Soziale Verbundenheit: Das Ringen um Gemeinschaft und Solidarität in der Spätmoderne 9783495821831, 9783495491485

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Soziale Verbundenheit: Das Ringen um Gemeinschaft und Solidarität in der Spätmoderne
 9783495821831, 9783495491485

Table of contents :
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Inhalt
Vorwort
Einleitung
1. Der Verlust von Verbundenheit
2. Eine Übersicht über die folgenden Kapitel
1. Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne
1. Hegemoniale Diskurse
2. Individualismus als zentrale Orientierung
3. Im Horizont der Gegenwart
2. Wie ist der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne entstanden?
1. Motive aus Neuzeit und Moderne
2. Faktoren der Entwicklung des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne
A. Die »neoliberale« Wende
B. Die linksliberale Wende
C. Die Bedeutung digitaler Technologien
D. Populistische Bewegungen
3. Eine ambivalente Entwicklung: von der Freiheit zur Vereinzelung
1. Die Werte der Französischen Revolution
2. Autonomie und Universalismus
3. Die Schwächung gesellschaftlicher Strukturen und Vereinzelung
4. Die Bedeutung existentieller Verbundenheit
1. Die Bedingungen der leiblichen Existenz
2. Der Urgrund des Sozialen: die Zwischenleiblichkeit
3. Verbundenheit und Identität
Exkurs: Ökologische Pfade – Spuren der Verbundenheit mit der Umwelt
5. »›Existentielle Verbundenheit‹ versus �›Formen der Verbundenheit‹«
6. Formen der Verbundenheit in der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung
1. Das Gesellschafts-Geschichtliche als Magma
2. Tendenzen in einer offenen Geschichte
3. Kontingente Ereignisse in einer offenen Geschichte
4. Konflikte in einer offenen Geschichte
7. Wandel der Formen der Verbundenheit in Phasen großer Transformationen
1. Der Vergleich von 1820 und 2020
2. Formen der Verbundenheit in den Diskursen der Moderne
8. Gemeinschaft: Formen der Verbundenheit im konservativen Diskurs
1. Die Anfänge des konservativen Diskurses
2. »Gemeinschaft und Gesellschaft« von Ferdinand Tönnies
3. Tendenzen traditioneller Formen der Verbundenheit
9. Solidarität: Die Formen der Verbundenheit im progressiven Diskurs
1. Die Anfänge des progressiven Diskurses
2. »Das Kommunistische Manifest« von Karl Marx und Friedrich Engels
3. Die bleibende Bedeutung und die Relativierung des Ansatzes von Karl Marx
4. Tendenzen progressiver Formen der Verbundenheit
10. Offene Gemeinschaft: Christliche Formen der Verbundenheit
1. Der Wandel christlicher Formen der Verbundenheit
2. Der konstitutive Gottesbezug: »Sanctorum Communio« von Dietrich Bonhoeffer
3. Tendenzen christlicher Formen der Verbundenheit
11. Netzwerke: Zukünftige Formen der Verbundenheit
1. Eine soziologische Theorie der Netzwerke: Harrison White
2. Formen der Verbundenheit und digitale Technologien
3. Hybride Netzwerke: Formen der Verbundenheit in der Zukunft
12. Eine universalistische Perspektive
1. Die Politik eines präsentischen Universalismus
2. Die Politik eines Universalismus in geschichtlicher Perspektive
Literaturverzeichnis
Autorenregister

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Frank Vogelsang

Soziale Verbundenheit Das Ringen um Gemeinschaft und Solidarität in der Spätmoderne

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495821831

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B

Frank Vogelsang Soziale Verbundenheit

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

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Frank Vogelsang

Soziale Verbundenheit Das Ringen um Gemeinschaft und Solidarität in der Spätmoderne

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Frank Vogelsang Social Connectedness The Struggle for Community and Solidarity in Late Modernity Social forms of connectedness, whether political parties, trade unions, clubs or churches, are currently losing their importance. A philosophical analysis shows that people are not only self-determined individuals, but also existentially connected beings. This aspect is particularly seen in the search for community and solidarity. What forms of connectedness will become important in the future? This book examines traditional communities, solidarity in emancipatory struggles, connectedness in religious communities and connectedness in digital networks.

The Author: Dr. Frank Vogelsang, graduate engineer and protestant theologian, is director of the Protestant Academy in the Rhineland. He has dealt with a philosophical-theological interpretation of reality in numerous publications. The Verlag Karl Alber has published a trilogy in which he has illuminated various aspects of the concept of an open reality in the phenomenological tradition.

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Frank Vogelsang Soziale Verbundenheit Das Ringen um Gemeinschaft und Solidarität in der Spätmoderne In der Gegenwart verlieren die gesellschaftlichen Formen der Verbundenheit, politische Parteien, Gewerkschaften, Vereine oder Kirchen, an Bedeutung. Eine leibphilosophische Analyse zeigt, dass Menschen aber nicht nur selbstbestimmte Individuen, sondern immer auch existentiell miteinander verbundene Wesen sind. Das spiegelt sich in ihrer Suche nach Gemeinschaft und Solidarität. Welche Formen der Verbundenheit können in der Zukunft Bedeutung erlangen? Diskutiert werden traditionelle Gemeinschaften, die Solidarität in emanzipatorischen Kämpfen, die Verbundenheit in Religionsgemeinschaften und in digitalen Netzwerken.

Der Autor: Dr. Frank Vogelsang, Dipl.-Ing. und ev. Theologe, ist Direktor der Evangelischen Akademie im Rheinland. Er hat sich in einer Vielzahl von Publikationen mit einer philosophisch-theologischen Wirklichkeitsdeutung beschäftigt. Im Verlag Karl Alber ist eine Trilogie erschienen, in der er in phänomenologischer Tradition unterschiedliche Aspekte des Konzepts einer offenen Wirklichkeit ausgeleuchtet hat.

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49148-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82183-1

https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Verlust von Verbundenheit . . . . . . . . . . . 2. Eine Übersicht über die folgenden Kapitel . . . . . .

13 13 21

1.

Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne . . . . . . . . 1. Hegemoniale Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Individualismus als zentrale Ausrichtung . . . 3. Im Horizont der Gegenwart . . . . . . . . . . . . .

29 29 36 40

2.

Wie ist der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne entstanden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Motive aus Neuzeit und Moderne . . . . . 2. Faktoren der Entwicklung des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne . . . . . . . . . A. Die neoliberale Wende . . . . . . . . . B. Die linksliberale Wende . . . . . . . . C. Die Bedeutung digitaler Technologien . D. Populistische Bewegungen . . . . . . .

3.

. . . . . . . .

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55 57 60 63 68

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Eine ambivalente Entwicklung: Von der Freiheit zur Vereinzelung . . . . . . . . . . 1. Die Werte der Französischen Revolution . . . 2. Autonomie und Universalismus . . . . . . . 3. Schwächung gesellschaftlicher Strukturen und Vereinzelung . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

. . . . .

7 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Inhalt

4.

Die Bedeutung existentieller Verbundenheit . . . . . . . . 1. Die Bedingungen der leiblichen Existenz . . . . . . 2. Der Ursprung des Sozialen: die Zwischenleiblichkeit . 3. Verbundenheit und Identität . . . . . . . . . . . .

89 95 100 105

Exkurs: Ökologische Pfade – Spuren der Verbundenheit mit der Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. 6.

7.

8.

9.

»›Existentielle Verbundenheit‹ versus ›Formen der Verbundenheit‹« . . . . . . . . . . . . . .

113

Formen der Verbundenheit in der gesellschaftlichgeschichtlichen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Gesellschaftlich-Geschichtliche als Magma . . 2. Tendenzen in einer offenen Geschichte . . . . . . 3. Kontingente Ereignisse in einer offenen Geschichte 4. Konflikte in einer offenen Geschichte . . . . . . .

119 123 127 130 134

. . . . .

Wandel der Formen der Verbundenheit in Zeiten großer Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Vergleich von 1820 und 2020 . . . . . . . . . . 2. Formen der Verbundenheit in den Diskursen der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeinschaften: Formen der Verbundenheit im konservativen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Anfänge des konservativen Diskurses . . . . . . 2. »Gemeinschaft und Gesellschaft« von Ferdinand Tönnies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Tendenzen traditioneller Formen der Verbundenheit . Solidarität: Formen der Verbundenheit im progressiven Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Anfänge des progressiven Diskurses . . . . . . 2. »Das Kommunistische Manifest« von Karl Marx und Friedrich Engels . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

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153 153 157 160

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Inhalt

3. 4.

Die bleibende Bedeutung und die Relativierung des Ansatzes von Karl Marx . . . . . . . . . . . . . . Tendenzen progressiver Formen der Verbundenheit .

10. Offene Gemeinschaft: Christliche Formen der Verbundenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Wandel christlicher Formen der Verbundenheit 2. Der konstitutive Gottesbezug: »Sanctorum Communio« von Dietrich Bonhoeffer . . . . . . . 3. Tendenzen christlicher Formen der Verbundenheit 11. Netzwerke: Zukünftige Formen der Verbundenheit . . . 1. Eine soziologische Theorie der Netzwerke: Harrison White . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formen der Verbundenheit und digitale Technologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Hybride Netzwerke: Formen der Verbundenheit in der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. 184 . 184 . 187 . 192 . 195 . 196 . 205 . 213

12. Universalistische Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Politik eines präsentischen Universalismus . . . 2. Die Politik eines Universalismus in geschichtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

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Vorwort

In vielen Ländern der westlichen Hemisphäre wird die soziale Verbundenheit zu einer knappen Ressource, es überwiegen die Tendenzen der Individualisierung und der Konzentration auf gegenwärtige Gesellschaftssysteme. Ausdrucksformen und Strukturen sowohl der synchronen wie auch der diachronen sozialen Verbundenheit verlieren kontinuierlich an Kraft. In manchen Deutungen dieser Entwicklung sind die Ursachen schnell zur Hand, sei es das Streben der Einzelnen nach einer ungehinderten individuellen Freiheit, sei es der problematische Einfluss der neuen digitalen Medien, seien es die Verwerfungen eines weltweiten Kapitalismus. Doch kann man diese Entwicklung nicht einfach moralisieren oder mit kurzfristigen politischen Forderungen zu korrigieren versuchen. Denn ihre Entstehung ist Teil eines langfristigen gesellschaftlich-kulturellen Prozesses, der bis zu den Anfängen der Neuzeit zurückreicht. Der geschichtliche Horizont zeigt, dass er hoch ambivalent ist: Die problematischen Mangelerscheinungen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt heute gefährden, sind eng verbunden mit großen kulturellen Errungenschaften wie etwa Autonomie und Universalismus. Jetzt aber wird erkennbar, dass der gesellschaftsweite Abbau von sozialer Verbundenheit zu einer langsamen Destabilisierung gesellschaftlicher Verhältnisse führt. Dies zeigen die aktuellen politischen Entwicklungen in vielen demokratischen Ländern, dort schwindet die kostbare Ressource »Vertrauen« in den gesellschaftlichen und politischen Aushandlungsprozessen. Es ist zurzeit noch nicht absehbar, wie das Vakuum, das die nachhaltig geschwächten gesellschaftlichen Formen der Verbundenheit hinterlassen, wieder gefüllt werden kann. Die vorliegende Untersuchung bietet eine sozialphilosophische Beschreibung der Hintergründe dieser gesellschaftlichen Entwicklung, die ihre Errungenschaften, vor allem aber auch ihre Schwächen deutlicher macht, und diskutiert die Potentiale für neue Formen der Verbunden-

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Vorwort

heit in Form hybrider Netzwerke, die an die Kraft der vergangenen anknüpfen und in die Zukunft weisen können. Ein Text wie dieser zu den Grundfragen des gegenwärtigen sozialen und politischen Geschehens entsteht nicht durch eine von der Welt abgeschiedene Lektüre von Büchern. Eine alltägliche, lebendige Diskussion und die oft mühsame Suche nach einer angemessenen Einordnung aktueller Ereignisse begleiteten die Arbeit mit philosophischen, soziologischen und politischen Texten. Deshalb möchte ich hier meinen Dank all jenen aussprechen, mit denen ich in den letzten Jahren Argumente immer wieder neu diskutieren, abwägen, verwerfen und weiterentwickeln konnte. Dazu gehören der Kölner philosophisch-politische Lektürekreis, die Kolleginnen und Kollegen der Evangelischen Akademie im Rheinland, die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner einer Vielzahl von Veranstaltungen der Evangelischen Akademie, sowie meine Freunde Dr. Thomas Ulrich und PD Dr. Christian Hoppe sowie Frau Dorothea Zügner, die den Text erstmalig gegengelesen haben. Immer wieder haben meine Frau Gabriele und ich die Inhalte zu vielen Gelegenheiten diskutiert, für diesen kontinuierlichen, lebensbegleitenden Austausch bin ich dankbar.

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Einleitung

1.

Der Verlust von Verbundenheit

Zurzeit verändern sich die gesellschaftlichen Verhältnisse tiefgreifend, in vielen Ländern Europas und in Nordamerika geraten über Jahrzehnte bewährte Strukturen unter Druck und werden geschwächt. Auffällig sind die Entwicklungen in der Politik: Die politische Gestaltungskraft der bislang prägenden Parteiensysteme westlicher Demokratien nimmt deutlich ab, gleichzeitig erstarken in vielen Ländern relativ junge nationalistische und populistische Bewegungen. Die Gründe für die Entwicklung mögen je nach Land sehr verschieden sein, es ist aber offenkundig, dass hier ein grundlegender Wandel gegenüber den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg vorliegt. Viele gesellschaftliche Institutionen verlieren gleichzeitig an Prägekraft und Einfluss. Das betrifft etwa auch die Gewerkschaften, die Verbände, große Teile der Vereinskultur, die großen Religionsgemeinschaften, in Europa die christlichen Kirchen. In der Summe zeigt sich auch für europäische Länder ein ähnlich starker Rückgang von »Sozialkapital«, wie ihn Robert Putnam schon im Jahr 2000 für die US-amerikanische Gesellschaft diagnostizierte. 1 Diese Veränderungen führen zu einem verbreiteten Unbehagen und zu einem Gefühl diffuser Unsicherheit. Es geht in den meisten Ländern nicht um eine eklatante Krise, es geht nicht um eine nackte Existenzangst größerer Bevölkerungsschichten. Die Wirtschaft hat in einigen Ländern nach der Finanzkrise 2008 durch eine expansive Finanzpolitik eine konsolidierende Phase erlebt. Dennoch ist deutlich, dass sich gesellschaftliche, politische und kulturelle Koordinatensysteme nachhaltig verschieben und zu weitreichenden Risiken führen. In einigen Ländern hat diese Entwicklung die Regierungsebene erreicht, wie in den USA, in Großbritannien, kurzzeitig in Italien und Österreich. 1

Vgl. Putnam 2000.

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Einleitung

Eine Wirtschaftskrise würde in der heutigen gesellschaftlichen Situation geschwächter Parteiensysteme weit gravierendere gesellschaftliche Auswirkungen haben als die der letzten Jahrzehnte. Welche Ursachen lassen sich für diese gesellschaftlichen Entwicklungen identifizieren? Eine erste Erklärung ist darin zu finden, dass sich in den Gesellschaften durch eine schwer durchschaubare, globalisierte Wirtschaft, durch die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen im Zuge der Digitalisierung und durch eine zunehmende Migration die Gewichte verschieben und etablierte Institutionen unter Druck geraten. Sicherlich haben die genannten Faktoren eine erhebliche Wirkung auf die Entwicklung der gesellschaftlichen Institutionen. Doch deren Schwächung begann schon zu einer Zeit, als die genannten Faktoren noch nicht so viel Aufmerksamkeit erhielten. Machen die aktuellen Entwicklungen vielleicht nur problematische Seiten eines langfristig angelegten gesellschaftlichen Trends sichtbar, der schon viel früher und unabhängig von ihnen begonnen hat? Warum schwindet der Einfluss der etablierten und traditionellen gesellschaftlichen Institutionen gerade in dieser Zeit neuer Herausforderungen wie dem Klimawandel, der Digitalisierung, der Migration? Es ließe sich ja auch denken, dass etwa die etablierten politischen Parteien mit ihren Ressourcen neue Programme entwickelten, um die aktuellen Herausforderungen erfolgreich zu meistern und dadurch in ihrer Rolle unangefochten wären. Doch das Gegenteil ist der Fall: Zwar greifen die Parteien all die genannten Herausforderungen auf, ihre Machtbasis schwindet dennoch kontinuierlich. Ausnahmen scheinen nur solche Parteien zu bilden, die eine entschieden nationale Wende vollziehen. Es kann zudem kein Zufall sein, dass sie zeitgleich in nahezu allen westlichen demokratischen Ländern massiv unter Druck geraten, die etablierten Parteien in klassischen Industrieländern wie Frankreich oder Italien in den letzten Wahlen nahezu marginalisiert wurden. Haben möglicherweise unbeachtet von der alltäglichen Aufmerksamkeit langfristige gesellschaftliche Veränderungen stattgefunden, die diese Prozesse auslösen? Sind sie ähnlich wie bei tektonischen Verschiebungen unterhalb der Erdoberfläche in den tagespolitischen Debatten nicht direkt zu sehen, aber ihre Wirkungen zeigen sich anhand eruptiver Veränderungen der politischen Landschaft? Möglicherweise sind es dann gerade diese tiefer liegenden gesellschaftlichen Veränderungen, die manchen aktuellen politischen Debatten so starke Emotionen verleihen. Sie rühren aus der Ahnung, dass die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr durch kurz14 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Der Verlust von Verbundenheit

fristige Korrekturen behoben werden können, dass nicht die nächste Wahl bald wieder stabile politische Verhältnisse schafft, dass es bei den Eruptionen nicht mehr nur um einzelne Ereignisse geht, sondern um Begleiterscheinungen eines langfristigen kulturellen und gesellschaftlichen Wandels. Einen wichtigen Einfluss auf die aktuelle Entwicklung hat, so eine These dieses Buches, eine gesellschaftlich-kulturelle Strömung, die in den letzten Jahrzehnten einen großen Einfluss erlangte und die im Folgenden als »hegemonialer Diskurs der Spätmoderne« gekennzeichnet werden soll. Was ist ein hegemonialer Diskurs? Er ist ein gesellschaftlicher Prozess mit einer immer neuen Reproduktion und Bestätigung einer bestimmten Sicht auf die Welt und den Menschen, dem eine überwiegende Zahl der Mitglieder einer Gesellschaft zustimmt. Er stellt keine konsistente und in sich geschlossene Theorie dar, sondern besteht eher aus einer Ansammlung von Aussagen, Symbolen und auch Artefakten, die immer wieder zum Ausdruck bringen, welche Sicht auf die Welt und den Menschen in dieser Gesellschaft als selbstverständlich angesehen wird und auch als selbstverständlich angesehen werden soll. 2 Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne ist eng gekoppelt mit einer globalisierten, oft als »neoliberal« bezeichneten Wirtschaftsweise und den sich darin artikulierenden Interessen, ohne dass er einfach auf solche Interessen reduziert werden kann. Er ist insbesondere durch zwei Grundüberzeugungen bestimmt. Die erste Grundüberzeugung geht davon aus, dass jeder Mensch ein einzigartiges, individuelles Wesen ist, das sich aus sich selbst, sich aus seinen eigenen Anlagen heraus entwickelt. Die ungehinderte Selbstentfaltung und die Fähigkeit zur Unterscheidung eines Menschen von anderen Menschen ist in dem Diskurs ein zentrales gesellschaftliches Ziel. Eine Verabsolutierung dieser Perspektive führt zu dem »Individualismus«, einer Anschauung, die die Individualität jedes einzelnen Menschen auf der einen und der ganzen Menschheit als der Menge aller einzelnen Menschen auf der anderen Seite betont. Die gegenseitige Beeinflussung und Abhängigkeiten einer mittleren Zahl von Menschen in Milieus, kulturellen und regionalen Identitäten oder gesellschaftlicher Klassen werden demgegenüber als sekundär und wenig bedeutsam eingestuft. Die zweite Grundüberzeugung, die den Diskurs kennzeichnet, geht davon aus, Zum Gebrauch der Begriffe Hegemonie und Diskurs vgl. Laclau, Mouffe 1985, ausführlicher werden die Begriffe im ersten Kapitel besprochen.

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Einleitung

dass gesellschaftliches Handeln im Horizont gegenwärtiger Verhältnisse beurteilt werden muss. Moderne Gesellschaften sind funktional ausdifferenziert, und es kommt für ein effizientes und rationales Handeln darauf an, die jeweilige Eigenlogik der gesellschaftlichen Systeme in ihrem gegenwärtigen Zustand zu berücksichtigen. Hier geraten geschichtliche Zusammenhänge, die langfristigen zeitlichen Entwicklungen von Gesellschaften im Ganzen oder von ihren Teilen und der Eigensinn der Entwicklung von sozialen Kollektiven in den Hintergrund. Die Vergangenheit wird reduziert auf ein Reservoir von Erfahrungen, aus denen man gegebenenfalls lernen kann, um Fehler bei der gegenwärtigen Steuerung gesellschaftlicher Funktionen zu vermeiden. Die Zukunft erscheint als Erweiterung der Gegenwart, Zugang zu ihr gewinnt man vornehmlich durch wissenschaftliche Prognosen. 3 Die Geschichte als Dimension von wechselseitigen Abhängigkeiten über die Zeit hinweg wird kaum wahrgenommen, auch nicht als Quelle kontingenter Ereignisse oder Konflikte jenseits einer funktionalen Systemlogik. Die Betonung der Unabhängigkeit jedes einzelnen Menschen im Individualismus und die Dominanz der Gegenwart blenden in dem hegemonialen Diskurs zwei grundlegende Dimensionen der Verbundenheit der Menschen aus, einerseits die synchrone Verbundenheit in den jeweils gegenwärtigen sozialen Konstellationen und andererseits die diachrone Verbundenheit in dem Verlauf geschichtlicher Entwicklung. Die Tatsache, dass sich die Gesellschaft in der Spätmoderne in einem grundlegenden Umbruch befindet, ist schon oft mit unterschiedlichen Akzenten analysiert worden. 4 Die Bedeutung des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne wird deutlicher, wenn man den Blick weitet und größere historische Kontexte einbezieht. Die aktuelle Entwicklung, so eine These dieser Untersuchung, steht in einem Zusammenhang mit der kulturellen Entwicklung seit dem Beginn der Neuzeit im 17. Jahrhundert und mit den gesellschaftlich-politi»Die Entkoppelung der Entrüstung von jeglicher Zukunftsorientierung, des Protests von allen Visionen eines Besseren, ist in der Geschichte moderner Gesellschaften wirklich etwas Neues (…).« Honneth 2015: 15. 4 Reckwitz zum Beispiel beschreibt die Entwicklung anhand des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem: »In der Spätmoderne findet ein gesellschaftlicher Strukturwandel statt, der darin besteht, dass die soziale Logik des Allgemeinen ihre Vorherrschaft verliert an die soziale Logik des Besonderen.« Reckwitz 2017: 11. Er stellt für diese Logik des Besonderen den Begriff der »Singularität« in den Mittelpunkt. 3

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Der Verlust von Verbundenheit

schen Tendenzen in der Moderne seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts. 5 In einer groben Unterteilung kann man für die Moderne drei gesellschaftliche Diskurse unterscheiden, die um die Meinungsführerschaft und um die gesellschaftliche Macht gerungen haben: den konservativen Diskurs, den bürgerlich-liberalen Diskurs und den progressiven Diskurs. Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne steht in der Nachfolge des bürgerlich-liberalen Diskurses. Über lange Zeit war es unabsehbar, welcher der Diskurse sich langfristig durchsetzen würde. Das 20. Jahrhundert war durch Pendelausschläge zwischen den Extremen geprägt, einerseits der Forderung nach einer vollständigen Homogenität etwa im Faschismus oder in manchen Formen des Kommunismus und andererseits der Forderung nach einer absoluten Freiheit im Sinne eines Libertinismus in manchen westlichen Ländern. Erst in der Spätmoderne hat das Konkurrenzverhältnis ein vorläufiges Ende gefunden, der bürgerliche Diskurs ist hegemonial geworden, die anderen beiden Diskurse sind dagegen gesellschaftlich weitgehend marginalisiert. Allerdings sind die Verhältnisse instabil, wie das kurzfristig rasche Wachstum populistischer Parteien zeigt. Man kann die aktuelle Schwäche der gesellschaftlichen Institutionen nur verstehen, wenn man diese langfristigen kulturellen und gesellschaftlichen Trends berücksichtigt. Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne betont die Unterscheidung, die Differenz. Das Bedürfnis der Unterscheidung gilt nicht nur gegenüber anderen Menschen, sondern auch gegenüber der umgebenden Wirklichkeit. Man empfindet sich als ein Gegenüber zur Welt, entweder dass man sie für sich nutzt oder dass man sich um sie sorgt. Die technologische Entwicklung führt zu einer technisch vermittelten und damit distanzierteren Umwelterfahrung, die auch in vielen Klimadiskussionen zur Geltung kommt. Die kulturelle Entwicklung hin zu der Befähigung zu komplexen Differenz- und DisUnter »Neuzeit« ist hier die Zeit seit dem frühen 17. Jahrhundert verstanden, zu dessen Beginn durch die Konfessionskriege mittelalterliche gesellschaftliche Ordnungen endgültig zerbrachen und zugleich die Grundlagen für eine naturwissenschaftliche Erforschung der Welt gelegt wurden. Unter der »Moderne« soll hier wie üblich der Zeitraum in etwa seit der Französischen Revolution verstanden werden. Unter der »Spätmoderne« wiederum soll die Entwicklung der letzten 30 bis 50 Jahre gefasst werden. Es gibt für diese Zeitspanne gleich drei Zäsuren: die 68er Bewegung, die Etablierung des Neoliberalismus Anfang der 80er Jahre und die Auflösung des Ostblocks Anfang der 90er Jahre. Alle drei Zäsuren spielen für das Verständnis der Spätmoderne eine große Rolle.

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Einleitung

tanzbildungen und damit implizit zur Schwächung von Erfahrungen der Verbundenheit hat sich auch im Umgang mit der Umwelt über Jahrhunderte entwickelt. Hier steht dagegen die soziale Verbundenheit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Nun ist »Verbundenheit« als Gegenbegriff zu Distanzierung und Differenzierung ein problematischer Begriff. Er ist zu konventionell und alltäglich, als dass man hier konzeptionell Spezifisches erwarten könnte. Wenn man seine »Verbundenheit mit jemandem« ausdrückt, folgt er oder sie in der Regel einer bestimmten gesellschaftlichen Konvention. Diese Konventionen klingen auch noch an, wenn sich jemand anderen gegenüber »verbindlich« verhält. Der Begriff der Verbundenheit soll hier aber auf etwas weisen, das sich nicht in eingängigen Bildern fassen lässt. Das, worum die es hier geht, ist etwas, was man schnell und gerne übersieht, vor allem in der gegenwärtigen Kultur, die doch eher auf das Analysierbare, das Trennbare und trennscharf Beschreibbare achtet. Mit den Mitteln einer Phänomenologie des Leibes kann man sich allerdings dem annähern, worum es hier bei dem Begriff Verbundenheit geht. 6 Dieser Begriff von Verbundenheit als anthropologische Grundgegebenheit erweist sich zum Beispiel auch darin als komplex, dass er etwa auch die Grundlage für Konflikte liefert. 7 Dies zeigt eine markante Differenz zum alltäglichen Verständnis von Verbundenheit. Eine genauere Beschreibung der Verhältnisse der leiblichen Existenz hilft, den Begriff der Verbundenheit in seiner Vielschichtigkeit zu deuten. Im Folgenden soll es aber nicht um Verbundenheit im Allgemeinen, sondern insbesondere um die gesellschaftlich relevanten »Formen der Verbundenheit« gehen. Diese Formen sind soziale Konfigurationen, die durch eine zeitliche Dauer bestimmt sind und immer wieder Erfahrungen der Verbundenheit ermöglichen. Gesellschaften weisen sehr unterschiedliche Formen der Verbundenheit auf, hierzu gehören familiale Strukturen, Verbände, Institutionen, OrganisatioDer Begriff der »Verbundenheit« schließt an die Ergebnisse an, die leibphänomenologische Untersuchungen mit dem Schema des »Chiasmus« erbracht haben, vgl. Vogelsang 2014 (1); Vogelsang 2014 (2); Vogelsang 2016. 7 In jeder Verbundenheit steckt auch Trennendes, Alterität. Der Akzent ist hier aber anders als in dem Ansatz von Liebsch. Dieser stellt die Alterität des Anderen in den Vordergrund, nicht die Verbundenheit mit ihm, um das Spannungsfeld zu beschreiben: »Der Andere verlangt ebenso nach einem Begriff des Sozialen wie letzteres nach einem starken Begriff des Anderen. Die Überkreuzung beider Problematiken geht aber nicht bruchlos in einer dialektischen Synthese auf.« Liebsch 2018 (1): 34. 6

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Der Verlust von Verbundenheit

nen und Assoziationen unterschiedlichster Art, die eine dauerhafte Verbundenheit zwischen Menschen zum Ausdruck bringen. Die Vorstellungen über die Formen der Verbundenheit gehen in der Moderne weit auseinander, unterschiedliche Auffassungen sind eng mit den unterschiedlichen gesellschaftlichen Diskursen und deren gesellschaftspolitischen Orientierungen verknüpft. Der konservative Diskurs propagiert traditionelle Gemeinschaften, der progressive Diskurs fordert die Solidarität jener, die im Konflikt die Gesellschaft zum Besseren verändern wollen. Der liberale, bürgerliche Diskurs hat vor allem die Gründung von zweckorientierten Organisationen wie etwa Wirtschaftsunternehmen oder Vereine in den Mittelpunkt gestellt. In den gesellschaftlichen Debatten der Spätmoderne haben die beiden konkurrierenden Diskurse, sowohl der konservative wie auch der progressive, an Kraft verloren. Doch auch bürgerliche Formen der Verbundenheit wie Vereine und Assoziationen geraten in der Spätmoderne unter Druck. Unübersehbar sind in jüngster Zeit populistische Versuche, konservative Formen kurzfristig zu revitalisieren, verbunden mit der latenten Gefahr, wieder wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ein Extrem umzuschlagen. Sie suchen allein in der Vergangenheit normative Grundlagen und stellen die traditionelle Identität von Nation und Volk in den Mittelpunkt. Impulse aus dem progressiven Teil des Spektrums als Alternative zum hegemonialen Diskurs sind nach dem Fall der Mauer und der Auflösung der kommunistischen Staaten nur noch in sporadischen Debatten zu vernehmen. Manche progressive Positionen in der links-liberalen Ausrichtung sind eher Teil des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne geworden und verstehen sich als die sozialere Variante zu politischen Wettbewerbern innerhalb desselben Diskurses. Angesichts des breiten Abbaus von gesellschaftlichen Formen der Verbundenheit stellt sich die Frage: Wie werden sich neue Formen entwickeln, die der zwischenmenschlichen Beziehungen einen dauerhaften starken Ausdruck geben und in den Lebensalltag integriert werden können? Die offensichtliche Gefahr für westliche Demokratien ist, dass populistische Bewegungen an Kraft gewinnen, weil sie scheinbar als einzige eine Alternative anzubieten in der Lage sind. Damit aber sind auch die Errungenschaften des bürgerlich-liberalen Diskurses bedroht. Bei aller Kritik an dem hegemonialen Diskurs der Spätmoderne darf nicht übersehen werden, dass die kulturelle Entwicklung, aus der er entstammt, mit großen zivilisatorischen 19 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Einleitung

Errungenschaften verbunden ist. Dies macht eine Kritik anspruchsvoll, sie kann nicht einfach zwischen richtig und falsch unterscheiden, sie kann nicht Individualisierung und Verbundenheit als simple Kontrapunkte setzen. Man muss eher unterscheiden zwischen dem berechtigten Anliegen und einer ideologischen Überhöhung, zwischen der »Individualisierung« als kultureller Errungenschaft und der konzeptionellen Zentralstellung des einzelnen Menschen im »Individualismus«. Beide Grundüberzeugungen des hegemonialen Diskurses sind eng verknüpft mit einer langen, mühseligen, aber erfolgreichen Emanzipationsgeschichte gegenüber den gesellschaftlichen Zuständen früherer Epochen. Emanzipation bedeutet ja gerade die Loslösung von den Mächten der Vergangenheit zugunsten der Selbstbestimmung der Akteure der Gegenwart. Sie war eine weitgehende Rationalisierung gesellschaftlicher Prozesse durch Reduktion intransparenter Abhängigkeitsverhältnisse, die durch die geschichtlichen Traditionen vorgegeben waren. So hat der emanzipative Prozess aus einer feudalen, patriarchalen oder religiösen Bevormundung herausgeführt. Mit dem bürgerlich-liberalen Diskurs ist nicht nur die Anerkennung der Autonomie eines jeden Menschen verknüpft, sondern darüber hinaus die allgemeine und universale Anerkennung der Menschenwürde und der Menschenrechte. Die Forderung nach Autonomie und Selbstbestimmung ist vor allem auch ein Schutz vor Übergriffen anderer, vor Fremdbestimmung in autoritären und repressiven Strukturen. Die allgemeinen Menschenrechte weisen auf die prinzipielle Gleichheit aller Menschen. Jedem Menschen kommen als Menschen unveräußerliche Rechte zu. Ein Humanismus, der auf der Anerkennung der Menschenwürde beruht, muss stets als ein universaler Humanismus gedacht werden. Menschen sind in ihren Grundrechten bei aller Unterschiedenheit gleich. Führt eine Kritik an den Grundüberzeugungen des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne nicht automatisch auch zu einer Schwächung dieser gesellschaftlichen Errungenschaften? Tatsächlich scheint es geradezu umgekehrt zu sein. Wenn die grundlegende Verbundenheit der Menschen untereinander und zu ihrer Umwelt keinen angemessenen gesellschaftlichen Ausdruck findet, wenn die Formen der Verbundenheit durch den hegemonialen Diskurs nachhaltig geschwächt werden, sind auf längere Sicht auch die Errungenschaften wie Autonomie und Universalismus gefährdet. Denn der hegemoniale Diskurs schwächt in erheblichem Maße die Strukturen moderner Gesellschaften und beschädigt so die Grundlage, auf der die Werte 20 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Eine Übersicht über die folgenden Kapitel

sich entfalten können. Die populistischen Bewegungen zeigen, wie fragil die Zustimmung zu diesen Werten geworden ist und wie leicht sie in Frage gestellt werden können. Die Ursachen für die Instabilität moderner Gesellschaften kommen nun aber nicht von außen, sondern von innen, sie sind in der Anlage des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne selbst zu suchen. Populistische Bewegungen setzen ein verbreitetes Misstrauen gegenüber den etablierten demokratischen Institutionen schon voraus. Die Erosion von Vertrauen durch die Schwächung von Institutionen und die Vereinzelung in der Gesellschaft kann gravierende politische und kulturelle Folgen haben. Die Formen der Verbundenheit, um die es im Folgenden gehen soll, stehen also nicht einfach dem Prozess der Individualisierung entgegen. Es ist kein Widerspruch, als individueller Mensch in Verbundenheit mit anderen Menschen zu leben. 8 Am Ende der Untersuchung werden hybride Netzwerke als eine neuere Form der Verbundenheit diskutiert, die eine gute Chance hat, beide Aspekte, Individualität und Verbundenheit, miteinander in Einklang zu bringen. Beide Extreme dagegen sind problematisch, einerseits die Form einer normativen und damit repressiven Verbundenheit traditioneller oder totalitärer Gemeinschaften, andererseits eine Gesellschaft von vereinzelten Individuen. Die Bedeutung der autonomen Selbstbestimmung darf nicht zu einer Missachtung der Verbundenheit mit anderen Menschen und der Umwelt führen. Nähert man sich den Extremen, ist die Gefahr groß, dass sich konträre Kräfte entwickeln, die das gesellschaftlich Erreichte wieder gefährden.

2.

Eine Übersicht über die folgenden Kapitel

In dem ersten Kapitel werden die beiden wichtigsten Grundüberzeugungen des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne dargestellt, einerseits das Verständnis des Menschen als ein selbstbestimmtes und sich von anderen unterscheidendes Individuum und andererseits die Vorstellung, gesellschaftliche Zustände ließen sich weitgehend als ein Ineinander von Systemen und Subsystemen deuten und unabhängig von ihrem geschichtlichen Kontext über gegenwartsbezogene, rational begründete instrumentale Verfahren gestalten. Vgl. auch Putnam 2000: 355. Er diskutiert das Problem als eine Spannung zwischen Verbundenheit (»connectedness«) und Toleranz (tolerance).

8

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Einleitung

Ein kulturgeschichtlicher Rückblick im zweiten Kapitel zeigt, dass der heutige hegemoniale Diskurs nicht über Nacht entstand, sondern Resultat einer kontinuierlichen, sich über Jahrhunderte erstreckenden Entwicklung ist. Seine Grundüberzeugungen sind tief in die kulturelle Entwicklung der europäischen und nordamerikanischen Neuzeit und Moderne eingelassen. Seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts kommen mehrere Entwicklungen zusammen, die den Prozess beschleunigen und die in der jetzigen Spätmoderne münden: die kulturelle Wende durch die 68er Bewegung, die Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik als »Neoliberalismus« in den westlichen Industriegesellschaften seit den 80er Jahren, der Fall des »Eisernen Vorhangs« Ende der 80er Jahre und die gesellschaftlichen Veränderungen durch die die digitalen Technologien seit den 90er Jahren. Erst diese sich gegenseitig stützenden und verstärkenden Entwicklungen führen zu der hegemonialen Stellung des Diskurses in der Gesellschaft in der Spätmoderne. Erst sie machen die Verkürzungen und nachteiligen Seiten der älteren kulturellen Vorgaben von Neuzeit und Moderne sichtbar. Die Stärken und Schwächen des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne werden im dritten Kapitel anhand der drei zentralen Werte der Französischen Revolution beurteilt: Freiheit, Gleichheit und »Brüderlichkeit« 9. Die Freiheit steht ohne Zweifel im Mittelpunkt des hegemonialen Diskurses. Das Recht eines Menschen, sich unabhängig von äußeren Vorgaben selbst zu bestimmen, ist eine zentrale kulturelle Errungenschaft. Dagegen ist die Bedeutung des Wertes der Gleichheit in dem hegemonialen Diskurs nicht eindeutig. Die Gleichheit im Sinne der rechtlichen Gleichstellung hat eine große Bedeutung, dagegen ist die soziale und ökonomische Gleichheit deutlich weniger prägend. Im hegemonialen Diskurs kann soziale Ungleichheit durchaus akzeptiert werden. Der Wert der Solidarität dagegen im Sinne eines Wertes, der auf die Gestaltung dauerhafter Formen der Verbundenheit drängt, ist im hegemonialen Diskurs kaum relevant. Die drei folgenden Kapitel skizzieren die zentralen Argumente

Der Begriff steht als historischer Begriff in Anführungszeichen, weil sein Inhalt geschlechtsneutral sein sollte, dies aber der historische Begriff nicht wiedergibt. Eine neutrale Fassung ist durch den Begriff der Solidarität in dem progressiven Diskurs gegeben, ein Begriff, der folgend jenseits der direkten historischen Verweise gebraucht wird.

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Eine Übersicht über die folgenden Kapitel

einer sozialphilosophischen Alternative zu den Grundüberzeugungen des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne. Sie suchen mit Hilfe der phänomenologischen Leibphilosophie eine breitere Grundlage für die Bestimmung des Menschen. Die Leibphilosophie zeigt, so das vierte Kapitel, dass kein Mensch aus sich selbst heraus existiert, sondern immer schon als ein mit anderen Menschen und mit seiner Umwelt verbundenes und auf diese angewiesenes Wesen verstanden werden muss. Der Mensch ist durch eine elementare existentielle »Verbundenheit« ausgezeichnet, die ihn schon lange vor jedem Streben nach Individualisierung bestimmt und die durch dieses Streben nicht aufgehoben wird. 10 Durch persönliche Zuwendung, durch Sprache und kulturelle Fertigkeiten werden erst die Voraussetzungen für jene Prozesse der Individualisierung bereitgestellt, die der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne zum zentralen Wert erhebt. Menschen sind in der Tat fähig, sich zu individualisieren, aber das geht nur auf der Grundlage einer immer schon vorangegangenen Verbundenheit. Die Identität eines Menschen ist nicht aus seinen individuellen Anlagen ableitbar, sondern bestimmt sich durch seine Erfahrungen von Verbundenheit und durch die sozialen Formen der Verbundenheit, in die er eingebunden ist. Diese Identität ist immer prekär, die Erfahrungen der Verbundenheit können nicht von einem Individuum beherrscht werden. Das Verlangen, Identität abzusichern, führt zu Konflikten. Die Betonung der existentiellen Verbundenheit führt nicht in eine konfliktfreie Welt, sondern lässt die Ursachen von Konflikten besser erkennen. Ein Exkurs weist auf einen weiteren Aspekt der Verbundenheit hin, der aber in diesem Zusammenhang nur angedeutet werden kann: Es gibt neben der sozialen eine existentielle Verbundenheit des leiblich existierenden Menschen mit seiner Umwelt. Zu Beginn der Neuzeit ist die Verbundenheit mit der Natur durch die methodisch geleitete Erkenntnis der Naturwissenschaften entscheidend relativiert worden. Die daraus erwachsenden Wissenschaften und ihre technischen Anwendungen stellen ohne Zweifel eine der größten kulturellen Errungenschaften der Menschheit dar. Jedoch sind die Verhältnisse hier ähnlich wie bei der Diskussion um die Verbundenheit in sozialen Belangen: Eine einseitige Betonung dessen, was man durch Der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty gebraucht etwa den Begriff »entrelacs«, in der deutschen Übersetzung wiedergegeben mit dem Begriff »Verflechtung«, vgl. Merleau-Ponty 1964: 172.

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Einleitung

Analyse und methodische Distanzierung erkennen kann, kann trotz aller Bereicherung und Erfolge auf Abwege führen. Menschen bleiben als leibliche Wesen mit ihrer Umwelt existentiell verbunden, eine Ignoranz dieser Verbundenheit führt zu weitreichenden Verwerfungen, die in diesen Tagen als ökologische Frage des Klimawandels für alle sichtbar werden. Für die weiteren Überlegungen ist es entscheidend, das betont das fünfte Kapitel, zwischen einer existentiellen Verbundenheit, die immer schon zwischen Menschen besteht, und den Formen der Verbundenheit, wie sie sich in gesellschaftlich-geschichtlichen Kontexten zeigen, zu unterscheiden. 11 Formen der Verbundenheit ändern sich im Laufe der Geschichte, sie sind zeitbedingte und nur relativ dauerhafte Ausdrucksformen für die Erfahrung existenzieller Verbundenheit. Mit bestimmten Formen der Verbundenheit geben Menschen kulturell bestimmte Antworten auf die nicht fixierbaren Erfahrungen existentieller Verbundenheit. Die Formen sind Teil eines geschichtlichen Wandels, das bedeutet, dass es keine allgemeine, für alle Zeiten gültige Form der Verbundenheit geben kann. Das sechste Kapitel betont deshalb die Bedeutung der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung für die Formen der Verbundenheit. Im geschichtlichen Verlauf kommt eine diachrone Verbundenheit über zeitliche Distanzen zum Ausdruck. Sie umfasst die Verbundenheit zu vergangenen Zeiten und weist zugleich in die Zukunft, eröffnet die Möglichkeit zu Neuem. Die Geschichte ist ein Gemisch aus Bewahrung und Erneuerung. Man kann die gesellschaftlichen Konstellationen und die variierenden Formen der Verbundenheit im Verlauf der Geschichte mit einem Fluss aus flüssigem Magma vergleichen. 12 Ein fließendes Magma, die Lava, ist einerseits durch und durch dynamisch, sein Verlauf ist schwer zu prognostizieren, es kann jederzeit seine Fließrichtung verändern. Doch zugleich Diese Unterscheidung ist konzipiert nach der Unterscheidung von Pathos und Response bei Bernhard Waldenfels. Zwischen Pathos, dem, was einem zustößt, und der Response, der Antwort darauf, muss unterschieden werden, auch wenn beide nicht unabhängig voneinander sind und sich nicht aufeinander zurückführen lassen, vgl. Waldenfels 2002, S. 58 f. 12 Der französische Sozialphilosoph Cornelius Castoriadis hat den Begriff »Magma« eingeführt, um eine Seinsweise jenseits von Identitäts- und Mengenlogik zum Ausdruck zu bringen, vgl. Castoriadis 1975: 564. Diese Seinsweise kommt insbesondere dem Gesellschaftlich-Geschichtlichen zu, das die überkommene Logik und Ontologie sprengt, vgl. Castoriadis 1975: 289. 11

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Eine Übersicht über die folgenden Kapitel

kann es nicht beliebig die Richtung wechseln, es ist immer auch bestimmt durch den Weg, den es bislang eingeschlagen hat. So gibt es Tendenzen der geschichtlichen Entwicklungsrichtung. Die Geschichte ist aber kein langer ruhiger Fluss: Die Geschehnisse sind sowohl durch Kontingenz als auch durch Konflikte bestimmt. Konflikte gehören unabwendbar zur menschlichen Geschichte. Sie gehören vor allem auch zu offenen und demokratischen Gesellschaften, diese können nicht von einem übergeordneten Punkt aus gesteuert werden. 13 Einen entscheidenden Beitrag zu den zukünftigen gesellschaftlichen Veränderungen werden die digitalen Technologien liefern. Das siebte Kapitel prüft, ob die gesellschaftlichen Wirkungen dieses technologischen Wandels eine strukturelle Parallele zu der Zeit der frühen Industrialisierung aufweisen. Lässt sich ein Erkenntnisgewinn daraus ziehen, wenn man die Jahre 1820 und 2020 bei aller Unterschiedlichkeit miteinander vergleicht? Beide Jahreszahlen stehen als Kürzel für einen epochalen Wechsel. Beide sind durch eine grundlegende technologische Revolution gekennzeichnet, deren weitreichende gesellschaftliche Folgen in dem angezeigten Jahr selbst noch nicht absehbar waren bzw. nicht absehbar sind. Auch in der Industrialisierung gerieten die traditionellen gesellschaftlichen Institutionen unter erheblichen Druck. Im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeichneten sich Auflösungsprozesse der traditionellen Formen der Verbundenheit ab. Es gelang aber im Verlauf des 19. Jahrhunderts neue Formen aufzubauen, die den Herausforderungen industrialisierter Gesellschaften genügen konnten. Der Vergleich mit der Frühphase der Industrialisierung soll als Heuristik für die sozialen Herausforderungen und Möglichkeiten der nahen Zukunft dienen. Damals entstanden die drei politischen Diskurse, die die folgenden zwei Jahrhunderte prägen sollten. Sie entwickelten einen je eigenen Zugang zu möglichen Formen der Verbundenheit. Ihre Charakteristika und ihr Potential für zukünftige Formen der Verbundenheit werden in den folgenden Kapiteln geprüft. Dem konservativen Diskurs widmet sich das achte Kapitel. Hier bilden geschichtliche Herkunft und die Tradition die Norm für die Formen der Verbundenheit. Letztere sind in diesem Diskurs dann legitim, wenn sie sich aus einer Tradition ableiten lassen, wenn sie deren Fundamente bestätigen und stabilisieren. Traditionelle Formen Chantal Mouffe und Ernesto Laclau weisen auf den unaufhebbaren Antagonismus hin, vgl. Laclau, Mouffe 1985: 158.

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Einleitung

der Verbundenheit sind in erster Linie Gemeinschaften. Die zentrale Form, die Verbundenheit zum Ausdruck bringt und die von dem Herkommen bestimmt ist, ist die Familie. Diese hat sich allerdings ihrerseits in ihrer Gestalt in den letzten zweihundert Jahren immer wieder stark verändert. In früheren Zeiten gesellte sich eine größere Zahl weiterer Gemeinschaftsformen hinzu: die Dorfgemeinschaft, die landsmannschaftlichen und regionalen Traditionen, die Zugehörigkeit zu einer feudalen Obrigkeit, zu einer national orientierten Kirche, zum Nationalstaat, zu einem Volk. Die traditionellen Gemeinschaftsformen sind zwar heute allesamt entweder verschwunden oder deutlich geschwächt. Traditionelle Formen haben aber auch in Zeiten raschen Wandels eine gewisse Bedeutung für die Gegenwart. Die geschichtliche Verbundenheit in ihrer eigenen Bedeutung wahrzunehmen, heißt auch, die Bedingungen der Herkunft zu berücksichtigen. Der progressive Diskurs gestaltet neue Formen der Verbundenheit durch Erwartung einer besseren Zukunft. Hierauf geht das neunte Kapitel ein. Im 19. Jahrhundert hat der Begriff der Solidarität durch die Arbeiterbewegung eine besondere Bedeutung gewonnen. Solidarisch sind jene Menschen miteinander, die einen gemeinsamen Kampf für ihre Interessen und darüber hinaus für eine bessere Zukunft aller kämpfen. Der Weg der Emanzipation ist hier Befreiung durch den Kampf gegen ausbeutende und entfremdende gesellschaftliche Verhältnisse. Solidarität ist eine Form der Verbundenheit, die die Bewegung nach vorne deutlich macht und die mit einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse einhergeht. Am Horizont der Geschichte, in der zu erkämpfenden Zukunft erscheint die universale Solidarität aller Menschen. In der Spätmoderne sind die gesellschaftlichen Konflikte wesentlich undeutlicher, so dass es progressiven Positionen schwerfällt, Prozesse der Solidarisierung zu beschreiben und zu organisieren. Nichtsdestotrotz bleiben auch im 21. Jahrhundert die gesellschaftlich-ökonomischen Konflikte entscheidend für neue Formen der Verbundenheit, neue Formen der Solidarisierung sind angesichts instabiler ökonomischer Randbedingungen jederzeit möglich. Im zehnten Kapitel soll eine weitere Form der Verbundenheit jenseits der gesellschaftlichen Diskurse der Moderne dargestellt werden, die zumindest in den Ländern Europas und Amerikas noch eine große Bedeutung hat: Die Gemeinschaft von Christinnen und Christen. Einer verbreiteten Meinung, die christlichen Formen der Ver26 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Eine Übersicht über die folgenden Kapitel

bundenheit seien allein dem konservativen Diskurs zuzuordnen, muss widersprochen werden. Diese Zuordnung mag für das verbreitete kirchliche Selbstverständnis des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so gegolten haben. Doch deckt das nicht annähernd die Bandbreite christlicher Traditionen ab. Das Selbstverständnis christlicher Gemeinschaften in den biblischen Texten wie auch in den frühchristlichen Gemeinden war mindestens ebenso durch Zukunftserwartungen geprägt wie durch gemeinsame Erinnerungen und normative Traditionen. Die christlichen Formen der Verbundenheit sind immer geschichtlich konkret, eingespannt zwischen der Erinnerung an die konkrete Geschichte Gottes mit seinem Volk und der Verheißung und Erwartung der endgültigen Wiederkunft Christi. Die Verbundenheit zu Gott ist Grund und zugleich auch Kritik aller traditionellen menschlichen Formen der Verbundenheit. So liegt der Akzent hier auf der grundsätzlich offenen, immer auch selbstkritischen Gemeinschaft. Das elfte Kapitel fragt, wie sich in der Zukunft neue Formen der Verbundenheit ausbilden können. Hierbei wird auf die Arbeiten der soziologischen Netzwerkforschung Bezug genommen. 14 Netzwerke erweisen sich als Formen der Verbundenheit, die an manche Eigenschaften der traditionellen Gemeinschaften, solidarischer Gruppen und religiöser Gemeinden anknüpfen können. Diese Netzwerke lenken die Aufmerksamkeit auf die Mesoebene, die mittlere Ebene zwischen der Makroebene der Gesellschaft und der Mikroebene einzelner Individuen. Sie bringen biographische und kulturelle Kontinuitäten zum Ausdruck und haben doch eine größere Flexibilität als die bisherigen Formen der Verbundenheit. Soziale Netzwerke haben die Fähigkeit, Individualität und Verbundenheit in ein Gleichgewicht zu bringen. Das Konzept der Netzwerke weist darüber hinaus eine große Anschlussfähigkeit an die Infrastruktur digitaler Technologien auf, auch wenn dort unter Netzwerken – etwa in dem Begriff »Internet« – etwas anderes verstanden wird. Angesichts der Ausbreitung digitalen Medien werden soziale Netzwerke als Formen der Verbundenheit in der Gesellschaft an Bedeutung gewinnen. Jedoch gibt es auch Einschränkungen für durch digitale Technologien gestützte Netzwerke: Sie können weder soziale Konflikte hinreichend abbilden, noch sind sie an bestimmte Orte und Zeiten jenseits der digitalen Vermittlung gebunden, die eine große Rolle für Erzählun14

Vgl. White 2008.

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Einleitung

gen und die Ausbildung von Identität spielen. Dadurch erweisen sich Netzwerke, die allein durch digitale Technologien gestaltet werden, als ergänzungsbedürftig. Es ist wahrscheinlich, dass sich in der Zukunft hybride Netzwerke als dauerhafte Formen der Verbundenheit herausbilden werden, die einerseits digitale Technologien verwenden und doch darüber hinaus Bezug auf die leibliche Präsenz der miteinander verbundenen Menschen an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten nehmen. Das zwölfte Kapitel widmet sich noch einmal dem Wert der Universalität. Hier scheint der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne vorbildlich zu sein, da viele seiner Initiativen eine universelle Ausrichtung haben. Doch birgt die präsentische Ausrichtung des hegemonialen Diskurses eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Denn tatsächlich ist die gegenwärtige Welt voller großer und kleiner partikularer Konflikte, die man nur in historisch langwierigen Veränderungsprozessen bearbeiten kann. Eine gegenwartsorientierte Proklamation universeller Werte als politische Strategie kann dazu führen, die bestehenden Konflikte zu unterschätzen und damit sogar indirekt zu fördern. Hier zeigt sich erneut die Bedeutung eines starken Begriffs von Geschichte. Eine viel zu selten diskutierte Ebene ist die der Vereinten Nationen. Hier ist eine Grundlage gelegt für internationale Koordination und für eine Gestaltung und Moderation von Konflikten und für den Aufbau hybrider Netzwerke. Auch angesichts der technologischen Entwicklungen besteht aber eine begründete Hoffnung, dass der Wandel zur Universalisierung der Formen der Verbundenheit als hybride Netzwerke auch im internationalen Kontext weiter voranschreiten wird.

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1. Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne

1.

Hegemoniale Diskurse

Im Mittelpunkt dieser Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft steht der Begriff des Diskurses. Der Begriff wird auf sehr unterschiedliche Weise genutzt, nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe sind Diskurse heterogene gesellschaftliche Gebilde von Artikulationen und Bedeutungsrelationen, die aus Argumenten, aus Symbolen, aus Geschichten und Mythen, aus Bildern, aus Gesten, aber auch aus institutionellen und organisatorischen Arrangements einer Gesellschaft und aus materiellen Artefakten, wie Denkmälern, Architekturen oder Automobilen bestehen. 1 Sie befördern und manifestieren einen bestimmten Blick auf die Welt, die Gesellschaft und den Menschen. Diskurse legen etwa nah, was ein erfülltes Leben sein soll, welche Normen und Werte in der Gesellschaft gelten und wie sich Menschen zueinander verhalten sollen. Sie lassen sich aber nicht durch eine analytische Methode auf konsistente Standpunkte reduzieren. 2 Ein Diskurs ist kein theoretisch ausformulierter Rahmen, keine widerspruchsfreie Theorie. Die Argumente, die geäußert werden, die Bilder und Symbole können widersprüchliche Deutungen nebeneinander stehen lassen. Diese überzeugen nicht, weil sie unbestreitbar wären oder weil sie sich mit logischer Zwangsläufigkeit argumentieren, vielmehr legen sie bestimmte Meinungen nah, sie gruppieren Argumente assoziativ. Dennoch schaffen sie stabile Formationen, die gesellschaftliche Machtverhältnisse und Strömungen repräsentieren Auch materielle Artefakte und Institutionen können zum Diskurs gehören, weil sie, wenn man sich auf sie bezieht, notwendigerweise gedeutet werden müssen, vgl. Laclau, Mouffe, 1885: 142. 2 »Eine diskursive Formation wird weder durch die logische Kohärenz ihrer Elemente noch durch das Apriori eines transzendentalen Subjekts, noch durch ein sinnstiftendes Subjekt à la Husserl oder durch die Einheitlichkeit der Erfahrung vereinheitlicht.« Laclau, Mouffe, 1985: 139. 1

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Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne

oder auch anfechten. Sie machen Geschehnisse und Entwicklungen plausibel und helfen, sie einzuordnen. Die Stärke der Artikulationen, der Argumente, Bilder, Symbole und institutioneller Arrangements ist dann groß, wenn sie sich zu einem nachvollziehbaren Bild von der Welt, der Gesellschaft und vom Menschen fügen, das die Kraft hat, gesellschaftspolitische Orientierung zu geben. Um diese Orientierungsleistung erbringen zu können, dürfen zentrale Aussagen, Argumente und Bilder eines Diskurses gerade nicht präzise formuliert sein. Solche Aussagen sind etwa: »Die Welt ist ungerecht.« Oder: »Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.« Oder auch: »Der Mensch ist von Natur aus gut.« Oder »Die Evolution des Lebens ist eine unablässige Veränderung, nur wer sich selbst verändert, kann den Kampf ums Überleben bestehen.« Wenn jemand solche oder ähnliche Sätze äußert, macht es nicht viel Sinn zu fragen: »Wie ist Gerechtigkeit genau definiert?« Oder: »Welche Eigenschaft eines Wolfes meinst Du auf den Menschen übertragen zu können?« Diesen Sätzen, die für eine bestimmte Weltsicht stehen, kann man zustimmen oder man kann sie ablehnen. Sie transportieren bestimmte Bilder und Eindrücke, die in der Lage sind, komplexe gesellschaftliche Situationen zu reduzieren und verständlich zu machen. Ein Diskurs mag unscharf sein, beliebig ist er nicht. Er hat gegenüber anderen Positionen unterscheidbare Momente, und verfügt über identitätsstiftende zentrale Begriffe und Konzepte. Diskurse bieten vor allem auch starke Bilder, die die Welt im Ganzen repräsentieren. Der kanadische Philosoph Charles Taylor nennt solche Bilder »cosmic imaginaries«, sie bilden einen Hintergrund, vor dem sich etwas überhaupt als wirklich oder sinnvoll oder gesellschaftlich relevant zeigt. 3 Gerade dadurch beeinflussen Diskurse die Wahrnehmung von gesellschaftlichen Vorgängen. Wenn man der Überzeugung ist, die Welt sei grundlegend ungerecht oder Menschen seien in der Tendenz gefährlich, so zeigen sich bestimmte politische Prozesse anders, als wenn man an das Gute im Menschen glaubt oder daran, dass alle Widrigkeiten mit etwas Gemeinsinn schon überwunden werden können. Ein Diskurs konstituiert eine unvollkommene Ordnung, er formt und repräsentiert ja bestimmte Sichten auf die Welt. Aber seine Ordnung ist von einem Typ, der Widersprüche nicht unbedingt auf»Whereas what I’m interested in is how our sense of things, our cosmic imaginary, in other words, our whole background understanding and feel of the world has been transformed.« Taylor 2007: 325.

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Hegemoniale Diskurse

löst. Seine Ordnungen lassen auch Unterschiedenheit und Verstreuung zu. 4 Das gilt nicht zuletzt auch für Erzählungen, sie sind nicht logisch konsistente Konstruktionen, sondern leben von Überraschungen und Widersprüchen. 5 Ein Diskurs ist zwar von zentralen Ideen geprägt, doch hat er zugleich offene Ränder. Die Orientierungen, die Diskurse erzeugen, sind deshalb stark, weil sie nicht die Überzeugung einzelner darstellen, sondern als gesellschaftliche Phänomene die Meinung einer Vielzahl von Menschen repräsentieren. Es ist weiterhin die Anschlussfähigkeit der Argumente und Bilder im Alltag, die Diskurse stark machen. Man kann auf ein Vorverständnis der Gesprächspartner setzen und muss nicht immer wieder im Detail begründen, wenn man sich auf zentrale Bilder des Diskurses bezieht. Man weiß, dass viele Zeitgenossen leicht darin einstimmen. Eine Privatmeinung oder eine von wenigen geteilte Meinung kann deshalb kein Diskurs in dem hier verwendeten Sinne sein. Grundüberzeugungen eines Diskurses generieren Zustimmung und versichern Gemeinsamkeit auch in einem sich wandelnden gesellschaftlichen Umfeld. Ein Diskurs produziert Regelmäßigkeit, Wiederholung und Wiedererkennbarkeit spielen im gesellschaftlichen Alltag eine große Rolle. Wenn die Werbung ikonographisch glückliche ältere Menschen porträtiert, die noch voll und ganz am Leben der Jüngeren Teil haben, dann ist das nicht eine präzise Aussage über die Lebensgestaltung im Alter, sondern ein Ausdruck einer bestimmten Vorstellung davon, wie man im Alter leben sollte. Diskurse materialisieren sich auch in Gegenständen. 6 Wenn ein Staat die Polizeikräfte stark ausbaut, sie durch martialische Uniformen von Zivilisten abhebt und durch von außen erkennbare Waffen sichtbar macht, dann ist das nicht nur eine organisatorische Maßnahme, sondern möglicherweise auch eine Antwort auf ein bestimmtes Bedrohungsgefühl in der Gesellschaft und Ausdruck eines Autoritätsbedürfnisses des Staates. Wenn Menschen, »Der Typus von Kohärenz, den wir einer diskursiven Formation zuschreiben (…) ist eng mit dem verwandt, was den von Foucault geprägten Begriff der ›diskursiven Formation‹ charakterisiert: Regelmäßigkeit in der Verstreuung.« Laclau Mouffe 1985: 139. 5 Ricœur unterstreicht, dass Erzählungen, gerade, um das Erzählte wahrscheinlich zu machen, immer auch von Dissonanzen geprägt sind, die die Ordnung der Erzählung stören: »Diese dissonanten Ereignisse will die Fabel notwendig und wahrscheinlich machen.« Ricœur 1983, 75. 6 Laclau und Mouffe wenden sich entschieden gegen eine semantische Reduktion des Diskurses: »Demgegenüber werden wir den materiellen Charakter jeder diskursiven Struktur bekräftigen.« Laclau, Mouffe 1985: 142. 4

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die staatliche Leistungen beziehen, in kargen Wartesälen der Sozialämter eine Nummer ziehen müssen und mit vielen anderen darauf warten, dass ihre Nummer auf einem Display erscheint, dann ist das nicht eine neutrale Organisationsform, sondern auch eine Aussage über den gesellschaftlichen Status der Betroffenen. Diskurse im hier gemeinten Sinne sind keine statischen Konstellationen, sondern sie haben eine innere Dynamik. In der Eigenschaft der Dynamik wie auch der sozialen Streuung unterscheidet sich der Begriff des Diskurses vom Weltbild. Der Begriff »Weltbild« legt nah, dass es ein zeitloses strukturiertes Bild von der Welt geben könne. Aussagen eines Weltbildes erheben Anspruch auf Geschlossenheit und wollen überzeitliche Gültigkeit zum Ausdruck bringen, sie lehnen andere Weltbilder ab. Diskurse sind dagegen dynamisch, sie ändern sich mit der Zeit, sie können sich unterschiedlichen Zeiten anpassen bzw. sie können unterschiedliche Zeiten unterschiedlich prägen. Ein Diskurs unterscheidet sich auch dadurch von einem Weltbild, dass er notwendigerweise auch als soziales Geschehen existiert. Ein Einzelner mag unbeschadet seines sozialen Umfeldes ein Weltbild haben, ein Einzelner kann aber nicht einen Diskurs entwickeln. Ein Diskurs ist von Beginn an als eine soziale Interaktion, als Kommunikation zwischen einer Vielzahl von Menschen definiert. Dynamik und soziale Vermittlung kennzeichnen den Diskurs sowohl als ein gesellschaftliches, als auch als ein geschichtliches Phänomen. Dem allgemeinen Begriff des Diskurses kann und muss man einen engeren zur Seite stellen, wo der Diskurs auf eine streitbare Auseinandersetzung um die Geltung von Argumenten abzielt. Wenn jemand eine Aussage zu einem Sachverhalt macht (konstative Aussage) oder die Geltung einer moralischen Norm vertritt (regulative Aussage), kann man davon ausgehen, dass die Sprecherin, der Sprecher diese Behauptung oder diese moralische Regel auch begründen kann. Doch dann sind die Aussagen auch bestreitbar und diejenigen, die eine bestimmte Behauptung aufstellen, sind aufgefordert, für die eigene Behauptung zu argumentieren. Der Diskurs entwickelt sich dann in der Argumentation für oder wider die konstative oder regulative Aussage. Den Anspruch auf Wahrheit oder Richtigkeit kann man bestreiten, wenn man gute Gegenargumente hat oder andere Normen vertritt. Der Diskurs ist bestimmt durch eine ungehinderte und offene Auseinandersetzung um die Wahrheit oder Richtigkeit, an der idealerweise alle Betroffenen Anteil haben. Diese Variante des Diskurses, auf die auch die Diskurstheorie von Jürgen Habermas ver32 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Hegemoniale Diskurse

weist, fordert im Kern den freien und ungehinderten Austausch der Argumente mit dem Ziel, dass alle Beteiligten zu einer Übereinstimmung, zu einem Konsens finden. 7 Sicherlich gehören das Verständnis eines ungehinderten Austauschs von Argumenten zu jeder Form eines Diskurses, immer geht es um das Ringen um die Deutung der Welt und der Gesellschaft. Die enge Interpretation hat aber den entscheidenden Nachteil, dass sie ideale Kommunikationsbedingungen voraussetzen muss, damit die argumentative Auseinandersetzung auch wirklich ergebnisoffen ist und das Ergebnis Rationalität oder Normativität beanspruchen kann. 8 Doch solche Situationen kommen in geschichtlich-gesellschaftlichen Konstellationen so gut wie nicht vor. 9 Diese Vorstellung eines auf Rationalität zielenden Diskurses hat deshalb eher eine leitende, eine regulative Funktion: Diskursive Auseinandersetzungen sollten so weit als möglich offen und herrschaftsfrei sein. Aber in geschichtlichen Verhältnissen kann man sich diesem Zustand immer nur annähern, denn die Diskurse sind immer schon von Machtgefällen und strategischen Erwägungen durchzogen. Die Ausrichtung auf Macht und Einfluss ist dann entscheidend, wenn ein Diskurs ein hegemonialer Diskurs wird. Ein solcher Diskurs hat einen dominanten Einfluss auf gesellschaftliche Aushandlungsprozesse und repräsentiert gesellschaftliche Machtverhältnisse. Politische Akteure, die ihre Position nicht einfach durch Mehrheitsverhältnisse absichern können, versuchen über Allianzen, die der Diskurs ermöglicht, ihre Machtbasis abzusichern. 10 In hegemonialen

Darauf zielt der Universalisierungsgrundsatz U, vgl. Habermas 1992: 75 f. Dies ist notwendig, um einen universalen Anspruch des Konsenses als Ergebnis des Diskurses absichern zu können. Ein Konsens im Diskurs in diesem strengen Sinne der Sicherstellung von Rationalität kann nicht partikular und abhängig von den zufälligen Umständen oder einer zufälligen Beteiligung sein. Deshalb untersagt er auch jeden strategischen Anteil in der argumentativen Auseinandersetzung. Es geht nicht darum sich im Sinne partikularer Interessen durchzusetzen, sondern die Geltung eines Arguments in einem offenen Austausch abzusichern. Das aber ignoriert den in menschlicher Kommunikation immer vorhandenen strategischen Anteil, den man aus den Diskursen nicht herausrechnen kann, und es ignoriert die Tatsache, dass Diskurse immer Teil einer partikularen geschichtlichen Entwicklung sind. 9 Zur Kritik von Albrecht Wellmer vgl. Vogelsang 1998: 223 f. 10 Gramsci bezieht den Begriff der Hegemonie explizit auf gesellschaftliche Auseinandersetzungen und Kämpfe, in denen eine Partei »über die Einheitlichkeit der ökonomischen und politischen Ziele hinaus, auch die intellektuelle und moralische Einheit bewirkt, alle Fragen, um die der Kampf entbrannt ist, nicht auf eine kooperative, sondern auf eine ›universale‹ Ebene stellt und so die Hegemonie einer grund7 8

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Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne

Diskursen versichern sie sich der Zustimmung auch jener, die eigentlich andere gesellschaftliche Interessen verfolgen. Ein hegemonialer Diskurs prägt dann Wahrnehmung und Interpretation von Gesellschaft und ist damit eine Machtbasis für die Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse. 11 Er zielt dann darauf ab, dass bestimmte Werte, bestimmte Symbole, bestimmte fundamentale Aussagen anderen gegenüber bevorzugt werden. Er setzt den Rahmen, in denen die Mitglieder einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit etwas als »üblich«, als »normal« tolerieren. 12 Ein hegemonialer Diskurs legt einige politische Strategien nah, konkurrierende blockiert er und stellt sie als eine andere, äußere Sicht der Dinge dar. 13 Der hegemoniale Diskurs legt zum Beispiel auch nah, was »man« als gerecht empfindet und was als ungerecht. Er sichert die Deutungsmacht bestimmter gesellschaftlicher Akteure. Hegemoniale Diskurse sind deshalb eine wichtige Voraussetzung für jede längerfristige politische Herrschaft. Sie setzen einen Interpretationsrahmen, dem nur schwer widersprochen werden kann, weil er so etwas wie die selbstverständliche Sicht auf die Welt und den Menschen darstellt. Es ist äußerst begründungsbedürftig, wenn man den Interpretationsrahmen des hegemonialen Diskurses durchbricht. Leicht ist es dagegen, eine Position innerhalb seines Rahmens für alle verständlich zu machen. Kein Diskurs ist je unumstritten, das gilt auch für hegemoniale Diskurse, auch wenn sie einen universalen Anspruch erheben. Ihnen gegenüber existieren stets konkurrierende Diskurse, andere Deutungen der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit.

legenden gesellschaftlichen Gruppe über eine Reihe untergeordneter Gruppen herstellt.« Gramsci in: Becker et al. 2013: 32. 11 Diesen Aspekt beschreibt Gramsci mit dem Begriff des »Führens« von verbündeten Kräften, das dem des expliziten »Herrschens« über gegnerische Kräfte zur Seite gestellt ist, vgl. Gramsci in: Becker et al., 2013: 21. 12 »Eine kulturelle Hegemonie zeichnet sich ab, wenn es einem Diskurs gelingt, sich zumindest vorübergehend als universal und alternativlos zu präsentieren und zu instituieren. Kulturelle Hegemonien verarbeiten notwendigerweise ›partikulare‹, das heißt historisch-regional spezifische, Differenzsysteme und Subjektpositionen, aber sie präsentieren diese über spezifische rhetorische Strategien als einen universalen Horizont, sie betreiben eine erfolgreiche Universalisierungsstrategie.« Reckwitz 2006: 343. 13 »Ein hegemonialer Diskurs gewinnt seine Identität erst über die Abgrenzung von einem Außen, über den ›negativistischen‹ Weg der Verwerfung eines radikalen Anderen, der damit zum paradoxen ›konstitutiven‹ Außen avanciert.« Reckwitz 2006: 344.

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Hegemoniale Diskurse

Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne lässt bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen und politische Strategien in der Spätmoderne als zeitgemäß und quasi unumgängliche Ordnung erscheinen. Sein Vorläufer, der liberale, bürgerliche Diskurs hatte seit seiner Etablierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Beginn an zwei konkurrierende Diskurse. Im 19. Jahrhundert rangen diese drei Diskurse um Einfluss in der Gesellschaft. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war es unklar, ob sich der heute hegemoniale oder der konservative oder der progressive, revolutionäre Diskurs durchsetzen würde. Die wirtschaftliche Entwicklung und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen waren der entscheidende Motor der Stärkung jenes bürgerlich-liberalen Diskurses, der sich in den letzten Jahrzehnten zum hegemonialen Diskurs der Spätmoderne entwickelte. Dies wird in Kapitel zwei dargestellt. Auch heute existieren die beiden anderen Diskurse noch, wenngleich sie auch einen deutlich geringeren gesellschaftlichen Einfluss haben. Der hegemoniale Diskurs erweist sich gerade darin als hegemonial, dass seine Grundüberzeugungen auch von konkurrierenden politischen Positionen in Teilen übernommen werden. Seine Wirkung geht weit über die ursprüngliche politische Orientierung hinaus, sie hat dazu geführt, dass auch konservative, wie auch progressive Positionen nicht umhin kommen, starke Anleihen beim liberalen Diskurs zu machen, wenn sie ihr Verständnis der gesellschaftlichen Verhältnisse beschreiben wollen. Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne ist vor allem durch zwei Grundüberzeugungen charakterisiert: durch den Individualismus, also die Vorstellung, ein Mensch sei vor allem und zuerst als ein Individuum zu beschreiben und durch die Annahme, es komme in politischen Analysen und Handlungen vor allem darauf an, gesellschaftliche Herausforderungen als Probleme gegenwärtiger Zustände darzustellen und sie einerseits mit rationalen, systemadäquaten Methoden und andererseits mit einer Orientierung an moralischen Werten zu lösen. 14 Die Betonung dieser beiden Grundüberzeugungen bedeutet nicht, dass sich der Diskurs nicht auch durch weitere Eigenschaften und Eigenarten charakterisieren ließe. Doch haben die Brunkhorst sieht einen direkten Zusammenhang zwischen beiden, die Systembildung ist eng mit einem Individualismus verkoppelt. Er stellt fest, dass »die Desozialisierung (oder Individualisierung) eine permanente Voraussetzung funktionaler Differenzierung ist (…).« Brunkhorst 2016: 127.

14

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Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne

beiden Grundüberzeugungen einen prägenden Einfluss auf die politischen Diskussionen und Orientierungen. Beide Überzeugungen stehen in engem Zusammenhang mit den Stärken und mit den Schwächen des Diskurses. Sie stützen die zentralen Werte von Autonomie und Universalität, sie bilden zugleich auch die Grundlage für die große Schwäche des Diskurses, nämlich die geringe Fähigkeit, Formen der Verbundenheit in der Gesellschaft zu befördern.

2.

