handlung nicht notwendig erschien. Gleichsam konnten, wie archäologische Untersuchungen gezeigt haben, gerade Taufanlagen im Hochmittelalter repräsentativ inszeniert werden, obgleich hier sicher keine Steigerung sakramentaler Wirksamkeit erwartet wurde: Durch die Ergebnisse von Ausgrabungen lassen sich für das Hoch- und Spätmittelalter mehrstufige Anlagen rekonstruieren, die in zentraler Position im Kirchenraum zu liegen kommen.5 Dort kann der Taufort in räumlich-funktionaler Einbindung zu Eingängen, Altarstellen oder liturgischen Vorrichtungen wie Kreuzkanälen oder Sakrarien stehen und so zusätzliche Hervorhebung erlangen.6 Selbst die einfachen und unverzierten Taufgefäße, der Großteil des erhaltenen Quellenmaterials aus Stein, Metall und  – unter Vorbehalt seiner schlechten Erhaltungsbedingungen wohl ebenso – Holz, konnten so in besonderer Weise inszeniert sein. Schon der Taufort unter der Bezeichnung als „Artefakt“ dagegen gerade der Zustand des Erschaffenseins und der Akt der Konzeption in den Vordergrund gestellt ist. Da all diese Aspekte bedeutsam erscheinen, sollte mit der synonymen Verwendung der Begriffe die Bandbreite semantischer Gehalte in jedem Fall mitgedacht werden. 4 Vgl. Timoteo J. M. Ofrasio, The baptismal font: A study of patristic and liturgical texts, Thesis ad lauream 149 (Rom 1990). 5 In Auswahl J. W. Boersma, „Een doopvont-basement in de kerk van Feerwerd,“ Groninger kerken 11 (1994), 71–77; Uwe Lobbedey, „Randbemerkungen zu westfälischen Taufanlagen aus archäologischer Sicht,“ in Westfalen und Italien: Festschrift für Karl Noehles, ed. Udo Grote (Petersberg 2002), 46–56; Friedemann Winkler, „Ein runder Kalk-Estrich in der Stadtkirche zu Trebsen: Der mittelalterliche Taufort,“ in Zur Kirche gehört mehr als ein Kruzifix: Studien zur mitteldeutschen Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte. Festgabe für Gerhard Graf zum 65. Geburtstag, ed. Michael Beyer, Herbergen der Christenheit 13 (Leipzig 2008), 112–124. 6 Vgl. hierzu J. G. Davies, The architectural setting of baptism (London 1962); Günter Bandmann, „Früh- und hochmittelalterliche Altaranordnung als Darstellung,“ in Das erste Jahrtausend. Kultur und Kunst im werdenden Abendland an Rhein und Ruhr Bd. 1, ed. Victor H. Elbern (Düsseldorf 1962), 371–411; Egon Färber, „Der Ort der Taufspendung,“ Archiv für Liturgiewissenschaft 13 (1971), 36–114; Martina Langel, Der Taufort im Kirchenbau unter besonderer Berücksichtigung des Kirchenbaus im Erzbistum Köln nach 1945 (Siegburg 1993).



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Abb. 1: Merseburg, Taufbecken mit Inschrift sowie Propheten und Aposteln als typologische Reihe, ehemals Thomaskirche, heute Dom, nach 1175. Aufnahme: J. Widmaier 2011, Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Vereinigten ­Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz.

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Abb. 2: Sankt Gallen, Stiftsbibliothek St. Gallen, Klosterplan (Codex Sangallensis, MS Nr. 1092), Maße: 112 cm x 77, 5 cm, um 801/833, hier: Detail des Kirchenschiffes mit Taufbecken und Altarstellen. © Stiftsbibliothek St. Gallen.

im Klosterplan von St. Gallen ist wohl als mehrstufige Anlage zu rekonstruieren, die kreuzförmig von Altarstellen umgeben ist (Abb. 2). Bereits diese Form der repräsentativen Raumeinbindung vermittelt ein Bild der materiellen Ausgestaltung der Taufe, welches sich nur sehr bedingt mit den Ergebnissen einer Analyse der – in diesem Punkt – äußerst zurückhaltenden Schriftquellen zu decken vermag. Doch welche Bedeutungen kommen dieser inszenatorischen Einbindung in den Raum und vor allem der oft aufwendigen künstlerischen Ausgestaltung in Bild und Inschrift zu? Gefährdet die Materialität des Objektes die wahre Spi­ri­tua­li­tät des Sakraments oder macht es letztere möglicherweise gerade begreifbar? Vermag der Gestaltungsakt der Artefakte das Göttliche handhabbar zu machen? Welcher mediale Funktionswert ist dem figürlich ausgestalteten Liturgiegerät im Spannungsfeld zwischen Rationalisierung und Mythisierung zugeschrieben worden? Im Folgenden stehen weniger theoretische Vorüberlegungen im Fokus als vielmehr die konkret nachweisbaren Modelle und Formen von mittelalterlicher Medialität, die anhand einzelner Taufgefäße exemplarisch aufgezeigt werden.



Das begreifbare Sakrament 

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Grundlegend sind dabei die Fragen nach den religiös-kulturellen Voraussetzungen, dem funktionalen Kontext und dem medialen Status der besprochenen Artefakte. Im vorliegenden Beitrag wird die These vertreten, dass gerade an diesen aufwendig ausgestalteten Artefakten das Spannungsverhältnis von Begreifbarem und Unbegreifbarem in einer bestimmten Art und Weise und nach bestimmten Rezipientenkreisen differenziert thematisiert worden ist. Die Funktion, die figürliche Taufbecken im Zuge der Tauf- und Weihehandlung erfüllen, lässt sich demnach nicht auf die bloße Aufnahme geweihten Wassers beschränken.7 Das religiöse Wissen bezüglich des Taufsakramentes  – seiner heilsgeschichtlichen wie auch rechtlichen Bedeutung – wird in Bezug auf Inhalt und Form am Artefakt transformiert. Die figürlichen Taufgefäße sind daher Medien der Handhabung Gottes, denn ihre Medialität zielt auf das Begreifbarmachen des Sakramentes ab. Gerade die künstlerische Ausstattung von Taufgefäßen muss deshalb nach ihren medialen Konzepten befragt werden. Nicht selten beziehen die Programme von Taufbecken beispielsweise Position, wenn es um die Funktion, die Wirkung und die Bedeutung der an ihnen vollzogenen Handlungen geht. In der bild­lichen, inschriftlichen, materiellen oder formalen Ausstattung können diese Vorstellungen eingetragen worden sein. Seltener kommentieren Bild- und vor allem Inschriften-Programme das Artefakt sogar in Selbstreferenz oder Selbstüberschreitung auch als Gegenstand sakramentaler Geschehnisse.8 Exemplarisch können diese rhetorischen und metaphorischen Verfahren, denen unterschiedliche Lesevorgänge und Rezeptionsangebote im liturgischen Gebrauchsmoment des Artefaktes zugrunde liegen, anhand ausgewählter figür­ licher Taufgefäße des 12. und 13. Jahrhunderts in der historischen Kirchenprovinz Köln vorgestellt werden. Der dabei gewählte kommunikationstheoretische und rezeptionsanalytische Ansatz kontextualisiert die Artefakte in ihrem jeweiligen historischen, rechtlichen und kirchlichen Aufstellungszusammenhang und befragt die Ausstattung der Gefäße mit Bildern und Inschriften in einem allumfassenden interdisziplinären Zugriff auf ihre Medialität hin.9 Ziel der Analyse ist

7 Vgl. ausführlicher Jörg Widmaier, Artefakt – Inschrift – Gebrauch. Zu Medialität und Praxis figürlicher Taufbecken des Mittelalters (Büchenbach 2016). 8 Vgl. hierzu Jörg Widmaier, „Simeon am Taufbecken von Beckum-Vellern: Mehrfachlesbarkeit und Intellektualisierung eines liturgischen Artefakts,“ in Abrahams Erbe. Konkurrenz, Konflikt und Koexistenz der Religionen im europäischen Mittelalter, ed. Ludger Lieb u.  a. (Berlin u.  a. 2015), 542–557. 9 Dabei wurde vor allem der kontextualisierende rezeptions- und narrationsanalytische Ansatz gewählt, den Anders Andrén für skandinavische Runensteine mit komplexen Text-Bild-Kompositionen erprobt hat. Vgl. hierzu ausführlicher Anders Andrén, “Re-reading embodied texts: An interpretation of rune-stones,” Current Swedish Archaeology Bd. 8 (2000), 7–32; Widmaier 2016 (wie Anm. 7).

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das Herausarbeiten der Dynamiken von medialen Praktiken, ihres Gebrauchs und ihrer Reflexion am Quellenmaterial selbst.

1 Fallbeispiel I: Lüttich

Abb. 3: Lüttich, Taufbecken der Kathedralpfarrei Notre-Dame-aux-Fonts, Messing, vor 1118. © Bildindex Marburg.

Das Taufgefäß aus Lüttich, das metallene Liturgiegerät der Kathedralpfarrei Notre-Dame-aux-Fonts sei hier als erstes Beispiel angeführt (Abb. 3). Laut einer zeitgleichen Schriftquelle (Chronicon rythmicum Leodiense) ist das Artefakt in der Regierungszeit des Abtes Hillinus († 1118) von Notre-Dame, dem Vorsteher der ersten Pfarrkirche und zeitgenössischen Taufkirche der Kathedrale, also im Zeitraum zwischen 1107 und 1118, entstanden.10 Der Kessel des Taufgefäßes ist

10 An dieser Stelle wird bis zuletzt kontrovers diskutierte Frage der Herkunft und Datierung bei Seite gelassen, da sie für die Frage der Medialität des Artefaktes zweitrangig erscheint. Zur Diskussion vgl. Pierre Colman und Berthe Lhoist-Colman, Hg., Les fonts baptismaux de SaintBarthélemy à Liège: Chef-doeuvre sans pareil et noeud de controverses (Bruxelles 2002), 319;



Das begreifbare Sakrament 

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durch die beiden abgestuften Profilierungen sowohl nach oben als auch nach unten begrenzt. Den Zwischenraum auf dieser Wandung nehmen Szenen ein, die als eine narrative Sequenz verstanden werden können. Es handelt sich dabei um vier Hauptfelder, die  – wie nicht selten in sequenzieller Narration  – durch stilisierte Bäume getrennt werden.11 Das Figurenpersonal der Bildszenen in den Baumzwischenräumen ist jeweils um einen Mittelpunkt orientiert, sodass auch die äußeren Figuren stets mit dem Rücken zu den Bäumen platziert sind und so den räumlichen Abschluss durch die Bäume erneut aufgreifen. Nach heilsgeschichtlichen Abläufen geurteilt, beginnt die Erzählung chronologisch bei der Wüstenpredigt Johannes des Täufers, setzt sich in der Zöllnertaufe desselben fort und endet, nach der Taufe Jesu im Jordan, mit den Taufhandlungen des Apostel Petrus und des Evangelisten Johannes (Abb. 4).12 Jener Vierteilung der Bildfelder, entspricht die Rhythmisierung der Inschrift am oberen Kesselrand in vier leoninischen Hexametern.13 Die hier zu findenden Reime beziehen sich nicht nur inhaltlich, sondern ebenso formal  – auch aufgrund der entsprechenden Interpunktion mit Kreuzen oder Blüten  – auf die jeweils direkt darunter lokalisierten Bildszenen und deren Segmentierung innerhalb der narrativen Sequenz. Ebenso bezieht sich die Inschrift, welche am unteren Profilband des Kessels verläuft, direkt auf die darunter zu lokalisierenden Rinderfiguren. Auch hier ist die Inschrift in vier leoninische Hexameter strukturiert und lässt dadurch auf die entsprechende ursprüngliche Gruppierung jener Rinder in ebenso viele Dreiergruppen schließen.14 Denn auch laut BeschreiGeneviève Xhayet und Robert Halleux, Hg., Études sur les fonts baptismaux de Saint-Barthélemy à Liège (Liège 2006). 11 Alternativ sind auch Türme denkbar. Zu spätantiken Vorbildern vgl. u.  a. Friedrich Gerke, Die christlichen Sarkophage der vorkonstantinischen Zeit, Studien zur spätantiken Kunstgeschichte 11 (Berlin 1978), 234  ff. 12 Der christlichen Tradition folgend wird in vorliegender Untersuchung die Person des Evangelisten Johannes mit der Person des Apostels Johannes gleichgesetzt. 13 „+ CORDA PARAT PLEBIS DOMINO DOCTRINA IOANNIS +“ (Die Lehre des Johannes bereitet dem Herrn die Herzen des Volkes) – „+ HOS LAVAT; HINC MONSTRAT, QVIS MVNDI CRIMINA TOLLAT +“ (Er wäscht jene; Hier zeigt es sich, dass er die Sünden der Welt entfernt) – „+ VOX PATRIS: HIC, AIT, EST. LAVAT HVNC HOMO, SPIRITVS IMPLET +“ (Die Stimme des Vaters spricht: Hier ist er! Ein Mensch tauft ihn und der Geist erfüllt ihn) – „+ HIC FIDEI F(o)NS EST PETRUS HOS LAVAT HOSQ(ue) IOHANNES +“ (Dies ist der Quell des Glaubens. Diese tauft Petrus und jene Johannes); zitiert nach Bruno Reudenbach, Das Taufbecken des Reiner von Huy in Luettich, (Wiesbaden 1984); Vgl. ebenso Clemens M. M. Bayer, “Les fonts baptismaux de Liège: Qui les boeufs soutenant la cuve figurent-ils? étude historique et épigraphique,” in Études sur les fonts baptismaux de SaintBarthélemy à Liège, 665–726, ed. Geneviève Xhayet und Robert Halleux (Liège 2006), 98. 14 „+ BISSENIS BOBVS PASTORUM FORMA NOTATVR * QVOS ET APOSTOLICE COMMENDAT GRATIA VITE **OFFICIIQVE GRADVS, QVO FLVMINIS IMPETVS HVIVS * LETIFICAT SANCTAM

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bung des Ehernen Meeres sind diese zwölf Rinder in vier Dreigruppen geordnet, und nehmen so – in Anlehnung an den Bibeltext – auf die Himmelsrichtungen Bezug.15 Eine formale wie inhaltliche Strukturierung des Taufgefäßes lässt sich demnach intermedial auf Basis der Darstellungen und Inschriften nachweisen.16 Neben diesen Zusammenhängen von formaler und inhaltlicher Strukturierung fällt ein weiteres narratives Grundmotiv ins Auge, welches sich ebenso in der formalen Gestaltung des Beckens zu spiegeln scheint: Ein wichtiges erzählerisches Element bildet die typologische Bezugnahme am Becken. Die zwölf Rinder, welche das Eherne Meer als Typus des Taufbeckens tragen, sind ebenso Sinnbilder für die zwölf Apostel. Diese sind nicht nur durch die Aposteltaufe in der letzten Szene der Beckenwandung repräsentiert, sondern zierten – wie das Chronicon rythmicum Leodiense beschreibt – den ursprünglich zum Taufgefäß gehörigen Taufdeckel. Dieses Verschlusssystem, welches sich nicht erhalten hat, aber durch die genannte Schriftquelle rekonstruierbar ist, soll dabei nicht nur vom Apostelkollegium, sondern auch von Propheten geschmückt gewesen sein („Hoc quod fonts desuper operit, Apostolos prophetas exerit“).17 Auch hier handelt es sich um eine Typologie, da die Apostel in der mittelalterlichen Exegese zu ihren alttestamentarischen Vorgängern in einer typologischen Verbindung stehen.18 Das Gesamtprogramm des Artefaktes stellt somit ein typologisches Modell des Sakramentes zur Disposition. Das Programm bezieht sich in hohem Maße auf Autoren wie Beda Venerabilis und Gregor den Großen.19 Die Medialisierungsleistung des Artefaktes besteht in der Umsetzung dieses religiösen Wissens in zweier­lei Hinsicht: Sie ist einerseits bezogen auf den Heilsort, andererseits auf den Heilsakt. Die Medialität des Heilsortes vollzieht sich vor dem Hintergrund einer heilsgeschicht­-

PVRGATIS CIVIBVS VRBEM*“ (In den 2 mal 6 Rindern erkennt man die Gestalt der Hirten, *welche ausgezeichnet sind durch das apostolische Leben, voll der Gnade, und durch die Weihe ihres Amtes; ** Ein Amt, durch das der Strom dieses Flusses * die Heilige Stadt erfreut, da ihre Bürger gereinigt sind); zitiert nach Reudenbach 1984 (wie Anm. 13); Vgl. ebenso Bayer 2006 (wie Anm. 13), 98. 15 1 Kön 7,25; 2 Chr 4,4. Vgl. Reudenbach 1984 (wie Anm. 13), 18. 16 Zur Darstellung, Reimstrukturierung sowie zum Inhalt der Inschrift vgl. Bayer 2006 (wie Anm. 13), 98. 17 Zitiert nach Reimbaldus, Opera omnia. Corpus Christianorum: Continuatio mediaevalis 4 (Turnhout 1966), 134. 18 Vgl. Reudenbach 1984 (wie Anm. 13), 25  ff. Dieses Motiv zeigt beispielsweise ebenso das Taufgefäß von Merseburg auf der Wandung des steinernen Zylinders. 19 Vgl. Reudenbach 1984 (wie Anm.  13), 18  ff.; ebenso Bayer 2006 (wie Anm. 13); Monique Close-Dehin, “Du signifiant au signifié: Un autre regard sur les fonts baptismaux dits de SaintBarthélemy à Liège,” in Études sur les fonts baptismaux de Saint-Barthélemy à Liège, 665–726, ed. Geneviève Xhayet und Robert Halleux (Liège 2006), 117–168.

Abb. 4: Abrollung des Taufbeckens von Lüttich. © Gestaltung Widmaier 2015 nach Zeichnung von O. Henrotte und Graphik von E. Guillaumot 1881.

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lichen Inszenierung der Kathedralstadt Lüttich. Stadttopographie, Wasserwege, Kirchen- und Brückenbauten sowie die Errichtung von Hospitälern wurden in den Schriftquellen des 11. und 12. Jahrhunderts auf ihren Bezug zu Zentralorten wie Rom und Jerusalem ausgelegt.20 Passend dazu konstituiert sich die Medialität des Taufgefäßes von Lüttich grundlegend an der gegebenen Materialität sowie auf Basis von Form, Ikonographie und Inschriften: Das Taufbecken verkörpert ein figuratives Vorbild, das Eherne Meer des Salomonischen Tempels in Jerusalem (1  Kön  7,23). Dabei realisiert und aktualisiert das Liturgiegerät den Status des alttestamentlichen Kultgerätes, reflektiert hier ebenso dessen Verfasstheit und überbietet letzteres gleichsam im typologischen Bezugssystem der Taufe.21 Bezogen auf den Heilsakt wiederum ist die narrative monolineare Sequenz aus Bildern und Inschriften auf der Kuppawandung anzuführen: Dort wird in Verweis auf den Taufakt die christologische Heilsstiftung nicht nur zeitlich in heilsgeschichtlicher Dimension – unter Einbezug von Wüstenpredigt, Zöllnertaufe und Taufhandlungen der Apostel – inszeniert und in Bezug auf die Epiphanie der Jordantaufe Jesu überzeitlich medialisiert, sondern gleichsam im Kontext des Gefäßgebrauchs im Sakramentenvollzug vergegenwärtigt. Im Spannungsfeld zwischen dieser Ostentation und Transzendenz stellt sich  – wie schon Christian Kiening feststellte – die Frage nach dem medialen Status des Liturgiegerätes.22 Vermag dieses den Heilsakt nur darzustellen, ihn vollziehbar zu machen oder aber den Täufling  – Cornelius und Craton folgend  – an der gezeigten christologischen Heilsstiftung selbst teilhaftig werden zu lassen? Der Verweis auf die Taufadministration, wie ihn sowohl die Bild- als auch die Inschriftenebene transportieren, ist dabei in kirchenpolitischen Geschehnissen der Entstehungszeit des Taufgefäßes zu kontextualisieren.23 Das Artefakt wird hier zum sakramentalen Rechtszeugnis sowohl für taufrechtliche Fragen der innerstädtischen Pfarrsysteme als auch bezogen auf administrative Eignungszuschreibungen im Rahmen des Investiturstreites. Auch kirchenrechtliche Aspekte, wie das Taufrechtsstatus eines Kirchen-

20 Vgl. hierzu Godefroid Kurth, Notger de Liège et la civilisation au Xe siècle, Bd. 2 (Paris 1905), 10  ff; Reudenbach 1984 (wie Anm. 13), 67  ff.; Elizabeth den Hartog, Romanesque architecture and sculpture in the Meuse Valley, Maaslandse Monografieën 8 (Leeuwarden u.  a. 1992), 36; Frank G. Hirschmann, Stadtplanung, Bauprojekte und Großbaustellen im 10. und 11. Jahrhundert: Vergleichende Studien zu den Kathedralstädten westlich des Rheins, Monographien zur Geschichte des Mittelalters 43 (Stuttgart 1998), 84. 21 Vgl. hierzu ebenso Christian Kiening, „Wege zu einer historischen Mediologie,“ Germanistik in der Schweiz. Online-Zeitschrift der SAGG 4 (2007), 15–21, 19. 22 Kiening 2007 (wie Anm. 21), 19. 23 Vgl. besonders Close-Dehin 2006 (wie Anm. 19), 155  ff.; ebenso Reudenbach 1984 (wie Anm. 13).



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baus oder die Abhängigkeit zu bestimmten Institutionen konnten also durch die Ausgestaltung eines Taufgefäßes eine mediale Vermittlung finden.

2 Fallbeispiel II: Freckenhorst

Abb. 5: Freckenhorst (Kreis Warendorf, NRW), ehem. Stiftskirche St. Bonifatius, Taufbecken aus Baumberger Sandstein, um 1129. © Widmaier 2012.

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Das Taufgefäß aus der Kirche des ehemaligen Damenstifts von Freckenhorst ist als zweites Fallbeispiel angeführt, da eine Inschrift am Gefäß die Jahreszahl 1129 trägt. Der übergroße monolithische Zylinder zeichnet sich durch einen spezifischen Bild- und Inschriftengebrauch aus (Abb. 5). Die Bilderzählung ist horizontal in zwei Kompartimente aufgeteilt, die durch ein umlaufendes Inschriftenband geschieden werden. Die Inschrift verweist auf die Weihe der Kirche durch den Bischof von Münster im Jahre 1129.24 Die untere Bildreihe setzt auf Basis theologischer Schriften pejorative Sinnbilder der Sünde um, in denen Sündhaftigkeit metaphorisch visualisiert wird.25 In der Anbringung am Taufgefäß wird so beispielsweise die Ausdeutung der Taufe als poenitentia prima, als erste Buße, möglich. Die obere Bilderreihe dagegen zeigt die sieben Etappen des Lebens Jesu, die auch  – in der Medialisierung liturgischer Praxis  – als Glaubensbekenntnis gelesen werden können: Chronologisch lassen sich hier die Verkündigung an Maria, die Geburt Jesu, die Taufe im Jordan, die Kreuzigung, die Auferstehung mit Höllenfahrt, die Himmelsfahrt und die Maiestas Domini in eine heilsgeschicht­ liche Reihe bringen (Abb. 6).26 Mit der Visualisierung des Auferstehungs- und Höllenfahrtsgeschehens in anachronistischer Reihung entsteht eine spezifische Medialität in den liturgischen Feiern und den geistlichen Spielen der Osternacht.27 Dies sind speziell in den hochrangigen Kirchenbauten anzutreffende Inszenierungen heilsgeschicht­ licher Ereignisse wie der Grabbesuch der drei Frauen oder die Höllenfahrt

24 Vgl. Johannes Bauermann, „Zu Freckenhorster Inschriften,“ Warendorfer Schriften 3 (1973), 1–18, 4; Wilhelm Kohl, „Die Weiheinschrift auf dem Taufstein der Kirche in Freckenhorst,“ in Kirche und Stift Freckenhorst: Jubiläumsschrift zur 850. Wiederkehr des Weihetages der Stiftskirche in Freckenhorst am 4. Juni 1979, ed. Wilhelm Kohl (Freckenhorst 1978), 11–13, 13; Stefan Eugen Soltek, Der Freckenhorster Taufstein (Diss. Univ. Bonn 1987), 47. 25 In Ansätzen findet sich diese Deutung bereits bei Soltek 1987 (wie Anm. 24); vgl. ebenso Géza Jászai, „Das Taufbecken zu Freckenhorst,“ Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 43/44 (2005), 63–92, 80; sowie Silvia Schlegel, Mittelalterliche Taufgefäße: Funktion und Ausstattung (Köln 2011), 267. 26 Für eine detailliertere Beschreibung der Einzelszenen vgl. Jászai 2005 (wie Anm. 25), 68  ff. 27 Vgl. Katharina Ulrike Mersch, Soziale Dimensionen Visueller Kommunikation in Hoch- und Spätmittelalterlichen Frauenkommunitäten: Stifte, Chorfrauenstifte und Kloster im Vergleich (Göttingen 2012), 66; ebenso Jürgen Bärsch, Die Feier des Osterfestkreises im Stift Essen nach dem Zeugnis des Liber Ordinarius (2. Hälfte 14. Jahrhundert). Ein Beitrag zur Liturgiegeschichte der deutschen Ortskirchen, Quellen und Studien 6 (Münster 1997). Zur anachronistischen Reihung der Szenen, wie sie im geistigen Spiel auftreten sowie zur Entwicklung des Ritus und der gegenseitigen Beeinflussung von geistlichem Spiel und Liturgie des Descensus ad inferos vgl. Elisabeth Kunstein, Die Höllenfahrtsszene im geistlichen Spiel des deutschen Mittelalters: Ein Beitrag zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Frömmigkeitsgeschichte (Diss. Univ. Köln 1972), 27  ff.

Abb. 6: Abrollung des Freckenhorster Taufbecken Planarchiv 7197  f, LWL- Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur in Westfalen. © Landschaftsverband Westfalen-Lippe – Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur in Westfalen.

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C ­ hristi.28 Auch das Artefakt wird im Zuge dieser liturgischen Performanz zum Medium einer Realisierung von Heilshandeln. Es sind jene liturgischen Vollzüge, in denen die sonst bestehende restringierte Binnenraumstruktur der Damenstiftsund Pfarrkirche gelockert und die Kanonissen mit den Klerikern gemeinsam auch jenen Kirchenraum betreten, welcher sonst den Laien zugänglich ist. Hier  – im Kirchenschiff – fand das Taufgefäß nachweislich noch im 17. Jahrhundert zentral seine Aufstellung. Ob das Taufbecken dabei als Liturgiegerät der Pfarrei auch für alltägliche Taufen in Gebrauch gewesen ist oder nur für repräsentative Tauffeiern an den Hochfesten Ostern und Pfingsten Verwendung fand, ist nicht mit letzter Sicherheit zu bestimmen. Bemerkenswert ist jedoch, dass gerade die am Artefakt angebrachte Inschrift literate Betrachter in Konzeption und Rezeption voraussetzt: Im Jahre nach der Menschwerdung des Herrn 1129, 28. Epakten, 1. Concurrenten, nach einem Schaltjahr, 7. Indiktion, an den 2. Nonen des Juni (wurde) vom verehrungswürdigen Bischof von Mimigardevord, Egbert, im zweiten Jahre der Ordination diese Kirche [An. d. V. dieser Tempel] geweiht.29

Die Bildreihe und die Inschrift weisen weder denselben Startpunkt noch dieselbe Verlaufsrichtung auf. Durch dieses Verschiebungsverhältnis wird erst eine bestimmte intermediale Rezeption ermöglicht, die eine kontextualisierende Lesung des Gesamtprogrammes notwendig macht: So ist das Inschriftenband mit „AB INCARNATIONE DOMINI“ datiert, und dabei diese schrifttradierte Menschwerdung direkt unterhalb der bildhaft inszenierten Inkarnation Christi platziert. Ebenso wird in gleicher Bild-Text-Relation die inschriftliche Tempelweihe („CONSECRATU(M) E(ST) HOC TEMPLUM“) in eine Verbindung zum bildhaften Taufgeschehen gestellt. Die Inschrift, die bisher aufgrund ihrer Nennung einer Tempelweihe im Jahr 1129 auf den Kirchenbau oder – aufgrund der Anbringung am Taufgefäß – auf das Liturgiegerät bezogen worden ist, nennt eine Weihehandlung am 4. Juni des Jahres 1129, dem Tag vor dem Heiligenfest des Kirchenpatrons St. Bonifatius. Die genannte Weihehandlung referiert damit zweifellos auf den Akt der Kirchweihe, bezieht aufgrund ihrer Anbringung am Taufgefäß selbiges jedoch als Mobiliar des Kirchenbaus – möglicherweise retrospektiv – in diesen Weiheakt mit ein. Das Artefakt wird hier zum repräsentativen Medium des Selbst-

28 Mersch 2012 (wie Anm. 27). 29 „+ anno ab incarnat(ione) d(omi)ni mcxxviiii epact(is) xxviii concvrr(entibus) i p(ost) b(issextilem) indict(ione) vii ii non(as) ivn(ii) a venera(bile) ep(iscop)o mimigardevordensi egeberto ordinat(ionis) [sve] anno ii consecratv(m) e(st) hoc templum“, zitiert nach Bauermann 1973 (wie Anm. 24), 1.



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verständnisses der am Ort ansässigen Glaubensgemeinschaft. Zugleich eröffnet sich durch die intermediale Lesung von Taufszene und Tempelnennung am Artefakt die theologische Metaphorik von Kirchweihe als Monumentaltaufe und Taufhandlung als Tempelwerdung des Menschen gleichermaßen.30 Hugo von St. Viktor († 1141) hatte – auf Basis älterer Theologen wie Remigius von Auxerre († um 908) oder Ivo von Chartres († 1115) – eben diese Vorstellungen prominent vertreten. Das Taufgefäß hat damit Anteil an einem zeitgenössischen theologischen wie liturgischen Diskurs über den Zusammenhang von Kirchenweihe und Taufhandlung. Zudem müssen für Freckenhorst auch die zeitgleichen Erörterungen über den sittlich-moralischen Aufstieg geistiger Frauen zum Tempel Gottes oder Haus der Weisheit in den Deutungsrahmen einbezogen werden.31 Demnach hätten sich gerade die in Freckenhorst ansässigen Stiftsdamen in die Metaphorik der Tempelweihe am Taufbecken einlesen müssen. Dass ein derartiger Bildgebrauch auch für die religiöse wie persönliche Ausbildung der Sanctimonialis Verwendung fand, zeigt das Speculum virginium, eine didaktische Lehrschrift in Dialogform, welche im 12. Jahrhundert wohl im Kontext der Springiersbacher Reformbewegung für religiöse Frauengemeinschaften verfasst worden ist.32 Dort

30 Didier Méhu, “Images, signes et figures de la consécration de l’église dans l’Occident medieval: Les fonts baptismaux de l’église Saint-Boniface de Freckenhorst (XIIe siècle),” in Mises en scène et mémoires de la consécration d’église dans l’occident medieval, ed. ders. (Turnhout 2008), 285–326. 31 Denn schon die Institutio sanctimonialium, die frühen Regelungen weiblicher religiöser Gemeinschaften, bezeichnen die Jungfrauen als „Tempel des Herrn“ (nach 1 Kor 3,16–17). Diese Bezeichnung geht dabei auf Hieronymus zurück; vgl. Institutio Sanctimonialium Aquisgranensis, ed. Albert Werminghoff, MGH Concilia II/1, 452–453; vgl. ebenso Gisela Muschiol, „Liturgie und Klausur: Zu den liturgischen Voraussetzungen von Nonnenemporen,“ in Studien zum Kanonissenstift, ed. Irene Crusius, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 167 (Göttingen 2001), 129–148, 140; ebenso Matthäus Bernards, „Speculum virginum: Geistigkeit und Seelenleben der Frau im Hochmittelalter,“ Archiv für Kulturgeschichte: Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 16 (Köln u.  a. 1982), 186. Vgl. hierzu auch die Anwendung der Tempelmetapher auf ihre Mitschwestern im Briefverkehr der Hildegard von Bingen; Vgl. Elisabeth Gössmann, „‚Ipsa enim quasi domus sapientiae‘: die Frau ist gleichsam das Haus der Weisheit. Zur frauenbezogenen Spiritualität Hildegards von Bingen,“ in „Eine Höhe, über die nichts geht“: spezielle Glaubenserfahrung in der Frauenmystik? Mystik in Geschichte und Gegenwart I: Christliche Mystik Bd. 4, ed. Margot ­Schmidt (Stuttgart 1986), 1–18, passim. 32 Nach aktueller Forschungsmeinung sollte das Speculum den männlichen Seelsorgern die Aufgaben in der cura monialium erleichtern; vgl. hierzu ausführlicher Mersch 2012 (wie Anm. 27), 145. Zur aktuellen Forschungsdiskussion um das Speculum vgl. u.  a. Constant J. Mews, Hg., Listen daughter: The Speculum Virginum and the formation of religious women in the Middle Ages (New York 2001); Mersch 2012 (wie Anm. 27), 145  ff.; zur Springiersbacher Reformbewegung vgl. ebd., 146  ff.

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Abb. 7: Speculum VirginumHandschrift (London, The British Library Board, Arundel 44  f. 114v), Detail: Der Tempel der Weisheit mit Wurzel Jesse, Sapientia und Christus sowie mit typo­ logischem Schema zu den biblischen Septenaren. © The British Library, London.

findet sich eine Beschreibung des Hauses der Weisheit, die in den verschiedenen erhaltenen Handschriften ebenso mit einer schematischen Darstellung des Hauses der Weisheit und seiner Auslegungsmodelle konfiguriert worden ist (Abb. 7).33 Auf jene Darstellungen haben zwar bereits Soltek und Jászai verwiesen, doch galt ihr Augenmerk dabei lediglich der ikonographischen Zuordnung des Taufbeckens zum Motiv des siebensäuligen Hauses der Weisheit (domus sapientiae).34 Einen inhaltlichen Abgleich, bezogen auf die Frage einer religiösen Anwend-

33 Zu den erhaltenen Handschriften des 12. und 13. Jahrhunderts vgl. Jutta Seyfarth, Speculum virginum Bd. 1, (Freiburg 1990), 48  ff. 34 Soltek 1987 (wie Anm. 24), 362  ff.; Jászai 2005 (wie Anm. 25), 79.



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Abb. 8: Rota eines Vaterunsers aus einem Lukasevangelium des 11. Jh. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: Cod. Guelf. 70 Weiss., Fol. 131v. © Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: Cod. Guelf. 70 Weiss., Fol. 131v.

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barkeit haben beide Autoren jedoch nicht unternommen. Die vorliegende Darstellung des metaphorischen Hauses der Weisheit im elften Kapitel des Speculum ist  – ähnlich wie die zeitgleiche graphische Darstellung des Vaterunsers (Abb. 8) – als typologisches Schema zu verstehen. In den nach oben aus Christus emporwachsenden Blattformen verbinden sich die Sieben Gaben des Heiligen Geistes mit den Seligpreisungen (Beatitudines), den Bitten des Vaterunsers, den Voces Domini (Ps 28), den coronae triumphales der Apokalypse (Offb 2, 7  ff.), den Credoartikeln, den Textstellen zur Bibel und zu Tugenden sowie abschließend den Etappen des Lebens Jesu. Es sind eben diese sieben Etappen (Geburt, Taufe, Leiden, Abstieg in das Reich des Todes, Auferstehung, Himmelfahrt und Jüngstes Gericht), die auch in der Bildreihe des architektonisch durchgliederten Taufbeckens vergegenwärtigt sind. In der Darstellung des Speculum ist es Christus, der im Zentrum des Tempels thront. Die Auflösung der Darstellung nach oben hin in die sieben Geistesgaben verweist zugleich auf die Taufe Jesu. Denn durch seine Taufe ist Christus Träger des Heiligen Geistes und aller sieben Geistesgaben (Jes 11,2  f.) Die Taufe Jesu ist damit Quelle für die Geist(be)gabung aller gläubigen Christen im Taufakt. Die Medialität des Taufgefäßes, welche bereits im Prozess seiner Produktion eingeschrieben und durch die performativ-situative Perspektive vor allem eines gelehrten Betrachters rezipiert werden konnte, zeichnet das Artefakt damit in seinem geistigen Milieu aus. Gerade die Stiftsdamen konnten durch medi­ tative Betrachtung oder memorative Vergegenwärtigung der im Taufgefäß ein­ geschriebenen Sinnzusammenhänge – gleichsam zeitgenössischer Schemabilder oder Denkmodelle – über Formen der Selbst- und Gotteserkenntnis reflektieren. Auch hier bewegt sich das Artefakt für eine spezifische Betrachtergruppe damit im Spannungsfeld zwischen Objektbetrachtung und Offenbarungsgeschehen.

3 Fallbeispiel III: Vellern Als abschließendes Fallbeispiel ist mit dem Taufgefäß von Beckum-Vellern ein Liturgiegerät aus pfarrkirchlichem Kontext aufgeführt, für das auf Basis des Bildprogrammes eine Einflussnahme des nahe gelegenen Benediktinerklosters Liesborn wahrscheinlich gemacht werden kann.35 Am dreidimensionalen Taufgefäß sind dabei alle Szenen – wie exemplarisch die Verkündigung und die Taufe zeigen  – zu Paaren inhaltlich zusammengeschlossen (Abb. 9). So werden auch

35 Vgl. hierzu ausführlicher Widmaier 2015 (wie Anm. 8).



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Abb. 9: Abrollung des Taufbeckens von Beckum-Vellern. Aufnahme Widmaier (2012); Gestaltung Gerhardt (2014).

die Personifikationen Ecclesia und Synagoga und das Heilspersonal Simeon und Pankratius jeweils in Form von Doppelszenen miteinander kombiniert. An einer Stelle wird diese Paarstruktur jedoch durch einen ikonographischen Zusatz ergänzt: Der Prophet Simeon, welcher mit dem Heiligen Pankratius eine inhaltliche Gruppe bildet, ist – im Gegensatz zu den anderen Relieffiguren des Taufgefäßes – nicht frontal gezeigt, sondern wendet sich zur vorhergegangenen Szene, der Taufe Jesu, und erscheint so auch diesem Szenenfeld zugeordnet. Dadurch ergibt sich an dieser Stelle eine Bildgruppe aus drei Arkadenbögen, in deren Mitte die Taufe Jesu platziert ist und die flankierenden Figuren diesem Mittelpunkt zugewendet erscheinen. Gleichzeitig besteht zwischen den Personen der einzelnen Nischenfelder oder den jeweils doppelten Bildgruppen und den ihnen am Taufgefäß direkt gegenüberliegenden Szenen eine inhaltliche Verbindung. So ist die Figur des Propheten Simeon als Vertreter des Alten Bundes der gegenüberliegenden Synagoge zugeordnet, während der Märtyrer Pankratius der personifizierten Kirche in verbindender Gegenüberstellung gezeigt ist. Gleichfalls lassen sich die Szenenfelder Verkündigung und Taufe inhaltlich sowie über das gezeigte Personal verknüpfen. In beiden Fällen handelt es sich um einen Offenbarungsmoment, indem neben dem Wirken des Heiligen Geistes jeweils auch die gezeigten Engel miteinander verknüpfbar erscheinen und nicht zuletzt die Verbindung zwischen Maria und Jesus aus der heilsgeschichtlichen Genealogie der Generatio Christi belegbar ist. Das komplexe inhaltliche Programm lässt sich zudem in seinen historischen Zusammenhängen rekapitulieren: Am Artefakt sind der Vellener Kirchenpatron Pankratius – möglicherweise als Repräsentant eines im Ort ansässigen Rittergeschlechts – sowie

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der Liesborner Klosterpatron, der Prophet Simeon, dargestellt.36 Letzterer ist in Form einer Reliquie im Kloster vertreten und wird dort verehrt.37 Es ist mit einiger Wahrscheinlichkeit der Konzeption des Artefaktes in diesem geistlichen Umfeld des Klosters geschuldet, dass Simeon am Taufgefäß dargestellt worden ist. Ein komplexes theologisches Konzept variierend, ist der Prophet dabei anstelle Johannes des Täufers dargestellt, der in der Vellerner Taufszene Jesu fehlt. Dieser sakramententypologische Verweis, welcher die Auslösung der Erstgeburt mit der Taufe Jesu szenisch kombiniert, lässt sich nicht in selber Form im Schrifttum des Hochmittelalters nachweisen. Jedoch ist dieses Verständnis nur über die Rezeption der am Artefakt angebrachten Tituli zugänglich. Ohne deren Information kann die Szene der Taufe wiederum als Standardikonographie gelesen werden, da sich der Prophet Simeon – getreu der Bibelstelle des Lukasevangeliums – mit erhobenen Händen in Richtung Täufling wendet und dadurch ebenso als Täufer verstanden werden kann. Hier weist das Artefakt eine intendierte Mehrfachlesbarkeit auf, die sich vor allem anhand der Rezeption der Tituli ableiten lässt. Die am oberen Beckenrand angebrachte Inschrift verweist darauf, dass es das Gefäß der Taufe sei, welches ein Gefäß des Geistes erzeuge. Der Priester gebe das Wort, welches vom Heiligen Geist erfüllt werde.38 Was man hier beschrieben findet, ist der Moment der Taufhandlung in dem ein Neugeborenes unter Segensworten des Priesters in oder über das Taufbecken gehalten und vom Heiligen Geist erfüllt wird. Die situativ konnotierte Inschrift steht hier zudem nicht alleine, sondern lässt sich am Artefakt mit einer Bilderreihe intermedial verbinden. Während die chronologische Bilderzählung jedoch mit dem Verkündigungsengel Gabriel einsetzt, beginnt die Inschrift mit dem Kreuzzeichen oberhalb der Nische mit der

36 Vgl. Jürgen Kloosterhuis, „Köln – Mark – und Sankt Pankratius: Die politischen Beziehungen zwischen den Kölner Erzbischöfen und den Grafen von der Mark aus sakraler Sicht,“ in Vergessene Zeiten: Mittelalter im Ruhrgebiet Bd. 2, ed. Ferdinand Seibt u.  a. (Essen 1990), 44–50, 39  ff.; Johannes Meier, „800 Jahre St. Pankratius Vellern: Zum Gründungsvorgang mittelalter­ licher Pfarreien im Bistum Münster,“ Jahrbuch für westfälische Kirchengeschichte (1994), Heft 88, 15–26, 23  f. 37 Wilhelm Schneider, „800 Jahre Pfarrei Vellern – Zur Gründung der Pfarrei Vellern,“ in Vellern: Geschichte und Leben eines Dorfes. Zum 800-jährigen Bestehen, ed. Heimatverein Vellern (Gütersloh 1993), 16–24, 20. Vgl ebenso Helmut Müller, Das Bistum Münster 5: Das Kanonissenstift und Benediktinerkloster Liesborn (Berlin [u.  a.] 1987), 63  ff.; zur Geschichte der Abtei vgl. Cornelia Kneppe, „Geschichte der Abtei Liesborn,“ in Ausgrabungen in der Abtei Liesborn: Eine Dokumentation des Westfälisches Museums für Archäologie im Museum Abtei Liesborn, ed. Westfälisches Museum für Archäologie (Münster 1993), 3–31. 38 „+ vas babtizale generat vas spirituale dat pater hoc verbum quod complet spiritus almus“ (Das Taufgefäß erschafft das geistige Gefäß. Der Vater gibt dieses Wort, das der segenspendende Geist erfüllt. Inschrift am Taufbecken von Beckum-Vellern, um 1240).



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Abb. 10: Sélincourt, Prämonstratenser-Abteikirche St. Larme, Detail: Darbringung im Tempel mit Simeon sowie Auslösung der Erstgeburt durch das Ersatzopfer der Taube, um Mitte 12. Jh. © Bildindex Marburg.

Personifikation der Ecclesia. Obgleich also beide Medien in dieselbe Richtung – gegen den Uhrzeigersinn – verlaufen, ist eine rezeptive Wahrnehmung demnach keinesfalls einheitlich, sondern fordert vom Betrachter zwei ganz unterschied­ liche Startpunkte für die Rezeption. Wie schon am Taufbecken von Freckenhorst festgehalten, ist also auch für das Vellerner Taufgefäß auf die spezifische Verschiebung von Bild- und Inschriftenverlauf hinzuweisen, durch die eine inhaltliche Sinnebene erzeugt wird. Im intermedialen Bild-Text-Programm liefert das Artefakt eine Typologie sakramentaler Vollzüge (Auslösung der Erstgeburt und Taufe), wie sie schon Hugo von St. Viktor oder Rupert von Deutz beschreiben. Im Text-Bild-Programm gibt sich so ein sakramententypologisches Konzept der Tauftheologie zu erkennen, das den Taufakt mit der alttestamentlichen Auslösung kombiniert.39 Die Inschrift verortet das beschriebene und an ihm vollzogene sakra­mentale Geschehen im Kontext dieser heilsgeschichtlichen Programmatik des Taufbeckens. Zudem wird anhand der Gegenüberstellung der Figuren Syna-

39 Widmaier 2015 (wie Anm. 8).

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Abb. 11: Sélincourt, Prämonstratenser-Abteikirche St. Larme, Detail: Taufe Jesu und Christus zwischen Ecclesia und Synagoge, um Mitte 12. Jh. © Bildindex Marburg.

goge und Simeon – analog zum Taufgefäß von Sélincourt – sowie vertreten durch den Propheten Simeon die revelatio des Judentums, die Erleuchtung zur endzeit­ lichen Wiederaufnahme (assumptio) der Völker visualisiert (Abb. 10 und 11).40 Sakramentale Handlung und künstlerische Ausstattung erzeugen am Objekt einen intermedialen Bedeutungsraum. Es ist gerade die Medialität des Tauf­ beckens, die dabei sinntragend und bedeutungsstiftend wirkt. Diese Inhalte sind nur einem lesekundigen und die theologischen Implikationen erfassenden Betrachter zugänglich. Zudem verweist die prononcierte Anwendung des vas-Begriffes für Taufe und Geist in der Inschrift des Tauf­ beckens auf einen weiteren Aspekt: die frühscholastische Sakramententheologie. Im Zuge seiner allgemeinen Überlegungen zur Sakramentenlehre äußert Hugo

40 Vgl. hierzu Konrad Hoffmann, „Sugers ,Anagogisches Fenster‘ in St. Denis,“ Wallraf-RichartzJahrbuch: Jahrbuch für Kunstgeschichte 30 (1968), 57–88, bes. 59 und 63; ebenso vgl. Susanne Wittekind, Altar – Reliquiar – Retabel: Kunst und Liturgie bei Wibald von Stablo, Pictura et poesis 17 (Köln 2004), 112  f. und bes. 115 und 119; Widmaier 2015 (wie Anm. 8).



