Selbstbelastungsfreiheiten: Der nemo-tenetur-Satz im materiellen Strafrecht [1 ed.] 9783428520398, 9783428120390

Für das Strafrecht der westlichen Moderne steht fest: "Nemo tenetur se ipsum accusare". Auch das deutsche Stra

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Selbstbelastungsfreiheiten: Der nemo-tenetur-Satz im materiellen Strafrecht [1 ed.]
 9783428520398, 9783428120390

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 176

Selbstbelastungsfreiheiten Der nemo-tenetur-Satz im materiellen Strafrecht

Von

Ralf Kölbel

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

RALF KÖLBEL

Selbstbelastungsfreiheiten

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg

Herausgegeben von Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 176

Selbstbelastungsfreiheiten Der nemo-tenetur-Satz im materiellen Strafrecht

Von

Ralf Kölbel

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

In die Reihe aufgenommen als Habilitationsschrift Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena hat diese Arbeit im Jahre 2005 als Habilitation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-12039-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2005 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Habilitationsschrift angenommen. Für die Veröffentlichung habe ich den Text geringfügig verändert. Dabei konnte auch die zwischenzeitlich publizierte Rechtsprechung und Literatur, soweit sie mir bis zum November 2005 zugänglich wurde, Berücksichtigung finden. Zu dieser Untersuchung haben einige Personen einen jeweils eigenen Anteil beigesteuert. Prof. Dr. Dr. G. Jerouschek ließ mir an seinem Lehrstuhl volle persönliche und wissenschaftliche Freiheit. Bei Prof. Dr. G. Kräupl stieß meine Arbeit seit jeher auf ein ermutigendes Interesse. Ohne Prof. Dr. M. Morlok hätte mein Berufsleben eine ganz andere Wendung genommen. Schließlich war Dr. G. Seher zur kritischen Durchsicht einer der letzten Textfassungen bereit. Für all dies sei ihnen hiermit mein herzlicher Dank abgestattet. Besonders wichtig war in all den Jahren meine Familie. Meine liebe Anke und meine beiden Jungs, Ole und Arne, sind mir die hilfreichsten und teuersten Weggefährten. Ihnen ist das Buch gewidmet.

Jena, im Dezember 2005

Ralf Kölbel

Inhaltsverzeichnis Einleitung ...................................................................................................................... 17

Teil 1 Bestandsaufnahme

21

1. Kapitel Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

21

I.

Vorbemerkung: Zugang zu einer unübersichtlichen Diskussion ............................ 21

II.

Elemente des Schweigerechts in der Vernehmung ................................................. 23 1. Gewährleistete Schweigethemen .................................................................... 23 2. Recht auf Lüge?.............................................................................................. 25 3. Die Zeitdimension ......................................................................................... 27 4. Das Zwangsmittelverbot................................................................................. 29 a) Beweismethodenverbote: § 136a StPO................................................... 29 b) Keine Benachteiligung des schweigenden Beschuldigten ...................... 31 aa) Strafzumessungsentscheidung ........................................................ 31 bb) Kostenentscheidung........................................................................ 35 cc) Beweiswürdigung ........................................................................... 36 5. Schutz der Aussagefreiheit durch Verfahrensrechte ....................................... 39

III. Mitwirkungsfreiheit im Ermittlungsverfahren ........................................................ 43 1. Handlungs- und Duldungspflichten ................................................................ 44 2. Heimliche Ermittlungen und der Schutz vor Täuschung ................................ 50 a) Die Hörfallen-Debatte ............................................................................ 50 b) Sonstige Formen der verdeckten Ermittlung........................................... 54 IV. Selbstbelastungsfreiheit außerhalb der Beschuldigtenrolle..................................... 57 1. Die strafprozessuale Indienstnahme des Dritten ............................................. 57 a) Das Schweigerecht des Zeugen .............................................................. 57 b) Schweigerecht bei ungeklärter Prozessrolle............................................ 62 c) Strafprozessuale Inanspruchnahme Unverdächtiger ............................... 67

8

Inhaltsverzeichnis 2.

V.

Selbstbelastungsschutz im außerstrafprozessualen Kontext ........................... 69 a) Auskunftspflichten.................................................................................. 69 b) Mitwirkungslasten .................................................................................. 72 c) Dokumentations- und Vorlagepflichten.................................................. 74 d) Insbesondere: Besteuerungsverfahren..................................................... 76

Strukturerweiterungen ............................................................................................ 80 1. Drohende nichtstrafrechtliche Sanktion.......................................................... 80 2. Angehörigenschutz durch nemo tenetur?........................................................ 81 3. Adressaten des nemo-tenetur-Satzes............................................................... 82

VI. Insonderheit: Straftatbestandliche Selbstbelastung................................................. 84 1. Selbstanzeigepflichten .................................................................................... 85 2. Selbstbegünstigungsprivilegien ...................................................................... 87 3. Straftatbestandliche Selbstbelastungspflichten ............................................... 89 VII. Fazit: Rekonstruktion des vorherrschenden nemo-tenetur-Konzeptes .................... 92 1. Gehalt der Selbstbelastungsfreiheit ................................................................ 93 2. Normstruktur der Selbstbelastungsfreiheit...................................................... 98 3. Am Rande: Zum Vokabular.......................................................................... 100

2. Kapitel Das Untersuchungsprogramm

102

I.

Über die Stoßrichtung des anschließenden Vorgehens......................................... 102

II.

Beispiele einer methodisch fragwürdigen Praxis.................................................. 103

III. Fazit: Die erforderlichen Arbeitsschritte .............................................................. 105

Teil 2 Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

109

3. Kapitel Das Rechtsgewinnungsverfahren I.

109

Abriss zur Strukturierenden Rechtslehre .............................................................. 110 1. Das Normkonkretisierungsmodell (Ablauf der Normkonstruktion) ............. 110 2. Fachexterne Bestätigung der theoretischen Grundannahmen ....................... 114 3. Besonderheiten wissenschaftlich-dogmatischer Normkonkretisierung......... 118

Inhaltsverzeichnis a) b) c) II.

9

Vorüberlegungen .................................................................................. 118 Sozialwissenschaft in der derzeitigen Straf- und Strafprozessrechtsdogmatik .................................................................. 119 Wissenschaftlich-dogmatische Arbeitsweise aus Sicht der Strukturierenden Rechtslehre................................................................ 122

Methoden der straf- und strafprozessrechtswissenschaftlichen Dogmatik............ 125 1. Grundlagen ................................................................................................... 125 2. Analyse straf- und strafprozessrechtlicher Normprogramme ....................... 127 a) Normtextbezogene Konkretisierungselemente ..................................... 127 b) Insbesondere: Das teleologische Argument .......................................... 129 aa) Strafrechtsgut................................................................................ 130 bb) Strafprozessuale Regelungszwecke .............................................. 133 c) Nichtnormtextbezogene Konkretisierungselemente ............................. 134 d) Wortlautgrenze ..................................................................................... 136 3. Analyse straf- und strafprozessrechtlicher Normbereiche ............................ 139

III. Konsequenzen für die rechtswissenschaftliche Arbeit an nemo tenetur ............... 140

4. Kapitel Systematische Rahmenstruktur von nemo tenetur

142

I.

Vielstimmigkeit der nemo-tenetur-Rechtsquellen ................................................ 142

II.

Selbstbelastungsfreiheit im hierarchischen Teil des Normnetzwerks ................... 145 1. Das Verhältnis von Grundrechten und Gesetz .............................................. 145 a) Nachrang und Grundrechtsorientierung einfachen Rechts.................... 145 b) Grundrechtsausgestaltung durch einfaches Recht................................. 147 2. Nemo tenetur zwischen Grundrecht und Gesetz ........................................... 150 a) Grundrechtsprägung ............................................................................. 150 b) Gesetzesprägung................................................................................... 153

III. Selbstbelastungsfreiheit im horizontalen Teil des Normnetzwerks ...................... 154 1. Einheit der Rechtsordnung als nutzlose Fiktion ........................................... 155 2. Die fragmentwahrende Strafrechtsauslegung ............................................... 156 a) Wechselwirkungen von Straf- und Strafverfahrensrecht ...................... 157 b) Kollision von impliziten und expliziten Verhaltensnormen.................. 159 c) Strafrecht und fragmentwahrende Auslegung....................................... 162 IV. Fazit...................................................................................................................... 165

10

Inhaltsverzeichnis Teil 3 Grundfragen des nemo-tenetur-Satzes

167

5. Kapitel Sachbezug der Selbstbelastungsfreiheit

167

I.

Das Beschuldigtengeheimnis und sein rechtlicher Schutz.................................... 167 1. Geheimnisorientierung als soziales Handlungsmuster.................................. 169 a) Soziale Relevanz des Geheimnisses ..................................................... 169 b) Geheimnisinhalte .................................................................................. 172 2. Geständnisorientierung als soziales Handlungsmuster ................................. 174 a) Die Ausbreitung des Geständnisses ...................................................... 174 b) Kultureller Nachrang des Geständnisses............................................... 177 3. Geheimhaltung im Strafrechtssystem ........................................................... 179 a) Die „Rezeption“ des Geheimnismusters durch das Recht..................... 179 b) Geheimnis und Geständnis in der Prozesswelt ..................................... 180 aa) Verteidigung und Geheimhaltung................................................. 181 bb) Geständnis als Handlungsziel ....................................................... 183 cc) Die kommunikative Produktion des Geständnisses ...................... 184 dd) Geständnis per Interaktionsdeutung.............................................. 187 ee) Exkurs: Verdecktes Enthüllen....................................................... 189 4. Zwischenbilanz............................................................................................. 191

II.

Notwendigkeit des Geheimnisschutzes?............................................................... 192 1. Nemo tenetur und individuelle Belange ........................................................... 192 a) Ein nüchterner Vorschlag ..................................................................... 192 b) Der grundsätzliche Einwand ................................................................. 194 2. Legitimation des Verfahrens......................................................................... 197 3. Akkusatorische Beweisstruktur .................................................................... 202 4. Kompensatorische Prozessrollengestaltung.................................................. 205 5. Schlussbemerkung: Begrenzte Rationalität der Freiheitsrechte .................... 211

6. Kapitel Geschichte des nemo-tenetur-Satzes I.

214

Die Phase des Selbstbezichtigungszwangs ........................................................... 214 1. Das mittelalterliche Anklageverfahren ......................................................... 214 2. Das frühe Inquisitionsverfahren.................................................................... 217

Inhaltsverzeichnis 3. 4. 5. II.

11

Die Carolina (CCC)...................................................................................... 220 Fortschreibung des Inquisitionsverfahrens ................................................... 226 Zwischenergebnis ......................................................................................... 231

Die Genese positivierter Mitwirkungsfreiheiten................................................... 232 1. Auflösung alter Prozessstrukturen ................................................................ 233 2. Die Grundlage für den Wegfall des Aussagezwangs .................................... 235 3. Der Reformdiskurs zur Mitwirkungsfreiheit................................................. 238 4. Die reichseinheitliche Einführung der Geständnisfreiheit ............................ 246 5. Die Selbstbelastungsfreiheit unter dem Reichsstrafprozessrecht .................. 248 6. Weimarer Zeit und Nationalsozialismus....................................................... 253 7. Strafprozessgesetzgebung nach 1945 ........................................................... 257 8. Rechtsdogmatischer Ertrag........................................................................... 259

7. Kapitel Verfassungsrechtliches Fundament

262

I.

Rechtsgrundlagenbestimmung: „Vorverständnis und Methodenwahl“ ................ 262 1. Kritik des herkömmlichen Vorgehens .......................................................... 262 a) Die Suche nach einem Geltungs-Alibi.................................................. 262 b) Die Mängel der „Steckbriefmethode“................................................... 265 2. Transparente Hermeneutik............................................................................ 269

II.

Verfassungsrechtliche Strafvereitelungsfreiheiten ............................................... 273 1. Die Devise vom „weiten“ Grundrechtstatbestand......................................... 273 2. Einzelgrundrechtliche Strafvereitelungsfreiheiten........................................ 275 a) Die allgemeinen Abwehrrechte............................................................. 275 aa) Schutz vor staatlicher Ermittlung.................................................. 275 bb) Insonderheit: Persönlichkeitsrechte .............................................. 277 cc) Abwehrrechte aus der Menschenwürde? ...................................... 284 b) Schutzeffekt von Handlungsrechten ..................................................... 287 aa) Allgemeine Handlungsfreiheit ...................................................... 287 bb) Meinungsäußerungsfreiheit........................................................... 288 cc) Gewissensausübungsfreiheit ......................................................... 290 c) Spezifische prozessuale Verbürgungen ................................................ 293 aa) Verfahrensgrundrechte.................................................................. 293 bb) Fairnessprinzip.............................................................................. 298 cc) Unschuldsvermutung .................................................................... 301 3. Fazit.............................................................................................................. 304

12

Inhaltsverzeichnis 8. Kapitel Nemo tenetur als Grundrechtsausschnitt

306

I.

Der zu nemo tenetur gehörende Grundrechtskomplex.......................................... 306 1. Stellenwert der nemo-tenetur-Formel ........................................................... 306 2. Auswahl des zu nemo tenetur gehörenden Grundrechtskomplexes .............. 308 a) Merkmale des Schutzgegenstands ........................................................ 308 b) Die Rechtsgrundlagen-Familie ............................................................. 312

II.

Gewährleistungsstrukturen ................................................................................... 313 1. Produktionskontext....................................................................................... 314 2. Personelle Gewährleistungen........................................................................ 315 3. Eingriffsresistenz .......................................................................................... 317

Teil 4 Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

321

9. Kapitel Strafrechtliche Einwirkung auf nemo tenetur

321

I.

Unterschiede strafgesetzlicher Grundrechtsrelevanz ............................................ 321

II.

Strafgesetzliche Eingriffe in nemo-tenetur-Grundrechte ...................................... 323 1. Tatbestandsimplizite Verhaltensnormen....................................................... 323 a) Eingriff durch finale Selbstbelastungspflichten .................................... 323 b) Eingriff durch finales Verbot aktiver Verheimlichung ......................... 327 c) Geheimhaltungserschwernis als mittelbarer Eingriff ............................ 332 aa) Nicht-imperative Geheimhaltungshindernisse .............................. 332 bb) Eingriffswert nicht-imperativer Erschwernisse............................. 334 2. Sanktionsnormen .......................................................................................... 338 3. Nemo-tenetur-Eingriff durch Sanktionsakte................................................. 340 a) Strafschärfung wegen Nachtatverhaltens.............................................. 340 b) Eingriff durch materiell-strafrechtliche Angebote? .............................. 342 aa) Das dogmatische Problem............................................................. 342 bb) Die unproblematischen Angebotsfälle .......................................... 345 cc) Die eingriffswertigen Angebotsfälle ............................................. 348

III. Fortbildung der nemo-tenetur-Grundrechte durch Eingriffsverzicht .................... 351 1. Straftatbestandliche Privilegierungen ........................................................... 353

Inhaltsverzeichnis 2. 3.

13

Unvollkommene Privilegierungen ................................................................ 355 Klarstellend: Rest-Eingriffe durch Privilegierungsgrenzen .......................... 356

IV. Strafrechtsschutz der nemo-tenetur-Grundrechte ................................................. 359 V.

Fazit...................................................................................................................... 361

10. Kapitel Verfassungsmäßigkeit des nemo-tenetur-Strafrechts

364

I.

Verfassungsmäßigkeit des Verhaltensregimes...................................................... 364 1. Ziele strafrechtlicher Verhaltensnormen....................................................... 365 2. Eignung strafrechtlicher Verhaltensnormen ................................................. 371 3. Erforderlichkeit strafrechtlicher Verhaltensnormen...................................... 372 a) Zweckverfolgung durch nicht-imperative Alternativen ........................ 373 b) Zweckverfolgung durch alternative Strafnormen ................................. 374 c) Zweckverfolgung durch anderweitige Strafnormen.............................. 375 4. Angemessenheit der strafrechtlichen Verhaltensnormen .............................. 377 a) Praktische Konkordanz......................................................................... 377 b) Verfügbare Abwägungsposten.............................................................. 382 aa) Bemakelung des Geheimhaltungsinteresses?................................ 382 bb) Aufwertung der kollidierenden Güter? ......................................... 384 cc) Selbstbelastungszwang zur Strafverfolgung?................................ 388

II.

Verfassungsmäßigkeit des Sanktionsregimes ....................................................... 393 1. Strafbewehrung und Strafprivilegien............................................................ 393 2. Strafschärfungsfälle ...................................................................................... 397

III. Nemo-tenetur-schützendes Strafrecht................................................................... 398 IV. Fazit...................................................................................................................... 399

11. Kapitel Prozessrechtsbindungen des nemo-tenetur-Strafrechts

401

I.

Zur Erinnerung: Das Verfahren der fragmentwahrenden Auslegung ................... 401

II.

Fragmentwahrende Auslegung des Selbstbelastungs-Strafrechts ......................... 402 1. Prozessverhalten des Angeklagten................................................................ 402 a) Drittbeeinträchtigende Verfahrenseinlassung ....................................... 402 b) Beweislagentrübung mittels Beweisantrags.......................................... 404

14

Inhaltsverzeichnis

2.

3.

aa) Problemstruktur ............................................................................ 404 bb) Reichweite des Beweisantragsrechts ............................................ 407 cc) Einwände ...................................................................................... 409 dd) Präzisierungen .............................................................................. 410 c) Strafbarkeit und Non-Aktivität ............................................................. 413 aa) Schweigen als Unterlassensbeihilfe? ............................................ 413 bb) Aktivbeihilfe durch schweigeadäquates Verhalten? ..................... 415 cc) Prozessrechtliche Schweigeerlaubnis ........................................... 418 Prozessuale Aktionsformen des Verteidigers ............................................... 420 a) Strafvereitelung per Anwaltsratschlag? ................................................ 422 b) Strafbarkeit der Informationsweitergabe?............................................. 425 Geheimniswahrung in der Zeugenrolle......................................................... 427 a) Zeugenstatus trotz Beteiligungsverdachts? ........................................... 428 b) Verfahrensfehler und Falschaussage..................................................... 433 aa) Prozesspflicht zum wahren Zeugnis ............................................. 433 bb) Beispiel: Falschaussage nach Belehrungsdefizit........................... 436

III. Fazit...................................................................................................................... 439

12. Kapitel Praktische Konkordanz im Selbstbelastungs-Strafrecht

440

I.

Vorauswahl der Konkordanzmodelle ................................................................... 441 1. Lösungen im Produktionskontext ................................................................. 443 a) Suspendierung der strafrechtlichen Verhaltensnorm ............................ 443 b) Sekundärrechtliche Konzession ............................................................ 445 c) Insbesondere: Der Zumutbarkeitsvorbehalt .......................................... 447 d) Konfliktmindernde Tatbestandsauslegung............................................ 451 2. Lösungen im Verwendungskontext .............................................................. 452 a) Entschärfung des Wissens .................................................................... 452 aa) Durch nachtatliche Normtreue konditionierter Sanktionsverzicht.......................................................................... 452 bb) Durch nachtatliche Normtreue konditionierte Sanktionsmilderung ...................................................................... 456 b) Schranken der Wissensverwendung ..................................................... 458

II.

Rechtsmethodische Zulässigkeit der Konkordanzmodelle ................................... 460 1. Begründung des Beweisverwertungsverbots ................................................ 461 a) Die konstitutionelle Rechtsgrundlage ................................................... 461 b) Zur Ausgestaltung des Verwertungsverbots ......................................... 465

Inhaltsverzeichnis

2. 3.

15

c) Ausnahmen vom Verwertungsverbot durch einfaches Recht?.............. 468 Begründung des Strafmilderungsmodells ..................................................... 470 Verhältnis von beweis- und strafzumessungsrechtlicher Lösung ................. 473

III. Das Programm der konfliktmindernden Tatbestandsauslegung............................ 474 1. Tatbestandslosigkeit bagatellschädigender Geheimhaltung.......................... 475 2. Vorbehalte? .................................................................................................. 478 3. Beispieltatbestände ....................................................................................... 479 a) § 142 I – III StGB ................................................................................. 479 b) § 153 StGB ........................................................................................... 482 4. Vorrang der materiell-strafrechtlichen vor der prozessualen Lösung ........... 485 5. Exemplarische Konsequenzen ...................................................................... 487 IV. Fazit...................................................................................................................... 489

Gesamtbilanz .............................................................................................................. 491

Literaturverzeichnis................................................................................................... 495 Sachregister ................................................................................................................ 575

Hinweis: Der Text folgt den Regeln der reformierten Rechtschreibung. Mit Ausnahme älterer historischer Quellen werden auch die Zitate in dieser Schreibweise wiedergegeben. Die verwendeten Abkürzungen halten sich im Rahmen des Üblichen. Sie erschließen sich aus dem Zusammenhang und dem Literaturverzeichnis. Im Übrigen wird auf das „Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache“ von H. Kirchner und C. Butz (Berlin 2003) verwiesen.

Einleitung Der Vorwurfsadressat fungiert im Strafverfahren unhintergehbar als Zentralgestalt. Dabei kann seine Rolle subjekthaft beschaffen sein, aber auch einem Gegenstand gleichen, an dem sich Amtsträger abarbeiten. Dies hängt nicht zuletzt davon ab, ob er die sachlichen und rechtlichen Schichten der Entscheidungsfindung zu beeinflussen vermag. Soll ihm eine solche Prozessmacht zukommen, setzt dies seine Herrschaft über das eigene Wissen voraus. Nur derjenige, der über Freigabe oder Zurückhaltung seiner prozessrelevanten Kenntnisse selbst befindet, kann dem Verfahrensausgang seinen Stempel aufdrücken. Dafür bedarf es jener Rechtspositionen, die in der ehrwürdigen Formel „nemo tenetur se ipsum accusare“ (bzw. „prodere“) anklingen und die sicherstellen, dass niemand als ein mitteilsames Beweismittel behandelt wird, das die eigene Verurteilung unfreiwillig fördert. Wenn sich eine Verfahrensordnung entschließt, über einen Verdächtigen nicht nur Gericht halten zu wollen, sondern ihn als einen Prozessteilnehmer zu instituieren, und zwar als einen freien Akteur mit elementarem Eigeninteresse am Prozessausgang, dann dokumentiert sich dieser Subjektstatus also auch in der Selbstbelastungsfreiheit1. Ein solches Verfahren muss etliche Vorkehrungen treffen und den Beschuldigten zunächst einmal mit dem juristischen Werkzeug versorgen, mit dem sich das Wissen in der polizeilichen und justiziellen Interaktion kontrollieren lässt. Mit prozessinternen Rechten kann es dann aber noch nicht sein Bewenden haben. Die Stellung, die der Beschuldigte im Rechtsgang innehat, würde nämlich durch das Prozessumfeld erheblich beeinflusst, falls die Rechtsordnung außerhalb des eigentlichen Verfahrensreglements auf eine Wissenspreisgabe hinwirken und der Strafprozess sich diese außenerzeugten Daten einverleiben könnte. Durch derartige Gefahren sieht sich die Selbstbezichtigungsfreiheit folglich gleichermaßen herausgefordert. Unter solchen Vorzeichen muss das materielle Strafrecht gelesen werden. Es ist mit dem nemo-tenetur-Satz überall dort abzustimmen, wo Strafnormen die inner-, aber auch außerprozessuale Geheimhaltung prozessrelevanten Wissens

1 Vgl. BGHSt 42, 139, 152; Bauer 1972, 61; Welp 1974, 58; Rogall 1977, 17; Rüping, ZStW 91 (1979), 351, 352; Eser 1990, 151; Ransiek 1990, 47 ff. H. Schneider 1991, 28 f.; Kahlo, KritV 1997, 183, 205.

18

Einleitung

erschweren. Freilich hat die Strafrechtswissenschaft dazu bislang nur sporadisch etwas zu sagen gewusst – obwohl doch die Koordination von nemo tenetur und materiellem Strafrecht für beide Seiten überaus folgenreich ist. Deshalb verdient dieses Problemfeld das Augenmerk der anschließenden Untersuchung. Ein sofortiger direkter Zugang bleibt ihr allerdings verwehrt. Denn: Wie und wie weit das Strafgesetz den effektiven Raum an Selbstbelastungsfreiheit mitgestaltet, hängt ab vom Gehalt und der normativen Beschaffenheit des „allgemeinen“ nemo-tenetur-Satzes – und hierzu lässt sich wiederum nichts sagen, ohne zuvor die vorhandenen Konzeptionen gründlich sondiert zu haben. Die folgende Arbeit ist mithin gezwungen, etwas weiter auszuholen und sich ihrem Gegenstand in mehreren Schritten zu nähern. Sie setzt mit einer umfassenden Bestandsaufnahme ein, die das derzeitige Verständnis der „gesamten“ Selbstbezichtigungsfreiheit und nicht nur ihrer strafrechtlichen Aspekte rekonstruiert. Mit der einfachen Wiedergabe abstrakter Definitionen, die nemo tenetur fallgelöst umschreiben und auf eine allgemeine Bedeutung festlegen wollen, wäre dies indessen kaum getan. Viel anschaulicher und treffender drückt sich die heutige Sicht auf den nemo-tenetur-Satz in seinen Einsatzgebieten und praktischen Schutzwirkungen aus. Daher wird gerade diese „konkrete Normativität“ möglichst erschöpfend zusammengetragen. Allerdings wirft auch der so erreichte Überblick mehr Fragen auf, als er Antworten gibt. Er fördert keine einheitliche Vorstellung von nemo tenetur zutage, sondern einen Diskussionsstand voll strittiger Fragen, versteckter Unklarheiten und diffuser Positionen, die man in diesem Maße nicht erwarten konnte. So gesehen muss es als voreilig erscheinen, dass man bereits eine „Übereinstimmung in den zentralen Fragen“ proklamierte und die Debatte abschließen wollte, da „die Grundprobleme der Selbstbelastungsfreiheit im Wesentlichen geklärt“ seien2. In Wahrheit dienen die „klassischen“ systematischen Studien zum nemotenetur-Satz, die zunächst für eine gewisse Übersichtlichkeit gesorgt hatten, heute oftmals nur noch als Reibungsfläche. Dass dadurch vieles wieder in Zweifel gezogen ist, muss man aber ganz sicher nicht bedauern. Die alten Gewissheiten konnten schließlich nur deshalb zerschrieben werden, weil ihr Fundament allzu instabil war3.

2 So Rogall, StV 1996, 68. Eher zutreffend Torka 2000, 300: „Die Konturen des nemo-teneturGrundsatzes sind in Bewegung geraten.“ 3

Gleichwohl ringt einem das neuere Schrifttum ob seiner schieren Masse ein Aufstöhnen ab. Dass die Publikationsflut nicht abreißt, dürfte indes am Gegenstand liegen: an der Sensibilität der Selbstbelastungsfreiheit und ihrer fragmentarischen Rechtspositivität. So wird der Beschuldigte als zentrale Prozessfigur in einem inquisitorisch beschaffenen Strafverfahrenssystem beinahe zwangsläufig durch die verschiedensten Maßnahmen in Anspruch genommen. Deshalb ist man mit Regelmäßigkeit gehalten, sich zu nemo tenetur zu äußern und den Konflikt mit dem jeweiligen staat-

Einleitung

19

So schließt sich denn auch jene nemo-tenetur-Lesart, welche hier vorgeschlagen wird, nicht einfach einer traditionsreichen Auffassung an. Sie weist vielmehr gewisse Eigenheiten auf, die allesamt aus einem Arbeitsprogramm erwachsen, das sich aus dem Bemühen um eine strenge Methodentreue speist. Sicherlich ist auch dem Strafrecht jene Arbeitsweise nicht fremd, „die ihre Methoden von Fall zu Fall anbringt und weglässt: je nachdem, worum es geht, um wen und gegen wen und zu welchem zweckdefinierten Ende“4. Da aber eine kontrollierbare, gleichmäßige Rechtsverwirklichung auf diesem Weg ganz gewiss nicht zu haben ist, suchen die folgenden Überlegungen möglichst Schritt zu halten mit den Standards einer modernen (im Strafrecht gleichwohl kaum rezipierten) juristischen Methodenlehre (vorgestellt in Kap. 3). Auf dem Boden dieser Methodik ist ein gestaffeltes Vorgehen bei der Konkretisierung der „allgemeinen“ Selbstbezichtigungsfreiheit unvermeidbar. Teil III widmet sich deshalb zunächst den erforderlichen Vorarbeiten und bemüht sich darum, die soziologischen und historischen Hintergründe zu analysieren und gemäß ihrem methodologischen Stellenwert für die nemo-tenetur-Deutung aufzubereiten. Zudem kommt es zu einer verfassungsrechtlichen Grundlegung des nemo-tenetur-Satzes, die von den konstitutionellen Normtexten ausgehend die materiellen Freiheiten bestimmt (statt ihnen umgekehrt einen vorab schon festgelegten Rechtsgehalt unterzuschieben). Der Bestand an Selbstbelastungsfreiheit konstituiert sich hernach zum einen durch ein mehrschichtiges Gefüge aus verschiedenen Grundrechten und zum anderen aus den Eingriffen und sonstigen Ausgestaltungsleistungen des gegenständlichen einfachen Gesetzesrechts. Mit eben diesem Wirkfeld ist die „allgemeine“ Gestalt der Selbstüberführungsfreiheit gefunden. Sie wird schließlich – das zentrale Erkenntnisinteresse endlich erreichend – im IV. Teil in ihrem kriminalrechtlichen Segment näher entfaltet. Breiten Raum nehmen dabei jene Freiheitseingriffe ein, mit denen das Selbstbelastungs-Strafrecht aufwartet. Bei einer eingehenden Analyse zeigt sich, dass es Anlass, aber auch dogmatische Möglichkeiten gibt, diese strafrechtlichen nemo-tenetur-Beschränkungen ihrerseits zurückzuschneiden. Wenn sich bei solchen Arbeiten das effektive Maß an Selbstbezichtigungsfreiheit am Ende etwas deutlicher abzeichnet, hat die Untersuchung ihr Ziel erreicht.

lichen Handlungsinteresse aufzulösen. Meist ist es dann aber auch nicht mit einer kurzen Stellungnahme getan, weil man es bei nemo tenetur mit einer komplizierten Gesetzeslage zu tun hat, in der es an einschlägigen und klaren Rechtsgrundlagen vielfach mangelt. Es bedarf daher keiner prophetischen Gabe, um eine Fortsetzung der Diskussion vorauszusagen. 4

Müller 1989, 160.

Teil 1

Bestandsaufnahme 1. Kapitel

Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes I. Vorbemerkung: Zugang zu einer unübersichtlichen Diskussion Wer nach der landläufigen Interpretation des nemo-tenetur-Satzes fragt, wird daraufhin die Auskunft erhalten, dass diese Rechtsposition den Bürger davor schütze, ungewollt zum Beweismittel gegen sich selbst gemacht zu werden. Es zähle sogar zu den Grundsätzlichkeiten des Strafverfahrens, dass niemand die eigene Verurteilung fördern müsse1. Hinter der nemo-tenetur-Formel steht allerdings weder ein fertiger Rechtsatz noch eine geschlossene Dogmatik. Deshalb muss man bei genauerem Hinschauen denn auch feststellen, dass die konkreten Freiheitswirkungen der Selbstbelastungsfreiheit bis heute in Bewegung sind. Dabei kam die Auslegungsgeschichte von nemo tenetur zunächst einer fortschreitenden Ausdehnung gleich. War durch die Selbstbelastungsfreiheit ursprünglich nur die strafprozessuale Aussagefreiheit geschützt, nahm man bald auch die nonverbale Aufklärungshilfe in ihren Gewährleistungsbereich auf. Außerstrafprozessuale Selbstbezichtigungslagen gingen darin später ebenfalls ein. Als aber endlich gar die Einbeziehung der durch Täuschung veranlassten Beschuldigtenmitwirkung erwogen wurde, kam Widerspruch auf. Die gleiche Ablehnung traf den Vorschlag, nemo tenetur auf den Zwang zum selbstbelastenden Untätig-Sein zu erstrecken. Überhaupt hat es derzeit den Anschein, als sei die prosperierende Phase für nemo tenetur vorbei. Es formiert sich eine gewichtige Gegenbewegung, die es für verhängnisvoll hält, wenn die Selbstbezichtigungsfreiheit jene Eindeutigkeit verliert, die ihr die Assoziation mit dem Schweigerecht ehedem verliehen hatte. Freiheitsgrenzen würden zerfasern, solle der nemo-tenetur-Satz jeglicher In-

1 Der nemo-tenetur-Satz gehört nach Paeffgen „zu den geheiligsten Rechten des Angeklagten“. Er sei „im Kern gemeineuropäisches Gedankengut“ (SK-StPO, Art. 6 EMRK/80).

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Teil 1: Bestandsaufnahme

strumentalisierung des Beschuldigten zuvorkommen. Zwar möge deren Ubiquität ein Bedürfnis erzeugen, hiergegen gesetzte Rechtssätze weit zu interpretieren, doch drohe damit deren Kontur- und Wirkungslosigkeit. Nemo tenetur sei deshalb wieder enger zu fassen. Genährt werden all diese Dispute durch den dichten Nebel, der die Rechtsgrundlagen der Selbstüberführungsfreiheit noch immer verhüllt. Genau genommen liegt gerade darin ihr Ursprung. Allgemein geteilt wird nämlich lediglich die Annahme, dass strafprozessuale Vorschriften (§§ 55, 115 III, 136 I, 163a III, IV, 243 IV StPO) den nemo-tenetur-Satz voraussetzen und dass dieser eher noch durch Art 14 III Buchst. g IPbR, Art 6 I EMRK positiviert werde. Man hat sich auch darauf verständigt, dass die Selbstbelastungsfreiheit über einen verfassungsrechtlichen Status verfüge. Die konkrete dogmatische Zuordnung zur zuständigen Grundgesetznorm ist indes heillos umstritten2. Solange aber darin keine Übereinstimmung herrscht, bleibt die konstitutionelle Basis vage, was die Inhaltsklärung ungemein erschwert3. Dies alles ist hier vorerst nicht weiter zu vertiefen, gilt es doch erst einmal nur, auf die Schwierigkeiten einzustimmen, vor denen die Rekonstruktion der momentanen nemo-tenetur-Interpretation steht. Der Hoffnung, ein klares, einheitliches und umfassendes Konzept vorzufinden, braucht man sich dabei gar nicht erst hinzugeben. Nicht einmal eine derzeit eindeutig dominierende Version, mit der sich die vorliegende Untersuchung vorrangig auseinandersetzen könnte, ragt aus den Diskussionen sichtlich hervor (zumal sich aus einem komplexen und dynamischen Streitgespräch ohnehin kaum die bestimmende, einflussreichste oder „herrschende“ Meinung herausbrechen lässt). Worin die „geltende Selbstbelastungsfreiheit“ besteht, lassen allein die praktisch wirksamen Freiheitsfacetten erkennen. Darauf hat sich die anschließende Herangehensweise einzustellen: Anstatt das heute ausschlaggebende nemo-tenetur-Verständnis irgendwo einfach abzulesen, muss sie es in einem etwas aufwendigeren Verfahren erschließen und all den Einsatzfeldern, in denen es sich detaildogmatisch niederschlägt, mühsam 2 Bei Meyer-Goßner (Einl./29a) heißt es bspw., dass es sich bei nemo tenetur um einen „übergeordneten Rechtsgrundsatz“ handele. Über das Nähere herrscht indes beredte Sprachlosigkeit. Ganz offensichtlich ist sie der Strittigkeit des Problems geschuldet. Ihm widmen sich nicht nur spezielle Abhandlungen (z.B. Rogall 1977, 124 ff.; Günther GA 1978, 193 ff.; Nothhelfer 1989; Wolff 1997, 28 ff.; Salger 1998, 4 ff.; Bosch 1998, 27 ff.; Böse, GA 2002, 98 ff.), sondern es ist auch jenseits dieser Untersuchungen üblich geworden, vor der Befassung mit den nemo-teneturDetails die fraglichen Verfassungsnormen der Form halber durchzumustern. 3 Freilich warnt Rogall vor einer „Überschätzung der Bedeutung, die der Herleitung der Selbstbelastungsfreiheit tatsächlich zukommt“ (StV 1996, 63, 64); „verbindliche Leitlinien“ aus dem Verfassungsrecht bezweifelt auch Verrel 2001, 9. Die hiesige Annahme teilen aber z.B. Paeffgen (SK-StPO, Vor § 112/31) und Böse (GA 2002, 98, 128; ders. 2005, 115).

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entnehmen. Diesem Umstand verdankt sich der anschließende Problemstandsbericht. Gleichsam buchhalterisch zeichnet er all jene konkreten Sachfragen auf, zu deren Bewältigung man nemo tenetur heranzieht (II. – VI.), um in diesem Material sodann die untergründigen Strukturen der momentan praktizierten Selbstbezichtigungsfreiheit freizulegen (unten VII). Dies erfordert eine Stoffsammlung von erheblichem Umfang. Bereiche, in denen man mit dem nemo-tenetur-Satz operiert, ohne dass dies für seine Rekonstruktion aufschlussreich wäre, lassen sich nicht vorgreifend aussortieren. Obendrein werden die materiell-strafrechtlichen Aspekte, an denen der hiesigen Untersuchung besonders gelegen ist, nur beiläufig gestreift (unten VI.). Alles andere würde die bisherige Diskussion zur Selbstbelastungsfreiheit entstellen, denn zu deren Gesamtbild trägt der strafrechtliche Aspekt allein einen peripheren Mosaikstein bei.

II. Elemente des Schweigerechts in der Vernehmung Zum Einstieg in die Rekonstruktion des nemo-tenetur-Satzes lädt zu allererst die Geständnisfreiheit ein. Sie ist sein historischer Anfang und sein thematisches Zentrum4. Es „darf im Strafverfahren niemand gezwungen werden, sich selbst (durch eine Aussage) einer Straftat zu bezichtigen“5. Damit ist dem Beschuldigten6 die Gewähr gegeben, die Umstände der vorgeworfenen Tat nicht kommunizieren zu müssen. Jene Garantie gilt als viel zu fundamental, als dass man irgendeinen ernsthaften dogmatischen Zweifel an ihr nagen lassen würde. Lediglich an den Schutzstellungsrändern tragen Lehre und Judikatur einige Kontroversen aus.

1. Gewährleistete Schweigethemen Kraft seines Schweigerechts kann der Beschuldigte in jeder Vernehmung selbst darüber befinden, ob er sich zum verfahrensgegenständlichen Sachverhalt mitteilen möchte (verbal oder nonverbal7). Sobald er sich unmissverständlich

4 Die Aussagefreiheit gilt als „Kernaussage“ (BGHSt 42, 139, 152), „Kernpunkt“, „Kernrecht“ (Eser 1974, 147), „Kernbereich“ (Verrel 2001, 9), „wichtigstes Teilrecht“ (Arzt, JZ 2003, 456, 457) von nemo tenetur. 5

BGHSt 42, 139, 152.

6

Der Beschuldigtenbegriff ist in dieser Arbeit weit gefasst. Er schließt sämtliche Stadien des Erkenntnisverfahrens ein. Die Unterbegriffe des § 157 StPO werden nur bei gegebenem Anlass verwendet. 7 Das Schweigerecht gibt in der Vernehmung die Verfügungsmacht über jegliche Kommunikation, z.B. Ausdruckshandlungen (unten Fn 116) oder nonverbale Äußerungen (vgl. BGH NStZ 1988, 85; Haas, GA 1995, 230, 233; Bosch 1998, 303). Für das wortlose Überreichen von Sachen

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auf die Schweigebefugnis beruft, muss die Vernehmungsperson dies akzeptieren und davon absehen, ihm doch noch gewisse Angaben abgewinnen zu wollen8. Die Aussage auch teil- oder zeitweise verweigern zu dürfen, ist als Minus im Schweigerecht mit enthalten9. Vielfach schlägt man ihm gleichermaßen die Befugnis zu, das Wie der Aussage zu bestimmen10. Außerdem darf die Rückführung auf die Selbstbezichtigungsfreiheit11 nicht über die inhaltliche Absolutheit der Aussageverweigerungsmöglichkeit hinweg täuschen. Diese kennt keine thematischen Grenzen und beschränkt sich weder auf den erhobenen Vorwurf12 noch auf selbstbelastende Angaben13. Aussagefreiheit besteht sogar zu offenkundigen Sachverhalten14. Diese Schweigerechtsbreite spiegelt indes, glaubt man der Mehrheitsauffassung, lediglich die Gewährleistungsbreite des nemotenetur-Satzes wieder, der ebenfalls vor dem Zwang zur unverfänglichen Mitwirkung (etwa der Selbstentlastung) schütze15.

vgl. OLG Oldenburg StV 1996, 416; Bernsmann, StV 1996, 416, 418: Ungeachtet der möglichen Beschlagnahme sei die Erzielung aussageähnlicher Sachherausgaben im Verhör nur unter den Voraussetzungen der §§ 136, 136a StPO möglich. 8

Dazu BGH StV 2004, 358.

9

Vgl. Eser, ZStW 79 (1967), 565, 576; Höra 1970, 58 f.; Rogall 1977, 45; Nickl 1978, 40; Eisenberg 2002, Rn 549, 832; Kruse 2001, 85. In der „zweiten“ deutschen Strafprozessordnung (Kühne 2003, Rn 100.6), die das Verfahren jener innerstaatlichen Institutionen regelt, die an der Durchsetzung des Völkerstrafrechts beteiligt sind, ist das Schweigerecht i.Ü. ebenfalls gewährleistet (vgl. § 14 II 2 IStGHG; zu den Selbstbelastungsfreiheiten gegenüber den transnationalen Organen: Art 55 I Buchst. a, 55 II Buchst. b, 67 I Buchst. g Rome Statute). Im Folgenden wird hierauf nicht eingegangen, da nemo tenetur in diesem Zusammenhang bislang nicht problematisiert wurde. 10 A.A. aber Geppert 2004, 655 (das Einlassen und die Wahl der Einlassungsart seien Aktivitäten und gingen deshalb über nemo tenetur hinaus). Unabhängig davon herrscht Streit über die Details des Rechts zur alleinigen oder ergänzenden schriftlichen Äußerung (§ 136 I 4 StPO) und einen eventuellen Anspruch darauf, den Text selbst zu verlesen oder durch den Verteidiger verlesen zu lassen (hierzu Park, StV 2001, 589, 592 ff.; Eisenberg 2002, Rn 831; ders./Pincus, JZ 2003, 397, 399 ff.; Meyer-Mews, JR 2003, 361, 362 f.). 11 Gemeinhin begreift man das Schweigerecht als Konkretisierung von nemo tenetur (BGHSt 42, 139, 151: „Ausprägung“; Rogall 1977, 155: „Inhalt“; Wolff 1997, 76: „Gewährleistung“; Torka 2000, 57: „Auswirkung“; Minoggio, wistra 2003, 121: „Ausformung“). 12

Der Beschuldigte muss sich auch zu vorwurfsirrelevanten Fragen nicht äußern. Das macht der Wortlaut von §§ 115 III 1, 136 I 2, 243 IV 1 StPO klar, wo das Schweigerecht auf die „Beschuldigung/Anklage“ und auf die „Sache“ bezogen wird (vgl. nur Wolff 1997, 70 f.). 13 Vgl. Nickl 1978, 36 f.; Lesch, ZStW 110 (1998), 624, 637; ders., GA 2000, 355, 361; Verrel 2001, 36 f.; Kramer, ZRP 2001, 386; Minoggio, wistra 2003, 121, 124. 14 15

Vgl. SK-StPO/Rogall, Vor § 133/138; Bosch 1998, 50.

Nemo tenetur „dient gleichermaßen dem Schutz des zu Unrecht mit einer Strafverfolgung überzogenen Bürgers“ (Reiß 1987, 262) – also demjenigen, der sich gar nicht selbst bezichtigen könne (ebenso Rogall 1977, 132; Ransiek 1990, 51 f.; Bosch 1998, 120; Dallmeyer, KritV 2000, 252, 263; Röckl 2002, 130 f.; Böse 2005, 479; a.A. Nickl 1978, 21 f.; Freund 1987, 133; Kopf 1999, 8 f.; Torka 1999, 98, 115 f.; Verrel 2001, 37).

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Ob vom Schweigerecht die Angaben zu persönlichen Verhältnissen ausgenommen sind, ist indes seit langem umstritten. Dass sich die Belehrungspflichten in §§ 136 I 2, 243 IV 1 StPO nicht auf die Vernehmung zu den persönlichen Verhältnissen (§§ 136 III, 243 II 2 StPO) erstrecken, spricht – sofern man eine Deckung von Schweige- und Hinweisrecht unterstellt – dafür. Andererseits gehen die persönlichen Verhältnisse in die Rechtsfolgenentscheidung ein (§ 46 II StGB), sodass man durch eine dahingehende Mitteilungspflicht zur Mitwirkung an der eigenen Sanktionierung genötigt würde. Deshalb können von der Auskunftsverweigerungsmöglichkeit allenfalls noch reine Personaldaten ausgenommen sein16. Eben hierfür plädiert eine Ansicht, der zufolge der Beschuldigte diese Kernauskünfte erteilen muss17. Andere Autoren favorisieren eine situative Sichtweise. Die Informationen dürften wenigstens dann verschwiegen werden, wenn sie im Einzelfall zu einer Selbstbelastung führen können18. Da sich aber die verfängliche Wirkung konkreter Personaldaten kaum vorhersehen lasse19, verneint eine weitere Fraktion jegliche Mitteilungspflicht, zumal diese ohnehin einer gesetzlichen Grundlage entbehre20.

2. Recht auf Lüge? Ungewissheit herrscht auch darin, ob der Beschuldigte, der von seinem Schweigerecht absieht und sich im Verfahren äußert, zur Aufrichtigkeit gehal16 Denn Aussagefreiheit herrscht auch bei strafzumessungsrelevanten Umständen (Eisenberg 2002, Rn 831). 17 Vgl. BGHSt 21, 334, 364; 25, 13, 17; StV 1984, 190, 192; Schlüchter 1983, Rn 86; LR/Hanack, § 136/12 ff.; KK/Boujong, § 136/7; KMR/Lesch, § 136/8. Eine eventuelle Selbstbelastung wird dabei hingenommen, um die unerlässliche persönliche Identifizierbarkeit zu gewährleisten (vgl. Meyer-Goßner, § 136/5, § 243/10 ff.; Wolff 1997, 72 ff.). Ohnehin bestünde angesichts marginaler Belastungswirkungen keine wirkliche Schutzbedürftigkeit (Verrel 2001, 178 ff.), denn „unter den Begriff Personalien fallen (maximal): Name, Vorname, Tag und Ort der Geburt, Wohnanschrift und Staatsangehörigkeit.“ (AE-EV 2001, 63). Auch sei an ein Beweisverwertungsverbot zu denken (Aselmann 2004, 61 ff.). Der Meinungsstreit betrifft in der Sache i.Ü. auch Identitätsfeststellungen außerhalb des Verhörs (§§ 111 I, 163b I StPO; vgl. etwa Meyer-Goßner, § 111/11; SK-StPO/Wolter, § 163b/26). 18

Vgl. Roxin 1998, § 25/5, 8; Rogall 1977, 176 ff.; Moos 1983, 56 ff.; Salger 1998, 25 f.; Grünwald 1993, 66; vgl. auch BayObLG StV 1981, 12 und § 150b II AE-EV. 19 Vgl. Rüping, ZStW 91 (1979), 351, 352; Schmidt 1982, 53; Roschmann 1983, 79 ff.; Dingeldey, JA 1984, 407, 412; Bosch 1998, 151 f.; Eser 1990, 156; Rzepka 2000, 388; wohl auch Bruns 1977, 9 ff. 20 So Seebode, JA 1980, 493 ff.; ebenfalls zweifelnd Rogall 1977, 176 ff. (vgl. auch die von Salger 1998, 19 ff. und Aselmann 2004, 52 ff. geprüften Rechtsgrundlagen). Die Existenz einer formellen Auskunftspflicht hat zuletzt Verrel 2001, 178 ff. wieder verteidigt (freilich pauschal und ohne eine positiv-rechtliche Anschrift namhaft zu machen). § 111 OwiG jedenfalls setzt eine solche Pflicht voraus (vgl. BVerfG StV 1996, 143, 144).

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Teil 1: Bestandsaufnahme

ten ist. Für eine rechtliche Wahrheitspflicht tritt heute an sich niemand mehr ein21. Etwaigen „sittlichen“ Wahrhaftigkeitsgeboten misst man gemeinhin keine juristische Bedeutung bei22. Mit dem Verbot des Äußerungszwangs lasse sich eine Verpflichtung zur getreulichen Einlassung nicht vereinbaren23. Mitunter meint man gar, dass die Selbstbelastungsfreiheit darüber hinausreiche und ein Lügerecht begründe24. Freilich stößt dies auf breite Ablehnung, da die Lügeaktivität die von nemo tenetur eingeräumte Passivbefugnis (unten III.1.) überschreite25. Deshalb billigt die h.M. dem Beschuldigten keine explizite, subjektiv-rechtliche Lügefreiheit zu26 – wobei sie allerdings nur die prozessuale Rechtslage berücksichtigt, ohne eine etwaige grundrechtliche Erlaubnis hinreichend zu bedenken27.

21 BGHSt 38, 345, 352: „Im Strafprozess gibt es keine Wahrheitspflicht für den Beschuldigten.“ Die Möglichkeit zur straflosen Prozesslüge besteht nach h.M. erst recht, wenn die Einlassung auf einen unzulässigen Mitwirkungszwang zurückgeht (etwa Gaede, JR 2005, , 426, 428). 22

Manchmal wurde eine Wahrheitspflicht aus einer ethischen Norm (vgl. Walder 1965, 79 ff.; Peters 1985, 207) hergeleitet, zuweilen auch aus der Prozessstellung des Beschuldigten (da es ohne die rechtliche Garantie für die Richtigkeit einer Beschuldigteneinlassung an der Beweismitteleigenschaft des Beschuldigten fehle; vgl. Höra 1970, 78). Das Bestehen von Rechtspflichten scheitert aber an der fehlenden Positivierung (a.A. Castringius 1965, 57 ff. unter Hinweis auf das „Sittengesetz“ i.S.v. Art 2 I GG). Über den Gesetzesvorbehalt geht jüngst wieder Lesch hinweg: Der Beschuldigte sei „aufgrund seiner Rechtspersonalität zur Wahrheit verpflichtet“ (KMR, § 136/49). 23 Dazu etwa Wassmann 1982, 103. Nach Paeffgen (1986, 106 f.) habe der Gesetzgeber dagegen deshalb auf die Sanktionsdrohung gegenüber der Beschuldigtenlüge verzichtet, um mit deren Bestrafung keinen Nebenkriegsschauplatz zu eröffnen. Außerdem gehe es darum, vom Beschuldigten nichts Unzumutbares zu verlangen. Gesetzestechnisch sei das als Tatbestandsausschluss und nicht als Exkulpationsgrund ausgestaltet worden. 24

Die lückenhafte Aussage sei eine falsche Aussage. Damit entwickle eine Wahrheitspflicht, sobald der Beschuldigte überhaupt etwas sagt, die Wirkung des Aussagezwangs, denn sie schließe das Teilschweigen aus (so Buchholz 1990, 167). Vgl. auch Bosch 1998, 194: Der Beschuldigte müsse die indizielle Verwertung des Teilschweigens durch unwahre Behauptungen verhindern können (ohne Begründung für den Zusammenhang mit nemo tenetur auch Pfenninger 1957, 366, 368; Rzepka 2000, 394). 25

So z.B. Fezer 1993, passim; Wasek 1998, 304; Stumpf 1999, 132; Röckl 2002, 115 f.; Aselmann 2004, 180 ff.; ebenso i.Ü. schon Liszt 1877, 131. Auch BGH NStZ 1996, 80 verortet das wahrheitswidrige Leugnen jenseits der Schutzwirkungen des nemo-tenetur-Satzes. Vgl. schließlich den diffusen Vorschlag von Torka, die Lügefreiheit eigenständig herzuleiten und hernach mit nemo tenetur zu „fusionieren“ (2000, 72 ff., 134 ff.). 26 Die h.M. spricht von einem gleichzeitigen Fehlen einer Wahrheitspflicht und eines Lügerechtes (vgl. LR/Gollwitzer, § 243/75; LR/Hanack, § 136/41; Meyer-Goßner, § 136/18; Wessels, JuS 1966, 169, 173 f.; Wassmann 1982, 104; Keller, JR 1986, 30; Langer, JZ 1987, 804, 811; H. Schneider 1991, 244 f.; Becker 1992, 190 f.; Mitsch, JZ 1992, 979; Roxin 1998, § 19/11; ders. 1999, 12; Krischer 2000, 177 ff.; Bottke 2001, 1253 f.; Haas 2003, 77; Fahl 2004, 90). Damit verfängt sie sich nach Lesch (KMR, § 136/49) „angesichts der binären Codierung des Rechtssystems in einen Widerspruch“. 27

Kennzeichnend für dieses Defizit z.B. Stumpf 1999, 134; Wolf 2000, 194 f.

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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Die h.M. lässt die Beschuldigtenlüge nicht zuletzt deshalb so merkwürdig zwischen Verbot und Zulässigkeit schweben, weil sie andernfalls unerwünschte materiellstrafrechtliche Privilegierungen fürchtet. Nach der Gegenauffassung würde ein Lügerecht indes die (z.B. nach §§ 145d, 164 StGB) straftatbestandlichen Prozesslügen keineswegs legalisieren, wäre die unwahre Einlassung doch nur bis zu dieser Strafbarkeitsgrenze gestattet. Unterhalb dieser Schwelle ließe sich allerdings keine Verbotsnorm ausmachen; straftatbestandslose Falschaussagen stünden dem Beschuldigten demzufolge frei28. Da derartige Prozesslügen freilich auch von der h.M. nicht sanktioniert werden, melden sich gelegentlich einige Stimmen zu Wort, die eine solche Festlegung für überflüssig halten (wenn nicht gar für schädlich, da sie die Unglaubwürdigkeit des Beschuldigtenvortrags gewissermaßen institutionalisiere)29.

3. Die Zeitdimension Mit Blick auf die „Zeit- oder Ablaufstruktur“ des nemo-tenetur-Satzes besteht eine gewisse Übereinkunft. Die h.M. bindet, ohne dies näher auszuführen, das Entstehen und den Wegfall der individuellen Aussagefreiheiten an jenen inkriminierten Vorfall, dessen man sich nicht selbst bezichtigen muss. Von der Mitwirkung an der eigenen Bestrafung kann man erst bei einer realen Verfolgungsgefahr freigestellt werden, und zwar nur so lang, wie diese anhält. Daher endet die Einlassungsfreiheit mit Eintritt der Verjährung30 und – vorbehaltlich ihres eventuellen Wiederauflebens (§ 370 II StPO) – mit der endgültigen prozessualen Verarbeitung des Geständnisgegenstands31. Auch ihr Beginn hängt von der jeweiligen Straftat ab. Nach h.M. kommt das Verbot des Selbstbelastungszwangs erst nach dem Vorgang zustande, der die Verfolgungsgefahr begründet (in Ermangelung dessen: mit der Verdachtsschöpfung), denn schließlich sei die unliebsame Selbstüberführung vorher gar nicht möglich32. Nur selten er-

28 So Fezer 1993 und Wasek 1998; wohl auch SK-StGB/Rudolphi/Rogall, § 164/14: „zulässiges Verteidigungsverhalten“ (ohne nähere Begründung für ein Lügerecht BayObLG NJW 1986, 441; OLG Düsseldorf NJW 1992, 1119; Schmidt, § 136/20, 26 f.; Pfenninger 1957, 368 ff.; Rogall 1977, 53 f.; Müller-Boysen 1980, 114 f.; Moos 1983, 50 ff.; Abdallah 2002, 111). Dass der Beschuldigte nur über sein Schweige- und nicht über ein Lügerecht belehrt wird, sei unerheblich, da man ihn auch über andere Prozessrechte nicht informiert (so Fezer a.a.O., 680 gegen Bottke, ZStW 96 (1984), 726, 758; Brei 1991, 331). Auch die richterliche Pflicht, unwahre Einlassungen als solche zu würdigen, spräche nicht gegen ein Lügerecht, weil der Richter die Lüge keineswegs als Schuldindiz werten müsse (so Fezer a.a.O. gegen Rüping, JR 1974, 135, 139). 29

Dazu Salditt, StV 1999, 61, 63; vgl. auch Brei 1991, 331, 333; Bottke 2001, 1253.

30

Dazu den Fall bei BVerfG BB 1975, 1315.

31

So für die Verurteilung als hierfür typischsten Fall z.B. BVerfG NStZ 1993, 482; Rogall 1977, 167; H. Schneider 1991, 360 (offenbar a.A. Prittwitz, StV 1982, 344, 345 f.; Torka 2000, 233). Praktisch wird dies v.a. beim Auskunftsverweigerungsrecht des abgeurteilten Zeugen. 32

Vgl. etwa H/H/Sp/Hellmann, § 393 AO/85, 92; Böse 2005, 452 f.

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Teil 1: Bestandsaufnahme

streckt man die Schutzwirkungen des nemo-tenetur-Satzes bereits auf den Zeitpunkt der fraglichen Deliktsbegehung33. Innerhalb dieses zeitlichen Korridors ist das Schweigerecht des Beschuldigten an seinen Rechtsstatus gebunden. Insofern können sich seine effektiven Schweigemöglichkeiten mit einem Prozessrollenwechsel durchaus ändern (unten IV.1.), nicht aber durch den bloßen Zeitablauf oder den Prozessfortgang. Falls der Beschuldigte von Beginn an schweigt, kann er dies also bis zum Schluss durchhalten. Andererseits muss er sich nicht fortwährend einlassen, selbst wenn er früher bereits gestanden hatte34. Allerdings dürfen, falls seine ursprüngliche Äußerungsbereitschaft in späteren Verfahrensstadien entfällt, die einmal erbrachten Aussagen verwertet werden35. Die h.M. schützt den nachträglichen Schweigerechtsgebrauch nur als formale Verteidigungsstrategie, denn § 254 I StPO erlaube ausdrücklich die Verlesung des in der regulären richterlichen Vernehmung abgelegten Geständnisses, einschließlich der sonstigen, für die Schuldfrage bedeutsamen Angaben36. Auch bei Erklärungen aus ordnungsgemäßen nicht-richterlichen Befragungen berge die Einführung in die Hauptverhandlung allenfalls ein technisches Problem37. Die Selbstbelastungsfreiheit bliebe davon hingegen unberührt. Sofern sich der Beschuldigte seinerzeit freiwillig mitgeteilt hatte, gehe es auf seine Entscheidung zurück, dass die nachmalige Aussa-

33

In diesem Fall wäre die strafschärfende Berücksichtigung von Tatumständen, die das Entdeckungsrisiko mindern (unten Fn 49), ebenso problematisch wie die Verwertung von Beweismitteln, die infolge außerstrafprozessualer Pflichten zur Dokumentation eigener Normverstöße entstehen (vgl. Fn 239 sowie speziell bei der Rasterfahndung Fn 210 und bei § 393 II AO Fn 260). Zum Problemfeld zählen schließlich auch die Ausdehnung des § 55 StPO auf strafbare Zeugenaussagen (vgl. Fn 173) und die Vor- und Nachtatstruktur bei § 258 V StGB (Fn 306). 34

Zum zeitweiligen Verzicht auf das Schweigerecht schon oben II.I. Das Recht, von der Einlassungsbereitschaft zum Schweigen übergehen zu können, zeigt i.Ü. auch § 254 StPO an (vgl. Mitsch, JZ 1992, 174, 175). Vom Widerruf der Aussagebereitschaft auseinander zu halten ist indessen der Geständniswiderruf: Er greift weiter, weil er frühere Angaben aufheben will (weshalb ihn die Rspr. als partielle Einlassung und nicht als Schweigen behandelt, vgl. etwa BGH StV 1998, 251), und er ist enger, insofern sich ihm nicht notwendig ein Schweigen anschließt. 35

In der Sache stellt sich das Problem ähnlich auch bei der Beweiswürdigung zeitweiligen Schweigens (unten II.4.b)cc)) und bei der Verwertung früherer Aussagen des nach § 55 StPO verweigerungsberechtigten Zeugen im eigenen Verfahren (unten IV.1.a)). 36 Zu diesem weiten Geständnisbegriff in § 254 StPO vgl. BGH MDR/H 1977, 984; MeyerGoßner, § 254/2. 37 Nach dem Unmittelbarkeitsprinzip darf die Aussage nur durch Zeugnis der Verhörsperson in den Prozess eingeführt werden (vgl. zur h.M. BGHSt 1, 337, 338 f.; 14, 310, 311; NStZ 1995, 47; Rogall 1977, 221 f.; Wömpner, NStZ 1983, 293, 298 f.; Miebach, NStZ 2000, 234, 241). Wegen des gesetzgeberischen Misstrauens gegenüber polizeilichen Vernehmungsprotokollen ist sie nicht einfach verlesbar (beachte aber zum erlaubten Vernehmungsvorhalt Rogall a.a.O., 223; Bährle 1993, 19 ff. und die Nachweise bei Meyer-Goßner, § 254/7). Schriftliche Beschuldigtenäußerungen unterliegen dagegen dem Urkundenbeweis. Ihre Einführung in den Prozess ist durch § 250 StPO nicht beschränkt (vgl. BGHSt 39, 305, 306).

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geweigerung an Zweckmäßigkeit verliere38. Die Gegenansicht räumt dem Angeklagten freilich auch in seiner letzten Vernehmung noch ein Wahlrecht über Reden oder Schweigen ein. Immerhin werde er nach § 243 IV 1 StPO gerade darüber belehrt. An dieser Entscheidungsfreiheit fehle es aber, wenn man frühere Angaben verwende, da hiermit das Schweigen verteidigungstaktisch obsolet werde. Darin zeige sich, dass die Aussagefreiheit die Rechtsmacht einschließe, über das vergangene Aussageverhalten zu disponieren, sodass dessen Vorhalt ebenso unzulässig sei wie die Vernehmung der damaligen Verhörsperson. Lediglich für Äußerungen gegenüber Richtern mache § 254 StPO eine Ausnahme39.

4. Das Zwangsmittelverbot a) Beweismethodenverbote: § 136a StPO Ein Verfahren, das dem Beschuldigten erst einmal Schweigerechte einräumt, muss der Strafverfolgung zugleich jene Einwirkungsformen verwehren, mit denen die Aussagefreiheit aufgehoben würde. Welche Beeinflussungsmethoden nun aber konkret auszuschließen sind, um den Beschuldigten in der Lage zu halten, „frei über seine Aussage, ihren Umfang und ihren Inhalt zu entscheiden“40, ist damit noch nicht ausgemacht. Anders als bei den indirekten Zwängen, die in einer Benachteiligung des Schweigenden liegen (unten b)), sieht das Gesetz für direkt willensbeeinträchtigende Vernehmungsformen einige Einschränkungen eigens vor (§ 136a StPO). Auf eine detaillierte Bestandsaufnahme der damit ausdrücklich untersagten Befragungstechniken kann hier indes verzichtet werden, da die funktionale Einbindung dieser Verbotsregelung ein sehr viel helleres Licht auf die gegenwärtigen nemo-tenetur-Konzepte wirft. Die nahe liegende These, dass § 136a StPO schlicht die Aussagefreiheit sichere – genauer: deren Aufhebung verbiete und mit einem Verwertungsverbot

38 Vgl. Rogall 1977, 241; Nickl 1978, 76 f.; Roschmann 1983, 106; Geppert 1985, 335; Leiwesmeyer 1994, 166; Bosch 1998, 182 f.; Torka 2000, 244; Rau 2004, 123 f.; AK-StPO/Schöch, § 243/41 (anderer Akzent bei Kroth 1976, 420 ff., dem zufolge die einfachrechtlich gewährten Grenzen der Selbstbezichtigungsfreiheit durch die §§ 250 ff. StPO, von denen die Verwertung früherer Aussagen nicht verboten wird, mitgestaltet werden). Letztlich entspräche das Verwenden früherer Einlassungen genau jenen Situationen, in denen man den Beschuldigten – ohne dies als Aussagezwang anzusehen – mit deliktsbegleitend erzeugtem Belastungsmaterial konfrontiert (vgl. Bährle 1993, 118 ff.). 39 Dazu Grünwald, JZ 1968, 752 ff.; Schroth, ZStW 87 (1975), 103, 117 ff. (siehe auch die Übersicht bei Bährle 1993, 28 ff.). Die h.M. hält dem entgegen, dass eine Dispositionsmacht über frühere Aussagen keine Stütze beim historischen Gesetzgeber fände und dass ein Ausnahmecharakter von § 254 StPO unplausibel sei (vgl. Bährle a.a.O., 63 f.; 152). Das letztgenannte Argument vermeidet Höra (1970, 124 ff.), der § 254 StPO die Rechtmäßigkeit abspricht. 40

Meyer-Goßner, § 136a/5.

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Teil 1: Bestandsaufnahme

sanktioniere –, kann dafür schwerlich genügen. Vielmehr gestaltet sich die Beziehung zwischen beiden Regelungen komplizierter: Die Menschenwürde gebietet es nach h.M., die individuelle Willensentschließung schon um ihrer selbst willen vor Zwang, Drohung und Täuschung zu bewahren. Daher basiere § 136a StPO auf Art 1 I GG41 und schütze den Vernommenen vor derartigen Einwirkungen – und zwar unabhängig davon, dass dies auch der Aussagefreiheit zugute kommt42. Ebenso wie die historisch vorbildhaften Folterverbote, die ohne Bezug auf den Selbstbelastungsgedanken durchgesetzt wurden (unten Kap. 6), sei § 136a StPO eine von der Schweigeerlaubnis selbstständige Garantie43. Gleichwohl deckt sich die Untersagungswirkung des § 136a StPO partiell mit den Einwirkungsverboten, die mit dem Schweigen-Dürfen automatisch einhergehen44. So gesehen stigmatisiert § 136a StPO im Verhältnis zu nemo tenetur lediglich deklaratorisch einige ausgewählte (ohnehin untersagte) Befragungsformen45. Die eigentlichen Grenzen des zulässigen Vernehmungsverhaltens folgen indes aus der Selbstbelastungsfreiheit, während die in § 136a StPO genannten Methoden dafür nur gewisse Anhaltspunkte abgeben46. Deshalb können einige oppressiv-interaktive Einflussnahmen durchaus die Aussagefreiheit ver-

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So BVerfG NStZ 1984, 82; LR/Hanack, § 136a/3; Meyer-Goßner, § 136a/1; Niemöller/Schuppert, AöR 1982, 387, 444 (differenzierend Krack, NStZ 2002, 120 f.). Zu weiteren, von § 136a StPO geschützten grundrechtlichen Positionen vgl. SK-StPO/Rogall, § 136a/3. Manche machen bspw. den Schutz des Strafverfahrens vor untauglichen Beweismitteln als weiteren Normzweck aus (z.B. Joerden, JuS 1993, 927; Lesch, ZStW 111 (1999), 624, 641). Außerdem sichere § 136a StPO die Akzeptanz und eine positive Vernehmungsatmosphäre als Funktionsbedingung des Strafverfahrens. 42 Dazu SK-StPO/Rogall, § 136a/3 f.; Stürner, NJW 1981, 1757; Reiche 1999, 48 f.; Verrel 2001, 115: Bei § 136a StPO liege das Menschenunwürdige zweckneutral in Art und Weise des Zwangs (weshalb auch Zeugen und Sachverständige von § 136a StPO geschützt werden, §§ 69 III, 72 StPO), bei nemo tenetur dagegen in der Selbstüberführung. Beides kann lediglich „tateinheitlich“ zusammenfallen (dazu anhand der Folter auch Jerouschek/Kölbel, JZ 2003, 613, 614 ff.). 43 Vgl. Rogall 1977, 105 f.; Müller-Boysen 1980, 94; Dingeldey, JA 1980, 407, 408; Reiche 1999, 26. 44 Vgl. Fezer, StV 1996, 77, 78. Die Freiheit, über die Selbstüberführung entscheiden zu können, schließt das Zwangsverbot bei der Aussage notwendig ein. 45 Vgl. Rogall 1977, 50 ff.; Grünwald, StV 1987, 453, 454; Ransiek 1990, 76 f.; Degener, GA 1992, 443, 445; Wolff 1997, 70; Derksen, JR 1997, 167, 169; Bosch 1998, 169; Groth 2003, 91. 46 Der teilweise heftige Streit um die Detailauslegung der einzelnen in § 136a StPO genannten Methoden (Überblick bei Jahn, JuS 2005, 1057 ff.) soll danach fast alle Bedeutung verlieren (so Degener, GA 1992, 443, 462 f.; Bosch 1998, 166 ff.; vgl. auch Weigend 1997, 158). Diese These lebt freilich von der Prämisse, dass die Selbstbelastungsfreiheit mit ihren eigentlich maßgeblichen Grenzen weiter reiche als die Verbote in § 136a StPO. Das wird selten so gesehen. Umfassender und nicht nur deklaratorisch ist § 136a StPO mindestens beim Täuschungsverbot, weil damit eine Einwirkung untersagt wird, vor deren Anwendung der nemo-tenetur-Satz nach h.M. nicht schützt (vgl. KMR/Lesch, § 136a/3; Groth 1996, 90; Reiche 1999, 66; Verrel 2001, 109; Kraft 2002, 157).

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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kürzen, ohne schon die Schwelle des § 136a StPO zu erreichen47. In der Rechtsgewinnungspraxis ist man allerdings nicht selten geneigt, die jeweiligen Gewährleistungskonturen kurzerhand in eins zu setzen und damit darüber hinweg zu gehen, dass § 136a StPO für den nemo-tenetur-Satz nur einen Nebenrolle spielt. Eine solche Vermengung wird immer dort erkennbar, wo man Ermittlungsmethoden, die auf eine Selbstbelastung zielen, für zulässig hält, nur weil § 136a StPO sie nicht ausdrücklich untersagt48.

b) Keine Benachteiligung des schweigenden Beschuldigten aa) Strafzumessungsentscheidung Indem der nemo-tenetur-Satz dem Beschuldigten das Schweigen erlaubt, schließt er es gleichzeitig aus, dass die Wahrnehmung dieses Rechts eine Benachteiligung nach sich zieht. Niemandem darf es daher zum Schaden gereichen, wenn er das von nemo tenetur gewährleistete nachtatliche Aussageverhalten an den Tag legt49. Andernfalls wäre die zugesprochene Freiheit wenig wert. Deshalb misst die Judikatur der Aussageverweigerung (ebenso wie dem unverbotenen Leugnen und Fliehen, Verschleiern und Beseitigen von Tatspuren50) keine strafschärfende Wirkung zu51 – wenigstens solange sich darin keine straf-

47 Zu Vorgaben für eine Vernehmungsdurchführung, die die Selbstbelastungsfreiheit respektiert, zuletzt etwa Bosch 1998, 128 ff.; Eisenberg 2002, Rn 533 ff., 580 ff., 841 ff.; Rzepka 2000, 417 ff.; vgl. auch Gundlach 1984, 142 ff.; Rogall, JZ 1987, 847, 850 f. 48 Vgl. BGHSt 40, 66, 72: Der nemo-tenetur-Satz könne nicht weiter reichen als § 136a StPO, weil diese Bestimmung sonst überflüssig sei (sachlich ebenso BGHSt 33, 217, 223; Deutsch 1992, 240; Verrel, NStZ 1997, 415, 416; ders. 2001, 115 Fn 698; Mäder 1997, 102; Popp, NStZ 1998, 95, 96). Praktisch relevant ist das etwa bei heimlichen Ermittlungsmethoden, die den fehlenden Argwohn des Ausgeforschten nutzen, ohne ihn i.S.v. § 136a StPO irre zu führen (unten III.2.). 49 Etwas anderes gilt für solche Handlungsweisen, mit denen vor oder während der Tatbegehung einer späteren Strafverfolgung vorgebeugt wird. Sie sind von der Selbstbezichtigungsfreiheit nicht erfasst (oben II.3.), weshalb ihrer strafschärfenden Berücksichtigung nichts im Wege steht (so für den Fall der Maskierung bei einem Überfall BGH StV 1998, 652; NStZ 2000, 586). Ablehnend aber Jahn, StV 1998, 653, 654, dem zufolge der nemo-tenetur-Satz schon während der Deliktsbegehung zum Zuge komme, da hier die Grundlage für die spätere Strafverfolgung geschaffen werde (wobei er zudem unterstellt, dass nemo tenetur die aktive Erschwerung der Ermittlungen verbürgt). 50 Siehe oben II.2. und die materiell-rechtlichen Privilegierungen unten VI.2. Die Rspr. verweist insofern meist auf ein – in Grund, Grenzen und Ausnahmen unbestimmt bleibendes – „Recht auf Verteidigung“, das neben dem nemo-tenetur-Satz stehe, mit ihm die Ratio teile, aber auch aktiven Selbstschutz (z.B. Leugnen, Lügen) gewährleiste (dazu eingehend Torka 2000, 99 ff.). 51 Repräsentativ BGH StV 1981, 516; 1982, 418; 1989, 388; 1992, 13; wistra 1993, 301; NStZ 1996, 80 (vgl. auch Bruns 1985, 234 ff.). Aus diesem Grund ist es auch unzulässig, die Anrechnung der Untersuchungs- auf die Strafhaft nach § 51 I 2 StGB wegen des wahrheitswidrigen Leugnens zu versagen (vgl. Walder 1965, 217 f.; Paeffgen 1986, 256) oder das Schweigen bei der Maß-

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Teil 1: Bestandsaufnahme

zumessungsrelevanten Eigenschaften des Beschuldigten dokumentieren. Das dogmatische Vehikel für diese Ausnahme bildet eine überkommene Indizkonstruktion52: Falls sich im Lügen, Abstreiten usw. eine gefühllose, rechtsfeindliche Gesinnung ausdrücke, zeige diese Tätereigenschaft eine höhere (Strafzumessungs-)Schuld an und berechtige zur Sanktionsanhebung53. Andererseits wirke sich ein Geständnis strafmildernd aus, wenn es die Reue des Täters belege und damit auf eine geringere Tatschuld hinweise54. Da freilich der schweigende oder ungeständige Angeklagte in beiden Fällen das Nachsehen hat, ruft dieses Konstrukt auch die Selbstbezichtigungsfreiheit auf den Plan.

regelverhängung (vgl. BGH NStZ 1987, 406), bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung (vgl. BGH StV 1993, 521; 1998, 378; 1998, 482), bei der Schuldschwerefeststellung nach § 57a StGB (BGH StV 2001, 571) oder bei der Strafmilderung wegen überlanger Verfahrensdauer (BGH NStZ 1983, 261) nachteilig zu berücksichtigen. Das Benachteiligungsverbot gilt auch, wenn der Schuldspruch rechtskräftig und nur noch über die Rechtsfolgen zu entscheiden ist (BGH StV 2002, 599, 560). Nicht einmal Vollstreckungs- oder Vollzugsentscheidungen dürfen nach der Verurteilung an zulässiges prozessuales Verhalten anknüpfen, wenn sie vor dem Urteil antizipiert werden können. Daher stößt § 57 V StGB auf Kritik, weil die dort geregelte Verweigerung der Strafrestaussetzung wegen Beuteverschweigens den Beschuldigten schon vor seiner Verurteilung zu entsprechenden Angaben anhalte (vgl. Leiwesmeyer 1994, 150). Soweit es die h.M. ansonsten aber untersagt, bei der Strafrestaussetzung oder bei Vollzugsmaßnahmen das fortwährende Tatleugnen gegen den Verurteilten zu berücksichtigen (vgl. BGH StV 1997, 92; OLG Hamm StV 1988, 348; OLG Koblenz NStZ-RR 1998, 9; OLG Frankfurt/M. NStZ-RR 2000, 251; Eisenberg, NStZ 1989, 366 f.), beruft sie sich dabei nicht auf nemo tenetur, weil solche Entscheidungen nicht vorweg abzusehen sind und das Verhalten vor dem Urteil nicht beeinflussen. 52 St. Rspr., etwa BGHSt 1, 105, 106; 3, 199; 4, 8, 11; 32, 165, 182; NStZ 1981, 257; 1983, 453; 1996, 80; StV 1994, 125; vgl. auch LK/Gribbohm, § 46/186, 189; Baumann, NJW 1962, 1793, 1794 ff.; Bruns 1985, 220 ff.; Schäfer 2001, Rn 356. 53 Klassisch Mayer, ZStW 27 (1907), 921, 923: „So sind Leugnen und Gestehen Symptome des Schuldgrades und als solche bei der Strafzumessung zu würdigen, namentlich sind sie häufig als Indizien für die Feststellung, wie weit die Tat eine dem Charakter des Täters entsprechende Kundgebung ist, verwertbar.“. Zur Kritik an der Validität und Durchführbarkeit der Indizschlüsse etwa Dencker, ZStW 102 (1990), 51, 56 f.; Frisch 2000, 293; Hönig 2004, 78 ff.; Möller, JR 2005, 314, 319; skeptisch selbst BGHSt 43, 195, 209. 54 Vgl. etwa BGHSt 1, 105; Beulke/Satzger, JuS 1997, 1072, 1077 f. und die bei Schleutker 1961, 97 ff. wiedergegebene, keineswegs überholte Diskussion der Jahrhundertmitte. Nach der Rspr. kann es ebenso honoriert werden, wenn das Geständnis dem Opfer eine sekundäre Viktimisierung im Prozess erspart und sich somit als opferfreundliches Nachtatverhalten darstellt (zusammenfassend Weßlau, KritJ 1993, 461 f.; Verrel 2001, 54 ff.; Streng 2002, Rn 456). In jüngster Zeit will der BGH dies allerdings nicht mehr zum Anlass einer Strafmilderung nehmen. Vielmehr verzichtet er lediglich auf eine Strafschärfung, die dann zulässig sei, wenn der Beschuldigte auf seinem prozessualen Recht beharre und dadurch die Vernehmung des Opfers samt der damit einhergehenden Folgeschäden veranlasse (vgl. BGH NJW 2001, 2983; StV 1987, 100; BGHR StGB § 46 II Verteidigungsverhalten 15; kritisch Tröndle/Fischer, § 46/34, 55). Freilich gilt diese Rspr. nur für die schlimmsten innerprozessualen Beeinträchtigungen des Opfers. In der Regel soll es ohne Einfluss auf die Strafzumessung bleiben, wenn das Prozessverhalten des Angeklagten seine (nochmalige) Vernehmung erforderlich macht (vgl. BGH StV 2002, 599).

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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Dies ist besonders augenfällig bei der Strafschärfungsvariante, selbst wenn die fraglichen Nachteile nicht direkt mit dem Schweigen oder Leugnen zusammen hängen, sondern konstruktiv an die dahinter liegenden (genauer: an die hierdurch nur zum Vorschein gelangenden) Tätermerkmale anknüpfen. Solche persönlichkeitssignifikanten Anzeichen macht die Judikatur in einigen unscharfen Fallgruppen aus, zu denen neben der qualifizierten Spurenbeseitigung55 vornehmlich das aggressive Prozessverhalten zählt, das dritten Personen neues Unrecht zufügt (Einschüchterung56 und sonstige Beeinträchtigung von Zeugen57). Auch die Unrechtsperpetuierung – beginnend mit bloßer Schadenfreude gegenüber dem Opfer58 über die verweigerte Wiedergutmachung bis zur Beutesicherung59 – gebe, sofern sie nicht verteidigungsindiziert ist (etwa weil der Täter schon gestanden hat), aufschlussreiche Hinweise. Dass eine damit begründete Strafschärfung das betreffende Verteidigungsverhalten erschwert, kann nicht bezweifelt werden. Die h.M. hält dies aber, da kein Aussagezwang intendiert sei, für unbedenklich60. Verglichen mit der Strafschärfung generiert die strafmildernde Berücksichtigung des Geständnisses einen subtileren Aussagedruck, der auf einer „Korrumpierung“ des Beschuldigten gründet. Die potenzielle (und beim kooperativen „Nachbarn“ erlebbare) Belohnung prozessualer Mitwirkung senkt die Bereitschaft, sich streitig (schweigend) zu verteidigen61. Gemessen am einvernehmlichen Verfahrensablauf müssen leugnende Angeklagte einen größeren prozessu55 Z.B. Verdachtsumlenkung durch Beweismittelmanipulation und gravierende Spurenbeseitigung (vgl. BGHSt 17, 143 f.; NStZ-RR 1997, 99; OLG Frankfurt/M. 1972, 1524, 1525; LK/Gribbohm, § 46/188 ff.; LK/Geppert, § 142/101; Zipf 1977, 74; Torka 2001, 267 ff., 282 ff.). 56

Vgl. BGH JR 1980, 335; StV 1987, 146, 147; Tröndle/Fischer, § 46/54.

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So genanntes „angriffsweises“ verbales Vorgehen gegen den Zeugen, d.h. das über unvermeidbare Auswirkungen des Verteidigens – z.B. beim bloßen Aussagebestreiten und Infragestellen der Zeugenglaubwürdigkeit– hinausgehende (vgl. Bruns 1985, 236; Streng 2002, Rn 455) Herabsetzen, Beleidigen oder Verdächtigen (vgl. BGHR StGB § 46 II Verteidigungsverhalten 1, 4, 10; NStZ 1988, 35; 1991, 182; 1995, 78; NStZ-RR 1999, 328 f.; StV 1985, 146, 147; 2004, 370, 371; Tröndle/Fischer, § 46/54; Schäfer 2001, Rn 380). 58

Vgl. etwa BGH 1 StR 368/2003.

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Vgl. BGH MDR/D 1966, 560; GA 1975, 84; StV 1992, 145 f.; BGHR StGB § 46 II Verteidigungsverhalten 7 und Nachtatverhalten 7, 12, 15, 19, 26; LK/Gribbohm, § 46/201; Zipf 1977, 73; Geiter/Walter, StV 1989, 212, 213; Leiwesmeyer 1994, 144 ff.; Verrel, 2001, 49 f. 60 Der Rspr. beipflichtend Dingeldey, JA 1984, 407, 414; Haberstroh, NStZ 1984, 289, 293; ebenso in „Extremfällen“ Wolff 1997, 89 f.; kritisch Schleutker 1961, 73 f.; Bottke 1979, 687; Moos 1983, 138 ff.; Fezer 1993, 683; Bosch 1998, 202 ff.; Torka 2000, 109; Frisch 2000, 293 (da die Strafbemessung an von nemo tenetur erlaubtes oder zumindest unverbotenes Prozessverhalten anknüpfe); Paeffgen 1986, 107 Fn 433 (da Missbrauch möglich sei, etwa Strafschärfung aus Verärgerung über Nichtmitwirkung). 61 So z.B. Weigend 1997, 156; Rzepka 2000, 394 f.; vgl. auch Stalinski 2000, 114 f. m.w.N.; Hönig 2004, 98.

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Teil 1: Bestandsaufnahme

alen Verbrauch ihrer Ressourcen (Geld, Zeit, Reputation, psychische Stabilität) einkalkulieren62. Dafür bewahren sie sich zwar eine ungewisse Obsiegensaussicht, doch die (bestenfalls) ungeminderte Normalsanktion droht ihnen natürlich weiterhin. Dass sich diese (relative) Unattraktivität streitigen Verhaltens auf die Entscheidungsfreiheit auswirkt, nimmt die h.M. in Kauf. Sie rechtfertigt den von der Strafmilderungsaussicht ausgehenden Geständnisdruck erneut mit dessen Zweckrichtung, die in der Optimierung von Strafeffekten statt in der Geständniserzielung bestehe63. Jene „Gegengewichte“ würden die Selbstbelastungsfreiheit „normativ relativieren“64. Auf die Förderung des Sanktionsziels kann sich eine durchweg schematische Milderungspraxis allerdings kaum berufen. Auch beim ausgehandelten Geständnis erscheint dies überaus fraglich. Beim „Deal“ honoriert das Gericht zunächst einmal die prozessökonomische Gegenleistung, „keine Schwierigkeiten zu machen“ und Prozessrechte nicht auszuschöpfen65. Ob sich neben dieser kaufmännischen Logik noch berechtigte Gesichtspunkte finden, von denen die faktische Beeinträchtigung der Einlassungsfreiheit aufgewogen wird, gilt als ungeklärt66. Im Übrigen stellt sich die gleiche Frage auch bei anderen prozessualen Vorteilen (Verfahrenseinstellung, strafbe62 Das kann durch entsprechende richterliche Hinweise (dafür BGHSt 1, 387; 14, 189; 20, 268) gehörigen Nachdruck entfalten (zur Problematik Hübner 1983, 145 f.; Dencker, ZStW 102 (1990), 51, 57; Bosch 1998, 139; Schurig 2003, 155 ff.). So wurde schon im „gemeinrechtlichen deutschen Inquisitionsprozess (…) der leugnende Inquisit in den Verhören nicht selten mit dem fragwürdigen Argument konfrontiert, dass das weitere Hintanhalten der Wahrheit die Kosten in die Höhe treiben würde“ (Niehaus 2003, 66). 63 Dabei wird das mit der Milderung verfolgte Strafziel verschieden akzentuiert: individualistisch über das Opferinteresse, das bei kooperierendem Täterverhalten unbeschädigt bleibe (vgl. Dencker, ZStW 102 (1990), 51, 60 f.); mit Blick auf die Strafgerechtigkeit, wonach die Sanktion beim reuigen Täter eine geringere unrechtsverdeutlichende Aufgabe übernehmen müsse (so in der Sache Weßlau, KritJ 1993, 461, 465 ff.; Wolff 1997, 89 f.; Jeßberger 1999, 68 f.); im Lichte einer verminderten spezialpräventiven Einwirkungsbedürftigkeit (vgl. Hönig 2004, 169 ff.) oder mittels der positiv-generalpräventiven Effekte, die von einem Geständigen ausgehen, der durch seine Kooperation mit den gerichtlichen Normrepräsentanten die Normanerkennung befördere (so Jerouschek, ZStW 102 (1990), 793, 816 ff.; vgl. auch Dencker a.a.O., 66; Bottke 2001, 1254). 64 Repräsentativ Verrel 2001, 58, der auch von der „Begrenzung der Einlassungsfreiheit durch berechtigte Strafzumessungserwägungen“ spricht. BGHSt 48, 134, 141 führt den Umstand, dass dem Beschuldigten ein Täter-Opfer-Ausgleich nur nach einem Geständnis offen steht, dagegen ausdrücklich auf eine „Abwägung“ zwischen nemo tenetur und kollidierenden Belangen zurück. 65 Offen für einen Strafbonus beim „faktischen Geständnis“ schon wegen der eingesparten justiziellen Ressourcen: Arzt, ZStR 110 (1992), 233, 238; vgl. auch BGHSt 43, 195, 209. 66 Kritisch Grünwald, StV 1987, 453, 454; Nestler-Tremel, KritJ 1989, 448, 453; Weigend, JZ 1990, 774, 778 f.; ders. NStZ 1999, 57, 59 ff.; ders. 2000, 1041 f.; Rönnau 1990, 101 f.; Weßlau, KritJ 1993, 461, 463; Eser 1993a, 48 ff.; Kirsch 1995, 240 f.; signifikante Fallschilderung bei Weider 2000, 177 f.; zum Problem vage auch BGHSt 43, 195, 204. Findet sich für den Geständnisbonus in § 46 II StGB kein Anker, rücken dahingehende Angebote überdies in die Nähe des Versprechens gesetzlich nicht vorgesehener Vorteile gemäß § 136a I StPO (dazu sowie zu Täuschungs- und Drohungsvarianten i.Z.m. Aushandlungsprozessen etwa Rönnau 1990, 189 ff.; Braun 1998, 67 ff.).

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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freiende Selbstanzeige), die man sich durch Kooperation verdienen muss67 (wenngleich bei der Absprache erschwerend hinzukommt, dass der avisierte Bonus nur durch ein vollständiges Eingestehen auch bislang unbekannter Sachverhalte gesichert werden kann68). Stets erleidet die kooperationsunwillige Person einen nemo-teneturrelevanten Nachteil, ohne dass die Vorrangigkeit der verfahrenspraktischen oder wirtschaftlichen Absichten, die der Staat mit diesen Sanktionsangeboten verfolgt, bislang dargetan worden wäre69.

bb) Kostenentscheidung Ebenso wie bei der Strafzumessung könnte sich der Beschuldigte zur wahrhaftigen Einlassung gedrängt sehen, wenn er für sein Schweigen einen Kostenaufschlag befürchten müsste. Derartige Maßnahmen lehnt die h.M. als mittelbare Selbstbelastungszwänge grundsätzlich ab, selbst wenn eine kooperative Verfahrensmitwirkung im konkreten Fall im objektiven Interesse des Beschuldigten gewesen wäre. So kann einem Freigesprochenen die Kostenerstattung nicht etwa deshalb verweigert werden, weil entlastende Umstände durch seine Schweigerechtswahrnehmung zunächst verborgen blieben und es deshalb zur Anklageerhebung kam70. Kostennachteile sollen aber dann drohen, wenn solche Sachverhalte bei einer teilweisen Einlassung während des Ermittlungsverfahrens verschwiegen werden (etwa um den wirklichen Täter zu schützen)71. Die Auslegung von § 467 III StPO übernimmt damit die Regelung der §§ 5 II, 6 I Nr. 1 StrEG, der zufolge die Entschädigung für ungerechtfertigt erlittene Untersu-

67

Kunz 1984, 61; Grünwald, StV 1987, 453, 455; vgl. auch Rogall 1977, 184 f.; Weigend 1989, 338 f.; Jeßberger 1999, 135 ff.; Rzepka 2000, 395. Am offenkundigsten ist dieses Belohnungswesen im jugendstrafrechtlichen Sanktionssystem. 68 Werden die Umstände anderweitig publik, kann das den Geständnisbonus kosten, dazu bei der Absprache Weigend, NStZ 1999, 57, 60; Kölbel, NStZ 2002, 74, 78; beim Kronzeugen Weider 2000, 105 ff. 69 Vgl. aber die – wenn auch durchgängig zu Lasten des Beschuldigten ausgehenden – Abwägungen bei Verrel 2001, 51 ff., 63 ff. 70

Vgl. Walder 1965, 216; LR/Hilger, § 467/41 auch für das zeitweilige Schweigen. Dieses Schweigen durfte die staatsanwaltschaftliche Sachverhaltswürdigung ohnehin nicht beeinflussen (dazu sogleich), und so kann es die Anklage nicht veranlasst haben. I.Ü. erzeugt auch die Pflicht des Kfz-Halters, bei nicht ermittelbarem Fahrzeugführer die Kosten des Bußgeldverfahrens zu tragen (§ 25a StVG) nach h.M. keinen Aussagezwang. Zum Geständnis werde der Halter hierdurch faktisch nicht motiviert (weil die betreffende Geldbuße von größerem finanziellem Nachteil wäre). Außerdem bezwecke die Regelung statt einer Einwirkung auf den Halter lediglich den Ausgleich der von ihm mitverursachten Kosten (vgl. BVerfGE 80, 109, 121 f.; Wolff 1997, 118; a.A. SKStPO/Rogall, Vor § 133/139: Nachteil, der an berechtigte Aussageverweigerung anknüpft). 71 Vgl. etwa LR/Hilger, § 467/41; KK/Franke, § 467/8. Nach OLG Karlsruhe wistra 1997, 357 sei es unerheblich, ob der Beschuldigte die Teileinlassung nach Belehrung oder nur in Kenntnis seines Schweigerechts gemacht hat.

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Teil 1: Bestandsaufnahme

chungshaft wegen des (Teil-)Verschweigens entlastender Aspekte unterbleiben kann72. Streng genommen sanktioniert diese faktische Kostensanktion indes eine von nemo tenetur gewährleistete Verteidigungsform (partielles Schweigen73) und verkürzt so das Aussageverweigerungsrecht74. Die h.M. sucht dagegen, sofern sie der Problematik überhaupt nachgeht, diese Konsequenz zu vermeiden und behauptet, dass man in den nämlichen Fällen allein eine aktive (also: nemotenetur-irrelevante) Prozessbehinderung mit dem Kostennachteil bedenke75.

cc) Beweiswürdigung Schließlich könnte das Aussageverhalten des Beschuldigten auch beim Schuldspruch in einer Weise berücksichtigt werden, die sich als Geständniszwang auswirkt76. Beobachten lassen sich solche Zusammenhänge nicht nur an der Beweis- oder der Darlegungs- und Beweisführungslast, die manche Ausnahmeregelungen dem Beschuldigten auferlegen77, sondern gleichermaßen an den Mechanismen der Beweiswürdigung. So wäre der Beschuldigte in der Entscheidung über sein Aussageverhalten massiv beeinflusst, würde seine Täterschaft aus seinem Schweigen gefolgert78. Deswegen ist jedenfalls die vollumfängliche Aussageverweigerung einer schuldindizierenden Verwertung entzogen (sodass sich niemand genötigt fühlen muss, zur Vermeidung dieser Konse-

72 Praktisch relevant wird dies bei Verkehrsdelikten, falls der Beschuldigte behauptet, ein anderer sei gefahren, ohne ihn namhaft zu machen (Rspr.-Überblick bei Schätzler/Kunz, § 6/13). 73

Gelegentlich haben die Gericht unter Berufung auf § 6 II StrEG Schadensersatz für Strafverfolgungsmaßnahmen sogar dann versagt, wenn der Beschuldigte es unterlassen hatte, einen zumutbaren Entlastungsbeweis anzutreten (vgl. Schätzler/Kunz, § 5/99). 74

Den Eingriffscharakter in Abrede stellend Verrel 2001, 67 f.

75

Da der nemo-tenetur-Satz nach h.M. nur das Unterlassen garantiere, werde er bei der Kostensanktion im Falle aktiver Ermittlungsbehinderung – wozu das Teilschweigen (in Form einer irreführenden Teileinlassung) offenbar zählen soll – nicht verletzt (vgl. Meyer, MDR 1981, 109, 110 und Paeffgen 1986, 262, der freilich wegen der Missbrauchsgefahren dagegen ist, prozessuales Wohlverhalten durch Versagen der Entschädigung zu erzwingen; einschränkend z.B. auch Rzepka 2000, 395 f.; für Verfassungswidrigkeit der Bestimmungen Roschmann 1983, 147). 76 Das Problem stellt sich desgleichen bei prozessualen Entscheidungen im Verfahrensablauf. In diesem Zusammenhang geht es bspw. nicht an, die Einräumung des Fragerechts (§ 240 StPO) von einer Angeklagteneinlassung abhängig zu machen (BGH StV 1985, 2 f.; AK-StPO/Gundlach, § 136/16; KK/Boujong, § 136/10). 77

Hier für einen Verstoß gegen nemo tenetur Bock 2001, 260 ff.; Stuckenberg 1998, 553; Drope 2002, 329; a.A. wohl Geppert 2002, 61 Fn 90. Näher zum Problem unten II.3.b)bb) in Kap. 9. 78 In der Rechtsgeschichte war diese Möglichkeit ein wesentliches Element zur Aufrechterhaltung eines strukturellen Aussagezwangs (unten II.3. – 7. in Kap. 6).

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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quenzen auszusagen)79. Zwar werde die Information, dass der Beschuldigte sein Schweigerecht in Anspruch genommen hat, durch die bloße Wahrnehmung des Schweigens und daher auf eine zulässige Weise erhoben, doch dürfe der (fragwürdige80) Schluss, dass er deshalb etwas zu verbergen habe, nicht zur Entscheidungsgrundlage gemacht werden81. Der Einwand, dass man die Verwertung des eigenen Prozessverhaltens niemals kontrollieren und eine unerwünschte Aussagedeutung ohnehin nicht unterbinden könne, weshalb die schuldbejahende Interpretation des Schweigens keinen zusätzlichen Eingriffswert in sich berge, trifft ins Leere, da der schweigende Beschuldigte sich und sein Prozessverhalten der Beweiswürdigung vollständig entzieht und genau dies auch darf82. Vor diesem Hintergrund ist das zeitweilige, d.h. auf Verfahrensabschnitte beschränkte Schweigen der Beweiswürdigung gleichfalls verschlossen. Andernfalls wäre die Mitwirkungsfreiheit verletzt, denn der Beweiswürdigungsnachteil hinderte den Beschuldigten, sich seine Aussage für einen späteren Zeitpunkt vorzubehalten (und wenn er die Einlassung anfänglich verweigert, müsste er dabei bleiben, um sich nicht suspekt zu machen)83. Ebenso wenig darf es nach einer verbreiteten Ansicht als Schuldindiz dienen, dass der aussagebereite Angeklagte erwiesenermaßen falsche Angaben macht. Dieses Einlassungsverhalten

79 Vgl. etwa BVerfG NStZ 1995, 555; BGHSt 20, 281, 283; 25, 365, 368; 32, 140, 144; 38, 302, 305; 41, 153, 155; Stree, JZ 1966, 593, 595 f.; Wessels, JuS 1966, 169, 171; Rogall 1977, 249; Nickl 1978, 64 f.; Kühl, JuS 1986, 115, 118; Schneider, Jura 1990, 572, 577; Verrel 2001, 21 f.; Nack, StV 2002, 510, 515. Das Schweigen in außerstrafprozessualen privaten Befragungen (durch Detektive, Arbeitgeber) will die wohl h.M. dagegen verwerten (vgl. AK-StPO/Maiwald, § 261/22; Miebach, NStZ 2000, 234, 235; Park, StV 2001, 589, 590; Rau 2004, 160; generell zum nemo-tenetur-Adressaten unten V.3.). 80 Etwa BGHSt 20, 281, 283; Stree, JZ 1966, 593, 594 f.; Nickl 1978, 54 ff.; Schneider, Jura 1990, 572, 577; Kühl, JuS 1986, 115, 119; Rau 2004, 59 ff., 77 ff.; Aselmann 2004, 65 ff.: Auch der Unschuldige kann aus guten Gründen schweigen. 81 Strukturell gilt dies als ein selbstständiges Beweisverwertungsverbot, vgl. Amelung 1990, 38. Das auf Art 6 EMRK basierende Schweigerecht lässt dagegen die Verwertung des Schweigens und eine dies ankündigende Belehrung (besser: Warnung) grundsätzlich zu (so jedenfalls EGMR, Murray ./. UK, EuGRZ 1996, 687; EGMR, Condron ./. UK, v. 2.5.2000, 35718/97; dazu etwa Janicki 2002, 413 f.; Esser 2002, 522 ff.; Lutz, ZStR 120, 2002, 410, 414 f. Schlauri 2003, 361 ff.). 82

Vgl. etwa Kühl, JuS 1986, 115, 118; SK-StPO/Rogall, Vor § 133/195 (gegen Günther, JR 1978, 89, 91; Salger 1998, 78). 83 Gegen die schuldindizielle Verwertung etwa BGHSt 20, 281, 282 f.; StV 1984, 143; 1987, 51; NStZ 1999, 47; NStZ-RR/Kusch 2000, 37 (ebenso OLG Karlsruhe StV 2003, 609; Stree, JZ 1966, 593, 597; Roxin 1998, § 15/25; Kühl, JuS 1986, 115, 120; Schneider, Jura 1990, 572, 578; Miebach, NStZ 2000, 234, 239 f.; Nack, StV 2002, 510, 515 f.). Meist geht es hier darum, ob Entlastungsvorträge allein aufgrund vorherigen Schweigens als unglaubhaft gelten können.

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Teil 1: Bestandsaufnahme

ziehe auch nicht die Unglaubhaftigkeit seines anderen Vorbringens nach sich, würde doch sonst ein prozessual unverbotenes Vorgehen faktisch sanktioniert84. Da sich der Beschuldigte als Minus des Schweigerechts auch punktuell zur Sache äußern kann, liegt es überdies nahe, ein Einlassungsfragment richterlich zu bewerten, nicht aber den Umstand des übrigen (Teil-)Schweigens. Die h.M. sieht solche Beschränkungen hingegen nicht vor85. Immerhin mache sich der Angeklagte mit seiner rudimentären Mitwirkung zum Beweismittel. Außerdem bilde das Teilschweigen ein integrales Element seiner Gesamteinlassung und entwickle in diesem Kontext seinen Erklärungswert. Sowohl die Teiläußerung als auch die Gesamterklärung müsse deshalb missverstehen, wer das partielle Fehlen von Angaben nicht berücksichtigen könne86. Eine gewisse Verkürzung des Schweigerechts sei also unumgänglich, um die Interessen der Beweiswürdigung zu realisieren. Praktisch wird die Tragweite dieses Konzeptes indessen dadurch entschärft, dass man die Eigenschaften des Teilschweigens restriktiv definiert87. Außerdem soll ein Quasi-Teilschweigen, bei dem der sich äußernde

84

Vgl. Fezer 1993, 682 f. auf der Basis des von ihm vertretenen Lügerechts (ähnlich Moos 1983, 53; Rzepka 2000, 394; Kruse 2001, 89 f.). Die diesbezüglich zurückhaltende Rspr. begründet die Unverwertbarkeit des falschen Leugnens vorzugsweise mit der Unzuverlässigkeit der darauf beruhenden Folgerung (vgl. BGHSt 25, 285, 287; 41, 153, 155 f.; NStZ 1986, 325; 2004, 392; StV 1985, 356, 357; 1992, 259; 1994, 174; 1997, 9; ebenso Eisenberg 2002, Rn 550, 893; MeyerMews, JR 2003, 361, 364 f.; Aselmann 2004, 174 ff.). Zur Gänze abweichend Puppe, GA 1978, 289, 305; Haas 2003, 77; wohl auch AK-StPO/Gundlach, § 136/32; LR/Hanack, § 136/42 m.w.N. 85 Wegen des Teilschweigens könne z.B. der Teilvortrag oder der nachträglich ergänzte Einlassungsteil unglaubhaft sein (weitere Konstellationen bei Miebach, NStZ 2000, 234, 236 ff.). 86 Zu dieser Position – die i.Ü. für schriftliche ebenso wie für mündliche Erklärungen gilt (vgl. Eisenberg/Pincus, JZ 2003, 397, 401 f.) – vgl. BGHSt 20, 298, 300; NStZ 2000, 494; OLG Braunschweig NJW 1966, 214; Wessels, JuS 1966, 169, 172; Grünwald 1993, 66; Meyer-Goßner, § 261/17; LR/Hanack, § 136/27; Roxin 1998, § 15/26; Pelchen, JR 1985, 71, 74; Dahs/Langkeit, NStZ 1993, 213, 214; Torka 2000, 234 ff.; Verrel 2001, 33 ff.; Nack, StV 2002, 510, 515; Kühne 2003, Rn 104. Unerheblich ist es, ob der Angeklagte Antworten nur unvollständig gibt oder ob er in seinem Vortrag lückenhafte Angaben macht (BGH NJW 2002, 2260). Allerdings besteht die Würdigungsmöglichkeit nur bei Teilschweigen innerhalb eines Tatkomplexes. Schweige der Beschuldige zu einer prozessualen Tat, während er sich zu einer anderen äußert, lege er in nur zufällig gemeinsam verhandelten Bereichen eben ein unterschiedliches Prozessverhalten an den Tag (vgl. BGHSt 32, 140, 145 m. zust. Anm. Pelchen, JR 1985, 71, 75; BGH NStZ 2000, 494, 495). Bei Vorliegen einer Tat im prozessualen und zweier Taten im materiellen Sinne liegt nach OLG Karlsruhe NStZ-RR 2004, 371 in der Aussage zu einer Tat nur dann eine teilweise Einlassung (die für die andere Tat aussagekräftig ist), wenn für den Angeklagten offensichtlich ist, dass seine Äußerung auch für den anderen Vorwurf erheblich sein kann. 87

Folgende Marginaläußerungen gelten nicht als Einlassungspart, der das sonstige Schweigen verwertbar macht: bloßes Bestreiten der Täterschaft (BGHSt 34, 324, 326; NStZ 2000, 494, 495; OLG Hamm NJW 1974, 1880), pauschale Erklärungen (BGH NStZ 1997, 147), Stellen eines Beweisantrags (BGH NStZ 1990, 447), Berufung auf ein Prozesshindernis (BayObLG GA 1982, 504), bloße Rechtsausführungen (BayObLG MDR 1988, 882), bloße Verteidigereinlassungen (BGHSt 39, 305; NStZ 2000, 494) und mimische oder gestische Reaktionen (BGH StV 1993,

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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Angeklagte eine nonverbale Mitwirkung verweigert, nur dann der Beweiswürdigung zugänglich sein, wenn beide Aspekte inhaltlich eng zusammenhängen88. Ungeachtet dessen hält man der Rechtsprechung entgegen, dass die nachteilige Würdigung des partiellen Schweigens ein zulässiges prozessuales Verhalten unberechtigt erschwert. Der Beschuldigte stelle sich schließlich nur mit seiner Teilaussage zur Verfügung und verweigere sich ansonsten dem Beweis. Im Übrigen sei die angebliche Gesamteinlassung ein fiktives Konstrukt, da sich die Aussage- und Schweige-Schichten sehr wohl isolieren und getrennt deuten ließen. Und wo das angezeigte Schweigeberücksichtigungsverbot die Würdigung des Teilvortrags tatsächlich einmal erschwert, realisiere sich darin eine bestimmungsgemäße Folge von Beweisverwertungsverboten89.

5. Schutz der Aussagefreiheit durch Verfahrensrechte Das Strafprozessrecht ergänzt die bislang angesprochenen Aspekte des nemo-tenetur-Satzes durch eine unterstützende Verfahrensgestaltung. In dem Maße, in dem solche Hilfestellungen die Freiheitswahrnehmung erleichtern (wenn nicht sogar ermöglichen), erlangt das Schweigerecht dadurch zusätzliche Substanz. Der Beschuldigte wird durch sie in die Lage versetzt, sein Aussageverweigerungsrecht zur kompetenten Selbstbehauptung auszuüben.

458). Anders als die Nichtwiederholung früherer Eingeständnisse rechnet sich freilich der Geständniswiderruf zur Teileinlassung (BGH StV 1998, 251). Der Übergang vom vollständigen Schweigen zur Teileinlassung ist demnach nicht empirisch, sondern normativ markiert, wobei im Zweifel von der Aussageverweigerung auszugehen sei (so Keiser, StV 2000, 633, 635 m.w.N.). 88 Z.B. beim Verzicht auf einen Entlastungsbeweis (BGH StV 2002, 466) oder bei der zulässigen (unten III.1.) Verweigerung der Entbindung von der anwaltlichen/ärztlichen Schweigepflicht (vgl. BGHSt 45, 367; LR/Rieß, Einl. I/94). Dass die Verweigerung solcher prozessualer Aktivitäten gegenüber der verbalen Einlassung überhaupt als Teilschweigen anzusehen ist, bezweifelt Keiser (StV 2000, 633, 635 ff.). Abgesehen davon ist für die Beweisverwertung derartigen Prozessverhaltens stets vorausgesetzt, dass der Angeklagte ansonsten nicht etwa vollständig schweigt (vgl. BGHSt 20, 298; 44, 308, 318; 45, 363). 89 Vgl. SK-StPO/Rogall, Vor § 133/206 ff.; ders. 1977, 252 ff.; ders. JR 1993, 380, 381; Rüping JR 1974, 135, 138; ders., ZStW 91 (1979), 351, 353; Nickl 1978, 67 f.; Moos 1983, 104 ff.; Schneider, Jura 1990, 572, 579; Kühl, JuS 1986, 115, 121; Leiwesmeyer 1994, 117 ff.; KMR/Stuckenberg, § 261/54; Eisenberg 2002, Rn 907 f.; Miebach, NStZ 2000, 234, 236 ff.; Rzepka 2000, 389; Park, StV 2001, 589, 591 f.; Meyer-Mews, JR 2003, 361, 364; differenzierend Stree, JZ 1966, 593, 598 f.; vgl. auch die Debatte zwischen Hanack, JR 1981, 433 und Dencker, NStZ 1982, 458, 460. Außerdem bevorteile die h.M. den geschickten Beschuldigten, der anfänglich in vollem Umfang schweigt, gegenüber dem unerfahrenen, der zu Beginn wenigstens teilweise kooperiert (vgl. Schneider a.a.O., 580). Zudem verletzten die Verfolgungsorgane das Fairnessgebot, wenn sie das Teilschweigen verwerten, ohne darauf hingewiesen zu haben (vgl. Leiwesmeyer 1994, 112 ff.). In jeder Hinsicht gewürdigt werden dürfe also nur der Einlassungsteil (auch dies ablehnend Kruse 2001, 89).

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Teil 1: Bestandsaufnahme Hierzu zählt bereits die gesetzliche Vorgabe des Hauptverhandlungsablaufs (§§ 243 ff. StPO), die – neben der pragmatischen Prozessabwicklung – der möglichst effizienten Verteidigung dient. Richterliche Abweichungen von der prozeduralen Dramaturgie sind nur möglich, wenn triftige Gründe vorliegen und der Angeklagte zustimmt oder wenn die Hauptverhandlung anders gar nicht ordnungsgemäß durchgeführt werden kann90. Im Hinblick auf nemo tenetur erleichtern es diese kalkulierbaren szenischen Abläufe dem Angeklagten, den für seine Verteidigung optimalen Zeitpunkt und Umfang des Schweigens oder Einlassens abzuschätzen.

Der hinzukommende Anspruch auf anwaltlichen Beistand ist, so das BVerfG, durch das Recht auf ein faires Verfahren grundgesetzlich verbürgt91. Dabei herrscht, unabhängig von der strittigen Prozessstellung des Verteidigers, Einigkeit über dessen Aufgabe, die Rechte des Beschuldigten durchzusetzen und zur Beachtung der für ihn günstigen (rechtlichen/tatsächlichen) Umstände beizutragen92. Der Verteidiger hat darüber zu wachen, dass der Staat den Verteidigungsrechten seinen Respekt erweist93. Zudem soll er die Kompetenzdefizite des Beschuldigten, die aus dem Mangel an Kontexterfahrung, aber auch schon aus der materiellen und psychischen Verstrickung in einen strafrechtlichen Vorwurf resultieren, bei der Anschuldigungsabwehr kompensatorisch ausgleichen94. Die anwaltliche Unterstützung befördert mithin die polizeiliche und justizielle Schweigerechtswahrung sowie die interessengerechte BetroffenenEntscheidung über Ob, Wann und Wie einer Aussageverweigerung95.

90

Z.B. bei einer Vielzahl verhandelter Einzeltaten (vgl. LR/Gollwitzer, § 243/2 ff.; SKStPO/Schlüchter, Vor § 243/2 ff.; Meyer-Goßner, § 243/1 f.; Roxin 1998, § 42/3; Jerouschek, ZStW 102 (1990), 793 f.; Riepl 1998, 108 f.; Ranft 2005, Rn 1466). Innerhalb dieses Rahmens hat das Gericht jedoch weites Ermessen bei der Regie der Beweiserhebung (dazu Hammerstein 1992). 91 Vgl. BVerfGE 39, 156, 163; 66, 313, 319; 68, 237, 255; NJW 1984, 862; NJW 2001, 3695; StV 2002, 578, 580; Sachs/Degenhart, Art 103/46; KMR/Hiebl, Vor § 137/2; Mörlein 1993, 29; Rzepka 2000, 196 ff., 390, 397. Vgl. i.Ü. Art 6 III c EMRK. Hiernach steht das Konsultationsrecht neben dem nemo-tenetur-Satz (vgl. Beulke, NStZ 1996, 257, 258; Geyer 1998, 13) und „flankiert“ ihn (Schmidt 1989, 154 f.). Dennoch sieht Roxin (JZ 1997, 343, 344) statt des Konsultationsrechts die Selbstbelastungsfreiheit verletzt, wenn man Beschuldigte zu einer Aussage ohne vorherige anwaltliche Beratung drängt. 92

Vgl. Meyer-Goßner, Vor § 137/1; Roxin 1998, § 16/6 f.