Individualismus als zentrale Orientierung

Im hegemonialen Diskurs ist jeder Mensch gehalten, seine unverwechselbare Individualität zu betonen. Der Individualismus setzt den einzelnen, einzigartigen Menschen ins Zentrum der Überlegungen. Jeder Mensch ist vor allem durch das ausgezeichnet, was ihn von anderen unterscheidet. Ein Leben gelingt, wenn jemand in der Lage ist, die Unterschiede zu anderen Menschen hervorzuheben und das eigene Leben nach seinen eigenen Anlagen gestalten. 15 Die Ausrichtung moderner Gesellschaften auf das Individuum ist eingehend, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten beschrieben worden. 16 In der Analyse von Ulrich Beck wird deutlich, dass der Individualismus, die Konzentration auf den einzelnen Menschen nicht wiederum als Summe individueller Entscheidungen verstanden werden kann. 17 Die Konzentration auf die Individuen ist, anders als es viele konservative Kritiker beschreiben, kein vorrangig moralisches Problem. Es

Diese beiden Aspekte nennt z. B. auch Elias 2003, 210: »Der Begriff ›Individuum‹ hat heute vor allem die Funktion, zum Ausdruck zu bringen, dass jeder Mensch in der ganzen Welt ein autonomes, sich selbst regierendes Wesen ist oder sein soll, und zugleich auch, dass jeder Mensch in bestimmter Hinsicht von jedem anderen Menschen verschieden ist (…).« 16 Das schon erwähnte Konzept der Singularisierung von Reckwitz weist über die Individualisierung von Menschen hinaus: »Objekte und Dinge, menschliche Subjekte, Kollektive, Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten.« Reckwitz 2017: 57. Die Ausweitung ist schlüssig, gerade die Einbeziehung der Kollektive als singuläre Erscheinungen kommt in Kapitel elf bei der Diskussion von Netzwerken wieder vor. 17 »Ständisch geprägte Sozialmilieus und klassenkulturelle Lebensformen verblassen. Es entstehen der Tendenz nach individualisierte Existenzformen und Existenzlagen, die die Menschen dazu zwingen, sich selbst – um des eigenen materiellen Überlebens willen – zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanungen und Lebensführungen zu machen.« Beck, 1986: 116 f. 15

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Individualismus als zentrale Orientierung

geht nicht um so etwas wie einen kollektiven Egoismus, der Individualismus beruht nicht ihrerseits auf einer Vielzahl individueller Entscheidungen, sondern entstammt einem sozialen Prozess. Das Individuum ist das Produkt einer kulturell-sozialen Entwicklung und nicht einfach nur eine natürliche Vorgabe. 18 All das, was einzelne Menschen in ihrer jeweiligen Besonderheit stärkt und was ihre Besonderheit zum Ausdruck bringt, wird unter der Vorgabe des hegemonialen Diskurses als selbstverständlich hingenommen. Der hegemoniale Diskurs besteht aus einem Amalgam aus wirtschaftlichen Zwängen, kulturellen Leitbildern, der Weiterentwicklung des Rechts und weiteren gesellschaftlichen Arrangements. Seine Entwicklung wird in dem zweiten Kapitel genauer betrachtet. Tatsächlich verändert die Gesellschaft in der Spätmoderne nachhaltig ihr institutionelles Gefüge, was der hegemoniale Diskurs einerseits zum Ausdruck bringt und andererseits fördert. Traditionelle Strukturen und kollektive solidarische Ziele werden geschwächt, die Gesellschaft lässt so den Menschen vor allem die Option, die Selbstoptimierung zu setzen. 19 In einer Zeit, in der die Wirtschaft auf das tätige Individuum abhebt, sowohl auf der Seite der Produktion wie auf der Seite der Konsums, ist dieser Wandel hin zum Individualismus auch ein Ausdruck der ökonomischen Entwicklung. Tatsächlich findet Wertschöpfung in immer kleineren Produktionseinheiten statt, die großen Industrieunternehmen, in denen Mitarbeitende oft sehr ähnlichen Produktionsbedingungen unterworfen waren, verlieren an Bedeutung. Auch größere Unternehmen schaffen eine interne Struktur, die von Mobilität und kleinen Einheiten geprägt ist. Die Flexibilität spielt in der spätmodernen Produktion eine große Rolle. Darauf weist auch der amerikanische Soziologe Richard Sennett hin, der die Folgen für die Menschen auch jenseits ihrer Berufsarbeit betont. Sein Urteil ist harsch: Die flexiblen Produktionsstrukturen führen zu einem Verfall des Charakters der Beschäftigten, vor allem

Der individuelle Körper allein produziert keine Eindeutigkeit: Menschen waren immer Wesen mit einem je besonderen Körper, und doch verstanden sie sich über die längste Zeit der Menschheitsgeschichte nicht als Individuen, wie es die Menschen der Moderne tun. 19 »Ziel war nun nicht mehr eine Verbesserung der Gesellschaft (die in jeder praktischen Hinsicht ausgeschlossen erschien), sondern die Verbesserung der eigenen Stellung innerhalb dieser wesensmäßig und endgültig unverbesserlichen Gesellschaft.« Bauman 2017: 21. 18

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Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne

durch eine Unterminierung von langfristigen biographischen Planungen. 20 In der Ablehnung längerfristiger Formen der Verbundenheit kommen die neuen kapitalistischen Produktionsbedingungen und das leitende Selbstverständnis des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne zusammen: größere Familienstrukturen, verbindliche Gemeinschaften und andere langfristige Formen der Verbundenheit sind stets dem Verdacht ausgesetzt, regressiv zu sein und veraltete und repressive Strukturen erhalten zu wollen. Langfristige Bindungen gelten zwar auch im hegemonialen Diskurs für viele Menschen als wünschenswert, sie haben jedoch nur eine nachrangige normative Bedeutung. Vorrang hat immer die Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung. Die Familie ist nach wie vor ein großes Ideal, aber nicht selten scheitern die realen Umsetzungen an den Ansprüchen des Ideals. Auch Vereine, Parteien und andere Formen von längerfristigen Gemeinschaften haben stets den Makel, dass sie mit den Zielen der Selbstverwirklichung in Konflikt geraten können. Verzichtsleistungen zugunsten anderer erweisen sich immer wieder als Quellen unterschwelliger und langfristig destruktiver Konflikte. Norbert Elias hat herausgearbeitet, dass moderne Gesellschaften auf diese Weise eine Balance zwischen dem »Ich« und dem »Wir« zu verlieren drohen. 21 Diese Defizite werden von den meisten Menschen in der Regel nicht unmittelbar als solche erlebt. Die Flexibilität wird im Rahmen des hegemonialen Diskurses eher als Raum der Freiheit gedeutet. Gerade in solchen Deutungen erweist sich der Diskurs als hegemonial, er dominiert nicht aufgrund expliziter Herrschaftsausübung, sondern etwa durch leitende Bilder vom gelingenden Leben. 22 Diese Bilder übernehmen viele Menschen, sie bejahen sie innerhalb des vorgegebenen Deutungsrahmens. 23 Die Herauslösung aus solidarischen »Es ist die Zeitdimension des neuen Kapitalismus (…), die das Gefühlsleben der Menschen außerhalb des Arbeitsplatzes am tiefsten berührt. Auf die Familie übertragen bedeuten diese Werte einer flexiblen Gesellschaft: bleib in Bewegung, geh keine Bindungen ein und bring keine Opfer.« Sennett 1998: 29. Sennetts Buch »Der flexible Mensch« erschien im englischen Original unter dem Titel: »The Corrosion of Character«. 21 »Eine ganze Flut von Schriften aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellt (…) die immer gleiche Figur des isolierten Menschen (…) vor.« Elias 2003: 266. 22 Die Hegemonie ermöglicht Führung auch ohne direkte Herrschaft, vgl. Gramsci bei Becker et al. 2013: 21. 23 Nachtwey nennt den Prozess der neoliberal orientierten Modernisierung von 20

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Individualismus als zentrale Orientierung

und gemeinschaftlichen Strukturen ist verbunden mit einem Selbstverständnis, ein eigenständiger und unabhängiger Akteur zu sein, der sich durch sein Handeln selbst verwirklichen kann. Es ist nicht so, dass allein ein einzelner äußerer Zwang den Individualismus vorantreibt, sondern vielfältige kulturelle Einflussfaktoren befördern diesen Prozess. So zeigt sich die Mächtigkeit des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne. Er ist beteiligt an dem Wandel der Lebensbedingungen und bewirkt zugleich auch die Grundlage für die Bejahung dieser Situation. Versuche, die Menschen in ihrer wechselseitigen Bezogenheit und in ihrer Verbundenheit zu beschreiben, ihr Eingebundensein in sozialen Formationen, Gruppen oder Klassen, wirken dagegen problematisch und erscheinen in hohem Maße begründungsbedürftig. 24 Die auf die Individualität ausgerichtete Gesellschaft verliert die Fähigkeit, adäquate Ausdrucksformen für die existentielle Verbundenheit der Menschen untereinander zu finden. Die Tatsache, dass Menschen immer auch mit anderen in sozialen Beziehungen stehen und dass sie ihre Existenz der Zuwendung und Gemeinschaft mit anderen verdanken, wird als nachrangig empfunden. Denn im Sinne des hegemonialen Diskurses konstituieren nicht die sozialen Beziehungen einen Menschen, vielmehr geht er als individuelles Wesen, das zunächst und vor allem aus sich selbst heraus existiert, bewusst und aktiv soziale Beziehungen ein. Beziehungen zu anderen Menschen unterliegen immer der eigenen Kontrolle, man kann sie bejahen und fördern oder auflösen. In diesem Sinne ist die Gestaltung ihres sozialen Umfeldes auch ein Teil von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung der Individuen. 25 Natürlich gibt es Beziehungen, die nicht einfach der eigenen Kontrolle unterliegen, etwa die Beziehungen zu den Eltern, aber auch hier ist die Gestaltung der Beziehung in vielen Varianten denkbar. Wirtschaft und Staat regressive Modernisierung. »Regressive Modernisierung gründet in diesem Sinne zwar auf der Ausübung politischer Herrschaft, aber eben auch darauf, die Menschen als Subjekte in den Wandel zu verstricken, sie zu Komplizen zu machen.« Nachtwey, 2017, 79. 24 Interessant wäre einmal eine Analyse populärer Unterhaltungsformate wie die Kriminalfilmserie »Tatort«. Die Heldinnen und Helden sind fast durchgehend sozial vereinsamte Menschen, Gemeinschaften, die gezeigt werden, dagegen sind zumeist repressiv. 25 Ein ideales Umfeld bilden dazu neuerdings die digitalen Plattformen, die so genannten »Sozialen Medien« wie Facebook oder Instagram.

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Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne

Jedoch sind Menschen, die sich aus einer Vielzahl sozialer Bindungen weitgehend lösen können, deshalb nicht einfach zu sich selbst gekommen und befreit. Die Verhältnisse sind komplizierter. In unserer Zeit gibt es eine wachsende Ahnung für die Bedeutung jener Dimensionen menschlichen Lebens, die über die Befähigung zur individuellen Existenz hinausgehen. Es bleibt oft eine Melancholie und ein Wissen um den Verlust, der sich nicht leicht ersetzen lässt. Mit der Konzentration auf den einzelnen Menschen, das Individuum, korrespondiert ein Bezug auf die ganze Menschheit. 26 Diese Menschheit ist die Summe aller Individuen. Die vermittelnden Größen, also Formen der Verbundenheit von mittlerer Größenordnung, mit einer begrenzten Anzahl von Menschen spielen im hegemonialen Diskurs der Spätmoderne nur eine marginale Rolle. Beide, der einzelne Mensch und die Menschheit im Ganzen sind mit den zentralen Werten verbunden: Autonomie und Universalität. Mit beiden verbinden sich in der Tat Errungenschaften des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne, wie noch ausführlicher dargestellt wird. Dennoch ist es außerordentlich problematisch, die Bedeutung von sozialen Zwischengrößen abzuwerten.

3.

Im Horizont der Gegenwart

Der hegemoniale Diskurs ist zum anderen von einer Konzentration auf die Gegenwart bestimmt. Dieser Gegenwartsbezug geht einher mit Prozessen der Rationalisierung und der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften. Gegenüber früheren, stark durch Hierarchien bestimmten traditionellen Gesellschaften gibt es nun nicht mehr ein Entscheidungszentrum, das zu allen Teilen der Gesellschaft einen privilegierten Zugang hat. Wichtige soziologische Theorien wie die von Talcott Parsons und Niklas Luhmann haben den gesellschaftlichen Wandel in der Moderne mit systemtheoretischen Ansätzen gedeutet. 27 Die Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften in Teilsysteme ist tatsächlich ein Fortschritt, die Steuerung komplexer GeBayertz stellt in analoger Weise für die neuzeitliche Ethik fest: »Die neuzeitliche Ethik ist nahezu ausschließlich an der Begründung universeller Normen interessiert; sie kennt nur Individuen einerseits und die ganze Menschheit andererseits; eine eigenständige Bedeutung partikularer Gruppen und Gemeinschaften kann auf dieser Basis nicht anerkannt werden.« Bayertz 1998: 13. 27 Vgl. Luhmann 1991; Parsons 2009. 26

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Im Horizont der Gegenwart

sellschaften wird möglich, die Effizienz der Steuerung nimmt zu. Die Gesellschaft wird als ein komplexes Zusammenwirken von relativ eigenständigen funktionalen Teilsystemen dargestellt, die je ihrer eigenen Logik folgen und entsprechend gesteuert werden. 28 Zu diesen Systemen gehören allem voran die Wirtschaft, aber auch das Recht, die Wissenschaft und die Politik. Jedes dieser gesellschaftlichen Teilsysteme hat eine eigene Binnenlogik, die die Akteure berücksichtigen müssen, wenn sie effektiv handeln wollen. Um den so verstandenen Anforderungen gerecht werden zu können, müssen sich die gesellschaftlichen Akteure einer funktional-instrumentellen Vernunft bedienen. Die Tatsache, dass sich Gesellschaften funktional ausdifferenziert haben und dass man diese als Systeme beschreiben kann, ist unstrittig. Die Frage ist aber auch hier, ob diese Beschreibung das Ganze der gesellschaftlichen Entwicklung erfasst. 29 Der hegemoniale Diskurs legt das nah. Er verstärkt insbesondere die Einsichten der soziologischen Theorien, die die Gegenwart von Systemen betonen. 30 In der politischen Diskussion dominiert die Orientierung an den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen. Damit wächst ein DesReckwitz sieht in dem Wandel eine Logik des Allgemeinen am Werk: »Der strukturelle Kern der klassischen Moderne, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert zunächst in Europa ausgebildet hat, ist zunächst eine soziale Logik des Allgemeinen, die auf eine Standardisierung, Formalisierung und Generalisierung sämtlicher Einheiten des Sozialen drängt.« Reckwitz 2017: 28. Er unterscheidet auch die beiden hier genannten Grundüberzeugungen und weist die Ausrichtung auf rationale Systeme der organisierten Moderne zu, vgl. Reckwitz 2017: 45, die Individualisierung als Singularisierung dagegen der Spätmoderne, vgl. Reckwitz 2017: 48. In der Geringschätzung der Verbundenheit kommen beide sozialen Phänomene überein, die Individualisierung schwächt die synchrone Verbundenheit, die Gegenwartsorientierung der Systemanalyse schwächt die diachrone Verbundenheit. 29 Habermas sieht hier ein klares Defizit: Normen, Werte und die Sphäre der Lebenswelt sind durch die Systeme nicht erfasst: »Moderne Gesellschaften erreichen (…) eine Ebene der Systemdifferenzierung, auf der autonom gewordene Organisationen über entsprachlichte Kommunikationsmedien miteinander in Verbindung stehen. Diese systemischen Mechanismen steuern einen von Normen und Werten weitgehend abgehängten sozialen Verkehr, nämlich (…) Subsysteme zweckrationalen Wirtschafts- und Verwaltungshandelns (…).« Habermas 1987, 230. 30 Die Dimension der Zeit wird in der Systemtheorie operativ auf die Gegenwart abgebildet. Es ist möglich, das System in der Zeitdimension über Prozesse von der Umwelt abzukoppeln, so dass sie »mit Hilfe der eigenen verfügbaren Geschichte Vergangenheit gegenwärtig machen können: an die Stelle der einfachen Gegenwart tritt mit der Möglichkeit der selektiven Aktualisierung vergangener Gegenwarten eine vielfältige und in Grenzen wählbare Gegenwart.« Willke 1993: 98. 28

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Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne

interesse sowohl gegenüber geschichtlichen Verbindungen in die Vergangenheit hinein als auch gegenüber einer Zukunft, auf die man hofft. 31 Im Zentrum vieler Kalküle steht das ökonomische System, die Wohlstandserwartung der Mitglieder der Gesellschaft ist an das Funktionieren dieses Systems gebunden. In der Moderne hat sich ein weitgehend freier Handel im globalen Maßstab entwickelt, dementsprechend gelten all jene politischen Optionen in dem hegemonialen Diskurs als gut begründet, die diesen freien Handel befördern und das wirtschaftliche System stabilisieren. Einschränkungen des freien Handelns durch Zölle und Regulierungen werden dagegen als irrational oder destruktiv, auf jeden Fall aber als unmodern wahrgenommen. Nationale und historische Besonderheiten spielen in dieser Perspektive keine Rolle. Es wird nicht damit gerechnet, dass es geschichtliche Zusammenhänge geben könnte, die die Randbedingungen für ökonomische Prozesse noch einmal nachhaltig verändern könnten. Doch ein Blick in die Geschichte moderner Gesellschaften zeigt, dass es mitnichten binnenökonomische Kalküle waren, die die Geschichte maßgeblich verändert haben. Politische Machtfragen, Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der lange angebahnten kulturellen Identität haben auch heute die Kraft, die ökonomische Entwicklung auf neue Bahnen zu lenken. Nun ist die Ökonomie nicht in Gänze auf Systemkalküle ausgerichtet, es gab und gibt divergierende Schulen und Ansichten. Im 19. Jahrhundert hatte sich etwa in der Ökonomie die historische Schule etabliert, die der geschichtlichen Einbindung der Wirtschaft ein größeres Gewicht gegeben hat. 32 Ähnliches kann man für das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft sagen. Doch sind diese Ansätze in der heutigen wirtschaftspolitischen Praxis in den Hintergrund geraten. Es überwiegt die Akzeptanz der Rahmenbedin-

Luhmann bietet eine Bestimmung von Geschichte im Kontext der Behandlung der Zeitdimension von Sinn, die zeigt, dass diachrone Verbundenheit für ihn keine große Bedeutung hat: »Geschichte ist immer: gegenwärtige Vergangenheit bzw. gegenwärtige Zukunft; immer: Abstandnahme von der reinen Sequenz; und immer: Reduktion der dadurch gewonnenen Freiheit des sprunghaften Zugriffs auf alles Vergangene und alles Zukünftige.« Luhmann 1991: 118. 32 Auch heute gibt es Soziologen, die den historischen Ansatz in der Interpretation der Ökonomie favorisieren: »Kapitalismus ist, anders als ökonomische Theorie und Ideologie glauben machen wollen, kein Naturzustand, sondern eine zeitgebundene, gestaltungs- und legitimationsbedürftige gesellschaftliche Ordnung: räumlich und historisch in wechselnden Formen konkretisiert (…).« Streeck 2016: 93. 31

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Im Horizont der Gegenwart

gungen von relativ autonomen Systemen, aus der eine Dominanz der gegenwärtigen Verhältnisse resultiert. Neben den Kriterien einer systemkonformen gegenwartsorientierten Rationalität gibt es im hegemonialen Diskurs für das politische Handeln natürlich auch moralische Kriterien. Handlungen werden nicht nur auf ihre Funktionsgemäßheit und Zielgerichtetheit hin befragt, sondern auch darauf hin, ob sie moralischen Werten folgen, ob sie moralischen Prinzipien genügen. 33 Moralische Vorgaben finden sich im hegemonialen Diskurs der Spätmoderne vor allem in einer allgemeinen Orientierung an dem Ideal der Humanität. Hierdurch sind sehr allgemeine und grundsätzliche Werte adressiert, die den Anspruch haben, universal zu gelten, das heißt, unabhängig zu sein von temporären geschichtlichen Verhältnisse und partikularen kulturellen Traditionen. Beide Faktoren, die Orientierung an einer Systemrationalität und die Orientierung an einer allgemeinen, universalen Moral führen zu einer Abwertung geschichtlicher Zusammenhänge und zu einer Konzentration auf gegenwärtige Verhältnisse. In dem so aufgespannten Rahmen wird aber die Verwobenheit auch moderner Gesellschaften mit einer kontingenten und konflikthaltigen Geschichte unterschätzt. Dies hat die Folge, dass die Vergangenheit von der Gegenwart abgekoppelt erscheint. Die Vergangenheit ist nur noch ein Reservoir an Erinnerungen, die dazu mahnen, bestimmte Fehlentwicklungen nicht mehr zu wiederholen. Doch hat sie auf die Gegenwart keine unmittelbare Wirkung. Die Gegenwart ist frei, sich neu zu orientieren. Pfadabhängigkeiten komplexer Gesellschaften werden eher gering geachtet. Das macht sich etwa auch in der Diskussion um die Entwicklung des Weltklimas bemerkbar. Es besteht der Eindruck, dass man heute noch alles entscheiden kann, dass noch alles offen ist. Es scheint auch nicht entscheidend, was man in der Vergangenheit entschieden hat. Wenn in der Gegenwart alles möglich ist, dann wird das Vergangene unwichtig. Entscheidend ist, was hier und heute entschieden wird. Noch gewichtiger sind die Verzerrungen, die die Zukunft betreffen. Die Zukunft wird im Gegensatz zur Vergangenheit nicht abgekoppelt, sondern zur verlängerten Gegenwart gemacht. Die Zukunft Reckwitz fasst die Orientierung an moralischen Werten als normative Rationalisierung und rückt sie dadurch in die Nähe anderer Formen von Rationalisierung. Vgl. Reckwitz 2017: 35.

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Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne

kann mit Hilfe von Zukunftsszenarien und Prognosen eingeholt und bearbeitet werden. Sind die Bedingungen der Gegenwart bekannt, so lassen sich die Entwicklungen für die Zukunft ableiten. Die Zeitdimensionen werden immer mehr auf eine erweiterte Gegenwart eingeschränkt. 34 Prognosen sind aber die Fortschreibung der Bedingungen der Gegenwart mit den Mitteln wissenschaftlich geleiteter Modellbildung. Dies führt zu einer Reduktion von Geschichte auf eine zeitliche Entwicklung von dem, was sich berechnen lässt. Doch ist das für die gesellschaftliche Entwicklung plausibel? Macht die Annahme Sinn, längere Zeiträume ließen sich prognostisch beschreiben? Schon die Entwicklung der Spätmoderne in den letzten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts hätte von einer »wissenschaftlichen« Prognosen Anfang der 60er Jahre in keiner Weise vorhergesagt werden können. Einige Faktoren, die auch bei bester Prognostik Anfang der 60er Jahre nicht berechnet worden wären, sind die demographische Entwicklung, der »Pillenknick«; der politisch-kulturelle Aufbruch durch die 68er; die Entwicklung der digitalen Technologien als vernetzter Personal Computer; der Wandel der Wirtschaft in eine postindustrielle Phase; der relativ abrupte Niedergang des internationalen Regimes der Sowjetunion. Nun haben Prognosen dann eine wichtige Rolle, wenn das zu Prognostizierende maßgeblich durch naturwissenschaftlich beschreibbare Prozesse bestimmt ist. So ist etwa die Entwicklung des Weltklimas in vielen, immer wieder verbesserten Modellen transparenter geworden. Das Weltklima findet unter den Bedingungen des hegemonialen Diskurses auch eine große Beachtung. Die Randbedingungen der Zukunft sind hier tatsächlich eindeutig bestimmbar, sie sind eine klare Bedrohung der Verhältnisse der Gegenwart. Sie sollen, so die Protagonistin der Bewegung »Fridays for Future«, Greta Thunberg, Angst und Panik auslösen. Das ist als mobilisierender Weckruf wichtig, es kommt aber auch darauf an, in längerer Sicht Honneth führt die Zukunftslosigkeit auf dominante Haltungen der Postmoderne, hier der Spätmoderne, zurück: »Auf dem Boden dieser neuen, postmodernen Geschichtsauffassung (…) können Visionen eines besseren Lebens schon deswegen nicht mehr gedeihen, weil jede Idee davon abhandengekommen sei, dass die Gegenwart durch ihre innewohnenden Potentiale stets schon über sich hinaus treibe und in eine offene Zukunft ständiger Vervollkommnungen weise, viel eher werde inzwischen die kommende Zeit nur noch als etwas vorgestellt, das nichts anderes mehr zu bieten habe, als ein bloßes Durchspielen von aus der Vergangenheit bereits vertrauten Lebensformen oder Sozialmodellen.« Honneth 2015: 17.

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Im Horizont der Gegenwart

Prozesse einer neuen kulturellen Selbstverständigung auszulösen. Denn die Folgen müssen umfassend sein, Lebensstile, Konsum und Mobilität müssen sich ändern. Doch kann der hegemoniale Diskurs dies vor allem nur als moralische Aufforderung artikulieren. Es wird aber vielmehr darauf ankommen, auch eine neue Kultur veränderter Lebensgewohnheiten zu etablieren, die über individuelle Lebensentscheidungen hinausgehen, neue Formen der sozialen Verbundenheit müssen entstehen. Die Zukunft als gesellschaftlich-geschichtliche Dimension bleibt auch bei eindeutigen naturwissenschaftlichen Prognosen offen. Selbst wenn alle sozialen Faktoren günstig zusammen wirken, werden sie keine abrupte Veränderung ermöglichen. Dennoch bietet die Offenheit der gesellschaftlichen Zukunft die Möglichkeit kultureller Veränderungen. 35 Es geht darum, Imaginationen einer besseren Zukunft zu entwickeln, was klassisch mit dem Begriff »Hoffnung« verbunden war. 36 Denn eine solche Hoffnung verändert die Gegenwart viel stärker als eine Fixierung auf das Gegebene.

Hier bewährt sich das Bild eines langsam fließenden Lavastromes (Magma) für die gesellschaftlich-geschichtliche Entwicklung, vgl. Kapitel sechs. 36 »Hoffnung, dieser Erwartungs-Gegenaffekt gegen Angst und Furcht, ist deshalb die menschlichste aller Gemütsbewegungen und nur Menschen zugänglich, sie ist zugleich auf den weitesten und hellsten Horizont bezogen.« Bloch 1973: 83 f. 35

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2. Wie ist der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne entstanden?

In der Summe führen beide hier herausgestellten Eigenschaften des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne zu einer Schwächung von Verbundenheit. So wie der Individualismus die synchrone soziale Verbundenheit reduziert und systematisch in Frage stellt, so bedeutet die Konzentration auf die Gegenwart in der Systemanalyse moderner Gesellschaften eine Reduktion der diachronen Verbundenheit sowohl mit der Vergangenheit wie aber insbesondere auch mit einer offenen Zukunft. Die Grundüberzeugungen des hegemonialen Diskurses erscheinen heute in vielen politischen Debatten als alternativlose Rahmenbedingungen. Um die Dominanz seiner Position zu verstehen, ist es wichtig, zu sehen, dass sie tief in unserer Kultur verankert sind und dass sie aus einer Entwicklung stammen, die weit über die Zeit der Moderne hinaus auf den Beginn der Neuzeit zurück verweist. Seine Überzeugungen sind also keine kurz- oder mittelfristigen kulturellen Erscheinungen, auch wenn ihre Dominanz durch den hegemonialen Diskurs der Spätmoderne erst seit einigen Jahrzehnten manifest ist. Nur dann, wenn man sieht, wie tief diese Entwicklung in die Kulturgeschichte der Neuzeit eingeschrieben ist, kann man ermessen, warum die Grundüberzeugungen heute so alternativlos zu sein scheinen. Sie haben sich im Laufe der Zeit auf vielfältigste Weise in allen gesellschaftlichen Bereichen, in das Recht, in die Wirtschaft, in die Kultur und in die Politik eingeschrieben. Bei aller Problematik muss man die Errungenschaften dieser Entwicklung ebenso betonen, ein einfaches Urteil ist nicht möglich. Es gibt eklatante Schwächen und Verkürzungen des hegemonialen Diskurses, es gibt aber auch Errungenschaften, die es zu bewahren gilt. Es geht also im Weiteren darum, nach einer Alternative zu den Grundüberzeugungen des Diskurses zu suchen, die die Schwächen meidet, ohne die Errungenschaften zu gefährden.

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Motive aus Neuzeit und Moderne

1.

Motive aus Neuzeit und Moderne

Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne hatte in gewisser Weise eine lange Latenzzeit, viele Innovationen, die er schließlich aufgenommen hat, entstanden deutlich früher und sind mit der Europäischen Neuzeit verbunden. Im 17. Jahrhundert brach die Legitimität traditioneller Institutionen in Europa zusammen, politisch suchte man im Umfeld der Religionskriege nach neuen Begründungsverfahren für das politische Gemeinwesen, philosophisch begab man sich auf die Suche nach einer Quelle sicherer Erkenntnis jenseits der traditionellen Metaphysik, die ersten Fundamente einer modernen Wissenschaft wurden gelegt. Der kanadische Philosoph Charles Taylor hat in mehreren umfangreichen Veröffentlichungen die neuzeitliche europäische Kulturgeschichte untersucht. 1 Auch für Taylor ist die aktuelle Gesellschaft eine Quelle grundlegender Beunruhigung. 2 Er identifiziert vor allem drei Ursachen für die Entwicklung: der Individualismus, die Entzauberung der Welt, die dadurch als mit einer instrumentellen Vernunft beherrschbare Welt erscheint und die Reduktion von Freiheit, die durch eine mit technischen Mitteln verwaltete Gesellschaft bedingt ist. 3 Diese Kritikpunkte an der Moderne sind offensichtlich konzeptionell mit den beiden gerade aufgeführten Grundüberzeugungen des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne eng verwandt. Die genannten Bedingungen führen nach Taylor dazu, dass sinnstiftende soziale Ordnungen verloren gehen. Der Individualismus, der auf die Selbstverwirklichung ausgerichtet ist, kann sozial vermittelte Sinnerfahrungen ebenso wenig ermöglichen wie die Vorherrschaft einer instrumentellen Vernunft in der Gestaltung der Gesellschaft. Diese Analysen Taylors stammen erstaunlicher Weise schon aus dem Jahr 1995, einer Zeit also, als die Hegemonie des Diskurses noch von vielen als zukunftsweisend begrüßt wurde und von Vgl. Taylor 1996; Taylor 2007. Taylors Buch »The Malaise of Modernity« ist in deutscher Übersetzung unter dem Titel »Das Unbehagen der Moderne« erschienen, vgl. Taylor 1995. 3 »Die erste Ursache der Beunruhigung ist der Individualismus.« Taylor 1995: 8. Die zweite Ursache: »Die Entzauberung der Welt hängt mit einem weiteren enorm wichtigen Phänomen der Moderne zusammen, das vielen Menschen ebenfalls Sorge bereitet. Dieses Phänomen könnte man den Vorrang der instrumentellen Vernunft nennen.« Taylor 1995: 11. Daran schließt sich die dritte Ursache an: »Steht die instrumentelle Vernunft im Mittelpunkt des Aufbaus der Gesellschaft, kann diese so gesehen werden, dass sie sowohl den Individuen wie auch der Gruppe viel von ihrer Freiheit nimmt (…).« Taylor 1995: 15 f. 1 2

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Wie ist der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne entstanden?

einer Beunruhigung in der Öffentlichkeit noch nicht viel zu spüren war. 4 Die Argumente Taylors nehmen die Entwicklung bis zur heutigen Zeit vorweg. Taylor spricht dort nicht von eklatantem Elend oder dramatischer Ungerechtigkeit, die die Moderne heraufgeführt habe, sondern von einem tiefgreifenden Unbehagen, also von einer diffusen Stimmung, die sich nicht mit irgendwelchen konkreten politischen Entscheidungen oder Prozessen in Verbindung bringen lässt. Sie resultiert aus einer tieferliegenden Strömung der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung, die dennoch jederzeit in politischen Konflikten sichtbar werden kann. Die Einsicht in die tieferliegende kulturelle Verankerung führt dazu, dass sich Taylor auch nicht wie manche Positionen des Kommunitarismus der 90er Jahre damit begnügt, nur ein soziales Korrektiv für die individualisierte Gesellschaft zu fordern und die Rückkehr zu überschaubaren Gemeinschaften zu propagieren. 5 Taylor untersucht in den großen historischen Studien, wie es zu den jetzt vorzufindenden Bedingungen der Gesellschaft kam. Dazu fragt er nach den Quellen unserer heutigen Vorstellungen des Selbst: Was ist das Selbst, das nach Selbstverwirklichung strebt? Wieso ist für uns die Vorstellung von einem selbstbestimmten Individuum leitend, wieso erscheint uns das Handeln nach den Kriterien einer instrumentellen Vernunft und allgemeinen Moralprinzipien so einleuchtend? Um die Quellen aufzuspüren, blickt Taylor zurück bis zu den Anfängen der Neuzeit. In der Entwicklung seit dem 16. Jahrhundert haben sich vor allem zwei Quellen des modernen Selbst herausgebildet. Die erste Quelle ist bestimmt durch eine Vorstellung von Vernunft, die die Welt aus einer objektivierenden Distanz betrachtet und sie vorrangig instrumentell behandelt. Taylor nennt den Kerngedanken, der diese Quelle auszeichnet, die »desengagierte Vernunft«. Die Vernunft ist »desengagiert«, weil sie die eigene existentielle Beteiligung in der Welt zu ignorieren versucht, sie geht zu der Welt auf Abstand und nimmt ihr gegenüber eine kritische Position ein. 6 Dieser Abstand setzt aber eine Trennung voraus, eine Trennung zwischen dem Beobachtenden bzw. Reflektierenden auf der einen und Francis Fukuyama 2012. Taylor hat stets eine gewisse Distanz zu den kommunitaristischen Denkern gepflegt, vgl. Breuer 2000: 9. 6 Das gilt schon für den Philosophen René Descartes: »Descartes’ Ethik verlangt ebenso wie seine Erkenntnistheorie Desengagement von Welt und Leib sowie eine instrumentelle Haltung zu ihr.« Taylor 1996: 283. 4 5

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dem, was beobachtet wird, auf der anderen Seite. Diese Trennung war und ist methodisch außerordentlich erfolgreich und ist einer der Pfeiler, auf der die moderne methodisch operierende Wissenschaften aufbauen. René Descartes war einer der ersten, der das Konzept der desengagierten Vernunft entwickelt hat. Seine radikale Reduktion »Cogito, ergo sum« – »Ich denke, ich zweifle, also bin ich« beendet seinen Weg des radikalen philosophischen Zweifels. In diesem philosophischen Konzept zeigt sich nicht nur die desengagierte Vernunft, die nüchtern und kühl die Welt betrachtet. Hier ist auch implizit der Rückgang auf ein Individuum vollzogen, nämlich auf das Individuum des zweifelnden Philosophen, das »Cogito« lässt sich nur in der Ersten Person zum Ausdruck bringen. 7 Noch ist das Individuum nicht das der unterscheidenden Individualität, dies wurde erst durch die zweite Quelle des Selbst möglich. Die zweite Quelle des Selbst, die Taylor benennt, findet er in der Romantik. Diese verstand sich am Ende des 18. Jahrhunderts gerade als eine Protestbewegung gegen die nüchterne und kalkulierende Vernunft der Aufklärung. Die Verfechter dieser Richtung kritisierten die Engführung auf die Vernunft, weil sie notwendigerweise vernachlässigt, was auch bei dem hellen Licht der Aufklärung im Schatten liegt. Doch gerade das, was im Schatten liegt, was nicht ausgeleuchtet werden kann, ist ihrer Ansicht nach elementar für das Verständnis der menschlichen Existenz. Die Romantiker betonten immer wieder, dass es gerade etwas Unverstandenes ist, was die menschliche Existenz auszeichnet. 8 Für sie war die eigentliche Natur nicht nur das, was sich dem nüchternen Blick des Naturforschers zeigt, sondern auch das, was sich dem hellen Licht entzieht, das, was sich in den innersten Empfindungen offenbart und der schöpferischen Phantasie Nahrung gibt. Auf erstem Blick ist das Programm der Romantik dem der Aufklärung genau entgegengesetzt. Die Romantiker verstanden sich Die Bedeutung dieser Erkenntnis für Entwicklung der neuzeitlichen Individualität hebt Elias hervor: »Descartes’ Cogito, mit seinem entschiedenen Akzent auf dem Ich, war jedenfalls ein Zeichen dieser Wende in der Stellung des einzelnen Menschen in seiner Gesellschaft.« Elias, 2003: 264. 8 Schulz stellt fest, dass »›Nächtliches‹, also das breite Spektrum des Irrationalen, gern als ein charakteristisches Merkmal alles Romantischen angesehen wurde.« Schulz 2002: 120. Allerdings schränkt er zugleich ein: »Nicht das Nächtliche um seiner selbst willen war das Ziel seiner (scil. Novalis, FV) Gedanken. Ziel war ihm stets das Licht Gottes.« Ebenda. 7

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auch als Antipoden der seelenlosen Vernunftphilosophie. Das kritische Programm der Romantik hat aber tatsächlich eine nicht unerhebliche Schnittmenge mit der von ihr bekämpften Position der Aufklärung. Beide kulturelle Strömungen kommen darin überein, den Menschen als Individuum zu sehen, auch wenn sie das Individuum von unterschiedlichen Seiten aus definieren. Die Aufklärung und die Wissenschaft beschreiben die Individualität, indem sie Abgrenzungen vornehmen: Dieser Körper ist nicht jener Körper, das Cogito ist wiederum kein Körper. Unterscheidungen regieren die Suche nach dem Selbst. Ein Individuum ist ein Mensch mit einem besonderen Körper an einem besonderen Ort zu einer bestimmten Zeit. Die Romantik dagegen schließt auf die Individualität, indem sie den je eigenen und unverwechselbaren inneren Bezug auf die Natur unterstreicht. Jeder Mensch hat eine eigene Intuition, steht mit der Natur in einer unverwechselbaren Weise in einem inneren Kontakt. Besonders deutlich wird das bei der Vorstellung von einem Künstlergenie, jenem Menschen, der durch Ahnungen und kreative Fantasien dazu in der Lage ist, ganz Eigenes zu schaffen. Nicht der kalte Blick des Naturforschers und auch nicht der skeptische Blick des Philosophen offenbart hier die Individualität, sondern die einfühlende Anerkennung von Kreativität und Phantasie. Der Künstler, die Künstlerin, der oder die auf geniale Weise aus den Tiefen des eigenen Innern schöpft, wird zur exemplarischen menschlichen Existenz in der Romantik. Jeder Mensch soll im Idealfall zu einem Künstler werden, jede und jeder soll sich selbst verwirklichen. 9 Das Postulat der Selbstverwirklichung ist im 19. Jahrhundert dann zunächst in kleinen Kreisen populär geworden und hat erst im 20. Jahrhundert bei zunehmendem Wohlstand immer breitere Bevölkerungsschichten erreicht. Das elitäre Programm der Romantik ist in den Zeiten nach 1968 massentauglich geworden. Die Verbreitung hat seitdem eine beeindruckende Kraft und Geschwindigkeit. Das, was die meisten Menschen in Europäischen Staaten heute als selbstverständlich erachten, war vor 50 Jahren nur für eine Avantgarde denkbar. Taylor verweist am Ende seiner groß angelegten kulturgeschichtlichen Studie über die Konzepte des Selbst neben den ge»Der Expressivismus ist die Grundlage eines neuen und umfassenden Individuationsbegriffs, also der im achtzehnten Jahrhundert aufkommenden Vorstellung, wonach jedes Individuum anders und etwas Ureigenes ist und durch seine Originalität darauf festgelegt wird, wie es leben sollte.« Taylor 1996: 653.

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nannten Quellen noch die traditionelle Religion, den christlichen Glauben. 10 Unverkennbar setzt Taylor eine gewisse Hoffnung auf diese dritte Quelle, aus der vielleicht eine Korrektur des Individualismus abgeleitet werden kann. Im zehnten Kapitel dieses Buches soll auf die Bedeutung des christlichen Selbstverständnisses für die Interpretation von Formen der Verbundenheit eingegangen werden. Doch arbeitet Taylor diese Spur kaum weiter aus. 11 Die beiden anderen Quellen, Naturalismus und Expressivismus, haben trotz der unterschiedlichen Akzente nach Taylor eines gemeinsam: Sie entziehen den zwischenmenschlichen Beziehungen ihre Bedeutung. 12 Der Naturalismus beschreibt die Welt mit wissenschaftlichen Methoden und diese ist ohne zwischenmenschlich fundierte Werte. Auch der Expressivismus entleert die zwischenmenschlichen Beziehungen, da er alles auf die innere Sphäre der Subjekte abzielt. Die Welt wird mit instrumenteller Vernunft gestaltet, die Beziehungen zwischen Menschen werden dagegen stets zurückgeführt auf die Bedeutungsebene für das jeweilige Individuum und seine Selbsterfüllung, die Bedeutung von Gemeinschaft schließlich wird geschwächt. 13 Die Diagnose von Taylor zeigt: Die zentrale Stellung einer gegenwartsorientierten instrumentellen und moralischen Vernunft in politischen Fragen und die zentrale Bedeutung des Individuums, auf »Dieser Plan verteilt die Moralquellen auf drei große Bereiche: Am Anfang steht die theistische Grundlegung dieser Normen; darauf folgt eine zweite Fundierung, in deren Mittelpunkt ein Naturalismus der desengagierten Vernunft steht, der heutzutage szientistische Formen annimmt; ferner gibt es eine dritte Gruppe von Ansichten, die ihre Quellen im Expressivismus der Romantik oder in einer der modernen Nachfolgeanschauungen findet.« Taylor, Quellen 856. Taylor nennt hier die theistische, also eine religiöse Quelle des Selbst, die ja vor der Zeit der Neuzeit dominant war. 11 Auch in der Studie »Ein säkulares Zeitalter« bleibt der christliche Beitrag nicht wirklich ausgearbeitet. Bezogen auf die christliche Vergangenheit stellt er allerdings fest: »Much of our deep past cannot simply be laid aside, not just because of our ›weakness‹, but because there is something genuinely important and valuable in it.« Taylor 2007: 771. 12 »Wenn wir eine instrumentelle Haltung zur Natur einnehmen, lösen wir uns von den ihr innewohnenden Quellen des Sinns. (…) Die atomistische Konzentration auf unsere individuellen Ziele führt zur Auflösung der Gemeinschaft und zur Trennung der Mitmenschen.« Taylor 1996: 864. 13 »Darüber hinaus werden manche der negativen Konsequenzen des Instrumentalismus durch die Vorrangstellung der Selbsterfüllung reproduziert und verstärkt. Gemeinschaftszugehörigkeit wird als zweitrangig hingestellt wie die Solidaritätsbeziehungen, die sich aus der Geburt, der Ehe, der Familie und dem Gemeinwesen ergeben.« Taylor 1996: 876. 10

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das alle entscheidenden Wertfragen als Letztinstanz zurückgeführt werden können, sind das Resultat einer jahrhundertlang währenden kulturellen Entwicklung. Taylor weist darauf hin, dass die beiden von ihm analysierten Grundüberzeugungen nicht spannungsfrei sind. Die Vorstellungen von dem unverwechselbaren Individuum auf der einen und der auf das Allgemeine zielenden Vernunft auf der anderen Seite können sich auch aneinander reiben und Gegensätzliches fordern. 14 Sie können zu politischen Spannungen führen, etwa zu Konflikten zwischen Vertretern einer ökonomischen »Rationalität« und denen der Umweltbewegungen. 15 Eng verbunden mit der Betonung der instrumentellen Vernunft ist eine Abwertung der geschichtlichen Zusammenhänge und Interdependenzen. Die Betonung liegt auf den allgemeinen, überzeitlichen Eigenschaften des Menschen, die sich aus einer zeitlosen Vernunft ableiten lassen. Diese Orientierung kommt in zwei sehr einflussreichen philosophischen Gedankenexperimenten der Neuzeit zur Geltung, die beide dezidiert eine geschichtsunabhängige Perspektive einnehmen und gerade so zu überzeugen versuchen. Von den Konflikten geschichtlicher Verwicklungen gereinigt, soll das »rein« vernünftige Argument zur Geltung kommen. Das erste Gedankenexperiment stammt aus den Anfängen der Neuzeit, von Thomas Hobbes, veröffentlichte es im »Leviathan« 1651, das andere hat der Philosoph John Rawls zu Beginn der Spätmoderne in der »Theory of Justice« 1971 veröffentlicht. Beide Gedankenexperimente sind sich trotz des großen zeitlichen Abstands in Hinsicht auf eine angestrebte zeitlose Fundierung sehr ähnlich. Hobbes nimmt die Rolle eines unbeteiligten Beobachters ein, der beschreibt, wie man die Existenz eines umfassenden Staates aus Gründen der Vernunft erklären kann. Hobbes rekurriert hierzu nicht auf die konkrete geschichtliche Entwicklung, er liest nicht in den Annalen der englischen Geschichte. Er entwickelt stattdessen im »Leviathan« ein philosophisches Argument: 16 Hiernach sind Menschen Einzelwesen, die sich allein aus Klugheit mit Es gibt »Spannungen innerhalb der neuzeitlichen Identität selbst, etwa zwischen dem »desengagierten« und ihrem »expressiven« Aspekt (…).« Taylor 1996: 868. 15 Diese Spannungen sind aber nicht unüberwindbar. So kann die Frage der Ökologie mit den Interessen der Industrie ebenso verbunden werden, wie das Streben nach Selbstverwirklichung mit den Strukturen eines neoliberal gewendeten Wirtschaftssystems. 16 Das Gemeinwesen wird gleich als eine Selbstbeschränkung der Menschen gedeutet, eine Selbstbeschränkung aus Klugheit zur Selbsterhaltung, vgl. Hobbes 1651: 141. 14

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anderen zusammentun. Im Naturzustand sind Menschen in ständigen Auseinandersetzungen untereinander verwickelt, es herrscht der Krieg aller gegen alle (»bellum omnes contra omnium« 17). Allein, um diesen rechtlosen Zustand zu überwinden, braucht es eines Vertrags zwischen den Individuen, die auf ihre Macht verzichten und sie gemeinsam dem Staat, dem Leviathan übertragen. Nun hat Hobbes mit diesen Gedanken einen autoritär agierenden und drakonisch strafenden Staat befürwortet, was sicherlich nicht als Vorbild für den hegemonialen Diskurs der Spätmoderne gelten kann. Doch ist seine Argumentationsfigur eines außergeschichtlichen Anfangszustandes vor der Gründung des Staates von größter Bedeutung für den hier skizzierten hegemonialen Diskurs. Der Mensch ist in diesem imaginierten Anfang ein einzelnes Wesen, das sich kraft des Verstandes, resp. der Vernunft, die damals gegenwärtige Staatsform begründen kann. Mit dem Beginn der Neuzeit greift eine neue Sichtweise Raum, nämlich die Vorstellung, die soziale Welt, in der sich Hobbes vorfindet, ließe sich ohne Bezug auf die Geschichte allein durch vernünftige Konstruktion begründen. 18 Die geschichtsferne Anlage des Arguments hat seine Überzeugungskraft bis heute. Der höchst einflussreiche Ansatz einer politischen Philosophie von John Rawls nutzt ein ähnlich strukturiertes Argument. Ihm geht es in seiner Argumentation darum, ob man eine Gesellschaft auch dann gerecht nennen kann, wenn nicht alle Mitglieder der Gesellschaft sich in der genau gleichen sozialen Position befinden. Auch Rawls bezieht sich dann nicht auf die reale Geschichte, sondern sucht in einem Gedankenexperiment wiederum einen fiktiven Zustand. Statt dass man sich innerhalb der konkreten Geschichte zu einem bestimmten Zeitpunkt für die gerechtere oder weniger gerechte Handlungsoption entscheidet, befinden sich diejenigen, die über eine gerechte Gesellschaft nachdenken, hinter einem »Schleier des Nichtwissens« 19 in einem fiktiven, geschichtslosen Zustand. Vgl. Hobbes 1651: 104. Ein weiteres kommt hinzu, das den Individualismus schon hier deutlich hervortreten lässt: Die Abwertung geschichtlich gewachsener sozialer Strukturen im Sinne der oikos, der Sippe, des Hauses. Därmann stellt fest, »dass der Begriff des Hauses in den kontraktualistischen Staatstheorien der Neuzeit zugunsten des Individuums bzw. der Familie einerseits und des Staates andererseits ganz verschwindet (…).« Därmann 2011: 113. 19 Die »original position« ist eine fiktive Vertragssituation außerhalb der geschichtlichen Verwicklungen hinter einem »veil of ignorance«, die aufgrund einer von 17 18

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Ihnen stehen alle Informationen über eine bestimmte Gesellschaft zur Verfügung, aber sie haben keine Informationen darüber, welche Position sie selbst in der Gesellschaft einnehmen. Eine Gesellschaft, die diesem vernunftorientierten Verfahren genügt, kann dann mit Fug und Recht gerecht genannt werden. Das Argument von Rawls ist weitaus komplexer als hier ausgeführt, weil auch er unterschiedliche Sphären der Gesellschaft wie Recht und Wirtschaft in dem Verfahren berücksichtigen muss. In diesem Zusammenhang ist aber nur von Interesse, dass das Argument von einem vernunftorientiert urteilenden Menschen in einer ahistorischen Situation ausgeht. Die Vorstellung, dass so relevante Aussagen über eine bestehende Gesellschaft möglich sind, zeigt, dass die bestehende Gesellschaft in einer analogen Struktur gedacht werden kann. Das kann nur überzeugen, wenn man zugleich die Bedingungen einer Einbettung in Geschichte als weniger relevant für die Struktur der Gesellschaft ansieht. Auch in diesem Gedankenexperiment spiegeln sich die Grundüberzeugungen des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne: Menschen sind vernunftorientierte Individuen, zwischenmenschliche Verbindungen sind grundsätzlich austauschbar. Das Gedankenexperiment bedarf keines Wissens über Traditionen und zeitübergreifende Zusammenhänge, und es bezieht sich auch nicht auf geschichtliche Tendenzen. 20 Trotz der langen Entwicklungszeit haben viele Menschen die Grundüberzeugungen des heute hegemonialen Diskurses erst einige Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg für sich übernommen, erst jetzt wurden diese Grundüberzeugungen hegemonial. Dies ging mit einer Steigerung von Wohlstand und Freiheitsgraden der persönliMachtverwerfungen unbelasteten Entscheidung eine moralische Begründung für eine präferierte Gesellschaft liefern kann: »Gerecht ist diejenige Grundordnung, auf die sich ihre Teilnehmer selbst unter fairen Bedingungen geeinigt hätten.« Pogge 1994: 65. 20 Honneth sieht hier einen großen Unterschied zwischen dem Ansatz von Rawls und den Vorstellungen des Sozialismus: »Während er (scil. John Rawls, FV) der Überzeugung war, dass es heute die Aufgabe einer politischen Konzeption der Gerechtigkeit sein muss, die Mitglieder demokratischer Gesellschaften durch Vergegenwärtigung von bereits akzeptierten normativen Idealen auf die von ihnen dementsprechend gutzuheißenden Fairnessprinzipien aufmerksam zu machen und damit mit den schon gegebenen Institutionen zu versöhnen (…), will der Sozialismus im Gegenteil im Bewusstsein ihn geschichtlich tragender Tendenzen auf diejenigen unerfüllten Versprechen in der existierenden Sozialordnung hinweisen, deren Einlösung eine Transformation der institutionellen Gegebenheiten verlangen würde.« Honneth 2015: 102, FN 107.

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chen Lebensgestaltung einher. Die westlichen Industrienationen haben in den folgenden Jahren eine beispiellose Öffnung der Lebensformen erlebt, die mit dem Versprechen verbunden sind, sich selbst verwirklichen zu können. Die Vorstellung vom Individuum gewinnt eine gesellschaftsprägende Kraft, wie viele soziologische Theorien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorheben.

2.

Faktoren der Entwicklung des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne

Die Entwicklung des bürgerlich-liberalen Diskurses hin zu einer Hegemonie in der Spätmoderne ist durch mehrere voneinander unabhängige Faktoren bestimmt, die in der Summe erst die beobachtbare Wirkung entfalten: der kulturelle Wandel in der Folge von »68« 21, das Ende des kommunistisch regierten Ostblocks, der neoliberalen Wende in der Wirtschaftspolitik und die Globalisierung, der Wandel progressiver Positionen im politischen Spektrum, schließlich der technologische und wirtschaftliche Wandel durch die Entwicklung digitaler Technologien. Diese Faktoren verstärken und beeinflussen sich zum Teil gegenseitig. Das von historischen und voneinander unabhängigen Ereignissen verursachte komplexe Ineinander von politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren zeigt übrigens deutlich, dass schon eine Selbstinterpretation des hegemonialen Diskurses mit den eigenen Mitteln der Analyse funktionaler Systeme zu kurz greifen würde. Die ersten beiden Faktoren sollen nur kurz erwähnt, die anderen etwas ausführlicher behandelt werden. Zum ersten hat der kulturelle und politische Aufbruch von »68« in seinen längerfristigen Folgen einen erheblichen Einfluss auf die weitere Entwicklung der ganzen Gesellschaft. 22 Eine junge Generation setzte sich von den vorgegebenen Traditionen etablierter Institutionen ab und suchte einen Weg der Lebensgestaltung als Selbstverwirklichung. Hier spielte eine politisch motivierte Distanzierung gegenüber der Elterngeneration eine wichtige Rolle, die Legitimität der Nachkriegsgesellschaften wurde in Frage gestellt. Mit den politi»68« steht hier nicht für eine Jahreszahl, sondern für jenen kulturellen Aufbruch, der sich in vielen Ereignissen im Umfeld des Jahres 1968 manifestiert hat. 22 Für die 70er Jahre hat dies ausführlich Reichardt untersucht, vgl. Reichardt 2014. 21

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schen Zielen verband sich die Suche nach neuen Ausdrucksformen der Lebensgestaltung und der sozialen Beziehungen. Es entstand also eine enge Verflechtung von politischen und kulturellen Aspekten, die »Entfremdung« als politische Kritik der bestehenden Institutionen stand in engem Zusammenhang zur »Authentizität« als Ziel neuer Lebensformen. All das förderte die Betonung individueller Lebensstile und damit auch die Akzeptanz und Toleranz unterschiedlicher Lebensentwürfe. Wenn man die verbreiteten Überzeugungen der 50er Jahre mit denen von heute vergleicht, etwa in der Frage der geschlechtlichen Orientierung und Identität, in der Frage der Gleichstellung der Geschlechter, in der Frage der überkommenen Rollen in Familien und Gesellschaft, in der Öffnung gegenüber Menschen mit anderen kulturellem Hintergrund, so zeigt sich ein rasanter gesellschaftlicher Wandel, der in nicht einmal zwei Generationen stattgefunden hat. Eine gravierende Zäsur bedeutete zum zweiten der Zusammenbruch der kommunistischen Staaten in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts. Hier verschwand eine gesellschaftliche Alternative zu dem westlichen, kapitalistischen Wirtschaftssystem. Dies führte nicht nur zu einem dramatischen Wandel in den Gesellschaften des ehemaligen Ostblocks. Auch in den westlichen Gesellschaften hatte die Zäsur weitreichende Folgen. Eine sozialistische Alternative zur bestehenden Gesellschaftsform erschien von nun an als nicht mehr realisierbar. Francis Fukuyama rief zu Beginn der 90er Jahre das Ende der Geschichte aus, weil sich seiner Ansicht nach die liberale, bürgerliche Gesellschaft endgültig weltweit durchgesetzt habe. 23 Das Ende der Geschichte auszurufen, bringt eine der beiden Grundüberzeugungen des hegemonialen Diskurses pointiert zum Ausdruck. Sozialdemokratische und sozialistische Parteien der westlichen Demokratien suchten ein neues Selbstverständnis und fanden es innerhalb des Rahmens des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne. Sie bejahten das tätige und sich frei entfaltende Individuum als Leitkategorie und betonten die Selbststeuerung des ökonomischen Systems, der freien Märkte.

»I argued that liberal democracy may constitute the ›end point of mankind’s ideological evolution‹ and the ›final form of human government‹, and as such constituted the ›end of history‹.« Fukuyama 2012: xi.

23

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A.

Die »neoliberale« Wende

Einen besonders großen Einfluss auf die Entwicklung der Spätmoderne hatte ein grundlegender Wandel in der Wirtschaftspolitik in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die wirtschaftspolitische Ausrichtung, die ihren Ausgang in Großbritannien und den USA nahm, wird oft unter dem Stichwort des »Neoliberalismus« verhandelt. 24 Die Liberalisierung und Deregulierung vor allem der Finanzmärkte, aber auch der Arbeitsmärkte, eine Konzentration auf die Optimierung der Produktionsbedingungen und eine Betonung der Standortlogik in einer global orientierten Wirtschaft gehören zu den Kennzeichen dieser neuen wirtschaftspolitischen Ausrichtung. Mit ihr geht die Verheißung einher, durch die Entfesselung der Produktivkräfte und starkes Wachstum den Wohlstand aller Mitglieder einer Gesellschaft steigern zu können. 25 Jedoch widersprechen die Ergebnisse der weiteren Entwicklung diesen zu Anfang gemachten Verheißungen. Der Soziologe Wolfgang Streeck hat in detaillierten Untersuchungen für Deutschland aufgezeigt, dass dieser wirtschaftspolitische Ansatz nicht zu stabilen gesellschaftlichen Verhältnissen führt und die erwarteten Wachstumsraten nur mit einer expansiven Schuldenpolitik erzielen kann. Doch bewirkt die Entwicklung keinen gesellschaftlichen Ausgleich und auch nicht die Verbesserung der Lebensbedingungen der ärmeren Bevölkerungsschichten. Eindeutig ist aber der Abbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme und des Wohlfahrtstaates. 26 Die neue Wirtschaftspolitik setzte eine weitreichende Deregulierung der Arbeits- und der Finanzmärkte durch. 27 Die sozialpolitiEs ist besonders interessant, dass es gerade diese beiden Länder sind, die nun, zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen stark national orientierten Kurs eingeschlagen haben. Die Vorreiter der Globalisierung im 19. und 20. Jahrhundert, die Länder mit den beiden größten Börsen, die beiden Länder, die in der neoliberalen Wende die Vorreiter waren, befinden sich zurzeit in einer drastischen wirtschaftspolitischen Wende. Diese Korrelation kann kaum ein Zufall sein. Hinzu kommt, dass gerade in diesen Ländern die Zustimmung zur Demokratie am stärksten abgenommen hat, vgl. Mounk 2018: 127. 25 Das war mit einer zunehmenden Internationalisierung des Handels verbunden: »Der Aufstieg des Neoliberalismus hatte eine materielle Grundlage, die den Argumenten der Marktapostel in die Hände spielte: die Internationalisierung der Produktion und die globale Restrukturierung des Finanzsystems.« Nachtwey 2017: 51. 26 Vgl. Streeck 2016: 272. 27 »Statt Regulierung, staatlicher Intervention und Nachfragesteuerung in der Tradi24

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schen Veränderungen fanden zunächst auf nationaler Ebene statt, sie waren aber von Beginn an gekoppelt an einen weiteren Ausbau der sich globalisierenden Handelbeziehungen und einer weltweit vernetzten Produktion. Die Sozialpolitik der einzelnen Länder musste sich den neuen Bedingungen anpassen, Steuerreduktionen und der Abbau von Lohnnebenkosten wurden zu den zentralen Standortfaktoren. Eng verbunden mit den politischen Rahmenveränderungen haben tiefgreifende Veränderungen in den wirtschaftlichen Prozessen selbst stattgefunden, durch eine Flexibilisierung der Produktionsprozesse, durch eine Verlagerung von industrieller Massenfertigung in Schwellenländer. War die Industrie zuvor vor allem durch hierarchische Strukturen geprägt, so findet nun eine deutliche Verlagerung hin zu Dienstleistungen statt, die in kleineren und flexibleren Einheiten bereitgestellt werden. Statt der Hierarchien treten nun Teamwork und Gruppenarbeit in den Vordergrund. Die Produktionsverfahren sind in hohem Maße flexibel, die Hierarchien der neuen Produktionseinheiten flach und variabel. Dies gilt auch für die Entwicklung von Rechenmaschinen, eine Entwicklung weg von den zentralen Großrechnern hin zu individuell zu nutzenden Personal-Computer. In der Folge ließen sich die Akteure früherer politischer Ansätze, die Arbeiterinnen und Arbeiter, kaum noch identifizieren, wiederum boten die neuen Produktionsformen Anknüpfungsmöglichkeiten für ein neues Selbstverständnis. Der Habitus der Nichtkonformität, der sich in der 68er Generation auch im Protest gegen eine normenorientierte Elterngenerationen ausbildete, 28 war nun mit einem Mal systemadäquat. Die kulturell geformten Freiheitsvorstellungen konvergierten mit neuen Anforderungen eines gewandelten Wirtschaftssystems. Beiden geht es nun vornehmlich um das Ideal eines produktiven und kreativen Individuums, das sich in seinem Leben selbst verwirklicht und sich dabei von vielen anderen unterscheidet. Menschen erleben ihre Anpassungsleistung an das System nicht als äußeren Zwang, sondern als Chance zur Selbstverwirklichung. Boltanski und Chiapello haben diese Parallelität und Kompatibilität der kulturellen und der

tion von Keynes gewannen nun neoliberale ökonomische Vorstellungen an Gewicht – Marktzentrierung, Deregulierung und Angebotspolitik im Sinne der Ideen von Milton Friedman und Friedrich August von Hayek.« Nachtwey 2017: 51. 28 Vor allem die Jugendlichen der Mittelschicht spielten dabei eine bedeutende Rolle, vgl. Reichardt 2014: 46.

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ökonomischen Entwicklung detailliert untersucht. 29 Das, was in dem hegemonialen Diskurs schon angelegt war, kommt jetzt für eine breite Bevölkerung zur Wirkung. Die Ausrichtung der neoliberalen Wirtschaftspolitik auf die Aktivität von kreativen Individuen und die rational zu steuernden ökonomischen Systeme in einer globalen Wirtschaftspolitik haben eine große Nähe zu den Grundüberzeugungen des hegemonialen Diskurses. Das aktive, sich selbst gestaltende Individuum, das in der Lage ist, sich erfolgreich in einer globalisierten Wirtschaft zu behaupten, steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. 30 Die weltweiten Märkte sollen sich nach der Auffassung der Protagonisten des hegemonialen Diskurses ungestört entfalten können. Nur so ist sicher zu stellen, dass die Effizienz des globalen Wirtschaftssystems bestmöglich gesteigert werden kann. Politische, kulturelle Interventionen werden unter den Bedingungen einer neoliberalen Wirtschaftspolitik abgelehnt, die Märkte sollen sich weitgehend selbst regulieren. Allgemein gilt, dass die Gesellschaften der Industrienationen zwar im Ganzen durch die Entwicklung eine Wohlstandssteigerung erlebt haben, dass sie aber auch von einer zunehmenden Aufspaltung in Gewinner und Verlierer geprägt sind. Die Zusicherung, dass eine ungestörte Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Subsysteme, vor allem der Wirtschaft, zum allgemeinen Vorteil sei, erweist sich damit als falsch. Der Soziologe Andreas Reckwitz analysiert, dass sich Drittelsegmente in der Gesellschaft gebildet haben. 31 Für diese Situation hat Reckwitz das instruktive Bild der Paternoster-Gesellschaft gemünzt. Ein Drittel der Gesellschaft ist wohlhabend und profitiert tatsächlich von der liberalen Wirtschaftspolitik und einer wachsenden Globalisierung. Ein Drittel der Bevölkerung kann seine gesellschaftliche Position halten, aber gewinnt auch nicht entscheidend dazu. Das Boltanski, Chiapello 2003. Reichardt sieht allerdings Brüche im Übergang von der 68er Kultur zu der New Economy: Vgl. Reichardt 2014: 349. 30 Nachtwey spricht von einem faustischen Pakt: »Für den Zugewinn an individueller Freiheit in der Arbeit wurden die Arbeitnehmer in einen faustischen Pakt hineingezwungen: Die Unternehmen gewähren ihren Beschäftigten zwar mehr Eigenständigkeit, verführen sie aber gleichzeitig zu höherer Leistungsbereitschaft.« Nachtwey 2017: 84. 31 »Die Trägergruppen der neuen sozial-kulturellen Polarisierung lassen sich bereits formal genau benennen: Der neuen Mittelklasse mit hohen, meist universitären Bildungsabschlüssen steht eine neue Unterklasse mit niedrigen (oder gar keinen) formalen Abschlüssen gegenüber. Zwischen ihnen befindet sich die alte, nichtakademische Mittelklasse.« Reckwitz 2017: 278. 29

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letzte Drittel wiederum bewegt sich nach unten, die Kaufkraft der Löhne sinkt langsam aber kontinuierlich. 32 Die Hauptsorge dieses Teils der Gesellschaft ist, dass sich die Lage nicht so bald ändern wird. Im Gegenteil, es ist schon jetzt erkennbar, dass eine Digitalisierung der Arbeitswelt die Anforderungen an Ausbildung noch deutlich steigern wird. Gerade das letzte Drittel hat aber eher eine schlechte Ausbildung und verfügt auch nicht über die kulturellen Ressourcen, um Chancen im internationalen Kontext wahrnehmen zu können. Eine weitere ungestörte Entwicklung der globalisierten Wirtschaft bedeutet für einen erheblichen Teil der Gesellschaft keine Verheißung, sondern ist eine Bedrohung ihres gesellschaftlichen Status. Für diese Menschen geht es zurzeit nicht um akute Not, die Entwicklung in Deutschland ist durch viele Jahre Wirtschaftswachstum stark abgemildert. Es geht um Zukunftsperspektiven und Abstiegsängste. 33 Auch im internationalen Vergleich zeigen sich auch Aufspaltungen zwischen Gewinnern und Verlierern. Manche Länder haben in dieser Phase von dem weltweiten Handel profitieren können, wie insbesondere Deutschland, andere Länder, etwa südeuropäische dagegen haben Mühe, ihre Standards aufrechtzuerhalten. Die Spaltung verläuft in Europa nicht nur in den Gesellschaften selbst, sondern auch zwischen unterschiedlichen Ländern.

B.

Die linksliberale Wende

Die Position des hegemonialen Diskurses wurde vor allem dadurch weiter gestärkt, dass sich viele Akteure, die dem progressiven Diskurs zuzurechnen waren, sich selbst nun innerhalb des Deutungsrahmens des hegemonialen Diskurses neu definierten. Sozialdemokratisch ausgerichtete Parteien übernahmen unter dem Eindruck der wirtSo »(…) ist seit den 1980er Jahren die Kabine des einen sozialen Segments nach oben gefahren – die der neuen, akademischen Mittelklasse (zuzüglich der neuen Oberklasse) –, wohingegen die Kabine des anderen Segments den Weg nach unten genommen hat, nämlich die der neuen Unterklasse (…).« Reckwitz 2017: 282 f. Nachtwey spricht von einer Rolltreppe nach unten, vgl. Nachtwey 2017: 126. 33 Bauman diagnostiziert mit einem dunklen Unterton, dass die Gesellschaft auf dem Weg zurück zu dem Zustand ist, den Hobbes zu Beginn der Neuzeit als Ursprung annahm, den Krieg aller gegen alle: »Es hat also den Anschein, dass wir mehr als genug Gründe haben, das Fragezeichen aus der Überschrift dieses Kapitels (scil »Zurück zu Hobbes?«) zu entfernen. Wir sind in der Tat zurück in Hobbes’ Welt (…).« Bauman 2017: 63. 32

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Faktoren der Entwicklung des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne

schaftlichen Dynamik der globalisierten Gesellschaft etliche Instrumente der neuen neoliberal orientierten Wirtschaftspolitik. Die Losung lautete nun, man müsse nicht alles anders, man müsse es lediglich besser machen als bei den bürgerlichen Parteien. In den 90er Jahren fand ein Wechsel hin zu sozialdemokratisch orientierten Regierungen statt, die aber die eingeschlagene Richtung bestätigten. Das, was Thatcher und Reagan vorgegeben hatten, ist von Clinton, Blair und Schröder mit Variationen nachvollzogen worden. 34 Die beiden letzten Regierungschefs nannten diese neue Ausrichtung nach einem Buch von Anthony Giddens den »dritten Weg«. 35 Von Margaret Thatcher ist die Anekdote überliefert, dass sie auf die Frage nach ihrem größten Erfolg mit »Tony Blair« geantwortet haben soll. Es wäre aber verkürzt, in diesem fundamentalen Wechsel der progressiven Politik einfach nur die Willkür einiger Spitzenpolitiker zu vermuten. Vielmehr bildet ihr Handeln die umfassende gesellschaftliche Wirkung des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne auch in jenen Parteien ab, die dem progressiven Spektrum der Politik zuzurechnen sind. 36 Der hegemoniale Diskurs gibt nun in gewisser Weise vor, was als »realistisch« zu gelten hat. Politik muss sich auf die Belange des weltweiten ökonomischen Systems ausrichten und dieses System sich nach Möglichkeit frei entfalten lassen. Das gesellschaftliche Leitbild eines erfüllten Lebens wird auch von dieser progressiven Position mit Individualität, Flexibilität und kosmopolitischer Einstellung identifiziert. 37 »Nachdem sich dieser progressive Neoliberalismus vor etwa dreißig Jahren in den USA zu entwickeln begonnen hatte, wurde er mit der Wahl Bill Clintons 1992 gleichsam ratifiziert. Clinton war Chefideologe und Galionsfigur der ›New Democrats‹, des US-Vorläufers von Tony Blairs ›New Labour‹. An die Stelle der ›New Deal‹-Koalition aus gewerkschaftlich organisierten Arbeitern, Afroamerikanern und Angehörigen der urbanen Mittelklassen ließ er eine neue Allianz aus Unternehmern, Bewohnern der Vorstädte, Angehörigen der neuen sozialen Bewegungen sowie Studenten treten (…).« Fraser 2017: 79. 35 Giddens 1998. 36 Die US-amerikanische Form des progressiven Neoliberalismus beruht auf dem Bündnis ›neuer sozialer Bewegungen‹ (…) mit Vertretern hoch technisierter, ›symbolischer‹ und dienstleistungsbasierter Wirtschaftssektoren (…).« Fraser 2017: 78. 37 Eine spiegelbildliche Entwicklung findet auch auf der Seite des konservativen Diskurses statt. Durchsetzungsfähig erscheinen nur die konservativen Kräfte, die zunächst und vor allem wirtschaftsliberal agieren. Dass diese Ausrichtung mit dem ursprünglichen Anliegen des Konservativismus kollidiert, ist offensichtlich. Koppetsch macht deutlich, dass die liberale Mittelschicht im Ganzen an der Etablierung des hegemonialen Diskurses teilhat, vgl. Koppetsch 2019: 82 f. 34

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Wie ist der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne entstanden?

Chantal Mouffe benennt neben Anthony Giddens auch Ulrich Beck als einen Vordenker dieses linksliberalen Schwenks der progressiven Parteien. 38 Diese sehen die gesellschaftliche Entwicklung in eine neue Phase eintreten, die sie »posttraditional« oder »reflexive Moderne« nennen. Die Ausrichtung auf das Individuum ist nach Ansicht der genannten Autoren irreversibel und deshalb auch für progressive Theorien vorauszusetzen. Klassische Formen repräsentativer Politik verlieren ihrer Ansicht nach aufgrund der Auflösung fester Milieus an Bedeutung. Die neuen politischen Herausforderungen seien dadurch von anderer Art als in der klassischen Moderne: Es gehe nicht mehr vornehmlich um Verteilungskonflikte, sondern um Probleme, die im Laufe der Modernisierung deutlicher wurden, seien es Fragen der Identitätspolitik oder ökologische Herausforderungen. In den Vordergrund rückt einerseits die Entfaltung des Individuums oder andererseits die Steuerung von Systemen, etwa die Steuerung des ökonomischen Systems hin zu einer ökologischeren Ausrichtung angesichts der Veränderungen des Weltklimas. Die Herausforderungen lassen sich aber nicht mehr als geschichtliche Konflikte im klassischen Sinne beschreiben, sondern als zu lösende Probleme der Gegenwart, an denen Betroffene wie auch Expertinnen und Experten beteiligt werden sollen. Mouffe kritisiert diese Positionen scharf als liberale Wende und Aufgabe von politisch linken Positionen. 39 Die Kritik ist berechtigt, wenn man auf die sozial- und wirtschaftspolitischen Positionen der Akteure blickt. Eine Strategie auf die Grundüberzeugungen des hegemonialen Diskurses greift gerade in sozialpolitischen Fragen zu kurz. Versuche, eine etwas sozialere Variante des Neoliberalismus zu bieten – die Wirtschaft von Regulierungen zu befreien, zugleich Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten 40 – ohne die zugrunde liegenden Konzepte selbst in Frage zu stellen, kann auf längere Sicht nur unbefriedigend bleiben. Beide, so Mouffe, wollen positiv die Individualisierung aufnehmen: »Die Hauptthese von Beck und Giddens lautet, dass es in den posttraditionalen Gesellschaften keine in Wir-Sie-Form konstruierten kollektive Identitäten mehr gibt (…).« Mouffe 2017: 65. 39 »Gegenwärtig, das ist unbestreitbar, hat sich das hegemoniale Verhältnis deutlich zugunsten der liberalen Seite und bis hin zur Unkenntlichkeit der demokratischen verschoben.« Mouffe 2008: 13. »Statt die neo-liberal gefestigten Machtverhältnisse zu thematisieren und aufzubrechen, begnügt sich die heutige Sozialdemokratie mit kleinen Adjustierungen im hegemonialen Diskurs des Neoliberalismus.« Ebenda. 40 So Positionen von New Labour, vgl. Mouffe 2005: 81, die aber auch auf die Sozialdemokratie unter Schröder zutrifft. 38

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Faktoren der Entwicklung des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne

Die Kritik an der Adaption neoliberaler Standards darf aber nicht zugleich auch auf die gesellschaftspolitischen Initiativen zielen, die die Autonomie der Menschen erhöhen und einer Diskriminierung wehren wollen. Die Liberalisierung der Lebensstile und die Förderung der Toleranz sehr unterschiedlicher Lebensformen sind zu Recht Teil eines neuen emanzipativen politischen Projektes geworden. Sexuelle, religiöse, weltanschauliche oder ästhetische Abweichungen dürfen keiner Diskriminierung unterliegen. Durch die Betonung der Lebensstile traten in den letzten Jahren Bürgerrechte stärker in den Vordergrund. 41 Hieraus ergab sich eine Vielzahl neuer politischer Allianzen mit neuen gesellschaftlichen Emanzipationsbewegungen, die weit über die Agenda des Neoliberalismus hinausgehen. 42

C.