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von St. Viktor die Vorstellung von der sakramentalen Materie als Gnadengefäß. Gerade im Gegensatz zur bisher in vorliegender Arbeit beschriebenen literalen Deutung von » VAS « als Taufgefäß, bleibt der Viktoriner also im Sinnbildlichen, da er die materielle und sichtbare Substanz des Sakramentes als Gefäß begreift. Für ihn sind es das Wasser der Taufe und der Wein der Eucharistie die als Gefäße der Gnade verstanden werden sollten.41 Vas gratiae meint im Verständnis Hugos also nicht das eigentliche Taufgefäß. Am Taufbecken von Vellern könnte sich so eine weitere Deutungsebene ergeben. Denn das inschriftlich genannte „VAS BABTIZALE“ kann im Wissen um diese frühscholastische Auslegung der sakramentalen Materie durch den Viktoriner ebenso ambivalent als „Gefäß Wasser“ des Taufsakramentes oder – in Kombination mit dem darunter gezeigten Bild der Ecclesia mit Kelch – als „Gefäß Wein“ der Eucharistie verstanden werden. In diesem Sinne spielt die Medialität des Taufgefäßes, welches funktional semantisiert worden ist, gerade in der Reflexion über die Inschrift in Kombination mit den zugehörigen Bildfeldern eine Rolle: Wer sich mit den hier gespiegelten Inhalten auseinandersetzt, der beschäftigt sich mit der Offenbarung Gottes. Auch die Medialität des Taufgefäßes von Vellern spielt als allegorisch konzipierte Sinnstruktur mit den Grenzen von Offenbarung und Objektbeschau. Ebenso ist die Inschrift in diesem Zusammenhang nicht nur auf die konkrete liturgische Handlung hin auslegbar, sondern beschreibt das Taufgefäß – in selbstreflexiver Kommentierung – in seinem gestalterischen Potential für die Taufhandlung. Es bleibt dabei die Frage, ob nicht schon der Akt der Konzeption des Taufgefäßes im geistlichen Umfeld des Klosters entscheidend gewesen sein mag. Die Rezeption des Artefaktes mit seinen komplexen Sinnbezügen scheint jedenfalls an seinem Bestimmungsort, der Pfarrkirche von Vellern, kaum in vollem Umfang möglich gewesen zu sein.

4 Zur Medialität der angeführten Taufgefäße Im Falle der Ausgestaltung von Taufgefäßen mit Bildern und Inschriften wurden – wie die hier angeführten Beispiele verdeutlichen – jeweils spezifische Zusammenhänge herausgearbeitet, die jedoch nicht als feste Gestaltungsvorgabe anzusehen sind. Ein handlungsleitendes mediales Konzept für die Ausstattung figürlicher Taufgefäße scheint höchstens – in einer freien und assoziativ vorgehenden Umsetzung – die funktionale Semantisierung des inhaltlichen Program-

41 Blessing 2009 (wie Anm. 1), 109; vgl. ebenso Weisweiler 1952 (wie Anm. 1), 336  f.; Weisweiler 1932 (wie Anm. 1), 11  ff.

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mes gewesen zu sein.42 Gerade im Falle der angeführten Artefakte werden situa­tiv, d.  h. im jeweiligen Kontext, Programme entworfen, die typologische oder metaphorische Bezüge aufweisen und dabei vor Ort bedeutsame Inhalte in den jeweiligen Funktionskontext der Taufe einbinden. In Lüttich wird dies durch die Einbindung der Taufpräfiguration des Ehernen Meeres von Jerusalems in die inszenierte Stadttopographie vollzogen, in Freckenhorst bleibt die inhaltliche Ausdeutung der Taufe im Zuge der dortigen Kirchweihe bestimmend und in Vellern ist auf Basis des Propheten Simeon eine sakramententypologische Synthese von Auslösung und Taufe vollzogen worden. Dabei entstehen eigenständige Konzepte, die nicht zwangsläufig als direkte Umsetzung vorhandener schriftlicher Wissensbestände bewertet werden können, wenngleich die Patristik häufig den inhalt­ lichen Ausgangpunkt für die freie Umsetzung darstellt. Es kann dabei ein Wandel von Wissenskomplexen rekonstruiert werden, der am neuen Ort der Anbringung eigenständige Konzepte generiert: Am Taufbecken von Vellern wird Simeon aufgrund der historischen Zusammenhänge im typologischen Verweissystem als Täufer eingesetzt, obgleich in sakramententheologischen Abhandlungen eher die Zusammenhänge von Beschneidung und Taufe und die Person des Abraham im Vordergrund stehen (Abb. 12).43 Auch am Taufbecken von Freckenhorst werden im Zuge metaphorischer Ausdeutungen des Tempelmotivs neue Konzepte der Medialität am Artefakt erprobt. Es zeigt sich dabei ein Zusammenhang von Funktion und Ausgestaltung liturgischer Geräte, wobei – so die hier aufgestellte These – jene Vorstellung mit einer spezifischen Form der Reflexion über die Medialität der Artefakte einhergeht. Taufbecken nehmen als Artefakte dabei eine hybride Position innerhalb der Kirchenausstattung ein, da sie zunächst als Gefäß des Taufwassers fungieren und gleichsam als Ort der Sakramentenspendung angesehen werden können. Hieraus entwickelt sich eine erste Ebene der Symbolik, die sich zwar in Form der figür­lichen oder inschriftlichen Ausstattung zeigen kann, jedoch nicht das

42 Vgl. Widmaier 2016 (wie Anm. 7). 43 So geschieht dies beispielsweise in dem ursprünglich aus der Liesborner Klosterbibliothek stammenden glossierten Lukasevangelium der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Vgl. hierzu Staatsbibliothek Berlin, Theol. Lat. Fol. 365; zur Beschreibung des Manuskriptes vgl. Paula Väth, Die illuminierten lateinischen Handschriften deutscher Provenienz der Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz Berlin (Wiesbaden 2001), 32  ff., bes. 44 Kat. Nr. 46. Auf Fol. 13v werden die im Lukasevangelium beschriebenen Geschehnisse um den Propheten Simeon und die mit ihm verbundene Auslösung der Erstgeburt durch die Glossierung am Bildrand mit den zu dieser Zeit geläufigen theologischen Implikationen verbunden. Getreu nach Beda begründet die Glosse das Ersatzopfer mit der Beschneidung und führt diese erneut auf die Taufe zurück. Simeon wird dabei als Sinnbild der Propheten (figura prophetarum) gekennzeichnet.



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Abb. 12: Beckum-Vellern, Taufbecken, schematische Darstellung der inhaltlichen Grundstruktur. © Gestaltung Widmaier (2014).

Gefäß selbst beschreibt, sondern auf die in ihm befindliche Heilsmaterie oder das an ihm vollzogene Heilshandeln des sakramentalen Aktes verweist. Das figürliche Taufgefäß kann jedoch – gemäß seines Status als Behälter – im Sinne des Beinhalteten oder an ihm Vollzogenen künstlerisch ausgestattet, d.  h. funktional semantisiert sein, und wird so zur ikonographischen Hülle des eigentlich gemeinten. Dabei handelt es sich um ein mediales Paradoxon, denn die Artefakte machen anschaulich, was nicht begriffen werden kann. Ähnliche Phänomene – das Changieren zwischen äußerer Erscheinung und innerer Bedeutung  – sind jüngst für die Gestaltung von Evangeliencodices sowie Reliquiaren festgehalten worden.44 Für die Reliquiare ist dies auf ein ab dem 12. Jahrhundert festzustellen-

44 Thomas Rainer, Das Buch und die vier Ecken der Welt: Von der Hülle der Thorarolle zum Deckel

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des „Schaubedürfnis“ zurückgeführt worden: Die in ihrer Ausgestaltung sprachfähigen Artefakte machen im Äußerlichen das Innerliche begreifbar.45 Zugleich überzeugen sie damit einen Betrachter von der Heiligkeit und Wertigkeit des in ihnen Enthaltenen. Das Reliquiar leistet damit einen Beitrag zur Authentifizierung der Reliquien. Indem sie gezeigt, vermittelt, begründet wird, ist letztlich auch die sanctitas bezeugt.46 An Taufgefäßen kommt in vergleichbarer Weise nicht nur die Visualisierung des heilbringenden Wassers oder des innerlich wie äußerlich reinigenden Ritus zur Anwendung. Auch die Bedeutung oder Wirkung der Heilsmaterie und des Sakramentes sind hier in jenen Bildern und Inschriften visualisiert, die im Konzept reflektiert wurden und so auch für eine Betrachtung reflektierbar sind. Spezifische Formen der Medialität des Artefaktes werden dabei durch typologische Verweisstrukturen oder metaphorische Konzeptionen gebildet. Taufgefäße könnten so  – wie das angeführte Quellenmaterial zeigt  – von den Zeitgenossen in ihrer spezifischen Medialität sowohl als forma wie als figura aufgefasst worden sein. Diese Konzeptionen fungieren gerade im Zuge liturgischer Praxis, den Sinnbildern und Vollzügen des Ritus, in spezifischer Weise als Medium. Im Sinne des figuralen Denkens dienen Taufgefäße hier sowohl als Präfiguration wie Postfiguration heilsgeschichtlicher Ereignisse, wobei meist im Zentrum das christologische Heilswerk zu erkennen ist.47 Das Taufgefäß von Lüttich zeigt die forma der Taufe  – das Eherne Meer  – nicht in der Bild- oder Inschriftenebene, sondern materialisiert die sakramententypologische Vorstellung in der gesamten Artefakterscheinung in formaliter. Die Bild- und Inschriftenebene dagegen bindet den am Artefakt vollzogenen Taufakt in die Reihe göttlichen Heilswirkens ein. Das Taufbecken von Vellern zeigt Simeon im Bildprogramm als figura des Täufers Johannes und konfiguriert dabei im Bild-Bild-Konzept ein figurales Denkmodell sakramententypologischer Zusammenhänge. Diese figurale Synthese kann in Vellern im Akt der Taufhandlung am Artefakt eine Fortsetzung finden, wenn der

des Evangeliencodex. Spätantike  – Frühes Christentum  – Byzanz, Studien und Perspektiven 27 (Wiesbaden 2011); Bruno Reudenbach, „Reliquiare als Heiligkeitsbeweis und Echtheitszeugnis,“ in Reliquiare als Heiligkeitsbeweis und Echtheitszeugnis, ed. Bruno Reudenbach und Anne Duden, Vorträge aus dem Warburg-Haus 4 (Berlin 2000), 3–36. 45 Reudenbach 1984 (wie Anm. 13); Reudenbach 2000 (wie Anm. 44), bes. 5; ebenso Joseph Braun, Die Reliquiare des christlichen Kultes und ihre Entwicklung (Freiburg i. Br. 1940). 46 Reudenbach 2000 (wie Anm. 44), 29. 47 Vgl. zu den Begrifflichkeiten Christian Kiening, Hg., Figura: Dynamiken der Zeiten und Zeichen im Mittelalter (Würzburg 2013), 8; hier zur figuralen Kunst speziell Heike Schlie, „Der Klosterneuburger Ambo des Nikolaus von Verdun: Das Kunstwerk als ,figura‘ zwischen Inkarnation und Wiederkunft des Logos,“ 205–247.



Das begreifbare Sakrament 

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inschriftlich genannte Priester in Nachfolge von Simeon und dem Täufer Johannes als Taufspender in Erscheinung und damit in die genealogische Reihe der Sakramentenspender tritt. Das Artefakt wird hier zum Medium einer Vergegenwärtigung von Heilsereignissen. Das metaphorische Modell dient dabei gerade in der liturgischen Verwendung zur Realisierung der eschatologischen Wiederaufnahme der Völker in das Christentum. Auch das Taufbecken von Freckenhorst, für das eine Darstellung des Tempels der Weisheit aus dem Speculum virginium als inhaltliche Vergleichsformen angeführt werden kann, weist in seiner funktionalen Einbindung eine spezifische Medialität auf. Die diagrammatischen Vergleichsbeispiele legen den potentiellen Deutungsrahmen nahe, der im Zuge einer Betrachtung der Bildfelder des Freckenhorster Taufsteines gebotenen Etappen des Lebens Jesu möglich erscheint. Nicht nur ist hier ein mnemotechnischer Zugriff auf die Glaubenstexte – Credo und Vaterunser – möglich, sondern auch das Ziel der Reflexion über die Ordnung verschiedener figura, das Erlangen der Seligkeit (beatitudo), könnte im Taufakt eine Erklärung finden (Abb. 8).48 Auch die Visualisierung des Tempels der Weisheit – der am Taufgefäß sowohl durch die Tempelnennung der Inschrift als auch über den Einsatz einer architektonischen Durchgliederung implizit mitgedacht werden muss – operiert mit den bereits in der Rota genannten sieben Etappen des Lebens Jesu, welche mit den sieben Bitten des Vaterunsers, den sieben Gaben des Heiligen Geistes und den sieben Seligpreisungen in Bezug gesetzt werden. Sowohl die Glaubenstexte als auch die sieben Gaben des Heiligen Geistes sind – wie es beispielsweise die Inschrift des Taufbeckens von HehlenHohe ausführt  – gerade dem Taufakt sinnstiftend.49 Eine mediale Verfasstheit des Taufgefäßes im Sinne der diagrammatischen Gestaltungsform ist also ebenso annehmbar. In Freckenhorst beispielsweise wird sich diese Medialität am ehesten an die Stiftsdamen gewendet haben oder konstitutiver Teil der konzeptionellen Erarbeitung des Taufbeckenprogrammes gewesen sein. In der Stiftskirche dient das Taufgefäß damit nicht nur als Träger der Weiheinschrift des Kirchenbaus. Vielmehr kommt ihm als Trägermedium eine spezifische Medialität zu, da das Artefakt zur figura des Templum dei gestaltet worden ist. Im liturgischen Vollzug des Taufaktes ist dadurch eine metaphorische Auslegung der Tempelwerdung des Täuflings möglich. Ebenso kann das Artefakt den in Freckenhorst ansässigen Stiftsdamen in meditativ-memorativer Betrachtung zum Medium der Selbst- und Gottes­erkenntnis werden. Denn eine Beschäftigung mit Bild- und Inschriften-

48 Die Visualisierung der Glaubenskenntnisse an Taufgefäßen lässt sich besonders eindrucksvoll an den Artefakten von Merseburg und Neustadt am Main anführen. 49 Inschrift am Taufgefäß Hehlen-Hohe: „SEPTEM S(VN)T EA QV(AE) FACIVNT PECCATA REMIT(TI) FACTA IN EA SVNT D(E)O“.

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programmen an Taufgefäßen, beispielsweise im Zuge der Entschlüsselung ihrer narrativen Strategien und medialen Konzepte, gleicht einer Auseinandersetzung mit dem Offenbarungsgeschehen des Sakramentes. Wenngleich dem Artefakt selbst dabei keine anagogische Qualität zugekommen sein wird, lässt sich das Spiel mit jener Grenzüberschreitung feststellen. Diese visuellen Praktiken sind bereits im Zuge der Artefaktgestaltung, der Konzeption und Produktion, als sinnstiftend anzunehmen. Der Gestaltungsakt wird so zum Wissensgenerator. Es handelt sich dabei um eine Reflexion über den Status des Taufgefäßes und seiner Medialität.50 Die zu Beginn angeführte Metapher der Medizin und ihres Gnadengefäßes, wie sie der Erkenntnislehre Hugo von St. Viktors zu entnehmen ist, bleibt für das Beispiel der Taufgefäße insofern interessant, als dass der Empfänger durch das sichtbare Gefäß die enthaltene, unsichtbare Medizin zwar erkennen kann, zugleich jedoch zwischen dem Erkennen des Gefäßes und dem Empfang der heilenden Gnade zu unterscheiden bleibt. Taufgefäße spiegeln somit – wie diagrammatische Darstellungsformen aber auch Reliquiare oder Evangeliencodices – spezifische mediale Praktiken wider, die vor allem seit dem 12. Jahrhundert in Form neuer Bewertungen des Visuellen und seiner affektiven Wirkung auf den Menschen in Erscheinung treten.51 Möglicherweise könnte so auch das erhöhte Auftreten figürlicher Taufgefäße ab dieser Zeit eine Erklärung finden. Denn mit dem regelhaften Beginn figürlicher Ausstattung, die – so das vorliegende Ergebnis – mit einer Konstruktion und Reflexion des medialen Potentials der Artefakte, 50 Vgl. Widmaier 2016 (wie Anm. 7). 51 Vgl. Andreas Holzem, „Die Wissensgesellschaft der Vormoderne: Die Transfer- und Transformationsdynamik des ‚religiösen Wissens‘,“ in Die Aktualität der Vormoderne: Epochenentwürfe zwischen Alterität und Kontinuität, ed. Klaus Ridder und Steffen Patzold (Berlin 2013), 233–265, 20; Frank Rexroth, „Transformation des Rituellen: Überlegungen zur ‚Disambiguität‘ symbolischer Kommunikation während des langen 12. Jahrhunderts,“ in Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation, ed. Barbara Stollberg-Rilinger (Köln 2013), 69–94, 73  ff.; ebenso Wolfgang Haubrichs und Klaus Ridder, Hg., Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur, Blaubeurer Kolloquium 2006 (Berlin 2008); Klaus Ridder, „Rationalisierungsprozesse und höfischer Roman im 12. Jahrhundert,“ Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78 (2004), 175–199; Jan-Dirk Müller, „Ritual, Pararituelle Handlungen, Geistiges Spiel: Zum Verhältnis von Schrift und Performanz,“ in Audiovisualität vor und nach Gutenberg: Zur Kulturgeschichte der medialen Umbrüche, ed. Horst Wenzel u.  a., Schriften des Kunsthistorischen Museums 6 (Wien 2001), 63–71; Georg Wieland, „Rationalisierung und Verinnerlichung. Aspekte der geistigen Phy­siognomie des 12. Jahrhunderts,“ in Philosophie im Mittelalter: Entwicklungslinien und Paradigmen, ed. Jan P. Beckmann (Hamburg 21996), 61–80; Wolfgang Kluxen, „Der Begriff der Wissenschaft,“ in Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert, ed. Peter Weimar, Zürcher Hochschul­forum 2 (Zürich 1981), 273–293.



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ihres Gebrauchs und ihrer Funktionszusammenhänge einhergeht, werden spezifische Vorstellungen mittelalterlicher Medialität erprobt. Kiening hat ausgeführt, dass gerade die Christologie als Grundfigur und Ausgangspunkt einer solchen mittelalterlichen Mediologie zu bewerten ist.52 Das so inhaltlich aufgeladene Taufgefäß vermag etwa gerade im Offenbarungsgeschehen seines liturgischen Gebrauchs  – in der multisensoriellen Gemengelage von Lesungen, Gesängen und Handlungen – sowie im Verweis auf Christus als Leitmodell mittelalterlicher Medialität einen medialen Wirkraum der Heilsvermittlung zu generieren. Dabei wird die Gnade Gottes, wie sie das Sakrament zu spenden vermag, gleichsam am Artefakt vergegenwärtigt und somit für einen Betrachter – im Moment der Gestaltung oder der Betrachtung verfügbar gemacht. Dieses Begreifen der funktionalen Zusammenhänge eines Taufgefäßes ist jedoch nicht eindeutig nach Begriffen wie Verzauberung oder Entzauberung zu scheiden, da gerade Mythisierung und Rationalisierung keine sich widersprechenden Einheiten sind: Ist doch die Entschlüsselung inhaltlicher Zusammenhänge Mittel zur höheren mystischen Erkenntnis. Vielmehr scheint gerade durch das Aufrufen solcher intermedialer Bezüge ein Spiel mit den Grenzen von Begreifbarem und Unbegreifbarem vollzogen worden zu sein. Taufgefäße stellen in diesem Zusammenhang besonders geeignete Werkzeuge einer Erprobung von Medialität dar: Denn im sakramentalen Akt der Taufe vereinigt sich Materielles mit Immateriellem, Körper und Geist sowie Mensch und Gott. Gerade hier also ist eine Verbindung zwischen intellektueller Sinnstiftung durch die Programme der vorgestellten Taufgefäße und dem funktionalen Gebrauch dieser Liturgiegeräte zu ziehen.

52 Christian Kiening, „Mediologie  – Christologie: Konturen einer Grundfigur mittelalterlicher Medialität,“ in Modelle des Medialen im Mittelalter, ed. ders., Das Mittelalter 152 (Berlin 2010), 16–32, bes. 24  f.

Cornelia Logemann

Gott und seine Töchter am Ende des Mittelalters Personifikationen zwischen Text, Bild und Theater Viele Wege werden in mittelalterlichen Handschriften offeriert, um sich Gott zu nähern. Personifikationen abstrakter Eigenschaften gehören zu diesen Hilfsmitteln, derer man sich häufig bediente. Doch die Aufgaben und Kompetenzbereiche dieser Figuren sind nur schwer fassbar. Als „personnaige“ werden um 1400 in der Debatte um den Rosenroman die Figuren benannt, die Jean le Meun und Guillaume de Lorris an ihren allegorischen Wegen positionieren. Eifrig diskutierte man noch über ein Jahrhundert nach Entstehung dieses epochalen Werkes, ob der Verfasser eines Textes für die Handlungen seiner Personifikationen verantwortlich gemacht werden kann. Allein an der Komplexität der ausgetauschten Argumente zwischen Christine de Pizan, Jean Gerson und Jean de Montreuil mit Pierre und Gontier de Col wird deutlich, dass diese Figuren weitaus mehr transportierten als eine schmückende Komponente zum Gesamtwerk.1 Die seit der Antike verbreitete Praxis, abstrakte Eigenschaften durch anthropomorphe Gestalt und mit bedeutungsvollen Attributen zu personifizieren (womit diese Figuren ebenso götterähnlichen Status einnehmen konnten), setzte sich bis ins Mittelalter fort. Obgleich diese Figuren allerlei heidnischen Ballast mit sich führten, sogar die Attribute gelegentlich dieselben blieben und sich nur die Zuweisung änderte, eignete sich dieses Verfahren offenbar auch für die Vermittlung von Werten in einer monotheistischen Religion. Einzig die Überlagerung von Personifikation und bestimmtem Bildwerk, dem kultische Verehrung zugeeignet wurde, schien weitestgehend ausgeschlossen durch die theologischen Einschränkungen des Bildes.2 Und so lag vor allem der Fokus der bisherigen Untersuchungen zur Personifikation auf ihrer Rolle innerhalb eines Textes – als Bestandteil eines rhe-

1 Zu diesem Punkt der Debatte, der in Frage stellte, ob ein Autor für die Handlung seiner Personifikationen verantwortlich gemacht werden kann, vgl. Suzanne Conklin Akbari, Seeing through the veil: optical theory and medieval allegory (Toronto 2004), 108. Allgemein zur Debatte vgl. u.  a. Christine de Pisan, Jean Gerson, Jean de Montreuil, Gontier et Pierre Col: Le débat sur le Roman de la Rose, ed. Eric Hicks (Genf 1996). 2 Vgl. zur Überlagerung von Personifikationen und Bildkult in der Antike Emma Stafford, ­Worshipping Virtues: Personification and the Divine in Ancient Greece (Duckworth 2000), bes. 1–44.

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torischen Verfahrens.3 Doch die Belebung eines abstrakten Begriffs zu einer Personifikation, wie sie schon Morton Bloomfield in seiner grammatikalischen Herangehensweise an das Erscheinungsbild herausarbeitete, zeitigt auch über den engen Rahmen eines Textes hinaus Konsequenzen.4 Die Omnipräsenz von Personifikationen in spätmittelalterlichen Texten und Bildern führt unweigerlich zur Frage, welche Rollen diese meist weiblichen und, sofern sie positiv besetzt waren, wohlgestalteten Figuren bei der Vermittlung christlicher Werte einnahmen, beziehungsweise wie sich diese im Laufe der Zeit änderten. Schon Wilhelm Durandus selbst empfahl die Verwendung weiblicher Personifikationen zur anschaulichen Vermittlung von Tugenden, die spätestens seit den spätantiken Schriften des Prudentius nicht nur in die Text- sondern auch in die Bildwelt eingeführt wurden.5 Zu diesen auf Basis weniger Ausgangstexte ruhenden, fast kanonischen Festsetzungen der personifizierten Tugenden und Laster lieferte zuerst Adolf Katzen­ ellenbogen grundlegende Einsichten. Doch zeigt sich, dass mit der Diversifizierung allegorischer Schriften spätestens seit dem 13. Jahrhundert auch die visuell vermittelte Personifikation Veränderungen durchlief. Die bald omnipräsenten und meist weiblichen Figuren vermochten es offenbar, Vorstellungen von Gott nicht nur anschaulich, sondern greif- und erfahrbar zu machen. Unzählige illustrierte Handschriften des ausgehenden Mittelalters thematisieren den spirituellen Weg des Gläubigen zu Gott, den er aber nur durch diese Vermittlungsfiguren überhaupt zu beschreiten in der Lage ist.6 Mit Hilfe von Personifikationen wird, so ließe sich als Ausgangsthese formulieren, das Spirituelle durch pragmatische 3 Christian Kiening, „Personifikation: Begegnungen mit dem Fremd-Vertrauten in mittelalter­ licher Literatur,“ in Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur, ed. Helmut Brall, Barbara Haupt, Urban Küsters (Düsseldorf 1994), 347–387, etwa wendet sich vor allem dem artifiziellen und rhetorischen Charakter der Personifikation zu, während er animistische und magische Vorstellungen der Personifikation als „Überschattung“ (ibid. 352) versteht. 4 Morton W Bloomfield, “A Grammatical Approach to Personification Theory,” Modern Philology 60 (1963), 161–171. 5 „Virtutes vero in mulieris specie depinguntur, quia mulcent et nutrient,“ in Guillelmum Duranti Rationale divinorum officiorum I–IV, ed. A. Davril, Timothy M. Thibodeau, CCCM 140 (Turnhout 1994), Lib. I, Cap. III. 6 Zu den Tugenden und Lastern vgl. grundlegend Adolf Katzenellenbogen, Allegories of the virtues and vices in medieval art: From early christian times to the thirteenth century (London 1939), darauf aufbauend auch Jacques Houlet, Les combats des vertus et des vices: Les psychomachies dans l’art (Paris 1969) – zu den spirituellen Wegen u.  a. Siegried Wenzel, “The Pilgrimage of Life as a Late Medieval Genre,” Mediaeval Studies 35 (1973), 370–88; Steven Whright, “Deguileville’s Pèlerinage de Vie Humaine as ‘Contrepartie édifiante‘ of the Roman de la Rose,” Philological Quaterly 68 (1989), 399–422; Marco Nievergelt, Allegorical Quests from Deguileville to Spenser (Woodbridge 2012); und The Pèlerinage Allegories of Guillaume de Deguileville: Tradition, Authority, ed. Marco Nievergelt, Stephanie A. Viereck Gibbs Kamath (Woodbridge 2013).



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und immer wiederkehrende Schritte überhaupt erst erfahrbar gemacht. Während der Gläubige Gott selbst nur mittels einer Vision ansichtig werden kann, gesellen sich die Personifikationen vermehrt seit dem 13. Jahrhundert als verlässliche und zupackende Traumgestalten an die Bettstatt des Schlafenden.7

1 Der Pèlerinage de la vie humaine Stellvertretend für viele weitere allegorische Pilgerfahrten ist der Pèlerinage de la vie humaine eines jener Werke, das dezidiert auf die Assistenz von Personifikationen setzt, um den Protagonisten und damit zugleich den Rezipienten der Geschichte quasi bis vor Gott zu geleiten.8 Dabei zeigt sich, dass mit den im Text beschriebenen Personifikationen und den von Hand verschiedenster Miniatoren gemalten Personifikationen nicht nur verschiedene Facetten dieser „personnaiges“ betont werden, sondern sich zudem in der Divergenz von Text und Bild erkennen lässt, welche Rolle diese Figuren im Verhältnis zu Gottvater selbst einnehmen. In vielen allegorischen Texten gehorchen die dort agierenden Personifikationen einer minutiös geplanten Choreographie, die sich zwischen Diesseits und Jenseits bewegt. Manche der entwickelten Konzepte erweisen sich als besonders durchsetzungsfähig. Die Pilgerfahrt des Guillaume de Digulleville, die

7 Vgl. zu Traumfiktionen in Bildern und der biblischen Provenienz dieser Thematik u.  a. Steffen Bogen, Träumen und erzählen: Selbstreflexion der Bildkunst vor 1300 (München 2001). 8 In jüngerer Zeit hat dieser für weite Teile Europas bedeutsame Text eingehendere Untersuchung erfahren, vgl. exemplarisch zentrale Beiträge von Fabienne Pomel, Les voies de l’au-delà au Moyen Âge (Paris 2001); Susan K. Hagen, Allegorical remembrance: A Study of the “Pilgrimage of the Life of Man” as a Medieval Tratise on Seeing and Remembering (Athen / London 1990). Eine ältere, bisher jedoch nicht ersetzte Textedition vgl. Guillaume de Digulleville, La pèlerinage de la vie humaine, ed. Jakob J. Stürzinger, Roxburghe club 124, (London 1893). Zu den Illustrationen vgl. Rosemarie Bergmann, Die Pilgerfahrt zum himmlischen Jerusalem: Ein allegorisches Gedicht des Spätmittelalters aus der Heidelberger Bilderhandschrift Cod. Pal. Lat. 1969 ‘Pèlerinage de vie humaine’ des Guillaume de Déguileville, Wiesbaden 1983; ebenso die unpublizierte Doktorarbeit von Michael Camille, The illustrated Manuscripts of Guillaume de Deguileville’s “Pèlerinages”, 1330–1426 (University of Cambridge 1985); Paul Amblard, Le pèlerinage de vie humaine: le songe très chrétien: Ouvrage réalisé à partir du manuscrit 1130 de la bibliothèque Sainte-Geneviève de l’abbé de Digulleville (Paris 1998); Guillaume de Digulleville: Les Pèlerinages allégoriques, ed. Frédéric Duval (Rennes 2008); Philippe Maupeu, Pèlerins de vie humaine: Autobiographie et allégorie narrative, de Guillaume de Deguileville à Octovien de Saint-Gelais (Paris 2009). Eine neue Textedition nach der Heidelberger Handschrift Codex Palatinus latinus 1969 mit deutscher Übersetzung ist im Folgenden herangezogen worden: Guillaume de Digulleville, Pilgerreise ins Himmlische Jerusalem, ed. Veit Probst u.  a. (Darmstadt 2013), 2 Bde.

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1330 / 31 in einer ersten Version als Traumfiktion in deutlicher Anlehnung an den Roman de la Rose verfasst wurde, beschreibt die erträumte (Lebens-)Reise eines Pilgers, der natürlich eine Projektion des Autor-Ichs ist, in das Himmlische Jerusalem, das zu Beginn verheißungsvoll in einem Spiegel erscheint. Die verschiedenen Verstehensprozesse, die der Pilger auf dem gefahrenreichen Weg durchlaufen muss, werden von mehreren positiv besetzten Personifikationen begleitet, die alle in ein übergreifendes Ordnungssystem gefügt werden können. Jene Figur, die offenbar den besten Kontakt in die zunächst unerreichbar erscheinenden himmlischen Sphären hat, ist die personifizierte Gnade Gottes. Grace Dieu ist es, die die ersten entscheidenden Schritte des unsicheren Wanderers begleitet und durch ihr strahlendes und übernatürliches Äußeres vor allem seine Aufmerksamkeit kanalisiert. Mit Entschlossenheit nimmt die mächtige Personifikation Grace Dieu den zaudernden und ängstlichen Pilger an die Hand, der als Avatar des Guillaume de Digulleville den beschwerlichen Lebensweg durch Tugenden und Laster beschreitet. Sie lenkt mit quasi-diviner Potenz, mindestens aber mit der höchsten Autorisierung durch Gott die Geschicke des noch unbeholfenen Menschen. Grace Dieu ist nicht nur eine zufällige Begleiterin, sondern die Tochter Gottes, die auf dieser allegorischen Pilgerreise als Schutzmacht wirkt. Als der Pilger ihr erstmals auf der Suche nach passender Wanderausrüstung begegnet, beschreibt er die Gestalt als Tochter eines Kaisers oder eines Königs, jedenfalls eine Dame von hoher Herkunft. „Und während ich suchend umherlief und unter Tränen wehklagte, wo ich wohl einen Krämer finden könnte, der mir mit einer solchen [Tasche] zu helfen wüsste, sah ich eine Dame auf meinem Weg, die mir ob ihrer Schönheit Freude verschaffte. Sie schien die Tochter eines Kaisers zu sein, eines Königs, oder eines andere hohen Herrn. Sie trug ein golddurchwirktes Leinengewand, und war mit einem grünen Gewebe gegürtet, das in seiner ganzen Länge, so schien mir, mit Karfunkelsteinen übersäht war. Auf der Brust trug sie eine emaillierte Brosche, in deren Mitte sich ein Kristall befand, in dieser Mitte war wiederum ein Stern, über den ich mich wahrlich sehr wunderte. Auf dem Kopf trug sie eine goldene Krone, und ringsum umgaben ihn eine Menge leuch­ ten­der Sterne.“9 Der ausführlichen Beschreibung ist auf jeden Fall ein beeindruckendes Strahlen dieser Figur zu entnehmen, eine Form der Überwältigung, wie

9 Übersetzung nach: Guillaume de Digulleville, Die Pilgerreise (wie Anm. 8), Bd. 1, 148–149, vgl. vv. 227–245: „Ainsi comme querant aloie Et en plourant me dementoie Ou peusse trouver.i. merchier Qui de celle me seust [e]dier, Une dame vi en ma voie Qui de sa biauté me fist joie. Fille sambloit d’emperëour, De roy ou d’autre grant seignour. Une chainse avoit a or batu Et chainte estoit d’un vert tissu Qui tout au lonc, ce me sambloit, D’escarboncle semé estoit. Ou piz avoit.i. fin esmail Et ou milieu rot.i. cristail; En ce milieu rot une estelle j’o certes grande mervelle. Son chief d’or couronné estoit Et tout entour l’avironnoit Grant foison d’estoiles luisans.“



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Abb. 1: Grace Dieu und der Pilger (Guillaume de Digulleville, Pèlerinage de la vie humaine, Heidelberg, Universitäts­ bibliothek, Cod. Pal. Lat. 1969, 13r., 14. Jh.). © Universitätsbibliothek Heidelberg.

sie traditionsbildend wohl am prägnantesten Boethius bei der Beschreibung der Philosophia vornimmt.10 Doch dieses literarisch artikulierte Strahlen lässt sich offenbar nur schwer in das andere Medium transferieren: In den zahlreichen überlieferten Handschriften zur Pilgerwegs-Trilogie des Guillaume de Digulleville offenbart sich Grace Dieu zumindest in den Illustrationen als ziemlich schmucklose Gestalt, die hinter der wortreich umschriebenen Strahlkraft weit zurückzutreten scheint: Es existiert keine Illustration, die die verschiedenen Einzelheiten der Beschreibung umfassend respektiert: Die Heidelberger Handschrift des Pèlerinage etwa zeigt eine bekrönte Figur in schlichtem weißen Gewand samt Medaillon, um die ein Kranz aus Sternen leuchtet (Abb. 1). Der Pilger erscheint hier noch in Mönchstracht, so dass das strahlende Gewand der mächtigen Personifikation den stärksten Kontrast zur dunklen Kutte bildet. Blau und nicht grün ist dann das Kleid von Grace Dieu in einer Handschrift aus der Bibliothèque Sainte-Geneviève, gleichwohl die Gestalt ohne Sterne um das Haupt wesentlich schlichter gehalten ist, nicht einmal der leuchtende Kristall auf der Brust scheint für den Betrachter mehr als eine simple Brosche (Abb. 2). Doch immerhin ist die Tochter von hoher Geburt ein ganzes Stück größer und kräftiger als der mitgezerrte Begleiter.11 Die meisten Handschriften zeigen Grace

10 Vgl. Michael Cuntz und Jan Söffner, „Einige Betrachtungen zur Poetik der mittelalterlichen Personifikation,“ in Retorica: Ordnungen und Brüche. Beiträge des Tübinger Italianistentages, ed, Rita Franceschini u.  a. (Tübingen 2006), 283–301. 11 Analog funktioniert dies u.  a. in der Handschrift BNF, Ms. 823, Guillaume de Digulleville: Pèlerinage de la vie humaine, in der sich der Pilger zu der mächtigen Dame wie eine kindliche Gestalt verhält – auch dies ein gängiges Unterscheidungsmerkmal zwischen Personifikation und den „normalsterblichen“ Figuren.

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Abb. 2: Grace Dieu und der Pilger (Guillaume de Digulleville, Pèlerinage de la vie humaine, Bib. Sainte-Geneviève 1130, 3v. 14. Jh.). © Paris, Bibliothèque Sainte-Geneviève.

Dieu als eine einfach gekleidete weibliche Gestalt, selten mit Nimbus, meist mit Krone, die keine weiteren sie identifizierenden Objekte bei sich trägt: Sie erweist sich in den Miniaturen als textaffine Figur. In späteren Beispielen der Pilgerreise verwandelt sich das Kleid der Personifikation gelegentlich in ein Ordensgewand, wie auch insgesamt die Tugenden dann gehäuft in schlichter Nonnentracht begegnen. In einer Variante der Pilgerreise doziert Raison mit schwarzer Nonnentracht nicht nur vor dem gerüsteten Pilger, sondern auch vor einer Gruppe von Mönchen, die in der Textvorlage nicht erwähnt sind (Abb. 3).12

Abb. 3: Raison vor Publikum (Guillaume de Digulleville, Pèlerinage de la vie humaine, Soissons, Bibliothèque Municipale, Ms. 0208, fol. 12r. 15. Jh.). © Soissons, Bibliothèque Municipale.

12 Guillaume de Digulleville: Pèlerinage de la vie humaine, Soissons, Bibliothèque Municipale, ms. 0208. Vgl. etwa auch die Darstellungen der Kardinaltugenden in Brunetto Latini, Livre du trésor, BNF, Ms. Fr. 191.



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Abb. 4: Raison und der Pilger (Guillaume de Digulleville, Pèlerinage de la vie humaine, Paris, Bib. Sainte-Geneviève, 1130, 12r. 14. Jh.). © Paris, Bibliothèque Sainte-Geneviève.

Grace Dieu, die den Pilger über die Stolpersteine tugendhafter Lebensführung hilft, ist auf der visuellen Ebene damit scheinbar eigenschaftslos, ist sie doch nicht mit eindeutigen Attributen ausgestattet, die auf Anhieb eine Identifikation der Figur zulassen würden. Auch andere weibliche Figuren stehen dem unbedarften und unsicheren Pilger auf seiner beschwerlichen Reise bei. So assistiert ihm Raison, die personifizierte Vernunft, die einige Augenblicke später völlig gerad­ linig und ohne ausgiebige Beschreibung – im Text wird sie lediglich als „pucelle“ charakterisiert – als weitere leitende und lenkende Tugend eingeführt wird. Die Pèlerinage-Handschrift in der Bibliothèque Sainte-Geneviève zeigt hierbei eine in blauem Kleid gehüllte Dame, die im Gegensatz zu ihrer weitaus mächtigeren Schwester Grace Dieu unbekrönt ist (Abb. 4).13 Weitaus weniger Abglanz von der divinen Potenz trägt diese Figur mit sich herum, die damit offenbar mehr den Sphären des Pilgers zugeordnet ist. Auch eine Durchsicht der zahlreichen illustrierten Handschriften mit der Pilgerreise Guillaume de Digulleville offenbart, dass die literarisch fein ausdifferenzierten Figuren der personifizierten Haupttugenden in den Miniaturen kaum spezifische Eigenschaften aufweisen, vielmehr wird die jeweilige Textaffinität deutlich.

13 Wolfgang Metzger, zum Bildzyklus der Handschrift, in: Guillaume de Digulleville, Die Pilgerreise (wie Anm. 8), Bd. 1, 282–305, datiert die Handschrift in die 1370 Jahre in eine Werkstatt in Toulouse.

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2 Gottes Töchter? Der Pilger auf dem Weg ins Himmlische Jerusalem getraut sich nach Begegnung mit der schönen Gestalt von edler Herkunft erst nach einer Weile, nach ihrem Namen zu fragen, woraufhin er sogleich Antwort erhält: „Ich werde es dir sagen, höre zu, ich will dir gegenüber in keiner Weise zweiflerisch oder misstrauisch sein. Ich bin die Tochter des Herrschers, der Herr ist über alle anderen“.14 Dass Gottvater nicht nur einen Sohn hat, steht in einer langen Tradition. Die auf den Psalm 84,11 rekurrierende Allegorie der Töchter Gottes erfuhr im Laufe des Mittelalters zahlreiche Adaptionen. Seit u.  a. Robert Grosseteste im 13. Jahrhundert das Gleichnis der vier Töchter Gottes populär gemacht hat, dient nicht nur das dort vorgestellte Schema der Veranschaulichung gottesnaher Tugenden.15 Die familiäre Anbindung der Tugenden an Gott  – ihre Betitelung als „Töchter“ begegnet in allegorischen Texten zuhauf, wie auch das Verhältnis der einzelnen Tugenden zueinander als ein Verwandtschaftsverhältnis beschrieben wird.16 Dabei stellt sich unweigerlich die Frage nach ihrem ontologischen Status im Heilsplan: Neben Engeln und Heiligen bevölkern Personifikationen wie Grace Dieu, Raison, Caritas und viele andere Tugenden die mittelalterliche Bildwelt.17 Zwar bestätigt schon Augustinus in De Civitate Dei explizit, dass die Tugenden keine Göttinnen, sondern Gaben Gottes sind, doch klärt dies nicht den diffusen Status dieser Geschöpfe, die in der Bildwelt des Spätmittelalters in schier unglaub­licher Varianz begegnen. Auch in der Illustration einer französischen AugustinusÜbersetzung, die Virtus und Felicitas kniend vor Gottvater zeigen, und unter der

14 Guillaume de Digulleville, Die Pilgerreise (wie Anm. 8), Bd. 1, 149, vgl. 13  f., vv. 294–298: “Je le te dirai, entens y, Point je ne vuell estre doubteuse Envers toi ne soupechouneuse Fille sui de l’emperëour Qui sur tous autres est seignour.” 15 Vgl. E. J. Mäder, Der Streit der „Töchter Gottes“: Zur Geschichte eines allegorischen Motivs (Bern / Frankfurt 1971); Frauke Gewecke, Thematische Untersuchungen zu dem vor-calderonianischen auto sacramental (Genf 1974), 175  f. 16 Dabei sind natürlich auch andere allegorisch gedeutete Verwandtschafts- und Beziehungsverhältnisse möglich, wie u.  a. Barbara Newman, God and the Goddesses: Vision, Poetry and Belief in the Middle Ages (Philadelphia 2003) an der Figur der Geliebten als Projektion auf eine Personifikation aufzeigt. 17 James J. Paxson, The Poetics of Personification (Cambridge 1994), 137–138, verweist auf die Möglichkeit, dass es hier eine Divergenz zwischen moderner und mittelalterlicher Wahrnehmung geben mag: „Even today critics of medieval allegory maintain that thirteenth- and fourteenth-century thinkers did believe in the actual existence of ‘beings’ or transcendent ‘essences’ such as Faith, Reason, Love […].“ Paxson nimmt hier auf den Ansatz von Owen Barfield Bezug, der behauptet, dass die Personifikationen für den mittelalterlichen Menschen eine ganz andere Rolle spielten, wesentlich realer waren als dies aus heutiger Perspektive ersichtlich scheint.



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Abb. 5: Virtus und Felicitas (Augustinus, De civitate Dei, Den Haag, MMW 10 A 11, 208r. 15. Jh.). © Den Haag, Museum Meermanno.

eigens erklärt wird, dass es keine Göttinnen, sondern göttliche Gaben sind, die in quasi-menschlicher Gestalt auftreten, erscheint die Einordnung dieser weiblichen Gestalten in den Heilsplan schwierig (Abb. 5)18: „Und schließlich, weil es zwei Göttinnen, Virtus und Felicitas, sind, von denen wir hier handeln: wenn das Glück der Lohn der Tugend ist, so ist es nicht eine Göttin, sondern ein Geschenk Gottes; wenn aber das Glück eine Göttin ist, warum soll man dieser Göttin nicht auch die Verleihung der Tugend zuschreiben, da doch die Erwerbung der Tugend ein großes Glück ist?“19 Dennoch werden auf dem Wege der visuellen Vermittlung diese Tugenden zu Himmelsbewohnerinnen, die auf dieselbe Art erscheinen wie Gottvater selbst: Zwar ist die Ordnung des Himmels insofern gewahrt, als die beiden weiblichen Figuren in dieser Illustration durch eine Verneigung vor Gott ihre Inferiorität markieren, doch ihr Status bleibt diffus für den Betrachter der Miniatur. Obgleich in

18 Augustin, La cité de Dieu: Virtus et Félicité, Den Haag, MMW 10 A 11. 19 Augustinus, De Civitate dei, 4 / 21, Übers. zit. n. Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat, Übers. Alfred Schröder, Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 01, 16, 28 (Kempten / München 1911–16).