93

Zu diesem Akzent etwa Müller, StV 1996, 358, 359.

94

Dazu etwa Grüner (2000, 19 ff.). Der freiverantwortlich agierende Beschuldigte ist eine Fiktion; er bedarf vielmehr Unterstützung, gerade in der Erstvernehmung (etwa Strate/Ventzke, StV 1986, 30, 32; Ventzke, StV 1996, 524, 525; Roxin, JZ 1997, 343, 344 f. gegen BGHSt 42, 170). Insofern stellt der Verteidiger sicher, dass „der Beschuldigte nicht nur Objekt des Strafverfahrens ist, sondern zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Strafverfahrens Einfluss nehmen kann“ (BGHSt 38, 372, 374; zur kompensatorischen Funktion des Anwalts beim verdächtigen Zeugen BVerfGE 38, 105, 113 ff.). 95 „Das Recht der Verteidigerkonsultation dient im Wesentlichen der Sicherung vor Selbstbelastung.“ (Roxin, NStZ 1995, 465, 466). Ähnlich BGHSt 47, 172, 174; KMR/Lesch, Vor § 133/33; Eser, ZStW 79 (1967), 565, 603; ders. 1974, 148 f.; ders. 1990, 154; Strate/Ventzke, StV 1986,

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

41

Die grundsätzliche Gewährleistung der anwaltlichen Unterstützung (§ 137 StPO) wird im Detail allerdings wieder relativiert: So ist die Anwesenheit eines Anwalts in der Hauptverhandlung lediglich in den Fällen notwendiger Verteidigung zwingend; ansonsten muss der Angeklagte selbst für seine professionelle Verteidigung sorgen und das Abwesenheitsrisiko tragen (§§ 145 I, 228 II StPO)96. Während des Ermittlungsverfahrens sieht das Gesetz ein anwaltliches Anwesenheitsrecht nur bei der richterlichen (§ 168c StPO) und staatsanwaltschaftlichen Vernehmung (§ 168a III StPO) vor, nicht jedoch beim Polizeiverhör97. Nach § 136 I 2 StPO kann sich der Beschuldigte freilich vor jeder Vernehmung – auch wenn sie unvorbereitet anberaumt wird (wie oftmals die Erstbefragung) – anwaltlich beraten lassen, insbesondere hinsichtlich des verteidigungstaktisch günstigsten Aussageverhaltens98. Damit er sich über die Möglichkeit, sich bei der Wahrnehmung von nemo tenetur helfen lassen zu können, auch im Klaren ist, hat man ihn im Ermittlungsverfahren über dieses Konsultationsrecht aufzuklären (§§ 136 I 2, 163a III, IV StPO)99. Obendrein kann er verlangen, über sein Beweisantragsrecht ins Bild gesetzt (§§ 136 I 3, 163a III, IV StPO) und so mit einer ergänzenden Verteidigungsvariante bekannt gemacht zu werden. Den Nutzen des Schweigens vermag der Beschuldigte so besser zu beurteilen.

Ferner muss der Beschuldigte bei den Vernehmungen im Ermittlungsverfahren100 und nochmals zu Beginn der Hauptverhandlung über den tatsächlichen

30, 32 f.; Fezer 1995, 3/19; Beulke, NStZ 1996, 257, 258; Wollweber, StV 1999, 355 f.; Makrutzki 2000, 81; Grüner 2000, 208; Ranft 2005, Rn 340. 96

Ist ein Anwalt anwesend, kann ihn das Gericht allerdings auch nicht sitzungspolizeilich ausschließen, § 177 GVG (vgl. aber §§ 138a ff. StPO; zum Ganzen Krause, StV 1984, 169, 170). 97 Vgl. Krause, StV 1984, 169, 173 f.; hier muss der Beschuldigte durch sein Schweigen die anwaltliche Hilfe also erst ertrotzen (vgl. Roxin 1998, § 19/62; dort auch zu rudimentären Anwesenheitsrechten bei anderen Ermittlungshandlungen). 98 Die Vernehmung ist bis zur Ankunft des Verteidigers zu verschieben, wenn der Beschuldigte dessen Hinzuziehung verlangt (vgl. BGHSt 38, 372), es sei denn er findet sich freiwillig doch noch zur sofortigen Aussage bereit (vgl. BGHSt 42, 170; NJW 1992, 2903, 2904). Bei der Suche nach anwaltlicher Hilfe muss die Polizei denjenigen Beschuldigten, der ein entsprechendes Bedürfnis signalisiert (dazu BGHSt 47, 233, 234 f.), ernsthaft und effektiv unterstützen (vgl. BGHSt 42, 15, 19: Hinweis auf anwaltlichen Notdienst). Andernfalls erschiene dem Betroffenen das Konsultationsrecht als undurchsetzbar (vgl. auch Herrmann, NStZ 1997, 209 ff.; zum sonst drohenden Verwertungsverbot Janicki 2002, 90 ff.). Dennoch bleibt die Rekrutierung eines Anwalts letztlich die Sache des Beschuldigten. 99 Vgl. Roxin, NStZ 1995, 465, 466: Der Hinweis auf das Konsultationsrecht bringe den nemotenetur-Grundsatz zum Ausdruck (vgl. auch BVerfGE 38, 105, 113). Zum Beweisverbot bei unterlassenem Hinweis auf das Konsultationsrecht jetzt BGHSt 47, 172, 173 f. (zur früheren Diskussion Lorenz, StV 1996, 172, 173). Außerdem darf beim Beschuldigten nicht durch die sonstigen Vernehmungsumstände der Eindruck vermittelt werden, dass das Konsultationsrecht für ihn undurchsetzbar sei (oben Fn 98). 100 Genauer: bei jeder ersten richterlichen Vernehmung und bei jeder ersten staatsanwaltschaftlichen oder polizeilichen Vernehmung, der keine richterliche vorangegangen war (vgl. MeyerGoßner § 136/8, 163a/4; kritisch Bosch 1998, 143: bei jeder Vernehmung). Bei einem zusätzlichen oder alternativen Vernehmungsgegenstand muss das betreffende Verfolgungsorgan die Belehrung wiederholen, vgl. Eser 1974, 150; ders. 1990, 153; Geyer 1998, 109 f.

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Teil 1: Bestandsaufnahme

und juristischen Verfahrensgegenstand und die bestehenden Verdachtsgründe informiert werden (§§ 136 I 1, 163a III, IV, 243 II StPO). Nur so kann er die Vor- und Nachteile einer (partiellen) Einlassungsweigerung überblicken101. Außerdem ist er auf seine Aussagefreiheit hinzuweisen102. Zwar fundiert man diesen Anspruch mitunter noch in der gerichtlichen Fürsorgepflicht103, doch zunehmend macht das Schrifttum darin auch einen „Ausfluss“ des Schweigerechts aus104: Die Belehrung führe als „Übergangsritus“105 psychologisch in eine außergewöhnliche Kommunikationssituation ein, wobei sie für die angemessene (weder Schulter klopfende noch einschüchternde) Atmosphäre sorgen solle106. Darüber hinaus beseitige sie die womöglich vorhandene (Fehl-)Vorstellung, ei101 „Nur wenn der Beschuldigte weiß, was ihm zur Last gelegt wird, kann er entscheiden, ob Reden oder Schweigen für ihn günstiger ist.“ (Walischewski 1999, 231). Zu diesem Zusammenhang – der auch andere Informationsrechte erklärt, etwa das anwaltliche Akteneinsichtsrecht (vgl. Eser 1974, 139) – vgl. z.B. Fincke, ZStW 95 (1983), 918, 960; Eser 1990, 153; Fezer 1995, 3/13. Von polizeilichen Vernehmern erwartet man aber keine juristischen Ausführungen zum Vorwurf. Dass den Beamten überdies ein Ermessen eingeräumt wird, welche Informationen sie aus ermittlungstaktischen Gründen vorerst zurückhalten (so etwa Schäfer 2001, Rn 321, 323), wird oft kritisiert. Wer den Beschuldigten über den Vorwurf nicht vollständig informiere, instrumentalisiere die Vernehmung zur Aussage- und Beweisgewinnung, ohne wirklich Gehör für einen Verteidigungsvorbringen gewähren zu wollen (so Grünwald 1993, 62 f.; Lesch, ZStW 111 (1999), 624, 642; vgl. auch Gundlach 1984, 42 ff.; differenzierend Fincke, a.a.O.). Dazu, wie erschöpfend der Vorwurf dargelegt werden muss, näher FG Mecklenburg-Vorpommern wistra 2003, 473 ff., das zu einem Beweisverwertungsverbot bei einer insofern mangelhaften Belehrung neigt. 102 Vgl. §§ 136 I 2, 163a III, IV, 243 IV 1 StPO. Für die Berufungsverhandlung ist in § 324 II StPO keine Belehrung vorgesehen. Daher leitet man die dahingehende Gerichtspflicht direkt aus nemo tenetur ab (vgl. Rogall 1977, 188; Meyer-Goßner, § 324/8). Wird die Belehrung unterlassen, ist die erbrachte Aussage meist unverwertbar (vgl. BGHSt 25, 325; 38, 214) – nach der Rechtskreistheorie freilich nicht gegenüber etwaigen Mitangeklagten, sondern beschränkt auf die Anklage gegen den unbelehrt gebliebenen Beschuldigten (vgl. BGH NJW 1994, 3364, 3366; BayObLG NJW 1994, 1296; kritisch z.B. Jäger 2003, 25, 166 ff. m.w.N.). 103 Vgl. Bauer 1972, 91 ff.; Fezer 1995, 10/44; SK-StPO/Rogall, Vor § 133/110; AKStPO/Gundlach, § 136/20 f.; kritisch Bosch 1998, 131 ff.; Rzepka 2000, 299 f.; vgl. auch Kraft 2002, 294 f. 104 So Rogall 1977, 187, 214: „Ausformung“ (ebenso Roschmann 1983, 27; Dingeldey, JA 1984, 407, 408; Riepl 1998, 122: „Konkretisierung“; ähnlich Weßlau 1989, 212; Schlüchter/Radbruch, NStZ 1995, 354, 355). Anders Verrel 2001, 123 ff. (§ 136 I 2 StPO habe gegenüber nemo tenetur nur Vorsorgecharakter) und Lorenz, StV 1996, 172, 175 (Belehrungspflichten beruhen auf dem Gesichtspunkt der Grundrechtseffektivität). 105 106

Er symbolisiert den Übergang vom „Freien“ zum „Beschuldigten“ (vgl. Winn 2003, 467).

Zu beiden Aspekten BGHSt 39, 349, 351; Kroth 1976, 291 f.; Rogall 1977, 186; Günther, JR 1978, 89, 92; Fezer, StV 1990, 195; Schneider, GA 1997, 371, 378 f.; Riepl 1998, 122; Bauer 1972, 96 f.; Welp, 1974, 59; Ransiek, StV 1994, 343, 344; Wohlers, NStZ 1995, 45, 46; Bosch 1998, 140 ff.; Schäfer 2000, Rn 322; Schurig 2003, 136 ff.; Klein 2001, 113. Da der Ermessensspielraum, den die Polizei bei der konkreten Fassung der Belehrung inne hat (vgl. Geppert 1990, 100), die Gefahr birgt, diese Aufklärungsfunktionen zu unterlaufen (vgl. Lorenz, StV 1996, 172, 173 ff.), warnt die Literatur davor, die Belehrung zur formalen Pflichtübung verkommen zu lassen (vgl. Wollweber, NStZ 1998, 311; Rzepka 2000, 419 f.; Schurig a.a.O., 152 ff.).

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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ner Einlassungspflicht zu unterliegen. Diese Vorkehrung sei wegen des nemotenetur-Satzes, der nicht nur vor Zwang, sondern auch vor dem Anschein von Zwang schütze, unabdingbar107. Keine abschließende Klärung hat indes eine jüngst ins Gespräch gebrachte Funktionserweiterung gefunden, der zufolge die Belehrung bewusst mache, dass die Staatsmacht in der betreffenden Situation überhaupt eine Auskunft begehrt. Folgt man diesem Vorschlag, müsste der Staat, auch wenn er den Beschuldigten informell befragt, durch die Instruktion anzeigen, dass er just mit seinen Ermittlungsorganen am Werke ist; ein verdecktes Vernehmen (etwa durch V-Leute) würde somit unmöglich. Da aber der Belehrungszweck korrespondiert mit dem Recht, auf das hingewiesen wird, setzt diese These voraus, dass nemo tenetur nicht nur eine zwangs- und zwangsanscheinsfreie Vernehmung, sondern ein voll freiverantwortliches (irrtumsfreies) Aussageverhalten gewährleisten soll108.

III. Mitwirkungsfreiheit im Ermittlungsverfahren Über das bislang skizzierte „Verbot des Selbstbezichtigungszwanges im engeren Sinne hinaus folgt aus dem nemo-tenetur-Grundsatz auch die Freiheit des Beschuldigten, selbst darüber zu befinden, ob er an der Aufklärung des Sachverhaltes in anderer Weise (als durch Äußerungen zum Untersuchungsgegen-

107

So Rogall 1977, 186 f.; Reiß 1987, 291; Weßlau 1989, 212; Ackemann 1997, 115; SKStPO/Wolter, Vor § 151/124; vgl. auch Lammer 1992, 160; Verrel 2001, 107 f., 120. Will der Beschuldigte in Kenntnis seines Schweigerechts aussagen, sei durch das Unterbleiben der Belehrung „der nemo-tenetur-Grundsatz dagegen nicht berührt“ (Eisenberg 2002, Rn 373). Da hier kein Anschein eines Aussagezwangs besteht, rechtfertige die Verletzung der Belehrungspflicht kein Beweisverwertungsverbot (vgl. BGHSt 38, 214, 224; 47, 172, 173; SK-StPO/Rogall, § 136/31; Wohlers, NStZ 1995, 45, 46). Auf der anderen Seite ist der ursprünglich unbelehrte Beschuldigte nach h.M. auch bei einer späteren Vernehmung nur dann wirklich frei in seinem Aussageverhalten, wenn er außer auf sein Schweigerecht auch auf die Unverwertbarkeit seiner früheren Aussage hingewiesen wird. Andernfalls wirke der seinerzeitige Aussagezwangsanschein fort (zur qualifizierten Belehrung vgl. Grünwald, JZ 1968, 752, 754; Geppert 1990, 118 f.; Bosch 1998, 336 ff.; Roxin 1998, § 24/27; Weigend, StV 2003, 436, 438; für eine Einzelfallprüfung des fortwirkenden Irrtums dagegen BGHSt 35, 82, 84; vgl. auch BGH NStZ 1996, 290; zum Streit Neuhaus, NStZ 1997, 312, 314). Weiter als die h.M. geht Salditt, dem zufolge die Vernehmung wegen ihres Kontextes nicht nur scheinbarer, sondern realer Zwang sei, weshalb es auf das prozessuale Wissen des Beschuldigten nicht ankomme und freiwillig nur die in formgemäßer Vernehmung abgegebene Aussage sei (GA 1992, 51, 68 ff.). 108

Zu diesem Zusammenhang Roxin, NStZ 1995, 465, 466; Weßlau, ZStW 110 (1998), 1, 13 ff.; Wolter 2000, 974 (näher unten III.2.). Die Frage stellt sich i.Ü. ebenso beim Hinweis auf das Konsultationsrecht. Ob damit eine freie, weil umfassend aufgeklärte Selbstentäußerung des Beschuldigten nur im förmlichen Verhör erreicht oder bei jeglicher Ermittlung gewährleistet werden soll (sodass auch diese Belehrung bei allen Befragungen erfolgen müsste und an verdecktem Vorgehen hindern würde), hängt ebenfalls vom Einbezug des Täuschungsschutzes in nemo tenetur ab.

44

Teil 1: Bestandsaufnahme

stand) aktiv mitwirken will oder nicht“109. Die Mithilfe zur eigenen Verurteilung darf im Strafprozess nicht erzwungen werden – gleich in welcher Mitwirkungsform und gleich ob innerhalb oder außerhalb des Verhörs110. Abgesehen von vereinzelten Positionen im Schrifttum111 ist das „nicht umstritten“112. Zu selbstverständlich erscheint die Überlegung, dass angesichts eines selbstbelastenden Effektes der verbale oder nonverbale Charakter der zugrunde liegenden Handlung nebensächlich ist113.

1. Handlungs- und Duldungspflichten Mit der Freiheit vom Mitwirkungszwang korrespondiert die Strukturform jener Gruppe klassischer Eingriffe, bei denen die Ermittlungsbehörden (etwa beim Zugriff auf gegenständliches Beweismaterial) grundsätzlich offen vorgehen, regelhaft über gestufte Möglichkeiten zwangsweiser Durchsetzung verfügen, von ihrem Adressaten aber stets nur die Duldung der fraglichen Maßnahme verlangen können. Die Selbstbelastungsfreiheit schützt vor der nonverbalen Selbstüberführung und stellt die tätige Teilnahme an solchen Ermittlungsakten frei. Eine Verpflichtung zur passiven Duldung kollidiert mit dieser Schutzwirkung dagegen ebenso wenig wie ein Verbot von aktivem Selbstbegünstigungsgebaren. Nemo tenetur garantiert nach der traditionellen Auffassung lediglich, untätig bleiben zu können114. Deshalb wird dem Beschuldigten – eine entspre-

109

BGHSt 42, 139, 152.

110

Als Unterfall dieser Mitwirkungsfreiheit kann man das Recht verstehen, das eigene Verfahren nicht durch prozessuale Erklärungen fördern zu müssen, die vorzunehmen man berechtigt ist (zu Entlastungsbeweis und Schweigerechtsentbindung oben Fn 88). Dass man die Ausübung von Mitwirkungsrechten am Verfahren frei entscheiden darf, gewährleistet aber nicht nur der nemotenetur-Satz, sondern dies wohnt einem prozessualen Recht an sich schon inne (zu beiden Elementen Keiser, StV 2000, 633, 636 f.; Verrel 2001, 29 f.). 111 Diese Fraktion zusammenfassend und für sie repräsentativ Verrel 2001, 238 ff., der alle Mitwirkungen aus dem nemo-tenetur-Schutzbereich ausklammert, sofern bei ihnen allein der Körper und nicht das Wissen des Beschuldigten beansprucht wird. 112 Neumann 1998, 377; vgl. auch BGHSt 49, 56, 58; H. Schneider 1991, 29; Rzepka 2000, 388; Müller, EuGRZ 2001, 546, 553; zusammenfassend SK-StPO/Rogall, Vor § 133/73 m.w.N. 113 In diesem Sinne SK-StPO/Rogall, Vor § 133/143; Tschacksch 1988, 82, 89; Schramm 1990, 43; Bär 1992, 415; Mäder 1997, 106; Wieland 1997, 140; vgl. auch KMR/Lesch, § 136/15. Praktiziert wird diese Gleichstellung ebenfalls von der nemo-tenetur-Judikatur des EGMR (vgl. Funke ./. Frankreich, Serie A, Nr. 256-A, Ziff. 44 und NJW 2002, 499). Dass man ansonsten die Einbeziehung nonverbaler Selbstbelastungen in nemo tenetur international und völkerrechtlich uneinheitlich handhabt, besagt nach Sieber (1992, 58) nichts für die hiesige Rechtslage. 114 Der Beschuldigte kann zur passiven Mitwirkung verpflichtet werden (vgl. aus der h.M. BVerfGE 56, 37, 42 f.; Meyer-Goßner, Einl./80; SK-StPO/Rogall, Vor § 133/73, 141; § 81a/2; LR/Rieß, Einl. I/91; Welp 1974, 58; Meyer, JR 1987, 215, 216; Reiß 1987, 176 ff.; Nothhelfer

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

45

chende gesetzliche Regelung vorausgesetzt – nicht erspart, das behördliche Nachforschungsverhalten widerstandslos hinnehmen zu müssen. So hat er sich damit abzufinden, wenn die Ermittlungsbehörden: – seine äußere Erscheinung betrachten und bewerten115 und sein Ausdrucksverhalten (Mimik, Gestik) in die Beweiswürdigung eingehen lassen116; – sein Äußeres für eine Gegenüberstellung verändern (Haar-/Bartschnitt, Unterbinden von Grimassen)117; – seine Psyche untersuchen (§ 81 StPO), ohne dass er dies aktiv unterstützen muss118;

1989, 91 f.; H. Schneider 1991, 29 f.; Geppert 1992, 668; ders. 2003, 845; Bär 1992, 415.; Wieland 1997, 140; Neumann 1998, 377; Dietrich 1998, 48; Roxin 1998, § 18/11; Schlüter 2000, 120; Dallmeyer, KritV 2000, 252, 265 f.; Müller, EuGRZ 2001, 546, 553; Kramer, ZRP 2001, 386; Wüsteney 2003, 167 f.). Andererseits erkennt die Rspr. aber ein Recht auf Verteidigung an, das sich auf selbstschützende Nachtataktivitäten bezieht (dazu Torka 2000, 96 ff.). 115

Das gilt vor Gericht wie bei der polizeilichen Observation, vgl. Nimtz 2003, 73 f.

116

Vgl. BGHSt 5, 354, 356; Verrel 2001, 208; LR/Gollwitzer, § 261/16; Groth 2003, 121 ff.; zurückhaltender Kühne 1970, 59. Die h.M. sieht die „nicht aufgesuchte Wahrnehmung“ des Ausdrucksverhaltens als Teil der Vernehmung an (vgl. BGH MDR/D 1974, 367, 368; Meyer-Goßner, § 86/14; KMR/Paulus, Vor § 72/58; Fezer 1995, 17/35; grundsätzlich auch Hanack, JR 1989, 255, 256; Eisenberg 2002, Rn 2313). Ohne Schweigerechtsbelehrung lässt sich die darin steckende mimisch-gestische Erklärung indes genauso wenig berücksichtigen wie die ausdrückliche Äußerung (BGH NStZ 1988, 85). Auch wenn der Angeklagte schweigt, dürfen die beobachtbaren Ausdrucksformen nicht nachteilig verwertet werden, da sonst sein Schweigerecht ausgehöhlt würde (vgl. BGH StV 1993, 458; Moos 1983, 46; Bosch 1998, 294; Miebach, NStZ 2000, 234, 235; Groth a.a.O., 62; Schurig 2003, 53; zur älteren Gegenansicht Keiser, StV 2000, 633 Fn 5). Außerdem sollen systematisch (im Verhör oder am Polygrafen) provozierte Ausdrucksformen, die keine gesprächstypischen Reaktionen sind, generell von der Verwertung ausgeschlossen sein (vgl. BGHSt 5, 332, 335 f.; Walder 1965, 222 f.; Groth a.a.O., 123; auf den Erklärungswert des Verhaltens abzielend Keiser a.a.O., 636). Außerhalb von Vernehmungen (oder wenn dem Ausdrucksverhalten der Aktivitätscharakter abgesprochen und nemo tenetur daher überhaupt nicht herangezogen wird, so etwa Bauer 1972, 10; Rogall 1977, 33; vgl. auch OLG Bremen MDR 1970, 165: § 81a StPO), sei das Ausdrucksverhalten als Augenscheinsobjekt aber stets verwertbar, sofern es nicht erzwungen wird. Die Unverwertbarkeit kann nur einen anderen Grund haben, etwa ein entsprechendes Manipulationsverbot. Dies folgert man mitunter aus dem nemo-tenetur-Satz, weil jener die Ausforschung des Unbewussten verbiete (so Haas, GA 1997, 369, 371) bzw. weil jedenfalls der schweigende Angeklagte sich selbst und die von ihm ausgehenden kommunikativen Wirkungen vollständig aus der Sachverhaltsrekonstruktion herausnimmt (vgl. Roschmann 1983, 118 ff.). 117 Vgl. BVerfGE 47, 239, 251; KG NJW 1979, 1668, 1669; Meyer-Goßner, § 58/11: mangels aktiver Mitwirkung keine Verletzung von nemo tenetur (strittig jedoch für das Verhindern von Grimassen durch Anziehen von Knebelketten u.ä., dazu etwa Odenthal 1992, 83 f.). Bezweifelt wird i.Ü. die Befugnis zur Gegenüberstellung überhaupt (vgl. Grünwald, JZ 1981, 423, 424 ff.). 118 Vgl. Rogall 1977, 55; Meyer-Goßner, § 81/20; Eisenberg 2002, Rn 1702: Verpflichtung, das Beobachtet-Werden hinzunehmen. Weigert sich der Beschuldigte, an Untersuchungsmaßnahmen mitzuwirken, darf man dies aber nicht durch Analyse seiner normalen Sozialkontakte umgehen. Eine Unterbringung wird somit unzulässig, sofern nicht die Beobachtung des sonstigen Ver-

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Teil 1: Bestandsaufnahme

– von ihm Lichtbilder oder Fingerabdrücke abnehmen (§ 81b StPO) und dafür sein äußeres Erscheinungsbild verändern119; – ihn körperlich untersuchen (§ 81a StPO), ohne dass er daran über notwendige Begleithandlungen hinaus mitwirken muss120; – ihn oder seinen Bereich durchsuchen (§ 102 StPO) und Beweismaterial beschlagnahmen (§ 94 StPO), ohne er dies selbst herausgeben muss121. In all diesen Konstellationen schlägt sich die Absicht nieder, dem straftaterforschenden Staat die Inanspruchnahme solchen Beweismaterials zu gestatten, das unabhängig von seinen Einwirkungen entstanden ist122 und auf das er (ohne

haltens zum Untersuchungserfolg führt (vgl. BVerfGE NStZ 2002, 98; BGH StV 1994, 231 f.; OLG Celle StV 1985, 224; StV 1991, 248; OLG Düsseldorf StV 2005, 490; a.A. Bosch 1998, 285 f.: Auswerten dieses Verhaltens sei unzulässig, da durch Verfahrenskontext erzwungen). 119 Den erforderlichen Maßnahmen an seinem Körper darf sich der Beschuldigte nicht widersetzen (Meyer-Goßner, § 81b/10; Roxin 1998, § 33/17). Daher kann man gewaltsam Abdrücke seiner Handrücken abnehmen (vgl. BGHSt 34, 39, 45). Ihm kann eine Maske übergezogen und sein Körper kann in bestimmte Positionen gebracht werden (vgl. BGH NStZ 1993, 47), denn dies setze nur Passivpflichten durch. 120 Vgl. BGHSt 34, 39, 46; BGH VRS 39 (1970), 184, 185; OLG Schleswig NStZ 1982, 81 (aus der Literatur: Dahs/Wimmer, NJW 1960, 2217, 2219 f.; Rogall 1977, 55 ff.; Dippel 1986, 144; Meyer-Goßner, § 81a/10 f.; Geppert 1992, 725 f.; Eisenberg 2002, Rn 1627 f.). Der nemotenetur-Satz bezieht sich auf die Beschuldigtenbeteiligung an der Gewinnung des Untersuchungsmaterials (bspw. durch Blasen beim Atemalkoholtest), hat aber keine Bedeutung für die Frage, wie mit dem Untersuchungsgut verfahren wird. Dessen technische Verwertung (Augenschein oder Begutachtung wie Blut- und Genomanalyse) erfolgt ohne einen Beschuldigtenbeitrag (vgl. etwa Wüsteney 2003, 168). Andernfalls müsste man im Gebrauch der jeweiligen Körperbestandteile eine Indienstnahme des verlängerten Beschuldigten-Selbst sehen. Allerdings können sonstige Grundrechte eingreifen, etwa die informationelle Selbstbestimmung, der sich die Existenz des § 81a III und der §§ 81e ff. StPO verdanken (für die DNA-Analyse z.B. Satzger, JZ 2001, 639, 642). 121 Vgl. etwa Geppert 2003, 846. Dass der Beschuldigte – im Unterschied zu nicht beschuldigten Personen (§ 95 I StPO) – nicht zur aktiven Sachherausgabe verpflichtet ist, wird unterschiedlich begründet: a.) Verfassungswidrigkeit von § 95 I StPO, soweit er den Beschuldigten einbezieht (AK-StPO/Amelung, § 95/2); b.) § 95 I StPO betreffe, wie die Regelung der zwangsweisen Durchsetzung in Abs. 2 zeige, gar nicht den Beschuldigten (vgl. Rogall 1977, 57 f.); c.) verfassungskonforme Auslegung von § 95 I StPO (SK-StPO/Rudolphi § 95/5; Tschaksch 1988, 90). Ohnehin nicht tangiert wird nemo tenetur durch den Zufallsfund von Material, das ursprünglich unverdächtige Personen belastet – auch wenn sie dieses Beweismittel selbst hergestellt hatten (vgl. am Bsp. der Patientenkartei Wolter 1995, 52 f.). Die Erzeugung solcher Beweismittel geht nicht auf staatlichen Zwang zurück (vgl. aber § 108 II StPO und Fn 123 zur Frage von Verteidigungsmaterialien). 122 Gelegentlich will man mit dem nemo-tenetur-Satz den staatlichen Gebrauch von Beweismittel verbieten, die ohne hoheitliche Veranlassung vom Beschuldigten erzeugt wurden. So sieht Köhler in tatbezogenen Tagebucheintragungen eine von der Äußerungsfreiheit erfasste Selbstmitteilung zum Verdacht, die nicht gegen den Beschuldigtenwillen in das Verfahren eingehen dürfe (ZStW 107, 1995, 10, 24 f., ähnlich Ranft 2005, Rn 1601). Für die h.M. führt dagegen nicht die verdachtsbezogene Selbstbelastung der Tagebuchnotiz zur Unverwertbarkeit, sondern allenfalls deren Intimität (stellvertretend Roxin 1998, § 24/42 ff.).

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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den Beschuldigten einzuschalten) nur zuzugreifen braucht. Dagegen will man vom Beschuldigten nicht verlangen, bestimmte Beweismittel auf staatliche Veranlassung hin erst zu erzeugen oder den Staat bei ihrer Erlangung tätig zu unterstützen123. Eine solche aktive Mitwirkung erbringt der Beschuldigte im Strafprozess stets überobligatorisch. Dies setzt einen Verzicht auf das Verweigerungsrecht („Einwilligung“) voraus124, wobei die dafür erforderliche Freiwilligkeit125 sicherzustellen ist – durch eine Belehrung über das bestehende Passivrecht126, durch das Verbot, aus der Mitwirkungsverweigerung auf die Tatschuld zu schließen127, und durch ähnlich gelagerte Vorkehrungen128. Allerdings ruft die übliche Unterscheidung, die das Erzeugen und Bereitstellen von Beweisstoff (Beschuldigtenaktivität) und das Hinnehmen der staatlichen 123 Das staatliche „Veranlassen“ wird indes sehr verschieden verstanden, mitunter sehr weit: So unterliegt mit Beginn des Ermittlungsverfahrens jegliches Verteidigungsmaterial einem Beschlagnahmeverbot (§ 97 StPO), und zwar wegen § 148 StPO und nemo tenetur auch außerhalb des Verteidigergewahrsams (vgl. Meyer-Goßner, § 97/36 ff.; Welp 1973, 413 ff.; Schmidt 1989, 84 ff. m.w.N.). Alles andere führe zu einer unfreiwilligen Wissenspreisgabe (vgl. Dahs 1990, 66 f.). Da solche selbstbelastenden Unterlagen wegen des strafprozessualen Verteidigungserfordernisses angefertigt werden, beruhe ihre Erzeugung auf mittelbarem staatlichem Zwang, der vom Strafverfahren in toto ausgehe. Deshalb dürfe auf prozessvorbereitende Gutachten, die der Beschuldigte beauftragt hatte (vgl. Starke 1995, 90 ff.), oder auf sonstige Verteidigungsunterlagen auch beim ausgeschlossenen oder teilnahmeverdächtigen Verteidiger (vgl. Schmidt 1989, 158 f.) oder beim unverteidigten Angeklagten nicht zugegriffen werden (vgl. ders., StV 1989, 421, 422; Dahs 1990, 70; BGHSt 44, 46, 49). Die Gegenmeinung bestreitet, dass solches Material auf Zwang beruht. Es läge nur eine Mitwirkungslast vor, d.h. die Unterlagen würden nicht wegen eines staatlichen Imperativs gefertigt, sondern um die eigenen Verteidigung zu optimieren (zu dieser Struktur unten IV.2.b)). Das fragliche Beschlagnahmeverbot liege also außerhalb des Schutzbereichs von nemo tenetur (vgl. Schneider, Jura 1999, 411, 415; Konrad 2000, 62; Verrel 2001, 85; ebenso bei der Überwachung von Anwalts-Mandanten-Telefonaten Brenner 1994, 80 ff.). 124

Vgl. nur SK-StPO/Rogall, § 81a/16. Zum Erschleichen dieser Einwilligung unten III.2.b).

125

Normativ gesehen fehle die Freiwilligkeit aber nicht schon dann, wenn der fragliche Verzicht eine verteidigungsnotwendige Strategie darstellt (dazu Brandis 2001, 288 ff.). 126 Grundlegend Amelung 1981, 100 ff.; vgl. auch Dahs/Wimmer, NJW 1960, 2217, 2221; Rogall 1977, 192 f.; Geppert 1992, 660; Bär 1992, 415; Bosch 1998, 295 f.; Meyer-Goßner, § 81a/12. Gelegentlich wird dies direkt dem nemo-tenetur-Satz entnommen, da dieser vor dem Schein eines Mitwirkungszwangs schütze und die Hinweispflicht diesen Schein aufhebe (Ackemann 1997, 111 ff.). Umstritten ist bislang freilich, ob die Nicht-Belehrung zu einem Beweisverwertungsverbot führt (zusammenfassend SK-StPO/Rogall, Vor § 133/192). 127 Vgl. BGHSt 44, 308, 318; Eser 1974, 153. BGHSt 49, 56, 58 f. stellt nunmehr klar, dass es für dieses Verbot gleichgültig ist, ob die verweigerte Mitwirkung „endgültig“ ist oder durch einen erzwingbare Ermittlungsmaßnahme (etwa eine körperliche Untersuchung) ersetzt werden kann. 128

V.a. am Beispiel des Lügendetektor-Tests wurde erwogen, auch die freiwillige Teilnahme deshalb zu untersagen, weil sich bei Bestehen einer solchen Teilnahmemöglichkeit die nicht mitwirkungsbereiten Beschuldigten verdächtig machen könnten (deren Verweigerungsrecht wäre dann eine Einwilligungsschranke). Dies ist durch ein Verdachtsschöpfungsverbot indessen ausgeräumt (zur Diskussion vgl. Amelung 1981, 60 f.; ders., StV 1985, 257, 261; Frister, ZStW 106(1994), 303, 325 ff.; Sternberg-Lieben 1997, 274 ff.; Brandis 2001, 293 ff.).

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Teil 1: Bestandsaufnahme

Beweiserhebung (Beschuldigtenpassivität) trennen soll, wachsende Unzufriedenheit hervor. Die Grenze zwischen Duldungs- und Mitwirkungspflichten ist weniger scharf, als man lange glaubte. Sie mündet in virulente Zweifelsfälle, etwa bei der polizeilich erzwingbaren Abführ- oder Vomitivmittelvergabe. Hier ist die Einordnung der jeweils ausgelösten körperlichen Reaktion keineswegs ausgemacht129. In Ansehung dessen zeichnet sich innerhalb der h.M. eine Tendenz ab, die äußerliche Aktivitäts-Passivitäts-Differenzierung durch einen komplexeren Handlungs-Begriff zu lockern. Von nemo tenetur untersagt würde danach nur die Inanspruchnahme eines „echten Tuns“ (im Sinne geistig gesteuerter Körperaktivität), nicht aber der Zwang zu einer bloß physischen Reaktion130. Die ähnlich gelagerten Probleme im Recht der Untersuchungshaft bewältigt die h.M. in gleicher Manier. Zunächst entschärft man den unstrittig geständnisfördernden Effekt der Haft, indem man diese „als Voraussetzung für die Durchführung des Verfahrens und nicht als Druckmittel definiert“131. Als Gesamtinstitut ist sie gegenüber nemo tenetur damit entdramatisiert132, sodass sie nicht mehr in toto als fragwürdig er-

129

Für eine Handlung, die wegen nemo tenetur nicht erzwingbar ist, bereits Klaus 1933, 45 sowie zuletzt OLG Frankfurt StV 1996, 651, 652; Dallmeyer, StV 1997, 606, 608; ablehnend BVerfG NStZ 2000, 96; Weßlau, StV 1997, 341, 343; Rogall, NStZ 1998, 66, 67 f. (vgl. auch Vetter 2000, passim; Binder/Seemann, NStZ 2002, 234, 237 f. zu den weiteren Grundrechtsproblemen der Brechmittelvergabe). U.a. an diesem Bsp. äußern z.B. Neumann 1998, 377 f.; Verrel 2001, 220 und Schlauri 2003, 118 grundsätzliche Zweifel an der Abgrenzungsmöglichkeit zwischen aktiven und passiven Mitwirkungen (vgl. auch Wolfslast, NStZ 1987, 377 f.; Bosch 1998, 285 ff.). 130 So Wolff 1997, 94 f.; zustimmend Rogall a.a.O.; Verrel, 2001, 224; Zaczyk, StV 2002, 125, 126 f.; wohl auch Müller, EuGRZ 2002, 546, 555 f.; offen lassend Binder/Seemann, NStZ 2002, 234, 238. Beim Polygrafen sieht man die zustimmungsbedürftige Aktivität im Teilnehmen am Test und nicht in der registrierten körperlichen Reaktion als konkreter testinterner Informationspreisgabe (Frister, ZStW 106, 1994, 303, 317). Das Geistigkeitskriterium ist wohl ebenso gemeint. Es will das Entäußern körperlicher Daten aus der Aktivität ausklammern, nicht aber die generelle Entscheidung zur Mitwirkung (kritisch Dallmeyer, KritV 2000, 252, 260 f.). 131 132

Niehaus 2003, 213 (Herv. i.O.).

Die U-Haft ist dann nur noch in exzeptionellen Lagen ein Selbstbelastungszwang, etwa wenn sie sich als „Prozessstrafe“ für das Schweigen ausnimmt (bspw. wenn das Verfahren gegen einen nichtgeständigen Mitangeklagten abgetrennt, verzögert und die U-Haft so verlängert wird, vgl. OLG Karlsruhe StV 2000, 91). Gegen die Geständnisfreiheit des Beschuldigten gerichtet und rechtswidrig ist jede U-Haft, die (apokryph) die Einlassungsbereitschaft oder Aufklärungshilfe bewirken soll (vgl. BGHSt 44, 129, 135; Schlothauer/Weidner 2001, Rn 270 f.; SK-StPO/Paeffgen, Vor § 112/31; Fahl 2004, 198 ff.). Ihre Androhung (BGH StV 2004, 636), Anordnung und ihr Vollzug dürfen nicht auf Geständnisse zielen (vgl. LR/Hilger, Vor § 112/7, 39; Seebode 1985, 65 ff.). Nur das durch rechtmäßige Haft motivierte Geständnis darf verwendet werden, wenn (und weil) es Reflex und keine intendierte Haftfolge ist (so Verrel 2001, 69 m.w.N.; vgl. auch Arzt, ZStR 110, 1992, 233, 244, 247). Während die Literatur in diesem Zusammenhang bereits Einlassungen für unverwertbar hält, die durch eine rechtswidrige U-Haftanordnung hervorgerufen wurden (vgl. Fezer, StV 1996, 77, 78; Paeffgen, NStZ 1997, 115, 119), verlangt der BGH den darüber hinaus gehenden bewussten Missbrauch der Verhaftung (NStZ 1995, 606; vgl. auch Verrel a.a.O., 75 f., der allein auf das Missbrauchskriterium abstellt). Nach Bosch soll die Unverwertbarkeit eines

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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scheint, sondern sich in ihren Einzelausprägungen kleinarbeiten lässt: Danach genügen die Haftgründe des § 112 II Nr. 3 StPO der herkömmlichen Anforderungsstruktur, weil sie an strafvereitelungsmotivierte Aktivitäten (Verdunkelung) anknüpfen und somit dem Bereich zugehören, den die h.M. aus der Selbstbelastungsfreiheit herausnimmt133. Dagegen reagieren die fluchtbezogenen Haftgründe des § 112 II Nr. 1 und 2 StPO – ebenso wie Hauptverhandlungs-, Vorführungs- oder Ungehorsamshaft (§§ 127b, 134, 163a III, 230 II, 236 StPO) – auf die (potenzielle) Abwesenheit des Beschuldigten und nötigen ihn damit zu einem Tätigwerden (Erscheinen vor Gericht134). Mit einem absoluten Verbot der Mitwirkungspflicht verträgt sich das kaum. Die h.M. kann dieses Problem indes durch ihren eben referierten Handlungs-Begriff umgehen: Die Verhaftung sichere nur die körperliche Anwesenheit und verlange vom Betroffenen keinen geistig gesteuerten Akt135. So gesehen zwingt auch das Haftrecht seine Adressaten allein in eine Passivrolle.

Damit ist der Streit aber keineswegs beigelegt. In der neueren Literatur zieht man nämlich bereits die Prämisse der überkommenen Ansicht in Zweifel. Die Grenzlinien des nemo-tenetur-Schutzes ausgerechnet zwischen tätig und passiv bewirkter Selbstbelastung zu verlegen, verstehe sich nicht von selbst. Gemessen an der Bezichtigungswirkung könne der Beschuldigte durch Duldungspflichten in wertmäßig ebensolcher Weise betroffen werden wie durch Handlungszwänge. Die Aktivitäts-/Passivitäts-Unterscheidung sei daher aufzugeben136.

Geständnisses dann eintreten, wenn bzw. solange der Untersuchungshäftling nicht über sein Akteneinsichtsrecht belehrt wurde (StV 1999, 333, 339). 133

Vgl. Paeffgen 1986, 101, 111.

134

Einschränkend aber Stein (ZStW 97, 1985, 303, 325): Nemo-tenetur-Eingriff, falls mit der Anwesenheitspflicht der Zweck verfolgt wird, Informationen vom notgedrungen erscheinenden Beschuldigten zu erlangen. 135 Vgl. Paeffgen 1986, 87 ff.; Wolff 1997, 93; vgl. auch Reiß 1987, 179. In der Erscheinenspflicht nach § 163 III 1 StPO kann daher nach Fezer (1995, 3/3) „keine aktive Mitwirkungspflicht gesehen werden“ (eine Kollision mit nemo tenetur moniert aber OLG Frankfurt/M. NStZ-RR 2004, 157). Zulässigerweise nur zur Passivität gezwungen wird auch derjenige, der bei polizeilichen (Verkehrs-)Kontrollen anhalten und warten muss (vgl. Geppert 1992, 670). Dagegen verlangt § 132 I StPO vom wohnsitzlosen und auswärtigen Tatverdächtigen, mehr als die Einnahme der Passivrolle – nämlich bestimmte zusätzliche Mitwirkungen (z.B. Sicherheitsleistungen) zur Verfahrensdurchführung. Das soll sich nur deshalb in das System der h.M. einfügen, weil diese Pflichten gemäß § 132 III StPO nicht vollstreckt werden können (vgl. Wolff a.a.O., 93 f.). 136 Vgl. Sautter, AcP 1962, 215, 247 ff.; Rossmanith 1969, 69 ff.; Kühne 1970, 54 f.; Hartman-Hilter 1996, 19; Bosch 1998, 285 ff.; Kopf 1999, 164 ff.; Neumann 1998; Gössel, GA 2001, 192, 195; Verrel 2001, 226 ff.; Radtke 2001, 331. Nur eine scheinbare Alternative zur herkömmlichen Konzeption wird hingegen dort vertreten, wo anstelle der abgenötigten Mitwirkungsart (Aktivität) die Art des verwendeten Nötigungsmittels (kompulsiver statt absoluter Zwang) die unzulässigen Ermittlungsformen kennzeichnen soll (so Grünwald, JZ 1981, 423, 428). Im Ergebnis behält dies nämlich die herkömmliche Differenzierung weitgehend bei und reformuliert sie nur aus der Perspektive des Einwirkungsaktes, denn bei jenen Mitwirkungen, die der Staat per absoluten (nach Grünwald also zulässigen) Zwang durchsetzen kann, handelt es sich eben typischerweise um Untätigkeiten (bzw. Duldungen). Aus dem Einwirkungsmodus ergibt sich aber auch kein neuer Ge-

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Teil 1: Bestandsaufnahme

2. Heimliche Ermittlungen und der Schutz vor Täuschung Neben den offenen und erzwingbaren Beweiserhebungstechniken kennt das Ermittlungsverfahren noch eine zweite Gruppe, mit denen die Tataufklärung außerhalb des Verhörs betrieben wird. Diese Ermittlungsmethoden weisen nach dem Vorbild der Kommunikationsüberwachung (§§ 99, 100a, 100c StPO) eine strukturelle Heimlichkeit auf137. Nimmt man das Maß ihrer wissenschaftlichen Erörterung als Indikator, erleben sie in der modernen Strafverfolgungspraxis eine beachtliche Konjunktur, obschon ihr Überführungsmodus in das (Um-)Feld von nemo tenetur fällt. Immerhin zielen ihre Wirkmechanismen darauf ab, dass sich verdächtige Personen, die von den jeweiligen Maßnahmen keine Kenntnis haben, durch ihr unbefangenes Verhalten selbst belasten138. Das lässt besonders dann aufmerken, wenn der Staat die Herstellung des verdeckt registrierten Beweismaterials angestoßen hatte.

a) Die Hörfallen-Debatte Ihren Idealtypus finden solche Methoden in der so genannten Hörfalle, bei der die Ermittlungsorgane ein (Privat-)Gespräch mit dem Verdächtigen initiieren, ausschließlich um dessen verfänglichen Inhalt durch unbemerkt anwesende Lauschzeugen oder Aufzeichnungstechniken dem Tatnachweis zugänglich zu machen. Am Beispiel dieser Vorgehensweise formulierte der BGH seine grundsätzliche Haltung zur nemo-tenetur-Relevanz verdeckter Ermittlungen – nachdem er sich zuvor zur heimlichen Beweisgewinnung einesteils unter beiläufiger Berufung auf die Selbstbelastungsfreiheit ablehnend gezeigt hatte139, um dann

sichtspunkt, um die besagte Unterscheidung zu rationalisieren. Eine solche Begründung folgt v.a. nicht aus einer besonderen Übergriffsqualität des nach Grünwald unzulässigen kompulsiven Zwangs („Qual der Wahl“), denn auch absolute Gewalt hat diese willensbeugende Vorauswirkung, wenn der Betroffene sie absehen und abwenden kann. Insofern ist dieses Konzept ebenso wie die h.M. darauf angewiesen, für die Schutzbereichsgrenzen auf den Unterschied zwischen erzeugter Aktivität und Passivität zu rekurrieren (vgl. auch Paeffgen 1987, 70; H. Schneider 1991, 36; Bosch 1998, 281; Neumann 1998, 380 f.; Torka 2000, 127 ff.; Verrel a.a.O., 215 f.). 137

Zum Einzug der entsprechenden Regelungen in die StPO vgl. Kinzig (2004, 107 ff.), der darin eine „Vernachrichtendienstlichung des Ermittlungsverfahrens“ sieht (a.a.O., 791). 138 Diese Zielrichtung unterscheidet sie von heimlichen Datenerhebungen des Polizeirechts (dazu Kinzig 2004, 88 ff.; speziell zum polizeirechtlichen Lauschangriff Kutscha, NJW 1994, 85 f.). 139

So begründet der BGH die Unzulässigkeit erschlichener Stimmproben u.a. damit, dass der Schutz vor Mitwirkungszwängen durch zweckidentische Täuschungen nicht umgangen werden dürfe (BGHSt 34, 39, 46; entscheidungstragend war aber die fehlende Ermächtigung). Deshalb sei ebenso die Stimmenidentifizierung durch einen Zeugen unzulässig, wenn die von ihm belauschte Beschuldigtenvernehmung nur zu diesem Zweck vorgenommen wurde (vgl. BGHSt 40, 66, 70 ff.). Ganz ähnlich hielt der 5. Senat auch die Hörfalle wegen der Gefahr für unzulässig, dass die Beleh-

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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in anderen Fällen wiederum die gegensätzliche Auffassung zu vertreten140. Dabei bekräftigte der Großen Senat anhand der Hörfalle den ermittlungsfreundlichen Teil seiner Judikatur. Mit Hinweis auf den überlieferten Schutzgehalt des nemo-tenetur-Satzes beschränkte er dessen Abwehrwirkung auf den Aussagezwang und schloss die Täuschung hiervon aus141. Allerdings steht die Hörfalle gleich in mehrfacher Weise auf dem Prüfstand. So will die h.M. die schweigerechtlichen Gewährleistungen auch deshalb nicht auf die verdeckte Befragung erstrecken, weil es sich dabei um keine Vernehmung handele. Bei ihr spiele sich ein Geschehen aus dem „normalen Leben“ ab, das den Formbindungen der „Verfahrenswelt“ nicht unterliege. Zu einer Vernehmung komme es, wie sich aus dem systematischen Zusammenhang von §§ 133, 136 I StPO ergebe, erst durch einen förmlichen Vorgang, bei dem die Verhörsperson offen als Amtsträger auftritt (formeller Vernehmungsbegriff)142. Das Gegenmodell begreift solche Vernehmungsmerkmale dagegen als Anforderung an eine vorschriftsmäßige Durchführung und nicht als Entstehungsgrund einer Vernehmung. Eine solche finde immer dann statt, wenn der Staat eine Äußerung herbeiführe, – nur sei das eben allein dann regulär,

rungsregeln des § 136 I StPO andernfalls unterlaufen würden (BGH NStZ 1996, 200). Schließlich ist die Verwendung eines aufgezeichneten, polizeilich veranlassten Gesprächs zwischen einem VMann und dem Beschuldigten nach BGHSt 31, 304, 308 als heimlich bewirkte Selbstbelastung problematisch (entscheidungstragend war die Nichteinhaltung der Formalien nach §§ 100a f. StPO). BGHSt 34, 362, 364 sieht endlich einen unzulässigen Zwang darin, auf den in Untersuchungshaft einsitzenden Beschuldigten einen Spitzel anzusetzen, um ihn so auszuhorchen (dazu später auch BGHSt 44, 129, 135). 140 BGHSt 39, 335 erlaubt das unbemerkte ermittlungsbehördliche Mithören telefonischer Äußerungen des Beschuldigten über einen Zweithörer, sofern der Gesprächspartner damit einverstanden ist. Eine Täuschung nach § 136a StPO wird abgelehnt. Äußerungen gegenüber Privaten erfolgten freiwillig und seien ebenso wie der Irrtum über die Abwesenheit mithörender Dritte nicht vom nemo-tenetur-Satz geschützt (a.a.O., 346 ff.; in die gleiche Richtung auch BGH NJW 1989, 843, 844 und BGHSt 40, 211, 215). 141 Vgl. BGHSt 42, 139, 153 (vgl. auch BGHSt 44, 128, 133 f.). Neben dem zentralen historischen Gesichtspunkt operiert das Gericht mit drei Hilfsargumenten, um den Schutz vor Täuschungen durch den nemo-tenetur-Satz zu verneinen: Art 14 III Buchst. g IPbR spreche nur von Zwang. Verdeckte Ermittlungen seien grundsätzlich zulässig. Außerdem würde ein Schutz vor irrtumsbedingter Selbstbelastung weiter reichen als das Täuschungsverbot in § 136a StPO. 142 Vgl. BGHSt 42, 139, 145 f.; NStZ 1996, 200; BayObLG NStZ-RR 2003, 343 (ebenso Wolter 1990, 498; Roxin, NStZ 1995, 465; Sternberg-Lieben, Jura 1995, 299, 306; Schlüchter/Radbruch, NStZ 1995, 354 f.; Schneider JR 1996, 401, 405 f.; ders., NStZ 2001, 8, 9; Derksen, JR 1997, 167, 168; Kudlich, JuS 1997, 696, 699; Verrel, NStZ 1997, 415, 416; Weßlau ZStW 110 (1998), 1, 8 ff.; KMR/Lesch, Vor § 133/16; ders., GA 2000, 355; Makrutzki 2000, 74; Klein 2001, 61 ff.; Ranft 2005, Rn 325 ff.). Auf dieser Basis verliert auch die heimliche Befragungstätigkeit von V-Leuten und verdeckten Ermittlern insofern an Sprengkraft, als eine Belehrung gemäß § 136 I StPO mangels Vernehmungslage nicht erfolgen muss (vgl. BGHSt 40, 211, 213; Quentin, JuS 1999, 134, 138 f.; vgl. auch Lagodny, StV 1996, 167, 168; zur davon unberührten Frage nach der für V-Leute geltenden Befugnisnorm für einsatzbedingte Grundrechtseingriffe zuletzt etwa Weiler 2001, 190 ff.; Ellbogen 2004, 102 ff.).

52

Teil 1: Bestandsaufnahme wenn dabei die Form der §§ 133 ff. StPO eingehalten werde143. Da nun die Bekundung des Beschuldigten auch bei der Hörfalle staatlich veranlasst ist und folglich eine Vernehmung stattfinde144, ohne dass dem eine Belehrung (§ 136 I StPO) vorangeht, wäre die fragliche Einlassung hiernach unverwertbar145. Unabhängig davon muss sich die Hörfalle, wenigstens wenn sie eine vernehmungsähnliche Lage darstellt, auch an § 136a StPO messen lassen146. Das dort angeordnete Verbot amtlicher Täuschung, an das dann zu denken wäre, wird jedoch meist eng interpretiert. Die resolute Missachtungssanktion (Verwertungsverbot, § 136a III StPO) spräche ebenso wie das Gewicht der anderen Verbotsfälle in § 136a I StPO dafür, dass mit einer Täuschung nur eine Irreführung von erheblicher Intensität gemeint sei. Die Hörfalle,

143

Vgl. dazu Seebode, JR 1989, 427, 428 (zustimmend Beulke, StV 1990, 180, 181; Ransiek 1990, 60 f.; LR/Hanack, § 136/64; Dencker, StV 1994, 667, 674 f.; Weiler, GA 1996, 107, 113; Bosch, Jura 1998, 236, 237 ff.; ders. 1998, 212 ff.; Müssig, GA 1999, 119, 127 f. Fn 35; Schäfer 2000, Rn 316; Artzt 2000, 246 ff.; Kraft 2002, 315 ff.). Dem Staat zurechenbar sind nach dieser Ansicht nicht nur Befragungen durch verdeckte Ermittler, sondern (gemäß dem öffentlichrechtlichen Verwaltungshelfer-Institut) auch durch V-Leute und andere staatlich einbezogene Privatpersonen (dazu Bernsmann, StV 1997, 116, 117; Salger 1998, 36; Meurer 2001, 1290; Schneider, NStZ 2001, 8, 11 ff.; zu rein privaten Nachforschungen unten V.3.). 144 Auch eine materielle Lesart verneint indes eine Vernehmung, wenn sich Auskunftspersonen gegenüber den (verdeckt oder offen auftretenden) Ermittlungsorganen so überraschend äußern, dass sie gar nicht entsprechend ihrer prozessualen Rolle behandelt werden können (Spontangeständnis). Solche Mitteilungen sind nicht staatlich veranlasst. Sie leiden daher an keinem Belehrungsmangel (vgl. BGH NStZ 1990, 43; OLG Köln NStZ 1991, 52; BayObLG StV 2002, 405; Wolff 1997, 78 Fn 408; Beulke, StV 1990, 180, 181; Verrel 2001, 141; einschränkend Bosch 1998, 274 ff.; ablehnend Haas, GA 1995, 230 f., der bei § 136 I StPO jede Beschuldigtenaussage vor einer Vernehmungsperson genügen lässt und für das Vorliegen einer Vernehmung auf das Kriterium staatlicher Äußerungsveranlassung verzichtet). Solche Aussagen gehen auch nicht auf Aussagezwang zurück (einschränkend aber Fezer, StV 1990, 195, dem zufolge hier Aussagepflichten jedenfalls fälschlich angenommen worden sein könnten und nicht ausgenutzt werden dürften). 145 Auf dieser Basis führt ein materieller Vernehmungsbegriff zur Unverwertbarkeit der Ergebnisse aller verdeckten und daher belehrungslosen Befragungen (zum Verwertungsverbot bei Verstoß gegen § 136 I 2 StPO oben Fn 102 und 107). Abgesehen von der Fernwirkungsfrage bestünde der operative Nutzen heimlicher Ermittlungen dann nur in der Beschaffung von Beweismaterial, dass nicht vom Verdächtigen selbst stammt (so ausdrücklich LR/Hanack, § 136/65 f.; Bosch, Jura 1998, 236, 239 f.). Allerdings könnten die §§ 110a ff. StPO als Ausnahmebefugnis zur belehrungslosen Vernehmung fungieren (vgl. BGHSt 41, 42, 44; Hanack a.a.O.; Lagodny, StV 1996, 167, 170; Makrutzki 2000, 54; ablehnend Fezer 1995, 8/30; Weiler, GA 1996, 101, 106 f.; für ein selbstständiges Verwertungsverbot hier Artzt 2000, 254 ff.). 146 Für § 136a StPO ist der strittige Vernehmungsbegriff ohne Belang, da die Methodenverbote auch in vernehmungsähnlichen Lagen gelten (BGHSt 34, 362; Eisenberg 2002, Rn 637; a.A. Schneider, JR 1996, 401, 406). Darunter verstehen manche das direkte oder indirekte staatliche Herbeiführen von Aussagen, andere hingegen – und danach wären Hörfallen nur selten erfasst – allein Situationen, in denen die formelle Befragung umgangen wird und sich der Verdächtige dem Befragt-Werden nicht ohne weiteres entziehen kann (zusammenfassend Sternberg-Lieben, Jura 1995, 299, 306 f.; Renzikowski, JZ 1997, 710, 712 Fn 13).

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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so die Mehrheitsmeinung, hebe die Entscheidungsautonomie beim Befragten, der sich ohne Not zur Äußerung entschließe, nicht in diesem gesteigerten Maße auf147.

Besonders kontrovers geht es indes mit Blick auf die direkte Gegenüberstellung von Hörfallen und nemo tenetur zu. Ein Teil des Schrifttums wähnt den Beschuldigten durch Täuschung ebenso wie durch Zwang auf ein Werkzeug staatlicher Ermittlung reduziert. Man müsse deshalb dem BGH die Gefolgschaft versagen. Es könne keinesfalls bei der herkömmlichen nemo-tenetur-Fassung bleiben, die nur vor der zwangs- und zwangsanscheinsbedingten Selbstbelastung schützt, nicht aber vor der Selbstenthüllung infolge eines staatlich provozierten Irrtums (z.B. bei vorgetäuschter Privatheit des Äußerungskontextes)148. Vielmehr habe man die modernen Prozessrealitäten in eine irrtumssensible Neuinterpretation der Selbstbelastungsfreiheit umzumünzen149. Diese wolle in ihrer modernisierten Gestalt erreichen, dass der Beschuldigte über seine Verfahrensmitwirkung vollumfänglich selbst entscheidet. Somit werde er auch vor der täuschungsbedingten Selbstbezichtigung bewahrt (da er als Irrender über sein Mit-

147 Vgl. BGHSt 39, 335, 348; 42, 139, 149; NStZ 1996, 200, 200 f.; Puppe, GA 1978, 289, 305; Roxin, NStZ 1995, 465, 466; Sternberg-Lieben, Jura 1995, 299, 307 f.; Renzikowski, JZ 1997, 710, 712; Kudlich, JuS 1997, 696, 698; Erfurth 1997, 60; Salger 1998, 32 f.; Bosch, Jura 1998, 236, 240; SK-StPO/Rogall, § 136a/53, 57; Verrel 2001, 112; Ellbogen 2004, 95; weitere Argumente bei Lagodny, StV 1996, 167, 169. Die Gegenansicht bestreitet die Verengung des Täuschungsbegriffs, da sich die von § 136a StPO verbotenen Methoden infolge ihrer Strukturunterschiede nicht zur gegenseitigen Konkretisierung heranziehen ließen (vgl. Beulke, StV 1990, 180, 183 f.; LR/Hanack, § 136/37; Bernsmann, StV 1997, 116, 117 f.; Derksen, JR 1997, 167, 169; Kahlo 1998, 185 f.; Pawlik, GA 1998, 378, 388; Meurer 2001, 1294; Jäger 2003, 169 ff.). Zur Diskussion auch Kühl, StV 1986, 187, 189 f.; Keller 1989, 127; Weßlau 1989, 217 ff. sowie Dencker, StV 1994, 667, 674 f., der die Täuschung über das Ob der Vernehmung dem § 136 StPO zuweist, während § 136a StPO jegliche Täuschung in der Vernehmung verbiete. 148

Die Belehrung nach § 136 I 2 StPO bewahrt den Vernommenen hiernach vor einer realen oder scheinbaren Aussagepflicht, weil die Selbstbelastungsfreiheit nur so weit reiche (vgl. BGHSt 42, 139, 147 f., 151 ff.; ebenso KK/Boujong, § 136/11, KMR/Lesch, § 136/32; SK-StPO/Rogall, Vor § 133/140; SK-StPO/Wolter, Vor § 151/124; Puppe, GA 1978, 289, 299 ff.; Schlüchter/Radbruch, NStZ 1995, 354, 355; Sternberg-Lieben, Jura 1995, 299, 308 f.; Groth 1996, 264 ff.; Duttge, JZ 1996, 556, 562; Verrel, NStZ 1997, 362, 415 f.; ders. 2001, 264 ff.; Wolff 1997, 97; Ackemann 1997, 119; Popp, NStZ 1998, 95 f.; Pawlik, GA 1998, 378, 389; Reiche 1999, 64 ff.; Quentin, JuS 1999, 134, 139 f.; Lesch, GA 2000, 355, 362; Müller, EuGRZ 2001, 546, 556; Jäger 2003, 163 ff.; offen lassend BVerfG NStZ 2000, 488; 2000, 489). Es mache keinen Unterschied, ob die verfängliche Beschuldigtenäußerung durch heimliche Mithörer oder ihren Empfänger, der das Gespräch im staatlichen Auftrag provoziert hatte, verraten wird: Wer sich anderen freiwillig enthülle, mache sich selbst von deren Diskretion abhängig (vgl. BGHSt 40, 211, 215; BGH NJW 1989, 843, 844; Krey 1994, Rn 170). Etwas anderes gelte nur für die Äußerung gegenüber dem Verteidiger. Zu ihr komme es wegen des prozessbedingten Verteidigungszwangs – also unfreiwillig. Daher dürfe wegen des nemo-tenetur-Satzes kein Risiko des Publikwerdens bestehen (zum Problem etwa Welp 1973, 393 f.; Galen, StV 2000, 575, 582). 149 So Bosch, Jura 1998, 236, 241 f.; Weichert 1990, 126; Meurer 2001, 1288 f. und Schneider, GA 1997, 371, 378 mit einer „dynamisch-teleologischen“ Neuinterpretation von nemo tenetur.

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Teil 1: Bestandsaufnahme

teilungsverhalten nicht frei befinde)150. In der formellen Vernehmung sei die notwendige Irrtumsfreiheit dagegen durch die vorgeschriebene Belehrung gesichert, weil dem Beschuldigten so bewusst werde, dass momentan ein Verhör abläuft und dass seine Auskünfte zu seinen Lasten gehen können. Auch damit das Strafverfolgungspersonal diese Entscheidungsautonomie und ihre prozessuale Absicherung nicht umgehe und auf verdeckte Vernehmungen ausweiche, gelte dort § 136 StPO analog151.

b) Sonstige Formen der verdeckten Ermittlung Der eben skizzierte Streit spielt eine Stellvertreterrolle. Er steht für die mannigfaltigen heimlichen Verfahren, bei denen man den Beschuldigten während seines kommunikativen und sonstigen Verhaltens observiert, damit er unversehens eine selbstbelastende Äußerung oder eine sonstige beweiskräftige Information preisgibt152. Die Positionen aus der Hörfallen-Debatte kehren folglich bei

150 So dezidiert EGMR, Allan ./. UK, StV 2003, 257, 259. Deshalb schütze die auf Art 6 I EMRK fußende Selbstbelastungsfreiheit auch vor der Neutralisierung der freien Entscheidung über das Aussageverhalten, indem dem Beschuldigten durch aktive Täuschung eines Haftzellen-Spitzels eine selbstbelastende Äußerung entlockt wird, nachdem in der offenen Vernehmung dergleichen nicht erreicht werden konnte (dazu SK-StPO/Paeffgen, Art 6 EMRK/85; Esser, JR 2004, 98, 105 f.). In der deutschen Diskussion kursiert der Zusammenhang von Irrtumsfreiheit und einer als eigenverantwortlich und selbstbestimmt zurechenbaren Mitwirkungsentscheidung seit den Ausführungen von Ransiek 1990, 48 ff., 67 ff. 151 Wegen der typischerweise fehlenden Belehrung werden die Ergebnisse verdeckter Vernehmungen auch hiernach unverwertbar. Zu diesem Ansatz Roxin NStZ 1995, 465, 466 ff. (vgl. auch ders., NStZ 1997, 18, 18 f.; Weiler, GA 1996, 101, 106 f., 113; Makrutzki 2000, 78 ff. sowie BGH NStZ 1996, 200, 201; Wolfslast, NStZ 1987, 103, 104; Hassemer/Matussek 1996, 69 ff.; Salger 1998, 56 f.; Walischewski 1999, 237 ff.; Hilger 1999, 214 f.; Eschelbach, StV 2000, 390, 396; Rzepka 2000, 426 f.; Götting 2001, 159 ff., 186 ff.; Derksen, JR 1997, 167, 168 f.; Eisenberg 2002, Rn 571 f.; Kraft 2002, 159 f.; Groth 2003, 88; Schilling 2004, 89 f.). Bei diesen Stimmen wird freilich nicht immer deutlich, ob es ihnen mehr um den Schutz vor der Umgehung der Belehrungspflicht gemäß § 136 I StPO geht (Müssig, GA 2004, 87, 101: verdeckte Befragung als unzulässige „Ersatzvornahme“ der Nichtbelehrung im Verhör) oder tatsächlich um eine Neuakzentuierung des nemo-tenetur-Satzes (klar i.S. der letzten Variante z.B. Wolter 2000, 972 ff.: Ausforschung missachte Selbstbezichtigungsfreiheit als solche). Darauf, dass die Selbstbelastungsfreiheit polizeilich erschlichene Geständnisse untersage, berufen sich aber i.Ü. auch diejenigen, die § 136 StPO wegen ihres materiellen Vernehmungsbegriffes direkt anwenden (vgl. Dencker, StV 1994, 667, 674 f.; Haas GA 1995, 230, 234 f.; Bosch, Jura 1998, 236, 241 f.). 152 In diese Gruppe gehören neben der technischen Überwachung auch einfache polizeiliche Observationen (ohne technische Hilfsmittel), da sie ebenfalls darauf zielen, eine selbstbelastende Aktivität zu registrieren (die zuvor vielleicht noch provoziert wurde). Bis zum Erlass von § 163f StPO wurde bei diesen Maßnahmen allerdings – ebenso wie bei der längerfristigen technischen Überwachung – meist wegen anderweitiger Grundrechtseingriffe um Existenz und Notwendigkeit einer Befugnisnorm gestritten (vgl. etwa BGHSt 44, 13; Fezer 1995, 8/32; Artzt 2000, 23 ff.; zur nunmehrigen Regelung vgl. Nimtz 2003, 102 ff., 105 ff.).

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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den anderen – in §§ 99, 100a, 100c StPO teilweise positivierten – heimlichen Ermittlungsmethoden wieder. Sofern der Staat mit diesen Verfahren nur registriert, was ohne seine Veranlassung an belastendem Material entsteht, wird nemo tenetur allerdings selten ins Feld geführt153. Wer sich etwa gegenüber Dritten aus eigenem Antrieb zu seinen Taten äußert, trage nach nahezu unbestrittener Ansicht das Risiko, dass die hierbei arglos angenommene Vertraulichkeit aufgehoben wird. Darauf zielende Methoden haben sogar den Segen des BVerfG erhalten. Nach Auffassung des Gerichts sei die Überwachung allein dann unzulässig, wenn sie sich den Kernbereich privater Lebensgestaltung erschließe154 (wobei es in diesem Fall statt nemo tenetur allerdings andere Grundrechte seien, aus denen diese Grenze resultiere155). Für die h.M. ist die Selbstbelastungsfreiheit aber nicht einmal dann angesprochen, wenn die Ermittlungsorgane den Beschuldigten zu einem verfänglichen Verhalten verleiten (etwa durch geschicktes Nachfragen von verdeckten Ermittlern oder V-Leuten) und sich das so erzeugte Belastungsmaterial verschaffen (sei es durch Zeugnis der ins Vertrauen gezogenen Personen oder in Form der §§ 99, 100a, 100c StPO). Der auf den Mitwirkungszwang programmierte nemo-tenetur-Satz stehe dem nicht im Wege156. Das zeige nicht zuletzt

153 Schon die bloße Heimlichkeit (Irrtumsausnutzung) hält Köhler, ZStW 107 (1995), 10, 24 f., 32, 41 für unzulässig: Durch den Einbruch in vertrauliche Kommunikationsbeziehungen (Postbeschlagnahme, Abhören) werde eine Selbstmitteilung gewaltsam, da hinsichtlich dieser Zweckbestimmung unfreiwillig, zu einer Mitteilung im Prozess gemacht – die Freiheit, über prozessual erhebliche Erklärungen zur Tat selbst befinden zu können, also umgangen. Ganz überwiegend hält dagegen selbst das täuschungskritische Lager die Verwertung heimlich registrierter selbstbelastender Aktivität erst bei ihrer staatlich Initiierung für prekär (etwa Ransiek 1990, 62; AE-EV 2001, 61; Groth 2003, 80; Müssig, GA 2004, 87, 100; vgl. auch EGMR, Allan ./. UK, StV 2003, 257, 259; kritisch zur Trennschärfe des Veranlassungsbegriffs Verrel 2001, 167 f.). 154

Private Kommunikation, die sich unmittelbar auf eine konkrete Straftat bezieht, zähle nicht zu diesem Kernbereich. In ihn fiele nur der Austausch von Innerlichkeiten, die „Ursachen oder Beweggründe eines strafbaren Verhaltens freizulegen vermögen“ (BVerfGE 109, 271, 319). 155 Die heimliche Überwachung verkürze nemo tenetur nicht (BVerfGE 109, 271, 324). Ein Täuschungsverbot ergebe sich allerdings aus dem Rechtsstaatsgebot – nur werde dies durch Strafverfolgungsinteressen beschränkt (a.a.O.). Soweit indes die Überwachungsmaßnahme in die innere private Lebensgestaltung vordringe (eben Fn 154), sei die Menschenwürde bzw. der Menschenwürdeanteil des konkret betroffenen Grundrechts (etwa Art 13 GG oder Art 2 I GG i.V.m. Art 1 I GG) unzulässig missachtet (a.a.O., 1002 f.). Ähnlich de lege ferenda § 150e III, IV AE-EV. 156 Oben Fn 148 (gegen eine Relevanz für verdeckte Überwachungen ebenfalls BGHSt 33, 217, 223; SK-StPO/Wolter, Vor § 151/124; LR/Rieß, Einl. I/89; Meyer-Goßner, Einl./29a; Welp 1974, 60; Rogall 1977, 180 f.; ders., JZ 1987, 847, 851; Groß-Spreitzer 1987, 73 ff, 139 f.; Schmidt 1989, 157; Weßlau 1989, 212; Lammer 1992, 159 f.; Deutsch 1992, 239 f.; Krey 1993, Rn 169 f.; ders. 1994, 75; Brenner 1994, 69 f.; Bockemühl 1996, 77; Schneider, JR 1996, 401, 406 ff.; ders. GA 1997, 371, 374; Erfurth 1997, 64 f.; Ackemann 1997, 41 f.; Wölfl 1997, 48 f.; Nimtz 2003, 74; Ellbogen 2004, 90 ff.). Daher werde auch ein ehedem unverdächtiger Dritter, wenn er sich in den

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Teil 1: Bestandsaufnahme

das einfache Strafprozessrecht an, indem es solche heimlichen Ermittlungsmethoden erlaube157. Die täuschungsfeindliche Neuinterpretation der Selbstbelastungsfreiheit gelangt freilich zu einem gegensätzlichen Ergebnis158. Anlass zu dieser Kontroverse gibt etwa die heimlich vorgenommene Stimmprobe. Regulär darf dieser Beweisstoff nur mit Zustimmung des Beschuldigten gewonnen werden, da es an einer Ermächtigungsgrundlage für seine unfreiwillige Erhebung fehlt (vgl. aber die Ausnahmebefugnis in § 100c StPO)159. Immerhin könnte man das Stimmmaterial aber unbemerkt aufzeichnen. Allerdings erfahre dies, so die ursprüngliche Tendenz des BGH, Beschränkungen durch nemo tenetur. Wenn die fraglichen Beweismittel auf sprachlichem Tun fußen und der Beschuldigte dazu nicht verpflichtet werden könne (oben III.1.), dürfe man ihn zu solchen Aktivitäten auch nicht durch Täuschung bewegen, weil damit das Verbot des Mitwirkungszwangs umgangen werde160. Nach der neueren Auffassung des BGH macht sich indes der Beschuldigte, der sich in einer Vernehmung äußert, freiwillig zum Beweismittel, weshalb er sich gegen eine unerwartete stimmanalytische Verwertung seiner unbemerkt aufgezeichneten Bekundungen nicht wehren könne161. Eine „Umgehung“ wäre also nicht schon bei der bloßen Verheimlichung der beabsichtigten Doppelverwendung der Aussagen erreicht, sondern erst beim täuschungswertigen Erschleichen der Äuße-

Kommunikationen mit der überwachten Person belastet, nicht in seiner Selbstbezichtigungsfreiheit verletzt (vgl. Groß-Spreitzer, a.a.O., 140 ff.). 157 So etwa Krey 1993, Rn 169; Freund, JuS 1995, 394, 395; Schneider, GA 1997, 371, 374; Popp, NStZ 1998, 95; Lesch, GA 2000, 355, 361 f.; Verrel 2001, 162 ff., 183; Jäger 2003, 165 ff.; Ellbogen 2004, 93. 158 Unzulässig (oder zumindest rechtfertigungsbedürftig) ist es danach, den Verdächtigen durch verdecktes Vorgehen dazu zu bringen, kompromittierende Handlungen vorzunehmen oder Erklärungen abzugeben, so EGMR, Allan ./. UK, StV 2003, 257; Haas, NJW 1996, 1120; Wolfslast, NStZ 1987, 103, 104; dies. 1995, 225 f.; Kühl, StV 1986, 187, 190; Weichert 1990, 125 f.; Kahlo 1998, 187; Stetten 1999, 120 ff.; Artzt 2000, 58, 255 ff.; Groth 2003, 77 ff.; Müssig, GA 2004, 87, 99 ff.; tendenziell auch Haas 1986, 99; Keller 1989, 135 ff.; Velten 1995, 52. § 150b I AE-EV schlägt deshalb ein Verbot vor, den Beschuldigten durch „List“ zur Selbstbelastung zu verleiten (dazu AE-EV 2001, 60 ff.). 159

Vgl. zu den denkbaren Eingriffsbefugnissen BGHSt 34, 39, 45; Bottke, Jura 1987, 356, 359 ff.; Meyer, JR 1987, 215, 216; Achenbach/Perschke, StV 1994, 577, 578 f.; Ackemann 1997, 51 ff.; Roxin 1998, § 33/17 f. 160 Vgl. BGHSt 34, 39, 50 f.; Bottke, Jura 1987, 356, 361; Roxin 1998, § 25/18; Eisenberg 2002, Rn 676; Meyer, JR 1987, 215, 216; Wolter 2000, 973 f., 977. Praktisch geht es um heimliche Stimmaufzeichnungen und -identifizierungen bei einem offiziellen Gespräch, sodass das Stimmmaterial (anders als bei der Kommunikationsüberwachung) behördlich veranlasst ist. 161

Es bestehe keine Dispositionsmöglichkeit über die Verwertungsart des freiwillig zur Verfügung gestellten Beweismaterials. Wer aussagt, müsse sich gefallen lassen, dass dies nicht nur inhaltlich, sondern auch phonetisch gewürdigt wird (dazu BGH StV 1985, 397; SK-StPO/Wolter, Vor § 151/126; Bottke, Jura 1987, 356, 361; Ackemann 1997, 123; Bosch 1998, 304 f., ebenso für ein Tonträgerprotokoll gemäß § 168a II StPO, wenn die Aufzeichnung offen erfolgt, Schneider, GA 1997, 371, 381 ff.).

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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rungsbereitschaft (§ 136a StPO)162. Demgegenüber sind die Detailpositionen im Schrifttum recht unübersichtlich, und die gelegentliche Berufung auf nemo tenetur hängt ab von der konkreten Form, in der der Beschuldigte zur heimlich aufgezeichneten Stimmabgabe veranlasst wird. Nicht selten wähnt man den nemo-tenetur-Satz jedenfalls bei Stimmproben im Kontext formeller Vernehmungen betroffen. Die Befragung müsse im Interesse der frei entscheidbaren Einlassungsstrategie in jeder Hinsicht offen erfolgen, was durch versteckte Aufzeichnungen unterlaufen werde163.

IV. Selbstbelastungsfreiheit außerhalb der Beschuldigtenrolle Dank der bislang umrissenen Rechte kann sich der nemo-tenetur-Träger einiger Inanspruchnahmen erwehren, die mit seiner eigenen prozessualen Strafverfolgung einhergehen. Nicht selten ist der Beschuldigte aber zugleich (oder vorab) an anderweitigen straf-, öffentlich- oder zivilrechtlichen Verfahren beteiligt und muss sich dort durch Auskünfte, Dokumentationen oder Vorlage von Unterlagen mitteilen. Sofern die Ermittlungsbehörden hiervon Kenntnis erlangen, kann sich auch dieses Material gegen ihn wenden164. Die Selbstbelastungsfreiheit wäre entwertet, würde sie dies zulassen und sich damit begnügen, den Betroffenen im eigenen Prozess mit Beschuldigtenrechten zu versorgen. Ihre Schutzwirkungen greifen daher auf die fraglichen Nachbarverfahren über.

1. Die strafprozessuale Indienstnahme des Dritten a) Das Schweigerecht des Zeugen Zeugen unterliegen staatsbürgerlich begründeten Erscheinens-, Aussage- und Eidespflichten, deren Einhaltung durch strafprozessuale Instrumente erzwungen

162 Vgl. BGHSt 40, 66, 71 f. (ebenso LR/Hanack, § 136a/37; Beulke, StV 1990, 180, 184; Freund, JuS 1995, 394, 395 f.; Verrel 2001, 193 ff.). Strittig ist hierbei, ob schon der irrtumsausnutzende Missbrauch der Vernehmung, die ausschließlich wegen der Stimmprobe initiiert wird, eine solche Täuschung darstellt (dazu Achenbach/Perschke, StV 1994, 577, 579 f.; vgl. auch Ackemann 1997, passim zu weiteren Fallkonstellationen). Zugrunde liegt dem die h.M., wonach durch Unterlassen nur i.S.v. § 136a StPO getäuscht werde, wenn eine Aufklärungspflicht besteht, nicht aber beim sonstigen Ausnutzen von Irrtümern (vgl. SK-StPO/Rogall, § 136a/49 f. m.w.N.). 163

Zu diversen Ansätzen vgl. Bosch 1998, 302 ff.; Schneider, GA 1997, 371, 378 ff.; kritisch jeweils Verrel 2001, 186 ff. 164 Z.B. über die Herausgabe oder Beschlagnahme entsprechender Akten und durch Mitteilungen oder Zeugnis (von Mitarbeitern) des Auskunftsempfängers. Durch eine Verschwiegenheitspflicht (§ 203 StGB) wird allein die Denunziation ausgeschlossen, nicht notwendig aber auch die Zeugnispflicht und die Beschlagnahmemöglichkeit (vgl. etwa Leppich 2003, 138 ff.). Gelegentlich werden die strafrechtsdienliche Auskünfte sogar unter Strafdrohung erzwungen (z.B. § 261 StGB).

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Teil 1: Bestandsaufnahme

wird (§§ 51, 70, 161a II StPO)165. Für jede unwahrhaftige Einlassung droht Strafe (§§ 153 ff. StGB). Somit ist der Zeuge, da verfängliche Fragen durch § 68a StPO nicht zu verhindern sind, gegebenenfalls auch zu selbstbelastenden Angaben gehalten, die hernach Ermittlungen gegen ihn anstoßen oder befördern können. Im Hinblick auf diese nemo-tenetur-typische Konfliktlage erweitert § 55 I 1. Var. StPO das Schweigerecht des Beschuldigten um den Fall einer zeugenschaftlichen Verfahrenseinbindung166. Diese Gewährleistung, die den Zeugen der verbalen Selbstbezichtigung prinzipiell enthebt, weist allerdings einige Besonderheiten auf. Da sich das Aussageverweigerungsrecht als Ausnahme von der Regelpflicht zur wahren Äußerung ausnimmt, ist es inhaltlich beschränkt, feststellungsabhängig und beladen mit den Unwägbarkeiten seiner einzelfallabhängigen Zubilligung (§ 56 StPO)167: – Auskunftsverweigerungsrechte nach § 55 StPO entstehen nur, wo sich die Beweisthemen des aktuellen und eines (potenziellen) eigenen Prozesses überschneiden. Sie beschränken sich auf jene Einlassungspassagen, die für sich oder im Zusammenhang mit zusätzlichen Beweismitteln eine zumindest indizielle Wirkung in einem zeugengerichteten Straf- oder Ordnungswidrigkeitsverfahren entfalten können168. Die Gesamtaussage kann der Zeuge nur

165 Vgl. BVerfGE 49, 280, 284; 76, 363, 383; SK-StPO/Rogall, Vor § 48/125; Roxin 1998, § 26/11; Bär 1992, 371 f. 166 So BVerfGE 38, 105, 112 f., 114 f.; StV 1999, 71; StV 2001, 257, 258; BGHSt 1, 39, 40; BayObLG StV 2002, 179, 180; Rogall 1977, 62; Müssig, GA 1999, 119, 128; AE ZVR 1996, 59. Als vorsorgliche Antizipation der Beschuldigtenrechte wird § 55 StPO von Görtz-Leible 2000, 34 f. gedeutet. Nach Kramer, ZRP 2001, 386 f., werde so der Verlust des Beschuldigtenschweigerechts ausgeglichen, der mit der Zergliederung der Strafverfolgung in Einzelverfahren eintrete. 167

Während der Zeuge schweigerechtlich schlechter als der Beschuldigte gestellt ist (dazu auch Prittwitz 1984, 52 ff.; Buchholz 1990, 102 ff.; Wolff 1997, 80 ff.), reichen seine Rechte zur Verweigerung nonverbaler Mitwirkungen – darauf sei hier nur am Rande hingewiesen – weiter. Von der Herausgabepflicht gemäß § 95 I StPO sind verdächtige Zeugen zwar nicht befreit (dafür aber Tschaksch 1988, 208; SK-StPO/Rudolphi, § 95/5; AK-StPO/Amelung, § 95/7), doch kann sie nach h.M. bei ihnen nicht durchgesetzt werden (vgl. KK/Senge, § 95/6; Meyer-Goßner, § 95/6, 10). Körperliche Untersuchungen und Eingriffe sind ohne Einwilligung des Zeugen nur in den engen Grenzen des § 81c I, II StPO zulässig. Wenn die h.M. das Untersuchungsverweigerungsrecht des § 81c III StPO auch nicht auf den verdächtigen Zeugen ausdehnt (vgl. Meyer-Goßner, § 81c/23; a.A. etwa Fezer 1995, 6/31; SK-StPO/Rogall, Vor § 48/149, § 81c/43, 45), so erzeugen § 81c I, II StPO aber doch nur wenige Duldungspflichten (Meyer-Goßner a.a.O., Rn 10, 18; KK/Senge, § 81c/6; Rogall a.a.O., Rn 2; Satzger, JZ 2001, 639, 645; zu sonstigen Passivpflichten des Zeugen SK-StPO/Rogall, Vor § 48/123 f.). 168 Es genügt, wenn infolge der aussagevermittelt bekannt gewordenen Tatsachen ein Anfangsverdacht entsteht, in die verfahrensgegenständliche oder eine andere Straftat verwickelt zu sein. Zur nötigen Verdachtsstärke BVerfG StV 2002, 177; NJW 2003, 3045, 3046; BGH StV 1991, 145; OLG Hamburg NJW 1984, 1635 sowie Derksen, JuS 1999, 1103, 1104 ff. (der i.Ü. für ein Beweisverwertungsverbot bei ex ante unerkennbarer Verfänglichkeit der Antwort plädiert). Nach

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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ausnahmsweise zurückhalten. Dafür muss der Befragungsgegenstand so eng mit der Grundlage der ihm drohenden Bestrafung verwoben sein, dass ihm nicht einmal eine unverfängliche Rest-Mitteilung möglich ist169. – Die bei Aussage drohende Verfolgungsgefahr darf nicht fern liegen170 oder gar zweifellos ausgeschlossen sein171. Inhaltlich muss sie nach überwiegender Ansicht aus einer bereits abgeschlossenen Tat resultieren172; nur vereinzelt will man den Zeugen durch das Aussageverweigerungsrecht ebenfalls davor bewahren, eine absehbar unglaubhafte und daher strafbedrohte Aussage machen zu müssen173.

Dahs genügen die tatsächliche Möglichkeit und die rechtliche Vertretbarkeit einer Strafbarkeit; notfalls müsse die Zeugenvernehmung bis zur Klärung ausgesetzt werden (NStZ 1999, 386 f.). 169

So z.B. beim Komplizen des Angeklagten. Zum Ganzen vgl. BGHSt 10, 104, 105; BGH StV 1987, 328; NJW 1998, 1728; StV 2002, 604, 606; LR/Dahs, § 55/6; KK/Senge, § 55/2; Eisenberg 2002, Rn 1115; Meyer-Goßner, § 55/2; ebenso de lege ferenda AE ZVR 1996, 67 f. (kritisch zur dort missverständlichen Bezeichnung als „Zeugnisverweigerungsrecht“ Welp 1997, 640). 170 Die Angaben müssen mindestens ein Teilstück in einem mosaikartig zusammengesetzten Beweisgebäude abgeben, wohingegen Vermutungen und allein denktheoretische Möglichkeiten nicht genügen, vgl. BVerfG StV 2002, 177; BGH NJW 1994, 2839; KK/Senge, § 55/4. 171 Keine Verfolgungsgefahr besteht z.B. bei Rechtskraft oder Verjährung der betreffenden Sache (vgl. BVerfG NJW 2003, 3045, 3046; BGH NJW 1999, 1413; NStZ 2002, 607; Eisenberg 2002, Rn 1118 f.; LR/Dahs, § 55/14) – es sei denn, bei noch offenem Rechtsfolgenausspruch würden strafzumessungsrelevante Umstände offenbar (vgl. BGH NJW 2005, 2166, 2167) oder es ergäben sich Ermittlungsansätze für andere Taten i.S.v. § 264 StPO (vgl. OLG Zweibrücken StV 2000, 606). Nach formloser Einstellung besteht die Verfolgungsgefahr rechtlich fort. Ob sie wenigstens tatsächlich entfallen ist, unterliegt einer Einzelfallentscheidung (zu diesem prekären Problem etwa KK/Senge, § 55/4). Für ein fortbestehendes Schweigerecht wegen einer Quasi-Nachwirkung von § 136 StPO sogar noch für den abgeurteilten Mitbeschuldigten, der als Zeuge zur gemeinsamen Tat aussagen soll, tritt Prittwitz, StV 1982, 344, 345 f. ein. 172 LR/Dahs, § 55/12. Dafür genügt es, wenn die Aussage die Gefahr der Bestrafung wegen eines früheren Zeugnisses schafft (vgl. OLG Koblenz StV 1996, 474; Brauns 1996, 57). 173 Für den Zeugen, der an seiner früheren Darstellung (z.B. seiner Angeklagteneinlassung) festhalten zu müssen meint, obwohl sie vollkommen unglaubwürdig (weil z.B. bereits durch ein rechtskräftiges Urteil widerlegt) ist, besteht nach h.M. kein Aussageverweigerungsrecht (BVerfG NStZ 1985, 277; OLG Düsseldorf NStZ 1982, 257; OLG Zweibrücken NJW 1995, 1301, 1302; vgl. auch LG Stuttgart NStZ 1992, 454; Brauns, JA 1985, 494 f.; ders. 1996, 56 f.; Odenthal, NStZ 1993, 52 f.; Schäfer 2000, Rn 992). Nach Kerr (NStZ 1997, 160, 161; ebenso i.E. LG Freiburg NJW 1986, 3036) schütze dagegen nemo tenetur vor diesem Zwang zur Straftatbegehung. Für andere Autoren ist, trotz eines klassischen Verständnisses der Selbstbelastungsfreiheit, § 55 StPO eröffnet, weil die „sehenden Auges“ eingegangene Bestrafung nach § 153 StGB für den Zeugen unzumutbar sei (vgl. Roxin 1998, § 26/31; vgl. auch LR/Dahs, § 55/12). Eisenberg (2002, Rn 1117) hält der h.M. vor, nicht nur den insoweit neutralen Wortlaut von § 55 I StPO zu überzeichnen, sondern auch zu übersehen, dass der Beschuldigte in seiner Verteidigung beeinträchtigt werde, wenn er „nach Abschluss des gegen ihn gerichteten Verfahrens zum gleichen Thema als Zeuge unter der Verfolgungsgefahr der §§ 153 ff StGB aussagen“ müsse.

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Teil 1: Bestandsaufnahme

– Die Verfolgungsrelevanz bemisst sich allerdings stets nach der Verfänglichkeit der Frage, die auf ein inkriminiertes Ereignis abzielen und dem Zeugen abverlangen muss, sich zu deliktischem Verhalten zu erklären. Dass die Verfolgungsgefahr nur bei wahrheitsgemäß bejahender Antwort entsteht, ist nicht erforderlich, wäre doch die Aussageverweigerung sonst oft allzu beredt174. Das Schweigerecht darf infolge seiner Verfahrensabhängigkeit vom Zeugen nicht wahrgenommen werden, bevor er dieses Vorhaben erklärt und so dessen Überprüfung (§ 56 StPO) ermöglicht hat. Wollte er die Aussageverweigerung ohne diese konstitutive Klarstellung kurzerhand praktizieren, würde er ein unvollständiges und daher im Sinne von § 153 StGB auch falsches Zeugnis ablegen175. Freilich muss der Vernehmende auf die Schweigebefugnis hinweisen, § 55 II StPO. Unterbleibt die Belehrung, kommt die Aussage unter dem Eindruck einer Äußerungspflicht zustande (Zwangsanschein)176, weshalb sie nicht gegen den Zeugen herangezogen werden darf177. Dessen ungeachtet entwertet die h.M. den Aufklärungsanspruch, indem sie ihn erst entstehen lässt, wenn sich konkrete Anhaltspunkte für eine Verfolgungsgefahr abzeichnen178.

174 Es genügt, wenn eine mögliche Antwort die Verfolgungsgefahr auslöst. Dafür spricht der Normzweck, wonach dem Zeugen der Konflikt zwischen Aussagepflicht und Schaffung von Belastungsmaterial generell erspart werden soll, vgl. BVerfG NJW 1999, 779; BGH StV 1993, 340; BayObLG StV 2002, 179; Helgert 1976, 69; Grünwald 1983, 501; ders. 1993, 37; Richter, StV 1996, 457, 458 f.; KK/Senge, § 55/8; Eisenberg 2002, Rn 1115; Meyer-Goßner, § 55/2; Ranft 2005, Rn 503; a.A. Derksen, JuS 1999, 1103 und die früher h.M., die den Zeugen auf die durch § 157 StGB privilegierte Falschaussage verwies (vgl. Bemmann 1966, 488). 175 Vgl. BGHSt 7, 127; Ruetz 1986, 30 f.; Fezer 1995, 15/34; Jansen 2004, 28; SKStPO/Rudolphi, § 153/3; MüKo-Müller, § 153/11, 57; einschränkend NK/Vormbaum, § 153/96 ff. (vgl. auch die etwaige Strafbarkeit nach §§ 258, 263 StGB; dazu Pohl 2002, 59). Auch diese Strafdrohung stellt den Zeugen schlechter als den Beschuldigten, der ohne entsprechende Erklärung unvollständig sein darf (vgl. BVerfGE 38, 105, 113; Buchholz 1990, 105 m.w.N.). 176 So Reiß 1987, 76; Müller 2000, 120 und in der Sache BayObLG NJW 1984, 1246, 1247; StV 2002, 179, 180; Beulke 2005, Rn 464; LR/Dahs, § 55/19. Wie beim Beschuldigten (Fn 107) sollen die anschließenden Aussagen des Zeugen im eigenen Strafverfahren eine qualifizierte Belehrung voraussetzen, da sonst der psychische Zwang fortbestehe (so Bosch 1998, 342). 177 Vgl. OLG Celle NStZ 2002, 386; SK-StPO/Rogall, Vor § 133/188 m.w.N. (wobei der Zeuge nach BayObLG StV 2002, 179 der Verwertung seines Zeugnisses jedoch explizit widersprechen muss). Ob eine solche Aussage gegen den aktuellen Angeklagten verwendet werden kann, hängt von der Anerkennung eines wahrheitssichernden Zwecks des Aussageverweigerungsrechts und von der Triftigkeit der Rechtskreistheorie ab, berührt aber die Selbstbezichtigungsfreiheiten des Zeugen nicht (vgl. Rogall 1977, 234 f.; Alsberg/Nüse/Meyer 1983, 489; Reiß 1987, 59 ff.; Müller 2000, 111 f.; Jäger 2003, 156 f.). 178 Vgl. Ruetz 1986, 84 f.; Eisenberg 2002, Rn 1121. Oftmals werden sich Anhaltspunkte, die eine Belehrungspflicht begründen, erst nach ersten verräterischen Aussagen ergeben (kritisch zur h.M. Reiß 1987, 53 f.; Montenbruck, JZ 1985, 976, 984). Die Belehrung zu Vernehmungsbeginn schlägt daher § 55 VI 2 AE ZVR vor. Um aber de lege lata kein Risiko einzugehen, muss der Zeuge

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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Praktisch werden die inhaltlichen Grenzen und die verfahrensmäßige Erschwernis des Aussageverweigerungsrechts indessen durch ein Element kompensiert, das sich dazu zunächst gar nicht anzudienen scheint: Nach § 56 StPO muss der Zeuge auf Verlangen diejenigen Umstände glaubhaft machen, aus denen sein Auskunftsverweigerungsrecht folgt. Ob dies gelungen ist, beurteilt der Vorsitzende; notfalls kann er eine eidliche Versicherung fordern. Von diesen Substantiierungslasten ist der Zeuge jedoch befreit, sofern er sein Schweigerecht nur durch selbstbelastende Angaben plausibel machen könnte179. Eine dahingehende Behauptung kann das Gericht aber nun in keiner Weise kontrollieren, weil ihm die dafür erforderlichen Fakten gerade vorenthalten werden sollen. Daher muss es sich mit der Versicherung begnügen, dass der Zeuge von einer Verfolgungsgefahr bei der jeweiligen Einlassung ausgehe und dies auch nicht unverfänglich untermauern könne. Die Definitionsmacht über die Voraussetzungen des § 55 StPO hat dann allein der Zeuge inne180.

Soweit dem Zeugen nach den vorstehenden Kriterien das Schweigen erlaubt ist, darf es weder mit direktem Zwang gebrochen, noch mit solchen Nachteilen belegt werden, die als mittelbare Zwänge hin zur Äußerung drängen. Hartnäckiges Nachfragen ist ebenso untersagt wie massiver Aussagedruck. Aus der Aussageverweigerung dürfen im Verfahren gegen den Zeugen181 keine ungünstigen Schlüsse gezogen werden, wäre dies doch die bereits erörterte Verletzung der Äußerungsfreiheit182. Die Ähnlichkeit von Beschuldigten- und Zeugenlage legt es für die h.M. aber nahe, eine partielle Aussageweigerung als Teilschweigen aufzufassen und auch zu Lasten des Zeugen zu berücksichtigen183.

die Selbstbelastungsrisiken eigenständig antizipieren. Wegen seiner Kompetenzdefizite bei dieser Prognose hat er nach BVerfGE 38, 105 ein Recht auf anwaltlichen Beistand. 179

Vgl. BGH StV 1986, 282; 1987, 328; LG Hamburg VRS 74 (1998), 442; Eisenberg 2002, Rn 1125; Meyer-Goßner, § 56/2; KK/Senge, § 56/4 (restriktiver § 56 AE ZVR; bereits de lege lata ist BGH NJW 1989, 2703 für eine darzulegende Mindestplausibilität der Verfolgungsgefahr bei unergründlicher Verfänglichkeits-Behauptung; vgl. auch das Beispiel einer pflichtgemäßen Würdigung von Verfolgungsgefahren bei BVerfG NJW 1999, 779). Keine Glaubhaftmachung ist i.Ü. erforderlich, wenn die Verfänglichkeit der Frage bereits aus den Akten hervorgeht, vgl. Richter, StV 1996, 457, 460 f. 180 Vgl. Kölbel/Morlok, ZRP 2000, 217, 218. Nach Bemmann braucht folglich „die Gefahr der Bestrafung jeweils nur in der Vorstellung der Aussageperson zu existieren“ (1966, 487). Freilich wird damit mehr als ein Freiraum vor staatlichen Ansprüchen erhalten. Vielmehr kann sich dies u.U. auch gegen den Angeklagten wenden, falls der Zeuge ihn entlasten müsste. 181 Ob man aus der Weigerung ungünstige Schlüsse für den Angeklagten ziehen darf, ist strittig (vgl. dazu BGH StV 1984, 233; Eisenberg 2002, Rn 1130). Ohnehin dürften sie nur selten plausibel sein (dazu Richter, StV 1996, 457, 461). 182 Vgl. oben II.4.b)cc) sowie BGHSt 38, 302; OLG Stuttgart NJW 1981, 1223; Bergmann 1988, 92; Grünwald 1993, 38; Eisenberg 2002, Rn 1130. Ob der Zeuge von Beginn an oder erst später schweigt, ist wie beim Beschuldigten nicht relevant, vgl. Rengier, NStZ 1998, 47, 48. 183 So neben Ruetz 1986, 94 f. auch Dahs/Langkeit, NStZ 1993, 213, 215, die freilich Wert darauf legen, dass die Bestandteile der Aussage, zu denen sich der Zeuge aufgrund ihrer fehlenden Verfänglichkeit äußern muss, nicht als Teileinlassung gewertet werden können.

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Teil 1: Bestandsaufnahme

§ 55 StPO ermöglicht schließlich den Sinneswandel. Reflektiert der Zeuge etwa erst sukzessive im Vernehmungsverlauf oder in einem fortgeschrittenen Verfahrensstadium die Tragweite seines Zeugnisses, mag er zur Aussageverweigerung übergehen. Die bereits erbrachte (Teil-)Aussage kann er dagegen nicht ungeschehen oder unverwertbar machen184. Die h.M. verwendet sie sogar im Verfahren gegen den Zeugen selbst, da der Gebrauch seiner prozessordnungsgemäß erlangten Äußerung keinen eigenen Selbstbezichtigungszwang erzeuge (möge ihn die Einlassung im Nachhinein auch reuen)185. Manche Autoren räumen dagegen dem verdächtigen Zeugen die Möglichkeit ein, nach Art des § 252 StPO ein Zeugnis rückwirkend zu annullieren. Stehe ihm die Aussagefreiheit bis zur letzten Befragung zu, müsse er nämlich über seine Einlassungsbereitschaft befinden können, ohne darin durch sein kooperatives Vorverhalten eingeschränkt zu sein186.

b) Schweigerecht bei ungeklärter Prozessrolle Die Differenz zwischen den Schweigerechten von Beschuldigten und Zeugen bringt Probleme mit sich, wenn der prozessuale Status einer Person variiert oder sich nicht exakt einordnen lässt. Im Allgemeinen bietet dann der Beschuldigtenbegriff das dogmatische Vehikel, das dem fraglichen Verfahrensbeteiligten die ihm gebührende Prozessrolle und somit auch das jeweilige Maß an Äußerungsfreiheit zuteilt. So gesehen schlagen die Kriterien der Beschuldigtenstellung auf die Selbstbelastungsfreiheit durch. Es ist also auch für nemo tenetur bedeutsam, wie die jetzt vorherrschende Judikatur vorgeht, wenn es gilt, die Beschuldigteneigenschaft fallkonkret festzustellen. Nach ihrer Auffassung werden subjektive Elemente mit der materiellen Bedeutung realen Prozessverhaltens kombiniert. Danach muss die Strafverfolgungsbehörde einen Tatverdacht hegen 184 Das fragliche Zeugnis ist in der Welt. Es in der Hauptverhandlung nicht wiederholen zu müssen, bewahrt den Zeugen nicht vor seiner Verwertung (vgl. Grünwald 1993, 131). Da § 55 StPO außerdem nach h.M. den Angeklagten nicht schützen will, können für ihn aus dem Aussageverhalten des Zeugen ohnehin keine Ansprüche auf Verwertungsverbote folgen, vgl. BGHSt 11, 213, 218; 17, 245, 247; StV 1987, 140; AE ZVR 1996, 117 f.; ebenso für die Aussageweigerung in laufender Vernehmung BGHSt 47, 220, 223 f.; NStZ 1998, 46. 185 Z.B. Dölling, NStZ 1988, 6, 8; Rengier, NStZ 1998, 47, 48; Artzt 2000, 211 (vgl. auch oben II.3.). Diese Ansicht verwendet das zeitweilige Zeugnis aber nur, wenn ihm eine Belehrung (§ 55 II StPO) vorausgegangen war (sonst neben den Quellen in Fn 177 für ein Beweisverwertungsverbot Ruetz 1986, 91 f.; Gerling 1987, 145 ff.; Grünwald 1993, 147; AK-StPO/Kühne, § 55/8). 186 „Insbesondere darf der Zeuge, dem vom Gesetz das Recht auf Auskunftsverweigerung in der Hauptverhandlung zugebilligt ist, bei der Ausübung dieses Rechts nicht dadurch in einen Gewissenskonflikt gebracht werden, dass er mit der Verwertung seiner früheren Aussage rechnen muss“ (Eisenberg 2002, Rn 1129; ebenso etwa Fezer 1995, 15/58; Hanack, JZ 1972, 236, 238; Lüderssen, wistra 1983, 231, 232; Ranft 2005, Rn 374, 1683).

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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und in ausdrücklichen oder faktischen Maßnahmen dokumentieren, dass sie mit Verfolgungswillen ein Ermittlungsverfahren führt. Beides, manifester Verdacht im Verein mit der Ermittlungsmaßnahme, konstituiert den Beschuldigtenstatus der betroffenen Person187. Allerdings verbleibt den Ermittlungsorganen bei der Verdachtsschöpfung ein nur eingeschränkt justiziabler Beurteilungsspielraum. Erst bei dessen Überschreitung, sofern die fraglichen Akteure also trotz objektiv gesteigerter Verdächtigkeit nicht als Beschuldigte behandelt und ihnen die entsprechenden Rechte daher willkürlich vorenthalten werden188, generiert ein fingierter Willensakt („von außen“) ihren Beschuldigtenstand189. Die Unschärfen dieses Konzeptes190 sind in einigen Grenzfällen misslich. So wird beispielsweise durch eine informatorische Befragung der Beschuldigtenstatus noch nicht begründet. Hier nehmen die vernehmenden Beamten vielmehr ihren Beurteilungsspielraum war und eruieren zunächst einmal das Bestehen und die personale Richtung eines konkreten Verdachts191. Deshalb gelten die befragten Personen der h.M. als Zeugen, denen die allgemeinen Rechte (ein-

187 Vgl. BGHSt 37, 48; 38, 214, 227 f.; NStZ 1997, 398; NStZ-RR/Becker 2002, 67; BayObLG NStZ-RR 2003, 343 (ebenso Bringewat, JZ 1981, 289, 292; Moormann 1989, 64 ff.). Für die herrschende Literaturmeinung kommt es dagegen nur darauf an, ob sich in einer Maßnahme ein Verfolgungswille ausdrückt (vgl. Fincke, ZStW 95 (1983), 918, 945 ff.; Geppert 1985, 328; SKStPO/Rogall, Vor § 133/31 ff.; ders. NStZ 1997, 399; Artzt 2000, 185 ff.; Schulz 2001, 556 ff.; Haas 2003, 74; LR/Hanack, § 136/4; KMR/Lesch, Vor § 133/4 ff.). Damit ist sichergestellt, dass die unberechtigt beschuldigte (da ohne Verdachtsgrundlage als verdächtig behandelte) Person die gleichen Rechte wie die verdächtigte und deshalb zu Recht beschuldigte Person genießt. Für den Beschuldigtenstatus ist der Verdacht hiernach also nicht ausschlaggebend (sondern nur für die Rechtmäßigkeit dieser Heranziehung). Er löst aber, sobald er sich stabilisiert, die dahingehende Inkulpations- und Ermittlungspflicht der Behörde aus (vgl. Fincke a.a.O., 919, 937). Zum Ganzen vgl. die genaue Analyse von Grosjean 1999, 25 ff., v.a. 53 f., 71 ff. und die Differenzierung bei AE-EV 2001, 95 ff. 188 „Die Grenzen des Beurteilungsspielraums sind (…) erst dann überschritten, wenn trotz starken Tatverdachts nicht von der Zeugen- zur Beschuldigtenvernehmung übergegangen wird“ (BGH NStZ-RR 2004, 368). 189 Vgl. BGHSt 10, 8; 37, 48, 52; NJW 1994, 2904, 2906 f.; Beulke, StV 1990, 180, 181. Für die herrschende Literaturmeinung ist das inkonsequent, da hier allein die objektive Verdachtslage statusbegründend wirkt und auf den sonst konstitutiven subjektiven Verfolgungswillen verzichtet wird. Obendrein sei dies überflüssig, weil es in den fraglichen Fällen regelmäßig schon zu gerichteten Ermittlungsmaßnahmen gekommen ist, die i.S.v. § 397 I AO den vorhandenen Verfolgungswillen belegen (vgl. Rogall, NStZ 1997, 399, 400; Grosjean 1999, 47 ff.). 190 Verantwortlich ist dafür einmal der polizeiliche Beurteilungsspielraum (zu den apokryphen Verdachtsbildungsmomenten, die hier Einzug halten können, zuletzt Haas 2003, 62 ff.). Die Unschärfen beruhen aber auch darauf, dass sich aus den vorgenommenen Ermittlungsmaßnahmen in der Retrospektive nicht immer rekonstruieren lässt, ob der Betroffene bereits als Beschuldigter behandelt wurde oder nicht (vgl. ter Veen, StV 1983, 293, 294). 191 Vgl. BGHSt 38, 214, 227 f.; StV 1983, 267; KG JR 1992, 437; BayObLG NStZ-RR 2003, 343 (weitere Fallbeispiele bei Moormann 1989, 7 ff.). In gewisser Weise mutet die informatorische Befragung als Nachkomme der frühneuzeitlichen Generalinquisition an (unten I.4. in Kap. 6).

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Teil 1: Bestandsaufnahme

schließlich des Aussageverweigerungsrechts) zustehen192. Allerdings soll es sich hierbei um keine echte Zeugenvernehmung handeln, sodass kein Hinweis nach § 55 II StPO erfolgen müsse193. Ohnehin wäre der Zeitpunkt der Zeugenbelehrung anlassabhängig (genauer: verdachtsabhängig) und infolge dieser Vagheit kaum geeignet, jeder ungewollten Selbstbelastung zuvorzukommen194. Für die Beziehung zwischen mehreren Beschuldigten, die man ebenso nach Art eines Zeugen wie eines Mitbeschuldigten gestalten kann, ergänzt die h.M. ihren Beschuldigtenbegriff durch das formale Kriterium der „prozessualen Gemeinsamkeit“. Die Verbindung zu einer Beschuldigtenmehrheit bestehe, sobald und solange die jeweiligen Ermittlungs- oder Gerichtsverfahren miteinander verbunden sind (§§ 2 ff., 237 StPO)195. Da man im eigenen Verfahren nicht

192 Vgl. Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177, 1222; SK-StPO/Rogall, Vor § 133/46; ders., NJW 1978, 2535, 2536 f.; Bosch 1998, 246 ff.; Salger 1998, 33; vgl. auch BVerfG StV 2001, 257, 258. Erst in einem Gesprächsstadium, in dem der informatorisch Befragte als Beschuldigter behandelt wird, geht die Befragung in eine Beschuldigtenvernehmung über (vgl. etwa Moormann 1989, 90). In den Fällen eines automatischen Statuserwerbs (bei vorhandenem Verdacht, soeben bei Fn 189) sind in den dann automatisch vorliegenden Beschuldigtenvernehmungen (vgl. Ranft 2005, Rn 328) die Anforderungen des § 136 StPO selten gewahrt, sodass die fragliche Einlassung meist unverwertbar ist (Bsp.-Fall bei BayObLG NStZ-RR 2005, 175). 193 Vgl. Meyer-Goßner, Einl./79; SK-StPO/Rogall, Vor § 133/46; Geppert 1985, 324; Moormann 1989, 50 f.; Bährle 1993, 141; Ranft 2005, Rn 335. Haas (2003, 60 f.) hält dem entgegen, dass es für informatorische Befragungen stets einen Anlass gebe, sodass schon ein Anfangsverdacht bestehe und die erste Phase des Ermittlungsverfahrens eingesetzt habe. Es finde daher eine reguläre Zeugenvernehmung statt (zur Diskussion auch Gehrling 1987, 88 ff.; Grosjean 1999, 93 ff.; Artzt 2000, 16 ff.). 194 Sofern Anhaltspunkte vorliegen, die jene Belehrungspflicht nach § 55 II StPO begründen, dürfte der Befragte allerdings schon verdächtig und daher (wenn auch mit dem genannten Beurteilungsspielraum der h.M.) als Beschuldigter gemäß § 136 StPO zu behandeln sein (eben Fn 192). Dennoch bleibt ein Bereich zwischen beiden Stadien (vgl. Grünwald 1993, 78; Salger 1998, 53). Fragwürdig ist hier die Verwertung des selbstbelastenden Beweismaterials, das der Betroffene in der informatorischen Befragung als unbelehrter Noch-Zeuge (bzw. Noch-nicht-Beschuldigter) geschaffen hat. Wegen der unfreiwilligen Selbstbelastung sprechen sich Nickl 1978, 75 f.; Reiß 1987, 296; Bosch 1998, 259; Eisenberg 2002, Rn 509a; Beulke 2005, Rn 118 für ein selbstständiges Beweisverwertungsverbot aus. Die h.M. teil diese Auffassung nicht (vgl. nur BGHSt 38, 214, 228; Geppert 1985, 323 f.; Verrel 2001, 139 ff.) und verweist dafür auf Strafverfolgungsinteressen (Geppert a.a.O., 342 f.; Grosjean 1999, 86 ff.; Derksen, JuS 1999, 1103, 1105). Deshalb genügt ihr dann auch in der Beschuldigtenvernehmung, die an eine informatorische Befragung anschließt, die einfache Belehrung (vgl. BGH NStZ 1983, 86; SK-StPO/Rogall, Vor § 133/47; für eine qualifizierte Belehrung ter Veen, StV 1983, 293, 296; Moormann 1989, 169; Ranft 2005, Rn 343). Beseitigt würde die gesamte Problematik durch eine obligatorische Belehrung nach § 55 II StPO zu Beginn jeder informatorischen Befragung (dafür Gerling 1987, 79 ff.). 195 Vgl. BGHSt 10, 8; 38, 302; Schöneborn, ZStW 86 (1974) 921, 924 ff.; Alsberg/Nüse/Meyer 1983, 182 ff.; Grünwald 1993, 15 f.; KK/Senge, Vor § 48/7; Meyer-Goßner, vor § 48/21 f.; SKStPO/Rogall, Vor § 133/55 f.; umfassende Nachweise bei Spelthahn 1997, 89 f.