Die Bedeutung digitaler Technologien

Eine wichtige Rahmenbedingung für die Herausbildung des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne ist der vierte der oben genannten Punkte, der technologische Umbruch durch die digitalen Technologien. Diese Technologien entwickeln sich zu einer kulturellen Basistechnologie, die nahezu alle Lebensbereiche der Menschen erfasst und verändert. Die Technologien resultieren nicht aus einer technikgetriebenen Eigenlogik, sondern sind nur zu verstehen, wenn man sie als Teil einer kulturellen Entwicklung beschreibt. Es gibt hier eine enge Wechselwirkung zwischen der kulturellen und der technologischen Entwicklung. Die Geschwindigkeit der technischen Entwicklung ist exorbitant, man muss sich vor Augen führen, dass das, was heute selbstverständlich zu sein scheint, in seinen Anfängen erst nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurde. Erste elektronische Reali-

»Die erstaunliche Blindheit gegenüber der demokratischen Bedeutung der Grundrechte erklärt schließlich auch, warum es für die Sozialisten über einen langen Zeitraum hinweg nahezu unmöglich war, ein systematisch begründetes Bündnis mit dem radikalen Flügel der liberalen Republikaner einzugehen.« Honneth 2015: 129. 42 Diese Emanzipationsbewegung befürwortet ja auch Mouffe, die hierfür den Begriff der »Äquivalenzkette« verwendet, vgl. Mouffe 2016: 118. Das Argument, das sie allerdings zu Recht stark betont, ist, dass die Öffnung für eine Vielfalt von Anliegen nicht zu einer belanglosen Vielfalt von Einzelbewegungen führen darf: »Worum es geht, ist die Herstellung eines gemeinsamen Willens, eines ›Wir‹ (…).« Ebenda. 41

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Wie ist der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne entstanden?

sierungen digitaler Technologien sind erst in dieser Zeit möglich geworden, jedoch waren auch dann ihre Kapazitäten durch die aufwändigen und energieintensiven Röhrenkonstruktionen noch sehr begrenzt. In den 50er und 60er Jahren entstanden schließlich die ersten Rechenmaschinen auf der Basis von dotierten Siliziumplatinen. Diese neue Technologie führte zu einer sprunghaften Zunahme der Rechnerleistung. Nun wurden Großrechner in Industrieunternehmen entwickelt, die bürokratische Strukturen aufwiesen und auf die klassische industrielle Produktion zielten. Firmen wie IBM konzipierten Großrechenanlagen, deren Kapazität kontinuierlich wuchs und die in ihrem Design dazu bestimmt waren, nur einer sehr limitierten Zahl von Nutzern zugänglich zu sein. Datenverarbeitung war das Privileg jener, die über viele Daten verfügten und sie im Betriebsablauf bewältigen konnten. In der weiteren Entwicklung hat wiederum der kulturelle Umbruch von 1968 einen nicht zu unterschätzenden Einfluss. Für die neu entstehende technologische Philosophie steht emblematisch die Bezeichnung »Silicon Valley«. In dieser Gegend Kaliforniens trat in den 70er Jahren eine neue Gründergeneration auf, deren Weltanschauung zum Teil auch durch den Aufbruch der »68er« geprägt war und die weitsichtig die Potentiale digitaler Technologien für individuelle Anwendungen in Wirtschaft und Gesellschaft erahnten. Junge Erfinder wie Steve Jobs und Steve Wozniak kamen auf die Idee, Rechenmaschinen nicht für zentrale industrielle Produktionsprozesse zu bauen, sondern für einzelne, individuelle Endverbraucher. Die digitalen Technologien sollten auf diese Weise allgemein zugänglich gemacht und damit »demokratisiert« werden. Jede und jeder sollte über einen eigenen Computer, den »Personal Computer«, verfügen und so Daten selbstständig verwalten können. Es ist offenkundig, dass hier das von den 68ern propagierte kulturelle Konzept von Authentizität und Autonomie eine bedeutende Rolle spielt. Hier ist die Individualisierung in gewisser Weise durch eine technische Infrastruktur vorgegeben. Mit dem Personal Computer trat eine Technologieentwicklung einen Siegeszug an, der in der umwälzenden Kraft nur mit der Industrialisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu vergleichen ist. Zum einen nahm die Rechenleistung der zentralen Prozessoren auch kleiner Rechnereinheiten in den folgenden Jahren ungebrochen schnell zu, die Dichte der logischen Schaltungen auf den Siliziumchips wuchs

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Faktoren der Entwicklung des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne

über Jahrzehnte exponentiell. 43 Damit einher ging ein immer effizienterer Austausch von Daten von Computer zu Computer, es begann mit kleinen externen mobilen Speichermedien (z. B. FloppyDisk) und endete in dem Aufbau eines weltweiten Computernetzes, das auf dem TCP/IP-Protokoll basiert und als Internet bekannt ist. Der nächste Schritt war, dass auch die Übertragungstechniken kontinuierlich an Bandbreite gewannen, vom Modem am Telefonkabel bis zum Glasfaserkabel, von den ersten Mobilfunkstandards bis zu dem aktuellen Aufbau des 5G-Netzes. Mit jedem technologischen Schub erhöhte sich zudem die Zahl der möglichen Anwendungen um ein Vielfaches. Der letzte große Sprung in dieser Entwicklung war die Entwicklung des sogenannten Smartphones, das orts- und zeitunabhängig Zugänge zu allen möglichen Dienstleistungen und zu Datentransfers ermöglicht. Der nächste Schritt, der sich abzeichnet, ist die Etablierung eines Internets der Dinge, in das viele Alltagsgeräte mit einer eigenständigen IP im Internet eingebunden und so von überall steuerbar sein werden. Die digitalen Technologien durchdringen aufgrund der genannten Geräte und Technologieformen seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts die Alltagswelt der Gesellschaft, wie es bei noch keiner anderen Technik der Fall war. Hier liegt ein gravierender Unterschied zu der Epoche der Industrialisierung vor. Denn die Technologien der frühen Industrien waren nur wenigen Menschen zugänglich, nämlich nur jenen, die in den Fabriken an den Maschinen arbeiteten. Private Nutznießer waren über etliche Jahrzehnte nur wenige, etwa die, die eine Reise mit bei der neuen Eisenbahn unternehmen konnten. Ganz anders entwickeln sich die digitalen Technologien. Die Einführung von technologischen Neuheiten verbreitet sich von Beginn an auf einem weltweiten Massenmarkt. Die Geräte sind derart preiswert, dass sie für fast jede und jeden erschwinglich sind. Besonders deutlich wird der Unterschied, wenn man auf die Rolle von Kindern und Jugendlichen achtet. In der Industrialisierung kamen sie mit den Maschinen kaum direkt in Kontakt oder sie waren unter menschenunwürdigen Bedingungen zu schlecht bezahlten Hilfsarbeiten gezwungen. Heute dagegen gehören Kinder und Jugendliche zu der Zielgruppe von Technologieunternehmen für neue Produktlinien mit leistungsfähigeren Rechnern, Mobilfunkgeräten und GraphikÜber Jahrzehnte galt für siliziumbasierte Rechner das Mooresche Gesetz, die Verdoppelung der Komplexität von Schaltkreisen in spätestens zwei Jahren.

43

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Wie ist der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne entstanden?

karten. Dementsprechend haben sie im unmittelbaren und selbstverständlichen Umgang mit den Technologien den Älteren oft viel voraus, wie die Unterscheidung »Digital Natives« und »Digital Immigrants« andeutet. Die digitalen Medien werden zu einem Ort der hoch individualisierten Selbstpräsentation. Die digitalen Technologien sind nicht nur durch preiswerte Endgeräte für sehr viele Menschen zugänglich, sie bieten auch eine zuvor nicht gekannte Integration und Verdichtung bisher unabhängig voneinander existierenden Kulturtechnologien: Seit der Erfindung des Buchdrucks war das geschriebene Wort, sind Texte vor allem in Form von Printprodukten zugänglich, als Bücher, als Zeitungen oder Zeitschriften. Seit der Erfindung der Fotografie waren Bilder über bestimmte Abbildungs- und Bildproduktionstechnologien herstellbar. Seit der Erfindung der Schallplatte und später der Magnetbänder waren Tondokumente und Musik durch die entsprechenden Trägertechnologien verfügbar. Seit der Erfindung des Telefons konnten all jene, die Zugang zu dem Telefonnetz hatten, über weite Strecken mit anderen kommunizieren. Seit Erfindung des Rundfunks war es möglich, auf bestimmten Frequenzen Radiosendungen zu empfangen. Seit der Erfindung des Fernsehens mittels der Kathodenstrahlröhre waren bewegte Bilder für viele über Fernsehantennen zu empfangen. Jede der grundlegenden Technologien war für die breite Bevölkerung bis in die 80er Jahre hinein nur über gesonderte Trägermedien zugänglich. All das ändert sich radikal durch die Entwicklung der digitalen Technologien. Alle getrennten Speicherformen werden nun in einem Trägermedium als digital codierte Daten zusammengeführt. Das macht die Daten für sehr viele Menschen nicht nur leichter zugänglich, sie werden auch verfügbar, können weitergereicht, verändert und in neue Zusammenhänge gestellt werden. Die individualisierte Nutzung steht im Vordergrund. Jede und jeder liest, hört und schaut, das, was sie oder er will, zu jeder beliebigen Zeit. Die Globalisierung der Ökonomie, die Öffnung der weltweiten Produktions- und Konsumtionsmärkte ist eng gekoppelt mit neuen Formen der Kommunikation durch digitale Technologien. Der überall verfügbare technologische Standard führt zu einer kommunikativen Erreichbarkeit aller und damit zu einer Stärkung der ökonomischen Strukturen im globalen Maßstab. Diese durch digitale Technologien unterstützte Wirtschaft bevorzugt Plattform-Lösungen, bei denen wenige Unternehmen ein Angebot zu einem monopolartigen weltweiten Standard ausbauen. Die Angebote unterminieren regionale 66 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Faktoren der Entwicklung des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne

soziale Strukturen einer Gesellschaft und fördern zugleich die Ungleichheit. Klassische Berufe gehen durch neue Produktions- und Distributionswege verloren, neue Beschäftigungsformen haben eher das Niveau von gering qualifizierter Unterstützungsarbeit. Während die traditionellen Taxifahrer über Zulassungsbegrenzungen örtlicher Angebote einigermaßen geschützt sind, unterläuft der Dienstleister »Uber« alle bisher gültigen Standards. Während die klassischen Buchläden nicht nur Bücher verkaufen, sondern auch zu dem sozialen Leben in den Zentren von Dörfern und Städten beitragen, ist das Internetunternehmen »Amazon« ortsungebunden und agiert mit weltweit rationalisierten Vertriebswegen. Während der klassische Plattenhandel für eine angemessene Entlohnung einer Vielzahl von Musikerinnen und Musiker sorgt, sinken deren Einkommen durch die Verteilung der Musik in den Streaming-Angeboten wie »Spotify« deutlich. Während klassische Boutiquen die Käufer in die Innenstädte locken, bietet ein Internetbasierter Versandhandel wie »Zalando« einen anonymen Warenverkehr und lässt den Wert von Fachberatungen sinken. Während die klassischen Hotels, wenn auch bei geringer Entlohnung, zugleich feste und verlässliche Arbeitsplätze bereitstellen, schaffen Online-Portale wie »Airbnb« Konkurrenzangebote, mit denen Einrichtungen, die einen festen Mitarbeiterstamm vorsehen müssen, nicht konkurrieren können. Diese Liste lässt sich noch länger fortsetzen, die Tendenz ist auch so schon offenkundig. Es sind nicht nur die globalisierte, das heißt Ländergrenzen übergreifende Produktion und der Handel, die die gewachsenen Sozialstrukturen unterminieren. Auch die neuen Geschäftsmodelle der digitalen Medien schwächen sie nachhaltig. Die Entwicklung erfordert den Aufbau nationaler und internationaler Regelungen. Digitale Medien finden überall Anwendung, sie erhöhen die Fähigkeit zur flexiblen Lebensgestaltung. Viele Angebote sind auf individuelle Bedürfnisse hin abgestimmt. Es ist offenkundig, dass die digitalen Technologien durch ihre leichte Zugänglichkeit und ihre hohe Adaptionsfähigkeit weiterhin auch den Alltag und die weitere kulturelle Entwicklung der Gesellschaft nachhaltig prägen werden. Die gegenseitige Verstärkung individualisierender Alltagstechniken mit den Grundüberzeugungen des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne ist groß. Zurzeit wirken die digitalen Medien so, dass die gesellschaftlich etablierten Formen der Verbundenheit geschwächt werden. Allerdings sind sie nicht darauf festgelegt. Man darf den Status quo nicht zu schnell festschreiben, sondern muss nach künftigen 67 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Wie ist der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne entstanden?

Entwicklungspotentialen suchen. Auch die Plattformökonomien der Digitalwirtschaft müssen nicht das letzte Wort sein, digitale Technologien sind nicht auf ein solches Nutzungsprofil festgelegt. Jenseits einer weltweiten und oft anonymisierten Vernetzung bieten sie auch die Möglichkeit, lokale und regionale Netze auszubauen und zu stärken. Diese haben durchaus das Potential zu neuen Formen der Verbundenheit, wie es das elfte Kapitel darstellen wird.

D.

Populistische Bewegungen

In jüngster Zeit steht jedoch die über Jahrzehnte eingeübte Hegemonie des Diskurses der Spätmoderne öffentlich in der Kritik. Es werden vermehrt politischen Positionen artikuliert, die sich deutlich von zentralen Aussagen des Diskurses abwenden, auf der rechten Seite verbunden mit einem kruden Nationalismus, der bis ins Völkische reichen kann. Ein immer größerer Teil der Bevölkerung fühlt sich offenkundig in der bestehenden Parteiendemokratie aus mehreren Gründen nicht mehr repräsentiert. 44 Weltweit zeichnet sich eine Rückkehr bzw. ein Neuaufbau nationaler Strukturen ab. Gerade der Nationalismus scheint eine leicht zu mobilisierende Kraft zu sein, die in vielen westlichen Demokratien eine Opposition gegen den hegemonialen Diskurs bildet und die etablierten demokratischen Institutionen unter Druck setzt. 45 Der Bezug auf die Nation ist offenkundig eine Ressource, die auch im 21. Jahrhundert starke Kohäsionskräfte auslösen kann. Er ist stark vergangenheitsorientiert, es geht um die Wiedergewinnung von überschaubaren Strukturen, eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit, nach »Heimat« bringt sich darin zum Ausdruck. 46 In Deutschland spielt eine nicht unerhebliche Rolle die RückDie Chancen eines aggressiven Rechtspopulismus entscheiden sich danach, »wie ökonomisch erzeugte soziale Ungleichheitsentwicklungen und Kontrollverluste, politische Demokratieentleerung und das Bewusstwerden der Ambivalenz der kulturellen Moderne zusammenwirken.« Heitmeyer 2018: 73. 45 Deshalb fällt es schwer, heute den Optimismus von Brunkhorst aufrecht zu erhalten, den er 2002 noch äußern konnte: »Die Demokratie ersetzt, egalisiert und erweitert die im Prozess der Funktionsdifferenzierung zerstörte kommunikative Solidarität der alteuropäischen Klassengesellschaft (…).« Brunkhorst 2002: 132. 46 »Der wichtigste Paradigmenwechsel der Gegenwart ist der Übergang von der Sehnsucht nach Unabhängigkeit von einer aus Gemeinschaften bestehenden Gesellschaft zur Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu einer aus Individuen bestehenden Gesellschaft.« Celia de Anka, zitiert bei Bauman 2017: 68 f. 44

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Faktoren der Entwicklung des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne

erinnerung an die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, in der es einerseits eine rasche Wohlstandssteigerung gab, andererseits aber die Gesellschaften noch weitgehend durch nationale Identitäten geprägt waren. 47 Populistische Bewegungen beschränken sich aber nicht auf eine sentimentale Erinnerung an vergangene Zeiten. Sie suchen die Abgrenzung zu Akteuren der Gegenwart, um eine Alternative zu der gegenwärtigen Situation zu bieten. Diese Abgrenzung geschieht nach zwei Seiten. Auf der einen Seite wird den Eliten der Gesellschaft das Misstrauen ausgesprochen, die von der Entwicklung profitieren. 48 Auf der anderen Seite wendet man sich gegen Menschen am Rande der Gesellschaft, allen voran gegen Migrantinnen und Migranten, denen das Recht abgesprochen wird, zu der national verstandenen Gesellschaft zu gehören. 49 Der Populismus strebt erstens danach, ein »Wir« von einem »Die«, der Gruppe der Anderen, der Nicht-Zugehörigen, klar zu unterscheiden (»Wir sind das Volk«). Dieses »Wir« wiederum definiert sich zweitens als eine in sich geschlossene Einheit. 50 Am leichtesten gelingt das entlang nationaler Grenzen. Populistische Parteien reklamieren schließlich drittens, die einzig authentischen Sprecher des »Wir« zu sein. In diesen Bewegungen zeigt sich dadurch eindeutig eine regressive, bisweilen auch reaktionäre Tendenz. Statt eine gemeinsame offene Zukunft sozialer und solidarischer zu gestalten, sehnen sich diese Kräfte zurück nach einer Vergangenheit, die Auch für die wirtschaftliche Entwicklung der Nachkriegszeit gibt es ein von Ulrich Beck geprägtes instruktives Bild: Der Fahrstuhleffekt sozialer Entwicklung, bei dem fast alle Schichten an der gesellschaftlichen Wohlstandssteigerung partizipieren »Die Besonderheit der sozialstrukturellen Entwicklung in der Bundesrepublik ist der ›Fahrstuhl-Effekt‹ : die ›Klassengesellschaft‹ wird insgesamt eine Etage höher gefahren.« Beck 1986: 122. Das Bild des Paternosters von Andreas Reckwitz, das eher die gegenwärtige Entwicklung abbildet, ist als Kontrast zu diesem Bild des Fahrstuhls zu verstehen. 48 Dieser Vorwurf wird aber auch von der progressiven Seite erhoben: »Man könnte auch sagen, dass sich die Politik von einer Demokratie der Mitte zu einer ElitenDemokratie gewandelt hat.« Nachtwey mit Verweis auf die Postdemokratie-These von Collin Crouch, Nachtwey 2017: 93. 49 »Eine Nachbarschaft voller Fremder ist ein sicht- und greifbares Zeichen dafür, dass sich die Gewissheiten verflüchtigen (…).« Bauman 2017: 78. 50 Jan-Werner Müller stellt fest, dass eine vollständige Definition des Populismus zumindest auf zwei Faktoren zugreifen muss: »Zum Anti-Elitären muss noch das Anti-Pluralistische hinzukommen. Was ich als den Kernanspruch aller Populisten bezeichnen möchte, lautet stets ungefähr so: ›Wir – und nur wir – repräsentieren das wahre Volk.‹« Müller 2016: 26. 47

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Wie ist der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne entstanden?

aus ihrer Sicht besser war als die Gegenwart. 51 Nun sind die populistischen Kräfte im internationalen Kontext alles andere als einheitlich. Sie speisen sich aus vielschichtigen, nationalen und lokalen Traditionen. Sie eint nicht so sehr dieselbe Tradition als vielmehr der gemeinsame Gegner, nämlich all jene gesellschaftlichen Kräfte, die sich für eine liberale Gesellschaft einsetzen. Wenn man den Erfolg populistischer Bewegungen in den letzten Jahren verstehen will, muss man auf den grundlegenden Affekt achten, den sie bedienen. Wenn die gesellschaftliche Entwicklung unter dem hegemonialen Diskurs der Spätmoderne Unsicherheit auslöst und wenn Formen der Verbundenheit schwächer werden, dann ist der Reflex, sich gegenüber einer Globalisierung auf die eigene nationale Identität zu beziehen, eine einfache und naheliegende Antwort. Die traditionelle Nation kann leicht als eine Bastion gegen eine globalisierende Wirtschaft imaginiert werden. Staatliche solidarische Strukturen sollen nach Meinung populistischer Positionen nur jenen Menschen gelten, die derselben Nation bzw. demselben Volk angehören. Migrationsprozesse sind grundsätzlich problematisch, da sie die Gesellschaften verändern, die Zustände der Vergangenheit werden als normativ gesetzt. Eine erfolgreiche Bekämpfung solcher Positionen wird in entscheidendem Maße davon abhängen, ob es gelingt, neue Formen der Verbundenheit als eine Alternative zu entwickeln. Es ist tragisch, dass gerade in dieser Zeit die solidarischen Bewegungen des progressiven Diskurses nach einer längeren Phase neoliberaler Gesellschaftspolitik nur noch mit Mühe reaktivierbar sind. Auf längere Sicht aber werden sich jene Formen der Verbundenheit durchsetzen, die sich mit der grundsätzlich nationenübergreifenden technologischen Basis der digitalen Technologien korrespondieren und nicht solche, die einen Rückfall in voneinander getrennte nationalstaatliche Strukturen bedeuten.

Mounk verbindet mit dieser Beobachtung eine weitreichende These, das »Auseinanderklaffen von Liberalismus und Demokratie ist genau das, was wir gerade erleben – und die Folgen könnten dramatisch sein.« Mounk 2018: 14.

51

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3. Eine ambivalente Entwicklung: von der Freiheit zur Vereinzelung

1.

Die Werte der Französischen Revolution

Alle drei großen Diskurse des 19. Jahrhunderts, der bürgerlich-liberale Diskurs, der konservative Diskurs und der progressive Diskurs haben sich immer wieder positiv oder negativ auf die Französische Revolution und auf die nach ihr folgenden Ereignisse bezogen. Eine nachhaltige Wirkung hatte die Revolution unter anderem in der Prägung eines Wertekanons, der für westliche Demokratien maßgebend wurde. Hierzu zählen insbesondere die drei zentralen Werte, die die Parole der jakobinischen Revolution darstellten und die spätestens in den Märzunruhen 1848 zu einer populären Losung geworden sind: Egalité, Liberté und Fraternité. Auch im 20. und im beginnenden 21. Jahrhundert haben die Werte der Revolution nicht an Bedeutung für die aktuelle Entwicklung verloren. Ein Abgleich mit den drei fundamentalen Werten der Revolution macht interessante Beobachtungen in der gegenwärtigen Gesellschaft möglich. Wie werden die Werte heute, unter den Vorgaben des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne verwirklicht? Der Wert der Freiheit steht in dem hegemonialen Diskurs eindeutig im Zentrum. Einerseits ist die politische Freiheit ein zentraler Bestandteil aller demokratischen Prozesse. Zum anderen ist die Freiheit aber auch der zentrale Leitwert für die Lebensgestaltung in den Gesellschaften. Die Ausdeutung der Freiheit war allerdings im bürgerlich-liberalen Diskurs der letzten 200 Jahre noch lange durch stark verankerte gesellschaftliche Stereotype, Rollenbilder und Konventionen eingeschränkt. Erst in den letzten Jahrzehnten haben die Freiheitsgrade der individuellen Lebensgestaltung durch den Einfluss des hegemonialen Diskurses erheblich zugenommen. Eng verbunden damit ist eine breite Toleranz gegenüber Abweichungen von den früher konventionellen gesellschaftlichen Normen. In der Gegenwart sind es eher die Abweichungen, die soziale Aufmerksamkeit finden. 71 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Eine ambivalente Entwicklung: von der Freiheit zur Vereinzelung

Zuspruch findet heute auch in der gesellschaftlichen Mitte das, was Differenzen betont und bestätigt. 1 Bei dem Wert der Gleichheit fällt das Urteil schon differenzierter aus. Die Gleichheit im Sinne der Gleichbehandlung der Menschen vor dem Gesetz ist in den letzten Jahren deutlich verbessert worden. Die Rechtsprechung ist gemäß der gesellschaftlichen Herausforderung in den letzten Jahrzehnten ausgebaut worden, in den Mitgliedsländern der Europäischen Union etwa durch die Gleichbehandlungsrichtlinien zum Abbau von Diskriminierungen wegen des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, der Herkunft oder der Religionszugehörigkeit. 2 Auch die Sensibilität für die Tatsache, dass gesellschaftliche Diskriminierung schon wesentlich früher beginnt, nämlich im Alltag jenseits der gesetzlichen Regulierungen, ist deutlich erhöht worden. Stehen also auf der Habenseite die Vergrößerung persönlicher Freiheiten und die Ausweitung der Gleichheit vor dem Gesetz, so gilt das nicht für die ökonomische Gleichheit oder die Chancengleichheit in der Gestaltung des Lebens. Denn trotz aller Bekundungen, dass es durch das Wachstum der Wirtschaft allen besser gehen solle, ist die ökonomische und soziale Ungleichheit in der Bevölkerung der Industrienationen Nordamerikas und Europas in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen. 3 Auch wenn es in Teilen Europas aufgrund eines Wirtschaftswachstums der letzten Jahre insgesamt zu Wohlstandssteigerungen gekommen ist, so braucht es nicht viel Fantasie, um zu erkennen, dass eine nachhaltige Schwächung der Wirtschaft oder gar eine Rezession schnell wieder zu einer weit verbreiteten offenen Armut führen kann, insbesondere in den südeuropäischen Staaten, die auch in dem vergangenen Jahrzehnt nur sehr begrenzt an dem Wirtschaftswachstum Teil hatten.

Stalder weist etwa auf die große Resonanz, die Conchita Wurst sogar in dem sehr konventionellen Medium des Eurovision Song Contest gefunden hat, vgl. Stalder 2017: 7. 2 Zwischen 2000 und 2004 sind mehrere Gleichbehandlungsrichtlinien der Europäischen Union verabschiedet worden, die einen erheblichen Einfluss auf die Rechtsprechung der Mitgliedsländer hat, vgl. https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ ThemenUndForschung/Recht_und_gesetz/EU-Richtlinien/eu-Richtlinien_node. html 3 Piketty untersucht vor allem die Dynamik der Ungleichheit und konstatiert mit den Daten bis 2010: »Der Prozess der Akkumulation und Verteilung der Vermögen birgt starke Kräfte, die auf Divergenz oder zumindest auf eine sehr große Ungleichheit hinwirken.« Piketty 2014: 47. 1

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Die Werte der Französischen Revolution

Wiederum anders ist die Rezeption der Solidarität. Unter den Bedingungen des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne hat sich die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten geradezu konträr zu diesem zentralen Wert der Französischen Revolution entwickelt. Der Begriff der Solidarität im Sinne der Losung der Französischen Revolution rückt die geschichtliche politische Bewegung in den Blick und zielt auf diejenigen, die miteinander in einem revolutionären, in einem emanzipatorischen Kampf verbunden sind. Mit dem Wert wurde in der Revolutionsphase auf die wechselseitige Verpflichtung der Bürgerinnen und Bürger der neu gegründeten Republik hingewiesen. Der Ausdruck hebt eine Verbindlichkeit hervor, die sich nicht mit der Einhaltung von Gesetzen gleichsetzen lässt, die vielmehr eine darüber hinaus gehende gesellschaftliche Verbundenheit der im Kampf befindlichen Bürgerinnen und Bürger zum Ausdruck bringen soll. Auch wenn viele Akteure der Französischen Revolution ihre Distanz zur Kirche nachdrücklich betont haben, so gibt es starke religiöse Wurzeln des von ihnen verwendeten Begriffs der »Fraternité«. Der Begriff der »Brüderlichkeit« ist im Alten Testament auf die Mitglieder des Volkes Gottes bezogen, 4 im Neuen Testament auf die Mitglieder der neu gebildeten christlichen Gemeinden 5. Der Ausdruck hat vor dem historischen Hintergrund einer patriarchalen Familienstruktur einen egalitären Charakter. Brüder befinden sich in einer patriarchalen Familie auf derselben Stufe, es gibt zwischen ihnen keine Hierarchien, wie sie in der Verehrung von Vater und Mutter zum Ausdruck kommen. Der Begriff hebt Wechselseitigkeit und Reziprozität hervor. Er ist in dem progressiven Diskurs der Arbeiterbewegung rezipiert und durch den geschlechtsneutralen Begriff der Solidarität ersetzt worden. Im progressiven Diskurs ist der Begriff eng mit der Vorstellung eines politischen Kampfes, einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung verbunden, in dem sich Menschen zueinander solidarisch zeigen. 6 Die Vorstellung eines gesellschaftlichen Kampfes und der Solidarität derjenigen, die gemeinsam den Kampf durchstehen, haben der bürgerlich-liberale und später der hegemoniale Diskurs der SpätmoEtwa Lev 19,17: »Du sollst Deinen Bruder nicht hassen«; Dt 3,20: »Bis der Herr eure Brüder auch zur Ruhe bringt wie euch«; auch Jos 1,15. 5 Vgl. die sehr häufige Anrede in den Briefen, die in den älteren Übersetzungen nach Luther mit »Liebe Brüder«, in der Übersetzung von 2017 mit »Liebe Schwestern und Brüder« wiedergegeben wird. 6 Vgl. Bayertz 1998: 41. 4

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Eine ambivalente Entwicklung: von der Freiheit zur Vereinzelung

derne fast vollständig verloren. Hier findet der Begriff höchstens in der Form der Solidarität aller Menschen, Resonanz. Damit ist er aber dann eine Variante der Gleichheit, also der allgemeinen Humanität aller Menschen. 7 Jedoch ist diese Allgemeinheit dann kaum noch von dem Wert der Gleichheit aller Menschen zu unterscheiden, er verliert in dieser Fassung den Bezug auf einen konkreten geschichtlichen Kontext, auf eine Situation einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Setzt man die zentralen Werte der Französischen Revolution zum Maßstab für die Beurteilung, so ergibt sich ein sehr gemischtes Bild für die Ausrichtung des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne. Während es ihm gelingt, den Wert der Freiheit besonders zu betonen und sich für viele Menschen die Freiheitsgrade des individuellen Lebenswandels erhöhen, bleibt der Wert der Gleichheit zweideutig, da die Gleichheit vor dem Gesetz von der sozialen und ökonomischen Gleichheit unterschieden werden muss. Wiederum ist bei dem Wert der Solidarität ein deutliches Defizit zu verzeichnen. Es zeigen sich dementsprechend sowohl Stärken des hegemonialen Diskurses wie auch Schwächen. Die Stärken sind in der Selbstbestimmung des Individuums und der Universalität der Ansprüche zu sehen, die Schwächen in der geringen Bedeutung, die der Verbundenheit von Menschen in einer bestimmten geschichtlichen Situation zukommt.

2.

Autonomie und Universalismus

Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne und sein Vorläufer, der bürgerlich-liberale Diskurs haben erhebliche gesellschaftliche Fortschritte gerade in den Freiheitswerten und der rechtlichen Gleichstellung errungen. Dies zeigt sich insbesondere bei der Forderung nach Autonomie, der freien Selbstbestimmung eines jeden Menschen und in einer universalistischen Ausrichtung, also den Anspruch, dass alle Menschen grundsätzlich gleich zu behandeln sind und dass sie von Geburt an die gleichen Rechte haben. Wenn es im Folgenden darum Auch diese Interpretation der Brüderlichkeit aller Menschen im Sinne der allgemeinen Humanität ist alt und klingt etwa in der Bedeutung der Ode an die Freude von Friedrich Schiller schon an (in der späten Fassung): »Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.«

7

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Autonomie und Universalismus

geht, die Schwächen des hegemonialen Diskurses zu thematisieren, so ist ein gesellschaftlicher Fortschritt nur dann möglich, wenn man dabei zugleich diese Errungenschaften des Diskurses nicht gefährdet. Die Erhöhung der Möglichkeiten eines jeden Menschen, sein eigenes Leben autonom zu gestalten, hat sowohl eine rechtliche Seite wie auch eine im weiteren Sinne gesellschaftliche Seite. Die Rechtsprechung kann helfen, Missstände zu verringern, verwirklichen lassen sich das Ziel einer autonomen Lebensführung aller Menschen aber nur, wenn die Wertorientierung auch im gesellschaftlichen Alltag Einzug hält. Das Rechtssystem ist auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene in der Fähigkeit gestärkt worden, Tatbestände von Diskriminierung zu identifizieren und zu unterbinden. Die Durchsetzung gleicher Rechte für alle Menschen unabhängig von einer näheren Bestimmung des Geschlechts, der Herkunft oder der sexuellen Orientierung wurden in den letzten Jahrzehnten Schritt für Schritt vorangebracht. Die Veränderungen zielen nicht nur auf die Durchsetzung einer Gleichbehandlung durch staatliche Organe, sondern auch einer Gleichbehandlung in der Zivilgesellschaft, etwa im Bereich des Arbeitsrechts. 8 Die Gleichheit im Sinne der Gleichbehandlung kann man mit Nachtwey als horizontale Dimension bezeichnen im Unterschied zu der vertikalen Dimension, die durch die Einkommen oder die Verteilung von Vermögen bestimmt ist. 9 Die Umsetzung der Werte von Freiheit und horizontaler Gleichheit sind auch im gesellschaftlichen Alltag verbessert worden. Jede und jeder kann sich leicht vor Augen führen, wie sehr die Errungenschaften des Diskurses die eigene persönliche Orientierung bestimmen, wenn man etwa auf die eigene emotionale Reaktion achtet, sollte man mit einer Situation konfrontiert sein, in der einem Menschen die freie Selbstbestimmung abgesprochen wird. Wenn ein Mensch etwa allein aufgrund seiner sexuellen Orientierung, seiner religiösen Orientierung, Neben dem Artikel 3 des Grundgesetzes, das die Gleichheit vor dem Gesetz garantiert und damit das Handeln des Staates festlegt, ist im Zuge der Europäischen Gesetzgebung das »Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz« beschlossen worden. Dort heißt es: »Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.« AGG1 § 1 BGB I. Dieses Gesetz bezieht sich auf alle möglichen Formen gesellschaftlichen Handelns. 9 Nachtwey setzt die vertikale Dimension auch mit der Forderung nach gesellschaftlicher Gerechtigkeit gleich, vgl. Nachtwey 2017: 110 f. 8

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einer anderen Herkunft oder einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung von anderen benachteiligt, stigmatisiert, ausgegrenzt und in seiner Entwicklung beeinträchtigt wird, regt sich heute bei den meisten spontan eine Empörung. Die gesteigerte Sensibilität, hier Unrecht wahrzunehmen, ist eine Errungenschaft gegenwärtiger westlicher liberaler Gesellschaften. Diese Entwicklung ist noch lange nicht an ihr Ziel gekommen: Jene gesellschaftlichen Bedingungen, die sich für die Durchsetzung von Autonomie und Gleichheit aller Menschen einsetzen, müssen weiter ausgebaut werden. Zudem scheint das Errungene fragil zu sein. Das zeigen nicht nur die Äußerungen von populistischen Politikerinnen und Politikern in westlichen Gesellschaften, das zeigt auch der Kurs, den viele Schwellenländer einschlagen, wie Russland, China, Türkei, Indien oder Brasilien. Hier findet eher eine Orientierung an autoritären Strukturen vergangener Zeiten statt, die der individuellen Lebensgestaltung nur einen untergeordneten Stellenwert einräumen. Nichts ist irreversibel: Man muss sich immer vor Augen halten, dass auch in den westlichen Ländern eine Aufmerksamkeit für die alltäglichen gesellschaftlichen Einschränkungen gesellschaftlicher Randgruppen noch vor 50 Jahren nur von wenigen Vorkämpferinnen und Vorkämpfern geteilt wurden! Die Gleichheit aller Menschen zeigt sich darüber hinaus in einer grundsätzlich universalistischen Perspektive der Politik. Dies geschieht in besonders prominenter Weise im Rahmen der Aktivitäten und Debatten der Vereinten Nationen. Ihre Charta trat im Oktober 1945 in Kraft. In der Präambel der Charta spielen die Grundrechte der Menschen eine zentrale Rolle. Die Universalität der Menschenrechte ist dann durch die Vereinten Nationen 1948 offiziell proklamiert worden. Diese Proklamation hatte im Rahmen der UN weitreichende Institutionalisierungen zur Folge, etwa der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechtsfragen (OHCHR) und der Menschenrechtskommission (CHR), seit 2006 das Human Rights Council (HRC). Die leidvolle Geschichte Europas im 20. Jahrhundert hat auch in der Europäischen Union zu einer größeren Sensibilität für Menschenrechtsfragen und den Wert von Völkerverständigung geführt. Allerdings bedeutet die Allgemeinheit des moralischen und rechtlichen Anspruchs universaler Menschenrechte zugleich eine Einschränkung in der Fähigkeit zur Operationalisierung. Staaten weltweit können auf dem Papier die Menschenrechte ratifizieren, aber bleiben dann oft in der Umsetzung eklatant hinter den Zielen zurück. 76 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

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Die Umsetzung der allgemeinen Menschenrechte und die Ausrichtung auf eine universalistische Perspektive der Politik auch in nationales Recht sind deshalb eine bleibende Aufgabe. Angesichts der Größe der Aufgabe aber kommt es darauf an, die Ziele immer wieder mit den aktuellen Herausforderungen zu vermitteln. Es gibt eine nicht geringe Gefahr, dass die allgemeinen Werte nur noch eine Rolle in moralischen Appellen spielen, an die sich konkrete Politik dann nicht mehr ausrichtet, dass sich »Sonntagsreden« und Alltagshandeln voneinander abkoppeln. Der Umsetzung der Werte kommt man nur dann näher, wenn man auch bereit ist, partikulare Konflikte einzugehen. Unter den Vorgaben des hegemonialen Diskurses wirkt es allerdings oft so, als sei die Durchsetzung der Menschenrechte eine moralische Aufgabe, die sich durch Aufrufe und Appelle erreichen ließe. Die Durchsetzung der Menschenrechte ist eine bleibende Aufgabe von einer historischen Dimension.

3.

Die Schwächung gesellschaftlicher Strukturen und Vereinzelung

Jenseits dieser Errungenschaften sind die Schwächen des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne nicht zu übersehen. Der Bestand von Gemeinschaften und solidarischen Strukturen in den westlichen Gesellschaften hat in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich abgenommen. Damit verringert sich die Chance, im Alltag Gemeinschaftsoder Solidaritätserfahrungen machen zu können. Sicherlich gibt es in den westlichen Gesellschaften auch heute nicht wenige soziale Initiativen und Vereinigungen, die sich immer wieder spontan aufgrund äußerer Anlässe bilden. Hierzu zählen Stadtteilgruppen, Flüchtlingshilfen, Nachbarschaftstreffs, Aktionen von Umweltaktivisten und vieles mehr. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich neue Initiativen bilden, hat vielleicht sogar eher zu- als abgenommen. Doch haben solche Vereinigungen und solidarischen Kreise in der Regel eine relativ kurze Existenz, sie existieren vorrübergehend als Projekt. Üblicherweise verlieren diese Initiativen nach einer überschaubaren Zeit an Engagement, sei es, dass sich die Situation, aus der heraus sie gegründet wurden, geändert hat, sei es, dass sich die Motivation der Beteiligten geändert hat. Zumeist können sie weder längerfristige gesamtgesellschaftliche Vertrauensstrukturen aufbauen noch helfen sie, den gesellschaftlichen Alltag zu strukturieren. In den letzten Jahrzehnten 77 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

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sind nur wenige Institutionen gegründet worden, bei denen man eine langfristige Existenz vermuten kann. Dies gilt etwa für neue Formen von gesellschaftlichem Engagement, etwa in Kampagnen von Umweltschutzorganisationen oder kapitalismuskritischen Bewegungen wie Attac oder Occupy Wallstreet. 10 Sie haben vor allem gegenüber den klassischen Formen wie Parteien, Gewerkschaften, etablierte Vereine oder Kirchen einen gravierenden Nachteil: Sie bewirken keine längerfristigen Bindungen. Auch projektbezogene ad hoc gebildete Vereinigungen und Initiativen können den Substanzverlust langfristiger gesellschaftlicher Institutionen nicht auffangen. Wenn erst einmal die Zustimmung zu bestimmten Institutionen, einerlei ob Traditionsvereine oder politische Parteien, verloren ist, finden diese Institutionen nicht so leicht wieder zu einer Stärke zurück. Der amerikanische Soziologe Robert Putnam veröffentlichte im Jahr 2000 seine wegweisende Studie »Bowling alone«, in der er die Entwicklung von zivilgesellschaftlichen Institutionen der US-amerikanische Gesellschaft über längere Zeiträume untersuchte. 11 Die Ergebnisse der Studie zeigen deutlich, wie stark zivilgesellschaftliche Institutionen gegen Ende des 20. Jahrhunderts rückläufig waren. Robert Putnam fasste diese Institutionen unter der Variablen »Sozialkapital« zusammen und diagnostiziert für die Vereinigten Staaten von Amerika einen deutlichen Rückgang des Sozialkapitals seit den 80er Jahren. Zugleich sind immer weniger neue Gründungen vorgenommen worden. 12 Das passt zeitlich erstaunlich gut zu dem Wandel zu einer neoliberalen Wirtschaft. Putnam vergleicht die neuere Entwicklung mit den Daten aus der Geschichte der US-amerikanischen Gesellschaft seit dem frühen 19. Jahrhundert. Er kann auf beeindruckende Weise zeigen, wie anders die gesellschaftliche Entwicklung in früheren Zeiten, etwa in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, verlaufen ist. Dort begann eine Epoche von Ver-

Ob die neuere Bewegung »Fridays for Future« auch dazu gezählt werden muss, ist offen. Immerhin gibt es hier einen Anlass, die Bekämpfung des Klimawandels, der eine dauerhafte Aufgabe der kommenden Jahrzehnte sein wird. 11 Vgl. Putnam 2000. 12 Eine Grafik, die den Rückgang von Vereinsgründungen zwischen 1980 bis 2000 deutlich zeigt, findet sich bei Putnam 2000: 388. Sie gibt die Gründungsjahre von US-weiten Vereinigungen wieder. Der Verlauf zeigt, dass im ganzen 20. Jahrhundert über relativ rege Gründungstätigkeit existierte, die dann aber in den 80er Jahren abbricht. 10

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einsgründungen, von denen etliche bis heute Bestand haben, wie etwa der Rotary Club oder der Lions Club. 13 Der Befund der Studie Putnams findet in den europäischen Gesellschaften eine Entsprechung, auch wenn der Rückgang in Europa vielleicht etwas später einsetzte. Die Etablierung des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne steht damit in einem engen Zusammenhang mit dem Rückgang zivilgesellschaftlicher Institutionen. Putnam diskutiert angesichts der Auflösung gesellschaftlichen »Sozialkapitals« die Frage, ob sich vielleicht notwendigerweise Freiheitsorientierung und sozialer Zusammenhalt widersprechen. Gibt es zwischen den Stärken und den Schwächen des hegemonialen Diskurses einen Zusammenhang? Verhalten sich Freiheit und Solidarität, Autonomie und Formen der Verbundenheit wie kommunizierende Röhren, so dass die Stärkung des einen Wertes unmittelbar zur Schwächung des anderen führt? Putnam selbst warnt jedoch vor einer allzu einfachen Gegenüberstellung von Freiheit und Verbundenheit. Denn beide sind nicht einfach extreme Werte eines linearen Spektrums, so dass die Verstärkung des einen die Schwächung des anderen zur Folge hätte. Wäre dem so, dann müsste man sich bei den drei Werten der Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit, Solidarität entscheiden, ob nun der Wert der Freiheit zulasten der Solidarität vergrößert werden sollte oder der Wert der Solidarität zulasten des Werts der Freiheit. Putnam macht dagegen deutlich, dass es sich hier vielmehr um ein mehrdimensionales offenes Feld handelt, auf dem es auch Optionen gibt, in denen sowohl Freiheitswerte wie auch solidarische Werte Berücksichtigung finden. Dies ist nach Putnam etwa in offenen zivilgesellschaftlichen Gemeinschaften der Fall, die durch beide gekennzeichnet sind. 14 Auch wenn bislang unter den Bedingungen des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne es so ausschauen mag als seien Freiheit und Verbundenheit sich einander ausschließende Größen, so kann es nach Putnam auch dritte Wege geben, die beiden Seiten besser gerecht werden. Im elften Kapitel soll ein solcher Weg mit Hilfe der Analysen von Netzwerken gesucht werden. Zunächst aber ist der Befund unter den Bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft eindeutig. Hier erhält das Individuum gegenüber jeder sozialen Form in der Gesellschaft den Vorzug. Die Reihe der von einer nachhaltigen Schwächung betroffenen Institutionen ist 13 14

Vgl. Putnam 2016: 386 f. Vgl. Putnam 2000: 355.

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beeindruckend: Traditionelle politische Parteien sind ebenso erfasst wie Gewerkschaften, Kirchen, etablierte Medien wie Zeitungen oder öffentlich-rechtliche Sendeanstalten von Rundfunk und Fernsehens oder die weitverzweigte Vereinskultur. Besonders auffällig und folgenreich ist die kontinuierliche Erosion der großen politischen Parteien der westlichen Demokratien. 15 Fast jedes größere Land ist betroffen: In Frankreich spielen die führenden Parteien der fünften Republik nur noch eine marginale Rolle, in den USA zeigten die beiden großen Parteien eine nachhaltige Schwäche bei der Auswahl von Präsidentenkandidaten in den so genannten Primaries 2016, in Großbritannien ist Labour nur noch ein Schatten ihrer selbst, in den Niederlanden hat sich die Parteienlandschaft in eine große Vielzahl zersplittert, in Italien haben 2018 für ein Jahr zwei populistische Neugründungen die Regierungsverantwortung übernommen, in Deutschland schließlich wird deutlich, dass die beiden großen Volksparteien nach neueren Umfragen auch in der so genannten »Großen Koalition« nicht mehr mehrheitsfähig sind, der Ausdruck ist nur noch eine historische Reminiszenz. Der Politologe Pierre Rosanvallon hat diese Entwicklung europäischer Demokratien und ihrer Parteien genauer analysiert. 16 Über lange Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in den Demokratien der westlichen Welt eine mehr oder minder stabile Parteienlandschaft. Die führenden Parteien rangen mit deutlich unterschiedlichen programmatischen Positionen um die Vorherrschaft. Die politische Ausrichtung der großen Parteien war von Kontinuität geprägt und bestimmt durch die traditionellen Wählermilieus, die ihre Machtbasis darstellten. In Deutschland stand etwa die konfessionell gebundene Landbevölkerung als Kernwählerschaft der konservativen Parteien den Wählerinnen und Wählern aus den Arbeitervierteln der größeren Städte gegenüber, die Unterstützer der Sozialdemokratie waren. Aufgrund dieser gesellschaftlichen Verankerung waren die Parteien gezwungen, zugleich aber auch befähigt, ihrer Programmatik eine klare Kontur zu geben. Die Legislative, das Parlament, stand in den repräsentativen Demokratien der Nachkriegszeit im Mittelpunkt des GeMounk weist auf eine zeitliche Unterscheidung, die die Schwächung der Demokratien mit den Beobachtungen von Putnam parallelisieren hilft: »Über zwei Drittel der vor 1950 geborenen Amerikaner halten es für außerordentlich wichtig, in einer Demokratie zu leben, unter Amerikanern, die nach 1980 geboren wurden, ist es weniger als ein Drittel (…).« Mounk 2018: 12. 16 Rosanvallon 2016. 15

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schehens, die parlamentarischen Fraktionen der großen Parteien waren Schaltzentralen der Macht. Doch in den letzten Jahrzehnten sind die Gesellschaften immer komplexer und »unlesbarer« geworden. Dies hat in der Soziologie der 90er Jahre die Zuwendung zu einer veränderten Milieuforschung weiter vorangetrieben. 17 Der fortschreitende Individualismus löst aber auch die gesellschaftlichen Milieus weiter auf und schwächt auch die Repräsentierbarkeit der Wählenden. 18 Die Lockerung der Bindung an vorgegebene Milieus bedeutet auch, dass es nicht so einfach ist, zuzuordnen, welche Interessen sich in einem bestimmten politischen Handeln durchsetzen. 19 Politische Entscheidungen muten mehr und mehr technokratisch an, sie werden mit den Bedingungen der funktionalen Systeme begründet, denen man genügen muss. Hier zeigt sich wiederum ein Aspekt des Selbstverständnisses des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne. Die Repräsentationsfähigkeit der etablierten Parteien wird notwendigerweise schwächer. Dadurch aber wird ihre Politik volatiler, politische Gemeinsamkeiten entstehen oft ad hoc und sind immer mehr stimmungs- und situationsabhängig. Die traditionellen Parteien lebten dagegen bislang von großen Erzählungen in historischen Dimensionen, die mit ihrer Verankerung in stabilen gesellschaftlichen Milieus korrespondierten, deren Schicksal sie teilten und für dessen Interessen sie eintraten. Die Auflösung der Milieus geht auch mit einem Verschwinden der Erzählungen und geschichtlichen Kontinuitäten einher. Gerade die großen Volksparteien, die ja im repräsentativen Die neuere Milieuforschung ist durch eine Auflösung der traditionellen gesellschaftlichen Milieus motiviert. Sie sucht einen Ersatz für die Schwächung fester Bindungen durch Hinwendung zu ästhetischen Kriterien und Lebensstilfragen: »Die theoretischen Perspektiven (…) gehen von der Annahme aus, dass Menschen Ordnungen brauchen, um leben zu können. Auf eine Kurzformel gebracht, ist die folgende Analyse ein Versuch, die Gesellschaft der Gegenwart aus dem allgemeinen Bemühen um Orientierung heraus zu deuten. Persönlicher Stil, alltagsästhetische Schemata und soziale Milieus werden primär verstanden als Konstruktionen, die Sicherheit geben sollen.« Schulze 2000: 72. 18 »Die Parteien mussten mitansehen, wie diese (…) Repräsentationsfunktion ab den 1990 Jahren allmählich errodierte, um schließlich ganz zu verschwinden. (…) Denn wir sind in ein neues Zeitalter eingetreten, das des Individualismus, der Singularität (…).« Rosanvallon 2016: 23 f. 19 Rosanvallon stellt fest, »(…) dass die Gesellschaft selbst undurchsichtiger, in mancherlei Hinsicht sogar unlesbar und folglich schwerer repräsentierbar geworden ist als die einstige Klassengesellschaft mit ihren klaren Konturen und Merkmalen.« Rosanvallon 2016: 23. 17

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politischen System Ausdruck eines gemeinsamen politischen Willens vieler Menschen sind, werden geschwächt. Die verunsicherten Parteien suchen deshalb ihre Mehrheitsfähigkeit in der Mitte des politischen Spektrums, es entsteht die allgemein geteilte Ansicht, dass Wahlen in der Mitte gewonnen werden. Das aber schwächt die Unterscheidbarkeit der Parteien, sie richten sich alle auf die Wähler einer imaginären Mitte aus. Mit der Schwächung der Parteien verlieren auch die parlamentarischen Fraktionen an Bedeutung und damit auch die Legislative, das Parlament insgesamt. Wichtiger wird die Exekutive, die Regierung, die nun entscheidende politische Initiativen ergreift. Die Fraktionen der regierenden Parteien sichern vor allem die Politik der Regierung durch Stabilisierung der Mehrheit ab, es entsteht eine präsidiale Demokratie. 20 Die Lockerung der politischen Akteure von einer vorgegebenen Parteidisziplin erodiert aber das Vertrauen und kann leicht den Verdacht entstehen lassen, Politikerinnen und Politiker machten ihre Arbeit auf eigene Rechnung und nach eigenen Interessen. 21 Wenn es nicht mehr prägende Milieus, verpflichtende Gemeinschaften und normative gesellschaftliche Traditionen gibt, in die die politischen Akteure eingebunden sind, sind Änderungen auch grundlegender Entscheidungen immer im Bereich des Möglichen. Eine Vielzahl wichtiger Entscheidungen in Deutschland in den letzten 20 Jahren sind Beispiele für ein präsidiales Regierungshandeln. Entscheidungen der Regierungschefs sind dann nicht durch langfristig angebahnte Parteitagsbeschlüsse abgedeckt. Die Mechanismen der Auflösung von gesellschaftlicher Verbundenheit lassen sich in der Politik am leichtesten nachzeichnen. Eine analoge Schwächung kann man aber auch für andere Großinstitutionen der Gesellschaft feststellen. Auch die Gewerkschaften haben in vielen Einzelgewerkschaften Schwierigkeiten, einen hohen Organisationsgrad zu erhalten. Hier gibt es nicht nur eine Milieuauflösung – Arbeitnehmer verstehen sich immer weniger als Arbeiter –, sondern auch eine tiefgreifende Veränderung der Produktionsweisen und der Arbeitsprozesse. Sie sind geprägt von einer flexiblen, global orientierten Produktion, die von digitalen Kommunikationsmitteln unter»Durch die Herstellung einer direkten, das heißt nicht durch Parteien vermittelten Beziehung zu den Wählern wird der Amtsträger mit einer Art ›Superlegitimität‹ ausgestattet, die automatisch dazu tendiert, einen gewissen Illiberalismus zu befördern.« Rosanvallon 2016: 146. 21 Dies korrespondiert fatalerweise mit dem Vorwurf populistischer Parteien an die »Eliten« der etablierten Institutionen der Demokratie. 20

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stützt wird. Die Berufsbiografien sind nicht mehr von dem am Anfang erlernten Beruf bestimmt. Die Berufsbilder werden zudem heterogener. Unter den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern dominieren nicht mehr die zahlenmäßig starken Belegschaften von Großbetrieben, sondern die Mitarbeiter kleinerer Unternehmen, die durch flache Hierarchien und hohe Flexibilität bestimmt sind. Auch diese Veränderungen sind in hohem Maße kompatibel mit der Grundausrichtung des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne. Das Leitbild ist der sich in seinem Beruf selbst verwirklichende Mensch. Heute sind nicht Starre und Monotonie, sondern Flexibilität und Stress die Gründe zur Klage. Richard Sennett hat schon 1998 die neuen flexiblen Arbeitsstrukturen kritisch beleuchtet und auf ihre zersetzenden Eigenschaften für die persönliche Entwicklung von Berufstätigen hingewiesen. Neben Parteien und Gewerkschaften verlieren in den westlichen Demokratien christliche Kirchen kontinuierlich an Zustimmung und Mitgliedern. Man kann einen Gradienten bei unterschiedlichen Alterskohorten der Mitglieder feststellen: Je jünger die Menschen sind, desto größer ist die Kirchenferne, je älter die Menschen sind, desto größer ist die Kirchennähe. 22 Die mit der Kirche in hohem Maße Verbundenen stammen vor allem aus dem Milieu einer bildungsaffinen Mittelschicht. Nichtsdestotrotz bleibt die Volkskirche auch in der Spätmoderne plural, unterschiedliche Milieus werden von unterschiedlichen Angeboten (Kindererziehung und -betreuung, gemeindliche Angebote, Pflegedienstleistungen der Diakonie etc.) angesprochen. Der Wandel ist in der Geschwindigkeit nicht so stark wie bei den politischen Parteien, aber dennoch ist er stetig und kennt nur die Richtung einer ständigen Verkleinerung. Offenkundig ist, dass Menschen aus der Kirche eher auszutreten bereit sind, wenn sie nicht in familiäre oder gemeindliche Formen eingebunden sind. 23 Auch in den Kirchen hat der hegemoniale Diskurs einen großen Einfluss: Der christliche Glaube wird eher als eine individuelle Einstellung wahrgenommen, über die jede und jeder sich selbst Rechenschaft ablegen »Im Zeitverlauf über die letzten Jahrzehnte, auch im Vergleich verschiedener Lebensalter und Geburtskohorten, lässt sich dann regelmäßig eine (mehr oder weniger starke) Abnahme von Glaubensstärke und kirchlicher Bindung diagnostizieren.« Hermelink, Weysel 2015: 29. 23 »Eine Strategie, die diesen Trends entgegenwirken will, wird bei der familiären Sozialisation sowie bei einer Intensivierung des gemeindlich-gemeinschaftlichen Engagements ansetzen.« Ebd. 22

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muss, nicht aber als eine aus einer Gemeinschaft resultierenden und von ihr getragenen Erfahrung. Es schwinden die traditionellen gemeinsamen Bräuche und auch geteilte Erzählungen der religiösen Gemeinschaften. Religiöse Traditionen mit ausgeprägtem Geschichtsbewusstsein werden abgelöst durch eine gegenwartsorientierte, individualisierte Spiritualität. 24 Weitere wichtige gesellschaftliche Institutionen sind die so genannten »Leitmedien« in Print, im Hörfunk und im Fernsehen. Der große Wandel, der hier stattfindet, hat natürlich vor allem mit der Ausbreitung digitaler Medien zu tun, aber auch die Auflösung fester Zuschauerkreise oder treuer Leserinnen und Leser hat ihre Effekte. Große Zeitungen gaben in früheren Jahren in den politischen Debatten den Ton an und waren einem journalistischen Ethos der umfassenden und differenzierten Darstellung verpflichtet. Sowohl durch ihre erkennbare und offene politische Ausrichtung wie auch durch die Wahrung journalistischer Standards schufen sie die Grundlage für ein Vertrauen in die Berichterstattung. Heute dagegen kämpfen die Tageszeitungen mit einer in immer größerem Maße volatilen Kundschaft. Die Verhältnisse sind ähnlich zu denen der großen politischen Parteien. Dies wird durch den digitalen Wandel noch verstärkt, die ehemaligen Leitmedien erhalten Konkurrenz durch immer neue Internetformate. Die traditionellen Sendeanstalten des deutschen Fernsehens kämpfen immer mehr um Marktanteile und um Akzeptanz, das Stammpublikum ist deutlich älter als der Durchschnitt der Bevölkerung. 25 Schließlich sind auch die vielen kleineren Institutionen, die in früheren Zeiten eine langfristige Basis für Gemeinschaft und Solidarität bilden konnten, seit Jahren in der Defensive und klagen über Mitgliederrückgang. Hierzu gehören die zahllosen Sportvereine ebenso wie Traditionsvereine wie etwa Schützen- oder Karnevalvereine oder die freiwilligen Feuerwehren oder die Ortsgruppen des Technischen Hilfswerks. Sie alle waren und sind ein wichtiger Bestandteil des Sozialkapitals. Eine große Gruppe von Institutionen fehlt jedoch in der bisherigen Aufzählung, die Vielzahl von Wirtschaftsunternehmen, die moderne Gesellschaften prägen. Emile Durkheim hat in einer klassiIngolf Dalferth spricht in diesem Zusammenhang von einer »Cafeteria«-Religiosität, vgl. Dalferth 1997: 10 ff. 25 Als Extremform ist der Vorwurf der »Lügenpresse« aus populistischen Bewegungen heraus ein Hinweis auf die Entfremdung und die Abnahme von Vertrauen. 24

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schen Unterscheidung eine »organische« und eine »mechanische Solidarität« identifiziert. Mit diesen etwas ungewöhnlichen Begriffen bezeichnet der zweite die herkömmliche Gemeinschaft der traditionellen Gesellschaften. Die »organische Solidarität« dagegen weist auf jene Verbundenheit, die entsteht, wenn Menschen etwa arbeitsteilig arbeiten, sie ist also funktional bestimmt. In Unternehmen können engere Formen der Verbundenheit entstehen, die auch über die funktionale Bezogenheit hinausgehen. Wenn Menschen lange Zeit des Tages miteinander arbeiten, dann ist die soziale Verbundenheit größer als das, was Verträge, Arbeitsverträge, Kaufverträge oder Aufträge nahe legen können. Unternehmen sind damit ein »corpus permixtum« aus funktionaler Ausdifferenzierung und zwischenmenschlicher Verbundenheit. Dies hat Effekte innerhalb eines Unternehmens wie auch im Verhältnis zum gesellschaftlichen Umfeld des Unternehmens. Moderne Unternehmen haben die Bedeutung dieser Verbundenheit für den Unternehmenserfolg seit langem erkannt und mit Maßnahmen zur Förderung einer Unternehmenskultur, einer Unternehmensethik entwickelt. Wenn diese Maßnahmen gelingen, dann entstehen zwischenmenschliche Netzwerke, die zur sozialen Verdichtung der Unternehmensstrukturen beitragen. Dies schützt einerseits vor abweichendem Verhalten der Mitarbeitenden und stützt andererseits eine Bereitschaft, sich aufeinander zu verlassen. Ein Unternehmen existiert nicht als sozialer Solitär, sondern ist auf vielfältigste Weise mit der umgebenden Gesellschaft verbunden. Die Interessen und Wertorientierungen anderer gesellschaftlicher Gruppen können bei einer wertorientierten Kommunikation im Unternehmen besser berücksichtigt werden. 26 Das kann ein wichtiger Beitrag für die Gesellschaft sein, innerhalb derer die Unternehmen agieren. Auf internationaler Ebene können multinationale Unternehmen sogar Standards setzen, die aufgrund der exekutiven Schwäche der Vereinten Nationen zu einer stärkeren Einhaltung ethischer Standards führen. Doch sind all diese Initiativen kein Ersatz für zivilgesellschaftliche Institutionen und Formen der Verbundenheit. 27 Denn Shared Value, nach Michael Porter, vgl. Josef Wieland 2017. Collier setzt große Hoffnung in die moralische Orientierung von Unternehmen: »Ein Unternehmen braucht einen klaren moralischen Kompass.« Collier 2019: 107. Allerdings verbindet er das mit der Hoffnung auf weitreichende Veränderungen der Unternehmensstruktur, vgl. Collier 132 ff. Seine Überlegungen bleiben vage und spekulativ. Unternehmen in der jetzt existierenden Form und in dem aktuellen Umfeld lassen sich über moralische Regeln nur sehr begrenzt beeinflussen.

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letztendlich agieren die Unternehmen an einem Markt, der die Randbedingungen für ihr Handeln vorgibt. In Zeiten sinkender Gewinne können die wertorientierten Handlungsweisen und die Formen der Verbundenheit, die in den Unternehmen entstanden sind, schnell wieder in Frage gestellt werden. Unternehmen können unter bestimmten Bedingungen gute Kristallisationskerne für neue Formen der Verbundenheit in der Form von Netzwerken sein, wie sie in Kapitel elf besprochen werden, sie können aber nicht aus sich selbst heraus diese Formen der Verbundenheit gewährleisten. Unter den gegebenen Bedingungen des hegemonialen Diskurses und auch des volatilen ökonomischen Umfeldes sind Wirtschaftsunternehmen kaum in der Lage, dauerhafte Formen zwischenmenschlicher Verbundenheit aufzubauen. Die Bedeutung der Schwächung dieser etablierten gesellschaftlichen Strukturen stellt auf längere Sicht die Stabilität moderner Gesellschaften in Frage. Dadurch unterhöhlt der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne seine eigene Grundlage. Je mehr diese Institutionen als langfristige Formen der Verbundenheit geschwächt werden, je geringer zugleich auch die diachrone Verbundenheit in der Geschichte geschätzt wird, desto eher verlieren die großen Institutionen der Gesellschaft an Bedeutung und Gestaltungskraft. Es schwinden die strukturellen Rahmenbedingungen, zwischen Menschen unterschiedlicher gesellschaftlicher Milieus verlässliche Beziehungen aufzubauen. Die mithin wichtigste Ressource, die mit den traditionellen institutionellen Strukturen der Gesellschaft verlorenzugehen droht, ist gesellschaftliches Vertrauen, das alle konflikthaltigen Aushandlungs- und Gestaltungsprozesse begleiten muss, damit nicht nachhaltige gesellschaftliche Risse entstehen. Das Vertrauen in politische Institutionen hat es in der Vergangenheit möglich gemacht, auch in krisenhaften Zeiten komplexe gesellschaftliche Prozesse voranzubringen und Entscheidungen zu treffen, die mit Zumutungen für viele verbunden waren. In einer Gesellschaft, in der Menschen sich gesellschaftlich zunächst und vor allem als Individuen behaupten, wird eine verlässliche Solidarität durch langfristig angelegte Strukturen immer unwahrscheinlicher. Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne befördert diese Prozesse nicht nur, er lässt sie auch als »natürlich« erscheinen – als einzig vernünftige Alternative einer modernen gesellschaftlichen Entwicklung. Zu der Schwächung sozialer und politischer Strukturen kommt schließlich ein Weiteres. Der Freiheitszuwachs, der durch den hege86 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Die Schwächung gesellschaftlicher Strukturen und Vereinzelung

monialen Diskurs gefördert wird, kann für immer mehr Menschen erst in Vereinzelung und dann in Einsamkeitserfahrungen umschlagen. Vereinzelung und Einsamkeit sind zunächst klar von der Individualisierung zu unterscheiden. Die meisten hoch individualisierten Menschen sind durchaus in intakten sozialen Beziehungen mit nahestehenden Menschen. Aber es gibt einen Trend, dass immer mehr Menschen vor allem in den Großstädten vereinzelt und dann schließlich auch vereinsamt leben. Vereinzelung und Gemeinschaft/Solidarformen sind reziproke Größen einer Gesellschaft. 28 Auch Vereinzelung geht noch nicht per se mit einem negativen eigenen Erleben einher, Vereinzelung ist erst einmal der Ausdruck für eine bestimmte soziale Situation. In einer Gesellschaft, die stark von Vereinzelung geprägt ist, finden sich wenige Gemeinschaften und solidarische Handlungsformen. 29 Die Vereinzelung wird zur Einsamkeit, wenn die äußeren Randbedingungen des Lebens nicht als Bereicherung und Freiheitszuwachs erlebt werden, sondern die Vereinzelung ihrerseits als ein Zwang wahrgenommen wird. 30 Dann zeigt sich ein unerfülltes elementares Bedürfnis nach Gemeinschaft. Wenn, wie zu zeigen sein wird, existentielle Verbundenheit eine notwendige, wenn nicht gar tragende Dimension menschlicher Existenz ist, dann muss der hegemoniale Diskurs, der die Unterscheidungen und Differenzen betont, zu Verkürzungen führen, die neben gravierenden gesellschaftlichen Verschiebungen auch auf existentieller Ebene spürbar Putnam hat wie schon gesagt das Verhältnis von Individualität und Gemeinschaft nicht als Gegensatz gesehen, vgl. Putnam 2000: 355. Jedoch sind Vereinzelung und Gemeinschaft sehr wohl ein Gegensatz. Vereinzelung, die zur Einsamkeit wird, ist kein Ziel des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne, sondern eher eine ungewünschte, aber scheinbar unvermeidbare Begleiterscheinung. 29 Elias betont die Bedeutung der Vermittlung der Ich-Komponente und der WirKomponente für die Gewinnung der Identität: »Die Balance zwischen Wir- und IchIdentität hat seit dem europäischen Mittelalter einen merklichen Wandel erfahren, den man aufs knappste etwa in folgender Weise kennzeichnen kann: Früher lag in der Balance von Wir- und Ich-Identität das Schwergewicht in höherem Maße auf dem ersteren. Von der Renaissance ab verlagerte sich allmählich das Schwergewicht der Balance mehr und mehr auf die Ich-Identität. (…) Die Wir-Identität der Personen, die ganz gewiß immer vorhanden blieb, wurde im Bewusstsein der Menschen nun oft durch die Ich-Identität völlig überschattet oder verdeckt.« Elias 2003: 262 f. 30 Die Formen dominanter psychischer Erkrankungen haben sich in der Spätmoderne dementsprechend gewandelt: »(…) narzisstische Persönlichkeitsstörungen (…), die durch Selbstzweifel, Gefühle der Unzulänglichkeit wie der Unmöglichkeit, den eigenen hochgesteckten Ambitionen und Idealen zu genügen«, (Koppetsch 2019: 161) stehen im Vordergrund. 28

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Eine ambivalente Entwicklung: von der Freiheit zur Vereinzelung

werden kann, nämlich dann, wenn Vereinzelung in Einsamkeit umschlägt. Für nicht wenige Menschen ist die Erinnerung früherer Stärke von repräsentativen Institutionen wie Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen mit einer gewissen Melancholie verbunden. Wir befinden uns in einer Übergangsphase. Die gesellschaftlichen Strukturen der Vergangenheit greifen nicht mehr, zugleich sind zukünftige nur schwach erkennbar. Ein Weg zurück in den alten Zustand ist nicht möglich. Hier ähnelt die Entwicklung dem physikalischen Gesetz der wachsenden Entropie. Es ist viel leichter, einen geordneten Zustand in einen ungeordneten zu überführen, als einen ungeordneten in eine neue Ordnung. Letzteres bedarf auf der Vergleichsebene der Physik einer Zufuhr von sehr viel äußerer Energie, damit eine neue Ordnung entsteht. Wahrscheinlich haben wir eine solche eher mühevolle Zeit des Aufbaus auch in der sozialen Welt vor uns. Dies soll auch der Vergleich der Jahre 1820 und 2020 als Stellvertreter für Epochen im siebten Kapitel nahelegen: Wie 1820 steht auch 2020 eine Zeit bevor, in der neue Formen der Verbundenheit gebildet werden. Es sollte nach den bisherigen Ausführungen deutlich geworden sein, dass die kritischen Argumente gegenüber dem hegemonialen Diskurs der Spätmoderne nicht mit einem kurzschlüssigen moralischen Urteil zu verwechseln sind. Der hegemoniale Diskurs ist Ausdruck einer langfristigen historischen Entwicklung und verwoben mit komplexen politischen, wirtschaftlichen und technischen Prozessen. Eine Reduktion auf moralische Beurteilung individuellen Fehlverhaltens würde geradezu die Rahmenvorgaben des hegemonialen Diskurses bestätigen, innerhalb dessen immer schnell die Frage nach dem Handeln einzelner Akteure gestellt wird, die für die Entwicklung verantwortlich sein sollen. Um den Raum für Alternativen entdecken zu können, müssen zunächst die Grundüberzeugungen des hegemonialen Diskurses kritisiert werden. Die Betonung der Differenzen, die Fixierung auf das Individuum und die Gegenwart verzerrten die Wirklichkeit. Die folgenden drei Kapitel vier bis sechs widmen sich einer leibphänomenologischen Kritik der Grundüberzeugungen des hegemonialen Diskurses. Hier geraten die Dimensionen von Verbundenheit in den Blick, deren Ausgestaltungen unter unterschiedlichen Bedingungen dann in den Kapiteln acht bis elf auf ihre Zukunftspotentiale geprüft werden.

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4. Die Bedeutung existentieller Verbundenheit

Zurzeit deutet sich keine Veränderung in dem Prozess der Auflösung gesellschaftlicher Institutionen an. Es ist offenkundig, dass eine einfache Rückkehr zu den vertrauten gesellschaftlichen Strukturen der Vergangenheit, wie es die populistischen Strömungen anstreben, nur um den Preis möglich ist, dass auch die unbezweifelbaren Errungenschaften des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne verloren gehen. Könnte es also sein, dass der Weg der Auflösung gesellschaftlicher Strukturen unaufhaltsam weiter geht? Nun gibt es aber tatsächlich eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich in absehbarer Zeit Gegenbewegungen gegen den Trend des hegemonialen Diskurses entwickeln werden. Denn der hegemoniale Diskurs führt nicht nur zu einer Instabilität gesellschaftlicher Verhältnisse, er übersieht mit seiner einseitigen Betonung des Individualismus auch fundamentale Bedingungen menschlicher Existenz. Diese Auslassung kann nicht auf Dauer bestehen, und das Verdrängte wird sich in der einen oder anderen Weise artikulieren. Es ist nicht so, dass diese Einseitigkeit des hegemonialen Diskurses unbeobachtet bliebe. Viele Stimmen wenden sich gegen seine Grundüberzeugungen und suchen neue Wege jenseits ihrer. Einige sind schon genannt worden, etwa Elias, Taylor, Mouffe. Sehr instruktiv ist der Vorschlag von Axel Honneth, die Freiheit mit sozialer Bindung zu ergänzen, Solidarität und Freiheit stärker aufeinander zu beziehen, ein Konzept, das er, Hegel interpretierend, »soziale Freiheit« nennt. 1 Honneth schlägt unter Bezugnahme auf Hegel ein umfassendes Konzept einer sozialen Freiheit vor, in der die Individualität und die sozialen Belange zugleich Berücksichtigung finden: »Das Lösungswort (…) lautet ›soziale Freiheit‹ ; demzufolge können menschliche Wesen ihre individuelle Freiheit in den für sie wichtigsten Belangen allgemein geteilter Bedürfnisse nicht je für sich alleine realisieren, sondern sind dabei auf Beziehungen untereinander angewiesen (…), dazu gehört an vorderster Stelle eine wechselseitige Anteilnahme, wie sie nur in solidarischen Gemeinschaften gegeben ist (…).« Honneth 2015: 51. Ausführlich Honneth 2011.