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den Schriften die Befugnisse von Personifikationen klar formuliert sein mögen, etabliert sich der Begriff Göttin, Déesse, spätestens wieder bei Christine de Pizan für die von ihr entworfenen Tugendpersonifikationen.20 Barbara Newman hat sich dieser Frage nach der Rolle weiblicher Personifikationen im Rahmen einer monotheistischen Religion ausführlich gewidmet, ebenso wie C. S. Lewis diese Perspektive in seiner berühmten Studie zur Allegory of Love andeutete, der mit dem berühmten Satz „the twilight of the gods is the mid-morning of the personifications“ die Familienzusammengehörigkeit von Göttern und Personifikationen betonte.21 Dabei werden in den bisherigen Studien die Personifikationen vor allem aus der Perspektive der Texte hinaus bewertet, die etwa Newman als weibliche Emanationen des Göttlichen ausmacht. Als „Mächte“ wurden diese Gestalten des Weiteren definiert, als „kosmische Potenz“ hatte Ernst Robert Curtius einst die personifizierte Natura und davon ausgehend auch andere allegorische Gestalten bezeichnet, und alle Tugend- beziehungsweise Naturinstanzen sind damit Teil der Allmacht Gottes.22 Die in den Erzählungen aufmarschierenden Tugenden- und Lasterpersonifikationen sind zweifelsohne feste Instanzen einer allegorischen Ordnung.23 Dabei wird eine genealogische Beziehung zwischen

20 Christine de Pizan: Épistre Othea, ed. Gabriella Parussa (Genf 1999), hier 199: „Othea, selon le grec, peut estre pris pour sagece de femme; et comme les ancians, non ayans ancore lumiere de vraye foy, adourassent plusieurs dieux, soubz la quelle loy soient passees les plus haultes seignouries qui au monde ayent esté, comme le royaume d’Assire, de Perse, les Gregoise, les Troyans, Alixandre, les Rommains et mains autres, et mesmement tous les plus grans philosophes, comme Dieux n’eust ancore ouverte la porte de sa misericorde, a present nous, crestiens par la grace de Dieu enluminez de vraye foy, pouons ramener a moralité les oppinions des ancians. Et sur ce, maintes belles allegories peuent estre faites, et comme yceulz eussent coustume de toutes choses aourer qui oultre le commun cours des choses eussent prerogative d’aucune grace, plusieurs femmes sages qui furent en leur temps appellerent deesses.“ Vgl. auch Newman 2003 (wie Anm. 16), 21, zu dem bei Christine vorzufindenden Euhemerismus, mit dem sie die Götter der Antike in ihr christliches Ordnungssystem fügt. 21 C. S. Lewis, The Allegory of Love: A study of Medieval Tradition (Oxford 1936), der diese Überlagerung von Personifikation und Gottheiten als eine Art Durcheinander beschreibt, das keine Unterscheidung der verschiedenen Zugehörigkeiten von Göttern, Engeln und allegorischen Figuren mehr erlaubt, vgl. dazu auch Newman 2003 (wie Anm. 16), 33: “Nevertheless, it would be foolish to pretend that all personifications should be granted the same ontological status or the same degree of authorial conviction.” 22 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter (Tübingen / Basel 1993), 116–137. 23 Ihre oft über langen Zeitraum fixierte Ikonographie hängt möglicherweise auch mit der Unveränderbarkeit ihres „metaphysischen Status“ zusammen, wie Werner Helmich es am Beispiel der Moralités religieuses erläutert. Werner Helmich, Die Allegorie im französischen Theater des 15. und 16. Jahrhunderts (Tübingen 1976), 87.



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den einzelnen Figuren konstruiert, um eben diese Ordnung abbilden zu können. Diese Ausdifferenzierung der allegorischen Verwandtschaft ist beliebig und der Vorsitz von wenigen einflussreichen Töchtern Gottes vor diversen Töchtern wird als Tugendhierarchie visualisiert – in zahlreichen Frontispiz-Illustrationen wird dieser hierarchische Tugendkanon vorgestellt. Erkennbar und mit Inschriften versehen sind für gewöhnlich lediglich die Haupttugenden, während eine Heerschar von Tugenden niederer Ordnung als weibliche langhaarige Gestalten abgebildet wird. Im Songe du vieil Pèlerin des Philippe de Mézières wird dies in einer französischen Handschrift von ca. 1470 besonders deutlich: Während von den peripher im Text erwähnten Tugenden in der Titelillustration lediglich die Rückenansichten langhaariger Frauengestalten zu erkennen sind, erscheinen die wichtigeren Tugenden und die handlungsleitenden Figuren im Hauptbildfeld mit sorgfältig unterschiedener Kleidung und kennzeichnenden Attributen (Abb. 6).24 Auch im religiösen Theater spielen die Familienbande zwischen Gott und den Personifikationen eine wichtige Rolle, um vergleichbare Ordnung herzustellen: So verweist etwa Jean Gerson in einer Schrift auf die Beziehung zwischen Jesus Christus, Raison, seiner Gefährtin, und Conscience, ihrer Tochter: eine ­Variante auf dieses Thema hat sich 1380 mit der sehr verbreiteten Moralité Le Cœur et les cinq sens erhalten.25 Doch wie werden diese Pseudo-Göttinnen und engelähn­ lichen Wesen überhaupt visuell dargeboten? Wie unterscheidet sich die Darstellung der Personifikationen tugendhafter Eigenschaften vom üblichen Personal des christlichen Kosmos? Über diese Fragen besteht seit langem Unklarheit, und während James Paxson konstatiert, dass die Differenzierung von den Geistwesen, Göttern, Heiligen, Personifikationen u.  a. kaum möglich ist, da auch hier die schriftlichen Quellen ein heterogenes Bild entwerfen, spiegelt auch der ambivalente Charakter dieser Figuren in den Malereien diese Uneinigkeit.26 Es gibt keine einheitliche Zuweisung durch die üblichen überirdischen Auszeichnungsmerkmale: Kennzeichnungen wie quadratischer oder farbiger Nimbus haben sich in den Bildkünsten stets als Einzellösung herausgestellt, und wiederum andere Zeichen überirdischer Präsenz, wie sie Boethius seiner übermächtig großen und leuchtenden Philosophie beigab, waren visuell nicht umsetzbar – genauso wenig wie die schillernde Beschreibung auf dem Gewand der Natur, der sich Alanus ab Insulis widmete, nur faden Nachhall in den Bildern fand. Die auratische Kraft

24 ÖNB, Ms. 2551. 25 Alan E. Knight, Aspects of genre in late Medieval French Drama (Manchester 1983), 55. 26 Paxson 1994 (wie Anm. 17) zeigt die Spannweite der Bedeutungen von Personifikationen auf, vgl. zu diesem Punkt Newman 2003 (wie Anm. 16), 33.

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Abb. 6: Versammlung der Tugenden (Philippe de Mèzière, Songe du vieil pèlerin, ­Österreichische Nationalbibliothek, Ms. 2551, fol. 130r. 15. Jh.). © Österreichische Nationalbibliothek.



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dieser Begegnungen zwischen Personifikation und Person, wie sie in den Texten wortreich umschrieben wird, findet in der malerischen Umsetzung zunächst kein Äquivalent. Mehr noch: Die Begegnung von sterblichem Christen und tugendhafter Personifikation ist eine besondere Herausforderung an die Bilder und scheint doch zugleich auf eine Visualisierung angewiesen: Die „kosmische Potenz“, von der Curtius sprach, ist ohne eine „ästhetische Potenz“ nicht zu vermitteln. Spätestens im 14. Jahrhundert gesellt sich zur Vermittlung dieser „kosmischen Potenzen“ ein weiteres Medium, das die Sichtweise auf die tugendhaften Nebengöttinnen beziehungsweise allegorischen Töchter Gottes maßgeblich geprägt haben muss: Die wachsende Beliebtheit des religiösen Theaters und die Vermittlung allegorischer Themen nicht nur in Schriften, sondern auch als performative Ereignisse bestimmen die Ausgestaltung von Personifikationen in nicht unwesentlichem Maße.27

3 Begegnungen Guillaume de Digulleville reflektierte in seinen Schriften immer wieder über seine allegorischen Darstellungsmöglichkeiten, und auch die Pilgerreise ins Himmlische Jerusalem enthält einige ironische Brechungen, durch die die weiblichen Verkörperungen betont werden. Zudem beginnt er seine Traumfiktion mit einem Verweis auf den Roman de la Rose, der ihm als Inspiration für seine Erzählung diente. Seine spirituelle Pilgerreise erlaubt es ihm, sich an höhere Erkenntnisse anzunähern, obgleich ihm Natura die Begrenztheit des mensch­ lichen Daseins schmerzlich bewusst macht. Im Pèlerinage de la vie humaine wird der Ort der Begegnung zwischen Pilger und Personifikation deutlich offenbart: Die personifizierte Vernunft führt dem Pilger vor, dass sein irdischer Körper nur eine Last ist für die Seele und beweist ihm dies durch eine kurze Trennung von schwerem Leib und schwebender Seele. „Sodann nahm Vernunft mich an ihre Hand, und gänzlich unterwarf ich mich ihr, sie zog, ich schob. So sehr schaffte

27 Für Hinweise auf eine performative Umsetzung von Guillaume de Digullevilles PilgerwegsTrilogie vgl. u.  a. Helmich 1976 (wie Anm. 23), 31 u. 49, Estelle Doudet, “Finis allegoriae, un trope problématique sur la scène profane français: Nouveaux questionnements sur l’allégorie au théâtre (XV e–XVIe siècles),” in Mainte belle oeuvre faicte: Études sur le théâtre médiéval offertes à Graham A. Runnalls, ed. Denis Hüe, Mario Longtin, Lynette Muir (Orléans 2005), 117–144, hier 119 und Fabienne Pomel, “La théâtralité des Pèlerinages de Guillaume de Digulleville,” in Maistre Pierre Pathelin: Lectures et Contextes, ed. Denis Hüe und Darwin Smith (Rennes 2000), 159–170.

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Abb. 7: Grâce Dieu reicht den Pilgerstab (Guillaume de Digulleville: Pèlerinage de la vie humaine, Soissons, Bibliothèque ­Municipale, Ms. 0208, fol. 124r. 15. Jh). © Soissons, ­Bibliothèque Municipale.

sie und schaffte ich, dass der Lahme unter mir zu Fall kam und von mir abgestreift wurde. Als ich solchermaßen von der Last befreit war, fühlte ich mich hoch in die Lüfte entrückt.“28 Dass der Ort der Begegnung zwischen Raison und dem Pilger der Traum des Autors ist, bleibt während des ganzen Pèlerinage unzweifelhaft. Die kritischen inneren Stimmen Guillaumes wie der grobschlächtige Geselle Rude entendement, das personifizierte Grobverständnis – die einzige männ­liche Per­sonifikation in der ganzen Reise  – verweisen stets darauf, dass es sich bei den Göttinnen und Abgesandten Gottes stets um Projektionen, um Traumbilder handelt. Die Kommunikation mit ihnen ist nur dem träumenden „Avatar“ des Autors möglich, der zu Beginn auf seinem Bett langsam in die Geschichte eindringt. Grace Dieu ist, wie auch Raison und alle anderen Tugenden in der Pilgerreise, nur an schlichter Wohlgestalt zu erkennen, und dass all diese Töchter Gottes zugleich seine Handlangerinnen sind, wird auch ikonographisch vermittelt: In deutlicher Parallele zur Hand Gottes reicht Grace Dieu dem Pilger vom Himmel den allegorischen Rettungsanker während der gefahrenreichen Reise, den vergessenen Pilgerstab (Abb. 7).29

28 Guillaume de Digulleville, Die Pilgerreise (wie Anm. 8), Bd. 1, 202, vgl. vv. 6199–6208: „Adont mist main a moy Raison, Je me mis en son abandon, Elle sacha et je boutoy. Tant fist, tant fis et li et moy Que le contrait fut tresbuscié De Desous moy et deschargié. Quant destoursé ensi je fui, En l’air en haut tout ravi fui. Bien me sambloit que je volasse Et que nulle rien ne pesasse.“ 29 Guillaume de Digulleville: Pèlerinage de la vie humaine, Soissons, BM, Ms. 0208: Grace Dieu reicht den verlorenen Pilgerstab an den Pilger zurück.



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Evident wird bei der Illustration dieser Begebenheit in einigen Handschriften, inwiefern Grace Dieu der verlängerte Arm Gottes ist, indem sie auf der ikonographischen Ebene als eine göttliche Erscheinung dargestellt wird. Wenn Guillaume de Digulleville nicht nur in dieser Pilgerreise, sondern auch an vielen anderen Stellen seiner einzelnen allegorischen Schriften die Notwendigkeit dieser allegorischen Verkörperungen betont, um Nicht-Darstellbares dennoch anschaulich zu machen, so zeigt sich hier, wie die Aussagen von Bild und Text divergieren: Präziser als im Text wird durch die bildliche Ausstattung die Wertigkeit der einzelnen Figuren deutlich gemacht. Doch auch die wohlgestalteten Tugenden, die den Pilger an die Hand nehmen, sind letztendlich nur Hilfsmittel, um damit Einsicht in höhere Wahrheiten zu gewähren.30 Die bildhafte Ebene der Sprache und der Rekurs auf das Visuelle dienen dazu, sich dem Intelligiblen zu nähern. Mit dem Beispiel changierender Seidenstoffe oder der schillernden Pfauenfeder etwa versucht Guillaume das Wesen der Trinität zu erklären.31 Um diesen Idealen nahezukommen, ist dabei die Übereinstimmung von Zeichen und Bezeichnetem, von signes und choses signées von großer Bedeutung, denn hier scheinen andere Literaten, so legt Guillaume nahe, versagt zu haben. Ausgiebig setzt er sich in seinem Roman de la Fleur de Lys mit dieser Analogie auseinander und verweist auf den seltenen Fall, da Zeichen und bezeichnete Sache sich annähernd entsprechen würden: Die personifizierte Ratio beschreibt dort die mit Winkelmaß, Kompass und Zirkel ausgestattete Personifikation der Sapientia. Als personifizierte Vernunft wacht sie darüber, dass diese Zeichen vollkommen wahr sind, denn, wie es Grace Dieu im Text formulierte: „Les signes as choses signées

30 Pomel 2001 (wie Anm. 8), 506–511, hier 509, Anm. 72, zit. aus der Pèlerinage de l’Ame: „En closture limitée/ Qui est finie et bonnée/ Ne puet plus que son remplage./ Chose infenie ens boutée/ N’i puet estre n’enserrée,/ D’essaier seroit folage./ Se celui n’est mie sage/ Qui mectre le ciel en cage/ Veult et toute rien cr(é)éé,/Tres fol est a grant outrage/ Qui celui qui fist l’ouvrage/ Veult comprendre en sa casée.“ Pèlerinage de l’Âme, vv. 10958–10969. 31 Pomel 2001 (wie Anm. 8), 508  f. in Rekurs auf Le Pelerinage de l’ame de Guillaume de Deguileville, ed. J. J. Stürzinger (London 1895), 348, vv.10751–10786: „Gracieuse est l’assemblee Qui n’est onques dessemblee Et en rien n’est descordable, Qui en.iii. est distinctee Sens point estre devisee Dë unite permanable. se elle semble variable, Muant ou entr[e]changable, La vëue achoisonnee En doit estre qui muable Est souvent alterable, Non la chose regardee. Une couleur fait nature Et aussi par aventure Art qui ensuit sa maniere Fait meilleur et sa tainture, Car ell’ est plus grant ouvriere. Celle couleur coustumiere Est de monstrer trine chiere Et face a la regardure. […] Il sont ouvrages de soie Aucuns où art së emploie A ouvrer de telle guise Nature (bien) l’en mis[t] en voie Pour ce que vest et armoie Mains oiseaux de tel cointise, Il n’est nul, se bien s’avise, Qui tel naturel maistrise Sus.i. paon bien ne voie. Tex plumes a où est mise La couleur que je devise: Rouge, d’or et qui verdoie.“

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Doivent respondre par raison (vv. 315–319)“.32 Jedenfalls wird deutlich, dass das Ringen um das Aussehen von Personifikationen und die Konzeption von Allegorien, wie sie Guillaume etwa für die Veranschaulichung der Trinität verwendete, nicht allein eine Frage künstlerischer-literarischer Erfindungskraft, sondern vielmehr des entscheidenden Erkenntniszugangs ist. Bei Guillaume de Digulleville geht es aber nicht nur darum, dass Personifikationen mit ihren Attributen den höheren Erkenntniszugang des Rezipienten bahnen wollen. Im Aufbau seines Pèlerinage de la vie humaine und den beiden folgenden Teilen des Pèlerinage de l’ame und des Pèlerinage de Jesus-Christ suggeriert er auch, dass man Personifikationen als engelähnliche Wesen auffassen kann, die dem Menschen helfend bestimmte Eigenschaften vermitteln.33 So agieren die Personifikationen in der Trilogie als Mittlerfiguren zwischen irdischer und himmlischer Sphäre, ohne direkter Bestandteil der himmlischen Hierarchien zu sein. Dies zeigt sich insbesondere in Guillaumes Pélerinage de la vie humaine. Die Tugenden, die den Pilger auf seinem schwierigen Weg unterstützen, sind, wie am Beispiel von Grace Dieu sich bereits andeutete, wenig abwechslungsreiche Figuren. Selten tragen sie in den Miniaturen Attribute, ganz im Gegensatz zum auffälligen Kanon der Laster, die durch ihre Monstrosität und körperliche Deformation im Gedächtnis haften bleiben und qua furchterregender Gestalt apotropäische Wirkung entfalten: Hier werden je alle Details des Textes auch in die Bildsprache umgesetzt. Allerdings geben die Tugenden dem Pilger Attribute mit auf seinen Weg, Grace Dieu etwa versorgt den Wanderer mit einer Rüstung und mit Waffen – ein auch bei anderen allegorischen Werken wiederkehrendes Motiv in den Bildern: Die Tugenden reichen ihre Eigenschaften als Attribute weiter, als äußere und materialisierte Projektionen innerer Seelenkräfte. In den meisten illustrierten Handschriften ist diese Sequenz besonders ausgiebig überliefert (Abb. 8). Dabei werden in der Pilgerreise diese Accessoires von Mémoire verwaltet, die den Pilger am kritischen Punkt seiner Wanderung an diese Eigenschaften

32 Pomel 2001 (wie Anm. 8), 508: „Car les signes faillent souvent/ Dont il me desplait grandement./ Mais pas ne sont ceulx que tu fais,/ Ains sont tous jours tieux signes vrais./ Car selon la proprietez/ De cen qu’eulx signent sont signez.“ vv. 595–600; Guillaume de Digulleville, “Le roman de la fleur de lis,” ed. Arthur Piaget, Romania 62 (1936), 317–358. 33 Die Personifikationen bei Boethius und bei Alanus ab Insulis seien mehr als substanzlose Schattengestalten, die „stärker am Sein des Schöpfers als die tatsächlichen Dinge, die res, deren Form sich in der Materie konkretisieren kann“, partizipieren würden, so argumentieren Cuntz / Söffner 2006 (wie Anm. 10), hier 294: Ähnlich auch Conklin Akbari 2004 (wie Anm. 1), 237, wenn sie darauf verweist, dass die Grenze zwischen übermenschlicher Personifikation und mensch­ lichem Autor im Spätmittelalter an Bedeutung verliert.



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Abb. 8: Grace Dieu stattet den Pilger aus (Guillaume de Digulleville, Pèlerinage de la vie humaine, Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. Lat. 1969, fol. 30v. 14. Jh). © Universitätsbibliothek Heidelberg.

erinnert.34 Durch die Verwaltung der Pilgerrüstung sind die Personifikationen als Mediatoren auf dem Weg ins Jenseits gekennzeichnet und agieren dabei in

34 So besonders prägnant illustriert in Bibliothèque Sainte-Geneviève, Ms. 1130, fol. 59v. Im Verlauf der Versuchungen, die den Wanderer vom rechten Pfad führen sollen, ruft die Personifikation der Mémoire dem Pilger eben diese Rüstung ins Gedächtnis, die Grace Dieu ihm zu Beginn seiner Reise gab und trägt ihm Kleidung und Accesssoires hinterher. Die Rüstung von Grace Dieu ist zugleich ein Zitat aus dem Epheserbrief 6:11–17, nach der Paulus die Nachfolger Christi aufruft, sich mit den Arma Dei zu bewehren, vgl. Lisa H. Cooper, Artisans and Narrative Craft in Late Medieval England (Cambridge 2011), zu Guillaume de Digulleville bes. 106–145, hier 117.

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Abb. 9: Die Seele verlässt den Körper (Guillaume de Digulleville: Pèlerinage de la vie humaine, Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. Lat. 1969, fol. 39r. 14. Jh). © Universitätsbibliothek Heidelberg.

ähnlicher Weise wie Engel. Doch ihr Agieren wirkt ungleich pragmatischer, denn ihre Kräfte reichen sie als physische Objekte, als Ausstattungsstücke weiter – ein Element der Pilgerreise, das möglicherweise auch durch performative Umsetzungen, durch ein theatralisches Moment motiviert wurde.35 Die Bild- und Ordnungsmuster des Pélerinage de la vie humaine begegnen in der Folgezeit in unzähligen allegorischen Texten. Gleichwohl scheint es, als ob diese christliche Traumreise mit den hilfreichen personifizierten Assistentinnen noch mehr Einfluss als der Rosenroman erlangte. So wird die Seele des Träumenden überdeutlich als Verbindungsstelle zwischen allegorischer und realer Welt inszeniert. Der Traum entwickelt sich in diesem Moment, in dem der Schlafende sich vom irdischen Ballast befreit, zum Weg des Pilgers (Abb. 9).36 Die träumende (und damit kurzfristig von irdischen Hemmnissen befreite) Seele kommuniziert mühelos mit den Personifikationen und die Verwandtschaft dieser allegorischen Figuren mit den Engeln ist evident: In späteren Adaptionen von Guillaume de Digullevilles Text spielt auch die Ausstattung der träumenden Seele mit Flügeln eine immer größere Rolle, wie in einem Traktat von

35 Im ausgehenden Mittelalter verschwindet die Differenz zwischen menschlichem Erzähler und übermenschlicher Personifikation  – eine Dichotomie, die am deutlichsten Boethius mit seiner De consolatione Philosophiae abbildet; Kombinationen und Überschneidungen von Personifikationen mit den Gottheiten der Antike und mit historischen Personen werden in diesem Zuge möglich. Dazu insgesamt Conklin Akbari 2004 (wie Anm. 1). Zum Status der Personifikation zwischen Gott und Mensch vgl. auch Anouk De Wolf, “Pratique de la personnification chez Guillaume de Digulleville et Philippe de Mézières,” in Écriture et mode de pensée au moyen âge (8e–15e siècle), ed. Dominique Boutet (Paris 1993), 125–147, hier 144 ; die Personifikationen innerhalb von Erzählungen von anderen Figuren unterscheidet: “Sans relief, elles se situent en dehors du temps et en dehors de l’espace et fonctionnent difficilement dans la temporalité du récit.” 36 BNF, Ms. Fr. 829, fol. 140



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Abb. 10: Seele und Pilger (Traktat von Jean Gerson über die Seele, BNF, Ms. Fr. 190, fol. 1r. Ca. 1483). © Bibliothèque Nationale de France.

Jean Gerson, das von der „mendicité spirituelle“ und der Reinheit der Seele handelt und dabei dem Pilger eine Personifikation der reinen Seele, die bereits mit Flügeln ausgestattet ist, vor Augen führt (Abb. 10)37 – während insbesondere diese Flügel werden als wichtiges Verkehrsmittel für den Weg ins Himmlische Jerusalem beschrieben. Noch augenfälliger wird dies in einer Miniatur zu einer niederländischen Übersetzung von Boethius De consolatione philosophiae, in der dem Autor Flügel angesetzt werden, damit seine Seele, die sich in ihrem Aussehen von dem irdischen Leib des Autors unterscheidet, gen Himmel gelangen kann (Abb. 11).38 Was hier in unzähligen Versen literarisch gewendet wird, ist in den simpli­ fizierten Meditationsanweisungen für adlige Laien längst gängiges Procedere. Auch hier führen zahlreiche Personifikationen die Seele des Betenden durch einen Tugendparcours. So besteht die wohl kurz vor 1300 entstandene Sainte Abbaie, der auch in Übersetzungen in Europa großer Erfolg beschieden war, aus einem allegorischen Kloster, das von zahlreichen Tugenden, die als Nonnen 37 BNF, Ms. Fr. 190, fol. 1r., ca. 1483, der erste Traktat der Sammelhandschrift, der zu dieser Miniatur gehört, ist betitelt mit „Le secret parlement de l’homme contemplatif à son ame“. 38 BNF, Ms. néer.l., fol. 212v., ca. 1492.

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Abb. 11: Die geflügelte Seele hebt sich zum Himmel empor (Boethius, De Consolatione ­philosophiae, BNF, Ms. néer.l., fol. 212v. Ca. 1492). © Bibliothèque Nationale de France.



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eingesetzt wurden, verwaltet und in seiner strukturellen Integrität zusammengehalten wird.39 Ein ähnlich gearteter Text, das Chastel périlleux von Frère Robert, zeigt in einer Miniatur diese Synthese, in der nimbierte und uniform gekleidete Tugenden das allegorische Gebäude in ihrer Mitte zusammenhalten (Abb. 12).40 Die Pilgerreise zum Himmlischen Jerusalem des Guillaume de Digulleville offeriert dem Rezipienten zugleich neue Möglichkeiten der Teilhabe: Grace Dieu führt nicht den Erzähler, sondern seinen Avatar, der auch dem Leser und Betrachter als Projektionsfigur dienen kann, als höhere Daseinsform durch die gefahrenreiche Reise. In unzähligen Beispielen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts werden diese Topoi wieder aufgegriffen, die Guillaume de Digulleville nach der allegorischen Wegestruktur des Rosenromans in eine christliche Formel gebracht hat: Die fast entkleidete oder gänzlich nackte Seele des lernenden und träumenden „Acteur“ wird von Tugenden durch unwegsames Gelände, über Brücken und an lasterhaften Fallstricken vorbeigeleitet.41 Dabei wird die Traumfiktion immer wieder in die sichtbare und sinnlich begreifbare Welt zurückgeführt – die Bekleidung und Ausstattung des Träumenden mit notwendigen Reise­accessoires ist dabei nur ein Motiv, in dem sich die fast haptische Nähe von Personifikation und Seele zeigt. Das Überreichen von gesiegelten Schriftstücken oder wichtigen, ästhetisch markanten Objekten und Kunstwerken obliegt den allegorischen Figuren, die damit schließlich eine andere Ebene berühren als Gottvater, die Engel oder die Heiligen, die dem menschlichen Zugriff wesentlich weiter entrückt sind: Sie transferieren die göttliche Botschaft in eine dem Menschen klar

39 Vgl. zusammenfassend Cornelia Logemann, Heilige Ordnungen: Die Bild-Räume der „Vie de Saint Denis“ (1317) und die französische Buchmalerei des 14. Jahrhunderts (Köln / Weimar / Wien 2009), 168–176; Aden Kumler, Translating Truth: Amibitious Images and Religious Knowledge in Late Medieval France and England (New Haven / London 2011). 40 Zum Chastel Pèrilleux vgl. Sister Mary Brisson, “An unpublished Detail of the iconography of the passion in Le chastel perilleux,” Journal of the Warburg and Courtauld Institute 30 (1967), 398–401; Sister Mary Brisson, A Critical Edition and Study of Frere Robert (Chartreux): Le Chastel Perilleux, Analecta Cartusiana 20, 2 Bde. (Salzburg 1974). 41 Ein großer Teil dieser Handschriften hat bisher kaum Beachtung gefunden, einige von ihnen sind meines Wissens lediglich in einer einzigen Handschrift überliefert, so etwa Ms. Fr. 1191, Discours allégorique d’ “Entendement et Raison”, von Charles de Coetivy, conte de Taillebourg; vgl. auch BNF, Ms. fr. 12550, vgl. dazu Anne-Marie Legaré, “Allégorie et arts de mémoire: un manuscrit enluminé de la librairie de Marguerite d’Autriche,” Bulletin du bibliophile 2 (1990), 314–344. Erwähnenswert ist an dieser Stelle auch die Complainte de la dame pâmée contre Fortune von Cathérine d’Amboise aus den 1520–30er Jahren, in der die träumende Dame von Raison geführt wird. Der thematische Zuschnitt der vom Entendement begleiteten Hauptfigur findet sich auch in dem nicht nur in kostbar illuminierten Handschriften, sondern auch im Druck verbreiteten Schrift Le Chevalier délibéré des Olivier de la Marche wieder.

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Abb. 12: Eingangsminiatur zu Robert le ­Chartreux : Chastel périlleux (BNF, Ms. fr. 445, fol. 4r. Ca. 1450). © Bibliothèque Nationale de France.

zu vermittelnde Ebene der Sinneswahrnehmung. Auf dieser Ebene ist etwa das berühmte ABC-Gebet zu verstehen, das Grace Dieu im Pèlerinage de la vie humaine dem Pilger in höchster Not vom Himmel reicht, oder die zahlreichen Objekte der Ausstattung des Wanderers (wie der auf selbem Wege nachgereichte Wanderstab). Immer wieder lenken die Personifikationen in diesen allegorischen Texten den Leser und letztendlich den Betrachter auf physisch erfahrbare Objekte.42 In einem allegorischen Diskurs von Vernunft und Verständnis wird die träumende Seele, die durch zahlreiche Stationen geführt wird, am Ende des Weges auf ein Bild hingewiesen, das die Wappen und Tugenden des Charles d’Orléans abbilden soll (Abb. 13)43: Wie ein Fingerzeig wirken die Worte der Begleitung aus der Traumebene hinaus, kann der Träumende schließlich die Quintessenz des Textes auf einer bemalten Papierrolle erkennen, die in der Handschrift abgebildet ist. In der reich illustrierten Allégorie de l’homme raisonnable et de l’entendement humain werden die einzelnen Personifikationen nur noch im Rahmen von Tableaus, als installierte Bilder vorgestellt, an denen der Erzähler mit Begleitung vorbei-

42 Strategien dieser Art finden sich häufig, vgl. zum Allegorie-Konzept des Autors vgl. auch Emily Steiner, Documentary Culture and the Making of Medieval English Literature (Cambridge 2003), 17–46, Cornelia Logemann, „Falsche Augenzeugen: Fingierte Echtheitsbeweise in spätmittelalterlicher Geschichtsschreibung,“ in Zeugen und Zeugenschaft: Perspektiven aus der Vormoderne, ed. Wolfram Drews und Heike Schlie (München 2011), 77–98. 43 Ms. Fr. 1191, die Seele wird von Entendement eingewiesen, um dann letztendlich auf eine Darstellung mit den Wappen und Tugenden des Charles D’Orleans hingewiesen zu werden – die Traumwanderung endet somit bei einem materiell erfahrbaren Objekt: „que pourrez voir en la depiction de se rolle ou papier“.



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Abb. 13: Die Seele betrachtet mit Raison ein entrolltes Papier mit Wappen (Discours de l’entendement et de raison, BNF, Ms. Fr. 1191, n.p. 15. Jh). © Bibliothèque Nationale de France.

flaniert.44 Dabei besteht zwischen den allegorischen Verkörperungen und der durch diese Arrangements geführten Figur nur noch Sichtkontakt, jedoch keine Interaktion mehr: Die Personifikationen werden dabei als Bilder aus oftmals kostbaren Materialien beschrieben. Letztendlich sollen die Bilder von diesen allegorischen Ordnungen zu höherer Erkenntnis verleiten: Der bisher wenig bekannte Prolog einer Version von Philippe de Mèzières‘ Songe du Vieil Pèlerin liefert gar eine ganze Serie von Bilderklärungen, die die dargestellten Personifikationen sowohl für die einfachen Leser als auch für die gebildeten Geistlichen attraktiv machen soll. Dabei wird der Leser dieses Vorworts dazu aufgefordert, die Lektüre des Textes durch die Betrachtung der „figures“, der jeweils einem Buch des Songe vorangeschalteten Illustration, zu vertiefen beziehungsweise über diese Bilder hinauszugehen, da es offenbar drei Arten gäbe, sich dem Werk zu nähern. Manchen könne, so der Prolog, durch das Sehen dieser Bilder sogar höhere Erkenntnis zuteilwerden, den einfachen Gemütern (wie vorrangig den weiblichen Betrachtern) solle damit lediglich Freude bereitet werden.45 Auf diese 44 BNF, Ms. fr. 12550, 3v: „Lors me mena au front de la porte qui moult estoit richement ouuree et estoffe de painture et ou avoit une ymaige de femme a ung ryant oeil et a bras ouvers ayant devant ses piedz un tableau dizant“. 45 Philippe Contamine, “Un préambule explicatif inédit dans un Manuscrit (milieu XVe s.) du Songe du Vieil Pèlerin (1389) de Philippe de Mézières: le texte et l’image,” Comptes rendus des séances de l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 4 (2007), 1901–1923, hier 1918: „Or est ainsi que la prinse, le procés et l’estat de cestui present livre, se semble, ne fait riens a ce que dit est qui ne eslieve son entendement par dessus les figures, pour ce ce livre se puet lire par troys manieres d’entendemens selon la capacité et entendement des liseurs et auditeurs. Premiere-

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Einteilung der Leserschaft hin erfolgt eine detaillierte Darlegung der einzelnen Illustrationen, die zwar nur die einzelnen Abschnitte des Textes zusammenfassen und die Hierarchie der aufgeführten Personifikationen abbilden, die jedoch für das Verständnis des gesamten Manuskripts als zentral erachtet wurden.

4 Personifikation und Ästhetik Ein weiterer Aspekt ist für das Verständnis von Personifikationen bedeutsam: Unmittelbar scheint die Wirkmacht vieler Personifikationen und damit auch ihre Nützlichkeit für die Handhabung Gottes in ihrem Geschlecht begründet zu liegen, sind sie doch ob ihrer ästhetischen Potenz eine Aufforderung, nicht nur hinzusehen, sondern auch den Sinn dieser tugendhaften Schönheiten zu verstehen.46 Bemerkenswert ist bei Betrachtung der zahlreichen Personifikationen zwischen Text und Bild vor allem eins: Die Engführung von Texten und Bildern und das Beharren auf der Überzeugungskraft des Visuellen, die hier am weib­ lichen Körper exemplifiziert wird. Es ist nicht nur ein Topos in den Beschreibungen, dass die Personifikationen durch Größe, Schönheit und Strahlkraft überzeugen. Personifikationen dienen nicht unwesentlich der Ästhetisierung christlicher Tugenden: Denn so, wie die Laster auf die Mauern des Gartens im Rosenroman gebannt werden und hier dieselben negativen Gefühle beim Betrachter auslösen sollen, die sie verkörpern, wird andersherum die Darstellung von schönen Tugenden zur Erweckung positiver Gefühle instrumentalisiert. Mit der engen Verbindung von visuellem Konzept und tugendhaften Eigenschaften unterscheidet sich die Personifikation damit auch von anderen Figuren, deren Einflussbereiche sie tangiert: Im Gegensatz zu den Engeln und zu den Heiligen wird die personifizierte

ment, a ceulx qui ne sont pas clercs, comme dames et damoiselles, l’estat de cestui livre leur est moult plaisant a passer temps pour ce que le livre est fait et composé des roynes, dames et damoiselles et chambrieres procedant en maniere de court royalle. Mais a ceulx qui sont clercs selon le sen de la lectre le procés du livre leur est assez plaisant et prouffitable a passer temps et pour aprendre a parler ordonneeement et distinctement comme on peut veoir qu’il et composé par clausules et oroisons parfaictes gardans selon la maniere de parler les preceptions de rethorique. Mais a ceulx qui entendent la Sainte Escripture et scevent reduire le sen licteral au sen mistic et moral, itelx liseurs le doivent exposer aux autres qui ne l’entendent pas.“ 46 Oder wie Pascale Chiron treffend formuliert: „Le paradis allégorique oblige le lecteur à dépasser l’image visuelle qu’il a sous les yeux pour en rechercher les sens. Le regard n’est plus un sens corporel, une capacité physique, mais bien un acte intellectuel […]“. Pascale Chiron, “À propos de Jean Lemaire de Belges et Dante,” in L’inscription du regard: Moyen Age, Renaissance, ed. Michèle Gally und Michel Jourde (Paris 1995), hier 98.



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Tugend als visuell erfassbares Konstrukt dargestellt, das zur Interaktion herausfordert. Der äußere Liebreiz sowie durchaus auch das Verführungs­potential der personifizierten Tugenden ist Teil der Eigenschaften jener Frauengestalten. Natürlich bleibt das Erfreuen an Malerei ein zweischneidiges Schwert: So sieht Brunetto Latini die Tugend der Keuschheit nicht gewahrt, wenn sich der Mensch lediglich an schöner Farbe oder schöner Malerei erfreut.47 Doch die Äußerungen über das Wesen der Tugend und die mögliche Erscheinungsform einer Personifikation werden offenbar überall in Europa diskutiert. „Alle lieben das Schöne, nichts ist schöner als die Tugend, daher lieben alle auch die Tugend!“, wie ein im Flandern des späteren 15. Jahrhunderts niedergeschriebener Traktat die Diskussion der einzelnen virtutes und vitia beginnt.48 Dabei vermischt sich der Dialog über Personifikationen mit einem Diskurs über Ästhetik in verschiedenen medialen Ausdrucksformen und das Ringen um die richtige äußere Gestalt der Tugenden ist nicht zuletzt an der großen ikonographischen Spannweite visualisierter Tugenden abzulesen. Jean Gerson formuliert diese Bedenken über die Verführungskraft in Texten und Bildern um 1400 in der Debatte um den Rosenroman. Er setzt damit Malereien und Texte gleich, die nach seiner Ansicht beide das Potential besitzen, die Sündhaftigkeit des Menschen zu entzünden. Für die Wirkung eines literarischen oder künstlerischen Werkes wird damit der Schöpfer desselben verantwortlich gemacht. Die konsequente Parallelsetzung von Schrift und Malerei ist ein häufig wiederkehrendes Motiv in den Schriften Gersons, und immer wieder wird das Sehen von Malerei beschworen und kommentiert.49 Doch 47 I livres dou tresor par Brunetto Latini, publié pour la première fois d’après les manuscrits de la Bibliothèque impériale, de la Bibliothèque de l’Arsenal et plusieurs manuscrits des départements et de l’étranger, ed. Pierre Chabaille (Paris 1863), 282, XIX, De Chastée: „Chastée est mi entre le delit dou cors et si n’est pas entre tous car qui se delite des choses don’t il se doit delitier, et en cele guise, et en ceului tens, et tant comme il est convenable, il est chastes, et cil qui se delite de veoir bele color ou bele painture, ou en oïr bone novele ou fables ou chant, ou flairier bones odors, n’est pas chastes ne non chastes, jà soit ce que il se delite convenablement […]“. 48 [Tractatus] de effigie sive specie virtutis, Bibliothèque Nationale de France, Ms. nouv. acq. lat. 701 : fol. 1v: „hinc est q[uod] plato in de immortalitate anime dicit q[uod] si sapientie forma oculis videri posset cunctos at amorem sui violanter atraheret virtus namque sui natura amabilis est vicium vero odibile. verum sicut frustra puellam speciosissimam adolescentis auribus laudas verbis q[uod] describis quo stimulos amoris incutias uti ipsam pulchram puelle fermam adolescentis oculis queas offendere sic dicendum est de virtute […]“. 49 „Regardes des choses par dehors es bestes ou es paintures ou ailleurs qui sont deshonnestes, est ce pechié? Je respon comme par avant. C’est fort par especial que lire livres esmouvans a luxure ne soit pechié mortel, et ceulx qui les retiennent devroient ester contrains par leurs confesseurs les ardre ou desirer, que aulx ou aultres n’y pechassent plus (comme est Ovide ou je ne sçay quell / Matheol, ou partie du Rommant de la Rose, ou rondeaux et baladez ou chanssons trop dissolues). Si jugés quelle penitence doivent faire ceulx qui les font et publient, sus quoy

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abgesehen von den übergreifenden Wirkungen des Roman de la Rose auf die Gemüter der Leser und Hörer werden die dort agierenden Personifikationen in die Diskussion eingebracht – dies vor allem auf Betreiben von Christine de Pizan. Auch ihr Anteil an der Debatte um den Rosenroman bringt das allegorische Fundament von Jean le Meun und Guillaume de Lorris beträchtlich ins Wanken: Nutzt Christine de Pizan den Umgang mit den weiblichen Personifikationen des Rosenromans zu einer Entlarvung misogyner Sprache, werden zur selben Zeit immer öfter Zweifel am femininen Regiment der Personifikationen deutlich: Die quasidivine Macht der allegorischen Frauengestalten wird zunehmend in Frage gestellt und ironisiert. Für Christine de Pizan stand noch die negative Charakterisierung der weiblichen Personifikationen in anderen Schriften im Vordergrund – parallel zur Frage, wie sich allegorische weibliche Figuren des Rosenromans zur realen Rolle der Frau verhalten. In ihrem Livre de la cité des Dames stattet sie daher ihre personifizierte Vernunft, Raison, mit Eigenschaften aus, die sie zu einem Gegenentwurf der unräsonabel handelnden Personifikation des Rosenromans machen.50 Nicht nur die allegorischen Texte nährten Zweifel am Sinn dieser Hilfs­ figuren Gottes: Während in den spätmittelalterlichen Moralités religieuses die Geschlechter-Zuordnung der Personifikationen relativ eindeutig dem grammatischen Geschlecht folgen, finden sich auch Äußerungen, die die feminine Welt der Personifikationen zumindest als bemerkenswert, wenn nicht als störend hervorheben.51 Guillaume de Digulleville selbst hat über die abstrakten weiblichen Wesen, die er an den Weg seiner allegorischen Pilgerfahrt postierte, ausgiebig nachgedacht, wenn der Pilger während seiner Reise mit sich hadert: „Andererseits, dachte ich, so wie ich von Euch gelernt habe, dass Ihr mir einen starken

j’en ay escript plus a plain; parellement dy je des paintures ordes et deshonestes.“ Débat sur le Roman de la Rose, Jean Gerson: Sermons de la Série Poenitemini, ed. Hicks 1996 (wie Anm. 1) 179, vv1–11. 50 Newman 2003 (wie Anm. 16), 22. Geoffroy Chaucer, der ja selbst eine Übersetzung des Rosenromans fertigte, äußert sich übrigens selbst zu der Dominanz weiblicher Figuren, die durch die Technik der Allegorie allerorten entstanden. Dazu Wolfgang Riehle, Englische Mystik des Mittelalters (München 2011), 224  f. zu Chaucers Legend of good women. 51 Helmich 1976 (wie Anm. 23), 52, Anm. 248 zu Nicolas de La Chesnaye in der Condamnacion des Banquetz, fol. I iii v: „Sur lequel ouvrage est a note qu’il a plusieurs noms et personnage de diverses maladies: comme Appoplexie, Epilencie, Ydropisie, Jaunisse, Goutte et les autres, desquelz je n’ay pas tousjours gardé le genre et sexe selon l’intencion ou reigles de grammaire. C’est a dire que en plusieurs endrois on parle a iceux ou d’iceux par sexe aucunefois masculine et aucunefois femenin, sans avoir la consideracion de leur denominacion ou habit. Car aussi j’entens, eu regard a la propriété de leurs noms, que leur figure soit autant monstrueuse que humaine“.