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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zugleich als Zeuge agieren könne196, lassen sich die betreffenden Personen bei einer verklammernden Prozessidentität als (Mit-)Beschuldigte ein – selbst bei Äußerungen, die allein die Tat des anderen betreffen197. Demgegenüber führt das von vornherein getrennte Verhandeln eines gemeinsamen Gegenstandes zum wechselseitigen Zeugenstatus (ungeachtet einer womöglich zusammengehörigen Anschuldigung). Dass sich die Schweigerechtsposition hier folglich auf das (gegenüber § 136 StPO) abgesenkte Niveau von § 55 StPO mindert, beeinträchtige freilich die effektive Selbstbelastungsfreiheit198. Dagegen tritt diese Problematik in den scheinbar noch brisanteren Konstellationen, in denen ein verbundenes Verfahren endgültig oder vorübergehend abgetrennt wird, nach h.M. überhaupt nicht auf. In den seltenen Fällen, in denen die Abspaltung vorgenommen werden darf, stelle sie den Betroffenen nicht schlechter; er sei dann gegenüber seinem ursprünglichen Mitbeschuldigten nur in seine „objektiv“ bestehende Zeugenrolle rückversetzt199. Um Schweigerechtseinbußen in diesen Prozesssituationen auszuschließen und einem manipulatorischen Ermittlungsverhalten vorzubeugen, wollen manche Autoren den Kreis der Beschuldigten anhand objektiver Prozesskonstellationen bestimmen. Sie folgern die Beschuldigteneigenschaft daraus, dass gegen

196 Dies nach h.M. deshalb, weil die Beschuldigtenrechte, und zwar namentlich die Schweigemöglichkeit, mit den Aussage- und Beeidungspflichten des Zeugen (§§ 48 ff. StPO) unvereinbar seien (BGHSt 10, 8, 10; JR 1969, 148, 149; Mitsch 1998, 728; zu entsprechenden Positionen schon im späten gemeinrechtlichen Schrifttum Schmidt 1982, 63). Für Fahl ist die Unvereinbarkeit beider Rollen ein direkter Ausdruck des nemo-tenetur-Satzes (2004, 251). 197 Ihre Äußerung geht in die freie Beweiswürdigung ein (BGH NJW 1964, 1034, 1035; NJW 1985, 76). Lediglich Prittwitz lehnt die Verwertung der Mitangeklagteneinlassung ab, da es sich um kein Beweismittel handele (1984, 151 ff.). Dagegen will Mitsch (1998, 730 f.) für die Aussage des Mitangeklagten auch Zeugenregelungen anwenden, soweit sie inhaltlich den anderen Angeklagten betrifft. Eine solche Aufspaltung der Aussageaspekte gäbe die Chance zu unterschiedlichen Verteidigungsstrategien für sich selbst (Entlastungsvortrag) und gegenüber dem Mitbetroffenen (Zeugnisverweigerung gemäß § 52 StPO). 198 So etwa Prittwitz 1984, 58. Der faktische Zwang, sich in beiden Verfahren konsistent zu verhalten, kann sich (neben der Strafdrohung in §§ 153 ff. StGB) auf die Verteidigung negativ auswirken, sind deren Anforderungen doch nicht immer mit der koinzidierenden Zeugenrolle in Einklang zu bringen (zu beispielhaften Konstellationen Walder 1965, 56; Prittwitz a.a.O., 55 f.; Montenbruck, JZ 1985, 976, 977; Grünwald 1993, 15 und unten II.3.a) in Kap. 11). 199 Die Folgen dieses Rollentauschs für die Selbstbelastungsfreiheit sind entschärft, weil die Abtrennung unzulässig ist – und die Beschuldigtenrolle (samt der Tatbestandslosigkeit einer Falschaussage i.S.v. § 153 StGB) daher unberührt bleibt (LK/Ruß, § 153/10; MüKo-Müller, § 153/6) –, wenn im ursprünglichen Verfahren auch ein gegen den nunmehrigen Zeugen gerichteter Tatvorwurf weiter mit verhandelt würde (vgl. BGH NJW 1964, 1034; 1985, 76; JR 1969, 148; Grünwald 1985, 498 ff.; vgl. aber Prittwitz 1984, 116 ff., der diesen Schutz für unzureichend hält). Ist die Trennung zulässig, können sich die Zeugenpflichten daher nur auf fremdes und nicht etwa selbstbelastungsrelevantes Geschehen beziehen (dennoch skeptisch Prittwitz a.a.O., 57 f.).

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Teil 1: Bestandsaufnahme

eine Person faktisch ermittelt wird200. Die dahinter liegenden behördlichen Verdachtsannahmen und Verfolgungsabsichten seien bedeutungslos. Vielmehr setzen danach bereits im Gefolge einer konkretisierten Ermittlungsrichtung automatisch die Amtspflichten des § 136 StPO ein. Eine belehrungslose informatorische Befragung sei in dieser Phase also nicht mehr möglich201. Die materielle Verfahrenslage determiniere auch die Mitbeschuldigtenstellung, die unabhängig vom formalen Verfahrensstand an eine Sachstruktur gebunden und stets bei denjenigen angenommen wird, die einer Tatbeteiligung verdächtig sind (materielles Verständnis) bzw. gegen die man – so die vermittelnde formellmaterielle Version – wegen derselben (prozessualen) Tat vorgeht202. Die schweige- und beweisrechtliche Schutzposition des Beschuldigten wäre so unabhängig von einer verfahrensmäßigen Zusammenführung; bei materieller Mitbetroffenheit seien die fraglichen Personen stets (auch bei isolierten Verfahren und formal in der Zeugenrolle) gemäß § 136 StPO zu befragen203. Solche objektivierenden Konzepte teilen die Überzeugung der h.M., dass die StPO nur Zeugen und Beschuldigte kenne. Gelegentlich will man diesen numerus clausus des Personalbeweises jedoch erweitern und die Figur des „Verdächtigen“ als einer weiteren Auskunftsperson implementieren. Der Verdächtige unterscheide sich vom Beschuldigten, weil er trotz bestehenden Tatverdachts noch nicht inkulpiert worden sei. Vom Zeugen hebe er sich durch die Eingliederung in ein eigenes Verfahren ab. Zur Optimierung seiner Rechtsstellung gälten für ihn die Schweigerechte des Beschuldigten, sodass für die nur-verdächtige Person in informatorischen Befragungen keine Aussagepflichten bestünden204. Allerdings hat dieser Vorschlag kaum Gefolgschaft gefunden. Obwohl sich die StPO zu dieser Prozessrollen-Kategorie eigentlich neutral verhält, beharrt die h.M. auf der traditionellen beweisrechtlichen Formstren-

200

Vgl. Gerlach, NJW 1969, 776, 779; vgl. auch Gundlach 1984, 24 ff.; Peters 1985, 200 f.

201

Dazu v.a. Gerlach (a.a.O., 777 ff.). Obwohl diese Ansicht den Beurteilungsspielraum in der Verdachtsbewertung aufhebt und damit die Grauzone schließt, in der am „Quasi-Verdächtigen“ statt der Beschuldigtenvernehmung noch eine belehrungslose Zeugenbefragung vorgenommen werden kann, wird bezweifelt, dass der Beginn der Beschuldigteneigenschaft durch die konkretisierte Ermittlungsrichtung tatsächlich zuverlässiger markiert wird (vgl. Salger 1998, 51). 202

Vgl. Lenckner 1974, 336 ff.; Schlüchter 1983, Rn 478; Roxin 1998, § 26/5; zuletzt Drope 2002, 225 (ausführliche Nachweise zu den Konzeptionen bei Spelthahn 1997, 92 ff.). Man hält dem §§ 55, 60 Nr. 2 StPO entgegen. Beide Bestimmungen handeln von der Befragung des Verdächtigen als Zeugen, setzen die Existenz verdächtiger Zeugen also voraus, sodass der Beschuldigtenstatus nicht mit dem gerichteten Verdacht zusammen fallen könne (z.B. Schöneborn, ZStW 86, 1974, 921, 927 f.; Rogall NJW 1978, 2535, 2536). 203

Umgekehrt würde sich danach der Mitbeschuldigte nicht nur nach der rechtskräftigen Verurteilung, sondern auch bei prozessualer Gemeinsamkeit zur fremden Tat als Zeuge einlassen (vgl. etwa Lenckner 1974, 346 ff.). 204 So Bringewat, JZ 1981, 289, 290 ff. sowie Helgert 1976 und Bruns 1977, die auf den Verdächtigen allerdings nur das Schweigerecht und nicht auch die dahingehende Belehrungspflicht übertragen (dafür jedoch Lüderssen, wistra 1983, 231, 232; Ransiek 1990, 60; Artzt a.a.O., 250 ff.; Rzepka 2000, 386, 418; ähnlich Haas, GA 1995, 230, 231).

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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ge. Es bestehe keinerlei Anlass, eine neuartige ungeschriebene Prozessrolle zu konstruieren, da die Schlechterstellungen des Zeugen zu vernachlässigen seien205.

c) Strafprozessuale Inanspruchnahme Unverdächtiger Schon die allgemeinen Zeugenpflichten können ursprünglich unverdächtige Personen (nämlich: unerkannt verdächtige Zeugen) in die Gefahr bringen, innerhalb drittgerichteter strafprozessualer Nachforschungen gegen sich selbst verfängliches Beweismaterial zu schaffen. Dieser (Neben-)Effekt ist auch einigen anderen Ermittlungsmaßnahmen eigen, die auf einen besonders breiten Datenzugriff ausgelegt sind und unbeteiligte Dritte typischerweise miterfassen (§§ 98a ff., 110a ff., 111 StPO)206. So genannte operative Vorfeldermittlungen, bei denen Informationen ohne prozessual gerichteten Verdacht (und ohne eine polizeirechtliche Gefahr) zur Verdachtsgewinnung erhoben werden, richten sich sogar absichtsvoll gegen unverdächtige Personen. All dies muss sich an der Selbstbelastungsfreiheit messen lassen207. Allerdings werden dabei keine schwerwiegenden oder neuartigen Probleme aufgeworfen. Beispielsweise gleicht die Polizei bei der Rasterfahndung gemäß § 98a StPO unter Umständen auch solche Daten mit den Prüfungsmerkmalen ab, die unverdächtige Personen zu einem früheren Zeitpunkt aufgrund allgemeiner Bestimmungen mitteilen mussten. Diese gesetzlichen Pflichten erweisen sich damit nachträglich als Zwänge, an der eigenen Überführung mitzuwirken208. Weil ihnen diese Wirkung aber erst nach dem Erhebungszeitpunkt durch die anschließende Delikts-

205 So SK-StPO/Rogall, Vor § 133/13; Wolff 1997, 79, 83 gegen Helgert 1976, 84 f.; Artzt 2000, 217 ff. (denen zufolge der Verdächtige deshalb ein Schweigerecht habe, weil das Aussageverweigerungsrecht des Zeugen unzureichend sei). 206 Vgl. Weßlau 1989, 25 ff., 35 ff., 76 ff.; Rogall 1992, 83 ff.; Fezer 1995, 8/29; SKStPO/Wolter, Vor § 151/56 ff. 207

Unverdächtige können sich, ohne dass dies in der Diskussion vertieft würde, auf die Selbstbelastungsfreiheit berufen (ausdrücklich Siebrecht 1997, 84; Krieg 2001, 107; Kroß 2004, 181 f.). Erforderlich ist lediglich das situative Vorliegen der Strukturmerkmale von nemo tenetur. Nur weil es daran fehle, lehnt die h.M. die Schutzwirkungen des nemo-tenetur-Satzes bspw. bei Zufallsfunden ab, die Unverdächtige belasten (vgl. oben Fn 121 und 156). 208 Eine gleiche Situation besteht, wenn ein Passfoto polizeilich verwendet wird (z.B. beim Personenabgleich mit einem Messfoto bei Verkehrskontrollen), das aus pass- oder melderechtlichen Gründen zuvor bei der Verwaltung hinterlegt werden musste (ausdrücklich gegen einen Selbstbelastungszwang OLG Stuttgart NStZ 2003, 93, 95). Im Unterschied dazu werden nach §§ 98c, 163d, 163e StPO u.a. auch Daten verarbeitet, die bereits im strafprozessualen Kontext (also nach der Tat) erhoben werden, sodass bei der Informationserhebung die Selbstbelastungsfreiheit hier in „normaler“ Weise zu beachten ist.

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Teil 1: Bestandsaufnahme

begehung209 zuwächst, bleibt nemo tenetur in seiner gebräuchlichen Fassung (oben II.3.) von einer solchen Informationsverwertung unberührt210. Auch die nemo-tenetur-nahen Aspekte der DNA-Massentests lösen sich in den gängigen Dogmatiken auf. Unverdächtige Personen, die zu molekulargenetischen Untersuchungen nicht selten flächendeckend herangezogen werden, willigen in die ihnen freistehende Teilnahme oft nur deshalb ein, weil sie meinen, durch Ihre Weigerung einen Anfangsverdacht hervorzurufen und sodann den fraglichen Maßnahmen als Beschuldigte zwangsweise unterzogen zu werden. Wäre diese Befürchtung berechtigt, dann zöge die Wahrnehmung ihrer Verweigerungsrechte eine Quasi-Sanktion nach sich (nachteilsbehaftete Beschuldigtenstellung). Eine solche Verdachtsbildung muss, bedenkt man die oben (II.4.b)cc)) dargestellten Regeln der Beweiswürdigung, unzulässig sein211. Gegen die nicht kooperierende Person darf folglich nur bei einem zusätzlichen Verdachtsanlass ermittelt werden212.

209 Liegt die Straftat zeitlich vor der in der Rasterfahndung verwerteten Auskunft, ist dies indes der Normalfall einer außerstrafprozessualen Pflicht zur verfänglichen Mitwirkung (unten IV.2.). 210 Vgl. Wanner 1985, 42 ff., 55 ff.; Weßlau 1989, 212 f.; Siebrecht 1997, 84; unklar SKStPO/Rudolphi, § 98a/4. Am Bsp. der so legitimierten Rasterfahndung kritisiert allerdings Keller (1989, 139 ff.) die herkömmliche „Zeitstruktur“ des nemo-tenetur-Satzes. Hierdurch laufe die Selbstbelastungsfreiheit ins Leere, weil sie einer sich systematisch verdichtenden Informationsmacht, die – man denke an die Videoüberwachung öffentlicher Plätze – zunehmend vordeliktisch oder deliktsbegleitend ansetzt, nichts entgegensetze. Nemo tenetur müsse daher schon bei der Tat vor der staatlich veranlassten Schaffung von Beweismaterial schützen (a.A. Götting 2001, 263). 211

Dazu v.a. in und bei Fn 79 und 127. Dort ging es indes um Aussagen und andere aktive Mitwirkungen, die wegen des nemo-tenetur-Satzes nicht verlangt werden dürfen. Den hierzu direkt passenden Vergleichsfall bildet die (wegen ihres Aktivcharakters) freiwillige Atemalkoholanalyse. Dass es der Betreffende ablehnt, an solchen (Vor-)Ermittlungen mitzuwirken, darf wegen des Beweisverwertungsverbotes nicht zur Bildung eines Anfangsverdachts und zur darauf gestützten Blutprobenanordnung führen (zum Problem Dahs/Wimmer, NJW 1960, 2217; Geppert, BA 1992, 289, 293; Verrel 2001, 81 ff.; a.A. offenbar Janiszewski 2004, Rn 367). Dagegen ist die Duldung eines Gentests eine Passivität, vor der nemo tenetur nicht bewahrt. Die Teilnahme ist für den Unverdächtigen nur deshalb freiwillig, weil keine gesetzliche Verpflichtung besteht (auch nicht nach dem neu eingeführten § 81h StPO). Durch den Druck zur Teilnahme wird statt nemo tenetur also der Gesetzesvorbehalt konterkariert (vgl. auch Wüsteney 2003, 170). 212 BVerfG NJW 1996, 1587, 1588; 1996, 3071; BGHSt 49, 56, 59 f.; SK-StPO/Rogall, § 81a/7; Beulke 2005, Rn 242; Fahl 2004, 207; zurückhaltender Satzger, JZ 2001, 639, 648; kritisch zur Praxis dagegen Taschke 1995, 205. Ein informatorischer genetischer Fingerabdruck ist vom Nichtbeschuldigten nur im Wege der §§ 81c II, 81e I 2 StPO zu erlangen.

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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2. Selbstbelastungsschutz im außerstrafprozessualen Kontext a) Auskunftspflichten Außerhalb des strafrechtlichen Sektors ist der Bürger vielfach zu ganz unterschiedlichen Auskünften gehalten. Bei diesen Gelegenheiten kann er in die Lage geraten, auch Informationen selbstbelastender Art preisgeben zu müssen, wobei dann nach einem Datentransfer auch deren strafrechtliche Verwertung droht. Deshalb wird in solchen Fällen – genauer: sobald der (potenziell) Beschuldigte in Erfüllung seiner zivil- und öffentlich-rechtlichen Informationspflichten einen Anfangsverdacht für die Verfolgung von Straftaten hervorrufen könnte213 – der nemo-tenetur-Satz mobilisiert. Dieses Problemfeld wurde bislang vor allem durch das BVerfG bestellt: Nach dessen Rechtsprechung sei ein Selbstbelastungszwang nicht nur im Strafprozess, sondern auch in anderen Verfahrensarten zu vermeiden. Nun bringen aber z.B. die konkursrechtlichen Informationspflichten den deliktsvorbelasteten Gemeinschuldner in die Situation, sich im Insolvenzverfahren zur Vermeidung staatlicher Sanktionen auch zu verfänglichen Umständen erklären zu müssen214. Aus Sicht des BVerfG verkürzen solche Mitteilungszwänge zwar das allgemeine Persönlichkeitsrecht, doch sei dies einer Abwägung mit jenen außerstrafrechtlichen (staatlichen/privaten) Informationsbedürfnissen zugänglich, in deren Interesse sie bestehen. So erweise sich auch die Auskunftspflicht des Gemeinschuldners angesichts der dahingehenden Gläubigerbelange durchaus als verhältnismäßig. In einem Strafverfahren gegen den Betroffenen dürfe man die fraglichen Angaben jedoch nicht verwenden, denn sonst würden die Selbstbelastungsfreiheit und das darauf fußende Verbot eines strafprozessualen Geständniszwangs gleichsam hintergangen. Demgemäß sei für diese Daten ein strafverfahrensrechtliches Beweisverwertungsverbot angezeigt215.

213

Zu dieser Relevanzschwelle der außerstrafprozessualen Mitwirkungen stellvertretend Franzen/Gast/Joecks 2001, § 393/20. 214 Bei unzulässiger Auskunftsverweigerung drohen Beugemittel und bei einer unverfänglichen, aber falschen Aussage sogar Strafe. 215

Vgl. BVerfGE 56, 37, v.a. 49 f. sowie das Resümee bei BVerfG wistra 2004, 19 (Beifall bei Stürner, NJW 1981, 1757 ff.; Paeffgen 1986, 73; Nothhelfer 1989, 98 ff. und vielen anderen; skeptisch hingegen Lorenz, JZ 1992, 1000, 1005). Die konkrete Ausgestaltung des Beweisverbots (Fernwirkung etc.) hat das BVerfG offen gelassen (dazu Streck, StV 1981, 362, 363; Verrel, NStZ 1997, 361, 365). Der neue, die Rspr. aufgreifende § 97 I InsO (vgl. auch BVerfG NZI 2001, 132, 133) ist hier deutlicher. Er sieht für die Schuldnerangaben ein umfassendes Verwendungsverbot vor. Nicht eingeschlossen sind darin indes nonverbale Selbstbelastungspflichten. Wenn man die vom Schuldner vorgelegten Unterlagen und die Sequestratoren-/Konkursverwalterberichte nicht als Teil der Auskunft ansehen will, kann man sie daher als Beweis verwenden – es sei denn hier greift

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Teil 1: Bestandsaufnahme

Im Zwangsvollstreckungsrecht kehren die insolvenzrechtlichen Auskunftspflichten samt der davon betroffenen Interessenstruktur in fast identischer Weise wieder, sodass die bundesverfassungsgerichtliche Argumentation auf sie umstandslos übertragbar ist. Die Schuldnerauskünfte nach § 807 ZPO werden danach ebenfalls durch ein strafprozessuales Verwertungsverbot entschärft216. Das Gleiche gilt generell für schuldrechtliche Informationsansprüche, die auf gesetzlicher Grundlage oder als vertragliche Nebenpflicht selbstständig einklagbar sind: Bei ihnen unterliegt der Schuldner ebenfalls einem Mitwirkungszwang, den der Staat – sobald der Gläubiger seinen Anspruch justiziell verbriefen lässt und die Vollstreckung betreibt – im Verfahren nach § 888 ZPO realisiert217. Zwar steht auch diesem Auskunftsbegehren die etwaige Selbstbelastungsgefahr nicht entgegen218, doch unterliegen die abgegebenen Erklärungen und dabei produzierten Dokumente einem strafprozessualen Beweisverwertungsverbot219.

das sogleich (unten c)) skizzierte verfassungsunmittelbare Verwertungsverbot (zum Ganzen Richter, wistra 2000, 1, 2 ff.; Bittmann/Rudolph, wistra 2001, 81 ff.; Hefendehl, wistra 2003, 1 ff.). 216

Vgl. BGHSt 37, 340, 342 f.; ebenso etwa Schäfer 1982, 40; Dingeldey, NStZ 1984, 529, 531 f. (teilweise anders i.Ü. noch BGHZ 41, 318, 327; vgl. auch Fischer 1979, 49 ff.; für eine Konfliktlösung nach Art des § 157 StGB seinerzeit Bemmann 1966, 489 f.). Ob auch die vergleichbare eidesstattliche Versicherung gemäß § 284 AO durch eine Verwertungsverbot flankiert wird, lässt der BFH bislang offen (wistra 2002, 191, 192). 217 Dass es sich hierbei um hoheitlichen Zwang handelt, ist besonders gut sichtbar, wenn der Staat die Befriedigung privater Informationsansprüche zusätzlich absichert (wie im Fall von § 142 StGB; dazu unten VI.1.). 218 BVerfG wistra 2004, 383; BGHZ 41, 318, 322 ff.; 109, 260, 268; MüKo-BGB/Krüger, § 259/36; Balthasar 1986, 70 ff., 200 f. 219

Vgl. Taupitz 1989, 31 ff.; Berthold 1993, 33; Terbille/Schmitz-Herscheidt, NJW 2000, 1749, 1751; Leppich 2003, 208.. Dieses Beweisverwertungsverbot erstrecke sich aber nur auf Beweismaterial, das wegen des spezifischen Rechenschaftszwanges produziert wird (vgl. Stürner, NJW 1981, 1757, 1760; Dingeldey, NStZ 1984, 529, 532 f.). Dokumente, die schon vorher oder aus anderen Gründen hergestellt wurden, beruhten nicht auf der potenziell selbstbelastenden Auskunftspflicht, sodass sie verwertbar seien. Mit dieser Einschränkung begrenzt – und so muss auch BVerfGE 96, 171, 181 verstanden werden – der nemo-tenetur-Satz ebenfalls die Verwertung solcher Mitteilungen, die Arbeitnehmer ihrem Arbeitgeber machen müssen, weil ihre arbeitsvertraglichen Nebenpflichten (samt der sonst drohenden Kündigung; dazu Krey 1994, 52 ff.) sie dazu zwingen. Auch in dieser Konstellation wirkt der Staat mit seiner Zwangsvollstreckungsdrohung mit, weshalb hier ein hoheitlicher Einlassungszwang in Form eines staatlich durchgesetzten schuldrechtlichen Informationsanspruches vorliegt (anders pauschal OLG Karlsruhe NStZ 1989, 287; Rogall, NStZ 1989, 288; vgl. auch oben Fn 79). Kein Beweisverwertungsverbot ist jedoch angezeigt, wenn die Arbeitnehmer-Mitteilungen rechtsgrundlos zustande kamen, wenn sie also nicht in Erfüllung einer Auskunftspflicht erfolgten (vgl. zu einer privaten Beziehung, bei der die staatliche Hintergrundpression fehlt, sogleich bb. sowie BVerfG 2 BvR 122/97 v. 2.4.1997: Befragung durch Kaufhausdetektiv).

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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Allerdings wird nemo tenetur oftmals schon bei der außerstrafprozessualen Beweisgewinnung durch ein Aussageverweigerungsrecht berücksichtigt220. Ein Beispiel bietet das Untersuchungsausschussverfahren. Gemäß der „Befugnis begründenden Verweisung“ in Art 44 II 1 GG sind die Ausschüsse im Interesse parlamentarischer Aufklärung zur uneidlichen, durch Zwangsmittel abgesicherten Zeugenvernehmung berechtigt (jetzt §§ 20 ff., 27 PUAG). Da sich die dort gemachten Angaben strafrechtlich gegen die Auskunftsperson wenden könnten, ging man aber seit jeher davon aus, dass sich Art 44 II 1 GG auch „Befugnis begrenzend“ auf § 55 StPO bezieht, sodass sich die Zeugen weigern dürfen, auf verfängliche Fragen zu antworten221. Das PUAG stellt dies nun ausdrücklich klar (§ 22 II, IV PUAG)222. Für ein Verwertungsverbot besteht hier kein Bedürfnis223.

Die Problemstruktur jener Fälle erlaubt eine Generalisierung, wonach die Selbstbelastungsfreiheit dadurch angesprochen wird, dass der Staat im Drittinteresse außer-strafprozessuale Auskünfte verlangt, obwohl sie sich strafrechtlich zumindest indiziell auswirken können224. Sind solche Mitteilungspflichten nicht durch spezialgesetzliche Auskunftsverweigerungsrechte ausgesetzt, darf das Strafverfahren diese verfänglichen Informationen nicht ausbeuten. Aus der Warte von nemo tenetur gelten beide Modelle als austauschbar225, denn das

220

Vgl. die Bspe. bei Wolff 1997, 189 Fn 489.

221

Z.B. BVerfGE 76, 363, 387; Müller-Boysen 1980, 105; Di Fabio 1988, 48 f.; Pabel, NJW 2000, 788, 789. 222 Diese Struktur wäre freilich gesprengt, wollte man die parlamentarische Enquete als ein Quasi-Strafverfahren ansehen, weil dann demjenigen, gegen den sich die Untersuchung faktisch richtet und dessen Fehlverhalten das strafprozessadäquat begriffene Verfahren aufklären soll, als Quasi-Beschuldigten eine vollständige Schweigemöglichkeit nach Art des § 136 StPO zustehen würde (so z.B. Buchholz 1990, 82 ff. und passim; ähnlich Koch, ZParl 1996, 405, 408 f.). Darauf, ob und wie weit außerhalb der Enquete die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung besteht, kommt es aus dieser Warte für das Bestehen eines Schweigerechts gar nicht an. Wegen der allein politischen, nicht-strafrechtlichen Folgen des Untersuchungsverfahrens wird dies von der h.M. freilich abgelehnt (vgl. Müller-Boysen 1980, 108 ff.; Di Fabio 1988, 48 f.; Pabel, NJW 2000, 788, 790; zur Diskussion Rogall 2002, 460 ff.). Auch das neue PUAG hat sich dem verschlossen (vgl. Rogall a.a.O., 463 ff.; Wiefelspütz 2003, 239 ff., 255 ff.). 223

Für das Modell „Auskunftspflicht/Beweisverwertungsverbot“ trat früher bspw. Kramer (ZRP 2001, 386 f.) ein. Zu den Diskussionen über die verschiedenen Möglichkeiten der nemotenetur-Berücksichtigung bei Erlass des PUAG vgl. Rogall 2002, 474 f.; Kerbein 2004, 66 ff. 224 Vgl. Wolff 1997, 149 Fn 187; Pohl 2002, 31 ff. mit einem Inventar solcher Auskunftspflichten. Grundsätzlich können die Interessen, derentwegen sie bestehen, von privater oder öffentlicher Natur sein (einschränkend auf gewichtige private Drittinteressen aber Heckel 1981, 231 f.). Sie müssen sich nur vom staatlichen Strafverfolgungsinteresse abheben (zu dieser Struktur Stürner 1976, 184 f.; Meyer, JR 1986, 170; Reiß 1987, 188 ff.; Schramm 1990, 92 ff.; Kölbel/Morlok, ZRP 2000, 217, 219; Jerouschek/Kölbel, JZ 2003, 613, 614 ff.). 225 Bspw. schreiben die polizeirechtlichen Bestimmungen der Länder, die etwa dem Störer eine Auskunftspflicht auferlegen, entweder ein Auskunftsverweigerungsrecht vor oder das Verwertungsverbotsmodell – sei es explizit (z.B. § 12 II 4 HessSOG) oder ungeschrieben (vgl. Pohl 2002, 47 ff.). Mitunter ist i.Ü. streitig, welches der beiden Lösungsvarianten ein Rechtsgebiet vorsieht

72

Teil 1: Bestandsaufnahme

Beweisverwertungsverbot226 neutralisiere den Eingriff in die Selbstbelastungsfreiheit, den die Aussageverweigerungslösung gar nicht erst zustande kommen lässt. Dieser Rechtsschutzstruktur bedient sich, das sei hier nur am Rande erwähnt, im Übrigen auch der EuGH. Soweit das Europarecht gewisse Auskünfte ungeachtet ihrer Verfänglichkeit einfordert (wie z.B. im Kartellrecht227), gestattet er lediglich den Gemeinschaftsorganen deren Benützung (zum Erhebungszweck), nicht aber den Einzelstaaten (zum Ahndungszweck)228.

b) Mitwirkungslasten Außerstrafrechtlichen Auskünfte, die im Zuge der individuellen Anspruchsdurchsetzung erteilt werden müssen, sind nach h.M. dagegen von anderem Schlag. Wenn man hier zur Mitwirkung herangezogen wird, bilde dies eine unliebsame Begleiterscheinung beim Betreiben eigener Belange. So werden beispielsweise dem Asylantragsteller bei der Prüfung seines Begehrens umfangreiche Mitteilungen abverlangt (§ 25 I, II AsylVfG), mit denen er sich gegebenenfalls auch zu einer eigenen Straftat (namentlich einer illegalen Einreise) bekennen muss. Allerdings fungiert diese Verpflichtung lediglich als Teilschritt zur Asylgewährung. Da sie nicht selbstständig vollstreckt werden kann, resultiert der Druck auf den Antragsteller, der Einlassungserwartung zu entsprechen, allein auf der sonst drohenden Schmälerung der asylrechtlichen Erfolgschancen.

(dazu für § 56 BRAO, § 56 RAG etwa Feuerich, AnwBl 1992, 61 ff.). Wo beide Lösungen nicht als gleichwertig gelten (z.B. bei Gröschner 1992, 321), vertritt man die Sicht des kollidierenden Gutes. Das Verwertungsverbot sei vorzuziehen, weil es im Unterschied zur Auskunftsverweigerung das Informationsinteresse aufrechterhalte, obwohl es nemo tenetur Genüge tue. 226 Die Unverwertbarkeit wird der Gruppe selbstständiger Verwertungsverbote zugeschlagen (Nothhelfer 1989, 97 ff.; Amelung 1990, 38; Mäder 1997, 125, 127; Aselmann 2004, 143; unklar dazu BVerfGE 56, 37; HessVGH DÖV 1996, 616). 227

Obwohl es in den fraglichen kartellrechtlichen Verfahren um Sanktionen geht, müssen die betroffenen Unternehmen die betreffenden Auskünfte erteilen. Der EuGH lehnt jedenfalls für juristische Personen die Existenz einer Selbstbelastungsfreiheit ab. Er begrenzt die Auskunftspflicht von Korporationen vielmehr durch den Grundsatz der Wahrung der Verteidigung. Allerdings seien hiernach lediglich solche Fragen unerlaubt, die nur geständnisgleich (durch Eingeständnis von Zuwiderhandlungen) zu beantworten sind. Ansonsten bestehe eine Pflicht auch zur verfänglichen Tatsachenauskunft (vgl. EuGH, Slg. 1989, 3283, 3350 f.; ebenso Slg. 1993, 5683, 5711 ff.; EuG, Slg. 1995, II – 545, 570; EuZW 2001, 345, 349; zu dieser Rspr. und der problematischen Detailabgrenzung etwa Dannecker 1995, 2085; Ransiek 1996, 358; Weiß, JZ 1998, 289, 292; Dannecker, ZStW 111, 1999, 256, 282 ff.; Alvarez Ligabue 2000, 12 ff.; Ruegenberg 2001, 328 f.; Schohe, NJW 2002, 492, 493; Drope 2002, 163 ff.; Minoggio, wistra 2003, 121, 125 f.). 228 Zum Beweisverwertungsverbot, dem die vom europäischen Kartellrecht erzwungenen Auskünfte im mitgliedsstaatlichen Ordnungswidrigkeitsverfahren unterliegen, vgl. EuGH NJW 1993, 251; Bechtold, EuZW 1992, 675 f.; Dannecker 1995, 2085; ders., ZStW 111, 1999, 256, 287; Alvarez Ligabue 2000, 107 f.; skeptisch zu dessen Wirksamkeit Ruegenberg 2001, 329 f.

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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Derartige Äußerungspflichten, bei deren Missachtung kein staatlicher Vollstreckungs- oder Sanktionsakt droht, sondern allein die jeweilige Anspruchsdurchsetzung leidet, verkörpern nach h.M. keinen Einlassungszwang. Generell gelte dies, wenn (potenziell) Beschuldigte ihre öffentlich-rechtlichen Interessen nur durchsetzen können, sofern sie sich zu selbstbelastenden Auskünften bereit zeigen. Es handle sich dann stets um eine Mitwirkungslast229, die hinzunehmen sei und deren Selbstbezichtigungswirkung man daher auch nicht durch ein strafprozessuales Verwertungsverbot korrigieren müsse230. Die Gegenansicht verweist indes darauf, dass die drohenden Rechtsverluste nicht selten gravierend sind, was die Betroffenen dazu dränge, die inneren Vorbehalte gegenüber der selbstschädigenden Erklärung beiseite zu schieben. Diese zwangsadäquate psychische Konfliktlage rechtfertige es, die fraglichen Nachteilsaussichten dem echten Mitwirkungszwang gleichzustellen, einschließlich der damit einhergehenden Verwertungsgrenzen231. Die skizzierten Sachlagen wiederholen sich, wenn im Dienste eines zivilrechtlichen Begehrens gewisse (auch verfängliche) Informationen zu erteilen sind, ohne dass dahinter die Option staatlicher Zwangsvollstreckung steht. Ein erstes Beispiel dafür bieten die Mitteilungen, die dem Versicherungsnehmer im Schadensfall obliegen232. Die h.M. sieht darin keinen außerstrafprozessualen Aussagezwang, weil die Auskunftserteilung nicht durchsetzbar ist und sich bei ihrer Verweigerung lediglich die Versicherungsleistung reduziert233. Ebenso wenig lässt sich die zivilprozessuale Auf-

229 Zu dieser Struktur vgl. Stürner, NJW 1981, 1757, 1759 f.; Meyer, JR 1986, 170, 171; Knack/Clausen, § 26/36; Dingeldey, NStZ 1984, 529, 534. 230 So v.a. am Asylrechts-Bsp. BGHSt 36, 328, 331 ff.; OLG Köln NJW 1989, 1448; OLG Hamm NStZ 1989, 187, 188; OLG Düsseldorf StV 1992, 503; Bosch 1998, 57; Böse, wistra 1999, 451, 454; für einen Mitwirkungszwang dagegen Ventzke, StV 1990, 279, 280 f.; Kadelbach, StV 1992, 506, 507 f.; Stetten, JA 1996, 55, 58; Wolff 1997, 213; Jäger 2003, 212 sowie mit unscharfer Begründung auch OLG Hamburg NJW 1985, 2541. Eine ähnliche Mitwirkungslast liegt nach BVerwG ZBR 1997, 229 vor, wenn man sich vor einer Verbeamtung dazu erklären muss, ob man früher bei der Staatssicherheit tätig war. Diese Mitwirkung sei nicht erzwingbar, sondern öffne die Tür zu einer Vorteilserlangung. Dass es sich hier um gar keine strafrechtliche Selbstbelastung handelt, wird vom Gericht nicht thematisiert. Daher ist es verwunderlich, dass BVerfGE 96, 171, 181 in einer Kündigung, die eine vergleichbare Auskunftspflicht absichert, ausdrücklich (aber begründungslos) einen rechtfertigungsbedürftigen nemo-tenetur-Eingriff sieht. 231

Eingehend v.a. Wolff 1997, 130 ff., der dies nur insofern einschränken will, als es sich um einen verfassungsrechtlichen Anspruch handeln muss, der durch das Schweigen verloren ginge. 232 233

Zur hier bestehenden Auskunftsverpflichtung vgl. Ulsenheimer 2001, 349.

Bei unvollständigen Angaben des Versicherungsnehmers wird der Versicherer nach § 7 V.2 AKB von einem Teil seiner Leistungspflicht frei. Einen darauf gründenden Auskunftszwang bestreiten OLG Celle NJW 1985, 640, 641; KG NStZ 1995, 146; Geppert, DAR 1981, 301, 305 f.; ders. Jura 1995, 439, 441 f.; Reiß, NJW 1982, 2540, 2541; Bosch 1998, 58; Böse, wistra 1999, 451, 454. Für das Vorliegen einer Mitwirkungspflicht und daher für ein Beweisverwertungsverbot aber OLG Celle NStZ 1982, 393; Stetten, JA 1995, 55, 56 ff.; Ulsenheimer 2001, 360 ff.; Paeffgen 1986, 73 Fn 299.

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Teil 1: Bestandsaufnahme klärungspflicht (§ 138 I, II ZPO) erzwingen. Wer von einer selbstbelastenden Parteieinlassung absieht, lässt lediglich den gegnerischen Vortrag unwiderlegt im Raum stehen (weshalb ihm wegen der Geständnisfiktion nach § 138 III ZPO die ungünstige Tatsachenwürdigung als faktischer Nachteil in der prozessualen Rechtsverfolgung droht)234. Wenn, um das zu verhindern, verfängliche Angaben gemacht werden, sei dies nach h.M. also nicht staatlich veranlasst. Der Strafprozess könne die fraglichen Informationen deshalb verwerten.

c) Dokumentations- und Vorlagepflichten Das Verwaltungsrecht kennt schließlich vielfache Pflichten zur Dokumentation und Unterlagenvorlage, bei deren Befolgung ebenfalls selbst erzeugte Erkenntnisquellen entstehen235, die in einen Strafprozess gegen den Pflichtadressaten eingehen können236. Die Literatur plädiert für eine Gleichbehandlung mit der verbalen Auskunft, denn sachlich bestehe im selbstbelastenden Charakter der verschiedenen Mitwirkungsformen kein Unterschied237. Das führt beispielsweise bei einer umweltrechtlichen Anweisung, die eigenen Anlagen zu überwachen und die dabei anfallenden Daten zu registrieren und herauszugeben, zu der oben bei a) vorgestellten Lösung: Die Inanspruchnahme wird durch kollidierende Interessen gerechtfertigt. Dort aber, wo die so entstehenden Be-

234 Außerdem kann die fragliche Partei durch Klagerücknahme oder Anerkenntnis der gesamten Situation ein Ende bereiten. Gegen einen Auskunftszwang OLG Saarbrücken wistra 1996, 241, 242; AG Grevenbroich StV 1996, 109; Stürner 1976, 184 ff.; ders. NJW 1981, 1757, 1759 f.; Fischer 1979, 20 ff.; Müller-Boysen 1980, 104; Nothhelfer 1989, 94 f.; Berthold 1993, 29 ff.; Böse, wistra 1999, 451, 452 ff.; Leppich 2003, 207 f.; Kerbein 2004, 54; für eine Konfliktentschärfung durch Aussetzung des Zivilverfahrens nach § 149 ZPO LG Dortmund StV 1994, 36; Neuhaus, StV 1994, 36 ff.; Kirsch 1995, 237, Schlothauer/Weidner 2001, Rn 77. Stattdessen für ein strafprozessuales Beweisverwertungsverbot P. Roth 1991, 100 ff. 235

Gemeint ist die allein präventive Verwaltungstätigkeit. Sobald die Behörde in Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit vorgeht, ist der damit konfrontierte Bürger ein Beschuldigter mit den zugehörigen Passivrechten (klarstellend Bärlein/Pananis/Rehmsmeier, NJW 2002, 1825, 1828 ff.). 236 Vgl. Wolff 1997, 162 ff. zu zahlreichen Bspen. aus dem Verwaltungsrecht. Strukturell gehört hierzu auch die strafrechtliche (Bewährungs-)Auflage, falls sie – wie idealtypisch das so genannte elektronische Halsband – einer eigenhändigen Registrierung zukünftiger Delikte gleichkommt. Während Hoferer (NStZ 1997, 172, 174) in der Weisung, während der Bewährungszeit regelmäßig Urinproben abzugeben, eine Verletzung von nemo tenetur hinsichtlich des so aufgedeckten, späteren Drogendeliktes sieht, besteht nach h.M. hierin kein Selbstbelastungszwang (vgl. BVerfG NStZ 1993, 482; Verrel 2001, 62). Eine postdeliktische Selbstbelastung werde gar nicht verlangt (zum Problem sogleich näher bei Fn 239). 237 So bspw. Kühne 1970, 53; Bottke, DAR 1980, 238, 240; Heckel 1981, 235 f.; Otto, wistra 1983, 233; Reiß 1987, 236 f.; Michalke, NJW 1990, 417, 419; Rüping/Kopp, NStZ 1997, 530, 532 f.; Geppert, BA 1992, 289, 295 f.; ders. 1992, 675 f.; Lagodny 1996, 329; Bittmann/Rudolph, wistra 2001, 81, 83; Müller, wistra 2001, 167, 170; Bärlein/Pananis/Rehmsmeier, NJW 2002, 1825, 1828; Hefendehl, wistra 2003, 1, 8; a.A. jetzt Böse 2005, 438 ff.

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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weismittel ein früheres Delikt belegen, macht ein Verwertungsverbot den immanenten Selbstbelastungszwang wett238. Anders verhält es sich nur bei einer deliktsbegleitend entstandenen Aufzeichnung, da ihr kein Zwang zugrunde liegt, nachträglich selbstbezogenes Beweismaterial zu schaffen239. Die Gerichte neigen bislang freilich noch dazu, vor nonverbalen außerprozessualen Mitwirkungen nur eingeschränkt schützen zu wollen. So hält das BVerfG die auf § 31a BinnenschifffahrtG gestützte Einsichtnahme in (potenziell) selbstbelastende Geschäftsbücher für unbedenklich, obwohl sie nicht durch ein Verweigerungsrecht begrenzt wird240. Dem OLG Hamm zufolge können die nach § 4 III Nr. 2 FahrpersonalG herauszugebenden Fahrtenschreiberschaublätter im Ordnungswidrigkeitsverfahren schon deshalb verwertet werden, weil sie gegenüber der verbalen Auskunft eine geringere Mitwirkung abverlangten241. Überhaupt äußert sich die Rspr. zu diesen Fragen unklar und noch wenig systematisch. So wird, um ein weiteres Beispiel zu nennen, die Zulässigkeit der Fahrtenbuchauflage (§ 31a StVZO), bei der jede (also auch die deliktische) Fahrt nach ihrer Beendigung aufzuzeichnen ist, als Aktualisierung einer gleichsam naturgegebenen Gemeinwohlbindung gerechtfertigt, die mit

238

So SK-StPO/Rogall, Vor § 133/146; Schramm 1990, 115 ff.; Geppert 1992, 676 f.; Mäder 1997, 183 ff; Gericke, StV 2003, 305, 307; restriktiver aber Schöch, BA 1997, 169, 172 ff. 239 Solche Aufzeichnungen heben – wie i.Ü. auch Rotlichtfoto, Videoüberwachung, Fahrtenund Unfalldatenschreiber – lediglich die Möglichkeit zur unerkannten Deliktsbegehung auf (ohne einen postdeliktischen Selbstbelastungsakt zu verlangen). Stets kann der Betroffene die Selbstüberführung verhindern, indem er sich normkonform verhält (so Bottke, JR 1991, 252. 254; Geppert 1992, 675 f.; ders., BA 1992, 289, 295 f.; ders., 2003, 851; Schneider, NStZ 1993, 16, 22 f.; Wolff 1997, 217 ff.; Leppich 2003, 318). Bei der Beweismittelerzeugung sind hier also gar keine Selbstbelastungszwänge möglich, wohl aber bei der staatlichen Beweismittelerlangung. Für die Herausgabe und Beschlagnahme im Strafverfahren gelten insofern die allgemeinen Regeln (oben III.1.). Es könnte aber auch die verwaltungsrechtliche Editionspflicht bzgl. der deliktsbegleitend hergestellten Aufzeichnung als nachdeliktischer Aktivzwang in nemo tenetur eingreifen (als Pedant zur Auskunftspflicht gegenüber der Fachbehörde) und ein Beweisverwertungsverbot begründen. Diese Konsequenz wird jedoch vermieden, wenn man im Herausgabezwang keinen eigenen Akt, sondern einen unselbstständigen Annex der nemo-tenetur-irrelevanten Dokumentationspflicht sieht. 240

Vgl. BVerfGE 55, 144, 150. Ob diese Vorlagepflicht wegen des nemo-tenetur-Satzes durch ein Beweisverwertungsverbot zu ergänzen sei, war aber kein Gegenstand der Entscheidung (offen insofern auch BVerfG NStZ 1993, 482). Dass ähnliche Dokumentationspflichten gemäß § 49 IV 3, 4 PBefG trotz ihrer potenziellen strafrechtlichen Beweiseignung nach BVerfGE 81, 70, 97 überhaupt nicht den Schutzbereich der Aussagefreiheit berühren, erklärt sich wiederum daraus, dass sie schon während des Vergehens zu befolgen waren und den Regelverstoß quasi registrieren, anstatt ihn nachträglich zu rekonstruieren (eben Fn 239). 241 Vgl. OLG Hamm VRS 82 (1992) 235, 238. An sich wäre auch hier ein Hinweis auf den deliktsbegleitenden Charakter der Aufzeichnung angezeigt gewesen. OLG Düsseldorf NZV 1996, 503, 504 begründet dieses Ergebnis unverständlicherweise damit, dass nicht die Aushändigung, sondern erst die behördliche Auswertung zu belastenden Ergebnissen führe. BVerwG DÖV 1984, 73, 74 hatte die Vorlagepflicht nach einer Verhältnismäßigkeitsabwägung ausdrücklich aus dem Aussageverweigerungsrecht in § 4 IV FahrpersonalG herausgenommen. Für eine Einschlägigkeit von nemo tenetur dagegen OVG Koblenz NJW 1982, 1414; Reiß, NJW 1982, 2540; Dingeldey, NStZ 1984, 529, 534; ebenso i.Z.m. anderen Vorlagepflichten auch HessVGH DÖV 1996, 616.

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Teil 1: Bestandsaufnahme dem Eintritt in das Verkehrssystem hinzunehmen sei242. Dem liegt ein Argumentationsschema zugrunde, das immerhin einen Eingriff in die Selbstbelastungsfreiheit annimmt und durch präventive Zwecke legitimiert (nämlich die Sicherung gerade jener Freiheit, die der Betroffene im Straßenverkehr selbst in Anspruch nimmt). Andere Entscheidungen verneinen aber bereits die Schutzbereichsverletzung, indem sie eine sanktionsartige Verwertung solchen Materials zulassen, weil nemo tenetur überhaupt nicht gegen dessen Vorlage schütze243.

d) Insbesondere: Besteuerungsverfahren Auch im Besteuerungsverfahren hat der Steuerpflichtige eine Reihe verbaler und nonverbaler Mitwirkungen zu erbringen, eingeschlossen Angaben zu Einkünften von steuer- und allgemeinstrafrechtlicher Relevanz (§ 40 AO)244. Dass nicht einmal aktuelle Strafermittlungen das Besteuerungsverfahren unterbrechen, sondern beide koinzidierende Verfahren nach den jeweiligen Regeln parallel weiter laufen (§ 393 I AO), führt zur Kollision mit der (steuer-)strafprozessualen Selbstbelastungsfreiheit245. Deren Auflösung unterscheidet sich danach, welchen Deliktes sich der Steuerpflichtige bezichtigen muss. Nach § 393 I 2 – 4 AO bestehen die steuerlichen Mitwirkungspflichten zwar auch dann fort, wenn man sich bei deren Befolgung zu einer steuerstrafrechtlichen Tat mitteilen muss, nur kann die Finanzbehörde die fraglichen Aktivitäten nicht zwangsweise durchsetzen246. Bis zur Einleitung eines steuerstrafrechtli-

242

Eine solche Abwägung (ähnlich BVerwGE 18, 107, 109 f.; BVerwG NJW 1981, 1852; NZV 2000, 385; Verrel 2001, 99) nimmt BVerfG NJW 1982, 568 vor – erneut aber ohne Äußerung zu einem Beweisverwertungsverbot. Ohnehin wird selten deutlich auseinander gehalten, dass die Auflage, indem sie einen Nachteil an die Aussageverweigerung des Halters knüpft, einmal in dessen Schweigerecht bzgl. des ersten Delikts eingreift, dass das Fahrtenbuch aber zum anderen auch zur nachträglichen Aufzeichnung bzgl. zukünftiger Verkehrsverstöße nötigt und insofern die Mitwirkungsfreiheit betreffen könnte. 243

So BVerfG VkBl 1985, 303; Leppich 2003, 312 ff.

244

Zu den Mitwirkungspflichten in §§ 90, 93, 140 ff., 200 AO z.B. Kohlmann, § 393/17; Reiß 1987, 29 ff., 34 ff.; Teske, wistra 1988,207, 209 f.; Ruegenberg 2001, 135 ff.; Rogall 203, 467. 245 Nach ganz h.M. ist wegen des eindeutigen Wortlauts von § 393 I 1 AO, der die zeitliche Parallelität vorsieht, die Konfliktentschärfung durch die temporäre Staffelung beider Verfahren (Aussetzung der Besteuerung) ausgeschlossen (vgl. H/H/Sp/Hellmann, § 393 AO/11 f.; Teske, wistra 1988, 207; Rüping/Kopp, NStZ 1997, 530, 532; a.A. Rengier, BB 1985, 720, 723). 246

Insofern besteht faktisch die Möglichkeit zur Verweigerung verbaler/nonverbaler Mitwirkungen (vgl. BFH NJW 2002, 2198; H/H/Sp/Hellmann, § 393 AO/39; Franzen/Gast/Joecks 1996, § 393/6; Reiß 1987, 32 ff., 263; Streck/Spatschek, wistra 1998, 334, 335 f.; Rogall 2003, 472). Dem BVerfG genügt dies zur Bewältigung der Selbstbelastungsproblematik (NJW 2005, 352, 353). § 393 I AO gilt nach h.M. für alle steuerrechtlichen Mitwirkungspflichtigen (vgl. Teske, wistra 1988, 207, 215; Reiß a.a.O., 262; Hellmann 1995, 103; Rogall a.a.O.). Passivpflichten blei-

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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chen Ermittlungsverfahrens, das die Nichtvollstreckbarkeit automatisch nach sich zieht, muss dafür allerdings das Selbstbelastungsrisiko erklärt und glaubhaft gemacht werden247. Nach § 393 I 4 AO ist der Steuerpflichtige über diese Rechtslage aufzuklären, allerdings erst bei entsprechendem Verdachtsanlass. Wird das versäumt, sei das unbelehrt zustande gekommene Beweismaterial unverwertbar248. Ungeachtet dieser faktisch bestehenden Verweigerungsmöglichkeit kann sich das Untätig-Bleiben jedoch ungünstig auf die Sachentscheidung im Besteuerungsverfahren auswirken. Dort werden gemäß § 162 AO die verschwiegenen Besteuerungsgrundlagen geschätzt. Hierbei erlaubt die h.M. einen „Unsicherheitszuschlag“, denn der untätig bleibende Steuerpflichtige verletze immerhin ein Mitwirkungsgebot (welches durch § 393 I 2 AO allein in seiner Durchsetzbarkeit suspendiert ist)249. § 393 I AO hat keine Bedeutung für nicht-steuerliche Straftaten und Ordnungswidrigkeiten. Von einer dahingehenden Selbstbezichtigungsgefahr bleiben die erzwingbaren Offenbarungspflichten im Besteuerungsverfahren unberührt250. Allerdings beschränkt § 30 AO die Weitergabe belastender Informatio-

ben freilich auch von § 393 I AO unberührt (vgl. Joecks a.a.O., Rn 24). Zu den materiellstrafrechtlichen Aussagezwängen aus § 370 AO unten VI.3. 247 Hinsichtlich der einzelnen Anforderungen folgt dies der Dogmatik zu § 55 StPO (vgl. Erbs/Kohlhaas/Senge, § 393 AO/5; H/H/Sp/Hellmann, § 393 AO/100; Besson 1997, 108 f.). 248 Vgl. nur BGH StV 2005, 500, 501; Reiß 1987, 294 ff.; Kohlmann 1995, 500 ff.; Hellmann 1995, 377; Besson 1997, 137 f.; zum Verwertungsverbot im Besteuerungsverfahren BFH NJW 2002, 2198. I.Ü. soll die steuerbehördliche Ausnutzung des Irrtums, dem der unbelehrte Steuerpflichtige über seine faktischen Mitwirkungsfreiheiten unterliegt, unter die Täuschung nach § 136a StPO fallen (vgl. Joecks, wistra 1998, 86, 90; Streck/Spatschek, wistra 1998, 334, 337; Ruegenberg 2001, 210; zur Täuschungsschwelle auch BGH NStZ 2005, 517). 249 Zum Ganzen Reiß 1987, 265 f.; Rüster, wistra 1988, 49, 50 f.; Nothhelfer 1989, 106 f.; Besson 1997, 118 f. m.w.N. (nach der Rspr. besteht die Schätzungsmöglichkeit i.Ü. auch, wenn das Unterlassen der Erklärung ausnahmsweise einmal nicht nach § 370 AO strafbar ist, denn die Erklärungspflicht ist davon unabhängig, vgl. BGHSt 46, 8, 15). Die Gegenansicht hält die Zuschätzung für einen unzulässigen Aussagezwang (vgl. Kohlmann, § 393/34; Rogall 1977, 171; Streck 1983, 241 ff.; Frommel/Füger, StuW 1995, 58, 70; Streck/Spatschek, wistra 1998, 334, 339 f.). Entsprechend der Dogmatik zu §§ 136, 55 StPO, wo man vergleichbare Beweiswürdigungsnachteile nicht zulässt, erlaubt man oftmals nur eine Schätzung ohne ungünstige Zuschläge (vgl. Teske, wistra 1988, 207, 215; Hellmann 1995, 117 f.; Wolff 1997, 210 f.; Franzen/Gast/Joecks 2001, § 393/30; auch darin einen Mitwirkungszwang sehend Krieg 2001, 111 ff.; für ein Beweisverwertungsverbot Streck, StV 1981, 362, 364; Kohlmann 1995, 504 ff; Rüping/Kopp, NStZ 1997, 530, 532 f.). Röckl (2002, 125 ff.) macht eine weitere prozessuale Schlechterstellungen aus, die aus den Präklusionsvorschriften der §§ 354b AO, 79b III, 76 III FGO resultiere. 250 Kohlmann § 393/25; Franzen/Gast/Joecks 2001, § 393/10; Otto, wistra 1983, 233; Reiß 1987, 32 f., 221; Krieg 2001, 27 ff. (wegen der eindeutigen gesetzlichen Anordnung lehnt die h.M. die Einbeziehung nicht-steuerlicher Delikte in § 393 I AO ab (vgl. etwa Besson 1997, 105 f.; Zimmermann 2001, 144 f. m.w.N.).

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Teil 1: Bestandsaufnahme

nen, und § 393 II AO unterbindet deren strafprozessuale Nutzung251. Dieses Verwertungsverbot entspricht jener Lösung, die das BVerfG auch auf andere außerstrafprozessuale Mitwirkungspflichten übertragen hat (oben a)). Dennoch belässt die Beweisverbotslösung einige Lücken: § 393 II AO untersagt die Verwendung des selbst geschaffenen Belastungsmaterials nur im Strafverfahren, sodass für das Ordnungswidrigkeitsverfahren ein entsprechendes Verwertungsverbot erst aus dem nemo-tenetur-Satz hergeleitet werden muss252. Ferner stehen solche Informationen, die der Steuerpflichtige den Finanzbehörden in Kenntnis eines laufenden steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahrens offenbart, dem Strafprozess offen253. Schließlich sind vom Verwertungsverbot jene Strafverfahren ausgenommen, die im besonderem öffentlichen Interesse stehen (§ 393 II 2 AO)254. Diese Verhältnismäßigkeitsklausel gilt freilich vielen Autoren, denen zufolge die Selbstbelastungsfreiheit unabhängig von der zu offenbarenden Deliktsqualität zu wahren ist, als Verstoß gegen nemo tenetur255. Als problematisch erscheint es, welchem Programm der Selbstbelastungsschutz folgt, wenn die nicht-steuerliche Straftat in Tateinheit mit einem Steuerdelikt zusammenfällt. Zum Zuge kommt hier zunächst einmal ein faktisch gegenstandsübergreifendes Passivrecht: Weil infolge der Tateinheit das Beweismaterial beider Straftaten eng miteinander verbunden ist, führt die Mitwirkungsverweigerungsmöglichkeit nach 251 Zulässig ist jedoch der Informationsübergang aus dem Besteuerungs- in das Steuerstrafverfahren (§ 30 IV Nr. 1, V AO), da die entsprechenden Mitteilungen nicht erzwingbar waren (§ 393 I AO; vgl. Rogall 2003, 474; Erbs/Kohlhaas/Senge, § 393 AO/7). Wenn der Steuerpflichtige hier auf Vertraulichkeit hofft, hat er sich für den falschen Weg entschieden. Er hätte besser schweigen sollen. Zwischen den Rechten aus § 393 I oder II AO kann er nicht nach Belieben wählen. 252 So Wolff 1997, 212, wobei dies nur dann eingreifen soll, wenn die Ordnungsbehörde die inkriminierten Sachverhalte unter Verletzung der Geheimhaltungspflicht von § 30 AO erfahren hat. 253 Vgl. Erbs/Kohlhaas/Senge, § 393 AO/8. Nicht-steuerstrafrechtlich relevante Informationen sind zwar wegen der allgemeinen Mitwirkungsfreiheit im steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren nicht zu erzwingen (deshalb erscheinen die Angaben freiwillig und die Verwertbarkeit konsequent), wohl aber im parallel laufenden Besteuerungsverfahren (weil § 393 I AO dies nur für steuerstrafrechtlich relevante Daten untersagt). Kommt der Steuerpflichtige diesem Zwang im Besteuerungsverfahren nach, behält er zwar den Geheimhaltungsanspruch gegenüber den Steuerbehörden (denn § 30 IV Nr. 4a AO macht davon nur bei Angaben im Ermittlungsverfahren eine Ausnahme), aber er ist wegen der Ausnahme vom Verwertungsverbot in § 393 II AO nicht gegen dessen Verletzung geschützt (dazu auch Reiß 1987, 32 ff.). 254 Unter den Bedingungen des § 30 IV Nr. 5 AO informiert die Steuerbehörde also die Strafverfolgungsbehörde über die selbstüberführenden Angaben. Liegt dem Allgemeindelikt eine Schmiergeldzahlung zugrunde, muss die Finanzbehörde diese Unterrichtung neuestens sogar ganz ohne Rücksicht auf Verhältnismäßigkeitsfragen vornehmen (§ 4 V Nr. 10 S. 2 EStG i.V.m. § 30 IV Nr. 2 AO; dazu Joecks 2003, 453 f.). 255 Stellvertretend: H/H/Sp/Hellmann, § 393 AO/181 f.; Franzen/Gast/Joecks 2001, § 393/83; ders. 2003, 455; Kohlmann, § 393/83; Reiß 1987, 224 ff.; Rogall 2003, 497. Der BGH (StV 2004, 578) hat sich dem verschlossen. Er will dem Steuerpflichtigen allerdings zugestehen, verfängliche Mitteilungen wenigstens teilweise vermeiden und in der Steuererklärung hinter dem Umfang der sonst gebotenen Angaben zurückbleiben zu können (eingehend zum Ganzen Böse 2005, 526 ff.).

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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§ 393 I AO dazu, dass sich mit den selbstbelastenden Beiträgen hinsichtlich des Steuerdelikts zugleich auch das allgemeindeliktisch aussagekräftige Material zurückhalten lässt256. Hat der Steuerpflichtige dennoch eine solche verfängliche Auskunft erteilt, steht jedenfalls einer steuerstrafrechtlichen Verwertung nichts im Weg257. Diese Mitteilung aber auch bei der Verfolgung des Allgemeindeliktes zu verwerten, wird mit Blick auf § 393 II AO meist für unzulässig gehalten258. Einen zusätzlichen Gesichtspunkt hat nun das BayObLG in diesen Komplex getragen, als es sich nicht nur der vorgenannten Ansicht anschloss, sondern dem Beweisverwertungsverbot des § 393 II AO zugleich ganz neue Einsatzfelder eröffnete. Während es nach landläufiger Auffassung für jene Informationen gedacht ist, die der Staat im Steuerverfahren über ein vorab begangenes Delikt erlangt, soll es sich nunmehr auch auf den Beweisstoff erstrecken, die ihm anlässlich dieser Straftat zugehen259. Das Gericht hat dafür breite Ablehnung erfahren: Wie nemo tenetur bewahre § 393 II AO nur davor, sich wegen einer früheren Tat bezichtigen zu müssen. Unverwertbar seien daher allein postdeliktisch enthüllte Informationen260.

256

Das Allgemeindelikt ist insofern also nicht selbst die Grundlage für die Rechte aus § 393 I AO (vgl. BVerfG NJW 2005, 352, 252; Krieg 2001, 11 m.w.N.). 257 Soeben Fn 251. Daran ändert nach h.M. das mitbegangene Allgemeindelikt nichts. Es wird – je nach Autor – über den materiellen oder prozessualen Tatbegriff der Steuerstraftat zugeschlagen, sodass das gesamte preisgegebene Material nach § 30 IV Nr. 1 AO ins Steuerstrafverfahren überführt werden darf (vgl. etwa Hellmann 1995, 29; Besson 1997, 34; Joecks, wistra 1998, 86, 88; Ruegenberg 2001, 52 ff.; Krieg 2001, 46 f.). 258 Vgl. Kohlmann, § 385/58, § 393/79.1; Müller, DStR 1986, 699, 700; Besson 1997, 161 f.; Krieg 2001, 106 ff.; Ruegenberg 2001, 216. Vorausgesetzt ist hierfür, die beiden gemeinsam begangenen Delikte zu isolieren. Das Verwertungsverbot lehnen folglich jene Autoren ab, die mittels prozessualer oder materieller Tatbegriffe das Gesamtgeschehen in toto als Steuerstraftat begreifen und deshalb § 393 II AO nicht anwenden (vgl. H/H/Sp/Hellmann, § 393 AO/162 ff. m.w.N.). 259 Es geht hierbei vornehmlich um gefälschte Unterlagen (§ 267 StGB), mit deren Hilfe eine Steuerhinterziehung begangen wird. Nach Ansicht des BayObLG (NJW 1997, 600; wistra 1998, 117) gleiche dies der originären Situation des § 393 II AO (in der wegen einer steuerlichen Pflicht eine früher begangene Allgemeinstraftat kundgetan werden muss), weil der fraglichen Steuererklärung die „passenden“ Belege aus steuerrechtlichen Gründen beigefügt werden mussten (ebenso Kohlmann, § 393/79.5; Müller, DStR 1986, 699, 702). 260 Der nemo-tenetur-Satz gewährleiste nicht, ungestraft Delikte begehen zu können, sondern schütze davor, an deren retrospektiver Aufdeckung mitzuwirken. Dergleichen verlangt die steuerliche Pflicht zur Dokumentenvorlage nicht. Man kann ihr – unter Verzicht auf den gleichzeitigen Hinterziehungsakt – unverfänglich nachkommen (in diese Richtung z.B. BGH wistra 1999, 341; wistra 2003, 429; Maier, wistra 1997, 53 f.; Joecks, wistra 1998, 86, 89 f.; ders. 2003, 453; H/H/Sp/Hellmann, § 393 AO/166; Rogall 2003, 492, 495; vgl. auch BVerfG NJW 2005, 352; BGHSt 49, 136, 145).

80

Teil 1: Bestandsaufnahme

V. Strukturerweiterungen 1. Drohende nichtstrafrechtliche Sanktion In den bisher skizzierten Konstellationen wurden die Gewährleistungen des nemo-tenetur-Satzes durch eine (potenziell) absehbare Strafverfolgung der jeweils berechtigten Person ausgelöst. Diese Voraussetzung vertypt eine Nachteilsaussicht von erheblichem Gewicht. Meist dehnt man die Selbstbelastungsfreiheit allerdings aus und schließt die Herstellung einer sonstigen staatlichen Nachteilszufügung in den Kreis ihrer Schutzwirkungen ein. Vornehmlich bei der Auslegung von § 55 StPO ist man bestrebt, das Aussageverweigerungsrecht immer dann anzubieten, wenn dem Zeugen eine negative Folge droht, die sich mit der Kriminalstrafe messen kann261. In einer vergleichbar schutzwürdigen Konfliktlage befinde er sich, wenn durch die Aussage die Gefahr einer strafrechtlichen Maßregel262, jugendstrafrechtlichen Folge263 oder ordnungswidrigkeitsrechtlichen Sanktion ansteigen würde264. Nach h.M. gilt dies ebenfalls bei anstehenden Präsidenten-, Abgeordneten-, Minister- und Richteranklagen265. Ungeklärt ist die Lage bei disziplinarrechtlicher Verfolgung266 und ähnlichen

261

Repräsentativ hierfür Rogall 1977, 164 ff.; und Baumann 1985.

262

Vgl. BGHSt 9, 34; Meyer-Goßner, § 55/6. I.Ü. ist es wegen der identischen Zwangslage gleichgültig, ob es sich um drohende in- oder ausländische Strafverfolgungsakte handelt, vgl. SKStPO/Rogall, Vor § 133/147; Odenthal, NStZ 1985, 117 f.; LG Freiburg NJW 1986, 3036. 263

Vgl. dazu nur Kraft 2002, 167 f.

264

Vgl. § 55 StPO und §§ 46 OwiG i.V.m. §§ 136, 55 StPO. Dafür, dass der nemo-tenetur-Satz auch im Ordnungswidrigkeitenrecht gilt (so z.B. BVerfG BB 1975, 1315), sprächen nicht nur die dortigen Sanktionsintensitäten (vgl. Rogall 1977, 165), sondern auch die ungeklärte Differenz von straf- und ordnungswidrigkeitsrechtlichem Güterschutz, deretwegen die Art der Sanktionsbewehrung des Bezugsdelikts historisch oft zufällig erscheint (vgl. Dingeldey, JA 1980, 529, 531; Schäfer 1982, 48 f.; Buchholz 1990, 94 f.; Schneider, NStZ 1993, 16, 23; AE ZVR 1996, 70; Wolff 1997, 66; Mäder 1997, 112 ff.; Weigend 1989a, 768; Schlüter 2000, 157; Kraft 2002, 170; a.A. aber Stürner, NJW 1981, 1757, 1759; Schöch DAR 1996, 44, 49). 265 BGHSt 17, 128, 136; Meyer-Goßner, § 55/4; KK/Senge, § 55/6. Wer, wie z.B. Buchholz (1990, 96 ff.), auch im Abschlussbericht eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses eine strafähnliche Sanktion erblickt, muss § 55 StPO konsequenterweise auch dann gewähren, wenn sich der Zeuge hinsichtlich der Enquete zu belasten droht. 266

Dafür OLG Köln NJW 1988, 2485, 2487; Rogall 1977, 165; Baumann 1985; Koch, ZParl 1996, 405, 406 ff.; Wolff 1997, 67 f.; Kraft 2002, 171; enger EGMR NJW 2003, 3041, 3043; OLG Hamburg MDR 1984, 335; Meyer-Goßner, § 55/5; ablehnend Kramer, ZRP 2001, 386, 387. Innerhalb eines Disziplinarverfahrens nach § 106 StVollzG hält BGH NStZ 1997, 614 eine Schweigerechtsbelehrung und offenbar auch das eigentliche Schweigerecht nur dann für unabdingbar, wenn der Disziplinarvorwurf zugleich mit Strafe bedroht ist (dafür, dass allein die anstehende disziplinarrechtliche Sanktion eine Mitwirkungsverweigerungsmöglichkeit begründet, Müller-Dietz, NStZ 1997, 615 f.; Gericke, StV 2003, 305, 306). Damit würde das Disziplinarverfahren den oben IV.2.a) behandelten öffentlich-rechtlichen Verfahren gleichgestellt.

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

81

Aussagerisiken267. Drohen Bloßstellung und Reputationsverluste, wirtschaftliche oder sonstige private Einbußen sei dies – wegen der nicht-staatlichen Natur dieser Nachteile – für nemo tenetur hingegen bedeutungslos268.

2. Angehörigenschutz durch nemo tenetur? In sämtlichen bislang dargestellten Problemschichten handelt der nemotenetur-Satz von einer höchstpersönlichen Selbstschutzbefugnis, die genau derjenige ausüben kann, dem ein inkriminierter Sachverhalt angelastet wird (werden könnte). Manche Autoren integrieren nun aber in jenes „Selbst“, auf dessen Sanktionsbedrohung die fraglichen Rechte gründen, auch dritte Personen. Der nemo-tenetur-Satz sei im Hinblick auf Art 6 I GG zu interpretieren und enthalte daher die Freiheit, die eigenen Anverwandten ebenso wenig wie sich selbst belasten zu müssen. Die inneren Konflikte, die bei einer pflichtschuldigen Selbstoder Angehörigenbezichtigung auftreten, glichen sich ohnehin269. Dem kann die ganz überwiegende Ansicht nicht folgen. Sie schichtet die Verwandten- von der Eigenliebe ab und belässt es bei einer ichbezogenen Konzeption. Fragen der Drittbelastung zählen hiernach nicht zum nemo-tenetur-Institut270. Obwohl also die Selbstüberführungsfreiheit vor der seelischen Not des angehörigen Zeugen gleichsam die Augen verschließt, könnten ihr dessen Rechte (§§ 52, 55 I 2. Var. StPO) aber doch über die Interessen des jeweiligen Beschuldigten eingegliedert werden. So weist man gelegentlich darauf hin, dass der Angeklagte der kommunikativen Beziehung zu seinem Umfeld ganz beson267

Beim Auskunftsverweigerungsrecht in § 22 II PUAG hat der Gesetzgeber indes alle drohenden gesetzlichen Sanktionsverfahren gleichgestellt, vgl. Wiefelspütz 2003, 251. 268 Vgl. EGMR NJW 2003, 3041, 3043; Rogall 1977, 165; Meyer-Goßner, § 55/5; LR/Rieß, Einl. I/99; Ransiek 1996, 359; Wiefelspütz 2003, 251; Kroß 2004, 197. Dem Zeugen können Antworten, die ihm zur Unehre gereichen, allein nach § 68a StPO erlassen werden (vgl. BGHSt 21, 334, 360). Dagegen sieht Taupitz 1989, 30 f. den Gedanken, der nemo tenetur zugrunde liegt, auch bei einem Zwang zur Auskunft gegen die eigenen zivilrechtlichen Interessen betroffen (deutlich differenzierend aber Stürner 1976, 58 f.). I.Ü. weichen auch BVerfGE 96, 171, 181; BVerwG ZBR 1997, 229 die h.M. unversehens auf, wenn ihnen zufolge das Verschweigen einer Mitarbeit im MfS oder im SED-Parteiapparat von nemo tenetur erfasst sein könne, weil es zu einem Ansehensschaden und der Nichtbeschäftigung im Öffentlichen Dienst führen kann (oben Fn 230). 269 Daher beruhten die §§ 52, 55 I 2. Var. StPO auch auf der Selbstbelastungsfreiheit, vgl. SKStPO/Rogall, Vor 48/141, § 52/8; ders. 1977, 64, 151 f.; Heckel 1981, 229 f.; Teske, wistra 1988, 207, 212, 215; Prittwitz, StV 1995, 270, 274 Fn 75; Duttge, JZ 1996, 556, 562; ebenso wohl Amelung 1990, 35 und AE ZVR 1996, 64, 69 f.; unklar auch BVerfG NStZ-RR 2004, 18,19: Zwang zur Angehörigenbezichtigung wäre mit dem Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten „ebenso unvereinbar“ wie Selbstbelastungszwang. 270 Vgl. z.B. Stürner 1976, 191 f.; Dingeldey, JA 1984, 407, 410; Kühl, JuS 1986, 115, 117; Müssig, GA 1999, 119, 129; Rzepka 2000, 390 Fn 223; Verrel 2001, 274 f.; Jansen 2004, 136 f.

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Teil 1: Bestandsaufnahme

ders bedürftig sei. Durch eine Zeugnispflicht dieser Angehörigen würde der Staat in jenen Sozialbereich eindringen, die Mitteilungsbedürfnisse des Beschuldigten ausnutzen und dessen Schweigerecht aushöhlen. Die §§ 52, 55 I 2. Var. StPO wollten dies verhindern271. Allerdings, so hält die h.M. dieser indirekten Schutzkonstruktion entgegen, spreche sich der Beschuldigte bei seinen Angehörigen freiwillig aus, ohne dazu von staatlicher Seite angehalten zu werden272. Da die Rechtsmacht, das weitere Schicksal des einmal frei Offenbarten beeinflussen zu können, vom nemo-tenetur-Satz nicht gewährt werde, sei das Zeugnisverweigerungsrecht auf diesem Wege nicht zu erklären273.

3. Adressaten des nemo-tenetur-Satzes Die auf nemo tenetur fußenden Schranken der Straftatverfolgung sind, davon ging die bisherige Darstellung unausgesprochen aus, durch eben jene Organe der Strafrechtspflege zu achten, in deren Hand die jeweilige Beweisgewinnung und -verwertung liegt: Gericht, Staatsanwaltschaft, Polizei274. Die anderen Instanzen, die am Prozess schuldspruchrelevanter Ermittlungen teilnehmen, müssen die Selbstbelastungsfreiheit indes genauso respektieren. Wenn Sachverständige, Gerichtshilfe (§ 160 III StPO) und Jugendgerichtshilfe (§ 38 II JGG) beim Beschuldigten diverse Informationen erheben, kann er ihnen gegenüber schweigen und jede aktive Mitwirkung verweigern275. Auch die Beweismethodenverbote des § 136a StPO gelten hier gleichermaßen276.

271

Vgl. Petry 1971, 45 ff.; ähnlich Grünwald 1993, 22. Auch bei § 53 StPO geht es für Schünemann um den Beschuldigten und um „die Respektierung von dessen Aussagefreiheit, die nicht durch Ausbeutung der sozial notwendigen Geheimnispreisgabe gegenüber Ärzten, usw. umgangen werden soll“ (ZStW 90, 1978, 11, 62; ebenso für § 97 StPO z.B. SK-StPO/Rudolphi, § 97/2 m.w.N.; vgl. auch oben Fn 123). 272 Der Sonderfall, dass der Angehörige als V-Mann oder in sonstiger Weise dem Lager des Staates angehört und die Beschuldigtenenthüllung im hoheitlichen Auftrag entgegennimmt (vielleicht sogar anstößt), gehört zu den oben (III.2.b)) behandelten Fällen. Hier geht es um den unfreiwillig abgeschöpften verwandten Zeugen. 273 So im hiesigen Kontext Rengier 1979, 12; Schmitt 1993, 53; Spelthahn 1997, 50 f.; Wieland 1997, 69 f.; ähnlich Verrel 2001, 273 f.; Jansen 2004, 151. Mit der Gegenauffassung ist es i.Ü. unvereinbar, dass allein der Zeuge und nicht der Angeklagte über die Wahrnehmung von §§ 52, 55 I 2. Var. StPO disponieren kann. 274

Vgl. auch die oben IV.2. angesprochenen Auskunftsverweigerungsrechte oder Geheimhaltungspflichten, mit denen es die außerstrafprozessualen Behörden und Gerichte zu tun haben. 275 Für die Mitwirkungsfreiheit ist das in §§ 81 f. StPO punktuell angedeutet, ansonsten gilt es auch ohne einfachrechtliche Positivierung (vgl. etwa BGH JZ 1969, 437; Arzt, JZ 1969, 438; Bottke, ZfJ 1980, 12, 17; ders., MSchrKrim 1981, 62, 71; Dippel 1986, 144, 148; Schipholt, NStZ 1993, 470, 471; Eisenberg/Kopatsch, NStZ 1997, 297, 298; a.A. KMR/Lesch, § 136/34). Die den Strafverfolgungsorganen auferlegten Grenzen müssen nämlich auch für nachgeordnete Unterstüt-

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

83

Lediglich zu den Regeln der Schweigerechtsbelehrung herrscht Streit, namentlich anhand der Sachverständigenbefragung. Häufig stellt man eine dort bestehende Hinweispflicht gänzlich in Frage, denn sie sei dem Sachverständigen, dem ohnehin keine Vernehmungsbefugnis zukomme (vgl. § 80 StPO), gesetzlich nicht aufgegeben277. Andere dringen auf eine analoge Anwendung der §§ 136 I 2, 163a IV StPO. Der Sachverständige übe, obschon formal kein Untersuchungsorgan, faktisch Ermittlungsfunktionen aus. Die ihm gegenüber bestehenden Einlassungs- und Mitwirkungsfreiheiten könne der Beschuldigte nur wahrnehmen, wenn er von ihnen wisse278. Freilich soll die deshalb unabdingbare Belehrung, so die meisten Autoren, durch das beauftragende Ermittlungsorgan vorzunehmen sein279. Unbesehen dieser Details wird jede Auseinandersetzung mit der Staatsmacht durch die Selbstbelastungsfreiheit beherrscht (vgl. auch oben IV.2.). Hoheitlich dürfe keine unfreiwillige Informationspreisgabe veranlasst werden – gleichgültig, ob die Mitteilung amtlichen oder privaten Empfängern zugeht280. Die wesentliche Grenzmarke liegt dort, wo der Bereich öffentlichen Handelns endet. Von privater Seite auf verfängliche Selbstentäußerungen hinzuwirken, wird von nemo tenetur nämlich in keiner Weise untersagt281.

zungsinstanzen gelten, ließe sich das Verbot des Selbstbelastungszwangs sonst doch durch deren Einschaltung umgehen. 276

Vgl. BGHSt 11, 211; KK/Boujong, § 136a/5 (a.A. SK-StPO/Rogall, § 136a/8: Solches Sachverständigenhandeln wird den Strafverfolgungsorganen zugerechnet.). 277 Vgl. für den Sachverständigen BGH JR 1969, 437; NJW 1998, 837, 838; KK/Boujong, § 136/3; Meyer-Goßner, § 136/2 (anders für die Gerichtshilfe, § 160/25). 278

Gerade in der Konfrontation mit Gutachtern, die oft ausgesprochen zivil wirken, könne dieses Wissen nicht vorausgesetzt werden (LG Oldenburg StV 1996, 646, 647; Arzt, JZ 1969, 438; Quentmeier, JA 1996, 215, 217; Eisenberg/Kopatsch, NStZ 1997, 297, 298; Roxin 1998, § 25/11; Schmidt-Recla, NJW 1998, 800, 801; Streng 2002, Rn 767; wohl auch BGHSt 35, 32, 35; Kühne 2003, Rn 868; ebenso für Gerichtshilfe Bottke, ZfJ 1980, 12, 17 ff.; ders., MSchrKrim 1981, 62, 71; Schipholt, NStZ 1993, 470, 472). 279

So LR/Hanack, § 136/3; Alsberg/Nüse/Meyer 1983, 490; SK-StPO/Rogall, § 136/17; ders. 1977, 194 f.; Dippel 1986, 149; Geyer 1998, 86 f.; Bosch 1998, 311 ff., da beim Sachverständigen keine Verantwortung für ordnungsgemäße Befragungen liege und weil eine Distanz schaffende Belehrungspflicht seinem Gutachtensauftrag widerspreche (für die Belehrung nach § 52 StPO ebenso BGH StV 1995, 564; 1997, 232). 280 Vgl. Samson, wistra 1988, 130, 132 und die h.M. zu privatrechtlichen Auskunftsansprüchen (oben IV.2.a)); offenbar a.A. und einen staatlichen Empfänger verlangend aber Reiß 1987, 246; Geppert, BA 1991, 31, 36. 281 Erfolgt die Selbstbelastung, um dem Druck eines Gerüchts oder anderen sozialen Zwängen nachzugeben, ist das von nemo tenetur nicht erfasst (vgl. Rogall 1977, 153 f.; ders., NStZ 1989, 288; Geppert, DAR 1981, 301, 305; Krey 1994, 52; Bockemühl 1996, 80; Wölfl 1997, 47, 49; Roxin 1998, § 25/13; Miebach, NStZ 2000, 234, 235; Bosch 1998, 213). Dagegen ist das Handeln von V-Leuten schon staatliches Handeln (vgl. oben III.2.a)).

84

Teil 1: Bestandsaufnahme Diese Festlegung verliert indes dadurch an Rigidität, dass der Staat gewissen Grenzen bei der Verwertung privat gewonnenen Beweisstoffs unterliegt. Nach der h.M. ist dies allerdings nur ausnahmsweise der Fall. Von einer strafprozessualen Verwertungsschranke will sie nur dann sprechen, wenn das fragliche Privatmaterial auf einen extrem menschenrechtswidrigen Akt zurückgeht282. Im Schrifttum verweist man indes auf den Anspruch des Beschuldigten, vor Übergriffen anderer Bürger geschützt zu werden. Der Staat, der derartige Rechtsverletzungen schon nicht verhindern könne, handle wider das Rechtsstaatsprinzip, wolle er sich solche Interventionen auch noch zunutze machen. Er dürfe daher das rechtswidrig erlangte Beweismaterial im Strafprozess nicht gebrauchen (sofern es nicht für überwiegende Belange der Strafrechtspflege unentbehrlich sei)283. Dieses Beweisverwertungsverbot bestehe etwa, wenn private Ermittler die Selbstbelastungsfreiheit massiv missachten284, vor allem wenn sie sich der in § 136a StPO beschriebenen Mittel bedienen285. Indem dies, unterstrichen durch die Strafdrohung in §§ 223, 240 StGB, den Anreiz reduziert, auf eigene Faust ein Geständnis zu erpressen, wirkt nemo tenetur also faktisch auch in den Privatbereich hinein.

VI. Insonderheit: Straftatbestandliche Selbstbelastung? In der nemo-tenetur-Debatte bildet der materiell-strafrechtliche Problemausschnitt286 ein relativ selbstständiges Segment, das der 4. Teil dieser Arbeit eingehend erörtern wird. Hier muss er deshalb nur an exemplarischen Problemlagen und nur so weit zur Sprache kommen, wie dies zur Rekonstruktion der derzeitigen Grundvorstellungen über die Selbstbelastungsfreiheit beiträgt. Es bedürfen vorerst also lediglich besonders „indizkräftige“ Aspekte der Erwähnung,

282 Vgl. Alsberg/Nüse/Meyer 1983, 484; Roxin a.a.O.; Meyer-Goßner, § 136a/3 m.w.N.; Krey 1994, 99 f.; Bottke 2000, Rn 131, 479; im Grundsatz zustimmend Amelung 1990, 62 ff.; beispielhafte Abwägungen bei Otto 1985, 326 ff.; OLG Celle NJW 1985, 640, 641. 283 So SK-StPO/Rogall, § 136a/14 f.; ders. ZStW 91 (1979), 1, 42; vgl. auch Joerden, Jura 1990, 633, 642 ff.; Hassemer/Matussek 1996, 77 ff.; Bockemühl 1996, 123 ff.; Eisenberg 2002, Rn 399; in der Sache ähnlich BVerfGE 34, 238; BayObLG NJW 1997, 3454; Otto 1985, 332 ff.; vgl. auch Götting 2001, 277; Jäger 2003, 124 ff. mit einem Überblick zum gesamten Streitstand. 284

Vgl. Rogall, ZStW 91 (1979), 1, 42; ders. NStZ 1989, 288; Eisenberg 2002, Rn 400.

285

Vgl. Rogall 1977, 210 f.; Jahn, JuS 2000, 441, 444 f.; differenzierend SK-StPO/Rogall, § 136a/15. Strukturgleiche Fragen stellen sich bei der Verwendung von Beweismaterial, das die Behörden anderer Staaten gewonnen haben, ohne dass dort der nemo-tenetur-Satz im hiesigen Ausmaß gewährleistet wäre, oder bei Beweismaterial, das von den ausländischen Behörden rechtswidrig gewonnen wurde. Hier ist vieles offen (vgl. Kühne 2003, Rn 47). Der BGH scheint dahin zu tendieren, dass nur solches Material genutzt werden dürfe, bei dessen Entstehung der Betroffene keinem objektiven Geständniszwang ausgesetzt war; eine fehlende Belehrung hingegen schade nicht (BGHSt 38, 263; NJW 1994, 3364; StV 2001, 663; auch hier für ein Verwertungsverbot aber Böse, ZStW 114, 2002, 148, 171 f.). 286

Dazu bereits oben II.4.b) bei der Strafzumessung und der Beweislastumkehr.

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

85

namentlich die wichtigsten strafgesetzlichen Verbote und Privilegierungen nemo-tenetur-relevanten Verhaltens.

1. Selbstanzeigepflichten Eine verbindliche Strafanzeigepflicht steht nur bei einer gesetzlichen Anordnung zu Gebote287. Eine solche Vorschrift, durch die sich der Anzeigeerstatter selbst kompromittieren müsste, kollidierte mit der Selbstbelastungsfreiheit in einer besonders schwerwiegenden Weise, weil sich der Betroffene sogar aus eigener Initiative zu beschuldigen hätte. Solche Fälle sind allerdings selten. Im Strafrecht treten sie nur vereinzelt und – wie etwa bei § 261 StGB288 – eher „aus Versehen“ auf. Meist ist man gerade um deren Vermeidung bemüht. So wird zwar nach § 138 StGB derjenige bestraft, der es unterlässt, bestimmte Straftaten im Versuchs- oder anderweitig vollendungsvorgelagerten Stadium anzuzeigen, doch sind darin keine eigenen Delikte einbegriffen. Nach h.M. muss das mitzuteilende Geschehen für den „Aufdeckungsgaranten“ ein vollkommen fremdes sein. Tatplanbeteiligte, insbesondere Täter, Anstifter und Gehilfen der Katalogtat, zählen nicht zu den Offenbarungspflichtigen289. Mit der Selbstbezichtigungsfreiheit erklärt man dies indes nur selten290, eher mit anderweitigen „kriminalpolitischen Gründen“291. Auch der Strafverfolgungsstab ist (teilweise) nach §§ 152 II, 160, 163 StPO zu Deliktsanzeigen verpflichtet, und zwar – soweit es sich um besonders gewichtige Straf-

287

Etwa Werner 1996, 79; Roxin 1998, § 37/5; vgl. auch Forster 1971, 7 ff.

288

Dazu unten III.3.c) in Kap. 9 und Werner 1996, 107 ff., 231 ff.

289 Dazu m.w.N. Westendorf 1999, 134 ff.; MüKo-StGB/Hohmann, § 138/22. Indes entfällt die Anzeigepflicht nicht deshalb, weil sich ein Unbeteiligter durch die Anzeige in – vorübergehenden – Beteiligungsverdacht bringt (zu dieser Sonderkonstellation BGHSt 36, 167, 169 f.; 39, 164, 167; LK/Hanack, § 138/48; Sch/Sch/Cramer, § 138/20; Ostendorf JZ 1994, 555, 560). 290 So aber z.B. BGH MDR/H 1993, 7; Rzepka 2000, 394 f.; Pohl 2002, 50. Wo von der „Unzumutbarkeit der Selbstanzeige“ (Tröndle/Fischer, § 138/19) die Rede ist, wird ebenfalls mit nemo tenetur operiert, wenn auch nicht in einer teleologischen Reduktion, sondern mittels der unterlassensdogmatischen Zumutbarkeitsprüfung (dazu unten VI.3.). Der Einschlägigkeit der Selbstbelastungsfreiheit hält man indes entgegen, dass in § 138 StGB auch Tatbeteiligte begünstigt sind, die wegen der rudimentären Tatrealisierung noch keine Bestrafung befürchten müssen und sich so auch nicht belasten können (vgl. Joerden, Jura 1990, 633, 635). Zudem liege in vielen Fällen in der Anzeige nach § 138 StGB ein Rücktritt, der dem Vorgang ebenfalls die Verfänglichkeit nimmt (vgl. Binder 2001, 243). Schließlich passe es nicht zu nemo tenetur, dass nach h.M. die Anzeigepflicht selbst dann entfällt, wenn der Tatbeteiligte die Selbstbelastung durch eine anonyme Anzeige vermeiden könnte (vgl. Westendorf 1999, 138). 291 Sch/Sch/Cramer, § 138/20. Gemeint ist die Erwägung, dass eine Pflicht zur selbstbelastenden Anzeige das Abrücken vom bisherigen deliktischen Tun erschwere (vgl. RGSt 60, 254, 256 f.; BGH NJW 1956, 30, 31; zu den verschiedenen Erklärungen auch Gropp 1992, 265 ff.).

86

Teil 1: Bestandsaufnahme taten handelt – selbst bei außerdienstlicher Kenntniserlangung292. Durch §§ 258a, 13 StGB ist das strafbewehrt. Diese Sanktionsbedrohung entfällt jedoch, sobald der Amtsträger ausschließlich eigene Taten mitteilen müsste (§§ 258a, 258 I StGB). Für das Unterlassen einer Drittanzeige geht er nach §§ 258a, 258 V StGB ebenfalls straffrei aus, wenn er damit seine Vortatbeteiligung oder ein sonstiges Delikt verbergen will293. Überhaupt bleibt man gemäß §§ 258 I, V, 13 StGB straffrei, wenn man in Selbstbegünstigungsabsicht eine jener Anzeigepflichten missachtet, die gelegentlich aus allgemein-straftatbestandlichen Regeln294 oder aus der Amtsstellung erwachsen (§ 159 StPO, § 183 GVG, § 41 OwiG, § 6 SubvG, § 116 AO, nach h.M. auch § 2 i.V.m. § 156 StVollzG295).

Nun statuiert allerdings § 142 StGB zur Abwicklung von Verkehrsunfällen eine Reihe von anzeigeähnlichen Pflichten, selbst wenn der Normadressat vor oder anlässlich seiner Unfallbeteiligung eine (Verkehrs-)Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen hatte. Dass dies einen „Zwang zur Selbstanzeige“296 generiert, macht besonders die Selbstgestellungspflicht nach § 142 II StGB deutlich. Hat sich der Unfallbeteiligte zunächst in strafloser Weise vom Unfallort entfernt, muss er sich aus eigenem Antrieb mit dem Berechtigten oder der Polizei in Verbindung setzen (Meldepflicht). Zu vergleichbar selbstbelastenden Beiträgen nötigt § 142 I StGB, wo dem Unfallbeteiligten angesonnen wird, durch Stillhalten einige unfall- und deliktsrelevante Datenerhebungen zu ermöglichen (Warte- und Feststellungsduldungspflicht). Davor hat er zudem am Unglücksort seine Beteiligung ungefragt anzugeben (Vorstellungspflicht297), was ihm ein geringfügiges Aktivwerden abverlangt 298.

292

Vgl. etwa BVerfG NJW 2003, 1030; BGHSt 5, 225; 38, 388.

293

Vgl. nur H. Schneider 1991, 160 ff.; Roxin 1998, § 37/4 jeweils m.w.N.; insofern stellt die Anzeigeunterlassung nur einen Unterfall des allgemeinen Strafvereitelungsprivilegs dar. 294

Die Hilfeleistungspflicht nach § 323c StGB und die Erfolgsabwendungspflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten können sich auf eine Anzeigepflicht verengen (vgl. Pohl 2002, 29 und unten VI.3.). 295 Weitere Fälle bei Pohl 2002, 27 f.; Hellmann 1995, 49. Beruht die Anzeigepflicht nur auf landesrechtlichen Verordnungen (wie mitunter im Umweltrecht), ist aber schon die Garantenpflicht i.S.v. §§ 258, 13 StGB fraglich. Hat der Bundesgesetzgeber auf eine solche strafrechtliche Haftung bewusst verzichtet, fehlt dem Bundesland die Normierungskompetenz, dies zu korrigieren (vgl. Papier, NJW 1988, 1113, 1115). 296 So SK-StGB/Rudolphi, § 142/48 und Steenbock 2004, 39: Die „Folge der Selbstbelastung (wird) von der herrschenden Meinung als mittelbarer Effekt noch heute akzeptiert“. 297

Gegenüber § 142 I - III StGB zusätzliche Pflichten, die ordnungswidrigkeitsrechtlich abgesichert sind, verlangen vom Unfallbeteiligten überdies, dem anwesenden Feststellungsberechtigten die eigenen Personalien mitzuteilen oder diese bei Nichtanwesenheit solcher Personen zu hinterlassen, vgl. §§ 34 I Nr. 5b, 6b, 49 I Nr. 29 StVO i.V.m. § 24 StVG. 298 So z.B. Magdowski 1979, 69 ff.; Ruck 1985, 66; a.A. MüKo-StGB/Zopfs, § 142/63; ders. 1993, 140 ff., der die Pflichten des § 142 I StGB miteinander vermengt und in toto als Passivpflicht deklariert.

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

87

Die herrschende Meinung rechtfertigt dies mit dem Interesse an der Sicherung zivilrechtlicher Ansprüche299. Die in § 142 I StGB enthaltenen Passivpflichten hat auch das BVerfG als einen marginalen und durch überwiegende Interessen legitimierten Eingriff in die Selbstbezichtigungsfreiheit gebilligt300. Dass dem Unfallbeteiligten überdies verfängliche Aktivbeiträge abverlangt werden (Vorstellungs- und Meldepflicht), überschreitet aber die vom nemotenetur-Satz herkömmlich errichtete Grenze zum Mitwirken-Müssen. Darin sehen einige Autoren eine Grundrechtsbetroffenheit, die durch kollidierende Beweissicherungsinteressen nicht aufgewogen werde301. Wenigstens dürfe man die hierdurch veranlassten Selbstmitteilungen nicht strafrechtlich gegen die fragliche Person verwerten302.

2. Selbstbegünstigungsprivilegien Neben den schon genannten Tatbeständen erleichtert eine ganze Reihe sonstiger strafrechtlicher Regeln die nachtatliche Selbstbegünstigung. An ihnen fallen vor allem einige Täterprivilegien auf. Geht es indes darum, ob sie gerade auch die Selbstbezichtigungsfreiheit ausgestalten, scheidet ein Teil dieser Bestimmungen von vornherein aus. So vermag der nemo-tenetur-Satz, der nach seinen sich bislang abzeichnenden Konturen lediglich von der Sanktionsabwehr handelt, die strafrechtliche Privilegierung, die der materiellen Vorteilssicherung

299

So ausdrücklich OLG Frankfurt/M. NJW 1977, 1833. Oft will die h.M. damit aber anstatt des Selbstbelastungszwangs nur den Bruch mit dem unverbindlichen Gesetzgebungsprinzip straffreier Selbstbegünstigung rationalisieren. Für diese Ausblendung repräsentativ BT-Drucks. 7/2434, S. 6; BGH JZ 1980, 325, 326; Janiszewski 2004, Rn 473 f.; Maurach/Schroeder/Maiwald 2003, § 49/11; Wessels/Hettinger 2005, Rn 1003; kritisch und mit weiteren Belegen Schünemann, DAR 1998, 424, 427 f., Fn 25, 35; Dietrich 1998, 112 ff. 300

Vgl. BVerfGE 16, 191, 194. Das so verkürzte „Recht zur Flucht“ zählt allerdings nach h.M. gar nicht zur Selbstbelastungsfreiheit, deren Schutzbereich durch einen Zwang zu Passivität unberührt bleibe (vgl. Geppert, BA 1991, 31, 36 sowie oben III.1.). 301 Für Verfassungswidrigkeit nach ausführlicher Güterabwägung Ruck 1985, 75 ff.; i.E. ebenso Maunz/Dürig/Herdegen, Art 1 I/82; Rogall 1977, 163 f.; Berthold 1993, 18 ff.; Schünemann, DAR 1998, 424, 429; Dietrich 1998, 136; kritisch auch Arzt/Weber 2000, § 38/53. Zu einem Versuch der dogmatischen Entschärfung des Selbstbelastungszwangs unten III.3.a) in Kap. 12. 302

Ein Verwertungsverbot (dafür Seebode, JA 1980, 493, 497 f.; Lammer 1992, 157; Wolter, NStZ 1993, 1, 9 f.) unterstriche die Parallelen zu den selbstständigen zivilrechtlichen Informationsansprüchen (oben IV.2.a)): Mit § 142 StGB erzwingt der Staat die (potenziell selbstbelastende) Befriedigung eines solchen privaten Informationsrechts durch eine strafrechtliche Sanktionsdrohung, während er sich sonst zivilrechtlicher Zwangsvollstreckungsinstrumente bedient (§§ 888, 889 ZPO). Wenn Reiß (1987, 201 ff.) vor diesem Hintergrund die in BVerfGE 56, 37 entwickelte Verwertungsverbots-Lösung sogar für die passiven Duldungspflichten in § 142 StGB heranziehen will, überzieht das aber die Generalisierbarkeit dieser Entscheidung, die nur von aktiven Selbstbelastungspflichten handelt (vgl. auch H. Schneider 1991, 143).

88

Teil 1: Bestandsaufnahme

zuteil wird (§ 257 I, III StGB), nicht zu erklären. Ebenso wenig kann die strafrechtliche Besserstellung der Selbstbegünstigung im Sanktionsvollzug (§§ 120 I, 258 II StGB) auf den nemo-tenetur-Satz zurückgehen, da sich dessen Wirkung mit der Strafverhängung gleichsam erschöpft (oben II.3.)303. Auch in dem hernach verbleibenden Feld eigennütziger Sanktionserschwerung soll sich die Selbstbelastungsfreiheit nur bedingt niederschlagen. Solche Verteidigungsweisen zu privilegieren, sei durch nemo tenetur nämlich nur angezeigt, soweit sie sich allein gegen die eigene Strafverfolgung wenden304 – also nur das staatliche Verfolgungsinteresse und keine sonstigen Rechtsgüter beeinträchtigen305. Zu diesem Bereich zählt vornehmlich die allgemeine Strafvereitelung. Dennoch führt man ausgerechnet die dort für das eigennützige Vortäterverhalten vorgenommene Straffreistellung (§ 258 I, V StGB) nur teilweise auf den nemo-tenetur-Satz zurück306. Bei den Überlegungen zu strafgesetzlichen und dogmatischen Nachtatprivilegien kommen ohnehin noch andere Maximen zum Zuge. Beispielsweise könne nicht pönalisiert sein, was die prozessualen Aussage- und Mitwirkungsfreiheiten erlauben307. Diese These legt einen mittelbaren Ableitungszusammenhang zwischen nemo tenetur und strafrechtlichen Sonderregeln vor allem dort nahe, wo man ein passives und schweigeähnliches Verfahrensverhalten des Beschuldigten tatbestandslos stellt. Der Versuch, die restriktive Deutung der §§ 164, 145d

303 Dennoch vertritt NK/Ostendorf, § 120/1 eine Verbindung zwischen nemo tenetur und dem Gefangenenprivileg in § 120 StGB. 304 Zu dieser Position neben den Nachweisen unten I.4.b)bb) in Kap. 10 zuletzt wieder Binder 2001, 58 und – beschränkt auf die absichtliche Drittschädigung – Torka 2000, 129 ff. (ebenso i.Ü. EGMR NJW 1992, 3085, 3087 i.Z.m. Art 6 III lit. c EMRK). 305 Bei solchen Rechtsgutsverletzungen will man aber immerhin noch das Motiv, sich der Strafverfolgung entziehen zu wollen, strafmildernd berücksichtigen (vgl. BGH NJW 2000, 154, 156 f.; LK/Ruß, § 258/31; NK/Schild, § 145d/31; MüKo-StGB/Cramer, § 258/7; Stree, JR 1979, 253, 254 f.; Geerds, JR 1981, 35, 37; Bruns 1985, 211; Bergmann 1988, 87; Becker 1992, 76; Deutscher 1995, 177 f.; Müller 2000, 333 f.). 306 So aber von RGSt 63, 233, 236 (ebenso Münch 1961, 11 f.; Hoffmann 1965, 53 ff.; Rosenkaymer 1988, 147 ff.; Keller 1989, 135 f.; Keim 1990, 63; Jahn 1998, 300; Rzepka 2000, 394 f.). Häufiger erklärt man die Straflosigkeit des Vortäters aber mit der „Notstandsähnlichkeit“ und „Unzumutbarkeit“ seiner Lage (etwa Ulsenheimer, GA 1972, 1 f.; H. Schneider 1991, 361 ff.; Gropp 1992, 248; Jerouschek/Schröder, GA 1999, 51, 60; Joerden 2003, 783 f.; zur Debatte auch U. Günther 1998, 71 ff.; Seel 1999, 32 ff.). Freilich vermutet man diese (psychische) Konfliktlage auch hinter dem nemo-tenetur-Satz. Konsequenterweise ist § 258 StGB dann ebenfalls durch die oben (II.3.) beschriebene nemo-tenetur-typische Zeitstruktur charakterisiert: Das eigennützige Vereiteln fremder Strafen wird nicht nach § 258 V StGB privilegiert, wenn man selbst bereits verurteilt ist (BayObLG NStZ 1996, 497, 498) oder wenn die eigene Tat, deren Bestrafung man verhindern will, bei der Vereitelung noch gar nicht begangen worden war (OLG Karlsruhe NStZ 1988, 504). 307

Vgl. einstweilen nur Prittwitz, StV 1995, 270, 272 f.; ausführlich unten III.2. in Kap. 4.

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

89

StGB (aus deren Tatbestand man neben dem Schweigen auch das Leugnen und Lügen herausinterpretiert) mit dem Aussageverweigerungsrecht und so auch mit der Selbstbelastungsfreiheit zu begründen308, stößt gleichwohl auf Ablehnung, weil der nemo-tenetur-Satz in seiner gängigen Version dem Beschuldigten keine Freiheit einräume, staatliche Ermittlungen tätig zu behindern. Selbst bei marginal-aktivem Verteidigungshandeln müsse die strafrechtliche Besserstellung daher anderweitig fundiert werden, also auch bei der (falschverdächtigenden und/oder straftatvortäuschenden) Beschuldigtenlüge309.

3. Straftatbestandliche Selbstbelastungspflichten Was die Handlungsgebote anlangt, die den echten und unechten Unterlassungsdelikten innewohnen sind, lässt sich selbst auf einer passivrechtlichen Basis nicht leugnen, dass sie mitunter zu einer Selbstbezichtigung drängen310. Insofern handelt es sich um straftatbestandliche Selbstüberführungspflichten. Bislang bleibt die Haltung des Strafrechts zu diesen Sachlagen unübersichtlich. Vor allem die Frage, ob das normgemäße Tun durch seine Selbstbelastungswirkung unzumutbar wird (sodass das tatbestandliche echte/unechte Unterlassen doch noch strafbefreit wäre311), steht ungeklärt im Raum. So zeuge die Existenz von § 157 StGB davon, dass eine Strafverfolgung, die bei normgemäßem Handeln droht, dessen Zumutbarkeit nicht notwendig aufhebt312. Trotzdem kann sich der Betreffende nach einer verbreiteten Ansicht gegenüber einem strafgesetzlichen Gebot auf sein nemo-tenetur-Interesse berufen. Allerdings müsse man bei der Zumutbarkeitsprüfung auch die Drittrechtsgüter in Rechnung stellen, die durch das selbstbelastungsmeidende Unterlassen in Mitleidenschaft ge-

308 In diese Richtung äußern sich bspw. LK/Ruß, § 145d/16; NK/Vormbaum, § 164/23; Fahrenhorst, JuS 1987, 707, 708; Arzt/Weber 2000, § 48/17; Keller, StV 2001, 671, 672; Küper 2005, 332 f.; Rengier 2005b, § 50/16. 309 Vgl. LK/Geppert, § 142/64; ders. 2002, 48 f.; Rogall 1977, 158; H. Schneider 1991, 217, 243 ff., 305 ff.; ders., NZV 1992, 471, 473; ders., NStZ 1993, 16, 22; Binder 2001, 102, 140; grundsätzlich ebenso SK-StGB/Rudolphi/Rogall, § 164/14; Bottke, JR 1991, 252, 254 f.; gegen eine Ableitung aus nemo tenetur auch Fezer 1993, 672 ff. 310 Lehrbuchbsp.: Der flüchtende Dieb trifft auf ein Unfallopfer, ohne ihm aus Angst vor den nahenden Verfolgern zu helfen. Bei echten wie bei unechten Unterlassensdelikten – zwischen denen für die hiesige Fragestellung nicht unterschieden werden muss – setzen solche Konstellationen voraus, dass die fallspezifische Handlungspflicht nur auf verfängliche Weise befolgt werden kann. 311 Freilich ist bei den unechten Unterlassungsdelikten die eigenständige Zumutbarkeitsprüfung umstritten. Auch über deren deliktssystematischen Standort ist man sich noch nicht einig geworden (zum Ganzen Stree 1998; Roxin 2003, § 31/211 ff., 229 ff.). 312 So Scheffler, GA 1993, 341, 356; Jahn, StV 1996, 259, 261. § 157 StGB hat allerdings die Pönalisierung von Aktivität zum Gegenstand.

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Teil 1: Bestandsaufnahme

zogen werden. Diese Güterkollision verlange eine Einzelfallabwägung, weshalb die Unterlassensstrafbarkeit von einer situativen Güter- und Gefahrengewichtung abhänge313. Verbal verfolgt auch die Rechtsprechung dieses Konzept, doch in der Sache gehen ihre Zumutbarkeitswertungen dann durchgehend zu Lasten der Selbstbezichtigungsfreiheit aus314. Andere Autoren verschließen sich sogar prinzipiell einer nemo-tenetur-bedingten Unzumutbarkeit, weil der Vortäter, der die Selbstbelastung verhindern will, auf ein ungesetzliches Ziel (Straffreiheit) hinwirke, das eine Drittverletzung nicht legitimieren könne315. Zugleich finden sich aber auch völlig gegenläufige Bemühungen, die in Analogie zu §§ 157, 258 VI StGB sogar ein Begehungsdelikt, das eine Selbstbelastung abwendet, aus Unzumutbarkeitsgründen straffrei stellen wollen316. Für die Steuerhinterziehung wird diese Fragestellung relativ separat abgehandelt: Selbst wenn ordnungsgemäße Steuererklärungen nicht ohne Angaben zu einem allgemeinen Vordelikt möglich sind, dürfe man sie nicht straflos zurückhalten317. Da diese Daten wegen ihrer strafprozessualen Unverwertbarkeit

313

Dieses Modell bei Rogall 1977, 159 ff.; zustimmend Roschmann 1983, 103; Müller 2000, 328; sachlich ebenso Münch 1961, 51; Prittwitz, StV 1995, 270, 274; Hartman-Hilter 1996, 40 ff. und der Tendenz nach schon Welzel, JZ 1958, 494, 496; Geilen, FamRZ 1964, 385, 388. Fallkonkret differenzierende Abwägungen (je nach Güterbedeutung, drohender Strafe, notlagenbegründender oder davon unabhängiger Vortat usw.) befürworten z.B. auch LK/Geppert, § 142/198; NK/Wohlers, § 323c/12; Forster 1971, 99 ff.; Schöne 1974, 100; Frellesen 1980, 176 ff., 201 ff.; Stein, JR 1999, 265, 272 f.; Kahlo 2001, 357 f., 361 ff. 314 Vgl. BGHSt 11, 353; 39, 164, 166; 43, 381, 398; GA 1956, 120; NJW 1964, 731; NStZ 1984, 452; 1985, 24; ebenso Kühl 1997, § 18/141; Roxin 2003, § 31/228 und bei Ingerenz Vogel 1993, 185; Stree 1998, 404 f.; Grünewald, GA 2005, 502, 512; vgl. auch Joerden, Jura 1990, 633, 637; Lackner/Kühl, § 13/5. 315 SK-StGB/Rudolphi, Vor § 13/33; Ulsenheimer GA 1972, 1, 22 ff.; Jakobs 1991, 29/98 Fn 192; H. Schneider 1991, 377; Pawlik, GA 1995, 360, 371 Fn 58; V. Haas 2004, 242; Dettmers 2005, 44 schließen Unzumutbarkeit aus. Der Selbsterhaltungstrieb torpediere die Normeinhaltung zwar psychologisch, doch fehle es an der ebenfalls erforderlichen Realisierung eines positiven Wertes durch das Unterlassen. 316

So für Ausnahmefälle Jahn, StV 1996, 259, 261. In ähnlicher Weise schlägt Torka 2000, 171 ff., 193 ff. einen speziellen Entschuldigungsgrund vor. Beides bricht mit der vorherrschenden Annahme, dass nemo tenetur keine Aktivrechte verbürge. 317

Das ist sonst eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen, die entweder nach § 370 I Nr. 2 AO bestraft werden kann oder nach § 370 I Nr. 1 AO, weil ausdrücklich oder konkludent die Vollständigkeit der Angaben erklärt wird (vgl. Franzen/Gast/Joecks, § 370/129). Der tätig durch falsche steuerliche Angaben begangenen Steuerhinterziehung steht der nemo-tenetur-Satz in seiner passivrechtlichen Version allerdings nicht entgegen (so für die h.M. etwa Böse, wistra 2003, 47, 51). Auf die Selbstbelastungsfreiheit könne sich nur berufen, wer keine oder unvollständige Mitteilungen macht. Weiter aber Joecks a.a.O., § 393/36; Streck/Spatschek, wistra 1998, 334, 341. Auch für LG Frankfurt/M. wistra 2004, 78, 79 ergebe sich aus dem „natürlichen Recht auf Selbstschutz“ gelegentlich eine Lügemöglichkeit im Steuerverfahren.