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Die Bedeutung existentieller Verbundenheit

Die folgenden Überlegungen berufen sich auf einen alternativen Ansatz, die Analyse der leiblichen Existenz des Menschen der Philosophen Maurice Merleau-Ponty und Bernhard Waldenfels. Die Beschreibung der leiblichen Existenz weist über den Rahmen des hegemonialen Diskurses hinaus. Menschen sind als leibliche Wesen dazu befähigt, sich zu individualisieren, aber sie sind niemals nur und auch nicht zuerst Individuen. Das, was der Ansatz beim ausdifferenzierten Individuum unterschlägt, ist die durch die leibliche Existenz immer schon vorgängige Verbundenheit der Menschen untereinander und die Verbundenheit zu der umgebenden Wirklichkeit. Menschen sind miteinander verbundene Wesen, nur auf der Grundlage dieser Verbundenheit können sie sich auch individualisieren. Die Individualisierung ist eine große kulturelle und geschichtliche Errungenschaft, aber der Erfolg dieser Option darf nicht die Bedingungen dieser Existenz vergessen lassen. Die existentielle Verbundenheit ist grundlegend und fordert auch in einer Gesellschaft individualisierter Menschen starke und dauerhafte Ausdrucksformen. Wenn eine Gesellschaft prägende Formen der Verbundenheit nicht mehr ausarbeiten kann, gefährdet sie sich selbst. In diesem Kapitel soll es zunächst darum gehen, genauer zu bestimmen, was mit existentieller Verbundenheit gemeint ist. Das fünfte Kapitel beschreibt dann das vielschichtige Verhältnis von existentieller Verbundenheit und den Formen der Verbundenheit. Beide sind zu unterscheiden, ohne dass sie getrennt werden könnten. Das sechste Kapitel stellt die Formen der Verbundenheit in einen gesellschaftlichen und geschichtlichen Kontext. Welche Formen der Verbundenheit können sich ausbilden, die dauerhafte Antworten auf die stets möglichen Erfahrungen existentieller Verbundenheit sind? Die existentielle Verbundenheit ist einerseits grundlegend, andererseits aber nicht leicht zu entdecken. Wenn der hegemoniale Diskurs den Fokus ganz auf die Differenz legt, gerät sie völlig aus dem Blick. Jedoch endet durch diese Ignoranz nicht ihre untergründige Wirkmächtigkeit. Grundlegende Intuitionen menschlichen Zusammenlebens, die sich in der Liebe, im Vertrauen, in der Treue und in der Hoffnung zeigen, belegen die Wirkkraft der existentiellen Verbundenheit. Zunächst muss es hier darum gehen, sie als die Quelle aller Formen der zwischenmenschlichen Verbundenheit wieder freizulegen. Dies ist möglich mittels einer phänomenologischen Betrach-

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Die Bedeutung existentieller Verbundenheit

tung des menschlichen Leibes. 2 Die philosophischen Arbeiten von Maurice Merleau-Ponty und Bernhard Waldenfels bieten wichtige Einsichten, die verständlicher machen können, was mit dem auf den ersten Blick undeutlichen Begriff »existentielle Verbundenheit«, den »Formen der Verbundenheit« und dem Verhältnis zwischen beiden gemeint ist. 3 Diese phänomenologischen Positionen fügen sich in eine breite Phalanx philosophischer Positionen ein, die aus unterschiedlichen Gründen jenen Vorstellungen widersprochen haben, die heute im hegemonialen Diskurs der Spätmoderne im Mittelpunkt stehen, vor allem der Aussage, dass der Mensch ein sich selbst bestimmendes Individuum sei. Die Gegenentwürfe machen sogar einen größeren Teil der Philosophiegeschichte der Neuzeit aus. Hier sind unter anderem Philosophen wie Pascal, Herder, Hamann, Humboldt, Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger, der späte Wittgenstein neben vielen anderen zu nennen. Auch im 20. Jahrhundert hat die weit überwiegende Zahl von Philosophinnen und Philosophen eine kritische Position zu den Vorstellungen des Individualismus eingenommen. Dabei argumentierten sie aus sehr unterschiedlichen Richtungen: Etwa aus der progressiv ausgerichteten Perspektive der Frankfurter Schule oder aus der Perspektive jener Arbeiten, die sich auf Martin Heidegger berufen, aus der Perspektive der Sprachphilosophie oder auch des Strukturalismus und natürlich aus der Perspektive der gegen Ende des 20. Jahrhunderts aufkommenden Postmoderne. In all diesen Ansätzen wurde und wird die Vorstellung von dem sich selbst bestimmenden Individuum mit unterschiedlichen Argumenten in Frage gestellt. Die Argumentation der folgenden Kapitel basiert unter anderem auf den Ergebnissen der Untersuchung: »Identität in einer offenen Wirklichkeit. Eine Spurensuche im Anschluss an Merleau-Ponty, Ricœur und Waldenfels«, vgl. Vogelsang 2014 (2). Die existentielle Verbundenheit lässt im Schema des Chiasmus der Erscheinungsweise X zuordnen, die Formen der Verbundenheit dagegen den Erscheinungsweisen »Kultur«. 3 Besonders hervorzuheben ist im phänomenologischen Umfeld auch der Ansatz von Jean-Luc Nancy, der mit großem Aufwand und Vorsicht die Bedingungen menschlicher Gemeinschaft zu erschließen versucht. Im Mittelpunkt seiner Untersuchungen steht der Begriff der Mit-Teilung, der eine Nähe zu dem hier verwendeten der Verbundenheit hat: »(…) ›die Gemeinschaft‹ bezeichnet die Tatsache einer unablässigen Mit-Teilung, die nichts Gegebenes teilt, sondern zusammenfällt mit der Bedingung des Ausgesetztseins. Diese Bedingung aber war im Grunde für mich die Umschreibung der Ek-sistenz bei Heidegger und seinem aus-sein, eines ›aus‹, das jedem ›in‹, jeder Geschlossenheit einer Subjektivität nach dem klassischen Schema eines Selbstbewusstseins (…) vorausgeht.« Nancy 2017: 25. 2

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Auch in der Soziologie fand die These, der Mensch sei zunächst einmal ein Individuum, sehr vielfältige und differenzierte Kritik. 4 Warum haben diese vielfältigen philosophischen und soziologischen Einsprüche nicht tiefergreifende Spuren in der kulturellen und sozialen Realität der Gesellschaft und ihrer alltäglichen Kultur hinterlassen? Die Tradition, in der der hegemoniale Diskurs steht, war und ist offenkundig aus unterschiedlichen Gründen so stark im kulturellen Selbstverständnis der Gesellschaft verankert, dass die Einsprüche keine oder eine nur begrenzte Wirkung entfalten konnten. Eine besondere Stärke des hegemonialen Diskurses liegt in seiner Anschlussfähigkeit an die wichtigsten Entwicklungen moderner Gesellschaften, an die zahlreichen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und Entdeckungen, an die Deutung wirtschaftlicher Prozesse und an die sozialen Folgen technischer Entwicklungen. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen den Menschen je als ein besonderes Exemplar seiner Gattung. Seine körperliche, von Natur aus gegebene Ausstattung unterstreicht offenkundig die Individualität und Einzigartigkeit eines jeden Menschen. Die Anatomie fand hochindividuelle Kennzeichen des menschlichen Körpers, im 19. Jahrhundert etwa die Individualität der Fingerabdrücke. Die Biologie entdeckte im 20. Jahrhundert die Erbsubstanz der DNS und damit den biologischen Beleg für die eindeutig zu bestimmende Besonderheit eines jeden einzelnen Menschen. 5 In der populärwissenschaftlichen Interpretation verbreitete sich die Vorstellung, dass die Gene die Eigenschaften eines Menschen zu einem erheblichen Teil von Geburt an prägen. Die Hirnforschung hat in dem späten 20. Jahrhunderts viele Belege für den je individuellen Aufbau menschlicher Gehirne gefunden. In der Geschlechterforschung löst sich durch eine Vielzahl neuer Kenntnisse die Dualität der Geschlechter immer mehr auf. Menschen sind nach naturwissenschaftlichen Analysen von Geburt an einzigartige körperliche Wesen mit Eigenschaften, die sie von allen anderen unterscheiden. Jenseits des Einflusses der Naturwissenschaften operieren andere wissenschaftliche Theorien wie etwa die Ökonomie mit der Annahme von selbstbestimmten Individuen. Wirtschaftliche Prozes-

Hans Joas hat durch die Rezeption der Philosophie von George Herbert Mead den Vorrang des Sozialen vor der Ich-Entwicklung betont, etwa Joas 1989: 16 f. 5 Dominant ist dieser Aspekt etwa in der Frage nach dem »wahren Vater«, wenn sich herausstellt, dass der soziale Vater nicht der Erzeuger ist. Oft überwiegt dann das Interesse an der genetischen Abstammung. 4

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se lassen sich unter dieser Voraussetzung modellieren, ohne auf Formen der Verbundenheit der Menschen außerhalb des Marktgeschehens eingehen zu müssen. Sollten Formen der Verbundenheit jenseits des Marktes dominant werden, werden sie als Verzerrungen und Störungen des Marktgeschehens problematisiert. 6 Die Anschlussfähigkeit der Grundüberzeugungen des hegemonialen Diskurses an eine Vielzahl von wissenschaftlichen Erkenntnissen ist offenkundig hoch, und das gibt ihnen eine große Plausibilität. Die Alternative, die bei der leiblich bedingten existentiellen Verbundenheit ansetzt, muss deshalb einerseits die Differenz zu dem Diskurs markieren können, zugleich aber auch in der Lage sein, eine ebenso große Anschlussfähigkeit an moderne Erkenntnisse und gesellschaftliche Verhältnisse bereitzustellen. Diese Forderung wird aber von vielen der oben genannten philosophischen Alternativen und Einsprüche oft nicht erfüllt. Diese setzen eher gegenüber dem wissenschaftlichen Erkennen ein Gegenprogramm, sie verstehen sich nicht als eine notwendige Ergänzung. 7 Wie kann man der existentiellen Verbundenheit auf die Spur kommen? Dies setzt zunächst einmal voraus, dass die Grundüberzeugungen des hegemonialen Diskurses, die als »natürliche« Einstellung in unsere Alltagswelt übergegangen sind, außer Kraft gesetzt, »eingeklammert« werden, wie Edmund Husserl, der Inaugurator der Phänomenologie, das genannt hat. 8 Die Grundüberzeugungen des hegemonialen Diskurses korrespondieren nicht einfach mit natürlichen Gegenständen, etwa mit dem, was der Mensch nun einmal von Natur aus ist, sie bringen im Gegenteil eine kulturell hoch voraussetzungsreiche Weise der Sicht auf den Menschen und die Welt zum Ausdruck, die ihrerseits einen großen Schatten wirft. Manches gerät in

Sie werden in der Regel dann als Quellen von Intransparenz beschrieben, etwa bei starken familiären Bindungen in Clans, in mafia-ähnlichen Strukturen oder in ethnischen Differenzen. 7 Es ist möglicherweise gerade ein Problem vor allem der Theorien der Postmoderne, dass sie vor allem einen Kontrapunkt gegen zentrale Annahmen des hegemonialen Diskurses setzen wollten, ohne auf die Fähigkeit zur Vermittlung mit dem Alltag von modernen Gesellschaften und mit anderen Wissenschaften zu achten. In ihrem Widerspruch sind sie wichtig, aber das allein kann noch keine gestaltende Kraft entwickeln. 8 Die Grundüberzeugungen werden »eingeklammert« so wie bei Husserl die Überzeugungen der »natürlichen Einstellung«, vgl. Husserl 1913: 56. 6

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den Fokus der Aufmerksamkeit, vor allem all jene Eigenschaften des Menschen, die seine Differenzierung zu anderen fördern, vieles aber fällt in das umgebende Dunkel. Dieses Dunkel gilt es nun auszuleuchten. Menschen aus Kulturen anderer Länder haben es bei der Spurensuche oft leichter, weil dort die Prämissen des hegemonialen Diskurses nicht ohne weiteres gelten. Worum es bei der existentiellen Verbundenheit geht, manifestiert sich bei ihnen etwa in der Bedeutung, die der »Ehre« in Kollektiven oder der Scham über Regelverletzungen in Kollektiven. Diese Phänomene kennzeichnen ganz sicher keine vorbildlichen sozialen Konstellationen, sie verletzen oft die Autonomie der Menschen und haben oft repressive Wirkungen. Es geht hier aber zunächst einmal nicht um eine Bewertung, sondern um den Versuch, offenzulegen, was durch den hegemonialen Diskurs verborgen bleibt: die existentielle Verbundenheit. Auch in modernen Kulturen kann man Hinweise auf das in den Schatten Gefallene finden, etwa in der Hochschätzung von zwischenmenschlicher Liebe und Treue, in der Bedeutung von Zuverlässigkeit, in dem Eintreten füreinander, auch wenn es Nachteile mit sich bringt bis hin zu einer weltweiten Solidarität, in dem, was Familien zusammen hält und was Familien auch heute als Wunschgröße erscheinen lässt und schließlich auch in dem, was daran erinnert, dass wir mit der uns umgebenden Natur vielleicht stärker verbunden sind, als es die Modelle der modernen Wissenschaften nahelegen. Diese ersten Hinweise zeigen schon: Die Berücksichtigung der existentiellen Verbundenheit führt nicht notwendigerweise zu einem festen sozialen Konzept, vielmehr können sie sich in unterschiedlichen Kulturen sehr unterschiedlich ausprägen. Die Varianz von Formen, in denen sich die existentielle Verbundenheit ausdrückt, ist hoch. Mit seiner philosophischen Orientierung an der leiblichen Existenz des Menschen gelingt es Merleau-Ponty, auf gerade jene Dimensionen der Wirklichkeit aufmerksam zu machen, die im hegemonialen Diskurs verschattet sind. Der philosophische Ansatz hat darin einen erheblichen Vorzug, dass er einerseits in der Lage ist, der Verbundenheit Ausdruck zu geben und andererseits zugleich eine Haltung der wissenschaftlichen Distanzierung bestätigen kann. Die Vermittlung zwischen diesen beiden, einander entgegengesetzten Haltungen der Welt gegenüber wird durch eine phänomenologische Analyse der leiblichen Existenz möglich. Merleau-Ponty selbst gebraucht den hier verwendeten Begriff der »Verbundenheit« nicht. Die von ihm in seinem Spätwerk gebrauchten Begriffe lauten »Ver94 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

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flochtenheit« (entrelacement) 9, »Fleisch« (chair) 10 oder Chiasmus/ Chiasma 11. Diese Begriffe weisen auf ein dynamisches Geschehen, das den Leib bestimmt und das sich nicht einer übergreifenden Ordnung fügt. Es ist nicht ohne Risiko hier nun den Begriff »Verbundenheit« zu nutzen, denn im verbreiteten Alltagsverständnis gebraucht man den Begriff anders. Die Bilder, die aus der Alltagswelt zur Verfügung stehen, um Verbundenheit deutlich zu machen, sind von einer Reihenfolge bestimmt: In der Regel ist da zuerst etwas isoliert Existierendes, was dann eine Verbindung zu anderem eingeht. Menschen können in der Ehe eine Verbindung eingehen, sie können einem Verein beitreten, sich in der Nachbarschaft engagieren. Entscheidend ist hier jeweils: Das Unverbundene ist vorgängig und wäre im Wesentlichen in seiner Existenz nicht gefährdet, wenn es die Verbindung nicht einginge. Das Verbundene ist zusammengesetzt aus seinen einzelnen Teilen. Etwas zu verbinden ist ein aktiver Vorgang. Verbundenheit ist auch im Rahmen des hegemonialen Diskurses ein Zustand, den man aktiv bejaht. Im sozialen Kontext ist das Paradigma schlechthin die Freundschaft. Aber die aktive Verbindung von zuvor Unverbundenem ist gerade nicht gemeint, wenn es hier unter den Vorgaben der Leibtheorie von Merleau-Ponty um Verbundenheit gehen soll. Die existentielle Verbundenheit ist vielmehr gerade das, was immer schon da ist und was jeder Trennung vorangeht.

1.

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Wie kann man das Gemeinte verdeutlichen? Maurice Merleau-Ponty wählt in der frühen Phase seiner Philosophie den Zugang zum Leib, indem er zurückblickt auf die Anfänge der Neuzeit, vor allem auf die Philosophie von René Descartes. Hier sind jene Unterscheidungen und Trennungen erstmals klar artikuliert, die das Erkennen der Neu»(…) erklärt sich mein reflexiver Zugang zu einem universellen Geist aus der Verflochtenheit meines Lebens mit dem anderen Leben, meines Leibes mit den sichtbaren Dingen (…).« Merleau-Ponty 1964: 73 10 »Die gesehene Welt ist nicht ›in‹ meinem Leib, und mein Leib ist letztlich nicht ›in‹ der sichtbaren Welt: als Fleisch, das es mit einem Fleisch zu tun hat (…). Es gibt ein wechselseitiges Eingelassensein und Verflochtenheit des einen ins andere.« MerleauPonty 1964: 182. 11 »Das Chiasma ist nicht nur Austausch Ich-Anderer (…), es ist auch Austausch zwischen mir und der Welt (…).« Merleau-Ponty 1964: 274. 9

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zeit im Folgenden prägen werden. Die Unterscheidungen, die Descartes einführt, helfen zu verstehen, was Merleau-Ponty mit seinem Leibbegriff intendiert, denn er will auf das verweisen, was durch die Unterscheidung gerade verloren geht. Die philosophische Großtat von Descartes war es, Unterscheidungen einzuführen, die eine genauere Analyse des Unterschiedenen möglich machten. Das, was vorher nur zusammen gedacht wurde, trennte Descartes. Das ursprünglich Verbundene wurde von ihm durch eine Unterscheidung neu strukturiert. Diese Unterscheidung ist uns heute so geläufig, dass wir die Verbundenheit nur rückgewinnen können, indem wir sie wiederum negieren. In gewisser Weise kann also die Verbundenheit nicht direkt wieder in den Blick geraten, sondern nur als Negation der Negation von Verbundenheit. Descartes beschrieb den Menschen als aus zwei Substanzen bestehend, der res cogitans, einer raumlosen denkenden erkennenden Substanz und der res extensa, jener räumlichen Substanz, aus der unser materieller Körper besteht. 12 Diese Unterscheidung Descartes’ wirkt stark in den Auffassungen des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne nach. Denn der Körper ist es, der jeden Menschen von Natur aus und von Beginn an individualisiert. Eine radikale Verbundenheit denkt Descartes allerdings auch, sie ist durch die Vernunft als denkender Substanz gegeben. So findet sich bei Descartes die Dualität eines körperlichen Individuums als Letztgröße und der Vernunft als geschichtsenthobener handlungs- und erkenntnisleitender Größe. Merleau-Ponty negiert diese Unterscheidung. Der Leib in seinem Verständnis zeigt an, dass sich der Mensch nicht durch voneinander getrennte Substanzen beschreiben lässt. Er weist auf das, was sich dieser Unterscheidung entzieht. Der Leib steht gerade dafür, dass die beiden von Descartes unterschiedenen Substanzen nie unverbunden existieren, das beide Seiten Abstraktionen aus einem ursprünglichen Geschehen sind. Damit weist der Begriff Leib auf etwas anderes als der Begriff Körper. Die deutsche Sprache macht es möglich, die Unterscheidung mit »Leib« und »Körper« sprachlich auszudrücken. 13 Das Problem ist, dass die Verbundenheit, dass das ur-

Descartes 1641: 80. Hier wird vor allem die Vorstellungen von Descartes genannt, wie sie in der Neuzeit geschichtlich einflussreich wurden. Ob Descartes nicht differenzierter ausgelegt werden muss, kann an dieser Stelle offen bleiben, vgl. aber auch Cottingham 2007: 127 ff. 13 Das ist nicht unbedingt in anderen Sprachen auch gegeben. Im Französischen muss 12

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sprüngliche Geschehen des Leibes nicht direkt zugänglich ist. Es lässt sich in keinem Modell fassen oder anschaulich machen. Ein erster Zugang zum Leib ist für Merleau-Ponty dadurch möglich, dass man nicht so sehr auf das Denken oder den materiellen Körper achtet als auf den Vorgang der Wahrnehmung. 14 Die Wahrnehmung ist ja gerade dadurch bestimmt, dass es einen Kontakt gibt, dass sich zwei Seiten aufeinander beziehen. Eine Wahrnehmung ist nur dann möglich, wenn es irgendeine Form der Verbundenheit zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen gibt. Der Leib gehört als Wahrnehmender einer dritten Dimension zwischen dem Materiellen und dem Bewusstsein zu, das man aber nicht direkt beschreiben kann. Der Weg, den Merleau-Ponty in der frühen Phase seiner Philosophie einschlägt, erfordert das Schwanken zwischen den zwei sich gegenseitig ausschließenden Zugängen, der Vernunft auf der einen Seite und den körperlichen Vorgängen auf der anderen Seite. Dieses Schwanken zwischen den Zugängen hat Merleau-Ponty später ›schlechte Ambiguität‹ genannt. Zunächst sieht er etwas aus einer Perspektive und relativiert es gleich wieder durch eine Beschreibung der anderen Perspektive. In seiner späten Philosophie sucht er einen neuen Ansatz, indem er gleich bei dem Gesuchten in der Mitte ansetzt. Da das Verbundene, der Leib in diesem Sinne, nicht klar vor Augen tritt, nutzt er gewagte Metaphern, um darauf aufmerksam zu machen. Merleau-Ponty nennt diese Zone das »rohes Sein« 15, das sich keiner distinkten Ordnung fügt, er nannte es auch »Verflochtenheit«, »Fleisch« oder »Chiasmus«. Ein eingängiger Selbstversuch, sich dieser unanschaulichen Dimension des Leibes zu nähern, stammt von Edmund Husserl; Merleau-Ponty hat ihn später aufgegriffen: 16 Die rechte Hand berührt und ertastet die linke Hand. Man kann die Situation beschreiben, indem man von einer Unterscheidung ausgeht, der Unterscheidung von Subjekt und Objekt. Die beiden Hände befinden sich zunächst einmal auf den unterschiedlichen Seiten der fundamentalen Differenz: Die rechte Hand gehört zu dem Subjekt, dass die Welt erkundet, die linke Hand gehört zu der zu erkundenden Welt, zum Objekt. sich Merleau-Ponty mit Adjektiven behelfen, während »corps« für den Körper steht, so »corps propre« für den Leib. Vgl. Merleau-Ponty 1945: 96. 14 Das zentrale Frühwerk von Merleau-Ponty trägt den Titel »Phänomenologie der Wahrnehmung«: Merleau-Ponty 1945. 15 Merleau-Ponty 1964: 133. 16 Vgl. Merleau-Ponty 1945: 118.

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Doch ist der Leib weder der einen noch der anderen Seite eindeutig zuzuordnen! Man kann ja im Nu die Richtung wechseln, dann untersucht die linke Hand die rechte Hand. Der Leib gehört in gewisser Weise auf beide Seiten oder auf keine der voneinander unterschiedenen Seiten. Insofern steht der Leib für das, was der Unterscheidung vorausgeht, er ist ein Hinweis auf das, was mit der existentiellen Verbundenheit gemeint ist. Er zeigt sich als eine Zwischenbestimmung, die weder so recht dem Subjekt, noch dem Objekt zugeordnet werden kann. Der Leib steht für eine untergründige Verbundenheit beider Seiten, beide sind für die Identität des Menschen wichtig. Es gibt allerdings noch andere Wege, der existentiellen Verbundenheit auf die Spur zu kommen. Diese Wege führen an die Ränder des Lebens, an den Lebensanfang und das Lebensende oder zu schweren Krankheiten. Erfahrungen der Kindheit zeigen in die Richtung, in der existentielle Verbundenheit am ehesten aufscheinen kann. Dort gibt es noch keine klare Unterscheidung, weder zu den Dingen aus der unmittelbaren Umwelt noch zu den vertrauten nächsten Menschen. 17 Diese Verbundenheit lässt sich schwer in Worte fassen, es gibt nur diffuse autobiographische Erinnerungen und komplexe Experimente mit kleinen Kindern, die zeigen, wie sich im Laufe der Zeit unterscheidende Verhältnisse bilden. Erst mit mehrjähriger Verzögerung nach der Geburt wächst die Fähigkeit, sich als ein eigenständiges soziales Gegenüber im Miteinander mit anderen Menschen zu erfahren. Hierzu ist die Aufnahme von kulturellen, durch andere Menschen vermittelten Fähigkeiten notwendig. Menschen werden in Sprachgemeinschaften aufgenommen, die sie nur durch die Vermittlung anderer Menschen erlernen konnten. Die Sprache ist die wichtigste Voraussetzung und das wichtigste Medium jeder Individualisierung. 18 Nun ist es eine zentrale Aussage der phänomenologischen Leibtheorie, dass die ungeschiedenen Verhältnisse am Ende der Kindheit einfach aufhören. Die Verbundenheit, die in der Kindheit aufscheint, bleibt kontinuierlich eine Dimension menschlicher Existenz. Wenn man die Welt selbstvergessen allein als distanzierter Beobachter beschreibt, dann gibt es keinen Anlass auf diese existentielle Verbundenheit mit der umgebenden Welt aufmerksam zu werden. »Es ergibt sich ein System mit zwei Gliedern – mein Verhalten, – das Verhalten des Anderen, die ein Ganzes konstituieren.« Merleau-Ponty 1994: 313. 18 Aber sie ist zugleich eine Ressource zur Bestimmung einer komplexen kulturellen Zugehörigkeit: »Wir werden mitten im »Wir« geboren, wobei wir nach und nach die Logik unserer Zugehörigkeiten entdecken (…).« Garcia 2018: 75. 17

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Man betrachtet die Welt, die vor einem liegt, man versucht die Dinge, auf die man aufmerksam wird, zu bestimmen und zu nutzen. Die Dinge geben keinerlei Hinweis auf die Notwendigkeit, nach einer Verschränkung des Beobachterstandpunktes mit der Wirklichkeit zu suchen. Doch verkennt ihre Haltung die Erkenntnisbedingungen, unter denen wir überhaupt mit der Welt in Kontakt sein können. Menschen sind keine weltlosen Geister, sie haben keine Position, die die Welt im Überflug betrachten kann, vielmehr sind sie mitten in die Welt eingelassen, sie sind Teil von dem, was sie verstehen wollen. Menschen sind nicht ein Gegenüber zur Welt, sondern als leibliche Wesen voll und ganz in die Wirklichkeit eingetaucht, mit ihr verwoben, mit ihr existentiell verbunden. Und doch sind sie auch nicht einfach nur ein Teil der Wirklichkeit, sondern haben die Fähigkeit, sich zu distanzieren, die Welt mit einem Abstand zu betrachten. Allerdings ist in dieser schwer zu greifenden Verbundenheit gerade eben auch die Fähigkeit zur Unterscheidung, zur Trennung angelegt; die Wirklichkeit kann zu einem Gegenüber werden. Der Leib ist derjenige, der zugleich Subjekt und Objekt ermöglicht und ihre Verbindung darstellt. Die Unterscheidung ist die Grundlage für die Entwicklung der modernen Kultur und auch für das Abenteuer des wissenschaftlichen Erkennens in der Neuzeit. Es ist gerade die Stärke des Ansatzes von Merleau-Ponty, dass er mit seinem Ansatz bei der leiblichen Existenz einerseits einen gravierenden Einwand gegen eine naturwissenschaftliche Reduktion des Menschen- und Weltbildes formulieren kann, dass er aber zugleich andererseits ebenso die Entwicklung zur wissenschaftlichen Forschung nachvollziehen kann. Denn wenn die ursprüngliche Verbundenheit sich gerade durch die Negation der Trennung und Unterscheidung zeigt, dann muss die Unterscheidung ja auch möglich sein. Die Bedeutung wissenschaftlicher Erforschung der Welt ist unbestreitbar, und jeder theoretische Ansatz, der den hegemonialen Diskurs mit seiner Bevorzugung der Individualität relativieren möchte, muss auch dessen genuine Stärke zum Ausdruck bringen können. Merleau-Ponty selbst war sich der Problematik bewusst, er hat in seinen letzten Lebensjahren viel Arbeit auf eine Philosophie der Natur und damit auch der Naturwissenschaft verwendet. 19 Eine ausführlichere Darstellung dieser Fähigkeit des Ansatzes von Merleau-Ponty ist an anderer Stelle erfolgt, der

19

Vgl. Merleau-Ponty 2000.

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Die Bedeutung existentieller Verbundenheit

Schwerpunkt hier liegt nicht auf der Wissenschaftstheorie, sondern auf der politischen Theorie. 20

2.

Der Urgrund des Sozialen: die Zwischenleiblichkeit

Ein Körper ist jederzeit aus einem gegebenen sozialen Kontext isolierbar, ein Leib ist es nicht. Das unterscheidet den Leib vom Körper. Während ein Individuum durch einen bestimmten Körper an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit repräsentiert wird, entzieht sich die leibliche Verbundenheit mit anderen Menschen einem solchen frontalen, objektivierenden Blick. Die Philosophie von Merleau-Ponty umschreibt den Kern des sozialen Geschehens, nähert sich ihm in gewisser Weise lateral, von der Seite her. 21 Dem frontalen Blick zeigen sich die Verhältnisse, als gäbe es in dem Raum zwischen zwei individuellen Körpern nichts, was sie verbinden würde. Danach wären die beiden individuellen Körper erst einmal auf sich gestellt, müssten aus sich heraus verstanden werden, bevor man darüber nachdenkt, wie ihre Verbundenheit gestaltet werden könnte. Diese Vorstellung prägt den hegemonialen Diskurs der Spätmoderne. Wie kann man mit dem leiborientierten Ansatz die soziale Verbundenheit, die Verbundenheit zwischen Menschen, neu deuten? Lässt sich die Verbundenheit, die sich aus dem Verhältnis des Leibes zu der Wirklichkeit ergibt, auch auf das Verhältnis zu anderen Menschen in analoger Weise übertragen? Für diese Verbundenheit eines Menschen mit anderen Menschen hat Merleau-Ponty einen eigenen Ausdruck geformt, den der »Zwischenleiblichkeit«. Den Begriff erläutert er als Modifikation jenes Experiments, wo die rechte Hand die linke ertastet. Nun greift die rechte Hand nicht die eigene linke Hand, sondern die eines anderen Menschen, eines Gegenübers. Die bisherigen Untersuchungen einer offenen Wirklichkeit, haben den Begriff des »Chiasmus« in den Mittelpunkt gestellt, vgl. Vogelsang 2014 (1); Vogelsang 2014 (2); Vogelsang 2016. Der Chiasmus, gedeutet als ein Schema zweier sich überkreuzender Linien wie das X, ermöglicht die Existenz unterschiedlicher Zugänge zur Wirklichkeit zu beschreiben. Es gibt unterschiedliche Erscheinungsweisen der Wirklichkeit, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen. Das Schema steht im Hintergrund der Überlegungen hier, es bietet eine weitaus differenziertere Analyse dessen, was hier mit dem Begriff »Verbundenheit« zum Ausdruck gebracht wird. 21 Merleau-Ponty spricht des Öfteren von einem lateralen Zugang, etwa MerleauPonty 1964: 287. 20

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Der Urgrund des Sozialen: die Zwischenleiblichkeit

»Wenn mir das Dasein eines Anderen dadurch evident ist, dass ich ihm die Hand drücke, so deshalb, weil sie sich an die Stelle der linken Hand setzt. (…) Der Andere erscheint durch eine Ausdehnung dieser, er und ich sind wie die Organe einer einzigen Zwischenleiblichkeit (intercorporéité).« 22 Der Andere ist dann nicht nur ein Gegenüber, sondern zugleich auch eine Erweiterung des eigenen Leibes. Der Leib wird auf diese Weise erweitert, er endet nicht einfach an der Oberfläche der Haut. Das tat er auch bei der bisherigen Analyse des eigenen Leibes nicht, da ja schon das Denken, das cogito, das der Leib immer auch erfasst, als raumloses Etwas nicht eindeutig einem begrenzten Körper zugeschrieben werden kann. Die Zwischenleiblichkeit zeigt nun, dass das, was wir als Leib erleben, also das, was sowohl an der Subjektivität wie auch an der Objektivität Teil hat, immer schon mit anderen Leibern verbunden ist. Sie entstammen derselben Ekstase, Zwischenleiblichkeit genannt. Eine soziale Konstellation von Menschen lässt sich nicht durch Abstraktion auf eine Vielzahl von individualisierten Körpern reduzieren. Die Zwischenleiblichkeit weist auf eine immer schon gegebene soziale Verbundenheit menschlicher Existenz. 23 Der Begriff der Zwischenleiblichkeit meint deshalb nicht jene zusätzliche Verbindung, die entsteht, wenn sich etwa zwei Menschen begegnen und sich bewusst zueinander verhalten. Die Zwischenleiblichkeit ist als grundlegendes Konzept von Sozialität zu unterscheiden von der Freundschaft. Letztere legt nah, dass eine soziale Bindung möglich, aber nicht notwendig ist. Freundschaften geht man ein. Die Zwischenleiblichkeit dagegen weist auf das, was immer schon da ist. Sie deutet jenen schwer zu fassenden Zustand, in dem wir immer schon sind, bevor wir die besondere Zuwendung zu einem anderen Menschen aktiv gestalten können. Die soziale Welt der zwischenmenschlichen Verhältnisse ruht auf dieser Zwischenleiblichkeit, damit sich überhaupt erst bewusst gestaltete Differenzierungsprozesse ereignen können. Ebenso ist die Zwischenleiblichkeit von der Anerkennung zu unterscheiden. Die Fähigkeit zur Anerkennung ist ein hohes soziales Merleau-Ponty 1959: 256. Nancy setzt in ähnlicher Weise seinen Begriff der Mit-Teilung: »Es handelt sich um die Sorge unserer Zeit in Bezug auf das, was die Gemeinsamkeit unserer Existenzen betrifft: um das, was bewirkt, dass wir nicht in erster Linie einzelne Atome sind, sondern in der Beziehung existieren, in der Gesamtheit, in der Mit-Teilung, deren besondere Einheiten (Individuen, Personen) nur Aspekte oder Interpunktionen sind.« Nancy 2017:9.

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Die Bedeutung existentieller Verbundenheit

Gut, das einige Sozialphilosophen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen gestellt haben, um die soziale Welt des Menschen zu beschreiben. 24 Und ohne Zweifel lassen sich viele soziale Beziehungen vor allem auch unter dem Aspekt der Anerkennung beschreiben. Doch ist die Anerkennung ähnlich wie die Freundschaft etwas, was erst sehr spät einsetzt. Lange bevor Menschen einander anerkennen können, sind sie aber schon in sozialen Beziehungen, etwa in dem Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern. Erst spät werden Kinder zu Herren oder Knechten, an denen Hegel die Anerkennung exemplifiziert. 25 Auch die Fähigkeit zur Anerkennung beruht auf vorangehenden Erfahrungen der Verbundenheit. Doch welche Art der Verbundenheit konstituiert die Zwischenleiblichkeit? Eine Möglichkeit, auf diese Wirklichkeitsschicht aufmerksam zu werden, ist es, auf die Sprache zu achten, die Menschen miteinander verbindet. Die Existenz von Sprache ist alles andere als trivial, weder kann sie auf Zustände der Gehirne sprechender Menschen reduziert werden, noch hat sie eine davon unabhängige Existenz. Irgendwie hat die Sprache mit den körperlichen Voraussetzungen zu tun, von denen viele erforscht wurden, wie zum Beispiel das Broca-Areal oder das Wernicke-Areal des menschlichen Gehirns, die menschliche Besonderheit des Kehlkopfes und vieles mehr. Doch all diese notwendigen Voraussetzungen sind nicht hinreichend für die sprachliche Verständigung. Letztlich ist Sprechen ein durch und durch soziales Geschehen und kann nur zwischen mehreren Menschen existieren. Dies kann als Spur jener zwischenmenschlichen Verbundenheit gelten, um die es mit dem Begriff der Zwischenleiblichkeit geht. Dieses Vermögen lässt sich nicht verstehen aus einer abgesonderten Eigenexistenz, sondern nur innerhalb einer sozial vermittelten Struktur. 26 Nun ist gerade die Sprache zugleich die wichtigste Voraussetzung für Individualisierungsprozesse von Menschen. Die Verbundenheit durch die gemeinsam geteilte Sprache ist die Grundlage da-

Honneth fasst Anerkennung sehr weit, so dass auch Liebe, Recht und Solidarität in gleicher Weise gemeint sind, vgl. Honneth 1994: 148 ff. 25 Vgl. Honneth 1994 54 ff. 26 »Das An-sich-Sein, das Sein für einen absoluten Geist, erhält fortan seine Wahrheit von einer ›Schicht‹ her, in der es weder einen absoluten Geist, noch eine Immanenz der intentionalen Objekte in dem Geiste gibt, sondern nur inkarnierte Geister, die durch ihren Leib ›zur selben Welt gehören‹.« Merleau-Ponty 1959: 262. 24

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Der Urgrund des Sozialen: die Zwischenleiblichkeit

für, dass die Beteiligten sich als einzelne und von anderen zu unterscheidende Wesen überhaupt erst einmal wahrnehmen können. Die Sprache verweist wie die Zwischenleiblichkeit auf beides, auf die existentielle Verbundenheit, die unsere Fähigkeiten überhaupt erst ermöglicht und hinter der wir nicht mehr zurück können, und auf die Fähigkeit, sich als Individuum gegenüber jedem vorgegebenen sozialen Verbund zu artikulieren. Die Sprache kann als ein zentraler Hinweis für die Existenz der Zwischenleiblichkeit gelten. Sie verbindet ihrerseits die beiden Seiten, die die Betrachtung des Leibes im Zentrum standen: Die Sprache ist einerseits als körperliches Geschehen »objektiv« gegeben als Schrift oder als Ton. Töne und Schriftzeichen sind aber nur dann Sprache, wenn sie auch die Gedanken erfassen, transportieren und evozieren können. So ist sie auch ein geistiges Geschehen. Deshalb aber darf man die Urgründe, aus denen die Sprache selbst stammt und auf die sie immer wieder zurückweist, nicht aus dem Blick verlieren. 27 Die Erinnerung an die Zwischenleiblichkeit kann sich auch in jenen Momenten ergeben, in denen wir uns als passive Wesen im sozialen Geschehen erleben. Intensive Erfahrungen existentieller Verbundenheit sind dadurch charakterisiert, dass sie ein starkes Moment von Passivität aufweisen. Menschen, die lieben, erleben ihre Liebe weniger als Folge einer aktiven Gestaltung, sie werden vielmehr von der Liebe überrascht, fühlen sich getroffen, sind von ihr erfasst. Wer in Liebeserklärungen von seiner Liebe redet, beschreibt zumeist passive Verhältnisse: ›die Liebe hat einen ergriffen‹, ›sie ist über einen gekommen‹. An diesem Beispiel zeigt sich exemplarisch: Wir leben auch in sozialen Verhältnissen von Bedingungen, die wir nicht selbst gesetzt haben. Bernhard Waldenfels hat die Unterscheidung von Pathos und Response eingeführt. Es handelt sich dabei nicht um einen Prozess mit zwei voneinander zu unterscheidenden Phasen, sondern um ein einziges Geschehen mit zwei Aspekten, die keine

»Die logische Objektivität leitet sich von der leiblichen Intersubjektivität (intersubjectivité charnelle) her, vorausgesetzt, dass sie als solche vergessen worden ist (…) die Zwischenleiblichkeit (intercorporéité) überschreitet sich und ignoriert sich schließlich als Zwischenleiblichkeit (intercorporéité) (…).« Merleau-Ponty 1959: 262 f. Genau das beschreibt die Situation, die auch für die existentielle Verbundenheit hier reklamiert wird: Sie ist grundlegend für die Existenz, wird aber anschließend, angesichts der objektivierbaren Welt, »vergessen«, »übersehen« und nur in Ausnahmefällen »erinnert«.

27

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Die Bedeutung existentieller Verbundenheit

gemeinsame Ordnung haben, aber auch nicht auseinanderfallen. 28 Pathos und Response beschreiben unterschiedliche Aspekte eines Geschehens und doch lassen sie sich nicht voneinander trennen: »Das Antworten im Sinne der Response ist nie etwas, was für sich geschieht oder vollzogen und getan wird.« 29 Das Antworten setzt keinen Anfang, sondern kommt immer schon von irgendwo her. Das Verhältnis von Pathos und Response weist darauf hin, dass man niemals eine vollständige Kontrolle über einen Anfang hat. Pathos – man ist von etwas berührt – und Response – man reagiert darauf – gehören zusammen, ohne zusammenzufallen. In dieser Darstellung zeigt sich auch, dass die existentielle Verbundenheit eine eigentümliche Eigenschaft hat: Sie vermischt sowohl das anrührende Fremde wie auch das sich distanzierende Eigene. Existentielle Verbundenheit lässt sich nie ganz auf die eine oder ganz auf die andere Seite schlagen, sie ist nie ganz Eigenes und auch nie völlig Fremdes. Eben das macht sie gerade zur Verbundenheit, eine Zuordnung durch die Unterscheidung Eigenes und Fremdes ist ebenso wenig möglich wie eine Zuordnung durch die Unterscheidung von Vernunft und Körper oder Subjekt und Objekt. Die eigene Erfahrung beginnt nach Waldenfels »in der Fremde, sie beginnt als Fremderfahrung. (…) Fremdes taucht auf, indem es uns widerfährt, indem es uns erstaunt, erschreckt, verlockt; in diesem Sinne spreche ich von einem ›Pathos des Fremden‹.« 30 Die Zwischenleiblichkeit ist eine Deutung des Leibes in Hinsicht auf die Verbundenheit in sozialen Verhältnissen. Sie ist kein statischer Zustand, sondern ein unruhiges, ein dynamisches Geschehen, sie beinhaltet sowohl Verbundenheit wie auch die Fähigkeit der Trennung und Distanzierung. Sie ist sowohl ein Berührtwerden, das von Passivität bestimmt ist, als auch die aktive Fähigkeit, darauf zu antworten. Sie ist immer zugleich Eigenes, weil die eigene Identität sich aus ihr nährt, wie auch Fremdes, weil sie sich einer kontrollierten Vereinnahmung entzieht. So wie der Leib nicht einfach dem Bewusstsein, dem Subjekt, oder dem Körper, dem Objekt, zugeschlagen werden kann, so ist auch die Zwischenleiblichkeit immer zugleich auf beiden Seiten der Unterscheidungen. Nur so, in dieser nicht auflös-

»Vorgängiges Pathos und nachträgliche Response sind zusammen zu denken, aber über einen Spalt hinweg (…).« Waldenfels 2006: 49. 29 Waldenfels 1994: 324. 30 Waldenfels 2012: 303. 28

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Verbundenheit und Identität

baren Ambiguität ist sie aber auch die Quelle für soziale Formen von Verbundenheit, für Gemeinschaft und Solidarität. 31

3.

Verbundenheit und Identität

Die Unterscheidung von Eigenem und Fremden, die Waldenfels in vielen Untersuchungen ausgeleuchtet hat, führt auch zu der Frage, in welchem Verhältnis die existentielle Verbundenheit zur Identität steht. Die Beschreibung der Zwischenleiblichkeit macht deutlich: Die existentielle Verbundenheit ist nie nur etwas Hergestelltes, bewusst Gestaltetes, sondern immer auch etwas Vorgegebenes. Die Passivität, die die existentielle Verbundenheit immer auch prägt, hat eine große Bedeutung für die Interpretation von Verbundenheit. Sie ist aber niemals das Eigene im Gegenüber zum Fremden. In dem passiven Anteil der existentiellen Verbundenheit liegt ein grundlegender Unterschied zu dem hegemonialen Diskurs der Spätmoderne. Hier wird das Individuum immer wieder als die aktive, sich selbst bestimmende, sich selbst verwirklichende Instanz beschrieben. Die existentielle Verbundenheit ist dem gegenüber nicht einfach eine direkte Quelle der eigenen Identität. Sie ist als Verbundenheit immer auch das oder der Andere, sie ist auch Fremdes. So wenig nun die Verbundenheit durch eine aktiv gewählte Verbindung verstanden werden kann, so wenig kann sie für das autonom gestaltete Eigene reklamiert werden. 32 Im hegemonialen Diskurs geht jemand eine Verbindung ein, wenn sie wichtig erscheint, wenn sie aber nicht mehr wichtig ist oder gar behindert, wird sie aufgelöst. Steht das sich selbst bestimmende Individuum im Mittelpunkt, dann ist auch seine Verbundenheit mit anderen Menschen nur eine Folge seiner selbstbestimmten Identität. Wenn ich zeige, mit wem ich mich verbunden fühle, so zeige ich zu-

Es ist deshalb schwierig, wenn Heinz Bude Solidarität vom Individuum her erschließen will. Solidarität erweist sich dann nur als »förderlich« für das Zusammenleben und bleibt eine Option des Individuums: »Solidarität ist eine Möglichkeit jedes Einzelnen.« Bude 2019: 11. Solidarität wird dann zu einer möglichen, aber nicht notwendigen altruistischen Haltung. 32 Waldenfels beschreibt das Verhältnis auch mit den Begriffen »Selbstbezug« und »Selbstentzug«: »Der Selbstbezug hat immer auch ein Moment des Selbstentzugs. (…) Das Sich-selbst-entziehen besagt, dass ich mir immer auch fremd bin (…).« Waldenfels 2000: 44. 31

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Die Bedeutung existentieller Verbundenheit

gleich, wer ich bin. 33 Die Verbundenheit mit anderen betont man dann, wenn man damit zum Ausdruck bringen möchte, dass die Verbindung einem selbst sehr wichtig ist. Die existentielle Verbundenheit dagegen ist wesentlich ambivalenter. Sie kann ebenso bedrohlich wirken wie beruhigend: Ich bin verbunden – wie beruhigend! Ich bin verbunden – wie beunruhigend! Da ein Mensch über die Verbundenheit niemals eine vollständige Kontrolle hat, kann er oder sie sie auch jederzeit als Bedrohung erleben. Die existentielle Verbundenheit kann deshalb nicht eindeutig für die Beschreibung der eigenen Identität reklamiert werden. Verbundenheit ist ohne Zweifel eine Grundlage für die Identität, aber die Identität, die aus ihr erwächst, bleibt immer etwas Unabgeschlossenes. Die existentielle Verbundenheit führt nicht zu einer gesättigten, in sich ruhenden Identität. In ihr sind immer Eigenes und Fremdes, Aktives und Passives miteinander verschränkt. 34 Wer eine Ahnung von der existentiellen Verbundenheit erhält, die die eigene Existenz ausmacht, spürt zugleich, dass da Kräfte am Werke sind, die man nicht beherrscht oder auch nur überblickt. Das kann das Vertrauen in das Fremde stärken, es kann aber auch erhebliche Irritationen auslösen. Die existentielle Verbundenheit ist deshalb keine behagliche Kategorie. Sie ist zum Beispiel nicht das, was sich automatisch auf die Seite einer emphatisch beschriebenen Heimat zugewiesen werden kann. 35 Und doch basieren alle positiven Heimat- und Zugehörigkeitserfahrungen, die es ja ohne Zweifel gibt, auf der existentiellen Verbundenheit. Das Geschehen ist und bleibt unaufhebbar ambivalent. Bei genauerem Hinsehen kann eine solche Beschreibung die eigenen Erfahrungen tatsächlich wesentlich besser wiedergeben als eine solche, die von einer abgegrenzten Identität her besteht. Denn eindeutige Zustände werden immer wieder imaginiert, sie sind aber Dies ist die Verheißung, die mit den digitalen sozialen Netzen verbunden werden. Garcia führt aus, dass es nicht möglich ist, sich von aller Zugehörigkeit frei zu sagen: »Man kann niemals ›ich‹ gegen alle »Wir« sagen, sondern lediglich ›ich‹ gegen bestimmte ›Wir‹, und das im Namen von anderen.« Garcia 2018: 60. 35 Hier ist Liebsch Recht zu geben, der warnt: »Insofern hat das hier bedachte Soziale unvermeidlich auch einen performativen Aspekt: es bewährt sich nur im Verzicht auf jegliches Ansinnen, das Beschriebene selbst souverän im Griff behalten zu wollen (…).« Liebsch 2018 (2): 542. Die existentielle Verbundenheit als Ausdruck der Zwischenleiblichkeit ist keine Kategorie, die man im Griff haben oder für eine bestimmte Position vereinnahmen könnte. 33 34

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Verbundenheit und Identität

keine menschlichen Erfahrungen. Die existentielle Verbundenheit führt nicht zu einer Verschmelzung mit einem großen Ganzen. Deshalb ist die Verbundenheit Quelle von positiven Sinnerfahrungen und Identitätserlebnissen, sie kann zugleich aber auch Quelle der Bedrohung der eigenen Identität sein. Sie zeigt die Fragilität aller Sinnund Identitätserfahrungen. Waldenfels betont: »Die eigene Identität wird gewonnen durch Identifizierung mit Anderen, sie bleibt deshalb stets mit Momenten der Nicht-Identität durchsetzt.« 36 In religiöser Erfahrung zeigt sich das Heilige, mit dem der Gläubige sich aufs Innigste verbunden erlebt, zugleich als Faszinans und als Tremendum. Das Heilige zieht an und schreckt zugleich ab. 37 Die Forderung nach Autonomie hat ihr großes Recht in der Begrenzung der Verfügungsgewalt anderer, sie steht gegen Heteronomie und Fremdbestimmung. Nun ist es wichtig, die Passivität des einen Menschen nicht notwendigerweise als Ergebnis der Aktivität eines anderen auszulegen. Denn das hieße ja, dass Menschen notwendigerweise in ihrer Passivität immer durch die Aktivität anderer fremdbestimmt wären. Es ist also nicht so, dass die Identität aus dem Anteil besteht, den ein Mensch für sich selbst bestimmt und dem Anteil, den andere für ihn bestimmen. Dann müsste die Forderung nach Autonomie zwangsläufig zu dem isolierten Individuum des hegemonialen Diskurses als Idealzustand führen. Es gibt eine grundlegende Passivität der menschlichen Existenz, die von niemandem gestaltet wird, die existentielle Verbundenheit weist in ihrem Kern auf eine Passivität, an der alle Menschen Anteil haben. Das unendlich komplexe, geschichtlich gewachsene Netz aller zwischenmenschlichen Beziehungen mag ein Hinweis auf das sein, was niemand geplant hat und doch alle betrifft. Natürlich lassen sich zwischenmenschliche Beziehungen bewusst und aktiv verändern. Aber dies betrifft immer nur einen mehr oder minder kleinen Ausschnitt der bestehenden Beziehungen. Niemand ist in der Lage, die menschliche Geschichte ab ovo, also wieder von einem Startpunkt aus ganz von vorne beginnen zu lassen. 38 Jeder Mensch findet sich in der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung an einem bestimmten Punkt

Waldenfels 1997: 69. Vgl. Otto 2014. 38 Allerdings neigte die Moderne immer wieder dazu, genau das zu versuchen. Exemplarisch war etwa das Vorhaben »Plan Voisin« von Le Corbusier, Paris ganz neu aufzubauen. 36 37

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Die Bedeutung existentieller Verbundenheit

vor, ohne dass die Situation in der Gänze je auf die intentionale Handlung anderer zurückgeführt werden könnte. 39 Zugleich ist niemand der Situation vollkommen ausgeliefert, es bleiben in jedem konkreten Fall zwischenmenschlicher Beziehungen immer die Möglichkeit und Fähigkeit der Gestaltung. Die Autonomie ist damit keine Beschreibung eines offenkundigen Sachverhalts, sondern die Forderung inmitten unklarer Verhältnisse, sich im Zweifel gegen Anteile der Fremdbestimmung wenden zu können: Jeder Mensch soll sich im Zweifel gegen jede Form der Fremdbestimmung wehren können. Die Erfahrung von Verbundenheit ist eine starke Quelle für Identitätserfahrungen und damit auch eine Quelle für Konflikte und Zerwürfnisse. Diese Ambivalenz findet sich auch in den Formen der Verbundenheit wieder, wie in Gemeinschaften und solidarischen Gruppen. Auf der einen Seite sind die Formen die Grundlage für eine einigermaßen stabile gesellschaftliche Identität. Die Formen der Verbundenheit ermöglichen, dass Menschen festgelegte gesellschaftliche Rollen übernehmen. Auf der anderen Seite ist eben jene Form der Verbundenheit auch eine Gefahr für die je eigene Identität, da sie einer sozialen Festlegung gleichkommt, von der sich ein lebender Mensch immer auch unterscheidet. Steht auf der einen Seite eine Identität, die sich nur aus sporadischen Erfahrungen existentieller Verbundenheit nähren kann, so steht auf der anderen Seite eine Identität, die von außen vorgegeben ist und derer man sich nicht erwehren kann.

Wenn man wie der Stauferkaiser Friedrich II. sich einzelner Kinder bemächtigen möchte, indem er sie der sozialen Verbundenheit entzieht, so entzieht er sie zugleich der menschlichen Geschichte.

39

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Exkurs: Ökologische Pfade – Spuren der Verbundenheit mit der Umwelt

Der Schwerpunkt der Deutung von Phänomenen der Verbundenheit liegt in dieser Untersuchung auf der zwischenleiblichen Verbundenheit und ihren sozialen Implikationen. Doch ist das leibphänomenologische Konzept der Verbundenheit breiter angelegt und lässt sich auch auf die Beziehung des menschlichen Leibes zu seiner Umwelt, zu der ihn umgebenden Wirklichkeit, übertragen. Wir sind schon als körperliche Wesen, noch unabhängig von einer Betrachtung des Leibes im obigen Sinne, auf vielfältige Weise auf unsere Umwelt bezogen und mit ihr verbunden. Bei genauerem Hinsehen erscheint es schon als eine Abstraktion, etwa die Haut als eine klar definierte Grenze zu sehen, die zwischen dem menschlichen Körper und seiner Umgebung unterscheidet. Schon die klassische Biologie hat gewichtige Gründe, warum ein Gegenüber eines Körpers zu seiner Umgebung auf einer Abstraktion beruht. Es gibt gleich mehrere lebensnotwendige Austauschprozesse, die das Leben sofort gefährden würden, fielen sie aus. Jeder menschliche Körper ist auf Wärme angewiesen. Wäre ein Raum völlig ohne Wärme, bei 0 Grad Kelvin, würde jedes Leben in ihm in kürzester Zeit enden. Ebenso aber ist ein menschlicher Körper auf den Austausch von Sauerstoff angewiesen, eine Unterbindung kann man nur wenige Minuten überleben. Die Kaskade des lebensnotwendigen Austauschs kann man auf Flüssigkeiten oder Nährstoffe erweitern, die Zeitintervalle ändern sich, aber prinzipiell sind sie alle überlebensnotwendig. Ein Körper kann also nur deshalb überleben, weil er auf vielfältige Weise ständig mit einer Umgebung verbunden ist, sich mit ihr in einem Austausch befindet. Es ist gerade die Ökologie, die gelehrt hat, auf diese Austauschprozesse zu achten; man kann auch aus naturwissenschaftlicher Sicht schon diese Weisen der Verbundenheit des Körpers nicht ignorieren. Die Beschreibung des Menschen als leibliches Wesen macht eine Trennung von der Umgebung schon vom Ansatz her unmöglich. Der Leib ist kein Gegenüber zu der übrigen Wirklichkeit. Hier kommt 109 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Exkurs: Ökologische Pfade – Spuren der Verbundenheit mit der Umwelt

nun auch wieder der unauflösbare passive Aspekt der existentiellen Verbundenheit ins Spiel. Der Leib darf nicht mit einem sich rein aktiv gestaltenden Subjekt verwechselt werden. Als leibliche Wesen sind wir auch in unserem Verhältnis zur Umwelt immer schon Teil eines Spiels, das wir nicht begonnen haben. Die Distanzierung, die man in einer Rede von »der Welt« vornimmt, ist immer fiktiv und die blinden Flecken, die bei jeder denkbaren Vorstellung von der Welt entstehen, können nicht kontrolliert werden. 1 Deshalb macht es Sinn, von einer offenen Wirklichkeit zu reden, denn Menschen haben als immer schon Beteiligte keine Chance, sich einen vollständigen Überblick zu verschaffen. 2 Die Akzeptanz der Bedingungen leiblicher Existenz führen zu einer Haltung der Bescheidenheit: Man kann die Wirklichkeit nicht als einen bekannten oder potentiell verstehbaren Bereich erschließen, sondern immer wieder mit neuen Versuchen und vorläufigen Theorien und Modellen. Man kann bestimmten begrenzten Dimensionen der Wirklichkeit gegenübertreten, dann lassen sie sich auch beherrschen und bearbeiten, jedoch darf man dabei nicht aus dem Auge verlieren, dass sich wichtige Wirklichkeitsdimensionen diesem Blick aus einer methodischen Distanz entziehen. Merleau-Ponty hat dies auf die Formel gebracht, dass Menschen als leibliche Wesen nicht die Position eines »Kosmotheoros« haben, sie sind keine unabhängigen und distanzierten »Weltbeschauer«. 3 Auf dieser Grundlage zeigen sich auch ökologische Herausforderungen in einem anderen Licht. Wenn man die ökologische Frage auf messbare Faktoren reduziert, kann man wichtige Verhältnisse, die das Überleben determinieren, sichtbar machen, ähnlich wie bei der gerade geschilderten Abhängigkeit des Körpers von seiner Umwelt. Aber die leibliche Verbundenheit mit der Wirklichkeit ist fundamentaler. Man sollte die ökologische Frage nicht allein mit Messdaten und Kennzahlen im Sinne von Geo-Ingenieuren zu meistern versuchen. Denn auch diese Zugangsweisen sind die Folge einer abstrahierenden Objektivierung. Kennzahlen haben ihren Sinn, sie sind zum Beispiel

Sehr hilfreich erscheint da das folgende Bild: Ein Fisch, der durch einen Ozean schwimmt, kann seine Situation nicht angemessen beschreiben, da der Begriff »Ozean« für ihn ohne jede empirische Relevanz ist, er kann den Ozean nicht als Ozean wahrnehmen. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Menschen und Aussagen über das Ganze der Wirklichkeit, der Welt. 2 Vgl. dazu ausführlicher: Vogelsang 2014 (1). 3 Z. B. Merleau-Ponty 1964: 32. 1

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Exkurs: Ökologische Pfade – Spuren der Verbundenheit mit der Umwelt

leicht zu kommunizieren und für politische Prozesse nutzbar zu machen. Man kann und muss deshalb gerade auch über die Einhaltung des Zwei-Grad-Ziels in der Klimadiskussion reden. Wenn man jedoch allein auf diese Zahlen achtet, verliert man weitere wichtige Aspekte der Verbundenheit mit der Umwelt aus dem Blick. Diese Aspekte sind aber wichtig, weil es nicht nur um ein technisches Problem, sondern um eine umfassende kulturelle Transformation geht. Diese anderen Aspekte öffnen sich keinem Kalkül, wohl aber eine rezeptive Haltung, die mit Dankbarkeit, aber auch mit Betroffenheit oder mit Angst einhergehen kann. Diese Aspekte der Verbundenheit können eine große Kraft bei der Gestaltung einer die Ökologie berücksichtigende Kultur entfalten. Sie werden erkennbar, wenn man selbst »am eigenen Leibe« die Folgen des sich ereignenden Klimawandels durch Hitze oder Dürre erfährt. Dann sind die Menschen keine distanzierenden und kalkulierenden Beobachter mehr, sondern Beteiligte und Betroffene. Die ökologische Frage, das zeigt eine weitergehende Analyse der Leibphilosophie, hat immer auch eine spirituelle Komponente, die die Grundfragen des Lebens und der Lebensweise aufwirft. Wir können die Erde nicht behandeln wie irgendeinen anderen Gegenstand, auch dann nicht, wenn wir es in bester Absicht tun. Ist die existentielle Tragweite der eigenen Verbundenheit mit der umgebenden Wirklichkeit erst einmal erahnt, kann man auch jenen Dimensionen auf die Spur kommen, die sich nicht einem distanzierenden und objektivierenden Blick zeigen. Die religiöse Rede wusste schon immer, dass die uns umgebende Wirklichkeit mehr ist, als eine Ansammlung von Dingen. Insofern ist auch die Rede von der Schöpfung keine veraltete Rede, die durch die wissenschaftliche Rede von der Natur ersetzt werden könnte. Schon Platon sagte, dass man die Weltentstehung nur in einem Mythos erzählen, aber nicht exakt beschreiben könne. 4 Sie ist von einem Anfang abhängig, den auch moderne Naturwissenschaften so nicht beschreiben können. Zu jedem Zeitpunkt T findet sich physikalisch ein Zeitpunkt T- x, der kleiner ist als T. Bei einem beliebigen Zeitpunkt T könnte und müsste man stets auch fragen: Was war davor? Woher kommt dann das Bedürfnis, so etwas wie einen Anfang zu definieren? Die Frage nach dem Anfang der Welt stellen wir als leibliche Wesen, weil unsere Existenz selbst einen Anfang hat. Als leibliche Wesen

4

Platon, Timaios: 29c-d

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Exkurs: Ökologische Pfade – Spuren der Verbundenheit mit der Umwelt

sind wir geburtliche Wesen, wie Hannah Arendt gesagt hat, 5 wir haben einen Anfang, wir stammen aus einem Anfang, und wir fangen als handelnde Wesen immer wieder etwas neu an, ohne in einer naturwissenschaftlichen Perspektive so recht zu verstehen, was es heißt, einen Anfang zu setzen. So deuten wir auch unsere Wirklichkeit, die uns umgibt, von einem Anfang her. Wenn man nun die religiösen Schöpfungserzählungen nicht übernehmen möchte, so hat man doch damit nicht die Notwendigkeit des Erzählens vermieden. Auch die Erzählung vom Urknall ist im Wesentlichen eine Erzählung. 6 Wenn Menschen als leiblich existierende Wesen nach dem Ganzen der Wirklichkeit fragen, können sie das nur in Form von Erzählungen. Aus diesem kann man ableiten, dass eine Kultur, die die ökologische Herausforderung annimmt, sich einerseits auf die naturwissenschaftlichen Darstellungen beziehen muss, um handlungsfähig zu sein. Andererseits aber ist es wichtig, dass sie auf die leibliche Verbundenheit mit der Umwelt aufmerksam wird, die Hoffnungen und Ängste zum Ausdruck bringen und die durch Erzählungen strukturiert wird. Wer einen neuen Anfang machen will, etwa in einer ökologischen Kultur, muss erzählen, muss neue Bilder der Hoffnung für den Weg finden, der in die Zukunft führt.

Menschen sind als handelnde Wesen vor allem durch ihre Geburt, durch Natalität geprägt, vgl. Arendt 1958: 16. 6 Das dahinter stehende physikalische Modell ist natürlich keine Erzählung, es arbeitet aber mit der Sprache der Mathematik, die völlig unanschaulich ist. 5

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5. »›Existentielle Verbundenheit‹ versus ›Formen der Verbundenheit‹«

Die existentielle Verbundenheit bietet erst die Grundlage für die Prozesse der Individualisierung, die im hegemonialen Diskurs der Spätmoderne im Vordergrund stehen. Sie hinterlässt im alltäglichen Leben aber auch viele Spuren, die über das Individuum hinausweisen. Solche Spuren sind zum Beispiel Erfahrungen von Verbundenheit in der Liebe oder der Freundschaft zu anderen Menschen. Andererseits können auch die vielfältigen dauerhaften Formen der Verbundenheit in einer Gesellschaft als ein Hinweis auf die existentielle Verbundenheit gelten. Man kann die existentielle Verbundenheit nicht direkt beobachten, wohl aber ihre Wirkungen in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Formen der Verbundenheit. Letztere sind so etwas wie eine dauerhaftere Antwort auf die schwer zu fixierenden Erfahrungen existentieller Verbundenheit. In diesen Formen entstehen Konstellationen gegenseitiger Verpflichtung, die von den Mitgliedern einer Gesellschaft anerkannt oder auch bestritten werden können. Das ist der gewichtige Unterschied: Während die existentielle Verbundenheit in gewisser Weise unausweichlich ist, kann man sich von jeder konkreten Form der Verbundenheit distanzieren und lösen. Formen der Verbundenheit sind nie statisch, sondern immer auch wandelbar, immer auch umstritten. Keine Form der Verbundenheit begründet sich aus sich selbst heraus und ist unanfechtbar. Die Moderne hat das Vermögen, sich von vorgegebenen Formen der Verbundenheit zu lösen, deutlich vergrößert. Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne schließlich wendet die Kritik an den Formen in das Grundsätzliche, indem er das imaginierte selbständige Individuum gegenüber allen Formen der Verbundenheit bevorzugt. Inwieweit unterscheidet sich der Begriff »Form der Verbundenheit« von den besser eingeführten Begriffen wie »Institution« oder »Organisation«? Mit dem Ausdruck »Form der Verbundenheit« soll die jeweilige Sozialform unter einem spezifischen Aspekt betrachtet werden, nämlich unter dem, auf welche Weise sich durch sie eine 113 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

»›Existentielle Verbundenheit‹ versus ›Formen der Verbundenheit‹«

dauerhafte Verbundenheit zwischen Menschen ergibt. 1 Dauerhafte Verbundenheit wiederum meint die Reproduzierbarkeit von Erfahrungen von existentieller Verbundenheit. Diese Erfahrungen von Verbundenheit schließen Konflikte, wie noch zu zeigen sein wird, nachdrücklich nicht aus. Der Begriff »Form der Verbundenheit« ist damit weiter gefasst als die soziologisch spezifischeren Begriffe wie Institution oder Organisation. Wie aber soll man sich das Verhältnis zwischen beiden Seiten, der existentiellen Verbundenheit und den Formen der Verbundenheit vorstellen, wenn sie nicht zusammenhanglos nebeneinander stehen und andererseits sich auch nicht mit Notwendigkeit auseinander ableiten lassen? Hier kommt wiederum die schon erwähnte Unterscheidung zwischen »Pathos« und »Response« von Waldenfels zur Geltung. Ein besonderes Kennzeichen der existentiellen Verbundenheit ist ihre passive Tönung, sie wird bei aller Aktivität nie ausschließlich gemacht, nie vollkommen kontrolliert, sie ereignet sich vielmehr, sie zeigt sich. Dieses Pathos ist aber nicht ohne Response. So wie das Pathos ein Aspekt des Phänomens ist, so ist das antwortende Verhalten der Menschen ein anderes; sie äußert sich insbesondere in den Formen der Verbundenheit. Die Form der Verbundenheit ist das, was aktiv gestaltet werden kann. Jedoch ist diese Gestaltung immer auch Response, sie ist nicht aus sich selbst heraus, sondern Antwort auf ein Pathos, das aus der existentiellen Verbundenheit rührt. Die Response kann nicht aus dem Pathos abgeleitet werden, es gibt keine Regelhaftigkeit in dem Bezug beider Größen aufeinander. Die Unterscheidung ermöglicht, die existentielle Verbundenheit und die Formen der Verbundenheit zusammen zu denken, ohne dass sie auseinander hervor gehen oder dass sie sich einer gemeinsamen, übergreifenden Ordnung fügen. Gäbe es eine solche Ordnung, so gäbe es auch eine ideale Form der Verbundenheit, die genau zu der fundamentalen existentiellen Verbundenheit passt. Zwischen beiden aber ist, wie Waldenfels formuliert, ein Riss, eine Diastase. 2 Das aber bedeutet, dass keine Form der Verbundenheit eine übergeschichtliche Viele Autoren nutzen in diesem Zusammenhang die erste Person plural, »Wir«, in sehr unterschiedlicher Akzentuierung. Honneth führt dieses Pronomen auf eine Formulierung Hegels zurück: »Bei-sich-selbst-Sein im Anderen« Honneth 2011: 85. Elias spricht von einer Wir-Identität, die gleichberechtigt ist mit der Ich-Identität, vgl. Elias 2003: 238. Sennett beschreibt das Wir als eine Größe, die gegen einen überbordenden flexiblen Kapitalismus gerichtet sein kann, vgl. Sennett 1998: 191. 2 Vgl. Waldenfels 2002: 174. 1

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»›Existentielle Verbundenheit‹ versus ›Formen der Verbundenheit‹«

Allgemeingültigkeit beanspruchen kann, keine Form kann allein aus allgemein nachvollziehbaren Gründen abgeleitet werden. Es ist gerade die Behauptung des konservativen Diskurses, dass bestimmte Formen der Verbundenheit die einzig legitimen sind, um der existentiellen Verbundenheit Ausdruck zu geben, weil sie sich aus einer vorgegebenen Ordnung der Natur, der Geschichte ableiten ließen. Hiernach gibt es eine ursprüngliche Form der Verbundenheit, die als der gültige Ausdruck der existentiellen Verbundenheit auch für alle folgenden Zeiten gelten muss. Diese Ansicht ist aber durch die Unterscheidung von Pathos und Response ausgeschlossen, das Verhältnis zwischen existentieller Verbundenheit und den Formen der Verbundenheit lässt sich nicht stabilisieren. Weil es keine Ordnung geben kann, die das Verhältnis von existentieller Verbundenheit und den Formen der Verbundenheit regelt, kann auch keine traditionelle Form der Verbundenheit einen Allgemeingültigkeitsanspruch erheben, alle Formen sind historisch bedingt und relativ. Die Formen der Verbundenheit sind geschichtliche Phänomene, das heißt, sie haben in der Menschheitsgeschichte sehr unterschiedliche und immer wieder neue Gestalten angenommen. 3 Es gab und gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Formen: Großfamilienstrukturen, Kleinfamilien und Ehen, es gibt Stämme, Völker, Staaten, religiöse Gemeinschaften, Kommunitäten, Dorfgemeinschaften, religiöse und säkulare Gemeinden, eine Vielzahl von Vereinen, Nachbarschaften, Landsmannschaften, solidarische Bewegungen, politische Parteien, alternative Kommunen und eine Vielzahl von Institutionen moderner Gesellschaften, zu denen unter anderem die Gewerkschaften, Unternehmen, Betriebsgemeinschaften, Genossenschaften gehören. Diese sozialen Formen unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht, zum Beispiel im Umfang des Anspruchs auf Verbundenheit, also in welchem Maße und Umfang Menschen aneinander gebunden sind. Die Gemeinschaft eines mittelalterlichen Dorfes hatte einen wesentlich umfassenderen Anspruch an die Dorfbewohner als die Vereine des frühen 20. Jahrhunderts an ihre Mitglieder, eine religiöse Sekte hat einen umfassenderen Anspruch als eine Volkskirche. Das wichtigste

Liebsch betont unter Berufung auf Ricœur, dass eine Sozialontologie nicht ahistorisch sein kann, vgl. Liebsch 2018 (1): 117. Das heißt für diesen Ansatz, sie wäre unvollständig, wenn man sie allein auf die existentielle Verbundenheit gründen wollte; existentielle Verbundenheit und Formen der Verbundenheit gehören notwendigerweise zusammen.

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Unterscheidungskriterium der Formen der Verbundenheit sind die Eintritts- und Austrittsbedingungen. In eine mittelalterliche Dorfgemeinschaft wurde man hineingeboren, man trat ihr nicht bei und man starb in der Regel auch dort. Das ist in modernen Formen der Verbundenheit ganz anders. Sie kennen mehr oder minder ausgeprägte Eintritts- bzw. Austrittsbedingungen. Gewerkschaften, Parteien, Vereinen kann man durch Aufnahmeantrag beitreten und ebenso durch Kündigung der Mitgliedschaft wieder austreten. Allerdings ist keine Form der Verbundenheit völlig ohne Eintritts- und Austrittsbedingungen. Auch im Mittelalter gab es definierte Austrittsbedingungen für die Mitgliedschaft in der Kirche: Man konnte aus ihr verbannt, exkommuniziert werden. Das säkulare Reich konnte Menschen in die Reichsacht stellen, obwohl doch beide Institutionen einen umfassenden Anspruch auf alle Menschen erhoben. In den Extremformen ging die Verbannung aus der Gemeinschaft mit dem Tod des Menschen einher. Formen der Verbundenheit unterscheiden sich zweitens in ihrer mehr oder weniger ausgeprägten Flexibilität. In klösterlichen Gemeinschaften sind die Rollen der Brüder und Schwestern auf Stabilität hin ausgelegt. In modernen Unternehmen dagegen sind die Menschen zu einer großen Flexibilität gezwungen. Die Formen der Verbundenheit unterscheiden sich drittens in der Frage, wie ausgeprägt die Hierarchie und die Rollendifferenz sind. In der paternalistischen römischen Familie war die Rolle des Vaters nahezu unanfechtbar, in einer alternativen Kommune der 60er Jahre mussten die Rollen immer wieder neu ausgehandelt werden. Die Differenzen zwischen den Formen der Verbundenheit sind vielfältig. Das, was sie aber alle miteinander eint, ist die Fähigkeit, längerfristige Erfahrungen der Verbundenheit zu anderen Menschen aufzubauen. Nicht jede Erfahrung einer existentiellen Verbundenheit lässt sich mit einer Form der Verbundenheit in Beziehung setzen. Wenn Formen der Verbundenheit einen stärker ordnenden Charakter haben, so haben intensive Erfahrungen existentieller Verbundenheit oft eine anarchische Komponente. Es gibt Erfahrungen der existentiellen Verbundenheit, die eine außerordentliche Kraft entfalten und keine dauerhafte Verbindung zur Folge haben. Erfahrungen existentieller Verbundenheit können nicht kontrolliert werden. 4 Sie kann sich fast überall in den Erfahrungen von Menschen manifestieren, Mit Waldenfels kann man sagen, dass die existentielle Verbundenheit immer auch von Fremdheit bestimmt ist, die alle Ordnung übersteigt: »Mit dem Wandel der Ord-

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»›Existentielle Verbundenheit‹ versus ›Formen der Verbundenheit‹«

sie muss es aber nicht. Die biblische Erzählung vom barmherzigen Samariter ist hierzu sehr aufschlussreich, weil sie die Unvorhersehbarkeit der Erfahrung von Verbundenheit so stark herausstreicht. 5 Hier zeigt sich eine existentielle Verbundenheit, die jenseits aller ordnenden Formen der Verbundenheit steht. Ein Mensch wird auf einer einsamen Straße überfallen, ausgeraubt und bleibt schwer verletzt am Wegesrand liegen. Sowohl ein Priester als auch ein Levit, ein Vertreter einer besonderen, frommen Gruppe, gehen ungerührt weiter, als sie den Verletzten am Straßenrand sehen. Das tun sie, obwohl sie als Gesetzeskundige wissen, dass es Menschen geboten ist, den Nächsten zu lieben wie sich selbst und insbesondere jenen zu helfen, die in Not sind. Das Wahrscheinliche tritt nicht ein, dagegen aber das Unwahrscheinliche. Denn ein Samariter trifft auf den Verletzten und hilft spontan. Er bringt ihn zu einer Herberge, versorgt die Wunden und gibt dem Wirt Geld, dass er sich weiter um die Pflege kümmern kann. Nun gehört der Samariter aber zu einer religiösen Gruppe, die mit der religiösen Elite in Jerusalem in einem spannungsvollen Verhältnis lebt. Die Erzählung unterstreicht, dass der Samariter nicht aus Vorsatz handelt, es ist kein Wort davon zu lesen, dass er ein besonders fürsorglicher oder moralischer Mensch gewesen sei, der festen Prinzipien folgt, etwa: Helfe allen Menschen, die in Not sind. Alles Gewicht liegt auf dem Moment der Begegnung: »Es jammerte ihn.« 6 So heißt es in der Übersetzung, im griechischen Original steht da eher: »Und es ging ihm an die Nieren.« Der Samariter ist angerührt, er erlebt sich passiv, sein Handeln folgt keinem aktiv gesetzten Vorsatz. Der Vers bringt das Pathos der existentiellen Verbundenheit deutlich zum Ausdruck. Spontan folgt aus der Erfahrung existentieller Verbundenheit eine Handlung, die eine basale, kaum in Worte zu fassende Antwort darauf ist. 7 Existentielle Verbundenheit, die immer wieder von Situation zu Situation aufscheint, ist eine allgemein menschliche Ressource. Mennung wandelt sich auch das Fremde, das so vielfältig ist wie die Ordnungen, die es übersteigt und von denen es abweicht.« Waldenfels 2006: 15. 5 Lk 10,25–37. 6 Lk 10,33. 7 Nach Liebsch begründet eine solche Herausforderung durch einen anderen Menschen »keine soziale Gemeinschaft, wohl aber eine ursprünglich nicht a priori begrenzte Affizierbarkeit durch den Anspruch des Anderen auf Hilfe und Beistand.« Liebsch 2018 (2): 589. Das eben wird hier mit der existentiellen Verbundenheit zum Ausdruck gebracht.