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Knaben heranführen würdet, um mir zu helfen, denn die Aufgabe eines solchen Mädchens ist es nur, eine Schüssel zu tragen; so ein Mädchen könnte nie Waffen schleppen und ertragen.“52 Und auch in den Umsetzungen dieser Figuren in den Moralités religieuses wird der Status der Personifikationen angesprochen: In der sehr verbreiteten Moralité de Bien Avisé et mal avisé, deren Aufführung spätestens für 143953 belegt ist, finden sich direkte Verweise an die Pilgerreise des menschlichen Lebens.54 So enthält das Stück am Beginn einen ironischen Fik­ tions­bruch: Confession weist den Hauptakteur, Bien avisé daraufhin, dass er jede Menge Frauen treffen wird, die seinen Weg säumen. Daraufhin ruft er erschüttert: „Heilige Muttergottes! Überall sind Frauen, Frauen rechts, Frauen links – ich weiß nicht, ob es Traum ist oder Fantasie, bin ich im Land der Weiblichkeit? Ja, so ist es wohl tatsächlich!“.55 Eben diese Klage findet sich auch im Pèlerinage de la vie humaine.56 Damit wird deutlich, wie sehr sich die in den Aufführungen allegorischer Texte handelnden Tugendpersonifikationen von den Nebengöttinnen, den Töchtern Gottes, entfernt haben, die möglicherweise nur innerhalb eines Textes Wirkung zu entfalten vermochten.57 Es sind verkleidete Gestalten, die ein ganzes Repertoire von Attributen mit sich herumtragen – ähnlich, wie auch

52 Guillaume de Digulleville, Die Pilgerreise (wie Anm. 8), 190, im Originaltext ebd., 60, vv. 4875–4882: „D’autre partie je cuidoie Si com de vous apris l’avoie Quë un vallet fort et legier M’amenissies pour moi aidier, Car le mestier de tel meschine N’est que de porter une tinne; Telle meschine armes porter Jamais ne porroit, n’endurer.“ 53 BNF, Rothschild 2797. Der Prolog der Moralité ist im Druck mit Szenenanweisungen versehen, und mit zwei ähnlich allegorischen Texten, mit Pas de la Mort und Olivier de la Marches Chevalier délibéré zusammengebunden. Die Aufführung des Mysterienspiels ist für 1439 in Rennes belegt. 54 Yvey le Hir, “Indications scéniques dans la Moralité: Bien Advisé et Mal Advisé,” Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 46 (1984), 399–405; Stéphanie Le Briz-Orgeur, “La réecriture du Pèlerinage de vie humaine dans la Moralité de Bien Avisé et Mal Avisé, in Guillaume de Digulleville: Les Pèlerinages allégoriques, ed. Frédéric Duval (Rennes 2008), 365–392. 55 „Saincte Marie! Es tousjours femmes, Femmes a dextre et a senestre […] Je ne scay se c’est songe ou faintie. Suis je au pays de femmenie? Je croy que ouy, en verité.“ Zugleich wird die Autorität der Figuren an maskuline Eigenschaften gebunden, wenn etwa, wie Werner Helmich es darlegt, das Stück Les Blasphemateurs die Kirche zwar als weibliche Personifikation mit männlicher Macht beschreibt, die aber „totallement du genre masculin“ sei, vgl. Helmich 1976 (wie Anm. 23), 52. 56 Camille 1985 (wie Anm. 8), 51. 57 Dass damit die Personifikationen in den literarischen Zusammenhängen gleichwohl als Kommentar über Geschlechterrollen zu sehen sind, wird offenkundig: Auch Martin de Francs Champion de Dames verbindet den allegorischen Weg mit einem Diskurs über den weiblichen Körper, dazu u.  a. Léon Barbey, Martin Le Franc, prévôt de Lausanne avocat de l’amour et de la femme au XVe siècle (Fribourg 1985), 78.

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in den Bildzyklen nach 1400 die Tugenden auf einmal die auffälligsten Kleider und Attribute mit sich herumführen. Parallel dazu verlieren die übermächtigen Figuren möglicherweise auch an göttlichen Eigenschaften  – ihre göttliche Verwandtschaft offenbart sich als ein rein rhetorisches Ausdrucksmittel, das vielleicht nicht zuletzt durch die überbordende Präsenz dieser Gestalten in Texten, in Theateraufführungen, in jeglichen Malereien an metaphysischer Potenz verloren hat.

Darwin Smith

Transformations du savoir religieux dans le théâtre français du Moyen Âge «Dieu a inventé le théâtre pour ceux à qui l’église ne suffit pas.» Juliusz Osterwa (1885–1947)1

Dans l’Europe d’avant la Réforme, le «savoir religieux»2 sous-tend non seulement l’ensemble des connaissances liées à la foi et au culte des communautés rattachées à l’Église de Rome, mais il conditionne aussi, sous une même autorité, l’élaboration générale du savoir: selon les propres termes des théologiens, garants de ce savoir, «Dieu est l’alpha et l’omega, le commencement et la fin» de toute chose en tant que fondement d’une connaissance suprême.3 Hors les lieux, communautés et personnes consacrées à la religion, au culte, à la théologie et au droit canon, le savoir religieux et les pratiques associées rythment le calendrier de la vie collective et les actes sacralisés de ceux qui étaient alors qualifiés de «laïcs». Par capillarité, ce savoir irrigue le cadre public et privé de la vie quotidienne, aussi bien l’architecture que les objets les plus usuels, et il s’exprime par la voix et l’écriture, par les arts figurés, les arts sonores et les arts du spectacle, dans de nombreuses manifestations qui relèvent aujourd’hui de l’histoire «culturelle». Au caractère multiforme du savoir religieux, il faut ajouter sa plasticité dans le temps. Il est question ici d’un «savoir», donc d’une connaissance qu’il faut apprendre, comprendre et réélaborer ou simplement intégrer et reproduire. Cette connaissance est fondée sur l’existence de textes canoniques et d’un livre sacré – la Bible  – interprétés par des personnes autorisées. Consacrées par l’Église ou graduées sous son égide dans des lieux de savoir – les facultés de droit civil, de décret et de théologie, les studia des ordres mendiants  –, ces personnes défi-

1 «Gott hat das Theater für diejenigen erfunden, denen die Kirche nicht ausreicht.», dans Juliusz Osterwa [Julian Andrzej Maluszek], Przez teatr – poza teatr [Par le théâtre – Au-delà du théâtre] (Kraków 2004), 109. 2 L’expression «savoir religieux» est entendue ici comme l’ensemble référentiel de connaissances d’une communauté de croyance. 3 «[…] qui est alpha et omega, initium et finis[…]»: le verset 8 de l’Apocalypse résume cette pensée, répétée et analysée par les clercs et théologiens tout au long du Moyen Âge (par exemple, Arnoul Gréban, au terme de son Commentaire à la Consolation de Philosophie de Boèce).

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nissent et incarnent les normes du savoir religieux dans ses utilisations juridiques, savantes ou cultuelles. Elles garantissent l’usage de la Bible et des textes canoniques, plus généralement de toute matière touchant la religion et ses dogmes. Mais, tout en étant normé et contrôlé par une autorité, ce savoir investit toutes les manifestations de l’esprit et du langage des hommes4, dont il accompagne les moindres actions, et auxquels il fournit des modèles de vie. C’est un savoir vivant, en constante tension selon les besoins des communautés rattachées à l’Église de Rome et les stratégies des individus qui adhèrent à cette foi.5 Les hérésies aussi bien que les procès touchant l’interprétation du dogme6, les intenses débats sur la réforme de l’Église, discutée tout au long du XVe siècle, l’évolution des pratiques du culte, les réformes des universités7, le renouvellement périodique de la glose biblique, tout comme l’infinie variété des manifestations «culturelles» du savoir religieux évoquées plus haut sont parmi les multiples témoignages de la plasticité de ce savoir. Le «théâtre français du Moyen Âge», l’autre terme du présent propos, est un concept de nature bien différente, tiré de l’histoire de la littérature. Ce concept fait référence à un corpus de textes identifiés comme «dramatiques» en vertu de leur présentation écrite caractérisée par les didascalies et les noms de rôles qui segmentent un texte versifié, et dont les plus anciens témoins remontent au XIIIe siècle. Les appellations génériques attachées aux textes de ce corpus – jeux, miracles, mystères, histoires, moralités, farces, soties  – se perpétuent jusqu’au milieu du XVIe siècle, quand se mettent en place la comédie, la tragédie, la tragi-

4 Ne serait-ce que par les formules de salutations, les invocations et les formules d’assertion: en ancien et moyen français, la locution «si m’aïst Dieu», d’usage extrêmement fréquent («que Dieu m’assiste si jamais […]»), est l’une des multiples manifestations de la pénétration du «savoir religieux» dans la langue. 5 Tout au long du Moyen Âge, existaient des communautés et des personnes qui échappaient ou souhaitaient échapper à l’autorité de l’Église de Rome, personnes et communautés détentrices de savoirs religieux déviants, et dont la connaissance ne nous est possible (à de rarissimes exceptions) que par des sources indirectes ou orthodoxes. 6 Ainsi le débat séculaire sur l’Immaculée Conception de la Vierge, que les Dominicains considéraient comme une superstition ce qui, à la suite d’un procès en Parlement (1387–1391), entraîna leur expulsion pour plusieurs années hors de l’Université de Paris. 7 Nous pensons en particulier à celle du cardinal d’Estouteville pour l’Université de Paris, promulgée le 1er juin 1452, car elle entre dans le détail des cursus des différentes facultés et concerne aussi l’organisation de la vie étudiante; sur un plan général, voir Jacques Verger, «La réforme de l’Université dans la France médiévale: acteurs, enjeux, moyens,» dans Les transformations des universités du XIIIe au XXIe siècle, sous la direction de Yves Gingras et Lyse Roy (Québec 2006), 1–15.



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comédie et la pastorale, formes constitutives du «théâtre français de la Renaissance».8 Notre corpus de référence, qui s’étale sur trois siècles (environ 1250– environ 1550) est ici qualifié de français au sens géographique et linguistique du terme.9

1 Le corpus du «théâtre français du Moyen Âge» En préalable à une esquisse des «transformations du savoir religieux dans le théâtre français du Moyen Âge», nous ferons quatre observations qui conditionnent la lecture et l’interprétation de ce corpus de référence.

1.1 1ère observation: le statut des manuscrits Le «théâtre français du Moyen Âge» recouvre des manuscrits de statut extrêmement différent, selon qu’ils sont destinés à la lecture méditative, pieuse ou récréative, à l’étude ou au jeu par personnages – tous ces statuts peuvent d’ailleurs faire partie du destin d’une même œuvre, comme c’est le cas de la Passion d’Arnoul Gréban.10 Ce mystère monumental de 35 000 vers, composé au milieu du XVe siècle, a servi de modèle pendant près d’un siècle à la majorité des Passions jouées au nord de la Loire.11 Il nous est connu par une dizaine de manuscrits, ce qui est rarissime pour une œuvre dramatique  – elles ne sont généralement connues que par un manuscrit unique. Cinq de ces manuscrits ont été préparés pour la méditation, la lecture pieuse ou l’étude, et cinq autres sont des «originaux» liés à la pratique dramatique.12 Cet exemple montre bien la diversité des

8 Entre «Moyen Âge» et «Renaissance», les contenus des formes dramatiques ne sont pas hermétiques: certains procédés d’écriture et de jeu présents dans les mystères et les farces se perpétuent dans la tragédie, la comédie et la tragi-comédie. Pour une introduction à l’ensemble de ces deux corpus voir Darwin Smith, Gabriella Parussa et Olivier Halévy, Le théâtre français du Moyen Âge et de la Renaissance (Paris 2014), 27 et suiv. 9 Voir Jelle Koopmans et Darwin Smith, «Un théâtre français du Moyen Âge?,» Médiévales 59 (2010), 4–19. 10 Édition de référence: Omer Jodogne, Le Mystère de la Passion d’Arnoul Gréban, Bruxelles, t. I, Edition critique, 1965; t. II, Observations, variantes, index et glossair (Bruxelles 1965–1983), 457 + 449. 11 Interpolée et remaniée, cette Passion à servi de base aux représentations d’Angers (1486), de Troyes (1482–1507), de Paris (1490, 1498, 1507), et de Mons (1501). 12 Sur la tradition de la Passion de Gréban, voir Darwin Smith, «Les manuscrits de théâtre,

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situations liées à la diffusion d’un même texte, tantôt à l’échelle d’un groupe de plusieurs milliers de spectateurs, tantôt restreinte à quelques auditeurs, voire à l’intimité d’une seule personne pour la lecture méditative.

1.2 2ème observation: le contenu des textes La très grande majorité des jeux, miracles et mystères ont pour sujet une vie, un événement ou une histoire liée au savoir religieux – Passions, vies de saint, miracles de la Vierge – et ils ont pour source un texte sacré, canonique ou savant (c’est-à-dire latin). Les moralités, identifiées par la présence de personnages allégoriques ou d’abstractions personnifiées, développent des contenus explicitement liés aux enjeux moraux et spirituels des actions et du destin de l’homme.13 Il existe un théâtre historique, comme le Mystère du siège d’Orléans, composé à partir de la chronique de la délivrance de la ville par Jeanne d’Arc14, ou comme le Jeu saint Loÿs, tiré des Grandes chroniques de France15: à l’instar des Passions et autres vies de saints, le savoir religieux y intervient de façon visible par la présence de personnages surnaturels – Dieu, les anges, les diables. L’Ystoire de la destruction de Troie, adaptée du roman de Benoît de Sainte-Maure, fait exception: n’y figure aucun personnage surnaturel.16 Dans les farces et les soties, dont les

introduction codicologique à des manuscrits qui n’existent pas,» Gazette du livre médiéval 33 (1998), 1–10, et idem, «La question du Prologue de la Passion ou le rôle des formes métriques dans la Creacion du Monde d’Arnoul Gréban,» dans L’Économie du dialogue dans l’ancien théâtre européen, éd. Jean-Pierre Bordier, (Paris 1999), 141–165; sur Arnoul Gréban, voir idem, Die Musik in Geschichte und Gegenwart, t. 7 (Kassel 2002), col. 1581–1584. 13 La moralité de L’Homme pêcheur, par exemple, met Homo aux prises avec Dyabolus, Peccatum, Venus, Pudor, Timor, Consciencia, Confessio, Spes, Misericordia, Penitentia, Satisfactio, etc. 14 Gérard Gros, Le Mystère du Siège d’Orléans [avec traduction] (Paris 2002), 1049; Vicky L. Hamblin, Le Mistere du siege d’Orleans (Genève 2002), 818. 15 Darwin Smith, Édition critique du Jeu saint Loÿs, ms Paris, B. N. fr. 24331 (Lille 1988), t. 1, 49–53. 16 Connu par une dizaine de manuscrits et autant d’imprimés, le texte a fait l’objet d’une édition critique (non publiée) par Marc-René Jung et d’une autographie par Edmund Stengel, L’Istoire de la destruction de Troye la Grant, translatée de latin en francoys, mise par parsonnages et composée par maistre Jacques Milet, … l’an mil quatre cens cinquante, le deuxiesme jour du moys de septembre, et imprimée a Paris par Jehan Bonhomme, le 12 de may mil quatre cens quatre vingts et quatre. Autographische Vervielfältigung des der königl. Bibliothek zu Dresden gehörigen Exemplars veranstaltet von E. Stengel, (Marburg / Leipzig 1883), VIII–434.



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arguments sont souvent issus de la tradition des jongleurs17, les personnages de prêtres et de clercs incarnent le savoir religieux, mais de façon comique, par le type dramatique incarné, tel que le moine paillard ou le clerc pédant. Un théâtre d’actualité est produit à l’occasion d’événements publiques petits ou grands, comme la signature de traités de paix, ou la réception d’un chapeau de cardinal.18 S’agissant de leur performance (et non de leur lecture), mystères, jeux et histoires n’étaient généralement qu’un moment dans le cours d’un événement aux multiples facettes festives et religieuses: la nature et l’extension des contenus sont étroitement liés au contexte de production: communauté urbaine qui organise la représentation d’une Passion ou de la vie du saint protecteur de la ville pour des raisons tout à la fois économiques, politiques et religieuses; troupe professionnelle qui joue son répertoire de farces et de moralités au marché, dans une hôtellerie ou à la cour du prince; confrérie qui, à l’occasion de son banquet annuel, célèbre la vie de son saint patron par un mystère.

1.3 3ème observation: le genre des œuvres La distinction «théâtre religieux» et «théâtre comique» traditionnellement utilisée pour catégoriser ce corpus est biaisée par les contenus. Les éléments comiques sont présents dans les miracles, vies de saints et Passions, et inversement la visée religieuse, apologétique ou morale structure certaines pièces «comiques». Dans l’œuvre la plus célèbre de notre corpus, la Farce de maître Pierre Pathelin19, le personnage principal, un escroc d’une inventivité prodigieuse, qui se présente comme un clerc, jure de façon permanente par Dieu et les saints.20 Première comédie du théâtre français, Maître Pierre Pathelin est certes une pièce comique, mais dont les deux protagonistes sont des incarnations exemplaires des péchés capitaux: Pathelin présente tous les symptômes de l’orgueil, et le Drapier Guil-

17 Parmi les importants articles de Michel Rousse, voir en particulier: «Propositions sur le théâtre profane avant la farce,» Tréteaux 1 (1978), 4–18, repris dans La scène et les tréteaux – Le théâtre de la farce au Moyen Age (Orléans 2004), 51–69. 18 Voir Smith / Parussa / Halévy 2014 (cit. n°8), 47 et suiv., 71. 19 Composée dans les années 1460–1470, Maître Pathelin est la seule pièce du théâtre médiéval français qui a été imprimée et éditée de façon continue depuis la fin du XVe siècle jusqu’à nos jours. Traduite dans toutes les grandes langues vernaculaires (même en espéranto), elle dépasse le cadre de la farce par sa longueur (1600 vers) et la complexité de sa structure qui en fait la première comédie avant Molière. 20 C’est même l’une des caractéristiques du personnage qui joue ainsi un rôle de faux dévôt, tel que l’illustrera, deux siècles plus tard et dans un autre contexte social, le Tartuffe de Molière.

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laume, sa victime, donne tous les signes de l’avarice. Le déroulement même de l’escroquerie du Drapier par Pathelin suit à la lettre la description clinique de la «8e manière d’avarice marchande» de la Somme le Roi de frère Laurent, un manuel d’instruction morale qui eut une grande diffusion en France et Angleterre aux XIVe et XVe siècles.21 L’une des deux plus anciennes versions de Maître Pathelin, intégrée dans un recueil de textes sur les péchés capitaux et les fins dernières, montre que l’œuvre a non seulement connu une lecture méditative et morale, mais qu’elle était aussi jouée dans cet esprit : une scène interpolée souligne l’orgueil luciférien du pseudo clerc escroc.22

1.4 4ème observation: la question des origines Contrairement à une légende tenace, encore présente dans les manuels les plus récents de l’histoire de la littérature et du théâtre, le «théâtre français» n’est pas né dans l’Église, au XIIe siècle, par une sorte d’épiphanie scripturale consécutive à la vernacularisation du drame latin, passé du chœur de l’église à son parvis.23 Tous les plus anciens textes de notre corpus – Jeu d’Adam, Jeu de saint Nicolas, Courtois d’Arras, Jeu de Robin et Marion, Le Garçon et l’Aveugle, etc.24 – sont des œuvres d’une exceptionnelle densité dramaturgique et dont les codes de langage, les principes de versification et d’économie dialogique se maintiendront jusqu’à la fin de notre période. Ces œuvres sont l’aboutissement des savoirs faire de deux traditions qui se sont conjuguées: d’une part, la tradition orale et gestuelle des jongleurs – une tradition de métier qui associe le chant, la récitation, la danse et le mime –, d’autre part, la tradition savante des clercs – au sens de ceux qui appartiennent à la «communauté maîtres et écoliers» (universitas magistrorum et scholarium) – qui pratiquent la construction rhétorique du discours oral ou écrit, commentent les textes canoniques et sacrés. Le milieu du XIIIe siècle est simplement le moment où les copistes commencent à formaliser à l’écrit, en colonnes,

21 Voir Darwin Smith, Maistre Pierre Pathelin: Le Miroir d’Orgueil, Texte d’un recueil inédit du XVe siècle (mss Paris, BnF fr. 1707 & 15080). Introduction, Edition, Traduction et Notes (Saint-Benoît-du-Sault 2002), 43. 22 Voir Smith 2002 (cit. n°21), 28–29. Traduction du passage dans Darwin Smith, Véronique Dominguez, La Farce de Maître Pierre Pathelin – La Farce de Maître Mimin (Paris 2008), 59–60, v. 979–1023. 23 Voir infra, en conclusion, la citation d’Edmond Jaloux. 24 Pour ces différentes œuvres, voir leur présentation et leurs éditions de référence dans Smith/ Parussa / Halévy 2014 (cit. n°8).



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les textes dramatiques selon une mise en page qui segmente avec des noms de rôles le ruban ininterrompu de la trame versifiée mémorisée.25

2 Les ‹transformations› du «savoir religieux» Nous exposerons maintenant deux «transformations» qui nous paraissent con­ stitutives du passage du «savoir religieux» dans le «théâtre français du Moyen Âge». La première est conséquente à la nature du medium dramatique, il s’agit de la mise par personnages (en anglais impersonation). La seconde est l’extension du texte, fruit de la pratique savante de la glose, conséquente à l’extraordinaire investissement de l’écriture dramatique par l’institution religieuse et ses représentants.

2.1 1ère «transformation» – la «mise par personnages» Le processus d’écriture d’un jeu (ludus) ou mystère (mysterium) à partir d’une source narrative – une chronique, une vita, la Bible – implique d’incarner un personnage par un langage et dans un environnement familiers au spectateur. Adam, Ève, Jésus, sainte Geneviève ou saint Louis en personnes énoncent – en langue vulgaire – les fondements du dogme et / ou jouent les événements clés d’une histoire exemplaire. Cette impersonation et la nécessaire mise en dialogue conduit aussi à la création ex-nihilo de nombreux autres personnages qui ont pour modèle des types sociaux bien identifiés de l’horizon collectif: le chevalier, le paysan, le religieux, la femme, l’enfant, les marginaux (pauvres, brigands, lépreux), les gens de métier (charpentier, charretier, maçon, bourreau, etc).26 Qu’il s’agisse de personnages humains ou surnaturels (Dieu, anges, diables), leur habillement, leur gestuelle et leur langage reflètent non seulement leur statut mais aussi leur nature. Les saints parlent une langue mesurée, parsemée de mots savants, alors que leurs tortionnaires s’expriment de manière grossière; les anges se déplacent en chantant des motets polyphoniques, démontrant ainsi leur union, alors que les diables bougent «de façon impétueuse» (cum impetu), en courant, sautant et hurlant les uns contre les autres, usant de mots ou des tournures savantes aussi bien que des imprécations. L’anarchie caractéristique des personnages de diables

25 Sur le formatage du texte et le caractère multimédial de l’écriture versifiée, voir Taku Kuroiwa, Xavier Leroux et Darwin Smith, «De l’oral à l’oral: Réflexions sur la transmission écrite des textes dramatiques au Moyen Age,» Médiévales 59 (2010), 17–40. 26 Voir Smith / Parussa / Halévy 2014 (cit. n°8), «La représentation de la société», 115 et suiv.

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illustre la «confusion» (confusio) de leur nature au stade d’incréation auquel Dieu les a renvoyés lors de leur chute avec Lucifer: sous un comique qui confine souvent au burlesque, les rôles de diables reflètent un chaos qui procède directement d’une vision savante du monde.27 L’harmonie polyphonique des anges, inversement, illustre le plus haut degré de construction d’une nature établie dans la proximité du Créateur. Pour ce qui est des personnages humains, en dépit de principes répondant à des stéréotypes qui permettent de forcer le trait d’une démonstration, les protagonistes des meilleures pièces ont une «épaisseur» adossée aux normes du savoir, nous dirions aujourd’hui «une psychologie». Ainsi l’orgueil de Pierre Pathelin, un péché capital, doit être compris comme une des catégories du tableau médiéval des passions de l’âme. Dans cette perspective, le Judas de la Passion d’Arnoul Gréban est peut-être le personnage le plus remarquablement construit de tout notre corpus. Rôle capital, en miroir avec celui de Marie-Madeleine, sa psychologie ne se dévoile que peu à peu, par petites touches. L’avarice – autre péché capital, autre passion de l’âme – prend possession de Judas par une série de frustrations accumulées à travers sa responsabilité de boursier28 de la communauté des apôtres: ces frustrations sont attisées par un orgueil blessé, notamment quand Jésus sollicite d’autres disciples que lui pour être accompagné au Mont Thabor lors de la Transfiguration. Sous les yeux du spectateur, se construit l’évolution d’un personnage qui, au fil des interactions, se détache de son maître qui l’avait pourtant placé dans une proximité enviable en lui confiant un rôle clé: c’est une démonstration exemplaire du libre-arbitre de l’homme.29 Une conséquence importante de la mise par personnages d’une histoire à partir d’une source narrative est la valeur référentielle que prendra son texte en cas de performance publique, du fait de la consistance testimoniale d’une parole publique.30 L’importance référentielle de la parole en performance conduit parfois

27 Gabriella Parussa, «Parole de diables: Essai d’une typologie du discours diabolique dans les mystères religieux du XVe siècle,» dans Pour acquérir honneur et prix: Mélanges Di Stefano, éd. Maria Colombo Timelli et Claudio Galderisi (Montréal 2004), 409–422. 28 C’est-à-dire «économe» ou gestionnaire de l’argent et des vivres donnés à la communauté. 29 Il s’agit d’un rôle long – 716 vers sur 34 500 – qui commence avec le recrutement des apôtres (2e jour, v. 10 981) et s’achève par le suicide de Judas juste avant la comparution de Jésus devant Hérode (3e jour, v. 21 967). 30 Jusqu’au Code Louis (1667), «témoin passe lettres», c’est-à-dire qu’en justice, le témoignage oral d’une personne prévaut sur la preuve donnée par un document écrit (dans la pratique, les situations sont beaucoup plus complexes, car il existe une multitude de variables – nombre et qualité des témoins et documents – mais c’est bien là l’esprit de la loi).



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à des situations inattendues qui mettent en lumière la délicate frontière entre théâtre et réalité: en 1470, à l’occasion d’un Jeu de sainte Barbe joué en Avignon, un certain maître Johannes de Castro fait enregistrer au préalable devant notaire que les «invocations et anathèmes des démons qu’il déclame dans le jeu ne sont pas dits selon son cœur mais par manière de jeu, et que, de ce fait, l’Ennemi diabolique ne possède aucun droit sur son âme […]».31 Si un texte écrit a été préparé en vue d’une représentation, il aura été contrôlé au préalable par les instances religieuses, royales et urbaines.32 Cependant, les textes que nous possédons ne sont jamais une reportatio de ce qui a été joué, même quand les manuscrits sont des originaux ou des rôles, c’est-à-dire les états du texte les plus proches de la situation de jeu.33 Ainsi, l’un des deux manuscrits du Mystère de la Résurrection joué à Angers en 1456 précise que sont «rejetées certaines additions particulières que certains des joueurs de ce mystère avaient cru bon d’y ajouter selon leur bon plaisir, et qui furent blâmées des maîtres en théologie qui avaient contrôlé et approuvé ce présent livre».34 De plus, comme on le voit par une enquête à Dijon en 1447 concernant un scandale lors d’une farce jouée pendant un mystère de saint Eloi, où le texte joué fut différent du texte écrit, le corps de l’éventuel délit

31 «1470, die prima julii. Protestatio pro magistro Johanne de Castro, magistro puerorum choralium s.  Petri Avinionensis. In mei notarii, etc. constitutus personaliter dictus de Castro fuit protestatus quod per invocaciones et anathemaciones demonorum quas faciet in ludo sancte Barbare luso in presenti civitate Avinion. et in cimiterio S. Symphoriani, ut prepositus, ipse non intendit dicere ex corde sed dumtaxat propter modum ludi, et quod propterea inimicus humane nature dyabolus non habeat aliquod jus in ejus animam etc. Actum in claustro ecclesie S. Petri Avinion. et in studio ejusdem.» (Brèves de F. Morini, minutes de Maître de Beaulieu); cité par Hyacinthe Chobaut, Annales d’Avignon et du comtat venaissin 5 (1917), 14. 32 Un comité est généralement réuni, composé des personnes les plus importantes et influentes à un titre ou un autre, mais parmi lesquelles on retrouve immanquablement des représentants des différentes autorités, royales, religieuses et urbaines. Parmi de multiples exemples: à Vienne, le 23 mai 1400, se réunissent trente-trois habitants de la ville «parmi lesquels un docteur ès lois, le recteur de Saint-Sever, celui des écoles de Vienne, le lieutenant de l’official et un clerc, assemblés dans la salle capitulaire des frêres prêcheurs» pour décider la représentation de la Passion et Résurrection (voir Jacques Chocheyras, Le théâtre religieux en Dauphiné, du Moyen Age au XVIIIe siècle [Genève 1975], 38–40); à Romans, en 1508, les consuls de la ville, les représentants du chapitre de Saint-Barnard, qui sont co-seigneurs de la ville, et plusieurs notables personnes décident ensemble la représentation du Mystère des Trois Doms (Chocheyras, ibid., 21 et suiv.). Paris est un cas à part, car la situation y est plus complexe qu’ailleurs, du fait de la présence royale et de toutes les plus hautes juridictions et institutions du royaume, sans oublier l’Université. 33 Sur la typologie des manuscrits de théâtre, voir Smith 1998 (cit. n°12), et Smith / Parussa / Halévy 2014 (cit. n°8), 32, et planches 104–107. 34 Voir Pierre Servet, Le Mystère de la Résurrection – Angers (1456) (Genève 1993), t. I, 12, 81.

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demeure insaisissable.35 Ce caractère référentiel mais labile de la parole dramatique explique pourquoi les autorités surveillaient attentivement ce qui était dit en performance. Le cardinal Gabriele Paleotti, expert en livres interdits auprès de la curie pontificale, et consulté au Concile de Trente sur la censure des pièces de théâtre, était favorable à leur interdiction en bloc; la raison qu’il donne mérite d’être relevée pour sa concision synthétique: Ça ne suffit pas de dire qu’on lise d’abord ces comédies pour en enlever ce qu’il y a de mauvais: en pratique, ça ne marche pas, parce que les comédiens y ajoutent toujours des mots ou des répliques qui ne sont pas écrites; de plus, ils ne mettent rien par écrit, si ce n’est le résumé ou l’argument, et ils font tout le reste all’improvviso; vouloir après les condamner pour ce qu’ils disent est très difficile.36

2.2 2ème «transformation» – La glose comme facteur de l’extension du texte Au XVe siècle, les grands jeux et mystères atteignent régulièrement des dimensions considérables (20 000 à 30 000 vers) parfois monumentales (60 000 vers)37 par rapport aux textes du siècle précédent (3000–4000 vers au maximum). Cette évolution est d’abord le résultat d’un investissement sans précédent du medium dramatique par les institutions ecclésiales et leurs clercs – théologiens, juristes et canonistes –, forts de la validation donnée par Thomas d’Aquin au jeu, au métier d’acteur et à sa rémunération: Le jeu (ludus) est une nécessité de la vie humaine. Or tout ce qui est utile à la vie humaine peut être accompli par des métiers licites (officia licita). C’est pourquoi même le métier de comédien (officium histrionum), qui a pour but de délasser les hommes, n’est pas en soi illicite; les comédiens ne sont pas en état de péché, pourvu qu’ils pratiquent le jeu avec modération, c’est-à-dire en n’y employant pas de propos ou d’actions illicites, et en ne s’y

35 Voir Marie Bouhaïk-Gironès, «Le procès des farceurs de Dijon  (1447),» European Medieval Drama 7 (2003), 117–134. 36 Gabrielle Paleotti fut célèbre, en tant qu’archevêque de Bologne, pour son activité de censeur en matière de peinture; le texte original de son intervention sur le théâtre au Concile de Trente est donné par Ferdinando Taviani, La Commedia dell’Arte e la società barocca: La fascinazione del teatro (Roma 1969), 39. 37 Comme pour le Mystère des Actes des Apôtres, composé par Simon Gréban (frère d’Arnoul) pour le roi René d’Anjou (entre 1473 et 1478): voir Darwin Smith, Gabriella Parussa, Naomi Kanaoka, Charlie Mansfield, Le Mystère des Actes des Apôtres  – Edition électronique en ligne [EELMAA], Paris, CNRS / Anr, 2006–2009: http://eserve.org.uk/anr/ [01. 11. 2015].



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livrant pas en des circonstances et des temps défendus. […] C’est pourquoi ceux qui leur accordent des subsides modérés ne pèchent pas, mais agissent avec justice, en leur attribuant le salaire de leurs services.38

Dès le XIIIe siècle, on connaît le cas de clercs auteurs de jeux dramatiques – Rutebeuf, maître Adam de la Halle. Avec le temps, ils se multiplient comme auteurs de mystères, et on rencontre même des frères mendiants metteurs en scène.39 Ce n’est certainement pas un hasard si la Passion qui a connu la plus vaste diffusion a été produite au cœur de l’institution ecclésiale: en 1452, Arnoul Gréban, jeune disciple d’un des plus célèbres théologiens de son temps, Thomas de Courcelles, compose sa Passion au cloître de Notre-Dame de Paris, en prenant pour modèle une autre Passion rédigée vingt ans auparavant par un docteur en droit canon, doyen de la faculté de Décret, Eustache Mercadé.40 A la fin du siècle, le chanoine Guillaume Flamand, compose à Langres un mystère de saint Didier ainsi que des histoires pour des entrées royales à Dijon, et à Romans, en 1508–1509, le chanoine Pra rédige un mystère des Trois Doms sous le contrôle des commissaires du chapitre de la cathédrale Saint-Maurice et des consuls qui, au nom du Dauphin, sont co-seigneurs de la ville41; pendant ce temps, à Troyes, Pierre Desrey, remanieur de la Passion d’Arnoul Gréban, se fait le traducteur en français des Postilles de Nicolas de Lyre, la glose biblique de référence.42 Si le développement de cette forme d’écriture dramatique monumentale n’aurait pas été possible sans l’appui des autorités ecclésiales et royales au plus au

38 Thomas d’Aquin, Summa Theologica, IIa IIae Pars, Questio 168: La modestie dans les mouvements extérieurs du corps, article 3 («Le péché par excès de jeu»), solution à l’objection 3; la traduction proposée est celle de l’édition numérique de la Bibliothèque de l’édition du Cerf, 1999. 39 Hervé Martin, Le métier de prédicateur en France septentrionale à la fin du Moyen Age (1350– 1520) (Paris 1988), a analysé le développement concomitant des représentations de mystères avec certaines campagnes de prédication: il cite plusieurs cas de frères prêcheurs auteurs et metteur en scène, notamment frère Pierre Odion, à Châlons-sur-Marne, dans les années 1480. 40 La faculté de théologie de l’Université de Paris demeure au XVe siècle la régulatrice des pratiques religieuses dans le royaume (et même au-delà). Au chapitre de Notre-Dame de Paris sont réunis les plus importants maîtres-régents (enseignants) théologiens et canonistes; voir Darwin Smith, «Arnoul Gréban ou l’universitaire naissance des mystères,» dans Pour une poétique du théâtre médiéval, éd. Xavier Leroux (Paris 2011), 185–224. 41 Voir référence supra, note 32. 42 Nous ne citons ici que trois cas, choisis parmi ceux dont on possède encore les textes: de nombreuses situations sont documentées où des clercs en situation institutionnelle sont responsables de l’écriture et de l’organisation de la performance mais dont on ne possède plus le texte préparé pour la représentation. On connaît aussi le cas de clercs en rupture de ban ou gyrovages devenus joueurs professionnels (Smith / Parussa / Halévy 2014 [cit. n°8], 58).

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niveau, le phénomène n’est pas moins remarquable au niveau de l’écriture. En effet, il répond à divers procédés rhétoriques, en particulier l’amplificatio43, mais surtout, pour les textes les plus longs, à l’exploitation de la technique de la glose et des commentaires bibliques – Glossa ordinaria, Postilles de Nicolas de Lire.44 Plus important encore, la dramatisation est pensée comme un commentaire non seulement textuel, mais aussi gestuel, visuel et sonore. En effet, l’appropriation de l’écriture dramatique par des clercs n’est pas seulement l’application d’une technique intellectuelle à un medium, mais fonctionne aussi, inversement, comme l’assimiliation des moyens propres aux arts du spectacle. Cette assimilation se manifeste dans la marge des originaux45 de mystères par l’insertion d’un signe («crochet») qui introduit une glose non textualisée destinée à illustrer la situation du texte par le geste ou la voix de l’acteur, par un élément du décor ou un effet de machinerie. Par sa graphie et sa fonction, ce signe est directement hérité de la pratique de la glose, par le renvoi qu’il opère entre le texte d’autorité et son commentaire.46 Pour résumer ce que que nous avons évoqué ici, aussi bien à travers la «psychologie» de certains personnages et que par l’usage de la glose dans l’écriture, on peut voir que la forme dramatique où s’exprime le «savoir religieux» n’était pas le catéchisme simpliste d’une théologie en réduction, mais résultat d’une alliance profonde entre les techniques intellectuelles savantes et les arts du spectacle. Même si, par la nature même du médium dramatique, beaucoup d’éléments de ces performances nous échappent, nous pouvons saisir les principes structurants de formes qui visaient à transmettre au plus grand nombre, et selon des élaborations complexes, les fondements de l’histoire du monde et de la

43 Sur l’amplificatio telle qu’elle est pratiquée à partir d’une vita pour la composition d’un texte dramatique au début du XVe siècle, voir Gabriella Parussa, Edition du ms 1131 de la Bibliothèque Sainte-Geneviève (à paraître). D’autres facteurs formels, de nature polyphonique et polytopique, interviennent dans cette monumentalisation de l’écriture, mais nous n’en parlerons pas ici car ils nécessiteraient de trop longs développements: à ce sujet, voir Smith / Parussa / Halévy 2014 (cit. n°8), 38 et suiv. 44 L’utilisation de la glose, en particulier des Postilles de Nicolas de Lire par Arnoul Gréban, a été mise en évidence par Emile Roy, Le Mystère de la Passion en France du XIVe au XVIe siècle (Dijon 1903). 45 Un original est un manuscrit qui sert de modèle, pour un lieu donné et pour une représentation donnée, où il est utilisé comme base à toute la production écrite nécessaire: rôles, registres divers, panneaux, etc. Les originaux se reconnaissent à un ensemble de facteurs codicologique, paléographique et internes (voir les références données supra, note 12). 46 Voir les photos de crochets et nos commentaires dans Smith / Parussa / Halévy 2014 (cit. n°8), 45, 104, 106, 107.



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vérité révélée, mais tout en demeurant «théâtre», c’est-à-dire, comme le rappelle Brecht, «récréation».47

3 Conclusion «Dieu a inventé le théâtre pour ceux à qui l’église ne suffit pas.» Juliusz Osterwa, auteur de cette formule lapidaire, est un acteur et dramaturge aussi emblématique dans l’histoire du théâtre polonais que son contemporain Louis Jouvet (1887–1951) en France. Pour les hommes de leur génération, il était évident que le théâtre était né dans l’église, une vision résumée de façon exemplaire par Edmond Jaloux, dans son Introduction à l’histoire de la littérature française: Le théâtre, en France, a les mêmes origines que dans le monde hellénique: action religieuse; dessein d’émouvoir les foules, pieusement, par le spectacle des mystères divins. Il est à supposer qu’il n’y ait jamais eu d’autres causes au drame initial et que la scène demeure un lieu sacré en soi, organisé pour la divulgation des mythes, quelles qu’aient pu être les déchéances auxquelles, par la suite des temps, il fut contraint de céder. […] Ce fut d’abord en latin que s’exprimèrent les récitants chargés de figurer, sous les voûtes des cathédrales, les personnages de l’Ancien et du Nouveau Testament. Mais dès le XIIe siècle, l’idiome populaire commença de le remplacer. Avec ce français primitif, le jeu scénique prit une expansion nouvelle. Il sortit du choeur de la pénombre étoilée de cierges; il gagna le grand air, s’organisa devant le parvis de l’église. Les laïques remplacèrent les prêtres et les clercs. Ce fut dans cette période de transition que fut donnée la représentation d’Adam.48

Même si, en tant qu’historien, sur la base de l’exploration des traditions textuelles, de leurs contenus et des documents liés aux arts du spectacle, nous récusons cette vision évolutionniste du théâtre médiéval, il n’en demeure pas

47 «1. Le théâtre est une reproduction vivante et qui vise à divertir d’événements rapportés ou inventés où des hommes se trouvent face à face. C’est en tout cas ce que nous entendons chaque fois que nous parlons de théâtre, de ses formes anciennes ou modernes. 2. Pour donner une plus grande extension à ce concept, nous pourrions inclure dans notre énoncé les événements qui mettent aux prises les hommes et les dieux; mais comme nous ne visons qu’à le définir dans sa compréhension la plus étroite possible, nous pouvons nous en dispenser. D’ailleurs, en admettant que nous élargissions ainsi la portée du terme, la définition du rôle essentiel de cette institution n’en resterait pas moins la même: il est de récréation. C’est la plus noble fonction que nous lui ayons trouvée.» (Bertolt Brecht, Petit Organon pour le théâtre, dans Ecrits sur le théâtre (Paris 1963), 173–174. 48 Edmond Jaloux, Introduction à l’histoire de la littérature française, t. 1, Des origines à la fin du Moyen-Age (Genève 1946), 103–104.

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moins qu’une proximité quasi ontologique entre religion et théâtre est attestée dans bien des cultures. En Inde, le Nātyashāstra, composé au début de notre ère, considéré comme le 5ème Veda, ou livre sacré, est un traité d’art dramatique qui fut glosé tout au long du Moyen Âge jusqu’à la période moderne: depuis l’Antiquité, existait une réflexion théorique sur les conditions de production et les techniques de jeu dramatique, réflexion nourrie par les pratiques rituelles et sacrées.49 Au Japon, l’art du Nô, complément non-liturgique des fêtes religieuses, a été théorisé et renouvelé de façon magistrale pendant la première moitié du XVe siècle par Zeami, héritier et chef d’une des plus célèbres troupes de son temps.50 A la même époque en Europe, en particulier en France, la manière dont l’institution ecclésiale s’est appropriée et a développé le medium dramatique est une autre illustration de cette proximité entre religion et théâtre. La plasticité du savoir religieux, son élaboration dans les formes les plus savantes aussi bien que son processus de transformation et de validation dans l’écriture dramatique nous conduisent à rappeler ce que Ludwik Fleck avait analysé dans Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache51, traduit en français sous le titre Genèse et développement d’un fait scientifique.52 Pour Fleck, le savoir est construit par des «communautés de pensée» qui produisent un «style de pensée», lesquelles valident par leur autorité les normes de ce savoir. Selon sa vision, il ne saurait y avoir de différence fondamentale entre la production d’une connaissance scientifique et de quelqu’autre forme de savoir, y compris religieux. Une citation résumera mieux sa position, que nous faisons nôtre pour la manière dont, selon nous, elle rend conceptuellement parfaitement compte des cercles d’élaboration, de contrôle et de diffusion du savoir religieux dans le théâtre du Moyen Âge. Il existe, indépendamment d’une organisation formelle et objective d’un collectif stable (par exemple l’organisation constituée par une communauté ecclésiale, un syndicat, etc.) des caractéristiques structurelles communes à toutes les communautés de pensée en tant

49 La traduction anglaise de référence demeure celle Manomohan Ghosh en deux volumes (1951, 1961), accompagnée de l’édition du texte, également en deux volumes (1956, 1967), publiés à Calcutta: The Nātyaśāstra, a treatise on Hindu dramaturgy and histrionics, ascribed to Bharata-muni …; translated for the first time from the original Sanskrit. 50 René Sieffert, Zeami: La tradition secrète du nô, suivi de Une journée de nô, traduction et commentaire (Paris 1960). 51 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache  – Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv (Frankfurt a. M. 1980); première édition chez Benno Schwabe & C°, Bâle, 1935. 52 Ludwik Fleck, Genèse et développement d’un fait scientifique (Paris 2005); réédition  (Paris 2008).



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que telles. Cette structure générale du collectif de pensée consiste en ce qui suit: autour de chaque configuration de pensée, que ce soit un dogme religieux, une idée scientifique ou une théorie artistique, se constituent à la fois un petit cercle esotérique et un cercle exotérique plus large, chacun étant composé de membres du collectif de pensée. Un collectif de pensée consiste en de nombreux cercles de ce type se recoupant les uns les autres. Un individu appartient à plusieurs cercles exotériques et à un petit nombre, si ce n’est aucun, cercles esotériques. Il existe une hiérarchie scalaire dans l’initiation ainsi que de nombreux fils reliant les différents niveaux d’initiation et les différents cercles.53

53 Fleck 2008 (cit. n°52), 183–184. Texte original  (cit. n°51, 138–139): «Wie oben angedeutet, gibt es, unabhängig von der eventuellen sachlich-formellen Organisation eines stabilen Kollektivs (z.  B. der Organisation einer Kirchengemeinschaft, einer Gewerkschaft usw.), gemeinsame Strukturmerkmale aller Gemeinschaften des Denkens als solcher. Diese allgemeine Struktur des Denkkollektivs besteht darin: Um jedes Denkgebilde, sei es ein Glaubensdogma, eine wissenschaftliche Idee, ein künstlerischer Gedanke, bildet sich ein kleiner esoterischer und ein größerer exoterischer Kreis der Denkkollektivteilnehmer. Ein Denkkollektiv besteht aus vielen solchen sich überkreuzenden Kreisen, ein Individuum gehört mehreren exoterischen Kreisen und wenigen, eventuell keinem esoterischen an. Es gibt eine stufenweise Hierarchie des Eingeweihtseins und viele Fäden, die sowohl die einzelnen Stufen als auch die verschiedenen Kreise verbinden.»