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

91

unverfänglich seien (§ 393 II AO), könne man vom Steuerpflichtigen ein reguläres Erklärungsverhalten verlangen318. Dagegen besteht bei einer schweren Vortat durchaus eine Selbstbelastungsgefahr, da doch die dahingehenden Mitteilungen ausnahmsweise in ein Strafverfahren einfließen können (§§ 30 IV Nr. 5, 393 II 2 AO). Ob man die Strafbewehrung der steuerlichen Erklärungspflicht mit Blick auf nemo tenetur wenigstens in diesen Konstellationen beschränken müsse – etwa durch eine enge Auslegung von § 370 AO319 oder eine Unzumutbarkeitslösung320 – ist ungeklärt. Als unbedenklich gelten die Fälle, in denen bei einer pflichtgemäßen Steuererklärung eine frühere Steuerstraftat offenbart würde321. Auf dem Weg einer strafbefreienden Selbstanzeige (§ 371 AO) könne der Betroffene seinen Verpflichtungen ohne Selbstbelastungswirkung nachkommen322. Geschützt werden müsse er nur, wenn ihm die Selbstanzeigemöglichkeit gemäß § 371 II, III AO verschlossen bleibt (d.h. bei bereits eingeleitetem Ermittlungsverfahren oder bei fehlender finanzieller Möglichkeit, die Steuerverkürzung nachträglich auszugleichen). Während einige Stimmen auch in dieser Lage an der Erklärungspflicht festhalten, aber die Verwertung der fraglichen Informationen im Steuerstrafverfahren ausschließen wollen323, sei nach anderen Autoren die straftatbestandliche Erklärungspflicht analog § 393 I AO ausgesetzt324. Von der h.M. wird in solchen Situationen ein pflichtwidriges Erklärungsdefizit auf Schuldebene privilegiert325. Dabei will aber vor allem die Rechtsprechung diese Strafbarkeitsausnahme streng auf solche Steuerhinterziehungen begrenzt wissen, die

318

Dazu etwa H/H/Sp/Hellmann § 393 AO/15.

319

So Reiß 1987, 241 f.; vgl. auch Samson, wistra 1988, 130, 132.

320

Dafür Franzen/Gast/Joecks 2001, § 370/163; für Zumutbarkeit indes – jeweils m.w.N. zur korrespondierenden älteren Rspr. – Kohlmann, § 370/85; Brenner, BB 1978, 910; Rengier, BB 1985, 720, 722. 321 Wurden bspw. wiederkehrende deliktische Kapitaleinkünfte verschwiegen, bleibt bei der Erklärung in jedem folgenden Jahr nur die Wahl zwischen verräterischen Angaben zu solchen Einnahmen oder einer neuerlichen Hinterziehung (zu diesem Fallbsp. Samson, wistra 1988, 130, 132; Berthold 1993, 60). 322

Vgl. nur BVerfG wistra 1988, 302; H/H/Sp/Hellmann, § 393 AO/27.

323

So Kohlmann, § 393/54, 56; ders. 1995, 506 f.; H/H/Sp/Hellmann, § 393 AO/30; ders., JZ 2002, 617, 619; vgl. auch Streck, StV 1981, 361, 364; Rüping/Kopp, NStZ 1997, 530, 533. 324 Vgl. Streck/Spatschek, wistra 1998, 334, 342; i.E. ebenso Streck 1983, 243; Grezesch, DStR 1997, 1273, 1275. Eine direkte Anwendung von § 393 I AO – wo von der Erklärungspflicht ohnehin nur die Vollstreckbarkeit ausgesetzt wird – kommt nicht in Betracht, weil sich die Vorschrift nur auf den prozessualen (nicht auf den strafgesetzlichen) Mitwirkungszwang bezieht (vgl. Aselmann, NStZ 2003, 71, 72; Dettmers 2005, 49). 325 Für Unzumutbarkeit BGHSt 47, 8, 12 ff.; NStZ-RR 1999, 218; OLG Hamburg wistra 1996, 239, 241; Aselmann, NStZ 2003, 71, 74 f.; für Entschuldigung gemäß § 35 StGB Franzen/Gast/Joecks 2001, § 393/39.

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Teil 1: Bestandsaufnahme

den bestehenden Steuerschaden vertiefen. Straffrei bleiben hiernach lediglich fehlende oder unvollständige Angaben zur selben Steuer und für den Zeitraum, für den wegen der Ersthinterziehung schon ermittelt wird326. Bezüglich aller anderen Steuertatbestände bestehen die strafbewehrten steuerlichen Pflichten fort (wobei die hierdurch erzwungenen Informationen im anhängigen Strafverfahren freilich keine Verwendung finden dürfen327).

VII. Fazit: Rekonstruktion des vorherrschenden nemo-tenetur-Konzeptes Nachdem der vorstehende Sachstandsbericht auch die strafrechtliche Facette des nemo-tenetur-Satzes angesprochen hat, kann eine erste Zwischenrechnung erstellt werden. Dafür ist an die Überlegung zu erinnern, die der Stoffsammlung zugrunde lag: Sie ging davon aus, dass sich ein bestimmendes und als „herrschend“ autorisiertes Konzept der Selbstbelastungsfreiheit nicht ohne weiteres selbst erklärt, dass seine Aussagen vielmehr aus seinen einzeldogmatischen Ausprägungen erst herausgefiltert werden müssen. Zu diesem Zweck galt es, die verschiedensten Einsatzfelder von nemo tenetur fallbezogen zusammenzutragen. Sie wurden dabei nicht einfach nur als dogmatische Masse angehäuft, sondern nach Problemschichten gegliedert – ohne freilich eine rundum stringente Ordnung erreichen zu können und ohne der Gefahr schon vollends zu begegnen, die gesuchten Grundstrukturen unter der spezialdiskursiven Detailfülle zu verschütten. Der nächste Arbeitsgang muss deshalb in diesem vorsortierten Material nunmehr jenes nemo-tenetur-Modell rekonstruieren, das die h.M. bei der Zuteilung konkreter Rechte (mehr oder weniger bewusst) im Sinn hat328.

326 Vgl. BGHSt 47, 8, 15; NJW 2002, 1134; NJW 2002, 1733; NStZ 2005, 517 (differenzierend aber Joecks 2003, 459 ff.). Nach LG Frankfurt/M. rechtfertige diese Lage sogar die „Straffreiheit der Abgabe einer unrichtigen, aber den Steuervoranmeldungen entsprechenden Steuererklärung“ (wistra 2004, 78, 79). Damit wird die Aktivitäts-/Passivitätsgrenze von nemo tenetur überschritten (zur Problematik jetzt näher Dettmers 2005, 135 ff.). 327

Klarstellend jetzt BGH NJW 2005, 763: Andernfalls läge mittelbarer Selbstbelastungszwang vor (zustimmend Lesch, JR 2005, 302, 304; ebenso Ranft 2005, Rn 359). 328 Soziologisch gesprochen wird dabei ein „Deutungsmuster“ rekonstruiert, d.h eine oft unausgesprochene Regelstruktur, die sich in den Dogmatiken von Rspr. und Schrifttum ausdrückt – die als interpretationsleitender Wissensbestand deren Herausbildung dirigiert und dadurch zugleich immer wieder reproduziert wird (dazu allgemein Lüders/Meuser 1997, 60, 63). Ein solches Untergrundgerüst muss keineswegs reflektiert werden, um wirksam zu sein.

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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1. Gehalt der Selbstbelastungsfreiheit Nemo tenetur entwickelt seine Wirkungen in der Sequenz eines zeitlich gestaffelten Geschehens. Das zum „Deliktszeitpunkt“ (t1) stattfindende Ereignis kann in einem späteren „Sanktionszeitpunkt“ (t3) geahndet werden, während man den Betroffenen im dazwischen liegenden „Inanspruchnahme- bzw. Mitwirkungszeitpunkt“ (t2) zu einer bestimmten Handlungsweise anhält329. Hiergegen wendet sich der nemo-tenetur-Satz, nach dessen spezifisch funktionaler Schutzwirkung es freigestellt ist, Beweismaterial in t2 her- oder bereitzustellen und damit am Sanktioniert-Werden (in t3) teilzunehmen. Er verhindert es, unfreiwillig auf eine besondere Art und Weise agieren zu müssen, nämlich die staatliche Zufügung eines eigenen Nachteils informierend zu fördern. Damit erhält die fragliche Person zwar keine Rechtsmacht, über einen Beweisstoff zu verfügen, nur weil er von ihr selbst stammt oder sie selbst betrifft330; die Selbstbelastungsfreiheit bewahrt die Betroffenen aber vor einer dahingehenden bestrafungsdienlichen Leistung – nämlich davor, ungewollt selbstbezogene Informationen zu produzieren oder deren staatliche Erlangung zu erleichtern331. Gewiss berührt jede informationelle Inanspruchnahme zum Mitwirkungszeitpunkt (z.B. die Pflicht, über sich irgendetwas zu sagen) diverse Rechtspositionen der herangezogenen Person. Ein Selbstbelastungszwang wird dies aber erst dadurch, dass für den Sanktionszeitpunkt eine staatliche Nutzbarmachung dieser informationellen Leistung droht (also erst durch die zusätzliche Zumutung, dass die selbstbezogene Aussage der eigenen Strafverfolgung zugute kommt)332. Da für einen nemo-tenetur-Eingriff diese strafrechtliche Verwertung der betreffenden Information bei ihrer Erlangung objektiv antizipierbar sein muss, ist die Selbstbelastungsfreiheit schon dann gewahrt, wenn der Staat im Mitwirkungs-

329 Die zeitliche Staffelung ist zwingend. Bei einzelnen Fragestellungen wird freilich erwogen, ob nicht die Delikts- und Mitwirkungszeitpunkte zusammenfallen oder in umgekehrter Folge auftreten können (oben Fn 33). Nach h.M. hingegen wirkt nemo tenetur erst nach Abschluss der Tathandlungen (bzw. bei vorverlegter Vollendung nach Deliktsbeendigung; vgl. stellvertretend Torka 2000, 224 ff.). Im Zeitfenster zwischen t1 und t3 ist dagegen der genaue zeitliche Standort von t2 unerheblich. Das staatliche Ansinnen zur Mitwirkung kann sich auch beliebig oft wiederholen. 330

Nemo tenetur ist kein Recht auf vollständige Beherrschung gewisser Informationen (Ranft 2005, Rn 344 f.) oder genauer gesagt: „Ein ‚Beweisthemaverbot‘ steht nicht in Frage.“ (Rogall, StV 1996, 63, 64). Dass nach allgemeiner Ansicht die Tatspuren des Beschuldigten verwertet werden können, bezeugt vielmehr, dass nemo tenetur nicht von der Verfügungsmacht über Informationen selbsterzeugter belastender Art handelt. Auf die Privatheit der Daten kommt es ebenso wenig an, besteht doch auch an offenkundigen Sachverhalten ein Schweigerecht (oben II.1.). 331

So in der Sache (mit verschiedenen Akzentsetzungen) z.B. Keller 1989, 132; Lorenz, JZ 1992, 1000, 1006; Wolff 1997, 47; Verrel 2001, 261. 332 Zu dieser Abstufung besonders klar SK-StPO/Rogall, Vor § 133/132, 136 ff.; ders. 2002, 467; vgl. auch Keller 1989, 131 f.

94

Teil 1: Bestandsaufnahme

zeitpunkt den Ausschluss dieses spezifischen Informationsgebrauchs garantiert. Die konstitutive Beziehung zwischen t2 und t3 wird dann unterbrochen. Entscheidend ist, um es nochmals zu sagen, eine qualifizierte Indienstnahme des Bürgers bei der Herstellung und Sammlung staatlichen Wissens. Bei diesem Wissen muss es sich um Informationen besonderer Art handeln. Diese müssen einen außergewöhnlichen Verwertungshorizont aufweisen, nämlich in einen künftigen Sanktionsvorgang eingehen und sich so gegen die betreffende Person wenden können. In der Struktur des nemo-tenetur-Satzes wirkt folglich die Ebene der Informationsverwertung, die den fraglichen Daten ihren brisanten Charakter gibt, auf die Ebene der Informationserhebung zurück. Dennoch sollte man beides, den Produktions- und den Verwendungskontext, sorgfältig auseinander halten, um die jeweiligen Merkmale genau zuordnen zu können. Merkmale des Verwendungskontextes - Antizipierbarkeit: Dem Betroffenen muss für den Sanktionszeitpunkt staatliche Strafe drohen333. Gefordert ist die Prognostizierbarkeit eines solchen Nachteils in t2 (und nicht sein künftiger Eintritt334). Darauf, ob diese Sanktionsaussicht im Mitwirkungszeitpunkt bereits als lebenspraktische Größe (Aussicht) besteht oder ob sie erst der fraglichen Mitwirkung des nemo-tenetur-Trägers entspringen würde, kommt es nicht an335. Ohnehin sind die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit ihrer Realisierung nur gering. So muss die Sanktionierung von Rechts wegen möglich erscheinen336, und sie darf auch noch nicht erfolgt sein337. Dass sich die Bestrafung darüber hinaus konkret abzeichnet, setzt nemo tenetur aber nicht voraus. Vielmehr genügt bereits die ungewisse Option, bei der sich die Nachteilsgefahren

333 Die Aussicht auf eine nichthoheitliche, private „Strafe“ (z.B. Renommeeverlust) löst – anders als strafähnlich wirkende staatliche Sanktionen – keine nemo-tenetur-Freiheiten aus (dazu und zu der Frage des Strafadressaten oben V.1. und 2.). 334 Die letztendlich doch erfolgende Verwertung ist auch kein zusätzlicher Eingriff in nemo tenetur. Dieser liegt allein in der Informationserhebung. 335 Weil die Sanktionsaussicht vor t2 eine latente Gefahr sein kann (etwa wenn sie erst durch die fragliche Mitwirkung des Rechtsträgers real – mindestens im Sinne einer potenziellen Gefahr – wird), hat z.B. der unerkannt verdächtige Zeuge ein Aussageverweigerungsrecht (oben IV.1.a)). Der EGMR verhält sich in diesem Punkt freilich restriktiver: Es genüge kein hypothetischer, sondern nur ein „konkreter“ Zusammenhang zur möglichen Strafverfahrenseinleitung (Weh ./. Österreich, JR 2005, 423, 425; kritisch Gaede, JR 2005, 426, 427 f.). 336 Steht im Mitwirkungszeitpunkt unzweifelhaft fest, dass keine Bestrafung erfolgen kann (z.B. wegen Verfahrenshindernissen, insbesondere ne bis in idem), fehlt es der fraglichen Mitwirkung am Verwertungshorizont, weil keine Nachteilszufügung antizipierbar ist (vgl. oben II.3.). 337 Dazu BVerfG NStZ 1993, 482. Am nemo-tenetur-Satz müssen sich nur solche NachSanktions-Maßnahmen (z.B. Vollzugsakte) messen lassen, die sich in die grundlegende Zeitstruktur einfügen. Das ist denkbar, wenn sie bereits im Zeitpunkt t2 (also vor der Sanktionsverhängung) abzusehen sind und zu einem Mitwirken drängen, das die Sanktionierung in t3 fördern kann (zur Problematik oben Fn 51).

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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erst so weit verdichtet haben, dass wegen eines Anfangsverdachts ein entsprechendes Verfahren absehbar (nach t2) eingeleitet werden könnte. Für den Verwertungshorizont reicht also eine vage und nicht nur die konkrete Gefahr von Strafe. Ob sie berechtigt wäre, ist sogar vollkommen unerheblich. Sicher geht die Nachteilserwartung im typischen Fall daraus hervor, dass der nemo-tenetur-Träger wegen seines irregulären Vorverhaltens berechtigterweise belangt werden könnte. Notwendig ist das aber nicht. Die Anwendbarkeit des nemo-tenetur-Satzes scheitert also nicht schon daran, dass die drohende Sanktion unbegründet wäre (weil der zugrunde liegende Vorfall in t1 keine strafrechtliche Zuschreibung begründen kann oder weil die Tat in Wahrheit von einem Dritten begangen wurde oder objektiv gar nicht stattfand). Es reicht, dass im Mitwirkungszeitpunkt t2 gleichwohl ein Sanktionsrisiko besteht (etwa infolge einer irreführenden Beweislage)338.

Merkmale des Produktionskontextes I - Verwendungsrelevanz: Im Produktionskontext (t2) muss sich nicht nur der Verwendungskontext als solcher abzeichnen, sondern es muss sich ferner vorausschauen lassen, dass die Aktivitäten des Rechtsträgers in die (zukünftige) Sanktionsherstellung einfließen könnten. Das ist der Fall, sobald das fragliche Verhalten im Mitwirkungszeitpunkt verfänglich wäre. Diese Art drohender Beredsamkeit kommt ihm immer dann zu, wenn diverse Informationen aus ihm heraus entstünden und/oder dem Staat zugingen und sodann im Sanktionsvorgang aufgegriffen würden. Mit dieser hypothetischen Verwendbarkeit339 verbinden sich freilich keine qualifizierten inhaltlichen Anforderungen an die mitwirkungsgenerierte/-transportierte Information340. So ist es gleichgültig, welche Aspekte der Sanktionsentscheidung (Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch) von ihr befördert würden. Selbst dass sie nur mit geringer Wahrscheinlichkeit überhaupt eine sanktionsförmige Benützung findet, schadet nicht. Den nemo-tenetur-Satz kennzeichnet die Vagheit der Gefahrenkategorie also auch in diesem Strukturelement. Welchen inhaltlichen Bezug auf den Verwertungskontext der betreffende Mitwirkungsakt aufweisen muss, um als Schutzgegenstand in Betracht zu kommen, hängt auch von der Ausgangssituation ab. Jedenfalls variiert die Genauigkeit, mit der sich dies umschreiben lässt: Steht in t2 eine Sanktionsaussicht schon im Raum (Verdachts-

338 Die h.M. will auch denjenigen durch nemo tenetur schützen, der nach den aktuell jeweils konsentierten Gebrauchsweisen strafrechtlicher Normsätze objektiv als unschuldig gilt (oben II.1.). Für das Bestehen der Selbstbelastungsfreiheit ist ein reales Deliktsereignis dadurch verzichtbar. Die fragliche Straftat hat dann für die nemo-tenetur-Struktur als fiktives Ereignis lediglich eine Restrelevanz, als ihr angenommener Zeitpunkt die Ablauffolge t1 – t2 – t3 wahren muss (zur Unverzichtbarkeit dieser Sequenz soeben in und bei Fn 329). 339 Der hypothetische Charakter der Verwertungsrelevanz ist zwingend. Bei der tatsächlichen Informationsnutzung (nach Ruck 1985, 70 ff.: bei einer Strafverfolgungsmaßnahme, die der Mitwirkung objektiv zurechenbar ist) schlug der Schutz der Selbstbelastungsfreiheit zuvor gerade fehl. 340 Zuweilen wird allerdings behauptet, dass bei Mitteilungen von marginaler Sanktionsrelevanz keine Selbstbelastung vorliege (etwa MüKo-StGB/Zopfs, § 142/63; Weigend 1989a, 769).

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Teil 1: Bestandsaufnahme lage), reicht die bloße Eventualität hin, dass die mitwirkungsbedingte Information sanktionserheblich wäre und die Sanktionsgefahr ansteigen ließe. Würde dagegen die Bestrafungsgefahr überhaupt erst durch das fragliche Verhalten des Rechtsträgers ausgelöst, muss dieses thematisch wenigstens so beschaffen sein, dass es im Verein mit anderen Anhaltspunkten einen Anfangsverdacht zu wecken vermag341.

Merkmale des Produktionskontextes II – Informationsherstellung und -preisgabe: Der Kreis potenziell sanktionsdienlicher Informationen ist uferlos. Zum Bereich des nemo-tenetur-Satzes zählen sie aber nur, wenn sie sich auf die jeweils sanktionsbedrohte Person beziehen. Obendrein müssen sie von ihr auf ganz bestimmte Art produziert und/oder preisgegeben werden. Der nemotenetur-Satz erstreckt sich lediglich auf verbales oder non-verbales Verhalten342, das am Entstehen oder Ermitteln sanktionserheblicher Daten beteiligt ist und zugleich den Charakter einer Tätigkeit aufweist. Eine solche tatkräftige Förderung darf der Beschuldigte der Strafverfolgung mit Blick auf nemo tenetur vorenthalten (Recht auf Passivverhalten). Will er den Sanktionsvorgang darüber hinaus aktiv erschweren (weil ihn ein Untätig-Bleiben womöglich belastet), steht ihm die Selbstbezichtigungsfreiheit nicht zur Seite343. Merkmale des Produktionskontextes III – Veranlassungsakte: Kehrseite des Rechtes auf Passivität ist die Möglichkeit, die Staatsmacht abzuwehren, sobald sie eine Aktivität zu veranlassen sucht. Selbstbelastungsfreiheiten hindern also den Staat344, ungewollte sanktionsförderliche Handlungen des Rechtsträgers herbeizuführen. Zu den konkret untersagten Veranlassungsformen zählt dabei 341

Dass das Aussageverweigerungsrecht des Zeugen – je nach vorheriger Verdächtigkeit – erst unter diesen unterschiedlichen Voraussetzungen entsteht (vgl. auch Kraft 2002, 174; Wiefelspütz 2003, 250), gibt für die h.M. gleichsam die Mindestanforderungen an die Verfänglichkeit des geschützten Mitwirkungsverhaltens wieder (vgl. die dafür signifikanten Ausführungen von Wolff 1997, 83 f.; SK-StPO/Rogall, Vor § 133/152). Wenn der Beschuldigte dank seines inhaltlich absoluten Schweigerechts durchaus auch Mitwirkungen verweigern darf, bei denen die Verwertungsrelevanz noch ferner liegt, so ist dies seiner Sonderlage geschuldet: Die Verwendbarkeit wird für jede seiner Äußerungen vermutet, weil sich die Sanktionsaussicht bei ihm schon verdichtet hat. 342 Im Allgemeinen hält man beide Mitwirkungsformen für gleichwertig. Abstriche sind nur bei außerstrafprozessualen Dokumentationspflichten (oben IV.2.c)) zu verzeichnen. 343

„Das Verbot des Selbstbelastungszwangs schützt den Angeklagten nach allgemeiner Ansicht nur davor, aktiv an der Sachverhaltsermittlung mitwirken zu müssen, nicht aber davor, auf sonstige Art auch gegen seinen Willen zum Beweismittel gegen sich selbst (herangezogen) zu werden.“ (Eisenberg 2002, Rn 834). Ohne Bruch mit der Selbstbelastungsfreiheit darf dem Beschuldigten danach die Duldung von Ermittlungsmaßnahmen ebenso auferlegt werden, wie man ihm den hiergegen gerichteten Widerstand oder die anderweitige aktive Obstruktion der eigenen Strafverfolgung verbieten kann (vgl. dazu oben II.2.; II.4.b)bb); III.1.; VI.2.). Falls sich durch die so erzwungene Untätigkeit die Strafverfolgungsgefahr des Beschuldigten erhöht, sei das sein allgemeines Lebensrisiko (vgl. H. Schneider 1991, 140; ders., NStZ 1993, 16, 22; ders., Jura 1999, 411, 415). 344 Material, das durch Selbstbelastungszwang gewonnen wird, der dem deutschen Staat nicht zurechenbar ist (weil der Druck privat oder durch ausländische Staatsorgane ausgeübt wird), beruht nicht auf einem Eingriff in nemo tenetur (vgl. aber auch oben Fn 285).

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

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zunächst einmal der unmittelbare Zwang, der neben einer körperlichgewaltsamen Variante vornehmlich als Rechtspflicht auftritt – besonders offensichtlich in Gestalt prozess- und strafrechtlicher Gebote. Wegen des gleichermaßen willensbeugenden Effektes steht ihm die Anwendung mittelbaren Zwangs345 (mit der Vorteilsvorenthaltung und der Mitwirkungslast als Grenzfällen346) ebenso gleich wie das zwangsadäquat wirkende Täuschen und Irrtumsausnutzen347. Wird der Beschuldigte dagegen durch sonstige Fehlvorstellungen zum verfänglichen Verhalten bewogen, ist das nicht auf nemo-teneturrelevante Weise durch die irrtumserzeugende Behörde bewirkt. Der hier situierten Unfreiwilligkeit fehlt die zwangstypische Art, bei der sich der Rechtsträger unter dem Eindruck einer (realen/vermeintlichen) Übelsaussicht belastet. Merkmale des Produktionskontextes IV - Interaktionsrahmen: Wenn die Staatsgewalt in der besagten Weise auf ein verfängliches Tätigwerden des nemo-tenetur-Trägers hinwirkt, ist das unzulässig, ohne dass weitere Anforderungen an den Interaktionsrahmen bestünden. Die Gefahr eines Informationstransfers sorgt dafür, dass ein selbstbezichtigender Akt seine sanktionsfördernde Wirkung nicht deshalb verliert, weil er außerhalb des Strafverfolgungsbetriebs stattfindet. Hinter der materiellen Inanspruchnahme tritt deshalb die Frage vollständig zurück, ob sich die informationshaltige Mitwirkung überhaupt in einem prozessualen Zusammenhang ereignet348 und in welchem öffentlich- oder privatrechtlichen Verfahren sie zustande kommt349. Solche Kontextfaktoren sind

345 Hierzu SK-StPO/Rogall, Vor § 133/139; Wolff 1997, 130 ff.; H. Schneider 1991, 29. Den typischen Fall des mittelbaren Zwangs bildet die avisierte Benachteiligung für den Fall der Wahrnehmung von Selbstbelastungsfreiheiten. Obschon Verrel (2001, 13 ff., 101 ff.) zutreffend auf die Detailunterschiede zwischen den verschiedenen mittelbaren Einflussnahmen insistiert, eint sie allesamt eine kompulsive Struktur (die sie i.Ü. auch mit den meisten Fällen, die als unmittelbarer Zwang zusammengefasst werden, verbindet). Neben den fraglichen Anforderungen an das jeweils zur Mitwirkung motivierende Übel kommt damit ein weiteres Zeitmoment ins Spiel, nämlich der Zeitpunkt, zu dem das Übel eintreten soll (der nach dem Mitwirkungszeitpunkt liegen muss, möglicherweise auch nach der Sanktionierung liegen kann). 346

Dazu oben II.4.b)cc) (Geständnisbonus) und IV.2.b).

347

Als Erzeugen und/oder Aufrechterhalten eines Zwangsanscheins rechnet man deshalb die belehrungslose Vernehmung zu den „Veranlassungsformen“ (oben II.5.). Dahinter steht keine prozessrechtliche Sonderdogmatik. Vielmehr gilt die Drohung mit einer vorgetäuschten Möglichkeit oder Bereitschaft zur Übelszufügung auch im materiellen Recht als Zwang (Drohung), sofern sie beim Adressaten den Eindruck drohender Übel erzeugt und sich demnach kompulsiv auswirkt (vgl. z.B. BGHSt 16, 386; 23, 294; 26, 309 oder die gesamte Scheinwaffen-Problematik). 348 Das betrifft z.B. auch Selbstbelastungspflichten, die das materielle Strafrecht außerhalb irgendeines Verfahrens konstituiert (vgl. Ruck 1985, 60). Ein Bsp. bietet § 142 StGB. 349 Nemo tenetur ist „eine im Hinblick auf die Gefahr späterer Strafverfolgung gewährte situative Befugnis, die die gesamte Rechtsordnung umfasst“ (Rogall, JR 1993, 380, 381, Herv. i.O.). Die unterschiedliche Strafverfolgungsnähe der informationserhebenden Stelle beeinflusst lediglich die Wahrscheinlichkeit, mit der die Mitwirkung eine sanktionsförmige Verwendung findet.

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Teil 1: Bestandsaufnahme

dennoch keine unbeachtliche Kulisse, denn sie beeinflussen das konkrete einfachgesetzliche Format, mit dem die Selbstbelastungsfreiheit abgesichert wird. Da hierfür neben der Abwehr der staatlichen Einwirkung auch andersartige Schutzversionen (z.B. ein Verwertungsverbot) in Betracht kommen und da das einfache Recht diese Varianten allesamt situationsabhängig realisiert, kann die effektive Gestalt der nemo-tenetur-Gewährleistung mit dem jeweiligen Mitwirkungsschauplatz variieren.

2. Normstruktur der Selbstbelastungsfreiheit Die vorherrschende Version von nemo tenetur ist damit in Modulen beschrieben. Zusammengesetzt bilden sie die Inhalte der Selbstbezichtigungsfreiheit ab, die ein Wenn/Dann-Schema von Voraussetzung und Rechtsfolge ergeben. Die Normstruktur, die dabei zutage tritt, weist nemo tenetur in seiner derzeit dominierenden Lesart als ein spezifisches Abwehrrecht aus: In einer bestimmten Lage (bei einer ihm drohenden Sanktionsverhängung) verfügt der Rechtsträger über die Rechtsmacht, solche staatlichen Handlungsformen abzuwenden, die sich auszeichnen durch – eine bestimmte Modalität (zum Beispiel die Anwendung von physischem oder mittelbarem Zwang) sowie – die mindestens objektive Wirkungsrichtung, ihn auf die aktiv informierende Förderung der Sanktionsverhängung hinzulenken. Nun begreift die überwiegende straf- und strafprozessrechtliche Dogmatik diesen Anspruch nicht nur nominell, sondern auch materiell als Grundrecht350. Obschon diese Haltung bei den Sachfragen äußerlich kaum zum Ausdruck gelangt351, schon gar nicht durch ein reguläres Abschreiten einer Grundrechtsprüfung, wird sie doch durch eine bezeichnende Argumentationsstruktur belegt. Am besten kann man dies erkennen, wenn man die jeweils diskutierten nemotenetur-Aspekte gewissermaßen abstrahiert, d.h. aus ihrer Einkleidung in strafund strafprozessrechtliche Kategorien löst und in grundrechtsdogmatischen Begriffen reformuliert352:

350

Zur Diskussion vorerst oben Fn 2.

351

Meist erörtert die straf- und strafprozessuale Dogmatik nur die Folgen des Abwehrrechts, nämlich die staatsgerichtete Verbote (bspw. das Verbot des Geständnis- und Mitwirkungszwangs), die von der Rechtsordnung in Umsetzung des Abwehrrechts eingerichtet wurden. Dementsprechend ist es eine wiederkehrende Fragestellung im materiellen Strafrecht, ob diverse Privilegierungen auf nemo tenetur zurückführbar sind (vgl. stellvertretend H. Schneider 1991, 358 ff.). 352 Zu den folgenden Begriffen etwa Morlok 1993, 400; Alexy 1994, 249 ff.; Borowski 1998, 185 ff.; vgl. auch Lübbe-Wolff 1988, 25 ff.; Heß 2000, 100 ff.; Stemmler 2005, 25.

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

99

Hiernach bestehen das Schutzgut von nemo tenetur und der Schutzbereich im engeren prüftechnischen Sinne darin, selbst über die aktive Produktion oder Zugänglichmachung solchen Beweismaterials zu befinden, das der eigenen Sanktionierung potenziell zugute kommt. Der Schutzbereich von nemo tenetur im weiteren Sinne, aus dem sich die Eingriffseigenschaften bzw. die genaue grundrechtliche Schutzrichtung ergeben, wendet sich gegen die zwangswirkungsgetragene Aufhebung jener Entscheidungsfreiheit. Viele der oben wiedergegebenen Streitfragen, die beispielsweise um die Einbeziehung der passiven Selbstbezichtigung und den Schutz vor täuschungsbedingter Selbstbelastung kreisen, bewegen sich auf dieser Ebene, auf der man die Schutzbereichskonturen und Eingriffsfälle bestimmt. In der Sache erörtern sie also die Brutto- bzw. prima facie-Fassung von nemo tenetur. Von solchen Maßnahmen, die hiernach als Selbstbezichtigungseingriff identifiziert werden können, muss der Staat ablassen, oder er muss sie wenigstens rechtfertigen. Dabei folgt die gängige nemo-tenetur-Dogmatik auch auf dieser nächsten Stufe der grundrechtstypischen Logik: Überall, wo sie eine zwangsartige staatliche Veranlassung zur Selbstbelastung feststellt, untersucht sie, ob diese in problemsensiblen Abwägungen mit kollidierenden Gütern zu legitimieren ist353. Derjenige Freiheitsbestand, der nach diesem Prüfungsschritt de lege lata fortbesteht (der also effektiv „übrig bleibt“, weil er gar nicht oder unge-

353 Dass der nemo-tenetur-Satz per Güterabwägung prinzipiell beschränkt werden kann, vermerken bspw. Stürner 1976, 188; Paeffgen 1986, 73; Nothhelfer 1989, 85 ff.; Ransiek 1990, 53 f.; Lorenz, JZ 1992, 1000, 1005 f.; Bosch 1998, 60 ff.; Röckl 2002, 117 ff.; Möller, JR 2005, 314, 317. Bisweilen (vgl. SK-StPO/Wohlers, § 163a/44; Eschelbach, StV 2000, 390, 396) wird der Schutz vor erzwungener Selbstbelastung als abwägungsfester Kernbereich abgeschichtet vom Schutz vor erlisteter Selbstbezichtigung, der wegen kollidierender Güter verkürzt werden könne. Nach der Einschätzung von Paeffgen (SK-StPO, Vor § 112/31) halte die h.M. die Selbstbelastungsfreiheit dagegen für abwägungsresistent (in der Tat in diese Richtung Grünwald, StV 1987, 453, 457; Hassemer 1988, 203; AE ZVR 1996, 63 f.; Kahlo, KritV 1997, 183, 205; Weigend 2001, 276; Müller, EuGRZ 2001, 546, 554; Schilling 2004, 89 ff., 211 ff.; grundsätzlich auch Wolter 1990, 498; ders., NStZ 1993, 1, 6, 9; SK-StPO/ders., Vor 151/26, 130; ders. 2000, 987, 993 mit der Klarstellung, dass dies nur Eingriffe beträfe, die nicht durch ein Beweisverwertungsverbot kompensiert werden). Eine solche Haltung wäre freilich nicht an der realen Praxis gewonnen. Auf Abwägungen trifft man hier allenthalben. Nemo tenetur führt derzeit nur zu einer „sektoralen Bevorzugung des Beschuldigten-Schutzes“ (SK-StPO/Paeffgen, Art. 6 EMRK/80). So begründe sich etwa die von der h.M. befürwortete Pflicht zur Personaldatenauskunft dadurch, dass „das staatliche Interesse an der raschen Feststellung der Identität (…) Vorrang vor den Belangen des Beschuldigten“ verdiene (KK/Boujong, § 135/7). Die verfänglichen steuerrechtlichen Erklärungsund Mitwirkungspflichten werden dagegen – um ein weiteres Bsp. willkürlich herauszugreifen – „im Hinblick auf die Steuergerechtigkeit und die Notwendigkeit eines gesicherten Steueraufkommens für den Staat sachlich gerechtfertigt“ (BGH NJW 2005, 763). Weitere nemotenetur-Eingriffe, die man durch Güterabwägung legitimiert, gibt es zur Genüge, etwa die beschränkte Berücksichtigung des Prozessverhaltens bei der Strafzumessung.

100

Teil 1: Bestandsaufnahme

rechtfertigt verkürzt wurde), stellt dann – grundrechtlich gesprochen – die definitive oder Netto-Fassung der Selbstbelastungsfreiheit dar354.

3. Am Rande: Zum Vokabular Die in weiten Teilen unausgesprochene Vorstellung von der Selbstbelastungsfreiheit, die den Dogmatiken der h.M. zugrunde liegt, kann nun einigermaßen nachvollzogen werden. Dies erlaubt eine kurze Verständigung darüber, mit welchen Begriffen sich dieses Sinnkonstrukt angemessen bezeichnen und diskutieren lässt. Dafür bieten sich selbstverständlich solche eingeführten Kürzel wie „nemo tenetur“ oder „nemo-tenetur-Satz“ weiterhin an, schon weil sie auf eine traditionelle Formel („nemo tenetur se ipsum accusare“) verweisen. Mit dem gleichen Recht kann man vom Schutz vor Selbstüberführungs-, Selbstbelastungs- oder Selbstbezichtigungszwang sprechen355 oder vom Schutz davor, zum Beweismittel gegen sich selbst gemacht zu werden, zumal dies den funktionalen Aspekt aufgreift, dass der nemo-tenetur-Satz gerade verfängliche Informationen betrifft. Andererseits verengen diese Bezeichnungen das Schutzwirkungsspektrum, weil sie die Selbstentlastung ausgrenzen (und gleichzeitig greifen sie durch den verbalen Einschluss der passiven Selbstbelastung wiederum zu weit). Genauer werden die tatsächlichen Privilegien daher durch handlungsbezogene Formulierungen erfasst (Schweige- und Auskunftsverweigerungsrecht oder Mitwirkungsfreiheit356). Freilich benennen sie nur Ausschnitte aus dem geschützten Verhaltensbereich und nicht den Rechtsgrund selbst. Außerdem erwecken sie den Eindruck, die jeweilige Aktivität sei um ihrer selbst willen und nicht wegen ihres Zukunftshorizontes (der antizipierten Verwertung) gemeint. Das Sprachangebot enthält am Ende also nur ungenaue Begriffe. Sie lassen sich daher – unter Verzicht auf eine übertrieben anspruchsvolle Semantik – allesamt in auswechselbarer Weise verwenden.

354

Für Verwirrung sorgt es, wenn man nemo tenetur mit der definitiven Selbstbelastungsfreiheit in eins setzt (so Weßlau, ZStW 110 (1998), 1, 9 Fn 24; Schlüter 2000, 120) oder einen Eingriff in nemo tenetur mit dessen Verletzung gleichstellt (etwa KMR/Lesch, § 136/16; Müller 2000, 217; Böse, GA 2002, 98 ff.). Dies führt nicht nur in die terminologische, sondern auch in die sachliche Konfusion, weil man dann für die nemo-tenetur-Bruttofassung keinen Begriff zur Hand hat und sich der Möglichkeit begibt, dogmatisch in diesem Konkretisierungsstadium zu arbeiten. 355

Diese Bezeichnungen werden hier synonym verwendet, wenngleich man das Selbstbezichtigen dem engeren Feld des Geständnisses vorbehalten und die Selbstbelastung für die unspezifischeren Formen der Prozessförderung vorsehen könnte. 356 In diese Gruppe gehören Aussage- oder Mitwirkungsverweigerungsrecht, Einlassungs- oder Aussagefreiheit. Außerdem wird auf das Problem durch Komplementärbegriffe verwiesen, etwa Aussage-, Auskunfts-, Mitteilungs-, Mitwirkungs-, Informations-, Wahrheits-, Offenbarungs-, Aufzeichnungs-, Dokumentations- oder Vorlagepflichten.

1. Kap.: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

101

Abstand genommen wird hier lediglich davon, weiterhin umstandslos mit dem nemotenetur-„Prinzip“ zu operieren357. Der Prinzipien-Begriff ist rechtstheoretisch besetzt358. Er steht für eine spezifisch strukturierte Art von Rechtsnormen, deren entscheidungsdeterminierende Wirkkraft durch die fallspezifische Abwägung mit gegenläufigen Rechtssätzen bedingt ist (Optimierungsgebote)359. Damit greift die Rede vom nemo-tenetur-Prinzip zwar treffend die eben erwähnten Abwägungsvorbehalte der Selbstbelastungsfreiheit auf, doch suggeriert sie zugleich, es handle sich dabei um eine Vorschrift von eigener Rechtssatzqualität. Da nun ausgerechnet diese genuine Normativität schweren Bedenken ausgesetzt ist (unten I. in Kap. 7), sollte sie terminologisch nicht präjudiziert werden.

357 Statt vieler vgl. nur Rogall 1977, 20; Dingeldey, JA 1984, 407; Bosch 1998; Kraft 2002; Minoggio, wistra 2003, 121; Ranft 2005, Rn 338. 358 Zur Prinzipientheorie Alexys etwas eingehender unten I.4.a) in Kap. 10. Mit Blick auf die Abwägbarkeit des nemo-tenetur-Satzes bejahen dessen Prinzipiencharakter auch in dieser rechtstheoretischen Akzentuierung v.a. SK-StPO/Paeffgen, Vor § 112/31; Lorenz, JZ 1992, 1000, 1005 f.; vgl. zudem Schlüter 2000, 124 ff. 359

Hieran gemessen handelt es sich bspw. bei Prozessmaximen (Aufzählung bei Kühne 1978, 62 f.; Roxin 1998, § 11; Beulke 2005, Rn 15 ff.; KK/Pfeiffer, Einl./3 ff.) um „Prinzipien“ (ebenso Wache 1997). Prozessmaximen sind auf einer Ebene mittlerer Reichweite zwischen hoch abstrakten Prozesszielen und Detailregelungen angesiedelt. Hier übernehmen sie eine vermittelnde Funktion, indem sie die Prozessziele operationalisieren und andererseits die Interpretation des Verfahrensrechtes als übergeordnetes Kriterium leiten (dazu m.w.N. unten bei II.2.b)bb) in Kap. 3). Dass sich das einfache Recht dabei nie bruchlos zu den geltenden Maximen fügt, beruht auf deren Überschneidungen und Widersprüchen (vgl. Rieß 1989, 382 f.; Krauss 1989, 2 f.; Eser 1993a, 28 ff.). Das macht zwischen eben jenen abwägenden Ausgleich nötig, der für Prinzipien typisch ist.

102

Teil 1: Bestandsaufnahme

2. Kapitel

Das Untersuchungsprogramm I. Über die Stoßrichtung des anschließenden Vorgehens Die vorliegende Arbeit untersucht das Selbstbelastungs-Strafrecht und handelt daher von Rechtsnormen, die das von der Selbstbezichtigungsfreiheit gewährleistete Verhalten absichern oder verbieten. Zu solchen Spezialfragen lässt sich kein wohlbegründeter Standpunkt formulieren, ohne eine konzise Vorstellung des allgemeinen nemo-tenetur-Satzes zur Hand zu haben. Daher muss man sich dieser grundlegenden Bezugsebene eigens versichern. Dass dafür nicht einfach der Diskussionsstand durchgesehen und eine einzelne Auffassung übernommen werden kann, ergibt sich schon aus der im 1. Kapitel wiedergegebenen Meinungsvielfalt. Es existiert keine umfassende, mehrheitlich konsentierte Vorstellung von anerkannter Autorität. Das, was das Eingangskapitel rekonstruieren und aus einer unübersichtlichen Rechts- und Argumentationspraxis herausfiltern konnte, war stattdessen ein objektives – also von Einzelmeinungen zu unterscheidendes – Konstrukt aus materiellen und normstrukturellen Elementen der Selbstüberführungsfreiheit, das in deren realer Handhabung wirksam wird. Sicherlich ist damit eine Größe vorhanden, mit der man sich auseinandersetzen kann. Aber dieser direkte Einstieg in eine inhaltliche Klärung wird hier nicht gewählt. Die vorliegende Arbeit lässt die bisherige nemo-teneturDiskussion vorläufig für sich stehen und sieht davon ab, unvermittelt die Auseinandersetzung zu suchen. Von ihr wird stattdessen ein Umweg genommen, um ihrer eigenen Deutung von nemo tenetur Gestalt zu geben: Sie beginnt gleichsam von vorn und entwickelt ihren Vorschlag aus den Grundfragen der Selbstbelastungsfreiheit heraus. Ein weniger ausgreifendes Vorgehen ist beim gegenwärtigen Stand der Diskussion auch gar nicht möglich. Der direkte Anschluss an die derzeitige Dogmatik verbietet sich nämlich ob der rechtsmethodisch bedenklichen Verfahren, in denen diese ihre Anschauungen bisweilen entwickelt – und das ausgerechnet auch an solchen Punkten, die für die generelle Gestaltung der Selbstbezichtigungsfreiheit entscheidend sind1. Wegen derartiger Defizite wird hier die Notwendigkeit gesehen, noch einmal zu den rechtlichen und theo-

1

Um dies einsichtig zu machen, müssen die Karten auf den Tisch gelegt und die angedeuteten methodischen Defizite benannt werden. Dafür bedarf es allerdings keines erschöpfenden Belegs. Es genügt vielmehr schon, wenn sich die besagten Unzuträglichkeiten ansatzweise erkennen lassen und wenn es nachvollziehbar und berechtigt erscheint, dass sie von der hiesigen Studie zum Anlass genommen werden, um die Selbstbelastungsfreiheit – unter Vermeidung solcher methodischer Brüche – erneut von Grund auf zu überdenken (dazu sogleich II.).

2. Kap.: Untersuchungsprogramm

103

retischen Ursprüngen von nemo tenetur zurückzugehen (ohne allerdings die übliche Konzeption damit gleich unter Generalverdacht stellen zu wollen).

II. Beispiele einer methodisch fragwürdigen Praxis Das Erfordernis, methodischen Unklarheiten entgegenzutreten, besteht zunächst einmal bei einer Argumentgruppe, die dem Bereich der gängigen Auslegungsmethoden zugehört. Wiederholt beruft man sich unter historischen Vorzeichen auf das überlieferte Verständnis der Selbstbezichtigungsfreiheit (häufig auch auf die Gesetzgebungsmaterialien der RStPO/StPO und auf die Reformliteratur des 19. Jahrhunderts), um alle Versuche abzuwehren, der „Aussagefreiheit einen Inhalt, den sie nach (...) der Rechtstradition nicht hat“, zuzuweisen2. Mindestens ebenso verbreitet ist die Verwendung teleologischer Betrachtungen, um „das ‚Warum‘ und ‚Wozu‘ der Freiheit vom Zwang zu aktiver Mitwirkung im Strafverfahren so genau angeben zu können, dass daraus eine widerspruchsfreie Ableitung des ‚Wieweit‘, also des Freiraums möglich ist“3. Ein methodisches Manko droht beim Umgang mit solchen Argumenttypen in zweifacher Weise – einmal, wenn „klassische“ oder „zweckorientierte“ Gesichtspunkte für die eigene Auslegungsversion reklamiert werden, ohne sie in einer rechtshistorischen bzw. funktionsanalytischen Betrachtung hinlänglich ausgelotet zu haben, und zum anderen, wenn sie den jeweiligen Normauslegungen ihren Stempel aufdrücken sollen, obwohl man sich ihrer interpretationslenkenden (rechtsmethodischen) Verbindlichkeit gar nicht versichert hat. Eine zweite Gruppe derzeitiger Argumentations-Praktiken stimmt deshalb skeptisch, weil man hier mit empirischen Auslegungselementen operiert und die jeweils bevorzugte Deutung einer selbstbelastungsrelevanten Regelung auf faktische Verhältnisse stützt. Häufig bleiben solche sachbezogenen Erwägungen implizit4. Vielfach werden derartige Annahmen aber auch ausdrücklich in einen teleologischen Kontext einbezogen5. Man versucht dort, den Normzweck mit

2 So repräsentativ BGHSt 42, 139, 153 am Bsp. verdeckten Ermittelns. Ebenso besonders vehement Arzt, JZ 2003, 456, 457. 3

Diese Programmatik bei Verrel 2001, 4.

4

Bspw. setzt die Befürchtung, durch heimliche Ermittlungsmethoden könnten die Anforderungen, denen der offene Zugriff auf das fragliche Beweismaterial unterliegt, umgangen werden (oben III.2. in Kap. 1), die Annahme voraus, die staatliche Verbrechensverfolgung sei realiter zu solchen Strategien geneigt. 5 So erklärt man die „Miranda-Variante“ in § 136 I StPO mit der sachbezogenen Überlegung, dass Beschuldigte ihr Schweigerecht typischerweise nicht kennen und/oder sich dem psychischen Druck und/oder der konversationellen Dynamik eines Vernehmungsgesprächs kaum entziehen

104

Teil 1: Bestandsaufnahme

Blick auf eine Reallage herauszuarbeiten und hierfür vornehmlich die für nemo tenetur charakteristische „spezifische Verletzungssituation“ zu erfassen6 (vorzugsweise das psychische Dilemma der betroffenen Person7). Die darin liegende Logik macht sich besonders bei denjenigen Autoren bemerkbar, die eine traditionelle Interpretation des nemo-tenetur-Satzes an eine veränderte Verfahrensrealität anpassen wollen8. Bei Lichte besehen versteht sich ein solcher auslegungsleitender Effekt des Faktischen indessen keineswegs von selbst. Zunächst einmal werden die verwendeten Sachdaten nämlich allzu leicht nur spekuliert (statt empirisch fundiert), und ohnehin ist bereits die grundsätzliche Berechtigung eines solchen Vorgehens umstritten. Deshalb weckt es Bedenken, wenn empirische Topoi, deren methodologische Zweifelhaftigkeit auf die nemotenetur-Debatte gleichsam durchschlagen muss, ohne Problembewusstsein herangezogen werden. Der dritte Bereich, in dem die gegenwärtige nemo-tenetur-Dogmatik in methodischer Hinsicht zu beanstanden ist, betrifft die normsystematische Einbindung der Selbstbelastungsfreiheit. Die damit zusammenhängenden Mängel erzeugen gleich mehrfach Unbehagen: So bezeichnet die h.M. den nemo-teneturSatz emphatisch als grundrechtliche Gewährleistung und thematisiert die ihn berührenden Fragen faktisch (wenn auch ohne die entsprechende Terminologie) mittels einer grundrechtstypischen Eingriffs/Rechtfertigungs-Struktur (oben VII.2. in Kap. 1). Gleichzeitig bleibt sie aber hinter den verfassungsrechtlichen Prüfungsstandards insofern zurück, als sie etwaige Selbstbelastungszwänge bestenfalls einer Abwägungskontrolle unterzieht. Dies kommt – im Übrigen auch

können. Wegen dieser Realdaten sei eine Belehrung gesetzlich vorgesehen, und hieran seien auch die Belehrungsform und die Folgen der unterlassenen Belehrung auszurichten (II.5. in Kap. 1). 6 Lorenz, JZ 1992, 1000, 1006. Der Gedanke findet sich auch außerhalb des deutschen Rechtsraums: „It is not uncommon for discussions about the right to silence to be conducted at the level of constitutional principle, whilst ignoring the practical context of the investigation and prosecution of crime. But this is untenable.“ (Leng 1994, 21 f.). Zugespitzt Zimbardo (1971, 493): „What makes the problem an especially difficult one legally is that the basic questions to be resolved are not inherently legal but psychological in nature. (...) How can the court formulate criteria to assess ‚psychological coercion‘, ‚voluntariness of a confession‘, ‚ability to resist pressure‘ and similar concepts without reference to psychology?“ 7 Psychologisierende Ausführungen zum „Selbsterhaltungstrieb als Wesenszug des Menschen“ finden sich etwa bei H. Schneider 1991, 48 und Torka 2000, 53 f. 8 Torka 2000, 114 (repräsentativ auch EGMR NJW 2001, 56, 60 zur sich verschiebenden Folter-Semantik). Für Hassemer (1988, 189) folgt dergleichen den Zeichen der Zeit: Modernes Recht „wird als disponibel begriffen, es gewinnt damit an Flexibilität und die Potenz, auf wechselnde Anforderungen seiner Umwelt prompt zu antworten“. Bei Keller, Bosch u.a. soll dementsprechend die Erweiterung von Rechten den neuartigen Gefährdungen des Beschuldigten entgegen wirken (oben bei Fn 149 und 210 in Kap. 1). In der strafprozessualen Praxis dominiert indes die kriminalpolitische Gegenrichtung, in der man Ermittlungsbefugnisse ausweitet, um sie an neue Verbrechensformen anzupassen (resümierend Krauß 1989, 10 ff.; Köhler, ZStW 107, 1995, 10 ff.).

2. Kap.: Untersuchungsprogramm

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bei jenen Straftatbeständen, die mit Billigung der h.M. zu einem verfänglichen Verhalten zwingen (können) – höchstens einer verkürzten Verhältnismäßigkeitsprüfung gleich. Dagegen werden die sonstigen Eingriffsschranken, die in ausdifferenzierter Weise ebenso zu Gebote stehen, kurzerhand unterschlagen9. Überhaupt erscheint die Handhabung internormativer Wechselwirkungen oft ungereimt. So muss schon die Art auf Widerstand stoßen, in der sich das Zusammenspiel von Gesetzesrecht und Verfassung gestalten soll. Enttäuscht von der ungeklärten und daher relativ unergiebigen grundrechtlichen nemo-teneturBasis greift die Auslegungspraxis auf einschlägige subkonstitutionelle Bestimmungen zurück, um aus ihnen die effektiven Selbstüberführungsfreiheiten herauszulesen10. Dem einfachen Gesetz wird damit eine grundrechtsdefinierende Rolle zugestanden, ohne den Missklang zu beachten, der dadurch in das normhierarchische Arrangement eines Verfassungsstaates eingearbeitet wird. Ähnlich verhält sich dies bei den vertikalen Normbezügen. Weil die nemo-teneturrelevanten Strafnormen in einer zusätzlichen normübergreifenden Beziehung mit verfahrensrechtlichen Bestimmungen stehen, müsste auch die hier vorherrschende Argumentationsrichtung – die vom Prozess- auf das Strafrecht und nicht umgekehrt schließt11 – klar und reflektiert in Rechnung gestellt werden, damit das Strafrecht die ihm normsystematisch obliegende Rolle bei der Konstituierung von Selbstbelastungsfreiheiten ausfüllen kann.

III. Fazit: Die erforderlichen Arbeitsschritte Durch all die genannten Brüche zeigt sich, dass die hiesige Untersuchung noch einen langen Faden spinnen muss, um schließlich zu ihrem eigentlichen Thema (dem Selbstbezichtigungs-Strafrecht) zu gelangen: Die dafür unabdingbare Basisvorstellung von nemo tenetur ist angesichts des bisherigen Diskussionsstandes erst noch zu formulieren. Deshalb sollen hier einige Grundfragen der Selbstbelastungsfreiheit abermals durchdacht und unzulängliche Arbeits9 Die h.M. konzediert zwar, dass der Normadressat durch die un-/echten Unterlassungstatbestände gelegentlich angehalten werde, sich selbst zu belasten, doch führt das lediglich zu einer Unzumutbarkeitsprüfung, in der man diesen Strafrechtseingriff mit Blick auf gewichtige Schutzgüter regelmäßig aufrechterhält (VI.3. in Kap. 1). Mag man in dieser Abwägung vielleicht noch eine Reminiszenz an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sehen, so werden aber doch die anderweitigen Schranken-Schranken nicht angesprochen. 10 So schließt man bspw. aus § 136a StPO und aus positivierten Befugnissen zur verdeckten Ermittlung auf einen engen nemo-tenetur-Schutzbereich, der sich nicht gegen verdeckte Ermittlungsformen wende (III.2. in Kap. 1; weitere Bspe. unten III.2.b) in Kap. 4). 11 Zwar erklärt man derzeit meist – wenn auch ohne nähere Begründung – die verfahrensrechtlich bestehenden Handlungsräume für sakrosankt, doch in Wahrheit pönalisiert die herrschende Strafrechtsdogmatik auch solche prozessual legalen Aktivitäten (dazu eingehend in Kap. 11).

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Teil 1: Bestandsaufnahme

weisen dabei möglichst gemieden werden. Insbesondere in den drei soeben hervorgehobenen Bereichen – nemo-tenetur-Zweck/Geschichte; Realitätsbezug; normsystematische Einbindung – bedarf es insofern einer inhaltlichen Vorabklärung. Außerdem muss man sich vergewissern, wie diese Aspekte in einem regulären Auslegungsverfahren methodisch verarbeitet werden. Dabei scheint es für die Überzeugungskraft der hierbei schließlich entstehenden Befunde angeraten, die fragliche Arbeitsweise nicht einfach nur zu praktizieren, sondern ihre Berechtigung vorab verständlich zu machen. Deshalb setzt die inhaltliche Analyse (Teil 3 der Arbeit) erst nach einem Zwischenschritt ein, der sich den betreffenden rechtsmethodischen Vorfragen widmet (Teil 2). Aus all dem resultiert ein gestuftes Programm: Die Arbeit konsultiert zunächst die juristische Methodenlehre (Kapitel 3), um einen ganzen Strang der anschließenden Erwägungen vorzubereiten. Ohne diese Grundlage ist schon von daher kein Auskommen, weil sich nur so der rechtsmethodische Status empirischer Argumentationsweisen beurteilen lässt. Die allgemeine Rechtsmethodik befindet nicht nur darüber, mit welcher Aufgabe die realitätsbezogenen Überlegungen in die Norminterpretation eingehen können, sondern markiert desgleichen die Anforderungen an die rechtswissenschaftliche Aufarbeitung jener Sachdaten. Diesen Vorgaben verdankt sich Kapitel 5, in dem die Wiedergabe der nemo-tenetur-relevanten „Wirklichkeit“ einen breiten Raum einnimmt. Auf das rechtsmethodische Fundament in Kapitel 3 kann aber auch deshalb nicht verzichtet werden, weil es die Einordnung rechtshistorischer und teleologischer Bezüge erlaubt. Von hier aus bestätigt sich die (beschränkte) Legitimität beider Auslegungselemente, so wie sich daraus gleichermaßen die Bedingungen ergeben, unter denen diese Gesichtspunkte die Norminterpretation prägen können. Speziell den Anforderungen an die Aufarbeitung geschichtlichen Materials gehorcht Kapitel 6, das die historischen Aspekte der Geständnisfreiheit substantiiert. Parallel hierzu muss sich die Interpretation von nemo-tenetur jener internormativen Zusammenhänge annehmen, die sich für das StGB aus den Beziehungen sowohl zum Grundgesetz als auch zum Prozessrecht ergeben. Dafür bedarf es eines weiteren vorbereitenden Schrittes, den das 4. Kapitel leistet: Es demonstriert, dass sich aus den horizontalen und vertikalen Wechselwirkungen, denen das Strafgesetz unterliegt, eine rechtssystematische Rahmenstruktur zusammensetzt, in der sich auch die Konkretisierung der Selbstbelastungsfreiheit bewegen muss. Der hierbei dominierende Part gebührt der Verfassungsebene, weshalb sich Kapitel 7 ausführlich der dortigen Verankerung von nemo tenetur widmet.

2. Kap.: Untersuchungsprogramm

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All diese Teilaufgaben beanspruchen Raum und Zeit. Es wird daher dauern, bis der Leser die hier befürwortete nemo-tenetur-Interpretation zu Gesicht bekommt. Er muss nicht nur die beiden vorbereitenden Kapitel auf sich nehmen, sondern sich auch im 3. Teil der Arbeit auf ein Unternehmen einlassen, das anfangs nur in Etappen vorankommt. Die hiesige Position fügt sich dort zwar fortschreitend zusammen, doch gelangt sie erst im 8. Kapitel zur Sprache. Notgedrungen führt das Selbstbezichtigungs-Strafrecht in diesen Phasen ein Schattendasein. Dies ist nicht zu vermeiden, weil das allgemeine nemo-teneturKonzept erst noch zu erarbeiten ist, bevor es sich in den Kapiteln 9 bis 12 auf seine strafrechtlichen Aspekte zuspitzen lässt.

Teil 2

Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung 3. Kapitel

Das Rechtsgewinnungsverfahren Eine einheitliche allgemeinverbindliche Rechtsmethode, an der sich die Arbeit am nemo-tenetur-Satz orientieren könnte, gibt es nicht. Von der methodologischen Diskussion werden vielmehr etliche Konzeptionen angeboten, die sich in ihrer Theoriebasis unterscheiden und außerhalb eines gemeinsamen Kerns durchaus abweichende Standards formulieren. Es geht deshalb auf eine bewusste Vorentscheidung zurück, wenn sich die hiesigen Überlegungen ausgerechnet durch die Strukturierende Methodik von Friedrich Müller leiten lassen1. Aus diesem Grund scheint es angebracht, das dort vorgezeichnete Rechtsgewinnungsverfahren in seinen Eigenheiten knapp vorzustellen, zumal es von der Strafrechtswissenschaft bislang kaum rezipiert wurde2. Hierbei muss auch der rechtstheoretische Unterbau wenigstens grob skizziert werden, da sich erst dadurch die Stringenz der methodischen Vorgaben erschließt3.

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Darin liegt noch kein abschließendes Urteil über die konkurrierenden Konzepte. Vielmehr bietet die Strukturierende Rechtslehre – mit den Worten von Jeand’Heur (bis zu seinem Tod einem ihrer Exponenten) – nur „ein Erklärungsmodell rechtspraktischer Entscheidungsabläufe an, das nicht mit einem Ausschließlichkeits- bzw. Absolutheitsanspruch hochgehalten werden sollte. Es ist so ergänzungsbedürftig und verbesserungswürdig wie jedes andere, weil und soweit es sich immer erst in praxi bewähren muss. Die Entscheidung für die eine oder andere Sichtweise auf rechtliches Handeln trägt daher stets auch voluntative Züge. Das einzugestehen fördert nicht den Relativismus, sondern allenfalls die Redlichkeit im Rechtsdiskurs.“ (1993, 29 Fn 9, Herv. i.O.). 2 Vgl. aber Bringewat 1974, 132 ff.; Kudlich 1998, 104 ff.; Neumann, GA 2000, 41 ff.; Demko 2002, 35 ff. 3

Jeder juristischen Methodenlehre liegt implizit oder explizit eine Rechts- und Sprachtheorie zugrunde. Die Strukturierende Methodik hat ihr entsprechendes Fundament in der gleichnamigen Rechtslehre (zuerst 1966), der Müller in den letzten 20 Jahren eine linguistisch und sprachphilosophisch geprägte Seite hinzugefügt hat (eingehend – auch zur Auseinandersetzung mit kritischen Gegenpositionen – etwa Müller 1994; ders./Christensen./Sokolowski 1996; ders./Christensen 2004; Christensen 1989; Jeand’Heur 1989). In der vorliegenden Arbeit muss all dies lediglich an-

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Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

I. Abriss zur Strukturierenden Rechtslehre 1. Das Normkonkretisierungsmodell (Ablauf der Normkonstruktion) Rechtsnormen existieren nach den Annahmen der Strukturierenden Rechtslehre nicht unabhängig von ihrer „Anwendung“. Vorhanden sind zunächst nur Texte. Weder diese unmittelbare Zeichenform, noch deren einfache Symbolwahrnehmung fällt mit Rechtsnormen zusammen. Da Texte die Verstehensleistungen ihrer Rezipienten nicht abschließend bestimmen können, kommt etwas Subsumtionsfähiges, das als Sinngröße („Inhalt“) zur Anleitung in der Lage ist, erst durch die Leistung eines Lesers zustande, der dafür die sprachlichen Zeichen des Gesetzbuches und anderweitige (z.B. empirische) Daten verarbeitet4. Ein Normgehalt entsteht nur in diesem „aktiven Semantisierungsvorgang“5. Wie sich die Strukturierende Rechtslehre jenen Herstellungsprozess vorstellt, erschließt sich am besten durch ihr Normkonkretisierungsmodell, das die einzelnen Elemente, die der Norminterpret zur Rechtsnorm verarbeitet, ebenso wie den Produktionshergang in die Form eines Schemas bringt6. Die Lösung juristischer Probleme beginnt danach bei den sprachlich-narrativ vorliegenden Umständen eines rechtserheblich werdenden Lebensvorgangs7. gerissen werden. Es geht hier nur um einen Überblick über die theoretischen Grundlagen der hier verwendeten Rechtsmethoden. 4 Natürlich trifft sich die Strukturierende Rechtslehre in diesem Punkt partiell mit anderen rechtstheoretischen Ansätzen, zuvörderst mit der juristischen Hermeneutik. Auch nach deren Auffassung muss ein aktiver Rechtsentscheider die Normseite auf den konkreten Sachverhalt beziehen, der zugleich von ihr bestimmt wird, sodass die Norm erst in dieser Wechselwirkung ihre Bedeutung erhält (zusammenfassend Schünemann 1976, 47 ff.; Jost 1979, 21; unter den strafrechtlichen Autoren etwa Hruschka 1972; Kaufmann, JZ 1975, 337, 339 ff.; Hassemer 1980, 104 ff.). 5 Erst durch die Tätigkeit des Norminterpreten „gewinnt das positive Recht für den Einzelfall wissbare Gestalt“ (Goebel 2001, 118). Die Bedeutungsoffenheit von Rechtsnormen und die Fragilität der Sinnfestlegung wird plastisch im „semantischen Kampf“ von Gerichtsparteien, die jeweils eine interessenadäquate Verwendungsweise der Normtexte durchzusetzen versuchen (vgl. Wimmer/Christensen 1989, 40 f.; Müller/Christensen/Sokolowski 1996, 60 ff.). Dass sich allerdings der Richter hiervon lösen kann, die Parteien seinem Willen zum Gesetz unterwirft (Müller/Christensen/Sokolowski 1996, 90 f.), sich „seinen Rechtsfall“ (a.a.O., 93, Herv. i.O.) und seine Sachverhaltserzählung baut, nachdem er die der Parteien eingeklammert hat (Kudlich/Christensen, GA 2002, 337, 348), ist missverständlich geschrieben. Der Fall wird interaktiv erzeugt. 6 Der Begriff der „Normkonkretisierung“ bezeichnet die dynamische Dimension von Rechtsnormen, die nur als Ergebnis eines Produktionsvorgangs existieren (Müller 1994, 261; ders./Christensen 2004, Rn 275). Weil sich die Rechtsnorm zusammensetzt aus mehreren Elementen, kann von ihrer „Normstruktur“ gesprochen werden (ders. 1994, 250). 7 Allerdings muss der Jurist diese Daten oft erst ermitteln oder aus einer laienhaften Fallerzählung in eine professionelle Fassung überführen (vgl. Müller 1994, 254 f.; ders./Christensen 2004, Rn 15; Jeand’Heur 1993, 32). Das beschränkt sich nicht auf eine sprachliche Transformation, sondern beinhaltetet eine inhaltliche Selektion und eine erhebliche Ent- und Neukontextualisierungen der fraglichen Daten (dazu Morlok/Kölbel/Launhardt, Rechtstheorie 2000, 15, 22, 34 m.w.N.).

3. Kap.: Rechtsgewinnungsverfahren

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Von diesem Sachverhalt wird die Auswahl jener Normtexte angeregt, die sich zur falleinschlägigen Rechtsnorm konkretisieren lassen. Dieser Vorgang kann aber nicht nur als eine reine Texthermeneutik am „Buchstaben des Gesetzes“ vonstatten gehen. Da Sprache kein isoliertes und auf sich selbst beschränktes Zeichensystem ist, sondern sich stets auf Realitätsausschnitte bezieht („von etwas Realem spricht“), verweist auch der Gesetzeswortlaut auf eine soziale oder physikalische Wirklichkeit8. Die derart in der Normtextformulierung „repräsentierte“ Gesamtmenge an Realdaten9 bildet den Sachbereich. Dessen Teilmenge, die in einer thematischen Beziehung zum Sachverhalt steht, firmiert unter der Bezeichnung „Fallbereich“10. Der Informationsgehalt dieses fallbezogenen Ausschnitts der von der Norm angesprochenen Wirklichkeiten kann und muss – dies ist wesentlich – in die Rechtsnormherstellung eingespeist werden. In den frühen Stadien der Rechtsnormherstellung sind also ein Normtext und ein empirischer Fallbereich vorhanden. Der Jurist erschließt sich diese beiden Elemente in den folgenden Arbeitsschritten; er nähert sie aneinander an und spitzt sie zugleich auf den Sachverhalt zu: Einmal legt er den Normtext – vor allem vermittels der klassischen canones – mit Blick auf den konkreten Fall aus und entwickelt dadurch das Normprogramm11. Zum anderen und parallel dazu werden von ihm die Tatsacheninformationen des Fallbereichs zum Normbereich verarbeitet. Hierfür hat der Interpret die faktische Struktur des fraglichen Falltyps empirisch zu durchdringen12 und dabei in eine sachverhalts- und normori-

8 Kraft ihres Verweisungscharakters evozieren die Zeichen „Wer einen Menschen tötet ...“ (§ 212 StGB) sämtliche Segmente der natürlichen/sozialen Umwelt, in denen biologische Funktionen eines anderen Menschen tätig abgebrochen werden – wobei „andere Menschen“, „biologische Funktionen“ und „Tätigsein“ zunächst in jeweils weitest möglicher Weise verstanden werden. 9 Realdaten sind in faktischer Form in der Welt (soziale Vorgänge, physikalische Abläufe etc.). Sie werden für die rechtliche Handhabung in die Sprachform überführt (vgl. Müller/Christensen 2004, Rn 13), denn sie sind „nur als sprachlich vermittelte Zeichen denk- und formulierbar“ (Jeand’Heur 1989a, 24) und in das Rechtssystem zu integrieren (vgl. Gusy, JZ 1991, 215). 10 Vgl. Müller 1994, 255 f.; ders./Christensen 2004, Rn 235. Arbeitsökonomische Zwänge schließen es in der Regel aus, die gesamte vom Normtext angesprochene Wirklichkeit (Sachbereich) zu verarbeiten. Deshalb beschränken sich juristische Entscheider auf den fallrelevanten Realitätsausschnitt (Fallbereich). Handelt es sich etwa im Totschlagsbeispiel (Fn 8) konkret um einen Fall von Sterbehilfe, zählen nur bestimmte Tätigkeiten, Menschengruppen, Motivlagen und Lebensfunktionen zum Fallbereich, wohingegen der Sachbereich sämtliche Tatsachen darstellt, die der gesamten Rechtsnorm überhaupt zuzuordnen sind (Müller 1994, 251 f.). 11

Rechtspraktisch besteht der rechtliche Obersatz allerdings oft aus einem Netz aus mehreren Norm- und Auslegungstexten (vgl. Busse 1992, 191 ff.). 12 Hier agiert „Normauslegung als Weltauslegung“ (Hesse, ZfResoz 1988, 247 ff.). MüllerDietz (1971, 149) spricht von der „Klärung außerrechtlicher (...) Seinskategorien innerhalb der Deliktstatbestände“. Zur Normbereichsanalyse Müller 1994, 251 ff., 342 ff.; ders./ Christensen 2004, Rn 235 ff.; zu ähnlich gearteten Überlegungen Lüderssen 1972; Hopt, JZ 1975, 341, 346; Schünemann 1976, 120 ff.; Rottleuthner 1976, 17 f.; Hoffmann-Riem 1981, 13; Gusy, JZ 1991, 213, 219.

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Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

entierte Form zu überführen, indem er über Einbezug oder Ausschluss der fraglichen Realdaten entscheidet – je nachdem, ob sie für die Fallfrage erheblich und mit dem Normprogramm vereinbar sind13. Die gleichzeitige Arbeit an Normbereich und Normprogramm erlaubt ein wechselseitiges Präzisieren14. Die normtextlichen und die sonstigen Sprachdaten verdichten sich dabei zu einem fallbezogenen Regelungsprogramm, während sich aus den unspezifischen Sachdaten ein falltypologischer Realitätsausschnitt herausschält – und zwar dergestalt, dass beide Satzarten thematisch miteinander und mit dem Sachverhalt verbunden sind. So äußern sich sowohl die juristische Textauslegung als auch die Realitätsanalyse zu dem spezifischen Problem des Sachverhalts, wodurch sie sich schließlich argumentativ verknüpfen lassen15. Mit dieser Verbindung ist die Regelung hervorbracht. In ihrer Verknüpfung sind Normprogramm und Normbereich die Rechtsnorm, die eine typologisch-generalisierende Aussage trifft („In einem Fall, der diese und jene Eigenschaften aufweist, gilt ...“). Der Norminterpret muss dies nur noch auf den jeweiligen Konkretisierungsanlass zuspitzen und auf die konkret-individuelle 13 Der Norminterpret erarbeitet sich den Sachgehalt des Normbereichs, indem er ihn anhand des Normprogramms „begreift“ (Müller/Christensen 2004, Rn 482).Dabei hat der Normbereich ebenso wenig wie der Sachbereich etwas mit dem Sachverhalt zu tun. Den Sachbereich bilden alle typischen Fallgestaltungen des Normtextes („vage Menge aller von der fraglichen Rechtsnorm möglicherweise betroffenen faktischen Gegebenheiten“, Müller 1994, 238). Zum Normbereich gehören die Wirklichkeitssegmente, auf die sich das Normprogramm in Fällen, wie dem gegebenem, bezieht. Damit sind sie „allgemeiner als die Bestandteile des Sachverhalts, lassen dessen fallgebundene Gegebenheiten typologisch hinter sich“ (Müller/Christensen 2004, Rn 34; Herv. R.K.). 14 Müller (1994, 195 ff.) spricht von einer „hermeneutischen Ellipse“ mit den zwei Brennpunkten von Normprogramm und Normbereich, um den „hin und her wandernden Blick“ zu beschreiben, der sprachliche (Normprogramm) sowie allgemeine (Normbereich) und konkrete Realdaten (Sachverhalt) in Einklang bringt. Obwohl er bei der Beschreibung dieses aneinander orientierten Zurichtungsvorgangs den Sachverhalt etwas stiefmütterlich behandelt (er bezeichnet ihn sogar als „vorgegebenes“ Eingangsdatum, Müller 1994, 273; ähnlich ders./Christensen 2004, Rn 15; ebenso missverständlich Laudenklos 1997, 277), geht er davon aus, dass bei dieser Gelegenheit auch der Fall konstruiert wird (Müller/Christensen a.a.O., Rn 258 f.): Die Fallerzählung als erstes Arbeitsmaterial verengt sich anhand von zunehmend konkreter werdendem Normprogramm und Normbereich bis zur letztendlich subsumierbaren Gestalt – nicht ohne dabei fortwährend auf den Normkonkretisierungsvorgang einzuwirken (vgl. Hruschka 1965, 55 ff.; plastisch Seibert 1981; Schmid/Drosdeck/Koch 1997). Das weist eine gewisse Verwandtschaft zu den Thesen der Juristischen Hermeneutik auf, nach denen sich die Rechtsgewinnung in einem hermeneutischen Zirkel vollziehe, da die strafrechtliche Norm ohne einen gedachten/realen Sachverhalt eine unfertige, leere Formulierung, gleichzeitig aber der Sachverhalt ohne die Norm nicht aus der Realitätsgesamtheit herauszufiltern sei (etwa Hassemer 1968, 98 ff.; Kaufmann, JZ 1975, 337, 339 ff.; ders. 1999, 75 ff.; Velten/Mertens, ARSP 1990, 516, 521 ff.; Jestaedt 1999, 271 ff.; vgl. auch Yi 1992, 170 ff.). Gemessen am Normkonkretisierungsmodell der Strukturierenden Rechtslehre bleibt dies jedoch unvollständig (da auf den Text fixiert und den Normbereich ausblendend). Zur Abgrenzung von der Hermeneutik Müller 1994, 77 ff., 97 f.; 185, 335 f.; ders./Christensen 2004, Rn 86, 480. 15 Für diesen Schritt vgl. die beispielhaften Problemlösungen bei Müller 1989, 31; Jeand’Heur 1993, 78 ff.; Laudenklos 1997, 273 f.; kritisch hierzu Alexy 1994, 68 f., 153 f.

3. Kap.: Rechtsgewinnungsverfahren

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Aussage verengen, die sich als so genannte Entscheidungsnorm zum aktuellen Sachverhalt verbindlich äußert („Da ein Fall dieser Art vorliegt, gilt ...“)16. erste Fallinformationen falleinschlägiger Normtext

Normbereichsanalyse = Konkretisierung des falleinschlägigen Sachbereichausschnitts (Fallbereich) hin zu Nombereich

Fallzurichtung

Normtextverarbeitung (Normprogrammanalyse) Rechtsnorm Entscheidungsnorm

Abbildung 1: Elemente und Fortgang der Normkonkretisierung17

16 Dieser letzte individualisierende Schritt ist nur eine simple Schlussfolgerung (die zum Abschluss bringt, was in den vorherigen Konkretisierungsphasen inhaltlich erarbeitet wurde). Nur in diesem abschließenden Stadium hat die Rechtsgewinnung etwas von Subsumtionen an sich (vgl. Müller/Christensen 2004, Rn 16, 468). Für die Sinnkonstitution kommt hier allerdings nichts Neues mehr zustande; die vorher hergestellte Rechtsnorm (Sinnaussage) wird gleichsam nur noch auf den Prozessgegenstand (bzw. den Konkretisierungsanlass) bezogen. Dennoch kann dieser Schritt nicht unterschlagen werden, weil er für das praktische Entscheidungshandeln der unabdingbare Abschlussakt ist. I.Ü. lässt er sich auch in den normalen Urteilstexten nachweisen: Entscheidungsnormen werden gewöhnlich in der Entscheidungsformel (Urteilstenor) verbalisiert. Die Rechtsnormen sind meist in die Begründungen eingebaut, ohne hervorgehoben zu werden (Ausnahme: Leitsätze veröffentlichter Judikate). Man findet sie dennoch leicht, denn es sind jene ausgelegten Obersätze, denen der Sachverhalt zugeordnet ist (vgl. Müller/Christensen/Sokolowski 1996, 27). 17 Die Grafik ist für die hiesigen Überblickszwecke stark vereinfacht. Ein genaueres Schaubild findet sich bei Müller/Christensen 2004, Rn 288.

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Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

2. Fachexterne Bestätigung der theoretischen Grundannahmen In Abbildung 1 ist der Normkonkretisierungsvorgang in seinem Ablauf und seinen Elementen zusammengefasst. All dem liegt die Prämisse der Strukturierenden Rechtslehre zugrunde, wonach Rechtsgewinnung alles andere als nur „Subsumieren“ ist und Rechtsnormen nicht „einfach so“ vorhanden sind. Es gibt keine präexistierende, dem juristischen Funktionsträger vorgegebene Regelung, aus der man die Entscheidung der an sie herangetragenen Fälle ableiten könnte. Diese Grundannahme, die dem Glauben an eine lex ante casum eine Absage erteilt, kann nicht oft genug betont werden, stellt sie doch das prägende Theoriemerkmal der Strukturierenden Rechtslehre dar18. Ihr zufolge muss die Rechtsnorm aus Anlass des (realen oder erdachten) Sachverhalts immer erst hergestellt werden – und zwar im Zuge der Normkonkretisierung durch aktive Norminterpreten (die dabei unweigerlich auch ihre eigene Subjektivität einbringen). Ohne den rechtsnormschaffenden Konkretisierungsvorgang ist das Gesetz nur in Gestalt eines Normtextes in der Welt – als eine Zeichenkette, die der Gesetzgeber zwar in Sinnübertragungs- und Regelungsabsicht zusammengestellt hat, die aber in dieser reinen Zeichenform (aus sich selbst heraus; ohne Sinn zuweisende Verarbeitung) keine Bedeutung verkörpert19. Ebenso wenig ist der unverarbeitete Normtext eine rechtsverbindliche Größe. Da er keinen fallbezogenen Sinn „beinhaltet“, kann er auch keine entscheidungsdirigierende Normativität „in sich tragen“20. Dergleichen tritt vielmehr erst bei jedem einzelnen Konkretisierungsvorgang hervor21. Normtexte liefern lediglich Impulse für jenen Prozess, in dem die Norminterpreten aus den Sprachzeichen etwas „anderes“ (nämlich Rechts- und Entscheidungsnormen) machen und damit „etwas“ herstellen, was in gesetzlich verfassten Gesellschaften als verpflichtend anerkannt und vollzogen wird und deshalb etwas „Normatives“ ist.

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„Rechtsnorm“ wird von ihr erst die lex in casu genannt (Müller/Christensen 2004, Rn 471).

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Anders gesagt: Die Bedeutung des Normtextes bestimmt sich danach, mit welcher Bedeutung er verwendet wird. Bei wiederkehrenden Gebrauchsweisen, stabilisiert sich daher auch die Textbedeutung. Allerdings ist sie erstens nicht durch den Text festgelegt, sondern durch den sozialen Rahmen, der die Regelmäßigkeit der Textverwendung bedingt, und zweitens können sich die Gebrauchsweisen (und mit ihr die Textbedeutung) bei gegebenem Anlass verschieben. Es kommt dann zu einer Rechtsprechungsänderung. 20 Gewöhnlich wird Normativität in den Normtext projiziert, denn nach der landläufigen Vorstellung repräsentiert er die Textbedeutung, aus der sodann die Fallentscheidung folge. 21 Es „wird die geltende Norm, die auch als generelle Norm von ihrem Wortlaut zu unterscheiden ist, im Einzelfall anhand des Normtextes und anderer topoi des Normprogramms und des Normbereichs zur konkreten Normativität des law in action integriert“ (Müller 1994, 154; vgl. auch ders/Christensen 2004, Rn 162).

3. Kap.: Rechtsgewinnungsverfahren

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Normtexten kommt also ein doppelter Vorstufencharakter zu: Hinsichtlich des Norminhalts geben sie dem Normadressaten das Wissen, dass sie etwas bedeuten – zunächst aber nicht das Wissen, was sie bedeuten. Und mit Blick auf die Normativität halten sie die Normadressaten auf einer Vorstufe des Sollens an, sich am Text zu orientieren (ihn als Eingangsdatum und Zuordnungsgröße bei der Normkonkretisierung zu verwenden) – ohne dass sie dabei einen unmittelbar entscheidungslenkenden Imperativ abgeben könnten22. Dieses frühe Stadium von Normativität ist gemeint, wenn Normtexte in der vorliegenden Arbeit verkürzt als Rechtsgrundlagen oder Rechtsquellen bezeichnet werden23. Durch jene Annahmen korrespondiert die Strukturierende Rechtslehre – worauf ihre Vertreter unentwegt hingewiesen haben24 – mit den sprechakttheoretischen Ansätzen der Pragmatik. Ebenfalls davon ausgehend, dass die Aussage eines sprachlichen Zeichens in seinem faktisch akzeptierten Gebrauch liegt, interessiert man sich dort für die Kontextbindung der Zeichenverwendung, die beeinflusst wird vom jeweiligen Sprachvorgang, dem Sprecher und Hörer, deren Wirklichkeitsperspektiven und Handlungsabsichten sowie ihren sozialen Beziehungen25. Die kommunikative Wirkung einer Äußerung bestimmt sich hiernach in der komplexen Interaktion zwischen ihren Sinnvarianten und den Faktoren der Produktions- und Verstehenssituation. Individuelle Zeichenverwendungserfahrungen (Sprachgebrauchseinstellungen) sind dabei intersubjektiv nie völlig identisch und zwischenmenschlich nicht umfassend überschaubar. Welchen Sinn der Rezipient einer Äußerung entnimmt, kann der Sprecher daher nicht durchgängig beherrschen und durch Perspektivenübernahme nur bedingt antizipieren26. Deshalb lässt sich die Aufnahme, die der Text eines Gesetzes

22 Diese Art von Verbindlichkeit weist der Normtext nicht von sich aus auf. Sie resultiert ebenso wie die Normativität von Rechts- und Entscheidungsnormen „aus außersprachlichen gesellschaftlich-staatlichen Gegebenheiten: aus tatsächlichem Funktionieren, aus tatsächlichem Anerkanntsein, aus Motivationsfähigkeit und Sanktionsbereitschaft“ (Müller 1994, 267). 23 Nach Müller ist das, was den Normtexten eigentlich zukommt, keine Normativität, sondern „Geltung“. „Am Beginn steht lediglich fest, dass der Normtext von Bedeutung ist, indem er den Streit initialisiert. Darin liegt seine Geltung, die ihn notwendig bindend zum ‚Angriffspunkt‘ für die Rechtsausübung macht.“ (Christensen/Kudlich 2000, 205; zu diesem Geltungsbegriff vgl. Müller/Christensen/Sokolowski 1996, 31 ff.; Müller/Christensen 2004, Rn 185 ff.). 24 Die Verwandtschaften sind bei Wimmer/Christensen 1989, 36 ff.; Busse 1993, 191 f., 196 f., 208 f.; Müller 1994, 375 ff.; ders./Christensen 2004, Rn 209 ff., 343 f.; Christensen/Kudlich, ARSP 2002, 230, 234 gründlich aufgezeigt. 25 „Thema der Pragmatik ist das, was im Sprachgebrauch die Form und/oder die Interpretation sprachlicher Äußerungen regelhaft beeinflusst kraft der Tatsache, dass Sprache in einer Situation und zur Kommunikation, zum sprachlichen Handeln mit anderen, gebraucht wird.“ (Linke/Nussbaumer/Portmann 1994, 177). 26 Etwa van Dijk 1980, 68 ff.; Linke/Nussbaumer/Portmann 1994, 169 ff.; Levinson 2000 zur Einführung in die Pragmatik. Ihre bedeutungstheoretische Basis (dazu Keller 1995, 22 ff.) findet

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Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

findet, vom Verfasser nur eingeschränkt steuern. Die letztlich verbindliche Bedeutung legt Fall für Fall erst die Textrezeption fest. Auch mit (rechts-)soziologischen Positionen stimmt die Strukturierende Rechtslehre in diesem entscheidenden Punkt überein. Empirische Forschung zur Validierung normtheoretischer Überlegungen ist allerdings dünn gesät. Die Sozialwissenschaften produzieren selten ein so detailinteressiertes Material, dass sich die Strukturierende Rechtslehre daran kontrollieren kann. Am ehesten sind es Unternehmungen aus der so genannten qualitativen Soziologie, die sich rechtstheoretisch aufschlussreich um Normapplikationsprozesse bemühen27. Hervorhebung verdient hierbei die ethnomethodologische Herangehensweise. Ethnomethodologische Forschung verläuft in einer Denkart, die in phänomenologischer Tradition die alltagsweltliche Annahme von der Objektivität der gesellschaftlichen Welt suspendiert. Eine solche Einstellung öffnet den Blick auf das interaktionsgetragene Zustandekommen sozialer „Tatsachen“. Diese Tatbestände haben keine eigentliche „Substanz“. Sie existieren nur als fragile Anordnung wiederholter Handlungsabfolgen (Handlungsströme). Auch die soziale Faktizität einer Gesetzesnorm besteht lediglich in einer solchen Vollzugsrealität28, die sich einem grundlegenden Interaktionsproblem verdankt: Sobald Menschen zusammentreffen, besteht die Notwendigkeit, koordiniert zu handeln und dafür die jeweiligen Situationen gleichartig zu verstehen. Diese Abstimmung ist, da jeder Akteur eine individuelle, biografisch geprägte Sicht auf die Welt hat und da sich die jeweiligen Handlungssituationen nie vollkommen gleichen (Indexikalität der Ereignisse), jedes Mal eine Herausforderung. Die Beteiligten bewältigen dies, indem sie den fraglichen Vorgang in die ihnen verfügbaren Muster einordnen, sich ihre Situationsinterpretation explizit und handlungsimplizit mitteilen, diese Deutungen wechselseitig angleichen und sodann demgemäß handeln. Zu den unzähligen Deutungsmustern, die in solchen Interaktions- und Sinngebungsprozessen herangezogen und dabei gleichsam als handlungsförmiger „Gegenstand“ (re-)produziert werden, zählen auch gesetzliche Normen29.

sich vielfach in Wittgensteins Sprachphilosophie (zu deren rechtstheoretischer Rezeption Herbert 1995, 193 ff.; Goebel 2002, 29 ff., 42 ff.). 27

Zeitweilig war das für die qualitative Soziologie nachgerade Identität stiftend (vgl. Wilson 1970). Auch heute besteht bei anderen soziologischen Sparten kaum Interesse am Normapplikationsvorgang, ausgenommen die verschiedenen Spielarten des „rational choice“ (vgl. den Überblick bei Reckwitz 1997). 28 In Luhmanns Worten besteht Recht „nur aus Kommunikationen und Strukturablagerungen von Kommunikationen“ (1997, 33). Dass es deshalb an sich „keine bindende Gewalt“ hat (a.a.O.), heißt nicht, dass ihm Normativität nicht in der juristischen Interaktion beigemessen würde (Müller 1994, 84, 151 f. sowie soeben Fn 22 f.). 29 Der ethnomethodologische Ansatz konnte hier nur in Stichworten angedeutet werden (eingehender Morlok/Kölbel, ZfResoz 1998, 136 ff.; Morlok/Kölbel/Launhardt, Rechtstheorie 2000, 15, 30 ff.; Morlok/Kölbel, ZfResoz 2000, 387 ff., dort jeweils auch mit Nachweisen zu den grundlegenden Arbeiten von H.Garfinkel, A.Cicourel und D.Zimmerman). Für ihre Berührungspunkte mit der Strukturierenden Rechtslehre vgl. auch Christensen/Kudlich 2001, 184 ff., 201 ff.

3. Kap.: Rechtsgewinnungsverfahren

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Eine solche Perspektive teilt mit der Strukturierenden Rechtslehre die Auffassung, dass Rechtsnormen erst durch ihre Verwendung zu einem intersubjektiv-sinnhaften und beobachtbarem Faktum werden – indem und soweit die Beteiligten nach interaktiv vermittelten Deutungsoperationen ihrer Normvorstellung entsprechend handeln. Dabei können Normen sich deshalb in dieser Seinsart (law in action) laufend erneuern, weil sie geeignete Ressourcen darstellen, um Vorgänge als vernünftig und überschaubar zu erfassen, dies auszudrücken und als gültig durchzusetzen. Oftmals wiederholt sich ihr Reproduktionskreislauf, und sie verdichten sich zu prästabilisierten Strukturen (beispielsweise zur herrschenden Auslegung). Selbst in diesen Fällen verschieben sich aber unablässig die Ränder ihrer praktizierten Sinngestalt, weil der hermeneutische Umgang mit den Merkmalen der Norm (judgemental work) situativen Charakter hat und – dies dokumentiert eine ganze Reihe von Studien – sich an den Erfordernissen des jeweiligen Kontextes orientiert30. Unter diesen Vorzeichen verdient es Zustimmung, wenn die Strukturierende Rechtslehre die interaktive Auseinandersetzung, die bei einer widersprüchlichen Situations- und Normsicht der Akteure einsetzt, als „semantischen Kampf“ beschreibt. Angesprochen wird davon der bedeutungsgebende Anteil des Normtextverwenders ebenso wie das diskursive Moment – dass nämlich die verbindliche Sinnversion unter konkurrierenden Realitäts- und Normtextinterpretationen ausgehandelt wird. Bestätigung erfährt all dies durch eine neuere, ethnomethodologisch fundierte Studie zur richterlichen Entscheidungstätigkeit31. Dort wurde gezeigt, dass sich der Richter von der Gerichtsinteraktion, die als Präsentation argumentativer Geschehensschilderungen abläuft (d.h. als Abfolge interessengeprägter Tatsachenerzählungen mit mehr oder minder expliziten, juristischen Sinnbezügen32), zwar nicht unabhängig machen kann, aber den Streitgegenstand doch weithin seiner eigenen Lesart unterzieht. Bei deren Entwicklung nimmt die Arbeit mit den Normtexten einen zentralen Rang ein. Allerdings strukturieren sie die Entscheidungen nicht „eins zu eins“, sondern als eine Einflussgröße neben der Fach- und Alltagssprachkultur und unter der Regie einer

30 Die norm- und situationsdeutenden Operationen haben stets eine den jeweiligen Bedürfnissen entsprechende Intensität und Form, wie vornehmlich organisationssoziologische Studien zeigen. Dort wird deutlich, dass situationsangepasstes kompetentes Entscheiden ein wesentliches Funktionserfordernis der Organisationen ist („brauchbare Illegalität“), wohingegen „buchstäbliche“ Normtreue als kontraproduktiv (naiv oder böswillig) erscheint. Kompetente Normapplikation verlangt den Sinn für zeitliche Koordination und den „nächsten Schritt“, das Wissen um die Arbeitsumgebung, die Orientierung an Rationalität und Effizienz, die legale und effiziente Außendarstellung u.ä. Fähigkeiten (vgl. dazu die Studien von Zimmerman 1970; ders. 1978; Johnson 1972; siehe auch Boden 1994, 192 f.; für eine Zusammenführung dieser Befunde mit dem Bourdieschen Habitus-Begriff vgl. Morlok/Kölbel, Rechtstheorie 2002, 289 ff.). 31

DFG-Projekt „Von den Rechtsmethoden der Praxis zu einer Rechtsmethodik für die Praxis“. Zu den Ergebnisse vgl. einstweilen den Bericht von Morlok 2004. 32 Dazu die Daten bei Matoesian 2001, 227 ff.; Löschper 1999, 277 ff.; vgl. auch Kudlich/Christensen, GA 2002, 337, 346.

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Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

höherinstanzlichen Definitionsmacht und bewährter Normgebrauchsroutinen. Auch das richterliche Alltags- und Wirklichkeitswissen – das also, was in der Strukturierenden Rechtslehre eine Normbereichsanalyse ausmacht – kommt in den Entscheidungsschritten ständig zum Einsatz. Insgesamt stellt sich die Normgewinnung als professionelle Arbeitstechnik dar, die pragmatisch und kontextorientiert mittels vermischter Sach- und Rechtslogiken operiert.

3. Besonderheiten wissenschaftlich-dogmatischer Normkonkretisierung a) Vorüberlegungen Das Interesse der Strukturierenden Rechtslehre gilt primär der juristischen Praxis, zumal sie nicht zuletzt aus deren Beobachtung entwickelt wurde. So verwundert es nicht, dass ihr Normkonkretisierungskonzept auf den Handlungsmodus des jurisprudenziellen (Einzel-)Fallentscheidens zugeschnitten ist (oben Abbildung 1). Es kann jedoch nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden, dass dieses Modell auch die wissenschaftlich-dogmatische Arbeitsweise wiedergibt. Abweichungen sind vor allem deshalb denkbar, weil der Rechtswissenschaft eigene Aufgaben zugedacht sind. Ihre Funktion liegt in der Begleitung der Rechtspraxis. Dogmatik soll die Rechtsmaterie ordnen und systematisieren, d.h. die auftretenden Fragen auf rationale Begriffe und Kategorien (Rechtsinstitute) bringen und deren Sinnzusammenhänge erhellen (Systembildung). Sie hat den Auftrag, den Rechtsstoff besonders gründlich zu durchdringen und ihn damit für den Anwender besser beherrschbar zu machen. Dank des von ihr erwarteten Expertenwissens soll sie die Entscheidungspraxis systematisch einordnen und einer kritischen Kontrolle unterziehen, bewährte Lösungen tradieren und an neue Problembereiche anpassen. Lenkungswirkung erlangt die wissenschaftliche Dogmatik dabei insoweit, als ihre Sinnangebote von der Rechtspflege fallkonkret aufzugreifen sind33.

Gewiss sind die Anlässe dafür, dass sich die Rechtswissenschaft mit einer juristischen Fragestellung beschäftigt, unterschiedlich eng an das justizielle Entscheiden gekoppelt34, doch sachlich ist von ihr, wenn sie über und für die Rechtspraxis schreibt, immer ein „erweiterter Horizont“ gefordert. Man erhofft sich von ihr die Einsicht gerade in übergreifende Sinnbezüge eines Rechtsproblems, weil diese Bedeutungsschicht nicht selten ein ganz anderes Licht auf die Sache wirft als die Fallindividualitäten, die im forensischen Diskurs vorzugs-

33

Unten bei Fn 107. Zum Überblick über die Funktion von rechtswissenschaftlicher Dogmatik vgl. etwa Rüthers 1999, Rn 321 ff. oder auch Müller/Christensen 2004, Rn 160 und 402 Fn 369. 34 Das Spektrum reicht von fallkonkreter Beratung über den Entscheidungskommentar bis zur fallgelösten Diskussion erdachter (potenziell wirklicher) Probleme oder ganzer Problembereiche.

3. Kap.: Rechtsgewinnungsverfahren

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weise gehandelt werden35. Um dies leisten zu können, muss es der wissenschaftlichen Arbeitsweise gestattet sein, „sich über verschiedene Abstraktionsgrade bis hin zur Grundlagentheorie von konkreter Einzelfallproblematik legitim zu entfernen“36. Anders als das rechtspraktische Entscheidungshandeln, das sich durch eine strikte Orientierung auf das Sachverhaltsthema und seine abschließende verbindliche Gestaltung auszeichnet, darf und soll sie sich vom singulären Fall lösen, gerade wenn sie (wie die vorliegende Arbeit) gleich mit einer ganzen Normengruppe befasst ist. Diese Abweichungen von dem oben skizzierten Normkonkretisierungsmodell führen aber nicht dazu, dass die Rechtswissenschaft die Beschaffenheit ihres Gegenstandes (d.h. die Struktur von Rechtsnormen) und die darauf beruhenden Basisprobleme jeder Rechtsarbeit ignorieren könnte: Nach Überzeugung der Strukturierenden Rechtslehre hat sie es wie jeder andere juristische Funktionsträger unweigerlich damit zu tun, den Sinn von Rechtsnormen hervorbringen zu müssen (statt ihn auffinden zu können), und sie ist dabei stets mit einem gleichsam zweidimensionierten Rechtsstoff konfrontiert – bestehend aus Sprach- und Realdaten. Deshalb gehört es zur wissenschaftlich-dogmatischen Arbeitsweise, doppelspurig vorzugehen und neben der Normtextinterpretation auch die Normbereiche der jeweils thematisierten Rechtsnormen fruchtbar zu machen37.

b) Sozialwissenschaft in der derzeitigen Straf- und Strafprozessrechtsdogmatik Es hat freilich den Anschein, als renne die Forderung nach einer nicht nur hermeneutisch vorgehenden, sondern auch natur- und sozialwissenschaftlich informierten Strafrechtsdogmatik offene Türen ein. Man könnte meinen, dass dieses Programm vielfach schon eingelöst sei. Die Sentenz, der zufolge „daraus, dass etwas ist, nicht folgen kann, dass es sein soll, so wie daraus, dass etwas sein soll, nicht folgen kann, dass etwas ist“38, wird schon lange nicht mehr als beziehungsloses Nebeneinander (miss-)verstanden, sondern als logische Struktur begriffen. Daher sieht sich die Strafrechtsdogmatik auch nicht gehindert, realitätsaufgreifende Aspekte in die Normauslegung einzubringen und die formale

35

Gerade, um solche fachlichen Kompetenzen entwickeln zu können, wird die Rechtswissenschaft mit Freiräumen versehen und von Handlungspflichten entlastet. 36

Müller/Christensen 2004, 160.

37

So gesehen fordert die Strukturierende Rechtslehre eine Rechtswissenschaft, die „das Modell der Normstruktur in das Formulieren dogmatischer Aussagen einblendet“ (Müller/Christensen 2004, Rn 403). 38 Kelsen 1960, 5; vgl. auch Dreier, JZ 1972, 329, 334 f. sowie die bei Duttge (2001, 361 ff.) dargestellte strafrechtliche Aufnahme dieser Aussage.

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Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

Differenz von Sein und Sollen pragmatisch zu überbrücken39. Die empiriegelenkten Argumentationsweisen in der nemo-tenetur-Debatte (oben II. in Kap. 2) bieten dafür ein Beispiel unter vielen. Die Etablierung empirischer Argumentationsweisen ist alles andere als verwunderlich, da Sein und Sollen nun einmal keine getrennten Welten verkörpern. Seit dem Werturteils- und Positivismusstreit sind die Wertelemente offen gelegt, die jede Seinswissenschaft und ihre Seinssätze durchziehen40. Zugleich lässt sich schwerlich von der Hand weisen, dass Werturteile dank sachlicher Informiertheit an Überzeugungskraft und Zustimmung gewinnen. Zwar werden rechtliche Folgerungen durch einen aufgeklärten Sachbezug nicht determiniert (weil empirische Aussagen nur mittels normativer Zusatzannahmen in strafrechtliche Konsequenzen umschlagen), aber es verengen sich die plausibel wahrnehmbaren Entscheidungsspielräume41.

Vor diesem Hintergrund kam es vor einigen Jahren zu einer lebhaften Diskussion, der es um eine sozialwissenschaftliche Anreicherung von Rechtsdogmatik zu tun war. Gerade von ihrer kriminalwissenschaftlichen Sparte wurden dabei einige Rechtsgewinnungselemente aufgezeigt, die eine kriminologische, psychologische oder ähnliche Färbung annehmen können. Soweit das Sachverhaltsfragen strafrechtlichen Entscheidens anlangt42, war das noch eher selbst39 Zu dieser umstandslosen Haltung etwa Duttge (2001, 361 ff.) und Hassemer (2005, 123 ff.). Vergleichsweise rudimentär erscheint jedoch die Sozialwissenschaftsprägung der Strafrechtspraxis (vgl. nur Struck 1973, 25 ff.; Lüderssen 1975a, 18; Bender 1986, 612). Bezeichnend ist insofern auch die umfangreiche Forschung zu richterlichen Alltagstheorien (zusammenfassend Morlok/Kölbel/Launhardt, Rechtstheorie 2000, 15 ff.). Verbreitet ist die sozialwissenschaftliche Entscheidungslegitimation dagegen im Gesetzgebungsbereich (dazu Lucke, ZfResoz 1988, 121 ff.; Brusten/Häußling/Malinowski 1986 und die Beiträge in KrimJ 4/2004). 40

Vgl. etwa Ritsert 2003, 16 ff., 67 ff. zur Werthaftigkeit der Sozialwissenschaft (Stichworte: Sinnkonstitutiertheit ihrer Gegenstände, Subjektivität der Methodenwahl, Einfluss von erkenntnisleitenden und Verwendungsinteressen). Auch die Annahme, dass die Naturwissenschaft „objektiver“ sei, wird zunehmend bezweifelt. So ließe sich jede Beobachtung durch unterschiedliche und nicht nur eine einzige Theorie erklären („Unterdeterminiertheitsthese“), und überhaupt würden jegliche Daten voraussetzungsvoll und nicht als unabhängige Kriterien erhoben („Theoriegebundenheit der Beobachtung“). Zugleich wurde das Sozial-Prozesshafte an der Produktion und diskursiven Durchsetzung wissenschaftlicher Befunde eingehend belegt (z.B. Knorr-Cetina 1991). Der darauf gründende epistemologische Relativismus (zusammenfassend dies., Soziale Welt 1988, 86 ff.; Heintz, KZSS 1993, 528 ff.; Ritsert a.a.O., 290 ff., 298 ff) trifft sich mit Ansätzen, die die Konsensabhängigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis aus der sozialen Konstituiertheit jeder gesellschaftlichen Tatsache ableiten (etwa Lynch/Livingston/Garfinkel 1983). 41 Je treffender die fragliche Situation beschrieben ist, je genauer Eigenschaften, Eignung, Kosten und (Neben-)Folgen der jeweiligen Mittel zur Situationsbeeinflussung bekannt sind, desto „besser“ und übereinstimmender werden jene Situationen und Mittel-Zweck-Relationen bewertet (dazu Lüderssen 1972; Röhl 1974; vgl. auch Noll 1973, 125 ff.; Jost 1979, 21 ff.; Opp 1973, 33 ff.; Röhl 1987, § 13/6; Renzikowski, GA 1992, 159, 165; speziell zu Kriminologie und Strafrecht Kaiser, MSchrKrim 1967, 289, 302 ff.; Schünemann 1979, 128 f.; ders. 1984, 371). 42 Es geht hier etwa darum, die strafrechtlich zu verarbeitenden Vorgänge mit größerer Genauigkeit zu erfassen, sich zu Eignung und Konsequenzen denkbarer Reaktionsformen zu äußern oder Verlässlichkeit und Genauigkeit der Beweiserhebungen zu überprüfen (hierzu etwa Opp 1973,

3. Kap.: Rechtsgewinnungsverfahren

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verständlich und wenig spektakulär. Größere Bedeutung erlangte indes der Nachweis einer punktuellen Empirie-Relevanz auf der Rechtsnormseite: So bezögen sich manche Strafnormbegriffe („Verwerflichkeit“) direkt auf soziale Tatbestände (etwa gesellschaftliche Normen), sodass man sie aus deren Per43 spektive zu interpretieren habe . Vom gleichen empirischen Schlag sei die Mittel-Zweck-Verknüpfung, mit der die teleologische Auslegung operiert44. Schließlich verlange eine Folgenbewertung, die zwischen alternierenden Straf45 norminterpretationen den Ausschlag gibt , nach der erfahrungswissenschaftli46 chen Prognose verschiedener Auslegungskonsequenzen . Kriminologie, Psychologie und (Rechts-)Soziologie waren damit von der rezeptionswilligen Strafrechtsdebatte wenigstens als Hilfswissenschaften anerkannt47. Zugleich verteidigten die Juristen aber ihr rechtliches Auslegungs- und Wertungsmonopol vehement gegenüber jeder seinswissenschaftlichen Begehrlichkeit48, zumal

14 ff.; Schünemann 1976, 10 f.; Scheffler 1987, 139 f.; Hassemer 1993, 314 f.; Kühne, GA 1994, 503, 506 f.; Fezer 1995, 17/26 f.; außerhalb des Strafrechts Rottleuthner 1973, 206 f.; Lautmann 1973a, 42; Hopt, JZ 1975, 341, 343, 346; Heldrich, AcP 186 (1986), 74, 79 f.; Röhl 1987, § 14). 43 Vgl. BGHSt 17, 328, 331 f.; OLG Koblenz NJW 1985, 2432, 2433; OLG Köln NJW 1986, 2443 zum Versuch, das Unwerturteil in § 240 II StGB aus Moralnormen abzuleiten (distanziert BGHSt 35, 270, 277). Ähnlich Kühne, GA 1994, 503, 506 f. beim strafrechtlichen Gewaltbegriff sowie Röhl 1974, 180 ff.; Hopt, JZ 1975, 341, 344; Raiser 1986, 2; Heldrich, AcP 186 (1986), 74, 91 ff.; Luhmann 1997, 87 f. im außerstrafrechtlichen Zusammenhang. 44 Dazu Raiser 1986, 2; Heldrich, AcP 186 (1986), 74, 108; Gusy, JZ 1991, 213, 213; Hensche, Rechtstheorie 1998, 103, 120 sowie unter strafrechtlichen Vorzeichen Bringewat 1974; Hassemer 1982, 496; Dopslaff 1985, 211 ff.; Kürzinger 1995, 361 f.; Bohlmann 1999, 156 f. (vgl. auch meine eigene Argumentation 1997, 303 ff.; ZfJ 1998, 10 ff.; Kölbel/Müller, ZAR 1999, 23 ff.). Offen votiert Rácz (JR 1984, 234, 235 f.) für eine auf kriminologischem Wissen gründende Strafrechtsauslegung, die für die Verbrechensbekämpfung am effektivsten ist. Empirisch fundiert ist i.Ü. auch das teleologische Vorgehen der Viktimodogmatik – einmal, weil sie aus den realen Wirkungsbedingungen des Strafrechts auf dessen notwendige Zurückhaltung schließt, und zum anderen, weil sie auf die deliktsspezifische Interaktionstypik rekurriert (vgl. Schünemann 1984; anerkennend zu diesem Empiriebezug H.-L. Günther 1998, 71). 45

Vgl. etwa Deckert 1995; für einen Überblick Hensche, Rechtstheorie 1998, 103 ff.

46

Ein Bsp. wären die Auswirkungen strafrechtlicher Reaktionsformen auf die Täterperson und ihre sekundäre Täterkarriere (dazu und zu ähnlichen Zusammenhängen etwa Naucke 1972, 38 ff.; Noll 1973, 125 ff.; Lüderssen 1975a, 16 ff.; ders. 1975b, 224 f.; ders. 1980, 435; Sack 1975, 368; AK-StGB/Hassemer, § 1/112; ders. 1982, 493 ff.; AK-StPO/Loos, Einl. III/16, 33; Freund, JZ 1992, 993 ff.; skeptisch hingegen Luhmann, etwa 1993, 378 ff.). Außerhalb des Strafrechts bildet die Folgenbewertung eines der rechtsmethodischen Bindeglieder zu einer ökonomischen Rechtstheorie. Auf diese Diskussion kann hier nicht eingegangen werden. 47 Dienen Sozialwissenschaften nicht als juristische Entscheidungshilfe, sondern als Entscheidungsprogramm für denjenigen, der am Verhalten der Juristen interessiert ist (Struck 1973, 22), erhält das noch einen ganz anderen Akzent. Hier ist durch das Wissen um die intervenierenden nicht-rechtlichen Entscheidungseinflüsse (soziale Merkmale des Falls, richterliche Alltagstheorien usw.) das Ergebnis für die Parteien besser zu beeinflussen (eingehend Black 1989). 48

So Lüderssen 1980, 434; Naucke 1983, 11 f.; Hassemer 1984, 4; Gusy, JZ 1991, 213, 214.

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Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

die Sozialforschung nur bereichsweise über gesicherte Erkenntnis verfügt49. Dort hatte man sich ohnehin gegen eine strafrechtsförderliche Zulieferrolle gesperrt, wollte man doch stattdessen das Strafrecht selbst zum Untersuchungsgegenstand machen50.

Die eigentlichen Schwierigkeiten einer empirisch informierten Strafrechtsdogmatik sind indes weniger der vordergründigen Unhandlichkeit von Sozialwissenschaften anzulasten, als einem Mangel zuzuschreiben, der dem Unternehmen auf seiner juristischen Seite anhaftet. Das Strafrecht hatte sich nämlich eine „Demonstration des Zusammenwirkens vieler Disziplinen“ vorgenommen51, ohne dieses „Zusammenwirken“ hinreichend zu strukturieren. Konkrete Handreichungen, wie der Strafjurist denn die sozialwissenschaftliche Forschung in die Rechtsgewinnung arbeitstechnisch zu integrieren habe und welche rechtsstaatlichen Schranken er dabei achten müsse, wurden weder ausgebildet noch angestrebt. So verwundert es nicht, dass man es sich in der Strafrechtsdogmatik zwar vielfach als Ausweis solider Wissenschaftlichkeit zugute hält, offen für eine empirische Argumentation zu sein, dass man dies dann aber eher sporadisch und in einer uneinheitlichen Weise (statt in einem standardisierten Verfahren) realisiert52. Dies leistet der Gefahr Vorschub, dass über das Ob und Wie empirischen Argumentierens nur nach ihrem Nutzen für die jeweils bevorzugte Norminterpretation befunden wird.

c) Wissenschaftlich-dogmatische Arbeitsweise aus Sicht der Strukturierenden Rechtslehre Es gehört zu den Vorzügen der Strukturierenden Rechtslehre und Methodik, dass sie das Anliegen der Empirieverwertung in die Anforderungen der Gesetzesbindung einzupassen und hierbei jede Beliebigkeit auszuschließen versucht. Sie beschreibt nicht nur ein eigenes realitätsaufgreifendes Teilverfahren innerhalb der Rechtsnormgewinnung (unten II.3.), sondern gibt ihm als „Normbereichsanalyse“ eine rechtstheoretisch-methodologische Basis, die es als legi-

49

Dazu Lautmann 1973a, 46; Sack 1975, 352; Limbach, ZfResoz 1988, 155, 157 f.; Kühne, GA 1994, 503, 511 f.; Kürzinger 1995, 365. 50 Gegen die Praxisunterwerfung der Kriminologie z.B. Sack 1978, 221 ff. (zum Problem auch Scheffler 1987, 62 ff.; Hoffmann-Riem, ZfResoz 2001, 3, 18 f.). Sozialforschung über das Strafrecht will gar keine Daten liefern, die in der Rechtsgewinnung unmittelbar aufzugreifen wären, sondern umgekehrt dokumentieren, wo juristische Praxis der sozialwissenschaftlichen Kritik nicht standhalten kann (vgl. Kreissl, ZfResoz 1988, 272, 276 ff.; Baratta, ZStW 92 (1990), 107, 111 ff.; Blankenburg/Steinert/Treiber 1980, 424; Lautmann 1980, 612 f.; Hassemer 1993, 313 ff.). 51 52

So Lüderssen 1998, 108.