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schen sind als leibliche Wesen dadurch ausgezeichnet, dass sie jederzeit ihre wechselseitige Verbundenheit erkennen können. Das heißt gerade nicht, dass die existentielle Verbundenheit als Ressource jederzeit verfügbar wäre, als wäre sie ein allgemeines Vermögen, das stets aktualisiert werden könnte. Letzteres wäre im Sinne des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne, und so wird die Erzählung vom barmherzigen Samariter auch gerne ausgelegt, als Aufruf zu einer vorsätzlichen moralischen Aktivität. Dagegen sollte man sie eher als einen Aufruf zu mehr Sensibilität verstehen. Auch die Form der Verbundenheit lässt sich nicht erzwingen: Niemand sieht sich durch die leibliche Existenz etwa zur Solidarität gezwungen. 8 So sehr die Fähigkeit zu solidarischem Handeln allen Menschen zukommt, so sehr ist diese Fähigkeit stets gefährdet und sporadisch. Es gibt schließlich unzählbar viele Beispiele, in denen Menschen anderen Menschen gerade nicht geholfen haben. Die menschliche Geschichte ist voller gewalttätiger Situationen, in denen Menschen einander ihr Menschsein abgesprochen und ihre Verbundenheit geleugnet haben. Man kann die schwer zu fassenden Erfahrungen existentieller Verbundenheit auf die einfache Formel bringen: »Es gibt Erfahrungen existentieller Verbundenheit«. Dieser Satz ist in keiner Weise trivial. Er ist angelehnt an einen der zentralen Sätze von MerleauPonty: »Es gibt Sinn.« 9 Die schlichte Aussage schließt die beiden diametral gegenüberstehenden Extreme aus und weist auf eine schwer zu bestimmende Mitte: Weder kann man sagen, dass Erfahrungen existentieller Verbundenheit auf einer Täuschung beruhen und es sie eigentlich gar nicht gibt. Noch kann man sagen, dass diese Erfahrungen stets gegeben sind, weil sie ja grundsätzlich jede menschliche Existenz prägen. Der Satz »Es gibt Erfahrungen existentieller Verbundenheit« verweigert sich einer allgemeingültigen Moral, man kann keine Politik aus ihr ableiten, diese Erfahrungen lassen sich nicht operationalisieren. Und doch ereignen sie sich immer wieder. Ihre Existenz ist stets prekär.

Solidarität ist darüber hinaus ein vielschichtiges Phänomen, sie ist nicht einfach da oder nicht da. Liebsch identifiziert ein komplexes Netz von unterschiedlichen Weisen der Solidarität, die nicht einfach auseinander abgeleitet werden können, vgl. Liebsch 2018 (2): 605. 9 Merleau-Ponty 1964: 121. 8

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6. Formen der Verbundenheit in der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung

Formen der Verbundenheit sind im Horizont eines gesellschaftlichgeschichtlichen Wandels durch Beharrungsvermögen und zeitliche Dauer bestimmt. Menschen sind geschichtliche Wesen, die mit einem Herkommen verbunden sind und auf eine offene Zukunft hin leben. Beide Dimensionen der Zeit, die Vergangenheit wie auch die Zukunft werden im hegemonialen Diskurs der Spätmoderne unterschätzt. Aber auch eine moderne Gesellschaft, die meint, in der Gegenwart sich selbst zu gründen, ist von jenem geschichtlichen Pfad bestimmt, auf dem sie entstanden ist; die Vergangenheit ist ebenso gegenwärtig wie die Zukunft. Grundlegende menschliche Fähigkeiten wie das Versprechen oder die Hoffnung zeigen, dass es kein menschliches Leben gibt, das nicht vor dem Horizont einer offenen und noch zu gestaltenden Zukunft stattfindet. Formen der Verbundenheit weisen in beide Richtungen. Die Geschichte spielt in den politischen Schriften von Maurice Merleau-Ponty eine große Rolle und steht in unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Analyse der leiblichen Existenz. Merleau-Ponty umschreibt die Situation, der die Menschen in der Geschichte ausgeliefert sind, mit dem Ausdruck »Abenteuer der Dialektik« 1. Diese Formulierung steht in klarer Abgrenzung gegen bestimmte Spielarten des Marxismus, die in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in Anlehnung an die offizielle Interpretation der Sowjetunion diskutiert werden, in denen angeblich ein objektiver Standpunkt möglich ist. Die Geschichte ist hier durch einen objektiv vorgegebenen, durch einen ökonomischen Ablauf bestimmt, alles zielt auf eine endgültige Revolution des Proletariats. Merleau-Ponty wendet sich aber nicht nur gegen diese objektive Interpretation von Geschichte, sondern auch gegen eine subjektive Interpretation, nach der der Lauf der Geschichte im Belieben einzelner steht und jederzeit geändert werden 1

Merleau-Ponty 1955: 246.

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Formen der Verbundenheit in der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung

kann. Letztere Interpretation, die Merleau-Ponty bei Jean-Paul Sartre findet, ließe sich gut mit den Grundüberzeugungen des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne vereinbaren. 2 Wenn die eigene Entscheidung den Verlauf der Geschichte dominiert, dann liegt alles Gewicht auf der Gegenwart. Die Vergangenheit ist nicht mehr einflussreich, weil man sich ja von ihr distanzieren kann, auch die Zukunft ist nicht mehr einflussreich, weil sie voll und ganz von den Entscheidungen der Gegenwart abhängt. Für die Geschichte gelten nach Merleau-Ponty ähnliche Verhältnisse wie für die Wirklichkeit im Ganzen. So wie es für leibliche Wesen unmöglich ist, einen Überblick über die Wirklichkeit zu erlangen, als sei man selbst nicht beteiligt, so ist es auch unmöglich, einen Überblick über die Geschichte zu erlangen, als gäbe es einen privilegierten Zugang, als wäre es möglich, die Geschichte im Überblick, von einer höheren Warte aus zu betrachten. 3 Die Figur des »Kosmotheoros« ist hier im Rahmen der Geschichte ebenso unmöglich, wie in der Deutung der Wirklichkeit. Die Geschichte ist nur als Gemisch von Subjektivem und Objektivem erkennbar. Beide, Geschichte wie Wirklichkeit, lassen sich als offene Felder beschreiben, ohne klare Grenzen oder Rahmen. 4 Die Geschichte ist nicht etwas Vorgegebenes, das man mit methodischer Strenge vollständig erschließen könnte. Denn wenn ein Mensch sich die Geschichte aneignen will, tut sie oder er dies nur unter spezifischen Fragestellungen, als Beteiligte, als Beteiligter eben jener Geschichte, die sie oder er untersuchen will. So wenig die Geschichte eine objektive Vorgabe ist, so wenig löst sie sich in einer Vielzahl von unterschiedlichen Perspektiven auf. Geschichte hat ja stets eine Randbedingung in den physikalischen Prozessen, die sich nicht subjektiv aneignen lassen. Sie ist immer gebunden an die umgebende Wirklichkeit und hinterlässt auch ihrerseits dort Spuren, die objektiviert werden können. 5 Wenn man bestimmte archäologische Funde macht, kann eine Geschichtsschreibung nicht davon abstrahie»Denn das Engagement im Sinne Sartres ist Negation der Verbindung zwischen uns und der Welt (…).« Merleau-Ponty 1955: 234. 3 »Die Geschichte ist ein merkwürdiges Objekt: ein Objekt, das wir selber sind (…):« Merleau-Ponty 1955: 16. 4 Liebsch bezweifelt, ob der Ansatz von Merleau-Ponty die Offenheit garantieren kann und bezieht sich stärker auf Levinas, vgl. Liebsch 2018 (1): 221 f. Jedoch hat die Zwischenleiblichkeit nach Merleau-Ponty insbesondere auch jene Qualität, die eine Abschließung verhindert. 5 Ricœur verweist auf Archive, Dokumente und Spuren, vgl. Ricœur 1985: 159. 2

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ren. Aber auch als Folge eines dichten Geflechts von zwischenmenschlichen Mitteilungen und Interaktionen setzt die Geschichte einen Widerstand gegen rein subjektive und individuelle Aneignungen. Menschen sind Teil der kollektiven geschichtlichen Entwicklung, auf die sie je nur begrenzten Einfluss haben. Wie schon in der Beschreibung der Wirklichkeit im Ganzen sucht Merleau-Ponty auch in der Geschichte einen Weg jenseits der Extreme des rein Objektiven oder des rein Subjektiven. So ist die Geschichte nicht festgelegt, aber sie hat Tendenzen. 6 Die Geschichte besteht immer wieder aus kontingenten Entwicklungen, die nicht vorher zu sehen sind und doch gibt es langfristige Entwicklungen, die aus der Fortschreibung der Vergangenheit eine Erwartung der Zukunft möglich machen. Die Geschichte als kollektive Entwicklung lässt sich nur über eine Weise erschließen, die für die diachrone zwischenmenschliche Verbundenheit von größter Bedeutung ist, das ist die Erzählung bzw. die Narration. Wer sich den Verlauf von Geschichte vergegenwärtigen will, muss erzählen. 7 Sehr unterschiedlich können die Stile der Erzählung sein. Alltägliche Erzählungen lassen viele Details aus, weil sie die geteilte Lebenswirklichkeit von Erzählendem und Hörendem voraussetzen, und sie stellen vor allem die Perspektive des Erlebens dar. Die wissenschaftliche Aneignung von Geschichte dagegen ist durchsetzt von objektivierbaren Tatbeständen, von Archiven, Texten, Funden, genauen Zeitangaben und Orten. Doch auch eine wissenschaftlich reflektierte Erzählung ist eine Erzählung, und auch die alltägliche Erzählung kann nicht völlig von einer Anbindung an die physikalische Realität absehen, sonst wird die Erzählung zur Fantasie. Reale Orte haben für geschichtliche Erzählungen eine herausragende Bedeutung. Erzählungen sind nur dann erfolgreich, Zeiten miteinander in Beziehung zu setzen, wenn es ihnen gelingt, das erzählte Geschehen auch zu verorten. Doch bedeutet das nicht, dass Erzählungen im Idealfall rein dokumentarisch und objektiv wären. Ricœur macht darauf aufmerksam, dass sie notwendigerweise nur Auszüge des Geschehenen darstellen können, es müssen Akzente und Betonungen

»Das besagt nicht, dass alles vergeblich und nichts zu tun wäre: der Kampf ist jedesmal anders, doch das Mindestmaß an beanspruchter Gerechtigkeit vergrößert sich (…).« Merleau-Ponty 1955: 265. 7 Ricœur stellt die Bedeutung der Erzählung in einem umfangreichen dreibändigen Werk heraus: »Zeit und Erzählung«, vgl. Ricœur 1983; Ricœur 1984; Ricœur 1985. 6

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gesetzt, viele Details des Geschehens ausgelassen und neue Zusammenhänge fiktiv hergestellt werden. Nur so wird die immer überkomplexe geschichtliche Entwicklung erzählbar. 8 Erzählungen sind für die soziale Verbundenheit von allergrößter Bedeutung. Denn sie sind die einzige Weise, eine diachrone Verbundenheit mit der Vergangenheit zum Ausdruck zu bringen. Aber auch Zukunftsaussichten, Hoffnungsbilder lassen sich nur dann lebendig gestalten, wenn sie in eine Form der Erzählung gekleidet werden, die an das Geschehen in der Gegenwart anknüpfen. Formen der Verbundenheit sind in ihrem Selbstverständnis zumeist eng an Erzählungen gebunden. Alle Formen haben ein Herkommen, sie binden beteiligte Menschen dadurch, dass sie ihre eigene Entwicklung darstellen und damit die Zugehörigkeit der Beteiligten stabilisieren. Erzählungen können dem Geschehen Sinn und Bedeutung verleihen. Sie machen die Gegenwart verständlich nicht aufgrund ihrer je gegenwärtigen Zustände, sondern durch Einbettung in eine geschichtliche Entwicklung, ihre Herleitung aus der Vergangenheit und ihre Aussicht auf eine Zukunft. Die elementare Bedeutung der Erzählung für die Formen der Verbundenheit zeigt sich an ihren Wirkungen: Wenn eine Erzählung einer Form schwächer wird, droht die Form der Verbundenheit zu zerfallen. Umgekehrt, wenn eine Erzählung stark und überzeugend ist, stabilisiert sich die Form, auf die sie sich bezieht. 9 Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne aber führt zu einer erzählungsarmen Zeit. Es gibt immer weniger Gelegenheiten, Orte, soziale Kontexte, in denen sich Formen der Verbundenheit durch Erzählungen vergegenwärtigen lassen. Das gilt auch für große traditionelle Institutionen wie die politischen Parteien oder die Kirchen. Sowohl die Sozialdemokratische Partei Deutschlands als auch die Evangelische Kirche in Deutschland haben vor wenigen Jahren Jubiläen feiern können. Das ist auch jeweils mit viel Aufwand betrieben worden. Jedoch entstanden dabei kaum Erzählungen, die die Verbundenheit der Gegenwart Vgl. Ricœur 1985: 310 f. Ausführlich zu der Rolle der Erzählung im Kontext menschlicher Geschichte Vogelsang 2014 (2): 231 ff. 9 Collier spricht der Narration gleich eine dreifache Funktion zur Stabilisierung von Gemeinschaften zu: »Die drei Typen von Narrationen – Zugehörigkeit, Verpflichtung und Kausalität – fügen sich zusammen und bilden ein Netz wechselseitiger Verpflichtungen. (…) Unsere Narrative gemeinsamer Zugehörigkeit sagen uns, wer dabei ist: Reziproke Verpflichtungen gelten nur für eine definierte Gruppe von Menschen, die sie für sich als bindend anerkennen.« Collier 2019: 57. 8

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mit der Vergangenheit oder gar mit der Zukunft zum Ausdruck gebracht hätten. Die Evangelische Kirche hat in gewisser Weise das 500jähre Bestehen etwas zugespitzt unter dem Motto »Luther und wir« dargestellt. Die 500-jährige Geschichte zwischen diesen beiden Punkten spielte nur eine marginale Rolle. Ähnliches kann man auch zu dem 150-jährigen Jubiläum der SPD im Jahre 2013 feststellen. Das Jubiläum war kein Anlass für starke Erzählungen, die die Gegenwart prägen und in die Zukunft weisen. Der Einfluss des hegemonialen Diskurses prägt auch das Selbstverständnis größerer Wirtschaftsunternehmen. Diese Unternehmen wären in gewisser Weise gute Kandidaten für neue Formen der Verbundenheit, denn sie binden oft über lange Zeit Menschen in ein enges Kommunikationsgeflecht. Für Familienunternehmen ist eine Erzählkultur in engen Grenzen noch möglich, hier sind es die Eigner, die ihre Familiengeschichte mit der des Unternehmens verbinden. Doch ist das Selbstverständnis großer Unternehmen fast vollständig vom globalisierten und hochdynamischen Markt bestimmt. Erzählkulturen sind in diesem Umfeld hoch ambivalent: Auf der einen Seite können sie ähnlich wie ethische Diskurse den Zusammenhalt der Mitarbeitenden in den Unternehmen fördern. Auf der anderen Seite aber gefährden sie die Flexibilität des Unternehmens. Unternehmen, die am globalen Markt operieren, mögen sich aufwändige Firmenbroschüren mit der Darstellung der Firmengeschichte leisten. Aber ihr Bestehen am Markt hängt von dessen gegenwärtigen Signalen ab, und hier bedeuten Erzählungen eher eine Einschränkung der Flexibilität. Im weltweiten Maßstab werden lokale und regional gebundene Firmenerzählungen immer weniger relevant, sie sind auch kaum noch zu kommunizieren. 10 Das aber bedeutet, dass auch Wirtschaftsunternehmen nur in sehr geringem Maße einen Beitrag zur diachronen Verbundenheit leisten.

1.

Das Gesellschafts-Geschichtliche als Magma

Die Geschichte ist die Bühne, auf der sich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Formen der Verbundenheit in ihrer spezifischen, aber immer begrenzten Dauer zeigen. Der Sozialphilosoph Cornelius CasDas Ende von »Traditionsunternehmen« wird meist bedauernd zur Kenntnis genommen, aber die Tradition ist kein Faktor in Entscheidungen und sie hat nicht die Kraft der Bindung.

10

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toriadis hat sich intensiv mit der Interpretation der geschichtlichen Dimension von Gesellschaft beschäftigt. Er betont im Gegensatz zum hegemonialen Diskurs der Spätmoderne die Bedeutung der Geschichte für das Verständnis der Gesellschaft. Weder kann man eine Gesellschaft ohne ihre geschichtliche Entwicklung beschreiben noch aber die menschliche Geschichte ohne die Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Eine Gesellschaft jenseits ihrer geschichtlichen Entwicklung ist ebenso eine Abstraktion wie die Vorstellung, Geschichte könne zunächst als eine Geschichte der Ideen oder als objektive Entwicklung wie beim »historischen Materialismus« beschrieben werden. Castoriadis zieht terminologische Konsequenzen und redet konsequent nur noch von dem »Gesellschaftlich-Geschichtlichen«. 11 Das Gesellschaftlich-Geschichtliche kann auch nicht innerhalb eines Rahmens von abstrakten Funktionen beschrieben werden. 12 Das steht in deutlichem Widerspruch zu dem hegemonialen Diskurs, denn dieser beschreibt ja die Gesellschaft vor allem als ein System von rational steuerbaren Prozessen, in denen die Teilprozesse je eine besondere Funktion haben. Die Beschreibung von Funktionen macht nur in einem sehr begrenzten Rahmen Sinn. 13 Die unterschiedlichen Formen der Verbundenheit, ob Institutionen oder solidarische Gruppen, ob soziale Bewegungen oder Gemeinschaften, sind alle Teil der Geschichte, sie sind eingebunden in einen gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklungsstrom mit vielen Freiheitsgraden. Castoriadis erläutert die Eigenständigkeit und Irreduzibilität des Gesellschaftlich-Geschichtlichen durch einen Vergleich mit der Mengenlehre: Funktionale Strukturen gehen von einer endlichen und abzählbaren Menge von Elementen aus, innerhalb derer die Funktionen der einzelnen Elemente benannt werden können. Doch sind die ge»Fast immer wird dieser Gegenstand in zwei Teile zerrissen: auf der einen Seite eine Gesellschaft (…) und auf der anderen Seite eine Geschichte, die jener Gesellschaft als eine Störung ihrer Norm vorkommt (…).« Castoriadis 1975. 285. »Entschließt man sich dagegen, das Gesellschaftlich-Geschichtliche für sich zu betrachten, sieht man ein, dass es aus sich selbst heraus zu befragen und zu durchdenken ist (…).« Castoriadis 1975: 289. 12 »Vor allem lehnen wir die funktionalistische Sicht deshalb ab, weil sie am entscheidenden Punkt eine Leerstelle lässt: Welches sind die ›realen Bedürfnisse‹ einer Gesellschaft, zu deren Erfüllung die Institutionen angeblich einzig dienen?« Castoriadis 1975: 199. 13 »Alles ist tatsächlich der Effizienz untergeordnet – aber wem, welchem Ziel, wozu dient die Effizienz?« Castoriadis 1975: 274. 11

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sellschaftlich-geschichtlichen Verhältnisse etwas anderes als Mengen aus einzelnen Elementen. 14 Sie sind komplexer als dass sie durch Mengen mit abzählbaren Elementen dargestellt werden könnten. So ist nicht zuerst eine Menge mit einer endlichen Zahl von Elementen gegeben, zum Beispiel eine Menge von menschlichen Individuen und die sozialen Verbindungen zwischen ihnen. Dieser Vorbehalt stimmt mit der Deutung gesellschaftlicher Bezüge über die existentielle Verbundenheit überein, es bleibt etwas Entscheidendes außen vor, wenn man allein auf die funktionalen Bedingungen achtet. Die existentielle Verbundenheit lässt sich darauf reduzieren. Auch wenn das Gesellschaftlich-Geschichtliche sich von funktionalen Systemen deutlich unterscheidet, so haben aber auch nach Castoriadis funktionale Beschreibungen ihre Bedeutung. Es ist ja durchaus richtig, dass es gesellschaftliche Teilsysteme gibt, dass es Organisationen mit spezialisierten Aufgaben gibt. 15 All das macht ja einen Teil moderner Gesellschaften aus. Gerade an der Ökonomie kann man sehen, dass es eine systemspezifische Rationalität gibt, die man berücksichtigen muss. Aber es ist dabei stets zu berücksichtigen, dass damit nicht die ganze Gesellschaft erfasst wird, sondern nur bestimmte ausdifferenzierte Teile, funktionale Beziehungen in einer Gesellschaft sind immer nur ein Ausschnitt aus einem viel umfassenderen Geschehen. Die Möglichkeit einer Reduktion bestreitet Castoriadis vehement. Das Gesellschaftlich-Geschichtliche entzieht sich jeder Ordnung und damit, so formuliert es Castoriadis, auch einer vollständigen bürokratischen Kontrolle. 16 Das, was sich über eine längere Strecke in temporären funktionalen Ordnungen berechnen lässt, kann sich dann von heute auf morgen ganz anders verhalten. Die Interpreten des hegemonialen Diskurses beschreiben die Entwicklung der Systeme nach ihrer Binnenlogik und werten alles daraus nicht Ableitbare als Störungen, die gering zu halten sind. Der Preis dieser pragmatischen Rationalität ist allerdings hoch: In gewisser Weise wird aus dieser Perspektive die menschliche Geschichte dann zu »Die Gesellschaft ist keine Menge, kein System und keine Hierarchie von Mengen oder Strukturen (…).« Castoriadis 1975: 382. 15 »Eine Gesellschaft kann nur existieren, wenn eine Reihe von Funktionen ständig erfüllt wird (…).« Castoriadis 1975: 199. 16 Dies unterstreicht Castoriadis mit der Einführung einer Größe, die den geschichtlichen Verlauf beeinflusst, die sich aber durch keine Vernunft bändigen lässt: das gesellschaftlich Imaginäre. Das Imaginäre ist so etwas wie die Quelle von Kreativität in der Entwicklung der Geschichte. Vgl. Castoriadis 1975: 225. 14

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nichts anderem als einer unablässigen Folge von Störungen, die man erst im Nachhinein verstehen kann. So ist etwa der verbreitete Umgang mit den regelmäßig vorkommenden ökonomischen Krisen. Castoriadis führt zur Veranschaulichung des GesellschaftlichGeschichtlichen den Begriff des »Magma« ein. 17 Seine Interpretation des Begriffs betont vor allem, dass das Magma eine andere Seinsart beschreibt als das objektiv Gegebene und Abzählbare. 18 Das Bild des Magma ist außerordentlich stark, insbesondere dann, wenn man es im Sinne eines flüssigen Lavastroms modifiziert. Was auch immer sich als Gesellschaft darstellen lässt, es ist nur eine Momentaufnahme eines sich geschichtlich ständig veränderndes Stromes, der sich wie zähflüssige Lava durch die Zeit ergießt. Diese fließende Veränderung umfasst dann zwei Aspekte, sowohl den Aspekt der Bindung an das Hergebrachte, es gibt keine völlig abrupten Wechsel, als auch den Aspekt der ständigen Entwicklung von Neuem, die Entwicklung des Flusses birgt immer wieder überraschende Wendungen. 19 In diesem Bild kommt die diachrone Verbundenheit des Menschseins zum Ausdruck, die sich über die Zeit hin erstreckt. Die Verbundenheit ist ähnlich ambivalent wie die existentielle Verbundenheit. Die Verbundenheit meint keine Fixierung, im Gegenteil, jederzeit sind Veränderungen möglich, weil dem gesellschaftlich-geschichtlichen Prozess zugleich eine kontinuierliche Kreativität durch das »Imaginäre« eigen ist. Das Unableitbare versucht Castoriadis mit dem Begriff des »Imaginären« zu fassen, das immer auch Neues in den Lauf der menschlichen Geschichte einträgt.

»Wir haben es (scil. das Gesellschaftliche) als Magma zu denken, (…) worunter ich nicht das Chaos verstehe, sondern eine nicht mengenfähige Organisationsweise einer Mannigfaltigkeit (…).« Castoriadis 1975: 310. 18 Castoriadis greift dazu auf seine Überlegungen zur Mengenlogik zurück: »Sehen wir uns einmal die Seinsart des Gegebenen an, bevor es von der Identitäts- und Mengenlogik geprägt worden ist; das, was dann, in dieser Seinsart gegeben ist, nennen wir Magma. (…) Ein Magma ist etwas, dem sich mengenlogische Organisationen unbegrenzt entnehmen lassen (…), das sich aber niemals durch eine endliche oder unendliche Folge mengentheoretischer Zusammenfassungen (…) zurücknehmen lässt.« Castoriadis 1975: 564. Das Bild einer zähen Flüssigkeit gibt nur einen Hinweis und kann die philosophische Deutung natürlich nicht ersetzen. 19 »Begreift man das Bedeutungsgeflecht kultureller und gesellschaftlicher Ordnung als Magma, so entzieht sich dieses der Alternative eines völlig unorganisierten Chaos ebenso wie der einer vollkommen organisierten Welt.« Waldenfels 2002: 283. 17

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Tendenzen in einer offenen Geschichte

2.

Tendenzen in einer offenen Geschichte

Wenn man die gesellschaftliche Entwicklung in der Geschichte in dem Bild eines flüssigen Magma, eines Lavastroms, versteht, dann hat, auch unabhängig von einer Spekulation über ein letztgültiges Ziel, die Geschichte eine Tendenz, eine Ausrichtung. In der Philosophie der Postmoderne ist diese Annahme besonders deutlich kritisiert worden. 20 Eine gerichtete Entwicklung der Geschichte hat hiernach keine konstitutive Bedeutung für die menschliche Gesellschaft, große Erzählungen stehen unter Ideologieverdacht. Nach dem Fall der Berliner Mauer konnte von liberal orientierten Autoren wie Francis Fukuyama das Ende der Geschichte ausgerufen werden. 21 Tatsächlich aber geht die Geschichte auf ihren verschlungenen Pfaden weiter, und wir sehen, dass sich auch im beginnenden 21. Jahrhundert kein statischer oder dauerhaft amorpher Zustand eingestellt hat. Es ist immer schwierig, die Gegenwart als Teil einer umfassenderen Geschichte zu deuten. Aber es ist offenkundig, dass zum Beispiel mit dem Erscheinen der Supermacht China ein neues Kapitel der Geschichte aufgeschlagen wurde, das sich deutlich von den vorigen Kapiteln und ihren Selbstgewissheiten unterscheiden wird. Geschichte ist nach Merleau-Ponty kein Kaleidoskop von einzelnen, nicht miteinander zusammen hängenden Konstellationen. Vielmehr gibt es so etwas wie geschichtliche Tendenzen, die er aber nur vorsichtig andeutet, da es ihm in späteren Schriften wichtig ist, sich von einer orthodoxen marxistischen Deutung eines objektiven geschichtlichen Verlaufs zu distanzieren: »Es gibt weniger einen Sinn der Geschichte, als eine Beseitigung des Unsinns.« 22 Tendenzen der Geschichte heben ihre Ambiguität nicht auf, sie machen aus der Geschichte keinen überschaubaren Prozess mit einem benennbaren Anfang und einem berechenbaren Ende. Aber die Geschichte kann Tendenzen erkennen lassen, wenn man auf die Folge der Ereignisse achtet. Erst in der Retrospektive zeigen sich die Entwicklungen deutlicher. Die Einschränkungen der Erkenntnisfähigkeit führen aber bei Merleau-Ponty nicht zu der Haltung eines zynischen Beobachters: Der Vorbehalt gegen eine determinierte Geschichte »besagt nicht, dass alles vergeblich und nichts zu tun wäre: Der Kampf ist jedes 20 21 22

Vgl. u. a. im Überblick Welsch 1991: 173 f. Vgl. Fukuyama 2012. Merleau-Ponty 1955: 50.

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Mal anders, doch das Mindestmaß an beanspruchbarer Gerechtigkeit vergrößert sich (…). Doch das bedeutet, dass diejenige Revolution, die die Geschichte neu schaffen wird, im Unendlichen liegt (…), dass aus diesem Grund die geschichtlichen Fortschritte sich nicht aneinanderreihen wie Stufen einer Treppe.« 23 Die Tendenzen der Geschichte lassen sich vielleicht am leichtesten skizzieren, wenn man das Augenmerk auf die technologische Entwicklung richtet. Diese Entwicklung hat eine große Bedeutung für die Entwicklung des Gesellschaftlich-Geschichtlichen. 24 Die Darstellung bei Castoriadis weist auf die Bedeutung von Wissenschaft und Technik, auch wenn sie dort nicht im Mittelpunkt steht. Er umschreibt sie mit dem Fachbegriff »teukein«. 25 Für Wissenschaft und Technik gilt: Sie verhalten sich weder neutral zur geschichtlichen Entwicklung noch determinieren sie sie. Aber sie haben einen gravierenden Einfluss. Bis auf wenige Ausnahmen, die aber immer nur temporäre Unterbrechungen waren, haben sich Wissen und Technik in der Menschheitsgeschichte immer weiter entwickelt; das einmal Erworbene wurde verbessert oder durch alternative und leistungsfähigere Technologien ersetzt. 26 Bislang gab es keine echten Rückschritte, in denen das einmal Erworbene ersatzlos und auf Dauer verloren gegangen wäre. Haben die Jäger und Sammler im günstigen Fall gerade eben Merleau-Ponty 1955: 265 f. Honneth sieht in einem technischen Determinismus eine der beiden Erklärungsmodelle für eine geschichtliche Richtung: »Das zweite Erklärungsmodell, mit dem Marx aufwartet, um die Annahme eines gerichteten Fortschritts in der menschlichen Geschichte plausibel zu machen, ist (…) gänzlich auf einen linearen Prozess der Steigerung von wissensbasierter Umweltbeherrschung zugeschnitten (…).« Honneth 2015: 76. Einen einlinigen Fortschritt wird man wohl nicht finden, aber es scheint doch, dass die Techniken und ihre kumulative Beherrschung eine geschichtliche Tendenz zum Ausdruck bringen. 25 »Die Realität eröffnet dem Tun (und dem teukein) die Möglichkeit, etwas anders zu machen als das, was ist, und so wie es ist.« Castoriadis 1975: 440. Das teukein meint vor allem das instrumentelle Handeln in der Welt. 26 Auch Castoriadis, der das Konzept einer offenen Geschichte immer wieder betont, gebraucht in diesem Zusammenhang den Begriff Fortschritt. Er grenzt das teukein vom legein ab und stellt fest: »Mit dem teukein verhält es sich anders, zumindest was die materiellen Produktionstechniken angeht. Von ihnen sind anfangs nur die abstraktesten ›Bedingungen der Möglichkeit‹ gegeben, und wie man weiß, haben sie seit wenigstens einer Million Jahren phantastische ›Fortschritte‹ gemacht.« Er schränkt dann aber gleich wieder ein: »Freilich berührt dieser Unterschied (…) nicht das Wesentliche unserer Behauptung: legein und teukein sind in sich und von sich aus erweiterbar und wandelbar.« Castoriadis 1975: 451. 23 24

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Tendenzen in einer offenen Geschichte

ihr Überleben sichern können, entstanden mit der neolithischen Revolution, der Sesshaftwerdung, der Viehzucht und dem Ackerbau so viel Ernteerträge, dass sich erste Stadtkulturen bilden konnten, die von den Erträgen des Umlandes lebten. Ein Handel setzte mit der Entwicklung der Schifffahrt ein, der auch im heutigen Maßstab weite Strecken überwand und Siedlungen im Mittelmeerraum miteinander verband. Die Schifffahrt auf den Flüssen hat schon in antiker Zeit zu einer Verbindung von Nord- und Südeuropa geführt. Mit der Fähigkeit, Metalle zu schmelzen, entwickelten sich nach einer langen neolithischen Phase in wenigen Jahrhunderten die Fähigkeit zur Kupfer-, Bronze- und Eisenverarbeitung. Im Mittelalter verdichtete sich die Stadtkultur nicht zuletzt durch neue Agrartechniken wie die DreiFelder-Wirtschaft. Diese Entwicklung der immer höheren Spezialisierung der Berufe setzte sich fort, und die Produktionssteigerung nahm schließlich in der Industriellen Revolution ungeahnte Geschwindigkeit auf. Die Beschleunigung des technologischen Wandels hat seitdem immer mehr zugenommen, wir sind zurzeit Zeugen einer neuen Basistechnologie, den digitalen Technologien, deren Folgen für den gesellschaftlichen Wandel sich erst langsam abzeichnen. Die langen Entwicklungslinien zeigen: Die Produktivität der menschlichen Arbeit ist über die Jahrtausende kontinuierlich gestiegen, und ein Ende ist auch angesichts der bevorstehenden Digitalisierung und Automatisierung nicht absehbar. Die naturwissenschaftliche Beschreibung der Wirklichkeit hat in der Neuzeit mit großem Erfolg technische Artefakte möglich gemacht, die gesellschaftliche Strukturen wohl dauerhaft prägen. 27 Arbeit als Auseinandersetzung mit den natürlichen Vorgaben ist immer auch bestimmt durch das, was sich mit Hilfe der Naturgesetze darstellen lässt. 28

Die Technik darf deshalb auch nicht auf ein Instrument zur Erreichung eines Zieles reduziert werden. Ropohl prägt deshalb den Begriff des sozio-technischen Systems, vgl. Ropohl 1979: 180. 28 Castoriadis ist es wichtig, dass man aus den natürlichen Bedingungen nicht einfach soziale Entwicklungen ableiten kann. Doch zugleich können die sozialen Institutionen die natürlichen Bedingungen auch nicht ignorieren: »Die Naturtatsache bleibt immer und überall dieselbe, aus ihr ist weder der Akt der Umwandlung in eine Bedeutung noch der jeweilige Inhalt dieser Bedeutung herzuleiten oder zu erschließen. Die Naturtatsache gibt an, wo die Eckpfeiler bzw. die Grenzen der Institution der Gesellschaft verlaufen.« Castoriadis 1975: 385. Wiederum mit einem Plädoyer für eine offene Geschichte folgert er: »Aber ein Abgrund trennt eine solche Stütze oder Anregung von einer notwendigen oder hinreichenden Bedingung.« Castoriadis 1975: 386. 27

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Formen der Verbundenheit in der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung

Die immer weiter voranschreitende Entwicklung von Wissen und Technik ist ein geschichtlicher Gradient, der sich durch die Menschheitsgeschichte zieht. Auch aufgrund der sich aktuell immer drastischer sich zeigenden destruktiven Folgen der technischen und wissenschaftlichen Entwicklung ist es jedoch nicht möglich, von einer einlinigen technikinduzierten Fortschrittsgeschichte zu reden. 29 Produktivitätssteigerung ist nicht identisch mit einer Erhöhung des Wohlstands, zumal, wenn man die Umweltbelastungen in die Betrachtung einbezieht. Die Diskussionen um Klima und Umweltzerstörung zeigen, dass man den Fortschritt zugleich als Schritt in den Abgrund deuten kann. Dann entpuppt sich der umfassende Verbrauch fossiler Energieträger als eine Sackgasse, aus der die Menschheit nur mit Mühe herausfinden kann. Das 20. Jahrhundert zeigte neben beeindruckenden Entwicklungen auch dramatische Einbrüche durch immer wieder große, zerstörerische Kriege, die gerade durch die neuen Technologien möglich wurden. Der Klimawandel und seine Bekämpfung werden erhebliche Veränderungen erzwingen, ein Abbruch weiterer technologischer Entwicklung ist aber nicht zu erwarten. Aber auch hier gilt: Die Geschichte ist offen, sie ist nicht mit einem auf Gleise gesetzten Zug vergleichbar, dessen Richtung und Ziel durch die Entwicklung von Wissenschaft und Technik bestimmt wäre. Es bleibt eine unausweichliche geschichtliche Ambiguität, die auch das Bild des ungebändigten Magmas wiedergibt.

3.

Kontingente Ereignisse in einer offenen Geschichte

Diese geschichtlichen Tendenzen sind sehr langfristig angelegt, sie geben der Menschheitsgeschichte eine Richtung. Doch zugleich sind auch immer jene Veränderungen zu berücksichtigen, die trotz aller Tendenzanalysen nicht zu erwarten oder zu prognostizieren sind. Als Magma ist das Gesellschaftlich-Geschichtliche weder völlig undurchschaubar noch ist es in einer geschlossenen Theorie darstellbar. Der Lavastrom ergießt sich auf unbekanntem Gelände, auch wenn

Unter Bezug auf John Dewey hält Honneth fest: »Allerdings verlangt auch ein solches experimentelles Geschichtsverständnis, demzufolge der historische Prozess auf jeder folgenden Stufe wieder neue, erschließende Potentiale für Verbesserungen bereithält, seinerseits nun nach einer Richtschnur dafür, was als Verbesserung gelten kann (…).« Honneth 2015: 96.

29

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Kontingente Ereignisse in einer offenen Geschichte

manche Bewegungen nachvollziehbar sind, wenn es Tendenzen in der geschichtlichen Entwicklung gibt, wenn, um im Bild zu bleiben »Spurrillen« zu erkennen sind, kann er immer wieder überraschende Bewegungen machen. Ein zentrales Anliegen von Castoriadis in der Darstellung des Gesellschaftlich-Geschichtlichen ist die Betonung ihrer Dynamik gerade durch ihre ununterbrochene Kreativität. 30 Anders als marxistische Geschichtsentwürfe, anders aber auch als liberale Beschreibungen gesellschaftlicher Entwicklung führen die Bedingungen der menschlichen Geschichte dazu, dass man immer auch das Unerwartete erwarten muss. Das Neue im geschichtlichen Prozess, das nicht aus bestehenden Ordnungen abgeleitet werden kann, ist möglich, weil die menschlichen Verhältnisse immer auch durch das »Imaginäre« bestimmt sind. Das Imaginäre steht gegen eine vollständige kausale oder teleologische Beschreibung der gesellschaftlich-geschichtlichen Prozesse. »Von Anfang an zeigt sich in der Geschichte ein Sinn, der kein Sinn des Realen (…) ist, der aber auch weder rational noch positiv irrational ist; ein Sinn, der weder wahr noch falsch ist, aber dennoch zur Ordnung der Bedeutung zählt. Dieser Sinn ist eine imaginäre Schöpfung, die der Geschichte eigen ist (…).« 31 Das Imaginäre überschreitet das Reale wie der Leib den Körper. Die Gesellschaft partizipiert an diesem Strom des immer Neuen, deshalb ist ihre Verwobenheit in einer geschichtlichen Entwicklung so wichtig. Castoriadis behält die Marxsche Vorstellung bei, dass Gesellschaft nur als Teil einer Geschichte verstanden werden kann. Er setzt sich aber mit allem Nachdruck von der Vorstellung ab, diese Geschichte sei mit den Mitteln der Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse versteh- oder gar beherrschbar. Das Imaginäre kommt in seiner Wirkung auf den gesellschaftlich-geschichtlichen Prozess jener Rolle sehr nah, die die existentielle Verbundenheit in der hier vorgeschlagenen Interpretation der Leibtheorie von Merleau-Ponty einnimmt. Das Imaginäre ist wie die existentielle Verbundenheit nicht über eine Theorie einzufangen. Sie sind nicht als eine für sich existierende, hinzukommende Quelle für Unberechenbares, sondern sind von Beginn an mit dem Gesellschaftlich-

»Ohne ein produktives, schöpferisches oder – wie wir es genannt haben – radikales Imaginäres, wie es sich in der untrennbaren Einheit von geschichtlichem Tun und gleichzeitiger Herausbildung eines Bedeutungsuniversums offenbart, ist Geschichte weder möglich noch begreifbar.« Castoriadis 1975: 251. 31 Castoriadis 1975: 275. 30

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Formen der Verbundenheit in der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung

Geschichtlichen verknüpft durch den sozialen Austausch (zwischen-) leiblich existierender Menschen. Die Hauptlehre des Imaginären ist: Nichts müsste innerhalb einer gegebenen gesellschaftlich symbolischen Ordnung so sein, wie es ist. So partizipieren zum Beispiel alle gesellschaftlichen Symbole an dem Imaginären. Sie haben eine Bedeutung, aber es ist immer möglich, dass sich diese Bedeutungen auch verschieben können. Wenn man nach dem Fundament gesellschaftlich funktionaler Strukturen fragt, stößt man auf Elemente der Gesellschaft, die sich über Funktionsbestimmungen nicht mehr erfassen lassen, die auf ein Imaginäres weisen, das die Gesellschaften geprägt hat. 32 Geschichte ist eine auf die Zukunft hin offene Bewegung. Die theoretische Herausforderung besteht nach Castoriadis darin, das Gesellschaftlich-Geschichtliche in diesem Zwiespalt zwischen Ordnung und Ungeordnetem zu beschreiben. Dies lässt sich mit dem Verhältnis zwischen existentieller Verbundenheit und den Formen der Verbundenheit in Beziehung setzen. Die Geschichte besteht aus Strukturen, die immer veränderbar sind und sich in einem ständigen Veränderungsprozess befinden. Die Veränderungen sind nicht im Einzelnen prognostizierbar, sie lassen sich nicht aus gesellschaftlich wichtigen Funktionen ableiten. Familien, Vereine, Parteien kann man auf der einen Seite ohne Zweifel Funktionen im gesellschaftlichen Kontext zuweisen, doch zugleich wäre es falsch, ihre Existenz auf diese Funktionen zu beschränken. Es gibt immer wieder Wandlungen oder Widerstand gegenüber Wandlungen. Aus der Perspektive des hegemonialen Diskurses mag man diesen unberechenbaren Wandel als einen Restbestand an Irrationalität in der gesellschaftlichen Entwicklung abtun, aber diese Komponente ist nach Castoriadis konstitutiver Bestandteil der menschlichen Geschichte. Die Betonung des Unverfügbaren inmitten der Gesellschaft ermöglicht ein offenes Geschichtskonzept. Die gesellschaftlichen Formationen suchen sich ihren Weg durch die Zeit wie ein Strom, sie nehmen immer wieder Neues auf, neue Probleme und Herausforderungen lösen unablässig alte Probleme und Herausforderungen ab. 33

»Jede bisherige Gesellschaft hat versucht, einige Grundfragen zu beantworten: Wer sind wir als Gemeinschaft? (…) Die Rolle der imaginären Bedeutungen liegt darin, eine Antwort auf solche Fragen zu liefern – eine Antwort, die weder ›Realität‹ noch ›Rationalität‹ zu geben vermögen.« Castoriadis 1975: 252. 33 »Endlos wälzt sich der Strom des unermesslichen Geschehens der Ewigkeit ent32

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Kontingente Ereignisse in einer offenen Geschichte

Der Zugang zur Geschichte ist bei Castoriadis etwas anders akzentuiert als bei Merleau-Ponty und doch ist jener Effekt derselbe, dass die Geschichte sich einem theoretischen Zugriff verweigert, dass man in der Geschichte immer auch mit unberechenbaren, überraschenden Wendungen rechnen muss. 34 Kein Akteur verfügt über ein Überblickswissen oder kann eine neutrale Position für sich reklamieren, alle sind Teil eines »Spiels«, das keiner vollständig überschaut. Mit der eigenen Endlichkeit geht eine Parteilichkeit einher, die man bei aller Selbstkritik nicht vollständig auflösen lässt. Man ist immer schon Teil des Spiels, was man zugleich distanziert nüchtern beschreiben will. Geschichte ist ein Abenteuer mit offenem Ausgang. Existentielle Verbundenheit ist nie ohne Zweideutigkeit; das was einen trägt, kann zugleich auch als Bedrohung wahrgenommen werden. Formen der Verbundenheit wiederum sind zugleich Hilfe wie auch Beschränkung. Gesellschaftlich-geschichtliche Prozesse sind in ihrer konkreten Ausgestaltung wie auch in ihrem Wandel kontingent. Sie sind nicht durch eine instrumentelle Vernunft beherrschbar, keine Bürokratie der Welt kann den Strom bezwingen, Prognosen bleiben immer defizitär. Vertreterinnen und Vertreter des hegemonialen Diskurses versuchen dagegen, die geschichtliche Entwicklung auf die funktionalen Systeme hin zu reduzieren und mit den Mitteln der instrumentellen Vernunft in den Griff zu bekommen. Das Konzept der offenen Geschichte vereint die gegenläufigen Aspekte langfristiger geschichtlicher Tendenzen und kontingenter Ereignisse. Die Einsicht in die Kontingenz der geschichtlichen Entwicklung ist bedeutsam für die Bewertung von Formen der Verbundenheit. In der Geschichte hat es immer wieder Versuche gegeben, Idealformen von Gesellschaft, ideale Formen der Verbundenheit zu postulieren, einerlei, ob man sie in der Vergangenheit findet oder in der Zukunft, die dann so etwas wie ein Maßstab für die gegenwärtigen Formen der Verbundenheit werden. Doch damit wäre die Geschichte nicht mehr offen.

gegen. Immer neu und anders gefärbt bilden sich die Kulturprobleme, welche die Menschen bewegen (…).« Merleau-Ponty 1955: 31. 34 Das gilt selbst dann, wenn man meint, sinnhafte Totalitäten erkennen zu können. »Die erkennbaren Totalitäten der Geschichte lösen sich nicht aus ihrer Bindung an die Kontingenz (…). Die Geschichte umfasst dialektische Tatsachen, umrisshafte Bedeutungen; sie ist kein fortlaufendes Schlussfolgern.« Merleau-Ponty 1955: 32.

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Formen der Verbundenheit in der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung

4.

Konflikte in einer offenen Geschichte

Das Gesellschaftlich-Geschichtliche ist nicht nur in einem Prozess steter kreativer Veränderungen. Seine Unberechenbarkeit ergibt sich aber noch aus einer anderen Quelle. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte voller Konflikte und Auseinandersetzungen. Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne bewertet die Konflikte ebenso wie die kontingenten Ereignisse als Störungen der funktionalen Systeme, die grundsätzlich überwunden werden können oder zumindest minimiert werden sollen. Wenn es gelingt, mit den Mitteln der instrumentellen Vernunft die gesellschaftlichen Systeme zu lenken und dieses Handeln anhand moralischer Regeln und allgemeiner Werte auszurichten, so die Verheißung, dann lassen sich Konflikte tendenziell beseitigen und Lösungen zum Wohle aller finden. Offen ausbrechende Konflikte sind einem fehlerhaften Verhalten zuzurechnen, sie sind wie kontingente Ereignisse als Störungen von üblicherweise stabilen Systemen einzustufen. Tatsächlich aber sind Konflikte viel grundlegender in die gesellschaftlich-geschichtliche Entwicklung eingelassen, sie begleiten die menschliche Geschichte und können sich immer wieder destruktiv äußern. Was macht Konflikte so fundamental, dass sie nicht durch umsichtiges Verhalten beseitigt werden können? Man kann sich den Konflikten auf zweierlei Weise nähern, einerseits von den Bedingungen der leiblichen Existenz her, indem man an die Erfahrungen existentieller Verbundenheit anknüpft, andererseits über eine Betrachtung gesellschaftlicher Verhältnisse, insbesondere der Rolle, die partikulare Formen der Verbundenheit in ihr spielen. Erstens gehört zu den Erfahrungen existentieller Verbundenheit zugleich das Gegenteil dessen, was man mit Verbundenheit im alltäglichen Sinne assoziiert, nämlich der Konflikt. Das folgt aus den phänomenologischen Analysen, die Bernhard Waldenfels vorgenommen hat. Das Eigene ist nie ohne das Fremde. 35 Das heißt in der hier verwendeten Begrifflichkeit: die Verbundenheit führt einerseits zum Eigenen, aber zugleich auch zu der Gefährdung des Eigenen, zum Aufscheinen des Fremden. Die existentielle Verbundenheit lässt sich ebenso wenig für das Eigene allein reklamieren wie der Leib. Das

Das Eigene und das Fremde entstehen durch das Auseinandertreten in einer Diastase, sodass das eine nicht ohne das andere ist, vgl. Waldenfels 2006: 20.

35

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Konflikte in einer offenen Geschichte

Fremde ist immer schon zugleich auch präsent. Dieses Zugleich resultiert aus der Verbundenheit selbst und ist deshalb nicht überwindbar. Die leibliche Existenz eines endlichen Menschen ist immer in ein gesellschaftlich-geschichtliches Geflecht eingebunden. Menschen sind immer schon so miteinander verbunden, dass sie bei dem Versuch, sich ganz auf das Eigene unter Ausschluss des Fremden zu konzentrieren, notwendig scheitern müssen. Das Eigene ist unter den Verhältnissen der leiblichen Existenz nicht ohne das Fremde zu haben. Der Andere und auch der Fremde sind deshalb in der leiblichen Existenz immer präsent, Identität und Konflikt bedingen einander. Bei der Suche nach Identität kann es deshalb nur darum gehen, ein offenes und variables Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu finden. Jede Identität ist instabil und repräsentiert nur einen fragilen Zustand. Das Bestreben, die eigene Identität fest im Eigenen zu verankern, muss scheitern. Das Eigene zu sichern geschieht über Versuche, die Umgebung zu kontrollieren, sowohl die umgebende Wirklichkeit wie auch die Menschen, mit denen man verbunden ist. Das Verlangen nach Identität führt zu immer neuen Kontrollversuchen in vielfältigen Formen von Verbundenheit. Doch statt die Identität zu sichern, führen ausgreifende Kontrollversuche immer wieder zu weiteren Konflikten. Jede und jeder versucht eine Kontrolle über sein soziales Umfeld zu gewinnen und die jeweiligen Kontrollversuchen der miteinander verbundenen Menschen führen unausweichlich zur Kollision und zu Konflikten. Hier geht es nicht um psychologische oder »innere« Einstellungen. Die Verbundenheit des Körpers mit der umgebenden Wirklichkeit, seine Bedürftigkeit nach Nahrung führt dazu, dass ein endliches Wesen stets darum bemüht ist, die knappen Ressourcen seiner Umwelt zum Lebenserhalt zu sichern. Nicht alle Kontrollversuche sind erfolgreich. Die Kontrollversuche anderer werden dagegen oft als bedrohlich bei der Stabilisierung der eigenen Existenz wahrgenommen. Dann wird schnell aus dem Anderen ein Gegner, wenn nicht gar ein Feind. Gerade die größte Verbundenheit kann als stärkste Bedrohung der eigenen Identität erlebt werden. Existentiell tiefgreifende Krisen und Konflikte gibt es oft zwischen jenen, die sich besonders nah sind. Der hegemoniale Diskurs legt nahe, dass Identität als die Selbstverwirklichung der Individualität gedeutet werden muss. Dann sollte es im Idealfall möglich sein, dass jede und jeder ihre oder seine eigene Identität ungestört von den anderen optimiert. Entscheidend ist allein die Toleranz anderen gegenüber. Werden die einschränkenden äußeren Einflüsse vor 135 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Formen der Verbundenheit in der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung

allem durch andere Menschen ausgeschaltet, so steht der Entwicklung einer eigenen Identität nach diesen Vorstellungen nichts mehr im Wege. Doch tritt der verheißene Zustand von Konfliktfreiheit in einer hochindividuellen Gesellschaft nicht ein. Immer wieder tauchen auch hier neue Konfliktpunkte in vielfältigen Konstellationen auf. Tatsächlich sind die Menschen nicht ungebundene Individuen. Die stete Existenz von Konflikten zeigt, dass ein Ansatz über individuelle Identitäten zu kurz greift. Zweitens lassen sich gesellschaftliche Konflikte auch als Konflikte um oder zwischen den Formen der Verbundenheit deuten. Sie kommen in den Blick, wenn man auf jene Konflikte achtet, in die viele Menschen zugleich involviert sind. Die Politologin Chantal Mouffe betont, dass gerade demokratische Gesellschaften notwendigerweise durch Konflikte gekennzeichnet sind, die offen ausgetragen werden müssen. Die unausweichliche Existenz von Konflikten in jeder menschlichen Gesellschaft leitet sie aus dem grundlegenderen Gedanken eines gesellschaftlichen Antagonismus ab. Mouffe hat zusammen mit Ernesto Laclau die Figur des Antagonismus eingeführt, um die Unabschließbarkeit jeder Gesellschaftstheorie zu unterstreichen. 36 Der Antagonismus ist ein nicht auflösbarer Widerstreit, der verhindert, dass eine menschliche Gesellschaft als ein geschlossenes Ganzes dargestellt werden kann. Gesellschaften lassen sich nicht, wie dies der hegemoniale Diskurs nahe legt, als im Prinzip rational steuerbare Systeme deuten. Es gibt keine Rationalität des Ganzen. Dies schließt sich an die Erkenntnisse an, die schon bei Merleau-Ponty und Castoriadis gemacht werden konnten. Weist die geschichtliche Kontingenz auf die Unmöglichkeit einer geschlossenen Theorie der Gesellschaft, so beschreibt der Konflikt die Anwesenheit von realen gesellschaftlichen Kräften, die nicht nur eine politische Deutung erschweren. Konflikte reduzieren auch die Möglichkeiten des politischen Handelns, sie können nicht ignoriert werden. Andererseits können sie ihrerseits auch neue Handlungen möglich machen, wenn man sie konstruktiv zu nutzen versteht. Beide Zugänge zu den Konflikten, die unterschiedlichen Versuche der Kontrolle von Einzelnen wie auch der gesamtgesellschaftli»Diese ›Erfahrung‹ der Grenze aller Objektivität hat eine Form präziser diskursiver Präsenz als Antagonismus.« Laclau, Mouffe 1985: 158. Vgl. auch Laclau 2007: 26: Der Antagonismus steht dort in einem engen Zusammenhang zum Marxschen Diktum, dass die Geschichte der Menschheit die Geschichte der Klassenkämpfe sei.

36

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Konflikte in einer offenen Geschichte

che politische Antagonismus, zeigen, dass Konflikte nicht einfach durch rationalisierende Prozesse oder durch moralisierende Verfahren eingebunden werden können. Der Antagonismus ist die in die politische Sphäre der gesamten Gesellschaft gehobene Einsicht, dass eine umfassende Verwirklichung von Identität sub conditione humanae nicht möglich ist. 37 Der Antagonismus wendet sich explizit gegen ein rationalisierendes und moralisierendes Verständnis der Politik des hegemonialen Diskurses. 38 Jede Gesellschaft ist von Brüchen und Konflikten bestimmt, die keiner der Beteiligten aufheben kann. Der Antagonismus verbindet sich zunächst mit einer negativen Aussage. Für Mouffe ist jedoch insbesondere die positive Folgerung aus dieser Einsicht wichtig: Der Antagonismus ist zentral für die Begründung demokratischer Staatsformen. Wenn es keine prästabilisierte Harmonie, keine Auflösung der Konflikte von einer höheren Warte durch eine instrumentelle Vernunft gibt, dann ist der offene Austausch und das Ringen partikularer Kräfte um eine Mehrheit in der Gesellschaft umso wichtiger. Die Demokratie ist die beste Staatsform für das Aushandeln der unauflöslichen Interessenskonflikte, demokratische Prozesse sind in gewisser Weise auf Konflikte angewiesen. 39 Die nicht aufhebbare Existenz von Konflikten in menschlichen Gesellschaften steht in engem Zusammenhang mit den Formen der Verbundenheit. Formen der Verbundenheit sind notwendigerweise partikular. Das heißt, sie führen zu einer Einschließung und zugleich zu einer Ausschließung. Die Gegnerschaft, die mit den Konflikten einhergeht, führt nach Mouffe zu einer Unterscheidung von »Wir« und »Die«. Diese Unterscheidung ist nicht unerheblich für die Entstehung und Entwicklung von Formen von Verbundenheit in der Geschichte. Entlang von Konfliktlinien entstehen automatisch distanzierende Unterscheidungen von »Wir« und »Die«. 40 Bei ernsthaften »Insofern es einen Antagonismus gibt, kann ich für mich selbst keine vollständige Präsenz sein.« Laclau, Mouffe, 1985: 161. 38 »Auf dem Fundament von Rationalismus, Individualismus und abstrakten Universalismus muss dieser Theorietyp gegenüber der Natur des Politischen und der Unauslöschlichkeit des Antagonismus blind bleiben.« Mouffe 2007: 42. 39 Mouffe beschreibt dies als »agonistisches« Modell der Demokratie, vgl. Mouffe 2007: 44 f. 40 »Politik zielt vielmehr auf die Schaffung von Einheit im Kontext von Konflikt und Diversität; sie hat immer mit der Schaffung eines »wir« durch die Bestimmung der »anderen« zu tun.« Mouffe 2007: 45. 37

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Formen der Verbundenheit in der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung

Konflikten kann es keine Neutralität geben, jede und jeder muss sich positionieren. Ein solchermaßen verstandenes »Wir« ist eine Keimzelle für bestimmte Formen der Verbundenheit. Gerade das solidarische Handeln in der Tradition der Arbeiterbewegung ist durch bestehende gesellschaftliche Konflikte geprägt. Menschen sind zueinander solidarisch, weil sie sich in derselben politischen Auseinandersetzung vorfinden. Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne tut sich gerade mit der Vorstellung nicht auflösbarer Konflikte sehr schwer. Die beiden Begriffe, mit denen er Handeln in der Gesellschaft verbindet, Rationalität und Moralität, sind durch Universalität geprägt. Eine politische Theorie unter diesen Vorgaben kann nicht auflösbare partikulare Konflikte nicht akzeptieren. Im Gegenteil, jede Einschränkung eines Wir gegenüber dem universalen Standpunkt ist äußerst suspekt. Verwerfungen und Widerstände auf diesem Wege gelten als Residuen vergangener Zeiten. Hier herrscht die Interpretation vor, dass Konflikte sich in der Regel durch ein rational zu beschreibendes Gesamtkonzept gesellschaftlicher Systemsteuerung und durch den Bezug auf übergreifende Werte auflösen lassen. Gesellschaftliche Konflikte sind dabei natürlich möglich und manchmal auch unumgänglich. Die Eigengesetzlichkeit der Systeme kann partikulare, aus kontingenten geschichtlichen Entwicklungen entstehende Konflikte nur als äußere Störungen werten, die es nach Möglichkeit zu vermeiden gilt. Wenn dennoch Konflikte auftreten, die sich nicht mit den etablierten Mechanismen der Systemsteuerung beheben lassen, so weisen sie auf ein Defizit, das eher bei den jeweiligen Konfliktparteien zu suchen ist, oft verbunden mit einem moralischen Vorwurf, partikulare Interessen von Gruppen über das gemeinsame Ganze zu stellen. Im Fokus stehen die gesellschaftlichen Systeme, die sich in einer gewissen Eigengesetzlichkeit entwickeln müssen, um erfolgreich zu sein. Manchmal ist in der Tat eine Bearbeitung der Konflikte dadurch möglich, dass man eine übergeordnete Perspektive einnimmt und nicht die partikularen Interessen aufeinander prallen lässt. Aber diese je und je zu konstruierende übergeordnete Perspektive steht nicht einfach für die Welt, wie sie eigentlich ist. Es ist gerade diese Verwechselung, die den hegemonialen Diskurs ausmacht: Er imaginiert eine übergeordnete Perspektive, eine humanistische, eine moderne, eine rationale, die man nur einnehmen muss, um zu einvernehmlichen Lösungen zu kommen. Doch gibt es eine solche Perspektive für die Vielzahl von geschichtlich bedingten Konflikten nicht. 138 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Konflikte in einer offenen Geschichte

Nach Mouffe führt aber eine Reklamation von universellen Standpunkten, die sich angeblich rational verteidigen lassen, unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen, nur zu einer Kaschierung von Interessenkonflikten, die die Gesellschaft kennzeichnen. Unter dem Mantel eines vorschnellen Universalismus setzen sich die machtvollen Interessen in den vorhandenen partikularen Strukturen durch. Es gibt ihrer Meinung nach eine unglückliche, sich gegenseitig stabilisierende Trias von Universalität, Moralisierung und Rationalisierung. Das ist der zentrale Vorwurf, den sie den Vertreterinnen und Vertretern des hegemonialen Diskurses macht. 41 Es gibt aber weder die Möglichkeit, Konflikte durch moralische Vorgaben zu lösen, noch sie durch rationalisierende technische Konzepte oder operative Eingriffe beseitigen zu wollen. 42 Wären Konflikte auf diese Weise auflösbar, dann wären sie nur ein Oberflächenphänomen, sozusagen ein kollektives Missverständnis, das sich durch umsichtiges Handeln auflösen ließe. Dadurch wird aber die politische Form der Demokratie gefährdet, denn diese zehrt nach Mouffe von der Auseinandersetzung unterschiedlicher Positionen. Demokratische Politik besteht aus Konflikten, die nicht durch eine technische Rationalität aufgelöst werden können. Gerade die Beschreibung der Konflikte macht ihrer Meinung nach die Differenz zwischen Moral und Politik aus. Demokratie als politische Form einer offenen Gesellschaft ist notwendigerweise mit Konflikten verbunden und eine voreilige Betonung von Konsensen ist letztlich eine Infragestellung der Demokratie. Der hegemoniale Diskurs unterschätzt den Kampf um knappe Ressourcen und den Kampf um die Kontrolle der Identität auch von Formen der Verbundenheit in kontingenten geschichtlichen Konstellationen. Der Begriff des Konflikts in der Politik ist also von großer Bedeutung. Andererseits ist er allerdings auch nicht ohne Gefahr. Mouffe bezieht sich in ihrer Suche nach stützenden Argumenten für die Vorstellung einer vom Antagonismus geprägten Demokratie auch auf den rechtskonservativen politischen Theoretiker Carl Schmitt. 43 Dieser hatte die Unterscheidung von Freund und Feind zur Grundunterscheidung von Politik erkoren. Sie tut dies allerdings unter Vor»Infolge der unwidersprochenen Hegemonie des Neoliberalismus sind Ethik und Moral an die Stelle der Politik getreten.« Mouffe 2007: 46. 42 Es reicht nach Mouffe nicht aus, »wenn die liberale Theorie die Existenz einer Pluralität von Werten anerkennt und das Lob der Toleranz singt (…).« Mouffe 2017: 13. 43 Vgl. Mouffe 2017: 18 f. 41

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Formen der Verbundenheit in der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung

behalt. Das Freund-Feind Schema von Schmitt hält sie aus guten Gründen für wenig demokratiekompatibel und schwächt den Gegensatz von der Feindschaft zur Gegnerschaft ab. Denn in einer Demokratie herrschen Regeln, denen sich auch Konflikte fügen müssen, sonst ist die Demokratie selbst in Gefahr. Kritiker werfen ihr vor, hier undeutlich zu sein. Von wo sollten sich die prozeduralen Regeln demokratischer Verfahren ableiten lassen, wenn es keinen übergeordneten oder neutralen Standpunkt gibt? Hier bleibt Mouffe Antworten schuldig, da sie bei allem Plädoyer für die Notwendigkeit von Konflikten immer solche meint, die auch zivilisatorisch eingehegt werden können. Wie kann Mouffe diese destruktiven Konflikte von regulierten demokratischen Verfahren trennen? Was genau kennzeichnet Konflikte, dass sie sich letztlich doch innerhalb von gesellschaftlichen Regelwerken stattfinden? Offenkundig sind Regelwerke wie die demokratischen Verfassungen von entscheidender Bedeutung, weil sie den Rahmen vorgeben, innerhalb dessen Konflikte möglich sind. Doch dann ist der gesellschaftliche Antagonismus in entscheidender Weise eingeschränkt. Mouffe bevorzugt in späteren Schriften deshalb auch von agonistischen statt von antagonistischen Konflikten zu reden. 44 Richtig bleibt trotz der Abgrenzungsschwierigkeiten die Einsicht in die grundlegende Rolle, die Konflikte in politischen Auseinandersetzungen spielen. Dies hat aber erhebliche Folgen für die Darstellung von Gesellschaft: Während die Kontingenz der geschichtlichen Ereignisse schon eine allgemeine und umfassende Theorie verhindert, so schränken Konflikte die Beschreibungsfähigkeit noch weiter ein. Alle Ansätze einer Beschreibung von Gesellschaft sind perspektivisch verzerrt, es gibt nicht den einen objektiven Zugang, Menschen sind als leibliche Wesen Teil des Gesellschaftlich-Geschichtlichen und damit immer auch parteiisch. Das bedeutet nicht, dass alle Versuche gleichwertig und gleichermaßen voreingenommen sind. Es heißt aber, dass alle Versuche sich immer in einer offenen Auseinandersetzung um die beste Interpretation bewähren müssen. Jedes konkrete politische Handeln muss sich notwendigerweise mit den in der Gesellschaft immer schon existierenden Konflikten auseinandersetzen und kann ihnen gegenüber nicht einfach eine neutrale Haltung einnehmen. Eine politische Haltung, die die Konflikte leugnet, wird schnell ideo-

44

Vgl. Mouffe 2007: 44.

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Konflikte in einer offenen Geschichte

logisch, sei es, dass sie in eine imaginierte konfliktfreie Vergangenheit zurückverweist, sei es, dass sie auf scheinbar neutrale gesellschaftliche Systeme verweist, deren Funktionalität sie allein sicher stellen will.

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7. Wandel der Formen der Verbundenheit in Phasen großer Transformationen

1.

Der Vergleich von 1820 und 2020

In der Moderne haben unterschiedliche Idealbilder von Formen der Verbundenheit miteinander um Einfluss gerungen. In den nun folgenden Kapiteln werden unterschiedliche Formen der Verbundenheit diskutiert und danach befragt, welche Bedeutung ihnen angesichts der gewaltigen Umbrüche die Gesellschaft in der Zukunft zukommt. Das Bild des Gesellschaftlich-Geschichtlichen als Magma legt nahe, dass auch die gesellschaftliche Zukunft aus einer Mischung der Veränderung bestehender Formen und der Bildung neuer Formen bestehen wird. Unübersehbar werden dabei die digitalen Technologien einen großen Einfluss haben. Ihre flächendeckende Einführung und Nutzung verändert fast alle gesellschaftlichen Prozesse und den Alltag der meisten Menschen tiefgreifend. Die Gesellschaften befinden sich nicht zuletzt auch durch die digitalen Technologien in einem längerfristigen und irreversiblen Umbruch. Im Wechselspiel mit dem hegemonialen Diskurs führen die digitalen Technologien zunächst zu einer weiteren Verstärkung von Individualisierungsprozessen und zu einer weiteren Schwächung herkömmlicher Institutionen. Lässt sich aus den bisherigen Erfahrungen die zukünftige Entwicklung prognostizieren? Lässt sie etwa die Aussage zu, dass digitale Technologien die Vereinzelung in der Gesellschaft unweigerlich erhöhen? Eine solche Entwicklung ist nicht zwangsläufig. Es ist fraglich, ob die Digitalisierung auf längere Sicht Formen der Verbundenheit schwächen wird. Es gibt Hinweise darauf, dass sie im Gegenteil vielfältige Netzwerkbildungen und so auch neue Formen der Verbundenheit möglich macht. Diese Perspektive wird das elfte Kapitel thematisieren. Offenkundig aber ist, dass die neuen Technologien einen großen Einfluss auf die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung haben werden. Grundlegende gesellschaftliche Umbrüche lassen sich in ihrem 142 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Der Vergleich von 1820 und 2020

Vollzug nicht leicht deuten. Lässt sich der aktuelle Umbruch besser verstehen, wenn man ihn mit anderen radikalen Umbrüchen der Vergangenheit vergleicht? Hier ist in erster Linie an die frühe Phase der Industrialisierung im 19. Jahrhundert zu denken. Inwieweit hilft es, plakativ formuliert, die Jahre 1820 und 2020 miteinander zu vergleichen? Die Unterschiede zwischen ihnen sind groß, dennoch mag es sein, dass der Vergleich der Entwicklungen über zweihundert Jahre hinweg als Heuristik dienen kann, wichtige Aspekte des Wandels gegenwärtiger Gesellschaften besser in den Blick zu bekommen. Karl Polanyi hat für das Jahrhundert, das nach 1820 folgt, das durch die Entwicklung von nationalstaatlichen Marktgesellschaften gekennzeichnet ist, den eingängigen Begriff der »großen Transformation« geprägt. 1 Haben wir ein ähnliches Jahrhundert, wieder eine große Transformation vor uns? Im groben Vergleich der Zeiten fallen zwei Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede ins Auge. Welches sind die Gemeinsamkeiten? Beide Zeiten sind einerseits von weitreichenden technologischen Neuerungen geprägt, in beiden werden andererseits die gesellschaftlich bewährten Formen der Verbundenheit stark geschwächt, ohne dass sich zugleich neue anbieten. Gravierende Unterschiede zwischen den Zeiten sind allerdings auch schnell benannt: Die Entwicklung im 21. Jahrhundert findet auf einem ganz anderen Wohlstandsniveau als 1820 statt. Menschen stehen in den industrialisierten Gesellschaften nicht vor der Gefährdung ihrer nackten Existenz wie in vielen Fällen im Jahr 1820. Ein weiterer gewichtiger Unterschied ist die gesellschaftliche Verortung der neuen Technologien. Die digitalen Technologien durchdringen in großer Geschwindigkeit den Alltag fast aller Menschen, die Industrialisierung dagegen war erst einmal ein Geschehen, das auf die Produktionsorte beschränkt blieb. 1820 steht für eine Zeit, in der zumindest in England die Industrialisierung die gesellschaftlichen Verhältnisse tiefgreifend wandelte, die anderen europäischen Länder folgten mit einigem Abstand. Die Basis für die Entwicklung war eine technologische Neuerung: Die regulierte Dampfmaschine war es, die den Bedarf an Kohle als fossiler Energie massiv steigerte und die zugleich bei der Förderung von Kohle eine entscheidende Rolle spielte, weil die Abtäuf- und Entwässerungsbedingungen in den Bergwerken sich durch sie deutlich

1

Polanyi 1944.