Uta Dehnert

Dem nechsten auch zw nucze Das Meisterlied bei Hans Sachs als Instrument zur Kommunikation über religiöses Wissen als handlungsleitendem Movens innerhalb des städtischen Gemeinwesens

1 Zwischen Norm und Praxis: Religiöses Wissen als Diskurs Georg ­Schmidt1 bezeichnet die Reformationszeit als ein „Laboratorium“ in Deutschland, „in dem einerseits um den wahren und den einheitlichen Glauben gerungen wurde, andererseits jedoch politische Pluralität und Ansätze von Multikulturalität praktisch erprobt werden konnten“. In diesem Zusammenhang hatte Religion die Funktion sowohl einer individuellen als auch einer kollektiven Wert­orientierung. Religiöses Wissen lässt sich im 16. Jahrhundert, bezogen auf den Interessensbereich im Kontext der Beschäftigung mit den Meisterliedern von Hans Sachs, zwischen zwei Polen verorten: Zum einen kann Wissen dem Glauben gleichgesetzt werden oder dasselbe ordnet sich, insofern es zum Glauben different ist, demselben unter. Es handelt sich hierbei um praktisches Wissen, das als Handlungs- oder Erfahrungswissen, im Sinne von „über etwas Bescheid wissen“, definiert werden soll. Zum anderen entwickeln sich in der Reformationszeit Wissensbestände, die sich von der Glaubensdominanz emanzipieren, sich dabei fortschreitend abstrahieren und auf diese Weise den Weg zu ersten neuzeitlichen wissenschaftlichen Denkstrukturen ermöglichen. Dieses lässt sich als Bildungswissen definieren.2 Religiöses Wissen ist demzufolge erstens derjenige Bestandteil, der mit dem Glauben (hier kann ergänzt werden: dem reformatorischen Glauben, denn er ist

1 Georg ­Schmidt, „Freiheit, Pluralität und Frieden: Überlegungen zur deutschen Re­for­ma­tions­ geschichte,“ in Faszinierende Frühneuzeit: Reich, Frieden, Kultur und Kommunikation 1500–1800. Festschrift für Johannes Burkhardt zum 65. Geburtstag, ed. Wolfgang E. J. Weber und Elisabeth Böswald-Rid (Berlin 2008), 75–94, hier 93. 2 Die Gegenüberstellung folgt Hans-Jürgen Goertz, „Von der Kleriker- zur Laienkultur: Glaube und Wissen in der Reformationszeit“, in Macht des Wissens: Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, ed. Richard van Dülmen und Sina Rauschenbach (Köln u.  a. 2004), 39–64, hier 42  f.

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bezogen auf eine Glaubenspraxis, die mehr und mehr durch die konfessionelle Spaltung geprägt ist) übereinstimmt. Religiöses Wissen ist zweitens zugleich praktisches Wissen. So verbindet beispielsweise Hans Sachs seine Lehren immer mit Handlungsanleitungen für den „gemeinen Mann“ und schöpft für sämt­liche Dichtungen aus dem städtischen Alltag Nürnbergs. Gleichzeitig ist religiöses Wis­sen drittens humanistisch-reformatorisch inspiriertes Wissen. Religiöses Wissen befindet sich also im Spannungsfeld zwischen der theoretischen Aushandlung und Aneignung desselben sowie der Notwendigkeit, dieses in der alltäglichen Praxis zu strukturieren und anzuwenden. Ausgetragen wird die Diskussion um den Wahrheitsanspruch von religiösem Wissen und den Umgang mit demselben innerhalb des Mediums Literatur. Sie bietet die Möglichkeit des experimentellen Auslotens unterschiedlichster Wissenspraktiken und Handlungsspielräume und ist damit selbst Ausdruck dieses Spannungsfeldes: Literarische Texte imaginieren Handlungen in fiktionalen Räumen und also gleichsam auf Probe; sie spielen kontrafaktische Annahmen durch und entwickeln Szenarien, in denen differenzierte Planungen angestellt, Vermutungen getestet und Erfahrungen formuliert werden können. In symbolischer Weise sprechen sie Abwesendes aus, machen Unsichtbares sichtbar und erlauben so Beobachtungen, die anderen Perspektiven verschlossen bleiben.3

Vor diesem Hintergrund lässt sich ein Wechselwirkungsprozess beschreiben: In offenen Systemen mischen sich die Gestalten des Geschaffenen, des Gelebten und des Gedachten, so Bernd Schneidmüller und Stefan Weinfurter. Um einer solchen Struktur Ausdruck zu verleihen, formulieren sie den Begriff der Ordnungskonfiguration – eine zusammengesetzte lediglich konstruierte Bezeichnung, die sich aus den lateinischen Begriffen ordines und figurae heraus begreift.4 Nach Schneidmüller und Weinfurter ist es die Imagination (= Vorstellung in den Köpfen), die hinter den Ordnungen steht. Jeder Gedanke wird erst in dem Augenblick greifbar, wenn er sich in einer Ordnung manifestiert und auf diese Weise seinen Ausdruck findet. So lässt sich ein Kreislauf beschreiben: Das Denken (= die gedachte Ordnung) beeinflusst das Handeln (= die umgesetzte Ordnung). Die gedachte Ordnung bezieht sich hierbei auf Wertevorstellungen, auf Kategorien und Methoden, verbunden mit der Frage: Wie wird Ordnung hergestellt? Die umgesetzte Ordnung ist dagegen die Art und Weise der Ordnung, wie sich diese in der Realität äußert. Im Feld dazwischen befinden sich die Akteure. Diese werden

3 Ralf Klausnitzer, Literatur und Wissen: Zugänge, Modelle, Analysen (Berlin / New York 2008), VII (Vorwort). 4 Vgl. Bernd Schneidmüller und Stefan Weinfurter, „Ordnungskonfigurationen: Die Erprobung eines Forschungsdesigns,“ in Ordnungskonfigurationen im Hohen Mittelalter, ed. dies., Vorträge und Forschungen 64 (Ostfildern 2006), 7–18, hier 16.



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erst durch die umgesetzte Ordnung bestimmt, denn nur eine solche ist als konkrete Realisation greifbar. Gleichzeitig erweist sich durch die umgesetzte Ordnung, welchen Einfluss die Akteure auf die dahinterstehende imaginative Ordnung nehmen. Der Akteur wird Produkt und Handelnder zugleich, wechselseitig beeinflusst vom gedanklichen Konzept und umgesetzten Ausdruck desselben. Will man das System erschließen, müssen Denkweisen, Vorstellungen, Wahrnehmungen auf unterster Ebene für jeden einzelnen Akteur untersucht werden. Von der Ordnung kann auf die Vorstellung derselben geschlossen werden und umgekehrt. ‚Ordnung‘ erscheint demzufolge als eine Kategorie menschlicher Lebensbewältigung und in diesem Sinne als historische Kategorie. In solchen Zusammenhängen gesehen, befinden sich Ordnungskonfigurationen in einem ständigen Entwicklungsprozess, denn sie reagieren auf sozialen Wandel und sozialethische Veränderungen ebenso wie auf neue Wissensund Erkenntnismöglichkeiten und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Deutungsmuster.5

Übertragen auf das Medium Literatur bedeutet das, dass sich diese in einem Wechselwirkungsprozess zwischen verschiedenen Konstanten befindet, die sie sowohl als Produkt kulturellen Wissens als auch als Ursache desselben bestimmen. In beide Richtungen findet Austausch statt; in der Mitte wirkt Literatur als Medium der Vermittlung, indem sie (im Beispiel religiöses) Wissen selektiv aufnimmt, verarbeitet und an ihr Umfeld wieder abgibt – letzteres jedoch niemals neutral, wodurch Literatur wiederum religiöses Wissen beeinflusst und verändert. „In literarischen Texten beobachten, hinterfragen, problematisieren und affirmieren Kulturen ihre dominanten Wissensordnungen“.6

2 Meistergesang als ein Forum der Aushandlung von religiösem Wissen Der Meistergesang ist, so Erich Kleinschmidt7, symptomatisch für die gesamte Stadtgemeinschaft durch seine einzigartige Verbindung von literarischer Pro-

5 Schneidmüller / Weinfurter 2006 (wie Anm. 4), 9  f. 6 Birgit Neumann, „Kulturelles Wissen und Literatur,“ in Kulturelles Wissen und Intertextualität: Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur, ed. dies.  u.  a., ELK 22 (Trier 2006), 29–51, hier 30. 7 Vgl. Erich Kleinschmidt, „Literatur und städtische Gemeinschaft: Aspekte einer literarischen Stadtkultur in der Frühen Neuzeit,“ in Literatur in der Stadt: Bedingungen und Beispiele städtischer Literatur des 15. bis 17. Jahrhunderts, ed. Horst Brunner (Göppingen 1982), 73–93, bes. 77  f.

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duktion und Rezeption mit Geselligkeit und Didaxe. Die Bezugnahme auf die gesamte Stadtgemeinschaft ergibt sich daraus, dass Teile der Singveranstaltungen der Meistersinger in öffentlichem Rahmen stattfanden8: Das städtische Publikum konnte somit daran partizipieren und hatte mithin an der Aushandlung religiösen Wissens im Prozess des Lieddichtens teil, indem es als Multiplikator der im Meisterlied rezipierten Erzählkerne aus der Singveranstaltung nach außen fungierte. Die Singschulen konstituierten einen festen Bestandteil des städtischen öffentlichen Lebens. Kleinschmidt weist außerdem darauf hin, dass die Aktivitäten der Meistersinger „in Rezeption und Produktion den Versuch erkennen [lassen], das kulturelle Handeln einem gemeinen Nutzen der Gesamtstadt unterzuordnen und es damit ideell zu vergesellschaften“.9 Die Singschule war in diesem Zusammenhang Ausdruck des Selbstverständnisses der Meistersinger: So kann sie hinsichtlich ihrer Lehr- und Diskussionsambitionen als „literarisches Fortbildungssystem“10 und hinsichtlich ihres strengen Reglements als Instrument der Eigendisziplinierung verstanden werden. Die Tatsache, dass sich (in der Mehrheit) Handwerker in einer Gemeinschaft von Meistersingern zusammenfanden, sich innerhalb ihres Standes selbst organisierten und einen Zirkel von Laien bildeten, der sich im Dichten von Meisterliedern übte und sich dabei mit religiösen und lebensweltlichen Themen auseinandersetzte, verweist auf das Bedürfnis dieser Gruppe nach eigenständiger Sinnstiftung und gegenseitiger Rückversicherung. Innerhalb dieser Vereinigung verschränken sich die Bereiche von praktischem und humanistisch-reformatorischem Wissen insofern, als insbesondere

8 Die Singveranstaltungen der Meistersinger lassen sich grundsätzlich in drei Bereiche gliedern: das Freisingen, das Hauptsingen und das Zechsingen. Die Hauptsingen sowie die Zechsingen waren nicht-öffentliche Veranstaltungen, in denen die Meistersinger unter sich blieben. Die Themen der Hauptsingen waren geistliche Stoffe und beschäftigten sich vorrangig mit der Versifikation biblischer Inhalte. Das Freisingen dagegen bot die Möglichkeit, dass auch Gäste und andere auswärtige Fremde beziehungsweise Durchreisende eigene Lieder vortragen und die eigene Kunstfertigkeit unter Beweis stellen konnten. Im Freisingen waren, im Gegensatz zum Hauptsingen, sowohl geistliche als auch weltliche Stoffe zugelassen. In Nürnberg wurden die Freisingen ab 1611 protokolliert, vgl. Karl Drescher, Hg., Nürnberger Meistersinger-Protokolle von 1575–1689, 2 Bde, StLV 213 / 214 (Tübingen 1897). 9 Erich Kleinschmidt, Stadt und Literatur in der frühen Neuzeit: Voraussetzungen und Entfaltung im südwestdeutschen elsässischen und schweizerischen Städteraum, Literatur und Leben N. F. 22 (Köln 1982), 183. 10 Die überaus treffende Bezeichnung bietet Marcel Lepper, „Wo die Meistersinger das Lesen lernten: Elementarbildung in Nürnberg um 1500,“ in Elementarbildung und Berufsausbildung 1450–1750: Arbeitsgemeinschaftstagung im Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (Köln 2005), 125–144, hier 133.



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Handwerker für alltägliche Handarbeit stehen, diese sich aber gleichzeitig am Diskurs über religiöses Wissen beteiligten. Die Singschule lässt sich mithin als eine Art Mikrokosmos der Stadt verstehen, denn in ersterer bildeten sich eben die Strukturen ab, die als Rahmenbedingungen für die Ausübung eines Handwerks innerhalb einer Stadt als konstitutiv zu sehen sind. Beispielsweise lassen sich die Aufnahmeregeln in den Kreis der Meistersinger und die innerschulische Hierarchisierung mit den Aufstiegsbedingungen im Handwerk vergleichen. Wird die These von der Singschule als Mikrokosmos der Stadt ernst genommen, bietet sich die Möglichkeit, sie als Ordnungskonfiguration zu analysieren, als ein Segment, das in sich die zwei wesentlichen Kernbereiche von gedachter und gelebter Ordnung enthält und miteinander verschränkt. Denn der konkrete Rahmen der äußeren Organisation demonstriert anschaulich die praktische Erfahrung des Handwerks, zu welchem die Mitglieder der Singschule mehrheitlich gehören; gleichzeitig setzen die vorzutragenden Liedinhalte normative Ansprüche und verhandeln religiöses Wissen. Beide Bereiche kommen insofern ganz konkret miteinander in Berührung und bedingen sich wechselseitig, als die Tabulaturen als Bestandteil der Singschulordnungen formale und inhaltliche Regeln zur Neuschöpfung und zum Vortrag der Lieder enthalten. Ganz offensichtlich sind sie damit von den zunftgemäßen Regeln zur Ausübung eines Handwerks inspiriert. Folgerichtig lässt die Organisation der Singschule Rückschlüsse auf das Postulat meistersingerischen Dichtens zu  – Dichtung ist Handwerk! Die Singschulen richten sich dabei nicht nur nach innen auf die eigene Singgesellschaft, sondern bilden das Kontaktforum zwischen den Meistersingern und Handwerkern verschiedener Städte. Auf diese Weise wirken sie als Multiplikatoren religiösen Wissens von einer Gesellschaft in die andere und sind damit für die Untersuchung von Transfers- und Transformationsprozessen desselben prädestiniert. Außerdem lassen sich die meisten Neubürger unter den Meistersingern ausmachen, was Irene Stahl11 exemplarisch für Nürnberg aufgezeigt und dahingehend interpretiert hat, dass die Singschule einen sozialen Raum bildete, der für Auswärtige als wichtige Anlaufstelle zur Integration in der Stadt und ihrer bürgerlichen Gesellschaft fungierte. Die Nürnberger Meister-

11 Vgl. Irene Stahl, Die Meistersinger von Nürnberg: Archivalische Studien, Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte  33 (Nürnberg 1982), 35. Auf die Vorbildfunktion der Nürnberger Meistersingergesellschaft nimmt ebenfalls Bezug Dieter Merzbacher, Meistergesang in Nürnberg um 1600: Untersuchungen zu den Texten und Sammlungen des Benedict von Watt (1569–1616), Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 39 (Nürnberg 1987), 418  f. und nennt exemplarisch die Meistersinger von Breslau und Iglau, die sich nachweislich an Nürnberg orientierten.

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singergesellschaft war ab dem 16. Jahrhundert als Vorbild für Gesellschaften in anderen Städten ein besonderer Anziehungspunkt. Es lässt sich abschließend postulieren, dass sich innerhalb der Singschulen dieselben Strukturen auf mikrokosmischer Ebene abbilden, die für den mentalitäts- und ideengeschichtlichen Makrokosmos der Stadt konstitutiv sind. Die Singschulen der Meistersinger lassen sich damit als Keimzellen verstehen, in denen sich in einer Art Mikrokosmos – also in einem in sich geschlossenen, jedoch von innen nach außen wie auch von außen nach innen durchlässigen Zirkel – darstellt, was in der Großstruktur, dem Makrokosmos der Stadt bereits angelegt ist: Mit Hilfe der Meistersingergesellschaften lässt sich die Stadt als Lebens- und Erfahrungsraum nicht nur begreifen, sondern zielgerichtet analysieren. Es lassen sich Erkenntnisse zu bildungstheoretischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Fragestellungen ebenso ableiten, wie Antworten auf Fragen zu strukturellen, kommunikativen, lebenspraktischen und literaturwissenschaftlichen Aspekten. Wichtiges Medium als Zugriffspunkt bilden dabei die Meisterlieder, denn in ihnen kommt im Kleinen zum Ausdruck, was sich im Großen manifestiert. Hörisch bringt das auf die Formel: „Dichter sagen das, was sie sagen, dichter, verdichteter als es in anderen Diskursen üblich ist“.12

3 Handhabbarmachung religiösen Wissens am Beispiel der Fabel im Meisterlied von Hans Sachs 3.1 Fabeln im Funktionszusammenhang der Reformation Mit der Nutzanwendung von Fabeln steht Hans Sachs ganz im Zeichen der Reformatoren: Fabeln, wie auch größte Teile des humanistischen Lehrkanons, blieben in den durch die Reformation neuorganisierten Schulen13 im Lehrplan erhalten,

12 Jochen Hörisch, Das Wissen der Literatur (München 2007), 31. 13 Vgl. dazu den Aufruf Luthers in seiner Schrift An die Ratherren aller Städte deutsches Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen, in WA 15, 9–53. Melanchthon nennt drei Funktionen der Fabel, die diese für den Unterricht prädestiniere: sie eigne sich zur Charaktererziehung, schärfe das Urteilsvermögen der Schüler und fördere das Verständnis der Heiligen Schrift. Diese Gründe nennt Melanchthon in den Schulordnungen von Eisleben (1525) und Herzfeld (1538). Hier angegeben nach Reinhard Dithmar, Hg., Texte zur Theorie der Fabeln, Parabeln und Gleichnisse (München 1982), Einleitung, 18 und wieder in ders., Hg., Martin Luthers Fabeln



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denn sie eigneten sich auf hervorragende Weise im Unterricht zur Übung von Sprache und Grammatik. Vor allem aber waren Fabeln für Martin Luther14 mit zwei weiteren gesellschaftlichen Funktionen verbunden: Zum einen sollten sie die Jugend belehren und in Kunst und Weisheit erziehen, zum anderen ermöglichten sie versteckte (scharfe) Kritik an der Obrigkeit.15 Die Belehrung der Jugend wurde erreicht durch Anschaulichkeit, Eingängigkeit der Handlung und durch Freude und Lust an der Geschichte, die „grossen Fürsten und Herrn“ dagegen „kan man nicht bas betriegen zur Warheit und zu jrem nutz, denn das man jnen lasse die Narren die Warheit sagen, dieselbigen können sie leiden und hören, sonst wöllen oder können sie von keinem Weisen die Warheit leiden“. Grund dafür ist: „Ja, alle Welt hasset die Warheit, wenn sie einen trifft“.16 und Sprichwörter (Darmstadt 2010), Einleitung, 12 sowie 236  f. Mit der Funktion der Fabel setzt sich Melanchthon grundlegend in seiner Schrift De utilitate fabularum (1526) in CR 11 (1843), 116–120 auseinander. 14 1536 entwirft Luther in seiner Aesopi commendatio einen Plan für eine Fabelausgabe. Hier bezeichnet er die Lektüre des Äsop (wie auch der Schriften des Cato) als am wichtigsten gleich nach der Bibel: „[…] aber Aesopus hat feine, liebliche res et picturas; ac si moralia adhibeantur adolescentibus, tum multum aedificant. Und als viel ich urtheiln und verstehen kann, so hat man nächst der Bibeln keine bessere Bücher, denn des Catonis scripta, und die Fabulas Aesopi […]“, WA TR 3, Nr. 3490, 353–355, hier 355,14–17. Ebenso schon 1530 in der Vorrede zur Äsop-Ausgabe (= WA 50, 452–455, hier 452,14–19): „Djs Buch von den Fabeln oder Merlin ist ein hochberuembt Buch gewesen bey den allergelertesten auff Erden, sonderlich unter den Heiden. Wiewol auch noch jtzund, die Warheit zu sagen, von eusserlichem Leben in der Welt zu reden, wuesste ich ausser der heiligen Schrifft nicht viel Buecher, die diesem uberlegen sein solten, so man Nutz, Kunst und Weisheit und nicht hochbedechtig Geschrey wolt ansehen“. Diese Rangfolge greift Johannes Mathesius (1504–1565) in seiner siebenten Predigt (Fastnacht 1563) auf: „das nach der heyligen schrifft / die feinste weltweyßheyt in vernünfftigen fabeln zu finden ist / wer allein den selben mit fleyß nachdencke“. Abdruck der Predigt: Johannes Mathesius, „Die VII. predig / von der Historien des Herrn D. M. Luthers. Die siebende predig / von Jothans Mehrlein / Judicum am ix. zur Faßnacht. M. D. LXIII,“ ed. Dithmar 1982 (wie Anm. 13), 70–76, Zitat 71. 15 Vgl. die Vorrede (1530) zu Etliche Fabeln aus Esopo, von D. M. L. verdeudscht, sampt einer schönen Vorrede, von rechtem Nutz und Brauch desselben Buchs, jederman wes Standes er auch ist, lüstig und dienstlich zu lesen. Anno M. D.XXX. Abgedruckt in Dithmar 2010 (wie Anm. 13), 157–164. Hier zit. nach WA 50, 452–455, hier 452,19–23: „Denn man darin unter schlechten Worten und einfeltigen Fabeln die allerfeineste Lere, Warnung und Unterricht findet (wer sie zu brauchen weis), wie man sich im Haushalten, in und gegen der Oberkeit und Unterthanen schicken sol, auff das man klueglich und friedlich unter den boesen Leuten in der falschen, argen Welt leben muege“. Auf diese Belegstelle berufen sich u.  a. Martin Brecht, Luther als Schriftsteller. Zeugnisse seines dichterischen Gestaltens (Stuttgart 1990), 14 sowie Gerd Dicke, Heinrich Steinhöwels „Esopus“ und seine Fortsetzer. Untersuchungen zu einem Bucherfolg der Frühdruckzeit, MTU 103 (Tübingen 1994), 317. 16 Vgl. die Vorrede (1530) zu Etliche Fabeln aus Esopo, von D. M. L. verdeudscht, sampt einer schönen Vorrede, von rechtem Nutz und Brauch desselben Buchs, jederman wes Standes er auch ist,

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Die Fabel eignet sich aus dem Grund besonders gut als Medium für Kritik und Belehrung, da sie durch den spezifischen Charakter ihrer Protagonisten, also das Arsenal der Tiere oder belebte und unbelebte Gegenstände der Natur, Interpretationsspielräume eröffnet, die bei direkter Benennung von Sachverhalten und bei Zuweisung derselben in den Mund menschlicher Akteure zu riskant und provokativ wären. Tiere eignen sich insbesondere für die allegorische Darstellung menschlicher Eigenschaften, sie provozieren dadurch „Schlüsselreize“17, die ohne sprachliche Mittel erzeugt werden können und die nicht ausführlich beschrieben oder erklärt werden müssen, da sie sich allein durch ihre Setzung18 und ihre Einbettung in der jeweiligen Fabelhandlung ergeben. Klaus Grubmüller19 zufolge bietet die Fabel die Möglichkeit, Lehren zu transportieren und sich dabei gleichzeitig einer aggressiv-gegenläufigen Reaktion des Rezipienten zu entziehen. Der parabolische Charakter der Fabel schütze den Autor derselben, indem er den Fokus auf die Entchiffrierung der Handlung lege. „Das Verstehen des Textes schiebt sich so pointiert zwischen Autor und Hörer, es schiebt sich vor das Verstehen des Autors, es nimmt den Sprecher im Kommunikationsvorgang zurück“.20 Damit bleibt die Wirkung der Fabel und ihr Erkenntnisgehalt dem Verständnis des Rezipienten überlassen: In seiner Hand liegt es, Kritik entgegenzunehmen und konkret umzusetzen oder aber dieser bewusst oder unbewusst auszuweichen.

lüstig und dienstlich zu lesen. Anno M. D.XXX. Abgedruckt in und zitiert nach Dithmar 2010 (wie Anm. 13), 157–164, hier 159 (= WA 50, 452–455, hier 453). 17 Wolfgang Bauer und Clemens H. Zerling, Lexikon der Tiersymbolik. Mythologie – Religion – Psychologie (München 2003), Grundlegung (Wolfgang Bauer), 14–23, hier 18. 18 Bauer 2003 (wie Anm.  17), 18–20: Bauer untermauert diese Argumentation mit modernen Beispielen aus der Werbebranche, in der Tiere verwendet werden, um bestimmte Assoziationen beim Konsumenten auszulösen. Diese haben durchaus dauerhaften Charakter; das Tier wird zum Symbol und schließlich zum Synonym der beworbenen Marke, zum Beispiel Muschel (Shell), Kranich (Lufthansa), Löwe (Lion), Krokodil (Lacoste), Jaguar (Autohersteller Jaguar), Dromedar (Zigarettenmarke Camel), Höllenhund Zerberus (Agip). 19 Klaus Grubmüller, „Zur Pragmatik der Fabel: Der Situationsbezug als Gattungsmerkmal,“ in Textsorten und literarische Gattungen: Dokumentation des Germanistentages in Hamburg vom 1.–4. April 1979, ed. Vorstand der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten (Berlin 1983), 473–488, hier 486. 20 Grubmüller 1983 (wie Anm. 19), 486.



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3.2 Fabeln im Meisterlied bei Hans Sachs Hans Sachs bekennt sich mit der Wittenbergisch Nachtigall (1523) und den darauf folgenden vier reformatorischen Prosadialogen (1524) zu den Ereignissen der Reformation und prägt in Nürnberg als Meistersinger den nachreformatorischen Meistergesang. Dabei lässt sich mit Berndt Hamm festhalten: „Er ist keine Kopie Luthers in Kleinformat oder Handwerkerausgabe. Rezeption Luthers bedeutet bei ihm sogleich Umformen und Weiterdenken“.21 Als Meistersinger betreibt Sachs Literaturproduktion ähnlich wie die praktische Handarbeit seines Schusterhandwerks. Für ihn scheint sich jede Vorlage, gleich welcher Provenienz, für die Popularisierung reformatorischer Lehren zu eignen. Zwei unterschiedliche Formen lassen sich hierbei feststellen, nämlich Meisterlieder mit geistlichen Stoffen einerseits, deren Grundlage maßgeblich die Bibel ist, und Meisterlieder mit weltlichen Stoffen andererseits, deren Rezeption sich aus antiken Anekdoten, Fabeln, Schwänken, historiographischen Texten und vielem anderem mehr speist. In beiden Bereichen ist die Zielsetzung gleich: Die Aushandlung religiösen Wissens und der Versuch der Handhabbarmachung desselben in der Praxis des frühneuzeitlichen städtischen Gemeinwesens. Der gemeine Nutzen und die Konzentration auf die diesseitigen Belange des städtisch-bürgerlichen Alltags sind Interessen, die in der Auseinandersetzung mit der Reformation verstärkt in den Fokus rücken. Sie sind Ergebnis einer rationalen Beschäftigung mit der Bibel, lassen sich zurückführen auf deren Postulat der Nächstenliebe und wurden schließlich mit dem von Max Weber geprägten Begriff der „Entzauberung der Welt“ in Verbindung gebracht.22 Um die genannten Aspekte im Detail zu untersuchen, werden im Folgenden zwei Meisterlieder von Hans Sachs bemüht, in denen das städtische Arbeitsethos mit Lob und Kritik von Tugenden und Lastern verbunden wird. In beiden Liedern wird der Schaden, der aus dem Zuwiderhandeln gegen den gemeinen Nutzen entsteht, offengelegt und in zwei Richtungen funktionalisiert: Während er sich in der Fabel Der spieler mit dem dewfel (1539) gegen den Protagonisten selbst richtet, also nach innen, richtet sich der Schaden in der Fabel Die spin mit der pin (1540) gegen den Nächsten, also nach außen.

21 Berndt Hamm, Bürgertum und Glaube: Konturen der städtischen Reformation (Göttingen 1996), 197. 22 Vgl. für den Zusammenhang stellvertretend Helga Schnabel-Schüle, Die Reformation 1495– 1555: Politik mit Theologie und Religion (Stuttgart 2006), bes. 56  f.

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3.2.1 Die spin mit der pin23 – Die Fabel im Meisterlied als Lehrstück für die Funktionsweise eines vorbildlich-sozialen Gemeinwesens Die Fabel Die spin mit der pin stellt zwei Verhaltensweisen einander gegenüber, versinnbildlicht in den bereits im Titel genannten Tieren Spinne und Biene, die letztlich ein unterschiedliches Arbeitsethos charakterisieren und damit auf die Form eines sozialen Gemeinwesens verweisen. Schon in Sachs’ Vorlage, im Buch der Natürlichen weiszheit24, lautet das einleitende Thema: Wider dye die arbeyt fliehend vnd wllendtt des raubes pflegen. Die Fabel diskutiert, inwiefern religiöses Wissen, das sich in den Dienst des gemeinen Nutzens stellt, in einer Stadt handhabbar gemacht werden kann und wie es sich in dessen Folge im Sozial­ gefüge der Stadt ausdrückt.25 Die Spinne webt Netze, um Mücken zu fangen, damit sie auf diese Weise ohne eigene (redliche) Arbeit ihren Lebensunterhalt

23 Edition bei Edmund Goetze und Carl Drescher, Hg., Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs, Bd. 3, Die Fabeln und Schwänke in den Meistergesängen, Neudrucke deutscher Literaturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts 164 / 169 (Halle a. S. 1900), Nr. 116, 246  f. sowie Karl Goedeke, Hg., Dichtungen von Hans Sachs: Erster Teil: Geistliche und weltliche Lieder (Leipzig 1870), Nr. 47, 114–116. Zitation und Versangaben beziehen sich auf Goetze / Drescher. Die Fabel geht zurück auf die in der zweiten Hälfte des 14. Jh. entstandene Fabelsammlung Speculum Sapientiae Beati Cirilli Episcopi, alias Quadripartitus Apologeticus vocatus, hier Buch 3, Kap. 15. Wie im Titel ersichtlich, nennen die lateinischen Ausgaben einen Cyrillus Episcopus als Autor. Der Verfasser ist allerdings wohl Bonjohannes de Messana. Die deutsche Übersetzung stammt von Ulrich Pottenstein (gest. 1416 / 17). Die erschienenen Drucke, sowohl in der lateinischen Originalfassung als auch in ihrer deutschen Übersetzung, sind im Gesamtkatalog der Wiegendrucke unter den Nummern 07889 bis 07897 verzeichnet, jeweils verbunden mit den verfügbaren Faksimiles. Der Titel der deutschen Übersetzung lautet Das buch der Natürlichen weiszheit, Drucker: Anthonio Sorg, Augsburg 1490. Diese Ausgabe habe ich im Faksimile der HAB Wolfenbüttel eingesehen. Andere Exem­plare vgl. das angegebene Verzeichnis der Wiegendrucke sowie Johann Georg Theodor Grässe, Hg., Die beiden ältesten lateinischen Fabelbücher des Mittelalters: Des Bischofs Cyrillus ‚Speculum sapientiae‘ und des Nicolaus Pergamenus ‚Dialogus creaturarum‘, Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart  148 (Stuttgart  1880), hier 285  ff. Dass es darüber, welcher konkrete Druck Hans Sachs tatsächlich zur Verfügung stand, keinen Konsens gibt, zeigt, dass Adelbert von Keller und Edmund Goetze, Hg., Hans Sachs, Bd. 26, StLV 250 (Stuttgart 1908), 178 [abgekürzt: KG] den Druck von Anthonio Sorg (Augsburg 1490) nennen, Goedeke die Baseler Ausgabe 1520 nachweist und sich schließlich Goetze / Drescher auf die lateinische Originalfassung in der Ausgabe von Grässe beziehen. Da die Quellenlage letztlich nicht klärbar ist, beziehe ich mich auf die lateinische Ausgabe nach Grässe sowie auf die deutsche Erstausgabe Augsburg 1490. 24 Vgl. Anm. 23. 25 Die Fabel erwähnt Joseph Beifus, „Hans Sachs und die Reformation bis zum Tode Luthers,“ MVGN 19 (1911), 1–76, hier 49 im Zusammenhang von Sachs’ Kritik an den Kaufleuten, denen die Laster Geiz, Wucher und Fürkauf vorgeworfen werden. Die Augsburger und Nürnberger Kaufleute waren wegen des Wuchers besonders berüchtigt, vgl. ebd., 25.



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Abb. 1: Titelbild der Fabel von Spinne und Biene im Buch der Natürlichen weiszheit (HAB Wolfenbüttel, http://diglib.hab.de/inkunabeln/153–4-quod-2f-3/start.htm, 01. 11. 2015).

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erlangt. Im Gegensatz dazu sammelt die Biene den Blütennektar, der wiederum nicht nur ihr selbst, sondern auch dem Nächsten dient. In der folgenden Gegenüberstellung von Rahmenbedingungen und Verhalten im Arbeitsprozess soll die Antithese verdeutlicht werden: Spinne

Biene

Arbeitsort/Arbeitsmaterial/Produkt List/Netze spinnen schalckhaftiges necz

Str. 1, V. 9

suptile neczlein mit schwinden listen

Str. 1, V. 14 Str. 2, V. 30

Mücken Darin sie mecken fahen wolt Vnd so pald fallen in mein necz / Die schnacken oder mecken

Str. 1, V. 2 Str. 2, V. 20  f.

Blumen/Bienenstock Samlen der suesen pluemen Str. 1, V. 7 seft Dw flewgest vmb den ganczen Str. 2, V. 25  f. tag / Auf rosen, kle vnd pluemen / […] werckestw in dem pin stock Str. 2, V. 27 Honig/Wachs Ich perait honig vnd das wachs Str. 2, V. 35

Arbeitsverhalten Lebensunterhalt ohne Arbeit […] in stiller rw / On arbeit Str. 1, V. 4  f. mcht erneren On alle arbeit, me vnd Str. 1, V. 17  f. angst, / Das mir nie sawer wre On alle me ich sie verheft Str. 2, V. 22

Lebensunterhalt mit Arbeit Der vnrw kanst nit lawgen

Betrug / Schaden am Nächsten petriegen Str. 1, V. 8 Vnd pringen vmb ir leben Str. 1, V. 3 […] secht / Den nechsten zw Str. 2, V. 30  f. verstricken

Nutzen für den Nächsten

Parasit Thw in ir pluet ausagen Vnd sawgest aüs dem vnschelding sein plete! Rechts- und Ordnungsbruch Entgegen recht vnd eren         ↓ Egoismus Schaden für den allg. Nutzen

Ich aber mich mit arbeit ner Dein narng mest mit arbeit vberkmen

Thw vil lewt mit erqüicken Dem nechsten km zw gete

Str. 2, V. 23 Str. 2, V. 32

Str. 1, V. 10         ↓ Altruismus Einsatz für den allg. Nutzen

Str. 2, V. 28 Str. 2, V. 33 Str. 2, V. 24

Str. 2, V. 36 Str. 2, V. 34



Dem nechsten auch zw nucze 

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Form und Inhalt sind, wie im Meisterlied zu erwarten, aufeinander bezogen: Die ersten beiden Stollen sind so aufgebaut, dass jeweils jeder Vers des zweiten Stollens je auf den entsprechenden Vers des ersten Stollens antwortet, d.  h. dass sich die Tätigkeiten von Spinne und Biene direkt aufeinander beziehen lassen (so wie in der Tabelle dargestellt).26 Zweimal, jeweils zu Beginn des Abgesangs der ersten beiden Strophen, reagiert die Biene streng ablehnend27 auf das Verhalten der Spinne, was jeweils im darauf folgenden Vers dadurch unterstrichen wird, dass die Spinne entsprechend der Rüge der Biene negativ charakterisiert wird als mit laster […] pehaft (Str. 1, V. 12) und als mit schwinden listen secht (Str. 2, V. 30). Im Netz der Spinne werden Mücken gefangen mit dem Ziel diese zu pringen vmb ir leben (Str. 1, V. 3; Reim auf Str. 1, V. 1: weben). In dieser Eigenschaft, dass die Spinne Netze webe, darin ihr Opfer finge, fessele und fresse, repräsentiert die Spinne das Böse und wird dem Teufel zugeordnet: So wie die Spinne Insekten, so fängt der Teufel Menschen.28 Diese Konnotation unterstützend ist es kein

26 Biene und Spinne sind einander traditionell Gegenbilder, so Zerling 2003 (wie Anm. 17), hier Art. „Spinne / Weberknecht“, 290–292, hier 291. Das begründet sich in ihrer Tätigkeit, die sich übersteigernd aufeinander beziehen lässt: Beide Tiere sind fleißig und arbeitsam, sie unterscheiden sich jedoch in ihren impliziten Bezügen; während die Biene Sinnbild für Reg- und Arbeitsamkeit im Dienste des Nächsten ist, verglich Ambrosius „das scheinbar sinnlose Bemühen der Spinne, ihr leicht zerstörbares Netz wieder herzustellen, mit maßloser menschlicher Geschäftigkeit; mit der Vergeblichkeit unablässig menschlichen Schaffens aus Habgier und Ruhmsucht“ (ebd., S. 292). Hans Sachs war diese Dichotomie aus der Naturalis historia von Plinius d. Ä. in der deutschen Übersetzung des Heinrich von Eppendorf, gedruckt in Straßburg 1543 (VD 16 P 3552, Digitalisate hierüber zugänglich) bekannt: CAij Plinij Secun/||di von Veron/ Natürlicher Hi=||story Fünff Bcher.|| Namlich das || vij Von der Menschen vnd || Vlcker wunderbarlichen gestalten … || viij Von den Thyeren/ so vff dem Erdtreich wonen.|| ix Von der Fisch allerley geschlecht … || x Von dem Gefgel … || xj Von den Kryechenden … Thyeren/|| … Newlich durch Heinrich von Eppendorff || verteütscht.||Zů Straßburg/ bey Hans Schotten zům Thyergarten.|| Nach der geburt Christi M. D. xliij.|| Hier heißt es in Buch XI Von allerley art der Abgespaltenen Thyerer/ vnd iren geschlechten im.xix. Capitel Von anderen Kranckheyten vnd schden der Ymmen, Bl. clxxxvj: „Die spynnen seind gantz ir [der Bienen, d. Vf.] feind. wen̄ sye spynnweben in dem korb machen / so tdten sye was darinnen ist“. 27 Str. 1, V. 11: Scharpf sie die spinnen darmb straft; Str. 2, V. 29: Die pin sprach: „Dein re sey verflecht, […]“ 28 Vgl. Sigrid und Lothar Dittrich, Lexikon der Tiersymbole: Tiere als Sinnbilder in der Malerei des 14.–17. Jahrhunderts, Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte  22 (Petersberg 2004), hier Art. „Spinne“, 503–505, bes. 503 und Anm. 4 sowie Zerling 2003 (wie Anm. 17), hier Art. „Spinne / Weberknecht“, 290–292. Die Spinne wird in Europa ambivalent gedeutet, so wird sie durchaus auch als Weltenspinne, die den Lebensfaden webt, positiv konnotiert und statt als Symbol des Bösen gleichermaßen als Symbol des Gefühls sowie als Symbol des Fleißes verstanden.

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Zufall, dass gerade eine Mücke29 gefangen wird, die in der christlichen Symbolik und Ikonographie des 15. bis 17. Jahrhunderts für Sündhaftigkeit steht und die als Begleiter beziehungsweise als Symbol des Teufels abgebildet wird. Folgerichtig sind Sünde, falscher Glaube und Ketzerei die bezeichnenden Attribute, die der Mücke, resp. der Fliege, zugeordnet werden. Begründet wird das Verhalten der Spinne, die in ihrem Netz Mücken fängt, bei Sachs jedoch nicht vordergründig durch dämonische Assoziationen, sondern vielmehr in der Einrichtung durch die Natur (Str. 1, V. 13: die natre). Es sei also eine in den Naturgesetzen verankerte Eigenschaft der Spinne Netze zu weben, um damit den smer lang / […] narng [zu] gewinnen (Str. 1, V. 15  f.). Die Aussage lässt sich auf die Welt des Rezipienten übertragen: Die Faulheit entspricht der tierischen Natur des Menschen, wohingegen Fleiß und Arbeitswillen Überwindung eben dieser Natur erfordern und zur Tugend führen; repräsentiert die Spinne ein lasterhaftes Leben, so die Biene das entgegengesetzte Modell. Letztere verkörpert bei Hans Sachs, so lässt sich präzisieren, das arbeitsame Lebensmodell der städtischen Handwerker (Str.  2, V. 33–36 [Hervorhebung d. Vf.]): Ich aber mich mit arbeit ner, Dem nechsten km zw gete. Ich perait honig vnd das wachs; T h w vil lewt m it e rq ü icke n.

Symptomatisch für das Selbstbewusstsein der Handwerker leitet Hans Sachs die Vorstellung dieses Gegenmodells in der Rede der Biene durch die personale Nennung Ich ein. Die Biene beruft sich im gleichen Vers auf die Arbeit, ihr Tagewerk, das sie ernährt. Bereits in der Wortwahl lässt sich ablesen, wie durch das

29 Vgl. Dittrich / Dittrich 2004 (wie Anm. 28), hier Art. „Fliege“, 153–157 (hier auch weiterführende Literaturhinweise) sowie Zerling 2003 (wie Anm. 17), hier Art. „Fliege / Mücke“, 103  f. Im reformatorischen Kontext ist die Metaphorik der Fliege angewendet auf den Teufel überaus gebräuchlich. Das zeigt nicht zuletzt die Zitation des Bildes in Martin Luthers Tischreden: Luther begründet seine Abneigung gegen Fliegen damit, dass sie „sunt imago Diaboli et haereticorum“. Der Transfer in die Praxis der Tischgenossen Luthers ähnelt auffällig dem konstruierten Zusammenhang bei Hans Sachs, denn der Teufel, so Luther, lenke den Menschen, genau wie die Fliegen, bei einer konzentrierten Tätigkeit wie zum Beispiel dem Lesen eines schönen Buches, vom christlichen Lebensstil ab: „Also thut der Teufel auch; wenn die Herzen am reinesten sein, so kömmt er und scheißt drein. Wenn ich am allerlustigsten und geschicktesten zum Beten bin, da komm ich etwa mit meinen Gedanken gen Babylonien […]“, WA TR 6, Nr. 6871, hier 244,6–15.

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lutherisch-reformatorische Verständnis die tägliche (Hand-)Arbeit30 aufgewertet worden ist, insbesondere dadurch, dass sich diese Arbeit in den Dienst des Nächsten stellt. Im Abgesang der dritten Strophe wird das Motiv, übertragen auf Rezipientenebene, wieder aufgenommen (Str. 3, V. 47–51 [Hervorhebung d. Vf.]): Pey der pinen pedewten sent All, die sich neren m it de r h e n t , D em nechsten au ch z w n e cz e , Vnd sich im schwais irs angesichtes neren, Wie got in dem anfang gepot;

Signifikant wird hier auf die Handarbeit verwiesen, die, wie die Arbeit der Biene, ihren Sinn nicht nur in sich selbst erschöpft, sondern über sich hinaus auf den Nutzen des Nächsten verweist. Damit folgt die Fabel der traditionellen Auslegung der Biene als Symbol christlicher Lebensführung.31 Im Bienenkorb wird der vorbildliche, gerechte Staat32 symbolisiert und die Organisation des Bienenstaates wird in christlicher Allegorese auf die christliche Gemeinschaft und die Kirche mit Christus als Herrscher33 gedeutet; die einzelnen Gläubigen sind die Christen und entsprechen den Arbeitsbienen. Geschicklichkeit, Weisheit, Fleiß, unermüdliche Wachsamkeit und Reinheit sind die Eigenschaften, die der Biene im Besonderen

30 Das Selbstbewusstsein von Hans Sachs in Bezug auf seine Tätigkeit als ein Handwerker, der sich mit der eigenen Hände Arbeit ernährt, lässt sich an prominenter Stelle zitieren, in „Beschluß inn dises fünffte und letzte Buch. Summa all meiner Gedicht, vom MDXIII Jar biß ins 1567 Jar,“ in Hans Sachs: Werke in der Reihenfolge ihrer Entstehung, Bd. 3, 1554 bis zum Ende, ed. Roger A. Crockett und Wolfgang F. Michael (Bern u.  a. 1996), 247–256, hier V. 23  f.: Thet der Schumacher handwerk lehrn/ Mit meiner Handarbeit mich zu nehrn […]. 31 Vgl. ausführlich Dittrich / Dittrich 2004 (wie Anm. 28), hier Art. „Biene, Bienenkorb, Hummel“, 49–51 (hier auch weiterführende Literaturhinweise) sowie Zerling 2003 (wie Anm. 17), hier Art. „Biene“, 44–47. 32 Der Bienenstaat symbolisiert zunächst ganz generell ein vorbildlich organisiertes Gemeinwesen. Diesen Zusammenhang könnte Hans Sachs wiederum aus der Naturalis historia von Plinius d. Ä. (vgl. oben Anm. 26) rezipiert haben. Hier wird in Buch XI im.xvij. Capitel Was die Ymmen fr ein Regiment fren, Bl. clxxxiiij die Gehorsamkeit der Bienen gegenüber ihrem König [sic! Plinius rezitiert die männliche Form] betont. Diese versammeln sich durchgängig um ihr (Staats-)Oberhaupt, schützen es und schirmen es nach außen gegen andere ab. Der Bienenkönig ist als einziger von der Arbeit ausgenommen. Beim Auszug aus dem Bienenstock fliegt dieser nur gemeinsam mit seinem Staat aus, wobei ihm jede einzelne Biene am nächsten sein möchte „vnnd frewet sich / das sye in seinem dyenst soll gesehen werden“. Die hier vorliegende Beschreibung, die sich offensichtlich hervorragend eignet, um mit ihrer Hilfe eine Allegorisierung hinsichtlich einer vorbildlichen säkularen Gesellschaftsordnung durchzuführen, bietet deutlich Ansatzpunkte für die weiterführende Interpretation des Bienenstocks als eines christlichen Staates. 33 So Origenes, Homiliae in Isaiam II,2 (GCS Origenes 8, 251–252 Baehrens).