Von Hassemer (2005, 124) wird zudem moniert, dass man einschlägige Fachwissenschaften zu wenig rezipiere und stattdessen die Eigenproduktion empirischen Wissens bevorzuge.

3. Kap.: Rechtsgewinnungsverfahren

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times und sogar notwendiges Element (fast) jeder Normkonkretisierung ausweist (zur Normbereichsanalyse bereits oben I.1.). In der Normbereichsanalyse stehen Sein und Sollen in einer eigentümlichen Wechselwirkung: Einerseits konstituieren die Seins-Daten des Normbereichs die Rechtsnorm mit, doch hängt ihre konkrete Bedeutsamkeit wiederum von den Relevanzkriterien des Normprogramms und damit von einer Vorstufe des Sollens ab. Ebenso, wie deshalb von einer „normativen Kraft des Faktischen“ nicht gesprochen werden kann, bleibt es also richtig, dass kriminologische, verfahrenssoziologische u.ä. Einsichten das Strafrecht nicht determinieren. Empirie und Strafnorm(-text) spielen aber konkret zusammen; sie sind in Normbereich und Normprogramm unterscheidbar, aufeinander angewiesen und bei der Rechtsnormerzeugung gegenseitig konstitutiv53. Solche Überlegungen zur Sachbestimmtheit von Rechtsnormen konvergieren im Übrigen mit sprachwissenschaftlichen Überlegungen, insbesondere mit der Referenzsemantik pragmatischer Prägung. Was eine Äußerung aussagt, bezieht sich danach immer auf ein dargestelltes Realitätsmoment. Freilich referieren nicht die sprachlichen Zeichen selbst bzw. deren Inhaltsmerkmale auf „ihren“ Gegenstand, sondern ein Sprachakt des Sprechers54. Daher sind Texte ein Ausdruck für die durch ihre Urheber angesprochene „Sache“ und die darauf bezogenen Sprachgebrauchserfahrungen. Vom Rezipienten muss dem Sprachzeichen möglichst das gleiche Realitätsmoment zugeordnet und neben dem Sprachsystem mitgedacht werden. Je weiter sich die sprachevozierten Wirklichkeitsbilder der kommunizierenden Personen gleichen, desto mehr ähnelt sich daher der Sinn, den sie dem jeweiligen Sprachzeichen beigeben. Für die Rechtstheorie bestätigt das den Realitätsbezug von Normtexten55. Der leserseitig vorgenommene Verweis auf Tatsachen wird so zu Bestandteilen des Normsinns und der Rechtsnorm selbst56.

53 Vgl. Müller 1994, 185, 328 ff., dazu auch Jeand’Heur 1993, 31; Gröschner 1988, 3, sowie ders., JZ 1982, 626: „Der hermeneutische Sinn eines Rechtssatzes liegt – wie ganz generell der Sinn jedes Satzes – in der Sache, auf die er verweist.“ Speziell zur Strukturierenden Rechtslehre auch Laudenklos (1997, 279): Sein und Sollen sind beide in der Rechtsnorm enthalten, dabei als eigenständige Positionen negiert, und beide konstituieren ein Neues, das im Ganzen etwas anderes als die vorherigen Teile ist. 54 „Erst die Sprecher legen (z.B. aufgrund der von ihnen erlernten sprachlichen Konventionen) Unterschiede zwischen einzelnen Dingeigenschaften fest, nehmen manche als wesentlich an und bezeichnen andere als unwesentlich für das Verstehen oder die Anwendung eines Wortes.“ (Busse 1993, 216; vgl. auch Wimmer 1979, 48 ff. für einen Überblick zu verschiedenen Referenzkonzepten in der Linguistik). 55 Man kann z.B. eine handelsstrafrechtliche Norm nur begreifen, wenn man weiß, was die Geschäftswelt unter einer „Bilanz“ versteht. Das Computerstrafrecht begreift man wiederum nur im Wissen um den jeweiligen technischen Ablauf. 56

Wenn Gerichte als Leser der Normtexte festlegen, welche Realerscheinung unter einen Rechtsbegriff gehört, bestimmen sie dessen Gebrauchsweise. Das lässt sich als Referenzfixierung bezeichnen. Über eine gemeinsame Verwendung kann sich das verfestigen. Für andere Gerichte stecken die damit stabilisierten Verwendungsformen den Rahmen für die Sach- und Fallbereiche der jeweiligen Normen ab (so die Position von Wimmer 1979 rezipierend Jeand’Heur 1989, 139 ff., 145 ff; vgl. auch Busse 1992, 265 f.; ders. 1993, 211 ff. und Müller 1994, 378 f.).

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Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

Da diese Sachbestimmtheit der Rechtsnormkonkretisierung auch bei der rechtswissenschaftlichen Arbeitsweise zum Tragen kommt (dazu schon oben 3.a)), kann hier für die anschließende Untersuchung eine erste Konsequenz festgehalten werden: Bei der Erarbeitung der garantierten Selbstbelastungsfreiheiten ist neben der Textauslegung auch ein gründliches empirisches Argumentieren statthaft, hilfreich – und sogar unabdingbar. So gesehen resultieren die in der nemo-tenetur-Debatte vielfach anzutreffenden Bezugnahmen auf die Prozessrealitäten57 aus „einer normtheoretischen Notwendigkeit, die sich ihrer selbst noch nicht bewusst geworden ist“58. Skepsis verdient diese Verarbeitung der prozessualen Sachgegebenheiten nicht dem Grunde nach, sondern weil sie lediglich partiell und temporär erfolgt. Demgegenüber sollen solche Mängel mit dem kontrollierten Verfahren der Normbereichsanalyse vermieden werden59. Darüber hinaus hat die Normbereichsanalyse, dies sei hier nur am Rande erwähnt, für jene Sonderkonstellationen, in denen sie eine merkliche Verschiebung der Realitäten konstatiert, sogar eine eigene Kategorie parat („Normänderung“). Ihr zufolge wirken sich gewandelte Verfahrenswirklichkeiten auf die Interpretation von nemo tenetur aus, sobald sie für das Rechtsnormverständnis relevant sind. Dafür braucht die Neuordnung der Prozessfaktizität lediglich in einen Normbereichsausschnitt zu fallen. Weil hierdurch ein Rechtsnormbestandteil umgestaltet wäre, würde eine aktualisierte Normkonkretisierung gleichsam im Selbstlauf in einen veränderten Normsinn münden, ohne dass die bisherige Normtextlesart „von außen“ (durch einen Korrekturakt) teleologisch angepasst werden müsste60.

57 Oben II. in Kap. 2. Im Übrigen wurde auch in anderen rechtlichen Zusammenhängen nachgewiesen, dass die Entscheidungsbegründungen der Rechtspraxis solche empirische Normkonkretisierungskomponenten – unter dem Deckmantel der „Natur der Sache“, der „Notwendigkeit sachgemäßer Ergebnisse“ usw. – enthalten. Vgl. dazu Müller 1994, 114 ff.; ders./Christensen 2004, Rn 32 ff., 67e Fn 148; Philippi 1971 (zum Verfassungsrecht); Jost 1979; Heldrich, AcP 186 (1986), 74, 81 ff.; Sander 1998, 241 ff. (zum Zivilrecht); Hesse, ZfResoz 1988, 247, 254 ff. (zum Sozialversicherungsrecht); Lesting, ZfResoz 1988, 259, 261 ff. (zum Strafvollzugsrecht); Hoffmann-Riem, ZfResoz 2001, 3, 7 ff. (zum Medienrecht). Auch im Strafrecht lassen sich weitere Bspe. finden, mitunter sogar in vorbildlicher Reflektiertheit (beispielhaft Bühler 1995, 28 ff. für Spielautomaten; vgl. auch die Bearbeitung des Sachgehalts von § 316 StGB durch den BGH, dazu Hassemer 1984, 13, oder die Rspr. zum Lügendetektor, BGHSt 44, 308). 58

So Müller 1994, 119 i.Z.m. der oftmals empirischen Argumentationsweise des BVerfG .

59

Dazu die Normbereichsanalyse in Kap. 5 (zu hierbei bestehenden Anforderungen unten II.3).

60 Eine Normänderung als sich verschiebende Praxis einer Rechtsnormdeutung beruht entweder auf einer modifizierten Handhabung des Normprogramms (etwa infolge einer Normtextänderung) oder – und das wäre die hier interessierende Konstellation – auf einem Wandel der normbereichszugehörigen natürlichen oder sozialen Umwelt. Dass der geänderte Normbereich zu einer unmittelbaren Normänderung führt (Müller 1994, 363 ff., dem Konzept grundsätzlich zustimmend Bryde 1982, 259 ff.; eindrucksvolle Beispielanalyse bei Jeand’Heur 1993, 39 ff., 68 ff.), macht freilich deren Vollzug nicht entbehrlich. Die Normkonkretisierung bleibt auch insofern konstitutiv. Anders

3. Kap.: Rechtsgewinnungsverfahren

125

II. Methoden der straf- und strafprozessrechtswissenschaftlichen Dogmatik 1. Grundlagen Dogmatik muss – insofern übereinstimmend mit justizpraktischem Entscheiden – sowohl die Sprach- als auch die Realdaten ihres jeweils gegenständlichen Prozessstoffs bearbeiten. „Das“ richtige Ergebnis ist dabei nicht zu haben. Da die jeweils relevanten Normtexte keine Träger einer vorweg bestehenden Bedeutung sind, da vielmehr der Norminterpret den Normsinn mithilfe des Textes erst erzeugt, erscheint diese Rechtsschöpfungsarbeit vielmehr schrankenlos. Sprachzeichen lassen prinzipiell jede Sinnzuweisung zu. Grenzen werden hier allerdings von außen – also nicht durch den Text, sondern durch den Kontext – gezogen61. Wenn die Rechtskultur nämlich keine Regeln hätte, um über die Vorzugswürdigkeit verschiedener Interpretationen zu entscheiden, wäre „dies genauso gut oder schlecht, als gäbe es gar kein Recht“62. Indem sie sich aber als Rechtsstaat verfasst und ihre Gesetze vertextet, erzeugt sie unversehens auch die Kriterien für deren „vertretbare“ Deutung: Im Zentrum juristischer Methoden muss dabei der Normtext stehen, schon wegen des Umstandes, dass man sich überhaupt für Kodifizierung und Schriftlichkeit von Normen entschieden hat63. Eben darauf laufen auch die Konsequenzen hinaus, die aus dem Grundgesetz und dessen normativen Forderungen gesagt: Da sich die Veränderung der Normtextbedeutung und der semantische Wechsel nicht von selbst einstellen, muss sich der Gebrauch des Normtextes durch die Rechtspraxis wandeln (vgl. Busse 1991, 274 f.; Hettinger/Engländer 2001, 150). 61 Wenn die Sprachzeichen des Normtextes nicht festlegen können, wie sie zu lesen sind, dann kann über die Zuweisung ihres Sinns im Wechsel aus Argument und Gegenargument prinzipiell ohne Ende gestritten werden – wäre da nicht die im Rechtsstaat angelegte Differenzierung zwischen erlaubten und unerlaubten Gesichtspunkten (näher Müller/Christensen 2004, Rn 505 ff., zusammenfassend Rn 516: „Das methodisch Mögliche ist unbegrenzt; das Postulat der Legitimität (…) setzt Grenzen“) I.Ü. wird der Umstand, dass es keine aus sich heraus richtigen Normauslegungen gibt, institutionell kompensiert: auf legislativer Ebene bspw. durch Verfahren und Mehrheitsentscheidung und bei der Rechtsgewinnung durch das Rechtsmittelverfahren (vgl. Reinhardt 1997, 504 ff.; zur darauf gründenden Notwendigkeit der strafrichterlichen Entscheidungsbegründung vgl. Kudlich/Christensen 2001, 297 f.; vgl. auch dies., GA 2002, 337, 343 ff.). 62 Fögen 2003, 132. Die folgende Methodik versteht sich daher insoweit normativ, als sie „mit der Formulierung von Kriterien für die Intelligenz von Handlungen Maßstäbe setzt zu deren Beurteilung“ (Christensen/Kudlich 2001, 277). 63

Vgl. Müller/Christensen 2004, Rn 304; Luhmann 1997, 339;siehe auch Fögen 2003, 83. Mit der Normtextformulierung ist (im Vergleich zum kodifikationslosen Zustand) eine zusätzliche Argumentationsstelle im Rechtsgewinnungsprozess eingebaut (vgl. Hassemer 1974, 172 f.), mit deren Maßstabsfunktion „sich die Rolle der precedents (also der vorhergegangenen ähnlichen Entscheidungen konkreter Rechtsfälle) bei weitem nicht vergleichen kann“ und wegen des formalisierten Gesetzgebungsprozesses nicht vergleichen darf (ders. 1992, 72).

126

Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

nach „Rechtssicherheit, Normklarheit, Publizität“ resultieren64: Die Verfassung erhebt gegenüber dem Norminterpreten den Anspruch, dass er dem normtextlichen Anteil an der Rechtsgewinnung besonderes Gewicht zukommen lasse – einmal weil es dem Gesetzgeber im Hinblick auf das Gewaltenteilungsprinzip möglich sein muss, durch seine Formulierung die Normkonkretisierung effektiv zu beeinflussen, und weil zum anderen aus der Warte des Demokratieprinzips der Gesetzestext als einziges demokratisch erzeugtes Element im Rechtsherstellungsverfahren nicht übergangen werden darf65. Kontrafaktisch ist diese Maxime nur insoweit, als der Gesetzeswortlaut die ihm aufgetragene Auslegungslenkung lediglich eingeschränkt zu leisten vermag. Recht verstanden lautet sie also, dass die Normkonkretisierung (auch bei nemo tenetur) wenigstens den realisierbaren Wirksamkeitsrest der durch Hersteller und Herstellungsverfahren geadelten Normtexte wahrnehmen muss. Diese Vorgabe, die normsprachliche Leistungsfähigkeit bestmöglich auszuschöpfen, ist vor allem für die Normprogrammanalyse folgenreich66. Hier kommt dem Normtext eine Sonderstellung zu, die sich auf mehrfache Art niederschlägt: Zunächst einmal ist der Normwortlaut ein Auslegungsaspekt (von mehreren). Sodann folgt aus seiner hervorgehobenen Stellung, dass bei einem etwaigen Konflikt der Interpretationselemente (also bei unverträglichen Auslegungsimpulsen der verschiedenen Topoi) dem jeweils normtextnäheren Aspekt

64 Müller/Christensen 2004, Rn 311. Sicher haben methodische Maßstäbe, die in der Verfassung gründen, keine letzte Verbindlichkeit. Obendrein sind sie nur innerhalb des grundgesetzlichen Geltungsbereichs von Bedeutung. Dem Grundgesetz diverse Rechtsgewinnungsverfahren zu entnehmen, erscheint überdies zirkulär, da die fraglichen Verfassungsnormen ihrerseits eine Interpretationsmethode voraussetzen (dazu Jestaedt 1999, 270). Das wird aber dadurch entschärft, dass mit Erlass des Grundgesetzes eine bereits bestehende Methodenvorstellung konstitutionalisiert, also Bekanntes verbindlich wurde. So bekommt der Zirkel einen hermeneutischen Zug, da sozusagen ein Vorverständnis existiert, das in die Auslegung der methodisch relevanten Verfassungsnormen eingeht, dabei bestätigt und fortentwickelt wird (vgl. Christensen 1989, 221 f.; Velten/Mertens, ARSP 1990, 516, 540 f.; Deckert 1995, 40 m.w.N.; gegen weitere Einwände Christensen/Kudlich 2001, 281 ff.; zur „Verschleifung der Rechtsquellenhierarchie“ auch Teubner 1989, 9). 65

Vgl. Müller/Christensen 2004, Rn 109 ff.; Schünemann 1983, 173 ff.; Herbert 1995, 258 ff.; Reinhardt 1997, 176 ff., 185 ff. sowie Pieroth/Abel, JZ 2003, 504, 506 f. zur darauf beruhenden Bindung, denen die Fachgerichte in den Augen des BVerfG unterliegen. 66

In der Normbereichsanalyse äußert sich der hervorgehobene Rang des Normtextes in der bestimmenden Rolle des Normprogramms, das die Verengung des Sachbereichs hin zum Normbereich thematisch leitet (dazu oben I.1. sowie Gusy, JZ 1991, 213, 217 ff.: Art 20 III, 97 I GG fordern die Begründbarkeit jeder Rechtsentscheidung aus dem positivierten Normtext und lassen den Einfluss nicht-rechtlicher Faktoren nur in den Grenzen der rechtlichen Daten zu; ähnlich Naucke, Rechtstheorie 1973, 64, 65). Deshalb muss sich bspw. der Strafrichter bei seinen prozessualen Prognoseentscheidungen zwar der empirischen Sachlage (d.h. der Prognosegrundlagen und Vorhersagen) versichern, doch behält er die Kompetenz für die daraus zu ziehenden Schlüsse (so am Bsp. von § 57 StGB Kölbel, StV 1998, 236, 238 f.).

3. Kap.: Rechtsgewinnungsverfahren

127

der Vorrang gebührt67. Und schließlich hat der Normtext das Amt inne, das Spektrum zulässiger Auslegung einzuhegen und so seine negative Grenzfunktion geltend zu machen (näher unten 2.d)). Durch diese Grundsätze wird das Inventar straf- und strafprozessrechtsspezifischer68 Auslegungsstandards (sogleich 2.) regelrecht geordnet.

2. Analyse straf- und strafprozessrechtlicher Normprogramme a) Normtextbezogene Konkretisierungselemente Die grundlegenden Eigenschaften von Normtexten – ihre Schriftlichkeit, ihre gesamttextliche Einbettung und ihre formalisierte Herstellung – erlauben es, sich mit ihnen aus einem grammatischen, systematischen oder historischgenetischen Blickwinkel zu befassen. Für die Untersuchung von nemo tenetur (wie überhaupt für den strafrechtsdogmatischen Bereich) weisen diese Betrachtungsweisen keine Besonderheiten auf69: Aus den Normtextwortlauten ergeben sich also, wiewohl ihnen keine bestimmende Wirkung innewohnt, erste Anhaltspunkte für die Auslegung (fach- und alltagssprachlicher Gebrauch einzelner Worte, Stellung im Satzbau) und nicht selten auch ein Spektrum an Bedeutungsmöglichkeiten (grammatische Methode)70. Weitere heuristische Anknüp-

67

Die problembezogene Rangfolge, die auf der unterschiedlichen Überzeugungskraft der verschiedenen Argumente beruht, wird durch das Kriterium der Normtextnähe überlagert (vgl. Christensen/Kudlich 2001, 378). Wegen ihrer größeren Normtextferne müssten daher bspw. die hoch im Kurs liegenden, historisch-genetischen Erwägungen zu nemo tenetur (oben II. in Kap. 2) hinter eine kollidierende grammatisch oder systematisch geleitete Lesart zurücktreten. Allerdings rangiert der historische Topos wie alle canones vor den nichtnormtextbezogenen Konkretisierungselementen (zum Ganzen Müller/Christensen 2004, Rn 437 ff.). 68 Verglichen mit rechtsgebietsübergreifend angelegten Vorgaben werden partikulare Methodiken den unterschiedlich leistungsfähigen Kodifikationslagen, den Eigenarten der Sachbereiche und Wissenschaftstraditionen besser gerecht (vgl. Müller/Christensen 2004, Rn 3, 240 f.; vgl. auch Fenge 1975, 145 ff). Die Rspr.-Analyse von Kaufmann/Neumann/Schneider (1980, 83 ff.) belegt das bereichsspezifische Gewicht juristischer Argumente. Begründungsstrukturen unterscheiden sich deshalb zwischen den Gerichtszweigen. Im Strafrecht bspw. treten gehäuft grammatische, systematische und genetische Aspekte auf (ähnliche Daten bei Rahlf 1976). 69 Vgl. bspw. Fenge 1975, 145 ff.; LK/Tröndle (10. Aufl.), § 1/41 ff.; AK-StGB/Hassemer, § 1/105 ff.; SK-StGB/Rudolphi, § 1/28 ff.; LR/Lüderssen, Einl. L/34 ff.; AK-StPO/Loos, Einl. III/1. Eine Eigenheit des Strafrechts gegenüber anderen Rechtsgebieten liegt aber darin, dass es die tatbestandlich vorgesehenen Strafrahmen gelegentlich erleichtern, den systematischen, historischen oder teleologischen Kontext zu erschließen (dazu Kudlich, ZStW 115, 2003, 1 ff.). 70 Vgl. Bottke 1979, 181; Müller/Christensen/Sokolowski 1996, 32; Baumann/Weber/Mitsch 2003, § 9/82. Zu den Grenzen grammatischer Argumente im Allgemeinen Strafrecht z.B. Freund, JZ 1992, 993, 998.

128

Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

fungspunkte erschließt die systematische Methode71 aus der normtextlichen Umgebung72. Ganz selbstverständlich ist das beim Zusammenspiel des Allgemeinen und Besonderen Teils im StGB73. Der Interpret kann aber auch einen normübergreifenden Rechtsfolgenabgleich vornehmen74, benachbarte Wortgebrauchsvorbilder aufgreifen75 oder norminterne und -externe Formulierungszusammenhänge profilieren (Stellung im gesetzlichen Aufbau, Gliederung eines Absatzes usw.76). Die genetische Methode setzt auf die Position des Legislators, genauer: „seinen Entscheidungshorizont, seine Grundansichten, die konkreten Regelungsabsichten, explizite Sinnvorgaben und sonstige Intentionen“77. Es ist daher prinzipiell berechtigt, wenn sich die nemo-tenetur-Dogmatik einen gewissen Aufschluss von der gesetzgeberischen Haltung während der strafprozessualen Re-

71 Das ist nicht zu verwechseln mit einer systematischen Strafrechtsauslegung, die aus „logischanalytischer“ Perspektive gefordert wird (vgl. Hruschka. 1988, XX ff.; ders., GA 1981, 237; ders. JZ 1985, 1). Danach sei neben der positivrechtlichen auch eine Systematik bedeutsam, die an die gegenstandsinhärente Logik anknüpft. So ließe sich das strafrechtlich geregelte Material in eine Vielzahl von Fallsystemen unterteilen, deren Elemente nach logischen Gesetzen miteinander verknüpft seien. In einer „naturrechtlichen Rückbesinnung“ sei diese historisch invariable Sachlogik jeder strafrechtlichen Kodifizierung vorgegeben (Hruschka, JZ 1992, 429, 436). Strafrecht fülle lediglich die dort offen gelassenen Wertungen aus. Übersehen wird dabei aber, dass der angestrebte umfassende axiologische Kodex trotz seiner Vorpositivität seinerseits in sprachlichen Regeln bestünde und den gleichen semantischen Bedingungen wie das Gesetz unterläge. Dennoch können solche Systeme rationale Topoi bilden, die zur Nachprüfbarkeit der Entscheidung beitragen und Konkretisierungsspielräume argumentativ verengen – aber als ein Konkretisierungselement unter vielen und der Gesetzesbindung unterworfen. 72 Im weiteren Sinne zählen zu dieser Sichtweise auch die widerspruchsfrei zu haltenden Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Rechtsgebieten, bspw. die horizontalen Bezüge zwischen StPO und StGB und deren hierarchische Beziehung zum Grundgesetz (unten II. und III. in Kap. 4). 73

Dazu Cremer 2003, 45.

74

Vgl. Günther 1983, 164 f.; Krahl 1999, 201; Kudlich, ZStW 115, 2003, 1, 7.

75

Vgl. Müller 1989, 56 f.; Sch/Sch/Eser, § 1/39; AK-StPO/Loos, Einl. III/13; LK/Tröndle (10. Aufl.), § 1/53; Baumann/Weber/Mitsch 2003, § 9/78. Natürlich erhalten – selbst wenn man eine gewisse Regelmäßigkeit des gesetzgeberischen Wortgebrauchs unterstellt – gleiche Wörter im unterschiedlichen Gebrauchskontext verschiedene Akzente. Meist führt es dann aber weiter, sich mit den Gründen solcher Abweichungen auseinanderzusetzen. 76 Vgl. Bottke 1979, 208 f.; Günther 1983, 164 f.; Christensen 1989, 43; ders./Sokolowski 2001, 225 f.; Sch/Sch/Eser, § 1/39, 49; AK-StPO/Loos, Einl. III/13; SK-StGB/Rudolphi, § 1/30; LK/Tröndle (10. Aufl.), § 1/54; Baumann/Weber/Mitsch 2003, § 9/78; Jescheck/Weigend 1996, § 17 IV 3. Dass die systematisch herangezogenen Umgebungsnormtexte ihrerseits grammatisch, systematisch usw. zu bearbeiten sind, bevor sie für andere Normtextformulierungen aussagekräftig werden (vgl. Müller/Christensen 2004, Rn 367), wird besonders relevant, wenn man eine benachbarte Regelung zu einem Umkehr- oder Erst-recht-Schluss heranzieht. Dann ist zunächst zu klären, ob es sich dort um eine verallgemeinerungsfähige Regel oder eine Ausnahme handelt (vgl. a.a.O., Rn 370; Puppe, JA 1989, 345, 354 f.). 77

Bottke 1979, 227.

3. Kap.: Rechtsgewinnungsverfahren

129

formen des 19. Jahrhunderts verspricht. Weitere vergleichende Hinweise ergeben sich mitunter aus verworfenen Gesetzesentwürfen und abgelösten Normtextvorgängern78. Häufiger spielt die Normgeschichte aber deshalb in den Auslegungsvorgang hinein, weil sich mit ihrer Hilfe die konkrete Normgenese besser begreifen lässt79. Auch sonst kann eine Aufarbeitung der früheren Rechtszustände (historischen Methode) die Interpretation des hieran anschließenden Normtextes anregen, denn sie füllt das Reservoir dogmatischer Ideen und Deutungsalternativen80. All das gelingt umso überzeugender, je genauer die Gesetzgebungsmaterialien und Vorgängernormen einschließlich ihrer sozialen Kontexte zuvor rekonstruiert und analysiert wurden81.

b) Insbesondere: Das teleologische Argument „Der Kontext einer strafrechtlichen Vorschrift ist unter anderem auch die Aufgabe, die eine Strafrechtsnorm normativ erfüllen soll“82. Die („teleologische“) Orientierung an dieser Bezugsgröße prägt die derzeitige Auslegungspraxis bei nemo tenetur ebenso übermäßig (oben II. in Kap. 2) wie im gesamten Strafrecht83. Demgegenüber wird von Seiten der Methodenlehre eher zur Vor78

Vgl. Christensen 1989, 63; Herbert 1995, 259 ff.; Busse 2001, 71 sowie Naucke 1969; Ranft, JuS 1986, 445, 446; Baumann/Weber/Mitsch 2003, § 9/74; LK/Tröndle (10. Aufl.), § 1/56. Natürlich lassen sich Regelungsabsichten nicht immer feststellen, schon wegen des legislativen Herstellungs-Darstellungs-Bruchs (dazu Stächelin 1998, 268 ff.). Es geht hierbei allerdings auch nicht um eine psychologische Rekonstruktion, sondern um die interpretierende Zuschreibung spezifischen Handlungssinns in der Positivierungssituation (vgl. Schroth 1983, 84). So gesehen ist dem Gesetzgeber oftmals ex post ein bestimmter Gestaltungswille (hinsichtlich einer Verfahrensstruktur oder einer Konfliktlage) plausibel zuzuweisen. Das kann in der Konfrontation mit der gegenwärtigen regelungsbedürftigen Sachlage aussagekräftig sein (vgl. Baden 1976). 79

Cremer 2003, 46: Die Geschichte eine Norm ist methodisch relevant, „soweit ihr (mittelbar) Aussagen über die Vorstellungen des Gesetzgebers entnommen werden können“. 80 Vgl. dazu Grimm 1976, 17; AK-StPO/Loos, Einl. III/7, 14; Bethge, Staat 1985, 351, 353 f.; Gusy, JZ 1991, 213, 218 f.; Christensen 1989, 44 f.; Müller 1989, 33. 81

Freilich ist damit eine Art von Rechtsgeschichte eingefordert, die strikt der Behandlung aktueller Normtexte dient und deshalb v.a. gegenwartsnahe Forschungsschwerpunkte legt (ohne die Legitimität anderweitiger Forschungsinteressen zu bestreiten; zum Problem auch Röhl, Jura 1994, 173, 177; Timme 1998, 146 f.). Andererseits verlangt sie eine erhebliche Komplexität: Wenn sie nämlich im Interesse der norminterpretierenden Verwertung neben der Dogmengeschichte auch die Entwicklung der fraglichen sozialen Prozesse reflektieren soll, verlängert sich letztlich die sozialwissenschaftliche Normbereichsanalyse in die Vergangenheit (vgl. Grimm 1976, 13 ff.; ähnlich Haft 1998, 87). Um all dies bemüht sich Kap. 6. 82 83

Schroth 1992, 99.

Vgl. anstelle der hierzu endlos verfügbaren Belege Schmidhäuser 1977, 95; Jakobs 1991, 4/19 ff.; Maurach/Zipf 1992, § 9/15, 21; Roxin 1997, § 5/28, 31 f.; Jescheck/Weigend 1996, § 17 IV 1 b.; LK/Tröndle (10. Aufl.), § 1/42; Sch/Sch/Eser, § 1/48; SK-StGB/Rudolphi, § 1/23; Stratenwerth 1998, 378 (für konkrete Bspe. vgl. Otto 1971, 15 ff.). Man ist sich nur uneins, ob es auf

130

Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

sicht gemahnt. So muss, wer den Normzweck aus dem gesetzlichen Tatbestand rekonstruiert, um ihn dann zur tatbestandlichen Auslegung zu nutzen, die Zirkelschlussnähe gewahren84. Überdies wird der jeweils als zuträglich empfundene Regelungssinn allzu leicht nur freihändig konstruiert85. Dass er stattdessen einem hinreichend vertiefenden Verfahren entspringt, stellt eine Mindestanforderung an seine argumentative Verwendbarkeit dar. Bei der Auslegung der Bestimmungen, die an der Konstituierung von Selbstbelastungsfreiheiten teilnehmen, ist die teleologische Betrachtungsweise daher nur angängig, wenn der jeweilige Zweck nicht nur unterstellt, sondern durch die anderen Konkretisierungselemente nachgewiesen wird, und zwar gerade durch die sprachlichen, normtextbezogenen Daten (weshalb der Normzweck thematisch zu diesen grammatischen, historischen oder genetischen Auslegungsaspekten gehört86).

aa) Strafrechtsgut Im materiellen Strafrecht ist der Gesetzeszweck mit dem Rechtsgutbegriff assoziiert. Den Rechtsgüterschutz hält man nicht nur für die tragende Einheit der Strafrechtslegitimierung, sondern – da ohne „präzise Definitionen der geschützten Güter (...) eine sachgerechte Gesetzesinterpretation (...) nicht mögdie Regelungsabsichten der legislativen Akteure oder auf einen im Gesetz verselbstständigten Normzweck ankommt. Beide Linien unterschlagen die kreativen Anteile des Lesers und unterstellen eine im Normtext irgendwie vorhandene Bedeutung, die sie als „objektivierten Willen des Gesetzes“ entweder für vor- oder nachrangig halten (vgl. Müller 1989, 20; ders./Christensen 2004, Rn 442; eingehende Kritik an beiden Lehren auch bei Christensen/Kudlich 2001, 28 ff.). 84 Dazu Baumann/Weber/Mitsch 2003, § 9/69; Herzberg, JuS 2005, 1, 8; Bringewat 1974, 28; Vormbaum 1987, 67; Müller 2000, 52. Überdies ist man gelegentlich geneigt, selbst das Analogieverbot (unten II.2.d)) teleologisch zu überspielen, etwa durch eine Bindung an „die Vernunft der Rechtsanwendung“ (Schmidhäuser 1977, 102). Wo es heißt, das Strafgesetz könne „nicht durch seine Form einen Geschehensausschnitt so prägen, dass an die Sache selbst gebundene Wertungen dadurch umgewertet würden“ (Schmidhäuser 1988, 22), wird das kaum noch bemäntelt. Kennzeichnend ist dafür – neben dem Bsp. von Fn 124 in Kap. 9 – der Vorschlag Schmidhäusers, den Normtext von § 17 StGB zu übergehen und den Verbotsirrtum unter § 16 StGB zu subsumieren (1977, 99 Fn 22; ders. 1988, 53 f.). Eine ähnlich gelagerte Gefahr, die Wortlautgrenze dem rechtspolitischen Kalkül zu opfern, besteht bei einer „tatsächlichen Betrachtungsweise“, die ein gesetzesumgehendes Verhalten strafrechtlich ahndet, weil der zweckentsprechend ausgelegte Tatbestand trotz seiner „eigentlichen“ (formalen) Nichtanwendbarkeit heranzuziehen sei (Bruns, GA 1986, 1, 12 f.; ders. JR 1984, 133 ff.; vgl. auch Otto, Jura 1989, 328, 329; kritisch bspw. Cadus 1984, 99 u.ö.; vgl. auch Röckl 2002, 258 ff.). 85 Aus der jüngeren Literatur Günther 1983, 151 f.; Schlüchter 1986, 7; Puppe, JA 1989, 345, 359 f.; Herzberg, NJW 1990, 2525 ff.; Haft 1998, 89 f.; Krahl 1999, 245 ff.; Bohlmann 1999, 171. 86 Vgl. Müller 1994, 317 f.; ders./Christensen 2004, Rn 364 (hierzu auch Dopslaff 1985, 221 ff.). Je sicherer der Normzweck rekonstruiert werden kann (z.B. aus einer Präambel oder aus Gesetzesmaterialien), desto einflussreicher ist er in der Normtextinterpretation. Textgelöst ermittelte Zwecke haben demgegenüber nur geringes Gewicht (vgl. Christensen/Kudlich 2001, 379).

3. Kap.: Rechtsgewinnungsverfahren

131

lich“87 sei – für den entscheidenden Bezugspunkt der Rechtsgewinnung. Die variantenreichen Möglichkeiten, einen Normtext zu deuten, würden in zuträglicher Form verengt, wenn „durch die Festlegung des Straftatbestandes auf den Schutz eines bestimmten Rechtsgutes andere Schutzrichtungen ausgeschlossen“ sind88. Nun handelt es sich bei Rechtsgütern um Objekte, die in sozialen Prozessen als schutzwürdig bewertet, also in politischen Entscheidungen hervorgehoben werden89. Diese Entschließungen können sich nach dem derzeitigen Stand der Rechtsgutlehren auf keine verbindlichen Autoritäten (naturrechtliche Aussagen, kulturell konsentierte Wertskalen) berufen. Auch vom Grundgesetz wird dem Legislator die Rechtsgüterauswahl weitgehend anheim gestellt90. Zwar bleibt damit die Legitimation von Strafrechtsnormen ebenso virulent wie das konkrete Gesetz stets diskutierbar, doch ficht das den Rechtsgüter-Topos aus rechtsmethodischer Sicht keineswegs an. Gerade weil prinzipiell (fast) alles zum Strafrechtsgut erklärt werden kann, muss dasjenige, was vom Gesetzgeber per Normgebung tatsächlich zum Schutzgut auserkoren wird, beim Interpreten dieser Norm besondere Beachtung finden. Das begründet aber keine kriminalpolitische Bedeutungslosigkeit der Rechtsgewinnungsebene91: Ebenso wenig wie der Strafjurist in den Normtexten eine fertige Rechtsnorm vorfindet, kann er den Sprachdaten ein fertiges und verarbeitungsfähiges Rechtsgut entnehmen. Bei Lichte besehen kommt auch die Rekonstruktion des Normzweckelements nicht ohne seine kreativen Anteile aus92. So betrachtet kann sich der Strafnorminterpret gegenüber der

87

Stratenwerth 1998, 388.

88

Vormbaum 1987, 67. Zum teleologischen Rechtsgutverständnis – das auf Honig und Schwinge zurückgeht (dazu Amelung 1972, 134 f.) – vgl. bspw. Schmidhäuser 1977, 95; Hassemer 1980, 57 f.; Demko 2002, 151 ff.; Baumann/Weber/Mitsch 2003, § 9/68. Die strafgesetzgeberische Zweck-Entscheidung betrifft sowohl das Handlungsverbot als auch die Wahl des Strafrechts. Insofern setzt sich der Regelungszweck aus zwei Elementen zusammen: Indem man Strafwirkungen („Wie“) bezweckt, um den Rechtsgüterschutz („Was“) zu fördern, macht man letzteren gleichsam zum übergeordneten Zweck und zum „Bezugspunkt des Strafzweckes“ (Lagodny 1996, 291). Trotz dieser funktionalen Stufung scheinen die Strafwirkungstheorien für die Tatbestandskonkretisierung meist bedeutungslos (ebenso wohl Engisch 1972, 41; Hruschka, JZ 1985, 1, 3; Dopslaff 1985, 125). Weil sie zur gesetzgeberischen „Gesamtzweck“-Entscheidung gehören, ist ihre Verwertung aber grundsätzlich möglich (dazu auch Krahl 1999, 201 ff.). Daher lässt sich gegen den Versuch der Funktionalen Strafrechtsdogmatik, neben dem Rechtsgüterschutz auch die Straftheorien dogmatisch zu verwerten (vgl. etwa Roxin 1997, § 7/24 ff., 51 ff.), nichts einwenden. Vorausgesetzt ist auch hierbei, dass die gesetzgeberischen Zwecksetzungen nicht unterstellt werden und sich in die anderen Konkretisierungselemente einfügen. Ob die Straftheorien tatsächlich empirisch funktionieren, spielt dabei aber – da es um Intentionen geht – keine Rolle (anders Stratenwerth 1998, 15 ff.). 89 Dazu umfassend Balog 1981 (vgl. auch Amelung 1972, 210; AK-StGB/Hassemer vor § 1/282 ff.; NK-StGB/Hassemer, vor § 1/139 ff.; Appel 1998, 387 f.). Dass Rechtsgüter nicht aus der Sache selbst, sondern einer Entscheidung folgen, führt i.Ü. nochmals vor Augen, dass gesetzliche Zwecke in anderen Sprachdaten nachgewiesen werden können und müssen (oben bei Fn 86). 90

Vgl. Amelung 1991, 276 ff.; Lagodny 1996, 145 ff. und unten I.1. in Kap. 10.

91

So aber die gängige Kritik am so genannten methodischen Rechtsgutbegriff (vgl. etwa Marx 1972, 19 f.; Bottke 1979, 263 f.; Ostendorf, GA 1982, 333, 334; Roxin 1997, § 2/7). 92 Da Strafnorminterpreten durch Wahrnehmung ihrer Spielräume bei der Rechtsgewinnung zugleich Rechtspolitik betreiben (vgl. Hassemer 1974, 39 ff.; ders. 1982, 499 f.; Schüler-

132

Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

gesetzgeberischen Rechtsgüterentscheidung nicht neutral verhalten, weil jene streng genommen gar keine präexistierende Messlatte bietet, an der sich Auslegungsresultate als passend ausweisen ließen.

Insofern kann nur mit einer gewissen Unschärfe davon gesprochen werden, dass die rechtspraktische Schutzgut-Argumentation meist einer extensiven Tatbestandsauslegung das Wort führt93. Ohnehin entstehen in einer Gegenbewegung auch dezidiert teleologische Modelle, die das Strafrecht rechtsgüterorientiert dem „wirklich Strafwürdigen“ vorbehalten wollen (was sich bei selbstbezichtigungsrelevanten Strafnormen durchaus auswirken könnte94). Dabei wird allerdings leicht die Wortlautgrenze negiert, weil man in den Verbrechensbegriff gern strafbarkeitsbegrenzende, aber normtextlich nicht vorgesehene Kriterien eingliedert. Das ist etwa dort der Fall, wo eine „reale Rechtsgutgefährdung“ als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal jeder Strafnorm behandelt95 oder die „Strafwürdigkeit der Rechtsgutverletzung“ zu einem unrechtskonstituierenden außertatbestandlichen Verbrechensmerkmal stilisiert wird96. Auf ähnlich problematische Weise plädieren manche Autoren für eine Auslegungsmaxime der Sozialadäquanz, der zufolge alle tatbestandlich subsumierbaren, aber gemeinhin gebilligten (d.h. nicht strafwürdigen) Handlungen tatbestandslos seien97. Davon Springorum 1991, 31 ff., 59 f.; Lautmann 1980, 629; Roxin 1997, § 7/69), beeinflussen sie den sozialen Schutzgutbestand. 93

Das wird vermieden, wo man neben dem geschützten Rechtsgut auch dessen Limitierung (Angriffsrichtungen, Tatmittel) ernst nimmt (vgl. Hassemer 1981, 59 ff.; SK-StGB/Rudolphi, § 1/33). Dennoch ist Lückenschließung in der Rechtsgüterorientierung angelegt, weil einem Schutzanliegen – zumindest vordergründig – alle Verbotseinschränkungen hinderlich sind (vgl. auch Schünemann 1984, 361; ders., NStZ 1986, 439, 439 Fn 66; Herzberg, JuS 2005, 1, 4, 6.; generell zur Lückenschließungstendenz Schüler-Springorum 1991, 124 ff.). 94

Wegen ihrer Zielrichtung auf individualschützende Strafnormen dürfte die (hier grundsätzlich zugehörige) Viktimodogmatik für das nemo-tenetur-Strafrecht nur am Rande bedeutsam werden. Als eine teleologische Richtlinie zur restriktiven Tatbestandsauslegung will man hiernach diejenigen Verhaltensweisen aus dem tatbestandlichen Strafbarkeitsbereich eliminieren, bei denen das Opfer über zumutbare Möglichkeiten zur eigenen Interessenssicherung verfügt und bei deren Nichtwahrnehmung daher eines strafrechtlichen Schutzes weder würdig noch bedürftig sei (zusammenfassend Schünemann 1984; ders., NStZ 1986, 439, 439 f.; Hefendehl 2002, 103 f.). Auf der Basis dieser Maxime müsste H.-L. Günther (1998, 76 ff.) zufolge aber umgekehrt auch das Vorliegen besonderer Schutzwürdigkeit/-bedürftigkeit teleologisch berücksichtigt werden. 95

Nach Gössel (1985, 97 ff., v.a. 104) soll der Tatbestand jeder Strafnorm nur erfüllt sein, sofern entweder das Rechtsgut in seinem Bestand oder die Inhaberschaft des Rechtsgutsträgers konkret gefährdet ist. Diese Voraussetzung sei – sofern der Normtext sie nicht ohnehin schon vorsieht – ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal. So handle bspw. der Zeuge, der im Zivilprozess zu Tatsachen außerhalb des Verfahrensgegenstandes lügt, tatbestandslos, weil keine Gefährdung von Rechtspflege und Wahrheitsfindung (= ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal) eintritt. 96 97

Zu diesem Vorschlag eingehend Sax, JZ 1976, 9 ff., 80 ff.

Dazu der (skeptische) Überblick bei Sch/Sch/Lenckner, Vorbem §§ 13 ff./70. Heftig gestritten wird bspw. über die Herausnahme sozial üblicher Verhaltensweisen aus § 258 StGB (etwa NK/Altenhain, § 258/26 ff.). Bereits anerkannt ist dieser Gedanke etwa bei der Vorteilsnahme

3. Kap.: Rechtsgewinnungsverfahren

133

kaum zu unterscheiden ist der Versuch, marginale Rechtsgutverletzungen kraft eines Geringfügigkeitsprinzips aus dem Tatbestand herauszuinterpretieren98. Angeblich fänden solche teleologischen Kriterien durchaus eine gesetzliche Stütze99, doch in Wahrheit beruft man sich dafür nur auf verstreute Einzelregelungen, die sich schwerlich zu einem das System prägenden Interpretationskonzept überhöhen lassen. Diese mangelnde gesetzliche Legitimation nährt den Verdacht, hier werde eine kriminalpolitische Überlegung kurzerhand ins Normative gewendet100. Solchen teleologischen Topoi fehlt also, selbst wenn sie für einen „guten Zweck“ herhalten sollen, die methodische Tragfähigkeit. Gleichwohl erkennt die hiesige Untersuchung das Anliegen der vorgenannten Konzepte an. Deshalb behält sie bei der Konkretisierung des selbstbezichtigungsrelevanten Strafrechts die Frage im Auge, ob geringfügig schädigendes oder sozialadäquates Verhalten der Strafe bedarf. Sie unterlegt dieser Problemstellung allerdings eine normsystematische Basis, auf die zum gebotenen Zeitpunkt zurückzukommen ist. Es wird dann einmal der Versuch unternommen, durch eine grundrechtsorientierte Auslegung dem Standort des Strafrechts in einer rechtsstaatlichen Normenordnung gerecht zu werden und den Straftatbestand durch eine Einzelfallakzentuierung der Strafverhältnismäßigkeit im Bagatellbereich zu verengen (unten II. in Kap. 4 sowie III. in Kap. 12). Und zum anderen soll unter den Vorzeichen einer rechtsgebietsübergreifenden Konsistenz mit der so genannten fragmentwahrenden Auslegung eine Devise fruchtbar gemacht werden, der zufolge das Strafrecht das strafprozessuale Verhaltensreglement achten und prozessrollenadäquates Handeln unberührt lassen muss (unten III. in Kap. 4 sowie Kap. 11).

bb) Strafprozessuale Regelungszwecke Anders als im Strafrecht sieht man sich bei den überwiegend normspezifisch gelagerten teleologischen Aspekten des Strafprozessrechts vor keine übergrei(§ 331 StGB), aus dessen Tatbestand die Entgegennahme kleiner Aufmerksamkeiten herausfällt (vgl. BGHSt 31, 264, 279; Wessels/Hettinger 2005, Rn 1112). 98

Bsp.: die unerhebliche körperliche Beeinträchtigung bei § 223 StGB. Zum Ganzen vgl. Ostendorf, GA 1982, 333 ff.; Saal 1997, 122 ff.; ähnlich Berz 1986, 114 ff. (zum Geringfügigkeitsbegriff speziell i.Z.m. dem für nemo tenetur wichtigen § 258 StGB vgl. Jahn 1998, 339 f.). 99

So stützt Ostendorf das Geringfügigkeitsprinzip auf dessen Spuren in prozessualen Einstellungsregeln, den Strafantragserfordernissen, den minder schweren Fällen, vereinzelten Strafausschließungsgründen, der strafzumessungsrechtlichen Tatschwereberücksichtigung, der Rechtfertigungsabwägung und gelegentlichen tatbestandlichen Mindestwerten/-gefährdungen (GA 1982, 333, 335 ff.). 100 Vgl. das Resümee von Wolski zur Sozialadäquanz: „Übertragung regelloser Strafwürdigkeitsaspekte in den Bedeutungsgehalt tatbestandlicher Begrifflichkeit“ (1990, 131).

134

Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

fenden inhaltlichen Fragen gestellt. Hier etwa die allgemeinen Prozessziele anzusprechen, erübrigt sich ob deren vager Generalität, wegen der sie für die Konkretisierung einzelner Regelungen unergiebig bleiben101. Einer vorwegnehmenden Erwähnung bedarf allein jener Zwecktopos, der den Prozessmaximen innewohnt: Als normative Sinngrößen siedeln die Maximen auf einer Ebene mittlerer Reichweite zwischen den hoch abstrakten allgemeinen Prozesszielen und den positivierten Detailregelungen. Sie verkörpern dort die gesetzgeberische Entscheidung, auf welchem der möglichen Wege das Strafprozessrecht seine obersten Zielstellungen erreichen soll102. Prozessmaximen fungieren somit als „Zwischenziel“ und damit als leitender Gesichtspunkt im Umgang mit den ihnen zugehörigen Vorschriften103. In der Rolle einer teleologischen Interpretationshilfe könnten sie daher die Konkretisierung von nemo tenetur durchaus beeinflussen104. Neben der hierfür erforderlichen thematischen Einschlägigkeit unterliegt dies allerdings den normalen Bedingungen des Zweckarguments: Die Existenz der fraglichen Prozessmaxime, die nur aus einer legislativen Festlegung und nicht aus dem „Wesen“ des Strafprozesses hervorgehen kann105, ist dafür anhand der Normtexte und sonstigen Sprachdaten eingehend darzutun106.

c) Nichtnormtextbezogene Konkretisierungselemente Neben den klassischen Methoden, die ihren Deutungsbeitrag aus dem jeweils auszulegenden Normtext entwickeln und sich dafür eine seiner Eigenschaften zunutze machen, kann der Norminterpret auch einige Gesichtspunkte verwenden, die aus dem Gesetz bestenfalls indirekt hervorgehen. Die größte Bedeutung haben hierunter die zu Argumentklassen und Denkfiguren geronnenen 101 Sie benötigen gerade die Vermittlung regelungsspezifischer Zwecke (vgl. Schmidhäuser 1977, 106 ff.). 102 Zur Charakterisierung der Maximen prägnant Rieß 1989, 382 f. (ähnlich, aber mittels der eher vagen Kategorie „prozessualer Zwischenbegriffe“ Tiedemann 1984, 32 f.; vgl. i.Ü. oben Fn 359 in Kap. 1). 103 Dazu, dass Prozessnormen im Interpretationsverband mit „ihren“ Prozessmaximen an Aussagekraft gewinnen, auch Kühne 1978, 63; Tiedemann 1984, 132; skeptisch aber Rödig 1973, 106. 104

Zur Diskussion eines dahingehenden Vorschlags unten II.3. in Kap. 5.

105

Bspe. zu solchen Legislativentscheidungen und ihren Hintergründen bei Eser 1993a, 23 ff.

106

Die Strafprozesslehre entnimmt die Maximen meist der StPO-Entstehungsgeschichte und den sachlich zusammenhängenden Normkomplexen. Obschon sie sich in ihren Ergebnissen relativ einig ist (so auch die Einschätzung von Kühne 1978, 62 f.), handelt es sich bei dieser Rekonstruktionsarbeit um ein schwieriges Geschäft. So passen die verschiedenen Prozessmaximen selten bruchlos zueinander (vgl. Rieß 1989, 382; Krauß 1989, 2 f.). Das einfache Recht ist daher meist Ausdruck für einen Kompromiss zwischen den Maximen. Auch wegen der fortwährenden Prozessreformen lässt sich aus dem Gesetz nur schwer auf die sich verschiebende Maximenstruktur schließen (vgl. Eser 1993a, 28 ff.).

3. Kap.: Rechtsgewinnungsverfahren

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Vorschläge von Rechtsprechung und Lehre (Dogmatiken)107. Da diese Formen des Normtextgebrauchs aber ihrerseits in Auslegungsverfahren von nur eingeschränkter Objektivität entstanden und somit von meinungsmäßiger Natur sind, legen sie die Normkonkretisierung nicht fest. Dennoch kommt die Analyse von Selbstbelastungsfreiheiten ebenso wenig wie jede andere Auslegung umhin, sich mit dem vorhandenen Diskussionsstand auseinandersetzen108. Sie muss die jeweils einschlägigen Positionen herausarbeiten, auf ihre Verträglichkeit mit den vorrangigen normtextbezogenen Elementen prüfen und sodann argumentativ in die Normkonkretisierung einbringen109. Einflussreich sind die dogmatischen Konkretisierungselemente besonders im Allgemeinen Teil des StGB (in Fragen des Selbstbelastungs-Strafrechts etwa bei den Unterlassensdelikten). Die deliktsübergreifende Relevanz der dort auftretenden Problemstellungen verlangt innersystematisch widerspruchsfreie Lösungen in unterschiedlichsten Kontexten110. Anstatt ausdrückliche Vorgaben vorzusehen, hat der Gesetzgeber deshalb Raum für detaillierte Dogmatiken gelassen111. Gerade in sol-

107 Vgl. dazu nur Müller/Christensen 2004, Rn 400, 407. Analytisch gesehen sind diese Dogmatiken für das Rechtssystem ohnehin funktionsnotwendig. Wenn Normtexte ihre Lesart nicht festlegen, sichern überhaupt nur stabile Dogmatiken auf der Basis einer homogenen Interpretationskultur die Vorhersehbarkeit der Rechtsgewinnung. Schon deshalb stehen Dogmatiken, die das Vereinheitlichungsbedürfnis im Rechtssystem befriedigen, im Dienste praktischer Orientierung (vgl. Christensen/Kudlich 2001, 411 f.). Auch dass Juristen anhand des Sachverhalts überhaupt auf einen ersten Normtext zugreifen können, beruht auf ihrem sozialisatorisch trainierten Vorverständnis (zu dessen Unabdingbarkeit vgl. Müller 1994, 47, 246 ff.; ders./Christensen 2004, Rn 271 ff.), das gerade die üblichen Verwendungsweisen der Normtexte beinhaltet (zu den abduktiven Schlüssen, in denen das Dogmatikwissen abgerufen wird, vgl. Kaufmann 1999, 57). 108 Die „h.M.“ ist für ihre argumentative Durchschlagskraft auf gesetzlichen Hintergründe angewiesen. Sie darf nicht illegitim sein, sondern muss auf zulässigem methodischem Vorgehen beruhen. Ohnehin sind die Dogmatiken, wo sie in den Gesetzeskommentierungen (und Köpfen der Strafrechtler) als Paraphrasierung der Gesetzestexte existieren, bedeutungsoffen. Sie erhalten ihren konkreten Sinn erst nach weiterer Bearbeitung über die canones am jeweiligen Fall (so neben Müller/Christensen 2004, Rn 407 mit Bspen. Puppe, JA 1989, 345, 346 ff.). Leichter zu handhaben sind sie in der Verknüpfung mit typischen Sachlagen. V.a. hier droht die fragwürdige Abkürzungsstrategie, aktuelle Fälle nur den bestehenden Dogmatiken und ihrem Beispielsfundus zuzuordnen, ohne die Normtextbedeutung eigens aufzuschlüsseln (dazu die Studie von Busse 1992, 174 ff.). 109 Vgl. Müller/Christensen 2004, Rn 400 ff.; Müller 1986a, 88 ff.; Röhl 2001, 544 f. (zum Streit um Präjudizienbindung BVerfGE 84, 212, 227; Schlüchter 1986; Reinhardt 1997, 435 ff.). 110 111

Vgl. Schünemann 1979, 118 f.

Ein Teilbereich dieser Dogmatiken handelt von deliktischen Sonderkonstellationen (Irrtum, Versuch, Täterschaft). Hierfür enthalten die §§ 13 ff. StGB gewisse Konkretisierungsimpulse, denen die Ergebnisse methodisch zugeordnet werden müssen (vgl. auch Kunst, JBl 1971, 329, 330; Lüderssen 1975, 19; Kaufmann/Neumann/Schneider 1980, 26). Die Gruppe der Handlungs-, Kausalitäts- und Zurechnungslehren befasst sich dagegen mit innertatbestandlichen Auslegungsfragen, sodass man sie den Normtexten des Besonderen Teils zuordnen muss. Eine eigenständige Rolle als lösungstechnisches Element (generell zu deren Hilfsfunktion in der Normkonkretisierung Müller/Christensen 2004, Rn 416 f.) übernimmt schließlich der allgemeine Verbrechensbegriff, der die

136

Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

chen Feldern können bei der Normarbeit auch straf- und strafprozessrechtstheoretische Erwägungen zum Zuge kommen und – bei innerer Schlüssigkeit und Vereinbarkeit mit den positivierten Sprachdaten – die Auslegung (unverbindlich) anregen112.

d) Wortlautgrenze Der Normtext übt – dank seines konstitutionell herausgehobenen Ranges (oben II.1.) – bei der Normkonkretisierung eine Grenzfunktion aus. Auch die Bestimmung von Selbstbelastungsfreiheiten ist an den Gesetzestext gebunden, sobald und soweit eine einschlägige Regelung vorhanden ist. Jede Auslegung, die beispielsweise den Wortlaut einer Prozessnorm sprengen würde, bleibt ausgeschlossen – und dies unabhängig davon, ob die fragliche Interpretation für die betroffene Person vorteilhaft oder misslich wäre113. In der gleichen Weise wird die materiell-strafrechtliche Tatbestandsdeutung und Rechtsfolgenfestlegung durch die strafgesetzliche Formulierung begrenzt114, und zwar erneut zugunsten wie zu Lasten des Betroffenen (wobei die Fälle der strafbegründenden und strafschärfenden Normtextüberschreitung auch infolge der Analogieverbote in Art 103 II GG, § 1 StGB ausgeschlossen sind115). Was nun die Wortlautgrenze inhaltlich genau besagt, lässt sich allerdings nicht an einer technischen Scheidelinie zwischen Auslegung und Analogie erse„Struktur eines geradezu für allgemein verbindlich erklärten Aufbaus der Lösung strafrechtlicher Fälle“ vorgibt (Rödig 1976, 40; vgl. auch Roxin 1997, § 7/32 ff.). 112

Vgl. Müller/Christensen 2004, Rn 418 ff.; Jestaedt 1999, 131 ff.; Dolderer 2000, 49 ff.; für ein Beispiel einer theorie-basierenden nemo-tenetur-Auslegung unten II.2. in Kap. 5. 113 Der Normtext von Art 103 II GG, seine Normvorgänger und die systematische Stellung von § 1 StGB sprechen dagegen, dass das strafrechtliche Analogieverbot auch für das Verfahrensrecht gilt (vgl. LK/Gribbohm, § 1/72; SK-StPO/Rudolphi, vor § 94/26 f.; Meyer-Goßner, Einl./198; Roxin 1997, § 5/43; Kudlich 1998, 133 ff.; vgl. auch Pföhler 1988, 188 ff.; Bär 1992, 85 ff.; zweifelnd Baumann/Weber/Mitsch 2003, § 9/101 Fn 131; differenzierend Maier 1991, 38 ff.). Dafür, in dieser Lage für eine Teilmenge des Strafprozessrechts (die Eingriffsbefugnisnormen) aus dem Wesen des Gesetzesvorbehalts ein spezielles Analogieverbot zu konstruieren (so Krey, ZStW 101 (1989), 838, 853 ff.; Bär a.a.O., 140 ff.; AK-StPO/Loos, Einl. III/22; SK-StPO/Rudolphi, vor § 94/26 f.; Grünwald, JZ 1981, 423, 425; Bottke, Jura 1987, 356, 362; ähnlich LR/Lüderssen, Einl. L/47; Mertens 1996, 147 ff.; offen lassend BVerfG NJW 1991, 558), besteht kein Bedürfnis. Wie jede andere Rechtsnorm bindet auch die verfahrensrechtliche Vorschrift den Interpreten an ihren Wortlaut (jedenfalls im Rahmen der allgemeinen Grenzfunktion des Wortlauts) – und das sogar strenger als das Analogieverbot, weil die Wortlautgrenze auch solche Normzerdehnungen verhindert, durch die sich individuelle Freiheiten vergrößern. 114 Diese Normtextbindung besteht auch bei Rechtfertigungs-, Strafmilderungs-, Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründen (Sch/Sch/Eser, § 1/31). 115 Das Analogieverbot in Art 103 II GG, § 1 StGB erfasst nur die Analogie zu Lasten des Betroffenen (statt aller Engisch 1972, 67 f.). Die allgemeine Grenzfunktion des Wortlauts greift dagegen bei jeder Art von Wortlautüberschreitung (ebenso Köhler, JuS 1984, 762, 768; ders. 1997, 95; tendenziell auch LK/Gribbohm, § 1/77).

3. Kap.: Rechtsgewinnungsverfahren

137

hen, denn jede Auslegung bedient sich analogisch strukturierter Operationen und sondert sich nur graduell von der Analogie im engeren Sinne ab116. Überhaupt liegt das eigentliche Problem aus Sicht der hier aufgenommenen Rechtstheorie darin, dass die Wortlautgrenze vielfach als Barriere missverstanden wird, welche die Sprache selbst setze117. Über die zeitlich und lokal gebundene Bedeutung sprachlicher Zeichen und über die Grenzen dieser Bedeutung entscheidet aber nicht das Schriftzeichen, sondern seine Verwendung durch die Sprachgemeinschaft. Sein Bezug auf Wirklichkeitsobjekte (sein „Sinn“) liegt in den Praktiken seines Gebrauchs. Unvollkommen verstanden ist dieses prinzipiell veränderliche Verhältnis, wenn man ihm die quasi-objektive Bindung stabiler Gebrauchsnormen unterlegt118. Die Zeichenverwendung erfolgt kontextangepasst, weshalb sie sich im Fluss der Situationen gegenüber den bisherigen Gebrauchspraktiken unmerklich, aber permanent verschiebt119. Bei der „deutlich abweichenden“ (sprachkonventionswidrigen) Wortverwendung, wird das für alle Beteiligten offenkundig. Recht verstanden liegt darin aber weder eine Sinnüberschreitung noch eine Gebrauchsregelverletzung, sondern ein Versuch,

116

Vgl. Kaufmann 1982, 37 ff.; ders. 1999, passim; Luhmann 1997, 346; AK-StGB/Hassemer, § 1/95 ff.: Der über eine „passende“ Beziehung von Normbegriffen und Tatsachenbegriffen befindende Verstehensprozess vergleicht – sowohl bei Auslegung als auch beim analogischen Schluss – von beiden Begriffen die jeweils relevanten Merkmale, die bei hinreichender Ähnlichkeit als adäquat angesehen werden. Analogie und Auslegung unterscheiden sich lediglich durch die unterschiedlich große semantische Entfernung, die nach dem Sprachempfinden der Beteiligten zwischen Fall- und Normbegriffen liegt (vgl. auch Hassemer 1990, 269 ff.; ders. 1992, 88 ff.; Engisch 1972, 66; Schreiber 1976, 230; Köhler 1997, 92; Roxin 1997, § 5/36 f.; Sch/Sch/Eser, § 1/55). 117 Eben dies unterstellt die h.M., wenn sie danach differenziert, ob sich der Norminterpret innerhalb der Wortlautgrenze (= zulässig), außerhalb des Wortsinnbereichs (= unzulässige Analogie) oder im Graubereich (= noch zulässige Lückenfüllung/teleologische Reduktion) bewegt (stellvertretend Krey, ZStW 101 (1989), 838, 861). Zum Ausdruck kommt diese Vorstellung auch in jenen Bildern, denen zufolge das methodisch Ausgelegte eine Teilmenge eines Wortsinnbereichs darstellen müsse (vgl. etwa Kienapfel, ÖJZ 1986, 338, 339; ähnlich Krey 1977, 172 ff.). Die von Herzberg (JuS 2005, 1, 2 f.) vorgetragenen Beispiele zeigen, dass die strafrechtliche Praxis damit aber nicht in Einklang steht. Zum Folgenden dagegen Müller/Christensen 2004, Rn 308 ff., 526 ff.; Christensen 1989, 284 ff.; Christensen/Kudlich, ARSP 2002, 230, 234 ff. 118 So z.B. Priester 1976, 157 ff. (i.E. ebenso Krey 1977, 154 ff.; Ransiek 1989, 69 ff.). Von dem sprachwissenschaftlich gesehen problematischen Regelbegriff dieser Ansätze einmal abgesehen, ist es auch fraglich, ob es überhaupt feststellbare, gesellschaftlich homogene Sprachgebrauchsregeln gibt (vgl. Yi 1992, 80 ff.; Christensen/Kudlich 2001, 50 ff.; anhand des strafrechtlichen Gewaltbegriffs Müller/Christensen 2004, Rn 322 ff.). 119 Die Zuweisung von Bedeutung sprachlicher Zeichen ist ein unablässiger und unabgeschlossener sozialer Prozess, der zeitlich veränderlichen Wortsinn erzeugt. Dies kann bei jedem Verwendungsakt anders ausgehen, wiewohl intersubjektive Verwendungsweisen mit relativer Stabilität nicht selten sind (zum entsprechenden Verständnis der Sprachgebrauchskonvention bei Wittgenstein etwa Goebel 2001, 29 ff.).

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Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

von der üblichen Verwendungspraxis abzuweichen, wobei die beteiligten Akteure über dessen Akzeptabilität abschlägig befinden120. Eine normtextliche Formulierung birgt also ebenso wenig, wie sie vor ihrer rechtsmethodischen Bearbeitung einen „Inhalt“ hat, die Schranke zulässiger Auslegung in sich. Solche Grenzen werden nicht vorgegeben, sondern künstlich von einer Rechtskultur und den involvierten Akteuren gesteckt121. Etwas Vorfindbares, an dem sich der Normtextgebrauch in einem Ähnlichkeitsabgleich messen ließe, bietet allein der Bestand bisheriger Gebrauchserfahrungen – nur kann selbst die eingefahrenste Lesart bezweifelt und über Bord geworfen werden122. Das Einzige, was den Norminterpreten wirklich zu binden vermag, sind die methodischen Standards für den Ablauf der Normherstellung123. Deren Einhaltung entscheidet darüber, welche Bedeutung man den fraglichen Normtexten (noch) zurechnen kann. So gesehen besteht der umgrenzte „Wortsinn“ in all dem, was methodisch zulässige Rechtsarbeit erzeugt. Eine substanziellere Wortlaut-Bindung ist nicht zu haben. Das besagt nicht mehr und nicht weniger, als dass die nemo-tenetur-Analyse in ihren prozessualen wie in ihren materiellrechtlichen Abschnitten die Normprogrammmethodik wahren muss124, um ihre Dogmatiken auf den Normtext zurückführen zu können125. 120

Es gibt keine „sprachsinnwidrige“, sondern allein eine unverständliche Gebrauchsweise. Darin liegen aber nicht die Probleme des Rechtsalltags. Wer die Wortlautgrenze hierauf beschränkt, nimmt ihnen jede Bedeutung (vgl. Christensen 1989, 40; Velten/Mertens, ARSP 1990, 516, 517 f.; zudem zur hier aufgegriffenen Sicht Christensen a.a.O., 85 f.; Wimmer/Christensen 1989, 31 ff.; Jeand’Heur 1989a, 25 f.; Busse 1993, 260 ff.; Kudlich/Christensen, GA 2002, 337, 344 f.; vgl. i.Ü. auch Schroth 1983, 18, 97 f.; Yi 1992, 134 ff., 167 ff.; Herbert 1995, 259 ff.). 121

„Der Grad der Festigkeit der Bedeutung von Texten ist gekoppelt an das Maß der Rigidität sozialer Praxen und ihrer Argumentationskultur“ (Goebel 2001, 45). 122 „Jeder Rechtsbegriff kann durch Streit aus seiner semantischen Selbstverständlichkeit aufgescheucht werden“ (Christensen/Kudlich 2001, 62). 123

Zu diesen Vorgaben zählt neben den Regeln der Normprogrammanalyse auch das Rückwirkungsverbot: Wechselt etwa die h.M., ändern sich die Norm und die Strafnormbedeutung, während (nur) der Normtext identisch bleibt. Soll sich das Rückwirkungsverbot (Art 103 II GG) auf die Norm und nicht auf den Normtext beziehen, ist es also durch eine strafbarkeitsausweitende Rechtsprechungsänderung auf den Plan gerufen (vgl. Hettinger/Engländer 2001, 151 ff.). 124 Zur Wortlautgrenze „als Ergebnis des Interpretationshandelns“ (Goebel 2001, 86, Herv. i.O.) am Bsp. des Ausnahmemodells bei der actio libera in causa näher Jerouschek/Kölbel, JuS 2001, 417, 421 f.; zu ähnlichen Konsequenzen der Juristischen Hermeneutik vgl. Hassemer 1968, 160 ff.; Yi 1992, 198 ff.; vergleichbar auch Schmidhäuser 1987, 242 („Vertretbarkeit des jeweiligen Richterspruchs in seiner Begründung aus dem Strafgesetz“). 125

Dieser Perspektive macht sich das BVerfG insofern zu Eigen, als es durch unvertretbare Auslegungen (d.h. die „objektiv willkürliche Auslegung“, vgl. BVerfGE 64, 389, 394, bzw. die „Tatbestandsentgrenzung“, vgl. BVerfGE 92, 1, 16 f.) das Analogieverbot verletzt sieht. Dies deckt i.E. die Normprogrammgrenze ab (wie hier Jeand’Heur, NJ 1995, 465 ff.; Christensen/Sokolowski 2001, 230 ff.; vgl. auch Pieroth/Aubel, JZ 2003, 504, 508 f.). Dies als Kompetenzanmaßung, die auch jenseits der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts judiziere, zu brandmarken (z.B. Kü-

3. Kap.: Rechtsgewinnungsverfahren

139

3. Analyse straf- und strafprozessrechtlicher Normbereiche Weniger geläufig als das Instrumentarium der Normprogrammbildung ist der Strafrechtsdogmatik die explizite Analyse des Normbereichs. Die Strukturierende Rechtsmethodik hält dieses Teilverfahren jedoch für unverzichtbar, um ein unkontrolliertes Hantieren mit Realdaten zu vermeiden. Sie versteht das Normbereichskonzept als einen Versuch, die fraglichen Arbeitsgänge zu kanalisieren und damit zugleich den juristischen Legitimationszwängen zu unterwerfen126. Als Gegenstand dieser Normbereichsanalyse wurde oben die von der Rechtsnorm in Bezug genommene falltypologische Wirklichkeitsstruktur ausgemacht. Dabei bleibt es. Allerdings zeigt die gängige Unterscheidung von „normativen“ und „deskriptiven“ Normtextbegriffen die Notwendigkeit einer weiteren Klarstellung an127: Die Eigenart normativer Tatbestandsmerkmale liegt danach darin, dass sie nicht auf „naturwüchsige“ Wirklichkeitsobjekte, sondern auf Normbereiche verweisen, die aus sozialen und rechtlichen Normen bestehen128. Dergleichen findet sich besonders im Verfahrensrecht, wo sich die vom Normtext evozierte Realität zumeist aus instanziellen Funktionsabläufen und anderen artifiziellen Größen zusammensetzt129. Der Normbereich hat dann seinerseits einen rechtlichen Charakter, sodass man bei seiner Bearbeitung im größeren Maße auch einmal auf juristische Sprachdaten zurückgreifen muss130. Auch in das Selbstbelastungs-Strafrecht reicht diese Besonderheit hinein, weil es dort zu weiten Teilen um Verhalten im strafprozessualen Umfeld geht (während bei Strafnormen gewöhnlich die normalen, „natürlich“ konstituierten normbereichsanalytischen Handlungszusammenhänge vorherrschen). per, JuS 1996, 783, 785 ff.), verkennt, dass es eine isolierbare, lexikalische Wortsinnüberschreitung, auf deren Sanktion das BVerfG bei der Handhabung von Art 103 II GG beschränkt sein könnte, nicht gibt. Misslich ist lediglich, dass das BVerfG die unvertretbare Auslegung meist als Verletzung des Gleichheitssatzes einordnet (vgl. Reinhardt 1997, 196 ff.) und damit das Gesetzesbindungsproblem kaschiert (wie hier Pieroth/Aubel, a.a.O., 506). 126 So operiert die h.M. bspw. mit einem „Selbsterhaltungstrieb“, mit einer „Beschämungsfurcht“ und mit anderen alltagspsychologischen Konstrukten, um sich nemo tenetur zu erklären und hieraus dogmatische Schlüsse zu ziehen. Aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre geht das nicht an. Die fraglichen Realdaten sind im Verfahren der Normbereichsanalyse zu belegen, wofür die sozialwissenschaftliche Forschung zur Straftatverheimlichung herangezogen werden muss. Hierdurch erklärt sich Kapitel 5. 127 Freilich besteht deren Differenz nicht darin, dass deskriptive Begriffe beschreibend und wertungsneutral seien, denn jene Wertungen, die mit jeder Interpretation verbunden sind, lassen sich auch bei ihnen nicht verhindern (statt vieler und m.w.N. Schreiber 1976, 224 f.). 128

Vgl. Müller 1994, 201. Es geht bei normativen Merkmalen also weniger um gesteigerte richterliche Wertung als um einen Lebensbereich, der ohne Recht nicht beschreibbar ist (ähnlich Dopslaff 1985, 45 ff.). 129

Z.B. werden die Träger von nemo tenetur (Beschuldigte, Angeklagte, Zeugen) strafprozessrechtlich definiert. Man sollte die Schwerpunktsetzung aber nicht verabsolutieren. So prägen strafprozessrechtliche Rechtsstrukturen bspw. bei § 55 StPO den Normbereich (nämlich normativ bedingte Selbstbelastungsmechanismen), während in die Normbereiche der in § 53 StPO vorgesehenen beruflichen Zeugnisverweigerungsrechte auch Sachstrukturen der betreffenden professionellen Tätigkeit einfließen (vgl. Müller/Pieroth/Rottmann 1973, 46). 130

Vgl. Müller/Christensen 2004, Rn 482.

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Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

Üblicherweise muss bei den Normbereichen empirischer Art festgestellt werden, welche Realdaten das Normprogramm notwendig voraussetzt und wie es sich zu diesen Daten verhält131 (etwa in Ansehung realer Entscheidungsfolgen132). Mit der Zeit führt das zu einem Bestand typologischer Fallgruppen, die den Sachgehalt der Norm verkörpern. Allerdings braucht sich der Norminterpret keineswegs als Forscher zu betätigen, um an die jeweils normrelevanten Realdaten zu gelangen. Vielmehr bestehen die normbereichsanalytischen Arbeitsschritte größtenteils darin, dass der Jurist die vorhandene Fachforschungslage gründlich zur Kenntnis nimmt. In diesem Sinne ist seine Arbeit mit den Natur- und Sozialwissenschaften geteilt133: Sofern für die Realdaten keine anerkannten Quellen (Statistiken; Gutachten etc.) vorliegen, sind die Rechtsentscheider also gehalten, das einschlägige fachgebietliche Wissen zu rekonstruieren. Auch wenn sie dabei auf spezialwissenschaftliche Streitfragen stoßen, bietet ein Sockel anerkannter, abgelagerter Einsichten meist genügend Halt. Fehlt es an zuverlässigen Normbereichsdaten, reicht es, wenn die herangezogenen Informationen plausibel sind und sich in umfassende, anerkannte Theorien einfügen. Die eigene – möglichst reflektierte – Spekulation des Juristen ist allenfalls bei offenen fachwissenschaftlichen Kontroversen statthaft134.

III. Konsequenzen für die rechtswissenschaftliche Arbeit an nemo tenetur Dass es nach der Strukturierenden Rechtslehre keine Gesetze gibt, die in Gehalt und Verbindlichkeit schon vor ihrer Konkretisierung existieren – dass es also im Folgenden um eine Konstruktion der nemo tenetur-Garantien gehen wird (statt um deren Auffinden) –, heißt nicht, dass die rechtspraktische oder wissenschaftliche Rechtsarbeit keinen Grenzen unterliege. Das, was der Norminterpret in der Falllösung oder in der systematischen Analyse herstellt, ist vielmehr nur dann vertretbar, wenn der Herstellungsvorgang bestimmten methodologisch und 131 Dazu Müller 1989a, 14; ders./Christensen 2004, Rn 483 f.; vgl. auch die insofern beispielhaften Arbeiten von Müller 1969, 67; Lüderssen 1972; Jeand’Heur 1993; Duttge 2001, 389. 132

Zu diesem normbereichsanalytischen Aspekt der Folgenbewertung Deckert 1995, 68, 113 ff.; Müller/Christensen 2004, Rn 484. Die „Bewertung“ der Folgen beruht dabei auf dem Einfluss des Normprogramms auf den Normbereich (ähnlich Hensche, Rechtstheorie 1998, 103, 120). 133

Obwohl die Normbereichsgestalt vom Normprogramm beeinflusst wird (oben I.1.), darf dies „nicht zu einer Verfälschung der Befunde der Normbereichsanalyse führen“ (Müller 1994, 190). 134 Dazu Lautmann, Rechtstheorie 1973, 57, 59 f.; ders. 1973a, 46; Sack 1975, 352; Limbach, ZfResoz 1988, 155, 158; Hensche, Rechtstheorie 1998, 103, 117 f.; Müller 1994, 353. Der bisweilen sehr grundsätzliche Dissenz zwischen den Lagern kriminologischer Theorien ist dafür bedeutungslos, da er weniger widersprüchliches als verschiedenes empirisches Material generiert (vgl. auch Scheffler 1987, 60 f.).

3. Kap.: Rechtsgewinnungsverfahren

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rechtsstaatlich begründeten Maßstäben genügt. Auch aus Sicht der Strukturierenden Methodik handelt es sich hierbei vorwiegend um jene Rechtsgewinnungsregeln, die als klassische canones seit langem anerkannt sind (II.2.a)). Der Strukturierende Ansatz liefert dafür allerdings nicht nur eine eigenständige Herleitung, sondern auch einige neue Akzente. Daher weist ein Auslegungsprojekt, das – wie die hiesige Untersuchung – nach dieser Methodik vorgeht, einige Besonderheiten auf135. Damit ist vor allem die ausdrückliche Berücksichtigung der einschlägigen Sachdaten in der Normbereichsanalyse gemeint (II.3.). Aber auch die Normtextbearbeitung hat einen charakteristischen Zug, weil sie sich zurückhaltend gegenüber jeder freien Wertung zeigt und eine strikte Textorientierung bevorzugt. Dies kommt in den besonderen Anforderungen an die teleologische Argumentation (II.2.b)) und in der limitierten Verwendung von Präjudizien (herrschenden Meinungen; II.2.c)) ebenso zum Ausdruck wie in einem realistischen Konzept der Wortlautgrenze (II.2.d)) oder in den Vorrangregeln bei auftretenden Auslegungswidersprüchen (II.1.).

135 Diese Besonderheiten kommen in der anschließenden Untersuchung allesamt auch zum Tragen – ohne dass dies stets mit einem ausdrücklichen Rückverweis gekennzeichnet wird.

142

Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

4. Kapitel

Systematische Rahmenstruktur von nemo tenetur In den beiden Eingangskapiteln dieser Arbeit wurde darauf hingewiesen, dass die nemo-tenetur-Debatte darunter leidet, die zahlreichen selbstbezichtigungs-relevanten Vorschriften noch nicht in eine klare Systematik gebracht zu haben. Allzu oft verhält man sich widersprüchlich, wenn es gilt, die Selbstbelastungsfreiheit in die internormative Beziehung zwischen Prozessnormen und Strafgesetz und in deren jeweiliges Verhältnis zum Verfassungsrecht einzubinden. Die Fülle der einschlägigen Normen bildet aber nur dann ein geordnetes Gefüge, wenn man die Anschlüsse und Spielräume einkalkuliert, die dem rechtsstaatlich organisierten Aufeinandertreffen verschiedener Teilrechtsgebiete das Gepräge geben. Deshalb ist das folgende Kapitel diesen grund- und strafrechtstheoretischen Verhältnissen gewidmet. Es setzt aus ihnen einen rechtssystematischen Rahmen zusammen, in dem sich die Konkretisierung des nemotenetur-Satzes bewegen muss.

I. Vielstimmigkeit der nemo-tenetur-Rechtsquellen Der Satz „nemo tenetur se ipsum accusare“ ist bis heute ohne förmliche Gesetzeskraft. In der nemo-tenetur-Formel steckt keine eigenständige Rechtsnorm. Um normative Wirkungen erzielen zu können, ist eine Positivierung indes unverzichtbar. Der Norminterpret darf nur solche Selbstbelastungsfreiheiten anerkennen, die aus einer geltenden Vorschrift hervorgehen. Auch eine normativ gedachte Formulierung stellt ohne zugrunde liegenden Normtext keinen Rechtssatz dar. Als einfacher Sinneinheit, und sei sie noch so lange überliefert (und gar von naturrechtlicher Abstammung1), fehlt es dem nemo-tenetur-Satz an Rechtsverbindlichkeit. Soll dem Bedeutungsgehalt „der“ Selbstbelastungsfreiheit eine verpflichtende Wirkung zukommen, bedarf es also einer positivierten Rechtsgrundlage, die außerhalb des nemo-tenetur-Spruchs liegt2. 1 Die Hinweise auf nemo tenetur als „nahezu naturrechtlichen Grundsatz“ (Eser 1974, 137; vgl. auch Welzel, JZ 1958, 494, 496) rekurrieren auf eine dahingehende ideengeschichtliche Herkunft (dazu Fn 120 und 134 in Kap. 6), ohne das „naturrechtliche Wesen“ mit einem Rechtsgrundlagencharakter gleichzusetzen. Angesichts der Unergründlichkeit des naturrechtlich Gültigen befände man sich sonst auch in erheblicher Distanz zum rechtstheoretischen state of the art (dazu zusammenfassend Hassemer 1988; Müller 1994, 94 ff., 106 ff.; Rüthers, 1999, Rn 268; Luhmann 1997, 507 ff.). Das Verfassungsrecht, das trotz seiner Offenheit ein ungleich rationaleres Arbeiten erlaubt, sperrt den Rückgriff auf eine höhere Vorrechtlichkeit (vgl. Müller 1986, 130). 2 M.a.W.: Nemo tenetur ist nicht selbst eine Norm, sondern muss auf einem der formellen Gesetze beruhen. Deren Spektrum ist beschränkt (vgl. etwa Röhl 2001, 517 f.; Rüthers 1999,

4. Kap.: Systematische Rahmenstruktur

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Nochmals (da diese Notwendigkeit nicht genug unterstrichen werden kann): Sämtliche Einzelaspekte der Selbstbelastungsfreiheit müssen einer Rechtsquelle „zurechenbar“ sein3. Falls es an einer gesetzlichen Basis mangelt, kann es auch keine Rechtswirkungen geben. Ebenso wenig, wie der Norminterpret befugt ist, sich über einen vorhandenen Normtext hinwegzusetzen (ihn zu missachten, zu übergehen, methodenwidrig zu behandeln), darf er eine Regelung ohne Textgrundlage erschaffen. Eine Rechtsnorm, die der juristische Funktionsträger frei kreiert – der er gewissermaßen einen fiktiven Normwortlaut unterschiebt, die den leeren Platz der fehlenden Vorschrift ausfüllt – ist irregulär4. Freilich liegt es keineswegs fern, genau in dieser Manier die Nicht-Existenz eines speziellen nemo-tenetur-Gesetzes zu überspielen. Mit Bedacht auf die traditionelle Anerkennung der Selbstbelastungsfreiheit könnte man nämlich versucht sein, diese selbst (also „nemo tenetur“ in seiner rechtssprichwörtliche Fassung) wie einen geltenden Normtext zu behandeln5. Doch alles, was daraus hervorginge, beruhte auf einer unerlaubten Rechtsnormerzeugung. „Nemo tenetur“ als rechtshistorische und -dogmatische Wendung ist demnach nicht mit einem förmlichen Gesetz zu verwechseln. Auch herrschende Meinung, Judikatur, und Schrifttum scheiden als nemo-tenetur-Grundlage von vornherein aus, da sie lediglich als Rechtsgewinnungshilfe fungieren, ohne die notwendige Normtextba-

Rn 220 ff.). Zwar ist ein abschließendes Rechtsquellengesetz undenkbar, aber zumindest das subkonstitutionelle Recht wird von der Verfassung festgelegt (vgl. Art 20 III, 97 GG). Zu diesen Fragen Röhl a.a.O., 534; Luhmann 1997, 523 ff.; vgl. auch ders. 1987, 207 ff.; 1999, 308 ff. 3 Vgl. dazu und zu den dafür zu wahrenden methodischen Standards das Vorkapitel. Dabei ist der Zurechnungs-Begriff nicht zufällig gewählt. Wenn man unter „Zurechnen“ einen Vorgang der Merkmalszuordnung oder -zuweisung versteht, der (relativ) eigenständig und vom Merkmalsträger nicht völlig determiniert ist, wenn also der Unterschied zu einem Vorgang der Merkmalswiedergabe oder -abbildung akzentuiert werden soll, ist er einschlägig. Es geht bei der Normkonkretisierung freilich, anders als bspw. bei der strafrechtlichen Zurechnung, um einen textlichen und keinen personalen Zurechnungsadressaten. 4 In beiden Fällen handelt es sich um Richterrecht. Die Strukturierende Rechtslehre behält die Richterrechts-Kategorie den Fällen irregulären Entscheidens vor (vgl. Müller 1986a, 25 u.ö.; ders./Christensen 2004, Rn 105 ff.), während man damit sonst den kreativen Entscheider-Anteil an der Rechtsgewinnung bezeichnet – freilich in der irrigen Annahme, darin liege ein Sonderfall (signifikant dafür die überkommene Unterscheidung von lückenfüllendem, gesetzeskonkretisierendem, gesetzesvertretendem und gesetzesersetzendem Richterrecht, bspw. bei Ossenbühl 1996, Rn 36 ff.). 5 Der Verdacht, dass die Selbstbelastungsfreiheit als selbstständiger Rechtssatz mit eigener, aus sich selbst heraus begründeter Geltung behandelt wird, drängt sich auf, wo man die Formel „nemo tenetur se ipsum accusare/prodere“ wie ein Textformular heranzieht und ihr ein Wortlautargument entnimmt (praktiziert bei Roxin, NStZ 1995, 465, 466; Verrel, NStZ 1997, 361, 415 f.; Torka 2000, 22, 49; Jäger 2003, 162; Jansen 2004, 136). Hierdurch wird sie unter dem Vorwand historischen Argumentierens zu einem Quasi-Normtext stilisiert – als ob nemo tenetur eine originäre Rechtsnorm sei, deren Gehalt man an ihrer tradierten Wortfassung erkennen könne.

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Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

sis substituieren zu können6. Deshalb führt es zu erheblichen Schwierigkeiten, dass der Gesetzgeber für die Selbstbelastungsfreiheit keinen eigenen Normtext „gemacht“ hat, sodass die Rechtsordnung gewissermaßen schweigt7. Nur ausnahmsweise könnte die nemo-tenetur-Formel selbst mit einer eigenständigen Rechtssatzqualität aufwarten (und als außergesetzlicher Normtext berechtigterweise am Anfang einer Normkonkretisierung stehen) – sofern sie sich nämlich als Gewohnheitsrecht qualifizieren ließe8. Wenn die nemo-tenetur-Formel die strengen Geltungsbedingungen gewohnheitsrechtlicher Rechtssätze erfüllt9, kommt sie als ungeschriebene Rechtsquelle doch in Betracht. Abgesehen von diesem Sonderfall, auf den später zurückzukommen ist, bleibt es aber bei der hier vorsorglich erhobenen Forderung, den nemo-tenetur-Satz auf einen (geschriebenen) Gesetzestext zurückzuführen und sich nicht mit seiner sinnspruchartigen Abfassung zu begnügen.

Man sollte all dies nicht für etwas Banales halten. Der gegenwärtigen Selbstbezichtigungs-Diskussion bereitet nämlich gerade dieser Problembereich manche Mühe. Nach Lage der Dinge geht sie zwar davon aus, dass die deutsche Rechtsordnung den nemo-tenetur-Satz kraft einer positivierten Rechtsquelle enthält, und sie legt sich dabei – durchaus zutreffend (unten II. in Kap. 7) – auf eine grundgesetzliche Kodifizierung fest10. Mangels einer konkret einschlägigen 6 Vgl. oben II.2.c) in Kap. 3. Eine ständige Rechtsprechung wird auch nicht dadurch zu einem geltenden Normtext, dass man sie kurzerhand zu Gewohnheitsrecht erklärt. I.Ü. können Gerichtsentscheidungen nur bereits bestehendes Gewohnheitsrecht feststellen und reproduzieren, aber nicht selbst erzeugen. Der starting point für neues Gewohnheitsrecht ist notwendig eine außerlegale Entscheidung, an der die Gesetzesbindung den Richter hindert (dazu Müller 1986a, 114 ff.). 7

Zu einer Typologie des normtextlichen Schweigens für das Verfassungsrecht vgl. Müller 1975, 172 ff. 8 Müller/Christensen 2004, Rn 193. Ungeschriebenes Recht ist nicht zu verwechseln mit dem, was Entscheidungsnormen gegenüber Normtexten an Mehr enthalten. Es ist vielmehr selbst eine Normtextform (vgl. auch Tomuschat 1972, 143 f.; Wolff 2000, 159 ff., 199 ff.) – allerdings nur, wenn es die Qualität von Gewohnheitsrecht hat (a.A. Wolff a.a.O., 404 ff., 417 ff., der als ungeschriebenes Recht auch das anerkennt, was vom Gesetzgeber stillschweigend mitgesetzt oder als selbstverständlich geltend vorausgesetzt wurde). 9 Namentlich: lang andauernde Übung; Überzeugung von deren Rechtmäßigkeit; Formulierbarkeit als Rechtssatz. Dazu etwa Kortgen 1993, 27 ff.; Rüthers 1999, 232 ff.; Ossenbühl 1996, Rn 42. Beachtliche Kritik bei Adomeit 1969, 53 ff.: Rechtsgeltungswille ungeeignet, eine Übung dem Recht gleichzustellen (einschränkend auch Tomuschat 1972; ausführlich Wolff 2000, 427 ff.). 10 Europäische Grundrechte können hier unberücksichtigt bleiben. Da nemo tenetur in den EUMitgliedsstaaten gewährleistet ist (vgl. den Überblick bei Alvarez Ligabue 2000, 46 ff.), hat der EuGH gewisse, dogmatisch freilich etwas eingetrübte Selbstbelastungsfreiheiten auch für die europäische Ebene anerkannt (Fn 227 f. in Kap. 1). Daran wird sich selbst dann nichts ändern, falls der derzeit aktuelle Entwurf einer EU-Verfassung (abgedruckt in EuGRZ 2003, 387 ff.) doch noch Wirklichkeit werden sollte. Die dann verbindliche Grundrechts-Charta kennt – wenn man nicht ihre allgemeinen Grundrechtsgewährleistungen fruchtbar machen will – nur in Art II-48 II ein spezielles Strafverteidigungsrecht. Nemo tenetur ist darin nicht eingeschlossen (vgl. auch Meyer/Eser, Art 48/20 ff.), weil sich diese Vorschrift strikt auf Art 6 III EMRK bezieht, wo die Selbstbezichtigungsfreiheit nicht geregelt wird. Verfassungsrang dürfte nemo tenetur aber als allgemeiner ge-

4. Kap.: Systematische Rahmenstruktur

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Regelung muss diese Rechtsgrundlage aber unspezifisch sein, weshalb sie sich wiederum nicht ohne weiteres bestimmen lässt. Geklärt wird dadurch allerdings ohnehin nur ein erster Teil des Problems. Das 1. Kapitel hat nämlich gezeigt, dass nemo tenetur mehrere rechtliche Gesichter hat, weil sein Normbereich von zahlreichen subkonstitutionellen Bestimmungen beeinflusst wird. Da nun diese einfach-rechtlichen Vorschriften den effektiven Befugnisraum mitgestalten, treten die realiter herrschenden Selbstbezichtigungsfreiheiten gewissermaßen zwischen mehreren über- und nebeneinander liegenden Rechtsgrundlagen hervor. Damit dabei Ordnung herrscht, muss für Abstimmung Sorge getragen werden.

II. Selbstbelastungsfreiheit im hierarchischen Teil des Normnetzwerks 1. Das Verhältnis von Grundrechten und Gesetz a) Nachrang und Grundrechtsorientierung einfachen Rechts Im Allgemeinen wird das Verhältnis von Grundrechten und Gesetzesrecht als ein hierarchisches begriffen. Das Grundgesetz gibt sich, gestützt auf seine konstitutionelle Derogationsmacht (samt verfassungsgerichtlicher Normverwerfungskompetenz), gegenüber dem einfachen Recht zunächst einmal als Instanz der Superordination11. Indem sich das einfache Recht den übergeordneten Maßgaben fügen muss, realisiert sich der verfassungsrechtliche Vorrang12. Diese Sichtweise ist der Kriminalrechtswissenschaft ganz sicher nicht neu. Schon seit geraumer Zeit unterzieht sie die strafprozessualen Grundrechtseingriffe der ver-

meinschaftsrechtlicher Rechtsgrundsatz genießen (vgl. Art I-7 III) – allerdings in der Fassung der EuGH-Judikatur (an der sich i.Ü. auch die Schweige- und eingeschränkten Mitwirkungsverweigerungsrechte nach Art 29 II, 31 II des – bei z.B. Kühne 2003, Rn 1481 abgedruckten – Corpus Juris ausdrücklich orientieren; vgl. dazu Delmas-Marty 1998, 72). Dies alles ist für ein deutsches Rechtssubjekt in der Konfrontation mit Maßnahmen der EU von Belang. Werden diese von bundesdeutschen Behörden exekutiert, wenden sich diese Rechte auch gegen den deutschen Staat. Dennoch brauchen sie hier nicht weiter berücksichtigt werden, weil sie eben nicht zur deutschen Rechtsordnung zählen, auf die sich die hiesige Untersuchung beschränkt. 11 Streng genommen muss die Verfassung ihren Vorrang, den sie nicht auf höheres Recht zurückführen kann, selbst festlegen (vgl. Art 1 III, 20 III, 82 I 1, 100 I GG). Andererseits verfügt sie über diese Rechtsmacht nur unter der Voraussetzung des eigenen Primats. Ob nun deshalb der Verfassungsvorrang unterstellt werden muss oder ob man ihn anderweitig begründen kann, ist strittig (zusammenfassend Jestaedt 1999, 13). 12 Hierzu etwa BVerfGE 28, 243, 260 f.; Dreier/Dreier, Art 1 III/1, 37 ff.; Wahl, Staat 1981, 485 ff.; ders. NVwZ 1984, 401 ff.; Morlok 1988, 90; Ossenbühl 1996, Rn 26 f.; Bethge, VVDStRL 58 (1998), 7 ff.; Jestaedt 1999, 14 f.; Meßerschmidt 2000, 16 ff.; Wolff 2000, 279 ff.

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Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

fassungsrechtlichen Kontrolle13, und zunehmend misst sie an diesen Kriterien auch das materielle Strafrecht14. Die bestimmende Wirkungsart in dieser vertikalen Normbeziehung ist zunächst einmal unnachgiebig: Über unzulänglichem Straf- und Strafverfahrensrecht schwebt das Damoklesschwert der partiellen oder vollständigen Eliminierung. Immerhin wird jedenfalls eine inhaltlich ungenügende Norm durch eine verfassungskonforme Auslegung oftmals zu retten sein (denn da sich ein Normtext in aller Regel unterschiedlich lesen lässt, kann und muss nach dieser rechtsmethodischen Vorzugsregel der grundgesetzkonformen Bedeutungsvariante der Vorzug gegeben werden15). Dessen ungeachtet wirkt sich, schaut man genauer hin, die Nachrangigkeit des Straf- und Strafprozessrechts aber auch subtiler und nicht erst bei einer Kollision mit den verfassungsrechtlichen Maßgaben aus. Grundrechtsgehalte treten vielmehr schon im Schrankenvorfeld zutage; sie sickern gleichsam von oben herab in das einfache Recht, um es hernach geflechtartig zu durchziehen. Dieses weichere vertikale Normdurchdringen verdankt sich einer solchen Interpretation subkonstitutioneller Bestimmungen, die in der systematischen Auslegungsmethode jene Impulse aufnimmt, die von den Grundrechten ausgehen16. Mit der Aus-

13 Nicht nur die Strafverhängung, sondern auch Maßnahmen während der prozessualen Strafherstellung greifen in private Interessen und Güter ein. Das Strafverfahrensrecht wickelt den Prozess nicht nur technisch ab, sondern erzeugt eigene materielle Wirkungen. Justament darin besteht sein „doppelfunktioneller Charakter“ (Niese, ZStW 63, 1951, 199, 215 ff., dazu etwa auch Neumann, ZStW 101, 1988, 52, 61; Bergner 1998, 107 ff.). Dies unterliegt der Verfassungsbindung, da Grundrechte vor materiell-rechtlichen ebenso wie vor prozessualen Beeinträchtigungen schützen. Vgl. dazu – neben der notorischen Rede vom „Strafprozessrecht als konkretisiertem oder angewandtem Verfassungsrecht“ (stellvertretend Lagodny, StV 1996, 167) – bspw. LR/Rieß, Einl. G/1 ff.; Niemöller/Schuppert, AöR 1982, 387, 389; Degener 1985; Amelung, JZ 1987, 737, 738; Rogall 1992; Roxin 1998, § 2/1 ff.; Sax 1959, 966 ff.; Hill 1988, Rn 81; Tiedemann 1991, 24, 56 f.; Duttge 1995; Mertens 1996, 17; Perschke 1997; Jahn 1998, 120 f.; Rzepka 2000, 232 ff.; Gusy, StV 2002, 153, 156 f. 14 Vgl. v.a. Paulduro 1992; Lewisch 1993; Lagodny 1996; Appel 1998; Weigend 1999; Kudlich, JZ 2003, 127 ff.; Böse 2003; grundsätzliche Skepsis hingegen noch bei Arzt 1989, 848. 15 Bspe. bieten die Entscheidungen zu Untersuchungshaft (BVerfGE 19, 342), Lauschangriff (BVerfGE 109, 279) und Geldwäsche (BVerfGE 110, 226). Für die verfassungskonforme Auslegung ist kein Raum, wenn auf rechtsmethodisch zulässigen Wegen gar keine verfassungskonforme Interpretationsvariante zustande kommt. Zum Ganzen Müller/Christensen 2004, Rn 100 ff.; Zippelius 1976, 109 ff., 115 ff.; Stern/Sachs 1988, 1317 f.; aus dem strafrechtlichen Schrifttum vgl. etwa Höpfel, JBl 1979, 505, 511; Peters 1985, 91; LK/Tröndle (10. Aufl.), § 1/51; AK-StPO/Loos, Einl. III/18; Sch/Sch/Eser, Vorbem § 1/30; Baumann/Weber/Mitsch 2003, § 9/70. 16 Zu dieser Einordnung Müller/Christensen 2004, Rn 104; Kudlich, JZ 2003, 127, 130. Die grundrechtsorientierte Auslegung hat also den Rang eines relativ normtextnahen Konkretisierungselements (zur Rangfolgenhierarchie der canones oben II.1. in Kap. 3).

4. Kap.: Systematische Rahmenstruktur

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strahlungswirkung der Grundrechte17 wird der Normtextbearbeitung also eine weitere Orientierungsgröße hinzugefügt. Anders als im Strafprozessrecht, wo eine grundrechtsorientierte Auslegung schon gang und gäbe ist18, wurde sie indes von der Strafrechtsdogmatik bislang kaum gepflegt19. Diese Selbstbeschränkung kann in einer verfassungsgeprägten Rechtsordnung nicht zufrieden stellen. Vielmehr muss auch der Strafnorminterpret das Gewicht derjenigen Grundrechtspositionen gewahren, auf die seine aktuelle Normkonkretisierung einwirkt. So obliegt ihm eine Kontrollerwägung, die er im Hintergrund stets parat zu halten und in atypischen Fällen auch zu explizieren hat und bei der er sich vergewissert, dass die Verkürzung grundrechtlicher „Täter“-Freiheiten mit Bedacht auf das jeweilige Schutzinteresse des „Opfers“ aufrechtzuerhalten und nicht etwa ob einer etwaigen Sonderlage zurückzunehmen ist20.

b) Grundrechtsausgestaltung durch einfaches Recht Nun darf neben den eben angerissenen Erscheinungsformen grundrechtsseitiger Gesetzeseinwirkung nicht die harmonische und sich kooperativ ergänzende Beziehung verblassen, in der beide Normebenen ebenfalls stehen. Veranlasst wird diese Verbindung vornehmlich durch die hochgradig vage Gestalt der Grundrechtsnormen, die einen unausgesprochenen Bedarf an subkonstitutioneller Ausformung und Zuspitzung impliziert21. Dass das Grundrechtsreglement ohne Transformationsleistungen allzu schwerfällig und seine Schutzstruktur ohne näher verdeutlichende Vorschriften kaum handhabbar wäre, macht nämlich eine gesetzliche Grundrechtsausgestaltung unumgänglich22.

17 Vgl. etwa Morlok 1988, 90; Stern/Sachs 1988, 923 ff.; Dolderer 2000, 228 ff.; Gellermann 2000, 41; Haubrich 2001, 29; skeptisch Lübbe-Wolff 1988, 122. 18

Es firmiert dort als so genanntes Fairnessprinzip. Dazu unten II.2.c)bb) in Kap. 7.

19

Vgl. aber die Dogmatik der Ehrschutzdelikte und i.Ü. auch oben II.2.b)aa) in Kap. 3.

20

Ähnlich neben Kudlich (2004, 272 ff.) v.a. auch Lagodny (1996, 464 ff.), der zutreffend darauf hinweist, dass gelegentlich explizite Öffnungsklauseln für die grundrechtsorientierte Auslegung existieren (z.B. § 193 StGB), dass ihr der Gesetzgeber durch die abschließende Regelung atypischer Fälle aber auch die Grundlage entziehen kann (z.B. bei § 248a StGB). Bemängeln muss man indes, dass Lagodny die grundrechtsorientierte Auslegung in eins setzt mit einer teleologischen Reduktion und damit suggeriert, es gäbe etwas Reduzierbares, das schon existiert, bevor es im Hinblick auf den Normzweck verringert werden könnte (dazu oben I. in Kap. 3). 21 Nicht gemeint ist damit jene fundamentale (oben im 3. Kapitel skizzierte) Bedingung, wonach der Gesetzgeber, der die Transformation ins einfache Recht vornimmt, beim hierfür unumgänglichen Grundrechtsdeutungsvorgang wie jeder andere Verfassungsinterpret seine Eigenkreativität aufbringt (dazu Jestaedt 1999, 359 f.; Meßerschmidt 2000, 117). 22 Zwar sind grundrechtliche Abwehransprüche nicht auf eine Umsetzungsentscheidung angewiesen, weil sie Ansprüche auf Beibehaltung des status quo unmittelbar entwickeln (etwa Wahl/Masing, JZ 1990, 553, 559), doch steuert das verdeutlichende Gesetz seinen Teil zur „Absorption von Unbestimmtheit“ (Morlok 1988, 115 ff.) der fraglichen Verfassungsnorm bei (vgl.

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Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

An sich wird dergleichen bereits durch die schlichte Eingriffsvornahme geleistet, denn in dem Maße, in dem die Verfassung legislative Spielräume für die statthafte Beschränkung von Grundrechten belässt23, realisiert deren Wahrnehmung einen eigenen einfach-rechtlichen Beitrag zur Konkretisierung effektiver Schutzwirkungen24. Allerdings handelt es sich hierbei um keine echte Grundrechtsausgestaltung. Durch die eingriffsbegleitende Zusammenarbeit von freiheitsbegründendem Grundrecht und freiheitsbegrenzendem Gesetz wird deren hierarchisch strukturiertes Grundverhältnis vielmehr in einem Nebeneffekt nur aufgelockert25.

Was mit einer nahezu ebenbürtigen, arbeitsteiligen Gesetzesmitwirkung gemeint ist, findet vielmehr im Vorfeld von Schutzbereichseingriffen statt. Es fußt darauf, dass grundrechtliche Berechtigungen bisweilen auf einfachrechtliche Beiträge geradezu angewiesen sind26. Eine solche gesteigerte Öffnung hin zum einfachen Recht weisen vornehmlich die rechtsgeprägten Grundrechte (etwa Art 14 I GG) auf, deren Schutzobjekte nicht naturwüchsig, sondern nur dank einer gesetzlichen Infrastruktur existieren, sodass die Verfassungsgarantien ohne dazu Häberle 1983, 184; Bethge, Staat 1985, 351, 364 f.; Müller 1990, 24, 90; Isensee 2000, Rn 139; Lerche 1961, 106 f.; ders. 2000, Rn 41). 23

Das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Eingriffsschranke belässt dem Gesetzgeber beträchtliche Bewegungsfreiheiten, genauer: in Tatsachenfragen erhebliche Einschätzungsprärogativen und im Wertungsbereich der Angemessenheitsstufe breite Abwägungsspielräume (näher zum entsprechenden verfassungsrechtlichen status quo Raabe 1998, 332 ff., 475 ff.; Meßerschmidt 2000, 727 ff., 881 ff.; Alexy, VVDStRL 61 (2002), 17 ff., 27 f.; am hiesigen Gegenstand unten Kap. 10). Terminologisch sollte man deshalb i.Ü. die „Grundrechtsbegrenzung“ (i.S.v. Begrenzbarkeit) von der „Grundrechtsschranke“ (i.S. des spielraumwahrnehmenden, legitimierten Eingriffsaktes) unterscheiden (vgl. Heß 2000, 111 m.w.N.). Das ist besonders dringlich, wenn die Begrenzbarkeit des Grundrechts nicht auf einem Grundrechtsvorbehalt, sondern auf kollidierendem Verfassungsrecht beruht. Hier sind die legislativ tatsächlich gesetzten Grundrechtsschranken noch schwerer vorgreiflich zu verorten (wegen der Unvorhersehbarkeit der fraglichen Kollisionsfälle und der jeweils individuellen Abwägungen; dazu etwa Lerche 1961, 130 ff.; Huber 1991, 215 ff.; Arnauld 1999, 127; Gellermann 2000, 24 f.; Stemmler 2005, 120 ff.). 24 Wenn der Gesetzgeber seine Spielräume wahrnimmt und einen gerechtfertigten Eingriff auswählt, konstituiert er durch die so gezogene Grundrechtsschranke die grundrechtliche NettoFreiheit mit, ohne dabei verfassungsrechtlich vollständig determiniert zu sein (Häberle 1983, 190 f.; vgl. auch Jestaedt 1999, 29 f.). Solche Gesetzgebung ist Eingriff und Ausgestaltung zugleich (ebenso wohl Alexy 1994, 302; Eckhoff 1992, 16; generell zu den fließenden Übergängen zwischen beiden einfachrechtlichen Einwirkungsformen Cornils 2005, 666 ff.). 25 Ein Unterschied zwischen dem Eingriff und echten Grundrechtsausgestaltungen (allgemein zu ihrer Artverschiedenheit Alexy 1994, 300 ff.; Bethge, VVDStRL 57, 1998, 7, 29; Gellermann 2000, 18 f., 54 ff.) besteht darin, dass diese auf der zurückgenommenen Direktionswirkung der Verfassung (= strukturelle Spielräume) beruhen, während der Spielraum der Eingriffsverhältnismäßigkeit daneben auch aus epistemischen Grenzen in empirischen und Wertungsfragen hervorgeht. Hier könnte das BVerfG gar keine weiterreichenden Kontrollmaßstäbe anlegen (was es wegen des Zwecks der Verfassungsbeschwerde und der Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit ohnehin nicht darf; dazu Jestaedt, DVBl 2001, 1309, 1315 f.; Alexy VVDStRL 61, 2002, 16 ff.). 26 Dazu bereits Leisner 1964; Huber 1972; gerafft zur nachfolgenden Typologie Lerche 2000, Rn 39 ff.; Isensee 2000, Rn 137 ff.; Jestaedt 1999, 29 f.; Pieroth/Schlink 2003, Rn 209 ff.; Hesse 1995, Rn 303 ff.

4. Kap.: Systematische Rahmenstruktur

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eine solche subkonstitutionelle Zuarbeit ins Leere liefen27. Ebenso gewichtig ist der legislative Ausgestaltungsbeitrag bei der Verwirklichung objektivrechtlicher Grundrechtsgehalte (nur dass er hier auf der Rechtsfolgenseite logiert). So obliegt es dem Gesetzgeber etwa, die aus den grundrechtlichen Bestimmungen zu entnehmenden staatlichen Schutz- oder Leistungspflichten konkret umzusetzen. Von der Verfassung wird sein Auswahlermessen bei dieser so genannten normativen Konkretisierung nur geringfügig verengt28. Neben Konstellationen, in denen der Staat grundrechtliche Positionen vor privatseitiger Verletzung zu bewahren sucht (objektive Schutzpflicht)29, betrifft das hauptsächlich die Ausgestaltung eines „Grundrechtsschutzes durch Verfahren“. Zugrunde liegt dem die Selbstverständlichkeit, dass Grundrechte effektiv realisierbar sein müssen. Anlass zur entsprechenden Vorsorge besteht im strafprozessualen Kontext gleich in doppelter Hinsicht. Grundrechtsbelangen kann hier nicht nur durch Eigenwirkungen des Verfahrensganges zugesetzt werden (Begleiteingriffe), sondern ebenso durch ein rechtswidriges Verfahrensergebnis. Deshalb muss das einfache Gesetz einmal die verfahrensverursachten Eingriffe grundrechtsfreundlich regeln und dem Verfahren zum anderen eine Ordnung geben, die der prozessimmanenten Gefahr eines rechtswidrigen Ausgangs fürsorglich begegnet30. Dabei hat das Verfahrensrecht aber relativ freie Hand. Wie es konkret einzurichten ist, legt die Verfassung nicht fest31.

Obwohl der Anteil, den der Gesetzgeber hier an den konkreten Grundrechtseffekten hat, gerade deshalb sein eigener Beitrag ist, weil das Grundgesetz sein Ausgestaltungshandeln nicht näher determiniert32, bewegt er sich dabei nicht frei von jeder Verfassungsbindung33. Sicherlich hat es etwas Zirkuläres, dass 27

Vgl. Lerche 1961, 107 ff.; Nierhaus, AöR 1991, 72, 90 ff.; Alexy 1994, 303; Gellermann 2000, 21 ff., 90 ff.; Dreier/Dreier, Art 1 III/58; kritisch zur gängigen Begründung Cornils 2005, 518 ff. (jedenfalls ist der Normbereich bei diesen Grundrechten ganz oder teilweise rechtserzeugt, vgl. oben II.3. in Kap. 3 sowie Müller 1990, 65 f.). 28 Vgl. etwa BVerfGE 88, 203, 254; Bethge, Staat 1985, 351, 376 f.; Wahl/Masing, JZ 1990, 553 ff.; Dietlein 1992, 70 f.; Unruh 1996, 23 f.; Holoubek 1997, 259, 282 f.; Gellermann 2000, 25 f., 44 f., 232 ff., 243 ff.; Dolderer 2000, 199; Alexy, VVDStRL 61 (2002), 17. 29

Dazu unten IV. in Kap. 9 und III. in Kap. 10.