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Wandel der Formen der Verbundenheit in Phasen großer Transformationen

verbessern ließen. 2 Damit der Transport der wachsenden Stoffmengen bewältigt werden konnte, war weiterhin in den folgenden Jahren der Einsatz der mobilen Form der Dampfmaschine, der Eisenbahn, von größter Bedeutung. Die weitere Entwicklung der Eisenbahn führte zu einem selbsttragenden Kreislaufprozess: Sie verbrauchte für den Aufbau des Schienennetzes und für den Betrieb große Mengen an Stahl und Kohle, deren Transport sie selbst wiederum erleichterte. 3 Die Faktoren verstärkten sich gegenseitig und führten zu einem starken Wachstum der frühen Stahl- und Kohleindustrie. Die mit der Ausnutzung der Dampfkraft einhergehende dramatische Steigerung der Produktivkraft in der Textilindustrie, der Eisenverarbeitung, der Kohlegewinnung und dem Transportwesen war eng verwoben mit einer gravierenden Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die feudalen Strukturen wurden immer schwächer, das Bürgertum gewann an Einfluss. Die ursprünglichen Manufakturen vergrößerten sich kontinuierlich zu Industrieanlagen. Schritt für Schritt wurden die Einschränkungen der feudalen Gesellschaften gelockert, etwa die Bindung an einen Wohnort, das Bürgertum erhielt mehr und mehr Handlungsfreiheiten. Viele dieser »Befreiungen« gingen zulasten der Ärmsten. In Deutschland sind zu nennen die Einführung der »Gewerbefreiheit« in Preußen ab 1806 und die »Bauernbefreiung« in Preußen ab 1807. Das eine führte zu mittellosen Tagelöhnern, das andere zu einer Vielzahl von vom Meister abhängigen Gesellen. 4 Die Ungleichheit in der Gesellschaft erhöhte sich dramatisch, traditionelle Formen der Dorfgemeinschaften wurden aufgelöst. Großfamilien und überschaubare Dorfkulturen brachen auseinander, es gab eine Migrationsbewegung aus den ländlichen Räumen in die Städte, der Zuzug vieler Menschen verursachte ein unkoordiniertes Stadtwachstum durch zum Teil slumartige Siedlungen. Viele Menschen lebten ohne langfristige Absicherungen unter prekären Bedingungen, angewiesen auf ihre tagtägliche Arbeitskraft. Der Arbeitsprozess absorbierte fast ihre ganze Lebenszeit, sie waren kaum geschützt bei Krankheiten oder im Alter mit nachlassender Arbeitskraft. Alte For-

Vgl. Paulanyi 1997: 374 ff.; vgl. auch Vogelsang 1998: 56 f. Vgl. Rapp 1978: 102; Tilly nennt die Eisenbahn für die deutsche Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deshalb auch einen Führungssektor, der durch Produktivitätssteigerung, technischen Fortschritt, überdurchschnittliches Wachstum und ein gesamtwirtschaftliches Gewicht geprägt ist, vgl. Tilly 1990: 51. 4 Vgl. Grebing 1980: 20 f. 2 3

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Der Vergleich von 1820 und 2020

men der sozialen Verbundenheit lösten sich auf, ohne dass zugleich sich neue Formen bildeten. Im dritten Kapitel wurde die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung anhand der drei zentralen Werte der Französischen Revolution beurteilt. Die Situation des Jahres 2020 ist je nachdem, welchen der drei Werte man zum Maßstab macht, sehr unterschiedlich zu bewerten. Während die Freiheit durch die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten in den letzten Jahrzehnten deutlich gesteigert werden konnte, ist die Entwicklung in Bezug auf die gesellschaftliche Gleichheit ambivalent, während die Solidarität im Gegensatz dazu eindeutig verringert wurde. Dieser Befund ähnelt einer Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, für das hier das Jahr 1820 steht. Die Freiheitsgrade gerade für die Mitglieder der bürgerlichen Klasse erhöhten sich deutlich, die Fesseln der feudalen ständischen Gesellschaften verloren an Bindungskraft. Die rechtliche Gleichheit als Bürger eines Staates wurde in den konstitutionellen Monarchien leicht verbessert, war allerdings in der ersten Hälfte des Jahrhunderts kaum einzuklagen. Die soziale Ungleichheit nahm damals wie heute deutlich zu. Der Wert der Solidarität schließlich fand in der frühindustriellen Gesellschaft kaum Beachtung. Die Gründung erster solidarischer Formen als Genossenschaften oder organisierte Betriebsbelegschaften wie durch Robert Owen waren auf lange Zeit seltene Ausnahmen, in der Regel gab es keine neuen Formen der Verbundenheit für jene Menschen, die aus den Dörfern in die Städte mit wachsenden Industrien abwanderten, sie waren im Überlebenskampf zunächst auf sich verwiesen. Aus der Perspektive der zentralen Werte der Französischen Revolution gibt es dementsprechend eine Parallelität der Entwicklungen von 1820 und 2020. Es liegt in beiden Fällen ein tiefgreifender technologischer Transformationsprozess vor, der von einer großen sozialen Unsicherheit begleitet ist, weil die alten Formen der Verbundenheit geschwächt werden, ohne dass sich zugleich neue anbieten. Wir betrachten heute die Zeit von 1820 mit dem Wissen um die weitere Entwicklung des 19. Jahrhunderts, aber die Zeitgenossen von 1820 hatten noch keine Vorstellung von der folgenden Entwicklung einer Arbeiterbewegung oder der Sozialgesetzgebung. Erst mit einer Verzögerung von Jahrzehnten entstanden gesellschaftliche Bewegungen und Institutionen, die die sozialen Missstände auf unterschiedliche Weise zu bekämpfen versuchten. Viele Initiativen beriefen sich auf die Solidarität der arbeitenden Bevölkerung. So formierten sich 145 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Wandel der Formen der Verbundenheit in Phasen großer Transformationen

immer durchsetzungsstärkere Gewerkschaften, politische Parteien mit sozialistischer Orientierung und in den Städten ein vielfältiges Vereinswesen in den Arbeitermilieus, das immer auch soziale Aufgaben übernahm. Die Kirchen gründeten eine Vielzahl von sozialen Einrichtungen mit dem Ziel der Beseitigung zumindest der größten Not bei den neuen städtischen Bevölkerungsschichten. Schließlich entstanden, nicht zuletzt, um die politische Brisanz der sich organisierenden Arbeiterschaft zu bekämpfen, nationale Sozialversicherungssysteme wie die Arbeitslosenversicherung, die Rentenversicherung, das Gesundheitssystem. Wie geht es heute weiter? Ein Zurück in die nivellierte Mittelstandsgesellschaft der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts durch einige sozialstaatliche Korrekturen ist nicht möglich. In ähnlicher Weise, wie es 1820 nicht möglich war, einfach zu den Verhältnissen der Zeit vor der Industrialisierung zurückzukehren. Eine Verweigerung des technologischen Wandels würde zu gravierenden Wohlstandsverlusten für alle Beteiligten führen. Während die Industrialisierung durch ein Syndrom sich gegenseitig bedingender Entwicklungen durch die Erfindung der Dampfmaschine, der Förderung der Steinkohle und der Entwicklung von Stahlproduktion gekennzeichnet war, so ist unsere Zeit durch ein weitverzweigtes Netz der digitalen Datenverarbeitung bestimmt: Die weltweiten Netze der digitalen Kommunikation, die zunehmende Perfektionierung der Logistik, die integrierte Produktion und die Allgegenwart von Datenverarbeitungssystemen führen zu einer ähnlichen sich selbst erhaltenden Dynamik wie in der Frühindustrialisierung. Die Entwicklung wird durch die Robotik und die Einführung von Systemen mit künstlicher Intelligenz eine Beschleunigung erleben. Es wäre nun falsch und kurzsichtig, die Implementierung der neuen Technologien verhindern zu wollen. Es nützte ebenso wenig, in den Anfängen der Industrialisierung Maschinen von dampfbetriebenen Webstühlen zu zerstören in der Hoffnung, dadurch die alten Sozial- und Arbeitsstrukturen erhalten zu können. Ähnlich wie im 19. Jahrhundert kommt es im 21. Jahrhundert darauf an, neue Formen von Verbundenheit zu schaffen, die die Ungleichheit und Exklusion zu reduzieren helfen. Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber dennoch kann der Vergleich mit der Vergangenheit eine heuristische Hilfe sein, die Forderungen an zukünftige Entwicklungen zu formulieren: Es muss also darum gehen, neue Formen der Verbundenheit aufzubauen, die mit den technologischen Entwicklungen kompatibel sind. Wenn Formen 146 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Der Vergleich von 1820 und 2020

der Verbundenheit eine so grundlegende Rolle für die soziale Existenz von Menschen spielt, wie das die leibphilosophische Analyse zeigt, dann wird man aufgrund der Heuristik erwarten können, dass sich in den kommenden Jahrzehnten noch neue Formen der Verbundenheit bilden, die bislang nur ansatzweise zu erkennen sind. Der Vergleich schafft eine Ahnung von den Veränderungen, die in der Zukunft möglich sind, wenn man sich den Aufbau von gesellschaftlichen Strukturen zwischen 1820 und 1891 vor Augen führt, einem Jahr, in dem in Deutschland die Sozialdemokratie trotz einer langer Verbotsphase weiter kräftig wuchs und in dem, um dem Drucks durch einen immer größeren Organisationsgrades der arbeitenden Bevölkerung entgegenzuwirken, die erste Sozialgesetzgebung eingeführt worden war. Wenn die Folgezeiten der symbolischen Jahre 1820 und 2020 vergleichbar sind, dann ist auch heute eine tiefgreifende gesellschaftliche Entwicklung zu erwarten. Die neuen Formen der Verbundenheit werden nicht einfach alte verdrängen, so wie etwa auch die traditionelle Familienform, gegen die Erwartung der Frühsozialisten, den Prozess der Industrialisierung mit erheblichen Modifikationen überdauerte. Aber es werden neue entstehen. Es gilt also, das Augenmerk auf die gesellschaftlichen Orte zu richten, wo Potentiale neuer Formen der Verbundenheit existieren. Wo sind heute schon Ansätze zu erkennen, die in der Zukunft an Kraft gewinnen werden? Bei aller Vergleichbarkeit und Ähnlichkeit dürfen aber die schon erwähnten Unterschiede in den sozialen Konstellationen der beiden Zeiten nicht außen vor bleiben. Sie sind auch erheblich und zeigen, dass die Entwicklung neuer Formen der Verbundenheit künftig deutlich anders verlaufen wird als im 19. Jahrhundert. Zum ersten findet der heutige Wandel zumindest in den Industrienationen unter ganz anderen gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen statt. Auch die Menschen, die in diesen Gesellschaften zu den Globalisierungsverlierern gehören, können in den industrialisierten Gesellschaften an den Sozialversicherungssystemen partizipieren, die zwischenzeitlich aufgebaut worden sind. Man kann in den westlichen industrialisierten Gesellschaften heute in keiner Weise von einem vergleichbaren Elend sprechen, so beschwerlich und verunsichernd die Lebensverhältnisse auch sein mögen. Anders sieht allerdings die Situation aus, wenn man die Menschen an der Peripherie der weltweiten Handelsströme in die Betrachtung einbezieht. Hier gibt es in Fabriken ein Elend, das mit der Frühindustrialisierung vergleichbar

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Wandel der Formen der Verbundenheit in Phasen großer Transformationen

ist. Die Flüchtlingsströme muss man durchaus in einem Zusammenhang mit dieser Entwicklung sehen. Zum zweiten gibt es einen Unterschied zwischen der heutigen und der damaligen Situation, der beide Gruppen, die Migrantinnen und Migranten wie auch die Randständigen in den industrialisierten Gesellschaften betrifft und der für die Chancen politischer Integration gravierend ist. Denn die Position der Verlierer der Entwicklung ist in der Gesellschaft heute schwächer als sie es früher war. Das Elend, das die frühe Industrialisierung erzeugte, war eng mit dem Produktionsprozess selbst verbunden. Es war gerade die an der Wertschöpfung beteiligte Industriearbeiterschaft, die unter den völlig ungeregelten Arbeitsbedingungen und der ausbeuterischen Praxis zu leiden hatte. Als Industriearbeiterschaft aber gehörte der Einsatz ihrer Arbeitskraft gerade zu jenen Produktivkräften, die für die gesamte Entwicklung entscheidend waren. Nur aufgrund dieser engen Verbindung war es Marx und den Frühsozialisten möglich, den Arbeitern als Proletariat eine epochale Bedeutung für die weitere Entwicklung der Gesellschaft zuzuschreiben. Ihre Notwendigkeit für den Produktionsprozess machte es denkbar, dass sie sich zu einer großen gesellschaftlichen Kraft entwickeln würden. Da sind die Verhältnisse heute anders. Die Globalisierungsverlierer sind gerade dadurch bestimmt, dass sie von hochproduktiven Arbeitsprozessen ausgeschlossen und im gesellschaftlichen Prozess weitgehend marginalisiert sind. Die entscheidende Wertschöpfung findet ohne sie statt. Deshalb ist die Gefahr einer weitreichenden Exklusion wesentlich größer, die sich auch politisch durch direkte Repräsentation kaum kompensieren lässt. Nur solche Arbeitnehmer sind in der Lage, dauerhaft wohlstandssichernde Arbeitsverträge abzuschließen, die über einen hohen Ausbildungsstandard verfügen und zu hochproduktiver Arbeit in der Lage sind. Zugleich mit dieser Tendenz wachsender existentieller Unsicherheit verlieren die etablierten Solidarsysteme an Durchsetzungskraft und an langfristiger Verbindlichkeit.

2.

Formen der Verbundenheit in den Diskursen der Moderne

Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelten sich drei gesellschaftlich-politische Diskurse, deren Wirkung auf die weitere gesellschaftliche Entwicklung von großer Bedeutung waren: der konser148 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Formen der Verbundenheit in den Diskursen der Moderne

vative Diskurs, der progressive Diskurs und der bürgerlich-liberale Diskurs. Das Ringen um Einfluss dieser drei hat die Entwicklung der Formen der Verbundenheit in den letzten 200 Jahren maßgeblich geprägt. Auch wenn diese Epoche offenkundig an ein Ende gekommen ist, auch wenn sich nun grundlegende Veränderungen anbahnen, macht es dennoch Sinn, auf die zukunftsgewandten Potentiale jener Formen der Verbundenheit zu achten, die sich mit den Diskursen vor 200 Jahren etablierten. Alle drei Diskurse sind geprägt durch die Auseinandersetzung um die Folgen der Industrialisierung. Sie ziehen sehr unterschiedliche Konsequenzen aus den neuen Herausforderungen. Der konservative Diskurs ist darauf ausgerichtet, die Zustände der traditionellen Gesellschaft möglichst weitgehend zu erhalten, er ist vor allem vergangenheitsorientiert. Die technische Entwicklung ist ihm suspekt, sie hat eher eine zerstörerische und auflösende Wirkung. Der bürgerlich-liberale Diskurs dagegen sieht in der Industrialisierung und einem Handel in immer größeren räumlichen Ausdehnungen große Chancen für den Gewinn neuer Freiheiten und größerem Wohlstand, zumindest für einen größeren Teil der Bevölkerung. Sein Fokus liegt von Beginn an auf der Beschreibung der gegenwärtigen Verhältnisse und der sich aus ihr ergebenden Chancen. Dieser Diskurs hat sich unter den geschilderten Bedingungen in der Spätmoderne zu dem hegemonialen Diskurs weiterentwickelt. Der progressive Diskurs, der sich vor allem aus den solidarischen Aktivitäten der Arbeiterinnen und Arbeiter bildete, wendet sich gegen die ungerechten gesellschaftlichen Zustände der Gegenwart und strebt eine bessere Zukunft an. Auch er begrüßt die technische Entwicklung, er will jedoch die Ungerechtigkeiten beseitigen, die unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen damit einhergehen. Welche Formen der Verbundenheit stehen in den jeweiligen Diskursen im Mittelpunkt? Im konservativen Diskurs spielt die traditionelle, patriarchal strukturierte Familie ebenso eine wichtige Rolle wie die ortsgebundenen Gemeinschaften eines Dorfes, einer Region, eines Volkes. All diese Formen der Verbundenheit beweisen ihren Wert aufgrund ihrer Ableitung aus der Tradition. Der progressive Diskurs dagegen setzt auf die Solidarität der Werktätigen, die erkennen, dass ihre Arbeit unter repressiven und ausbeuterischen Bedingungen stattfindet, und die den gerechten Anteil an dem Ertrag ihrer Arbeit einfordern. Im Mittelpunkt steht eine politische Bewegung, die entweder durch Revolutionen oder durch schrittweise Verbesserungen 149 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Wandel der Formen der Verbundenheit in Phasen großer Transformationen

der Arbeitsbedingungen die gegebenen Verhältnisse verändert. Die Bewegung besteht aus Parteien, aus Gewerkschaften, aus Betriebsgruppen, aus solidarischen Basisgruppen und Genossenschaften, zum Teil auch aus alternativen Lebensformen wie Kommunen. Die Formen der Verbundenheit des progressiven wie auch des konservativen Diskurses haben als Alternativen zu dem bürgerlich-liberalen Diskurs die Diskussionen der letzten zweihundert Jahre geprägt. 5 Der bürgerlich-liberale Diskurs schließlich stellt die Freiheit der Individuen in den Mittelpunkt und betont die Freiwilligkeit jeder Form von Verbundenheit. Entscheidend ist die individuelle aktive Zustimmung zu einer Vereinigung. Freiwillige Assoziationen wie Vereine und vertraglich abgesicherte Formen wie Wirtschaftsunternehmen stehen im Mittelpunkt des Diskurses. Letztere werden als Formen der Verbundenheit gewertet, weil nach dem Selbstverständnis des Diskurses die Arbeitenden freie Arbeitsverträge eingehen. Auch hier hat die individuelle Freiheit Leitfunktion: Die Arbeit gilt in dem Diskurs nicht einfach nur als Lohnarbeit, sondern auch als ein Ort der Selbstverwirklichung. Tatsächlich stehen viele Arbeitsverhältnisse schlicht unter dem Zwang der Selbsterhaltung und sind trotz aller Rhetorik kein Ort der Selbstverwirklichung. Beide Aspekte aber, sowohl der Zwang der Verhältnisse wie auch das Streben nach Selbstverwirklichung stehen in einem problematischen Verhältnis zu den Erfahrungen der Verbundenheit. In dem einen Fall ist das Arbeitsverhältnis, klassisch formuliert, der Ort der Selbstentfremdung, in dem anderen Fall dient das Arbeitsverhältnis den eigenen Zielen und wird dementsprechend aufgegeben, sobald die Ziele nicht mehr angemessen verfolgt werden können. Diese Formen der Verbundenheit können wegen der zentralen Ausrichtung auf den Wert der Freiheit der gegenwärtigen gesellschaftsweiten Schwächung der sozialen Verbundenheit, wie im dritten Abschnitt des dritten Kapitels ausgeführt, ihrer eigenen Schwächung nicht viel entgegensetzen. Nun mag es allerdings sein, dass alternative Formen von Wirtschaftsunternehmen gerade als jene Netzwerke beschrieben werden können, die in dem elften Kapitel vorgestellt werden sollen. Dann wären sie mögBayertz untersucht den Begriff der Solidarität und findet zwei grundlegende Typen, die sich leicht jeweils dem konservativen und dem progressiven Diskurs zuordnen lassen. Auf der einen Seite gibt es die Solidarität von »substantiellen Gruppen« mit gleicher Lebensform, die Gemeinschafts-Solidarität – auf der anderen Seite geht es um die Solidarität der Kämpfenden bei der Durchsetzung ihrer Rechte – die KampfSolidarität. Vgl. Bayertz 1998: 49.

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Formen der Verbundenheit in den Diskursen der Moderne

liche Kerne für neue Formen der Verbundenheit. Doch geschieht das dann nicht mit den Mitteln des liberalen Diskurses und schon gar nicht mit den Mitteln des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne, sondern eher mit Ressourcen, die aus einer Weiterentwicklung des progressiven Diskurses stammen. Deshalb werden in den folgenden Überlegungen die Formen der Verbundenheit der beiden anderen Diskurse im Mittelpunkt stehen. Die Formen der Verbundenheit des konservativen und progressiven Diskurses werden in ihren wichtigsten Charakteristika vorgestellt und auf ihre Relevanz für zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen befragt. Über die beiden genannten werden als dritte Option auch die Formen der Verbundenheit der christlichen Tradition dargestellt. Dies mag erstaunen, weil christliche Positionen in den letzten 200 Jahren zumeist dem konservativen Diskurs zugerechnet werden konnten. Doch hat das Christentum ein ganz eigenes Selbstverständnis für die Begründung von Formen der Verbundenheit, die unabhängig von den drei Diskursen der Moderne ist. Über die lange Zeit seiner Geschichte zeigte sich das Christentum immer wieder in der Lage, als eigenständige Quelle für neue Formen der Verbundenheit in Erscheinung zu treten. Das legt die Vermutung nahe, dass diese Besonderheit des christlichen Selbstverständnisses auch für die künftige Suche nach Formen der Verbundenheit wichtig werden könnte. Das Christentum ähnelt in seiner Weigerung, bestimmte Formen normativ vorzugeben, und der Tendenz, bestehende Formen immer wieder kritisch zu befragen, neueren philosophischen Versuchen, den Gemeinschaftsbegriff wiederzugewinnen. 6 Die folgenden Kapitel sind so aufgebaut, dass sie zunächst einen Blick zurück auf die Anfänge der Moderne, auf die Situation zu Anfang der Industrialisierung werfen. Wie haben die unterschiedlichen Diskurse auf die elementaren sozialen Herausforderungen vor 200 Jahren reagiert? Welche Formen der Verbundenheit haben sie entwickelt, um der Vereinzelung und Auflösung gesellschaftlicher Strukturen zu wehren? Welche Initiativen entwickelten sie zur Eingrenzung der sozialen Kosten des gesellschaftlichen Wandels? Dann folgt eine kurze Deutung eines exemplarischen Textes, der Die christliche Gemeinschaft ist grundsätzlich nicht abschließbar, sie ist notwendigerweise offen, weil sie über sich hinausweist. Das hat eine große Ähnlichkeit zu philosophischen Versuchen von Jean-Luc Nancy, vgl. etwa Nancy 2018, die in Kapitel neun genauer besprochen wird.

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Wandel der Formen der Verbundenheit in Phasen großer Transformationen

wichtige Grundmotive des jeweiligen Diskurses für Formen der Verbundenheit benennt. Am Ende eines jeden Kapitels wird dann nach der gegenwärtigen Tendenz in Bezug auf die dargestellten Formen der Verbundenheit gefragt. Klar ist, dass heute so gut wie alle Formen der Verbundenheit geschwächt sind. Aber sie sind natürlich nicht einfach verschwunden. In welchem Umfang werden die jeweiligen Formen der Verbundenheit gesellschaftliche Prozesse auch künftig beeinflussen?

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8. Gemeinschaft: Formen der Verbundenheit im konservativen Diskurs

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Die Anfänge des konservativen Diskurses

Der konservative »Diskurs« übernahm in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Haltungen und Anschauungen der traditionellen Ordnung, des herrschenden Adels und der ihn unterstützenden Kirchen. Es ist natürlich nicht möglich, diese gesellschaftlich dominierende Orientierung schon um 1820, unmittelbar nach den Karlsbader Beschlüssen, »Diskurs« zu nennen, die Zensur unterdrückte Gegenbewegungen, es gab keine nennenswerten politischen Alternativen. Die Diskussionen um die Französische Revolution wurden von vielen mit Aufmerksamkeit verfolgt, aber revolutionäre Strömungen blieben zumindest in Deutschland in der Folgezeit aus. Es gab nur vereinzelte radikale Stimmen, die der gesellschaftlich fest verankerten konservativen Tradition nicht gefährlich werden konnten. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts öffneten sich europäische Gesellschaften. In Deutschland entstand im Umfeld der März-Revolution 1848 eine vieldimensionale gesellschaftlich-politische Bewegung. Nun kann man im deutschsprachigen Raum von einem Diskurs innerhalb einer gesellschaftlichen Pluralität sprechen, jetzt entstand auch so etwas wie ein »konservativer Diskurs«. In der Zeit der Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche wurde eine konservative Partei gegründet, ebenso entstanden konservative Zeitungen, die Einfluss auf die Meinungsbildung zu nehmen versuchten. Der konservative Diskurs betont die Geschichte, die Tradition, die Abstammung. Der Blick geht zurück in frühere Zeiten, deren Formen der Verbundenheit als Vorbild dienen. Die Vergangenheit ist als Dimension der Herkunft die legitimatorische Instanz für die Institution der Gegenwart. Das kann in unterschiedlichen Schattierungen geschehen, von der reaktionären Forderung der möglichst genauen Wiederherstellung des Alten bis hin zu der pragmatischen Orientierung an alten Traditionen innerhalb neuer Verhältnisse. Die Formen 153 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Gemeinschaft: Formen der Verbundenheit im konservativen Diskurs

der Verbundenheit des konservativen Diskurses sind traditionelle Gemeinschaften: Familienstrukturen, Dorfgemeinschaften, regionale, landsmannschaftliche Gemeinschaften, Völker und Nationen. Jedoch unterliegt bei aller Betonung des Herkommens und des Unveränderlichen auch der konservative Diskurs dem gesellschaftlich-geschichtlichen Wandel. Das heißt, auch er ist eine geschichtliche Erscheinung, die sukzessive Veränderungen durchläuft. Dementsprechend verändert sich auch im konservativen Diskurs das Bild der als vorbildlich geltenden Gemeinschaften, die sich aus der Tradition ableiten lassen. So eindeutig, wie es der konservative Diskurs vorgibt, ist der Bezug auf die Tradition nicht. Eine konservative Position des Jahres 2020 ist stark unterschieden von einer konservativen Position am Ende des 19. Jahrhunderts. Doch geschieht der Wandel langsam, das Handlungsziel des konservativen Diskurses ist es stets, die Formen der Verbundenheit der Vergangenheit weitestgehend zu erhalten. Das kann auch mit der Gründung neuer Institutionen geschehen, wenn sie nur das Ziel haben, möglichst viel der überkommenen Traditionen zu bewahren. Die Welt hat in den Vorstellungen des konservativen Diskurses eine vorgegebene Ordnung, die man berücksichtigen muss, um ein erfülltes und glückliches Leben führen zu können. Die Begründung der Ordnungen kann sich auf unterschiedliche Quellen berufen. Man hat die ursprüngliche Ordnung als eine Anordnung Gottes beschrieben oder auch als vorgegebene natürliche Ordnung. Im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa war eine religiöse Begründung von sozialen Ordnungen nahezu unumgänglich. 1 Die weltliche Herrschaft stand in einer engen Verbindung mit den kirchlichen Autoritäten, zwischen ihnen gab es eine wechselseitige Abhängigkeit, auch wenn beide Seiten in der europäischen Geschichte immer wieder um die Vorherrschaft rangen. Die höchste Legitimität hatte jene Form der Verbundenheit, die direkt aus der göttlichen Schöpfungsordnung abgeleitet werden konnte. Die christliche Interpretation des antiken Naturrechts verstand sich als Auslegung des Schöpferwillens Gottes. 2 Noch im 19. Jahrhundert konnte der obrigkeitliche Staat als göttliche Eine der ersten Ausnahmen stellt der schon zitierte Hobbes dar. Vgl. Hobbes 1651. Diese Auslegung wird den biblischen Texten allerdings nicht gerecht, denn in ihnen dominiert die Darstellung einer dynamischen Geschichte mit dem wechselvollen Schicksal des Volkes Gottes, mit Aufbrüchen, Katastrophen und Neuanfängen. Daraus lässt sich schwerlich die Bestätigung einer ewigen Ordnung ableiten. Aber in der europäischen Tradition hat eine einseitig konservative Auslegung des Christentums

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Die Anfänge des konservativen Diskurses

Institution angesehen werden, weil er auf aufgrund der Verordnung Gottes existiert. 3 Für die Vertreter des konservativen Diskurses bedeutete das Aufkommen alternativer Diskursformen, die andere Formen der Verbundenheit propagieren, eine Gefährdung der Tradition und damit eine Gefährdung des Bestands der Gesellschaft. In den im 19. Jahrhundert neu entstehenden bürgerlich-liberalen oder progressiven Diskursen sah der konservative Diskurs vor allem Sittenverfall und eine Bedrohung der bewährten Ordnungen. 4 Alle gesellschaftlichen Veränderungen, auch die der Industrialisierung, bedrohten das Überkommene: Die Entwurzelung eines größeren Teils der Bevölkerung in den wachsenden Städten, die Verelendung und die fehlende soziale Absicherung gefährdeten die traditionellen Gemeinschaften. 5 Die konservative Kritik am aufkommenden Kapitalismus war von einer ähnlichen Schärfe wie die spätere sozialistische Kritik. Als ein Exponent der konservativen evangelischen Kritik an dem aufkommenden Kapitalismus kann im deutschsprachigen Raum Friedrich Julius Stahl gelten. Der Jurist hat sich insbesondere in der Staatstheorie hervorgetan. Hier beschrieb er den preußischen Staat als ein Gebilde, das sich auf die christliche Schöpfungsordnung zurückführen kann, die monarchistisch-ständische Ordnung des Staates ist durch Gottes Willen vorgegeben. Es ist nicht die Volkssouveränität, auf die ein Staat gegründet werden kann, ebenso wenig sind es die Prinzipien der menschlichen Vernunft. Das Fundament des Staates ist vielmehr in einer religiös begründeten Sittlichkeit zu suchen, in einer religiösen Ordnung, der Staat gründet in der christlichen Gemeinschaft. 6 Diese Sittlichkeit bestimmt alle Ebenen der Gesellschaft, insbesondere die Familie als Kern jeder christlichen Gesellschaft. Stahl lange Zeit eindeutig überwogen. Sie war ein Grundbestandteil der Gesellschaften bis hin zur Moderne. 3 Dies war etwa die Position von Friedrich Julius Stahl, vgl. Krummwiede et al. 1989: 229. 4 »Durch diese Einordnung der gesellschaftlichen Strukturveränderungen in die Lehre von der Sünde als einer ordnungszerstörenden Macht wird der protestantische Konservativismus dazu getrieben, die bestehenden Ordnungsformen der Gesellschaft als unantastbar zu betrachten.« Brakelmann 1981: 115. 5 Dies geht unmittelbar mit der technologischen Entwicklung einher. Bauman umschreibt die konservative Position von Robert Redfield: »Das Auftreten eines solchen Risses in den Schutzwällen der Gemeinschaft war seit der Erfindung mechanischer Transportmittel nicht mehr zu verhindern (…).« Bauman 2009: 20. 6 »Wenn der Staat zunächst als ein sittliches Reich der menschlichen Gemeinschaft

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Gemeinschaft: Formen der Verbundenheit im konservativen Diskurs

war einer der Protagonisten eines konservativen Diskurses, der nach 1848 die Auseinandersetzung mit den anderen Diskursen, dem bürgerlich-liberalen und dem progressiven suchte. Er engagierte sich im Umfeld der 1848-Revolution bei der Gründung der konservativen Partei Preußens. Die Existenz einer Partei, die doch eigentlich nur die gegebene göttliche Ordnung bewahren möchte, die sich parteiischen Meinungsbildungen per definitionem entzieht, zeigt den ganzen Zwiespalt des konservativen Diskurses in einer pluralistischen Gesellschaft. Die konservative Einstellung prägte eine Vielzahl kirchlicher Akteure im 19. Jahrhundert, die sich gegen die Auflösung der sozialen Ordnung stemmten. Dabei beharrten sie nicht nur auf den herkömmlichen Formen, sondern schufen neue Institutionen, stets verbunden mit dem Ziel, die alten Formen der Verbundenheit unter neuen Bedingungen zu erhalten und zu stärken. Johann Hinrich Wichern gründete 1833 das Raue Haus bei Hamburg als eine Auffangstation für verwahrloste Kinder und Jugendliche. Die traditionelle Familie blieb die Leitidee für die Strukturierung der neuen Institution. Wichern war ein Vorreiter einer neuen kirchlichen Sozialarbeit, die er mit konservativen Überzeugungen zu verteidigen suchte. Eine Rede auf dem Kirchentag in Wittenberg 1848 führte zur Gründung der Inneren Mission und den Vorläufern der heutigen Diakonie. Wichern wollte mit den Neugründungen nicht zu neuen gesellschaftlichen Ufern aufbrechen, er berief sich auf die Erbschaft des traditionellen Protestantismus. 7 Der katholische Priester Adolph Kolping wiederum gründete 1849 in Köln einen Gesellenverein für wandernde Handwerkgesellen, von denen es in dieser Zeit sehr viele gab und die unter prekären Bedingungen ihr Leben fristen mussten. Auch hier stand die Familie als Leitidee im Mittelpunkt: Die Gesellenvereine waren zur wechselseitigen Hilfe in kleinen Gruppen, sogenannten »Familien« organisiert. 8 Auch hier ist zumindest in der Bezeichnung die traditionelle Familie das Leitbild. Friedrich Wilhelm sich darstellt, so ist er doch, tiefer betrachtet, zugleich eine göttliche Institution.« Stahl, zitiert bei Krummwiede et al. 1989: 229. 7 »Die tiefste Quelle des Unheils, das über den Staat hereingebrochen ist, liegt in der Entfremdung und dem Abfall des Volkes von dem Wesen und Leben derjenigen Sittlichkeit, die ihr Maß und ihre Regel (…) allein im Evangelio hat.« Wichern zitiert bei Brakelmann 1981: 124. 8 »Es ging um die Erziehung religiöser Gesellen und Meister, die gewillt waren, Verantwortung in Kirche und Gesellschaft zu übernehmen.« Brakelmann 1981: 203.

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»Gemeinschaft und Gesellschaft« von Ferdinand Tönnies

Raiffeisen schließlich war kein Kirchenvertreter, sondern versuchte als Bürgermeister kleinerer Ortschaften im Westerwald durch Gründungen von Genossenschaften das Los armer Menschen zu lindern. Aber er orientierte sich stark an kirchlichen Strukturen: Verlässliche Genossenschaften entstehen dann, wenn sie sich organisatorisch eng an die kirchliche Gemeinde anlehnen. 9 Es gab in dieser Zeit aber auch liberale, säkular orientierte Genossenschaftsgründungen wie etwa durch Hermann Schulze-Delitzsch, insofern entsprach eine Orientierung an der kirchlichen Gemeinde nicht einem praktischen Zwang, sondern spiegelte die religiös-konservative Einstellung von Raiffeisen wider. Die drei Genannten stehen für eine Vielzahl von kirchennahen Akteuren im 19. Jahrhundert, die durch Entwicklung neuer Formen der Verbundenheit dem eklatanten Elend der Industrialisierung im konservativen Geist wehren wollten. Sie gründeten dabei neue Institutionen, veränderten die Gesellschaft, aber stets mit dem Ziel, die übergreifenden traditionellen Ordnungen zu erhalten.

2.

»Gemeinschaft und Gesellschaft« von Ferdinand Tönnies

Hauptgegner des Konservativismus im 19. Jahrhundert war zunächst nicht die aufkommende Arbeiterbewegung, Hauptgegner waren die Vertreter eines wirtschaftsfreundlichen bürgerlichen Diskurses, dessen Macht sich deutlich früher zeigte. Der konservative Diskurs musste sich notgedrungen mit den Veränderungen der Moderne auseinandersetzen. Dies geschah in der Weise, dass er diese Veränderungen als gefährliche und zersetzende Zumutungen beschrieb, die möglichst klein zu halten seien. Doch im Laufe des 19. Jahrhunderts verschoben sich die Akzente, die Gesellschaft als Ganzes war immer weniger allein innerhalb einer feudalen Ordnung beschreibbar. Spätestens im 20. Jahrhundert ging es weniger darum, eine übergreifende traditionelle gesellschaftliche Ordnung zu wahren, als darum, traditionelle Gemeinschaftsformen als Keimzellen gesellschaftlicher Entwicklung zu erhalten. Der Soziologe Ferdinand Tönnies hat mit seinem Buch »Gemeinschaft und Gesellschaft« gegen Ende des 19. Jahrhunderts viel So gründete Raiffeisen in Flammersfeld die Armenkasse in Kooperation mit der Kirchengemeinde, vgl. Klein 2017: 36.

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Gemeinschaft: Formen der Verbundenheit im konservativen Diskurs

Aufmerksamkeit gefunden. 10 Die Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft bei Tönnies bildet die Auseinandersetzung zwischen dem bürgerlich-liberalen und dem konservativen Diskurs in zwei zentralen Begriffen ab. Ob Tönnies selbst einer konservativen Position zuzurechnen ist, kann hier offenbleiben. Von vielen Rezipienten ist seine folgenreiche Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft in diese Richtung interpretiert worden. 11 Entscheidend ist, dass der konservative Diskurs sich durch die von ihm vorgeschlagene Unterscheidung prägnant artikulieren konnte: Während die Gesellschaft für den Wandel, die Folgen der Industrialisierung und die ausgreifende Arbeitsteilung steht, so die Gemeinschaft für das Herkommen, die Tradition, in der jene Regeln gelten, die sich aus der Tradition ableiten lassen. Tönnies unterscheidet in seiner Abhandlung zweierlei Willen, die Handelnde bestimmen. Dies sind einerseits der Wesenswille und andererseits der Kürwille. Mit dem Wesenswillen bringen die Handelnden das zum Ausdruck, was sie von Natur aus ausmacht, der Wille steht in seiner Ausformung nicht eigentlich zur Disposition, sondern ist in gewisser Weise vorgegeben. 12 Der Wesenswille ergibt sich aus den natürlichen Anlagen. Dies schließt an die normativen Setzungen des konservativen Diskurses an, denn das Natürliche ist als das Vorgegebene auch das Vorbildliche. Der Kürwille dagegen ist nicht an Vorgaben gebunden, sondern resultiert aus freier Entscheidung und einer individuellen Orientierung. 13 Er steht für das freie Spiel der Kräfte einer Gesellschaft, etwa wenn die Mitglieder der Gesellschaft arbeitsteilig nach neuestem Stand der Technik produzieren oder miteinander Handel treiben. Die traditionellen Formen der Verbundenheit, die Gemeinschaften, sind dementsprechend durch den Wesenswillen bestimmt. Die Tönnies 1887. Bauman stellt zur Diskussion, ob diese Ausrichtung auch die Absicht von Tönnies war: »In seinem 1887 erstmals erschienen Buch ›Gemeinschaft und Gesellschaft‹ betrieb Ferdinand Tönnies (möglicherweise unabsichtlich) die Rückkehr der Gemeinschaft aus jenem Exil (…), indem er behauptete, die alte Gemeinschaft unterscheide sich von der entstehenden (modernen) Gesellschaft (…) durch ein von all ihren Mitgliedern geteiltes Verständnis.« Bauman 2009: 15 f. 12 »Wesenswille ist das psychologische Äquivalent des menschlichen Leibes, oder das Prinzip der Einheit des Lebens (…).« Tönnies 1887: 85. 13 »Kürwille ist ein Gebilde des Denkens selber, welchem daher nur in Beziehung auf seinen Urheber – das Subjekt des Denkens – Wirklichkeit zukommt (…).« Tönnies 1887: 86. 10 11

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»Gemeinschaft und Gesellschaft« von Ferdinand Tönnies

Mitglieder einer Gemeinschaft wählen sie nicht als eine Option unter vielen, sondern finden sich in ihr immer schon vor. Die Gemeinschaft prägt ihre Identität, ihr Wesen. Gerade weil die Menschen einer Gemeinschaft diese nicht frei gewählt haben, hat sie die Kraft, ihre Identität zu bestimmen. 14 Das kann die Gemeinschaft der Familie sein oder auch die Dorfgemeinschaft. 15 Die Gemeinschaft zeigt sich in Gesten, mundartlichen Besonderheiten, in lokalen Symbolen, traditionelle Orten und Zeiten, in Ritualen und Bräuchen, in gemeinsamen Erzählungen. All dies ist Teil des tradierten Gemeinschaftsgutes, das nach konservativer Auffassung in möglichst großen Anteilen bewahrt werden soll. Der Bezug auf die Tradition hat Vorrang vor allen anderen Werten: Auch vorbildliche Gemeinschaften können durchaus durch Ungleichheit geprägt sein. Das Familienbild des 19. Jahrhunderts war auch in weiten Kreisen der Bevölkerung patriarchal und hierarchisch strukturiert. Die Geschlossenheit und Vorgegebenheit der Gemeinschaften führten zu einer geringen Flexibilität. Da die Gemeinschaft aber Identität verbürgte, wurde dies nicht in Frage gestellt. Wesentlich für das Verständnis der Gemeinschaft im Sinne Tönnies ist, dass es sich hier um einen Oppositionsbegriff handelt. Das Gegenüber, von dem sich die Gemeinschaft abgrenzt, ist die Gesellschaft. So wie sich der konservative Diskurs als solcher erst im 19. Jahrhundert verstehen konnte, nachdem der liberale Diskurs entstanden war und erste Anzeichen eines progressiven Diskurses erkennbar wurden, so wurde »Gemeinschaft« erst dann als etwas Besonderes erkennbar, als die geschichtliche Entwicklung die tradierten Formen in Frage stellte. Die Gesellschaft ist nach Tönnies vor allem über den Tausch organisiert, alle ihre Mitglieder verstehen sich im Verhältnis zueinander als freie und gleichberechtigte Wesen. 16 In der

Die Gemeinschaft ist durch den gemeinsamen Willen bestimmt und so Grundlage der Identität: »Die Theorie der Gemeinschaft geht (…) von der vollkommenen Einheit menschlicher Willen als einem ursprünglichen oder natürlichen Zustande aus, welche trotz der empirischen Trennung und durch dieselbe hindurch sich erhalte (…).« Tönnies 1887: 8. 15 »So ist auch die Wurzel des gemeinschaftlichen Willens im vegetativen Leben verborgen; denn das Gattungs- und Familienleben ist vegetatives Leben im soziologischen Sinne (…).« Tönnies 1887: 212. 16 »Die Wurzel des gesellschaftlichen Willens ist das Zusammentreffen individueller Kürwillen, welche in einem Punkt des Tausches, der für beide vernünftig oder richtig ist, sich schneiden.« Ebd. 14

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Gemeinschaft: Formen der Verbundenheit im konservativen Diskurs

Gesellschaft spielen vergangene gesellschaftliche Zustände nur eine ungeordnete Rolle, es geht vor allem darum, in der Gegenwart die Situation möglichst erfolgreich zu meistern. Die Gesellschaft in diesem Sinne ist leicht als die moderne Industriegesellschaft erkennbar. Mit der Betonung des Natürlichen und der Ableitung des Wesenswillens als dem Eigenen unterschätzt dieser Ansatz die Konfliktträchtigkeit von Gemeinschaften. Konflikte können in dem konservativen Diskurs eigentlich nur dann auftreten, wenn einzelne oder bestimmte Gemeinschaften die tradierte Ordnung verletzen. Das kann dann zu Konflikten zwischen Familien oder Völkern führen, die bei letzteren gegebenenfalls mit Mitteln der Gewalt beendet werden, weil es keine höhere Appellationsinstanz gibt. Jede dieser Gemeinschaften hat eine Grenze, die die Unterscheidung zwischen solchen, die zu der Gemeinschaft gehören und solchen, die nicht dazu gehören, definiert. Im konservativen Denken steht die traditionelle Gemeinschaft für ein harmonisches Leben aller mit allen. Gemeinschaften gelten als gute Ordnungen, in die sich jede und jeder, gute Erziehung vorausgesetzt, einfügen kann. Wenn einzelne Menschen innerhalb einer Gemeinschaft oder mit ihrer Gemeinschaft im Ganzen im Konflikt liegen, so muss moralisches Versagen die Ursache sein. Im 19. Jahrhundert war der Konflikt zwischen Einzelnen und einer überwiegend konservativen Gemeinschaft ein herausragendes Thema in Romanen oder Theaterdramen. Schriftsteller wie Fontane, Ibsen und andere haben immer wieder Konflikte aufgegriffen, die sich bei abweichendem Verhalten ergeben. Die Vorwürfe, denen etwa Protagonistinnen wie Effi Briest bei Fontane oder der Nora bei Ibsen ausgesetzt waren, zeigen die konservative Moralisierung der sozialen Konflikte. Konflikte können nur durch Fehlverhalten einzelner entstehen, wenn sie die Ordnungen der Gemeinschaften zu brechen versuchen. Aufgrund dieser strikten Bindung an eine natürlich vorgegebene Ordnung haben konservative Gemeinschaften oft die Tendenz, repressiv zu werden.

3.

Tendenzen traditioneller Formen der Verbundenheit

Es ist offenkundig: Die klassischen Formen der Verbundenheit des konservativen Diskurses stehen in einem Konflikt mit dem zentralen Wert der Freiheit der Französischen Revolution. Sie stehen direkt oder indirekt im Konflikt mit dem Wert der autonomen Selbstbestim160 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Tendenzen traditioneller Formen der Verbundenheit

mung. 17 Aber auch Gleichheit bzw. Gerechtigkeit stellen keine zentralen Werte dar, die traditionellen Formen der Verbundenheit sind oft durch interne Ungleichheit geprägt. Ist damit schon auch ein letztgültiges Urteil über traditionale Gemeinschaften gefällt? Ein solches Urteil muss aber noch weitere Aspekte der »Brüderlichkeit« bzw. der Solidarität in den Blick nehmen. Mit der Auflösung dieser Formen der Verbundenheit geht ein Verlust einher, etwa ein gewisser Schutz gegenüber einer Vielzahl von Lebensrisiken. Die Arbeiterinnen und Arbeiter der Frühindustrialisierung waren aus den traditionellen Gemeinschaften herausgerissen und allein den lebenserhaltenden Arbeitsausbeutungen in industriellen Kontexten ausgeliefert. Aber auch heute sind Prozesse, die von den Vorstellungen eines Individualismus geprägt sind, zugleich solche, die Schutzmechanismen abbauen. Sie sind gut für die Starken und Durchsetzungsfähigen, für die Schwachen dagegen entstehen neue Gefahren. Im Sinne der Nomenklatur von Tönnies kann es nicht um eine Verabsolutierung des einen oder anderen gehen, weder kann die Gemeinschaft noch kann die Gesellschaft das alleinige Modell sein. Welche gesellschaftliche Entwicklung auch immer zukunftsgewandt ist, sie wird auch jene stabilisierende und unterstützende Kraft haben müssen, die traditionelle Gemeinschaften aufweisen. Die Formen der Verbundenheit des konservativen Diskurses betonen zudem die Bedeutung von Geschichte. In der Sensibilität gegenüber der Vergangenheit liegen sowohl eine gewisse Stärke wie auch die offenkundige Grenze des konservativen Diskurses. Richtig ist: Wenn man Geschichte in all ihren Dimensionen wahrnehmen will, muss man auch auf die Kraft jener Formen der Verbundenheit achten, die sich aus dem Herkommen, aus der Tradition begründen. Das Heute ist nicht so unabhängig vom Gestern, wie es Theoretiker der Moderne immer wieder gerne postulieren. Geschichtliche Entwicklungen geben für diese Behauptung des Neuanfangs in der Moderne keinen Beleg. Es ist allerdings völlig unhaltbar, das Überkommene als solches als alleinige Quelle der Legitimität zu überhöhen. Der konservative Diskurs unterschlägt die ständige Verände-

Das Urteil von Bauman fällt eher drastisch aus: »Das Privileg ›in einer Gemeinschaft zu leben‹ hat seinen Preis – und dieser ist nur so lange unerheblich, wie die Gemeinschaft ein Traum bleibt. Die Währung, in der dieser Preis zu entrichten ist, heißt Freiheit, man könnte sie ebenso gut ›Autonomie‹, ›Recht auf Selbstbehauptung‹ oder ›Recht auf Individualität‹ nennen.« Bauman 2009: 11.

17

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Gemeinschaft: Formen der Verbundenheit im konservativen Diskurs

rung, die untrennbar mit Geschichte verbunden ist. Er geht deshalb auch in einer eigenartigen Weise mit der Kontingenz und mit Konflikten um. Plötzliche und unableitbare geschichtliche Wendungen werden entweder als mutwillige Zerstörung verurteilt oder als Schicksal, in der religiösen Variante als Gottes Wille überhöht. Individuelle Konflikte werden dagegen moralisiert als Verstöße gegen die »gute Ordnung«. Die kontingenten Eigenschaften der traditionellen Gemeinschaften werden ebenso wie ihre geschichtlichen Entstehungsbedingungen negiert, sie werden mit dem Verweis auf die Natur oder auf einen göttlichen Willen dem Lauf der Geschichte nur scheinbar enthoben. Es gibt eine particula veri in der Betonung der Vergangenheit des konservativen Diskurses auch für den einzelnen Menschen. Die Prägung durch die Vergangenheit ist aufgrund der leiblichen Existenz unausweichlich. Jeder Mensch ist Teil einer vieldimensionalen Kultur, die kognitive, ästhetische und moralische Standards vermittelt, die zumindest in der ersten Phase des Lebens einen nicht unerheblichen Teil der Identität prägen. Auch die Fähigkeit zur Distanzierung von Werten einer bestimmten Kultur im späteren Leben ist nur möglich aufgrund jener Vorgaben, die zunächst von anderen Menschen empfangen worden sind. Die existentielle Verbundenheit behält deshalb ihre Bedeutung auch dann, wenn ein Mensch zu einem unverwechselbaren Individuum geworden ist. Jeder konkrete Mensch ist in eine gesellschaftlich-geschichtliche Entwicklung eingebunden und kann von dort wegen der partikulären Prägungen keinen vollständigen Überblick gewinnen. Es ist deshalb auch unmöglich, jene zwischenmenschliche Verbundenheit vollständig in den Blick zu bekommen, die für jeden Menschen und somit auch für die Ausformung von Individualität konstitutiv ist. Deren Vernachlässigung, die Vorstellung von zeit- und geschichtsunabhängigen Individuen, macht die Gedankenexperimente von Hobbes und Rawls so abstrakt. Die elementare leibliche Verbundenheit zeigt sich in jener geschichtlichen Dimension, die jedem Menschen vorgegeben ist. Das soll anhand zweier besonders intensiv diskutierter Formen der Verbundenheit geschehen, der Familie auf der einen und den Nationen auf der anderen Seite. Die wohl wichtigste Form der Verbundenheit innerhalb des konservativen Diskurses ist die Familie. Sie hat auch in der Spätmoderne jenseits des konservativen Diskurses eine bleibende Bedeutung. Im Zentrum der Familie steht die intergenerationelle Verbundenheit. 162 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Tendenzen traditioneller Formen der Verbundenheit

Auf der einen Seite gibt es die Verbundenheit mit der nachkommenden Generation, den Kindern und Enkeln, auf der anderen Seite die Verbundenheit mit den vorangegangenen Generationen, den Eltern und Großeltern. Bei allen sozialen Variationen, die hier im 20. Jahrhundert gemacht wurden, haben radikale Alternativen zur Familie keine nachhaltige Wirkung entfalten können. Zwar gibt es heute eine Vielzahl von Abweichungen gegenüber einem klassisch konservativen Familienbild, dennoch ist auch für die Abweichungen die Familie eine orientierende Form der Verbundenheit. Der französische Soziologe Emmanuel Todd hat in seinen eigenwilligen Studien die Familie zu einem Kern gesellschaftlicher Entwicklungen erhoben und ihre Bedeutung in der menschlichen Geschichte bis in die Gegenwart untersucht. 18 Die zentrale Hypothese seiner Theorie ist, dass es Grundtypen von Familien gibt, die zu sehr unterschiedlichen kulturellen Entwicklungen jener Regionen führen, in denen diese Grundtypen vorherrschen. Ursprünglich existierte in der Menschheit die schlichte Kernfamilie, die sich dann aber in komplexere und auch autoritärere Formen weiterentwickelte. Es entstanden die Formen der Stammfamilie und diverse Formen kommunitärer Familien. Diese Typendifferenzierung nutzt Todd, um daraus die politischen Entwicklungen der unterschiedlichen Gesellschaften bis in die Moderne zu entfalten. Er distanziert sich deutlich von einer normativen Deutung dieser Familienkonzepte und damit von dem Grundgedanken des konservativen Diskurses: Er möchte beschreiben, was war und was ist und nicht, was sein soll. 19 Dieser etwas außergewöhnliche methodische Ansatz mag vielleicht helfen, auf verschwiegene Unterströmungen in der geschichtlichen Entwicklung aufmerksam zu machen, die mit langfristigen Wirkungen kleinerer traditioneller Formen der Verbundenheit zu tun haben. Allerdings ist sein Ansatz vielfach kritisiert worden. Denn es ist deutlich: In kaum einer anderen Sozialform hat es in den letzten Jahrzehnten so viele Veränderungen gegeben wie in der Familie! Die real existierenden Familien sind sehr variantenreich geworden, für jede denkbare Konstellation des intergenerationellen Zusammenlebens kann man Beispiele finden. Diese Ausweitung der Variation ist verbunden mit

Todd 2018. Todd betont, die Zusammenhänge auf empirischem Wege, durch soziologische Daten ermittelt zu haben. Vgl. Todd 2018: 28.

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einem steten Ausbau sozialer Systeme, die die Anforderungen an die Familien begleiten und abfedern. 20 Eine in Zeiten populistischer Bewegungen stark diskutierte traditionelle Form der Verbundenheit sind Nationen und ihre Kulturen. Unterscheidungen von natürlichen oder gottgegebenen Besonderheiten von Völkern, die bestimmten Räumen zugeordnet werden können, ist ein zentraler Topos neurechten Denkens. 21 Aber dieser Versuch einer Revitalisierung von »Ordnungen« geht ins Leere. Es gibt in dem Strom der Menschheitsgeschichte keine substantielle Größe »Volk«. Das unteilbare Magma des Gesellschaftlich-Geschichtlichen lässt sich nicht in unterschiedliche Ströme separieren. Tatsächlich ist ja auch der politische Terminus »Volk« recht spät entstanden, insbesondere die Zuordnung von Völkern nach nationalen Grenzen. Völker in diesem Sinne existieren erst seit einigen hundert Jahren, sie haben ihre politische Wirksamkeit erst in der Neuzeit entfaltet. Der Bezug auf Völker und Nationen hat im 19. Jahrhundert und im 20. Jahrhundert eine dominante Rolle in der Gestaltung der Politik gefunden. 22 Offenkundig gibt es seit dem Zweiten Weltkrieg eine Abkehr von dieser Entwicklung. Das hat nicht nur mit einem politischmoralischem Vorsatz zu tun: In einer wachsenden Zahl von politischen Themenbereichen spielen nationale Sonderinteressen eine immer geringere Rolle, wie etwa beim Klimawandel und in Fragen der wirtschaftlichen Verflechtung, aber auch in den weltweiten Netzwerken digitaler Technologien. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind schon aus wirtschaftlichen Gründen viele supranationale Strukturen entstanden. Wenn man nun all diese Faktoren berücksichtigt, dann erscheint eine Zukunft der Politik, die sich vor allem nach nationalen Grenzen ausrichtet, wenig wahrscheinlich. Auch Todd sieht unter dem Einfluss des Neoliberalismus die Auflösung tradierter Muster, etwa in den USA, ohne deren Einfluss auf die Gesellschaft zu relativieren: vgl. z. B. Todd 2018: 360 ff. 21 Auch dies geschieht unter Berufung auf natürliche Ordnungen. Aktuell finden in der neurechten Debatte Gedanken von Carl Schmitt Rezeption: »Jedes Reich hat nach Schmitt ›einen Großraum, in dem seine politische Idee ausstrahlt und der fremden Interventionen nicht ausgesetzt sein darf‹. Dieser Raum müsse folgerichtig gegen alle Einflüsse raumfremder Mächte abgeschirmt werden.« Weiß 2017: 204. 22 Todd führt die Existenz der Unterscheidungen auch auf ein allgemein menschliches Bedürfnis zurück, gruppenbezogene Unterscheidungen vornehmen zu wollen, vgl. Todd 2018: 119. Das dies ein Aspekt ist, mag stimmen, aber man könnte Unterscheidungen auch auf ganz andere Weise vollziehen. Entscheidend ist, dass sie auf geschichtlicher Kontingenz beruhen und nicht auf natürlichen Ordnungen. 20

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Doch heißt das nicht, dass politische und kulturelle Bezugsgrößen wie Volk und Nation deshalb von einen auf den anderen Tag obsolet geworden sind. 23 Es gibt hier viele Ungleichzeitigkeiten. In nicht wenigen Ländern der Welt spielt die nationale Orientierung immer noch eine erhebliche Rolle, in vielen gewinnt sie neue Kraft. Denn gerade in solchen Zusammenhängen, die mit starken Emotionen verbunden sind, kann man nach wie vor eine bindende Kraft von nationalen Kontexten beobachten. Indikatoren für solche Grundeinstellungen sind zum Beispiel Reaktionen auf Nachrichten über Naturkatastrophen oder Terroranschläge. Diese sind sehr stark davon geprägt, in welchem Land die Katastrophen stattfinden: Der Berliner Weihnachtsmarkt ist den in Freiburg lebenden Menschen viel näher als die Promenade in Nizza, obwohl die tatsächliche Entfernung etwa gleich groß ist. Es ist auch offenkundig, dass in höher integrierten Räumen wie der Europäischen Union nationale Interessen nach wie vor ein großes Gewicht haben. So ist auch heute die Wahrnehmung vieler politischer Prozesse trotz allen Medienwandels und des weltweiten digitalen Netzes nach wie vor national orientiert. Die Sozialpolitik ist immer noch fast vollständig national organisiert, hier hat die Europäische Union bis heute eine offene Flanke. Politische und kulturelle Identitäten speisen sich in unterschiedlichen Ländern aus unterschiedlichen Quellen: Die Erinnerungskultur an die Gräueltaten im Nationalsozialismus ist in Deutschland eine deutlich andere als in den Nachbarländern. Das sind nur wenige Hinweise, die auf die Kontinuität politischer Größen wie Nationen und nationale Kulturen bis zum heutigen Tag hinweisen, die man nicht unterschätzen darf. Es gibt langsame Veränderungen umfassender Strukturen; die politische, die ökonomische und die technologische Entwicklung legt diese Entwicklung nahe. Aber bei einer voreiligen Geringschätzung der Bedeutung der noch bestehenden Unterschiede kann es zu erheblichen Rückschlägen kommen. Jahrhundertealte Tradition sind nicht einfach über Nacht verschwunden, sondern in vielfachen kulturellen Bezügen präsent und ändern sich nur langsam. Schließlich sei auf eine neuere Diskussion von Gemeinschaften aufmerksam gemacht, auf die Bewegung des Kommunitarismus in Koppetsch hebt hervor, dass die Orientierung an der Nation in einer bestimmten Phase des 19. Jahrhunderts durchaus auch als eine progressive Kraft verstanden werden kann, die öffentliche Dienstleistungen und Sozialstaatlichkeit sicherstellt, vgl. Koppetsch 2019: 182 ff.

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den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Entwürfe der unter dieser Bewegung zusammengefassten Autoren sind sehr unterschiedlich, und doch eint sie, dass sie künftige gesellschaftspolitische Entwicklungen an dem Begriff der Gemeinschaft ausrichten wollen. 24 Die Ansätze lassen sich nicht einfach dem konservativen Diskurs zurechnen. Walzer hat zum Beispiel eine mit Rawls konkurrierende Theorie der Gerechtigkeit vorgelegt, die durch ihre Betonung der Gleichheit eher dem progressiven Diskurs zuzuordnen ist. 25 Die kommunitaristischen Ansätze beziehen sich stets auf die Gemeinschaft als jener Größe, aus der die moralischen Ressourcen zur Orientierung in der Gesellschaft gewonnen werden können. Diese Ausrichtung hat eine begrenzte Berechtigung und Stärke, wenn sie deutlich macht, dass menschliche Orientierung nicht unabhängig von Formen der Verbundenheit entstehen kann. Sie ist aber fragwürdig, wenn sie nahelegt, die jeweils gegebene Gemeinschaft sei auch normativ der Referenzrahmen. Hier kann leicht ein Sein-Sollen-Fehlschluss entstehen: Weil es in einer bestimmten Gemeinschaft diese oder jene Werte gibt, haben sie auch Geltung. Dieser Schluss prägt die Argumentationsstruktur des konservativen Diskurses. Es gibt beim kommunistaristischen Ansatz ein weiteres Problem: Privilegierte Gemeinschaften neigen in einer Gesellschaft zur Abschließung gegenüber jenen, die außerhalb der Gemeinschaft sind. Ein politischer Ansatz, der existierende Gemeinschaften auf diese Weise bestätigt, kann problematische Abgrenzungen rechtfertigen. In dem hier vorgestellten variablen Verhältnis von existentieller Verbundenheit und den je und je konkreten Formen der Verbundenheit haben dagegen beide Aspekte Bedeutung. Dadurch gibt es immer durch die nicht zu bändigende existentielle Verbundenheit auch eine kritische Instanz gegenüber bestehenden Formen der Verbundenheit, gegenüber bestimmten, historisch gewachsenen Gemeinschaften.

»Es ist die politische Gemeinschaft, die den richtigen Rahmen für dieses Unternehmen abgibt, wobei zu beachten ist, dass sie keine in sich geschlossene, unabhängige Distributionswelt darstellt.« Walzer 1994: 61. Etzioni zitiert zustimmend Sandel: »›Meine Lebensgeschichte ist immer in die Geschichte derjenigen Gemeinschaften eingebettet, aus denen ich meine Identität beziehe. (…) Diese Geschichte macht einen moralischen Unterschied und nicht nur einen psychologischen.‹« Etzioni 1997: 281. 25 »Die von uns ins Auge gefasste Gesellschaft ist eine komplexe, egalitäre Gesellschaft.« Walzer 1994: 46. 24

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9. Solidarität: Die Formen der Verbundenheit im progressiven Diskurs

1.

Die Anfänge des progressiven Diskurses

In Deutschland entstand der progressive Diskurs der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert gegenüber den anderen Diskursen erst mit einiger Verzögerung. Das lag nicht zuletzt auch an der gegenüber den europäischen Nachbarländern erst spät einsetzenden Industrialisierung. Der Diskurs begann eigentlich erst nach der gescheiterten Revolution von 1848, also in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. 1 Es gab nur wenige Vorläufer im Vormärz, Bündnisse kleinerer Gruppen von Intellektuellen und einer größeren Zahl wandernder Handwerksgesellen. 2 Diese befanden sich aufgrund der repressiven Gesetzgebung im deutschsprachigen Raum vor allem im europäischen Ausland wie etwa der von Wilhelm Weitling in Paris gegründete Bund der Gerechten. Es waren lose Bündnisse von Gleichgesinnten, die aber weder eine detaillierte Programmatik hatten noch sich zu einer Massenbewegung entwickeln konnten. Bei den Frühsozialisten Henri de Saint Simon und Wilhelm Weitling und anderen konnte diese Perspektive eine religiöse Aufladung haben. 3 Die frühe Entwicklung ist durch vielfache Einflüsse bestimmt, noch sind die neuen Formen der Verbundenheit instabil, es gab viele Verwerfungen, Trennungen und neue Vereinigungen. Aus dem Bund der Gerechten von Weitling wurde in den 40er Jahren schließlich der Bund der Kommunisten, für den Karl Marx und Friedrich Engels kurz vor den Revolutionswirren 1848 das »Kommunistische Manifest« schrieben. Eine breite Vgl. Brakelmann 1981: 40. In Frankreich, vor allem aber in England war die Entwicklung weiter. »Als (…) in den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts, die englischen Wörter ›socialist‹ und ›socialism‹ in Europa in Umlauf kamen (…) bedienten sich die Anhänger Robert Owens in England und die Fourieristen in Frankreich dieser beiden Begriffe zur Selbstbezeichnung (…)« Honneth 2015: 24. 3 Vgl. Brakelmann 1981: 46. 1 2

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Solidarität: Die Formen der Verbundenheit im progressiven Diskurs

Aufmerksamkeit blieb dem Text zunächst versagt. Denn erst in Folge des wirtschaftlichen Aufschwungs in den 50er Jahren entstand auch in Deutschland eine Industriearbeiterschaft von nennenswertem Umfang. 4 Anders als bei den sozialen Trägergruppen des bürgerlich-liberalen Diskurses oder des konservativen Diskurses hatten Handwerkerinnen und Handwerker, Arbeiterinnen und Arbeiter für eine lange Zeit keine eigenständige gesellschaftliche Repräsentation. Während der Adel in der konstitutionellen Monarchie staatstragend war und der Einfluss des Bürgertums mit dem zunehmenden Handel und dem Wachstum der Vermögen an Bedeutung gewann, lebten Arbeiterinnen und Arbeiter fast ohne Einfluss am Rande der frühindustriellen Gesellschaft. Es galt in der Arbeiterbewegung erst einmal die organisatorische Basis für eine gemeinsame Vertretung der Interessen zu finden. Zu Anfang bestand die Arbeiterbewegung aus einer Vielzahl von regional und zeitlich begrenzten spontanen Initiativen, lange war unklar, wer dazu gehört und wer nicht. Handwerksgesellen unterschieden sich von den mittellosen Hilfsarbeitern und Handlangern. Unter diesen Bedingungen ist es nicht überraschend, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter viel mehr Aufmerksamkeit auf den dritten zentralen Wert der Französischen Revolution, die Solidarität, richteten. 5 Die Betonung dieses Wertes zeichnete die Arbeiterbewegung von Beginn an aus. Sie verband ein gemeinsames Interesse, nämlich die Abschaffung der ausbeuterischen Verhältnisse, die die Menschen trotz harter Arbeit nur knapp oberhalb eines absoluten Existenzminimums leben ließen. Es war schnell deutlich, dass die Situation nur durch eine Veränderung der Gesellschaft im Ganzen nachhaltig verbessert werden könnte. Doch um die Verhältnisse zu verändern, bedurfte es einer gemeinsamen Strategie und der Durchsetzung von gemeinsamen politischen Zielen in gesellschaftlichen Konflikten. Nur durch Solidarität ließen sich gemeinsame Ziele durchsetzen, sie stand deshalb von Beginn an im Mittelpunkt des progressiven Diskurses. Mit der Revolution 1848 begann ein neues Selbstbewusstsein,

Im gesamten 19. Jahrhundert arbeiteten die meisten lohnabhängigen Arbeiterinnen und Arbeiter in Deutschland auf dem Lande. 5 Honneth stellt fest: »An vorderster Stelle stehen dabei das erste und das letzte Glied aus dem Prinzipienkatalog der Französischen Revolution, also die ›Freiheit‹ und die ›Brüderlichkeit‹ (…).« Honneth 2015: 30. 4

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Die Anfänge des progressiven Diskurses

die Bewegung reklamierte nun den Begriff »Arbeiter« als Selbstbeschreibung. 6 Nun setzte langsam eine Institutionalisierung der Arbeiterbewegung ein, 1863 kam es zu einer ersten Parteibildung, des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, ADAV, verbunden mit Liedern, Symbolen und führenden Repräsentanten. 7 Man kann aus heutiger Perspektive die Konzentration der frühen Arbeiterbewegung auf die ökonomischen Verhältnisse als eine Engführung des politischen Anliegens bemängeln. 8 Allerdings übersieht diese Kritik, dass das existentielle Anliegen der Bewegung tatsächlich zunächst einmal ökonomisch motiviert war, der Gegensatz von Kapital und Arbeit bestimmte in der frühen Industrialisierung alle Facetten des Lebens. Hier war der Anker, um politische Konflikte in gesellschaftlich relevanter Weise überhaupt erst einmal artikulieren zu können. Weitergehenden Forderungen entstanden später, innerhalb einer etablierten Parteienpolitik, etwa als die Sozialdemokratische Arbeiterpartei nach dem Vereinigungsparteitag 1875 sich ein umfassendes Parteiprogramm gab. Der progressive Diskurs verortet sich von Beginn an in einer wechselvollen politischen Geschichte. Sie wird wahrgenommen als eine Geschichte von Konflikten. Die Konflikte führen zur Konkretion: Der Kampf um mehr Gerechtigkeit hat stets einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit. Die Solidarität entsteht zwischen jenen Menschen, die gemeinsam im Kampf stehen. Mit der Französischen Revolution ist ein neues Bewusstsein für die Wandelbarkeit von Geschichte entstanden, das die Arbeiterbewegung aufnimmt. Sie versteht sich als einen zentralen Akteur innerhalb einer offenen geschichtlichen Entwicklung. Ihr gehört nicht die Vergangenheit, auch nicht die Gegenwart, wohl aber die Zukunft. Um den gegenwärtigen Kampf, in dem man steht, besser beschreiben zu können, sind beide Dimensionen der Geschichte, die Vergangenheit und die Zukunft, wichtig, allerdings in einer sehr unterschiedlichen Gewichtung. Die Vergangenheit weist darauf hin, woher man kommt, wie die Konflikte entstehen konnten, in denen man sich befindet. Aber auf der Zukunft liegt das ganze Gewicht. Die Zukunft wird den Sieg der eigenen Vgl. Grebing 1980: 45. Vgl. Grebing 1980: 67. 8 Schon zu Anfang sei der Arbeiterbewegung eine große Bürde auferlegt worden, »weil alle Hoffnung auf eine nachträgliche Versöhnung von Freiheit und Brüderlichkeit allein an die Aussicht einer kommunitären Umgestaltung der Wirtschaftssphäre gebunden wurde (…).« Honneth 2015: 62. 6 7

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Solidarität: Die Formen der Verbundenheit im progressiven Diskurs

Sache bringen. Die Zukunft erscheint als Verheißung, als jener ersehnte Ort, an dem man in Würde auskömmlich existieren kann. Die Solidarität führt zu einer Gruppenbildung. 9 Die arbeitenden Menschen sind untereinander eng verbunden, zugleich gibt es eine klare Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen der Gesellschaft, allen voran den Repräsentanten der herrschenden wirtschaftlichen Verhältnisse, also dem Bürgertum. Das Besondere der Konflikte im Verständnis der Arbeiterbewegung ist es, dass sie sich nicht von einer übergeordneten, neutralen Warte aus auflösen lassen. Das wäre nur dann möglich, wenn es eine politische Strategie gäbe, die unterschiedlichen Interessen auf ein gemeinsames Ganzes zu beziehen. Doch dieses Gemeinsame existiert nicht unter den Bedingungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Für die geschichtlichen Konflikte gibt es keine technische Lösung. Im Umgang mit und in der Bewertung von Konflikten unterscheidet sich der progressive Diskurs sowohl von dem konservativen als auch von dem liberal-bürgerlichen Diskurs. Diese beiden gehen davon aus, dass Konflikte äußere Störungen darstellen, die überwunden werden müssen, damit die traditionellen Verhältnisse bzw. die funktionalen Systeme wieder ungestört existieren können. Politische Konflikte spielen in der Beschreibung von Gesellschaft nur eine untergeordnete Rolle, sie sind ein Tribut an die Irrationalität der Verhältnisse. Ganz anders ist die Bewertung im progressiven Diskurs: Der Konflikt hat eine konstitutive Bedeutung für das Verständnis von Gesellschaft. Konflikte sind angesichts der historischen Entwicklung immer schon da, sie können nicht vermieden, nur geleugnet werden. Es geht von Beginn an um den Kampf der Artikulation und Durchsetzung der Interessen jener, die durch die gesellschaftlichen Verhältnisse entfremdet und erniedrigt werden. Die Solidarität nach innen und der Kampf nach außen korrespondieren in der Arbeiterbewegung miteinander. Die Machtmittel der Bewegung ruhen vor allem auf der Solidarität. Kein Streik kann erfolgreich durchgeführt werden, wenn es nicht einen festen Zusammenhalt unter den Streikenden gibt. Keine gesellschaftliche Auseinandersetzung kann durch die, die in den Anfängen keine explizite Rolle im gesellschaftlichen Gefüge haben, gewonnen werden, wenn es unter ihnen nicht eine enge Verbundenheit gibt. Die soliDie neuen Gemeinschaftsformen sind gekennzeichnet durch ein »wechselseitiges Einstehen der Gruppenmitglieder füreinander und eine Anteilnahme am jeweils anderen«, vgl. Honneth 2015: 46.

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Die Anfänge des progressiven Diskurses

darische Gemeinschaft, die Bewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter ist damit die zentrale Form der Verbundenheit des progressiven Diskurses. Gerade weil die Solidarität in den frühen Zeiten der Arbeiterbewegung eine fragile Form darstellt, die gesellschaftlich nicht endgültig abgesichert ist, ist sie nicht nur ein Ausdruck für das Gegebene, sondern immer auch Aufruf und Appell an jene, die sich dem gemeinsamen Kampf anschließen und so für die Solidarität einstehen sollen. Es ist eine kontinuierliche Erfahrung der Arbeiterbewegung, dass ihre solidarischen Formen brüchig sind und sich schnell wieder in unterschiedliche Richtungen zerlegen können. Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist zugleich auch eine Geschichte immer neuer Zerwürfnisse und Abbrüche und immer wieder neuer Gruppenbildungen. 10 Bei aller Betonung der Gleichheit, die der Begriff Solidarität nahelegt, ist von Beginn an umstritten, in welchem Umfang die Menschen, die einander solidarisch sind, auch in der gleichen gesellschaftlichen Situation sein müssen. Die Autoren des Kommunistischen Manifests, Marx und Engels, die zu der Solidarität aller arbeitenden Menschen aufriefen, waren ihrerseits keine Arbeiter, sondern ein als Journalist arbeitender promovierter Philosoph und ein Erbe einer Fabrikantendynastie. Die sozialistischen Theoretiker waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast durchweg selbst keine Arbeiter, wenn man von Ausnahmen wie dem Schneider Wilhelm Weitling absieht. Offenkundig kann der Begriff der Solidarität nicht so eng gemeint sein, dass nur die in gleicher Weise Betroffenen ihn für sich reklamieren können. Auch jene Menschen in der Gesellschaft erfasst, Bürger, Künstler und Intellektuelle, die sich für die Sache der Arbeiter einsetzen, sind in die Solidarität einbezogen. Eine gemeinsame politische Sache kann so auch bedeuten, dass auch die Landbevölkerung miteinbezogen wird. Dies wurde spätestens in der russischen Revolution von 1917 wichtig, als in dem immer noch agrarisch geprägten Land ohne großen Vorlauf Arbeiter- und Bauernräte gebildet wurden. Dennoch hat es in kommunistischen und sozialistischen Parteien immer wieder einen Streit um die Rolle der Intellektuellen gegeben, inwieweit sie der Bewegung selbst zugehören oder sie authentisch vertreten können. 11 Für die Verhältnisse der Weimarer Republik in kurzer Fassung vgl. etwa Grebing 1980: 172. 11 Beispielhaft sagt Merleau-Ponty: »(…) und das heißt, dass es außerhalb des Pro10

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Solidarität: Die Formen der Verbundenheit im progressiven Diskurs

Anders als im konservativen Diskurs ist diese selektive Solidarität allerdings nicht auf alle Zeiten festgeschrieben, die Bewegung des progressiven Diskurses zielt letztlich auf einen universalen gesellschaftlichen Zustand, der alle Menschen einbezieht. Die Konflikte werden im progressiven Diskurs als Teil einer Emanzipationsgeschichte gedeutet, an deren Ende alle Menschen in gleicher Weise an dem Erkämpften teilhaben. Der aktuelle Kampf ist jedenfalls in dem kommunistischen und sozialdemokratischen Teil der Arbeiterbewegung nicht nur der Kampf einer partikularen Gruppe zur Durchsetzung des eigenen Interesses, sondern vermittelt über eine Geschichte kontinuierlicher Konflikte zugleich auch der Kampf um eine gerechtere Gesellschaft, die allen Menschen zugutekommt. Die Tendenz zur Ausweitung der solidarischen Verhältnisse ist von Beginn an mitgedacht. 12 Das erhöht die Bedeutung der Geschichte in dem progressiven Diskurs. Sie vermittelt den defizitären gegenwärtigen Zustand mit dem antizipierten künftigen Zustand. Karl Marx und Friedrich Engels haben im Kommunistischen Manifest den Begriff des Kommunismus als Bezeichnung jenes gesellschaftlichen Zustandes populär gemacht, in dem letztendlich alle Menschen einbezogen sein sollen.

2.

»Das Kommunistische Manifest« von Karl Marx und Friedrich Engels

Das kommunistische Manifest ist eine erst mit großer Verzögerung berühmt gewordene Schrift. Dieser Text, der viele sozialdemokratische, sozialistische und kommunistische Politikerinnen und Politiker bewegen sollte, fand zunächst einmal in den Folgen des Jahres 1848 eine geringe Rezeption. Dabei erschien er eigentlich genau zur rechten Zeit, unmittelbar vor den Märzunruhen dieses Jahres und den darauffolgenden politischen Turbulenzen. Doch hatte die Schrift keine direkten Wirkungen auf die revolutionären Geschehnisse von 1848, weder in den deutschen Staaten noch im europäischen Ausland. Auch die Autoren, Karl Marx und Friedrich Engels, bezogen sich in letariats Wahrheit geben kann, und umgekehrt, nicht alles wahr ist, was vom Proletariat kommt (…).« Merleau-Ponty 1955: 52. 12 Der Schlusssatz des Kommunistischen Manifests lautet: »Proletarier aller Länder vereinigt euch!« Marx, Engels 1848: 560.