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zugeordnet werden, ergänzt durch die ihr zugeschriebene Eigenschaft innerhalb des Bienenstaates, im übertragenen Sinn einem sozialen Gemeinwesen, sich dem Allgemeinnutzen des Staates unterzuordnen. Die Perspektive lässt sich weiter engführen, wird die biblische Anspielung (Gen  3,19) im angegebenen Zitat ernst genommen. Das Bibelwort, dass der Mensch im Angesicht seines Schweißes sein Brot essen solle, ist bereits so volkstümlich, dass sich der Verweis schon in der Sprichwortsammlung des Johannes Agricola findet.34 Abschließend wird die Handarbeit einem göttlichen Grundgesetz gleichgesetzt, da der Befehl göttlichen Ursprungs ist und als gepot bezeichnet wird (Str. 3, V. 51). Ziel desselben ist ein gottgefälliges Leben (Das ist mit got vnd eren, Str. 3, V. 52). Als logische Konsequenz wird in den letzten beiden Versen des Liedes darauf hingewiesen, dass, wer nicht arbeite, auch nicht essen solle

34 Vgl. die Auslegung des Sprichworts ccccvi. Ein handtwerck hat einen guldin boden (Bll. Liiir–v) bei Johannes Agricola: Dreihundert gemeiner Sprichwörter, vollst. Titel: ¬Das¬ An=||der teyl gemeiner || Deutscher spri=||chwrter/ mit yhrer ausle||gung/ hat funffthalb||hundert newer || wrtter.|| Johan. Agri.|| Eißleben.|| 1529.|| (Gedruckt durch Mel=||chior Sachssen ||) [Erfurt] (Nachweis: VD16 A 955, Digitalisat hierüber zugänglich); wieder bei Sebastian Franck: Sprichworter/ das ist/ Schöne/ weise und kluge Reden: darinnen Teutscher und anderer Spraachen Höflichkeit/ Zier/ höchste Vernunfft/ und Klugheit/ Was auch zu ewiger und zeitlicher Weißheit/ Tugendt/ Kunst und Wesen dienet/ gespürt und begriffen. Von Alten und jetzigen im brauch gehabt und beschrieben/ In etlich Tausendt zusammen bracht. Jetzt auffs neuw wiederumb fleissig ersehen/ und mit einem nützlichen zu End angehenckten Register gemehrt. Frankfurt am Mayn: Steinmeyer 1615 (Nachweis VD17 3:602193R), früher nachgewiesen 1591 im VD16 F 2134. Die Deutung zeigt den selbstverständlichen Zusammenhang zwischen Arbeit und gemeinem Nutzen für die Gemeinschaft auf aus für Hans Sachs zeitgenössischer Perspektive. Sie zentriert das Nützlichkeitsdenken auf den Bauern als grundlegendes Handwerk zur Ernährung der Menschen und leitet von diesem die Nützlichkeit eines jeden Handwerks und Standes, eingeschlossen die Obrigkeit, ab, da sich schließlich jede Tätigkeit positiv auf die des Bauern hin ausrichten lasse. Zur Verdeutlichung folgen hier die zentralen Thesen: „[Bl. liiir] Als gemeyn als diß wort ist / also war ist es / Denn wer ein gemeyn handtwerck kan / vnd treibts mit fleiß / den neeret es / es sey so gering als es wolle / Es ist aber die vrsach / das vnser Herr Gott eines yglichen arbeyt segnet / Denn da er spricht zu Adam / Ynn dem schweyß deines angesichts soltu dein brodt essen / segnet er Adams arbeyt / nemlich er soll brodt daruon haben / vnd soll dauon erneret werden / Der ackerbaw ist die arbeyt die dem menschen ist auffgelegt / vnd die selbige arbeyt soll den menschen neeren. […] Darumb sind aller der arbeyt von Gott gesegnet / die dem ackermanne dienen / als da sind radmacher / schmide / riemer / seyler / sattler / [Bl. liiiv] schneider / krßner / brawer becken / zymmerleutte / vnd allerley handtwerck. Soll der ackerman friedlich vnd gerwelich den acker bawen / vnd die handtwercker yhm dienen / so muß man ein Oberckeyt haben / die yhnen frieden vnd recht schaffet / darumb ist auch der Frsten vnd herren / vnd aller regenten mhe / fleiß vnd arbeyt hoch von Gott gesegnet / Vnd ist also war das ein handtwerck einen guldin boden hat / des segens halben / damit Gott eines ygklichen menschen beruff vnd arbeyt / die er dem acker manne zu dienst vnd zu gut thut / begabet vnd gesegnet hat“.



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(2 Thess 3,10). Die Abschlussformel Spricht Palus ach mit druecze (Str. 3, V. 54) wird analog zum Selbstbewusstsein des Handwerkers installiert, verkörpert auf Bildebene in der Biene, die mit der Voranstellung von Ich ihren eigenen, tugendhaften Lebensentwurf, der sich als konform mit der göttlichen Weltordnung erweist, behauptet, ebenso wie Paulus dem müßigen Leben den Befehl zur Arbeit entgegensetzt (2 Thess 3,8). Für die Spinne werden in der Auslegung der dritten Strophe dagegen diejenigen genannt, die mit schaden ander lewt / On arbeit get gewinnen (Str. 3, V. 38  f.). Aufgezählt werden im Folgenden Berufe, die sich eindeutig dem städtischen Bereich zuordnen lassen (Str. 3, V. 40–42): financzer, wuecherer, vurkawffer, falsch jristen, aufseczmacher, mnczfelscher; allgemein, ohne konkrete Berufszugehörigkeit, werden auch genannt (Str. 3, V. 42–44): dregner, simoneyer, rauber, dieb, falsch spiller, legner. Diese Gruppen schaden dem städtischen Gemeinwesen, denn sie bereichern sich auf Kosten der Bürger. Hans Sachs greift mit dem Meisterlied demzufolge ein zentrales Problemfeld der Stadt als Lebens- und Arbeitsgemeinschaft auf, indem er für die Dichotomie zwischen der situierten Bürgerschaft und den sozialen Brennpunkten sensibilisiert, die sich zwangsläufig in einer Stadt ergeben. Während erstere durch ihr Handwerk zum Wohl der Stadt beitragen, hemmen letztere dieses, da sie sich allein am Eigennutz orientieren. Die Funktionsweise eines vorbildlich-sozialen Gemeinwesens wird bei Sachs am Beispiel des gegensätzlichen Lebensentwurfs zweier Tiere, der Spinne und der Biene, diskutiert. Grundlage ist dabei die Frage, wie religiöses Wissen sich im konkreten Kontext der Stadt praktikabel gestalten lässt. Dafür nutzt Sachs die Erfahrungen seines eigenen beruflichen Horizonts und zitiert als vorbildliches Arbeitsmodell dasjenige des Handwerkers, wobei er die Ausübung desselbigen Handwerks nicht zuletzt durch Rückbindung seiner Aussagen an die Bibel legitimiert. 3.2.2 Der spieler mit dem dewfel35 – Die Fabel im Meisterlied als Beispiel einer Lasterkritik im städtischen Kontext Mit der analysierten Fabel ist das folgende Lied thematisch verbunden: Der spieler mit dem dewfel. Der falsch spiller des vorangegangenen Lieds (Str. 3, V. 44) gehört

35 Edition bei Goetze / Drescher 1900 (wie Anm. 23), Nr. 108, 232–234. Zitation und Versangaben beziehen sich auf diese hier angegebene Ausgabe. Des Weiteren das Spruchgedicht Der spieler mit dem dewfel (1557), ediert bei Goetze / Drescher 1900 (wie Anm. 23), Bd. 1, Neudrucke deutscher Literaturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts 110/117, Nr. 181, 517–522. Vorlage für Hans Sachs

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zu einer der kritisierten städtischen Gruppen, die dem Gemeinwohl schaden, da sie sich auf Kosten anderer bereichern. In beiden Fällen sind die Figuren, die das lasterhafte Verhalten exemplifizieren, negativ konnotiert. Sowohl die Spinne als auch der Glücksspieler werden in den Zusammenhang mit dem Teufel gestellt. Funktioniert dies im ersten Meisterlied über die Symbolik der Mücke beziehungsweise der Fliege, wird der Rezipient im zweiten Meisterlied konkret mit der Personifikation des Teufels konfrontiert. Die erste und die dritte Strophe beinhalten eine Rahmenhandlung, die zweite Strophe in der Mitte erzählt den Traum des Protagonisten. Die Handlung wird eingeleitet durch die Feststellung Ein spiler het verspillet all sein gete (Str. 1, V. 1). Die hier enthaltene Antithese ist Programm: Das Nomen wird in der Verbform durch Anhängung eines Präfixes negiert und so, wie dieser erste Vers antithetisch aufgebaut ist, gibt er die Struktur der ersten Strophe vor. Die gegensätz­ lichen Momente entstehen durch die Gegenüberstellung von Gott und Teufel im christlich-religiösen Kontext. Der Spieler geht in die Pfarrkirche, nicht um zu beten, sondern um zu fluchen (Str. 1, V. 4  f.); folgerichtig sucht er dort keine Heiligenbilder, um sie zu verehren, sondern findet den dewffel stnt an einer went

war wohl Sebastian Brants Fabelsammlung. Vgl. die lateinische Fassung in der vorliegenden Edition: Sebastian Brant, Fabeln. Carminum et fabularum additiones Sebastiani Brant – Sebastian Brants Ergänzungen zur Aesop-Ausgabe von 1501, ed. Bernd Schneider, AuE Neue Folge 4 (Stuttgart 1999), hier Nr. 57: „De eo qui in somnis aurum reperiebat“, 179  f. Die lateinische Version ist, so Schneider, ebd., 442, ohne große Rezeption geblieben. Erst die deutsche Übersetzung von 1508, die Adelphus Muling zugeschrieben wird und von der anzunehmen ist, dass diese auch Hans Sachs genutzt hat, wurde breiter rezipiert. Vgl. den Nachweis bei Dicke 1994 (wie Anm. 15), Anhang II: Die Besitzer des ‚Esopus‘, 450–496, hier 486  f. Ich habe das Faksimile der BSB der Ausgabe von 1508, verlegt von Johannes Prüß in Straßburg, verzeichnet im VD 16 unter der Nummer B 7057, eingesehen (KG 26, 171  f. als Sachs’ Quelle nachgewiesen Freiburg 1535), hier mit dem Titel „Von eim der im schloff gold fande“, Bll. 136v–137r. Sämtliche Drucke der Übersetzung der Brantschen Additiones von Johannes Adelphus Muling sind im MRFH unter den Nummern 33566 bis 33596 aufgelistet. Eine ausführliche Diskussion der Quellenfrage, allerdings bezogen auf Sachs’ Spruchgedicht, bietet Arthur Ludwig Stiefel, „Über die Quellen der Fabeln, Märchen und Schwänke des Hans Sachs,“ in Hans-Sachs-Forschungen: Festschrift zur 400. Geburtsfeier des Dichters, ed. ders. (Nürnberg 1894), 33–192, hier 132–136. Sachs hat den Esopus für insgesamt 183  Dichtungen (Drama, Spruchgedicht und Meisterlied) als Quelle genutzt. Zeitgenössisch: Johannes Bolte, Hg., Jakob Freys Gartengesellschaft (1556), Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 209 (Tübingen 1896), hier Kap. 77: Ein schatzgräber vermeinet, er hett ein schatz funden; da het er das beth foll ghofiert, vgl. die Anm. zur Erzählung, 243–245, welche sämtliche Quellen, Parallelüberlieferung und Erzählmotive verzeichnet. Die Erzählung habe sich auch, so das Vorwort der Ausgabe (ebd., S. XXXIII), in der Bibliothek von Hans Sachs befunden, was sich in dessen Bücherverzeichnis (KG 26, 152–156) mit dem Titel Rollwagen und zwo garten gselschaft und 3 comedi nachweisen lässt.



Dem nechsten auch zw nucze 

Abb. 2: Titelbild der Erzählung von einem, der im Traum Gold fand (Digitalisat BSB, http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/bsb00001850/ images/?nav=1&viewmode=1 (Bl. 136v), 01. 11. 2015).

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gemalet (Str. 1, V. 6) und opfert diesem eine Kerze mit dem einzigen Heller (Str. 1, V. 7  f.), der ihm nach dem Verlust seines ganzen Besitzes übrig geblieben ist. Er bittet nicht, wie üblich, um die Heilung von Gebrechen oder dankt für erfahrene Hilfestellung und Unterstützung, sondern bittet um besseres Spielglück für die Zukunft. Adressat für die Bitte des Spielers kann in letzter Konsequenz nicht Gott sein, da es sich um ein charakteristisches Fehlverhalten, das Laster der Spielsucht, im städtischen Gemeinwesen handelt. Auf das Fluchen des Spielers kann folglich nur der Teufel antworten und er tut es, indem er ihm im Schlaf erscheint und ihm einen schacz verspricht, das dw wirst reich af erden (Str. 1, V. 17  f.). Die Anrede des Teufels (mein lieber knecht, Str. 1, V. 15) korrespondiert zur Bitte des Spielers (sein diener wolt er werden, Str. 1, V. 13). Die zweite Strophe enthält den Traum, eingeleitet durch die Formel Den spiler dacht (Str. 2, V. 19). Er wird in den Wald geführt und ihm dort die Stelle gewiesen, an der er graben soll. Da der Spieler kein Werkzeug hat, möchte er dieses holen und später zurückkehren. Auf die Frage, wie er denn die Stelle wiederfände, schlägt ihm der Teufel vor: scheis darauf nider (Str. 2, V. 28). Die hergestellte Verbindung zwischen dem Schatz und den Exkrementen des Spielers zeigt die Vergänglichkeit und Nichtigkeit welt­ lichen Reichtums ohne selbstständige redliche Arbeit an. Als der Spieler am Ende der zweiten Strophe erwacht, verschwimmen Realität und Fiktion (Str. 2, V. 34–36): Der spiller auferwachte. Fro war er vnd sich leget an, Den schacz zw graben affe.

Analog zum Beginn der zweiten, so auch der Beginn der dritten Strophe, die die Folgen des Traums und die faktuale Situation des Spielers aufdeckt (Str. 3, V. 37–41): In daucht, die stat im wald wolt er wol wissen, Vnd als er aufseczt seinen het, Het er selb drein geschissen; Im wrt nicht mer von diesem schacz, Dan het vnd kopf zw zwagen.

Im Folgenden aktualisiert das Meisterlied die Fabel durch die Bemerkung Wie man noch hewt det sagen (Str. 3, V. 46) und überträgt sie in das aktuelle Zeit­ geschehen [Str. 3, V. 47–54, Hervorhebung d. Vf.].

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Wem arges wirt fr getes hie, Spricht man, dem hat man glonet wie Der dewffel seinem knechte. Hie nem ein ler: Vor grosem spil dich hete; Es pringt armet vnd vngedlt, Ein verwegen gemete. Traw nicht dem dewfel, welcher ist Feint menschlichem geschlechte.

Die Lehre scheint simpel, man solle sich vor dem Laster der Spielsucht hüten. Die Folgen davon seien Armut, Ungeduld/Heftigkeit und eine wagemutige Gesinnung. Die Spielerei stamme vom Teufel, da man schneller außer Besitz gesetzt werde, als man ihn erhalten hat. Der Vergleich mit der Vorlage des Meisterlieds bei Sebastian Brant gibt Aufschluss über die mögliche Rezeptionsweise von Hans Sachs: Trotz enger inhaltlicher Nähe zum Quellentext lässt sich eine eigenständige Aneignung und Umsetzung desselben im Meisterlied nachweisen, denn inhaltlich bezieht er die Fabel auf konkrete Probleme im städtischen Gemeinwesen, formal transferiert er Prosa in die Versform. Auffällig ist bereits die Abweichung von Sachs’ Titel im Vergleich zum Original, die schon vorab eine Interpretationsrichtung profiliert. Bei Sebastian Brant bleibt der Titel neutral: „De eo qui in somnis aurum reperiebat“ (Brant, lat.) – „Von eim der im schloff gold fande“ (Muling, dt.). Während dieser Titel lediglich eine verkürzte Inhaltsangabe bietet, fokussiert das Meisterlied, indem es der Titelfigur eine konkrete Tätigkeit innerhalb des Umfelds Stadt zuweist, damit die Aufmerksamkeit auf diese eine spezifische Gruppe lenkt und diese zusätzlich mit der Figur des Teufels in Verbindung bringt. Der Traum wird damit zur Folge bewussten, fehlerhaften Verhaltens stilisiert, der sich zurückführen lässt auf das Motiv des Teufelsbündners beziehungsweise das des Teufelspakts.36 Der Teufel gehört zu den häufigsten Erzählkernen volkssprachlicher

36 Zum Themenkomplex des Teufelspakts vgl. Christian Schneider, „Das Motiv des Teufelsbündners in volkssprachlichen Texten des späten Mittelalters,“ Faust-Jahrbuch 1 (2004), 165–198. Schneider definiert den Kern des Teufelspakts folgendermaßen: „Ein Mensch begibt sich wissentlich und willentlich in ein Bündnisverhältnis mit dämonischen Geistern, um auf diese Weise Macht, Geld, Karriere, Wissen oder auch Liebe zu erlangen. Im Gegenzug muß er Gott abschwören und sich dem Bösen unterwerfen, in der Regel, indem er ihm Verfügungsgewalt über seine Seele gibt“ (ebd., 166). Er diskutiert verschiedene Arten volkssprachlicher mittelalterlicher Texte und konstatiert die Beobachtung, dass sich der Schwerpunkt von einem Erlösungsgedanken hin zu einer rein didaktischen Funktion des Teufelsbündners als Negativexempel verschiebe. Er überlegt, ob sich darin möglicherweise eine Akzentuierung auf eine größere Verantwortung des Menschen für sein Handeln ableiten lasse (ebd., 197  f.).

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europäischer Literatur und verortet sich in einer bis ins frühe Mittelalter zurückreichenden christlichen Tradition; funktional wird er „zur ironisch-satirischen Geißelung menschlicher Schwächen“ und als Mittel der Didaktik zur religiösen Belehrung eingesetzt.37 Ohne diese affirmative Verbindung zum Diabolischen wird der Sachverhalt bei Brant weniger spezifisch gefasst. Er lässt sich eher auf eine allgemeine Definition anwenden: Am Ende der Erzählung wird das Exemplum auf ganz unterschiedliche Berufsgruppen/Gruppierungen übertragen, wie auf den „jeger“, den „richter“, den „furman“, den „bůler“, den „schiffman“ und den „wůcherer“. Der letzte Teilsatz bei Brant, „vnd der wachend wůcherer sůcht die entgangen richtum des nachtes im schloff“, könnte Sachs als Anknüpfung für seine Umformulierung und Umdeutung der Fabel auf den Glücksspieler gedient haben. Bei Brant wird der Träumende am Ende doppelt gestraft, da er sich selbst das Bett verunreinigt hat und die Katze seinen Hut, den er sich morgens nichtsahnend auf den Kopf setzt; Sachs vereinfacht dieses, indem er nur den Hut aufgreift und die Verantwortung unter der Streichung der Katze auf den Spieler selbst konzentriert. Die Deutung wird bei Sachs spezifisch auf den städtischen Kontext übertragen: Statt der allgemeinen Beispiele rückt ein konkretes soziales Problem im städtischen Leben in den Mittelpunkt, die Spielsucht. Diese korrespondiert zu dem egoistischen Verhalten der Spinne aus der vorangegangenen Fabel, welches dem allgemeinen Nutzen der Gemeinschaft zuwiderläuft, sich hier jedoch gegen den Protagonisten selbst richtet.

4 Zusammenfassung: Religiöses Wissen als handlungsleitendes Movens innerhalb des städtischen Gemeinwesens Es ließ sich zeigen, dass religiöses Wissen in der Aneignung und dem Versuch der Umsetzung in die konkrete lebensweltliche Praxis gebunden wird an situative Elemente des eigenen Erfahrungsraums: Hans Sachs überträgt in Die spin mit der pin die allgemeinen Symbole, die der Spinne zugeschrieben werden, auf Tätigkeitsfelder, die dem städtischen Lebensraum zugewiesen sind, wie beispielsweise financzer, wuecherer, vurkawffer, falsch jristen, auffseczmacher, mnczfelscher. Dieser Erweiterung steht die Engführung in Der spieler mit dem dewfel von zahl-

37 Marco Frenschkowski und Daniel Drascek, „Teufel“, Enzyklopädie des Märchens 13 (2010), 383–413, hier 394.



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reichen Berufsgruppen der Vorlage auf die des Glücksspielers gegenüber. In beiden Liedern offenbart sich das destruktive Potential für den Fall, dass die Handlungsmaxime von dem durch das religiöse Wissen der Reformation normativ formulierten Postulat des gemeinen Nutzens abweicht. Richtet sich dieses Potential im erstgenannten Meisterlied nach außen und führt zu einem Defizit der Gemeinschaft als Ganzem, so wendet sich die Destruktion im zweiten Meisterlied nach innen gegen den Glücksspieler selbst und konfrontiert diesen mit der Nichtigkeit seines scheinbar erstrebenswerten Ziels, dem Reichtum. Hans Sachs wählt Fabelstoffe, die sich für sein aktuelles städtisches Umfeld eignen und die sich mit seinem herausgearbeiteten didaktischen Ziel, das hier zunächst als städtisch-soziale Intention definiert werden soll, vereinbaren lassen. Das bedeutet, dass beispielsweise mit der Kritik an einem speziellen Laster wie der Spielsucht selbstverständlich die Perspektive auf das Wohl der Stadtgemeinschaft als corpus christianum38 im Ganzen inbegriffen ist. Diese Lehren aus der zuerst definierten Intention generieren sich aus ihren ursprünglichen Quellen und werden dabei auf den aktuellen Bezugsrahmen übertragen und angewendet: Nürnberg im 16. Jahrhundert. Auf der städtisch-sozialen Intention basierend, lässt sich nunmehr ergänzend eine politisch-reformatorische Intention definieren, die sich aus dem übergreifenden Zusammenhang von Stadt und Reformation ableitet, und bezogen auf das Beispiel der hier diskutierten zwei Meisterlieder, auf städtische Alltags­ situationen reagiert. Diese Auslegungsebene ist nicht mehr Teil der vorformulierten Moral der Ursprungsfabel, sondern entsteht in der Auseinandersetzung des Rezipienten mit dem Inhalt in einem bestimmten Umfeld und einer bestimmten

38 Prägend für den Begriff ist die Stadtreformationsforschung aus den 1970er Jahren, beginnend mit der Monographie von Bernd Moeller, Reichsstadt und Reformation, Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 69 (Gütersloh 1962, Neue Ausgabe Tübingen 2011). Vgl. auch Arthur G. Dickens, The German Nation and Martin Luther (London 1974), der ebd., 182 von der Reformation als „an urban event“ spricht. Moeller sieht die Subjektrolle der städtischen Laien sowie die Stadt als Sozialformation insgesamt als vorrangig an, wird dabei aber sowohl von Robert W. Scribner, „Civic Unity and the Reformation in Erfurt,“ Past and Present 66,1 (1975), 29–60, bes. 29 als auch von Thomas A. Brady, Ruling Class, Regime and Reformation at Strasbourg 1520–1550, Studies in medieval and reformation thought 22 (Leiden 1978), bes. 149 kritisiert. Moellers Bild von der städtischen Sakralgemeinschaft – corpus christianum – sei zu statisch. Brady interpretiert am Fallbeispiel Straßburg die städtische Reformation als Ausdruck eines politischen, sozialen und ökonomischen Interessen- und Strukturkonfliktes. Moellers Konzept hat in der Kontroverse Brady / Moeller seine Berechtigung behalten. Das Modell ist nicht so statisch, wie ihm vorgeworfen wurde, was sich erweist, wenn die Perspektive weniger auf dem Schwerpunkt städtischer Sakralgemeinschaft als der sich in ihr profilierenden Auseinandersetzung zwischen politischer Elite und Teilen der Bürgerschaft liegt.

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 Uta Dehnert

Situation. „Den Sinn also  – der Fabel im speziellen Falle, aller anderen Texte aber ebenso – konstituiert der Rezipient. Er konstituiert ihn – auch das ist eine textlinguistische Binsenweisheit  – im Rahmen seiner Lebenssituation mit all ihren situativen Elementen, ihren literarischen und lebenspraktischen Kenntnisund Erfahrungsvoraussetzungen, vor dem Hintergrund eines wie auch immer zustande gekommenen Wirklichkeitsmodells“.39 Das allgemeine Exemplum wird also auf ein konkretes Fallbeispiel bezogen und damit für den Rezipienten persönlich erfahrbar. Diese Aushandlung findet unter dem Dach einer öffentlichen Meinungsbildung und persönlichen Verortung von Hans Sachs im Re­for­ma­tions­ prozess statt. Übertragen auf das Modell der Ordnungskonfiguration bedeutet das, dass, verursacht durch die Reformation, vor dem Hintergrund eines neu auszuhandelnden Konzepts von religiösem Wissen (gedachte Ordnung) durch die Akteure (Hans Sachs) in Nürnberg ein Transfer desselben in den konkreten Alltag (umgesetzte Ordnung) erprobt wird. Als Medium der Kommunikation darüber, wie ein städtisches Gemeinwesen auf Basis reformatorischer Leitgedanken funktionieren kann, kann exemplarisch das Meisterlied betrachtet werden. Letzteres scheint insbesondere deshalb geeignet, da sich innerhalb der Singschulen eine Gemeinschaft konstituierte, die sich aktiv mit religiösen Fragestellungen auseinandergesetzt hat und die hinsichtlich ihrer strukturellen Zusammensetzung die Mitte der städtischen Gesellschaft repräsentiert. Im Meisterlied lässt sich der Anspruch erkennen, sowohl auf das Verhalten sozialer Gruppen Einfluss nehmen zu wollen, als auch deren Handlungsspielräume nach Maßstäben zu reglementieren, die durch das religiöse Wissen des Reformationszusammenhangs bestimmt werden. Das wiederum ist nichts anderes als der Versuch, religiöses Wissen praktikabel zu machen, es als Wissens-, Anschauungs- und Identifikationsangebot (durch das Meisterlied) zu installieren und sich dessen als verbindliche Norm zu versichern.

39 Grubmüller 1983 (wie Anm. 19), 473–488, hier 477.

Benedikt Kranemann

Die Liturgie der Aufklärung zwischen Verehrung Gottes und sittlicher Besserung des Menschen1 1 Einleitung Die Liturgie der katholischen Aufklärung2 ist trotz einer Reihe umfangreicher Forschungsarbeiten der vergangenen 20 Jahre in manchem immer noch eine Unbekannte.3 Es handelt sich um einen Zeitraum der Liturgiegeschichte, dessen Theorien und Praxismodelle für den Gottesdienst in vieler Hinsicht heutigem Verständnis von Liturgie und Ritual fremd sind, zugleich aber auch Fragen stellen,

1 Anregungen zu diesem Beitrag verdanke ich Diskussionen bei der Tagung „Gott handhaben. Religiöses Wissen im Konflikt um Mythisierung und Rationalisierung“ des Graduiertenkollegs „Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800–1800)“ der Universität Tübingen, die vom 16. bis 18. September 2013 in Reims stattfand, im Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und im Theologischen Forschungskolleg an der Universität Erfurt. 2 Im Folgenden steht die Liturgie der katholischen Aufklärung im Vordergrund. Vergleichbare Diskussionen und Entwicklungen sind zeitgenössisch auch in den Reformationskirchen und im Judentum zu beobachten. Vgl. dazu den Überblick bei Albrecht Beutel, Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung: Ein Kompendium, UTB Theologie, Religion 3180 (Göttingen 2009), 225–230; Judith Frishman, “The reform of Jewish liturgy, or how the (un)traditional becomes traditional,” Jaarboek voor liturgie-onderzoek 20 (2004), 49–58. 3 Am besten sind bislang untersucht die Sakramentenliturgien (außer der Eucharistie) und die Begräbnisliturgie. Zur Messfeier und zur Stundenliturgie fehlen umfassendere Darstellungen. Über das weite Feld der Sakramentalien ist kaum gearbeitet worden. Die Theologie der Liturgie ist nur ansatzweise untersucht worden. Die gelehrten Diskurse über Fragen des Gottesdienstes, ihre Vernetzung in die breiteren Diskussionen der Aufklärung hinein, die Akteure und Orte (sowohl im Sinne der Medien wie einer Topographie) sind entweder nur zum Teil Forschungsobjekte gewesen oder noch gar nicht in den Blick gekommen. Auch fehlt eine systematische Übersicht über die sehr vielfältigen Quellen. Überblicke bieten Franz Kohlschein und Peter Wünsche, Hg., Liturgiewissenschaft – Studien zur Wissenschaftsgeschichte, Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 78 (Münster 1996); Benedikt Kranemann, „Zwischen Tradition und Zeitgeist: Programm und Durchführung der Liturgiereform in der deutschen katholischen Aufklärung,“ Jaarboek voor liturgie-onderzoek 20 (2004), 25–47; weniger zur Liturgie als zur katholischen Aufklärung insgesamt: Christian Handschuh, Die wahre Aufklärung durch Jesum Christum: Religiöse Welt- und Gegenwartskonstruktion in der Katholischen Spätaufklärung, Contubernium 81 (Stuttgart 2014); Ines Weber, Mensch und Bibel: Zur Bildung des Herzens in der katholischen Aufklärung des deutschen Südwestens, masch.schriftl. Habilitation (Tübingen 2013).

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 Benedikt Kranemann

denen die Theologie der Gegenwart sich nicht verschließen kann. Er bietet für die Forschung reiches Material und viele interessante Fragestellungen, die aus dem Aufeinandertreffen tradierter Formen des Gottesdienstes einerseits und dem Denken der Aufklärung beziehungsweise dem Selbstverständnis der Aufgeklärten andererseits resultieren. Die Aufklärung war eine Umbruchszeit für die Liturgie und hat zu einer Reihe von Neuerungen geführt. Auch die Restauration im katholischen Gottesdienst des 19. Jahrhunderts4 wäre ohne die Theorien und Reformen der katholischen Aufklärung nicht möglich gewesen. Und noch grundsätzlicher handelt es sich um eine Umbruchszeit, wenn man die Fragen beachtet, die ganz generell aus dem Geist der Aufklärung an Liturgie und Gebet gestellt wurden. Was ist gemeint, wenn von Reformen der Liturgie in der katholischen Aufklärung gesprochen wird? Etwa zwischen 1780 und dann zum Teil bis weit in das 19. Jahrhundert hinein5 entstanden zahlreiche theologisch-theoretische Schriften, in denen eine veritable Liturgiereform unter den Vorzeichen der Aufklärung entwickelt und in unterschiedlicher Weise in der Praxis umgesetzt wurde.6 Im deutschen Sprachgebiet  – und das meint insbesondere als Zentren7 das Bistum Konstanz8, Schlesien9 und Österreich10 mit der Toska-

4 Vgl. dazu knapp André Haquin, “The Liturgical Movement and Catholic Ritual Revision,” in The Oxford History of Christian Worship, ed. Geoffrey Wainwright und Karen B. Westerfield Tucker (Oxford / New York 2006), 696–720, hier 697–699. Vgl. als Fallstudien zur Liturgie: Benedikt Kranemann, „Peter Riglers ‚Pastoralis Liturgica‘: Anmerkungen zu einer Pastoralliturgik der Restauration,“ Konferenzblatt für Theologie und Seelsorge 107 (1996), 157–173; Nadine Baumann, Gottesdienst zwischen Restauration und Erneuerung: Eine pastoralliturgische Untersuchung des Münsterischen Pastoralblattes (1863–1923), Studien zur Pastoralliturgie 27 (Regensburg 2011). 5 Zur zeitlichen Abgrenzung vgl. jetzt die hilfreichen Überlegungen bei Handschuh 2014 (wie Anm. 3), 221–224. 6 Einen Einblick in die Rezeption der Reformen, aber auch in den Widerstand dagegen gibt Maria E. Gründig, „Zur sittlichen Besserung und Veredelung des Volkes“: Zur Modernisierung katholischer Mentalitäts- und Frömmigkeitsstile im frühen 19. Jahrhundert am Beispiel des Bistums Konstanz unter Ignaz H. von Wessenberg, masch.schriftl. Diss. (Tübingen 1997). 7 Vgl. dazu auch Handschuh 2014 (wie Anm. 3), 30: „Druckorte wie Wien, Linz, Salzburg, Konstanz und Breslau, ebenso zumindest ein Teil der bayerischen Publikationen signalisieren Hochburgen der Katholischen Aufklärung.“ 8 Vgl. Erwin Keller, Die Konstanzer Liturgiereform unter Ignaz Heinrich von Wessenberg, Freiburger Diözesan-Archiv 85 (Freiburg i. Br. 1965). 9 Vgl. Rainer Bendel, Der Seelsorger im Dienst der Volkserziehung. Seelsorge im Bistum Breslau im Zeichen der Aufklärung, Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 27 (Köln 1996). 10 Vgl. Hans Hollerweger, Die Reform des Gottesdienstes zur Zeit des Josephinismus in Österreich, Studien zur Pastoralliturgie 1 (Regensburg 1976); Sylvaine Reb, L’ Aufklärung catholique à Salz-



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na11, einzelne Bistümer und Bischofsstätte wie Mainz, Trier oder Würzburg, Klöster wie St. Blasien12, aber auch kleinere Städte und Dörfer, in denen aufgeklärte Pfarrer wirkten  – wurden Ritualien13, Breviere14 und Gesangbücher15 geschrieben, die von den Idealen aufgeklärter Theologie und Pastoral geprägt waren; sie wurden zu einem erheblichen Teil auf private Initiative hin veröffentlicht. Zudem entwickelte sich in Anfängen eine Liturgiewissenschaft, hier noch als Teilgebiet der Pastoraltheologie verstanden, die den Gottesdienst der Kirche reflektierte.16 Wie kann man das Verhältnis des Menschen zu Gott in der Liturgie dieser Zeit beschreiben? Kann davon gesprochen werden, dass Gott „handhabbar“ gemacht wird?17 Ermöglicht die Liturgie also einen gewissen Automatismus der bourg: L’oeuvre réformatrice (1772–1803) de Hieronymus von Colloredo. 2 Bde., Contacts Série 3, Etudes et documents 33 (Berne u.  a. 1995), zur Liturgie insbesondere 182–185; 431–499. 11 Vgl. Albert Gerhards, „Die Synode von Pistoia 1786 und ihre Reform des Gottesdienstes,“ in ders., Erneuerung kirchlichen Lebens aus dem Gottesdienst: Beiträge zur Reform der Liturgie, Praktische Theologie heute 120 (Stuttgart 2012), 30–40 (zuerst 2002 erschienen). 12 Vgl. Ulrich L. Lehner, Enlightened monks: The German Benedictines 1740–1803 (Oxford 2011). 13 Vgl. Manfred Probst, Bibliographie der katholischen Ritualiendrucke des deutschen Sprachbereichs: Diözesane und private Ausgaben, Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 74 (Münster 1993), 130–138. 14 Vgl. Friedrich Popp, Studien zu liturgischen Reformbemühungen im Zeitalter der Aufklärung, Freiburger Diözesan-Archiv 87 (Freiburg i. Br. 1967); Liobgid Koch, „Ein deutsches Brevier der Aufklärungszeit: Thaddäus Anton Dereser und sein Deutsches Brevier für Stiftsdamen, Klosterfrauen und jeden guten Christen,“ Archiv für Liturgiewissenschaft 17 / 18 (1975 / 76), 80–144; Angelus A. Häußling, „Das Sankt Blasier Reformbrevier von 1774/1777: Martin Gerberts und Aemilian Ussermanns Entwurf einer benediktinischen Tagzeitenliturgie,“ Archiv für Liturgiewissenschaft 35 / 36 (1993 / 94), 19–42 (auch in: Angelus A. Häußling, Tagzeitenliturgie in Geschichte und Gegenwart: Historische und theologische Studien, ed. Martin Klöckener, Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 100 [Münster 2012], 240–263); Philipp Gahn, „Joseph Thomas von Haiden und das Reformbrevier von St. Stephan zu Augsburg: Einige Anmerkungen zum Aufsatz von Liobgid Koch, Ein deutsches Brevier der Aufklärungszeit,“ Archiv für Liturgiewissenschaft 42 (2000), 84–96. 15 Vgl. Franz Kohlschein und Kurt Küppers, Hg., „Der große Sänger David – euer Muster“: Studien zu den ersten diözesanen Gesang- und Gebetbüchern der katholischen Aufklärung, Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 73 (Münster 1993); Dominik Fugger, „Aufklärung (18. und 19. Jahrhundert),“ in Geschichte des katholischen Gesangbuchs, ed. Dominik Fugger und Andreas Scheidgen, Mainzer hymnologische Studien 21 (Tübingen 2008), 21–32. 16 Vgl. den Überblicksbeitrag von Franz Kohlschein, „Zur Geschichte der katholischen Liturgiewissenschaft im katholischen deutschsprachigen Bereich,“ in Kohlschein / Wünsche 1996 (wie Anm. 3), 1–72; Albert Gerhards und Benedikt Kranemann, Einführung in die Liturgiewissenschaft (Darmstadt 2013), 32–34. 17 Der Begriff der „Handhabmachung“ geht auf den Titel der in Anm. 1 genannten Tagung zurück.

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Zuwendung Gottes? Man darf nicht übersehen, wovon die Liturgie der katholischen Aufklärung sich absetzen wollte. Die Liturgie der Barockzeit war Teil der zeitgenössischen Kultur der Konfessionalisierung.18 Dazu gehörte beispielsweise die Eucharistiefrömmigkeit, die Ausdruck unter anderem in den Thronsälen vergleichbaren Kirchenräumen mit ihrer perspektivischen Zentralstellung des Tabernakels fand. „Im irdischen Residenzsaal Gottes machen die Heiligen und Reliquien die Dienerschaft der göttlichen Majestät aus, die als Botschafter zwischen Himmel und Erde eingesetzt sind, oder als geistliche Kammerherren, die den Zugang zum Audienzsaal Christi verwalten.“19 Eine ausdifferenzierte und reich inszenierte Heiligenverehrung einschließlich der Marienverehrung muss ebenso genannt werden wie die unterschiedlichen Wallfahrten und Devotionalien. Zur Barockfrömmigkeit gehörten die Präsenz des Todes und des eigenen Lebensendes und in der Konsequenz eine ausgeprägte Eschatologie. Der Aspekt einer „Handhabbarmachung“ Gottes lässt sich hier durchaus finden. Liturgie und andere Frömmigkeitsformen boten ein „Reservoir sicherer Heilmittel, mit dem die Kirche die Ängste der Gläubigen ernst nahm“.20 Zentral war die ausgeprägte Jenseitsorientierung, wie sie in den Ausmalungen vieler Barockkirchen mit dem offenen Himmel sichtbar wird. Den Bezug zu Gott und die Vermittlung des Heils garantierten vor allem Maria und die Heiligen als die Gestalten um Jesus Christus. Sie legten Fürbitte bei Gott ein, vermittelten Schutz und Heil, bewirkten Trost und Heilung. Die notwendige theologische Justierung entsprechender Praktiken wurde als Problem wahrgenommen. Schon im Barock gab es Kritik an 18 Vgl. Peter Hersche, Muße und Verschwendung: Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter (Freiburg i. Br. u.  a. 2006); Anne Conrad, „Der Katholizismus“, in Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum 4: 1650–1750, ed. Kaspar von Greyerz und Anne Conrad (Paderborn u.  a. 2012), 17–142. Zu Liturgie und Frömmigkeit vgl. Josef Andreas Jungmann, „Liturgisches Leben im Barock,“ in ders., Liturgisches Erbe und pastorale Gegenwart: Studien und Vorträge (Innsbruck u.  a. 1960), 108–119; Kurt Küppers, Das Himmlisch Palm-Gärtlein des Wilhelm Nakatenus SJ (1617–1682). Untersuchung zu Ausgaben, Inhalt und Verbreitung eines katholischen Gebetbuchs der Barockzeit, Studien zur Pastoralliturgie 4 (Regensburg 1981); Ursula Brossette, Die Inszenierung des Sakralen: Das theatralische Raum- und Ausstellungsprogramm süddeutscher Barockkirchen in seinem liturgischen und zeremoniellen Kontext, Marburger Studien zur Kunst- und Kulturgeschichte 4 (Weimar 2002); James F. White, Roman Catholic worship: Trent to today. Foreword by Nathan D. Mitchell (Collegeville, Minn 2003), 47–70; Christoph Kürzeder, Als die Dinge heilig waren: Gelebte Frömmigkeit im Zeitalter des Barock (Regensburg 2005); Jürgen Bärsch, „Zwischen Liturgie und „Volksfrömmigkeit“: Rückfragen an die Heiligenverehrung in Mittelalter und Barockzeit mit Gegenwartsinteresse“, in Liturgisches Jahrbuch 62 (2012), 77–103; ders., „Barockzeitliche Liturgie außerhalb des Kirchenraumes: Gebet und Gottesdienst in Haus und Hof, in Dorf und Flur“, in Liturgisches Jahrbuch 63 (2013), 102–125. 19 Brossette 2002 (wie Anm. 18), 527. 20 Bärsch 2012 (wie Anm. 18), 99.



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bestimmten Frömmigkeitspraktiken und wurde die Sorge vor Aberglauben und Missbrauch laut.21 Diejenigen Theologen, die sich der katholischen Aufklärung verschrieben hatten, führten diese Kritik mit deutlich anderer Akzentsetzung fort und versuchten, zu einer neuen Theologie wie Praxis zu gelangen. So kritisierte Vitus Anton Winter für die Zeit von der Reformation bis zum Jahre 1804 unter anderem das Messbuch als „reichhaltige Quelle des Aberglaubens“22 und stellte die rhetorische Frage: „Kann sich noch jemand verwundern, daß der Acker Christi mit so vielem Unkraute bewachsen ist, wenn er anders das Meßbuch versteht, und die Folgen, welche so weit über selbes hinausreichen.“23 Wenn nach der „Handhabbarmachung Gottes“ gefragt wird, findet man in der katholischen Aufklärung und bei den entsprechenden Theologen keine Zustimmung. Das Ansinnen, Gott „handhaben“ zu können, stand generell unter dem Vorwurf des Aberglaubens und widersprach zutiefst dem theologischen Selbstverständnis der Aufgeklärten. Ein auf jenseitige wie diesseitige Glückseligkeit des Menschen ausgerichteter Glaube ließe sich hingegen als Ziel benennen. „Gemeint war damit ein Zustand, bei dem die verschiedenen Teile des aufgeklärtkatholischen Leib- und Seelenverständnisses miteinander in einem so hohen Maße harmonierten, dass den Menschen bereits innerweltlich ein glückseliger emotionaler Zustand möglich war.“24 Dieser wurde sowohl in der Liturgiefeier als auch in der Liturgik der Zeit verfolgt. „Umbruchszeit“ bezieht sich aber nicht nur auf die theologischen Inhalte, sondern auch auf das grundsätzliche Verständnis der Liturgie. Die Sicht auf das Ritual veränderte sich. Barbara Stollberg-Rilinger sieht jüngst von der Aufklärung an zwei Richtungen im Denken über Rituale, die sie als „ritualkritisch“ und „ritualromantisch“ charakterisiert.25 Tatsächlich lassen sich solche Haltungen im

21 Vgl. Bärsch 2012 (wie Anm. 18), 99; allerdings muss man das spezifische Verständnis von „Aberglauben“ in Sakramentenpastoral und -katechese des Barock beachten: „Die apotropäische Grundtendenz des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Sakramentenwesens stellt die Seelsorger nicht nur vor die Aufgabe, den Gläubigen ein wirksames und möglichst umfassendes System an geistlichen Schutzzeichen zur Verfügung zu stellen, sondern will ihn auch vor falschen, aus dem Reich des Bösen kommenden und nur vermeintlich ‚heiligen‘ Dingen schützen, die mit magischen und okkulten Praktiken verbunden sind.“ (Kürzeder 2005 [wie Anm. 18], 85). 22 Vitus Anton Winter, Versuche zur Verbesserung der Katholischen Liturgie: Erster Versuch. Prüfung des Werthes und Unwerthes unserer liturgischen Bücher (München 1804), 111. 23 Winter 1804 (wie Anm. 22), 113. 24 Handschuh 2014 (wie Anm. 3), 216. 25 Barbara Stollberg-Rilinger, Rituale, Historische Einführungen 16 (Frankfurt a. M. / New York 2013), 19.

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Aufklärungskatholizismus feststellen, allerdings kann man kritische Distanz zu bestimmten Ritualen und romantische Verklärung derselben auch schon früher beobachten, beispielsweise im Humanismus oder in Reformation und Katholischer Reform. Man kann die These von Stollberg-Rilinger aber so fortschreiben: Neu sind die Kriterien für die Ritualkritik, die in der innerkirchlichen Diskussion nicht allein kirchlich-theologisch formuliert werden, sondern wesentlich durch die Aufklärung allgemein beeinflusst sind. Innovativ sind Breite und Offenheit des Diskurses und die rasche Implementierung in die Praxis, die zumindest katholischerseits vorher so nicht gegeben waren. Auf der Ebene des Rituals sind trotz der angedeuteten Kontinuitäten die Umbrüche gegenüber der Barockzeit nicht zu verkennen. Stollberg-Rilinger erklärt sie so: „Im 18. Jahrhundert setzte sich im Zuge von Aufklärung und Nützlichkeitsdenken eine allgemeine Kritik an den hoch zeremonialisierten und überladenen barocken Umgangsformen durch, die nun als Symptom dekadenten Hoflebens angesehen wurden.“26 Das lässt sich durchaus auf die Liturgie übertragen. So klagt 1789 eine anonym veröffentlichte Schrift über die ausladenden Zeremonien des katholischen Gottesdienstes, die verhinderten, dass der Gläubige „in das Wesen, in das Innere der Wahrheit, eindringen“ könne, und nennt als Beispiel das katholische Hochamt.27 „Wie kann der sinnliche Christ in diesem geistlichen Drama, bey dieser Menge, die Sinne fesselnder Eindrücke, bey dem Geräusche der Instrumental- und Vokalmusik, bey dem lebhaften Glanze der überall stralenden [sic!] Wachskerzen, bey wohlriechendem Dampfe des Weihrauches, bey dem Putze und dem Pracht [sic!] der Vasen und Meubels in der Kirche, sein Herz zu Gott erheben?“28 Wer beteiligte sich um 1800 an den entsprechenden Diskussionen? Fünf Personen werden im Folgenden zu Wort kommen: Joseph Gehringer (1803–1856)29 war Professor für Moraltheologie und neutestamentliche Exegese in Tübingen und verfasste unter anderem eine Liturgik. Er zählte nicht zur ersten Reihe der damaligen Theologie. Seine Liturgik erschien 1849 und wurde sofort auf den Index gesetzt. Gehringer gilt als Theologe, in dessen Werk die Theologie der

26 Stollberg-Rilinger 2013 (wie Anm. 25), 52. 27 Beyträge zur Verbesserung des äussern Gottesdienstes in der katholischen Kirche: Ersten Bandes erstes Stück (Frankfurt a. M. 1789), 20. 28 Beyträge zur Verbesserung (wie Anm. 27), 21. 29 Vgl. jetzt über ihn Michael Theobald, „Joseph Gehringer (1803–1856). Autor einer längst vergessenen Evangeliensynopse und Wegbereiter der Zweiquellentheorie,“ in Zwischen katholischer Aufklärung und Ultramontanismus: Neutestamentliche Exegeten der „Katholischen Tübinger Schule“ im 19. Jahrhundert und ihre Bedeutung für die katholische Bibelwissenschaft, ed. Matthias Blum und Rainer Kampling, Contubernium 79 (Stuttgart 2012), 147–181.