30

Zu dieser Herleitung, die jedenfalls ein breites Segment des Grundrechtsschutzes durch Verfahren abdeckt, vgl. genauer Alexy 1994, 440 ff.; Held 1984, 141 ff.; Holoubek 1997, 329 ff.; Bergner 1998, 107 ff.; Gellermann 2000, 261 ff.; Schmidt-Aßmann 1996, Rn 15 ff. 31

Stellvertretend: BVerfGE 56, 216, 236; 60, 253, 295; 77, 170, 229 f.; Held 1984, 175 ff.; Roßnagel, JuS 1994, 927, 929; Holoubek 1997, 351; Schmidt-Aßmann 1996, Rn 12; Gellermann 2000, 266, 327; Dolderer 2000, 248; Lerche 2000, Rn 43. Generell steigen mit dem besonderen Gewicht eines drohenden Grundrechtseingriffs und/oder fehlenden Möglichkeiten nachträglichen Rechtsschutzes die Anforderungen an die Verfahrensgestaltung (vgl. BVerfGE 84, 34, 46; NJW 1995, 1606). 32 33

Spielräume verkörpern Gestaltungskompetenz (vgl. Borowski 1998, 159).

Von selbst versteht sich dies in jenen Fällen, in denen ein Ausgestaltungsakt unversehens umschlägt und schutzbereichsverkürzend wirkt. Er muss dann den grundrechtlichen Eingriffsschranken genügen (vgl. etwa Müller 1990, 24 f., 66 f., 90; Winkler 2000, 196).

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Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

grundrechtliche Freiheitspositionen, die ohne die gesetzgebende Gewalt des Staates gar nicht substanziell bestehen, eben diese Gesetzgebung mitstrukturieren34, doch ficht dies den hierarchischen Vorranganspruch der Verfassung (Art 1 III) nicht an35. Vielmehr muss nach jenen grundrechtsspezifischen Ordnungsvorgaben gesucht werden, die dem Gesetzgeber bereits innerhalb des Ausgestaltungsverhältnisses begegnen36. Elementar ist etwa sein grundrechtlicher Auftrag, überhaupt tätig zu werden. Die übrigen Anforderungen können sich dann sowohl zwischen den einzelnen Grundrechten als auch danach unterscheiden, ob es um einen Orientierungshorizont für verdeutlichende Gesetze, um Schutzbereichskonstituierung oder um Rechtsfolgenumsetzung geht37. Als generelle Leitlinie für all diese Typen zeichnet sich in der verfassungsrechtlichen Diskussion indes ein gleichsam mittleres Anspruchsniveau ab, nach dessen Maßgabe dem einfachen Recht wenigstens eine ausgewogene – keine optimale, aber mehr als die nur minimale – Grundrechtsausgestaltung obliegt38.

2. Nemo tenetur zwischen Grundrecht und Gesetz a) Grundrechtsprägung In den bisherigen Untersuchungen zur Selbstbelastungsfreiheit dominiert jene Sichtweise, die vorzugsweise das hierarchische Verhältnis zwischen Grundrecht und Gesetz in den Blick nimmt39. Im Detail stößt man jedoch vielfach auf

34

Vgl. Bethge, Staat 1985, 351, 364 f.; Müller 1994, 186; Nierhaus, AöR 1991, 72, 74 f.

35

Dezidiert Wahl, Staat 1981, 485, 513 u.ö.; Held 1984, 108.

36

Die „einzelgrundrechtlichen Sollensanordnungen sind es, denen der ausgestaltende Gesetzgeber verpflichtet ist“, gemäß einem gemeinsamen „Grundmuster eines zwar verfassungsrechtlich dirigierten, aber nur begrenzt determinierten Verhaltens“ (Gellermann 2000, 294 ff. mit den Zitaten a.a.O., 308, 310; vgl. auch Nierhaus, AöR 1991, 72, 81 f.; Kokott 1993, 70; Arnauld 1999, 36 f.; Dreier/Dreier, Art 1 III/58). 37

Dahingehende Details werden hier nur angesprochen, soweit sie für die Selbstbelastungsfreiheiten relevant sind (unten I.4.b)bb) und III. in Kap. 10 und II.3.a) in Kap. 11). 38 Dazu eingehend Gellermann 2000, 288 ff., dem zufolge es grundrechtsspezifische Mindestanforderungen gibt, bei deren Nichterfüllung die gesetzgeberische Ausgestaltung verfassungswidrig ist (a.a.O., 314 ff. m.w.N.). Darüber hinaus müsse das Verfahrensrecht die beteiligten Interessen durch angemessene Grundrechtsfortschreibungen berücksichtigen (a.a.O., 328 ff. m.w.N.). Substanziellere Maßstäbe sind aber an die Umgestaltung einer schon bestehenden Ausgestaltung anzulegen (a.a.O., 402 ff.). 39 Repräsentativ hierfür (und in der Darstellung signifikant) neben Renzikowski, JZ 1997, 710 ff. insbesondere Nothhelfer 1989, der zunächst (a.a.O., 10 ff.) die verfassungsrechtliche Grundlage der Selbstbelastungsfreiheit sucht und sodann (a.a.O., 88 ff.) prüft, inwieweit die „einfachgesetzliche Bewältigung“ deren Anforderungen entspricht (freilich weist auch er auf einen legislativen Gestaltungsspielraum hin, a.a.O., 88; ebenso etwa Günther, GA 1978, 192, 194, 200 f.).

4. Kap.: Systematische Rahmenstruktur

151

Konfusionen, die das rechtsstaatliche Übereinander von Gesetzes- und Verfassungsetage verkehren. Immer wieder erheben sich Stimmen, die zwar verbal für den nemo-tenetur-Satz einen Verfassungsrang reklamieren, um ihn in der Sache aber als Gesetz zu behandeln. Man bekennt sich dann emphatisch zum grundgesetzlichen Status der Selbstüberführungsfreiheit, doch deren Inhalte bestimmt man allein mittels einfachen Rechts40. Einer solchen Haltung entspringen etwa die Thesen, – dass die passivitätsgetragene Selbstbelastung durch nemo tenetur nicht geschützt werde, weil sich diese Gewährleistungsgrenze aus der Beweiseinbindung des Beschuldigten in §§ 81 ff., 94, 102 StPO ergebe41, – oder dass nemo tenetur keine Freiheit vor irrtumsbedingter Selbstbezichtigung gewähre, weil die verdeckte Fernmeldeüberwachung (§§ 100a, 100b StPO)42 zulässig sei und von § 136a StPO nur die qualifizierte Täuschung verboten werde43. Beim Selbstbelastungs-Strafrecht kommt diese Diktion ebenfalls zum Tragen, vornehmlich in der vielfach kolportierten Devise, dass nemo tenetur nicht die Begehung neuen Unrechts erlaube44. Wollte man das beim Wort nehmen, würde damit dem Strafrecht trotz seines subkonstitutionellen Ranges die Kraft zugeschrieben, durch seine Unrechtsdefinitionen den Zuschnitt grundrechtlicher Schutzbereiche abzustecken. Mit der Verfassungsprägung der Selbstüberführungsfreiheit kommt ein solcher Ansatz (der sich durch andere Beispiele weiter illustrieren ließe45) freilich nicht überein. Strafrecht definiert keine BruttoFreiheiten, sondern verengt jene auf ihre definitive Netto-Fassung.

40 So zuletzt wieder Arzt, JZ 2003, 456, 457, dem es um den nemo-tenetur-Satz „in seiner älteren und schärferen strafprozessrechtlichen Form“ zu tun ist (Herv. R.K.). 41 Implizit z.B. Rogall 1977, 31 ff., 124 ff. und ausdrücklich Brenner 1994, 66; Ellbogen 2004, 89, die zunächst die beweisrechtliche Stellung des Beschuldigten erheben und sie sodann als nemo-tenetur-Kontur generalisieren. Noch deutlicher Aselmann 2004, 186, 190: Aktive Verdunklung, Lügen usw. seien von nemo tenetur nicht erfasst, weil das einfache Recht (strafrechtliche Verbote, U-Haft bei Verdunklungsgefahr) dergleichen zu verhindern suche. 42 So BGHSt 42, 139, 153; Krey 1993, Rn 169; Popp, NStZ 1998, 95; Lesch, GA 2000, 355, 362; Jäger 2003, 165. 43

Vgl. Fn 48 in Kap. 1.

44

Vgl. BGHSt 3, 18, 19; 47, 8, 15; wistra 1993, 66, 68; NJW 2002, 1134, 1135; 2005, 763; wistra 2003, 429; NStZ 2005, 517; Franzen/Gast/Joecks 2001, § 393/37; ders., wistra, 1998, 86, 91; ders. 2003, 460; H/H/Sp/Hellmann, § 393 AO/28; ders., JZ 2002, 617, 619; Rogall 2003, 475. 45 Bspw. variieren die einfach-rechtlichen Schweigerechte der Beschuldigten und Zeugen, wobei über deren Zuteilung abermals das einfache Recht (nämlich die Beschuldigten- und Zeugenbegriffe) befinden. Ohne dass dies problematisiert würde, wirkt die Prozessnorm dadurch in die verfassungsrechtliche Selbstbelastungsfreiheit hinein.

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Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

Dass dies keineswegs nur aus Unachtsamkeit vermengt wird, sondern zuweilen auch auf einer mutwilligen Strategie beruht, bezeugen jene Vorschläge, die für die Deutung des nemo-tenetur-Satzes eine „induktive Vorgehensweise“ favorisieren. Die Verfechter dieser Methode wollen sich mit einer verfassungsrechtlichen Grundlegung der Selbstbelastungsfreiheit nicht weiter aufhalten, ließe sich von dieser Ebene die disparate Verfahrenseinbindung von Beschuldigten doch ohnehin nicht steuern. Vorzuziehen sei es, die konkreten Konfliktlagen und Wertungsgesichtspunkte fallanalytisch zu untersuchen und vermittels dieser originär strafprozessualen Gesichtspunkte die verbotene von der erlaubten Instrumentalisierung zu unterscheiden. Nemo tenetur erhalte seine Konturen damit von unten heraus; allenfalls nominell will man sich des Verfassungsrechts rückversichern und nemo tenetur nach außen hin als Grundrecht titulieren46. Die berechtigte Skepsis, die das Schrifttum angesichts dessen befällt, beruht schon darauf, dass dieses induktive Verfahren die Verfassungsmäßigkeit des herangezogenen einfachen Rechts schlicht unterstellt und sich einer entsprechenden Überprüfungsmöglichkeit begibt47. Daran, dass dies ein Mangel ist, kann auch die verfassungsausgestaltende Funktion des Strafprozessrechts (oben 1.b)) nichts ändern. Der Versuch, aus ihm deshalb Rückschlüsse auf die grundgesetzliche Ebene der nemo-tenetur-Regelung zu ziehen48, würde schon daran scheitern, dass sich das selbstbezichtigungsrelevante Verfahrensrecht nicht über einen Leisten schlagen lässt. Gegenüber der verfassungsrechtlichen Grundlage kann es schutzbereichsneutral oder schutzbereichsergänzend wirken; es kann als Eingriff oder als eine der Ausgestaltungsvarianten fungieren. Welche dieser Beziehungen eine konkrete prozessuale Regelung nun eingeht (und welchen der unterschiedlichen Anforderungen sie daher genügen muss), ergibt sich nur in Bezug auf die jeweilige Grundrechtsposition. Diese muss also vorgreiflich schon konkretisiert sein, bevor sich abschätzen lässt, was die Verfahrensnorm hierzu beisteuert49. 46 Solche Programmatik bei Verrel, NStZ 1997, 361, 364; ders. 2001, 7 (der dies als „Anwendungs- und Auswirkungsperspektive“ tituliert). Vgl. auch ders. 2001, 112 ff., 162 ff., 214 ff., wo diesem Programm gemäß die vorgeblichen Konturen der Selbstbelastungsfreiheit aus der strafprozessualen Gesetzeslage gefolgert werden. Beifall hat das bei Aselmann 2004, 41 f. gefunden. 47

Vgl. Ransiek 1990, 76 f.; Wolff 1997, 110; Jahn, StV 1998, 653, 654 Fn 10; Torka 2000, 48.

48

Dafür Reiß 1987, 141, ähnlich Bosch 1998, 30 f.

49

So kann man einer prozessualen Eingriffsbefugnis, durch die der Beschuldigte zu einer passiven oder irrtumsgetragenen Selbstbelastung veranlasst werden darf, nicht einmal dann eine nemo-tenetur-bezogene Aussage entnehmen, wenn man ihre Verfassungsmäßigkeit unterstellt. Es kann sich hierbei nämlich um eine Regelungen jenseits des Schutzbereichs handeln (sodass sie aus der Warte der Selbstbelastungsfreiheit gar keiner Prüfung bedarf) oder um ein Eingriffsgesetz (das nur wegen Wahrung der Schranken-Schranken Bestand hat). Aufschluss über den Charakter der prozessualen Regelung gibt allein die dafür zunächst zu ermittelnde Brutto-Reichweite der verfassungsrechtlichen nemo-tenetur-Schutzwirkung.

4. Kap.: Systematische Rahmenstruktur

153

Deshalb ist die Verfassungsbestimmtheit straf-/strafprozessrechtlicher nemotenetur-Regeln entgegen sämtlichen Anfeindungen ernst zu nehmen. Dass dies überwiegend auch geschieht, verdient Beifall (wobei man monieren muss, wenn es implizit und verkürzt vonstatten geht50). Unter diesen Vorzeichen sind dann aber die konkreten Schutzlinien, die das Verfahrens- und Strafrecht beispielsweise für die Aussage- und Mitwirkungsverweigerungsmöglichkeiten vorsieht, am Maßstab der konstitutionellen Selbstbezichtigungsfreiheit eigens zu reflektieren. Wo immer das Gesetz die grundrechtliche Brutto-Freiheit reduziert, muss es sich als Grundrechtseingriff rechtfertigen. Einer solchen Überprüfung bedürfen neben einer Reihe selbstbelastungsrelevanter Straftatbestände (Kap. 9) zum Beispiel die prozessualen Pflichten zum Erscheinen vor Gericht und zur personaldatenbezogenen Selbstauskunft, aber auch die Beweisverwertung des Teilschweigens und des Ausdrucksverhaltens. Die Gesamtheit eingriffswertiger Maßnahmen lässt sich freilich erst nach Feststellung der grundrechtlichen nemo-tenetur-Schutzreichweite zuverlässig diagnostizieren.

b) Gesetzesprägung Die konstitutionelle Grundierung von nemo tenetur gibt der vorliegenden Arbeit ihre generelle Richtung. Sie ist – ebenso wie das Normgerüst, das in seiner Gesamtheit die effektiven Selbstbelastungsfreiheiten trägt – von der Verfassung aus strukturiert. Dennoch bliebe eine grundrechtliche Analyse unvollständig, würde sie die Ausgestaltungsbeiträge des Straf- und Strafprozessrechts unberücksichtigt lassen. Vom einfachen Recht werden, nachdem das Verfassungsrecht die Basisaussagen zu nemo tenetur vorgelegt hat, die letztendlichen Freiheitsräume weiter präzisiert51. Diesen Mitwirkungsanteil zu übergehen, wäre fatal – schon weil dann seine spezifische Rückbindung an die Verfassung nicht bedacht würde. Dabei liegt es gerade beim Prozessrecht nahe, dass es mit einem breiten Repertoire grundrechtsausgestaltender Rollen an der Konstituierung von nemo tenetur teilnimmt. So könnten etwa die Folterverbote (§ 136a StPO, Art 3 EMRK) die grundgesetzlichen Aussagen zur Selbstbelastungsfreiheit verdeutlichen und – deklaratorisch nachvollziehend – in eine handhabbare Form bringen52. Gelegentlich mag das Verfahrensrecht auch Schutzstellungen vorsehen, die (wie womöglich die Beschuldig-

50

Dazu bereits oben VII.2. in Kap. 1 und II. in Kap. 2.

51

Beiläufig in diese Richtung auch Lorenz, der den nemo-tenetur-Satz als Verfassungsprinzip versteht, das in hohem Maße rechtserzeugt sei (JZ 1992, 1000, 1006; ebenso SK-StPO/Paeffgen, Vor § 112/31). 52 Zu diesem Ausgestaltungstypus zählt es dann auch, dass beim Beschuldigten kein Zwang zur (Wahr-)Aussage und zur selbstbelastungsrelevanten Mitwirkung positiviert ist.

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Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

tenrechte zur Lüge und zum Verschweigen unverfänglicher Gegenstände) den grundrechtlichen Freiheitsbestand überobligatorisch ergänzen53. Vor allem aber könnte das Prozessgesetz die grundrechtlichen Positionen im Wege der normativen Konkretisierung näher ausformen, beispielsweise als Ausdruck eines Grundrechtsschutzes durch Verfahren in Gestalt von Belehrungspflichten54.

Dessen eingedenk sind in dieser Untersuchung auch jene Konstellationen herauszusortieren, in denen das materielle Strafrecht an der Konstruktion von nemo tenetur produktiv (ausgestaltend) teilnimmt, um hieran sodann die verfassungsrechtlichen Kriterien für ausgestaltendes Gesetzesrecht anzulegen. Dabei muss niemand befürchten, dass dem Strafrecht dadurch seine Eigenständigkeit abhanden kommen könnte und dass es gleichsam abgerichtet oder fremd gesteuert würde55. Das Verfassungsrecht regiert nämlich nur zurückhaltend in die Grundrechtsausgestaltung hinein, weshalb die originär strafrechtlichen Anliegen, Erwägungen und Gesichtspunkte weiterhin zum Tragen kommen.

III. Selbstbelastungsfreiheit im horizontalen Teil des Normnetzwerks Einige der im 1. Kapitel festgestellten normsystematischen Unklarheiten werden durch die hier akzentuierte Vorgängigkeit von Grundrechten und die Mitberücksichtigung einfach-rechtlicher Freiheitsgestaltung vermieden. Vertikale Abstimmungsfragen können damit weitgehend als beantwortet gelten. Nun tut sich allerdings eine weitere Problemfront dadurch auf, dass in die Gewährleistungsgehalte der Selbstbelastungsfreiheit eine Mehrzahl subkonstitutioneller Bestimmungen hineinspielt – darunter besonders prominent das Straf- und Strafverfahrensrecht. Dass sich die Normbereiche dieser einfachrechtlichen Re-

53

Dazu allgemein Müller 1990, 64, 82. Grundsätzlich könnten insofern ebenso in Betracht kommen: das Aufrechterhalten von Verhaltensfreiheiten, deren Einschränkung die Grundrechte zulassen; Eingriffssanktionen, die über die grundrechtlichen Abwehrwirkungen hinaus gehen; Belohnungen für Dritte, von denen die Selbstbelastungsfreiheit gewahrt wird. 54

Gerade bei der Pflicht zum Hinweis auf das Schweigerecht verschwimmen indes die abwehrund die leistungsrechtliche Herleitung. Eine Erklärung mittels Grundrechtsschutzes durch Verfahren (so z.B. Duttge 1995, 214) sieht in der Belehrung einen Weg, um die Effektivität eines vom Verfahrensvollzug bedrohten Grundrechts zu fördern. Weil die Hinweispflicht vernehmungsgetragene Eingriffe in das Schweigerecht erschwert, lässt sie sich aber auch abwehrrechtlich deuten (generell zu solchen Übergängen z.B. Dreier 1993, 46; Cremer 2003, 394 ff.). Das wird besonders deutlich, wenn man ihr die Aufgabe zuweist, denjenigen Grundrechtseingriff, der im Gewand eines scheinbar bestehenden Aussagezwangs daherkommt, zu verhindern (oben II.5. in Kap. 1). 55 So aber die vornehmlich vom Strafprozessrecht erhobene Warnung, das Kriminalrecht nicht zur „verfassungsrechtlichen Kolonie“ verkommen zu lassen (etwa BGHSt 40, 211, 217 f.; 42, 170, 172; Schroeder, JZ 1985, 1028, 1029; Arzt 1989, 847 ff.; ders. 1997, 5 f.; Foth, NStZ 1997, 36 f.; Dencker 2001, 239; Gössel, GA 2001, 192; w.N. bei Hermes, VVDStRL 61, 2002, 122).

4. Kap.: Systematische Rahmenstruktur

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gelungen mitunter (partiell) decken, weshalb sich die fraglichen Normen trotz ihrer Herkunft aus verschiedenen Teilrechtsgebieten thematisch überlagern, steigert die Unübersichtlichkeit der normsystematischen Zusammenhänge. Vorwiegend dort, wo verfahrensrechtliche nemo-tenetur-Freiräume durch straftatbestandliche Vorschriften verengt werden, wächst das Bedürfnis nach Konsistenz unterhalb der Verfassung, genauer: innerhalb des einfachen Rechts.

1. Einheit der Rechtsordnung als nutzlose Fiktion Die Frage lautet also, wie Stimmigkeit zwischen subkonstitutionellen Normen sicherzustellen ist. Da die Aufgabe also darin besteht, gleichrangige Rechtsgebiete zu koordinieren, da es eine formale Anpassung statt einer materiellen Eingriffsbegrenzung zu erreichen gilt, kann die Lösung nicht im Zeichen des „ultima-ratio-Prinzips“ oder sonstiger freiheitsrechtlicher Kategorien vonstatten gehen56. Die angestrebte Geschlossenheit muss vielmehr auf ein Konvergenzgebot zurückgehen, das nach Art der „Einheit der Rechtsordnung“ beschaffen ist. Dieses Einheits-Institut, das man in aller Regel mit rechtstheoretischer Salbung versieht, wird denn auch für die fragliche Problemstellung immer wieder bemüht57. Die damit ehedem verbundene Vorstellung der totalen und geschlossenen Kodifikation gilt heute allerdings als überlebte Fiktion des aufgeklärten Vernunftrechts. Das beruht nicht nur auf den oft reklamierten Lücken und Unvereinbarkeiten im Rechtssystem58, sondern insbesondere auf dem schon oben (I. in Kap. 3) skizzierten Umstand, dass Rechtsnormen nicht mit ihrer normtextlichen Fassung in eins zu setzen sind, sondern erst in einem Konkretisierungsprozess entstehen. Die hierin eingehenden Realdaten (Sachverhalt, Normbereich) führen die Widersprüchlichkeiten der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit sich und tragen sie in den sich herausbildenden Bestand an Rechts-

56

Das ultima-ratio-Prinzip besagt, dass das Strafrecht nicht inflationär, sondern 1. nur zum Schutz bedeutsamer Güter und 2. nur dann, wenn außerstrafrechtliche Mittel nicht aussichtsreich sind, herangezogen werden soll (vgl. m.w.N. Appel 1998, 406 ff.). Rechtsverbindlich ist dieser Gedanke allerdings nur als Zweck- und Erforderlichkeitselement im Rahmen der grundrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung (unten Kap. 10). 57 Repräsentativ dafür Freund 1992, 29 und gerade i.Z.m. selbstbelastungsrelevanten Strafnormen etwa Wassmann 1982, 216; Prittwitz, StV 1995, 270, 273; Meinecke 1996, 108 oder Beulke 1989, Rn 2 („Jedes prozessual erlaubte Verteidigerverhalten kann allein schon wegen des Grundsatzes der Einheitlichkeit der Rechtsordnung nicht unter Strafe stehen.“). 58 Vgl. dazu bspw. die Beobachtung Teubners, wonach sich das Recht im Gefolge der zunehmenden gesellschaftlichen Differenzierungen intern fortschreitend differenziert. So bildeten sich immer mehr sachlich und personell separierte Sonderrechtsgebiete. Mit der Vielheit wüchse auch die Widersprüchlichkeit (1989, 129 f.; vgl. ferner Luhmann 1997, 278 ff.).

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Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

normen hinein59. Deshalb verficht man vorwiegend die Idee einer rechtswissenschaftlich erst zu erarbeitenden Geschlossenheit juristischer Systeme60. Wer freilich ein solches Ideal der Widerspruchslosigkeit pflegt, unterstellt damit, dieses Vorhaben dereinst auch realisieren zu können – obwohl dies doch durch jene Bedingungen ausgeschlossen wird, die bereits die Einheit als Datum verhindern61. Unter den Vorzeichen von „Einheitlichkeit“ kann es deshalb nur darum gehen, zusammentreffende Regelungen bei Bedarf internormativ zu harmonisieren, also ausgehend vom normtextlichen Kontext oder von gemeinsamen Normbereichen eine in sich stimmige fallbezogene Regelungsmehrheit zu gewährleisten. Dafür ist vor allem das systematische Argumentieren zuständig – allerdings als eines unter mehreren Konkretisierungselementen und nicht ohne von anderweitigen Gesichtspunkten im Einzelfall widerlegt werden zu können (oben III.1.b) in Kap.3).

2. Die fragmentwahrende Strafrechtsauslegung Das materielle Strafrecht nimmt sich indes als Sonderfall aus. Die Konkretisierung des Strafgesetzes unterliegt den zusätzlichen Vorgaben eines strengeren Abstimmungsgebotes. Bei seiner Auslegung ist eine Interpretationsregel am Werk, die zum unentwegten Vergleich mit den normbereichseinschlägigen außerstrafrechtlichen Bestimmungen nötigt. Die dort festgelegten Bereiche legalen Verhaltens hat die Strafnorm normalerweise zu achten: Es ist ihr verwehrt, die zivil- und öffentlichrechtlich vorgegebenen Leerstellen der Verhaltenslenkung ohne weiteres durch ihr eigenes Reglement auszufüllen. Dass die Interpretation von Straftatbeständen die außerstrafrechtlichen Steuerungslücken nur unter engen Voraussetzungen schließen kann, verhindert, dass das Strafrecht einen flächendeckenden Charakter annimmt. Deswegen trägt dieser Gesichtspunkt den Namen der „fragmentwahrenden Auslegung“. Er verlangt zwar, die gesamte nicht-kriminalrechtliche Teilrechtsordnung in die strafrechts-

59

Zu diesem Befund führt schon die weithin konsentierte Einsicht, dass die Rechtsgewinnung von einem kreativen Entscheidungsakteur abhängt. Bereits mit seinem personalen Einfluss werden soziale Widersprüchlichkeiten normimmanent (vgl. Müller 1979, 92 ff., 112 f.). 60

Zur Vision einer einheitlichen Rechtsordnung, die nicht vor-, wohl aber aufgegeben sei, repräsentativ Schmidt 1994, 28: als „ständiges Bemühen, Auseinanderstrebendes zusammenzuhalten, muss uns die Einheit der Rechtsordnung gegenwärtig bleiben“ (ebenso z.B. Sternberg-Lieben 1997, 180 ff.; noch immer einflussreich: Engisch 1935, 68 ff.; vgl. i.Ü. die Nachweise bei Felix 1998, 16 ff., 142 ff.). 61 Einheit der Rechtsordnung „kann auch als Ziel nicht bieten, was real nicht möglich ist“ (Müller 1979, 132).

4. Kap.: Systematische Rahmenstruktur

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dogmatische Rechnung einzustellen62, doch wird er hier auf die für nemo tenetur besonders bedeutsamen Strafrechts-Effekte des Strafprozessrechts zugespitzt63.

a) Wechselwirkungen von Straf- und Strafverfahrensrecht Herkömmlich wird das Strafverfahrensrecht als Materie gedacht, die dem materiellen Recht bei seiner Umsetzung zu Diensten ist64. Daran ist nichts auszusetzen. So werden diejenigen Institutionen und Instrumentarien, die das Strafrecht lebenspraktisch handhaben, vom Verfahrensrecht erst konstituiert. Sämtlichen Interaktionstypen, mit denen man das materielle Recht bewerkstelligt (mit denen man also über notorisch umstrittene Sachverhaltsfragen und die festzusetzenden Rechtsfolgen befindet), bereitet das Prozessrecht die Bahnen65. Es rahmt den gesamten Vorgang, in dem die strafrechtlichen Texte verarbeitet und darüber Rechtsnorm und Fall hergestellt werden. Mit Bedacht auf diese Rolle des Verfahrens als Konstitutionskontext der Strafnorm66 verbietet sich ein Tren-

62

Vgl. BGHSt 47, 295, 303 ff. für eine charakteristische Konstellation: bzgl. etwaiger Strafbarkeit der Drittmitteleinwerbung ist die Auslegung von § 331 StGB an Hochschulrecht gebunden. 63 Eingehend Kölbel, GA 2002, 403, 414 ff. zur Begründung der im Folgenden nur knapp skizzierten fragmentwahrenden Auslegung als Strafnormkonkretisierungselement. Einen i.E. vergleichbaren Vorschlag speziell für das Verhältnis von StPO und StGB unterbreiten Sieber (2001, 1128 ff.) und in seinem Gefolge Kudlich (2004, 220), denen zufolge die prozessuale Norm in der Kollision mit den materiell-rechtlichen Strafnormen vorgehen soll, wenn und weil sie „inhaltsreicher“, d.h. von den umfassenderen sachbezogenen Abwägungen getragen ist. Allerdings bleibt der Grund für diese Vorrangregel unerörtert. 64

Vgl. nur Volk 1978, 11; Marxen 1984, 24, 345; Peters 1985, 7 ff.; Vormbaum 1987, 79; Kudlich 1998, 203 ff.; Roxin 1998, § 1/1; Perron 1999, 474; unklar dagegen Krack 2002, 32, 44. I.Ü. ist „Strafrechtsverwirklichung“ nicht nur, wie Paeffgen (1986, 15) meint, das Verurteilen, sondern auch das Freisprechen, Einstellen usw., denn auch hier erfolgen Normrealisierungsvorgänge (ähnlich Weigend 1989, 191). 65 Verfahrensrecht strukturiert den rechtlich gefassten Modus, in dessen Rahmen über die Zuteilung des materiellen Codes von Recht und Unrecht befunden wird (Luhmann 1997, 209 f.; vgl. auch Calliess 1974, passim; Hassemer 1990, 118 ff.). Diese Leistung von Prozessnormen ist für das Rechtssystem eigentümlich. „Es gibt keine andere Normenordnung, die eine solche, über Verfahren laufende Reflexivität entwickelt hat“, und offenbar wird gerade hierdurch „das Recht, im Unterschied zur Moral, befähigt, ein autopoietisches System zu sein“ (Luhmann a.a.O., 211). 66 Die „Vorstellung, dass der Prozess eine schon definierte Rechtslage lediglich in Prozessformen umgießt, kann heute als überwunden gelten. Der Prozess schafft erst die Rechtslage, die dann nach seinem Abschluss vollstreckt wird“ (Christensen/Kudlich 2001, 316). Zur Leistung des Verfahrens, die Unsicherheit über die Tatsachenlage und über den Ausgang der materiell-rechtlichen Normkonkretisierung zu bewältigen, jüngst auch Murmann, GA 2004, 65, 70 ff.

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Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

nungsdenken, das die verfahrensförmige Normumsetzung für eine eigene und zweitrangige (nur Praktikabilitäten betreffende) Größe hält67. Widerlegt wird eine trennende Sichtweise gleichermaßen durch die wechselseitige Verzahnung, die beide Gebiete durch die moderne Kriminalpolitik erfahren: Das Prozessrecht färbt systembildend auf das Strafrecht ab, weil dieses gewisse verfahrensrechtlich verursachte Nachweisfriktionen auffangen muss68 (darunter gelegentlich auch durch nemo tenetur bedingte Effekte69), und umgekehrt überträgt das materielle Recht die Bewältigung bagatellarischer Delinquenz zu einem guten Teil dem verfahrensrechtlichen Bereich70.

Verfahrensrecht amtiert somit alles in allem als strafrechtsverbundene und strafrechtsdienliche Instanz. Dies darf indes einen ebenso fundamentalen, aber gleichsam umgekehrten Funktionszusammenhang nicht verdecken, den etwa die Bindingsche Normentheorie erhellt71. Bekanntlich statuieren danach die in der gesamten Rechtsordnung verteilten Handlungsnormen die verhaltensrelevanten Gebote und Verbote, während das Kriminalrecht lediglich in inhaltlich indifferenter Weise deren Einhaltung garantiert. „Die Norm geht begrifflich dem Strafgesetze voraus, denn dieses bedroht eine Normübertretung mit einer Straffolge oder erklärt sie für straffrei“72. Strafrecht ist also von sekundärrechtlichem 67

Zur Kritik jenes Denkens Volk 1978, 9 ff., 170 ff.; LR/Lüderssen, Einl. L/9 ff.

68

So soll das materielle Recht die Probleme beim Erfolgs- und Kausalitätsbeweis durch Auffang- und Vorfeldtatbestände (Gefährdungsdelikte) ausgleichen. Fahrlässigkeitstatbestände und objektive Strafbarkeitsbedingungen dienen der Bewältigung des prekären Vorsatznachweises. Diese Verlagerung (aber auch die Gegenrichtung, in der man wegen absehbarer Beweisschwierigkeiten auf Pönalisierung verzichtet), ist mehrfach dargetan (vgl. Lüderssen, ZStW 85 (1973), 288 ff.; Volk 1980, 27 ff.; Vest, ZStW 103 (1991), 584 ff.; Weigend 1996, 695 ff.; Tiedemann, JZ 2000, 139, 144 f.; Arzt 2000, 755 ff.; Salditt 2002, 67; Geppert 2002, 52 ff.). Vgl. generell hierzu auch Engel 2002, 319 sowie den Versuch von Marxen (1984, 343 ff.), prozessuale Strukturen vor diesem Hintergrund in das Straftatsystem zu integrieren. 69 Zur These, wonach auch das Schweigerecht zu typischen Beweisproblemen führe, deretwegen man auf öffentlichrechtliche Dokumentationspflichten, aber eben auch auf geständnislos nachweisbare Straftatbestandsfassungen ausweiche, vgl. Volk, JZ 1982, 85, 90; ders. 1989, 231 ff.; ders. 2000, 739 ff.; Arzt, ZStR 110 (1992), 233, 236 f.; ders. 2000, 778; ders./Weber 2000, § 38/53; Gröschner 1992, 321; Pohl 2002, 109. 70 Dazu etwa BVerfGE 90, 145, 189 ff.; LR/Rieß, Einl. B/26; Weßlau 2002, 35 ff. (aus der kritischen Literatur etwa Kunz 1984; Lagodny 1996, 460 ff.; Weigend 1999, 935 f.; Krahl 1999, 268 ff.). Zu weiteren Wechselwirkungen von Prozess- und Strafrecht Vormbaum 1987, 77 f.; Neumann, ZStW 101 (1988), 52, 54 ff.; Perron 1999, 475 ff. 71 Von der Kriminalwissenschaft wird diese Lehre – die i.Ü. in der Rechtstheorie enge Verwandte hat (vgl. etwa Hart 1993, 89 ff.; Baurmann 1996, 62 ff.; ferner Hoerster JZ 1989, 10 ff.; zusammenfassend Renzikowski 2002, 3 ff.; zur Aufnahme selbst durch Durkheim vgl. Gephart 1997, 22 f.) – seit einem Jahrhundert immer wieder aufgegriffen (vgl. etwa Beling 1906, 115 ff.; eingehende Rezeptionen bei Kaufmann 1953; zuletzt Heghmanns 2000, 42 ff.; Renzikowski, ARSP 2001, 110, 119 ff.; MüKo-StGB/Freund, Vor §§ 13 ff./66 u.ö.). 72 Binding 1922, 45. Die Verhaltensnorm ist ein vom Schutzgesetz zu unterscheidender „einfacher Imperativ ohne Strafdrohung“ (a.a.O., 50.).

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Stand. Es immunisiert die außerstrafrechtliche, primäre Verhaltensnorm (verstanden als Verhaltenserwartung) auf eine qualifizierte Art, indem es – so die moderne Lesart – ihren etwaigen Bruch (das erwartungswidrige Ereignis) mithilfe des prozeduralen Szenarios demonstrativ verarbeitet und die Primärnorm (die Erwartung) symbolisch (durch eine Sanktion) aufrechterhält73. In diesem Modus garantiert das Strafrecht auch die Beachtung jener handlungssteuernden Normen, denen die Akteure im Lebensbereich der institutionellen Strafrechtsgewinnung unterworfen sind – nämlich denen des Strafprozessrechts. Offenbar hat sich die Rechtsordnung damit einen funktionalen Zirkel eingebaut: Strafrecht stabilisiert den Normbestand, der es seinerseits mit Leben erfüllt74.

b) Kollision von impliziten und expliziten Verhaltensnormen Nun hatte bereits Binding darauf hingewiesen, dass Verhaltensnormen häufig nicht eigens positiviert, sondern allein in den Strafgesetzen enthalten und über das Umformulieren ihres tatbestandlichen Teils zu erkennen sind75. Normtheoretisch sind diese straftatbestandsimpliziten Primärnormen von der Sekundärnorm (Sanktionsbewehrung) unabhängig, wiewohl sie regelungstechnisch eine 73 Die Normgeltung, die mit dem Sichtbarkeit eines Deliktes Schaden nimmt, wird gleichsam wieder instand gesetzt (dazu im Anschluss an Luhmann insbesondere Jakobs 1991, 2/2 ff., vgl. auch Eder 1986, 232; Vogel 1993, 64 ff.; Freund 1998, § 1/6 ff.; Lesch 1999, 191 f.; Müssig, GA 1999, 119, 122; Bottke 1999, 456; Hauschild 2000, 136 ff.). Unter diesen Vorzeichen erscheint es konsequent, jenen Bestätigungseffekt, der mit dem symbolischen Festhalten an der verletzten Primärnorm eintritt und damit den gesellschaftlichen (normativen) status quo wahrt, als zentralen Zweck des Strafrechts aufzufassen und die Steuerung primärnormgemäßen Verhaltens (Prävention) aus dem Kern der Straftheorie in das Umfeld willkommener Zusatzfolgen zu verschieben (so Jakobs, ZStW 107 (1995), 843, 844 f.; dazu Lesch a.a.O.; Hauschild a.a.O., 149 ff.). Bei Durkheim, dessen Anteil an einem so gefassten Strafkonzept oft übersehen wird, führt die Sanktion freilich nicht nur zur Bekräftigung der verletzten Norm (bei ihm: zur Bestätigung der verletzten Kollektivgefühle, deren Gleichklang den sozialen Zusammenhalt sichert), sondern sie „entwickelt aus der Eigendynamik kollektiver Reaktionen eine Verstärkung der Gefühlswerte, die sich auf ein neues Geltungsniveau hochschrauben“. Aus dieser Warte erlangt folglich auch das Verbrechen, das diese integrative Leistung der Strafe erst veranlasst, eine positive Funktionalität für die Reproduktion der gesellschaftlichen Ordnung (zum Durkheimschen Denken etwa Gephart 1990, 120 ff. mit dem Zitat a.a.O., 122; vgl. auch ders. 1997, 99 ff. zur ähnlichen Auffassung Fauconnets). 74 Auch das Strafrecht, das das Strafprozessrecht sichert, muss verfahrensförmig umgesetzt werden, was wiederum sekundärrechtlich gewährleistet wird. In den Strafrechtsschutz ist das Strafrecht also selber eingeschrieben (ähnlich Vormbaum 1987, 80). Bei straftatbestandsimpliziten Verfahrensnormen (dazu sogleich) finden sich diese Verschleifungen sogar innerhalb eines Rechtssatzes (dazu Röhl 2001, 192 f.; Renzikowski 2002, 10). 75 Durch eine unabhängige Verhaltensreglementierung kreiert das Strafrecht eigenständige Rechtsgüter. Das hält man für zulässig (vgl. Heghmanns 2000, 125; Jakobs 1991, 2/14 Fn 24; SKStGB/Rudolphi, Vor § 1/5). Solche „primären Materien des Strafrechts“ (Lüderssen 2005, 167 ff.) sind nach Binding (1922, 45) gar zur Regel, außerstrafrechtliche Primärnormen dagegen zur Ausnahme geworden („die moderne Rechtsordnung pflegt diese Normen nicht mehr aufzustellen“).

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Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

Einheit bilden. Freilich lassen sich den Strafgesetzen solche impliziten Regelungen auch dann entnehmen, wenn einschlägige Verhaltensnormen außerhalb des Strafrechts (explizite Primärnormen) bereits existieren76. Die normative Verhaltenslenkung läuft hier sozusagen entlang einer verdoppelten Richtschnur. Falls allerdings die beiden Primärnormen divergieren, ergeben sich prekäre Probleme, insbesondere wenn die straftatbestandsimplizite Verhaltensregel breitere Verbotswirkungen entwickelt als ihr außerstrafrechtlicher Partner. Die sich dann ergebende Problemlage eines „überschießenden Strafrechts“77 wird im Kontext des hier untersuchten Aktionsbereiches überall dort aufgeworfen, wo das Strafgesetz ein selbstbelastungsmeidendes Verhalten untersagt, obwohl dieses sich nach dem Verfahrensrecht in unverbotenen oder gar ausdrücklich legalisierten Bahnen bewegt (unten 11. Kap.). Mitunter kann man freilich nur schwer erkennen, ob in einem gesellschaftlichen Sektor überhaupt eine explizite Primärregelung mit einer impliziten Norm korrespondiert78. Nur bei privatschützenden Strafnormen ist das wegen des Schädigungsverbotes in § 823 I BGB79 nachgerade die Regel80. Außerdem ergeben sich hin und wieder Probleme, eine simultane explizit-primäre Bestimmung festzustellen, weil sich dafür gleich mehrere außerstrafrechtliche Teilrechtsordnungen andienen81. In anderen Fäl-

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Zum hier bestehenden Nebeneinander von Verhaltensnormen auch Heghmanns 2000, 106 ff.

77

„Überschießend“ deshalb, weil das Strafrecht über die Abstützung der außerstrafrechtlichen Verhaltensnorm bzw. einer ihr deckungsgleichen innerstrafrechtlichen Verhaltensnorm hinausgeht und zusätzliche Verhaltensweisen untersagt. 78 Es kann auch problematisch sein, welche außerstrafrechtliche Bestimmung in Frage kommt (vgl. dazu beispielhaft den Fall von BGH NJW 1999, 3132, wo es um die Strafbarkeit nach § 315b StGB bei einem Verhalten ging, das – äußerlich – die speziellen Vorschriften der StVO einhielt, aber womöglich gegen die Generalnorm § 1 II StVO verstieß). 79 § 823 II BGB knüpft sekundäre Folgen an die Verletzung einer privatschützenden Strafnorm (oder eines anderen Schutzgesetzes). So könnte man auf die These verfallen, § 823 II BGB verbiete die Verletzung dieses Schutzgesetzes, untersage also explizit-primär alles, was die fragliche Strafnorm regelt, sodass jene gar keine überschießenden Gehalte entwickeln könne (so Herzberg 1972, 218). Bei § 823 II BGB handelt es sich aber um eine ausschließlich sekundär wirkende Norm, der keine Verhaltensregelung überantwortet ist. Die Steuerungsfunktion bleibt den einzelnen Schutzgesetzen überlassen, würde § 823 II BGB doch andernfalls zu einem Megaverbot, das sich die Wirkungen sämtlicher Schutznormen inkorporiert (zum Problem auch Lüderssen 2005, 169 f.). 80 § 823 I BGB regelt neben den sekundären Ersatzansprüchen unausgesprochen auch die entsprechenden Schädigungsverbote, weil nach ihm in der Regel jede Verletzung privater Rechtsgüter rechtswidrig ist (zu Ausnahmen etwa BGHZ 74, 9, 14 f.). Durch diese weit reichenden außerstrafrechtlichen Verbote kann es im individualschützenden Bereich nur selten zu überschießenden Strafnormen kommen (v.a. noch bei der Verletzung privater Güter, die im Rechtsgüterkreis von § 823 I BGB nicht enthalten sind). 81 So wird eine vermögensschädigende Täuschung mittels prozessualen Handelns neben den verfahrensrechtlichen auch von den zivilrechtlichen Vorschriften geregelt. Ob § 263 StGB in explizit-primäre Legalbereiche hineinregelt und sich so eine lösungsbedürftige Kollision ergibt, ist also nicht nur an der Prozessordnungsgemäßheit der fraglichen Handlung zu ermessen (so aber Müller 2000, 200 f.).

4. Kap.: Systematische Rahmenstruktur

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len liegen dagegen die fraglichen Normparallelen geradezu auf der Hand, insbesondere wo der Strafnormtext durch seine begriffsakzessorische, verweisende oder blankettartige Formulierung selbst auf eine benachbarte außerstrafrechtliche Bestimmung aufmerksam macht. Deshalb wird die Erscheinung prozessrechtsüberschießenden Strafrechts von diesen Situationen besonders gut illustriert82: So entwickelt § 356 I StGB gegenüber dem primärrechtlichen Reglement zusätzliche Verbote, wenn das normative Tatbestandsmerkmal des „pflichtwidrigen“ Parteiverrats auch bei prozess- und berufsrechtlich offen gelassenem Anwaltsverhalten erfüllt sein soll83. Bei strafgesetzlichen Blanketten, die prozessuale Vorschriften in sich aufnehmen und damit strikt akzessorisch strukturiert sind, kann ein Strafrechtsüberschuss dagegen schwerlich vorkommen84. Selten ist er auch bei Strafnormelementen, die durch eine pflichtbegründende prozessrechtliche Einzelentscheidung ausgefüllt werden. Für die Strafbewehrung muss ein solcher Akt – etwa ein Beschluss nach § 174 I, III GVG (für die Schweigepflichten nach § 353d Nr. 1, 2 StGB) oder eine Inhaftnahme (für das Verbot der Untersuchungshaftvereitelung gemäß §§ 120, 121 StGB) – lediglich formal wirksam sein und nicht zwingend auch materiell korrekt85. Damit legen die straftatbestandsimpliziten Normen aber nur das fest, was das primäre Prozessrecht ebenfalls gebietet – nämlich die Befolgung einer formal vollziehbaren Maßnahme. Hingegen erzeugt das Strafrecht eine echte prozessrechtsüberschreitende Regelung, indem es wahrhaftige Zeugenaussagen selbst dann verlangt, wenn gar keine dahingehende prozessuale Wahrheitspflicht existiert86. Die gleiche Wirkung erreicht es durch Außerachtlassung verfahrensrechtlicher Legalisierungen, beispiels-

82 Unerwartet unergiebig bleibt dafür allerdings das Fallvorkommen, in dem – entsprechend dem Postulat eigenständiger strafrechtlicher Begriffsbildung (vgl. dazu Engisch 1958, 69; m.w.N. auch Felix 1998, 25 ff., 189 ff. und für die Strukturierende Rechtslehre Jeand’Heur 1989; ebenso Demko 2002, 64 ff.) – gleich lautende Begriffe in Strafgesetzen anders gehandhabt werden als in Prozessnormen. Zu denken ist hier z.B. an den straf- und strafprozessrechtlich verschieden genutzten Tatbegriff (dazu etwa BVerfGE 56, 22, 29 ff.). Da es sich bei §§ 52 f. StGB aber nicht um Verhaltensnormen handelt, führt die eigenständige strafrechtliche Gebrauchsweise nicht zu einer überschießenden Verhaltenslenkung. Das Gleiche gilt, wenn der „Gegenstand des Verfahrens“ in § 51 StGB nicht nur die prozessuale, sondern auch eine „funktionale“ Verfahrenseinheit bezeichnet (so BGHSt 43, 112, 116 ff.; BVerfG StV 1998, 664). 83 So NK/Kuhlen, § 356/40: Erst wenn das anwaltliche Handeln ausdrücklich berufs- und verfahrensrechtlich erlaubt ist, sei es von vornherein nicht pflichtwidrig i.S.v. § 356 StGB. 84 Weil hier die prozessuale Regelung den Straftatbestand mitkonstituiert, können beide Normen nur divergieren, wenn die Verfahrensnorm für strafrechtliche Zwecke anders ausgelegt wird als gewöhnlich (dazu am Bsp. von § 258a StGB Kölbel, GA 2002, 403, 421 f.; vgl. auch Jerouschek/Kölbel, NJW 2001, 1601, 1605 f.). 85 Zu den Beispielen Stapper, ZUM 1995, 590 ff.; Küper 2005, 155. Abgesehen von einigen Randverschiebungen korrespondiert hiermit i.E. auch die Auslegung des strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff in § 113 III StGB (zur Diskussion NK/Paeffgen, § 113/35 ff.). 86 Die h.M. berücksichtigt strafprozessuale Fehler im Falle einer Falschaussage meist nur bei der Strafzumessung (vgl. OLG Köln NJW 1988, 2485, 2486 m.w.N.) und unterstellt damit eine strafrechtliche Wahrheitspflicht. Eine solche verfahrensrechtliche Pflicht, die das Strafrecht absichern könnte, ist beim irregulär herangezogenen Zeugen aber gar nicht entstanden (dazu genauer II.3.b) in Kap. 11).

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Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

weise durch die Bestrafung advokatorischen Verteidigungshandelns (§ 258 StGB), das sich formal auf strafprozessual gewährte Befugnisse stützt87.

Man sollte sich indes bei all diesen Fällen vor Augen halten, dass die verhaltenslenkenden Reichweiten der beteiligten Straf- und Prozessnormen nicht schon aus dem Normtexterlass resultieren, sondern allein durch die jeweilige Normkonkretisierung zutage treten (oben Kap. 3). Daher steht auch die zwischen ihnen herrschende Uneinigkeit zunächst nur als Möglichkeit im Raum. Sie bricht erst im Zuge der jeweiligen Auslegung aus, sodass umgekehrt die Konfliktvermeidung in diesen Herstellungsvorgängen einsetzen und den drohenden Strafrechtsüberschuss bereits durch eine restriktive Strafgesetzinterpretation verhindern könnte. Gerade das wird oftmals gefordert, vornehmlich unter der Parole, dass nicht strafbar sein könne, was dem Beschuldigten prozessual erlaubt ist88. Andere Autoren bestehen allerdings darauf, dass das Strafrecht seine Erwartungen an das Verfahrensverhalten eigenständig formuliere89. Oftmals sei deshalb „der Bereich des prozessual Zulässigen mit Blick auf das materielle Strafrecht zu bestimmen“90. Anerkennung gebührt, wie hier zu zeigen ist, eher der erstgenannten Lösung, allerdings nicht einschränkungslos.

c) Strafrecht und fragmentwahrende Auslegung Die primärrechtsgebundene Auslegung fußt auf einem elementaren Merkmal des Strafrechtssystems: Strafrecht schützt einzelne Passagen der expliziten Verhaltensnormen des Öffentlichen Rechts und des Zivilrechts gegen bestimmte Verletzungsformen. Es nimmt insofern eine Auslese vor. Auch wo es (in den außerstrafrechtlich nicht geregelten Bereichen) eigenständige Normierungen 87 Die h.M. hält Verteidigerverhalten, dass eine prozessuale Befugnis missbräuchlich wahrnimmt, für eine Strafvereitelung (dazu Jahn 1998, 325 ff. und unten II.2. in Kap. 11). 88 Für eine solche strafrechtsgestaltende Kraft des Strafprozessrechts, wenn überwiegend auch pauschal und ohne theoretische Fundierung, etwa BGHSt 38, 345, 347; 46, 53, 54; Schleutker 1961, 47; Hoffmann 1965, 53 ff.; Frisch, JuS 1983, 915, 923 f.; Beulke 1989, Rn 1 f.; ders. JR 1994, 116 f.; Prittwitz, StV 1995, 270, 272 f.; LR/Lüderssen, Einl. L/36; ders., StV 1998, 357; U. Günther 1998, 74 f.; Tiedemann, JZ 2000, 139, 144; Sch/Sch/Lenckner, Vor §§ 153 ff./36 (vgl. auch Scheffler, GA 1993, 341, 349; Heinrich, JuS 1995, 1115, 1120; Grüner 2000, 121, 127; w.N. bei Stumpf 1999, 16 ff.; Jahn 1998, 314 f.). Hier reihen sich auch tatbestandsspezifische Ansätze ein. So gewährleiste bspw. § 258 StGB die straf- und strafprozessrechtsgemäße Verurteilung. Gegen die Strafverhinderung oder -verzögerung, die durch eine verfahrensrechtsgemäße Verteidigung eintritt, sei das Rechtsgut gar nicht geschützt. Daher läge in einem solchen Verhalten kein tatbestandlicher Angriff (repräsentativ Vormbaum 1987, 393). 89

Gegen eine „generelle Vorrangigkeit des Prozessrechts“ Brammsen, StV 1994, 135, 138; Müller 2000, 198; Wolf 2000, 269 ff.; Krischer 2000, 207 ff.; Rietmann 2002, 125 ff. 90 So anhand des Lügerechts H. Schneider 1991, 359, vgl. auch a.a.O., 217; in diesem Kontext ebenso Schmidt, § 136/25 ff., 28; Erdmann 1969, 28; Fezer 1993, 674; LR/Hanack, § 136/41.

4. Kap.: Systematische Rahmenstruktur

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setzt, beschränkt es sich auf einen Teil dessen, was sich regeln ließe. In jener Auswahl – sei sie am positivierten Primärrecht oder am Möglichkeitsraum des Pönalisierbaren getroffen – realisiert sich die fragmentarische Natur des Strafrechts91. Von diesem selektiven Grundzug erhält auch die Beziehung, die das Strafrecht mit dem Prozessrecht eingeht, ihr Gepräge. Damit der lückenhafte Strafrechtscharakter nicht etwa in einer lückenschließenden Rechtsgewinnung verloren geht, wird er nämlich durch ein Auslegungsprinzip verbürgt. Genauer: Gewaltenteilung und Demokratieprinzip nötigen dazu, legislative Anteile an jeder Normgewinnung stark zu machen und die Gesetzesbindung im Rahmen des methodologisch Möglichen auszuschöpfen (oben II.1. in Kap. 3). Daher müssen die Ergebnisse (die explizit-primären Rechtsnormen), die bei der strafprozessualen Interpretationsarbeit entstehen, den betreffenden Normtexten zurechenbar sein. Lässt sich eine Verhaltensanordnung nicht auf die verfahrensrechtlichen Texte rückführen, verengt sie rechtsgrundlos die Handlungsfreiheiten im Verfahrensablauf. Gerade jene Verbotsaussage, die als Wirkung einer unsachgemäßen Prozessnormauslegung unrechtmäßig ist, wird nun aber in den Fällen eines überschießenden Strafrechts durch die Auslegung einer benachbarten Strafnorm zuwege gebracht. Diese straftatbestands-implizite Reglementierung unterläuft also die prozessrechtliche Gesetzesbindung. Sofern die prozessualen Bestimmungen ein Verfahrenssegment abschließend normieren92 – und das ist wegen ihrer Lebensbereichszuständigkeit im Zweifel der Fall – darf dem Strafrechtsinterpreten eine solche überschießende Deutung nicht zustehen. Selbst wenn sich diese Strafrechtsauslegung rechtsmethodisch machen ließe, muss sie unzulässig sein, weil sonst die Funktion des Strafrechts, außerstrafrechtliche Anordnungen lediglich zu stabilisieren (oben III.a)), gesprengt würde93. Mag das Konstituieren zusätzlicher primärer Prozessnormen

91

Binding hatte die Fragment-Metapher eingeführt, um damit einen von ihm bedauerten Mangel des Schutzrechts, das Strafwürdiges nur unvollkommen erfasst, zu beschreiben. Gegenwärtig verbindet man damit aber das normative Gebot strafrechtlicher Selektivität (etwa Maiwald 1972; Prittwitz 1995, 388 f.; Stächelin 1998, 64 ff.; Schulz 1998, 123; Ebert 2001, 3 f.). Rechtliche Verbindlichkeit erhält diese Devise indes erst durch die strafrechtsbetroffenen Grundrechte der Normadressaten (ähnlich Appel 1998, 409 ff.). 92 Die außerstrafrechtliche Vorschrift muss sich als die im fraglichen Feld maßgebliche und vollständige Verhaltensordnung begreifen lassen – „gerade auch im Blick auf damit etwa verbundene Gefahrschaffungen“ (Freund 1992, 29). Dass sich ihr zudem die Aussage entnehmen lassen müsse, das nämliche Verhalten ausdrücklich auch für den Fall der Strafrechtswidrigkeit erlauben zu wollen (für dieses Erfordernis Kudlich 2004, 224), ist hingegen nicht einzusehen. 93 Vgl. auch Schünemann 1971, 221 ff.; Heghmanns 2000, 117 ff. mit ähnlichen Überlegungen. Es ist hingegen nicht zu halten, dass eine strafgesetzimplizite Verhaltensnorm so lange unverhältnismäßig sei, wie kein explizit-primäres Pendant existiert (in diese Richtung Felix 1998, 306 ff.; Fisch 2000, 197 f.). Über die hierfür vorausgesetzte adäquate Eignung des außerstrafrechtlichen Mittels kann der Gesetzgeber weitgehend frei befinden (dazu genauer II. in Kap. 10).

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Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

im Wege der Strafnorminterpretation technisch auch möglich sein, so ist diese Gestaltungsmacht durch den sekundärrechtlichen Strafrechtsstatus aber doch kontraindiziert. Um diesen Funktionszusammenhang aufrecht zu halten, kennt die Strafnormgewinnung eine Vorrangregel, die bei mehreren möglichen Auslegungsvarianten gegen die überschießende Version befindet. Erst wenn die Strafnorm nach der gesetzgeberischen Entscheidung eindeutig über eine sekundäre Rolle hinausgehen soll – erst also wenn dem Strafnormtext ausschließlich Interpretationen mit fragmentüberschreitenden Regelungsgehalten zurechenbar sind –, stößt diese Präferenzmaxime auf ihre Grenze. In diesem Fall kann sie die Auslegung nicht dirigieren. Hier ist die Vermutung, dass sich die Strafnorm bei einem existierenden Verhaltensreglement auf dessen Gewährleistung beschränkt, vom zuständigen Gesetzgeber konkret widerlegt94. Im Standardfall muss das Strafrecht aber so gedeutet werden, dass es das Handeln der Normadressaten keinen eigenen Zusatzanforderungen unterwirft. Hier stellt sich lediglich noch die Frage nach der deliktssystematischen Ebene, auf der seine Beschränkung dogmatisch einzulösen ist. Der Schuldbereich bleibt dafür außer Betracht, weil er die straftatbestandsimplizite Pflichtenlage nicht tangiert. Innerhalb der Unrechtsstufe spricht alles für eine Tatbestandslösung. Die fragmentwahrende Auslegung wäre nämlich überfordert, wollte sie zur Korrektur einer überschießenden Tatbestandsfassung einen Rechtfertigungsgrund kreieren95. Sie prüft für jeden Straftatbestand, der auf eine außerstrafrechtlich geprägte Pflichtenlage stößt, ob mit ihm bewusst ein strafrechtliches RegelungsMehr etabliert wurde. Während der eine Deliktstypus danach über primärrechtliche Befugnisse hinweggehen darf, mag anderen Tatbeständen diese Befugnis fehlen. Angesichts dieser Einzelnormorientierung kann die fragmentwahrende

94 Es besteht die Vermutung, dass es das Strafrecht bei seiner sekundären Bestimmung (d.h. dabei, die Einhaltung außerstrafrechtlicher Normen abzusichern) belässt. Darauf beruht die Interpretationsregel, die Strafnorm so auszulegen, dass sie den primärrechtlich geschaffenen Freiheitsraum respektiert (wobei jener eine grundrechtliche Vorgabe einlösen und sich ebenso gut an der Verfassung gemessen als überobligatorisch ausnehmen kann). Während der Norminterpret die strafrechtliche Selbstbeschränkung also nicht übergehen darf, kann der Gesetzgeber von ihr abweichen. Das bringt er dadurch zum Ausdruck, dass er das explizite Primärrecht nicht abschließend gestaltet oder dem Strafrecht erkennbar auch zusätzliche primäre, verhaltenssteuernde Aufgaben überträgt. Wenn, und nur wenn der Gesetzgeber auf diese Weise vorgegangen ist, ist es zulässig, dem Strafgesetz im Auslegungswege bspw. prozessrechtlich nicht vorgesehene Verhaltenseinschränkungen beizugeben. 95

Die strafrechtliche Berücksichtigung des Verfahrensrechts über einen Rechtfertigungsgrund zu organisieren, ist rechtstechnisch ohnehin nur bei einer primärrechtlichen Befugnisnorm möglich. Dagegen wäre dies in Fallgruppen, in denen der Strafrechtsüberschuss auf einer primärrechtsüberschreitenden Fassung eines gleich lautenden Begriffs oder eines normativen Tatbestandsmerkmals beruht, unmöglich, weil das maßstäbliche Primärrecht hier eine engere Pflichtenlage und keine Erlaubnisgestalt aufweist.

4. Kap.: Systematische Rahmenstruktur

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Auslegung aber keine übertatbestandliche Rechtfertigungswirkung begründen. Sie operiert daher als individuelle Tatbestandsbeschränkung.

IV. Fazit Der Ertrag der vorstehenden normsystematischen Vorüberlegung besteht darin, für die Konkretisierung von nemo tenetur einen Rahmen erarbeitet zu haben. Dieser ist in Abbildung 2 in die Form eines Schemas gebracht. Grundgesetz (insbesondere Grundrechte)

Ausgestaltungsrahmen, Grundrechtsorientierung, Bindung

subkonstitutionelles Primärrecht (z.B. Strafprozessrecht)

Ausgestaltungsrahmen, Grundrechtsorientierung, Bindung (Kap. 10, 12)

systematische Abstimmung; Fragmentwahrungsbindung (Kap. 11)

subkonstitutionelles Sekundärrecht (Strafrecht)

Abbildung 2: Das Selbstbelastungs-Strafrecht in der Gesamtrechtsordnung

Nach dem Verlauf der bisherigen Diskussion war es unmöglich, in die inhaltliche Bestimmung der Selbstbelastungsfreiheit einzusteigen, ohne vorbereitend einige grundlegende Stellwerke für einen angemessenen Arbeitsverlauf bedient zu haben. In Reaktion auf die Defizite in der derzeitigen Auseinandersetzung galt es, in Kapitel 3 zunächst die juristischen, historischen und empirischen Elemente, die in eine sachgerechte nemo-tenetur-Analyse eingehen müssen, zu präzisieren und das verfügbare Inventar strafrechtsmethodischer Instrumente zu rekapitulieren. Da überdies die effektive Freiheitsgestalt durch eine Vielzahl selbstbezichtigungsrelevanter Normen beeinflusst wird, die mannigfachen rechtlichen Sparten unterschiedlichen Ranges angehören, bedurfte es eines Rahmenmodells, um deren Zusammenspiel zu durchschauen. Danach ist es vor al-

166

Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

lem eine „Triangulierung“ aus Grundgesetz, Strafprozess- und Strafrecht, von der das weitere Vorgehen geleitet wird. Die Bestimmung von nemo tenetur (einschließlich der strafrechtlichen Aspekte) kann sich nur in den dort vorgegebenen Bahnen bewegen. Das in Abbildung 2 wiedergegebene Gefüge aus internormativer Wechselwirkung und Bindung begrenzt den Spielraum, den die Rechtsordnung dem Norminterpreten hierbei gewährt.

Teil 3

Grundfragen des nemo-tenetur-Satzes 5. Kapitel

Sachbezug der Selbstbelastungsfreiheit Die Verwertung empirischer nemo-tenetur-Aspekte ist derzeit schon nahezu üblich, wenn auch in ihrem Wie nicht immer unproblematisch. Deshalb wurde oben eine rechtsmethodisch regulär begehbare Wegführung abgesteckt. In der Regel erschließt eine Normbereichsanalyse danach den sachverhaltsrelevanten Realbezug der fraglichen Norm. Die hiesige Untersuchung kann sich jedoch, solange es ihr um generelle Fragen der Selbstbelastungsfreiheit zu tun ist, den Sachdaten nicht nur in dieser fallorientierten Zuspitzung zuwenden. Sie muss sich vielmehr auf einer allgemeineren Stufe bewegen und dabei den gesamten Sachbereich des nemo-tenetur-Satzes (oben I.1. in Kap. 3) entfalten. Gemäß dieser Aufgabenstellung beschreibt das anschließende Kapitel den „Schutzgegenstand“ der Selbstbezichtigungsfreiheit und deren tatsächliche Wirkung1. Für die Sinnkonstitution des nemo-tenetur-Satzes ist dies unabdingbar: Es bereitet genau jene Realitätselemente für die rechtsdogmatische Verarbeitung auf, die bei der anschließenden Detailauslegung unentwegt herangezogen werden – mehr oder weniger sichtbar in teleologische und prozesstheoretische Erwägungen gekleidet oder im Zuge fallbezogener Normbereichsaussagen.

I. Das Beschuldigtengeheimnis und sein rechtlicher Schutz Bislang charakterisiert man die Schutzrichtung der Selbstbezichtigungsfreiheit meist durch interne Beschuldigten-Zustände. Der nemo-tenetur-Satz sei, so die erste Variante, eine Konzession an den Selbsterhaltungstrieb des Betroffe-

1 In diesem frühen Stadium der nemo-tenetur-Konkretisierung kann der Einstieg in die Schutzgegenstandsbestimmung nur anhand der Vorstellung, die von der Selbstbelastungsfreiheit in Teil I gewonnen wurde, gelingen. Diese übernimmt sozusagen die unverzichtbare Rolle des Vorverständnisses (oben Fn 107 in Kap. 3).

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Teil 3: Grundfragen

nen2, während er dem Beschuldigten nach der anderen Ansicht die Beschämung erspart, die er erfahre, wenn er entweder lügen oder sich selbst bezichtigen muss3. Damit sei die Schutzleistung von nemo tenetur schon hinreichend entschlüsselt. Bei genauerem Hinsehen stellt eine solche Laienpsychologie, die nemo tenetur an handlichen Motivlagen eingängig justiert, aber schwerlich zufrieden. Skeptisch stimmt nicht allein die Vagheit ihrer psychischen Kategorien4, sondern auch der Umstand, dass sie die fraglichen Größen gleichsam als anthropologische Konstanten begreift. An einem solchen Status weckt bereits die kulturelle Variabilität von Strafe und Strafverfolgung erhebliche Zweifel. Auch ist es empirisch ganz und gar ungesichert, dass die besagten alltagstheoretischen Thesen die psychische Lage strafbedrohter Personen adäquat wiedergeben5. Gemessen an der Individualität, der Unschärfe und den Verschiebungen, von denen die Psyche postdeliktisch viel wahrscheinlicher geprägt wird, nimmt sich der Hinweis auf Straf- und Beschämungsfurcht als allzu grobschlächtige Reduzierung aus6. Demgemäß kann es im Anschluss nicht darum gehen, Aufschluss über nemo tenetur im Inneren des Beschuldigten zu suchen7. Die folgenden Überlegungen suchen stattdessen nach einer „motivneutralen“ 2 Repräsentativ Stürner 1976, 184: „Zugeständnis an den natürlichen Selbsterhaltungstrieb des Menschen“. Ebenso Sautter, AcP 1962, 215, 256 f.; Günther, GA 1978, 193, 194; Taupitz 1989, 31; Torka 2000, 54; Böse, GA 2002, 98, 104 f.; Röckl 2002, 103 f.; SK-StPO/Rogall, Vor § 133/132. Zum diesem psychologischen Konzept auch Rudolphi, JuS 1979, 859, 862; Binder 2001, 10 f., 45 und Gropp 1992, 244 f. mit Hinweis auf „einen auf dem menschlichen Selbsterhaltungstrieb beruhenden existenziellen Motivationsdruck“. 3 So Puppe, GA 1978, 289, 303 f.; vgl. auch Verrel 2001, 259 f.; Torka 2000, 233. Unerwähnt bleibt indes, was die hier gemeinte Demütigung von jener Beschämung abhebt, die sich bei der Thematisierung strafrechtlich irrelevanten Fehlverhaltens einstellt. 4

So wird auch die Angstverschiebung nicht bemerkt, in der die Furcht vor der Sanktion (der der Selbsterhaltungstrieb begegnet) zur Furcht vor dem Eingestehen (Beschämungsfurcht) wird. 5 Ebenso für den gesamten Bereich des „Notfall-Handelns“ Bernsmann 1989, 173. Nach Wegener (1991, 309) ist die psychische Situation sogar des geständigen Beschuldigten gegenwärtig nur von „in der Randzone zur Alltagspsychologie angesiedelten Abhandlungen“ untersucht. 6 Zur Vielfalt nachdeliktischer Geheimhaltungsgründe auch Berlitz 1991, 24 f.; Lamnek 2002, 1389. Dementsprechend belegt z.B. die Studie von Schönbach (1990, 121 ff.), dass die Reaktionen auf den Vorwurf, einen (durchaus auch strafrechtserheblichen) Fehler gemacht zu haben, nicht nur mit den Geschlechts- und Persönlichkeitsmerkmalen des Vorwurfsadressaten differiert, sondern auch mit der Schwere des Geschehens, der Person des Vorwerfenden und der Massivität der Anschuldigung. 7 Auch wo – wie bei Keller 1989, 134 f. und Weßlau, ZStW 110 (1998), 1, 26 – statt auf die Beschuldigtensubjektivität auf die Verhinderung eines objektiv erniedrigenden, entsubjektivierenden, instrumentalisierenden usw. Vorgangs abgehoben wird, ist die hier kritisierte psychologische Konstruktion unbesehen beibehalten worden. Man hat sie ohne inhaltlichen Änderung lediglich vom Inneren des Beschuldigten nach außen verschoben: Statt der „schlimmen“ Empfindung des Beschuldigten, in die sich der Staat hineinfühlt und die er deshalb unterbindet, geht es hiernach eben um die stellvertretende Bewertung dieser Situation durch den objektiven Dritten, bei dem das gleiche „schlimme“ Empfinden in typisierter Form den Maßstab bildet.

5. Kap.: Sachbezug der Selbstbelastungsfreiheit

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Erklärung und nähern sich dem Schutzgegenstand aus einer bislang unbedacht gebliebenen, kulturellen Perspektive, aus der sie die Aktionsformen thematisieren, mit denen das Beschuldigteninnere – sei es erfüllt von Scham- und Strafangst oder von etwas ganz Anderem – sozial erst relevant wird. In dieser Diktion kommen in der prozessualen Nicht-/Mitwirkung von Beschuldigten changierende Handlungstypen zum Zuge, die als Geheimhaltung und Selbstenthüllung zunächst auf ihre soziologische Form hin untersucht werden müssen.

1. Geheimnisorientierung als soziales Handlungsmuster a) Soziale Relevanz des Geheimnisses Nicht-Wissen hat zunächst einmal eine elementare interaktionstheoretische Bedeutung. Trotz der Notwendigkeit, sich für gemeinsames Verstehen und abgestimmtes soziales Handeln gegenseitig zu kennen, ist das Geheimnis eine Konstante menschlichen Lebens8. Kein Akteur ist in der Lage, das in ihm Vorgehende deckungsgleich wiederzugeben, weshalb er seine Subjektivität mit all seinen Verlautbarungen im Grunde nur inszenieren kann. Gleichzeitig vermag es auch kein Äußerungsadressat, aus dem Ausgesprochenen auf die Hintergründe des sich verständlich machenden Individuums zu schließen, weil er über keinen Zugang zu dessen biografisch stets singulärer Innerlichkeit verfügt. In dieser perspektivischen Differenz bleibt der Rezipient auf Sinnunterstellungen und erfahrungsgetragene Typisierungen verwiesen9. Was man in der Kommunikation mit einem anderen versteht, sind also Sinnkonstruktionen, die die inneren Realitäten im Verborgenen lassen10. Dabei re8 Die hier angerissenen Bedingungen gegenseitigen Verstehens bilden einen Schwerpunkt der phänomenologisch orientierten Soziologie (vgl. neben den klassischen Arbeiten von Alfred Schütz auch Berger/Luckmann 1969, 31 ff. sowie die prägnante Zusammenfassung bei Hahn 2000a, 82 ff.). Auch in der jüngeren Soziologie ist Nichtwissen ein Gegenstand, der breites Interesse findet, vorwiegend aber die nicht geheimhaltungsbedingte Unkenntnis (zusammenfassend Wehling, ZfSoz 2001, 465 ff.). 9 Vgl. zu diesem „objektiven Fremdverstehen“ bereits Simmel (1992/1908, 384): „Da man niemals einen andren absolut kennen kann, – was das Wissen um jeden einzelnen Gedanken und jede Stimmung bedeuten würde, – da man sich aber doch aus den Fragmenten von ihm, in denen allein er uns zugänglich ist, eine personale Einheit formt, so hängt die letztere von den Teilen seiner ab, den unser Standpunkt ihm gegenüber uns zu sehen gestattet.“ Fremdverstehen ist also „von den Formen abhängig, die der erkennende Geist mitbringt und in die er das Gegebene aufnimmt. Diese Formen sind aber, wo es sich um die Erkenntnis von Individuum zu Individuum handelt, sehr individuell differenziert (...)“. 10 Wie weit die Akteure mit typisierten Fremdbildfragmenten auskommen, hängt ab vom jeweiligen Beziehungstyp, der damit umgekehrt durch das jeweilige Ausmaß an Nichtwissen gekennzeichnet wird (dazu Simmel 1992/1908, 392 ff.; Westerbarkey 1991, 46 ff.).

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Teil 3: Grundfragen

flektiert die Interaktionspraxis ihre eigene „intersubjektive Ignoranz“ allerdings nur, wenn sie durch die Inkompatibilität des jeweiligen situativen Handelns dazu gezwungen wird. Ansonsten läuft das unumgängliche Geheimnis unbemerkt mit. Zugleich wird sein Ausmaß dadurch beeinflusst, dass jedermann „sein Verhalten durch die Rücksicht auf sein Erkanntwerden modifiziert“11. Es gehört zu jeder Form von Vergesellschaftung, dass die agierende Person durch die handlungsimmanente Selbstdarstellung den Eindruck lenkt, den die anderen Akteure von ihr gewinnen, um darüber die jeweilige Handlungssituation zu kontrollieren, sie konfliktfrei zu halten oder an den eigenen Handlungszielen auszurichten. Die „Inszenierungsgesellschaft“ macht das „wahre Ich“ permanent zum Geheimnis12. Zu einem Gewinn an individuellen Handlungsalternativen führt das für diejenigen, denen es gelingt, ihre verschiedenen gesellschaftlichen Rollen voneinander abzuschotten13. Interaktionstheoretisch gesehen sorgt das Arkanum also dafür, dass die personale Sphäre nicht im Gesellschaftlichen aufgeht. Hiervon heben sich (mit fließenden Übergängen) jene Aktionsweisen ab, bei denen man eine Information zurückhält, obwohl sie im konkreten Interaktionskontext beziehungsrelevant und/oder ihre Mitteilung erwartbar ist14. Eine solche Geheimhaltung im engeren Sinne übernimmt spezifischere Funktionen, die – ungeachtet ihrer ethischen Seite – für die Gestaltung sozialer Verhältnisse überaus bedeutsam sind. Das Geheimnis legt, indem es die betreffenden Daten gegenüber der Drittwahrnehmung abschottet und/oder deren Kommunikation unterbindet15, die personale Grenze fest, die den Wissenden vom Jedermann oder – im Falle des relativen 11

Simmel a.a.O., 386. Für eine klassische Untersuchung vgl. Goffman 1998, passim. Siehe dazu auch Hettlage 2003, 81 ff., 87 ff. sowie Willems/Jurga 1998 mit zahlreichen Dekonstruktionen des situationsspezifischen impression managements überwiegend aus dem Alltagsbereich. Angesichts des Bruchs zwischen Her- und Darstellung juristischer Entscheidungen zählt i.Ü. auch das konkrete Zustandekommen dogmatischer Stellungnahmen zu den mit (fachspezifischer) Rhetorik verborgenen Inszenierungen. 12 Vgl. auch die Soziologie von N. Elias, der den zivilisatorischen Prozess als Vorgang von der Fremd- hin zur Selbstkontrolle beschreibt – eingeschlossen die zu erwerbende Fähigkeit, das eigene (leibliche, seelische) Ich zu beherrschen, zu verhüllen, geheim zu machen. Die sich gleichzeitig etablierende Geständniskultur (dazu sogleich 2.) greift in diesen Prozess produktiv ein, weil sie dafür sorgt, dass das Individuum sich Klarheit über sich selbst verschafft, um so die selbstverhüllende Selbstinszenierung umso funktionaler agieren zu können (näher dazu Hahn/Leitner/Willems 1986a, 43 ff.; Maaßen 1998, passim). 13

Das Geheimnis erlaubt Inkonsistenz zwischen den Rollen (vgl. Nedelmann 1995, 13).

14

Zu diesem Geheimnisbegriff Westerbarkey 1991, 22 ff.; Keppler/Luckmann 1997, 205 f.; eingehend Sievers 1974. Damit nicht identisch ist Privatheit. Beide soziologischen Formen haben aber eine gemeinsame Teilmenge (zu sozialwissenschaftlichen Privatheitskonzepten Kruse 1980, 67 ff.; Gräf 1993, 16 ff.; Rössler 2001, 16 ff.). 15 Zu dieser Binnenunterscheidung von „Verheimlichung“ und „Geheimhaltung“ vgl. Hahn 1997, 1105 f.; ders. 1997a, 25; Rössler 2001, 204 f.

5. Kap.: Sachbezug der Selbstbelastungsfreiheit

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Geheimnisses – vom signifikanten Anderen trennt16. Der sich daraus ergebende Vorsprung situationsbedeutsamen Wissens kann vielfach von Nutzen sein. Die Gesellschaft, in der das Geheimnis ubiquitär verteilt und kulturell universal ist, hat gegenüber „dem kindischen Zustand“ völliger Publizität so gesehen „eine ungeheure Erweiterung des Lebens erreicht“17. Das Geheimnis erweist sich nämlich bereits auf der personalen Ebene als funktional. Psychologisch gesehen trägt es, da es die Eingeweihten von den Nicht-Wissenden trennt und seinem Inhaber somit das Gefühl von Autonomie gibt, geradezu zur Subjektkonstitution bei (was sich bei der kindlichen Persönlichkeitsentwicklung gut beobachten lässt18). Geheimnisse sind auch für den Aufbau persönlicher Beziehungen unersetzbar, da beziehungsgenerierende Kommunikation nicht stattfände, wenn alles schon offenbar wäre19. Die interpersonalen Verhältnisse der „kleinen Lebenswelten“ sind oft durch kompliziert verschränkte Verpflichtungen zu Geheimhaltung und Enthüllung geprägt, und selbst für enge Paarbeziehungen bildet ein gewisses „Maß gegenseitiger Verborgenheit“ ein „integrierendes Moment“20. Natürlich ist das Geheimnis aber auch außerhalb des persönlichen Umfeldes eine elementare Beziehungsgröße, weil zahllose Handlungsoptionen erst aus der Kontrolle von Wissen resultieren21. Das gilt ganz ähnlich für die Funktionsweise überindividueller Gesell-

16 Geheimhaltung kontrolliert die Verbreitung von Wissensbeständen, deren Zugang nur spezifischen Personen gestattet wird. Dabei liegt der Akzent „auf der Idee der Kontrolle, auf der des unerwünschten Zutritts …“ (Rössler 2001, 24; vgl. auch Kruse 1980, 128 f.). Das kann sich gegen alle denkbaren Wissensinteressenten richten oder nur gegen einzelne. „Bestimmte Informationen sind nicht an sich unaussprechlich, sondern nur gegenüber bestimmten anderen.“ (Hahn, KZSS 1991, 86, 94). 17 Zu dieser These Simmels (1993/1907, 317) näher Nedelmann 1995, 3 ff.; zu zahlreichen Sozialformen mit charakteristischen Geheimniskonfigurationen die Skizzen von Spitznagel 1998, 19 ff., 35 ff. 18 Vgl. dazu m.w.N. zur Forschung Spitznagel 1998, 29 ff. und Schmid 2000, 25 f. sowie die Fallstudien bei Tramitz 2003. Eingehend zum Zusammenhang von Kontrolle privaten Wissens und personaler Autonomie Rössler 2001. 19 Mit der Publizität entfiele der Antrieb, den das Geheimnis ob seiner Rätselhaftigkeit und Unbestimmtheit entwickelt, und das Spiel von Entbergen und Verbergen, das viele Beziehungen von der bloßen Rollenabwicklung abhebt, wäre unmöglich (vgl. Jung/Müller-Dohm 1998, 143 ff.). 20 Simmel 1992/1908, 391 f.; zum komplizierten Gemenge von Offenheits- und Geheimhaltungspflichten in Paarbeziehungen auch Hahn, KZSS 1991, 86, 94 f.; Bellebaum 1992, 122 ff.; Keppler/Luckmann 1997, 219 f. sowie die Bspe. bei Günthner/Keppler/Luckmann 1999. Die Geheimnisorientierung hängt hier nicht zuletzt mit den mitunter unerträglichen Folgen der Aufrichtigkeit für den Hörer zusammen. Dass das Geheimnis samt der Lüge in Zweierbeziehungen ein prosoziales Verhalten darstellen kann, das etliche kommunikative Probleme löst, belegt Lenz (2003) am Bsp. der Kontaktaufnahme und der Beziehungsanbahnung. 21 Die Geheimhaltung des eigenen Vorverhaltens z.B. entlastet von Verhaltenserwartungen und stellt von der eigenen verpflichtenden Handlungsgeschichte frei (vgl. Gräf 1993, 77 ff.).

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Teil 3: Grundfragen

schaftseinheiten22. Dort ist der Geheimhaltungsnutzen23 besonders plastisch bei normativ konstituierten Institutionen, die eine geheimnisfreie Öffentlichkeit ihrer internen Normwidrigkeiten nicht aushalten würden, da mit dem restlosen Wissen die normgeltungsstabilisierende Wirkung des Dunkelfeldes entfiele24.

b) Geheimnisinhalte Die Beziehungsrelevanz des Geheimnisses ist von alters her bekannt. Schon immer galt es als wichtige Fähigkeit, diese „innere Rüstung“ (Canetti) tragen zu können und der Versuchung zur Rede zu widerstehen. „Wer schweigt, kann immer noch reden. Wer dagegen geredet hat, kann darüber nicht mehr schweigen.“ Deshalb braucht der weise Redner die „Überschusskapazität“, neben dem Was auch das Wann und Ob seines Kommunizierens zu kontrollieren25. Darin liegt ein Gebot der instrumentellen Vernunft. Spätestens in der Neuzeit beginnt man aber, auch eine moralische Dimension der Zungenbeherrschung zu reflektieren26. Obwohl sich seither die normativen Vorstellungen über das richtige Verhältnis von Verschweigen und Selbstenthüllung stetig verschieben (ebenso wie die komplementäre Akzeptanz fremder Geheimnisse27), rückt die eine oder

22 Vgl. Canetti 1992, 326 ff.; Depenheuer 2001, 15 ff.; Jestaedt, AöR 2001, 204, 215 ff. am Bsp. des politischen Systems und so genannter Systemgeheimnisse. Siehe i.Ü. Westerbarkey 1991, 78 ff.; Hahn 1997, 1109 anhand weiterer überindividueller Geheimnisphänomene, die zur Reproduktion ausdifferenzierter sozialer Teilsysteme beitragen. 23 Nicht ausgeschlossen wird damit natürlich, dass es in bestimmten Situationen funktionaler ist, Informationen zu offenbaren (vgl. Sievers 1974, 73 ff.; für die Öffentlichkeit im politischen System Habermas 1992, 399 ff.; Jestaedt, AöR 2001, 204, 221 ff.; für die Handlungsebene vgl. Westerbarkey 1991, 144 f.; Schnell 1998, 391 f.). Jedenfalls die Täuschung hält Baurmann 1996, 416 ff. wegen ihres interaktiven Aufwands und ihrer Risiken „in the long run“ sogar für irrational (dazu auch Goffman 1994, 107 ff.). 24 Das ist für das Verbrechen aufgezeigt: Zwar stabilisiert Kriminalität im Falle ihrer rituellen Verarbeitung die Norm (Fn 73 in Kap. 4), doch ist ein gewisses Dunkelfeld dafür Funktionsbedingung. Die Symbolwirkung der Strafe kippt, wenn eine überbordende Verbrechensaufklärung den Eindruck beseitigt, dass der Normbruch ein Minderheitenphänomen sei. Bei offensichtlicher Normalität des Verbrechens ist die Norm nicht mehr einsichtig, und die Sanktion verliert ihren Schrecken (grundlegend Popitz 1968, 9 ff.; zu vergleichbaren Arbeiten vgl. Wehling, ZfSoz 2001, 465, 468 f.; skeptisch Streng 2002, Rn 49 f.). Die rechtliche Kommunikation muss das Wissen um den Normbruch also dosieren und ein „eigenes Paradox invisibilisieren ..., um zu verhindern, dass die Kommunikation stoppt“ (Luhmann, Soziale Systeme 1999, 218; Herv. i.O.). 25 Dazu mit dem Zitat Luhmann 1989, 105 f., 114 f.; vgl. auch Hahn 1997a, 35 ff.; zu Geschichte und Arten der Anleitungen über den rechten Gebrauch des Redens und Schweigens Bellebaum 1992, 56 ff. 26 27

Luhmann a.a.O., 120 ff. demonstriert dies am politischen System.

Zu den historischen Verschiebungen der Vertraulichkeitsgrenze (bzw. der Grenze des Enthüllen-Dürfens) bspw. Sack/Nogala/Lindenberg 1997, 287 ff.

5. Kap.: Sachbezug der Selbstbelastungsfreiheit

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die andere Seite dabei immer nur für bestimmte Situationen und Anlässe, bei bestimmten Themen und Darstellungsweisen in den Vordergrund28. Vergleichbar zeit-, kultur- und gruppenvariabel sowie immer auch kontextdifferenzierend sind die faktisch wirksamen Muster dessen, was tatsächlich geheim gehalten wird. Obwohl es zu allen Zeiten das Heimliche gab und gibt, produziert doch jede Gesellschaft ihre eigenen Geheimnisse29. Von der Forschung wird allerdings gezeigt, dass die Individuen üblicherweise solche Sachverhalte verbergen, die ihrem Image schaden und/oder negative Reaktionen auslösen30. Man verdeckt das Anstößige und Verbotene an der eigenen Handlungsgeschichte, um die mit der Selbstauskunft gepaarte Vulnerabilität zu vermeiden31. Nicht umsonst leugnet schon Kain den Brudermord, und das sogar im Gottesdialog. Der Schutz, den das Geheimnis dem Normbruch gewährt, ermutigt aber auch zur Verfehlung, denn je sicherer abzusehen ist, dass die Missetat sich verstecken lassen wird, desto durchlässiger erscheint die Beschränkung durch die normative Ordnung32. Der Bund zwischen dem Bösen und dem Geheimnis ist so eng, dass man die Bemäntelung einer Untat nachgerade erwartet (während man den unverhohlenen Delinquenten als besonders dreist empfindet und ihm die Absicht zuschreibt, dass er den Vorgang nicht als persönliche Devianz, sondern als demonstrative Infragestellung der normativen Ordnung wahrgenommen wissen

28 Dafür ist es aufschlussreich, dass die List in China seit jeher ethisch neutral als ein Werkzeug begriffen wird, dessen Bewertung von seiner Zweckverwendung abhängt (Senger 2002, 124 ff.). Dass diese Kultur einen jahrhundertealten Kanon an „Techniken der List“, der nahezu lehrbuchartige Anleitungen gibt, bis in die Jetztzeit tradiert (a.a.O., 52 ff.), verwundert daher nicht. 29 Zu privaten und institutionellen Geheimnissen in der Geschichte und in verschiedenen Kulturen vgl. die Beiträge in Assmann/Assmann 1997 – 1999; Engel u.a. 2002. Ein aktuelles Bsp. für solche Verschiebungen der Geheimhaltungspraxis bildet die grassierende Selbstenthüllung in TalkShows. Dort sind die Grenzen der Intimität nur noch da, „um spektakulär überschritten zu werden.“ (Jung/Müller-Dohm 1998, 140). Dieses Phänomen bildet neben der zunehmenden Privatheit politischer Diskursinhalte (klassisch Sennett 1983) ein plastisches Signum jenes historischen Vorgangs, den man unter der „Intimisierung des Öffentlichen“ erörtert (hierzu Rössler 2001, 307 ff.). 30 V.a. diskreditierende Umstände, wie etwa persönliche Schwächen (vgl. Goffman 1994, 56 ff.; ders. 1998, 40 ff.; Schmid 2003, 56). Häufig geheim gehalten wird auch, was durch Verlautbarung trivialisiert würde („was einem heilig ist“) und was selbstreflexive Emotionen auslösen kann (vgl. Spitznagel 1986, 25 f.). 31

Simmel 1993/1907, 317 f.; dazu auch Kruse 1980, 158; Westerbarkey 1991, 66; Gudjonsson 1992, 72; Bellebaum 1992, 108; Ekman 2001, 60 ff., 329; Hahn 2002, 21. Bereits bei Kindern zielt die häufigste und zuerst erlernte Lüge darauf, Bestrafung zu vermeiden (vgl. Vrij 2000, 14; Schmid 2000, 26 m.w.N.). Weil aber das „Böse“ seine Geheimhaltung nicht aus sich heraus veranlasst, sondern nur über seine sozialen Implikationen, führt die Kulturabhängigkeit des Verbotenen dazu, dass sich auch insofern die konkreten Inhalte des Geheimgehaltenen ändern. 32

Vgl. dazu die Überlegungen bei Kruse 1980, 120 ff.

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Teil 3: Grundfragen

wolle)33. So kommt denn im sprichwörtlichen „Auge des Gesetzes“ zur Sprache, dass das Unzulässige stets der aufmerksamen Entdeckung bedarf, weil es gewöhnlich im Verborgenen siedelt34. Trotzdem wäre es voreilig, das Geheimnis in deliktische Mithaftung zu nehmen und per se mit einem anrüchigen Anstrich zu versehen. Durch das Verheimlichen des eigenen missliebigen Handelns muss sich der Akteur nicht unbedingt seiner Verantwortung entziehen wollen35; genauso gut kann er sein Vorverhalten im Dienste einer „konstruktiveren“ selbstreflektierenden Identitätsarbeit von der Umwelt abschirmen36.

2. Geständnisorientierung als soziales Handlungsmuster a) Die Ausbreitung des Geständnisses Nun richtet die Geheimnis-Analyse den Blick auch auf das gegenläufige Handlungsmuster. Damit ist nicht etwa das explorative Vorgehen gemeint, mit dem der Nicht-Wissende die Kontrollversuche des Wissenden zu unterlaufen 33 Durch das verdeckte Delikt ist die Norm dagegen nicht vergleichbar angegriffen, was sich gerade darin zeigt, dass sie im Verborgenen abläuft und/oder verheimlicht wird (Lamnek 2002, 1388 f.). Die normgeltungsstabilisierende Wirkung des Dunkelfeldes (soeben Fn 24) hat darin eine Funktionsbedingung, weil sie auf der ausgewogenen Schrittfolge von „Verborgensein“ – „Ruchbarwerden“ – „symbolischer Verarbeitung“ beruht. Dass man zu Zeiten des germanischen Strafrechts die verdeckte Verfehlung für schändlicher als die offene Tat hielt (vgl. Rüping/Jerouschek 2002, Rn 7), hängt damit zusammen, dass eine eigenwertige Rechtsordnung, die offensiv (öffentlich) in Frage gestellt werden konnte, noch nicht existierte. Daher konnte der unverschleierte Angriff als ehrbarer interpersonaler Konfliktbeitrag imponieren. Dass sich dies spätestens im Hochmittelalter änderte, dokumentieren die außerordentlichen Prozeduren, in denen man von der offenkundigen Tat ein vergleichsweise geringeres Aufhebens machte (Handhaft, Notorietätsverfahren). 34 Bei den Allegorien vom Auge Gottes, dem Auge der Gerechtigkeit, des Geistes oder des Herrschers geht es ebenso wie beim Gesetzesauge als deren vollends säkularisiertem und entpersonalisiertem Abkömmling um den Zweiklang aus Allwissenheit und Aufsicht. Die verschiedenen Gebrauchsweisen dieser Formel spiegeln freilich auch die Spannung zwischen Schutz und Repression, in deren Diensten die Wachsamkeit stehen kann (instruktiv Stolleis 1994). Wie selbstverständlich wird dabei stets vorausgesetzt, dass das Auge das Gesetzwidrige aufzudecken hat. 35

Gerade die unaufgelöste Komplexität der Motivlagen war es, die eine darauf gestützte nemotenetur-Erklärung ungeeignet erscheinen ließ (oben in und bei Fn 5). 36 Solche internen Selbstthematisierungen klingen am ehesten in der Literatur zum „Geständnistrieb“ an (unten Fn 44). Ein differenziertes Gewicht erlangen sie aber auch dort, wo man destruktives Verhalten als Kompensationsform für das als beschädigt erlebte Selbstwertgefühl ansieht (dazu etwa Kräupl 1992; Kräupl/Ludwig 1993, 4 ff. sowie die bei Kölbel 1997, 226 ff. zusammengefasste Literatur). Von hier aus wird einsichtig, dass eine deliktsartige „Identitätsarbeit“ eben auch in durchaus widersprüchliche nachtatliche Selbstreflexionen einmünden kann. Folglich treten in der selektiven und eigenständig interpretierenden Weise, in der Verurteilte z.B. in der Studie von Stenger (ZfSoz 1985, 28, 43 ff.) ihre Taten darstellen, Strategien zutage, mit denen ein positives Selbstbild konstituiert und das angetragene kriminelle Stigma interaktiv wie kognitiv abgewehrt wird (vgl. auch Bock/Schneider, NStZ 2003, 337, 340; Messmer 1996, 230 f. m.w.N.).

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sucht37, sondern vielmehr der Enthüllungsmodus auf der Seite des Geheimnisträgers: der Verrat in seiner selbstreferenziellen Gestalt des Geständnisses38. Ungeachtet seiner kulturabhängigen Themen39 bildet dieser Aktionstypus, das weiß man seit Foucault, eine fundamentalere Handlungsform, als es das Geheimhaltungsbedürfnis sozialer Akteure erwarten lässt. Man kann dies weit zurückverfolgen, doch erst im „Abendland ist der Mensch ein Geständnistier geworden.“40 Seither zählt die bekenntnishafte Selbstthematisierung zu jenen Technologien, mit denen die Individuen ihr Selbst modellieren41. Sie knüpft an den vielförmigen machtreproduzierenden „Normalisierungsnetzen“ mit, wie sie „die Medizin, die Psychologie, die Erziehung, die Fürsorge, die Sozialarbeit“ in Verlängerung juridischer Techniken auswerfen42. Infolge dieser Ausbreitung ist eine konkrete Instanz, die das Geständnis befiehlt, gar nicht mehr identifizierbar. Sie wandert ins Innere und nistet in den Hinterköpfen. Die Allgegenwart von Selbstzeugnissen drückt dadurch nichts weniger aus als Norminternalisierung, Selbstkontrolle und Selbstzwang. So scheint uns das Geständnis derweil gar als Selbstverständlichkeit und nicht mehr als äußere Zumutung, weshalb es uns vorkommt, als ob die Wahrheit in uns darauf drängt, nach draußen zu treten – und sei es in einem Akt der Befreiung vom Geheimhaltungsdrang. 37 Bei einfachen (wahrnehmbaren) Geheimnissen – bei denen i.U. zu reflexiven Geheimnissen nicht auch die Existenz des Geheimnisses verdeckt wird (zu diesem Unterschied Sievers 1974, 26 ff.; Bellebaum 1992, 96; Hahn 1007, 1110; ders. 1997a, 29) – liegen Aufklärungsversuche des Ausgeschlossenen umso näher, je eher ihm ihre übermäßige Komplexität explorativ reduzierbar erscheint (vgl. Westerbarkey 1991, 71 ff.; Nedelmann 1995, 8; siehe auch die Analyse eines Beispiels bei Günthner/Keppler/Luckmann 1999, 394 ff.). 38 Vom Verrat als der eigentlichen Gegen-Form des Geheimnisses (vgl. Simmel 1992/1908, 410) ist der Selbst-Verrat nur eine Unterart, die sich wiederum differenziert in Kartharsis, Exhibitionismus, Selbstberichte, Selbsterzählungen, Anvertrauen usw. (vgl. dazu Spitznagel 1986, 22, 28 ff.; Pearce/Sharp, Journal of Communication 1973, 409, 414). Hinzu kommt die „unwillkürliche“, etwa mimisch oder gestisch getragene Selbstmitteilung („leakage“). 39 Illustrierendes Material für diese Kulturabhängigkeit bietet die selbstthematisierende DDRLiteratur: Deren Inhalte vor bzw. nach 1989 wechseln mit den Erwartungen des Publikums (eingehend Lee 2000). 40

Foucault 1977, 77. „Die Wirkungen des Geständnisses sind breit gestreut: in der Justiz, in der Medizin, in der Pädagogik, in den Familien – wie in den Liebesbeziehungen, im Alltagsleben wie in den feierlichen Riten gesteht man sein Verbrechen, gesteht man seine Sünden, gesteht man seine Gedanken und Begehren ....“ (a.a.O., 76; zum Folgenden a.a.O. 75 ff.). 41 Als Technologien des Selbst versteht Foucault jene Operationen, die der Mensch an Körper, Seele, Denken vornimmt, um „sich so zu verändern, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt“ (1993, 26). 42

Foucault 1992, 395. Vgl. auch Friedrich/Niehaus 1999a, 198 ff. zur Foucaultschen These des neuzeitlichen Übergangs vom rechtlichen zum außerrechtlich-normalisierenden Machttypus, der gleichzeitig zahlreiche Rechtstechniken übernimmt und verallgemeinert. Moderne Macht ist bei Foucault also nicht juridisch-imperativ konzipiert, sondern stellt Kräfteverhältnisse und Handlungsbeziehungen dar, die analysierbar seien als „Strategien ohne Strategen“ (einführend ders. 2001, 39 ff.).

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Teil 3: Grundfragen

In der Erwartung, „Nähe erzeuge auch Wärme“, setzt man sich in den Alltagsbeziehungen „unter Druck, die Barrieren (…), die der Freimütigkeit und Offenheit entgegenstehen, aus dem Weg zu räumen“43. Dass die medizinische und psychologische Forschung hernach sogar krankheitswertige Folgen mancher Geheimnisse konstatiert, ja das Geheimhalten selbst pathologisiert und folglich den gesundheitserzeugenden Effekt des Selbstzeugnisses („Katharsis“) propagiert44, belegt die Internalisierung des Geständnismusters durch eine Klientel, die unter ihren „Übertragungswiderständen“ leidet. Die psychoanalytische Disziplin setzt dem geradezu idealtypisch eine therapeutische Technik entgegen, mit der sie den Zugang zur verborgenen Identität des Analysanden sucht, indem sie ihn mit einem Gesundungsversprechen zur Suspendierung der mitteilungshemmenden Selbstkontrolle und zur ehrlichen Selbstauskunft bewegt45. Seine historisch gesehen klassische und vorbildhafte Form hat das Geständnis als all43 Sennett 1983, 425. Dem entspricht der Befund, dass die Mitteilung privater Sachverhalte auch unter Unbekannten nicht selten Sympathie für den Sprecher erzeugt (so m.w.N. SchmidtAtzert 1986, 102 f.). Vgl. i.Ü. zur Form von Alltagsgeständnissen Kroger, 1994, 110 ff. 44

Vgl. für eine heute einflussreiche Konzeption zur psychischen und (!) physischen Heilung durch Selbstenthüllung Pennebaker 1990. Soweit das die böse Tat anlangt, ging Reik schon vor Jahrzehnten davon aus, dass „die Verstellung und die Lüge eine Last sind und tief im menschlichen Seelenleben eine Sehnsucht nach Wahrheit wirkt“ (1971/1925, 193). Durch diese befreiende Wirkung erkläre sich der so genannte „Geständniszwang“, den er freilich anfechtbar auf Triebebene verortet und als Ausdruck des Strafbedürfnisses versteht (Reik 1971/1925; vgl. auch ders. 1978/1925, 73 ff.; zur kritischen Rekonstruktion dieses Konzepts Niehaus, Psyche 2002, 547, 549 ff.). Dass dieser Selbstenthüllungsdrang eine kulturelle Wurzel haben muss – Hepworth/Turner (1982, 77): „ ... it is the institution of confession and the culture of guilt which produces the need to confess rather than the need producing the institution.“ –, wird indes auch von Reik nicht geleugnet (Geständniszwang als „der umgewandelte Erwerb früheren äußeren Zwangs“, 1971/1925, 93). Unabhängig davon kann das Strafverfahren von diesem therapeutischen Modell aber kaum profitieren, denn „als Helfer kann sich der Richter nur betätigen, insofern er die Wahrheit schon verwaltet.“ (Niehaus 2003, 432). Und dennoch schreibt man die Überlegung, dass der Straftäter durch seine innere Not zur Schuldthematisierung und damit zum ersten „Heilungsschritt” geführt werde, auch in der modernen Kriminalpsychologie fort (z.B. Wrightsman/Kassin 1993, 101; Füllgrabe 1994, 48 ff.; Marneros, MschrKrim 1999, 359, 363). „Die Selbstbelastung führt zu einer Entlastung des Gewissens, Freiwilligkeit vorausgesetzt.“ (Arzt, JZ 2003, 456, 457). Der Erwägung, den Geständnistrieb aus staatlicher Fürsorge heraus institutionalisiert zu befördern, wird durch die psychologische Forschung allerdings selbst Einhalt geboten. Zum einen kann der Beschuldigte jedenfalls in der strafprozessualen Vernehmung die unbewussten Tatmotivationen ohnehin nicht artikulieren (vgl. Alexander/Staub 1971/1929, 226; Jäger 1980, 59). Und zum anderen stellen sich die intendierten kathartischen Prozesse meist nur bei jenem Teil der Geständigen ein, von dem „the crime is seen as being inconsistent with the persons view about themselves“ (Gudjonsson 1992, 77 m.w.N.), weshalb i.Ü. die Lüge auch nur bei manchen Personen ein Schuldgefühl erzeugt (vgl. Ekman 2001, 64 ff.). 45 Hierzu Willems 1994, 37 ff., 88 (vgl. auch Hahn/Leitner/Willems 1986b, 76 ff.; SeiffgeKrenke 1986; Bellebaum 1992, 133 ff.). Die kathartische Vorgehenslogik prägt den gesamten „Psycho-Markt“ (vgl. Hahn/Willems 1993, 319 ff. sowie zusammenfassend Corcoran 2000a, 132: „ ... the technique of assisted self-disclosure remains as a central tenet of diagnostic und therapeutic strategies in both professional and popular therapies“).

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gemeines Handlungsmuster jedoch in der Beichte46. Die Wort- und Werksünde und selbst der böse Gedanke müssen seither „der Kommunikation übergeben werden (...), es genügt gerade nicht, sie nur zu bereuen“47. Allerdings sind es bald, nachdem das kirchliche Monopol an der individuellen Gewissenserforschung an andere Instanzen überging48, auch die Einrichtungen der Humanwissenschaft49 und Pädagogik50, in denen das menschliche Subjekt das eigene Innere auslotet, um sich zu rationalisieren, zu domestizieren und gesellschaftlich einzupassen51.

b) Kultureller Nachrang des Geständnisses Geheimniswahrende und selbstthematisierende Aktionsformen treten in den westlichen Gesellschaften gleichzeitig auf52 und stiften dadurch eine Simultani46

Etwa Hahn/Willems 1993, 309: Geständnis als „ursprünglich im religiösen Kontext entwickeltes Modell“. Lediglich Niehaus hält Beichte und Geständnis für inkompatibel (2003, 116 f.; wie hier indes Brooks 2000, 90, 113 ff. oder Kroger 1994, 99: „confession as a model for everyday confession“). Näher zur Selbstthematisierung in der Beichte, deren Institutionalisierungsgeschichte und Binnendifferenzierung etwa Hepworth/Turner 1982, 39 ff.; Hahn, KZSS 1982, 407 ff.; ders./Leitner/Willems 1986a, 17 ff.; Bellebaum 1992, 131; Maaßen 1998, 291 ff.; Dinzelbacher 2001 sowie unten Fn 51 und 57. 47

Luhmann, Soziale Systeme 1999, 227.

48

In der Neuzeit wurde das Beichtinstitut bspw. durch Tagebücher und Autobiografien substituiert. Diese waren in der frühen Form ihrer Gattung noch „keine Kopien von Subjektivitäten und Innerlichkeiten, sondern Kopien von Vorschriften, die Innerlichkeiten (Herzensschriften) produzierten, um durch diese spirituellen Medien die Politik des Geistes zu sichern“ (Schneider 1986, 13; vgl. auch Le Brun 1987). 49

Zu den historischen Übergängen hin zu den Wissenschaften vom Seelenleben – die dann i.Ü. in das Rechtssystem eindringen und entscheidend auf forensische Beweispraktiken zurückwirken (unten II.2. im 6. Kap.) – etwa Kruse 1980, 48 ff., 62 ff.; Maaßen 1998, 388 ff., 418 ff. u.ö. 50

Z.B. Greenawalt 1974, 257 f.; Holly 1981, 307 ff.; Niehaus 2003, 285 ff.; ders./Schröer, Sozialer Sinn 2004, 71, 86 f. zu den Bekenntnisinteraktionen in der familiären und schulischen Erziehung. Man denke aber auch an das Geständnismuster in medizinischen Anamnesen, wissenschaftlichen Interviews, Bewerbungen, Antragsformularen, Einstellungsgesprächen usw. 51

So sollte die mittelalterliche Beichte die Augen für die Unzulänglichkeit des eigenen leibgebundenen Wollens öffnen, um damit eine religiöse Basisbedingung (Ehrfurcht vor der Größe Gottes) zu schaffen (näher Schlotheuber, ZHF 2004, 329, 347 ff.). Bezugsgröße für Selbstreflexion und Selbstkontrolle war hierbei eine Außennorm: die selbstverständliche gottgegebene Ordnung. Allerdings wird dabei der vollständige Verzicht auf das Selbst, der den frühesten Beichtformen (die letztlich auf ein rituelles Martyrium hinausliefen) noch innewohnte, nicht mehr eingefordert (dazu Foucault 1993, 61 f.). 52 Auch durch historisches Material wird diese Parallelität konträrer Muster in schöner Weise illustriert. So kennt der Wol-geschliffene Narrenspiegel von 1730, eine Nürnberger Neubearbeitung von Sebastian Brants Narrenschiff, sowohl den „die Heimlichkeit ausplaudernden Narr“ (Nr. 71) als auch den „die Wahrheit verschweigenden Narr“ (Nr. 103). Zur gleichen Zeit kursiert, um ein weiteres Beispiel zu nennen, das Märchen „Marienkind“ in verschiedenen Versionen. Ihr erlösen-

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tät gegenläufiger Erscheinungen53. Strukturtheoretisch scheint bei einer solchen „kulturellen Ambivalenz“54 die Frage nach dem primären bzw. sekundären Status der zugrunde liegenden Handlungsmuster müßig. Immerhin setzen sich Geheimnis und (Selbst-)Verrat gegenseitig voraus: Erst die aktuelle oder latente Erwartung des Gestehens führt zur Erwartungswidrigkeit und damit zum Geheimnischarakter der Nichtmitteilung. Und umgekehrt erhält eine Mitteilung nur deshalb den charakteristischen Zug der Geständnisinteraktion, weil man die fraglichen Informationen üblicherweise zurückhält (weshalb die Überwindung, die das Geständnis kostet, für dessen Wahrheit bürgt)55. Dennoch unterscheiden sich die so konfigurierten Handlungsmuster in ihrer Verhaltenswirksamkeit. Einiges deutet darauf hin, dass lebensweltlich im Geheimnis die „ursprüngliche“ Technik sozialen Handelns zum Zuge kommt, während die Selbstthematisierung als artifizielle Ausnahme vom „Naturzustand“ von außen an die Akteure tritt. Dafür spricht bereits der interkulturelle Vergleich, der in anderen Gesellschaften die hier skizzierten Geständnisnormen nicht ausmachen kann56. Dass die Selbstoffenbarung strukturtheoretisch kontraindiziert ist, leuchtet auch deshalb ein, weil jene in der Regel auf sekundierende „Gesprächsreservate“ angewiesen ist (sei es in Gestalt einer Vertrauensbeziehung oder einer normativ beschränkten Öffentlichkeit57). Außerdem macht ihre ursprüngliche Unwahrscheinlichkeit zusätzliche Umstimmungsmechanismen erforderlich, die den habituellen Geheimhaltungsimpuls suspendieren58. All diese Hinweise59 legen es des Ende erfährt die Hauptperson, die wegen des stetigen Leugnens einer Übertretung durch Pein und Elend geht, einmal, weil sie bis ans Ende standhaft schweigt, und in der anderen Variante, weil sie schließlich doch noch reuevoll gesteht (hierzu Belmont 1987, insb. 236 f.). 53 Vom Zusammentreffen einer Selbstoffenbarungs- und einer Selbstabschirmungskultur spricht auch Assmann 2002, 45; vgl. zudem Reichertz/Schneider 2001; Corcoran 2000, 189 sowie Brooks 2000, 3 („ ... our social and cultural attitudes toward confession suffer from uncertainties and ambivalences.“). 54

Zu diesem Konzept Devereux 1998, 245 ff.

55

Das Außergewöhnliche am strafprozessualen Geständnisses liegt also nicht in seinem staatlichen Adressaten und auch nicht darin, dass dieser dafür „empfänglich ist und ein offenes Ohr hat“ und dass der Sanktionshintergrund von beiden Seiten stets mitbedacht wird (so Niehaus, KrimJ 2000, 2, 11), sondern dass es sich vor dem Geheimnis als Gegen-Form konturiert. 56 So leisten sich bspw. nur Hochkulturen ein selbst- und schuldthematisierendes Beichtinstitut, wohingegen es bei den Beichtformen in zahlreichen tribalen Gesellschaften eher um Reinigungsriten geht, in denen das Böse ausgetrieben wird (eingehend Hahn 2000b, 174 ff., 181 f.). 57 Dazu Westerbarkey 1991, 67 f.; Rössler 2001, 236 ff.; Hahn 2002, 23 ff. ders. 1997, 1106. Deshalb konnte bspw. die Beichte nur in ihren Frühformen öffentlich sein, als sie keine Massen erreichen wollte und nicht obligatorisch war (vgl. Hahn/Leitner/Willems 1986a, 18 f.; Hahn/Willems 1993, 311 ff.; Hepworth/Turner 1982, 66 ff.; Foucault 1993, 52 ff.). Wo sie in der Moderne sichtbar zelebriert wird, zielt das auf die Disziplinierung des Publikums und nicht auf die des Geständigen (dazu anhand von Schauprozessen Riegel 1985; Lee 2000, 84 ff.). 58 Vgl. Hepworth/Turner 1982, 77; Willems 1994, 51 sowie am Bsp. von Verführung und Zwang zur Sozialtherapie im Strafvollzug Lamott 1984, 244 ff.

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nahe, dass sich unterhalb der kulturellen Ambivalenz eine kulturelle Präferenz des Geheimnisses verbirgt. Es gibt die geheimnisbrechende Selbstoffenbarung nur kraft entsprechender Institutionen. Jedes „freie Geständnis“ ist eine Fiktion, die (in Luhmanns Worten) subtile soziale Einwirkungen „invisibilisiert“.