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»Das Kommunistische Manifest« von Karl Marx und Friedrich Engels

diesem Jahr nicht auf das Manifest, sondern stellten deren Forderungen und Proklamationen erst einmal hintan. Marx zog Anfang 1848 nach Köln und leitete im weiteren Verlauf des Jahres die »Neue Rheinische Zeitung«, ein Zeitungsprojekt, das zunächst einmal die bürgerliche Revolution zu fördern versuchte. Diese Haltung zeigte ohne Zweifel eine Größe, weil sie die Erkenntnisse der eigenen Geschichtstheorie dem Reiz einer kurzschlüssigen Umsetzung revolutionärer Ziele vorzog. 13 Erst müsse es darum gehen, eine bürgerliche Revolution auf den Weg zu bringen, bevor dann die Ankündigungen des kommunistischen Manifests zur Geltung kommen können. Andererseits lassen sich im Nachhinein auch verpasste Gelegenheiten feststellen, etwa die, dass Marx und Engels die Gründung der ersten Assoziation von Arbeitern in Deutschland, der »Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Verbrüderung« des damaligen Buchdruckergesellen Stephan Born nicht weiter beachteten. 14 In das Zentrum der Argumentation weist schon der erste Satz des ersten Kapitels des Manifests: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.« 15 Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die Klassenkämpfe, sind der Motor aller großen geschichtlichen Veränderungen. In die aktuellen Auseinandersetzungen ist das Proletariat verwickelt, an das sich das Manifest direkt wendet. 16 Das Proletariat kommt nur zu sich selbst und kann sich selbst auch nur verstehen als Partei innerhalb des unmittelbar bevorstehenden revolutionären Kampfes. Dazu muss auch der Gegner in dem Kampf klar bestimmt sein, es ist die Klasse der Kapitaleigner, die Bourgeoisie. 17 Beide Klassen, das Proletariat wie auch die Bourgeoisie, sind das Ergebnis einer radikalen Veränderung der Produktions- und Handelsweisen. Auch die Bourgeoisie hat zunächst eine revolutionäre Rolle, weil sie alle gesellschaftlichen Herrschaftsformen, die vor ihr im Feudalstaat existiert haben, beseitigt. Stedman Jones sieht allerdings hier einen gravierenden Widerspruch aufscheinen: »It meant supporting the liberals while at the same time pointing out that the achievement of liberal-bourgeois success would place the proletariat in an even worse situation than before.« Stedman Jones 2017: 242. 14 Vgl. Grebing 1980: 44. 15 Marx, Engels 1848: 525. 16 Es endet bekanntlich mit dem Aufruf: »Proletarier aller Länder vereinigt euch!« Vgl. Marx, Engels 1848: 560. 17 »Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander gegenüber stehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.« Marx, Engels 1848: 526. 13

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Solidarität: Die Formen der Verbundenheit im progressiven Diskurs

Sie raubt den religiösen Traditionen ihre Kraft, sie beseitigt traditionelle Herrschaftsformen, sie nimmt den Familien ihren sentimentalen Schleier. Die neuen Produktionsweisen entleeren die Gesellschaft all ihrer bisherigen Formen der Verbundenheit, für deren Erhalt der konservative Diskurs eintritt und setzen an ihre Stelle die Kräfte des Marktes. Dies führt zu einer großen Verunsicherung der Gesellschaft. 18 Es ist diese Auflösung alter Strukturen durch die Bourgeoisie, die das Proletariat entstehen lässt. Das Proletariat im Sinne von Marx und Engels ist durch diese sich zuspitzende Auseinandersetzung mit der Bourgeoisie definiert. 19 Es wird aber nicht über Nacht zu der entscheidenden Form der Verbundenheit des revolutionären Geschehens. Zunächst sind es einzelne und verstreute Arbeiter, die aufbegehren. Ist jedoch erst einmal dieser Kampf in Gang gesetzt, entsteht zunehmend ein gemeinsamer Wille der Kämpfenden. »Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter.« 20 Die sich ausweitende Solidarität und der zunehmende gesellschaftliche Kampf bedingen einander. Dieser Weg ist nicht ohne Rückschritte und Einbrüche. Schon das Manifest nimmt vorweg, was sich im weiteren Verlauf der Arbeiterbewegung zeigen wird: Immer wieder gibt es Friktionen unter den Arbeitenden, leicht können einzelne Gruppen in konkreten Auseinandersetzungen in ihren Interessen gegeneinander ausgespielt werden. Das zeigt deutlich: Ohne die Vorgabe, ohne den Rahmen der Gemeinsamkeit des Kampfes zerfiele ihre Form der Verbundenheit, ihre Solidarität, sehr schnell wieder. 21 Die Argumentation erklärt auch, warum Marx und Engels 1848 nicht gleich kommunistische Aufrufe konzipiert und das Proletariat zu versammeln versucht haben. Deutschland war aus ihrer Sicht zu unterentwickelt, die feudalen Strukturen noch zu stark, Viele Stellen dieses Textes lassen sich lesen als gälten ihre Aussagen der heutigen Gesellschaft: »Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die fortwährende Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allem anderen aus.« Marx, Engels 1848: 528 f. 19 »Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer erzeugt, die diese Waffen führen werden – die modernen Arbeiter, die Proletarier.« Marx, Engels 1848: 532. 20 Marx, Engels 1848: 535. 21 »Diese Organisation des Proletariats zur Klasse, und damit zur politischen Partei, wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst.« Marx, Engels 1848: 535. 18

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»Das Kommunistische Manifest« von Karl Marx und Friedrich Engels

eine Bourgeoisie hatte sich noch nicht durchgesetzt, das Proletariat würde unter diesen Bedingungen nicht seine solidarische Kraft entfalten können. Nicht alle Menschen lassen sich durch die dichotome Unterteilung zwischen Bourgeoisie und Proletariat erfassen. Es gibt weitere Gruppen: Kleinbürger, Handwerker und es gibt das untätige »Lumpenproletariat«. Sie alle mögen sich gegen die Bourgeoisie wenden, aber sie haben keine revolutionäre Kraft, weil sie in den Produktionsverhältnissen keine entscheidende Rolle spielen. Der gesellschaftliche Kampf ist ausschließlich durch den konstitutiven Bezug auf die ökonomische Produktion definiert. Für Marx und Engels ist es wichtig, dass das Proletariat außerhalb des entscheidenden Kampfes keine andere Quelle für seine Identität hat. Es ist durch die ihm aufgezwungene Lebensform in gewisser Weise entwurzelt von allen anderen Quellen der Gemeinschaft und der gesellschaftlichen institutionellen Einbindung, seien es familiäre, landmannschaftliche, staatliche oder religiöse. 22 Es gibt keine andere Form der Verbundenheit mehr, die mit der einen entscheidenden, eine Partei im entscheidenden revolutionären Kampf zu sein, konkurrieren könnte. Die Autoren des Manifests deuten allerdings schließlich noch einen anderen, indirekten Faktor für die Herausbildung gesellschaftlicher Formen der Verbundenheit. Der Kampf des solidarischen Proletariats ist ja eng mit dem technischen und ökonomischen Fortschritt verbunden: »Der Fortschritt der Industrie, deren willenloser und widerstandsloser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation.« 23 Die Assoziation der Arbeiter nährt sich nicht nur aus dem gesellschaftlichen Kampf, sondern ergibt sich auch aus dem technischen Fortschritt. Damit ist eine Alternative angedeutet, die zu vielfältigen Auseinandersetzungen in der späteren Arbeiterbewegung geführt hat. Ist es die Solidarität im revolutionären Kampf, oder ist es nicht vielmehr die Assoziation durch Fortschritt von Industrie und Produktion, welcher die Arbeiterschaft ihren Zielen näherbringt? Marx und Engels stellen die Solidarität als eine Form der Verbundenheit in das Zentrum ihrer Argumentation. Nicht Gleichheits»Die Gesetze, die Moral, die Religion, sind für ihn (scil. der Proletarier, FV) ebenso viele bürgerliche Vorurteile (…).« Marx, Engels 537. 23 Marx, Engels 1848: 538. 22

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Solidarität: Die Formen der Verbundenheit im progressiven Diskurs

oder Gerechtigkeitsforderungen oder die Forderung nach Freiheit stehen im Mittelpunkt des Manifests, sondern alles Gewicht liegt auf der Solidarität, jenem dritten Wert der Französischen Revolution. Die Form der Verbundenheit wird aber gerade nicht aus der moralischen Forderung nach Solidarität abgeleitet. Nach der Freisetzung durch den Markt ist die Möglichkeit einer neuen Form der Verbundenheit gegeben, die durch den gesellschaftlichen Kampf bestimmt ist. Nicht also kämpfen die Arbeiter, weil sie solidarisch sind, sondern sie sind solidarisch, weil sie kämpfen. Marx und Engels lehnen deshalb auch solche Ansätze ab, die aus moralischer und verallgemeinert humanistischer Sicht argumentieren, 24 ebenso ab wie solche, die sich für die Arbeiter als leidende Klasse stark machen. 25

3.

Die bleibende Bedeutung und die Relativierung des Ansatzes von Karl Marx

Eine erneute Lektüre des Kommunistischen Manifests in unserer Zeit lässt staunen. Es gibt nicht wenige Formulierungen, die man nur wenig verändert zur Beschreibung der aktuellen gesellschaftlichen Situation gebrauchen könnte. Wenn man sich vor Augen führt, wie anders die Welt 1848 aussah, wie viele weitreichende technologische Revolutionen erst danach stattgefunden haben, so mutet es schon eigentümlich an, dass die Autoren des Manifests damals zu solchen, heute noch aktuellen Formulierungen in der Lage waren. Dennoch herrscht aber heute weitgehend Einigkeit darüber, dass dieser in vielen Teilen geniale Text zugleich von schwerwiegenden Fehlern durchsetzt war, die eine Adaption der Theorie heute massiv erschweren. Innerhalb des progressiven Diskurses hat es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielfältige Versuche gegeben, die Spreu vom Weizen zu trennen. Manche der Autoren, die in den bisherigen Überlegungen zu Rate gezogen wurden, etwa Maurice Merleau-Ponty, Cornelius Castoriadis oder Chantal Mouffe, haben sich an dieser kritischen Aufarbeitung der Theorie von Karl Marx beteiligt. Alle kommen darin überein, dass sein vielleicht größter Fehler die philosophiDiese Stimmen wünschen »den sozialen Missständen abzuhelfen, um den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern.« Marx, Engels 1848: 555. 25 »Nur unter diesem Gesichtspunkt der leidendsten Klasse existiert das Proletariat für sie.« Marx, Engels 1848: 557. 24

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Die bleibende Bedeutung und die Relativierung des Ansatzes von Karl Marx

sche Festlegung auf ein bestimmtes geschichtliches Schema war, mit der er die gesellschaftliche Entwicklung diagnostizierte und prognostizierte. Die Abkehr von der Vorstellung einer umfassenden Geschichtstheorie ist ein gemeinsamer Nenner aller genannten kritischen Positionen des sogenannten »Postmarxismus«. Sie betonen demgegenüber eine Offenheit von Geschichte, die Unvermeidbarkeit kontingenter Entwicklungen, die Bedeutung des Neuen und Unableitbaren, die Begrenztheit eines jeden theoretischen Entwurfs, so auch des marxistischen. Die Offenheit von Geschichte wird unterschiedlich begründet: Merleau-Ponty spricht von einer bleibenden Ambivalenz geschichtlicher Verhältnisse, 26 Laclau und Mouffe verweisen auf den gesellschaftlichen Antagonismus, der eine auf Vollständigkeit bedachte Theorie verhindert, Castoriadis nennt das Imaginäre, das jedem Versuch, gesellschaftlich-geschichtliche Verhältnisse in feste Strukturen zu überführen, eine Absage erteilt. Statt die Geschichte der Rigidität einer Theorie zu unterwerfen und ihre Variabilität zu verleugnen, ist die Geschichte nach Auffassung der Autoren eher der Ort, an dem, wenn es gut geht, die Irrationalität verringert, wenn auch nicht völlig beseitigt werden kann. Konflikte und kontingente Entwicklungen bleiben dauerhaft. Denn die Geschichte fügt sich nicht dem Rationalitätsanspruch einer progressiven Theorie. 27 Besonders problematisch innerhalb des Marxschen Geschichtskonzepts ist die Rolle des Proletariats. Zum einen wird hier in der Theorie ein Akteur kreiert, der in dieser Eindeutigkeit nie existiert hat. Zum anderen aber haben die weiteren Entwicklungen im 20. Jahrhundert eine Auflösung sogar eines weiter gefassten proletarischen Milieus zur Folge gehabt. Die genannten Autoren kritisieren schließlich auch die mit der Auszeichnung des Proletariats eng verbundene Dominanz der ökonomischen Theorie in der Marxschen Beschreibung der Geschichte. Die Konzentration auf die ökonomischen Bedingungen der Gesellschaft lässt einer eigenständigen Bewertung der Politik keinen großen Raum. 28 »Der Marxismus, der wahr bleibt, gleichgültig, was er auch tut, der auf Beweise und Verifikation verzichtet, war nicht die Philosophie der Geschichte. Das war maskierter Kant (…).« Merleau-Ponty 1955: 280. 27 »Die Geschichte beseitigt das Irrationale, aber das Rationale bleibt ein zu Schaffendes, Auszudenkendes; es hat nicht die Macht, das Wahre an die Stelle des Falschen zu setzen.« Merleau-Ponty 1955: 29 f. 28 So auch Honneth: »Darüber hinaus aber hatten die Gründerväter – und hier vor allem Saint-Simon und Marx – das sozialistische Projekt mit einem geschichtsmeta26

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Solidarität: Die Formen der Verbundenheit im progressiven Diskurs

Doch ist die kritische Abgrenzung nur die eine Seite der Rezeption. Darüber hinaus haben Merleau-Ponty, Mouffe und Castoriadis ihre politische Orientierung durchaus auch in positiver Anknüpfung an die Marxistische Argumentation gefunden. Denn zentrale Aussagen von Marx bleiben für sie gültig: Die Geschichte ist eine elementare Dimension menschlicher Existenz, sie lässt sich ohne die geschichtliche Entwicklung der Gesellschaft nicht verstehen. Die menschliche Geschichte ist eine Geschichte von Kämpfen und Konflikten, nicht eine konstruktive Annäherung an den bestmöglichen Zustand durch rationale Verfahren und moralische Vorgaben. Die menschliche Geschichte kennt trotz aller Zufälle und kontingenter Ereignisse längerfristige Tendenzen. Die langfristige Entwicklung der Geschichte ist für Marx maßgeblich auch durch die Entwicklung der Technik bestimmt. Durch die Entwicklung der Produktivkräfte entstehen immer wieder Spannungen zu den Produktionsverhältnissen, also zu der gesellschaftlichen Gestalt der Produktion und zu den Besitzverhältnissen. Die Produktionskräfte sind bestimmt durch das ihnen zugrunde liegende wissenschaftlich-technische Wissen. Diese Einsicht hat auch heute nicht an Bedeutung verloren, in einer Zeit, in der digitale Technologien die gesellschaftliche Entwicklung immer mehr beeinflussen. Wir stehen an der Schwelle weiterer tiefgreifender Veränderungen. Auch andere drängende Fragen der Zeit stehen in einem engen Zusammenhang mit dem wissenschaftlich-technischen Wandel, so der Klimawandel. Im Positiven wie auch Negativen ist die Geschichte der Menschheit mit dem wissenschaftlich-technischen Wandel verknüpft. Die Erkenntnis der Bedeutung von Wissenschaft und Technik durch Marx wird in dem elften Kapitel berücksichtigt, das zur Beurteilung künftiger Formen der Verbundenheit die Auswirkungen der digitalen Technologien analysiert.

4.

Tendenzen progressiver Formen der Verbundenheit

Die zentrale Form der Verbundenheit des progressiven Diskurses, die Solidarität, ist eng mit einem Kampf um eine bessere Zukunft verbunden. Es geht um die Solidarität derjenigen, die sich gemeinsam physischen Anspruch aufgeladen, der es in Zukunft so gut wie unmöglich machte, die eigenen Vorstöße als experimentelle Erprobungen der Veränderbarkeit kapitalistischer Gesellschaften zu verstehen.« Honneth 2015: 50.

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Tendenzen progressiver Formen der Verbundenheit

in einer Auseinandersetzung befinden und die nur gemeinsam ihre politischen Ziele durchsetzen können. Kämpfe und Konflikte haben, wie wir gesehen haben, in einer offenen Geschichte demokratisch verfasster Gesellschaften eine bedeutende Funktion. In dem progressiven Diskurs sind diese stets eingebunden in einem Ringen um eine bessere Zukunft. Mouffe und Laclau machen mit dem Begriff des gesellschaftlichen Antagonismus deutlich, dass es keine übergeordnete Struktur gibt, auf die man sich beziehen könnte. Das Konzept einer offenen Gesellschaft und einer offenen Geschichte hat zur Folge, dass keine Position aus sich heraus eine absolute Stellung einnehmen kann, alle Positionen sind in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen eingebunden. Dies entspricht auch den Erkenntnissen von Merleau-Ponty und Castoriadis, die eine neutrale Perspektive eines Kosmotheoros oder einer umfassenden Objektivität ablehnen. Vor diesem Hintergrund erscheint es problematisch, dass etwa Jürgen Habermas meint, dass Solidarität sich von den lebensweltlichen Formen lösen lasse und zeitgemäß nur noch in abstrakter Form denkbar sei. 29 Er verwendet dabei ein Argument, das auch der hegemoniale Diskurs nahe legt: Dieser fordert eine Absicherung der eigenen Position durch Verallgemeinerung unter den Bedingungen der Vernunft. Die Überlegungen von Marx und Engels erscheinen da realistischer: Es ist nicht die überzeitliche abstrakte Vernunft, die die Solidarität absichern kann, sondern es sind die konkreten geschichtlichen Konflikte, die Solidarität erst hervorrufen. Nun ist fraglich, ob man heute noch einen solchen zentralen Konflikt benennen kann, wie es die Autoren des »Kommunistischen Habermas knüpft Solidarität zunächst an die allgemeinen Ressourcen der Lebenswelt an: »Gewiss, Solidarität kann nur im Kontext angestammter oder kritisch angeeigneter, insofern selbstgewählter, aber stets partikularer Lebensformen erfahren werden.« Habermas 1994: 232, folgert aber weitergehend, dass in heutiger Zeit sogar nur von einer abstrakten, auf die allgemeine Vernunft zielenden Solidarität die Rede sein könne: »Aber im Rahmen einer politisch großräumig integrierten Gesellschaft, erst recht im Horizont eines weltweiten Kommunikationsnetzes, ist solidarisches Zusammenleben selbst seiner Idee nach nur noch in abstrakter Form zu haben, nämlich in Gestalt einer berechtigten, intersubjektiv geteilten Erwartung.« (ebd.) Allein auf diese Erwartung zu setzen, die von einer allgemeinen, prozedural abgesicherten Vernunft abgesichert ist, erscheint angesichts der Risse und Verwerfungen weltweiter politischer Prozesse problematisch. Honneth hat dagegen zu Recht unter Rückgriff auf Hegel das lebensweltlich angebundene Konzept der »sozialen Freiheit« betont. Es gehe darum »eine Gerechtigkeitskonzeption nicht auf die Darlegung und Begründung von allein formalen, abstrakten Grundsätzen zu beschränken.« Honneth 2011: 119.

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Solidarität: Die Formen der Verbundenheit im progressiven Diskurs

Manifests« taten. Axel Honneth kritisiert den Sozialismus gerade in seiner Engführung auf die ökonomische Perspektive und stellt fest, »dass im Sozialismus die normative Produktivkraft der Idee sozialer Freiheit durch den theoretischen Rahmen einer aus der industriellen Revolution stammenden Diskursformation daran gehindert wird, das ihr innewohnende Potential tatsächlich zu entfalten« 30. Ist es nicht notwendig, heute von der ökonomischen Sphäre auf andere gesellschaftspolitischen Fragen überzuleiten? Es gibt auch in der Verwendung des Konflikt-Begriffs durch Mouffe nicht den einen herausragenden Konflikt, wie ihn Marx und Engels in der Auseinandersetzung von Bourgeoisie und Proletariat konzipierten. Allerdings erscheint es nicht plausibel, statt des einen Konfliktes eine Vielzahl sehr unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Fragen zu benennen. Die Frage der Gerechtigkeit und der ökonomisch bedingten Ungleichverteilung ist auch in den Zeiten eines fortgeschrittenen Kapitalismus nicht veraltet. Im Gegenteil, am Horizont der gegenwärtigen Entwicklung zeigen sich neue Konfliktlinien und Verteilungskämpfe, die zentral mit den Produktionskräften und den Produktionsverhältnissen zu tun haben. Die Plattformökonomien der Internetunternehmen schaffen eine scharfe Zentralisierung von Unternehmermacht, exorbitanten Reichtum auf der einen und viele prekäre Arbeitsverhältnisse auf der anderen Seite. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ein vermehrter Einsatz komplexer Technologien wie die so genannte »Künstliche Intelligenz« zu weiteren tiefgreifenden Verwerfungen und gesellschaftlichen Ausschließungen führt. Es ist vielleicht auch eine Wirkung der Einschränkung der Perspektive des hegemonialen Diskurses auf das Individuum, dass man die Hoffnung hegen kann, die von Ausschließung bedrohten Menschen ließen sich dann über maßgeschneiderte Weiterbildungsprozesse in die neuen Arbeitsmärkte reintegrieren. Darüber hinaus stehen weitere gesellschaftliche Herausforderungen mit schwierigen sozialen Verteilungseffekten an. Das Ziel einer ökologisch nachhaltigen Wirtschaft wird nicht ohne soziale Verwerfungen möglich sein, eine preisgesteuerte Verknappung der CO2-intensiven Güter und Dienstleistungen ist das wichtigste Steuerinstrument. Der Bürokratieaufwand für eine individuell gerechte Kompensation einer CO2-Bepreisung wäre exorbitant. Soziale Konflikte sind also für die Zukunft unausweichlich, und diese

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Tendenzen progressiver Formen der Verbundenheit

haben nach wie vor entscheidend mit der Ökonomie, mit der wissenschaftlich-technischen Entwicklung und der Arbeitswelt zu tun. Der progressive Diskurs nach Marx betont in kritischer Distanz zu ihm das große Potential neuer sozialer Strukturen und gesellschaftlicher Innovationen, die sich nicht einer übergreifenden Theorie fügen. Castoriadis hat in besonderer Weise die Fähigkeit zu kreativen Lösungen hervorgehoben, die einem offenen gesellschaftlichen Prozess inhärent sind. Auch Honneth plädiert für ein »experimentelles Geschichtsverständnis, dem zufolge der historische Prozess auf jeder folgenden Stufe wieder neue, erst zu erschließende Potentiale für Verbesserungen bereithält (…).« 31 Soziale und technische Kreativität braucht aber ein kulturelles Umfeld, das es fördert. Dies kann nur eine gesellschaftliche Kommunikation sein, die von einer Hoffnung auf eine bessere Zukunft bestimmt ist. Die Hoffnung ist in dem Zusammenhang aber nicht eine Vertröstung auf ein Morgen, sondern eine Kraft, die schon in der Gegenwart wirkt. Diese politisch relevante Hoffnung war immer eine Stärke des progressiven Diskurses, die Ahnung von dem noch Unfertigen, noch nicht Verwirklichten. Diese Ahnung, aus der sich die Hoffnung nährt, war verbunden mit einer durch Marx inspirierten nüchternen Analyse der geschichtlichen Prozesse. Diese Analyse verbunden mit der Vorstellung gerechterer und humanerer Verhältnisse hat immer wieder große gesellschaftliche Veränderungskraft ausgelöst. Entscheidend ist hier der Komparativ, denn es geht nicht um ein absolutes Ziel, das sich ja auch nicht in ein Konzept einer offenen Geschichte einbinden ließe, sondern um eine Verbesserung des Morgen gegenüber dem Heute. In dem Verhältnis zur Zukunft erweist sich einer der großen Mängel des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne. Denn dort ist die Zukunft nicht anders zugänglich als durch Prognosen, also durch die Erweiterung der Gegenwart mittels der Hochrechnung gegenwärtiger Zustände mit wissenschaftlichen Mitteln. Prognosen müssen per se alle unkalkulierbaren Wendungen von Geschichte ausschließen. Wie realistisch das ist, zeigt sich schnell, wenn man sich in historische Zeiten zurückdenkt und überlegt, inwieweit aus den Daten der damaligen Zeit die Zukunft zu erschließen gewesen wäre. Der hegemoniale Diskurs opfert über die Fixierung auf Prognosen die offene Zukunft für eine angebliche Sicherheit wissenschaftlicher Analysen.

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Solidarität: Die Formen der Verbundenheit im progressiven Diskurs

Schon die Analyse der Formen der Verbundenheit zeigte, dass Konflikte ein grundlegender Bestandteil menschlicher Gesellschaften sind. Der geschichtliche Verlauf kann deshalb nicht eine Auflösung, wohl aber eine Reduktion der bestehenden Konflikte zum Ziel haben. Es geht in einer progressiven Politik deshalb nicht um die Etablierung eines endgültigen Sinns, sondern um die sukzessive Verringerung von Unsinn, wie Merleau-Ponty formulierte. 32 Der Versuch, die Konflikte allein als Störungen eines rationalen und werteorientierten Normalzustandes zu beschreiben, wie dies der hegemoniale Diskurs versucht, greift zu kurz. Wenn sich aber beide Optionen verbieten, die Option, Konflikte einfach als marginale Störungen zu werten oder die Option, Konflikte geschichtsphilosophisch als Teil des einen alles entscheidenden Konflikts zu überhöhen, dann ist ein kontinuierlicher Umgang mit partikularen Konflikten notwendig. Erfolgreich bearbeitete Konflikte sind es in der Regel, die einen gesellschaftlichen Fortschritt ermöglichen. Chantal Mouffe betont deshalb auch das emanzipatorische Potential von Konflikten innerhalb eines demokratisch verfassten Staates. 33 Diese gesellschaftlichen Konflikte lösen Bewegungen der Solidarisierung aus. Die Solidarität als Form der Verbundenheit des progressiven Diskurses weist in eine offene Zukunft, die von einer Verbesserung der Verhältnisse geprägt ist. Entscheidend für die Interpretation von Konflikten im progressiven Diskurs ist die Ausrichtung auf eine universalistische Perspektive. Auch hier besteht ein gravierender Unterschied zu dem hegemonialen Diskurs. Der Universalismus als politische Option ist im progressiven Diskurs im Gegensatz zum hegemonialen Diskurs nicht einfach unmittelbar gegeben, sondern nur über eine geschichtliche Entwicklung vermittelt. Strikt universalistische Positionen sind in der geschichtlichen Gegenwart aufgrund der noch bestehenden gesellschaftlichen Konflikte und Verwerfungen nur in Abstraktion denkbar. Niemand kann sich über die bestehenden Konflikte erheben und eine »neutrale« Position einnehmen. Auch diese Einsicht verdankt sich der Rückbindung aller politischen Bewertungen an die eigene, endliche leibliche Existenz, die nicht überschritten werden »Es gibt weniger einen Sinn der Geschichte als eine Beseitigung des Unsinns. Kaum hat eine Richtung des Werdens sich abgezeichnet, und sie ist auch schon kompromittiert; immer nur retrospektiv lässt sich ein Fortschritt behaupten (…).« Merleau-Ponty 1955: 50. 33 Mouffe schwebt eine multipolare Welt vor, die Divergenzen benennt und streitbar diskutiert, ohne zu einem Kampf der Kulturen auszuarten, vgl. Mouffe 2016: 72. 32

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Tendenzen progressiver Formen der Verbundenheit

kann. 34 Dennoch ist die universalistische Perspektive für den progressiven Diskurs grundlegend, denn ohne sie wären die Auseinandersetzungen richtungslos und letztendlich destruktiv. Der Universalismus erscheint als langfristiges Ziel, das nur über den Weg mit einer Vielzahl von Konflikten erreicht werden kann. Wie aber ist eine Ausrichtung auf eine universalistische Perspektive möglich? Der Ansatz von Marx, der den Konflikt zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat in den Mittelpunkt stellt, hat den Vorteil, dass er die Geschichte der Klassenkämpfe leicht mit einer universalistischen Ausrichtung verknüpfen kann. Das Proletariat verbürgt als herausragendes geschichtliches Subjekt eine universalistische Perspektive, die im Kommunismus für alle offenkundig wird. Diese Identifizierung ist aber erschwert, wenn man die Geschichte als eine Abfolge vieler Konflikte konzipiert. Dennoch gilt: Eine Position, die sich dem progressiven Diskurs zurechnet, muss ihre Auseinandersetzungen im Horizont einer universalistischen Perspektive führen. Sie ist ein konstitutives Kennzeichen eines jeden progressiven Diskurses und unterscheidet diesen deutlich von dem konservativen Diskurs, der davon gerade absieht und die Stabilisierung geschichtlich entstandener Differenzen fordert. Die Bestätigung von Konflikten im progressiven Diskurs kann immer nur als Etappe auf einem Weg zu einer Welt mit weniger Konflikten verstanden werden, Konflikte sind kein Selbstzweck. Allerdings kann man sie auch nicht einfach umgehen. Der Weg zu einer universalen Perspektive ist durch partikulare Konflikte gekennzeichnet. Es gibt keine Abkürzung jenseits ihrer.

»Jeder politische Akt ist verstrickt ins Ganze der Geschichte, aber diese Totalität liefert uns keine Regel, der wir uns anvertrauen könnten (…).« Merleau-Ponty 1955: 11.

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10. Offene Gemeinschaft: Christliche Formen der Verbundenheit

1.

Der Wandel christlicher Formen der Verbundenheit

Wenn man sich die Geschichte der Kirchen im 19. Jahrhundert vor Augen führt, so legt sich der Eindruck nahe, dass die christliche Interpretation der Formen der Verbundenheit nur als Teil des konservativen Diskurses existierte. Die evangelisch-lutherischen Kirchen waren durch eine enge Bindung von »Thron und Altar« bestimmt, aber auch die katholische Kirche stand mit den Herrschenden in engem Austausch und in einer wechselseitigen Abhängigkeit. Die Kirchen verstanden sich bei allen Unterschieden als Säulen der traditionellen feudalen Gesellschaft. Sie betonten ebenso wie der konservative Diskurs die Bedeutung des Herkommens, der geschichtlichen Ursprünge und Ordnungen. Die klassische, patriarchal strukturierte Familie nahm bei ihnen eine zentrale Rolle ein. 1 Konservativ kirchliche Reaktionen auf die Herausforderungen der Industrialisierung sind im siebten Kapitel angeführt worden. Sie einte das Bemühen, die traditionellen Ordnungen und Gemeinschaften angesichts der Herausforderungen der ökonomischen Entwicklung weitestgehend zu erhalten. Es mag sein, dass in einer bestimmten historischen Phase die Haltung der kirchlichen Akteure dem Konservatismus zuzurechnen war. Aber das erschließt nicht ansatzweise das Potential christlicher Formen der Verbundenheit. Ein genauerer Blick zeigt, dass auch schon im 19. Jahrhundert die Bandbreite der christlichen Reaktionen sehr viel größer war. Einige Akteure betonten gerade die Zukunftserwartungen, die sie mit der christlichen Botschaft verbanden, sie sahen eine neue Zeit anbrechen und erwarteten einen dramatischen sozialen Wandel unter biblisch-eschatologischen Vorzeichen. Hier

Die »Vorbildrolle« der Pfarrfamilie und ihre destruktiven Folgen kann man noch im 20. Jahrhundert in den Filmen von Ingmar Bergman studieren.

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Der Wandel christlicher Formen der Verbundenheit

sind unter anderem einige der Frühsozialisten zu nennen, 2 etwa Wilhelm Weitling 3. Das Evangelium ist für sie die Verheißung einer neuen Zeit, die Gerechtigkeit für alle Menschen bringen soll. Mit Jesus Christus ist nach ihrer Auffassung eine neue Ära angebrochen, und die aktuellen sozialen Nöte müssen unter diesen Vorzeichen interpretiert werden. Diese abweichende Haltung zu den etablierten Kirchen ist kein kirchengeschichtlicher Sonderfall. Von der Mehrheit abweichende Meinungen hat es in der Kirchengeschichte immer wieder gegeben. 4 Das Evangelium konnte dann immer auch als eine Kraft gegen die herrschenden Mächte gedeutet werden. Das gilt im 20. Jahrhundert etwa auch in der Theologie der Befreiung, wie sie etwa durch Ernesto Cardenal vertreten wurde. 5 Das zeigt: Die christlichen Formen der Verbundenheit lassen sich weder eindeutig dem konservativen noch dem progressiven Diskurs zuordnen. In einer Zeit, in der es darum geht, einen Blick nach vorne zu werfen und über künftige Formen der Verbundenheit nachzudenken, darf deshalb die Tradition der christlichen Formen der Verbundenheit, die 2000 Jahre der europäischen Kulturgeschichte geprägt haben, nicht fehlen. Die Geschichte der christlichen Formen der Verbundenheit ist durch eine große Variationsvielfalt bestimmt. Zwar ist das gemeinsame soziale Leben schon in dem ersten Jahrhundert nach Christus normiert worden, es gibt in frühchristlichen Texten eine große Vielzahl von Regeln, Anweisungen und normativen Vorgaben für die neu entstandenen Gemeinden. Doch hat das nicht zu einer eindeutigen Norm einer christlichen Form der Verbundenheit geführt. 6 In der Vgl. Brakelmann 1981: 46. »Das Urbild des kommunistischen Menschen ist für Weitling Jesus von Nazareth. (…) Das Lebensprinzip Jesu sei das der Freiheit und der Gleichheit gewesen.« Brakelmann 1981: 54. 4 Der Pietist Gottfried Arnold hat schon 1700 diese Abweichungen in seiner »Unparteyischen Kirchen- und Ketzer-Historie« zusammengetragen. 5 »Was uns am meisten politisch radikalisierte, war das Evangelium. Jeden Sonntag besprachen wir es miteinander, und die Bauern begannen mit bewunderungswürdiger Einfachheit und mit wirklicher theologischer Einfühlung den Kern der Botschaft des Evangeliums zu begreifen: die Verkündigung des Reiches Gottes. Und das heißt: die Errichtung einer gerechten Gesellschaft hier auf Erden.« Cardenal 1980: 158. 6 »Hierin liegt die Pointe der Gemeinschaftstheologie des Paulus überhaupt. Er widerspricht der totalisierenden Forderung nach Beschneidung auch für die Nicht-Juden ebenso wie der libertinären Abendmahlpraxis ohne Teilen beim Essen.« Hauschildt, Pohl-Patalong 2013: 155. Es geht um eine »Freiheit, die der und dem Einzelnen in Christus und der Gemeinde gegeben ist, als eine soziale Praxis, die sich am Wohl des differenten Anderen, besonders der ›Schwachen‹ ausrichtet.« Ebd. 2 3

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Offene Gemeinschaft: Christliche Formen der Verbundenheit

Folgezeit erwies sich die Interpretation christlicher Gemeinschaften als sehr flexibel, und es war möglich, immer wieder neue Formen der Verbundenheit auszuprägen. Sie hatten in der folgenden Jahrhunderten die Kraft, sich in christlicher Freiheit stets neu zu erfinden: Zunächst waren in der Spätantike die christlichen Gemeinden eine kleine, randständige Minderheit, oft der Verfolgung durch den römischen Staat ausgesetzt. Der Zusammenhalt der Gemeinden war immer wieder bedroht, es ist für das christliche Selbstverständnis bis heute nicht irrelevant, dass die ersten 300 Jahre ihrer Existenz christliche Gemeinden außerhalb der etablierten Gesellschaft in einer Situation der Verfolgung standen. Dann folgte eine relativ kurze Phase als Staatsreligion im spätrömischen Reich mit einer Vielzahl von Konzilien, die mit ihren Beschlüssen die normativen Grundlagen der Kirchen festigten. Der Zusammenbruch des römischen Reiches war im Westen verbunden mit der Neugründung von christlichen Kommunitäten und Klöstern, etwa nach der Regel des hl. Benedikt, die Horte des kulturellen Gedächtnisses wurden. Die Anpassung an die Sozialstruktur germanischer Stämme führte im Frühmittelalter zu einer Vielzahl von obrigkeitsabhängigen Eigenkirchen. Langsam aber stetig schälte sich dann die Papstkirche heraus, die in Auseinandersetzungen mit dem Kaisertum ihre Position stabilisieren konnte. Das Hochmittelalter erlebte mit dem Aufblühen der Handelsstädte Italiens neue Ordensgründungen, vor allem die der Bettelorden, welche sich der sozialen Frage dieser Zeit annahmen und die gegen die etablierten Orden Kritik erhoben. Der Protestantismus rüttelte zu Beginn der Neuzeit an der etablierten Sozialstruktur der katholischen Kirche und führte de facto ein neues Kirchenverständnis ein, das stark auf der Familie als Keimzelle und beim Luthertum auf dem landesherrlichen Kirchenregiment ruhte. Die Reformationszeit zeigte aber auch im Zusammenhang mit den Bauernaufständen auf dem linken Flügel Ansätze eines eher revolutionären Verständnisses christlicher Formen der Verbundenheit. 7 Im 19. Jahrhundert wiederum entstand eine Vielzahl neuer christlicher Gemeinschaften, die eine Antwort auf die sozialen Nöte und Verwerfungen in den rasch wachsenden Städten

Hier ragt Thomas Müntzer heraus, der allerdings eher Apokalyptiker als Sozialrevolutionär war: »Er erkannte an der politischen Herrschaft zwar ihren geschichtlichen, vom Menschen erzeugten Charakter, führte aber den revolutionären Weg zur Theokratie auf den Willen des Schöpfers vor und außerhalb aller Zeit zurück (…).« Goertz 2015: 243.

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»Sanctorum Communio« von Dietrich Bonhoeffer

geben wollten. Die Kirchengemeinde wurde neu entdeckt, es entstanden Gemeindehäuser als Orte des gemeinsamen Lebens. Einen politischeren Weg schlugen die religiösen Sozialisten im 19. und 20. Jahrhundert ein. Theologinnen und Theologen des 20. Jahrhunderts folgten mit einem politischen Gemeindeverständnis, etwa in der Theologie der Befreiung. 8 Zurzeit gibt es in den Volkskirchen wieder neue Aufbrüche und das Experimentieren mit neuen christlichen Formen der Verbundenheit etwa in der aus England stammenden Bewegung »Fresh Expression«. Dieser sehr geraffte Überblick deutet schon an, dass die christlichen Formen der Verbundenheit in gewisser Weise »ruhelos« sind, dass sie sich stets verändern. Sie lassen sich auf säkulare Weise mit der Forderung von Castoriadis interpretieren, das Kreative sozialer Formationen in den Mittelpunkt zu stellen. Diese Kreativität kann nicht nur als immer wieder neue Reaktion auf die Umwelt, als Anpassungsversuch gedeutet werden. Denn es gibt bei aller Differenz der christlichen Formen der Verbundenheit durch die Auslegung der biblischen Schriften eine kritische Instanz, die die aktuellen Formen der Verbundenheit je und je in Frage stellt.

2.

Der konstitutive Gottesbezug: »Sanctorum Communio« von Dietrich Bonhoeffer

Für das Selbstverständnis christlicher Gemeinschaften ist der Glaube an Gott konstitutiv, der über jede soziale Form der Verbundenheit hinausweist. Christliche Gemeinschaften haben aus diesem Grunde auch eine starke Ausrichtung auf die universale Einheit der Menschen. Autoren wie Alain Badiou sehen in Paulus, dem ersten Theologen, auch den ersten Universalisten der Menschheitsgeschichte. 9 Der christliche Glaube ist als Glaube an Gott nicht in zwischenmenschliche Beziehungen einzufangen. Er ist eine Quelle, die alle Unterschiede relativiert, die sich aus den gesellschaftlich-geschichtCardenal 1980. »Letztlich handelt es sich darum, eine universale Singularität zugleich gegen die etablierten Abstraktionen (damals die juridischen, heute die ökonomischen) und gegen den kommunitären und partikularistischen Anspruch zur Geltung zu bringen.« Badiou 2009: 21 f. Der Hinweis auf die heutige ökonomische Abstraktion ist eine Anspielung auf die Standards, die durch den hegemonialen Diskurs der Spätmoderne gesetzt sind.

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Offene Gemeinschaft: Christliche Formen der Verbundenheit

lichen Verhältnissen ergeben. Die Verbundenheit mit Gott führt zu einer Art Schmelztiegel für alle menschlichen und weltlichen Unterschiede: Sie werden sekundär. Die christliche Verbundenheit eröffnet eine Zukunft, in der Unterschiede zwischen Menschen keinen letztgütigen Bestand haben. Jean-Luc Nancy hat den christlichen Glauben als säkularer Philosoph interpretiert. Dabei ist für ihn entscheidend: »Das Christentum bezeichnet wesentlich (…) nichts anderes als die Forderung, in dieser Welt eine unbedingte Alterität oder Alienation zu öffnen.« 10 Diese Öffnung zu einem Anderen, zu einem Fremden ist eine Abwendung von allen metaphysischen Vorstellungen von Geschlossenheit: »Das Christentum (…) schließt so in seiner wesentlichen Geste die Geschlossenheit auf (…).« 11 Der christliche Glaube lässt sich damit nicht in sozialen Strukturen einfangen. Er ist eng mit zwischenmenschlicher Kommunikation verbunden und auf sie angewiesen, und doch »öffnet« er die existierenden Formen der Verbundenheit zugleich. Diese Argumentation steht in großer Nähe zu einer anderen, in der Nancy sich darum bemüht, die menschliche Gemeinschaft angemessen zu beschreiben. Auch die menschliche Gemeinschaft, ganz unabhängig vom christlichen Glauben, ist nach Nancy gerade dann bedroht, wenn man sie als etwas Abgeschlossenes, als etwas Absolutes interpretiert. Denn das Abgeschlossene und Absolute bietet zugleich die Möglichkeit der totalen Verfügbarkeit. Erst wenn die Gemeinschaft immer auch über sich selbst hinausweist, kann eine Offenheit entstehen. Dann aber darf sie nicht eingebettet sein »in einer Metaphysik des Subjekts, das heißt – ob Individuum oder totaler Staat – in der Metaphysik des absoluten Für-Sich. Und das heißt auch: In der Metaphysik des Absoluten im Allgemeinen, des Seins als ab-solutes, vollkommen abgelöstes, distinktes, geschlossenes Sein, ohne Bezug.« 12 Die christliche Gemeinschaft entgeht dieser Gefahr durch ihren konstitutiven Bezug auf Gott, sie ist notwendigerweise Nancy 2008: 19 f. Nancy 2008: 20. 12 Nancy 2018: 11. Nancy wendet sich in seiner Auffassung einer »verleugneten« (Nancy 2017) oder »nicht verwirklichten« (Nancy 2018) Gemeinschaft dezidiert gegen die Vorstellung, eine Gemeinschaft bestünde aus an sich abgeschlossenen Individuen, »das Individuum als abstraktes Resultat einer Zerlegung. Es ist eine weitere, analoge Figur der Immanenz: das absolut abgelöste, als Ursprung und Gewissheit genommene Für-Sich.« Nancy 2018: 10. Dies ist auch eine klare Frontstellung gegen den hegemonialen Diskurs der Spätmoderne. 10 11

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»Sanctorum Communio« von Dietrich Bonhoeffer

eine offene Gemeinschaft. 13 Sie ist ja konstituiert durch den Bezug auf Gott, der die soziale menschliche Konfiguration immer auch relativiert. Streng genommen erfahren Christinnen und Christen ihre Gemeinschaft nur indirekt, weil sie sich als Christinnen und Christen nicht im direkten Bezug aufeinander verstehen können. Der Bezug auf Gott als radikale Verbundenheit ist für alle zwischenmenschlichen christlichen Formen der Verbundenheit konstitutiv. Die Gemeinschaft der Glaubenden ist nicht durch Tradition wie im konservativen Diskurs und auch nicht durch Konflikte wie im progressiven Diskurs bestimmt. Die Gemeinschaft versteht sich durch den gemeinsamen Bezug auf Gott; Christinnen und Christen sind gemeinsam im Gebet, in der Feier der Gottesdienste, in der Interpretation der Schrift. 14 Die Gemeinschaft selbst ist nach christlichem Verständnis unmittelbar auf Gott bezogen, lebt von seiner Zuwendung. Gott ist es, der die Glaubenden vereint, sie sind eins in Christus. 15 Dadurch ist die Gemeinschaft ihrer Selbststeuerung entzogen. In der theologischen Tradition wird diese Besonderheit durch den Bezug auf den heiligen Geist zum Ausdruck gebracht. Die Gemeinschaft der Glaubenden ist variabel in ihrer Form, keine Form kann einen letztgültigen Anspruch erheben. 16 Die Gemeinschaft ist für den christlichen Glauben nicht nachrangig, vielmehr konstituiert die Gemeinschaft den Glauben. Von den ersten schriftlichen Zeugnissen an stehen die Gemeinschaft der Christinnen und Christen und die Umstände ihres Zusammenlebens im Vordergrund. Die ältesten Schriften sind die Briefe des Paulus, die nicht einfach die christliche Botschaft um ihrer selbst willen reflektieren, sondern stets darauf bedacht sind, das Evangelium mit neuen, dem Evangelium adäquaten Formen der Verbundenheit zu reflektieren. Christliche Theologie ist deshalb von Beginn an immer auch eine Theologie der christlichen Gemeinde. Nancy bezieht sich allerdings in diesem Zusammenhang nicht auf den christlichen Glauben, sondern auf einen zentralen Begriff von Bataille, den der Ekstase, vgl. Nancy 2018: 30 ff. Auch Liebsch betont, dass das Soziale sich nicht auf Ordnungen zurückführen lässt: »Das Soziale wird dem entsprechend von Anfang an als Widerstand gegen seine Aufhebung in Formen sozialer oder politischer Ordnung gedacht.« Liebsch 2018 (2): 632. 14 Vgl. Apg 2,42. 15 Vgl. Gal 3,28. 16 Dies ist jedenfalls die protestantische Sicht auf die Kirche. Sie ist immer Menschenwerk, auch wenn sie unter der Verheißung Gottes steht. 13

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Grundlegende Begriffe der bisherigen Analyse, etwa die existentielle Verbundenheit, die Formen der Verbundenheit, aber auch die Geschichte, erfahren unter einer christlichen Interpretation noch einmal eine andere Deutung. Sie alle werden in Bezug auf Gott gesetzt, wodurch sich auch ihre soziale Interpretation verändert. Der christliche Glaube kann als eine Antwort auf die Erfahrungen von radikaler Verbundenheit verstanden werden. Sind Menschen miteinander existentiell verbunden, so sind die Menschen mit Gott radikal verbunden. Der Glaube ist Antwort auf Erfahrungen der radikalen Verbundenheit mit Gott. Die Gemeinschaft der Glaubenden bezieht sich auf diese Erfahrung, die nur durch die Gemeinschaft möglich wird. Die Gemeinschaft der Glaubenden und der Glaube an Gott stehen in einem engen Wechselverhältnis. Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer greift in seiner Dissertation »Sanctorum Communio« zur theologischen Beantwortung der Frage nach der Relevanz der christlichen Gemeinschaft auf frühchristliche Interpretationen zurück. Die nach dem apostolischen Bekenntnis so genannte »Gemeinschaft der Heiligen«, die Gemeinschaft der Glaubenden, ist nach ihrem Selbstverständnis nie nur eine historische empirische Gemeinschaft. Sie weist unweigerlich immer über sich hinaus auf den in Jesus Christus erschienenen Gott. Es ist ein zentrales Anliegen Bonhoeffers, die klassische Vorstellung von einem transzendenten Gott durch eine Beschreibung Gottes zu ersetzen, der in der diesseitigen sozialen Gemeinschaft der Glaubenden präsent ist. Als biblische Grundlage dienen ihm dabei die vielfältigen Ausdrücke der biblischen Texte, die eine fundamentale Verbundenheit der Gemeinde von Christinnen und Christen mit Gott unterstreichen. Nach zentralen Aussagen der Briefe des Paulus haben Christinnen und Christen einen Leib und einen Geist, die zugleich Leib und Geist Jesu Christi sind. Das zeigt sich besonders bei der Feier des Abendmahls, bei der in Brot und Wein Leib und Blut Christi gegenwärtig werden. Eine weitere Verdichtung dieses Verhältnisses finden diese Gedanken in der von Paulus verwendeten Formel »in Christus sein«. Christinnen und Christen sind »in Christus« und haben dadurch Anteil an der neuen Wirklichkeit, die mit der Auferstehung anhebt. Es gilt ein wechselseitiges Verhältnis: Der Bezug auf Gott ist konstitutiv für die Gemeinschaft, und die Gemeinschaft ist konstitutiv für den Bezug auf Gott. Keine Christin, kein Christ kann die eigene Existenz im Glauben ohne die christliche Form der Verbun190 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

»Sanctorum Communio« von Dietrich Bonhoeffer

denheit, ohne die Gemeinschaft verstehen. Der christliche Glaube ist keine individuelle Haltung, die jemand aus sich selbst schöpft. Dies steht deutlich gegen die Vorstellungen des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne. Formen der Verbundenheit sind nur geschichtlich konkret, sie sind Teil jener gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung, in der Gott Mensch wurde. Jede christliche Gemeinschaft ist auch nur in Bezug auf Gott eine konkrete Gemeinschaft, nicht zunächst eine menschliche »Gemeinschaft an und für sich«. 17 Diese Gemeinschaft ist aber auch keine transzendente Größe, sie lässt sich nicht einfach aus einer besonderen mirakulösen Beziehung zu einem Jenseits ableiten, sondern erweist sich als christliche Gemeinschaft nur in der konkreten menschlichen Geschichte, vermittelt durch Sprache und Kultur, mit bestimmtem Orten und Zeiten. Die christliche Gemeinde versteht sich als Teil jener konkreten geschichtlichen Tradition, die den Glauben Israels auszeichnet. Der christliche Glaube steht in der Kontinuität des Bundes Gottes mit Israel. So ist die Geschichte der Raum für eine durch die Gemeinschaft verbürgte diachrone Verbundenheit mit Gott. Gott wird in der Bibel immer wieder als der beschrieben, der mit seinem Volk einen Bund geschlossen hat und mit dem auserwählten Volk durch die Geschichte zieht. Gott ist für die Glaubenden Israels vor allem der Gott des Bundes mit Abraham, ein Bund, der dann immer wieder erneuert und bestätigt wurde und wird. Sie hat eine inklusive Seite, aber sie ist zugleich auch exkludierend, weil sie all jene ausschließt, die nicht zu dem auserwählten Volk gehören. Aber auch die Geschichte Israels ist nicht ohne einen universalen Horizont zu denken. Im Horizont der Zukunft steht die Völkerwallfahrt zum Zion, die eine Ausweitung der Zuwendung Gottes auf alle anderen Völker zur Folge hat. 18 Diesen Gedanken nimmt auch die christliche Gemeinde auf. Die christliche Form der Verbundenheit leitet sich nicht von einem gemeinsamen Herkommen ab, wie im konservativen Diskurs, sie leitet sich auch nicht von einer gemeinsamen Zukunftsvorstellung ab, für die Konflikte gemeinsam bewältigt werden müssen, wie im progressiven Diskurs. Sie leitet sich vielmehr von Gott ab, der die Gemeinschaft gestiftet hat und der in und durch die Geschichte begleitet, der an die Verheißungen erinnert und mit den Verheißungen »Die Kirche ist der neue Wille Gottes mit dem Menschen. Gottes Wille ist stets gerichtet auf den konkreten geschichtlichen Menschen.« Bonhoeffer 1930: 87. 18 Vgl. Jes 2, 3.4. 17

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Offene Gemeinschaft: Christliche Formen der Verbundenheit

die Zukunft eröffnet. Die Gemeinschaft mit Gott ermöglicht die christliche Gemeinschaft. 19 Die gründende Beziehung zu Gott wirkt sich dann unmittelbar auf die sozialen Beziehungen aus. Bonhoeffer bezieht den Christusbezug in diese reale Begrenztheit von geschichtlichen Gemeinschaften ein. 20 Auf dieser Grundlage kann er die Gemeinde mit Christus identifizieren, 21 und die berühmt gewordene Formel prägen: »Christus als Gemeinde existierend« 22.

3.

Tendenzen christlicher Formen der Verbundenheit

Aufgrund der prinzipiellen Offenheit der christlichen Gemeinschaft besteht auch heute stets die Möglichkeit, dass neue, veränderte christlichen Formen der Verbundenheit entstehen. Zentrale Erzählungen der Bibel zeigen, wie sehr die Deutung von Erfahrungen der Verbundenheit mit Gott menschliche Verhältnisse in Frage stellen kann. Eine Vielzahl biblischer Texte erzählt von Aufbrüchen, davon, dass Menschen sich aus einer vertrauten Umgebung aufmachen und neue soziale Kontexte suchen. Dies beginnt bei Abrahams Auszug aus seiner Vaterland, setzt sich fort beim Auszug Israels aus Ägypten, der langen Wanderung durch die Wüste, der späteren Rückkehr aus dem Exil. Ähnliche Geschichten durchziehen auch die Texte des Neuen Testaments, etwa bei dem Ruf Jesu in die Nachfolge, bei den Gemeindegründungen in den Weiten der mediterranen Welt. Diese Schilderungen sind geprägt durch eine große Vorläufigkeit aller sozialen Beziehungen. Die Offenheit von christlicher Gemeinschaft für Veränderungen ist schon Teil ihrer Gründungsgeschichte. Christliche Formen der Verbundenheit sind einer besonderen Quelle der Kritik ausgesetzt, der sie nicht ausweichen können, weil sie zugleich die Gemeinschaft konstituiert. Diese Quelle ist der Bezug auf Gott. Alle christlichen Formen der Verbundenheit stehen unter diesem letzten Vorbehalt. Insofern gab es in der Geschichte des Christentums immer wieder Neugründungen oder Abspaltungen von bestehenden Gemeinschaften. Die Geschichte der Kirche ist voller Abweichungen,

»Mit der Gottesgemeinschaft ist die soziale Gemeinschaft wesentlich mitgesetzt (…).« Bonhoeffer 1930: 37. 20 »In Christus und durch ihn ist die Kirche real gesetzt.« Bonhoeffer 1930: 100. 21 »Wo nun die Gemeinde ist, da ist Christus.« Bonhoeffer 1930: 120. 22 Bonhoeffer 1930: 127. 19

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Tendenzen christlicher Formen der Verbundenheit

Neuansätze und Neugründungen, auch wenn diese nicht immer spektakulär waren. Allerdings ist das Selbstverständnis in der Kirche stets auf Einheit hin ausgerichtet, das heißt, dass Spaltungen und Verwerfungen können nicht das letzte Wort haben, auch sie sind durch die Bewegung zur Einheit bestimmt. 23 Eine christliche Gemeinschaft ist durch den Bezug auf Gott notwendigerweise eine offene Gemeinschaft. Die Offenheit unterscheidet die christliche Auffassung von Gemeinschaft deutlich von dem konservativen Diskurs. Christliche Formen der Verbundenheit können dadurch einen Hinweis geben, auf welche Weise die Spannung von Autonomie und Verbundenheit konzipiert werden kann. Der Glaube an Gott bewirkt einen letzten Vorbehalt gegenüber allen konkreten menschlichen Formen der Gemeinschaft, auch wenn dieser Glaube selbst maßgeblich durch die Gemeinschaft bestimmt ist. Die Gemeinschaft schließt sich nicht ab, sie bleibt offen für das Potential einer Kritik. So kann man auch von einer relativen Gemeinschaft reden. 24 Die christlichen Formen der Verbundenheit können im Sinne Nancys niemals einen totalisierenden Anspruch erheben. Das Bemerkenswerte ist, dass der Vorbehalt gegenüber geschlossenen Formen der Verbundenheit in diesem Fall nicht eine Frucht der Aufklärung, der Neuzeit mit ihrem eingangs skizzierten Programm ist, sondern die theologisch folgerichtige Interpretation der biblischen Traditionen. Nicht nur der Anspruch auf Autonomie erfordert die Offenheit der christlichen Gemeinschaft, sondern die eigene, spezifisch theologische Tradition. Umso mehr muss man fragen, warum denn dann die Kirchentraditionen so oft in eine andere Richtung gegangen sind. Tatsächlich haben Kirchenvertreter über lange Zeiten ein konservatives und im Zweifel oft auch repressives Verständnis von Gemeinschaft vertreten. Aber der Protest gegen diese Festlegungen hat alle Zeiten in sehr unterschiedlichem Maße begleitet. Zurzeit sind allerdings die christlichen Kirchen und Gemeinschaften in Europa in gleicher Weise wie viele andere große gesellschaftliche Organisationen durch den hegemonialen Diskurs der Spätmoderne stark geschwächt. Sie weisen eine schwindende Kraft

Vgl. 1. Kor 12,4. »Für Vergemeinschaftsprozesse in der Spätmoderne ist es wünschenswert, dass sie den Charakter relativer Gemeinschaft haben. (…) Sie umfasst ein Individuum, das Identität ausbildet, – soziologisch gesprochen – immer nur partiell.« Hauschildt, Pohl-Patalong 2013: 155. 23 24

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Offene Gemeinschaft: Christliche Formen der Verbundenheit

auf, sich zu organisieren und die Mitglieder zu halten. Die Kirchen sind in dem Reigen der gesellschaftlichen Großorganisationen keine Ausnahme, die Zahl der Mitglieder geht ebenso zurück wie der Grad der Bindung. Doch nicht nur die äußeren Bedingungen sind vom hegemonialen Diskurs bestimmt. Auch im Selbstverständnis haben viele Christinnen und Christen seine Grundanschauungen übernommen. Sie beschreiben den christlichen Glauben als eine individuelle Überzeugung, die aus einer inneren Erfahrung stammt und nicht aus einer Verbundenheit mit anderen, aus einem zwischenleiblichen Geschehen. Es kommt auf die Authentizität der Glaubenserfahrungen, auf ihre Artikulation und den daraus folgenden Handlungen an. So werden die christlichen Gemeinschaften eher als Orte verstanden, an denen sich Gleichgesinnte gegenseitig stärken können. Ihre sozialen Formen werden von den Mitgliedern der Gemeinde dann daraufhin geprüft, ob ihnen die Gemeinschaft der konkreten Menschen vor Ort, ihre Umgangsform und ihr Lebensstil zusagen oder auch nicht. Wenn man dies mit den biblischen Texten kontrastiert, zeigt sich eine große Diskrepanz. Die christlichen Formen der Verbundenheit sind Teil der Welt und zugleich Gegenentwurf zur Welt. Als solche sind sie mitten im Strom des Gesellschaftlich-Geschichtlichen. Die christliche Auffassung von Gemeinschaft als der grundlegenden christlichen Form der Verbundenheit ist ihre höchste Bestätigung und schärfste Kritik zugleich. Sie bestätigt die real existierende Gemeinschaft und zeigt gleichzeitig, dass ihre entscheidende Referenzgröße, Gott, nicht zu fassen ist. Dadurch entsteht eine Bewegung, eine Bewegung hin zu immer neuen Gemeindeformen, die versuchen, dem Anspruch gerecht zu werden, wohlwissend, dass dies nicht gelingen kann. Ein Blick in die Geschichte des Christentums zeigt, dass gesellschaftliche Situationen, wie sie heute bestehen, zu neuen Antworten, zu neuen Artikulationsformen von Christinnen und Christen und damit zu neuen Formen der Verbundenheit geführt haben.

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11. Netzwerke: Zukünftige Formen der Verbundenheit

Wenn sich in Zukunft wieder stärkere Formen der Verbundenheit bilden werden, wie werden sie gestaltet sein? Zweierlei ist wahrscheinlich: Zum einen werden die neuen Formen an die schon bestehenden, die wir in den letzten drei Kapiteln diskutiert haben, anknüpfen. Auch künftig werden Formen der Verbundenheit eine Rolle spielen, die zu dem konservativen, dem progressiven Diskurs wie auch der christlichen Tradition gehören. Formen der Verbundenheit haben sich in der Vergangenheit schrittweise herausgebildet, oft waren die alten Formen die Kerne für die Entstehung neuer. Die neuen Formen können an das Selbstverständnis, die Symbole, die Kommunikationswege der alten anknüpfen, auch wenn sie diese transformieren. Zum anderen werden diese neuen Formen der Verbundenheit durch den tiefgreifenden medialen Wandel der digitalen Technologien beeinflusst sein. Es ist wahrscheinlich, dass die digitalen Technologien auch neue Formen der Verbundenheit fördern werden. Die Frage ist, inwieweit und auf welchem Wege die Technologien neue und eigenständige Formen der Verbundenheit unterstützen können, die eine geschichtliche Dauer aufweisen. Der technologische Wandel kann die Entwicklung nicht determinieren, aber er ist ein wichtiger Faktor. Um die Frage zu klären, welchen Beitrag die Technologien leisten können, ist es notwendig, zunächst auf soziologische Netzwerktheorien einzugehen. In den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts und damit lange vor dem gesellschaftsweiten Gebrauch digitaler Technologien hat sich in der Soziologie eine Schule etabliert, die die Gesellschaft unter dem Aspekt der Netzwerkbildung interpretiert. Netzwerkstrukturen sind attraktive Formen der Verbundenheit, weil sie die Chance bieten, an den Errungenschaften des liberalen Diskurses anzuknüpfen und Forderungen nach Autonomie mit dem Bedürfnis nach Verbundenheit zu vereinen. Einige Aspekte einer soziologischen Netzwerktheorie werden zunächst vorgestellt, dann soll in einem 195 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Netzwerke: Zukünftige Formen der Verbundenheit

zweiten Schritt nach den Potentialen der Netzwerke vor dem Hintergrund der digitalen Technologien gefragt werden. Gleich zu Beginn sei aber betont, dass es hier eine eher unglückliche Äquivokation gibt. 1 Auch in der Darstellung der Strukturen digitaler Technologien ist oft von »Netzwerken« und »Netzen« die Rede. Schon die Basistechnologie, das klassische Internet im Sinne des TCP/IP Protokolls, wird von Beginn an mit einem »Netz« assoziiert. Die digitalen sozialen Medien, die auf zentralen Plattformen existieren, werden umgangssprachlich als »soziale Netze« bezeichnet. Es besteht aber ein gravierender Unterschied zwischen jenen sozialen Netzwerken, die die vorzustellende Theorie behandelt und den Strukturen des Internets: Letztere ist tendenziell beliebig groß, ja die herausragende Eigenschaft des Internets ist gerade seine weltumspannende Struktur. Ganz anders verhält es sich bei den Netzwerken der folgenden Theorie, die sich auf Konstellationen mit einer überschaubaren Zahl von Menschen beziehen. Dennoch können die grundsätzlich entgrenzten digitalen Technologien die Basis für begrenzte soziale Netzwerke sein, das soll in einem weiteren Kapitel folgen.

1.

Eine soziologische Theorie der Netzwerke: Harrison White

Es ist sehr intuitiv, ein Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen als »Netzwerk« zu beschreiben. Jede und jeder kennt eine begrenzte Zahl von Menschen, die wiederum zu anderen Menschen vielfältige Kontakte haben. Menschen werden in einem modellhaften Netzwerk durch Knoten repräsentiert, die Stränge des Netzes, die Verbindungen zwischen den Knoten, repräsentieren die Beziehungen zwischen den Menschen. Diese Vorstellung ist so eingängig und wird im Alltag auch so häufig verwendet, dass sie fast trivial wirkt. Was kann man

Allerdings sind Theorieansätze wie die von Manuel Castells (Castells 2010) von Beginn an stärker auf die technologische Entwicklung ausgerichtet. Das kann problematisch sein, wenn der Eindruck entsteht, mit soziologischen Mitteln nur nachzuvollziehen, was technologische Entwicklungen vorgeben. Jede Gesellschaft ist von der Technik stark geprägt und doch geht sie weit darüber hinaus; das komplexe Verhältnis der Formen der Verbundenheit zur existentiellen Verbundenheit lässt sich nicht mit technischen Standards gleichsetzen.

1

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Eine soziologische Theorie der Netzwerke: Harrison White

aus ihr ableiten? Kann das Bild des Netzwerks helfen, neue Formen der Verbundenheit besser in den Blick zu bekommen? In der Soziologie hat sich vor mehreren Jahrzehnten in den USA die Netzwerktheorie bzw. die relationale Soziologie als eigenständiger Ansatz zur Interpretation der Gesellschaft etabliert. Nur geht hier das Verständnis von Netzwerk weit über die alltägliche Anschauung von zwischenmenschlichen Beziehungsnetzwerken hinaus. Die ersten Ansätze, die soziale Prozesse mit Hilfe von Netzwerken deuteten, hatten das Ziel, mathematische Graphentheorien für die Analyse sozialer Relationen nutzen zu können. Die sozialen Beziehungsnetze lassen sich in ihrer Gestalt durch Graphen repräsentieren, die helfen, die Komplexität zu reduzieren und soziale Prozesse transparenter machen. Die Netzwerktheorie ist von der Grundidee geleitet, dass soziale Strukturen, die sich in mathematisch abstrakt beschreibbaren Netzwerken manifestieren, nicht nur eine beliebige Ansammlung von zufälligen Verbindungen darstellen. In ihnen kommen verallgemeinerbare Typen von Sozialstrukturen zum Vorschein, die sich in ihrer sozialen Bedeutung und ihrer Wirkung analysieren lassen. So bilden sich in unterschiedlichen sozialen Kontexten immer wieder auch gleiche oder sehr ähnliche Strukturen, strukturelle Äquivalenzen aus, 2 die als eigenständige soziale Tatbestände gelten können. Im Folgenden sollen einige Grundgedanken des Netzwerktheoretikers Harrison White vorgestellt werden. 3 Sein Verständnis von Netzwerken ist in vielen wichtigen Punkten anschlussfähig an die bisherigen Ausführungen zu den Formen der Verbundenheit. White hat in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts zunächst begonnen, mit Hilfe von Strukturanalysen, etwa den Blockmodellanalysen, das soziale Geschehen zwischen einer begrenzten Zahl von Menschen zu untersuchen. Es geht also nicht um die Makroebene der Gesellschaft, auch nicht um die Mikroebene einzelner Individuen, sondern um die Mesoebene mittelgroßer Netzwerke. In diesen frühen Untersuchungen stand noch die reine Struktur der Beziehungen im Vordergrund, auch wenn deutende Kategorien für die Beziehungen schon eine gewisse Rolle spielten. Später, seit den 90er Jahren, hat er sich dann immer stärker auf die kulturellen Prägungen und Deutungen von sozialen Beziehungen eingelassen. Beziehungen zwischen Menschen

2 3

Vgl. White 2008: 54. Whites wichtigstes Buch trägt den Titel »Identity and Control« White 2008.

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Netzwerke: Zukünftige Formen der Verbundenheit

sind ja tatsächlich sehr unterschiedlich in der Bindungskraft, sie sind in hohem Maße bestimmt durch ihre Deutung. Eine reine Strukturanalyse, die sich nur auf die Analyse von Beziehungsstrukturen einlässt, kann die Dimension ihrer Bedeutung nicht gut erfassen. White geht davon aus, dass die gesamtgesellschaftliche Struktur von keiner übergeordneten Perspektive aus objektivierend dargestellt werden kann. Weder fügen sich Netzwerke in eine umfassende gesellschaftliche Ordnung noch gibt es einen neutralen Standpunkt, von dem aus alle menschlichen Beziehungen gleichermaßen zugänglich wären. Diesen Erkenntnisvorbehalt gegenüber einer vollständigen Ordnung oder gegenüber einer Perspektive im Überflug teilt er mit der leiborientierten Phänomenologie von Merleau-Ponty und dem Ansatz von Castoriadis. Die beschreibbaren Strukturen oder Netzwerke mittlerer Größenordnung sind so etwas wie »Kerne von Ordnung« 4 inmitten von sozialer Unordnung. 5 Obwohl der Ansatz über Netzwerke auf die sozialen Strukturen abzielt, ist es White wichtig, die Unregelmäßigkeiten, kontingente Verhältnisse und dynamische Veränderungen gesellschaftlicher Prozesse nicht zu verleugnen. Im Folgenden soll es vor allem um die Anschlussfähigkeit der Theorie von White an das bisher Erarbeitete gehen. Inwiefern ist die Beschreibung der Netzwerke nach White vereinbar mit einer Betonung der existentiellen Verbundenheit von Menschen, die im Gegensatz zum Ausgangspunkt beim Individuum steht? Kann man die analysierten Netzwerke ihrerseits als Formen der Verbundenheit verstehen? Und lassen sich die Netzwerke einbinden in eine Vorstellung der Entwicklung des Gesellschaftlich-Geschichtlichen, wie es nach Castoriadis entwickelt wurde? Die folgenden Beobachtungen wollen keinen umfassenden Theorieabgleich bieten, aber sie sollen zeigen, dass eine Darstellung der Gesellschaft mit Hilfe der Netzwerktheorie an die Grundannahmen aus den Kapiteln vier bis sechs anschlussfähig ist.

»Deswegen interessiere ich mich besonders für die Organisationen auf der MesoEbene – für mich die einzig wahre Ebene der Soziologie. Wie beobachtet man hier Kerne von Ordnung und trägt gleichzeitig der allgemeinen Unordnung Rechnung?« Harrison White in: Schmitt, Fuhse 2015: 178. 5 Dies erinnert an die Aussage von Merleau-Ponty: »Es gibt Sinn.« Merleau-Ponty 1945: 344. Nicht alles in der sozialen Welt ist sinnlos, nicht alles ist sinnvoll. Sinn zeigt sich nur in endlichen Strukturen ohne letztgültiges Fundament. 4

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Eine soziologische Theorie der Netzwerke: Harrison White

Inwieweit ist die Netzwerkanalyse mit dem Begriff der existentiellen Verbundenheit vereinbar? Die soziale Bedeutung von existentieller Verbundenheit wurde im vierten Kapitel mit dem Begriff der Zwischenleiblichkeit erläutert. Menschen sind immer schon miteinander verbundene Wesen, ihre Identität ist bestimmt durch wechselseitige existentielle Verbundenheit. Auch in dem theoretischen Ansatz von White existieren keine Individuen, die ihre Identität unabhängig von dem sozialen Umfeld bestimmen können. Identität ist nach White ein stets fragiler Zustand in sozialen Netzwerken, der sich nur durch einen ständigen Austausch der im Netzwerk verbundenen Personen und durch ihr wechselseitiges Einwirken auf die Beziehungen entwickelt. White setzt als korrespondierenden Begriff zu dem der »Identität« den Begriff der »Kontrolle«. Menschen versuchen kontinuierlich, ihre sozial geprägte Identität durch Kontrolle ihres sozialen Umfeldes abzusichern, ohne dass ihnen das allerdings letztgültig gelingt. 6 Die Kontrollversuche führen zu einer gewissen Zentrierung, die aber keine verlässliche Stabilität erreicht. Ein Mensch kommt zu sich selbst, wenn sie oder er sich auf die Beziehungen einlässt, die ihn mit anderen Menschen verbinden. Erst die Verbundenheit mit anderen Menschen macht einen Menschen zu einer unverwechselbaren Person. Die Identität, die sich so herausschält, ist nicht von einem Individuum geschaffen, sie emergiert vielmehr aus den sozialen Netzwerken, wie es der Untertitel des zentralen Werks von White andeutet. 7 Jede sich in sozialen Konfigurationen manifestierende Identität ist von vielen dem Netzwerk innewohnenden Faktoren abhängig und damit immer auch kontingent. Das hat eine erhebliche Bedeutung für die Interpretation der »Knoten« in einem Netzwerk. In einem alltäglichen Verständnis eines Netzwerks sind die Knoten mit sich identische und aus sich selbst heraus autonom handelnde Menschen, die kontrollierte und selbstbestimmte Beziehungen eingehen. Doch das wäre im Rahmen der Netzwerktheorie eine gravierende Fehlinterpretation der Knoten. Diese sind nicht dem Netzwerk vorgegeben, sondern entstehen in gewisser Weise gleichzeitig mit dem Netzwerk. White leitet die Netzstrukturen weder aus der Beobachtung von In»An identity emerges for each of us only out of efforts ad control amid contingencies and contentions in interaction.« White 2008: 1. 7 »How Social Formations emerge.« White 2008. 6

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Netzwerke: Zukünftige Formen der Verbundenheit

dividuen ab noch aus der Beobachtung übergeordneter Systeme. Beide, Individuen wie auch Systeme, sind seiner Ansicht nach sekundäre Abstraktionen aus den real existierenden sozialen Netzwerkstrukturen. So ergibt sich ein völlig anderes Bild als das der Verbindung unabhängiger und selbstbestimmter Individuen, die der hegemoniale Diskurs imaginiert. Netzwerke, über die man sinnvoll reden, die man untersuchen kann, sind immer Ausschnitte aus einem viel komplexeren Geflecht von Beziehungen und gegenseitigen Abhängigkeiten. Eine Folgerung, die man für die Identität eines Menschen ziehen kann, ist, dass sie sich nur aus einer Überlagerung der Einflüsse mehrerer Netzwerke ergeben, etwa das der Familie, das des beruflichen Umfeldes, das des Freundeskreises usw. Niemand lebt nur in einem einzigen Netzwerk. Das soziale Umfeld eines jeden Menschen lässt sich bei genauerem Hinsehen in ein Geflecht mehrerer Netzwerke aufspalten. Deshalb haben Menschen, so die soziologische Betrachtung, nicht eine einfache, in sich konsistente Identität, einer Person kann man mehrere Identitäten in unterschiedlichen Netzwerken zusprechen. 8 Identität wird dann zu einem Ausbalancieren unterschiedlicher Identitätsanteile in unterschiedlichen Netzwerken. Schließlich ist auch schon die Interpretation einer einzelnen Verbindung zwischen den Knoten vielschichtig. White plädiert für eine phänomenologische Beschreibung dieser Beziehungen, die die Vieldeutigkeit realer Beziehungen offenlegt. Einer zwischenmenschlichen Beziehung kann man nicht einen einfachen Wert zuordnen, sie ist immer mehr als ein rein analytischer Zugang zu entdecken in der Lage ist. Eine Verbindung kann darüber hinaus nicht isoliert von anderen Verbindungen gesehen werden: Die Netzwerktheorie weist auch aus, dass eine Beziehung zu einem bestimmten Menschen in seiner Bedeutung abhängig ist von der Beziehung zu einer Reihe weiterer Menschen in dem betreffenden Netzwerk. Die Verbindung hat schließlich eine zeitliche Dimension, eine Geschichte, die Verbindungen, »ties«, stehen in einem engen Zusammenhang mit den »stories«, die man über sie erzählen kann, durch die man sie vergegenwärtigen

»Instead I generalize to any source of action, any entity, to which observers can attribute meaning not explicable from biophysical regularities. Those regularities are subsidiary to social context as environment, and persons will appear as bundles of identities.« White 2008: 2.