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Aufklärung, die er von seinen Lehrern übernommen hatte, weiterwirkte.30 Franz Xaver ­Schmid (1800–1871)31 nahm verschiedene Funktionen im Bistum Passau wahr, unter anderem in verschiedenen Seelsorgestellen und als Professor am königlichen Lyzeum. Ein Konflikt mit seinem Bischof 1852 brachte das Ende seiner Karriere. Der Verfasser mehrerer Handbücher der Liturgik ist eine Gestalt des Übergangs, die aber noch deutlich von der Aufklärung beeinflusst ist und zur gemäßigten Aufklärung gerechnet worden ist. Amand Storr (1743–1818) war Prior des Benediktinerstifts Wiblingen, dann ab 1799 Pfarrer in Unterkirchberg im Kapitel Laupheim. Dort legte er unter anderem einen physikalisch-ökonomischen Lustgarten an.32 Er publizierte im Konstanzer Archiv für die Pastoralkonferenz. Ignaz Heinrich Freiherr von Wessenberg (1774–1860)33 war Kanonikus in Konstanz, ab 1802 Generalvikar; er wurde 1812 zum Priester geweiht und nach dem Tode Dalbergs 1817 Kapitularvikar. Trotz Protesten aus Rom hatte er dieses Amt bis zur Auflösung des Bistums 1827 inne.34 Von ihm stammen unter anderem ein Rituale und zahlreiche Aufsätze. Er war der Spiritus rector der Erneuerung der Liturgie im Bistum Konstanz. Vitus Anton Winter (1760–1814)35 war Pfarrer und Professor für Kirchengeschichte und Pastoral in Ingolstadt, später Pfarrer und Professor der Katechetik, Liturgik und Patrologie in Landshut. Er gilt als einer der wichtigsten katholischen Liturgiker der Aufklärungszeit und hat eine Reihe von Monographien zu Fragen der Liturgie verfasst. Es sind also ganz unterschiedliche Persönlichkeiten, die sich an den entsprechenden Diskussionen über den Gottesdienst beteiligten: Seelsorger und Professoren, Vertreter der Pastoral wie der Bistumsverwaltung, Gelegenheitsautoren und Publizisten, in aller Regel Personen, die auch auf ganz anderen Feldern, so in Politik, Naturwissenschaft,

30 Vgl. Rudolf Reinhardt, „175 Jahre Theologische Quartalschrift – ein Spiegel Tübinger Theologie,“ in Theologische Quartalschrift 176 (1996), 101–124, hier 113  f. 31 Vgl. Peter Wünsche, „Franz Xaver S ­ chmidt (1800–1871) als Verfasser des ersten katholischen Lehrbuchs der ‚Liturgik‘ in deutscher Sprache,“ in Kohlschein / Wünsche 1996 (wie Anm. 3), 188–233. 32 Vgl. http://www.swp.de/ulm/lokales/alb_donau/Feiern-wie-Wiblinger-Aebte;art4299,1492447 [02. 05. 2014]. 33 Vgl. Franz Xaver Bischof, „Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774–1860) – Kirchenreformer im frühen 19. Jahrhundert,“ in Theologische Profile. Schweizer Theologen und Theologinnen im 19. und 20. Jahrhundert = Portraits théologiques. Théologiens et théologiennes suisses des 19e et 20e siècles, ed. Bruno Bürki und Stephan Leimgruber (Freiburg / Schw. 1998), 19–33. 34 Vgl. dazu Franz Xaver Bischof, Das Ende des Bistums Konstanz: Hochstift und Bistum Konstanz im Spannungsfeld von Säkularisation und Suppression (1802/03–1821/27), Münchener Kirchenhistorische Studien 1, (Stuttgart u.  a. 1989). 35 Vgl. Josef Steiner, Liturgiereform in der Aufklärungszeit: Eine Darstellung am Beispiel Vitus Anton Winters, Freiburger Theologische Studien 100 (Freiburg i. Br. u.  a. 1976).

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Sozialwesen, als aufgeklärte Zeitgenossen tätig waren. Es ist eine breit gefächerte Gruppe, deren gemeinsames Ziel die Volksaufklärung36 im Sinne katholischer Glaubenspraxis ist.

2 Das Liturgieverständnis der Aufklärungszeit Einer der besonders profilierten Liturgietheologen der Aufklärungszeit war Vitus Anton Winter. In seiner Schrift „Liturgie was sie seyn soll“37 hat er 1809 einige Merkmale des katholischen Gottesdienstes herausgearbeitet. Im Hintergrund stand auch bei ihm das in der Aufklärungszeit zugrundeliegende Verständnis, Liturgie solle der Belehrung und Erbauung des Menschen auf Sittlichkeit hin dienen. Ihre Aufgabe ist die „religiös-sittliche Aufklärung des Verstandes“.38 Winter umschreibt sie so: „Die erhabene [sic!] Zwecke, auf deren Realisirung der öffentliche Gottesdienst ausgeht, sind in Hinsicht auf uns selbst, unsere religiössittliche [sic!] Kenntnisse aufzuhellen, und das Herz dafür zu erwärmen“.39 Auch Gebete und Gesänge, „Observanzen“ und Ritus40 dienen diesem Zweck, „weisen doch immer auf religiöse Ideen hin, stellen sie sinnlich dar, und werden eben

36 Zur Volksaufklärung vgl. aus einer umfassenden Literatur Holger Böning u.  a., Hg., Volks­auf­ klä­rung: Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts, Presse und Geschichte – neue Beiträge 27 (Bremen 2007); Holger Böning und Reinhart Siegert, Volksaufklärung: Bio­biblio­ graphisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850. Bd. I: Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780 (Stuttgart-Bad Cannstatt 1990); Bd.  II: Der Höhepunkt der Volksaufklärung 1781–1800 und die Zäsur durch die Französische Revolution (Stuttgart-Bad Cannstatt 2001). Die Erneuerung der Liturgie in der katholischen Aufklärung läuft parallel zur Volksaufklärung. Die Liturgie besaß für die katholischen Aufklärer besondere Bedeutung, „ist doch auf diesem Weg ein Einwirken auf breite Kreise möglich. Eine religiöse Gemeinschaft, die auf das ganze Volk abzielt, versucht, diese Kommunikation der einzelnen Schichten in den Griff zu bekommen“ (Bendel 1996 [wie Anm. 9], 419). Handschuh 2014 (wie Anm. 3), 213  f weist auf ein besonderes Verhältnis zur Volksaufklärung hin, „deren Potential man für die eigenen Interessen nutzte und partiell an deren innerweltlicher Zielsetzung partizipierte, diese aber ebenso christlich wendete: Wahre Aufklärung wurde mit katholischer Religion in der aufgeklärt-katholischen Variante gleichgesetzt, Katholische Volksaufklärung als Medium der Vermittlung eingesetzt.“ 37 Vgl. Vitus Anton Winter, Liturgie was sie seyn soll, unter Hinblick auf das, was sie im Christen­ thume ist, oder Theorie der öffentlichen Gottesverehrung vermischt mit Empyrie (München 1809). 38 Winter 1809 (wie Anm. 37), 67. 39 Winter 1809 (wie Anm. 37), 68. 40 Vgl. Winter 1809 (wie Anm. 37), 69  f.



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dadurch auch belehrend“.41 Als zweiten Zweck nennt Winter die „Besserung des Herzens oder Erbauung“.42 Winter lehnte, wie in der Liturgik der Aufklärungszeit üblich43, in der Konsequenz einen solchen öffentlichen Gottesdienst ab, der Unglauben und Aberglauben fördern konnte. Damit waren – nicht nur für ihn – insbesondere Exorzismen44 gemeint, aber auch die auf Fürbitte vertrauende Heiligenverehrung, die letztlich auf eine Entehrung Gottes hinauslaufe45, und beispielsweise Wallfahrten.46 Neben einem als problematisch empfundenen Gottesbild lehnte Winter jene Liturgie ab, die zu einer rein äußerlichen Religiosität führte. Eine solche Liturgie diente ebenso wenig der Erziehung und Bildung des Menschen wie der vernünftigen Gottesverehrung. Mechanismus in der Liturgie, also die nur äußerliche oder rein gewohnheitsmäßige Liturgie, wurde ebenfalls verworfen, weil er der Entwicklung und Vervollkommnung der Sittlichkeit des Menschen im Wege stand.47 Positiv gewendet sollte die Liturgie Bedeutung tragen für den Menschen, musste deshalb erbaulich und volkstümlich sein. Zudem verlangte Winter nach einer zweckmäßigen Liturgie, weil diese auf Sittlichkeit des Menschen hin wirke: „Sittlichkeit als das unbedingte Gut der Menschheit sey, und bleibe immer das Vorzüglichste, was hier zur Sprache kommen soll!  – Sittenlehre ertöne von den Kanzeln! – Sittenlehre von den Beichtstühlen! Sittenlehre verkündigen die Gemälde an den Wänden unserer Tempel!  – Sittenlehre die Statuen auf den

41 Winter 1809 (wie Anm. 37), 70. 42 Winter 1809 (wie Anm. 37), 70. 43 Barbara Goy, Aufklärung und Volksfrömmigkeit in den Bistümern Würzburg und Bamberg, Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 21 (Würzburg 1969), 292, spricht von einer „überall herrschende[n] Furcht vor ‚Aberglauben‘“. 44 Vgl. dazu im Zusammenhang der Kindertaufe Manfred Probst, Der Ritus der Kindertaufe: Die Reformversuche der katholischen Aufklärung des deutschen Sprachbereiches, Trierer Theologische Studien 39 (Trier 1981), 236, 240  f. u. ö. 45 Vgl. Albert Vierbach, Die liturgischen Anschauungen des Vitus Anton Winter: Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung, Münchener Studien zur historischen Theologie 9 (München 1929), 73, Anm. 5. Verschiedene Kritikpunkte gegenüber der Heiligenverehrung finden sich bei Winter 1809 (wie Anm. 37), 168: „Wird nicht ganz entschieden das alles umfassende Vaterherz Gottes in ein nachtheiliges Licht gesetzt, als wenn es nur durch fremde Fürbitten, abgesehen von unserm moralischen Lebenswandel, gerührt werden könnte, und müßte? Wie aber eine solche Art Heiligendienst der Ehre Gottes nachtheilig ist, so schadet er selbst dem physischen und moralischen Wohle der Verehrer, weil sie so oft bey der von Gott schon gesandten Hülfe, bey den zur Linderung ihrer Leiden geschaffenen Mitteln vorübergehen, und dieselben erst in der Ferne – erst dort finden wollen, wo sie dieselben nicht zu suchen haben.“ 46 Vgl. die Beispiele bei Bendel 1996 (wie Anm. 9), 455–465. 47 Vgl. Vierbach 1929 (wie Anm. 45), 74–77.

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Altären! – Sittenlehre die Zeremonien und Gebräuche im Heiligthume der Messe, und bey der Ausspendung anderer Geheimnisse!“48 Im Dienst dieser Vermittlung von Sittlichkeit stand die Liturgie mit Ästhetik, Vielfalt und Abwechslung sowie einer auf den Gesamteindruck zielenden einheitlichen Gestaltung. Entsprechend konnte ein Zeitgenosse Winters, Amand Storr, 1812 schreiben, die Liturgie müsse „in der, ohnehin vom göttlichen Geiste der Wahrheit regierten katholischen Kirche, so beschaffen seyn, daß sie  – den Grundsätzen der Vernunft zu Folge,  – den Verstand über alles, was vorgeht, unterrichte, das Herz dabey rühre, und das Gemüth erbaue.“49 Die Liturgie muss für Storr und seine Zeitgenossen schriftgemäß sein, frei von Irrtümern, Gottes würdig, „geistvolle Anbetung“, erfüllt von „Aufopferung des ganzen Menschen zu Gott“.50 Jahrzehnte später schickte der Tübinger Theologe Joseph Gehringer seiner Speziellen Liturgik eine Unterscheidung von „zwei Arten liturgischer Handlungen“ voraus. Zunächst nannte er „liturgische Handlungen, durch welche Gott seine Liebe den Menschen zuwendet‘“, dann solche, „durch welche die Menschen ihre Liebe gegen Gott darstellen“.51 Sie sind Gnadenmittel, und zwar insofern, „als sie uns antreiben, die Gnade Gottes zu suchen“.52 Eindrücklich sind Ausführungen zur Segnung von Häusern und Schiffen. Notwendig seien sie nicht, so Gehringer, „aber der Geistliche kann bei der Erbauung eines Hauses oder Schiffes belehrende Worte sprechen und für die Bauleute und Eigenthümer beten“.53 Doch eine „Handhabbarkeit Gottes“ im Sinne einer direkten Einflussnahme auf Gott ist hier nicht zu erkennen, und schon gar nicht als Programm. Winter sah den Zweck des Gebets „in dem Beter und zwar in seiner Erbauung“ und konnte dann formulieren: „[Wem] leuchtet nicht ein, daß wir nicht darum beten, um zu beten, oder was Eins ist, um Gott unsere Bedürfnisse vorzutragen, welche vor seinem allsehenden Auge ohnehin offen da liegen, sondern um uns zu erbauen, um unsern Geist zu erheben, unser Herz zu beruhigen, und zu reinigen, um uns so des Einflusses des göttlichen Geistes würdiger, und empfänglicher zu machen?“54

48 Winter 1809 (wie Anm. 37), 213. 49 Amand Storr, „Wie soll die Liturgie der christkatholischen Kirche nach den Grundsätzen der Vernunft beschaffen seyn?,“ in Archiv für die Pastoralkonferenzen in den Landkapiteln des ­Bisthums Konstanz 1812, Bd. II, 344–368, hier 344. 50 Storr 1812 (wie Anm. 49), 345. 51 Joseph Gehringer, Liturgik: Ein Leitfaden zu akademischen Vorträgen über die christliche Liturgie nach den Grundsätzen der katholischen Kirche (Tübingen 1848), 73. 52 Gehringer 1848 (wie Anm. 51), 75. 53 Gehringer 1848 (wie Anm. 51), 253. 54 Winter 1809 (wie Anm. 37), 32.



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Die Liturgik betrachtete entsprechend die Liturgie als „Bildungsschule des Volkes“.55 Von einer „Handhabbarmachung“ Gottes durch die Liturgie kann sicherlich nicht die Rede sein. Kann man aber von einer Rationalisierung der Liturgie sprechen? Das soll mit Blick auf die in dieser Zeit entstehende Liturgik oder Liturgiewissenschaft und auf die nichtsprachlichen Ausdrucksformen der Liturgie, hier den Umgang mit Gesang, Gewand und Zeichenhandlung, erfragt werden. Es sollen bewusst nicht allein verbale, sondern vorrangig nonverbale Elemente der Liturgie in den Blick genommen werden, für die der Zusammenhang mit der gerade skizzierten Programmatik sich nicht sofort erschließt.

3 Theologisch-kritische Reflexion der Liturgie Die Anfänge einer eigenen theologischen Disziplin „Liturgiewissenschaft“ liegen in der Aufklärungszeit. Theologen reflektierten die unterschiedlichen Gottesdienste daraufhin, ob in ihnen Gott so erfahren wird, dass die Gläubigen durch die Mitfeier in die religiösen und ethischen Grundsätzen des Christentums weiter hineinwachsen und entsprechend sittlich leben. Gottesglaube und Lebenspraxis wurden eng miteinander verbunden, eine verstärkte Anthropozentrik ist in der liturgiewissenschaftlichen Debatte der Zeit nicht zu übersehen. Die Liturgie wurde – in der Perspektive der Theologen, die sich als aufgeklärt verstanden – konsequent auf die Situation des Menschen hin reflektiert. Die Möglichkeit, den Gottesdienst zu verstehen, die pastorale Situation, in der Gottesdienst gefeiert wurde, der Bezug zum Anlass, die Ästhetik der Liturgie, die den Menschen in seiner Sinnenhaftigkeit ansprechen sollte, waren im Blick. Der hermeneutische Ausgangspunkt für das Verständnis der Liturgie war der liturgiefeiernde Mensch. Das schloss eine Theozentrik der Liturgie nicht aus, denn der Mensch sollte sich auf Gott ausrichten und entsprechend leben.56 Deshalb lag der Akzent auf der „Bedeutung der Liturgie feiernden Gemeinde als Adressat sittlicher Belehrung und Erbauung“.57 Und dafür unternahm man den Versuch, Teile der Tradition wie der Gegenwartskultur zusammenzubringen und zu einer Synthese zu führen.

55 Vierbach 1929 (wie Anm. 45), 89. 56 Dazu jetzt Handschuh 2014 (wie Anm. 3), 104–128. 57 Manfred Probst, „Die katholischen Riten zur Sterbebegleitung und zur Beerdigung im Zeit­ alter der Aufklärung. B. Begräbnis,“ in Liturgie im Angesicht des Todes: Reformatorische und katholische Traditionen der Neuzeit II, ed. Hansjakob Becker u.  a., Pietas liturgica 14 (Tübingen 2004), 900–986, hier 982.

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Ein gutes Beispiel dafür sind Benediktionen, also Segnungen in unterschiedlichen Situationen von Kirche, Gemeinwesen und Individuum. Weil hier in besonderer Weise Magie und Aberglauben drohten, waren sie ein bevorzugtes Reformobjekt. Hier wurden Auseinandersetzungen fortgeführt, die schon der Barockzeit nicht fremd gewesen waren. Bereits das Konstanzer Benedictionale von 1781 warnte nachdrücklich vor Aberglauben und Magie.58 In den Kontroversen der Zeit wurde betont, es könne nur um Fürbitten gehen, die in bestimmten Anliegen eingelegt würden. Benediktionen durften um etwas bitten, sie sollten den Menschen auf Gott hin orientieren und Gott als Schöpfer anerkennen, sollten Vertrauen gegenüber Gott ausdrücken und den Glauben fördern.59 Was sie indes für die Aufgeklärten nicht besaßen, war jene „innere Kraft“60, die das Erbetene „quasi ex opere operato“61 erwirkte. Die aufgeklärten Theologen beklagten insbesondere die Vorstellung, in jeder Gefahrenlage den Teufel im Spiel zu sehen.62 Die Benediktionen sollten reduziert, dafür Gottvertrauen und Vorsehungsglaube gestärkt werden.63 Wo Benediktionen verwendet wurden, sollte, so Ignatz Heinrich von Wessenberg, in passender Weise aus der Bibel gelesen werden, der Exorzismus, der direkt irgendein böses Wesen ansprach, unterbleiben sowie für knappe Prägnanz gesorgt werden.64 Wessenberg hat in seinem 1831 erschienenen Rituale nur wenige Benediktionen vorgesehen.65 Er

58 Benedictionale Constantiense, Iussu Et Authoritate Celsissimi & Reverendissimi Domini Domini Maximiliani Christophori, Dei Gratia Episcopi Constantiensis, S. R. I. Principis, Domini Augiæ Maioris, Et Oeningæ, Inclyti Ord. S. Ioan. Ierosol. Bajulivii, & Protectoris &c. &c. Iuxta Normam Ritualis Romani Reformatum, Approbatum, Et Editum (Konstanz 1781), 3: „Unde Sacerdos iis, qui Benedictionem hujusmodi petunt, certitudinem effectus non promittat, sed potius rei eventum a divina voluntate, & NB. petentium quoque devotione, cordis contritione, & fide, ac spe, seu fiducia in Deum pendere ostendat.“ Ebd., 10 wird der „Legitimus usus rerum benedictarum“ beschrieben. Vgl. Keller 1965 (wie Anm. 8), 248  f. 59 Vgl. Keller 1965 (wie Anm. 8), 249–252. 60 Keller 1965 (wie Anm. 8), 249. 61 Keller 1965 (wie Anm. 8), 249. 62 Vgl. Keller 1965 (wie Anm. 8), 251 u. ö. 63 Vgl. Keller 1965 (wie Anm. 8), 252. 64 Vgl. Keller 1965 (wie Anm. 8), 254  f. 65 [Ignaz Heinrich von Wessenberg], Ritual nach dem Geiste und den Anordnungen der katholischen Kirche, oder praktische Anleitung für den katholischen Seelsorger zur erbaulichen und lehrreichen Verwaltung des liturgischen Amtes: Zugleich ein Erbauungsbuch für die Gläubigen (Stuttgart / Tübingen 1831), enthält Segnungen von Wasser und Salz, die Aussegnung der Wöchnerinnen, die Segnung der Palmzweige am Palmsonntag, die Segnungen in der Osternacht, Segnun­gen bei der Grundsteinlegung für eine neue Kirche sowie die Kirchweihe, die Segnung eines neuen Taufsteins, die Glockenweihe, die Einweihung eines neuen Friedhofs. Es handelt



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reduzierte und korrigierte die Tradition nach seinem theologischen Verständnis dieser Liturgie. Man unterzog also die tradierte Liturgie einer kritischen Analyse und reformierte dann Inhalt und Form im Sinne der Aufklärung. Dahinter standen klare Strategien, beispielsweise eine gezielte und gut organisierte (Fort-)Bildung des Klerus66 und eine entsprechende Unterweisung der Gemeinden, um den Gottesglauben in neuer Weise handhabbar zu machen. Man reformierte das Theologiestudium, so in der theresianischen Studienreform des 18. Jahrhunderts. Im Rautenstrauch’schen „Entwurf zur Einrichtung der theologischen Schulen“ (1774, 1782, 1784) liest man über den „Diener des Evangeliums“, dass er Verantwortung für die Liturgie trägt: „Will er dieß nicht maschinenmäßig, sondern mit wahrer Andacht und Einsicht verrichten, so muß er sich die Entstehung, den Fortgang, und die Bedeutung der Sakramente, ihrer Ceremonien, ihrer Gebräuche, und der übrigen Liturgie bekannt machen“.67 Auf Pastoralkonferenzen, wie sie beispielsweise im Bistum Konstanz regelmäßig und in Rückkopplung an das Ordinariat stattfanden68, wurden unterschiedliche theologische und praktische Themen diskutiert. Eine Reihe von Zeitschriften verbreitete die Anliegen der Aufklärungsliturgik im Klerus.69 Es wurden Monographien und erste Handbücher der Liturgik

sich also im Wesentlichen um Segnungen, die mit dem Kirchenjahr oder mit dem liturgischen Raum im weiteren Sinne zu tun haben. 66 Das arbeitet für Wessenberg materialreich heraus: Bischof 1998 (wie Anm. 33). Wessenberg war der „Überzeugung, dass nur ein sich immer neu um Bildung der Gesamtpersönlichkeit bemühender Klerus den seelsorgerlichen und kulturell-gesellschaftlichen Anforderungen einer in raschem Wandel sich befindlichen Zeit gewachsen sei“ (ebd., 25). Bischof stellt heraus, dass Bildung wie Fortbildung Anliegen Wessenbergs waren. 67 [Franz Stephan Rautenstrauch], Entwurf zur Einrichtung der theologischen Schulen in den k. k. Erblanden (Wien 1782), 6  f. 68 Vgl. Michael Langenfeld, „Weiterbildung und Kooperation,“ in Der Diözesanklerus, ed. Erwin Gatz, Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – Die katholische Kirche – IV (Freiburg i. Br. u.  a. 1995), 363–375. Einen Überblick für das Bistum Konstanz ermöglicht Alois Stiefvater, Das Konstanzer Pastoral-Archiv: Ein Beitrag zur kirchlichen Reformbestrebung im Bistum Konstanz unter dem Generalvikar I. H. von Wessenberg, 1802–1827 (Freiburg i. Br. 1940). 69 Vgl. u.  a. Kohlschein 1996 (wie Anm. 16), 51–53; Benedikt Kranemann, „Nachdenken über den Cultus: Themen der Liturgie und ihre Vermittlung im ‚Diöcesanblatt für den Clerus der Fürstbischöflich Breslauer Diöces‘ (1803–1820),“ in Kohlschein / Wünsche 1996 (wie Anm. 3), 120–142; Andreas Miksa, Diöcesanblatt für den Clerus der Fürstbischöflich Breslauer Diöces, 1803–1820, Arbeiten zur schlesischen Kirchengeschichte 1 (Sigmaringen 1988); Stiefvater 1940 (wie Anm. 68); Walter von Arx, „Liturgische Reflexion im Klerus anhand des ‚Archivs für die Pastoralkonferenzen in den Landkapiteln des Bisthums Konstanz‘,“ in Kohlschein / Wünsche 1996 (wie Anm. 3), 143–187.

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publiziert. Vor allem aber wurden auch neue liturgische Bücher veröffentlicht. Sie erschienen als amtliche wie private Ausgaben und besaßen unterschied­ liche Verbindlichkeit. Unter den Experten, nämlich im Klerus, wurde eine breite Diskussion über Fragen der Liturgie angeregt. Dabei tauchten immer wieder die Schlüsselbegriffe „Belehrung“ und „Erbauung“ auf.70 Unter „Zweckmäßigkeit“ wurde erörtert, wie weit rituelle Abläufe, einzelne Gebetstexte und Handlungen, Gesang, Bild, Raum usw. dem Grundkonzept des Gottesdienstes in dieser Zeit entsprachen.71 Es wurde ein Expertentum in liturgischen Fragen gebildet. Diese Experten nahmen in der Gemeinde die Rolle von Lehrern ein, die die zu Belehrenden in Religionsfragen unterrichteten. Dafür wurde nicht nur neues Wissen generiert, sondern es wurden auch neue Wege der Wissensvermittlung geschaffen. Diese Experten, und das meint nicht mehr nur einzelne ausgewählte Kleriker, sahen sich in die Lage versetzt, sich über die Sinnhaftigkeit und Wirkung von Liturgien ein Urteil zu bilden und möglicherweise in die Liturgie gestalterisch einzugreifen. Wenn, wie im Bistum Konstanz geschehen, sogar ein Wettbewerb um ein neues Diözesanrituale ausgeschrieben wurde72, trug das zu einer neuen Rationalität bei: Die Liturgie war nicht per se etwas Heiliges und Gegebenes, sondern konnte im Sinne der Medialität für den Gottesglauben auf neue Erkenntnisse und Herausforderungen hin verändert werden. Der Umgang mit dem tradierten Ritual wandelte sich.

4 Reform der Liturgie Die Liturgie wurde zum Ort und Mittel, um, wie beschrieben, die Ergriffenheit des Menschen zu fördern, den Gläubigen anzuhalten, das Gute zu tun, die Aufnahme der Sittenlehre zu fördern.73 Dass Sprache und Predigt dabei eine Rolle spielten, ist selbstverständlich und deshalb häufig beschrieben worden. Wie aber sah es

70 Vgl. Benedikt Kranemann, Die Krankensalbung in der Zeit der Aufklärung: Ritualien und pastoralliturgische Studien im deutschen Sprachgebiet, Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 72 (Münster 1990), 42–48. 71 Vgl. Kranemann 1990 (wie Anm. 70), 48–51. 72 Vgl. dazu Benedikt Kranemann, „‚Liturgie der Aufruf, und tugendhaftes Leben der Nachhall‘: Zum Rituale-Entwurf Romuald Krocers aus dem Jahre 1812,“ in Archiv für Liturgiewissenschaft 31 (1989), 79–99. 73 Vgl. Vierbach 1929 (wie Anm. 45), 96.



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mit den stärker sinnenhaften Elementen der Liturgie, mit Zeichensprachen wie Gesang, Gewand und Handlung in der Liturgie aus?

4.1 Der Gesang in der Liturgie Die Aufklärung hat den Gesang in der Liturgie gefördert, es entstanden verschiedene Gesangbücher. Dem Gesang wurde besondere Bedeutung für die Liturgie beigemessen: Winter, darin sicherlich nicht alleine, stellte hohe Ansprüche. Die Ästhetik der Liturgie sollte dem entsprechen, was gefeiert wird: „Ein edler Geist“ sollte im Gesang herrschen, damit Musik und Gesang „die schönsten und lebhaftesten Gefühle […] hervorbringen“.74 Winter ging es um die Offenheit für die Glaubenswahrheiten, die zum Ausdruck kommen, aber auch um die Motivation – er schreibt vom ‚nöthigen Feuer‘ – zu einer entsprechenden Lebenspraxis.75 Generell sollten die Lieder verstanden werden können, denn nur so war eine wirkliche Teilnahme der Gläubigen an der Liturgie möglich und konnten die Lieder eine Wirkung entfalten.76 Das 1777 zu Landshut erschienene Gesangbuch „Der heilige Gesang zum Gottesdienste in der römisch-katholischen Kirche“ bemerkt in der „Vorerinnerung“, ein zerstreutes Gebet gefalle Gott nicht. Deshalb hätten schon die alten Christen „Psalmen und geistliche Lieder“ gesungen.77 Neben der inneren wird hier die äußere Sammlung betont, die Sammlung der Gemeinde.78 Die gemeinschaftliche Liturgie ist ein Ideal der Zeit. Die überlieferte Klerikerliturgie soll aufgeben werden. Der ideale Gesang soll Gott „mit Inbrunst des Herzens, im Geist und in der Wahrheit anbethen, und mit dem Gesange ihn loben und preisen.“79 Die Lieder sollen ermuntern, trösten, „in der Tugend wachsen“ lassen.80 Interessant ist der Hinweis, dass auf Geheiß des Landesvaters in den Realschulen das Singen beigebracht werden soll: „zur Erziehung guter

74 Vitus Anton Winter, Erstes deutsches, kritisches, katholisches Ritual mit stetem Hinblick auf die Agenden der Protestanten, oder Prüfung des katholischen Rituals und der Agenden der Protestanten (Landshut 1811), 72. 75 Vgl. Winter 1811 (wie Anm. 74), 71  f. 76 Vgl. Walter von Arx, „‚Der nach dem Sinne der katholischen Kirche singende Christ‘ (Fulda 1778),“ in Kohlschein / Küppers 1993 (wie Anm. 15), 15–84, hier 83. 77 Vgl. Der heilige Gesang zum Gottesdienste in der römisch-katholischen Kirche: Erster Theil. Mit gnädigster Genehmhaltung, Landshut 1777. Faksimile Ausgabe nach dem Exemplar der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, ed. Stadt Landshut mit einem Nachwort von Gerhard Tausche (Landshut 2003), 3. 78 Vgl. Der heilige Gesang zum Gottesdienste (wie Anm. 77), 3. 79 Der heilige Gesang zum Gottesdienste (wie Anm. 77), 3. 80 Der heilige Gesang zum Gottesdienste (wie Anm. 77), 4.

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Christen und guter Bürger“.81 Das Moment der Erziehung und die Parallelisierung von Kirche und Gesellschaft fallen auf. In den einzelnen Liedern stößt man auf eine bemerkenswerte theologische Akzentsetzung. Ein Beispiel: Im Fuldaer Gesangbuch von 1778 ist auffallend häufig von der Majestät und Güte Gottes sowie der „Zweckmäßigkeit der Schöpfung“ die Rede82, die generell als herausragende Motive der Kirchenlieder der Zeit identifiziert worden sind.83 Das Lob Gottes und der Schöpfung bildet immer wieder den Grundton dieser Gesangbücher und ihrer Lieder.84 Der Unterschied von „Licht und Dunkel, von Tag und Nacht“ wird je neu thematisiert.85 Die Gesänge sollten Religiosität und Sittlichkeit fördern.86 Man zielte neben Belehrung und Erbauung auf eine Verlebendigung und ein Mehr an Beteiligung an der Liturgie. Zugleich wollte man auch über das Kirchenlied eine Anpassung der Liturgie an unterschiedliche Situationen der Pastoral ermöglichen. Aber man ging darüber hinaus, wenn man das Motiv der Aufklärung des Menschen und damit das Mündigkeitsideal nach vorne stellte. „Eine erneuerte Frömmigkeit mit einer positiven Sicht von Welt und Mensch  – verbunden mit einem ethischen Optimismus – suchte nach Ausdruck.“87 In diesem Sinne diente das Gesangbuch auch der Katechese und Erziehung sowie der Förderung von Tugendhaftigkeit.88 Für Joseph Gehringer war der Gesang ein Aspekt der Innerlichkeit wie der Schönheit der Liturgie. Gesang war für ihn „die schöne Sprache der Seele“.89 Zwischen Gesang und religiösem Gefühl stellte er eine enge Verbindung her. Durch einen angemessen schönen Gesang werde „der religiöse Ton des Seelenlebens

81 Der heilige Gesang zum Gottesdienste (wie Anm. 77), 5. 82 von Arx 1993 (wie Anm. 76), 84. 83 Helmut Hucke, „[Singen und Musizieren] Das Kirchenlied“, in Gestalt des Gottesdienstes: Sprachliche und nichtsprachliche Ausdrucksformen, ed. Rupert Berger u.  a., Gottesdienst der Kirche 3 (Regensburg 1990), 165–179, hier 174  f. 84 Vgl. Hermann Ühlein-Sari, „‚Der heilige Gesang zum Gottesdienste in der römisch-katholischen Kirche:‘ Der erste Band des Landshuter Gebet- und Gesangbuches (Landshut 1777),“ in Kohlschein / Küppers 1993 (wie Anm. 15), 282–321, hier 290. 85 Vgl. Kurt Küppers, „‚Neues christkatholisches Gesang- und Gebetbuch für die Mainzer Erz­ diöces‘ (Mainz 1787),“ in Kohlschein / Küppers 1993 (wie Anm. 15), 85–136, hier 136. 86 Vgl. Hans-Joachim Ignatzi, Die Liturgie des Begräbnisses in der katholischen Aufklärung: Eine Untersuchung von Reformentwürfen im südlichen deutschen Sprachgebiet, Liturgiewissenschaft­ liche Quellen und Forschungen 75 (Münster 1994), 124–132. 87 Franz Kohlschein, „‚Christkatholisches Gesang- und Andachtsbuch zum Gebrauche bei der öffentlichen Gottesverehrung im Bisthum Konstanz‘ (Konstanz 1812),“ in Kohlschein / Küppers 1993 (wie Anm. 15), 137–281, hier 277. 88 Vgl. Ühlein-Sari 1993 (wie Anm. 84), 290. 89 Gehringer 1848 (wie Anm. 51), 38.



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veredelt.“90 Der Theologe markierte zugleich klar die Grenzen: Das österliche Exsultet bezeichnet er zwar als „schön“, aber nur für denjenigen, der nicht mitdenkt, denn „die Uebertreibung schweift aus und verletzt die Wahrheit“.91 Auch hier steht im Hintergrund eine Sicht der Liturgie „als lebendige Anbetung Gottes im Geiste und in der Wahrheit“, weshalb jedes mechanische, also äußer­liche Moment der Liturgie vermieden werden muss.92

4.2 Die liturgischen Gewänder Zur Sinnenhaftigkeit der Liturgie trug wesentlich die liturgische Kleidung bei, eine der Zeichensprachen der Liturgie.93 Ober- und Untergewänder der Kleriker besaßen verschiedene Funktionen, das rein Praktisch-Funktionale war schon lange zurückgetreten. Neben der Bedeutung als Insignie waren die Gewänder Bildträger, zeigten über eine Farbsymbolik die Zeiten des Festjahres an, deute­ ten die Liturgie aus und waren selbst Gegenstand unterschiedlicher liturgischer oder aszetischer Inhalte. Sie trugen wesentlich zur Gesamtästhetik der Liturgie bei. Wenn man sich die Prachtgewänder der Barockzeit anschaut, die phänotypisch für das Selbstverständnis dieser Liturgie stehen, reizt die Frage nach der Reaktion der theologischen Aufklärung. Was lässt sich der Bedeutungszuschreibung an liturgische Gewänder in Schriften der Aufklärungstheologie mit Blick auf den Sinn der Liturgie entnehmen? „Der Zweck der hl. Kleider ist zunächst ein ästhetischer“, schrieb 1835 Franz Xaver S ­ chmid in seiner einflussreichen Liturgik, für „eine so viel als möglich zweckmäßige Feier der Sakramente“.94 Eine Reduktion auf das Notwendige an liturgischem Schmuck war das Ziel, denn man wollte alles entfernen, so der Salzburger Fürsterzbischof Hieronymus Graf von Colloredo 1782 in einem Hirtenbrief, „was die Stille der Seele stöhren, die Gedanken zerstreuen und die hochachtungsvolle Aufmerksamkeit auf göttliche Wahrheiten schwächen kann“.95 Damit wird bereits deutlich, was nach Meinung von Bischöfen und Theologen Sinn der Liturgie war und was dem im Wege stehen konnte. Die Zeichen in der Liturgie sollten zur Erhabenheit und Rührung beitra-

90 Gehringer 1848 (wie Anm. 51), 38. 91 Gehringer 1848 (wie Anm. 51), 41. 92 Gehringer 1848 (wie Anm. 51), 43. 93 Die auch in der Liturgiegeschichte zu beobachtenden Zeichensprachen beschreibt Karl-Heinrich Bieritz, Liturgik, De-Gruyter-Lehrbuch (Berlin 2004), 41–46. 94 Franz Xaver ­Schmid, Liturgik der christkatholischen Religion, 3 Bde. (Passau 21835), I, 91. 95 Zit. nach Hollerweger 1976 (wie Anm. 10), 484.

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gen und dadurch dem eigentlichen Zweck der Liturgie zuarbeiten.96 Vitus Anton Winter weist auf die pädagogische Wirkung liturgischer Kleidung hin, denn diese sei „der Masse der Menschheit die bekannteste und eben deswegen die beliebteste und somit auch mehr geeignet …, den Worten des Priesters Eingang zu verschaffen als jede andere“.97 Bemerkenswert ist die Position und Deutung der Gewänder, die die dritte Auflage der „Liturgik“ von Franz Xaver ­Schmid 1840 vornimmt. Die Kleider künden nach S ­ chmid den Gläubigen „die Nähe der Erbarmung der unveränderlichen, über allen Wechsel erhabenen Gottheit“. Dem Priester, so ­Schmid, sind sie „eine Art Predigt  …, wie der Seelenzustand eines würdigen Priesters beschaffen ist“.98 Dem Laien wie dem Kleriker vermitteln sie die wahre Religion. Das wird auch dort deutlich, wo ­Schmid, durch die seit dem Mittelalter übliche Liturgieallegorese beeinflusst99, die einzelnen Gewandteile deutet: „Der würdige Kultdiener … ist ein Mann, der mit aller Gewalt (Manipel), sein Inneres und Aeusseres bewachend (Cingulum und Amiktus), nach Reinigkeit des Herzens (Alba) ringet; dabey aber innigst überzeugt ist, daß die Stola der Gerechtigkeit nur von Christus komme, und daher mit kindlicher Freude, voll Liebe zu dem bis in den Tod liebenden Erlöser, das Pflichtenjoch Jesu Christi auf sich nimmt.“100 Liturgieallegorese wird mit den zeitgenössischen Motiven von Sittlichkeit verbunden. Es ist Handhabung der Religion, die hier begegnet und die auf Steigerung von Sittlichkeit und ein vor Gott verantwortetes Lebens zielt, aber es geht nicht um Handhabung Gottes, als könne man sich Gott über Zeichen und Handlung verfügbar machen.

4.3 Zeichen und Zeichenhandlungen in der Liturgie Ähnliches lässt sich für die Zeichen und Zeichenhandlungen, also für Tauf-, Salbungs-, Segnungsgesten usw., feststellen. Vitus Anton Winter sah eine Aufgabe in der Anschauung des Ewigen. Im Sinnlichen wird das Übersinnliche zwar nicht handhabbar, aber es kommt doch zur Anschauung. Die Liturgie kann dadurch im bereits beschriebenen Sinne beim Menschen eine Wirkung entfalten. Durch die Ästhetik der Liturgie, hier als die schöne und sinnlich ansprechende äußere Gestalt verstanden, kann der Mensch für das Heilige gewonnen werden. Im „Kri96 So Franz Giftschütz, Leitfaden der in den k.k. Erblanden vorgeschriebenen deutschen Vorlesungen für die Pastoraltheologie (Grätz 1801), 251. 97 Vierbach 1929 (wie Anm. 45), 150. 98 ­Franz Xaver Schmid, Liturgik der christkatholischen Religion, 3 Bde. (Passau 31840), I, 197. 99 Überblick und Literatur bei Gerhards / Kranemann 2013 (wie Anm. 16), 28–30. 100 ­Schmid 1835 (wie Anm. 98), 199.



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tischen Ritual“ schrieb der Theologe: „Durch gute Symbole, welche die äußere Religion zur Hülfe ruft, wird der Geist des Menschen mit einer ungeheuern Schwungkraft den über alles erhabenen, überschwenglichen und unsichtbaren Gegenständen näher gerückt, sie kommen ihm, er ihnen entgegen, sie hören für ihn für einige Augenblicke auf, unsichtbar zu sein. Er schaut wirklich, was er sonst nur glaubte.“ Man schrieb also dem Nonverbalen seitens der aufgeklärten Liturgiker eine ausdrücklich hohe Bedeutung zu. „Diese Täuschung, während sie das Unsichtbare seinem Blicke näher rückt, erschüttert zugleich das Herz mit einer wohlthätigen Rührung und erzeugt jene Gemüthsstimmung, die lebendig ist und lebendig macht, das ist, zur Vollziehung der auf diesem Wege erhaltenen Wahrheiten mächtig antreibt.“101 Dafür verlangte Winter von den Zeichen und Zeichenhandlungen Klarheit und Eindeutigkeit. Sie sollten sich in das Gesamt der Liturgie einordnen. Die Liturgik von Gehringer ist im Zusammenhang aufschlussreich, weil sie einen Zusammenhang zwischen Gottesbild und Symbol herstellt. Gott ist in Geist und Wahrheit zu verehren. Deshalb müssen die Symbole so verwendet werden, dass nicht diese geistige Anbetung durch die Sinnenhaftigkeit der Liturgie „unterdrückt“ wird oder, wie Gehringer formuliert, „die Wahrheit durch täuschenden Schein verdrängt würde“.102 Die Logik hinter seinen Ausführungen lautete: Zeichen und Symbole fördern im Guten die Zwecke der Liturgie, im Schlechten den Aberglauben. Das eigentliche Ziel aber war, das „Gefühl der Gottseligkeit“ zu erwecken.103 Untersuchungen einzelner liturgischer Feiern wie Säuglingstaufe104, Trauung105, Krankensalbung106 und Begräbnis107 haben gezeigt, dass bestimmte Bedeutungszuschreibungen musterartig immer wieder auftauchen. Die Zeichen sollen erklärt werden, ein sinnvoller Umgang mit ihnen soll Aberglauben zu vermeiden helfen, sie sollen die liturgische Handlung zu verdeutlichen helfen, die Ästhetik der Liturgie fördern usw. Der Kontext, in dem all dieses steht, ist die Forderung nach einer erbaulichen und belehrenden Liturgie.

101 Winter 1811 (wie Anm. 74), 78. 102 Gehringer 1848 (wie Anm. 51), 47. 103 Gehringer 1848 (wie Anm. 51), 48. 104 Vgl. Probst 1981 (wie Anm. 44). 105 Vgl. Klaus Keller, Die Liturgie der Eheschließung in der katholischen Aufklärung: Eine Untersuchung der Reformentwürfe im deutschen Sprachraum, Münchener theologische Studien II. Systematische Abteilung 51 (St. Ottilien 1996). 106 Vgl. Kranemann 1990 (wie Anm. 70). 107 Vgl. Ignatzi 1994 (wie Anm. 86).

384 

 Benedikt Kranemann

In einer Studie über die Trauungsliturgie konnte nachgewiesen werden, wie sich gerade im Zusammenhang der Zeichenhandlungen immer wieder eine Rückversicherung und Selbstkontrolle der Kleriker und Theologen der Aufklärung zeigt. Man habe zur Debatte gestellt und gefragt, ob durch den Umgang mit den Symbolen und Handlungen die Vernunftgemäßheit und Nützlichkeit der Liturgie noch gewährleistet sei.108 Die Kritik der Liturgie ist nie beendet, Liturgie wird einer fortwährenden Revision unterworfen.