3. Geheimhaltung im Strafrechtssystem a) Die „Rezeption“ des Geheimnismusters durch das Recht Vor der bisher entfalteten Hintergrundfolie nehmen sich die jeweils positivierten strafprozessrechtlichen Strukturen – seien es nun Geheimhaltungsmöglichkeiten oder Selbstmitteilungspflichten – als staatliche Übernahme eines der beiden vorrechtlich vorhandenen und sozial wirksamen Handlungsmuster aus. Bis in das 19. Jahrhundert hinein fiel dabei die Wahl auf das Geständnismodell (unten I. in Kap. 6). Dass das prozessbetroffene Subjekt sein Wissen unterdessen für sich behalten darf, dehnt seinen rechtsgewährten Handlungsraum heute dagegen auf die Geheimhaltung aus. Damit ist eine spezifische Aktionsform, nämlich das „Verheimlichen und Verschweigen“, in das Strafverfahren hineingeholt und als Geheimhaltungsrecht installiert60. Die besagte Person kann die fraglichen Informationen nunmehr von Rechts wegen kontrollieren – allerdings nur was deren eigenhändige Mitteilung anlangt. Dabei ist das Recht nicht dazu genötigt, diesen Codex auf die Innerlichkeiten der Wissensträger zu gründen. Es greift, wenn es die Bewegungsmöglichkeiten der Prozessbeteiligten absteckt, schlicht eine außerrechtlich verbreitete Verhaltensweise auf. Was auch immer hinter der Geheimhaltung des Beschuldigten 59

Die Indizienkette ließe sich noch um einige Glieder verlängern. So ist es aufschlussreich, dass in der Alltagskommunikation das Eingeständnis aufwendiger gestaltet wird als leugnende und zurückweisende Sprechakte. Wegen ihrer größeren desintegrativen Sprengkraft erfolgt die Sequenz „Vorwurf – Eingeständnis“ gegenüber der Sequenz „Vorwurf – Leugnen/Zurückweisen“ verzögert, in indirekter oder abgeschwächter Form und mit hinzugesetzter Erläuterung. Sie weist eine dispräferierte interaktive Struktur auf (zu diesen Befunden der konversationsanalytischen Sprachsoziologie vgl. Heritage 1984, 265 ff., 269 sowie Atkinson/Drew 1979, 122; Levinson 2000, 361 ff.; Komter 1998, 35 und die Beispiele bei Günthner 1999, 213 ff.). 60 Die „Übersetzung“ in rechtliche Formen nimmt dann natürlich Rücksicht auf die Bedingungen im strafprozessualen Kontext. Einem Geheimhaltungsrecht entsprechen die positivierten strafprozessualen nemo-tenetur-Regelungen deshalb nur „in etwa“ und nicht in allen Details. Deshalb kann es der Rückführung des nemo-tenetur-Satzes auf ein Geheimhaltungsrecht auch nicht widersprechen, dass sich der Staat gleichzeitig anschickt, die nämlichen Geheimnisse per Verbrechensaufklärung zu lüften (so aber Reiß 1987, 166). Schlüssig wäre dieser Einwand nur, wollte man die Geheimhaltungsbefugnis als absolute Position begreifen. Tatsächlich aber ist der Staat nicht gehindert, seine Belange als relativierbare Güter zu verfolgen und unvereinbare Interessen zeitgleich zu betreiben (hier: den Schutz neben der Exploration des Tätergeheimnisses). Er nimmt dann lediglich in Kauf, im konkreten Kollisionsfall eine Präferenzentscheidung treffen zu müssen.

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Teil 3: Grundfragen

stehen mag, wird zur Fundierung des Schutzgegenstands dagegen nicht gebraucht – weder ein affektives Schamgefühl noch ein kognitiver Verteidigungswille, weder ein unbewusster Selbstschutztrieb noch eine innere Selbstbildarbeit. Die Kodifizierung des Geheimnismusters verhält sich völliggleichgültig zu solchen Geheimhaltungsmotiven, deren individuelles Vorhandensein ebenso wenig von Belang ist wie deren Komplexität und Unzugänglichkeit. Zu welcher genauen Freiheitssubstanz die staatliche Entscheidung für das soziale Geheimnismuster führt, wird aber selbstredend erst durch die Zulassung konkreter geheimniswahrender Aktionsformen festgelegt. Die Lebenswelt bietet dem Prozessrecht dafür gleich eine ganze Reihe kommunikativer Mittel an. Die Bandbreite beginnt beim Schweigen als der typischsten Geheimhaltungstechnik61 und reicht über das Leugnen und die Ablenkung bis zu den verschiedenen Schattierungen und Mischformen der Täuschung62. Einstweilen kann das allerdings auf sich beruhen. Für den Zwischenbefund, dass das Rechtssystem mit dem Geheimhaltungsmuster eine generelle Handlungsorientierung aufnimmt, genügt die Feststellung, dass mit der unbestrittenen Schweigebefugnis mindestens eine wissenskontrollierende Aktionsform rechtlich garantiert ist.

b) Geheimnis und Geständnis in der Prozesswelt Die hier gewählte Rückbindung der Selbstbelastungsfreiheit an verhaltensbestimmende Alltagsnormen verknüpft den nemo-tenetur-Satz mit dem Geheimnismuster als einer validierten soziologischen Form und verortet seinen Sachbereich (bzw. den geschützten Realitätsausschnitt) in der Gemengelage gesellschaftlicher Selbstenthüllungs- und Selbstverhüllungsstrategien. Diese Realdaten sind indes nur unvollständig wiedergegeben, solange das Geflecht von Geheimnis, Exploration und Geständnis nicht für die Handlungsformationen in der Prozesswirklichkeit aufgearbeitet wurde.

61 Allerdings decken sich Schweigen und Geheimhalten nur partiell: Wer schweigt, muss damit nicht unbedingt etwas verbergen, sondern kann etwas ausdrücken (wollen), und wer etwas verbergen will, kann sich dafür auch der Worte bedienen (vgl. Bellebaum 1992, 82). 62 Es sei hier vorerst darüber hinweggesehen, dass man auch Schweigen zum Täuschen rechnen kann (vgl. etwa Becker 1948, 19: „latente Fehldarstellungslüge“). Zum sonstigen Spektrum der Täuschung gehören: Lüge, Ablenken, Ausweichen, Erfinden, Verfälschen, Über- und Untertreiben, Weglassen, Mehrdeutigkeiten, Auslassungen, Teilenthüllung, Dementis usw. (vgl. Goffman 1998; ders. 1994, 116 ff., Bellebaum 1992, 88; Schmid 2000, 117 ff., 232 ff.; dies. 2003, 57 ff.; Ekman 2001, 28 ff., 325 ff.; Hettlage 2003, 70 ff.). Außerhalb der face-to-face-Kommunikation kommen weitere Techniken hinzu.

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aa) Verteidigung und Geheimhaltung Geheimhaltung ist auch in der Verfahrensrealität allgegenwärtig, besonders ausgeprägt bei den Prozessunterworfenen63. Als deren faktische Praxis war es schon immer wirksam, selbst in der neuzeitlichen Inquisition (unten I.5. in Kap. 6). Die sozialwissenschaftliche Forschung hat sich des Deliktsverbergens bislang allerdings kaum angenommen64. Aufschluss über die Handlungsrelevanz des Geheimhaltungsmusters gibt lediglich eine insofern unspezifische Datenlage. Derartige Befunde produziert etwa die Kriminalistik65 (insbesondere die mit der Lügendetektion befasste Vernehmungslehre66), weil sie im systematischen Bemühen, das Fallwissen des Beschuldigten zu entziffern, dessen Geheimnis wenigstens beiläufig mitthematisieren muss. Hin und wieder wendet sich auch die psychologische Forschung der Geständnissituation zu. Wenn sie beim Beschuldigten, der in der Vernehmung zu bekennen anhebt, eine ratlose Spannung zwischen „aggressiver Widerstandsplanung einerseits und regressiv-fixierten Aufgabevorstellungen andererseits“67 konstatiert, bringt sie nichts anderes ans Licht als das Geheimnismuster, das unter dem Eindruck des Überführtwerdens in einer affektiv überlagerten, inneren Auseinandersetzung mit der Geständnisorientierung steht. 63

Selbstredend trifft man auch aufseiten der staatlichen Akteure das Geheimnis an. So sei der Beschuldigte in der Vernehmung keineswegs so weit über den Sachverhalt zu informieren, dass darunter „die wirksame Verbrechensbekämpfung Schaden leidet“ (Meyer-Goßner, § 136/6). Weiteres Anschauungsmaterial bieten neben der geheim erfolgenden Geheimnisexploration (unten I.3.b)ee)) die Zeugensperrung oder das Zurückhalten von Spurenakten (dazu Velten 1995, 220 ff.). 64 Besonders dramatisch ist dieses Defizit nach Sessar (1981, 125 f.) hinsichtlich solchen Begleit- oder Nachtatverhaltens, mit dem der Betreffende dafür sorgt, gar nicht in den instanziellen Prozess einzugehen. Derartige Aktivitäten sind nicht einmal dann näher untersucht, wenn ihnen – was indes gerade für die hiesige Arbeit von Interesse wäre – ihrerseits strafrechtlicher Qualität zukommt (sparsame kriminalstatistische Ausführungen indes bei Geerds, Jura 1995, 617 ff.). Geringfügig besser ist der Forschungsstand nur im Verkehrsbereich, wo einige empirische Untersuchungen die Furcht vor Strafe als Unfallfluchtmotiv und damit als ätiologischen Faktor für anschlussdeliktisches Agieren ausmachen (zusammenfassend zu diesen methodisch eher zweifelhaften, zuletzt durch Laumann 1998, 102 ff., 146 ff. repräsentierten Untersuchungen Kaiser 1970, 275, 280 f.; Hauser, BA 1982, 193, 194 f.; überzeugendere Täterbefragung bei Eisenberg/Ohder/Bruckmeier 1989, 89). 65 Das strategische Verbergen des authentisch-deliktischen Wollens wird dort auf eine systematische Ebene gehoben, wo man jede Straftat als zweidimensionalen Vorgang begreift und die kriminelle Primärhandlung von der begleitenden Tarnhandlung unterscheidet, um die Überschreibung der deliktischen durch die verdeckende Handlungsdimension in ihren Auswirkungen auf die Tatspuren analysieren zu können (dazu Oevermann/Leidinger/Tykwer 1994, 130, 162 ff., 169 ff.). 66

Eingehend zur entsprechenden kriminalistischen Praktikerliteratur, zu forensischpsychologischen und sozialpsychologischen Ansätzen L. Schneider 1991, 59 ff., 167 ff. 67 So Wegener 1991, 311 anhand der von ihm analysierten Ersttätergeständnisse; zusammenfassend zu psychologischen Modellen der Geständnisgenese Gudjonsson 1992, 62 ff.

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Teil 3: Grundfragen

Von der Soziologie werden die Geheimhaltungsstrategien von Beschuldigten häufiger beschrieben, beispielsweise von der so genannten „accounts literature“68. Deren Vernehmungsanalysen geben neben dem Schweigen auch einige komplexere Strategien der dialogischen Wissenszurückhaltung wieder (Rechtfertigungen und Entschuldigungen, Tatleugnen, Anzweifeln der Anklagebeweise)69. Andere Arbeiten dokumentieren subtile Zwischenformen, wie die der „informellen Aussageverweigerung“, mit der die Kooperation auf Niedrigstniveau aufrechterhalten und die Vorwürfe durch minimalistische Eigenversionen abgewehrt werden70. In all diesen Beschuldigtendarstellungen sind Informationsmitteilung und -zurückhaltung in unterschiedlicher Verteilung enthalten. Im Ganzen bestätigt sich daher die im Grunde banale Vermutung, dass in der Verfahrenswirklichkeit die alltagsweltlich einsozialisierten, kommunikativen Techniken der einfachen und reflexiven Geheimhaltung lebendig sind. Dass die staatlichen Akteure des Systems dies einkalkulieren71 und dass das Verheimlichen keine notwendig Erfolg versprechende Verteidigungsstrategie darstellt (vor allem nicht die einfache Geheimhaltung durch Schweigen72), kann dem 68 Diese Forschung ist damit befasst, wie soziale Akteure ihr Tun in Situationen erklären, in denen es ihnen vorgeworfen wird. „Accounting“ steht für „defensively re-interpreting the situation“ (McLaughlin/Cody/French 1990, 245), also für eine Form praktischen Erklärens der Betroffenen, die den Vorwurf (z.T. auch das zugrunde liegende Sinnmuster) nicht ohne weiteres akzeptieren und eine kommunikative Abwehrstrategie zur Erhaltung einer akzeptierten sozialen Identität entwickeln (für einen Überblick Buttny 1993; Antaki 1994; charakteristisch Studie bei Schönbach 1990). 69 In frühen kriminologischen Ansätzen fungierten „Rechtfertigungen“ als Devianz ermöglichende Neutralisierungsstrategien, mit denen die fraglichen Akteure bei der Handlungsentscheidung die Normwidrigkeit ihres anstehenden Tuns negieren, ohne die normative Ordnung generell in Frage zu stellen (so Sykes/Matza 1968; dazu auch Hester/Eglin 1992, 189 ff.). Seit Scott/Lyman (1976, 75 ff.) gelten Rechtfertigungen – neben dem nachträglichen Bestreiten von Verantwortlichkeit (Entschuldigungen) – dagegen als retrospektive, das Selbstbild stabilisierende Thematisierung eigenen Fehlverhaltens, mit denen man eine belastende Deliktserfahrung spannungsreduzierend bewältigt (zusammenfassend Hester/Eglin a.a.O., 191 ff.; vgl. auch Schönbach 1990, 121 ff.). Hier ist dies insofern von Interesse, als solche Strategien verbalisiert werden und sich im Verteidigungsgebaren niederschlagen (vgl. dazu v.a. die Befunde bei Cody/McLaughlin 1988, 118 ff.; Komter 1998, 36 ff.; aber auch bei Keller 1984, 260 f.; Stenger, ZfSoz 1985, 28, 32 ff.; McLaughlin/Cody/French 1990, 253 f.; Messmer 1996, 117 ff., 212 ff.; Philips 1998, 93 ff.; Montada 2001, 82 ff., 85; Lamnek 2002, 1384 ff.). 70

Plastische Fälle bei Schröer 1996, 135 ff. und Komter 1998, 6 ff.; zu weiteren Einlassungstypen vgl. Sege 1995, 164 ff.; Komter a.a.O., 45 ff. und öfter. 71 Vgl. vorerst nur Moston 1996, 93; Komter 1998, 1 und Brooks 2000, 39: “The assumption of the suspect’s guilt is primordial; all the techniques of interrogation follow from this assumption (…)”. Solche Situationsdeutungen wirken nicht nur handlungsleitend (unten I.3.b)cc)), sondern auch handlungslegitimierend. Dem einzelnen Beamten dienen sie etwa zur Rechtfertigung irreführenden Ermittlungsverhaltens (Belege bei Manning 1977, 180 ff.; Klockars, Amer. Behavioral Scient. 1984, 529 ff.; Barker/Carter, Deviant Behavior 1990, 61 ff.). 72 Insgesamt führt jedenfalls vor Gericht das Schweigen angesichts alternativer Beweismittel und der vom Gericht auf Plausibilität vorgeprüften staatsanwaltschaftlichen Version selten zur er-

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Geheimnis den Rang der primären Handlungsmaxime nicht nehmen. Ihr gegenüber muss, und darauf läuft ein guter Teil des Verfahrens hinaus, die Selbstzuschreibungsbereitschaft kommunikativ erst noch herbeigeführt werden. Wo das Geständnismuster im Strafprozess hervortritt, ist es daher als kontraindizierte Erscheinung anzusehen.

bb) Geständnis als Handlungsziel Die amtlichen Strafrechtsakteure orientieren ihr Handeln an der Rekonstruktion als wahr geltender Sachverhalte73. Verglichen mit dem Verfahrensbetroffenen leiden sie dabei zunächst an einem Informationsnachteil, denn die aufzuklärenden Gegebenheiten lagern vorwiegend in dessen Sphäre und werden von ihm zurückgehalten (soeben aa.). Will der Staat nicht auf die fraglichen Informationen verzichten, kann er darauf nur in wenigen Grundformen reagieren: indem er die Daten per Eigenermittlung selbst erhebt oder indem er einen Wissensträger durch Enthüllungszwang oder durch Verführung zu deren Preisgabe motiviert74. Zur ersten Variante zählen die Maßnahmen der Sachbeweiserhebung. Den Schwerpunkt der praktischen Verbrechensaufklärung macht jedoch die Vernehmung aus75, die vielfach durch eine bewegliche Mischung der beiden letztgenannten Strategien geprägt wird. Jedenfalls beim Verdächtigen bezweckt die Befragung allerdings nicht einfach nur ein Sammeln von Informationen, son-

folgreichen Verteidigung (entsprechende Befunde bei Ludwig-Mayerhofer 1998, 172 ff.; signifikanter Fall bei Legnaro/Aengenheister 1999, 37 ff.). Oft wird es vom Richter gelassen zur Kenntnis genommen (vgl. das Material von Ludwig-Mayerhofer, ZfResoz 1997, 180, 192 ff.), was sein Bemühungen, das Schweigen zu brechen, nicht ausschließt (Daten bei den Boer, ZfSemiotik 1990, 211, 217). Für die professionellen Verteidiger gilt die Aussageverweigerung v.a. dann als geeignetes Instrument, wenn unbedachtes Angeklagtenverhalten verhindert werden soll oder die Beweislage ergänzungsbedürftig ist (vgl. Legnaro/Aengenheister a.a.O., 33; Vogtherr 1991, 135 sowie die prozesstaktischen Überlegungen bei AK-StPO/Schlothauer, vor § 213/55; Schurig 2003, 88 ff.). 73

Dabei geht es nach der Aufklärungsperspektive der Polizei vornehmlich darum, in verdachtsentwickelnden Such- und in anschließenden Testschritten (dazu Reichertz 1991) eine lebensweltlich plausible Fallgeschichte zu entwickeln, die dann vor Gericht innerhalb eines Entscheidungsfindungsprozesses kontrolliert und in juristischen Kategorien (neu-)kontextualisiert wird. Zwischen diesen lebensweltlichen und formalen Handlungslogiken (zum Unterschied Soeffner 1992) nimmt die Staatsanwaltschaft eine transformierende Rolle ein (dazu Wernet 1991, 118 ff.). 74 75

Vgl. auch Hahn 2002, 22 und – gerade mit Blick auf das Recht – Engel 2002, 310 ff.

Wenigstens für den angelsächsischen Strafprozess ist die beweispraktische Bedeutung des Geständnisses vielfach belegt (zusammenfassend Gudjonsson 2003, 130 ff.). Aber auch für das hiesige Strafverfahren zeigen die bei Dölling (1987, 60 ff., 258 ff.) diskutierten Befunde, dass der Personalbeweis – mit deliktsspezifischen Abstrichen – insgesamt eine größere Bedeutung als der Sachbeweis hat (vgl. auch Oevermann/Leidinger/Tykwer 1994, 259 f., die dessen Leistungsgrenzen aufzeigen).

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dern zuallererst das Geständnis. Nicht allein wegen seines Aufklärungswertes76, sondern auch wegen seiner Beglaubigungswirkung markiert es in der Handlungsperspektive der Strafverfolger das eigentliche Ermittlungsziel. Ob ein Fall als wirklich geklärt gelten kann, hängt in ihren Augen davon ab, dass die Tat eingeräumt wurde. Ohne Täterbekenntnis fehlt allen Beweisketten die prächtigste Perle77. Auch deshalb ist das Entscheidungsverhalten in sämtliche Abteilungen des Strafverfolgungsbetriebs vom Nicht-/Vorliegen eines Geständnisses beeinflusst78.

cc) Die kommunikative Produktion des Geständnisses Weitaus häufiger als zur rigorosen Aussageverweigerung kommt es im Verfahren zu einer Teil-/Einlassung79, und zwar trotz des vorab erteilten Schweige-

76 Freilich ist er nicht gering zu schätzen. Das Geständnis verringert die Verfahrenskomplexität, was sich in einer nachweisbaren Prozessverkürzung niederschlägt (für das Hauptverfahren Dölling u.a. 2000, 209). Umgekehrt werden Verfahren ohne Geständnis überdurchschnittlich oft (folgenlos) eingestellt (vgl. Steffen 1976, 190 ff.; Ahrens 1978, 159 f.; Hertwig 1982, 187; Mansel 1989, 226; Ludwig-Mayerhofer 1990, 101 f.; ders./Rzepka, ZfResoz 1993, 115, 125; Steinhilper 1998, 101, 187 f.; Laumann 1998, 139 ff.). Ersetzbar ist das Geständnis umso weniger, je bedeutsamer die subjektive Ebene in der tatbestandlichen Konstruktion des fraglichen Delikts ist, weil diese dann aus dem objektiven Tathergang seltener abgelesen und durch andere Beweismittel schlechter kompensiert werden kann (vgl. Steffen a.a.O., 168; Blankenburg/Sessar/Steffen 1978, 74 ff.). 77 Steffen 1976, 186 f.; auch Evans 1994, 82; Stock/Kreuzer 1996, 245. Nicht selten fühlen sich Polizisten dadurch stark belastet, einen Fall als bewiesen abschließen zu müssen, obwohl es an der expliziten Selbstzuschreibung durch den Überführten fehlt (vgl. Reichertz 1991, 256 und die Hinweise bei Sege 1995, 272 ff. und Reik, 1971/1925, 118). 78 Neusubsumtionen, bei denen die festgestellten Fakten im Prozessverlauf unter andere Tatbestände gefasst werden, kommen bei Vorliegen eines Geständnisses seltener vor – nicht zuletzt wegen dessen deutungsfixierender Überzeugungskraft (vgl. Steinhilper 1998, 137 ff., 231 f.). Die staatsanwaltschaftliche Informalisierung setzt häufig Reue und Geständnis voraus (vgl. Wagner 1979, 203; Kunz 1980, 81 ff.; Kotz 1983, 126 f., 167 f., 187; Leßner 1984, 196 f.; LudwigMayerhofer 1990, 140 ff., 149 ff., 179; ders./Rzepka, ZfResoz 1993, 115, 127). Dementsprechend haben geständige Beschuldigte bessere Aussichten auf ein exkulpierendes psychiatrisches Gutachten (vgl. Gerstenfeld, MschrKrim 2000, 280, 282 f.). Auch Betreuungsvorteile im Strafvollzug werden nicht selten nur nach einer dispositions- und biografiebezogenen Selbstbezichtigung gewährt (vgl. Lamott 1984, 174 ff.). 79

Praktiker meinen, dass die „gewaltige theoretische Bedeutung“ der Schweigerechtsgarantie „in ein groteskes Missverhältnis zu ihrer verkümmerten Anwendung geraten“ sei (Salditt 2002, 68; vgl. auch Berlitz 1991, 26). Letzteres ist ein internationaler Befund (vgl. den Boer, ZfSemiotik 1990, 211, 213 sowie die nach Personen und Schweigegraden differenzierende Sekundäranalysen bei Gudjonsson 1992, 50 ff.; ders. 2003, 136 ff., 141 ff.). Zu entsprechenden Daten Stephenson/Moston 1992, 255 f.; Leng 1994, 22 ff. (jeweils für England); Leo, JCrim 1986, 266, 275 f. u.ö. (für USA); Wagner 1979, 136 ff. (für BRD; hier mit deliktsspezifischen Unterschieden Leßner 1984, 232; Dölling 1987, 143, 166, 228, 248; Ludwig-Mayerhofer 1998, 160 f., 165; vgl. aber auch die ungewöhnlich häufige Nichtgeständigkeit in den Daten von Dölling u.a. 2000, 115 f.).

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rechtshinweises80. Zur Wirkweise des Geständnismusters in der Prozessrealität ist damit indes noch nichts festgestellt. Instruktive Hinweise hierauf gibt erst die interaktionsanalytische Forschung zur Aussageherstellung81. Danach kann der vernehmende Ermittler, der beim Befragten fast immer ein verborgenes fallspezifisches Ereigniswissen vermutet und mit dieser Geheimniserwartung in die Befragung geht82, nicht einfach versuchen, durch seine interaktiven Züge eine Ereignisversion zu etablieren, die den Vernommenen plausibel als schuldig präsentiert. Vielmehr ist er, sobald das Recht dem Beschuldigten eine Schweigemöglichkeit bietet, mit dem Handlungsproblem konfrontiert, vor der Geständigkeit zunächst erst einmal die Gesprächsbereitschaft des Gegenübers herstellen zu müssen. So gesehen (d.h. der inneren Situationsstruktur nach) verfügt – anders als man angesichts der äußerlichen Machtverhältnisse meinen möchte – der Beschuldigte über die „Aushandlungsdominanz“. Hiervon ist die polizeiliche Handlungslogik primär geprägt (vom sonstigen Gesprächsrahmen also nur in zweiter Linie)83.

80

Nach Einführung der Belehrungspflicht (§ 136 I 2 StPO) kam es 1964 – 1966 nur zu einer geringfügigen Zunahme der Aussageverweigerung (zu den seinerzeitigen Erhebungen Kroth 1976, 275 ff.). Das deckt sich mit den Effekten der „Miranda“-Judikatur in den USA (zusammenfassend Leo, LSR 1996, 259, 260; Winn 2003, 466). Gelegentlich finden sich zu den Belehrungswirkungen aber auch gegenteilige Befunde (etwa bei Stephenson/Moston 1992, 255 ff.; vgl. auch Gudjonsson 1992, 58 ff.). Jedenfalls erhöht sich nach juristischer Beratung offenbar die Schweigebereitschaft (vgl. Vogtherr 1991, 284; Gudjonsson 2003, 150). 81 Die Berichte über inquisitorische Befragungsstile in der gerichtlichen Vernehmung (vgl. z.B. Hammerstein 1986) werden durch empirische Untersuchungen relativiert (vgl. Ludwig-Mayerhofer 1998, 192 ff.; Machura 2002, 230). Insgesamt dringen diese Analysen (zusammenfassend Machura 2001, 94 ff.) zur Interaktionsgrammatik allerdings nicht in der Weise vor, wie dies bei den hier herangezogenen Polizeistudien der Fall ist. 82

Oben Fn 71. Plastisch zeigt dies die Befragung von Vernehmungsbeamten bei Stephenson/Moston (PCL 1994, 151 f.), die sich bei über 1000 Verhören in den weitaus meisten Fällen von der Schuld des Beschuldigten – durchaus unabhängig von der Beweislage – überzeugt zeigten und fast durchweg die Geständniserzielung als ihr Vernehmungsziel nannten. Der Verdacht ist für sie keine mitlaufende Einstellung, sondern Arbeitshypothese. Nur der noch unverdächtige Täter genießt die Vorteile des reflexiven Geheimnisses, das beim Gegenüber keine Suchbewegungen provoziert. In der Zeugenrolle muss allerdings auch er mit einem unspezifischen Misstrauen der Polizisten rechnen (dazu Reichertz 1991, 234). 83 Dazu Reichertz 1991, 249; Schröer 1992, 130 ff.; ders. 2003, 64 ff.; ders., Kriminalistik 2004, 523 ff. (vgl. auch Kurzon 1994, 305; Löschper 1999, 124; Niehaus, ZfResoz 2003, 71, 78 f.). Die Eigenarten polizeilichen Vernehmungshandelns leiten sich also maßgeblich von den Vernehmungsrechten des Beschuldigten ab. Die Möglichkeit der Kooperationsverweigerung des Befragten ist als festes Element („Strukturkern“) auf der Ebene der Gesprächsorganisation eingebaut, da sie das vordringliche Handlungsproblem bildet, dass von den Beamten professionell bewältigt werden muss. Der Rahmen der Gesprächssituation – z.B. die Machtverteilung im Gesamtverfahren – kann bei dieser Aufgabe helfen. So gesehen ist etwa das ergebnis- und beweiswürdigungsbezogene Risiko des Schweigens ein sekundäres Element, das die gesprächsstrukturelle Dominanz in ihr Gegenteil verkehrt.

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Teil 3: Grundfragen

Dank ihrer Vernehmungskompetenz kommt indes die Polizei mit der handlungsstrukturell ungünstigen Lage meist recht gut zurecht, sodass sich auf der beobachtbaren „Außenhaut“ der Befragung ein Machtgefälle zu ihren Gunsten abzeichnen kann. Diese Überlegenheit muss aber jedes Mal neu erarbeitet werden. Deshalb handhaben die Vernehmungsbeamten die Schweigerechtsbelehrung nicht selten recht zurückhaltend, um einer Verweigerungshaltung vorzubeugen84. Vielfach wirken sie durch Vorteilsangebote und den Hinweis auf strafrechtsspezifische Kosten-Nutzen-Kalküle auf die Kooperationsbereitschaft hin85. Darüber hinaus bemüht sich der Vernehmende typischerweise aber auch darum, bei den Befragten die soziokulturell verankerten und sozialisatorisch erworbenen Geständnismuster anzusprechen, die ihnen alltagskulturell gegenwärtig sind (oben 2.a)). Hinter vielen der oft beschriebenen Verhörstechniken verbergen sich demzufolge Strategien, mit denen der Vernehmende durch bezeichnende Kommunikationsstile etwa eine dominierende Vater- oder eine symmetrische Freundesrolle einzunehmen sucht. Schafft er es, eine solche „Als-ob-Beziehung“ zu etablieren, werden beim Vernommenen kulturspezifisch institutionalisierte Kooperati84 Aus den Beobachtungs- und Interviewstudien vgl. Feest/Blankenburg 1972, 45 ff.; Steffen 1976, 190; Waldmann, MschrKrim 1977, 65, 69, 76; Girtler 1980, 92; Wulf 1984, 116 ff., 156 f. und öfter; Reichertz 1991, 249; Kurt 1996, 214; Stock/Kreuzer 1996, 175, 368; LudwigMayerhofer 1998, 160. Dahinter steht allerdings auch eine Denkart, der zufolge die strafprozessualen Formalien nur lästige und ungerechtfertigte Behinderungen der Nachforschung und Geständniserzielung seien (klassisch: Skolnick 1966, 6 ff.; Manning 1977, 161 ff.). Eine Steigerung dieser Formenskepsis ist die Haltung, sich notgedrungen (professionsbedingt) immer wieder am Rand der Legalität bewegen zu müssen (zum Dirty Harry-Problem vgl. Behr 2000, 147 ff.; zusammenfassend zur Erforschung des polizeilichen Selbstbildes jetzt Albrecht 2005, 49 ff.). Solche Einstellungen hängen nicht zuletzt damit zusammen, dass der organisationsinterne Status der Ermittler von ihrem Aufklärungserfolg abhängt (zum Dilemma zwischen formalen und informalen Handlungserwartungen, vgl. etwa Girtler a.a.O., 40 f., 75 ff.; Reichertz, KrimJ 1994, 123, 129 Anm. 13). 85

Vgl. Stock/Kreuzer 1996, 369 ff. mit Daten zu gratifikationsorientierten Vernehmungsstrategien. Dieses Vorgehen scheint erfolgreich zu sein – v.a. wenn es mit einer Drohkulisse verkoppelt werden kann (vgl. die Fallanalyse bei Niehaus/Schöer, Sozialer Sinn 2004, 71, 74 ff.). Jedenfalls erklären viele Straftäter ihre Einlassungsbereitschaft mit komplementären Vorteilserwägungen (Verbesserung bzgl. Verfahrenslage und erwarteter Strafe; vgl. Gudjonsson/Bownes, MedSciL. 1992, 204 ff.; Kraheck-Brägelmann 1997, 292 f.). Dieses Kalkül berücksichtigt v.a. die Beweislage (vgl. Gudjonsson 1992, 78: “... the most frequent and important reason suspects confess is the strength of their belief in the evidence against them.”). Ob die Rechnung der Beschuldigten aufgeht, ist aber offen. Auf das gesamte Verfahren gesehen erhöht das Geständnis eindeutig die Verurteilungswahrscheinlichkeit (vgl. Steffen 1976, 193; Blankenburg/Sessar/Steffen 1978, 139, 242; Berckhauer 1981, 184; Leßner 1984, 234; Dölling 1987, 261; Steinhilper 1998, 187 f., 231 f.; zur Abmilderung dieses Effekts durch belohnende Informalisierung soeben Fn 78). Dass sich Kooperation wenigstens in der Sanktionsschwere auszahlt, ist ungesichert (Anhaltspunkte bei Wagner 1979, 338; Kinzig 2004, 641; beweislagenabhängige Unterschiede bei Ludwig-Mayerhofer 1998, 225, 233 f.; Daten ohne eindeutige Hinweise bei Rader 1979, 282 ff.; Legnaro/Zill, ZfResoz 1987, 231, 249 und für England auch bei Stephenson/Moston 1992, 261). In der Polizei kursiert denn auch das Motto: „Ehrlich sitzt am längsten“ (Reichertz, KrimJ 1994, 123, 135 Anm. 10).

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ons- und Kommunikationspflichten aktiviert, die im Alltag gegenüber Väterautoritäten und Freunden bestehen86. Geständigkeit wird also durch die Anregung eingelebter bekenntniserzeugender Interaktionsmuster bewirkt, nicht durch einen simplen kommunikativen Zwang87.

dd) Geständnis per Interaktionsdeutung Im psychologisierten Vernehmungsgespräch wird die alltagsweltliche Bekenntniskultur also vorausgesetzt und situativ zur Geltung gebracht. Die Wirkmächtigkeit des Geständnisdispositivs (Foucault) zeugt sich aber auch in den Plausibilitätsschlüssen fort, die im Zusammenhang mit dem Beschuldigtenverhalten in die Konstruktion des strafrechtlichen Falles eingehen: Schweigen kann von Haus aus ein aufschlussreicher kommunikativer Akt mit situationsabhängig zugeschriebener Sinnhaftigkeit sein88. Es erhält dabei leicht einen hinnehmen86

Dazu Reichertz 1991, 248 ff.; Schröer 2002, 19 ff., 245; ders. 1992, 152 ff., 168 ff.; ders. 2003, 69 ff.; ders., Kriminalistik 2004, 523 ff.; Niehaus/Schröer, Sozialer Sinn 2004, 71, 88 ff. mit der Rekonstruktion weiterer, in der Vernehmung eingenommener Beziehungstypen (Lehrer, Pastor, Erzieher, Berater). Ansatzweise zu „pseudosymmetrischen Kommunikationsmodellen“ in der Vernehmung auch Banscherus 1977, 47 ff., 210 ff.). Vor diesem Hintergrund wird nach Reichertz (1998, 270 ff.) und Schröer (1996; 2002, 150 ff., 206 ff.) plausibel, warum Nichtdeutsche zwar häufiger in Tatverdacht geraten, dann aber ein geringeres relatives Verurteilungsrisiko tragen: Die im Text wiedergegebene polizeiliche Überführungsstrategie versagt ihnen gegenüber, weil die Beziehungswirklichkeiten, an die die Vernehmung appelliert, kulturspezifisch und nicht universal gültig sind. Wer wegen seines kulturdifferenten Hintergrundes mit diesen Mustern nicht vertraut ist, wird davon auch nicht zum Einstieg in eine äußerungsmotivierende Rollenbeziehung motiviert. 87 Vgl. Reichertz/Schneider 2001. Geständnisherstellende kommunikativ-sprachliche Techniken wurden bislang allerdings auf ihre geständniskulturellen Referenzen kaum untersucht. Es dominieren Analysen zu aufgelagerten Methoden. Vgl. neben den Experimenten zu den „good cop/bad cop“- Strategien bei Kassin/McNall, Law and Human Behavior 1991, 233 ff. etwa Schütze 1975, 824 ff.; Brusten/Malinowski 1975, 73 ff., 80 ff. und die Daten bei Girtler 1980, 67 ff.; Holly 1981, 291 ff.; Wulf 1984, 349 ff.; Evans 1994, 83 f.; Sege 1995, 188 ff.; Leo, JCrim 1996, 226, 277 ff. u.ö.; ders., LSR 1996, 259, 266 ff.; Moston 1996, 93 ff. sowie Schwitalla, Folia Linguistica 1996, 217, 224 ff. mit einer Beschreibung zur fallspezifisch eingesetzten Herstellung von Nähe (durch Übernahme des Beschuldigtendialektes, Gebrauch von Szenebegriffen, demonstrativer Perspektivenübernahme, Vertraulichkeitsangebot usw.). Bereits die narrative Darstellung der erfolgten polizeilichen Ermittlung legt dem Beschuldigten das Geständnis als das einzig Vernünftige nahe (vgl. Sharrock/Watson 1989, 447 ff.). Gesprächsstrukturell wirkt i.Ü. auch die Darstellung der eigenen Fallversion als Wissensbehauptung auf ein Eingestehen hin, weil es den konversationellen Aufwand des Widerspruchs erhöht (dazu Watson 1990, 263 ff.; Ullmer-Ehrich 1980, 216). 88 Wenn das Schweigen als Entscheidung zwischen Handlungsmöglichkeiten und insofern als Mitteilung aufgefasst wird, kann ihm die verschiedenste Bedeutung zugewiesen werden (vgl. dazu aus den von Bellebaum 1992, 9, 182 zusammengetragenen sprachlichen Wendungen das andächtige, erwartungsvolle, ehrfürchtige, eisige, feindselige, lastende, peinliche, verächtliche, verlegene, beharrliche, beklommene, beleidigte, betretene, brütende, dumpfe, eiserne, tiefe, unerträgliche Schweigen). Die konkrete Sinnzuschreibung erfolgt dann anhand des Kontextes, beginnend mit dem vorherigen Redezug (vgl. Kurzon 1994, 318) und der Platzierung im sequenziell organisierten

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den oder beipflichtenden Einschlag89, der in Konstellationen, in denen man individuelle Verantwortlichkeiten thematisiert, meist in einer spezifischen Unterart auftritt: Hier wird das Schweigen des Vorwurfsadressaten nicht als bloße Antwortverweigerung ausgelegt, sondern als subjektiv gewollter Geheimhaltungsakt, der sich als Eingeständnis begreifen lässt. Das Schweigen erhält von seinen „Hörern“ die Bedeutung, es verberge – auf ungewollt aufschlussreiche Weise – das „bewusste“ (dunkle) Geheimnis90. Folglich nimmt man im Strafprozess an, der Unschuldige werde sich sprechend verteidigen, und nur der Schuldige schwiege still91. Verdächtig macht sich deshalb auch derjenige, der die prozessuale Kooperation verweigert92. Fatalerweise lässt das Entlastungsinteresse, das man dem Beschuldigten unterstellt, aber ebenso das Verteidigungsvorbringen als anrüchig erscheinen93.

Redezugwechsel (z.B. Bergmann 1982; zu Besonderheiten der Schweigedeutung, die aus der in institutionellen Kontexten festgelegten Redezugverteilung resultieren, vgl. Atkinson/Drew 1979, 68; Matoesian 1993, 135 ff.). Geht es indes darum, die Akteursabsicht richtig zu erschließen, ist das Schweigen von erheblicher Mehrdeutigkeit, weil es sich nur über den Kontext auslegen lässt (während die Rede ihrer Auslegung immerhin sprachliches Material zur Verfügung stellt, vgl. Bergmann a.a.O., 144; Hahn, KZSS 1991, 86, 87). Der Schweigende wählt insofern eine ambivalente kommunikative Strategie, weil er die Chancen, verstanden zu werden, reduziert. 89 Einen Beleg dafür liefert etwa die vormals weit verbreitete Rechtsregel „Wer schweigt, stimmt zu“, deren Wurzeln in der Antike und im mittelalterlichen römischen Recht liegen (dazu Krampe 1989). 90 Deshalb genügt es mitunter, Schweigen zu provozieren. Vor den Ausschüssen für unamerikanisches Verhalten, mit denen der US-Kongress einer gemutmaßten kommunistischen Unterwanderung Herr werden wollte, zielte die Befragung nicht selten darauf, die Aussageverweigerung zu veranlassen. Vor der öffentlichen Meinung war das Geständnis genug (dazu Niehaus 2003, 515). 91 Zu dieser „natural interpretation“ (Kurzon 1994, 330) des Schweigens im Verhör vgl. nur Schütze 1975, 823; Luhmann 1997a, 97; Corcoran 2000, 189; signifikante Fälle zu dieser forensischen Alltagsperspektive bei McBarnet 1981, 55 ff.; Holly 1981, 279. In Großbritannien wurde durch ss. 34 – 39 Criminal Justice and Public Order Act 1994 gerade diese Motivzuschreibung positiv-rechtlich zugelassen (zu den Details, der britischen und europäischen Anschlussjudikatur sowie der vorangegangenen und nachfolgenden rechtswissenschaftlichen Diskussion vgl. Greenawalt 1974; Morgan/Stephenson 1994; Janicki 2002, 407 ff.; Rau 2004, 205 ff., 231 ff.). 92 Dazu etwa Frister, ZStW 106 (1994), 303, 325 ff.; Seibert 1991, 77 f.; kennzeichnend Janiszewski 1994, Rn 367: Einer Bitte um Teilnahme an der freiwilligen (da verdachtsfreien) Atemalkoholkontrolle nicht nachzukommen, „wäre allerdings recht unklug, weil wegen des dann verstärkten Verdachts eines beachtlichen Alkoholeinflusses in der Regel sofort eine Blutentnahme angeordnet wird“. 93 Das Selbstschutzinteresse des Sprechers mindert in der Perspektive der Hörer – wie i.Ü. auch nach den Annahmen der Aussagepsychologie (vgl. Eisenberg, JZ 1984, 961, 965; Gley, StV 1987, 403, 410) – die Glaubhaftigkeit seiner Entlastungsaussage (Befunde bei Wolff/Müller 1997, 138 ff., 267 ff.; Komter 1998, 24 f.; Legnaro/Aengenheister 1999, 69, f., 72). Umgekehrt verfügt das selbstschädigende Geständnis über einen Glaubhaftigkeitsbonus. Für Weigend (StV 2003, 436, 437) ist eine Verteidigung durch Bestreiten „danach – jedenfalls psychologisch – nicht mehr sinnvoll“. So kann es nicht verwundern, dass der Geständniswiderruf vielfach ins Leere stößt (vgl. Beneke 1990, 97 ff.) und die Beweiskraft des einmal erbrachten Geständnisses nur mit einem immen-

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ee) Exkurs: Verdecktes Enthüllen Die Komplementarität von Verbergen und (Selbst-)Enthüllen im Strafprozess entspricht der Koinzidenz von Geheimhaltungs- und Geständnismuster in der Alltagskultur. Bei der face-to-face-Interaktion des Verhörs findet dies zwar einen besonders unvermittelten Ausdruck, doch prägt sie andere kommunikative Verfahrensvorgänge ebenso, etwa den Ablauf von Ermittlungsmaßnahmen. Besonderer Erwähnung bedürfen indes die verdeckten polizeilichen Aufklärungsmethoden, weil die Verbrechensverfolgung mit ihnen das Feld des offenen Austauschs verlässt. In der geheimnisbezogenen Spannungslage bewirkt dies weit mehr als nur eine Randverschiebung. Die Klage, dass die Ausforschung (heimliche Veranlassung von Selbstmitteilungen, etwa im Gespräch mit V-Leuten und verdeckten Ermittlern) ebenso überhand nehme wie die Überwachung (heimliche, meist technische Observation arglos erbrachter Selbstmitteilungen), ist zwar nur bedingt berechtigt, doch immerhin werden solche Ermittlungsformen durch ihren belegten Anstieg zu einer beachtlichen Größe des modernen Strafprozesses94. Aus der auf Foucault zurückgehenden gesellschaftstheoretischen Perspektive fügt sich dies bruchlos in die grundlegenden Verfahren der Sozialorganisation ein. Jene Ermittlungsmaßnahmen sind den wissensbasierenden Machtmechanismen ohne weiteres zuzuschlagen95 (obwohl gerade die außerstrafrechtliche Überwachung durch ihre technologische Entwicklung und ubiquitäre Verfügbarkeit nicht nur für eine Intensivierung, sondern auch für eine Dezentralisierung und Diffusität der Machtrelationen sorgt96). Dass die Gesellschaft die modernen computerisierten Observationen wegen der ihnen zugeschriebenen Eignung zur Risisen prozessualen Aufwand beseitigt werden kann (Praxisbsp. bei Stern 1986, 92 ff.). Kraft seiner suggestiven Wirkungen glaubt man kaum noch an die Unschuld der betreffenden Person, wenn sie die Tat einmal eingeräumt hat. Daran ändert sich – das zeigen die Experimente von Wrightsman/Kassin (1993, 102 ff.) – selbst dann nichts, wenn die selbstüberführende Aussage offensichtlich unzulässig veranlasst wurde. Dies ist durchaus kein Artefakt einer Versuchsanordnung. Wie Leo/Ofshe anhand von Fallstudien belegen, ziehen zahlreiche Falschgeständnisse (und zwar nicht nur die unerkannt falschen Aussagen) auch in der Prozessrealität eine prozessuale Verfolgung und Bestrafung nach sich (JCrim 1998, 429, 477 ff; vgl. z.B. auch das Material bei Lange 1980, 90 ff.). 94 Entsprechende Anhaltspunkte für die Ausforschung bei Pütter 1998, 86 f., 109 ff. und Köhler 2001, 123. Während die akustische Wohnraumüberwachung wegen technischer Probleme und wegen ihres Aufwands nicht übermäßig zunimmt (vgl. Albrecht 2005, 124 f.), werden Telefonüberwachungen seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert deutlich häufiger angeordnet (vgl. dazu die Zahlen bei Böttger/Pfeiffer, ZRP 1994, 7, 8; Pütter a.a.O., 77 f.; Neuhaus 2002, 377 f.; Albrecht/Dorsch/Krüpe 2003, 28 ff.; vgl. auch Kinzig 2004, 444 ff.; zu Defiziten der amtlichen Zählung Backes/Gusy 2003, 16 f.). Speziell zur Implementierung der (vorwiegend präventiven) Videoüberwachung Sack/Nogala/Lindenberg 1997, 295 ff.; Müller, MSchrKrim 2002, 33 ff.; Stolle/Hefendehl, KrimJ 2002, 257, 262 ff. 95 Ein Unterschied zur Gewalt als einer anderen Herrschaftsform ist für die Sozialwissenschaft dabei keineswegs ausgemacht. Für sie führt die verdeckte Polizeiarbeit zu „der schwierigen Frage: Sollte sie als eine Form der Gewalt (violence) angesehen werden, weil sie zweifellos eine Verletzung (violation) der Privatsphäre der betroffenen Person darstellt?“ (Brodeur 2002, 279). 96

Eingehend dazu Whitaker 1999; Lyons 2001.

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kokontrolle97 in der Verbrechensverfolgung zum Einsatz bringt, ist dennoch nicht selbstverständlich. Es setzt voraus, dass sie der ehedem als befriedet gedachten Privatsphäre das Zutrauen entzieht und dort ein bedrohliches Geheimnis vermutet98.

Mit verdeckten Ermittlungsmethoden reichert sich das administrative Arsenal an Aufdeckungstechniken um die bemerkenswerte Möglichkeit an, sich durch ein eigenes Geheimnis einen Vorsprung situationsrelevanten Wissens zunutze zu machen, um den Geheimhaltungsmaßnahmen des inquirierten Subjekts zuvorzukommen. Daher darf man erwarten, dass mit ihrer Verbreitung ein Zuwachs an polizeilicher Nachforschungsmacht einhergeht, wohingegen die betroffenen Personen an Geheimhaltungsmacht verlieren99. Wie sich das in der Handlungspraxis des Verheimlichens, Offenbarens und Aufdeckens äußert, wurde bislang allerdings kaum erhoben100. Man muss sich stattdessen mit einer vorläufigen Rekonstruktion der Interaktionsstrukturen behelfen: Während die polizeiliche Überwachung eine einseitige Kommunikation situiert, in der der Bürger ungewollt Informationen an den Staat sendet, ist dies bei der polizeilichen Ausforschung vermengt mit einer Veranlassungskommunikation, die den Anschein eines Mitteilungsgrundes hervorbringt. Aus soziologischer Sicht, die im Geheimnis die vom Wissensträger kontrollierte personale Grenze des Nicht-/Wissens ausmacht (oben I.1.a)), sollte man diesen Unterschied aber nicht überschätzen: Dass die Überwachung mitteilsamen und/oder wissensanzeigenden Handelns die Möglichkeit des verdächtigen Geheimnisträgers untergräbt, den Kreis der eingeweihten Dritten zu bestimmen, beruht auf der Ausnutzung eines Risikos, das mit der Kommunikation geheim zu haltenden Wissens verbunden ist101. Wenn der Beschuldigte durch die Ausforschung darüber hinaus erst in die Lage situativer Fehldeutung versetzt wird, aus der heraus 97

Zur Rekonstruktion dieser Zuschreibung vgl. Lyons 2001, 6, 49 ff. m.w.N.

98

„Das Private wird damit vom Intimen zum Geheimen.“ (Kreissl 1998, 159).

99

Dazu Sack/Nogala/Lindenberg 1997, passim.

100

Forschungsdefizite konstatieren auch Albrecht/Dorsch/Krüpe 2003, 111 ff., vgl. zur Praxis verdeckter Ermittlungen aber Marx 1988 und für den deutschen Raum Haas 1986, 264 ff.; Scherp, Kriminalistik 1993, 65 ff.; Stock/Kreuzer 1996, 290 ff., 295 ff., 341 f.; Pütter 1998, 70 ff. 101 Die Überwachung deckt Geheimnisse dadurch auf, dass sie das geheim Gehaltene oder dafür signifikante Anzeichen (z.B. verräterisches Handeln) registriert. Eine weitere Zugriffsmöglichkeit besteht für sie bei relativen Geheimnissen. Die im Einweihen dritter Personen enthaltene Komponente der Vertraulichkeit, deretwegen das Einweihen ein Geheimhaltungsakt ist, kann die Überwachung durch Wahrnehmung aufheben. Sie macht den Einweihungsakt damit zur Selbstmitteilung. Das kann entweder durch technische Aufzeichnung geschehen oder per Verrat durch den hierzu von vornherein entschlossenen (weil vielleicht beauftragten) Einweihungsadressat (denn es ist das Gleiche, ob der Geheimnisempfänger vom „Gespräch berichtet oder (…) das Mithören ermöglicht“, Pawlik, GA 1998, 378, 384). Dagegen zählt die Geheimnispreisgabe des ursprünglich diskretionswilligen Dritten nicht zur Überwachung. Wenn er das Vertraulichkeitsvertrauen des Beschuldigten enttäuscht, beruht das nicht auf Beobachtung, sondern auf verselbstständigten Folgekommunikationen.

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es überhaupt nur zu seinem selbstverräterischen Tun kommt102, ändert dies nichts daran, dass er in beiden Fällen an der vollständig autonomen Geheimniswahrung gehindert ist. Es differiert nicht das staatlich ausgenutzte Defizit an jener Situationsübersicht, die man zur Wissenskontrolle benötigt, sondern nur die Nicht-/Zufälligkeit seines Zustandekommens103.

4. Zwischenbilanz Die Parallelität gegensätzlicher Handlungsmuster schlägt aus der Alltagskultur, die beim pragmatischen Umgang mit einer dunklen Handlungsgeschichte auf das Geheimnis ebenso wie auf das Geständnis setzt, in den Bereich der symbolischen strafrechtlichen Verantwortlichkeitsthematisierung durch. Wo dieses Gemenge aus widersprüchlichen Handlungsorientierungen den Strafprozess strukturiert, wird es jedoch dadurch überformt, dass die Verheimlichungsmöglichkeit, die nemo tenetur dem Beschuldigten verschafft, dem Geheimhaltungsmuster zu einer größeren Durchsetzungschance verhilft. Durch Gesprächsverweigerung kann die beschuldigte Person versuchen, ihr Fallwissen für sich zu reservieren104 und auch der (unbewussten) Preisgabe indirekt einschlägigen 102 Auch die Prozessrechtsdogmatik sieht in der Überwachung nur das Ausnutzen vorhandener Beweismöglichkeiten (z.B. Fezer, NStZ 1996, 289, 290; Bosch 1998, 88 ff.; KK/Nack, § 110c/18) und sucht dann nach einer Unterscheidung zwischen normativ problematischen Veranlassungs-/Provokationsakten des Staates und solchen Mitteilungsanstößen, die der Wissensträger aushalten muss (dazu Pawlik, GA 1998, 378, 386 f.; skeptisch zu dieser Abgrenzung aber z.B. Popp, NStZ 1998, 95; Weßlau, ZStW 110 (1998), 1, 29 f.; Verrel 2001, 165). 103 In Kenntnis der „wahren Situation“ würde sich der Überwachte ebenso wenig äußern wie der Ausgeforschte. Bei der Ausforschung kann der Staat die nämliche Mitteilung allerdings thematisch steuern (vgl. auch Renzikowski, JZ 1997, 710, 717), während die Observation nur zu registrieren vermag, was der Geheimnisträger von Haus aus kommuniziert. Gegenüber der nicht selten recht sachnahen Belastung durch V-Leute (Anhaltspunkte bei Haas 1986, 265 f., 269 ff.) fördert die technische Überwachung, obwohl sie durchaus etliche Selbstbezichtigungen dokumentiert (Albrecht/Dorsch/Krüpe 2003, 371 ff. mit Daten), somit oft weniger über das Tatgeschehen als indirekt relevantes Material zutage (a.a.O., 374 ff., 382 ff.; Backes/Gusy 2003, 66 f. sowie die von Böttger/Pfeiffer, ZRP 1994, 7, 11 ff. wiedergegebenen amerikanischen Abhörerfahrungen). Mit ihr beschafft sich die Polizei vorwiegend das Ausgangsmaterial, um Ermittlungen überhaupt erst in Gang zu setzen oder um ihnen die weitere Richtung zu geben (vgl. Kinzig 2004, 449 ff., 507 f.; zwischen den Überwachungsmethoden differenzierend Albrecht 2005, 125 f.). So ist es selbst bei der Videoüberwachung gängiger Deliktsstandorte zweifelhaft, ob sich die Aufklärungsrate dadurch verbessert (vgl. Stolle/Hefendehl, KrimJ 2002, 257, 264 f.). 104 In der Sprache der Strukturierenden Rechtslehre kann sich der Beschuldigte aus dem semantischen Kampf vollständig heraushalten; er muss keine Beiträge zur Deutung von Real- und Normdaten beisteuern. Das hat den Vorteil, dass sich solche Mitwirkungen nicht gegen ihn wenden können, doch von Fall zu Fall kann es auch zu seinen Lasten ausschlagen. Der Schweigende überlässt es den anderen Akteuren, das vorhandene Material zu deuten. Mit „dem Verzicht auf Kommunikation ist dann auch ein Verzicht auf gesellschaftliche Wirksamkeit verbunden“ (Luhmann 1989, 136; vgl. auch oben Fn 88). Umgekehrt wird mit einem Geständnis nicht einfach nur eine fremde

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Materials vorzubeugen105. Gegenüber dem schweigerechtslosen Zustand ist damit eine zusätzliche Verteidigungsoption eingerichtet. Der Prozessunterworfene kann auf Prozessablauf und mitunter auch auf den Prozessausgang dadurch Einfluss nehmen, dass er sich zur Sache äußert oder seine Geheimnisse wahrt106. Allerdings hat sich das Rechtssystem nicht schon soweit ausdifferenziert, dass sich das Geständnismuster durch Geheimhaltungsrechte wirklich suspendieren ließe. Angetrieben durch das Interesse an der mutmaßlich zurückgehaltenen Wahrheit findet es in der polizeilichen Aufklärung vielmehr Mittel und Wege, um wirksam zu werden – sei es durch untergründige kommunikative Methoden (I.3.b)cc)), durch verdeckte Interaktion (I.3.b)ee)) oder in der Verhaltensinterpretation (I.3.b)dd)). Wie weit das Beschuldigtengeheimnis diesen Herausforderungen standhält oder von ihnen relativiert wird, hängt von seiner Ausgestaltung durch die Sprachdaten des Normprogramms ab. Durch die hier erfolgende Sachbereichsanalyse war dieses Problem nur zu beschreiben. Sie kann nunmehr zu der Frage übergehen, ob sich der Staat, als er die alltagskulturellen Geheimnis- und Geständnismuster vorfand, in der besagten Weise für die Geheimhaltungsseite entscheiden musste107. Oder macht die Lebenswirklichkeit den nemo-tenetur-Satz wenigstens plausibel?

II. Notwendigkeit des Geheimnisschutzes? 1. Nemo tenetur und individuelle Belange a) Ein nüchterner Vorschlag Zu den materiellen Aspekten, die den nemo-tenetur-Satz intersubjektiv plausibilisieren könnten, hält sich die h.M. relativ bedeckt. Vorzuherrschen scheint Fallversion akzeptiert, sondern durchaus auch die Gestalt des beurteilten Falles interaktiv beeinflusst (vgl. die Belege bei Watson, Victimology 1983, 31 ff.; Sege 1995, 174 ff.). 105

Das Schweigerecht reagiert insofern darauf, dass „der Auslöser einer Kommunikation jegliche Herrschaft über deren Schicksal verliert“ (Fögen 2003, 51). Darauf rekurriert das herrschaftssoziologische Verdikt, dass die Vernehmung unter ihrer Oberfläche eine Zwangskommunikation sei. Der Vernehmende locke nämlich mittelbar bedeutsame Informationen hervor, nur um die Glaubwürdigkeit oder Glaubhaftigkeit zu testen oder den Vernommenen in Widersprüche zu verstricken (vgl. Schütze 1975, 822 ff.; zusammenfassend Niehaus, ZfResoz 2003, 71, 80 f.). Hiergegen ist das Schweigen ein probates Mittel. 106 Wo die Strafverfolgung auf deren Preisgabe angewiesen ist, gibt das Geheimhaltungsrecht dem Beschuldigten eine gewisse prozessuale Macht (vgl. Heiland/Lüdemann, KZSS 1992, 35, 45). 107 Solche Überlegungen nehmen natürlich eine normative Wendung und/oder treten im strafprozesstheoretischen Gewand auf. Dass ihre Blickrichtung aber durch das positivierte Normprogramm hindurch geht und dass sie weithin auch von Tatsachenfragen der Selbstbelastungsfreiheit handeln, macht sie zu einem Gegenstand des hier untersuchten Sachbereichs von nemo tenetur.

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die Idee, dass die Selbstbelastungsfreiheit natürliche Subjektpositionen verteidige. So ist gerade die Vorstellung vom Selbsterhaltungstrieb und der ersparten Erniedrigung dadurch gekennzeichnet, ein nachvollziehbares und selbstverständliches („menschliches“) Bedürfnis berücksichtigen zu wollen. Müsse der Betroffene eine Wahl zwischen Selbstüberführung und der Erduldung darauf zielenden Zwangs treffen, gerate er in ein Dilemma, in dem er nicht nur staatliches Mitgefühl verdiene, sondern vor dem er mit einem Schweigerecht zu schützen sei108. Das wird auch vom hiesigen Ansatz nicht anders gesehen. Allerdings verzichtet er darauf, für das Gewicht dieser Zwangslage auf unterstellte und ungeklärte innere Nöte zu rekurrieren. Als wesentlich gilt hier vielmehr, dass in der Situation drohender Strafe das Geheimhalten belastender Daten die normale, ubiquitäre und alltagskulturell präferierte Handlungsweise darstellt. Deshalb hat das Verfahrensrecht diesen Aktionstypus aufgenommen. Freilich herrscht auch an entgegengesetzten Versuchen, einen Einlassungszwang zu begründen, kein Mangel. Der klassische Hinweis, dass das Geständnis der Wahrheitsermittlung nutze, unterlag indes einem dramatischen Irrtum. Man kann den Beschuldigten nicht effektiv auf die Selbstoffenbarung verpflichten, wenn die Durchsetzungsmittel ausfallen oder hinter der Sanktion für das einzuräumende Delikt zurückbleiben – weil die Geständnispflicht dann missachtet wird. Drohen aber für das Schweigen hinreichend gewichtige Folgen, führt das wiederum zur Geständigkeit um jeden Preis (auch den der Wahrheit)109. Deshalb argumentiert man heute nur noch mit einem feinsinnigen Geständniseffekt. Hiernach käme ein Strafverfahren, das den Täter behandeln wolle, dem „gesunden“ Offenbarungsbedürfnis entgegen. Es werde Schuldbewusstsein (ein sich-der-Tat-Stellen) als erster pädagogischer Schritt befördert110, zumal das Gestehen als „ritual of inclusion“ (und als Akt „which confirmed the existence of a shared ethical view“) auch die Normenordnung stabilisiere111. Wie man aber den Beschuldigten zu einer solchen Geständnisleistung anhalten kann, ohne seine Schuld zu präsumieren, wird von diesen Vorschlägen nicht dargetan112. Ei-

108 Zur „Unzumutbarkeit“ dieser Konfliktlage z.B. BVerfGE 56, 37, 41; NStZ 1995, 599 f.; BGHSt 36, 328, 332; Puppe, GA 1978, 289, 299; Günther, JR 1978, 89, 90 f.; Grünwald, JZ 1981, 423, 428. 109 Die Vereinbarkeit von Folter und Wahrheitssicherung, die Amelung (1990, 15) indes für denkmöglich hält, ist auch historisch widerlegt. Bis zum Ende der Neuzeit war der Beschuldigte der Wahrheitsermittlung verpflichtet (unten I. in Kap. 6). Die hiermit unverträgliche Dysfunktionalität eines Geständniszwangs hat der Inquisitionsprozess in einem seiner Ableger, in den neuzeitlichen Hexenprozessen, wie in einem monströsen Feldexperiment selbst vorgeführt. 110 Offenbar in diese Richtung Legendre 1998 (vgl. auch Becker 1948, 52 sowie oben Fn 44). Abgesehen davon, dass es empirisch keineswegs belegt ist, dass sich die psycho-soziale Gesamtbilanz der interrogierten Subjekte durch ein Eingeständnis zwingend verbessert, blendet man bei einem therapeutisch-pädagogisch gearteten Hauptverhandlungsmodell die Ungeeignetheit des Prozesses ebenso wie die von ihm erzeugten Zurechnungs- und Sanktionswirkungen aus (dazu auch Legnaro, KrimJ 1991, 272 ff.). 111

So jedenfalls analytisch Hepworth/Turner 1982, 23 bzw. 151.

112

Vgl. vorerst Niehaus, KrimJ 2000, 2, 9 f.; näher unten II.2.

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ner Geständnisorientierung, die in der Alltagskultur kontraindiziert ist und ihr gegenüber daher besonders zu begründen wäre, könnte das Prozessrecht vorderhand also schwerlich folgen.

Auf der anderen Seite ist „die normative Projektion – von Bedürfnissen (...) auf Rechte und Werte – ein Verfahren, dessen Ergebnisse keine absolute Geltung, sondern allein einen höheren oder niedrigeren Grad der Begründung oder Rechtfertigung erreichen können.“113. Von der schlichten Normalität des Geheimhaltens geht daher erst recht keine Notwendigkeit aus, die dahingehenden nemo-tenetur-Rechte zu gewähren. Wenn die Rechtsordnung dergleichen vorsieht, weil sie sich von vorrechtlichen Handlungsstrukturen inspirieren lässt, geschieht das also nur – aber auch: immerhin – mit einem hohen Maß an Rationalität, weil es den kulturellen Präferenzen folgt114. Dagegen können die Versuche, diese Art von Vernünftigkeit als Zwangsläufigkeit des nemo-tenetur-Satzes auszugeben115, als gescheitert gelten. Ihnen zufolge werde der Mensch durch die unfreie Mitwirkung am Überführt-Werden auf ein unpersönliches Werkzeug reduziert. Man negiere seine Selbstzweckhaftigkeit, wenn man ihm eine Selbstschädigung zumute, mit der lediglich ein der Person fremder Zweck verfolgt werde (denn dass sich die Person den folgenträchtigen Strafverfolgungszweck zu Eigen mache, sei unwahrscheinlich). Der Schlussfolgerung, dass eine solche Instrumentalisierung durch nichts zu rechtfertigen sei, dringt der Wertungscharakter jedoch aus allen Poren – von ihren ohnehin bedenklichen Prämissen – d.h. dem Menschenbild mit naturgegeben kompromisslosem Selbstoptimierungsbezug und der zwingend selbstschädigenden Geständniswirkung – ganz abgesehen.

b) Der grundsätzliche Einwand Nemo tenetur erklärt sich also schlichtweg daraus, dass das Recht eine sozial bevorzugte Form, auf (aktuelle/potenzielle) Vorwürfe zu reagieren, aufgreift und als eine von mehreren Möglichkeiten strafprozessualer Verteidigung ausgestaltet. Der h.M. wird damit jedenfalls darin gefolgt, dass die Selbstbelas113

Baratta 1999, 12; vgl. zu „Sein und Sollen“ schon oben I.2. in Kap. 3.

114

Skeptisch hingegen Galtung (1994, 88, 91 ff.): Kodifikate schon wegen ihrer Herleitung aus faktischen menschlichen Bedürfnissen oder aus vorrechtlichen Erwartungsstrukturen als berechtigt zu bewerten, habe etwas Naturrechtliches. 115

Am deutlichsten wird das bis heute von Sautter formuliert (AcP 1962, 215, 256 ff.). Ähnlich zuletzt Röckl 2002, 103 ff.; Schilling 2004, 89 ff. sowie in der Sache – wenn auch in einer moderneren Instrumentalisierungs-Terminologie – auch Keller 1989, 132; SK-StPO/Rogall, Vor § 133/132 und die Befürworter einer Menschenwürderelevanz von nemo tenetur (unten II.2.a)cc) in Kap. 7). Offen bleibt dabei, wie sich damit die vielfältigen Selbstbezichtigungslagen, die von der h.M. akzeptiert werden (oben Kap. 1), vereinbaren lassen.

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tungsfreiheit den Belangen der einzelnen Subjekte nachkommt (und dass dafür die geheimhaltungsbedingten Auswirkungen auf das Strafrechtssystem in Kauf zu nehmen sind116). Diese Grundvorstellung ist indes ins Gerede gekommen. Einige Autoren monieren ihren individuumsorientierten Zugang als Schutz rein „kreatürlicher“ Güter, bei dem sich rechtliche Grenzen nur als widernatürliche Fremdkörper ausnähmen117. In ein wahres Rechtsverhältnis könne der Staat nur zu einer Kategorie der „Person“ treten, die normativ konstituiert sei – und zwar immer schon mit Blick auf das soziale System118. Eine solche Personeneinheit dürfe ihren Organisationskreis frei verwalten, trage andererseits aber auch die Verpflichtung, die Verantwortung für die Folgen dieser Handlungsorganisation zu übernehmen119. Die Freiheit, die der Staat zu respektieren habe, sei also immer schon um diese Folgenverantwortung beschränkt. So brauche die hohe Hand den „Straftäter nicht davor zu schützen, wegen einer von ihm begangenen Tat bestraft zu werden“120. Vielmehr könne sie von ihm verlangen, dass er sich an der Verantwortungsklärung gebührend beteilige, denn solche strafprozessualen Inanspruchnahmen aktualisierten schließlich nur die seiner Freiheit immanenten Grenzen121. Wenn das Recht den nemo-tenetur-Satz dennoch garantiere, müsse dies folglich gewisse Gründe jenseits individueller Bedürfnisse haben. Um nun die Triftigkeit dieser Überlegungen näher zu prüfen, sei deren Ausgangspunkt vorausgesetzt und die Welt der Individuen getrennt von der Welt der Personen. Diese Person sei verstanden als kommunizierender Akteur in

116 Personale und soziale Funktionalitäten des Geheimnisses decken sich selten (vgl. Sievers 1974, 45). 117

Wer Rechtspositionen über naturwüchsige Interessen der Person begründe, behandle diese als eine tiergleiche Existenz, die gegen das Strafrecht des Staates, der gleichsam in die Rolle eines Jägers in der Hatz versetzt werde, prinzipiell alles ihr Mögliche und Nützende setzen dürfe (vgl. Pawlik, GA 1998, 378, 379 f.). Dass diese Bilderflut nicht aus der Luft gegriffen ist, lässt sich bei Canetti (1992, 317 ff.) nachlesen. Tatsächlich sind Schweigen, Verstellen und Geheimhaltung von ihm als schon immer berechtigt dargestellt, weil sie sich der Frage (verstanden als äußere Zumutung und Machtform) widersetzen. 118 Vgl. Jakobs 1997, 29 ff. und 112: „Setzt man allein bei den Bedürfnissen der Individuen an, so gelangt man nie zur Person, beharrt vielmehr bei den Kalkulationen innerhalb des Schemas von Lust und Unlust. Eine Person entsteht erst, wenn das Bedürfnis der Gruppe als Sollen auf den einzelnen übertragen und dieser damit als notwendiges Element der Gruppe definiert wird – nur wegen seiner Notwendigkeit erhält er auch die Rechte, die er braucht, um seinen Pflichten genügen zu können.“ 119

So Pawlik, GA 1998, 378, 379 f.; zustimmend KMR/Lesch, § 136/17.

120

Pawlik, GA 1995, 360, 371 Fn 58.

121 Pawlik, GA 1998, 378, 380 f.; zu diesem Punkt trotz des gleichen Ausgangspunktes skeptisch Lesch ZStW 111 (1999), 624, 637 f.; ders. JR 2005, 302; Müssig, GA 1999, 119, 126 f.

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Sollgestalt (also objektiv und normativ konstituiert)122. Unterstellt wird ebenfalls, dass die Welt der Personen nur dann ideal beschaffen (d.h. dem Überleben der Gruppe dienlich) ist, wenn sie die Mitglieder zur Förderung der Gemeinschaft bestimmt. In einer solchen Gesellschaftsarithmetik sind dann auch Rechte nur zu diesem Zweck eingeräumt. Allerdings muss selbst diese Ordnung die Mitgliederinteressen aus der Welt der Individuen soweit berücksichtigen, dass ihr nicht „die Individuen über kurz oder lang entlaufen“. Damit „das Individuum innerhalb der Ordnung der Person sein Auskommen finden“ kann, braucht es eine Balance, in der die Norm auf das Sozialinteresse zielt und sich dafür das kreatürliche „Interesse der Individuen inkorporiert“123. Welche konkreten „natürlichen“ Bedürfnisse deshalb zuzugestehen und in die sollgestaltige Person einzugliedern sind, ist freilich nirgends vorgegeben124. So könnte zu ihrem Kreis durchaus auch das Interesse zählen, das eigene dunkle Geheimnis zu wahren. Allein durch einen normativ konstituierten Subjektbegriff ist einer solchen Rechts-Position die Existenzchance also noch nicht genommen125. Zu dieser Konsequenz zwinge aber die persönliche „Folgenverantwortung“. Wenn den Gesellschaftsmitgliedern eine Handlungsfreiheit zugestanden werde, ziehe das als notwendiges Gegenstück nach sich, für die Auswirkungen der eigenen Freiheitswahrnehmung einstehen zu müssen. Diese Haftung für die individuellen Handlungsfolgen müsse in die Sollgestalt der Person eingerechnet werden. Person könne „nur derjenige sein, der auf die Einheit seiner Lebensgeschichte festgelegt und dem daher nicht gestattet wird, (...) vor objektiv verdachtsbegründenden Momenten dieser Vergangenheit davonzulaufen“126. In Ansehung dessen finde das Interesse, das die Individuen an der Geheimhaltung dunklen Vorverhaltens haben, in der Welt der Person keine Anerkennung. 122 Die Zweifel Kargls (GA 1999, 53, 59 ff.) daran, den Unterschied zwischen absoluter Freiheit und normativ konstituierter Gemeinschaftszugehörigkeit zu einer kategorialen Differenz zu stilisieren (so Jakobs 1997, 29 ff., 44 ff.), seien hier also nicht weiter verfolgt. 123 Teile des Codes „Lust/Unlust“ müssen übernommen werden in den Code „Sollen/Freiraum“ (dazu mit den Zitaten Jakobs a.a.O., 32, 46, 89). 124

Bei Jakobs findet sich allenfalls ein Rahmen dafür, welche Interessen des Individuums in die Person zu inkorporieren seien: Einerseits dürften sie nicht übermäßig negiert werden, weil diese Ordnung dann nicht mehr „im großen und ganzen“ kommuniziert, sondern als Gewalt interpretiert würde (a.a.O., 57). Anerkannt werden dürfe andererseits aber nur, was „sich nicht schon im Grundsatz gegen die Möglichkeit einer Gesellschaft richtet“ (a.a.O., 89). Kritisch zu dieser Unbestimmtheit Kargl, GA 1999, 53, 62 f. 125 126

Vgl. auch Müller-Tuckfeld 1998, 254 ff., 299 ff.

Pawlik a.a.O., 381; ebenso Lesch, ZStW 111 (1999), 624, 637; ders. GA 2000, 355, 363; zustimmend auch Klein 2001, 128. Foucault hat indes schon vor Jahren für eine solche freiheitsinhärente Folgenverantwortung deutliche Worte gefunden: „ ... man muss sich schon eine reichlich verdrehte Vorstellung von der Macht machen, um glauben zu können, dass von Freiheit alle jene Stimmen reden, die seit so langer Zeit das ungeheuerliche Gebot unserer Zivilisation wiederkäuen, sagen zu müssen, was man ist, was man getan hat“ (1977, 78).

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Die „Folgenverantwortungs-Idee“ wirkt sich auf die Regelung strafprozessualer Mitwirkungen freilich weniger aus, als die suggestive Rhetorik zugeben will: Zugeschriebene Verantwortung kann nämlich nicht mit der erst festzustellenden Verantwortung in eins gesetzt werden. Wer aus der Verantwortung für die Folgen eigenen Handelns eine prinzipielle Pflichtigkeit folgert, die Aufklärung dieser Verantwortung nicht zu erschweren und sie gar zu befördern, ontologisiert diese Zuständigkeit, als stünde sie immer schon fest. Verantwortung ist aber gar nicht anders möglich, denn als kommunikatives Erzeugnis, an dessen diskursiver Produktion auch der späterhin verantwortlich Gemachte teilnimmt127. Während des unumgänglichen Prozesses des Verantwortlich-Machens ist sie also noch nicht vorhanden. Demzufolge generiert sie in diesem Stadium auch keine Pflichten128. Die rechtliche Anerkennung individueller Straftatverdeckungsinteressen bleibt daher selbst auf der Basis eines normativen und von Folgenverantwortung geprägten Personenbegriffs möglich.

2. Legitimation des Verfahrens Die Einwände, die das Schrifttum gegen eine individuumsbezogene Ausrichtung der Selbstbelastungsfreiheit anmeldet, schlagen nicht durch. Allerdings 127

„Was wem zuzurechnen ist, ergibt sich nicht aus der Natur der Sache. Die fraglichen Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt müssen hergestellt werden. In diesem Sinne ist die Idee der Verantwortung das Resultat einer ‚Konstruktion‘.“ „Die Verantwortung wohnt nicht den Handlungen selbst inne, sondern wird den Subjekten von anderen Subjekten unter bestimmten Voraussetzungen, in bestimmten Kontexten und mit bestimmten Zielen auferlegt.“ (Bayertz 1995, 4 und 24, Herv.i.O.; vgl. dazu im Detail a.a.O., 16 f., 20 ff.; Graumann, ZfSozpsych 1994, 184 ff.). Dementsprechend zeigt die Forschung, wie sich Verantwortungszuschreibungen zwischen Akteuren und Beobachtern unterscheiden und wie sie mit Bewertungsnormen und wahrgenommenen Handlungsfolgen, -alternativen, -intentionalitäten, -motiven usw. variieren (zusammenfassend Bierhoff 1995). Es gibt nicht nur eine Verantwortlichkeit und ohne Aushandlung schon gar keine gültige. 128 Gerade auf einer solchen Argumentation beruht aber Pawliks Versuch, eine prinzipielle Mitwirkungspflicht bei der Aufarbeitung eigener Normverstöße zu begründen, nur dass er sich dabei auf den Verantwortungsverdacht bezieht. Bei ihm ist es eben die vermutete Folgenverantwortung, mit der die Pflichtigkeit begründet wird – obwohl die Verantwortung wegen ihrer nichtdenkbaren Vorwegnehmbarkeit auch in der Verdachtsphase, also in einem Zustand ebenfalls noch fehlender Her- bzw. Feststellung, nicht existiert und so auch nicht heranzuziehen ist. Es ist ebenso ungereimt zu sagen: „Du hast das und das getan, und wegen dieser Tat musst Du mir dabei behilflich sein, ihrer gewiss zu werden!“, wie zu meinen: „Vermutlich hast Du dies und jenes getan, und wegen dieser vermutlichen Tat muss Du mir bei ihrer Feststellung unter die Arme greifen!“. Beide Sätzen präsumieren unzulässig das Aushandlungsergebnis für den Aushandlungsprozess (vgl. unten II.2.c)cc) im 7. Kap. zur Unschuldsvermutung; ähnlich wie hier Verrel 2001, 241). Lesch (ZStW 111, 1999, 624, 638) scheint die Brüche zu spüren (deutlich jetzt in JR 2005, 302). Er lehnt grundsätzliche Pflichten zur Mithilfe an der staatlichen Aufklärung ab, weil diese Inanspruchnahmen auch Personen „ohne zuständigkeitsbegründendes Verhalten“ ereilen könnten. Doch seine Kritik verharrt auf halber Strecke, dient ihm der Folgenverantwortungsverdacht doch immerhin noch dazu, ein Geheimhaltungsrecht zu abzulehnen.

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Teil 3: Grundfragen

wollten die fraglichen Autoren die Ausstattung des Beschuldigten mit positivrechtlichen Mitwirkungsfreiheiten ohnehin nicht leugnen, sondern sie nur in anderer Weise begreiflich machen. Insofern könnte sich ihre Position immer noch als förderlich oder gar überlegen erweisen – sofern sie nämlich darin Zustimmung verdient, dass sich der nemo-tenetur-Satz durch seine Leistungen für das Strafrechtssystem erkläre. Die sich dafür zunächst anbietende Wahrheitsförderung129 kommt für derartige Nutzeffekte allerdings nicht in Betracht, da die Selbstbezichtigungsfreiheit die Ermittlungstätigkeit begrenzt und erschwert130. Dennoch seien die nemo-tenetur-Rechte für den Strafprozess unentbehrlich, denn dieser verdanke es nur ihrer Existenz, wenn er vom Verfahrenspublikum oder vom Beschuldigten gebilligt werde131. Nemo tenetur sieht sich so auf eine Funktionsbedingung des Strafrechtssystems umgelegt. Die inhaltlichen Voraussetzungen, unter denen er für Verfahrensakzeptanz sorgt (oder zumindest die Unzufriedenheit mit den Prozessergebnissen als unmaßgeblich isoliert), stecken die Befürworter seiner verfahrenslegitimatorischen Begründung aber verschieden ab. Als Bedingung für seine prozessbestätigende Leistung wird eine grundsätzlich weite Schutzbereichsfassung ebenso genannt132 wie eine schmal zuge-

129

Zur Prävention zwangsmotivierter Falscheinlassungen durch nemo tenetur oben bei Fn 109. Dieser Nutzeffekt erscheint umso stärker, als man davon ausgeht, dass auch das zwangsvorgelagerte Inquirieren nicht selten falsche Geständnisse erzeugt (Gudjonsson 1992, passim; vgl. auch Stern 1988, 38 ff.; Beneke 1990, 45 ff.; Eisenberg 2002, Rn 732 ff.; Bsp.-Fälle bei Lange 1980, 85 ff., 98; Maisch, StV 1990, 314 ff.). Wo dies als reales Problem bezweifelt wird, stellt man nicht die entsprechende Eignung subtiler Vernehmungsmethoden in Frage, sondern deren Vorkommen in der Vernehmungsrealität (vgl. Moston 1996 für England). Unabhängig davon wirkt schon die im Schweigerecht liegende Bereitstellung einer Verhaltensalternative dem Motiv zur Lüge entgegen (vgl. Kroth 1976, 126 ff.; Günther, GA 1978, 193, 202). Der Schutz vor kunstvollem Inquirieren gewährleistet aber, dass der Beschuldigte seine Ereignisversion zur Verfügung stellen kann, statt nur einfach die angetragene Deutung diskussionslos zu übernehmen (vgl. Ransiek 1990, 78 ff.; zur dadurch ermöglichten „dialektischen Wahrheitsfindung“ vgl. Stamp 1998, 143 ff.). 130 Im „Interesse der Aufklärung der materiellen Wahrheit ist es letztlich nicht wünschenswert, dass sich der Beschuldigte tatsächlich zum Schweigen entschließt.“ (Ranft 2005, Rn 346). Nemo tenetur entzieht der Wahrheitssuche also eine wesentliche Informationsquelle (oben I.3.a) und I.4.; vgl. auch Neumann, ZStW 101 (1989), 52, 55; Bosch 1998, 107 ff.; Schatz 1999, 197). 131 Zum Kriterium faktischer Publikumsmaßstäbe Pawlik (GA 1998, 378, 382 f.: „in der hiesigen Gesellschaft maßgebliche Semantik“; zustimmend Klein 2001, 138). I.Ü. ist die Luhmannsche Verfahrenssoziologie entsprechend sozialpsychologisch orientiert (vgl. Luhmann 1997a, 33 f., 107 ff.). Die zweitgenannte Variante, nach der es maßgeblich sei, ob der Beschuldigte „das Gefühl vermittelt bekommen hat, dass ihm ein fairer Prozess gemacht worden ist“ – also die Annahme, dass „man durch Verstrickung in ein Rollenspiel, die Persönlichkeit einfangen, umbilden und zur Hinnahme einer Entscheidung motivieren könnte“ (Luhmann 1997a, 87) –, vertreten Calliess 1974, 102 f.; Bosch 1998, 115 ff.; Schatz 1999, 247. 132 So Bosch a.a.O., 119 f.: Der Beschuldigte akzeptiere das Verfahren nur bei eingeräumter effektiver Handlungsmacht, und deshalb müsse nemo tenetur weit reichen (für eine extensive Tendenz auch Müssig, GA 1999, 119, 126 f.).

5. Kap.: Sachbezug der Selbstbelastungsfreiheit

199

schnittene Version der Selbstbelastungsfreiheit133 (bis hin zu deren Marginalisierung134). Ungeachtet dieser Differenzen verbuchen solche Überlegungen den nicht unerheblichen Reiz, in aufgeklärter Weise auf der Beobachtung gesellschaftlicher Wirkungszusammenhänge aufzubauen. Obendrein lassen sie sich im Verein mit neueren Überlegungen zur positiven Generalprävention zu einer integrierenden Theorie von Strafe und Strafverfahren verbinden135. Der Prozess stellt hiernach den zentralen Schauplatz, an dem der Normbruch durch Strafverhängung als Sache des einzelnen Täters vorgeführt und die scheinbar angefochtene Verhaltensrelevanz der normativen Ordnung demonstrativ bestätigt und aufrechterhalten wird. „Ein Schuldspruch ist (...) nichts anderes als eine rituelle Wiederholung, welche die Einhaltung des Unerbittlichen offiziell festschreibt.“136 Dieser Aufarbeitungsvorgang darf sich freilich nicht als bloße Gewalt ausgeben, weil er das Gesetz sonst nicht gegenüber der irritierenden Verletzung stabilisieren würde, sondern ihm umgekehrt die Überzeugungskraft nähme. Nur wenn die „Formen (…) verhindern, dass die Beziehung zwischen Justiz, Sachverständigen und Angeklagten den Charakter eines Duells annehmen“137, inszeniert die Prozedur ein symbolisches Festhalten an der gebrochenen Norm, sodass der delinquente Akt aus einem Normgeltungsschaden in eine Normbekräftigung umschlagen kann138. Das justizförmige Verfahren trägt mit seiner emblematischen Darstellung zur kommunikativen (Selbst-)Erhaltung der Rechtsnorm139 bei und wirkt an einer akzeptierenden oder gar „affirmativen Haltung der Bürger zu den durch das Strafrecht geschützten Angriffsobjekten“ mit140.

133

Dafür Pawlik, GA 1998, 378, 383.

134

Nach Lesch sei ein Verfahren nur bei positiven Verfahrensrechten des Beschuldigten akzeptierbar, etwa bei einem Recht auf freie Gestaltung der Verteidigung, die das Schweigerecht einschließe und nur in einem Reflex auch gewisse Selbstbezichtigungsfreiheiten entwickle (KMR, § 136/18; ZStW 111, 1998, 624, 638). 135

Dies klingt am deutlichsten bei Müssig, GA 1999, 119, 121 ff. an. Vgl. auch ders., GA 2004, 87, 95 ff.; Hauschild 2000, 164 ff. und früher bereits Dencker 1977, 65 ff. sowie oben Kap. 4 bei Fn 73. 136

Legendre 1998, 49.

137

Legendre a.a.O., 44. Durch Formvorschriften werden „prophylaktisch Missbrauchsmöglichkeiten der Entscheidungsträgerkompetenz verhindert“ (Hoffmann 1992, 50). 138 Positive Generalprävention verlangt ein gerechtes Urteil und „sein Zustandekommen unter den Bedingungen der Fairness“ (Weßlau 2002, 117). 139

So die Theorievariante von Jakobs, die Normvertrauen per se und ohne sozialpsychologische Vermittlung über das Verfahrenspublikum mit der Strafverhängung verbindet (ZStW 107 (1995), 843, 844 f.). 140

So zum gängigen Verständnis der positiven Generalprävention Müller-Tuckfeld 1998, 7.

200

Teil 3: Grundfragen

Trotz dieser konzeptionellen Verheißungen ist der verfahrenslegitimatorische Ansatz anfechtbar141. Indem er darauf abstellt, nemo tenetur und ähnliche Positionen seien erforderlich, damit der Strafprozess anerkannt wird und seinen generalpräventiven Beitrag leisten kann, erklärt er die Optimierung der Systemfunktion stillschweigend zum Gebot und normativiert unter der Hand auch die optimierenden Funktionsbedingungen. Damit ist ein Sein recht geschickt ins Sollen gewendet142. Allerdings handelt es sich bei diesem Sein um die realen Akzeptanzkriterien von Verfahrenspublikum oder Beschuldigten143, über deren faktische Beschaffenheit derzeit nur spekuliert werden kann144. Ob (und in welchem Maße) das Strafverfahren in den Augen von Beobachtern und Betroffenen ausgerechnet auch Selbstbelastungsfreiheiten vorsehen muss, ist nicht bekannt. Deshalb wird diese maßstabsgebende Attitüde von den Verfechtern des Konzeptes stets nur als willfährige Variable postuliert. Von Seiten der so genannten „procedural-justice-Forschung“ könnte freilich unverhoffte Hilfe nahen. Die dort betriebenen Studien fragen nach jenen Verfahrenselementen, die wichtig sind für den subjektiven Gerechtigkeitseindruck von (u.a. gerichtlichen) Prozeduren. So wäre es denkbar, dass sie der verfahrenslegitimatorischen nemo-tenetur-Begründung unter die Arme greifen und die fehlenden empirischen Belege nachliefern. Diese Annahme wird nicht zuletzt dadurch genährt, dass die Zufriedenheit mit einer Entscheidung nach den vor-

141 Zweifel verdient sein kalter Zynismus, mit dem er die Anforderungen an das Verfahren von den Belangen der Betroffenen unabhängig stellt. „Gut ist, was das System stabilisiert, schlecht, was diesen Zweck verfehlt, wobei nach der substanziellen Qualität des Systems aber nicht gefragt wird.“ (Lüderssen 1998, 38; vgl. auch Mikinovic/Stangl 1978, 30; Schaper 1985, 233 f.; Neumann 1989, 82 f.). Man fühlt sich an ein böses Kinderlied erinnert: „Und immer hält der Menschenfresser, wenn er seine Menschen frisst, links die Gabel, rechts das Messer, weil er gut erzogen ist.“ 142 Das sei hier nicht weiter vertieft, auch wenn sich die objektiven Wirkungen, die die Luhmannsche Verfahrenssoziologie beschreibt, von intentionalen Zwecken gerade unterscheiden (vgl. Neumann, ZStW 101, 1988, 52, 73; ders. 1989, 80 f.; Frohn 1989, 110 f.; Weigend 1989, 202 ff.; Röhl, ZfResoz 1993, 1, 21 und Luhmann selbst: 1997a, 6 f.). 143 Damit kehrt der verfahrenslegitimatorische Ansatz i.Ü. zurück zu den Grundlagen der h.M., die er doch so vehement kritisiert (oben II.1.b)): Mit dem Maßstab faktischer Akzeptanz sind die Mitglieder in den Worten von Jakobs demnach nicht als Soll-Gestalten (Personen), sondern in ihrer psychisch-leiblichen Konstituierung (Individuen) angesprochen. Den Ausschlag geben also doch wieder die „kreatürlichen Interessen“, an denen Publikum oder Verfahrensbetroffene den Prozess messen (i.E. ähnliche Kritik bei Verrel 2001, 243; zur Lebensweltlichkeit faktischer Legitimitätswahrnehmungen auch Schaper 1985, 233; Paeffgen 1986, 37 f.). 144 Hierzu (in anderem Zusammenhang) ebenfalls kritisch Amelung 1990, 22. I.Ü. ist es ein generelles Problem der (integrativen) Strafrechtstheorie, dass ihr für die postulierten positivgeneralpräventiven Wirkungen die empirische Grundlage fehlt (dazu zuletzt etwa Schumann 1998). Deshalb sei auf eine weitere Fiktion des Konzeptes gar nicht eingegangen: Es unterstellt gegen jede rechtssoziologische Erfahrung, dass das Publikum zur Generierung von Normakzeptanz über die Prozessabläufe auch wirklich informiert ist (dazu Bussmann 1996, 85 f., 98; vgl. auch MüllerTuckfeld 1998, 362 ff.).

5. Kap.: Sachbezug der Selbstbelastungsfreiheit

201

liegenden Befunden tatsächlich nicht nur vom sachlichen Ausgang abhängt, sondern ebenso von der wahrgenommenen Verfahrensfairness (fair process effect)145. Der Bürger erwartet ganz offensichtlich, dass auch das Strafverfahren einen gewissen Anstand wahrt. Dass damit aber ausgerechnet Selbstbezichtigungsfreiheiten eingefordert werden, war bislang nicht nachzuweisen146. Angesichts der ambivalenten sozialen Geständnis- und Geheimhaltungskultur (oben I.1. und 2.) konnte man das auch gar nicht erwarten. Ohnehin sind die Ergebnisse der „procedural-justice-Forschung“ für eine normativierende Verwertung oft viel zu uneindeutig, weil keine überindividuell konsentierten Akzeptanzmaßstäbe existieren, die ein normativer verfahrensrechtlicher Ansatz aufgreifen könnte147: „Die Identität des Verfahrens in der Semantik von ‚Verfahrensgerechtigkeit‘ erweist sich als imaginäre“.148 Insofern liegt es nahe, die Legitimität von Verfahren nicht an ihre faktische Akzeptanz, sondern an die Wahrung festgesetzter Kriterien zu binden149. Für die erforderli145 Hierbei geht es meist um Verfahrenszufriedenheit und innere Bindung der Verfahrensbeteiligten, weniger um Akzeptanz des Publikums. Zum Stand der Forschung Röhl, ZfResoz 1993, 1 ff.; ders. 1997; Bierbrauer/Klinger 2001, 352 ff.; zu strafprozessualen Untersuchungen Casper/Tyler/ Fisher, LSR 1988, 483, 493 ff.; Haller/Machura/Bierhoff 1995, 123; Machura 2001, 103. 146 Die strafprozessualen procedural-justice-Studien haben das Schweigerecht nicht explizit als Basis der Fairnesswahrnehmung untersucht. Die Schwerpunkte liegen vielmehr auf dem Verhalten der staatlichen Prozessakteure, das ausschlaggebend ist für den Eindruck gründlicher gerichtlicher Sachbearbeitung und das Gefühl, im Verfahren über „voice“ zu verfügen und respektvoll behandelt zu werden (vgl. Casper/Tyler/Fisher, a.a.O., 495 ff.; Haller/Machura/Bierhoff a.a.O., 129 ff.; Machura 2001, 123 ff., 218 ff.; ders. 2002, 204 ff.). 147 Pawliks These von einer einheitlichen gesellschaftlichen Semantik (oben Fn 131) lässt sich vielmehr als Formel verstehen, die gerade die Unbestimmbarkeit von Fairnesserleben verdeckt. Sie macht die „Paradoxie unsichtbar, die dann entsteht, wenn versucht wird, ein Verfahren zu bestimmen, das es erlaubt, über die Angemessenheit differierender Verfahrenskonzepte zu entscheiden“ (Bora/Epp, a.a.O., 32). 148 Bora/Epp, KZSS 2000, 1, 28. Bspw. variiert die Bedeutung, die der Fairnesswahrnehmung bei der Prozessbewertung gegenüber dem Verfahrensausgang zukommt, mit dessen Gegenstand. Es zeigen sich widersprüchliche Ergebnisse zu dem, was konkret als fair empfunden wird, ebenso wie Unterschiede zwischen Personen und Kontexten (zusammenfassend Rennig 1997, 207; Bierbrauer/Klinger 2001, 357). Dabei werden die Varianzen in offeneren, unstrukturierten Verfahren eher sichtbar als vor Gericht, denn hier „dürfte die gemeinsame Orientierung am Rechtscode relativ dominant sein“ und die subjektive Fairnesswertung an den juristischen status quo binden (Bora/Epp, KZSS 2000, 1, 29). 149

So Müssig, GA 1999, 119, 123: Orientierung an den identitätsstiftenden Strukturen der Gesellschaft (vergleichbar Stuckenberg 1998, 535 f.; siehe auch Hauschild 2000, 166 ff, 170 ff.; Lesch, ZStW 111 (1998), 624 f.; ders., JR 2005, 302, 303). Ähnliches ist i.Ü. unter dem Gesichtspunkt der „Verfahrensgerechtigkeit“ wiederholt versucht worden. Angesichts ihrer systemtranszendierenden Meta-Perspektive (vgl. aber auch die Spielart bei Neumann, ZStW 101, 1988, 52, 68 f., der Kriterien der Verfahrensgerechtigkeit aus inneren Notwendigkeiten des Verfahrens zu filtern versucht) haben es solche Bemühungen stets mit der fehlenden Letztbegründung von Gerechtigkeit zu tun (eingehend zur Diskussion Hoffmann 1992; kursorisch zuletzt Schatz 1999, 192 ff.; Weßlau 2002, 151 ff.). Soweit in diesem Zusammenhang auch an diskurstheoretische Konzepte der

202

Teil 3: Grundfragen

che Prozessausgestaltung kommt es dann nicht darauf an, dass etwaige Proteste gegen den Verfahrensausgang auf keine tatsächliche Resonanz hoffen könnten, sondern dass sie in einem normativen Sinn als unmaßgeblich gelten würden. In ihrer überzeugendsten Variante150 geht diese Argumentation von der Einbindung des Strafprozesses in die Realisierung von Strafrecht und Strafwirkungen aus. Wegen dieses Beitrags erstrecke sich die materielle Legitimation des Strafrechts, das die elementaren Normen der Gesellschaft stabilisiere, auch auf den Strafprozess. Allerdings müssten sich dafür „die durch das Strafrecht garantierten Strukturen der Gesellschaft im Strafverfahren widerspiegeln. Das Strafverfahren darf (...) dem explizit normativen Modell der Gesellschaft nicht widersprechen.“151 Dabei wird dieses grundlegende Gesellschaftsgepräge in denjenigen Organisationsprinzipien gesehen, die außerhalb des Strafrechts eine „rechtliche, teils grundrechtliche Institutionalisierung erfahren“ haben152. Legitimes Prozessieren richte sich also nach dem Vorbild der konstitutionellen Rechtsordnung und gebe mit deren Wertentscheidungen eine Einheit ab. Zu solchen prozessualen „Spiegelbildern der allgemeinen Rechtsperson“ zählen auch die Geheimhaltungsrechte des nemo-tenetur-Satzes153. Dargetan ist damit freilich nicht mehr (aber auch nicht weniger) als die Grundrechtsgeprägtheit von Strafverfahren und Selbstbelastungsfreiheit (oben II.1.a) in Kap. 4), ohne dafür positivistisch den Verfassungsvorrang zu reklamieren. An außerkonstitutionellen Gründen für eine strafprozessuale Verbindlichkeit des geheimniswahrenden Beschuldigtenhandelns will sich dieses Konzept dagegen überhaupt nicht versuchen.

3. Akkusatorische Beweisstruktur Anstrengungen, das strafprozessuale Geheimhaltungsmuster auf einen überindividuellen Nutzen zurückzuführen, finden sich auch mit Blick auf die internen Funktionsweisen des Strafverfahrens. Der Selbstbelastungsfreiheit wird Habermasschen Tradition zu denken wäre (z.B. Eder 1986, 240 ff.), ist hiervon ein substanzieller Impuls für nemo tenetur ohnehin nicht zu erwarten. Modelle, die derart dezidiert auf kommunikative Prozesse setzen, können konzeptionell mit dem Schweigen als Nicht-Kommunikation kaum umgehen. Diskurstheoretisch sind die Gesellschaftsakteure sprechende, idealerweise sogar wahrhaftig sprechende Akteure, und jene „Voraussetzung steht im latenten Konflikt mit dem Begriff subjektiver Rechte. Diese erlauben nämlich ein Veto gegen Kommunikation.“ (Schulz 2000, 186; vgl. auch Weßlau a.a.O., 152; Niehaus 2003, 362). 150

Genau genommen lässt sich das Zustandekommen der normativen Prozessanforderungen überhaupt nur im Ansatz von Müssig einer Kritik unterziehen. Von den anderen Autoren wird darauf verzichtet, die Herkunft ihrer Festlegung anzugeben. 151 Das Strafprozessrecht muss also nach Müssig (GA 1999, 119, 122 f.) die sekundäre (d.h. ordnungserhaltende und eben nicht ordnungserzeugende) Rolle des Strafrechts (oben 4. Kap. bei III.2.) gleichsam fortschreiben; in der Stabilisierung der Norm muss sich die stabilisierte Norm wiederfinden. 152 153

Müssig, a.a.O., 123 f.

Dass Müssig nemo tenetur anders akzentuiert als die h.M., liegt an seiner abweichenden grundrechtsdogmatischen Position (a.a.O., 125 ff.), ist also nicht seinem prozesstheoretischen Ansatz geschuldet.

5. Kap.: Sachbezug der Selbstbelastungsfreiheit

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hierbei die Aufrechterhaltung eines speziellen Prozessmodells überantwortet. Der reformierte Strafprozess folge in seinem beweisrechtlichen Inneren einer stringenten akkusatorischen Logik, die den Schuldnachweis ausschließlich der staatlichen Seite übertrage und den Beschuldigten als deren Gegenspieler fungieren lasse. In Ansehung seiner „gleichen Augenhöhe“ könne ihn der Staat unmöglich zu Beweiszwecken verwenden. Genau das besage die Selbstbezichtigungsfreiheit, die als „Bestandteil des Beweisrechts“ damit die grundlegende Aufgabenverteilung bei der prozessualen Nachforschung absichern soll. Gegenüber einer subjektiv-rechtlichen Herleitung führe sie infolge dieses prozessstrukturellen Einbaus indes „ein gewisses Eigenleben“154. Der nemo-tenetur-Satz trage für die akkusatorische Rollenverteilung dadurch Sorge, dass er jede Instrumentalisierung des Beschuldigten unterbinde. Verboten sei der ermittelnden Hoheitsgewalt, den Vorwurfsbetroffenen zur Wissenspreisgabe oder zu unvertretbaren Mitwirkungsakten heranzuziehen, denn sonst erzeuge er (statt des Staates) die überführende Beweislage. Greifen die Ermittlungsbehörden dagegen auf Zeugen und stoffliche Wissensträger zu oder nehmen sie den Körper des Beschuldigten in Augenschein, beschafften sie sich ihr Beweismaterial gemäß den Spielregeln des akkusatorischen Prozesses selbst. Die Schutzwirkung der Selbstbelastungsfreiheit ende demnach, wo der Beitrag des Beschuldigten für den fraglichen Aufklärungsakt nicht mehr unersetzbar, sondern staatlich substituierbar ist155. Das nemo-tenetur-ausführende einfache Verfahrensrecht bilde, indem es in der gängigen Lesart zwischen Aussage- und Mitwirkungsfreiheiten einerseits und Passivitätspflichten andererseits differenziere, genau diese Übergänge zwischen der sakrosankten Verwendung des Beschuldigten und genuin staatsseitigen Explorationen ab156. Deshalb sei die

154 Weßlau, ZStW 110 (1998), 1, 33. Mit individuellen Belangen stehe sie nur in der losen Verbindung, dass bei der System-Entscheidung zur Beweisregelung auch das subjektive Geheimhaltungsinteresse mitberücksichtigt worden sei (Weßlau, a.a.O.). Nemo-tenetur-Elemente außerhalb des Strafprozesses beruhten zwar auf der unbestrittenen Subjektiv-Rechtlichkeit der Selbstbezichtigungsfreiheit, nur hätten beweisrechtsstrukturierende Entscheidungen diese individualistische Herleitungslinie innerhalb des Strafprozesses überformt, wodurch eine spezielle verselbstständigte nemo-tenetur-Ausprägung entstanden sei (a.a.O., 35 f.). 155 Vgl. Reiß 1987, 173 ff.; ebenso Frister, ZStW 106 (1994), 302, 319; Weßlau, ZStW 110 (1998), 1, 31 ff.; Vetter 2000, 56 f.; vgl. auch Seebode, MDR 1970, 185 f.; Leiwesmeyer 1994, 16. 156

Vgl. Reiß 1987, 178, der diese einfach-rechtliche Verfahrensgestalt durch die jeweils unterschiedliche Möglichkeit des Staates zum selbsttätigen Tatnachweis erklärt. Dagegen will Verrel (2001, 247 ff.) bei Reiß einen Bruch ausgemacht haben, der zwischen einer gegenstandsorientierten Begründung (Auskunftsfreiheit als Schutz des Beschuldigtenwissens) und einer beweisstrukturellen Argumentation (Mitwirkungsfreiheit, da nur das, was der Staat auch selbst vornehmen kann, erzwingbar ist) verlaufe. Recht gelesen führt Reiß aber sowohl die Mitwirkungs- wie die Auskunftsfreiheit auf die Beweisstruktur zurück. Das Missverständnis, der Wissensschutz bestünde dagegen seines spezifischen Schutzgegenstands wegen, ist bei ihm freilich angelegt, weil er in diesem Zusammenhang tatsächlich auch auf den „Respekt vor Persönlichkeitssphären“ verweist

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Teil 3: Grundfragen

Selbstbezichtigungsfreiheit augenscheinlich in der Lage, in tragender Stellung das Funktionsgefüge und die beweisrechtliche Grammatik eines wahrhaft reformierten Verfahrens aufrechtzuerhalten. All das steht und fällt jedoch mit der Behauptung, dass nemo tenetur zwischen der Aktivitätsfreiheit und der Duldungslast des Beschuldigten unterscheidet und dem Verfahren damit tatsächlich jene eindeutig akkusatorischen Züge zu geben vermag, die ausschließlich die staatliche Selbstvornahme kennen und auf unfreiwillige höchstpersönliche Beiträge des Anklagegegners vollständig verzichten. Darin ist indessen eine Annahme enthalten, die der (erzwingbaren) Beschuldigtenduldung den Charakter, zur prozessualen Tatrekonstruktion ebenfalls etwas beizusteuern, vollständig aberkennt. Da hierdurch aber der Sachbezug der fraglichen Prozessnormen allzu behände verzeichnet wird, sind insofern Zweifel anzumelden. Der Beschuldigte, der zu Untersuchungszwecken etwa gemäß § 81a StPO in Augenschein genommen wird, bringt sich wenigstens damit ein, die Maßnahme passiv hinzunehmen. Nur wenn man diese „StillhalteLeistung“ übersieht oder für unmaßgeblich erklärt157, kann man erklären, dass es sich hierbei um einen Vorgang allein-amtlicher Beweisgewinnung handele, bei dem der Staat die Hilfe des Beschuldigten nicht benötige oder ersetzen könne. Rein faktisch muss sich der Prozessbetroffene aber wenigstens mit seiner Existenz zur Verfügung stellen. Von seiner Sachstruktur her kann der nemotenetur-Satz in seiner landläufigen Fassung die ihm angesonnene Erhaltung rigoroser akkusatorischer Prozessstrukturen also gar nicht leisten; dies gelingt ihm nur, wenn man mithilfe einer normativen Ausblendung die konzeptwidrige Beweisverwendung des Beschuldigten-Daseins überspielt. Angreifbar ist das beweisstrukturelle Modell auch in seiner Behauptung, der historische Reformgesetzgeber habe die reale Entscheidung getroffen, den Beschuldigten zur Erhaltung eines akkusatorischen Prozessgebäudes von jeder Mitarbeit an der Beweisführung zu entbinden. Ein solches Dekret hat bislang noch niemand vorweisen können158. Die Mutmaßung, dass der Beschuldigte wegen seiner Rolle in der Verfahrensstruktur von der Selbstbelastung befreit sei, ist deshalb nicht besser belegt als die Gegenthese, die den nemo-teneturSatz mit seiner personalen Schutzintention als das originäre Datum versteht, auf (a.a.O., 178) und weil er zudem das Beschuldigtenwissen vor dem Zugriff mittels absoluter Gewalt schützen will, obwohl sich der Staat sein Beweismaterial hier selbst verschafft. 157

So z.B. Reiß (1987, 178), der lapidar konstatiert, der Beschuldigte stehe hier „als materieller Gegenstand“ in Frage. 158 Um einen Beleg bemüht sich überhaupt nur Weßlau (ZStW 110, 1998, 1, 34 f.), die unter Berufung auf Degener ausführt, durch § 136 II StPO habe der historische Gesetzgeber die Vernehmung allein als Gehörsgewährung ausgestaltet und das Verhörsziel, ein Geständnis erlangen zu wollen, diskriminiert. Das geht indes von unzutreffenden geschichtlichen Grundlagen aus (unten II.4. in Kap. 6).

5. Kap.: Sachbezug der Selbstbelastungsfreiheit

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das sich umgekehrt das Beweisverfahren durch Verzicht auf den Beschuldigten reaktiv einstellen musste159. In der historischen Rückschau auf die Einführung der Selbstbelastungsfreiheit lassen sich jedenfalls beide Denkrichtungen nachweisen: sowohl eine subjektiv-rechtliche Herleitung des nemo-tenetur-Satzes (aus dem Naturrecht oder den allgemeinen Gewaltverhältnissen) als auch seine prozessstrukturell begründete Übernahme als Element des vorbildhaften angelsächsischen Akkusationsverfahrens (unten II.3. in Kap. 6). Dessen eingedenk läuft das beweisstrukturelle Konzept in Gefahr, einer nachträglich zugerichteten Konstruktion aufzusitzen160.

4. Kompensatorische Prozessrollengestaltung Alles in allem haben die Versuche, den Schutz der individuellen Geheimnisse mit einem überindividuellen Zweck zu erklären, wenig eingetragen. Deshalb plädieren andere Autoren für eine individualistische Begründung (wie sie hier ebenfalls unterstützt wird), richten die Rechtspositionen des Beschuldigten aber strikt darauf aus, dessen prozessuales Verteidigungshandeln zu optimieren. Nicht weil die Subjekte dies wünschen, werde ihnen die Geheimhaltung im Verfahren erlaubt, sondern weil es objektiv notwendig sei, um problematische Eigenschaften des Strafrechtssystems auszugleichen. Am ehesten erschließt sich dieser Entwurf anhand eines interaktionistischen Prozessmodells161, auf das auch seine Vertreter gelegentlich verweisen162: Prozessuales 159 Dafür etwa Fezer 1993, 669: Die Einlassung des Beschuldigten „ist, da er schweigen darf, strukturell ohne Bedeutung“ (Herv. R.K.). 160 Ähnlich i.E. Rogall 1977, 107. Selbst wenn sich eine verfahrensstrukturelle Entscheidung des historischen Gesetzgebers nachweisen ließe, wäre es i.Ü. noch immer zweifelhaft, inwieweit sie sich nach den zwischenzeitlichen legislativen, judikativen und dogmatischen Eingriffen im gegenwärtigen Strafprozess noch wiederfindet (daher generell skeptisch zur Argumentation mit historischen Prozessstruktur-Entscheidungen Vormbaum 1987, 131 f.; Rieß 2005, 455 ff.; speziell im hiesigen Kontext Bosch 1998, 101, 284). 161 Dazu bspw. Schumann 1979; Böttger 1992, 72 ff., 222 ff.; Smauss 1998, 253 ff.; Löschper 1999, 334 ff. sowie für die polizeiliche Vernehmung Schmitz 1983, 358; Reichertz, KrimJ 1994, 123, 131 ff. 162 So z.B. AK-StPO/Kube, Vor § 133/7 ff.; Hassemer 1990, 118 ff.; Jahn 1998, 80. Diese Denkart steht ebenfalls hinter dem Verweis auf eine konstruktivistisch angelegte Theorie zur prozessualen Wahrheit (so etwa bei Bosch 1998, 110). Einmal begreifen solche Wahrheitstheorien die prozessual herstellbare Wahrheit gerade auch wegen ihrer interaktiven Erzeugung als eine (gegenüber dem „wirklichen“ Geschehen) eigene Realität (v.a. Grasnick 1993, 66 ff., vgl. ebenso Neumann 1989, 78; Rühl 1998, 260 f.; Stamp 1998, 139 ff.; Weßlau 2002, 145 ff.), und umgekehrt halten auch die interaktionistischen Prozessmodelle eine absolut gültige Erkenntnis über das thematisierte Ereignis für unmöglich (stellvertretend Den Boer 1990, 375: „The truth as a unified concept of ‚what really’ happened does not exist; it is the argumentative-pragmatic game with the story parts that decides what has to pass for the truth.“). Gestalt und Existenz des thematisierten

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Teil 3: Grundfragen

Handeln realisiert danach einmal eine Untergrundebene des „Aushandelns“, auf der die beteiligten Akteure durch Gebrauch kennzeichnender Sprechkonventionen den Gesprächstyp des Strafverfahrens situieren. Sie müssen dessen Interaktionscharakteristik (d.h. gewisse Äußerungsformate und ein spezifisches Sprecherwechselsystem) praktizieren, wenn sie in verschiedenen Aktivitäten (Anklagen, Herausfordern, Bestreiten, Rechtfertigen, Entschuldigen, Erzählen, Bezweifeln) ein vergangenes Ereignis thematisieren163. Auf der darauf lagernden Interaktionsebene des „Verhandelns“ erfährt der gegenständliche Fall sodann seine gerichtstypische Sinngebung, indem man ihn versprachlicht, selektiv konturiert, seines ursprünglichen Ereignissinns entkleidet und anhand der rechtlichen Muster neu typisiert164. Von besonderem Interesse für den hiesigen Zusammenhang sind dabei die sozialen Kennzeichen des Verhandlungs-Vorgangs.