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Eine soziologische Theorie der Netzwerke: Harrison White

kann. 9 Die »ties« lassen sich also ebenso wenig auf einen einfachen Nenner bringen wie das, was mit existentieller Verbundenheit umschrieben wurde. Es bleibt auch bei einer umfassenden Darstellung immer etwas unausgesprochen, man könnte immer noch mehr sagen und muss sich in der Regel auf das Wichtigste reduzieren. Verbundenheit wird so zu einem vielschichtigen Geschehen, das man nur zur Analyse bestimmter Aspekte reduzieren kann. Lassen sich Netzwerke als Formen der Verbundenheit verstehen? Die Zurückhaltung vor umfassenden Analysen der Gesellschaft lässt White auch skeptisch gegenüber dem Systemgedanken sein, wie ihn etwa Luhmann entwickelt hat, der einen großen Einfluss auf den hegemonialen Diskurs der Spätmoderne hat. Funktionale soziale Systeme können gesellschaftliche Prozesse im Idealfall, also bei geringen externen Störungen, beschreiben. Aber oft entsprechen sie nicht der komplexen und vielfältig miteinander verflochtenen sozialen Realität. 10 Gesellschaftliche Systeme setzen sich tatsächlich aus den partikularen Netzwerken zusammen und sind nie so ungestört, wie es manche Theorien des hegemonialen Diskurses nahelegen. So sind nach White perfekte und damit berechenbare ökonomische Märkte, dem Paradebeispiel für funktionale Systeme in modernen Gesellschaften, nur eine Abstraktion. 11 Es geht ihm in seinem Netzwerkansatz jenseits der Mikroebene des Individuums und diesseits der Makroebene abstrakter Systeme um die Mesoebene einer begrenzten Zahl von Menschen. 12 Die Verbundenheit mit anderen Menschen in Netzwerken ist stets komplex und aufwändig zu stabilisieren, sie ist nicht zu einer beliebigen Zahl von Menschen in gleicher Weise möglich. Menschen sind nicht mit einer unbegrenzten Zahl von Menschen verbunden, sondern, als endliche Wesen biographisch und geschichtlich situiert, immer an eine bestimmte Netzwerkkonstellation gebunden. Netzwerke sind vom Ansatz her nicht statisch, sie können sich jederzeit Vgl. White 2008: 28 ff. Vgl. White 2008: 241; vgl. ebenso Schmitt, Fuhse 2015: 185. 11 Vgl. Schmitt, Fuhse 2015: 54. 12 So kritisiert White Luhmann: »Nevertheless (…) his large scale functionalist view of societal development (…) might obscure actual developments on the historical ground. Thus, for our middle-range approach, Luhmann’s proposal needs to be specified concreately.« White 2015: 239. 9

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Netzwerke: Zukünftige Formen der Verbundenheit

verändern. Die Möglichkeit, neue Beziehungen aufzunehmen, führt jedoch nicht zu beliebig großen Netzwerken. 13 Die bisher behandelten Formen der Verbundenheit können verstanden werden als die Kerne der Ordnung, die White in einem ansonsten fluiden und dynamischen gesellschaftlichen Geschehen identifiziert. Für die mehr oder minder stabilen Ordnungsstrukturen hat White unterschiedliche Begriffe geprägt, so den der »discipline« oder auch den des »catnet«. 14 Für diese Strukturen und ihre Stabilität hat die kulturelle Semantik der Beziehungen eine große Bedeutung. White unterscheidet drei unterschiedliche Typen von »Disziplinen«, also Ordnungen, die die Zugehörigkeit zu einem Netzwerk oder die Interaktion in den Netzwerken regulieren. 15 Die grundlegende Disziplin nennt er »arena«. Damit ist eine Struktur gemeint, zu deren entscheidendem Kriterium es gehört, ob man dazu gehört oder auch nicht, ob man »in« der Arena ist oder ihr nicht angehört. Dies greift wichtige Aspekte der Gemeinschaft als Form der Verbundenheit des konservativen Diskurses auf. Hier ist die Frage der Zugehörigkeit von großer Bedeutung, weil sie in der Regel als irreversibel angesehen wird. Die Disziplin »council« ist durch die Fähigkeit ausgezeichnet, andere zu einem bestimmten gesellschaftlichem Engagement zu mobilisieren. Dies greift wichtige Aspekte der Solidarität, der Form der Verbundenheit des progressiven Diskurses auf. Allerdings ist hier die Solidarität durch das gemeinsame Ziel bestimmt und nicht so sehr durch die Auseinandersetzung in einem gesellschaftlichen Konflikt. Die Disziplin »interface« schließlich meint die Fähigkeit, innerhalb eines bestimmten Netzwerks ein Produkt zu erzeugen. Dies wiederum kann mit der Struktur von Unternehmen korrelieren, die im dritten Kapitel erwähnt wurden und die so etwas wie die herausragende Form der Verbundenheit des bürgerlichen Diskurses darstellt. Das Produkt kann, aber muss nicht materiell sein. Alle drei Disziplinen schaffen stabile Strukturen, weil sie Rollen, Beziehungen und Bedeu-

Es gibt zwar die Small World Theory, die besagt, dass jeder Mensch über höchstens vier Verbindungen mit jedem anderen bekannt ist. Jedoch übersteigt ein solch umfassendes Gebilde jede Interpretationskraft, die ja die Netzwerktheorie gerade auf der gesellschaftlichen Mesoebene anstrebt. 14 Dies sind Netzwerkstrukturen, die von großer innerer Dichte und relativ geringer Verbindung nach außen, zu anderen Netzwerken, bestimmt sind; vgl. Schmitt 2015: 31. 15 Vgl. White 2008: 77 f. 13

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Eine soziologische Theorie der Netzwerke: Harrison White

tungen miteinander vermitteln. Sie lassen sich mit den bisher behandelten Hauptformen der Verbundenheit in Beziehung setzen. 16 Inwieweit bringt die Netzwerkanalyse der Gesellschaft deren geschichtliche Dynamik zum Ausdruck? Gesellschaften sind nach White chaotisch und lassen sich nicht durch feste Ordnungsmuster darstellen. Es gibt keine umfassenden sozialen Ordnungen, vielmehr herrschen gegenüber bestimmten Standards stets Abweichungen vor. So lässt sich die Gesellschaft auch nicht als eine Vielzahl von Systemen darstellen, die je eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen. Vielmehr geht es darum, die wechselseitige Abhängigkeit von Netzwerken in einer geschichtlichen Entwicklung zu berücksichtigen. Netzwerke haben eine Dauer, damit auch eine geschichtliche Dimension, die wiederum über die Bedeutung von Netzwerkverbindungen von einer Vielzahl kultureller Faktoren bestimmt sind. Diese Veränderungen der Gesellschaft geschehen nicht abrupt, sondern gleichen eher der Dynamik einer Flüssigkeit mit zäher Konsistenz. White gebraucht die Metapher der »Schmiere«, des »Gels« zur Beschreibung des Wandels gesellschaftlicher Verhältnisse. 17 Diese Metapher hat eine große Nähe zu dem Magma von Castoriadis. Es gibt keine umfassende, umgreifende Ordnung. Und doch ist Gesellschaft auch nicht einfach chaotisch. Dynamisiert kann das Bild die Abhängigkeit von vergangenen Zuständen ebenso wie ihre ständige Veränderung zeigen. Es gibt eine ununterbrochene Dynamik, alles ist in Bewegung, und nichts ist davon ausgenommen. Die kulturellen und geschichtlichen Besonderheiten der jeweiligen Netzwerke manifestieren sich in Erzähllungen, die die Verbindungen der Netzwerkpunkte charakterisieren. Die von White beschriebenen »stories« versuchen, die Vielschichtigkeit der Netzwerkverbindungen und die Widersprüchlichkeit ihrer Deutung zum Ausdruck zu bringen, die all jene Ereignisse, die sich im Laufe der

Es ist umstritten, ob White die Disziplinen von Netzwerken unterschieden oder sie als besondere Formen der Netzwerke verstanden hat. In späteren Schriften sieht er Netzwerke eher dann entstehen, wenn die Disziplinen sich auflösen. White beschreibt Netzwerke dann als gescheiterte Disziplinen. Vgl. Schmitt, Fuhse 2015: 84. 17 White 2008: 18: »Social organizations is messy and refractory, a shambles rather than a crystal. There is no tidy atom and no clear-cut world, only complex striations and long strings that reptate as in a polymer goo.« 16

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Netzwerke: Zukünftige Formen der Verbundenheit

Zeit durch die Verbindung eingestellt haben, umfassen. 18 Mit dem Konzept der stories kommt die geschichtliche Entwicklung in dem Grundbestand dieser Netzwerktheorie zur Geltung. Es können sich immer wieder auch neue Netzwerke bilden, doch braucht es Zeit, bis sie eine Bedeutung gewinnen. Je stärker Netzwerke konsolidiert sind, je mehr Handlungsmacht sie entwickeln können, desto stärker müssen sie in »stories« integriert sein. Durch »stories« verdichtete Netzwerke sind so etwas wie die Kerne innerhalb eines Stromes, die die Richtung des Gesamtflusses beeinflussen können, ohne ihn je zu kontrollieren. So wie die Identität eines Individuums sich stets der Kontrolle entzieht, so entzieht sich auch das gesellschaftliche Geflecht von Netzwerken der Kontrolle eines wie auch immer gearteten Steuerzentrums. Wichtige Eigenschaften der bisher besprochenen Formen der Verbundenheit lassen sich auch in den Beschreibungen von Netzwerken wiederfinden: Auch Netzwerke sind soziale Konstellationen mittlerer Reichweite, die hochdynamisch sind. Menschen erleben ihre Identität in Netzwerken, in Verbindungen mit anderen Menschen und können sie nicht aus sich selbst heraus schöpfen. Ihre Identität ist aufgrund der instabilen Situation und der ständigen Veränderung stets prekär, sie können sie nur unvollkommen kontrollieren. Netzwerke sind geschichtlich sich entwickelnde Konstellationen, die Entstehung und Entwicklung der Strukturen lassen sich durch Erzählungen zugänglich machen. Die Formen der Verbundenheit des konservativen, des progressiven Diskurses oder der christlichen Tradition lassen sich somit mit den Mitteln der Netzwerkanalyse darstellen. Gibt es nun aber auch Eigenschaften der Netzwerke, die diese gegenüber den traditionellen Formen auszeichnen? White hält die Variabilität und Veränderbarkeit für eine entscheidende Eigenschaft von Netzwerken. 19 Die Variabilität bedeutet nicht Beliebigkeit, weil ja Fragen der Identität immer nur durch die Netzwerke beantwortet werden können. Jede Identität wird aber errungen durch vielfache Versuche aller Beteiligten, Kontrolle aus»The contradictions may even become invisible. Everyday life has trained us and supplies us with nice packages of stories.« White 2008: 29. 19 Die ständigen Veränderungen finden auch statt, weil Identitäten in instabilen Verhältnissen zu anderen Identitäten ständig Kontrollversuche unternehmen: »Identities are embedding via some stories with respect to various other identities in a network population evolving during the course of continuing struggles of control.« White 2008: 24. 18

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Formen der Verbundenheit und digitale Technologien

zuüben. Doch trotz aller Kontrollversuche durch die Mitglieder haben Netzwerke für White die Eigenschaft, prinzipiell offene und interdependente Strukturen zu sein. Dies unterscheidet sie von den Formen der Verbundenheit sowohl des konservativen wie auch einigen Varianten des progressiven Diskurses. Die konservative Form, die Gemeinschaft, definiert sich von ihrem Herkommen, sie ist durch die vergangene Entwicklung festgelegt. Es ist in der Regel eindeutig, wer dazu gehört und wer nicht dazu gehört. Solidarische Gruppen als progressive Form wiederum sind oft durch einen dominanten gesellschaftlichen Konflikt bestimmt. Sie beschreiben diesen Konflikt in einer bestimmten historischen Situation. Grundsätzlich mag es eine Offenheit solidarischer Gruppen geben, eine universale Perspektive ist konstitutiv für den progressiven Diskurs, aber in der Situation eines Konflikts, eines Kampfes setzen sie erst einmal harte Grenzen. Einher mit der Variabilität von Netzwerkstrukturen geht die Eigenschaft, dass sie die Eintritts- wie Austrittsbedingungen erleichtern. Hier haben die Formen der Verbundenheit seit dem Spätmittelalter einen weiten Weg zurückgelegt. Damals waren sowohl die Eintrittsbedingungen wie auch die Austrittsbedingungen außerordentlich hoch. Wer in eine Dorfgemeinschaft geboren wurde, verbrachte in der Regel auch sein weiteres Leben in ihr. Die Eintrittsbedingungen in Klöster waren streng und erst nach dem Ordensgelübde, der »ewigen Profess«, waren Mönche und Nonnen vollwertige Mitglieder, die es dann bis zum Lebensende auch blieben. Im Grunde kann man die weitere Entwicklung der Formen der Verbundenheit in der Geschichte auch so beschreiben, dass die Eintritts- und Austrittsbedingungen von da an kontinuierlich erleichtert wurden, sieht man einmal von sektenhaften Gruppierungen ab, die aber immer Randerscheinungen der gesellschaftlichen Entwicklung waren. Insofern passt es in dieses große Bild, wenn die künftigen Formen der Verbundenheit als Netzwerke nun erneut geringere Eintritts- und Austrittshürden aufbauen.

2.

Formen der Verbundenheit und digitale Technologien

Ein Anlass, soziologische Netzwerktheorien stärker in den Blick zu nehmen, ist durch die zunehmende Bedeutung digitaler Technologien gegeben. Diese verändern die gesellschaftlichen Strukturen nachhaltig. Es scheint, dass soziologische Ansätze, die mit der Netzwerk205 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Netzwerke: Zukünftige Formen der Verbundenheit

analyse arbeiten, die neuen, durch digitale Technologien geprägten gesellschaftlichen Formationen am besten zum Ausdruck bringen können. Das liegt jedoch ausdrücklich nicht an dem Begriff des »Netzwerkes«, der in beiden Kontexten gebraucht wird. Aus dem bisher Erörterten sollte deutlich werden, dass es sich bei diesen generalisierten digitalen Medien nicht um Netzwerke im Sinne der soziologischen Netzwerktheorien handelt. Das Verhältnis zwischen den zwei Verständnissen des Begriffes »Netz« lässt sich am ehesten so beschreiben, dass die Netze im Sinne der soziologischen Theorien durch die Infrastruktur digitaler Technologien gestützt werden können. Die digitalen Netze bieten Kommunikationsmöglichkeiten, durch die sich soziale Netzwerke formen. Soziale Netzwerke zwischen Menschen gehen in der Regel aber über die Vermittlung über digitale Technologien hinaus; sie haben Dimensionen wie einen Bezug auf Orte und Zeiten, die die digitalen Netze nicht aufweisen. Gerade dies hat erhebliche Folgen etwa für die Fähigkeit zur Ausbildung von Narrationen. Wichtige Teile der Identitätsbildung sind nach wie vor durch Verankerungspunkte jenseits digitaler Medien notwendig. Die gesellschaftliche Kommunikation und gesellschaftlich relevante Handlungen verlagern sich zunehmend in den Bereich digitaler Technologien. Über Email-Verteiler oder Newsletter, auf den Plattformen des Internet 2.0, etwa den bekannten Formaten wie Facebook, Youtube, Twitter, Instagram oder Snapchat bilden sich Netzwerke aus, die in immer größerem Maße die gesellschaftlichen Strukturen beeinflussen. Zwei Autoren, Felix Stalder und Andreas Reckwitz, haben jüngst soziologische Analysen des Einflusses digitaler Technologien vorgelegt. Der Titel des Buches von Stalder, »Kultur der Digitalität«, zeigt die Richtung: Die künftige kulturelle Entwicklung ist entscheidend durch die digitalen Technologien bestimmt. 20 Nach Stalder gewinnt unter den gegebenen Bedingungen die Kultur an Bedeutung, die Gesellschaft definiert sich immer stärker über kulturelle Kategorien. Auch Reckwitz schreibt den digitalen Technologien bei der künftigen Entwicklung der Gesellschaft eine herausragende Rolle zu und sieht eine enge Verknüpfung von Kultur und digitalen Tech»›Digitalität‹ bezeichnet damit jenen Set von Relationen, das heute auf Basis der Infrastruktur digitaler Netzwerke in Produktion, Nutzung und Transformation materieller und immaterieller Güter sowie in der Konstitution und Koordination persönlichen und kollektiven Handelns realisiert wird.« Stalder 2017: 17 f.

20

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Formen der Verbundenheit und digitale Technologien

nologien, 21 wenn er auch darauf hinweist, dass bei aller Bedeutung der digitalen Medien, die Kultur nicht auf sie eingeengt werden kann. 22 Mit dem Ausbau des Internets, dem weltweiten Standard für Datentransfers, gewinnen, wie im zweiten Kapitel dargestellt, auch die durch den hegemonialen Diskurs der Spätmoderne vorangetriebenen gesellschaftlichen Veränderungen an Dynamik. Die digitalen Technologien haben die Fähigkeit, vielfältige gesellschaftlich-kulturelle Entwicklungen zu verdichten und zu prägen. 23 Trotz ihrer Bedeutung sieht Stalder allerdings die Technologien nicht als den einzigen Impulsgeber gesellschaftlicher Entwicklung, es gibt keinen technologischen Determinismus. Das zeigt sich zum Beispiel an den Auswirkungen des hegemonialen Diskurses: Nicht erst die digitalen Technologien lassen gesellschaftliche Strukturen erodieren, viele haben schon vor deren Einführung an Kraft und Legitimität verloren, die Auflösung von gesellschaftlich etablierten Gemeinschaften ist eher Folge eines langfristig angelegten Prozesses der Individualisierung und einer Ausrichtung auf eine neoliberale Wirtschaftspolitik. 24 Wir stehen trotz aller sichtbaren Veränderungen in der Entwicklung der digitalen Technologien noch am Anfang. Die langfristige Wirkung digitaler Technologien ist noch offen, sie sind nicht auf Stärkung des hegemonialen Diskurses festgelegt. Sie können auch Formen der Verbundenheit generieren und stärken. Stalder gebraucht den Begriff der »Gemeinschaftlichkeit« für Formen der Verbundenheit, die durch digitale Technologien entstehen, weil seiner Ansicht nach der klassische Begriff »Gemeinschaft« nach Tönnies zu stark durch die konservative Tradition belegt ist. Gemeinschaftlichkeit bezeichnet dagegen ein zukunftsorientiertes Potential. Durch die digitalen Medien entwickeln sich »neue Formen der Gemeinschaftlichkeit. Und diese neuen, gemeinschaftlichen Formationen, nicht singu»Die technologisch angeregte Singularisierung des Sozialen ist mit einer Kulturalisierung des Technologischen verbunden, die zugleich herausfordert, was unter digitalen Bedingungen Kultur bedeutet.« Reckwitz 2017: 227. 22 »Sicherlich ist die Kultur der Spätmoderne nicht identisch mit der Kultur des Digitalen.« Reckwitz 2017: 233. 23 »Mit dem Ausbau des Internets zur allgegenwärtigen Kommunikations- und Koordinationsinfrastruktur um die Jahrtausendwende begannen sich also bisher voneinander unabhängige kulturelle Entwicklungen über die spezifischen Kontexte ihrer Entstehung hinaus auszubreiten (…).« Stalder 2017: 95. 24 Vgl. Stalder 2017: 21 ff. Dies entspricht den Überlegungen des zweiten Kapitels. 21

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Netzwerke: Zukünftige Formen der Verbundenheit

läre Personen, sind die eigentlichen Subjekte, die Kultur, also geteilte Bedeutung, hervorbringen.« 25 Die technologiegestützten Formen von Gemeinschaftlichkeit unterscheiden sich zwar von den klassischen Gemeinschaften, aber: »(…) einen wirklichen Gegenentwurf zu gesellschaftlichen Typen der sozialen Verbundenheit stellen sie aktuell nicht dar.« 26 Die herkömmlichen Formen der Verbundenheit werden durch die neuen Technologien nicht einfach beseitigt oder abgelöst, sondern modifiziert, ausgeweitet und ergänzt. Identität wird in den digitalen Medien nach Stalder durch eine Mischung von Gemeinschaft und Individualisierung möglich, es entsteht so etwas wie eine vernetzte Individualität. 27 Die neuen Formen von Gemeinschaft lassen Individualisierung zu, und doch verleugnen sie nicht deren soziale Komponente. Reckwitz sieht wie Stalder, dass Netzwerke als neue soziale Formen entstehen, die durch Kooperation bestimmt sind: »In einem Netzwerk wirken Teilnehmer zusammen, die auch im Rahmen ihrer Kooperation ihre Heterogenität bewahren.« 28 Er nennt diese neuen Formationen, um den Unterschied zu den traditionellen Formen zu markieren, »Neogemeinschaften«. Ein Unterschied sieht er insbesondere in den Eintritts- und Austrittsbedingungen zu den Gemeinschaften. Sie sind in den durch die digitalen Medien bestimmten Neogemeinschaften freiwillig und stark abhängig von der Entscheidung der beteiligten Individuen. 29 Stalder bringt über die gegenwärtigen Veränderungen hinaus seine Hoffnung zum Ausdruck, dass diese Bildung neuer Formen von Verbundenheit, von Gemeinschaftlichkeit, noch weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen entwickelt. Er betont die »Communi-

Stalder 2017: 131. Die Eigenschaften der Gemeinschaftlichkeit »machen die gemeinschaftlichen Formationen zum eigentlichen Subjekt der Kultur der Digitalität.« Stalder 2017: 151. 26 Stalder 2017: 134. 27 Er stellt fest, dass »Menschen in westlichen Gesellschaften (…) ihre Identität immer weniger über die Familie, den Arbeitsplatz oder andere stabile Kollektive definieren, sondern zunehmend über ihre persönlichen sozialen Netzwerke, also über die gemeinschaftlichen Formationen, in denen sie als einzelne aktiv sind und in denen sie als singuläre Personen wahrgenommen werden.« Stalder 2017: 144. 28 Reckwitz 2017: 263. 29 Der entscheidende Unterschied zu den traditionellen Gemeinschaften »betrifft den Status der Mitgliedschaft. In die traditionellen Gemeinschaften wurde man qua Herkunft hineingeboren, die Neogemeinschaften sind hingegen Wahlgemeinschaften.« Reckwitz 2017: 264. 25

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Formen der Verbundenheit und digitale Technologien

ties of Practice« und die »Commons« die durch den Gebrauch digitaler Medien entstehen können. Hier steht das gemeinsame Handeln im Mittelpunkt, das sowohl gesellschaftspolitische wie auch ökonomische Aspekte umfasst. 30 Auch diese Communities dürfen, damit sie handlungsfähig sind, nur begrenzt groß sein. Wiederum ist die entscheidende Ebene die Mesoebene einer begrenzten Zahl von Beteiligten im Unterschied zur Makroebene der Gesellschaft oder der Mikroebene der beteiligten Individuen. Der Produktion kommt hierbei eine wichtige Rolle zu, die neuen Gemeinschaften bilden sogenannte Commons: »Grundsätzlich Gleichberechtigte schließen sich freiwillig zusammen, um gemeinsame Ziele zu verfolgen.« 31 Sie knüpfen an die Tradition der Allmende oder Genossenschaften an und schaffen im digitalen Raum eine gemeinsame Produktionsbasis. Ein herausragendes Beispiel für solche Commons ist etwa die verbreitete Unterstützung freier Betriebssoftware Linux. Auch das für alle zugängliche digitale Nachschlagewerk Wikipedia zählt Stalder zu den neuen Formen produktiver Gemeinschaft. Neue Güter entstehen durch gemeinsame, hierarchiefreie Arbeit, die letztlich allen dienen. 32 Die Bedeutung der digitalen Medien für künftige Formen von Gemeinschaft ist also aus der Perspektive der beiden Autoren groß. Es gibt aber auch erhebliche Einschränkungen für die Realisierung von gesellschaftlichen Strukturen in digitalen Medien. Sie zeigen sich erstens in der geringen Fähigkeit zur Narrativität, zweitens in der fehlenden Verortung und drittens in den Schwierigkeiten, Konflikte abzubilden. Die Narrativität ist durch eine Fixierung auf die Gegenwart eingeschränkt: »Der raumzeitliche Horizont der digitalen KomEs geht in der Terminologie von White um eine Mischung von »Council« und »Interface«. 31 Stalder 2017: 246. 32 Wir haben uns bislang auf den Aspekt der »Gemeinschaftlichkeit« bezogen, den Stalder ja noch ergänzt durch »Referentialität« und »Algorithmizität«. Gerade der letztere Aspekt wirft einen dunklen Schatten auf die bisherigen Angebote digitaler Kommunikation. Denn es ist offenkundig, dass die Nutzung erheblich durch Algorithmen gesteuert wird, die ihrerseits den Nutzern nicht transparent sind. Schon dies zeigt, dass die digitalen Medien zwar eine wichtige Rolle bei dem Aufbau sozialer Netze spielen, dass aber noch ein weiter Weg zu gehen ist, damit die bislang intransparente Macht der Algorithmen für alle einsehbar wird. Stalder sieht auch noch einen offenen Prozess, in dem nicht ausgemacht ist, ob das gemeinschaftliche Modell der »Commons« oder nicht vielmehr die intransparente Macht der Algorithmen die Oberhand behalten werden. Für die Entwicklung einer Gesellschaft der Zukunft ist hier eine entscheidende Weggabelung markiert. 30

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Netzwerke: Zukünftige Formen der Verbundenheit

munikation, ist eine globale, das heißt ortlose Dauergegenwart.« 33 In der Tat fehlt den digitalen Medien bislang fast völlig die Fähigkeit, geschichtliche oder auch biographische Entwicklungen abzubilden. Das Unternehmen Facebook hat vor einigen Jahren die »timeline« eingeführt, eine Form, in der die biographische Entwicklung transparenter werden soll. Doch das ist kaum gelungen und hat keine nennenswerten Effekte erzielt. Digitale Medien sind in starkem Maße gegenwartsfixiert. »Was machst/denkst Du gerade?« scheint die zentrale Maxime der Kommunikation in den sozialen Medien zu sein. Dadurch ist ihr Angebot natürlich außerordentlich anschlussfähig für den hegemonialen Diskurs der Spätmoderne, aber es ist wenig hilfreich, wenn es darum geht, der geschichtlichen Entwicklung und diachrone Formen der Verbundenheit wieder ein stärkeres Gewicht zu geben. Dieser Mangel ist weitreichend, die digitalen Realisierungen von sozialen Netzwerken bleiben notwendigerweise defizitär und müssen durch andere Kommunikationsformen ergänzt werden. Identität, die über die Entwicklung von Netzwerken entsteht, muss durch Narrationen ergänzt werden, die sich aus anderen Ressourcen speisen. Auch Reckwitz sieht die Problematik der auf Dauer gestellten Gegenwart: Das »Publikum befindet sich gegenüber den digitalen Performances im Zustand eines Dauererlebens.« 34 Das spätmoderne Subjekt ist zur Identitätsfindung auf Sichtbarkeit angewiesen, nichts ist schlimmer, als nicht sichtbar zu sein. Sichtbarkeit ergibt sich aber auch einer Dauerpräsenz und der Unterscheidbarkeit, es kommt auf die Performanz des stets Neuen an. 35 Narration, die zur Identitätsbildung beiträgt, kann nicht auf die digitalen Technologien allein rekurrieren. Beispiele für die Defizite rein digitaler Kommunikation lassen sich schnell finden. Sie zeigen sich im Extrem in den »Massive Multiplayer Online Games«. Diese Spiele mit sehr vielen Mitspielern leben geradezu von starken narrativen Elementen. Doch sind diese Stalder 2017: 147. Reckwitz 2017: 237. 35 Vgl. Reckwitz 2017: 249. Er attestiert andererseits den digitalen Medien die Fähigkeit zu Narrationen: »Der spätmoderne Journalismus im Netz ist so nicht nur eine Informations-, sondern auch eine Narrationsmaschine mit erheblichen affektiven Wirkungen.« Reckwitz 2017: 236. Das kann man aber mit guten Gründen bezweifeln. Wieso die kurzen Texte, die online-spezifisch sind, zu Narrationen in der Lage sind, wird nicht deutlich. Ebenso haben Videos, die auf Youtube eingestellt sind, eher dokumentarischen denn narrativen Charakter. Hier ist mit Stalder davon auszugehen, dass die Fixierung auf die Gegenwart eine bleibende Herausforderung der digitalen Medien darstellt. 33 34

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Formen der Verbundenheit und digitale Technologien

weder dauerhaft noch haben sie eine Chance, über die beteiligten Mitspieler hinaus in die verzweigte Lebenswelt der beteiligten Personen zu wirken. Die Spieler führen mit ihren Avataren eher eine entkoppelte Parallelexistenz. Wenn die Spiele nicht mehr gespielt werden, sind auch die Erzählungen verschwunden. Diese Schwäche identitätsbildender Narrativität in den digitalen Medien ist eng mit einer zweiten Einschränkung verknüpft, ihrer eigentümlichen Ortlosigkeit. Die Fähigkeit, diachrone Verbundenheit zum Ausdruck zu bringen, identitätsbildend zu erzählen, ist auch von einem Bezug auf konkrete Orte bestimmt. Die Dimension der Zeit ist nur dann voll zugänglich, wenn man auch die Orte der Geschehnisse ausweisen kann. Geschichte geschieht nicht irgendwo, sondern an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten mit bestimmten Personen. Die digitalen Medien machen allerdings die Kommunikation auf eigentümliche Weise ortlos. Natürlich ist es möglich, Fotos und Filme von Orten in den digitalen Medien zu integrieren. Aber diese Fotos und Filme binden sich nicht ihrerseits an diesen Ort, er wird in ihnen nur abgebildet. Der so repräsentierte Ort ist seinerseits nur ein beliebiger Repräsentant eines unbegrenzten Reservoirs von konkurrierenden Repräsentanten. Diese Ortlosigkeit digitaler Kommunikation bedeutet eine große Einschränkung für die Ausbildung von dauerhaften Netzwerken, von neuen Formen der Verbundenheit in den digitalen Medien. Es wird für den Aufbau langfristiger Formen immer wieder darauf ankommen, die digitale Kommunikation immer wieder zu verorten. Die dritte Einschränkung ist schließlich, dass Konflikte in den digitalen Medien sich nur begrenzt abbilden lassen. Diese Einschränkung gilt auch schon für die sozialen Netzwerke der soziologischen Theorien. Nur am Rande steht auch bei White der Konflikt in einem Wechselverhältnis zu der Bewegung der Solidarisierung. 36 Die Theorie von White ist insgesamt jedoch stärker von den verbindenden Relationen bestimmt und nicht von sich konfligierenden Gegensätzen. 37 Die Einschränkung zeigt sich in den digitalen Medien noch White behandelt sie im Rahmen von »Control Regimes«: »Conflict can be set as a dual face to solidarity, the two together offering both decoupling and integration in a control regime.« White 2008: 229. 37 In der klaren Grenzziehung von »Arenen« mag ein Potential zur Darstellung von Konflikten liegen, zwei oder mehrere Arenen sind dann miteinander in einem Konflikt. Jedoch ist dann die Dynamik eines Konfliktes in diesem Theoriedesign nur schwer abzubilden. 36

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Netzwerke: Zukünftige Formen der Verbundenheit

deutlicher: Auch hier braucht es konkrete Orte, an denen gesellschaftliche Konflikte ausgetragen werden können und es braucht die körperliche Präsenz der Beteiligten. Menschen müssen sich in ihrer leiblichen Existenz sichtbar machen, auch um einen gesellschaftlichen Konflikt beschreiben zu können. Auch im 21. Jahrhundert ist es nicht unerheblich, dass man viele Menschen zu einer Versammlung an einem Ort mobilisieren kann, dass man ihre Rufe und ihr Schreien hören kann. Dies wird wiederum medial vermittelt und einer größeren Zahl von Sympathisanten zugänglich. Aber keine Klickrate, keine Anzahl von »Likes« und kein digitaler Wahlmodus kann die körperliche Präsenz an einem Ort ersetzen. Die solidarische Verbundenheit derjenigen, die den Konflikt gemeinsam ausfechten, lässt sich mit körperlicher Präsenz am besten zum Ausdruck bringen. Zu welcher Gruppe man gehört, wird deutlich, wenn man sich einem Kollektiv, das an einem Ort präsent ist, anschließt. Solche Mechanismen gelten etwa auch für Fangruppen von Fußballvereinen, die sich zu einem Spiel in großen Gruppen versammeln, angetan mit den Vereinsfarben. Diese Versammlungen entwickeln eine starke Energie. Dabei wird die Begegnung mit den Fangruppen der gegnerischen Mannschaft als Konflikt inszeniert. Die genannten Einschränkungen verhindern, dass die Formen der Verbundenheit einfach durch die digitalen Technologien vollständig gestaltet werden können. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass die bisher diskutierten Formen der Verbundenheit nicht einfach ersetzt werden. Die digitalen Technologien schaffen nicht etwas völlig Neues, sie transformieren vielmehr den gesellschaftlichen Bestand der Formen der Verbundenheit. Diese entwickeln sich weiter und adaptieren die Form variabler Netzwerke. Diese Netzwerke sind hybrid strukturiert, sie bilden Strukturen, die sich »online« und »offline« miteinander verbinden. Sie nutzen digitale Technologien und stehen doch je und je unterschiedlich in einer Kontinuität zu den bisherigen Formen der Verbundenheit. Narrativität, Verortung, körperliche Präsenz und Konflikte werden auch künftige Formen der Verbundenheit prägen, verbunden mit der leichteren Zugänglichkeit und variableren Strukturen, die die digitalen Technologien bieten. Die Einschränkungen erfordern weiterhin eine Verankerung in Raum und Zeit. Dies geht aber nur mit überschaubar großen sozialen Netzen, die in der Lage sind, Narrationen auszubilden. Auch hierdurch gewinnt eine mittlere gesellschaftliche Ebene, die Mesoebene, an Bedeutung. Digitale Technologien werden in der Zukunft die Formen der 212 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Hybride Netzwerke: Formen der Verbundenheit in der Zukunft

Verbundenheit in größerem Maße prägen. Das heutige Angebot an Soft- und Hardware wird sich noch erheblich weiter entwickeln. Die kommerziellen Plattformen der gegenwärtigen sozialen Medien sind noch keine 20 Jahre alt. Es ist wahrscheinlich, dass künftige Generationen digitaler Technologien noch ungeahnte Varianten bieten werden, um soziale Netzwerke zu gestalten. Aber auch diese Technologien werden nicht in eine ganz neue soziale Welt führen. Auch bei künftig noch stärker ausgebauten technischen Möglichkeiten, digital kommunizieren und handeln zu können, werden Menschen als leibliche Wesen auf konkrete Orte und Zeiten nicht verzichten können. Das, was vor uns liegt, ist also ein gesellschaftlicher Transformationsprozess, der bei den existierenden Formen der Verbundenheit ansetzt und diese durch den Einsatz digitaler Technologien in neue zukunftsweisende Formen überführt. Hybride Formen der Netzwerkbildung bieten eine Chance für starke und dauerhafte Formen der Verbundenheit.

3.

Hybride Netzwerke: Formen der Verbundenheit in der Zukunft

Unter den Vorzeichen des hegemonialen Diskurses sind jene Formen der Verbundenheit, die die Gesellschaften der westlichen Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt haben, stark geschwächt. Eine Revitalisierung der etablierten Formen in den vertrauten Formen als Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Vereine erscheint sehr unwahrscheinlich, sie erleben eine innere und äußere Erosion. Es ist nicht zu erwarten, dass der voranschreitende Abbau in absehbarer Zeit gestoppt werden könnte. Ist das Netzwerk die Form der Verbundenheit für die Zukunft? Netzwerke sind flexibel und können leicht auf geschichtliche Veränderungen reagieren. 38 In dem gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbruch können die etablierten, aber geschwächten Formen der Verbundenheit zu Kernen neuer Formen werden, welche als hybride Netzwerke an die alten anknüpfen und diesen eine In gewisser Weise sind Netzwerke Formen der Verbundenheit, die sich zugleich als Singularitäten ausbilden. Sie sind je einzigartig, lassen sich vielleicht strukturell vergleichen, aber ihre je und je existierenden Beziehungen sind stets einmalig. Allerdings lassen sich Netzwerke weder einem apertistisch-differenziellem Liberalismus noch einem Kulturessentialismus zuordnen, die beiden Richtungen, die Reckwitz vorschlägt, vgl. Reckwitz 2017: 394.

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Netzwerke: Zukünftige Formen der Verbundenheit

neue Gestalt geben. Offen ist, wie diese neuen oder erneuerten Formen der Verbundenheit etabliert werden können. Dies soll entlang der unterschiedlichen, bisher diskutierten Formen der Verbundenheit diskutiert werden. Besonders offensichtlich ist heute der Gebrauch von digitalen Technologien durch populistische Strömungen, die an Standards des konservativen Diskurses anknüpfen wollen. Sie stellen vor allem eine Form der Verbundenheit in den Mittelpunkt, die Nation oder in weiter rechts verorteten Bewegungen, das Volk. Das hat aufgrund des Vakuums, das der hegemoniale Diskurs erzeugt hat, eine nicht zu unterschätzende Wirkung. Reckwitz diagnostiziert gerade in der Frage der Identität zugleich eine Stärke der Neogemeinschaften: »Der eigentliche Aufschwung der Neogemeinschaften findet (…) jedoch im Feld des Politischen und Subpolitischen mit seinen ethnischen, religiösen und nationalen Identitäten statt.« 39 Die Neogemeinschaften sind bei Reckwitz rückwärtsgewandt. Auch Koppetsch sieht in diesen neuen Gemeinschaften eher regressive Tendenzen: »Insofern können diese als kommunitäre Gegenreaktionen zu den oben beschriebenen Individualisierungstendenzen der globalen Moderne betrachtet werden.« 40 Die Wirkung dieser Bewegungen darf nicht unterschätzt werden, weil sie auf sehr einfache Weise auf den Verlust der Formen der Verbundenheit reagieren. Doch ist das Repertoire der populistischen Bewegungen jenseits des Bezugs auf die Nation sehr überschaubar. Es erstreckt sich vor allem in immer neuen Abgrenzungen (»hate speeches«) auf der einen Seite und der Versicherung der gemeinsamen nationalen Zugehörigkeit auf der anderen Seite. Es erscheint aber auch in diesen Netzwerken nahezu aussichtslos, die traditionelle Gemeinschaft des Dorfes, der Familie, der Landmannschaft als vom Herkommen verbürgte Form der Verbundenheit zu einem Ausgangspunkt neuer gesellschaftlicher Entwicklungen machen zu wollen. Weder die technologische noch die kulturelle Entwicklung zeigen hierfür Ansatzpunkte. Die Stärke der populistischen Bewegungen besteht daher nicht so sehr darin, zu sagen, was sein soll, als zu sagen, was nicht sein soll. Positionen, die an die Tradition der progressiven Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts anknüpfen und auf die Solidarität als

39 40

Reckwitz 2017: 394 f. Koppetsch 2019: 163.

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Hybride Netzwerke: Formen der Verbundenheit in der Zukunft

Form der Verbundenheit zielen, werden in der Zukunft immer wieder Konjunkturen erleben. Gesellschaftliche Großkonflikte, die klar erkennbare Solidarisierungsbestrebungen zur Folge haben, haben zurzeit unklare Konturen, allerdings werden auch zukünftige Entwicklungen massiv durch Konflikte bestimmt sein, so dass in kurzer Zeit solidarische Netzwerke entstehen könnten, die vielleicht eine Ähnlichkeit zu den Anfängen der Arbeiterbewegung aufweisen. Die zukunftsoffene Entwicklung hybrider Netzwerke, ihre geschichtliche Dynamik ist eine wichtige unterstützende Eigenschaft für diese Entwicklung. In welchem Umfang aber ist es möglich, solidarische Bewegungen in digitalen Netzwerken zu etablieren? Für sporadische und kurzzeitige Solidarisierungen in den digitalen Medien gibt es eine Vielzahl von Beispielen. Hierzu zählen etwa die internationale #MeToo Bewegung oder auch die in Deutschland bekannt gewordene Variante #MeTwo, die sich an Migrantinnen und Migranten wendet. Doch leiden diese Formen der Solidarisierung an dem geschilderten Zwang zur Gegenwärtigkeit und Aktualität. Kampagnen in den digitalen Medien finden schnell weite Aufmerksamkeit, aber sie schaffen es nur in geringem Maße, dauerhafte hybride Netzwerke aufzubauen. Es bleibt bei sporadischen und individuellen Beiträgen. Netzwerke im Sinne der soziologischen Netzwerktheorien sind dagegen weniger volatil und stärker narrativ verankert. Sind sie erst einmal aufgebaut, so besitzen sie eine gewisse Dauerhaftigkeit. Sie bewahren durch ihre Strukturen auch so etwas wie ein kollektives Gedächtnis und narrative Potentiale, den Bezug auf konkrete Orte. Nicht wenige erfolgreiche politische Bewegungen organisieren sich über digitale Medien, um dann aber auf einer bestimmten Straße, einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit für alle sichtbar zu demonstrieren. Beispiele dafür findet man in den letzten Jahren zuhauf, etwa in der Bewegung »Occupy Wallstreet«, in der Bewegung »Fridays For Future«, in dem Separationskampf der Katalanen, in den Demonstrationen von Gelbwesten in Frankreich oder Landwirten in Deutschland. Immer findet die Koordinierung und Kommunikation maßgeblich in den digitalen Medien statt, immer aber sind es konkrete Orte, an denen Demonstrationen, Happenings und Versammlungen stattfinden. Auch wenn viele Kapitalismuskritikerinnen und -kritiker nicht in New York an der Aktion »Occupy Wallstreet« teilgenommen hat, so ist doch diese Bewegung durch diesen Ort geprägt und jeder Mensch, der sich der Bewegung anschließt, bezieht sich auch auf ihn als einen zentralen 215 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Netzwerke: Zukünftige Formen der Verbundenheit

Ort des globalisierten Kapitalismus. Die Erzählung der Bewegung nährt sich von dieser Lokalisierbarkeit. Es ist ein entscheidendes Kriterium für eine langfristig erfolgreiche politische Bewegung, dass sie ihre Erzählungen durch neue örtliche und zeitliche Bindung erweitern kann. Und da ist die Bewegung »Occupy Wallstreet« eher kein Vorbild, weil es ihr nicht gelang, die Erzählung fortzuschreiben. Komplexe politische Prozesse werden wohl auch noch in absehbarer Zeit auf der nationalen Ebene gestaltet werden. In parlamentarischen Demokratien werden damit die Parteien auch in Zukunft eine zentrale Rolle spielen. Gesellschaftliche Konflikte, die progressive Bewegungen aufgreifen, führen zu einer schärferen Unterscheidung der Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit. Eine verbindliche Meinungsbildung und Entscheidungsfindungen werden deshalb nach wie vor nur in klar definierten innerparteilichen Abstimmungsprozessen möglich sein. Formale Zugehörigkeitsregeln lassen sich für Parteien nicht umgehen. Sie werden sich aber offeneren Netzwerken in den digitalen Medien öffnen müssen, um wieder eine größere Akzeptanz zu finden. Politische Parteien müssen hybride Netzwerke adaptieren, auch wenn sie sich nur zum Teil als Netzwerk gestalten können. Die Formen der Verbundenheit des liberalen Diskurses haben in dieser Untersuchung eine geringere Rolle gespielt. Wenige Anmerkungen dazu gab es in dem dritten Abschnitt des dritten Kapitels und im zweiten des vierten Kapitels. Zu diesen Formen zählen vor allem Vereine und Unternehmen. Vereine unterscheiden sich wiederum deutlich nach den Vereinszwecken. Es gibt solche, die das Traditionsgut pflegen wie etwa Karnevals- oder Schützenvereine und solche, die die soziale Arbeit in Stadtteilen fördern. Erstere können auch dem konservativen Diskurs, letztere können dem progressiven Diskurs zugerechnet werden. Es bleiben die Unternehmen als die Orte der wirtschaftlichen Betätigung, der Produktion und Bereitstellung von Dienstleistungen. Unter den gegebenen Verhältnissen sind durch die Weiterentwicklung des liberalen Diskurses zum hegemonialen Diskurs der Spätmoderne von hier aus kaum Impulse zur Bildung hybrider Netzwerke zu erwarten. Doch bleibt die Sphäre der Produktion jenseits des hegemonialen Diskurses für die gesellschaftliche Entwicklung höchst relevant. Neue Produktionsformen etwa in Genossenschaften bieten große Potentiale für den Aufbau von hybriden Netzwerken. Stalder hat die »Communities of Practise« und »Commons« identifiziert: »Im Zentrum der Anstrengung steht in den 216 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Hybride Netzwerke: Formen der Verbundenheit in der Zukunft

Commons der langfristige Nutzwert von Gütern.« 41 Hier steckt ein großes, vielleicht das entscheidende Potential für die Weiterentwicklung gesellschaftlicher Strukturen und die Ausbildung neuer hybrider Netzwerkstrukturen. Nur ist nicht absehbar, wie der Weg aus den jetzt etablierten ökonomischen Strukturen, die klar mit den Aussagen des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne korrelieren, in die neue Produktionswelt mit den Mitteln dieses Diskurses gedacht werden soll. Viel wahrscheinlicher ist, dass sich die Lösungspotentiale durch eine Weiterentwicklung und Modifikation des progressiven Diskurses ergeben werden, an die ja auch Stalder mit vielen Verweisen anknüpft. Mehrere Varianten gemeinschaftlicher Produktion aus der Vergangenheit bieten sich als Formen an, die zu hybriden Netzwerken weiterentwickelt werden können, sei es die Tradition der Allmende, sei es die Tradition der Genossenschaften. Aus der Tradition des progressiven Diskurses erscheint es folgerichtig, dass die Produktion von Gütern und die Bereitstellung von Dienstleistungen eine zentrale Rolle für hybride Netzwerke der Zukunft spielen werden. Es wird also eine seiner entscheidenden Aufgaben sein, hier neue Formen der Verbundenheit zu entwickeln und auch die Weiterentwicklung jener existierenden Formen voranzubringen, die im Rahmen des liberalen Diskurses entstanden sind. Christliche Formen der Verbundenheit wiederum kann man sehr gut mit Hilfe der Netzwerktheorie deuten. Im christlichen Verständnis ist jede Gemeinschaft eingebunden in die Geschichte Gottes mit seinem Volk, das sowohl ein Herkommen hat als auch einer Verheißung folgt. Die Gemeinden hatten in der Phase des frühen Christentums eine offene, netzwerkartige Form. Auf der einen Seite stehen im alltäglichen Leben diejenigen miteinander in Verbindung, die an dem gleichen Ort lebten. Doch sind diese Gemeinden nicht voneinander abgeschlossen, sondern von Beginn an auf die »weltweite« Ökumene ausgerichtet, auch auf jene Christinnen und Christen, die an anderen Orten lebten und in der Tendenz auch auf alle Menschen als Geschöpfe Gottes. So kann man die frühchristlichen Gemeinden als variable Netzwerkstrukturen deuten, in denen eine sukzessive Konsoldierung und innere Verdichtung erfolgte, bis hin zur Ausbildung von Disziplinen im White’schen Sinne. Wahrscheinlich werden sich die Kirchen in solchen hybriden Netzwerken weiter entwickeln, Hierarchien und Zentralität werden immer weniger bedeutsam sein. 41

Stalder 2017: 246.

217 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Netzwerke: Zukünftige Formen der Verbundenheit

Die Notwendigkeit der Ergänzung von rein digital vermittelter Kommunikation gilt auch für die christlichen Gemeinden. Auch wenn die digitalen Medien große Potentiale für eine christliche Kommunikation darstellen, so haben sie doch Rituale und Erzählungen, die fest an bestimmte Orte und Zeiten gebunden sind und die nicht vollständig in digitaler Kommunikation aufgehoben werden können. Hierzu gehören vor allem die Sakramente, die auf ihre raumzeitlich gebundenen »Elemente« angewiesen sind, also auf das Wasser bei der Taufe und auf Brot und Wein beim Abendmahl. Diese Elemente erfordern eine leibliche Präsenz der Gläubigen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Auch zentrale biblische Erzählungen sind eindeutig örtlich und zeitlich in Israel verankert, das nicht zu einem beliebigen Ort gemacht werden kann. Die Verortung von Narrativen gibt es über die biblischen Texte hinaus in abgeschwächter Form in der Kirchengeschichte, etwa Rom als dem Ort, zu dem die letzte Reise des Paulus führte, oder Wittenberg, Zürich und Genf als den Orten der protestantischen Reformation. Digitale Medien spielen eine zentrale Rolle bei dem Aufbau von hybriden sozialen Netzwerken als der zukunftsorientierten Form der Verbundenheit. Entscheidend ist, nicht auf die Makroebene der Gesellschaft allein zu schauen oder aber auf die Mikroebene der beteiligten Individuen, sondern den Fokus im Sinne von Harrison White auf die Mesoebene zu richten, also auf jene sozialen Netze, an denen eine überschaubare Zahl von Menschen beteiligt ist. Die digitalen Technologien können gerade die Bildung dieser Netzwerke als hybride Netzwerke fördern. Angesichts der gewaltigen Veränderungen, denen sich die Gesellschaften zurzeit ausgesetzt sehen, der kontinuierlichen Schwächung traditioneller Verbundenheitsformen, ist diese Entwicklung auf der Mesoebene von größter Bedeutung. Es genügt für langfristige und stabile Formen der Verbundenheit nicht, sich allein auf den Gebrauch digitaler Technologien zu verlassen. Zukünftige Formen der Verbundenheit werden hybride Strukturen ausprägen müssen, sie werden digitale Kommunikationen und Handlungen mit konkreten Orten und konkreten Zeiten verbinden. Die Orientierung an Kommunen und Regionen hat dabei eine große Bedeutung. Denn hier prägen die Formen der Verbundenheit das alltägliche Leben. 42 Eine Ökonomie des Alltagslebens macht auch auf die Bedeutung der Verbundenheit durch basale Infrastrukturen aufmerksam, vgl. Foundational Economy Collective 2019.

42

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Hybride Netzwerke: Formen der Verbundenheit in der Zukunft

Jürgen Wiebicke fordert zu Recht die Orientierung an Stadt und Dorf, ohne diese auf gleichartige Gemeinschaften zu reduzieren. 43 Soziale Netzwerke sind nur in einer Kombination von Kommunikationen und Handlungen »online« und »offline« auf längere Sicht stabil. Die leibliche Existenz von Menschen erzwingt immer auch eine Konkretion von Ort und Zeit, um Identität aufbauen zu können. Zwar kann die existentielle Verbundenheit grundsätzlich nicht auf bestimmte Orte und Zeiten eingeschränkt werden, sie ist, wie dargestellt, immer in der Lage, eine Verbundenheit mit anderen Menschen unabhängig von weiteren Bestimmungen aufscheinen zu lassen. Das gilt aber nicht für dauerhafte Formen der Verbundenheit. Sie brauchen Orte und Zeiten, weil Menschen ihre wechselseitigen Beziehungen und ihre individuelle wie auch kollektive Identität nur so stabilisieren können.

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Vgl. Wiebicke 2017: 21 ff.

219 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

12. Eine universalistische Perspektive

Der hegemoniale Diskurs der Spätmoderne hat in der Gesellschaft vor allem zwei zentrale Werte gestärkt, die auch bei künftigen gesellschaftlichen Veränderungen wegweisend bleiben müssen. Die beiden Werte sind die Autonomie eines jeden Menschen und der Universalismus im Sinne der fundamentalen Gleichheit aller Menschen, die sich etwa in der Anerkennung der allgemeinen Menschenrechte zum Ausdruck bringen. Auch wenn die menschliche Geschichte vielleicht nicht einfach als eine lineare Geschichte des Fortschritts gedeutet werden kann, so ist sie doch nicht ohne Richtung. Die Orientierungskraft dieser Werte darf auch in Zukunft nicht geringer werden. Die Autonomie war in den vorangegangenen Ausführungen zu den Formen der Verbundenheit kontinuierlich ein Thema. Während sie im konservativen Diskurs nur eine untergeordnete Rolle spielt, oft eingeschränkt oder auch sogar negiert wird, zielt der progressive Diskurs durch eine konflikthafte geschichtliche Entwicklung hindurch auf mehr Autonomie und gegen jede Form gesellschaftlicher Entfremdung. Jedoch ist hier das Ziel echter Autonomie nicht sofort zu realisieren, es ist eher mit dem geschichtlichen Fernziel eines Sozialismus oder eines Kommunismus verbunden. Diese Einschränkung ist problematisch und sie ist auch Teil der Kritik an Theoretikern des progressiven Diskurses, vor allem an Karl Marx. Die christlichen Gemeinschaften wiederum fordern die Freiheit des Glaubens, ein erzwungenes Bekenntnis zu Gott ist kein Bekenntnis. Allerdings ist die Freiheit in Christus nicht einfach als menschliche Autonomie zu beschreiben, sie versteht sich als eine Bestimmtheit durch Gott. 1 In den hybriden Netzwerken als neuer Form der Verbundenheit spielt Das komplexe Verhältnis des christlichen Selbstverständnisses zur Freiheit hat Martin Luther in einer prägnanten Doppelthese formuliert: »Eyn Christen mensch ist ein freyer herr über alle ding und niemandt unterthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding und yderman unterthan.« Zitiert nach Lohse 1982: 137.

1

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Eine universalistische Perspektive

die Autonomie eine große Rolle, sie suchen in besonderer Weise die Selbstbestimmung und Verbundenheit in einen Einklang zu bringen. Zwar sind Netzwerke nicht durch jeden frei gestaltbar, sie sind abhängig von einer sozialen Genese, von einer geschichtlichen Entwicklung der sozialen Strukturen. Doch sind die Eintritts- und Austrittsbedingungen offener gestaltet als in den anderen Formen der Verbundenheit. So bieten die hybriden Netzwerke einerseits eine auf Dauer gestellte Form, die Erfahrungen von Verbundenheit immer wieder bestätigt, und zugleich binden sie andererseits Menschen nicht gegen ihren Willen. In Netzwerken wird deutlich, dass Formen der Verbundenheit und der Wert der Autonomie zusammen bestehen können. Doch wie ist der Wert des Universalismus, der Gleichheit aller Menschen mit dem hier vertretenen Ansatz der Verbundenheit verknüpft? Zunächst muss man zweierlei unterscheiden, zum einen die Frage nach der Geltung universaler Werte, etwa den der Gleichheit aller Menschen und die Geltung universeller Menschenrechte, und zum anderen eine Politik, die die universellen Werte zum Leitmaßstab macht. In Bezug auf die Wertorientierung gibt es zu dem hier vertretenen Ansatz zunächst scheinbar einen Widerspruch. Die Formen der Verbundenheit sind ja als begrenzte Formen gerade nicht universal. Wie kann von hier aus eine universale Gleichheit aller Menschen begründet werden? Die entscheidende Größe, auf die es hier bei der Begründung der Wertorientierung ankommt, ist nicht eine Form der Verbundenheit, sondern die existentielle Verbundenheit. Diese ist nicht wie dargestellt auf einen bestimmten Kreis von Menschen ausgerichtet, potentiell kann sich jeder Mensch mit jedem Menschen existentiell verbunden erleben. Eine prägnante Beschreibung der existentiellen Verbundenheit bietet das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10). Der Samariter kümmert sich um den, mit dem er sozial zunächst gar nicht verbunden ist, eine zufällige Begegnung kann dennoch intensive Erfahrungen der Verbundenheit auslösen. Im fünften Kapitel wurde das dahingehend gedeutet, dass Erfahrungen existentieller Verbundenheit in keiner Weise an begrenzte und historisch gewachsene Formen der Verbundenheit gekoppelt sind. Die existentielle Verbundenheit hat eine grundlegend anarchische Komponente. Jeder Mensch kann mit jedem anderen Menschen eine Erfahrung starker existentieller Verbundenheit machen. Kein Mensch ist davon ausgeschlossen, anders gesagt: Alle Menschen sind durch die existentielle Verbundenheit eingeschlossen, die Zwischenleiblichkeit besteht zwischen allen Menschen. Das ist 221 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Eine universalistische Perspektive

kein moralischer Imperativ, sondern die Anerkennung einer fundamentalen Gegebenheit, der existentiellen Verbundenheit unter den Bedingungen leiblicher Existenz. Deshalb hat die existentielle Verbundenheit die Kraft, eine universalistische Perspektive zu begründen. Die Gleichheit aller Menschen trotz ihrer historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Unterschiede ist durch die existentielle Verbundenheit gewährleistet. Damit kann der Universalismus als normative Ausrichtung, den der hegemoniale Diskurs der Moderne so stark betont, auch durch einen leibphänomenologischen Ansatz gestützt und bestätigt werden. Nun ist es eines, nach der Geltung der universalen Gleichheit aller Menschen zu fragen, und ein anderes, ihre Geltung in der Gesellschaft politisch umsetzen zu wollen. Das, was auf der Ebene der normativen Orientierung gilt, ist nicht durch seine Geltung einfach schon gesellschaftliche Realität. Der Forderung des Universalismus, die Gleichheit aller Menschen, muss durch konkretes politisches Handeln immer wieder neu angestrebt werden. Weil die existentielle Verbundenheit grundsätzlich keinen Menschen ausschließt, heißt das nicht, dass die zu einer bestimmten Zeit existierenden Formen der Verbundenheit das zugleich auch schon abbilden. Im Gegenteil, wie wir gesehen haben, sind Formen der Verbundenheit als endliche, geschichtlich gewachsene Formen immer auch exkludierend. Die Formen können jederzeit missbraucht werden, in nicht wenigen Fällen wurden und werden Menschen aus anderen Nationen, Kulturkreisen oder Religionen ausgegrenzt. Die konkreten Formen der Verbundenheit spielen in einem politischen Ansatz eine entscheidende Rolle. Nur durch sie ist es möglich, dass die Orientierung am Universalismus auch in der gesellschaftlichen Gestalt zur Geltung kommt. In den Ansätzen der politischen Umsetzung des Universalismus lassen sich solche unterscheiden, die von einer Betonung der Gegenwart durch den hegemonialen Diskurs der Spätmoderne geprägt sind und solche, die die geschichtliche Entwicklung mit in den Blick nehmen und die von der Existenz vielfältiger gesellschaftlicher Konflikte ausgehen, wie das im progressiven Diskurs der Fall ist. Die erste Option ist präsentisch orientiert, die zweite sucht eine geschichtliche Perspektive zu gewinnen.

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Die Politik eines präsentischen Universalismus

1.

Die Politik eines präsentischen Universalismus

Offenkundig ist eine universalistische Einstellung in der Bevölkerung westlicher Staaten unter den Vorzeichen des hegemonialen Diskurses deutlich gewachsen. Hier hat der hegemoniale Diskurs wichtige Akzente gesetzt und einer universalistischen Orientierung den Weg gebahnt. In der deutschen Gesellschaft zum Beispiel kann man viele Anzeichen finden, die zeigen, dass Menschen zu solidarischen Handlungen gegenüber Menschen aus anderen Ländern bereit sind. Es gibt eine im Vergleich zu früheren Zeiten relativ hohe Bereitschaft zur Empathie auch für Menschen, die aus ganz anderen Kulturkreisen stammen. Dies hat sich etwa in der Aufnahme von geflüchteten Menschen in den letzten Jahren deutlich gezeigt. Solidarische Initiativen und Aktionen sind gegenüber früheren Zeiten wahrscheinlicher geworden, insbesondere dann, wenn das Leid von Menschen öffentlich ist. Es gibt auch eine deutlich größere Sensibilität gegenüber Verletzungen der Humanität. Jenseits parteipolitischer Aktivitäten haben sich in der Zivilgesellschaft seit einigen Jahrzehnten Nichtregierungsorganisationen etabliert, die an eine gewachsene Bereitschaft zu spontanem solidarischem Handeln anknüpfen können. In allen Initiativen geht es um die Not der Menschen und nicht um die Frage, woher ein Mensch kommt. Die Frage ist jedoch, wie angesichts der weltweiten Konflikte eine langfristige politische Strategie aussehen kann, die eine Weltgesellschaft zum Ziel hat. In der Analyse des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne gibt es zwei Größen, die den Universalismus befördern: Einerseits der Bezug auf das Individuum, das vom Grundsatz her alle Menschen gleichstellt, und andererseits die Gestalt der ausdifferenzierten funktionalen Systeme einer Gesellschaft, allen voran die Wirtschaft, für die die Herkunft und kulturelle Prägung der beteiligten Menschen nur wenig Bedeutung hat. Die Wirtschaft ist global orientiert und damit im Sinne des hegemonialen Diskurses kompatibel mit einer universalistischen Ausrichtung. 2 Da diese beiden Faktoren für die BeDas ist nur eine vorsichtige Tendenzaussage, denn wirtschaftliche Globalisierung und die universalistische Politik sind in keiner Weise identisch, sie können sich vollkommen widersprechen und entgegengesetzte Ziele verfolgen: Man muss nur an den globalen Menschenhandel denken. Der Globalisierung tut das prinzipiell keinen Abbruch, die universalistischen Ansprüche wären zerstört. Insofern ist der Gleichsetzung, die im hegemonialen Diskurs nahe liegt, immer auch mit Misstrauen zu begegnen.

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Eine universalistische Perspektive

schreibung der Gesellschaft im Mittelpunkt stehen, entsteht aus der Perspektive des Diskurses für die politische Umsetzung einer universalistischen Orientierung kein grundlegendes Problem. Universalistische Politik verbindet sich hier mit der Erwartung einer konfliktfreien Entwicklung, wenn denn eine genügende Offenheit der beteiligten Menschen für Veränderung, eine rationale Orientierung des Handelns und die richtige moralische Einstellung existiert. Die Vorstellung vom solidarischen Handeln als Kampagne, als Intervention, passt gut zu den Formen des spontanen Engagements, das gerade neuere politische Bewegungen durch Nichtregierungsorganisationen zum Ausdruck bringen. Vor dem Hintergrund des hegemonialen Diskurses wird universalistisches Handeln zu einer Frage der Moral, der Gesinnung von Individuen. Es konkretisiert sich als besondere Tat von Einzelnen, als heroisches Handeln, als etwas, das Mut und Aufgeschlossenheit erfordert. Die Fragen langfristig orientierter Konfliktbewältigung, von strategischer Ausrichtung aufgrund politischer Analysen und der Stärkung von internationalen Formen der Verbundenheit, geraten dabei in den Hintergrund. Universalistisches Handeln als politische Option für die ganze Welt, die von vielfältigen tiefgreifenden Konflikten geprägt ist, braucht aber mehr; es braucht eine längerfristige, strategische Veränderung gesellschaftlicher Strukturen. Das, was in der Analyse des hegemonialen Diskurses überhaupt nicht zur Geltung kommt, sind die Niederungen der sehr vielfältigen und verschiedenartigen regionalen und gesellschaftlichen Konflikte dieser Welt, auf die sich eine universalistische politische Strategie einlassen muss. Die Konflikte sind zumeist durch sehr lang anhaltende geschichtliche Transformationsprozesse bestimmt. Hier ist der hegemoniale Diskurs mit seinem Wahrnehmungshorizont kontraproduktiv, weil er Konflikte als regionale und zufällige Verwerfungen unterschätzt. Er neigt deshalb zu einem adhoc-Universalismus, der einen Kurzschluss zwischen Sollen und Sein vornimmt: Weil etwas sein soll, kann es auch so sein und gemacht werden. 3 Die meisten öffentlichen Äußerungen vermitteln den Eindruck, dass es hier und jetzt möglich sei, mit etwas gutem Willen, universalistische Werte auch in weltweitem Maßstab durchzusetzen. Dagegen stellt Garcia unter Berufung auf Chantal Mouffe fest: »Solange die Gesellschaft kein Ende gefunden hat, kann eine Versöhnung der kollektiven Subjektivität also nur falsch und heuchlerisch sein.« Garcia 2018: 274.

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Die Politik eines Universalismus in geschichtlicher Perspektive

2.

Die Politik eines Universalismus in geschichtlicher Perspektive

Dagegen muss es in einem politischen Prozess darum gehen, regionale Konflikte als geschichtliche Vorgegebenheit gesellschaftlicher politischer Verhältnisse zu verstehen. Nur unter deren Berücksichtigung kann auch die Grundlage für eine langfristige und nicht sporadische Orientierung am Wert des Universalismus in gesellschaftlichen Strukturen angelegt werden. Politisch wirksamer Universalismus zeigt sich gerade da, wo nicht auf eine herausragende moralische Verpflichtung Einzelner verwiesen wird, sondern wo bleibende Strukturveränderungen in Richtung auf eine universale Politik im Angesicht eines dichten Knäuels sehr unterschiedlicher Konflikte in dieser Welt möglich werden. Der bislang herausragende Beitrag zu einer solchen politischen Strategie ist die Gründung der Vereinten Nationen. Die Geschichte der Menschheit kann als eine Bewegung mit einer Ausrichtung auf immer umfassendere soziale Einheiten beschrieben werden. Doch das plötzliche Widererstarken nationaler Kräfte in den westlichen Demokratien ist ein Zeichen für ihre nach wie vor aktuelle Präsenz. In dem konflikthaltigen Prozess der Geschichte reicht eine Politik der unmittelbaren Anknüpfung an eine universalistische Orientierung nicht aus. Eine universalistische Politik wird eine geschichtliche Perspektive auf längerfristige gesellschaftliche Veränderungen entwickeln müssen. Wenn die Geschichte der Menschheit sich universalistisch ausrichtet, dann nur so, dass auch die regionalen und partikularen Geschichten und Traditionen in ihr – in dem mehrfachen Sinne, in dem Hegel das Wort gebraucht – »aufgehoben« sein werden. 4 Sie wird die Grenzen der Nationalstaaten überschreiten müssen, ohne deren Besonderheiten zu negieren. Gerade, wenn man die Fähigkeit zu ortsgebundenen Erzählungen als eine wichtige Voraussetzung für die Identitätsbildung wertet, können regionale Verortungen nicht zugunsten universaler Perspektiven übersprungen werden. Angesichts der neuen weltweiten Kommunikationstechnologien der digitalen Medien ist es plausibel, dass sich regionale Erzählungen in immer umfassendere überführen lassen, So betont Walzer in Bezug auf die Probleme, mit denen sich eine allgemeine Definition von Gerechtigkeit konfrontiert sieht: »Das größte Problem liegt ganz ohne Zweifel im Partikularismus, der Geschichte und der Zugehörigkeiten.« Walzer 1994: 29.

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Eine universalistische Perspektive

die die Orientierung an eine nationale Kleinstaaterei übersteigen. Doch welche Widerstände sich einem solchen Vorhaben entgegenstellen, kann man daran sehen, dass unter den gegebenen Bedingungen schon die Einheit der Europäischen Union immer wieder gefährdet ist, dass es sehr schwer fällt, auch in dieser begrenzten Region über die nationalen Traditionen hinaus eine gemeinsame zu gestalten, obwohl im Weltmaßstab die europäischen Länder eine recht hohe Homogenität aufweisen. Eine wichtige Errungenschaft der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg war der Aufbau und die Stärkung internationaler Organisationen, vor allem der Vereinten Nationen. Die UN und ihre Untergliederungen leisten nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Lösung von internationalen Konflikten und zu Hilfsmaßnahmen in Krisenund Katastrophenfällen. Sie können über diese konkreten Hilfen auch symbolisch wichtige Schritte unternehmen, um Verbesserungen im Sinne einer universalistischen Ethik zu erreichen, wie etwa in der Proklamation der Menschenrechte im Jahr 1948. Die vielfältigen schmerzhaften Erfahrungen der Vereinten Nationen zeigen aber, dass einer Verpflichtung gegenüber der Menschheit im Ganzen in der realen Politik enge Grenzen gesetzt sind, wenn man nicht auch in der Lage ist, auch partikulare Konflikte zu bearbeiten und zu verringern. 5 Die UN haben bis heute keine ausgebaute Exekutivmacht. Friedenssichernde Maßnahmen sind nur möglich, wenn die betroffenen Staaten und der Sicherheitsrat der Mission zustimmen. Damit hat sie auch so einige wichtige Erfolge erringen können, manche kriegerische Auseinandersetzungen konnte verhindert werden. Wo sich allerdings eine reine Machtpolitik mit militärischen Mitteln durchsetzt, sind die Möglichkeiten der Vereinten Nationen sehr begrenzt. Ein grundsätzliches Problem besteht in der Struktur des Sicherheitsrates. Denn die Mitgliedschaft in diesem Organ ist nicht symmetrisch, fünf Staaten haben durch ihre dauerhafte Mitgliedschaft und ihr Vetorecht eine hervorgehobene Position. Insbesondere die großen Mächte, Russland, China und die Vereinigten Staaten von Amerika haben in der Vergangenheit häufiger von dem Privileg Gebrauch gemacht.

Zum zehnjährigen Bestehen des Human Rights Council 2016 stellte der damalige UN Generalsekretär Ban Ki-moon in kurzen Worten fest: »As we all know too well, human rights are sadly under attack around the world.« https://www.un.org/sg/en/ content/sg/statement/2016-03-15/secretary-generals-remarks-panel-discussion-occa sion-tenth

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Die Politik eines Universalismus in geschichtlicher Perspektive

Die Vereinten Nationen fördern vielfältige zivilgesellschaftliche Initiativen, damit ihre Politik in den unterschiedlichen Regionen der Welt vermittelt werden kann und damit sie von dort Impulse empfangen. Die digitalen Medien bieten eine ideale Plattform für die Weiterentwicklung transnationaler zivilgesellschaftlicher Strukturen zu hybriden Netzwerken. Diese können auch Formen der Solidarität aufbauen, wenn es etwa darum geht, im Konflikt gegen ungerechte Strukturen vorzugehen oder die Gewaltpolitik bestimmter Staaten anzuprangern. Die zivilgesellschaftlichen Netzwerke müssen, um zu dauerhaften Formen der Verbundenheit werden zu können, eine geschichtliche Genese haben, eine Verankerung in bestimmten Orten und Zeiten und sie müssen geprägt sein durch identitätsstiftende Erzählungen, sowie gegebenenfalls durch prägende Konflikte. Diese Verankerungen dürfen sie auch bei einer supranationalen Ausweitung nicht verlieren. Auch in einem internationalen Umfeld werden hybride Netzwerke deshalb eine wichtige Rolle spielen. Diese Formen der Verbundenheit ermöglichen Kommunikationen und Handlungsoptionen, die nicht an Ländergrenzen halt machen und doch regional verankert sind. Die Entwicklung wird sich an einer Verbundenheit orientieren, die als existentielle Verbundenheit grundsätzlich universal ist und jederzeit so aktualisiert werden kann, dass sie alle gesellschaftlich existierenden Formen der Verbundenheit in Frage stellt und neue, umfassendere auf den Weg bringt. Jede Ausweitung ist ein Fortschritt, aber jeder Fortschritt wird noch viele Differenzen unbearbeitet lassen. Der Ausbau internationaler Strukturen wie den Vereinten Nationen mit einem robusten Mandat zur Beilegung regionaler Konflikte zusammen mit einer zunehmenden weltweiten Vernetzung zivilgesellschaftlicher Akteure über digitale Medien mag die Richtung der Entwicklung einer langfristig angelegten universalistischen Politik andeuten. Es muss künftig ein Weg jenseits des einfachen Appells an eine allgemeine weltumfassende Humanität und der einfachen Fixierung regionaler Unterschiede möglich sein. So kann es schließlich gelingen, einen Transformationsprozess zu einer ständig globaler werdenden Gesellschaft zu bewerkstelligen, ohne die lokalen und immer begrenzten Formen der Verbundenheit aus dem Blick zu verlieren.

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Autorenregister

Arendt, Hannah 112 Badiou, Alain 187 Bauman, Zygmunt 37, 60, 68–69, 155, 158, 161 Bayertz, Kurt 40, 73, 150 Beck, Ulrich 36, 62, 69 Becker, Lia 34, 38 Bloch, Ernst 45 Boltanski, Luc 58–59 Bonhoeffer, Dietrich 187, 190–192 Brakelmann, Günter 155–156, 167, 185 Breuer, Ingeborg 48 Brunkhorst, Hauke 35, 68 Bude, Heinz 105 Cardenal, Ernesto 187 Castells, Manuel 196 Castoriadis, Cornelius 24, 124–126, 128–129, 131–133, 136, 176–179, 181, 187, 198, 203 Collier, Paul 85, 122 Cottingham, John 96 Dalferth, Ingolf 84 Därmann, Iris 53 Descartes, René 48–49, 95–96 Elias, Norbert 36, 38, 49, 87, 89, 114 Etzioni, Amitai 166 Fraser, Nancy 61 Fuhse, Jan 198, 201, 203 Fukuyama, Francis 48, 56, 127

Garcia, Tristan 98, 106, 224 Giddens, Anthony 61–62 Goertz, Hans-Jürgen 186 Gramsci, Antonio 33–34 Grebing, Helga 144, 169, 171, 173 Habermas, Jürgen 32–33, 41, 179 Hauschildt, Eberhard 185, 193 Heitmeyer, Wilhelm 68 Hermelink, Jan 83 Hobbes, Thomas 52–53, 60, 154, 162 Honneth, Axel 16, 44, 54, 63, 89, 102, 114, 128, 130, 167–170, 177–181 Husserl, Edmund 29, 93, 97 Joas, Hans 92 Klein, Michael 157 Koppetsch, Cornelia 61, 87, 165, 214 Krummwiede, Hans-Walter 155 Laclau, Ernesto 15, 25, 29, 31, 136– 137, 177, 179 Liebsch, Burkhard 18, 106, 115, 117– 118, 120, 189 Lohse, Bernhard 220 Luhmann, Niklas 40, 42, 201 Marx, Karl 128, 148, 167, 171–180, 183, 220 Merleau-Ponty, Maurice 23, 90–91, 94–103, 110, 118–121, 127–128, 131, 133, 136, 171–172, 176–179, 182–183, 198 Mouffe, Chantal 15, 25, 29, 31, 62– 63, 89, 136–137, 139–140, 176–180, 182

235 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .

Autorenregister Mounk, Yascha 57, 70, 80 Müller, Jan-Werner 69 Nachtwey, Oliver 38–39, 57–60, 69, 75 Nancy, Jean-Luc 91, 101, 151, 188– 189, 193 Otto, Rudolf 107 Parsons, Talcott 40 Piketty, Thomas 72 Polanyi, Karl 143 Putnam, Robert D. 13, 21, 78–79, 87 Rapp, Friedrich 144 Rawls, John 52–54, 162, 166 Reckwitz, Andreas 16, 34, 36, 41, 43, 59–60, 69, 206–208, 210, 213– 214 Reichardt, Sven 55, 58–59 Ricœur, Paul 31, 91, 115, 120 Ropohl, Günter 129 Rosanvallon, Pierre 80–82 Schmitt, Marco 139–140, 164, 198, 201, 203

Schulz, Gerhard 49 Schulze, Gerhard 81 Sennett, Richard 37–38, 83, 114 Stalder, Felix 72, 206–210, 216 Stedman Jones, Gareth 173 Streeck, Wolfgang 42, 57 Taylor, Charles 30, 47–52, 89 Tilly, Richard H. 144 Todd, Emanuel 163–164 Tönnies, Ferdinand 157–159, 161 Vogelsang, Frank 33, 91, 100, 110, 144 Waldenfels, Bernhard 24, 90–91, 103–105, 107, 114, 116–117, 126, 134 Walzer, Michael 166, 225 Weiß, Volker 164 Welsch, Wolfgang 127 White, Harrison C. 27, 196–205, 209, 211, 217 Wiebicke, Jürgen 219 Wieland, Josef 85 Willke, Helmut 41

236 https://doi.org/10.5771/9783495821831 .