5 „Entzauberung“ der Liturgie in der katholischen Aufklärung Wenn für das religiöse Wissen im vormodernen Europa von einem Konflikt um Mythisierung und Rationalisierung die Rede ist109, darf man behaupten, dass von einer „Mythisierung“ der Liturgie in der katholischen Aufklärung nicht die Rede sein kann. Man versuchte im Gegenteil eine solche Mythisierung zu überwinden und die Liturgie nach den Prinzipien der Aufklärung rational zu befragen und entsprechend zu reformieren. Dabei war den Aufklärungstheologen bewusst, dass Liturgie in einer rationalisierten Version, begrenzt auf Wort und Predigt, die ihr eigene Wirkung nicht entfalten kann. Man wünschte vielmehr eine gläubige Innerlichkeit, der das rituelle Äußere und die Ästhetik der Liturgie entsprechen sollten. Nur wenn dieses Miteinander von verantworteter Glaubenslehre und erbaulicher Feier gewährleistet werden konnte, sprach man von einer gelingenden Liturgiefeier. Die vielfältigen Diskurse über die Liturgie und die Gewissheit, Liturgie in vielfältiger Weise reformieren zu können, kann man durchaus als „Entzauberung“ der Liturgie verstehen. Allerdings ging es den Theologen dieser Zeit nicht darum, Gott in irgendeiner Weise handhabbar zu machen. Von entsprechenden Praktiken, die man in der Geschichte oder der jüngeren Tradition meinte finden zu können, wollte man sich absetzen. Leitend war vielmehr ein Verständnis von Liturgie, das diese als Weg zu einem gottgemäßen Leben des Menschen verstand. In Liturgien der Krankensalbung findet sich die Vorstellung, dass die Religion dem Menschen den Lebensplan Gottes erleuchten kann, damit der Mensch nicht vom Tugendweg abweicht und zur Glückseligkeit findet. Der Mensch soll in Frei-

108 Vgl. Keller 1965 (wie Anm. 8), 665  f. 109 Diese These lag der zu Beginn dieses Aufsatzes erwähnten Tagung zugrunde. Vgl. dazu auch die Einleitung in diesem Band.



Die Liturgie der Aufklärung  

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heit den Tugendweg zu Gott gehen, so wird sich dann für ihn der Plan Gottes erfüllen. Die Anwesenheit Gottes wird ebenso vorausgesetzt wie ein bestimmtes Gottesbild gegeben ist. Dem entspricht eine Liturgie, die dem Menschen einerseits die Verehrung Gottes und andererseits ein vor Gott verantwortetes Leben ermöglichen soll. Auf dieses theologische Modell hin wird die Liturgie reflektiert und reformiert. Damit veränderte sich das Verständnis des religiösen Rituals, das bestimmte Inhalte auf unterschiedliche Lebenssituationen hin ausdrücken und performativ zur Wirkung bringen sollte. Für das Ritual wurden Traditionsbindung und Flexibilität kombiniert. Wenn man die Geschichte der katholischen Liturgica durch die Geschichte hindurch verfolgt, ist diese Öffnung des Rituals etwas Neues. Weder auf diözesaner noch auf römischer Ebene kannte man dieses vor der katholischen Aufklärung in solcher Radikalität. Wenn man sieht, wie stark sich die genannten Theologen als Aufklärer verstanden und zugleich mit der Liturgie auseinandersetzten, kann man nicht einen Antiritualismus unterstellen. Es stellt sich sogar die Frage, ob man wirklich von einer Spaltung zwischen Kritik und Romantizismus mit Blick auf Rituale sprechen muss.110 Bietet die katholische Aufklärung nicht gerade ein Beispiel dafür, dass beides durchaus zusammengehen kann? Das soll aber nicht in Frage stellen, dass es sich bei den Veränderungen, die beschrieben worden sind, um eine weitreichende Transformation religiösen Wissens handelte. Ihre Konsequenzen für die weitere Liturgiegeschichte sind nicht zu unterschätzen.111

110 Vgl. Stollberg-Rilinger 2013 (wie Anm. 25), 238  f. 111 Das gilt allein schon auf der Ebene liturgiewissenschaftlicher Reflexion, die sich mit der Aufklärung wandelt und  – beispielsweise über die Handbuchliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – trotz veränderter theologischer Vorzeichen den Diskurs über Liturgie prägt. Eine detaillierte Untersuchung der Wirkung wie Rezeption der Liturgie und Liturgik der katholischen Aufklärung steht noch aus.

Register

Namenregister Abiram 194 Abner 200 Abraham 190, 196, 199, 200, 202, 290 Adam 140, 216, 331, 356 Adam de la Halle 335 Ado von Vienne 115, 118, 120, 130 Agamben, Giorgio 23, 26 Agobard von Lyon 193 Alkuin 116, 121, 122, 123, 199 Aldric von Le Mans 123, 125 Almir 124 Alveus 124 Amabilis von Riom 117 Amalarius von Metz 138 Ambrosius von Mailand 199, 200 Angilbert 121 Anselm von Canterbury 8, 239, 240, 241, 242, 243, 248, 251, 252, 254, 256, 257, 258, 259, 260, 264, 265, 266 Arius 140 Arn von Salzburg 123 Auer, Lambert SJ 158 Augustinus von Hippo 304 Avitus von Vienne 228 Balduin, Friedrich 177, 179 Basolus von Verzy 118 Bataille, Georges 23, 29 Beatus von Vendôme 118, 130 Benjaminiter 201 Benedikt von Nursia 125 Benedikt von Quinçay 118 Benoît de Sainte-Maure 328 Bernhardt, Bernhardus 154 Bertrand von Mans 126 Blarer, Ambrosius 37, 38, 41 Bloomfield, Morton 298 Blumenberg, Hans 4, 93, 94, 95, 96, 98 Boamir 124 Boethius 301, 307, 312, 314, 315, 316 Bogislaw XIV. 174, 175 Boileau-Despréaux, Nicolas 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 75, 79, 90, 91, 92 Bonifatius 136, 277, 280

Bonjohannes de Messana 350 Borromäus, Karl 82, 83, 85 Brant, Sebastian 358, 361, 362 Brecht, Bertolt 337 Brown, Peter 5, 120, 137 Bucer, Martin 37, 41, 47 Calais 124, 126, 128 Camus, Jean Pierre 89 Charon der Fährmann 65 Casimir, Johann 150, 151 Childebert I. 126 Chrétien de Troyes 17, 19, 20, 27, 28 Christian von Stablo 192 Christine de Pizan 297, 306, 322 Christus, s. Jesus Chlodwig 8, 230 Col, Gontier de 297 Col, Pierre de 297 Colloredo, Hieronymus Graf von 367, 381 Comenius, Johann Amos 176, 180, 181 Constantien 124 Curtius, Ernst Robert 306, 309 Cusanus, Nicolaus 101 Cyrillus Episcopus 350 Dagobert 122 Daniel 192 Dathan 194 David 6, 189, 190, 193, 195, 196, 198, 199, 200, 202, 229 Derrida, Jacques 23, 24 Descartes, René 94, 104 Desrey, Pierre 335 Dhuoda 191, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 202 Dienheim, Eberhard von 160 Digulleville, Guillaume de 9, 299, 300, 301, 302, 303, 309, 310, 311, 312, 313, 314, 317, 322 Diller, Johann Michael 153, 160 Donatus von Sisteron 118 Duda 195 Duvergier de Hauranne, Jean 79, 80

390 

 Namenregister

Eberhard von Friaul 193 Eberhard, Anton 153, 160 Egbert von Münster 280 Eli 198 Eliner, Jakob 52 Ermintrude 194 Etienne II. 229 Etienne IV. 230 Eustache Mercadé 335 Eva 216 Évroult d’Ouche 118 Fabricius, Heinrich 160 Fabricius, Jacob 165, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186 Fleck, Ludwik 9, 338 Flodoard 234 Florent 118 Florus von Lyon 118 Franken 9, 227, 228, 230, 231, 232, 234 Friedrich III. 150, 151, 152 Fulgentius Ferrandus 197 Gallio, Tolomeo, genannt Como 147, 148, 149 Galmier 118 Gamaliel 192 Gehringer, Joseph 370, 374, 380, 383 Genoveva von Paris 331 George, Aurèle und Nathalie 119 Gerbald 118, 131 Gerhard, Johann 169 Ghiso 128, 129 Gideon 193 Girard, René 23, 29 Godeau, Antoine 67, 73, 74, 75, 83, 85, 86, 88, 89, 91 Gotthard, Axel 156 Gréban, Arnoul 325, 327, 332, 334, 335, 336 Gregor von Tours 117, 120, 227, 231 Greiffenberg, Catharina Regina von 4, 93, 96, 97, 98, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 112 Gropper, Kaspar 151 Grosseteste, Robert 304 Guibert von Nogent 235 Guillaume Flamand 335

Gundulf 251, 256, 257, 258, 264, 265 Gustav II. Adolf 174 Hagar 199 Halitgar von Cambrai 123 Hallier, François 89 Hamm, Berndt 7, 169, 204, 214, 216, 217, 222, 349 Hannah 195 Hattstein, Marquardt von 150, 152, 159 Haverkamp, Anselm 93, 94 Heidewetter, Margaretha 180 Heinrich IV. 77, 242 Henoch 199 Henry 264, 266 Herluin von Bec 256 Hesiod 65 Hiob 192, 196, 198, 199 Hillinus von Notre-Dame-aux-Fonts 272 Hinkmar von Reims 121, 127, 136, 190, 194, 195, 197, 199, 201, 202, 231, 232, 234 Hrabanus Maurus 199, 200 Hucbald von Saint-Amand 234 Hude, Hermann von der 180, 181 Hugo von St. Viktor 267, 281, 287, 288, 289, 294 Hunnius, Nicolaus 176 Infantius, Georg 151, 152, 154, 155 Innozenz II. 233 Isaak 196, 199 Ivo von Chartres 267, 281 Jakob 193, 196, 199, 202 Jaloux, Edmond 330, 337 Janota, Johannes 207 Jaufre Rudel 19 Jean de Meun 297, 322 Jean de Montreuil 297 Jean Gerson 297, 307, 315, 321 Jean Golein 236 Jeanne d’Arc 237, 328 Jesus 80, 87, 101, 104, 153, 171, 173, 193, 195, 196, 197, 199, 203, 211, 212, 213, 215, 219, 282, 284, 285, 288, 295, 307, 312, 331, 332, 355, 368, 382 Joab 200

Namenregister 

Johannes Agricola 356 Johannes de Castro 333 Johannes der Täufer 273, 286, 292, 293 Jonas von Orléans 192, 198, 199, 200 Josef 6, 189, 192, 196, 199, 202 Josef von Arimathäa 192 Josua 190 Jouvet, Louis 337 Judas Iskariot 194, 332 Justinus 117 Karl der Große 6, 126, 132, 133, 137, 189, 202, 229, 230 Karl der Kahle 194, 231 Karl von Orléans 318 Karl III. 233 Karl V. 236 Karl VI. 237 Karl VII. 237 Karl X. 236 Karlmann I. 229, 230 Karolinger 5, 6, 115, 116, 117, 119, 120, 122, 123, 124, 126, 127, 128, 129, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 140, 141, 143, 144, 145, 146, 189, 190, 192, 193, 194, 196, 197, 198, 199, 201, 219, 230, 231, 233 Katzenellenbogen, Adolf 298 Keefe, Susan 137 Keil, Hans 176 König, Benigna 180 Konrad von Würzburg 17 Konstantin der Große 227 Lacan, Jacques 22, 23, 24, 28, 29, 30 Laetus von Orléans 118 Lanfranc von Bec 242 Latini, Brunetto 302, 321 Laumer von Corbion 118 Launillus 126 Laurent, Frère 330 Lavater, Ludwig 39 Leo von Troyes 118, 119 Leonius von Melun 119 Lewis, C.S. 306 Liwerski, Ruth 107, 108, 109 Lonochilius 116, 124, 127 Lorris, Guillaume de 297, 322

 391

Lothar II. 230 Lucifer 332 Ludwig II. / Ludwig der Stammler 190, 194, 232 Ludwig III. 233 Ludwig IV. 233, 234 Ludwig V. 233 Ludwig VI. (Frankreich) 233, 235 Ludwig VI. (Pfalzgraf) 150, 151 Ludwig X. 235 Ludwig XI. 235 Ludwig XIV. 236 Ludwig XV. 236 Ludwig XVI. 236 Ludwig der Fromme 121, 126, 191, 193, 229, 230, 231 Lupus von Troyes 118 Luther, Martin 36, 171, 172, 173, 176, 177, 179, 347, 349, 354 Lynn, Jacob 44 Manasse 193 Maria 6, 7, 203, 204, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 216, 217, 218, 219, 220, 221, 222, 223, 278, 285, 368 Marianus von Bourges 119 Marie de France 27 Marie Madeleine 332 Maurice 259, 260, 264, 265, 266, 335 Maximilian II. 156, 157 Melanchthon, Philipp 346, 347 Mervé 128, 129, 130 Mönch von Salzburg 7, 205, 221 Mose 190, 194, 199 Moses, Beatus 160 Muling, Adelphus 358, 361 Nagel, Paul 181 Newman, Barbara 220, 261, 263, 306 Nikodemus 192 Nikolaus von Lyra 335, 336 Noah 192, 198, 199 Oberstein, Andreas von 152 Oekolampad, Johannes 47 O’Kelly, Helen Watanabe 103 Oppen, David von 180

392 

 Namenregister

Origenes 355 Osterwa, Juliusz 325, 337 Ostianus 119, 120 Ottheinrich I. 150 Paleotti, Gabriele 334 Papebroch SJ, Daniel 158 Pascal, Blaise 102, 103, 104 Paxton, Fred 142, 144 Petersen, Johann Wilhelm 176 Petrus 172, 195, 241, 273 Petrus Aurelius 4, 79, 80, 83, 86, 87, 88, 89, 91 Pfeiffer, Augustin 176 Philippe de Mèzières 307, 319 Philipp I. 235 Philipp III. 236 Pierre d’Ailly 183 Pilgrim II. von Puchheim 205 Pippin der Jüngere 126, 228, 229, 230 Plinius der Ältere 353, 355 Pokorny, Rudolf 137 Poniatwska, Christina 180 Porcia, Bartolomeo 147, 148, 149, 155, 161 Pottenstein, Ulrich 350 Pra 335 Prüß, Johannes 358 Pseudo-Dionysius 267 Pseudo-Eligius 193 Pseudo-Haimo von Halberstadt 267 Rachel 195 Raoul von Soissons 233 Rebekka 195 Reginus 197 Reichard, Georg 180, 181 Remigius von Auxerre 281 Remigius von Reims 8, 234 Richelieu (Armand-Jean du Plessis, Premier Duc de Richelieu) 77, 79, 89 Ricmir 124 Richtrudis 122 Riculf 181 Rigomer 124, 126, 127 Riquier 116, 119, 121, 122, 123 Robert I. von Saint-Remi 233 Robert II. von Orléans 233

Robert, Frère 317 Robert von Le Mans 124 Romain de Blaye 117 Rougemont, Denis de 17, 18, 28 Rügerin, Susanna 180 Ruotger 118 Rupert von Deutz 210, 287 Rutebeuf 335 Sabellius 140 Sabinus 119 Sachs, Hans 9, 341, 342, 346, 349, 350, 353, 354, 355, 356, 357, 358, 361, 362, 363, 364 Salomo 6, 220, 229, 235 Samuel 198, 200, 229 Sarah 195 Saul 190, 200, 229 Scheffler, Johannes / Angelus Silesius 103 Schmid, Franz Xaver 182, 371, 381 Schulthaiß, Christoph 35, 42 Sedulius Scottus 193 Seethaler, Paula 219 Severus 117 Silvanus de Bourges 119 Similinus 117 Sorg, Anthonio 350 Spener, Philipp Jakob 171, 177, 183 Stollberg-Rilinger, Barbara 369, 370 Stolleisen, Heinrich 53 Stolterfoht, Jacob 170, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 180, 181, 182, 184, 185, 186 Storr, Amand 371, 374 Stricker 32 Susanna 195 Tenestina 127 Theodulf von Orléans 130, 135, 189, 199, 202 Theudarius von Vienne 115 Theobald von Provins 116 Thomas von Aquin 334 Thomas von Courcelles 335 Thomas Hélie de Biville 116 Thomas von England 27 Usuard 118, 119, 120

Namenregister 

Valentinus de Griselles 130 Venantius de Viviers 120 Vincent de Nevers 119 Vinzenz von Valencia 119 Vulmer de Samer 118 Wagner, Tobias 176 Walaricus 118 Wandrille de Fontenelle 118 Wénilon 231 Werner, Johann (Warner) 175, 180, 181, 186

 393

Wessenberg, Ignaz Heinrich von 371, 376, 377 Westerkamp, Dirk 101 Wetzel, Johannes 171, 180 Wiethölter, Waltraut 97, 108, 109 Winter, Vitus Anton 369, 371, 372, 373, 374, 379, 382, 383 Zacharias 136, 228 Zeami Motokiyo 338 Zwingli, Huldrych 36, 37

Ortsregister Aire-sur-l’Adour 117 Angers 333 Augsburg 50, 55, 156, 157, 350 – Bekenntnis / Confessio Augustana 35, 55 – Religionsbescheid 156 – Religionsfrieden 3, 50, 53, 54, 55, 147, 156, 157 – Verhandlungen 52, 53, 157 Auxerre 117, 281 Badelunda 64 Barcelona 119 Blaye 117 Bern 39, 49 Bordeaux 117 Bouliac 117 Bretagne 122 Centule / Saint-Riquier 121, 122 Cordoue 119 Crécy 121 Dijon 333, 335 Epaône 120 Fleury / Saint-Benoît-sur-Loire 128, 130 Forest-Montiers 121 Genf 40 Konstanz 35, 40, 41, 42, 46, 47, 49, 51, 52, 53, 149, 366, 371, 376, 377, 378 La Croixille 128 Langres 335 Le Mans 5 Limoges 123 Lindau 35, 41, 42, 43, 46, 47, 48, 49, 51, 53, 55 Lübeck 5, 167, 170, 176

Maine 128 Mamers 126 Meersburg 41 Memmingen 35, 41, 45, 46, 47, 48, 51, 52, 53 Metz 125, 231 Mont-Thabor 332 Nürnberg 9, 44, 342, 344, 345, 349, 350 Pommern 174, 175, 183 Ponthieu 116, 118 Port-Royal 79 Rhone 119 Riom 117 Romans 333, 335 Saint-Chef 115 Sainte Chapelle, Paris 67, 68, 69, 70 Saint-M’Hervé 128 Saint-Martin 123 Saint-Remi 118, 233, 234, 235 Skandinavien 3 Sonnois 126 Souligné-sous-Ballon 126 Spanien 119, 229 St. Gallen 39, 270 Stettin 5, 174, 175, 176 Straßburg 41, 353, 358, 363 Tarbes 117 Trient 68, 76, 82, 83, 88, 90, 148, 158, 334 Trondheim 61 Überlingen 41 Valois 76 Vivarais 119, 120 Wittenberg 64, 151, 181 Zürich 35, 38, 39, 48, 49

Sachregister Abendmahl 43, 153, 154, 155, 160 Aberglaube 9, 59, 63, 66, 125, 127, 143, 145, 234, 326, 369, 373, 376, 383 Absolutismus 89, 90 Admonitio Generalis 133, 134, 135, 136, 145 Akteur, Akteursnetzwerk 1, 5, 7, 8, 77, 88, 166, 169, 181, 243, 244, 245, 246, 249–265, 317, 323, 336, 337, 342, 343, 348, 364, 365 Allégorie de l‘homme raisonnable et de l‘entendement humain 318 Altar 50, 73, 82, 84, 126, 229, 268, 270, 374 Alterität 31 Amt 6, 78, 83, 150, 169, 170, 172, 173, 174, 175, 242, 249, 274, 371 – geistliches, Bischofs~, Kirchen~, Lehr~, Predigt~, Priester~ 73, 80, 82, 85, 168, 169, 170, 172, 185 – santritt 151 – sausübung 159 – szeit 150 amor de lonh 19 L’amour et l’occident 17 Artefakt 1, 8, 239, 247, 267, 268, 270, 271, 272, 274, 276, 280, 281, 284, 285, 286, 287, 289, 290, 291, 292, 293, 294, 295 A solis ortus cardine 222, 223 Äsop 347 Aufklärung 9, 66, 68, 69, 92, 163, 164, 365, 366, 369, 370, 371, 372, 375, 377, 379, 380, 381, 384, 385 – katholische 365, 366, 368, 369, 372, 384, 385 Ausbildung (des Klerus, der Laien) 22, 82, 91, 132, 133, 134, 137, 138, 140, 141, 142, 158, 159, 217, 218, 246, 281 Ausdifferenzierung 5, 91, 156, 159, 161, 307 Auslegung 157, 169, 179, 184, 210, 219, 289, 293, 355, 356, 357 Autorität 4, 61, 77, 80, 105, 159, 171, 175, 176, 181, 185, 191, 197, 201, 323

begrabene Ehemann, Der 37 Begräbnis 40, 46, 62, 65, 383 Bekenntnis 146, 150, 151, 153, 154, 208 – dokument 150 Belehrung 10, 347, 348, 362, 372, 375, 378, 380 Benediktionen, Segnungen 68, 69, 73, 75, 82, 83, 121, 127, 129, 376, 377 Beruf 138, 151, 357 Besessenheit, Teufels~ 163 Bestattungssitten 60, 62, 63, 66 Bibel 6, 131, 143, 166, 172, 173, 176, 179, 180, 182, 183, 184, 185, 189, 190, 191, 192, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 217, 274, 284, 286, 325, 326, 331, 347, 349, 356, 357, 370, 376 Biene / ~nkorb / ~nstaat 350, 351, 352, 353, 354, 355, 356, 357 Bilderentfernung 35, 39, 46, 48 Bildungsschub 158 Bischof 3, 8, 40, 41, 67, 68, 69, 70, 72, 73, 74, 75, 76, 78, 80, 81, 84, 85, 87, 89, 90, 91, 92, 115, 117, 118, 120, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 136, 139, 143, 144, 145, 149, 150, 151, 152, 153, 159, 160, 190, 193, 200, 228, 229, 230, 232, 233, 240, 241, 258, 264, 265, 278, 280, 371, 381 Bistum, s. Diözese Blut Christi 105, 154 Brevier 367 Briefe, Briefsammlung, Briefnetzwerk 8, 78, 118, 131, 136, 197, 243, 248, 249, 251, 252, 253, 254, 256, 257, 258, 259, 260, 262, 263, 264, 265, 266, 330 Brot 136, 153, 154, 189, 198, 356 Buch der Natürlichen weiszheit 350, 351 Bürger / ~tum 42, 50, 152, 155, 158, 274, 357, 380 Buße 29, 37, 125, 126, 131, 133, 138, 143, 144, 193, 195, 222, 278

Bauer 65, 172, 175, 186, 201, 251, 261, 356 Bedrohung 63, 145, 104, 152, 208, 256

Calvinisten / Calvinismus 5, 55, 147, 148, 150, 151, 152, 154, 155, 161

396 

 Sachregister

Chartas 135, 136, 137, 194 Chastel périlleux 317, 318 Cligès 17, 27, 28 Cœur et les cinq sens (Moralité), Le computus 138, 139, 141, 142, 143 corpus christianum, s. Stadt / Stadt­gemeinschaft correctio 133, 136, 140, 145 Courtois d’Arras 330 Dämon 163, 208 De consolatione Philosophiae 314, 315, 316 Diözese 5, 78, 80, 81, 117, 123, 124, 128, 129, 131, 132, 150, 151, 152, 160, 366, 367, 371, 377, 378 discretio spirituum 171 Dominikaner 5, 40, 76, 148, 155, 157, 326 don sans économie (Derrida) 24 Dreißigjähriger Krieg 53, 174, 186 Ehebruch 17, 30 Eigennutz 357 Ekstase 163 Elite 53, 69, 76, 77, 129, 135, 150, 158, 190, 192, 363 Engel 9, 110, 163, 177, 215, 285, 304, 306, 314, 317, 320, 328, 331, 332 Entführung 201 Enthusiasten 166, 167, 170 Episkopalismus 90 Erbauung 10, 168, 372, 373, 374, 375, 378, 380 Erkenntnis 5, 10, 94, 110, 112, 166, 169, 173, 178, 182, 183, 184, 185, 258, 295, 309, 319, 346, 378 – fähigkeit (Erkäntniß) 5, 166, 173, 178, 183, 184 – theorie(n) 166, 182, 186 – grenzen 178, 182 Erneuerungsbewegung 160 Erscheinungen (appariatio) 163, 170 Eucharistie / Kommunion 32, 154, 289, 365, 368 Exorzismus 62, 144, 145, 373, 376 Experte, Expertentum 2, 4, 5, 6, 7, 10, 137, 138, 146, 148, 149, 155, 157, 158, 159, 160, 161, 173, 178, 378

Fabel 321, 346, 347, 348, 349, 350, 351, 355, 357, 360, 361, 362, 364 Familie 59, 62, 65, 132, 136, 147, 150, 151, 161, 197, 228, 229, 231 Fernliebe 19 fin’amor 24 Firmung 78, 86, 228 Folklore 60, 62, 64 Fürbitte 44, 50, 59, 62, 211, 212, 214, 215, 368, 373, 376 Fürstenaufstand 53 Gabe 24, 25, 27, 32, 284, 293, 304, 305 – logik 31 – ohne Gegengabe 24, 25 Garçon et l’Aveugle, Le 330 Geistlicher, Geistlichkeit 5, 67, 69, 73, 75, 76, 85, 90, 91, 96, 98, 115, 121, 124, 125, 135, 149, 150, 158, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 172, 173, 175, 178, 179, 184, 185, 235, 237, 264, 319, 320, 325, 329, 330, 333, 334, 374 Gemeinde 10, 38, 89, 115, 116, 121, 124, 130, 132, 147, 151, 153, 167, 190, 325, 326, 329, 330, 332, 375, 377, 378, 379 Gemeinwesen 167, 179, 181, 240, 341, 349, 350, 356, 357, 360, 361, 362, 364, 376 Gemeine(r) – Bevölkerung / Mann 58, 342 – Nutzen für den Nächsten 352 Gender 2, 16, 30, 31, 59, 194, 201, 217 Gesang 295, 321, 372, 375, 378, 379, 380 – buch 380 Gesichte(r), Vision (visio), s. Prophet, Visionär / Prophetie Gestaltungsakt 270, 294 Glaube 1, 20, 37, 50, 51, 54, 57, 58, 62, 63, 96, 131, 154, 156, 167, 168, 170, 171, 172, 176, 177, 183, 184, 185, 189, 190, 192, 194, 195, 200, 304, 341, 354, 369, 376 – nsartikel 157, 183, 185, 186 – nsbekenntnis (Credo) 278, 293 – nsinhalt 155, 159, 217 – nsüberzeugung 157, 185 – nswahrheit 157, 379 Gläubige(r) 73, 78, 81, 105, 107, 153, 157, 167, 168, 169, 170, 171, 173, 176, 178, 179,

Sachregister 

182, 184, 185, 203, 208, 210, 211, 212, 214, 217, 221, 222, 298, 355, 368, 369, 370, 375, 378, 379, 382 Glosse 326, 331, 334, 335, 336 Glossa ordinaria 336 Gnade 26, 73, 74, 80, 116, 123, 127, 153, 172, 203, 208, 209, 211, 214, 218, 221, 229, 230, 235, 267, 274, 289, 294, 295, 300, 301, 302, 303, 304, 306, 310, 311, 312, 313, 317, 318 Gottesdienst 41, 123, 125, 157, 365, 366, 367, 370, 371, 372, 373, 375, 378, 379 Grab 38, 40, 232 – monument / Epitaph 3, 35, 36, 37, 38, 39, 42, 44, 47, 48, 50, 54 Grandes Chroniques de France 328 Hand, Handhabbarkeit 2, 3, 4, 7, 15, 48, 67, 68, 69, 70, 72, 73, 82, 83, 84, 85, 90, 91, 92, 93, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 105, 107, 110, 111, 112, 154, 155, 161, 165, 183, 189, 193, 202, 299, 300, 309, 310, 311, 348, 374 Handlungsebene 157 Handwerk / -er 155, 344, 345, 354, 355, 356, 357 Häretiker 147 Heil 78, 96, 154, 157, 176, 182, 184, 203, 209, 215, 217, 223, 368 – sordnung 178, 179, 184 – splan 184, 222, 305 – streppe / Gnadentreppe 211, 212, 213 Heilige Dreifaltigkeit, Trinität 5, 133, 139, 140, 213, 223, 311, 312 Heiligenverehrung 368, 373 Herrschaft 26, 77, 135, 151, 240 Herzmaere 32 Hohe Minne 24 homo sacer (Agamben) 26 Hostie 154 Imaginäre, das 21, 27, 31, 32, 124, 163, 164 Individualisierung 63, 165, 182 Inschrift 8, 267, 269, 270, 271, 273, 274, 276, 278, 280, 286, 287, 288, 289, 292, 293, 307 Intensivierung 5, 161

 397

Interim 3, 50, 51, 52, 53, 54 Interzessionsmotiv / -modell 7, 59, 62, 201, 211, 212, 213, 215 Investiturkonflikte 239, 240, 241, 242, 256 Jansenismus 79, 80 Jenseitsorientierung 368 Jesuiten / Societas Jesu (SJ) 4, 76, 77, 78, 82, 88, 157, 158, 159, 160 – kolleg 72, 152, 158 – orden 76, 77, 79, 82, 158 Jeu d’Adam 330 Jeu de Robin et Marion 330 Jeu de sainte Barbe 333 Jeu de saint Nicolas 330 Jeu saint Loÿs 328 Jouissance (Lacan) 24 Jüngstes Gericht, Jüngster Tag 133, 209, 211, 213, 284 Kalendarien 142, 143 Kanoniker 152, 334 Kapital (auch: Kapitalwert) 4, 83, 91, 93, 243, 246 Kapitel 69, 125, 158, 160, 245, 284, 333, 335, 371 Kapitularien (Bischöfliche) 115, 116, 118, 121, 127, 129, 130, 133, 135, 141, 333 Kapuziner 76 Karolingische – Reformen 133, 135, 136 – Renaissance 190 Katechismus 150, 158, 159, 161, 336 Katholiken / Katholizismus 3, 46, 54, 55, 63, 67, 68, 76, 78, 82, 83, 85, 90, 91, 147, 148, 149, 150, 152, 154, 155, 157, 158, 159, 160, 161, 366, 369, 370, 371, 372, 374, 379, 384, 385, Ketzer 157, 170 Kirche 35, 39, 40, 41, 42, 43, 45, 46, 47, 48, 58, 61, 62, 63, 65, 66, 70, 73, 76, 78, 81, 82, 83, 85, 86, 87, 88, 105, 106, 107, 117, 118, 121, 122, 123, 125, 127, 129, 130, 131, 133, 134, 135, 138, 139, 144, 145, 146, 147, 151, 153, 156, 157, 170, 173, 177, 179, 183, 184, 190, 192, 194, 207, 230, 234, 235, 240, 242, 256, 264, 278, 280, 281,

398 

 Sachregister

285, 323, 325, 326, 330, 337, 355, 367, 368, 370, 374, 376, 379, 380 – ngebräuche 374, 377 – nglocken 82, 376 – nlieder 380 – nrat 153 – nregiment 147, 172 – nvater 81, 153, 305 Klerus 10, 58, 69, 80, 81, 89, 91, 116, 125, 132, 133, 137, 147, 148, 149, 157, 160, 377, 378 Kloster 35, 39, 40, 41, 43, 44, 53, 118, 119, 120, 121, 124, 147, 149, 155, 157, 161, 242, 254, 258, 259, 265, 266, 286, 289, 315, 367 Kompromiss 156, 241 Königtum 189, 228, 230, 236 Konfession 55, 149, 151, 153, 154, 156, 157, 159, 161 – skultur 5, 169, 182 Konflikt 1, 2, 3, 4, 129, 150, 154, 157, 161, 174, 186, 199, 231, 241, 242, 264, 365, 371, 384 Konkubinen 199, 200 Konkurrenz 160, 161, 233, 246 Konversion 125, 227, 228 Konzil von Trient, s. Trient Korrespondenz 123, 147, 152, 242 – netzwerk 8, 251, 254, 260, 264, 265, 266 – partner 151 Krankensalbung 383, 384 Kreuz 44, 51, 55, 75, 104, 236, 273 Laien 6, 62, 81, 83, 85, 115, 125, 132, 133, 134, 135, 136, 138, 139, 140, 141, 144, 145, 146, 148, 158, 161, 172, 173, 189, 190, 191, 192, 193, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 236, 280, 315, 325, 344, 363, 382 Laienspiegel 191, 192 Lancelot en prose 30 Lancelot ou Le chevalier de la charrette 28 Laster 9, 198, 298, 300, 312, 320, 349, 350, 360, 361, 363 Legenden 1, 8, 116, 126, 128, 130, 231, 235, 330

Lehre 35, 43, 44, 120, 133, 135, 139, 144, 146, 147, 150, 153, 167, 169, 181, 185, 203, 273, 338, 342, 348, 349, 361, 363 Leib Christi 154 Liebestod 17, 23, 28, 30, 31, 32 Liminalität 32 Liturgie 9, 10, 76, 78, 84, 85, 144, 207, 219, 220, 278, 365, 366, 367, 368, 369, 370, 371, 372, 373, 374, 375, 377, 378, 379, 380, 381, 382, 383, 384, 385 – Anthropologie der 375 – gerät 8, 267, 268, 270, 272, 276, 280, 284, 295 – reform 366 – wissenschaft 268, 367, 375 Liturgik 369, 370, 371, 373, 374, 375, 377, 381, 382, 383, 385, Liturgische Gewänder / Kleidung 83, 85, 86, 87, 381, 382 Livre de la cité des Dames 322 Lutheraner / Luthertum 54, 55, 148, 154, 156, 160, 165, 173, 175, 181, 186 Magie 58, 62, 64, 145, 164, 235, 376 Maître Pierre Pathelin 329, 330, 332 Manuskripte 9, 120, 124, 126, 128, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 146, 254, 256, 265, 290, 299, 317, 319, 321, 327, 328, 333, 336 Maria-Sapientia-Akkomodation 219 Marienfrömmigkeit 204, 216 Märtyrer 3, 15, 16, 17, 19, 20, 21, 27, 28, 30, 33, 117, 118, 119, 120, 203, 285 Martyrologien 117, 118, 119, 120 Maskulinität 322, 323 Materialität 97, 270, 276 Medialität 5, 10, 11, 268, 270, 271, 272, 274, 278, 284, 288, 289, 290, 292, 293, 294, 295, 378 Medium 10, 16, 33, 54, 93, 94, 96, 100, 157, 280, 292, 293, 301, 309, 342, 343, 346, 348, 364 – Druck~ 168, 169 Meister – gesang 343, 349 – lied 9, 341, 344, 346, 349, 353, 357

Sachregister 

– singer 344, 345, 346, 349 – singergesellschaft 345, 346 Melancholie 171, 184 Messe 39, 41, 43, 46, 48, 117, 121, 123, 153, 374 Messfeier 50, 81, 365 Metaphorologie 94, 95 Mindelheimer Vertrag 53 Minderheitenstruktur 148 Minimen 76 Ministerium 132, 166, 167, 169 Minnetrank 27 Möllner Konvent 167 Mönch 5, 7, 115, 118, 120, 130, 147, 148, 149, 190, 198, 204, 205, 206, 207, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 217, 218, 220, 221, 222, 223, 232, 235, 251, 255, 257, 258, 259, 260, 264, 265, 266, 302, 329 Moralité de Bien Avisé et mal avisé 323 Mücke 350, 352, 353, 354, 358 Mystère de la Passion 327, 328, 329, 332, 335 Mystère de la Résurrection 333 Mystère de saint Didier 335 Mystère des Trois doms 335 Mystère du Siège d’Orléans 328 Mystère de saint Eloi 333 Mythisierung 2, 4,7, 89, 90, 91, 93, 97, 98, 112, 270, 295, 365, 384 Naturalis historia 353, 355 Nātyashāstra 338 Negation, Via negativa 95, 107, 111 Netzwerkanalyse 239, 243, 244, 245, 247, 260 Nô 338 Normative Zentrierung 7, 216, 217 Obrigkeit 37, 167, 175, 180, 181, 347, 356 Offenbarung(en) 54, 104, 164, 165, 166, 169, 170, 171, 173, 176, 177, 178, 182, 183, 185, 186, 289 – stheorien 166 Opfer, auch Victim / Victime / Sacrifice (Gaunt) 2, 3, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 125, 330, 353

 399

– charakter 153 – tod 29 Orden 45, 74, 76, 78, 79, 88, 89, 125, 149, 158, 206 – sgeistlichkeit, Ordensgeistliche 76, 78, 155 – sleitung 153 Ordination 68, 73, 78, 86, 280 Ordnung 17, 22, 27, 29, 73, 74, 75, 81, 85, 91, 104, 115, 167, 179, 181, 228, 232, 245, 246, 293, 305, 306, 307, 319, 342, 343, 345, 364 – skonfiguration 342, 343, 345, 364 Orthodoxie (lutherische) 66, 164, 166, 169, 170, 173, 178 Partikulargericht 203, 204, 211, 214 Parzival 31 Pastoral 4, 76, 79, 123, 125, 217, 327, 367, 369, 371, 375, 380 – konferenzen 377 – theologie 367 Pèlerinage de Jesus-Christ 312 Pèlerinage de l’ame 311, 312 Pèlerinage de la vie humaine 299, 301, 302, 303, 309, 310, 312, 313, 314, 318, 323 Performanz / Performativer Akt 83, 85, 153, 158, 280, 329, 332, 334, 335, 336 Personalisierung 5, 161 Pfarrei 78, 160, 280 Pfarrer 151, 153, 154, 367, 371 Pfarrkirche 40, 42, 45, 52, 148, 153, 272, 280, 289, 358 Pforzheimer Vertrag 52 Pluralität 159, 341 Polygamie 199 Postillen 335, 336 Prädikant 147, 153, 154, 156, 159 Praktizierung 156 Prediger, Predigt 5, 58, 122, 123, 126, 138, 147, 151, 152, 153, 154, 155, 158, 159, 160, 161, 167, 168, 170, 171, 172, 178, 182, 193, 217, 347, 378, 382, 384 Priester 5, 67, 70, 73, 75, 79, 81, 91, 92, 147, 172, 286, 293, 371, 382 – weihe, s. Ordination

400 

 Sachregister

Prior 149, 153, 248, 264, 265, 266, 371 Prodigium, Prodigien 231, 232, 235, 329 Professionalisierungsschub 158 Prophet, Visionär / Prophetie 5, 6, 120, 163, 164, 165, 166, 169, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 210, 269, 274, 285, 286, 288, 290, 299 Protestant, Protestantismus 3, 46, 48, 50, 54, 55, 57, 62, 63, 147, 153, 155, 158, 159, 160, 174 Purgatorium 36, 59, 63 Rationalisierung 2, 4, 7, 90, 93, 97, 98, 112, 270, 295, 375, 384 Rekollekten 76 Reform 148, 150, 152, 160, 264, 366, 370, 378 – dekret 148 – maßnahme 149, 160 Reformation 3, 9, 5, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 43, 46, 49, 50, 51, 54, 147, 148, 153, 159, 164, 166, 182, 222, 346, 349, 363, 364, 369, 370 (Maria als) Regina misericordiae 214 Regularklerus, s. Orden Reich 55, 137, 138, 147, 150, 156, 157, 163, 164, 166, 174, 175, 181, 182, 190, 227, 228, 229, 230, 231, 232, 237, 240, 242, 306, 333, 335, 369 – srecht 156 – sstadt 3, 35, 38, 40, 41, 42, 46, 47, 50, 51, 54, 153, 156 – stag 148, 157 Restauration 366 (Gott als) Rex justitiae 203, 211, 214 Ritual 2, 3, 4, 25, 62, 63, 64, 66, 365, 369, 370, 378, 383, 385 – kritik 370 Rituale 371, 376, 385 roi Thaumaturge (Bloch) 234 Roman de la Fleur de Lys 311 Roman de la Rose 300, 309, 322 sacrificial desire (Gaunt) 3, 17, 18, 20, 23, 24, 27, 28, 30 Sainte Abbaie 315

Sakrament 8, 78, 80, 81, 84, 86, 87, 120, 132, 135, 144, 153, 267, 268, 270, 271, 274, 289, 292, 294, 295, 377, 381 Säkularisierung 39, 57, 65, 161, 164 Säkularklerus, s. Weltgeistliche Schmalkaldischer Krieg 50, 51, 54 Schule 130, 133, 152, 159, 160, 167, 346, 377 – Sing~ 344, 345, 346, 364 Schulmeister 151, 172 Schurke 149 Schwärmer, s. Enthusiasten Seelenheil 36, 157, 168, 186 Seelsorge 132, 141, 217 Selbstmord 15, 332 Selbstopfer 25 Selbstreferenz / Selbstreflexivität 271 Selektion 161, 190, 194 Sepulkralkultur 35, 38, 50, 54 Sittlichkeit 10, 132, 133, 134, 192, 193, 199, 372, 373, 374, 380, 382 Somme le Roi 330 Sonettstruktur 109 Songe du vieil pèlerin 307, 308, 319 Spieler / Glücks~ / Spielsucht 349, 357, 358, 360, 361, 362, 363 Spinne 350, 351, 352, 353, 354, 357, 358, 362 Spiritualismus 166 Springiersbacher Reformbewegung 281 Stadt 9, 38, 39, 40, 41, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 51, 52, 53, 132, 144, 147, 149, 152, 154, 157, 158, 160, 161, 167, 175, 227, 233, 274, 328, 329, 333, 335, 345, 346, 350, 357, 361, 363, 367 – gemeinschaft 343, 344, 363 Subjektivität 3, 18, 21, 31, 73, 102, 104 Systematisierung 149 Taufe 8, 132, 133, 138, 144, 267, 270, 273, 276, 278, 280, 284, 285, 286, 287, 288, 289, 290, 292, 295 – Chlodwigs 123, 127, 228, 229, 230, 232, 233 Tauf – akt 8, 276, 284, 287, 292, 293 – handlung 273, 276, 281, 286, 289, 292 Täuferreich 48

Sachregister 

Tetrapolitana / Vierstädtebekenntnis 35, 41, 43, 46 Teufel 5, 88, 143, 152, 164, 167, 170, 171, 184, 195, 208, 212, 215, 328, 331, 332, 353, 354, 358, 360, 361, 376 – sbündner 361 – spakt 361 Theater 8, 9, 159, 297, 307, 309, 325, 326, 327, 328, 329, 330, 331, 333, 334, 337, 338 Theologie 37, 38, 100, 110, 111, 156, 158, 161, 164, 165, 166, 169, 182, 222, 325, 333, 335, 336, 365, 366, 367, 369, 370 Transsubstationslehre 154 Transzendenz 1, 32, 100, 155, 276, 230, 304 Traum, Träume 163, 164, 165, 177, 180, 186, 310, 314, 323, 358, 359, 360, 361 Trauung 127, 383 Tristan 15, 17, 23, 27, 28, 30, 31, 33 Tugend 8, 26, 121, 122, 196, 198, 202, 209, 221, 284, 298, 300, 302, 303, 304, 305, 308, 310, 311, 312, 317, 318, 320, 321, 324, 349, 354, 379 Typologie 197, 269, 274, 276, 284, 286, 287, 290, 292, 333 Ubiquitätslehre 154 Unbegrifflichkeit 4, 93, 94, 95, 96, 98, 109, 110, 111, 112 Unterricht 158, 346, 347 Unterweisung 10, 123, 133, 138, 158, 167, 191, 197, 330, 377 Unverfügbarkeit 1, 7, 10, 93, 100, 203, 221 vas 267, 286, 288, 289 Vaterunser 283, 284, 293 Verbalisierung 149, 158, 212 Vermittlung 2, 155, 207, 277, 297, 298, 305, 309, 343, 368, 372, 374, 377 Vertrag 52, 53, 78, 174, 241 Verweigerung 122, 155

 401

vicus Sexciacensis 117 Vision(en), Gesichte, Gesichter 5, 6, 83, 120, 163, 164, 165, 166, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 182, 183, 184, 185, 186, 235, 237, 299, 332, 337, 338 Visionär 179, 180, 181, 183, 184, 185 Visitation 132, 160 Vorlesung 158, 177 Wallfahrt 235, 299, 301, 302, 303, 309, 310, 311, 312, 313, 314, 318, 323, 368 Wasser 106, 267, 268, 271, 289, 292, 376 Wein 136, 153, 154, 289 Weissagung 165, 172, 173, 176, 177, 178, 179, 182 Weltgeistliche 69, 75, 77, 78, 82, 90, 91, 115, 121, 125, 130, 134, 137, 265 Wissen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 16, 29, 33, 58, 67, 74, 80, 81, 82, 83, 85, 88, 90, 91, 92, 105, 111, 112, 124, 126, 131, 132, 134, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 146, 147, 149, 153, 154, 155, 158, 159, 160, 161, 171, 173, 176, 178, 182, 184, 185, 190, 191, 194, 271, 274, 289, 325, 326, 327, 328, 329, 330, 331, 332, 336, 338, 341, 342, 343, 344, 345, 346, 349, 350, 357, 361, 362, 363, 364, 365, 378, 384, 385 – sbestand 3, 4, 36, 38, 49, 54, 149, 157, 161, 186, 290, 341 – sfeld 5, 159, 161 – sform 149 – sgehalt 149, 155, 160 – sträger 160, 161 – Bildungs~ 341 – Erfahrungs~ 341 – Handlungs~ 341 Ystoire de la destruction de Troie, L’ 328 Zisterzienserinnen 79 Zölibat 123, 127, 198