Beim Austausch interessenbestimmter (Norm-)Interpretationen und Informationsofferten bewegen sich die nichtrichterlichen Akteure in der Hauptverhandlung überwiegend im narrativen, mitunter auch argumentativen Diskursmodus165. Auf der richterlichen Seite werden dagegen vornehmlich Frage- und Antwortsequenzen ausgelöst (die neben der Informationserhebung häufig unausgesprochene Deutungen oder Glaubwürdigkeitstests mittransportieren166). Von der Alltagskommunikation, bei der ein ungleichgewichtiger Gesprächseinfluss stets nur in der Dynamik der jeweiligen Konversation entsteht, unterscheiden sich diese interaktiven Züge durch ein extradiskursiv begründetes Einflussgefälle. Die wiederkehrend nachgewiesene konversationelle Dominanz des Richters167 fußt auf seiner prozessualen Stellung, aus der heraus er die verbindEreignisses sind für die gerichtliche Verarbeitung weder logische Voraussetzung, noch stehen sie zum Prozessergebnis in objektiver Referenz (vgl. Smauss 1998, 104 ff.). Nur aus der Lebenswelt heraus kann etwas erarbeitet werden, das alle – u.U. auch die „Täter“ – für richtig halten (vgl. nur Reichertz 1991, 315 f. Fn 3). 163 Die Eigenschaft dieser Tiefenstruktur wird v.a. von der konversationsanalytischen Forschung beschrieben (vgl. Atkinson/Drew 1979, 61 ff.; Matoesian 1993, 107 f.; zusammenfassend Löschper 1999, 103 ff.; Morlok/Kölbel, ZfResoz 2000, 387, 394 f.). Verlässt ein Akteur ihre Vorgaben, wird das interaktiv als Verstoß markiert und korrigiert; gegebenenfalls kippt die Situation und ist dann als etwas anderes als eine Hauptverhandlung (etwa als eine politische Demonstration im Gerichtssaal) wahrnehmbar. 164 Dazu Rasch/Hinz, Kriminalistik 1980, 377 ff.; Seibert 1981, 50 ff.; Muth 1984; Rehbein 1989; Conley/O’Barr 1990; Müller/Christensen/Sokolowski 1996, 54 ff.; Messmer 1996a, 220 ff.; Legnaro/Aengenheister 1999, 24 ff.; Den Boer 1990. Freilich gehen in diese Deutung auch außerrechtliche Sinnelemente ein, die aus alltagstheoretischen Wirklichkeitsperspektiven, arbeitspragmatischen Erfahrungen oder justizkulturellen Praktiken herrühren (zur Forschungslage Black 1989; Morlok/Kölbel/Launhardt, Rechtstheorie 2000, 15, 20 ff.). 165 Wobei ihr Erfolg auch vom Darstellungs-Wie abhängt (klassisch: Bennet/Feldman 1981; O’Barr 1982; vgl. auch Löschper 1999, 302 ff.; Legnaro/Aengenheister 1999, 77 ff.). 166

Vgl. etwa Hoffmann 1983; ders. 1991; ders. 1997; Wolff/Müller 1997; Komter 1998; Löschper 1999, 218 ff. 167 Kommunikative Dominanz drückt sich im Umfang der Sprechgelegenheit ebenso aus wie in der Festlegung der Gesprächsthemen und in der Gelegenheit, die Konversationen zu initiieren und

5. Kap.: Sachbezug der Selbstbelastungsfreiheit

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liche Letztversion einseitig festlegt (ohne eine Einigung suchen zu müssen) und auf die hin er schon den Verhandlungsprozess zu steuern vermag168. Hinzu kommt sein meist überlegenes professionelles Wissen um die Tragweite und Kommunizierbarkeit verschiedener Informationen. Je defizitärer sich die dahingehende Handlungskompetenz der Angeklagten ausnimmt, desto eher setzen sich die richterlich präferierten Ereignisdeutungen durch169. Das kompensatorische Modell empfindet solche Asymmetrien und ihre Wirkungen als „ungerecht“170 und zieht daher das Strafprozessrecht zurate, um die diagnostizierten Mängel zu beheben171. Zu den bedeutsamen Instrumenten eines Strafverfahrens von wahrhaftiger Fairness zähle auch der nemo-tenetur-Satz172, zu steuern. Sie wird von den instanziellen Strafrechtsakteuren eindeutig ausgeübt (Nachweis etwa bei Schumann/Winter 1973; Philips, Text 1984, 225 ff.; dies. 1998, 87 ff.; Harris, IJSL 1984, 5 ff.; dies. 1994; Adelsvärd u.a., Text 1987, 313 ff.; zusammenfassend Schwitalla, Folia Linguistica 1996, 217, 219). Die untergründige, schweigerechtsbedingte Gesprächsmacht des Beschuldigten (oben I.3.b)cc)) ist dadurch meist überkompensiert. Freilich sind interpersonelle Varianzen je nach Interaktionsverlauf zwischen Richter- und Angeklagtenperson möglich (vgl. auch Jahn 1998, 93 f. zur „Konfliktverteidigung“, in der Dominanzstrukturen mitunter zerfallen). 168 Der Richter bestimmt den jeweils nächsten Redner (turn mediation), und nach jedem Redezug fällt das Rederecht an ihn zurück (turn pre-allocation). Fragerechte sind fast ausschließlich dem Richter zugewiesen (turn-type pre-allocation). Das Gesprächsthema beschränkt sich auf den Angeklagten und seine Geschichte (dazu die Nachweise in Fn 163). 169 Das Kompetenzgefälle wird akzentuiert etwa in den Untersuchungen von Bohnsack/Schütze, KrimJ 1973, 270 ff.; Brusten/Malinowski 1975; Leodolter 1975, 217 ff.; Mileski LSR 1971, 474 ff.; Dürkop 1977; Mikinovic/Stangl 1978, 23 ff.; Wodak 1985; vgl. auch Calliess 1974, 103 ff.; Eisenberg 2002, Rn 844 ff. 170 Es ist „nur gegenüber diesem Anspruch (…) als Kritik überhaupt verständlich“ (Schaper 1985, 173). 171 De lege lata verhindert das Prozessrecht noch schlimmere Benachteiligungen des Angeklagten im Gerichtsdiskurs, und de lege ferenda könnte es die bestehenden diskursiven Ungleichgewichte abbauen. Vgl. Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177, 1237 ff., 1253 ff.; Giehring 1978, 199 ff.; Schurig 2003, 251 ff. sowie Calliess 1974, 102 (Asymmetrien im Verfahren als „historisch unnötige Rigidität des Normensystems“); Schreiber, ZStW 88 (1976), 117, 143 (Verfahrensrecht dient Beschuldigten zur „Verbesserung der Beteiligungschance“); Hassemer 1990, 138 ff. (Verfahrensrechte ermöglichen dem Beschuldigten die Partizipation in seinem „wohlverstandenen Interesse“); Rzepka 2000, 327 („in dem Maße“, in dem es zu verfahrenstatsächlichen Ungerechtigkeiten komme, müsse das Prozessrecht „reagieren“). Vielfach verspricht man sich bessere Angeklagtenchancen von der „Beseitigung ritualisierender Formen“ (Müller-Dietz a.a.O., 1255). Hiergegen mahnt die soziologische Forschung freilich Vorsicht an, würden dadurch doch nicht nur die Affektkontrollen abgebaut, die strafprozessuale Formen bei der Thematisierung und Beurteilung von Geschehnissen errichten (Legnaro/Aengenheister 1999, 2 f.), sondern auch interaktive Mechanismen beseitigt, von denen justiziell notwendige, aber alltagskommunikativ dispräferierte Handlungsformen erleichtert werden (Misstrauen gegenüber Zeugen, Schweigen auf eine Frage usw.; vgl. Atkinson/Drew 1979, 17; Schild 1983, 106; Wolff/Müller 1997, 86 ff.). Warnen möchte man auch vor den Einbußen an normbekräftigender Symbolik. 172 So v.a. Bosch 1998 (mit den folgenden Formulierungen a.a.O. 105 und 103; vgl. auch Böse, GA 2002, 98, 125 ff.). Nicht zu verwechseln sind diese Überlegungen mit verfahrenslegitimatorischen Ansätzen (oben II.2.): Die Konzepte der Luhmannschen Linie verstehen das Verfahren als

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Teil 3: Grundfragen

der seinem Träger nicht zufällig eine gewisse prozessuale Macht gewähre. Er ziele auf ein „Gegengewicht“ zu den faktisch bestehenden Nachteilen im Strafverfahren, indem er mit den erweiterten Handlungsoptionen des SchweigenDürfens die Chancen des Angeklagten hebe, „auf die Prozessgestaltung und auf die Gewinnung des Beweismaterials“ merklich einzuwirken173. Augenfällig sei das gerade bei jenen bei Beschuldigtengruppen, die den Bedrängnissen der Vernehmungssituation von Hause aus besonders wenig entgegenzusetzen haben (wie beispielsweise jugendliche Personen, in deren überdurchschnittlicher Geständnisbereitschaft sich eine verminderte „Widerstandsfähigkeit“ ausdrücke, die eines besondere Ausgleichs bedürfe174). Durch diesen Kompensationsauftrag sei der nemo-tenetur-Satz in seiner herkömmlichen Fassung allerdings zunehmend überfordert. Der mit ihm bislang identifizierte Schutz vor Mitwirkungszwängen versage gegenüber der aufkommenden Praxis verdeckten Ermittelns (oben I.3.b)ee)). Da dies der strukturellen Vormachtstellung der Strafverfolgungsseite neuerlich Nahrung gebe175, müsse das Recht mithalten und die Selbstbelastungsfreiheit im Auslegungswege um den Schutz der freiverantwortlichen Verteidigung aufrüsten176. Damit wird dem nemo-tenetur-Satz mehr als bloß ein neuer Anstrich gegeben. Während er bislang die Freiwilligkeit einer eventuellen Selbstbelastung gewährleistet, sodass der Beschuldigte das Ob und Was seiner Einlassung nach Gutdünken bestimmen kann, ohne dabei „ungewollte“ Handlungsziele wie die vom Entscheidungsprozess getrennten, wenn auch synchronen Vorgang (Luhmann 1997a, 3; Schaper 1985, 239 ff.) und beziehen die Selbstbelastungsfreiheit auf die entscheidungsindifferenten, kontextreproduzierenden Darstellungsanteile (auf das „Aushandeln“). Mit der gleichzeitig zu findenden Entscheidung hat das nur so viel zu tun, als sie durch das Aushandlungs-Image vor Protesten geschützt werden soll. Im kompensatorischen Modell zielt nemo tenetur dagegen auf die entscheidungskonstituierenden Anteile des darstellenden Handelns (auf das „Verhandeln“). Geheimhaltungsvermittelte Handlungsoptionen sollen hiernach den Einfluss auf das Urteil optimieren. 173

Dem steht nicht entgegen, dass das Schweigerecht nicht allzu häufig in Anspruch genommen wird (oben Fn 79), dass die Aussageverweigerung aufgrund der sonstigen Beweislage oft folgenlos ist (dazu Ludwig-Mayerhofer 1998, 160 f.) und dass das Schweigen für die Verteidigung abträglich sein kann (vgl. den Fall bei Legnaro/Aengenheister 1999, 37 ff.). Stets ist das Schweigerecht seinem Träger mindestens latent zunutze, weil es in seine interaktiven Beziehungen eingerechnet werden muss, auch wenn das an der konkreten Situation nicht unmittelbar ablesbar ist. So bildet es bei der strafprozessualen Verständigung bspw. ein handelbares Gut, das der Angeklagte in einen Strafnachlass investieren kann (hierzu Kölbel, NStZ 2002, 74, 76). 174 Die Belege dafür stellt z.B. Gudjonsson (2003, 141 ff.) zusammen. Die sich in der erhöhten Geständnisbereitschaft dokumentierende Verminderung der Prozesshandlungskompetenz gilt als mitverantwortlich für die Überrepräsentation dieser Gruppe in der registrierten Kriminalitätsstruktur (vgl. etwa Smauss 1998, 247 f., 258). Zu den Vorschlägen, dieses Manko durch eine intensivierte Beschuldigtenbelehrung auszugleichen, vgl. Ransiek 1990, 86 ff.; Eisenberg, NStZ 1999, 281 ff. 175 Vgl. Bosch a.a.O., 104 f. und öfter mit der Befürchtung, der nemo-tenetur-Satz könne in seinem klassischen Gewand im modernen Strafprozess antiquiert (genauer: als wirkungsloses Ritual) erscheinen. 176 So v.a. Ransiek 1990, 47 ff.; ders. StV 1994, 343, 345 f.; Bosch a.a.O., 121 ff.; Groth 2003, 70 ff.; Schilling 2004, 89 f.

5. Kap.: Sachbezug der Selbstbelastungsfreiheit

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Zwangsmittelvermeidung einrechnen zu müssen177, wäre durch das Freiverantwortlichkeits-Kriterium sogar ein Optimum selbst regulierten Entscheidens verbürgt. Durch eine solche Rechtsstellung würde in die Praktiken verdeckten Ermittelns, welche die Bedingungen verantwortlichen Handelns systematisch torpedieren, eine beachtliche Schneise geschlagen. Allerdings muss man hiergegen zu bedenken geben, dass sich das Fehlen von Freiverantwortlichkeit schwerlich aus dem faktischen Befinden des individuellen Angeklagten herauslesen lässt178. Im Strafprozess können die Einwirkungen des Umfelds wie in jedem anderen sozialen Verhältnis allenfalls auf einem Kontinuum von zuund abnehmender Intensität verortet und hinsichtlich ihrer Folgen für die Handlungsautonomie als irrelevant oder beachtlich erklärt werden179. Für ein solches normatives Urteil sind indes keine verlässlichen Maßstäbe zur Hand180. Es hilft auch wenig, eine Freiverantwortlichkeitsskala aus den „unterschiedlichen, einfachgesetzlichen Konkretisierungen des nemo-tenetur-Grundsatzes“ übertragen zu wollen181. Da hierbei allein das positive Prozessrecht definieren würde, wann die Entscheidung des sich selbst belastenden Beschuldigten unstatthaft beeinflusst ist, wäre die ganze Rede von Freiverantwortlichkeit ein Spiel um Worte, das sich bei der Auslegung der gesetzlichen Freiheitsgrenzen gar nicht auszahlen soll182.

Zweifel am Kompensationsmodell erwecken jedoch schon seine Prämissen. Indem sie unterstellen, nemo tenetur sei überhaupt zur Behebung der fraglichen Fairnessdefizite fähig, verkürzen sie das Problemfeld unzulänglich auf eine reine Rechtsstruktur. Für die strafprozessualen Aus- und Verhandlungsvorgänge bildet das Recht aber nur ein Sinnelement, das in den jeweiligen Handlungs177 In einem gewissen Sinne liegt Freiwilligkeit selbst in der Situation kompulsiven Zwangs vor, weil der Genötigte sich hier immer noch zwischen vorhandenen Alternativen entscheidet (entweder Zwangsmittelhinnahme oder Selbstbelastung; vgl. Ransiek 1990, 54). Er operiert nach seinen Präferenzen und wählt das für ihn geringere Übel. Aber er macht nicht das, was er „eigentlich“ will, weil der Nötigende den Kontext, auf den sich die Präferenzen beziehen, in relevanter Weise durch Nachteilsankündigung verändert. Hierdurch wird es attraktiv, anfängliche Handlungsziele (z.B. Geheimhaltung) durch neue (z.B. Zwangsmittelvermeidung) zu ersetzen (allgemein hierzu Gutmann 2001, 61 ff.). Die Bedrohung mit dem Zwangsmittel zwingt den Bedrohten, „sich um das bedrohte Gut zu kümmern, statt selbst gesetzte Ziele (...) verfolgen zu können“ (a.a.O., 203). 178

Auf Eigenverantwortlichkeit als faktisches Datum rekurrierend Ransiek 1990, 55.

179

Das gilt auch für zum Geständnis motivierendes Verhalten (vgl. Brooks 2000, 65 ff.). Angesichts seiner Unhintergehbarkeit gehen manche sogar davon aus, dass einen „Wahrheitstrieb“ unterstellen müsse, wer „das Geständnis überhaupt als einen Akt des Subjekts denken will“ (Niehaus, KrimJ 2000, 2, 10; Herv. i.O.). 180 Daher sind die Abgrenzungen bei Groth 2003, 70 ff. und Ellbogen 2004, 89 f. auch recht willkürlich. 181 182

So explizit Bosch 1998, 127; vgl. auch Lammer 1992, 158 f.

Soll hingegen der gesetzlich konkretisierte Freiverantwortlichkeits-Topos in die Auslegung des selbstbezichtigungsrelevanten einfachen Rechts eingehen, wird damit ein offensichtlicher Zirkel eingerichtet, in dem eine Größe zum Normkonkretisierungselement erklärt wird, die in diesen Operationen erst noch konkretisiert werden soll (allgemein zu dieser Gefahr der teleologischen Auslegung oben II.2.b) in Kap. 3).

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Teil 3: Grundfragen

formen neben anderen Bedeutungselementen enthalten ist und kaum als selbstständige Größe aus dem Handlungsstrom herausgelöst werden kann (vgl. oben I.2. in Kap. 3). Weil soziales Handeln also immer mehr verkörpert als eine bloße Normanwendung, lässt sich die reale prozessuale Macht nicht allein aus Gesetzbüchern ablesen (sondern nur aus dem asymmetrischen forensischen Agieren)183. Umgekehrt muss der gestaltungswillige Jurist deshalb daran scheitern, Wirklichkeiten, wie sie das Kompensationsmodell intendiert, schon durch das Verfassen dogmatischer Texte zu ändern. Vielmehr werden sich in den Brüchen zwischen „Theorie und Praxis“ allfällige Rückwirkungen einstellen. Von daher kann es nicht verwundern, wenn eine Optimierung des nemotenetur-Satzes eine Gegenbewegung auslöst, die das an sich anvisierte Machtgefälle doch wieder zementieren. So wird durch die Einräumung und Wahrnehmung des Schweigerechts für den Amtsträger ein Anreiz geschaffen, die ausbleibende Beschuldigtenauskunft durch eine (nur bedingt zu unterbindende) Fremdzuschreibung zu ersetzen (oben I.3.b)dd)). Auch die ausgefeilten Befragungskünste, die bis ins polizeiliche Verhör der Gegenwart hinein die abgeschaffte Folter ersetzen, legen für solche Rückwirkungen ein beredtes Zeugnis ab: Hinter all den Methoden der Gesprächskontrolle steht nämlich ein Handlungsproblem, das gerade das Beschuldigtenrecht auf Nicht-Kommunikation erzeugt. Weil sich die Vernehmenden in einer schweigerechtsbedingten Position der Schwäche befinden, können sie die Wahrheit, der sie unverändert auf der Spur sind, nur enthüllen, wenn sie eine interaktive Realität voller zwangskommunikativer Elemente konstituieren184. Wer den nemo-tenetur-Satz mit seinem Geheimhaltungseffekt erklärt, darf demnach nicht verschweigen, dass man mit dem Verheimlichen (und seinem Schutz) auch die Enthüllung stimuliert185.

183 “... power is produced through talk-in-interaction, rather than being predetermined by theoretical features of the context” (Hutchby/Wooffitt 1998, 166). 184

Vgl. Schröer 1992, 207. Das ist – wie die Vernehmungsethnografie von Leo belegt - auch andernorts nicht anders: „While Miranda appears to be partly responsible for the dramatic decline in coercive questioning practices in the 20th century, American police have responded to the Miranda requirements by developing sophisticated interrogation strategies that are grounded in manipulation, deception, and persuasion. These new methods appear to be just as effective as the earlier ones that they have replaced.” (LSR 1996, 259, 284). 185

Allgemein zu dieser Spirale Nedelmann 1995, 9 sowie am Bsp. der Wechselwirkung von Privatheit und technischer Überwachung Sack/Nogala/Lindenberg 1997, 106, 124; Lyon 2001, 21. Für manche Autoren sind die modernen Vernehmungsmethoden denn auch nicht weniger inhuman als die klassische Folter (vgl. Zimbardo 1971, 502: “... these techniques represent a highly sophisticated application of psychological principles which for many people are more compelling and coercive than physical torture”). I.Ü. schüren auch die oben (bei Fn 69 in Kap. 4) erwähnten Rückwirkungen von nemo tenetur (Dokumentationspflichten, auch selbstbelastungsrelevante Strafnormen) die Zweifel an der naiven Gleichung, dass dem Ausbau der Geheimhaltungsrechte stets auch eine positive rechtsstaatliche Gesamtbilanz innewohne.

5. Kap.: Sachbezug der Selbstbelastungsfreiheit

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Über eine besonders subtile Verlagerung gerät nemo tenetur sogar zu einer Bedingung kommunikativer Asymmetrie186: So kann (und muss) der professionelle Akteur durch sein rollengemäßes Prozesshandeln „die eigene Person als unmaßgeblich“ darstellen. Dem Angeklagten kommt dieser „Schutz legitimer Unpersönlichkeit“ dagegen nicht zugute, da er sich selbst zu thematisieren hat, und zwar ohne dies als Darbietung „eines anderen“ präsentieren zu können. Dabei ist es just der nemo-tenetur-Satz, der dazu führt, dass das prozessuale Agieren des Angeklagten auf dessen „Person angerechnet wird“. Nur beim frei Aussagenden gilt nämlich das „Verhalten als Selbstdarstellung“, wohingegen der zum Geständnis Genötigte „sein Selbst von seiner Aussage trennen und entlasten“ kann187. Obschon der Angeklagte wegen seiner Selbstbelastungsfreiheit also immer als er selbst wahrgenommen wird, verhindert die verfremdete Szenerie des Prozesses, dass er tatsächlich „so auftreten kann, wie er sich fühlt oder sonst ist“, und dadurch die strengen Anforderungen an die Konsistenz eigenen Verhaltens einlöst188. Das Verhalten des Angeklagten lässt sich also trotz seiner notorischen Verunsicherung juristisch als freier Akt konstruieren, weil nemo tenetur wenigstens den massivsten Autonomiedefekt unterdrückt und dadurch die reale Problemlage überblendet. Auch wenn sich durch die Selbstbelastungsfreiheit die Beschuldigtenstellung deutlich verbessert, dürfen diese „subversiven“ Züge nicht vergessen werden.

5. Schlussbemerkung: Begrenzte Rationalität der Freiheitsrechte Wie die gesamte Rechtsordnung wird auch der deutsche Strafprozess von einer Mischung aus den Prinzipien der Informationsfreiheit und der Geheimhaltung durchzogen. Zu den Geheimhaltungselementen zählt es, dass der Beschuldigte sein Wissen – ungeachtet der staatlichen Enthüllungssuche – zurückhalten 186 Das kann hier in Anlehnung an Luhmann (1997a, 94 ff. mit den folgenden Zitaten) nur angerissen werden. 187 Erst mit der Einräumung eines Schweigerechts „gewinnt die Aussage des Beschuldigten (…) ihren profilierten Beweiswert und erscheint nicht als die Übernahme einer fremden Situationsdeutung“ (Müssig, GA 2004, 87, 97). Mehr noch: Erst durch nemo tenetur verdoppelt sich der Vernommene, und aus ihm wird ein beschuldigtes Objekt, über das er als bezeugendes Subjekt einen Dialog führt oder doch führen kann (vgl. Grabska, PuG 1982, 26, 29). Diese Möglichkeit, ganz verschieden an der prozessualen Sachverhaltsarbeit mitzuwirken, führt dazu, dass der Prozess legitim erscheint (Schlauri 2003, 101), weil dem Angeklagten eine Mitverantwortung für das Verfahrensprodukt zugeschrieben werden (vgl. m.w.N. Schatz 1999, 245; Perron 1995, 52) und sein Protest gegen den Verfahrensausgang auf taube Ohren stoßen kann (dazu schon oben II.2.). 188 So ist bspw. die verfahrensgeschichtliche Konsistenz des Geäußerten die Vorbedingung für die forensische Glaubhaftigkeit (offenbar, weil sich die Wahrheit nach dem mundanen Denken nur immer wieder gleich erzählen lässt). Den Bezugspunkt bildet die als taktisch noch unverstellt geltende Ersteinlassung (vgl. Legnaro/Aengenheister 1999, 71 ff. sowie oben Fn 93).

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Teil 3: Grundfragen

darf. Müsste er dagegen die ihm vorgeworfene Verfehlung von Rechts wegen thematisieren, wäre dies der Alltagskultur zufolge kontraindiziert und begründungsbedürftig (oben I.2.b))189. Dass sich ein solcher Mitteilungszwang nicht ohne weiteres legitimieren ließe (oben II.1.a)) und dass das Geheimhaltungsrecht des Beschuldigten deshalb keine durchschlagenden Einwände gegen sich hat, besagt freilich noch nicht, dass es in Ansehung seiner realen Wirkungen auch einleuchtend oder gar unerlässlich ist. In dieser Frage verzichtet die vorliegende Arbeit auf jede theoretische Überhöhung. Sie belässt es bei der schlichten Beobachtung, dass das Geheimhalten innerhalb und außerhalb des Feldes strafprozessualer Vorwurfsbearbeitung eine gleichsam naturwüchsige soziale Verrichtung darstellt und dass das Recht der Neigung der Prozessunterworfenen nach solchen Praktiken nachgibt, indem es ihnen die Möglichkeit zur Wissenskontrolle gewährt. Hiervon abzurücken, gab die Kritik am individuumsorientierten Zuschnitt dieser Erklärung keinen hinlänglichen Anlass (oben II.1.b)). Ebenso wenig verdienen die derzeit kursierenden Alternativmodelle den Vorzug – nicht zuletzt, weil sie mit ihrem Ansinnen scheitern, die Verrechtlichung des Geheimhaltungsmusters gleichsam zur vorpositiven Folgerichtigkeit zu stilisieren (oben II.2. – 4.). Wenn aber schon die grundsätzliche Geheimhaltungsbefugnis „nur“ Plausibilität und keine dichtere außerrechtliche Stringenz aufweist190, darf man umso weniger darauf zählen, dass die Auswahl der konkret zuzulassenden Geheimhaltungstypen unter dem Diktat einer sachstrukturellen Logik steht. Davon scheinen aber dennoch viele Autoren auszugehen, die den Bereich rechtlichen Dürfens rigoros auf die bloße Nichtmitteilung beschränken191 und hierfür die allgemeine „Sittlichkeit“ ins Gespräch bringen192. Jene Autorität sei es nämlich, deretwegen die tätigen (lügnerischen, täuschenden) Geheimhaltungsformen nicht legal sein könnten, sondern sich durch eine Wahrheitspflicht sogar unterbinden ließen193. Genau besehen, kann aber die These vom außerrechtlich determinier-

189 Etwas anderes mag für das Verhältnis zwischen den Bürgern gelten (hier für eine grundsätzliche Informationsfreiheit Brossette 1991, 59, 70; Rössler 2001, 227). 190

Da dies also kein im strengen Sinne zwingender Grund ist, gilt für den strafprozessualen nemo-tenetur-Schutz das Gleiche wie für materiell-strafrechtlich geschützte Rechtsgüter: Beide werden ohne letztverbindliche Veranlassung durch politische Entscheidungen konstituiert. 191 Das geschieht freilich oftmals ohne konsequente Abstimmung zwischen Straf- und Strafprozessrecht (oben II.2. und VI.2. in Kap. 1). 192 193

Zur These eines moralischen Lügeverbotes oben II.2. in Kap. 1.

Wie ein (strafrechtliches) Lügeverbot aussehen könnte, skizziert Becker (1948, 17 ff.). Dabei zeigt er freilich einen Hang zu einem verkürzten Lüge-Konzept, bei dem die Unwahrheit eine vorhandene Qualität der Einlassung ausmacht (zum korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff, von dem das juristische und auch das Alltagskonzept von Lüge ausgehen, vgl. Ossa 2000, 18 ff.). Eine Lüge stellt sich als unwahr aber nicht selbst in den Raum. Der Wahrheitsmangel wird einer

5. Kap.: Sachbezug der Selbstbelastungsfreiheit

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ten Recht auch in dieser Ausprägung keinen Beifall finden. Selbst wenn man einmal ein unbedingtes ethisches Lügeverbot unterstellt194, ist die staatliche Normenordnung deswegen noch nicht gehalten, die Dinge ebenso zu regeln195. Es gibt keine Meta-Norm, der gemäß sich Recht und Ethik decken müssen. Von daher wäre an „unterschiedlichen Urteilen, die Moral und Recht über die Zulässigkeit von unaufrichtigen Äußerungen fällen (...), noch nichts Widersprüchliches“196. Die Rechtsordnung könnte also etwa Rücksicht auf die übliche Attitüde nehmen, die eine Lüge zum Schutz vor Strafe für verzeihlich hält197. Obendrein ließe sich darauf verweisen, dass die Zulässigkeit des Schweigens schon deshalb eine Lügeerlaubnis nach sich ziehen müsse, weil die nämlichen Verhaltensweisen fließend ineinander übergehen198. Weitere Gründe mögen sich finden lassen199. So ist das Gesetz also auch in diesem Punkt in keine vorbereiteten Bahnen gelenkt: Das Ensemble der zu nemo tenetur gehörenden Geheimhaltensformen wird allein durch das positive Recht besetzt.

Äußerung anlässlich der Fall-Verhandlung zugeschrieben, indem man dort eine Ereignisversion als Wahrheitsmaßstab produziert und alternative Versionen verwirft. 194

Vgl. Brossette 1991, 34 ff.; Schmid 2000, 46 ff. für einen kompakten Überblick über die Positionen. Trotz mancher Anfechtung neigt der ethische Diskurs auch in postmodernen Zeiten zu einem Verbot der Lüge (jüngst etwa Alkofer 2003). Die Lage ist aber weniger eindeutig als angenommen. So kennt man bspw. aus moraltheologischer Warte subtile Differenzierungen. Hier heißt es bspw., dass der Beschuldigte nur dann an der Lüge und am Verschweigen gehindert ist, wenn er damit reflexive Geheimhaltung (dazu oben Fn 37) betreibt (restrictio pure mentalis). Das Leugnen der Schuld sei hingegen ebenso unverboten wie die Ausrede, denn hierbei handle es sich jeweils um eine restrictio late mentalis, „bei der aus den Umständen geschlossen werden kann, dass der Sprecher innerlich etwas anderes meint, als die Worte bedeuten“ (Schön, ThPQ 89, 1936, 783, 789). I.Ü. wird ein Wahrheitsanspruch des Staates gegenüber seinen Bürgern bspw. von Stübinger (GA 2004, 338, 342, 350) in die Nähe obrigkeitsstaatlichen Denkens gerückt. 195 Selbst bei Kant findet sich das Nebeneinander eines Rechts zur Lüge und ihrer Moralwidrigkeit (dazu eingehend Niesen 2000, 68 ff.). 196 Niesen 2000, 68; ebenso Wasek 1998, 304. Anschauungsmaterial liefert hierfür auch die arbeitsrechtliche Behandlung unwahrer Arbeitnehmerantworten auf unberechtigte Fragen im Einstellungsgespräch (dazu etwa Brossette 1991, 137 ff.). 197

Vgl. zu dieser verbreiteten Einstellung das Experiment von Lindskold/Wolters, Journal of Soc.Psych. 1983, 129 ff. sowie den Forschungsüberblick bei Schmid 2000, 157 ff. 198 Zum Lügecharakter des Teil-/Schweigens Becker 1948, 19; Buchholz 1990, 167; vgl. auch NK/Vormbaum, § 153/98. 199

Nach Hruschka kann freilich der Kontext (Zweck) keine Unwahrheit rechtfertigen. Wer so argumentiere, hebe seine eigene diskursive Basis auf, weil er gerade wegen der verteidigten Lüge bei seinen Adressaten den Verdacht nicht ausräumen könne, dass er wegen irgendeines Zweckes auch momentan unwahrhaftig spreche (JZ 2001, 261, 270). Ob das zutrifft, mag dahinstehen. Hier geht es nicht um das Lügen, sondern allenfalls um das (potenzielle) Nicht-Transformieren eines Lügeverbotes ins Recht.

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Teil 3: Grundfragen

6. Kapitel

Geschichte des nemo-tenetur-Satzes Das Erfordernis, für eine Analyse des nemo-tenetur-Satzes dessen Geschichte zu befragen, ergibt sich aus dem bisherigen Untersuchungsverlauf gewissermaßen von selbst: So sorgt die derzeitige Debatte für eine fortwährende Aktualität der rechtshistorischen Daten (oben II. in Kap. 2). Aus Sicht der Juristischen Methodik ist es ebenfalls angezeigt, in die Konkretisierung einer Norm auch deren Werdegang einzublenden (oben II.2.a) in Kap. 3). Deshalb nimmt sich das folgende Kapitel der Entwicklung der Selbstbelastungsfreiheit an1 und bereitet hieraus eine genetische und historische Argumentationsbasis auf2.

I. Die Phase des Selbstbezichtigungszwangs 1. Das mittelalterliche Anklageverfahren Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts ist um 1200 greifbar. In dieser Periode tritt innerhalb eines heterogenen Neben- und Miteinanders von informaler Konfliktlösung und von alter und neuer, von kirchlicher, fürstlicher und städtischer Gerichtsbarkeit ein frühstaatliches Strafrecht endgültig neben die bislang vorherrschenden Konflikterledigungsformen3. Bis dahin ist die Grenze zwischen rechtlichen und außerrechtlichen Räumen kaum trennscharf zu ziehen. „Recht“ hatte noch keinen Systemcharakter. Einiges – vornehmlich die Fehdehandlung, mit der man sich Genugtuung für eine vorherige Verletzung ver-

1 Aussagekräftig ist die Normvergangenheit nur in ihrem sozialen Bezugsfeld. Je mehr man es bei der Exegese von Vorgängerregeln und archivierter rechtswissenschaftlicher Literatur belässt (wie i.Z.m. nemo tenetur im Wesentlichen Rogall 1977, 67 ff.; Reiß 1987, 145 ff.; Gerlach 1999; Bosch, GA 2002, 98, 108 ff.), desto weiter sinkt die methodische Zuverlässigkeit der hieraus bezogenen dogmatischen Argumente (vgl. oben bei Fn 81 in Kap. 3. sowie Schmoeckel 2000, 7 ff.; Jerouschek, ZStW 110, 1998, 143). Die Normbereichsanalyse muss also, ohne gleich eine außerjuristische Genealogie der Geheimhaltungs- und Geständnismuster in Angriff nehmen zu wollen, in die Vergangenheit rückverlängert werden – soweit es die Forschungslage in der historischen Kriminologie erlaubt (zu deren Zwischenbilanz Sack, KrimJ 1987, 241, 251 ff., 258 ff.; Schwerhoff, ZHF 1992, 385 ff.; ders. 1999; Eibach, ZNR 2001, 102 ff.; Habermas, Rg 2003, 128 ff.). 2

Da das außer Geltung gesetzte Recht für die rechtsmethodische Verwertung um so geringere Akzente setzt, je weiter es zurückliegt, wird das Schwergewicht auf die Reformgesetzgebung des 19. Jahrhunderts gelegt. Frühere Phasen finden sich nur holzschnittartig wieder. 3 Instruktiv zu dieser Gemengelage die Beiträge bei Schlosser/Willoweit 1999 (zur Kontroverse auch Holzhauer 1993, 180 ff.; Weitzel, ZRG 111, 1994, 66 ff.). Auf die Diskussion darüber, ob in fränkischer Zeit neben dem Parteiverfahren bereits ein öffentlicher Prozess inquisitorischer Art ins Werk gesetzt wurde (z.B. beim Königsgericht), braucht hier nicht eingegangen zu werden.

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schaffte – bewegte sich immerhin in der Nähe einer Rechtsaktivität4. Eindeutig innerhalb der rechtlichen Sphäre lag überdies die Bußleistung, die von den betroffenen Sippen im Sühnevertrag vereinbart oder in einem charakteristischen Rechtsgang festgelegt wurde5. Juristische Züge trägt ganz besonders die Prozessdramaturgie: Auf dem Schauplatz, auf den die Konfliktseiten ihren ursprünglich privaten Streit getragen haben, fungiert ein Gericht als Schiedsrichter, der über die Wahrung der rituellen Formen und die darin liegenden Wege zur „richtigen“ Lösung wacht. Von besonderem Interesse ist dabei das – modern gesprochen – „Beweisverfahren“, das dann einsetzt, wenn der Beklagte seine Schadenshaftung leugnet. Wegen seiner größeren Nähe zur Wahrheit gebührt ihm in aller Regel das „Beweisrecht“6. So kann er durch Ablegung eines Reinigungseids als wichtigstem „Beweismittel“ seine soziale Identität zur Geltung bringen, um auf diese Weise die angezweifelte Rechtmäßigkeit seines Handelns zu versichern. Eideshelfer, in ihrer Anzahl abhängig vom Stand der Parteien und dem Gewicht des Vorwurfs, bekräftigen ihre Überzeugung von der Richtigkeit dieses Schwurs7. Bei korrekter Form und hinreichender Anzahl ihres Auftretens ist der Beklagte entlastet. Dem Kläger bleibt nur der Meineidsvorwurf („Eidesschelte“) oder mancherorts auch das eigene, von Helfern unterstrichene Ehrenwort, um ein Gottesurteil auszulösen8. Dessen Ausgang bestimmt schließlich den Prozessausgang9.

4 Fehde war im Unterschied zur formlosen Rache eine „geregelte Feindschaft.“ (Bader, ZRG 112, 1995, 1, 12; dagegen die Fehde in einen „rechtsfreien Raum“ einordnend Holzhauer 1992, 7). 5 So orientiert sich die Buße an regionalen Taxen (zum Kompositionensystem etwa Bader, ZRG 112, 1995, 1, 36 ff.; Rüping/Jerouschek 2002, Rn 8 ff., v.a. zur Doppelfunktionalität der Buße – der materiellen Kompensation und dem Ausgleich der Ehrverletzung – vgl. Jerouschek, ZStW 104 1992, 328, 332; Althoff 1995, 68 ff.). 6

Das Beweisrecht gebührt nur einer Partei. Später kann der Kläger den Beklagtenbeweis in manchen Verfahrensformen (z.B. Handhaft, Übersiebnung) verhindern, indem er direkt zum Gottesurteil auffordert oder die Klage bereits mit Beweismitteln erhebt (zum Ganzen vgl. Kornblum 1971, Sp. 402 ff.; Kaufmann 1990a, Sp. 2031 f.). 7 Vgl. Scheyhing 1971, Sp. 871. Die Glaubwürdigkeit des Eideshelfers liegt darin, dass er seine soziale Position rituell in den gerichtlichen Diskurs einführt (vgl. Schneider 1996, 157 f.). Inhaltlich gibt er ein Leumundszeugnis und nimmt darüber hinaus Stellung zur Bezichtigung (i.S. eines persönlichen Werturteils zu Recht und Unrecht im Verhalten des Beklagten; vgl. Scheyhing a.a.O.). Zu eigenen Wahrnehmungen erklären sich nicht einmal die so genannten Schreimannen, die hinsichtlich der handhaften Tat sachkundig sind (vgl. Fischer 1998, Sp. 1685). Ob die Eidesbereitschaft lebenspraktisch von den eigenen Kenntnissen über die Tatumstände und von der Überzeugungskraft der Parteibehauptungen abhängig war (so Dreisbach 1969, 12), ist ungeklärt. Vermutlich fiel es höhergestellten Beklagten jedenfalls leichter, ihre Eideshelfer zu mobilisieren. 8 Vgl. Kornblum 1971, Sp. 402 f.; Köbler 1994. Der Sachverhalt ist bei jedem Diskurs zur Verantwortungszuschreibung umstritten (vgl. Luhmann 1997, 257 f.). Reinigungseid und Gottesbeweis geben einer Geschehensversion eine religiöse und verfahrensförmige Grundlage. Hier wird der Wille Gottes sichtbar (vgl. Esders/Scherff 1999, 23 f.), weil der Allwissende das Unterliegen des Unschuldigen nicht hinnehme, sondern sich zur Enthüllung des Verborgenen bewegen lasse (vgl. Schnell 1998, 370). Zur „lediglich prozessualen Wahrheit“ lässt sich ein solcher Beweis nur mittels heutiger Maßstäbe degradieren, wohingegen er in einer magisch fundierten Lebenswelt jedermann überzeugt (zum seinerzeitigen Selbst- und Weltbild z.B. Nitschke 1994).

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Teil 3: Grundfragen

In einem solchen Verfahren, das sich im Kern als zweipoliger Konflikt ausnimmt und das sein Urteil über den Streitausgang von formalen Bedingungen abhängig macht10, muss die Art, in der die Beteiligten agieren, zeremoniell beschaffen und vor allem auf den jeweiligen Gegner (statt auf eine inquirierende Instanz) bezogen sein. Ob sich das im Rückblick als eine Mitwirkungspflicht darstellt, erscheint indes fraglich. Sicher wird der Beklagte vom „Dritten“ (der Gemeinschaft) zum Erscheinen vor Gericht gezwungen, wo er dann ohne Bestreiten und ohne die zum Gegenbeweis erforderlichen rituellen Akte das Nachsehen hat11, doch mit den Selbstbelastungszwängen im heutigen Sinne hat dies wenig gemein. Vielmehr beruht dieser Beteiligungsdruck primär auf der Eigendynamik des Konflikts, dessen aktiver Austragung sich in einem bestimmten Stadium kein Beteiligter mehr zu entziehen vermag, und schon gar nicht nach dem Übergang in die öffentliche Sphäre. Eine Auseinandersetzung kann nicht ohne Abschluss bleiben. An der Oberfläche ist es zwar die drohende Friedloslegung, die ein Mindestmaß formalisierter Streitdurchführung erzwingt, doch im Grunde fußen solche Mitwirkungspflichten im vorrechtlichen Bereich – in der offenen Kontroverse, die sich nicht kurzerhand abbrechen lässt12.

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An sich belegt das Ordal auch den Meineid des Unterlegenen und seiner Eideshelfer. Verfolgt werden muss das aber nicht wegen des religiösen Tabubruchs (herauf reagiert bereits Gottes Hand), sondern nur bei einer meineidsbedingten Verletzung der Gegenpartei (vgl. Holzhauer 1984, Sp. 448 ff.). Insofern ist das Aussagedelikt noch eine religiös kontextuierte Privatschädigung ohne Strafvereitelungsgehalt (vgl. auch Ebert, ZRG 110 (1993), 1, 11 f.; Nitschke 1994, 204 ff.). 10 Das mittelalterliche Parteiverfahren kennt allerdings den Augenscheinsbeweis, später tritt der Urkundenbeweis hinzu. Außerdem gibt es bereits erste Formen von Wahrnehmungszeugen, wenn sie auch selten und in den (nach heutigen Begriffen) strafrechtlichen Verfahren wohl überhaupt nicht vorkommen (zu den Geschäftszeugen und Gemeindezeugen vgl. Sellert 1971; ders. 1971a). 11 Der Reinigungseid und andere Beweismittel stehen dem Beklagten nur offen, wenn er den Vorwurf bestreitet (vgl. Schmidt 1965, 39; Kleinheyer 1979, 376 f.). Das Verweigern jeglicher Antwort (oder der Handlungen beim Gottesbeweis) gilt als Geständnis (Walder 1965, 32 f.), wenn nicht gar als Rechtsverweigerung, bei der die Friedloslegung droht (vgl. Plöger 1982, 11, 19 u.ö.). Andererseits muss derjenige, der sich erfolglos verteidigt, eine höhere Buße leisten als der geständige Beklagte. Das Geständnis hat daher praktische Bedeutung (vgl. Holzhauer 1971, Sp. 1630). 12 Anders aber Plöger 1982, 22 ff., dem zufolge die Mitwirkungspflichten auf einer gegenseitigen genossenschaftlichen Pflicht der Gesellschaftsmitglieder beruhten, die mit der Friedloslegung über ein entsprechendes prozessuales Beugemittel verfügt hätten. Ein derart juristisch gedachtes Modell überschätzt die Ausdifferenzierung des Rechtssystems im Mittelalter und übersieht den „rechtssymptomatischen Einbau der Gewalt in das Recht“ (Luhmann 1997, 282), wonach das damalige Gesetz gebunden ist an die Strukturen der Umwelt und sich eben noch nicht als Recht durchsetzt. Motivkräftiger wirken stattdessen die Zwänge der Interaktionsdynamik.

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2. Das frühe Inquisitionsverfahren Noch in den folgenden Jahrhunderten ist der Kriminalprozess durch ein zivilrechtsartiges Partei- und Anklageverfahren beherrscht. Vielerorts wird man es alle vorindustriellen Epochen hindurch kennen. Und dennoch praktiziert man das Strafrecht mit dem späten Mittelalter und der frühen Neuzeit auch in fundamental anderer Form: Inquisitorische Vorgehensweisen halten Einzug, treten erst neben das alte Verfahren, verdrängen es dann merklich und verändern selbst innerhalb des Anklageprozesses die Grundlagen der Urteilsfindung13. Das geschieht im Gefolge gesellschaftstektonischer Verschiebungen. Die Kirche imponiert zusehends als eigenständige, robuste Institution. Zu modernen weltlichen Herrschaftsordnungen kommt es durch Stadtgründung mit Geldwirtschaft, Handel und lokaler Suborganisation (Zünfte/Gilden). Aber auch den Territorialfürsten gelingt der Aufbau frühstaatlicher Bedingungen, nicht zuletzt weil man die Konfliktabwicklung dank der Landfriedensbewegung zunehmend entprivatisiert14. Innerhalb dieses Rahmens drängt vieles in die Richtung eines öffentlich geführten Strafrechts. Ein solcher Prozesstyp eignet sich dazu, reale Interessenkonflikte in ordnungssichernden Bahnen zu kanalisieren (und die politische Machterhaltung zu gewährleisten). Er liegt von daher für jede staatsartige Herrschaft nahe15. So hatte er eigentlich nur die Traditionen gegen sich. Doch auch deren Widerstand war aus zwei Gründen im Schwinden: Einmal kamen für die inquisitorischen Verfahrensformen spätestens im 12. und 13. Jahrhundert eindrucksvolle Vorbilder auf (die Kirche hatte dergleichen schon vor den italienischen Stadtrechten disziplinarrechtlich praktiziert, gemeinsam mit der weltlichen Gerichtsbarkeit später auch bei der Ketzerverfolgung16). Und zum anderen resultierte aus dem Bevölkerungswachstum ein erheblicher Prob-

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Zusammenfassend zu dieser Entwicklung Kleinheyer 1971, 21 ff.

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Vgl. den Abriss bei Henning 1994, 19 ff., 67 ff., 125 ff.; Wesel 2001, 293 ff.; zu den Landfrieden vgl. Gernhuber 1952; Wadle 2001; zusammenfassend Rüping/Jerouschek 2002, Rn 48 ff. 15 Dazu Wesel 2001, 338. Dabei geht es um eine frühe Phase rechtsgetragener Herrschaft, bei der das Strafrecht eher friedenssichernden als disziplinierenden Charakter hat. Es sucht den Konfliktausgleich und reagiert nur bei schwerer Verfehlung mit Ausgrenzung (vgl. Blasius, GuG 1988, 136, 141 f.; Groebner 1995, 189; Schuster 1995, 149 ff.). Im Alltag erweisen sich zahlreiche Gewalthandlungen daher noch immer als selbstverständliche, ehrrestituierende Selbsthilfe, die auf ein zuverlässiges Gewaltmonopol des Staates nicht zurückgreifen kann (vgl. die Fälle bei Hagemann 1981, 165 ff.; Schuster 1995, 112 ff.; ders. 2000, 95 ff.). 16 Zum Ablauf dieser Rezeption vgl. Willoweit 2002; zu ihrem seinerzeitigen Gegenstand grundlegend Trusen 1984, 45 ff.: Ende des 13. Jahrhunderts sind auch im deutschen kanonischen Recht die Gottesurteile verboten, und es ist die Folter anerkannt; im 14. Jahrhundert sickert dies zunehmend in die weltliche Gerichtspraxis ein. Hinzu treten die rezeptionsgeprägten italienischen Stadtrechte; dazu auch Oehler 1986; Jerouschek, ZStW 104 (1992), 328, 341 ff., 347 ff.; Schulz 2001, 49 ff.; Ignor 2002, 44 ff.; speziell zum Ketzer-Verfahren Müller 1996, 307 ff., 339 ff., 355 ff.; Niehaus 2002, 122 ff.

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Teil 3: Grundfragen

lemdruck, weil die damit einhergehenden neuen und mengenmäßig angestiegenen Kriminalitätsformen einer öffentlichen strafrechtlichen Antwort bedurften17.

Vor diesem Hintergrund entwickeln sich Schritt für Schritt diverse, mitunter disparate Prozeduren eigener Art (Verfahren gegen landschädliche Leute, Leumundsverfahren, Rüge-, Handhaft- und Übersiebnungsverfahren, Verfahren auf stille Anfrage)18. Sie verbindet ein amtsmäßiges Vorgehen bei weitgehendem Verzicht auf die strengen Formen des Anklageprozesses, was den jeweiligen Autoritäten ein umstandloses und eigeninitiiertes Reagieren ermöglicht. Nach und nach, zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert, läuft all dies auf die Gestalt des Inquisitionsverfahrens hinaus. Dort verlieren die ursprünglichen Parteien ihren alten Status – der Kläger wird zum Zeugen, der Beklagte zum Untersuchungsobjekt –, und die gerichtliche Verhandlung büßt ihren öffentlichen und mündlichen Charakter ein19. Vor allem aber setzt nun die Obrigkeit die Prozesse in Gang und ordnet deren Ablauf20.

17 „Die Rechtsgeschichte hat die strafrechtlichen Innovationen des Spätmittelalters und der Frühneuzeit seit jeher als Reaktionen auf einen Anstieg gefährlicher Schwerkriminalität gedeutet.“ (Schwerhoff 1991, 177). Die Anonymität, die mit Verstädterung, Bevölkerungswachstum und -wanderung in die sozialen Beziehungen eingetreten sei, habe Delinquenz begünstigt, kollusive Absprachen bei der Eideshilfe zugelassen und dem Ehrverlust, der die Bußleistung bis dahin absicherte, den Schrecken genommen. Gegenüber hablosen landschädlichen Leuten seien Bußen ohnehin zwecklos gewesen (zu diesen Thesen etwa Dreisbach 69, 6 f.; Sellert 1989, 96). Tatsächlich wurde die Strafrechtspflege von einer neuen „schwerkriminellen“ Klientel beschäftigt (Bspe. bei Hagemann 1981, 163 f., 317; ausführlich für das 16. Jhdt. Spicker-Beck 1995, 25 ff.; vgl. auch Schuster 2000, 61 ff., 71). Der größte Teil der Verfahren richtete sich allerdings – v.a. bei Gewaltdelikten (vgl. Schwerhoff, ZHF 1992, 385, 402) – gegen die ortsansässige arme und mittelständische Bevölkerung (vgl. Burghartz 1990, 97 ff.; Schwerhoff 1991, 174 ff.; Schüßler; ZRG 108 (1991), 117 ff.; ders. ZRG 111 (1994), 148, 183 ff.; Schuster a.a.O., 136). So spricht einiges dafür, dass die „kulturelle Lücke“ zwischen Kriminalität und zeitgenössischem Kriminalrecht keineswegs nur von den Fremden und Randständigen geöffnet wurde. Überdies darf man den Anteil der intensivierten obrigkeitlichen Reaktion an der (Re-)Produktion dieses subkulturell-kriminellen Milieus nicht übersehen (vgl. Schwerhoff 1991, 443; Spicker-Beck a.a.O., 183 ff.). 18 Dazu gerafft Walter 1979, 52 ff.; Jerouschek, ZStW 104 (1992), 328, 356 ff.; ders. 2000, 366 ff.; Rüping/Jerouschek 2002, Rn 73 ff.; Zopfs 1999, 123 ff.; Härter 2000, 462 ff.; in einer regionalen Studie Schorer 2001, 161 ff. 19 Dies verändert i.Ü. auch die Alltagskultur, in der nun die Strafvollziehung statt der prozessualen Entscheidungsfindung das öffentliche „Rechtserlebnis“ bildet und normbestätigende Wirkungen entfaltet (vgl. Schild 1984; van Dülmen 1995, 82; Müller-Tuckfeld 1998, 19 ff.). Jetzt versorgt die öffentliche Inszenierung des endlichen Rechtstags die geheim getroffene Entscheidung mit der erforderlichen Legitimität – und u.a. deshalb behält man sie bei (so explizit § 123 der Bambergischen Halsgerichtsordnung; vgl. Sellert 1989, 210, 239). 20 Die Unterschiede zum Anklageprozess bilden sich idealtypisch am Institut der „Haussuchung“ ab: Ursprünglich war hierzu der Kläger anlässlich der Fahrnisverfolgung selbst befugt (unter bestimmten Bedingungen und mit eigener Misserfolgshaftung), im hohen Mittelalter benötigt er die Hilfe des Gerichts, und am Ende ist die Haussuchung nur noch Gerichtspersonen erlaubt (vgl. Holzhauer 1971a).

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Ebenso neu wie diese Amtsmäßigkeit des Inquisitionsverfahrens ist dessen Wahrheitsbezug. Während die mittelalterlichen Anklageverfahren gar nicht auf die Abbildung eines streitbefangenen Geschehens angelegt waren, sondern allein die Berechtigung des Vorwurfs feststellten (die eigentliche Sachverhaltsermittlung also gewissermaßen übersprangen), nimmt man nunmehr eine bis heute wirksame Umstellung vor. Der Prozess beurteilt das gegenständliche Verhalten seitdem auf der Basis einer Geschehensrekonstruktion. Zu jener Zeit verschafft sich nämlich zögernd, aber stetig das individuelle Selbst seinen Zutritt zur Lebenswelt. Die damit bewusst werdende individuelle Verantwortlichkeit wird zum Angelpunkt, den man vor der Bestrafung ergründen muss21. Deshalb gilt das Interesse nicht mehr nur der Un-/Rechtmäßigkeit des Prozessgegenstands, sondern der realen Begebenheit, einschließlich des Täterinneren. Die mittelalterlichen Beweismittel boten dafür keine hinreichende Plausibilität. Angesichts der aufkommenden „Schuldorientierung“ erlangt vielmehr das Zeugnis des Täters eine besondere Aussagekraft22. Die Einlassung des Beschuldigten und ihre formgebundene Würdigung rücken aber auch deshalb in den Mittelpunkt, weil Delikte meist heimliche Taten sind und man die dinglichen 21 Neben dem bösen Gedanken bleibt freilich die Tat konstitutiv. Erkenner und Richter der „Dinge, die im Verstande sind“ und nicht durch Tun erkennbar ans Licht traten, ist allein Gott (Kramer 1487/2000, 615, 693 mit Hinweis auf die kanonistische Lehre). 22 Es besteht eine augenfällige Synchronität von aufkommender Intentionalethik, subjektiver strafrechtlicher Verantwortlichkeit, Beichte und Geständnis (Dinzelbacher 2001, 57): Das 12. Jhdt. schwächt die identitätsstiftende Funktion der Sippe. Mit der Verbreitung christlicher Ethik breitet sich ein neues Gefühl für die Einzigartigkeit des Individuums aus, das nicht mehr nur Glied einer Gruppe ist. Aus diesem Bewusstsein persönlicher Identität wächst auch die Angst vor dem Tod als dem Ende des Ichs. So kommen hilfreiche personalisierte Jenseitsvorstellungen auf. Aber sie implizieren die Vorstellung eines individuellen Seelengerichts, das die diesseitige Schuld mit jenseitiger Qual vergilt (vgl. Hahn 2000b, 183 ff.). Die vorsorgliche Befragung des Selbst trägt dem Rechnung. Eine solche „Gewissenserforschung und Gewissensprüfung in der Beichte führt zu Selbstreflexion, zu gesteigerter Individualisierung“ (Schnell 1998, 378). Eigenverantwortlichkeit wird dadurch zu einer lebensweltlichen Größe (zum Ganzen Hahn, KZSS 1982, 407, 411 f.; Müller 1996, 364 ff.). Die Missetat beginnt man folglich als subjektiv vorwerfbaren Unwertakt zu verstehen, der nicht durch Bußen ablösbar, sondern durch Tadel und (spiegelnde) Strafen zu sühnen ist (vgl. Sellert 1989, 96; Jerouschek, ZStW 104, 1992, 328, 338; Ignor 2002, 78). So knüpfen bspw. die Landfrieden die Verantwortlichkeit für eine Straftat nun nicht nur an eine wahrnehmbare Folge, sondern häufiger auch an subjektive Gegebenheiten beim Täter (vgl. Klementowski, ZRG 113, 1996, 217, 220 ff.; allgemein zum bis heute umstrittenen „Schuld“-Verständnis im Spätmittelalter Stübinger 2000; Schulz 2001, 90 ff.). In dieser Lage steigt die Unzufriedenheit mit den Gottesurteilen, die Tat und Täter nur äußerlich verbinden. Wenn ein Vorgang erst durch das Subjektive zu einer sündhaften Handlung wird, muss dieses Innere im Verfahren erschlossen werden. Sicherlich ist es dafür oftmals nicht zu vermeiden, dass „man auch aus den Taten auf die Neigung schließt“ (Kramer 1487/2000, 773), weshalb man die subjektive Tatseite aus der erwiesenen objektiven Tat mittels Indizschluss und Rechtsvermutung ableitet (dazu Rüping/Jerouschek 2002, Rn 104). Allerdings deckt erst das Geständnis die Tätermotive wirklich glaubhaft auf (vgl. Hahn, KZSS 1982, 407, 415 f.; vgl. auch Schnell a.a.O., 374); nur so entfällt der Anlass zur Beunruhigung, die mit einer Verurteilung ohne Eingeständnis einhergeht (oben Fn 77 in Kap. 5).

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Spuren, die sie hinterlassen, für den forcierten Aufklärungswillen noch kaum verwerten kann23. Dass sich die Selbstenthüllung bereits für sich genommen eignet, die Individuen zu vergesellschaften, tut sein Übriges24. So wird der Beschuldigte im (früh-)inquisitorischen Beweissystem das zentrale Untersuchungs- und Ausforschungsobjekt. Er wird zur Mitwirkung verpflichtet. Sofern er sich nicht freiwillig offenbart, kommt es zur Folter, die in Anlass und Durchführung im richterlichen Ermessen liegt25. Am erfolterten Geständnis interessiert freilich primär das Vorhandensein. Die Wahrheitsorientierung im neuen Beweissystem bleibt vorerst rudimentär. Zur Überführung genügt die vom Täter beglaubigte Enthüllung auch ohne eingehenden, interaktiven Wahrheitsbeleg26. Eingedenk der Unwahrscheinlichkeit, mit der eigene Sünden mitgeteilt werden (oben I.1. in Kap. 5), ist die Tat nämlich schon durch ihre Preisgabe hinreichend belegt. Dass der Geständige den Vorwurf gegen sich gelten lässt, gibt dem Urteil also eine formale Grundlage, die nicht anderweitig verifiziert und legitimiert werden muss.

3. Die Carolina (CCC) Die zunehmend erstarkenden Herrschaftsstrukturen haben ein Interesse an einer Stabilisierung der Verbrechenskontrolle. Gleichzeitig sinnt die Unzufriedenheit mit den willkürgeneigten frühen Inquisitionsverfahren nach größerer Verbindlichkeit, wie sie kanonische und oberitalienische Rechte vorleben. Auch die römisch-rechtlich beeinflussten Verfahrensordnungen der Neuzeit versprechen diese verfahrenspraktische, rechtsmethodische und rechtspolitische Eig23 „Um die Verurteilung auf Indizien zu gründen, fehlte es dieser Zeit sowohl an kriminalistischen und kriminaltechnischen Möglichkeiten ihrer Aufspürung und Auswertung, als auch an dem Zutrauen in die kombinatorische Kraft der Vernunft ...“ (Holzhauer 1971, Sp. 1635). 24 Dazu, dass das Geständnis erlaubte, „gefährliche Willensäußerungen überhaupt zu unterdrücken“ (Hess/Stehr 1987, 48) eingehend oben I.2.a) in Kap. 5. 25 Es kommt nicht stets zur Folter. Wann sie zulässig ist, unterscheidet sich regional. So zeigt Schuster z.B. für Konstanz am Ende des 15. Jahrhunderts eine gering ausgeprägte Folterpraxis (2000, 204). 26 Vgl. Jerouschek, ZStW 104 (1992), 328, 345. Eine die überkommenen Beweismittel ersetzende Beweistheorie verlangt für eine Verurteilung ein Geständnis oder zwei Zeugenaussagen. Im Inquisitionsprozess der Neuzeit tritt die materielle Überprüfung jener Entscheidungsgrundlagen hinzu (sogleich bei 3.). Zunächst verzichten die Frühformen der Inquisitionsverfahren aber darauf, die Selbstbezichtigung zu validieren (zum Ganzen vgl. Trusen 1984, 77 ff.; zusammenfassend Fezer 1993, 666 f., Fn 12). Der nur formale Status des Geständnisbeweises zeigt sich auch daran, dass bei einem Geständniswiderruf die Gerichtszeugen allein die Geständnisabgabe und nicht den Aussageinhalt bekunden. Dass die Individuen in der Lebenspraxis subjektiv nach Wahrheit gesucht haben mögen, ändert nichts daran, das ihre Verfahren strukturell nicht darauf angelegt und das „Unwesen“ inquisitorischen Vorgehens noch nicht gefesselt war (vgl. Niehaus 2003, 189 ff.).

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nung27. So wird die Rechtspraxis für Jahrhunderte durch die Carolina (153228) geprägt, die als Reichsrecht in einem „spannungsreichen Gegensatz zum Prozess der territorialen Verdichtung“29 die Strafrechtspflege regiert. Das Offizialverfahren setzt sich dabei endgültig durch. Zwar konzipiert die Carolina den Anklageprozess noch als Regelfall (Art 11 ff.), doch gibt sie ihm in Ablauf und Beweisrecht eine gewisse inquisitorische Prägung30. Ohnehin greift rechtsalltäglich das Verfahren von Amts wegen (Art 6 – 10) immer mehr um sich, um Mitte des 17. Jahrhunderts deutlich zu dominieren31. Nun bedarf indes jedes Strafrecht, das sich anschickt, missliebiges Verhalten zu disziplinieren, einer gewissen Reputation, mit der es nur rechnen kann, wenn es im öffentlichen Eindruck mit zuverlässigen Mitteln nach dem „wahrhaft Verantwortlichen“ sucht. Diesen Rückhalt will sich auch die Carolina verschaffen, und so bindet sie sich an dasjenige, was in den Begriffen jener Zeit als Wahrheit gilt. Den damaligen Standards gemäß schöpft sie personale Beweismittel (Zeugen, Beschuldigte) aus und fertigt ein Eichmaß des echten Beweises: Die Verhängung der gesetzlichen Strafe (poena ordinaria) verlangt danach den Vollbeweis (plena probatio, Art 22 CCC), erbracht durch die Aussage zweier Wis27

Neben ihrer herrschaftsbezogenen Funktionalität erlauben die Rezeptionsgesetze nun auch eine systematische und fallvariabel-deduzierende Handhabung. Der neue Stoff und seine neuartige Behandlung überfordern allerdings die Laienrichter der niederen Gerichte. Deshalb hält sich hier das alte Recht länger (Schnabel-Schüle 1997, 40 f.), und es entsteht ein Bedürfnis nach der Aktenversendung an rechtsgelehrte Instanzen (dazu etwa Hahn 1989, 22 ff., 118 ff.; Schnabel-Schüle a.a.O., 54 ff.). Gerade diese Entscheidungsform macht das Verfahren (außerhalb des Verhörs) zu einem weitgehend schriftlichen (vgl. Geppert 1979, 15 ff.). 28

Zu ihrer Entstehungsgeschichte etwa Schroeder 1980, 27 ff.; Kleinheyer 1984, 7 ff.

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So Schnabel-Schüle 1997, 27 mit Blick auf die Vorbildwirkung des Reichsgesetzes Carolina und seine unterschiedliche Transformation auf die Landesebene. 30

Dass der Verletzte eine öffentliche Funktion ausübt, zeigt sich darin, dass er auf sein Klagerecht verzichten, nicht aber die Verfolgung von Amts wegen verhindern kann (vgl. Kleinheyer 1984, 22 f.). Der CCC zufolge stößt der private Kläger das Verfahren überhaupt erst an. Außerdem kann er die peinliche Frage beantragen, falls ihm nur der Beweis der Folterindizien und nicht der volle Tatbeleg gelingt. Auch die Fragestücke der Vernehmungen bereitet er vor. Alles andere, bspw. die Verfahrensleitung, wird amtlich betrieben (vgl. Kleinheyer 1971, 16 f. und Trusen 1984, 112 ff.). Außerdem kann ein (z.B. wegen Beweisproblemen) verfrüht endender Anklageprozess im Offizialverfahren fortgeführt werden (Art 214, vgl. auch Art 219 CCC). 31 Die Sicherheitsleistungen, zu denen der private Kläger verpflichtet ist, und seine zivilrechtliche Haftung bei einer etwaigen Verfahrensniederlage stärken das praktische Motiv zur Einschaltung des Staates (wobei allerdings auch im Inquisitionsverfahren bei der unbegründeten Denunziation nachteilige Folgen drohen, vgl. Litewski 1982, 143 f.; Fallbsp. bei Frank 1995, 174). Gemessen an den Normprogrammen lassen sich akkusatorische und inquisitorische Handhabungen in der Realität kaum trennen. Vgl. etwa die verschwimmenden Übergänge von privaten, amtsinitiierten oder anzeigebedingten Prozesseröffnungen bei Schüßler, ZRG 108 (1991), 117, 155 ff.; Schwerhoff 1991, 85 ff.; Groebner 1995, 168 ff.; Schuster 2000, 139 ff. (jeweils mit Daten für 13. bis 16. Jhdt.). Im 18. Jhdt. zeigen sich aber dann nur noch Amtsverfahren, die überwiegend durch private Anzeige in Gang gesetzt werden (vgl. Hartl 1973, 151 ff.; Eibach, ZHF 1998, 359, 369 f.).

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Teil 3: Grundfragen

senszeugen (Art 67 CCC). Desgleichen führt das Geständnis, und sei es unter der Folter abgelegt, zum Beweiserfolg32. Misslingt er, weil es beispielsweise an den erforderlichen Verdachtsmomenten, die zur peinlichen Befragung ermächtigen33, fehlt oder weil der Verdächtige der Tortur widersteht34, sind allein minderschwere Verdachtsstrafen (poena extraordinaria) zulässig35. Auch den Gefahren für die Wahrheit des Vollbeweises, namentlich der Lüge der Zeugen und dem falschen Geständnis des Gefolterten, will die Carolina begegnen. Sie hält den Untersuchungsbeamten an, beim Verhör keine verfänglichen oder suggestiven Fragen zu stellen. Ein Geständnis muss er überprüfen36. Von der Zeugenver32 Das freiwillige Geständnis (hinter dem freilich nicht selten eine subtile Folterdrohung stand) war nach Dreisbach (1969, 54 f.) und Härter (2000, 469) keineswegs selten (vgl. auch die verstreuten Hinweise bei Schwerhoff 1991; Schuster 1995; Behringer 1997). Als voller Beweis schloss es die Folter aus. 33

Hierzu bestand eine stark differenzierende Indizienlehre (vgl. etwa Pöltl 1999, 42; Michels 2000, 16 ff.). Zur partiellen Reichweite der freien, richterliche Würdigung dieser Indizien in diesem Bereich vgl. Jerouschek (GA 1992, 493, 497 ff.; ders., ZStW 108, 1996, 243, 258 ff.), der indes gegen die vorherrschende Meinung das Geständnis nicht als eine selbstständige Variante des Vollbeweises ansieht. Vielmehr liege in den zur Folter ermächtigenden Indizien eine Halbbeweisung, die das Geständnis zum vollen Beweis ergänze (zum Streit Oestmann, 1997, 189 f.). Allerdings erlaubte jedenfalls das freiwillige Geständnis die Verurteilung, ohne durch solche feststehenden Indizien als „zweiter Hälfte“ gestützt zu werden. Es wird sogar bezweifelt (v.a. von Zopfs 1999, 131 Fn 147), dass das freiwillige Geständnis wegen Art 54 CCC auf seine Glaubhaftigkeit hin zu überprüfen war (so z.B. Kleinheyer 1979, 381, 383; Niehaus 2003, 204). 34 Zur Wiederholung der erfolglosen Folter bedurfte es neuer Indizien (vgl. Kleinheyer 1971, 32 ff.). Unabhängig davon droht bei überstandener Tortur aber häufig – neben Verbannung und Zwang zum Urfehdeeid (dazu Blauert 2000) – ein bleibendes Stigma (vgl. van Dülmen 1995, 35 f.; Härter 2000, 471). 35 Das Institut der Verdachtsstrafe wird erst im Nachhinein von der Rechtswissenschaft implementiert. Es gehört zu den außerordentlichen Strafen, die anstelle der gesetzlichen Normalsanktion verhängt wurden (mit abgesenkter Härte, wobei für Auswahl und Bemessung ein richterlicher Ermessensspielraum bestand). Den Anlass hierzu gaben fallkonkrete Beweisprobleme, insbesondere der trotz starker Indizien gescheiterte Beweis (weil z.B. Folter wegen der Geringfügigkeit des Delikts unzulässig war oder weil der Vorwurf auch unter der Folter bestritten wurde; vgl. Schaffstein, ZStW 101, 1989, 493, 496 ff., 501 ff.; Thäle 1993, 29 ff.; Schmoeckel 2000, 295 ff. sowie das Fallbsp. bei Jerouschek 2000, 356). Damit lag der Verdachtsstrafenverhängung aber immerhin eine Halbbeweisung zugrunde, die zwar keine poena ordinaria erlaubte, die Tatverantwortung jedoch viel näher legte, als das, was man heute Verdachtslage nennt. Falls die Indizien dafür nicht genügten, wurde ebenso freigesprochen wie beim Entlastungsbeweis (vgl. Paulus 1994, 292 f.). 36 Art 56 und 60 CCC (dazu Kornblum 1971, Sp. 406 f.; Kleinheyer 1984, 24; Sellert 1989, 209). Nach Dreisbach behandelte Schwarzenberg „das Ergebnis des peinlichen Verhörs stets nur als ermittelten Tatsachenrohstoff, aus dem durch Systematisierung des Verhörs (…) und durch mannigfache Gegenproben (…) der Wahrheitsgehalt ausgesiebt werden sollte. Er erlag nicht der Versuchung, die erfolterte Aussage als Geständnis im Sinne einer prozessualen Willenserklärung anzusehen.“ (1969, 52 f.). Allerdings werden sämtliche Geständnisse am Endlichen Rechtstag nicht mehr materiell gewürdigt (zur Praxis Spicker-Beck 1995, 286 ff.). Hier müssen sie nur formal vorhanden sein. Wird ein Geständnis widerrufen, beglaubigen die Zeugen noch immer nur das Ablegen und nicht den Inhalt der Beschuldigtenaussage (vgl. Kleinheyer 1979, 370 ff.; ders. 1984, 20 f.; Schild 1984, 134).

6. Kap.: Geschichte des nemo-tenetur-Satzes

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nehmung werden unglaubwürdige Personen ausgeschlossen. Und schließlich soll das Gebärdenprotokoll (Art 71 CCC) eine Aussageprüfung noch in den Akten erlauben37.

Gewiss darf man dieses Normgebäude nicht mit der Realität in eins setzen. Dem von ihm vermittelten Eindruck einer geschlossenen Komposition steht die Heterogenität der örtlich-zeitlich jeweils tatsächlich geltenden Normen38 ebenso gegenüber wie die Gebrochenheit der Normdurchsetzung39. Schaut man darüber hinweg, muss man der Carolina jedoch das Bemühen attestieren, im Wahrheitsund Beschuldigteninteresse die eingebürgerten inquisitorischen Methoden, die sie als juridische Technik (soeben 2.) wie auch als alltagskulturelles Muster (oben I.2. in Kap. 5) vorfand, in einer gesetzlichen Beweistheorie voraussetzungsvoll gestalten zu wollen. Die Verfahrenswirklichkeit sieht sich davon indes überfordert. Weil es am freiwilligen Tatbekenntnis und den beiden echten Tatzeugen meist fehlt, schöpft sie zuweilen die Optionen des Geständniszwangs exzessiv aus. Immerhin bedurfte es eines Zwischenverfahrens, das die Frage nach der Folteranwendung je nach Vorliegen der Verdachtsmomente beschied. Die dabei vorausgesetzten Indizien wogen überwiegend so schwer, dass sie einer freien Beweiswürdigung als Tatnachweis vielfach bereits ausgereicht hätten40. Wenn die Marter angeordnet wurde, hielten daher die zeitgenössischen Richter die Betroffenen vermutlich meist ohnehin schon für schuldig41. So gesehen diente die Pein nur am Rande dazu, einen Informationsrest ans Licht zu holen, während sie primär auf

37 Vernehmungsbeamte, Schreiber und Schöffen müssen den Zeugen auf äußerliche Anzeichen von Unwahrheit hin beobachten und ihre Wahrnehmungen als Entscheidungsgrundlage für das nach der Aktenversendung urteilende Gericht protokollieren. Frühe Kommentatoren der CCC betonten v.a. die festen äußeren Zeichen auf dem Körper des Zeugen. Erst nach und nach dringen die physiognomischen Beurteilungskriterien in den Vordergrund. Die Protokolle „unmittelbaren Ausdrucksverhaltens“ finden sich als Glaubwürdigkeitsbasis noch in den Prozessordnungen des 18. Jahrhunderts (zum Ganzen Schneider 1996; vgl. auch Friedrich/Niehaus 1999, 166 ff.). 38 In der frühen Neuzeit bedeutete Rechtspraxis: zersplitterte Rechtsorgane, verwirrende Zuständigkeiten, Kompetenzüberschneidungen, disparate Kodifikationslagen. 39 Das betrifft die informalen Handhabungen der Amtswalter ebenso wie die seinerzeit verbreiteten Interventionen des sozialen Netzwerkes. Zur Praxis, in der „pragmatischer Ausgleich sich in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen“ (Schwerhoff 1999, 93) mit Recht verbindet, vgl. ders. 1991, 20 und passim; ders., ZHF 1992, 385, 388 ff.; Burghartz 1990, 35 ff.; Frank 1995, 50 ff.; zur Flexibilität strafrechtlicher Herrschaftspraktiken infolge häufiger Neuaushandlung bereits festgesetzter Strafen etwa Schuster 2000, 227 ff.; allgemein zur neuzeitlichen „Normdurchsetzung“ instruktiv Landwehr, ZfG 2000, 146 ff. 40 Radbruchs klassisches Urteil sollte über die damalige Praxis aber nicht allzu sehr beruhigen, da diese Indizwirkung heute durch die Unschuldsvermutung beschränkt wird (vgl. dazu Wesel 2001, 391). Damals griff lediglich (und bedingt) der in-dubio-Satz (dazu Zopfs 1999, 241 ff.). 41 Vgl. aber auch die häufige Schuldvoreingenommenheit der Inquirenten in den Akten von Schnabel-Schüle 1997, 176 ff.

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die Ratifizierung der eigenen Verantwortung zielte42. Auch dass die Härte der Qualen an die Schwere des Verdachts(-grundes) angepasst waren43, stützt die Vorstellung, der zufolge die Tortur den hochgradig Verdächtigen traf, zu dessen Bestrafung allein die formale Schuld-Beglaubigung fehlte44. Selbst wenn man zu bedenken gibt, wie sehr es von der rechtswirklichen Qualität des Torturinterlokuts abhing, dass tatsächlich „nur“ derjenige gepeinigt wurde, der sich als überführt schon präjudizieren ließ, erklärt sich der Geständniszwang also mit seiner Bestätigungsfunktion. Die Aussagepflicht mit peinlichen Qualen zu untersetzen, verdiente im Übrigen aber auch deshalb keinen Zweifel, weil der einmal Verdächtige seinen normalen Status bereits weitgehend verloren hatte, war doch „derjenige, der durch Indizien belastet war, kein unbescholtener Bürger mehr“45. In einem Stadium, in dem sich der Verdacht auf die soziale Personalität des Betroffenen legt und dessen Ansehen zersetzt, musste man dessen Selbstschutzversuche nicht respektieren. Immerhin galt es, einen zweifachen Auftrag zu realisieren: nämlich zur Gottesversöhnung das offensichtliche Übel vollends aufzudecken und zu bestrafen46 und dem Hochverdächtigen das zur Vergebung erforderliche Sündenbekenntnis abzuringen47. Die peinlichen Nöte hat sich der Gefolterte durch sein pflichtwidriges Leugnen zu42

In diesem Sinne etwa Sellert 1989, 208. Nach Schild (1984, 133) wurde ein Geständnis erfoltert, „weil man es aus den Gründen der Beweistheorie der CCC brauchte, um denjenigen, von dessen Schuld man bereits überzeugt war, (...) auch formell verurteilen zu können“. Auch nach Schroeder (1980, 42) erbrachte das erzwungene Geständnis Bestätigung und zusätzliche Gewissheit (a.A. aber Kiesow, Rg 2003, 98, 100 f.). 43

Kleinheyer 1971, 36; Behringer 1997, 61 f. (zu den Foltergraden Jerouschek 2000, 364 ff.).

44

Nach diesem Modell schützt Folter die Gesellschaft, indem sie den Verdächtigen nicht laufen lässt. Nebenher gibt sie ihm, der ohne letzte Gewissheit nicht zu bestrafen war, die (theoretische) Chance, sich durch Widerstehen in der Tortur doch noch zu reinigen (vgl. Hahn 1995, 108). 45 Zopfs 1999, 149. Als Unverdächtiger muss man an der Indiziensammlung (abgesehen von einigen Duldungspflichten) nicht mitwirken (vgl. im Detail Plöger 1982, 104 ff.). Besteht dagegen erst einmal ein Verdacht, gilt der Selbstschutz des Verdächtigen (bspw. die Flucht aus der Untersuchungshaft) als belastendes Indiz und kann überdies bestraft werden (vgl. Bollmann 1963, 137). 46 Nach dem wirkmächtigen Bild des strafenden Gottes schützt nur die Konformität der gesamten Gemeinschaft vor höherem Zorn. Schuld ist Sündhaftigkeit gegenüber Gott, die zu verfolgen die Obrigkeit gehalten ist, „da Gott bei Saumseligkeit hierin Strafen über das Gemeinwesen kommen lasse“ (Jerouschek 2000, 361). Erst die Bestrafung des Schuldigen stellt die Gottesehre wieder her (vgl. Schulz 2001, 136). 47 Für die Schuldübernahme vor Gott war keine Freiwilligkeit im heutigen Sinne notwendig. Parallel zur Ausbreitung der Pflichtbeichte gewann nämlich „eine Theorie der Reue Oberhand, der zufolge in der Beichte nicht mehr die (…) vollkommene Reue als Zerknirschung gefordert wurde, sondern die (…) unvollkommene Reue aus Furcht vor Strafe genügte“ (Niehaus 2003, 115). Nur deshalb konnte sich die Pflichtbeichte überhaupt durchsetzen (vgl. zum damaligen zwangsindolenten Verständnis eines „freiwilligen“ Schuldbekenntnisses auch Fried, HJ 105, 1985, 388, 418 ff.). Vor diesem Hintergrund verhalf auch die Folter dem Inquisiten zur heilsamen Sühne (vgl. etwa Ignor 2002, 68 ff).

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dem selbst zuzuschreiben. So gesehen schien es, als sei die Folter als Hilfsmittel der Wahrheit erst durch die Verstocktheit notwendig geworden48. Dem bedingungslosen obrigkeitlichen Aufklärungsinteresse sind auch die Zeugen unterworfen, die als Beweispersonen zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert aus den ursprünglichen Eideshelfern hervorgehen49 und deren Aussage als Vollbeweis in der gesetzlichen Beweistheorie und als schweres Verdachtsmoment im Torturinterlokut zu besonderem Ansehen gelangt. Auch sie sind zur Aussage und Wahrheit (selbst bei Verfänglichkeit) verpflichtet. Das kann physisch erzwungen werden50 und ist im Falle des Meineids strafbewehrt51. Von diesem Regime waren nur „unglaubwürdige“ Personen ausgenommen52.

48

Vgl. zu dieser Fiktion Sofsky 1997, 98 f.; Niehaus, Psyche 2002, 547, 554.

49

Zunächst wird dem Kläger die Möglichkeit gegeben, durch Eideshelfer (die in der Sache üner ihr Wissen berichten) dem Beklagten den Reinigungseid zu erschweren oder zu nehmen (vgl. Schmidt 1965, 78 f.; Sellert 1989, 174 f.; Hagemann 1981, 212 ff.). Die anschließende Übergangsform zum Wahrnehmungsbeweis bildet dann, so vermutet Jerouschek (ZStW 104, 1992, 328, 357 f.), der Leumundszeuge, der den schlechten Ruf des Beschuldigten bekundet (und so über fingierte Handhaftvoraussetzungen dessen Verurteilung im Leumundsverfahren ermöglicht). 50 Die Carolina droht Zwang bei der Zeugnisverweigerung an (Art 72), geht aber von einem Folterverbot gegenüber Zeugen aus, doch wird dies von der (überwiegenden) gemeinrechtlichen Lehre aufgegeben (vgl. Kayser 1879, 10ff.; Karitzky 1959, 23 ff. u.ö.; Plöger 1982, 117, 249 ff; zum Ganzen auch Litewski 1983, 46 ff.). Zulässig ist die Folter, wenn der Inquisit nicht gestanden hat und man den Zeugen der Lüge verdächtigt (vgl. Bollmann 1963, 167 ff.). Allerdings darf die Tortur bei ihm nicht die gleiche Schärfe erreichen wie beim Beschuldigten. Bei Aussagebereitschaft ist sie gänzlich verboten (vgl. Paulus 1994, 287 f., 290). 51 Leistet der Zeuge einen Meineid – meist ist nur eine beeidete Aussage prozessual überhaupt relevant (Fischer 1998, Sp. 1689) – führt das nach Art 107 CCC zum Verlust der Schwurfinger oder talionsartigen, später aber milderen, arbiträren Strafen (vgl. Peters 1928, 13; Litewski 1982, 92 f.; Holzhauer 1984, Sp. 455; spätmittelalterliches Fallbsp. bei Hagemann 1981, 251 f.). Seinem Deliktscharakter nach ist der Meineid nicht gegen Strafverfolgungssaspekte gerichtet (vgl. Dersch 1980, 56 ff.; Ebert, ZRG 110 (1993), 1, 14), sondern gegen die betrügerische Aussage zu Lasten einer Privatperson (vgl. Peters a.a.O., 11 f.; Holzhauer a.a.O.). Erst mit der Aufklärung deutet man ihn als Verletzung der dem Staat geschuldeten Wahrheitspflicht, als Religions- oder Rechtspflegedelikt (vgl. Liszt 1877, 4 ff.; Peters a.a.O., 14 ff.; eingehend Müller 2000, 21 ff.). 52 Da die wechselseitige Sozialkontrolle bis in die Neuzeit eng bleibt (vgl. Schild 1980, 35; Danker 1988, 75 ff.; Schnabel-Schüle 1997, 329 ff.), war ohnehin auch die Kooperation mit der Herrschaft (Zeugnisbereitschaft) und später auch deren Heranziehung zur Bewältigung sozialer Konflikte (Anzeige bis hin zur Denunziation) verbreitet, wiewohl das historische Material ebenso Aussagenunwilligkeit, Distanz und Ausweichversuche dokumentiert (vgl. für entsprechende Fallstudien z.B. Dinges 2000, 535; Hohkamp/Ulbricht 2001; Overath 2001, 238 ff.; Wittke 2002, 300 ff.). Staatsseitige Versuche, mithilfe des Untertanen die Kontrollmöglichkeiten zu verdichten (Anzeigezwänge, Heimliche Rüger und andere halbamtliche Anzeigepersonen), scheitern allerdings am Gewissenskonflikt zwischen „brüderlicher Liebe“ und landesherrlicher Verordnung (vgl. das Fallbsp. bei Schnabel-Schüle 1997, 170 ff.). Gesetzliche Deliktsanzeigepflichten setzen sich erst im 19. Jhdt. durch (Westendorf 1999, 21 ff.).

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Teil 3: Grundfragen

4. Fortschreibung des Inquisitionsverfahrens In der Neuzeit breitete sich im Feld minderschwerer Delinquenz ein summarisches Kriminalverfahren aus, in dem vieles auf informaler Basis geschah53. Den ordentlichen Strafprozess hingegen prägt die Carolina über zweihundert Jahre54, was innovative Verschiebungen nur innerhalb der in Zement gegossenen inquisitorischen Strukturträger zuließ. Beachtung verdient hierbei vor allem die strafrechtswissenschaftlich implementierte Zweiteilung der gerichtlichen Untersuchung: Die Generalinquisition als deren erste Phase verwendet die richterlichen Nachforschungen darauf, ob sich die Hinweise auf ein Vergehen überhaupt bestätigen. Auch derjenige, gegen den sich ein Verdacht abzeichnet, ist hierbei vorerst nur formfrei als Zeuge zu befragen (allerdings auch als Zeuge gegen sich selbst). Ohne „corpus delicti“ kommt gegen ihn aber keine Spezialinquisition in Gang; sie beginnt ob ihrer Härten55 vielmehr erst nach dem Beweis eines existierenden Verbrechens56. In den dann geführten Ermittlungen überwiegt das artikulierte Verhör, bei dem man Zeugen und Beschuldigte anhand vorbereiteter Fragstücke vernimmt. Der Verdächtige ist zur Teilnahme verpflichtet und kann in verschiedener Weise zum „wahrhaftigen“ Sprechen gebracht werden: durch Gegenüberstellungen, überraschende Beweismittelvorlage, Vorzeigen und Anlegen der Marterinstrumente und Folter57. Der mäßigende Effekt dieser Schrittfolge, die den Beschuldigten immerhin erst auf der Stufe des qualifizierten Verdachts in Beschlag nimmt, zerrinnt indes mit der Zeit in einer zunehmenden Schärfe der Voruntersuchung58. Mitwirkungs- und Wahrheitspflichten bestehen dabei unbeschränkt fort59. 53

Dazu Härter 1999, 57; dort auch zum Verhältnis zur Generalinquisition (unten Fn 58).

54

Anfang des 18. Jahrhunderts sieht man in der Carolina aber eher einen Hemmschuh (zur Kritik durch Praxis und Rechtswissenschaft vgl. Schnabel-Schüle 1997, 66; Härter 1998). 55 Gemeint sind Belastungen des Verfahrens ebenso wie Einbußen an bürgerlicher Ehre (Ämterverlust etc.). 56 Zur Prozessstruktur und Verdachtsdogmatik vgl. Bollmann 1963, 68 ff.; Sellert 1989, 264 ff.; Krause 1991, 103 ff.; Bruns 1994, 27 ff.; Schulz 2001, 173 ff.; Ignor 2002, 94 ff. 57

Schwieg der Befragte im artikulierten Verhör, galt das bei leichten Delikten als Schuldbeweis oder als Schuldindiz, das die Folter erlaubte (dazu Ignor 2002, 98 m.w.N.). Zur Folter – zu deren Geschwistern seit jeher auch die Haftdauer und die katastrophalen Haftbedingungen zählten (vgl. Oestmann 1997, 189; Niehaus 2003, 208 ff.) – speziell im späten Inquisitionsprozess etwa Bollmann 1963, 163 f.; Sellert 1989, 267; Bruns 1994, 29 f. (zu ihrer eher polizeilichen Instrumentalisierung, Denunziationsbereitschaft herzustellen und verfahrensunabhängig Informationen über sonstige verdächtige Personen zu gewinnen, etwa Ahrendt-Schulte 1997, 205; Härter 1999, 55; vgl. auch Müller 1996, 380). 58 Die späte Form der Generalinquisition kennt die summarische Beschuldigtenvernehmung und erarbeitet bei leichten Delikten die gesamte Urteilsgrundlage. Jedenfalls geht mit ihrem Abschluss nach Ansicht mancher die Beweislast auf den Angeklagten über (vgl. das Bsp. bei Schnabel-Schüle 1997, 87; zum Ganzen Schmidt 1965, 204 ff.; Plöger 1982, 147 ff.). Von Hause aus

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Generell ist der absolute Staat in den Territorien nicht nur vollends konsolidiert60, sondern überall zu Hause. Für seine Verwaltung, die sämtliche Lebensbereiche erfasst, bietet das späte Inquisitionsverfahren ein kongeniales Pendant61. Doch dies ist nur eine Seite. Zugleich agiert die Obrigkeit nämlich auch vor einem kulturellen Hintergrund, in dem eine diskursive Moralbegründung die konventionelle Moralableitung ablöst62 – in dem sich also aufgeklärtes und säkulares Denken ausbreitet und dazu anhebt, aus der Natur des realen Menschen materielle Inhalte angemessenen Rechts zu gewinnen. Im Zuge dessen verändert sich auch das Strafrecht. Es erlangt einen weltlich-utilitaristischen Charakter, in dem sich die Versöhnung Gottes als Motiv von Strafe und Strafverfolgung verliert63. Das Strafrecht kann nunmehr danach lässt die gesetzliche Beweistheorie keinen Freispruch „in dubio pro reo“ oder „mangels an Beweisen“ zu. Entweder gelingt der formale Beweis oder nicht. Ohne freie Beweiswürdigung ist die richterliche Schuldüberzeugung belanglos, und so gibt es streng genommen auch keine rechtlich auszugestaltende Kategorie des Verdachts. Weil dies lebensfremd ist, erdenkt die Praxis die Verdachtsstrafe (oben Fn 35). Zudem bedient sie sich der lange bekannten Instanzenentbindung (als vorläufige Einstellung unter Vorbehalt neuer Beweise) für die Fälle, in denen die Indizien auch die poena extraordinaria nicht rechtfertigen (dazu Schmoeckel 2000, 360 ff.). Bei geringfügigen Delikten ist alternativ der Freispruch nach einem Reinigungseid des Beschuldigten möglich (wobei das Abfordern einer solchen religiös unterlegten Unschuldsbeteuerung faktisch auch der geistigen Tortur zur Verdachtsaufklärung dienen kann). Ansonsten werden vermutlich zahlreiche Verfahren mit ungewisser Beweislage in der Generalinquisition schlicht abgebrochen (zum gesamten Spektrum vgl. Bollmann 1963, 209 ff.; Kaufmann 1990; Paulus 1994, 292 ff.; Zopfs 1999, 138 ff.). 59 Vgl. Ignor 2002, 134 f. zur Regelung von Aussagepflicht und Folter in den partikularen Verfahrensordnungen des 18. Jhdts. Die Torturpraxis geht allerdings im 17./18. Jahrhundert zurück (vgl. Behringer 1990, 92 f.; Härter 2000, 471 sowie Schmoeckel 2000, 472 ff. mit mentalitätshistorischer Deutung), wohl auch infolge veränderter Kriminalitätsstrukturen, in der Eigentumsdelikte zunehmend an die Stelle schwerer Gewalttaten treten (dazu Blasius 1978, 52 f.; Eibach, ZHF 1998, 359, 361 ff., 378 f.; Eisner 1997, 50 f.; Blauert 2000, 165 ff.). Zugleich werden die Strafen milder (vgl. Evans 1984, 207 ff.; Hahn 1989, 154 ff., 200; Ulbricht 1990, 338 ff.; van Dülmen 1995, 111 ff.), nicht zuletzt unter dem Einfluss neuzeitlicher Policeyordnungen (vgl. Härter 1999, 44 ff.). 60

Die frühe Neuzeit kennt noch eine „sehr offene Balance zwischen Straf- und Sicherheitsforderungen der Bevölkerung“ und den wenig effektiven obrigkeitlichen „Ordnungsstrategien, die bei Übersteuerung jeweils schnell an die Grenzen der eigenen Durchsetzungschancen durch entsprechenden Widerstand aus der Bevölkerung stoßen“ (Dinges/Sack 2000, 60). Im 18. Jahrhundert haben dagegen die „Staaten Europas (...) die Kinderschuhe abgelegt, Rechtsgehorsam war Alltagspflicht geworden.“ (Hattenhauer 1999, Rn 156/5; mikrohistorische Studien zur lokalen Durchsetzung staatlicher Ordnung bei Küther 1984; Formella 1985, 64 ff.; Frank 1995, 349 ff.; Eibach 2003, 375 ff.; zu Rolle und Funktion der Policeyordnungen in diesem Kontext Härter 1999). 61 Wesel 2001, 390: Das gemeine Strafverfahren als „vollkommener Ausdruck (…) der absoluten Macht des Fürsten über seine Untertanen“. 62 63

Dazu etwa Eder 1986, 234 f.

Vgl. z.B. Ulbricht 1990, 333; Trowitz 1954. Der neuen Soziallehre zufolge bündelt der Staat die gesellschaftlichen Kräfte für das Gemeinwohl. Dazu braucht er auch Strafrecht. Dies auf den Einzelnen anzuwenden, ist legitim, da das Individuum dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Allerdings nimmt diese Verpflichtung zusehends rechtliche Formen an (zusammenfassend Cattaneo 1998, 225 ff.; für einen Gegenüberstellung des gottesbezogenen und des naturrechtlich-weltlichen Bildes von Straftat und Strafe vgl. Galassi 2004, 39 ff., 54 ff.). Nach Ignor (2002) liege dieses neue Denken dem Übergang zum reformierten Verfahren zugrunde. War das Strafrecht nach Auflösung seines religiösen Fundaments an individuellen Rechten ebenso wie an gesellschaftlichen Interessen

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Teil 3: Grundfragen

suchen, wie sich seine herrschaftsstabilisierenden Funktionen mit zivilisatorischen Standards vereinen lassen.

Auf dem Feld des Strafprozessrechts arbeitete sich dieser Diskurs zunächst einmal am sichtbarsten Makel ab: „Gegen die Folter dürften Menschen gesprochen haben, seit es sie gibt“64 – doch waren die namhaften Stimmen nunmehr so zahlreich, dass dies nicht länger zu übertönen war65. Unter diesem Eindruck wurde die Folter daher, 1740 in Preußen beginnend, ab Mitte des 18. Jahrhunderts in den deutschen Ländern verboten66. Auf welche historischen Vorgänge dies neben dem „aufgeklärten Klima“ sonst noch zurückging, ist bis heute zwar ungeklärt, nur sind die innerprozessualen Friktionen, die deren Folge entstanden, für die hiesige Untersuchung ohnehin wichtiger. Die gesetzliche Beweistheorie des Inquisitionsverfahrens lebte nämlich trotz des Absterbens der Folter weiter. Für eine Verurteilung brauchte man deshalb unverändert das Geständnis – obwohl das kriminalistische Instrument, die Tortur, die eine pflichtschuldige Wahraussage bisher zu garantieren schien, abhanden gekommen war. Dem Verhör wurde dadurch die Last aufgeladen, den Nachweis auf Umwegen beibringen zu müssen. Im strukturellen Dilemma zwischen Schuldindizien, die eine Verurteilung juristisch nicht rechtfertigten, und dem nicht mehr erzwingbaren, doch erforderlichen Geständnis perfektionierte man daher die „Kunst des Inquirierens“67. Dass dies die Überforderung der Strafverfahren kaum abzuwenden vermochte, belegen die Krisensymptome der damaligen Strafrechtsrealität68. Vermutlich (Strafzwecken) orientiert, habe es eine Prozessform benötigt, die sich strikt an dieser Grundlinie entlang bewegte. Daran gemessen sei der alte Inquisitionsprozess dysfunktional gewesen. 64 Reemtsma 1991, 254. Vgl. auch Kiesow, Rg 2003, 98, 103: „Der skeptische Diskurs über Folter (…) begleitete die Geschichte der Folter von Beginn an.“ 65 Dazu etwa Cattaneo 1998, 49 ff.; Jerouschek, ZStW 1998 (110), 658 ff.; ausführlich Schmoeckel 2000, 93 ff.; skeptisch zur Rückführung des Folterverbots auf den Aufklärungsdiskurs aber Kiesow, Rg 2003, 98, 101 ff. 66 Vgl. die Gesetzgebungsübersicht bei Wodrich 1961, 143 oder Pöltl 1999, 61. Zumindest in Preußen ist das Folterverbot bis Ende des 18. Jhdts. praktisch durchgesetzt (so der Bericht bei Arnim 1801, 53 f.; vgl. auch Bruns 1994, 144; ähnlich für Hannover Krause 1991, 108 ff.). 67 Die Verhörskunst (dazu Kube 1964, 96 f.; Plöger 1982, 229 ff.; Bruns 1994, 121 ff.) perpetuiert in Teilen die vom Eid getragene tortura spiritualis (oben Fn 58; zu deren Wirkungsweise vgl. Jerouschek 2000, 356; Niehaus 2003, 148 f.; für ein frühes Fallbsp. auch Schuster 1995, 65 ff.;). Sie kennt aber auch die Verführung und andere Techniken (für frühneuzeitliche Vorläufer Niehaus a.a.O., 167; speziell zur spezifischen psychischen Zwangswirkung, die sich in der Konfrontation entfaltet, vgl. Härter 2000, 470). Außerdem bemächtigt sie sich zunehmend des so genannten Ausdrucksverhaltens (Niehaus a.a.O., 243 ff.). 68 Angesichts der Ermittlungsleistungen der Verhörsgegenwart (I.3. und II.4. in Kap. 5) ist ein gravierender Verlust an Überführungseffektivität durch den Wegfall handgreiflicher Befragungsformen an sich nicht anzunehmen. Aktenanalysen zeigen allerdings, wie hartnäckig den Vernommenen, die um die prozessuale Bedeutung ihrer Einlassung wussten, ihr Geständnis nach Abschaf-

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wurde die Prozessabwicklung aber auch dadurch zusätzlich strapaziert, dass der Verbrechensanfall justament im Anstieg begriffen war69. Dessen ungeachtet erlangte die Aufklärungspraxis eine neue Qualität. Sie verlor ihre offenkundige Brutalität und verlagerte ihre Ermittlungsinstrumente ganz im Foucaultschen Sinne ins menschliche Innere hinein: hin zu subtilen, psychologisierten Aufklärungsmethoden70. Diese Entwicklung nahm freilich einige Zeit in Anspruch. Anfangs waren die Techniken des ausforschenden Vernehmens noch durch die Alltagserfahrung fundiert (Verwickeln in Widersprüche, geschicktes Verschweigen der Beweislage). Nicht selten operierte man auch mit vordergründigen Druckmitteln, nutzte beispielsweise die Angst vor Ungehorsams- oder Lügesanktionen71 Lügestrafen konnten verhängt werden bei beharrlichem Leugnen, freier Erfindung oder gänzlichem Schweigen. Sie bestanden in körperlicher Züchtigung, Nahrungsentzug, Einzelhaft. Ob es sich bei ihnen um eine Kriminalstrafe für die Verletzung einer prozessualen Untertanenpflicht handelte oder um ein geständniserzwingendes Prozessinstrument, war bereits damals umstritten. In Preußen beispielsweise lag der verfahrensrechtliche Status nahe, da der leugnende Beschuldigte vor der Lügenstrafe gewarnt werden musste und deren Intensität mit fung der Folter abgerungen werden musste (vgl. Hartl 1973, 164 ff., 183 ff.; Formella 1985, 99 ff.). Ins Auge fallen zudem einige Ausweichbewegungen des Strafrechtssystems, dass mit einigen Formen des Geständnisersatzes darauf reagierte, die Einlassung nicht mehr erpressen zu können – etwa mit Beweisvermutungen (z.B. praesumtio doli) und einem sprunghaften Anstieg von Instanzenentbindungen und Verdachtsstrafen (vgl. Vormbaum 1987, 83 f.; Stichweh 1994, 270 f.; Ekardt, Jura 1998, 121, 125; Schmoeckel 2000, 575 ff.). Letztere traten allerdings bereits in den Vorjahren hervor (was die Folter entbehrlicher machte; vgl. Jerouschek, GA 1992, 493, 501). Sie hatten sich als flexible Reaktionsform durchgesetzt, zunehmend aber auch als Sicherungsmittel gegen gefährliche Personen (vgl. Schaffstein, ZStW 101 (1989), 493; 504 ff.; Thäle 1993, 42 ff.; Friedrich/Niehaus 1999a; einschränkend Zopfs 1999, 163 f.). 69 Zum Bandenwesen Spicker-Beck 1995; Siebenmorgen 1995 und – gerade für jene Zeit – Danker 1988. Außerdem registrieren einige Studien für diese Periode gehäuft Delikte aus materieller Not, z.B. Diebstahl und Kindestötung (vgl. Schnabel-Schüle 1997, 223 ff.; langfristige Trends für Bayern bei Behringer 1990, 98 ff.; für Frankfurt/M. bei Eibach 2003, 93 ff.; zur Kindestötung Ulbricht 1990, 174 ff.; van Dülmen 1991, 58 ff. mit disparaten Befunden und Deutungen). Hinter dem Kriminalitätsanstieg dürfte bspw. die erhebliche soziale Differenzierung und die sich abzeichnende Ernährungskrise am Ende des 18. Jahrhunderts stehen (dazu Henning 1994, 284 ff.). 70 71

So Foucault 1992 für den parallelen Übergang von peinlichen Strafen zum Freiheitsentzug.

Lügen- oder Ungehorsamsstrafen, die i.Ü. auch im Verhör des unbeteiligten Zeugen verhängt werden können (vgl. Plöger 1982, 248; Gesetzesübersicht bei Mauß 1974, 8 ff.), gelten als maßgebliches Surrogat der abgeschafften Folter (kennzeichnend die Protokolle zu den bayerischen Gesetzesberatungen von 1813 bei Blusch 1997, 101 ff.). Aus diskursanalytischer Warte bestreitet allerdings Niehaus deren Vergleichbarkeit mit der Folter (ZfResoz 2003, 71, 87 f.). Die Vernehmung habe mit dem Verzicht auf die Tortur den Charakter der einseitigen Wahrheitssuche zu Gunsten eines kommunikativen Musters abgelegt. Ungehorsamsstrafen erzwängen daher auch nicht die Akzeptanz einer angesonnenen Geschehensversion, sondern die Teilnahme an deren gemeinsamer Rekonstruktion.

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seiner Hartnäckigkeit stieg72. In jedem Fall brachte die Ungehorsamsstrafe eine spezifische Rechtsstellung des Beschuldigten zur Sprache, nämlich die von der Folterabschaffung unberührt gebliebene Pflicht, auf das Verhör überhaupt einzugehen und dabei die Wahrheit zu sagen73. Solche Kooperationspflichten werden zu jener Zeit auch gar nicht hinterfragt, nicht einmal von den bekannten Aufklärern74. Solange die gesetzliche Beweistheorie galt und das Geständnis der Schlüssel zur Verurteilung blieb, konnte hierauf niemand verzichten. In der Befragung ermahnte man deshalb den Verdächtigen ausdrücklich zur Wahrheit (Admonition). Das durfte dann zwar nicht durch Drohung, Beschimpfung oder falsche Versprechen untersetzt, wohl aber mit dem Hinweis auf Ungehorsamsstrafen und eine bei Schweigen und Lügen eintretende Schuldvermutung verbunden werden75. Wenn die absolutstaatliche Verfasstheit trotz ihres aufgeklärten Menschenbildes den Untertan für die Aufdeckung und Vergeltung von Verbrechen also vollständig in Beschlag nimmt, betrifft das neben dem Verdächtigen76 gleichermaßen den Zeugen77. So kennt die PrCrimO von 1805 wie alle neuzeitlichen Regelungen nur spärliche

72 Vgl. Bruns 1994, 144 f. und unten Fn 125. Vormbaum (1987, 86) weist darauf hin, dass die Ungehorsamsstrafen außerdem nicht anfechtbar sind, dass ihre Voraussetzungen i.U. zu den sonstigen Strafen innerhalb der freien richterlichen Beweiswürdigung festgestellt werden und dass das Leugnen ohnehin auch zu einer Schärfung der eigentlichen Hauptsachenstrafe führen kann. 73 Zu entsprechenden Regelungen vgl. etwa §§ 7, 263, 265, 275 PrCrimO von 1805 (speziell zu den Lügenstrafen §§ 292 ff.). Der Verbot des Geständniszwangs in §§ 285, 288 ff. (vgl. auch das bemerkenswerte „Beweisverwertungsverbot“ für erzwungene Aussagen in § 287; dazu auch Rogall 2005, 515) war also unvollkommen. 74 Anfang des 17 Jahrhunderts hatten indes Grevius (dazu Walder 1965, 41; Schmoeckel 2000, 139) und später auch Bernhardi in seiner Dissertation bei Thomasius gegen die Folter u.a. das Selbstbelastungsverbot angeführt (vgl. Jerouschek ZStW 110 (1998), 658, 665). Auch Beccaria verweist darauf (1905, 90). Das aber bleiben isolierte und punktuelle Erwägungen. Die Folterkritik rekurriert eher auf die Unmenschlichkeit der Tortur und zumeist auf deren Untauglichkeit zur Wahrheitsfindung. Der Selbstbezichtigungsgedanke wird selten herangezogen (zusammenfassend m.w.N. Trowitz 1954, 74 ff.; Gerlach 1999, 128 f.; Schmoeckel 2000, passim; Ignor 2002, 164 f.). Insgesamt ist der Einzelne auch in der Aufklärung strikt zur Kooperation mit der Gesellschaft verpflichtet, nur wurde dieses Verhältnis säkularisiert und verrechtlicht (vgl. die deutlich in diese Richtung weisenden zeitgenössischen Äußerungen bei Mauß 1974, 50 ff.; Plöger 1982, 221 f.). Für das Strafrecht äußert sich dies in Beccarias Votum zu Gunsten harter Strafen für denjenigen, „der beim Verhör die Antwort auf die ihm gestellten Fragen hartnäckig verweigert“. Damit nämlich entziehe er dem Volk die Mitwirkung, die er ihm schulde (a.a.O., 87). „Die Aufklärung war somit noch weit davon entfernt, dem Beschuldigten ein Recht auf Passivität oder sogar zur Lüge zuzugestehen.“ (Holzhauer 1971, Sp. 1639; vgl. auch Volk 1980, 14). 75

Etwa §§ 285 ff. PrCrimO 1805; zum Ganzen Vormbaum 1987, 84 f.; Bruns 1994, 111 ff.

76

Vgl. das Credo von Plöger 1982, 462: die „einzelnen Mitwirkungspflichten waren unerschöpflich ...“. 77 Bezeichnenderweise wurde die Folter des Verbrechers länger akzeptiert, wenn sie der Mittäterermittlung (und nicht der eigenen Überführung) galt (vgl. Niehaus 2003, 220 f.).

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Zeugnisverweigerungsrechte78. Sie hält – auch insoweit repräsentativ – bestimmte „unzuverlässige“ Personen allerdings auf eine sehr beredte Weise aus dem Zeugenstand heraus79: In Anknüpfung an verfahrensexterne Identitäten versagt sie ihnen die Zeugenrolle oder verbietet jedenfalls den Eid (teils generell, teils fakultativ). Glaubwürdigkeitsfragen bewältigt sie also durch gesetzgeberische Beweisverbote80. Dabei geht es ihr ausschließlich um Risiken für die Wahrermittlung. Dem Geheimhaltungsbedürfnis, das später zu Zeugnis-, Eides- und Aussageverweigerungsrechten führen wird, kommt dies bestenfalls in einem Reflex zugute81. Das Verlangen, eine eigene Straftat zu verdecken, hat vor der Aussagepflicht jedenfalls keinen Bestand82.

5. Zwischenergebnis Im gemeinrechtlichen Strafprozess bringt man das, was heute mit dem nemotenetur-Satz assoziiert ist, kaum zu Gehör und schon gar nicht zur Wirkung. Eine rechtlose Objekthaftigkeit des Angeklagten ist damit zwar nicht verbunden83, wohl aber dessen Indienstnahme bei der Wahrheitsermittlung. Für Verdächtige und Zeugen stand die Option, ihr etwaiges Tatwissen durch Schweigen oder Lügen geheim zu halten, von Rechts wegen unter Verschluss. Ein damit übereinstimmendes Bild von der Verfahrensrealität zeichnet die sozialgeschichtli78

Dazu und zu § 52 des jüngsten Reichsabschieds von 1654, auf dessen zivilprozessuale Regelungen viele territoriale Strafverfahrensrechte verweisen, etwa Schnabel-Schüle 1997, 176 f.; vgl. auch Austermühle 2002, 51 f. 79 Bereits die Carolina sieht in Art 63 – 65 und 68 Warnungen und Beweisverbote bei unbekannten, belohnten, falschen Zeugen und Zeugen vom Hörensagen vor (vgl. Paulus 1994, 298). Die gemeinrechtliche Prozesswissenschaft kennt dann „verdächtige“ Zeugen (Vorbestrafte, Übelbeleumdete, Verwandte, Freunde), deren Aussage allein noch keinen vollen Beweis darstellt, und „unfähige“ und daher ausgeschlossene Zeugen (Unmündige und Wahnsinnige, vgl. Bollmann 1963, 163 f.; Fischer 1998, Sp. 1687). 80 Erst in der freien Beweiswürdigung wird die Verbindung der Aussage zur außerjustiziellen Rolle des Zeugen (z.B. Leumund und Biografie des Zeugen, Nähe zum Beschuldigten usw.) gelockert, weil dann der Richter frei ist, ob er sie berücksichtigen will (vgl. Luhmann 1997a, 61 ff.). Vorerst aber traut man ihm eine eigenständige, rationale Glaubwürdigkeitsbeurteilung nicht zu. Die gesetzliche Festlegung der Glaubwürdigkeit von Aussagepersonen soll seine „Willkür“ ausschließen (vgl. Koch 1994, 247). Die Praxis ist hier freilich flexibler (dazu etwa Eibach 2003, 66). 81

Zum Ganzen vgl. neben Karitzky (1959) zusammenfassend auch Vormbaum (1990, 7 ff.).

82

Vgl. Hölscher 1972, 7 ff.; Plöger 1982, 220 (einschränkend Karitzky a.a.O., 35 f.). Das entspricht der Verpflichtung gegenüber der staatlichen Verbrechensbekämpfung, der jedermann unterliegt (zum rudimentären Geheimnisschutz im spätabsolutistischen Strafprozess auch Austermühle 2002, 50 ff.). Erörtert wird hier nur, ob solche Zeugen auch taugliche Zeugen sind (etwa Globig 1806, Bd. I, 109, 133 f., 210). 83 Generell ist man sich zunehmend einig, dass das Bild vom neuzeitlichen Inquisitionsverfahren als einem altständischen Rechtswesen voll Willkür und Despotie eine verkürzende Zuschreibung ist, die von der Abgrenzungsrhetorik in der Strafrechtsdiskussion des 19. Jahrhunderts herrührt und sich mit einseitigem Hinweis auf den verhängnisvollen Geständniszwang bis heute fortzeugen konnte (dazu z.B. Habermas, Rg 2003, 128, 130 f.).

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che Forschung. Sie bestätigt eine Praxis amtswalterischer Pression, die den normativen Aussagezwang beständig reproduziert – dies aber bezeichnenderweise als eine Zumutung, die an geheimhaltungswillige Beschuldigte von außen herangetragen wird. In der Folter tobte, soziologisch gesehen, ein dramatischer Zweikampf von Geheimnismuster und amtlichem Geständnisverlangen84. Auf der Seite der Prozessunterworfenen wird er mit einer breiten Palette lebensweltlicher, bisweilen auch mystisch gefärbter Verteidigungsformen geführt85. Gegenüber dem brachialen Geständnisansinnen hat das aber meist nur vorübergehend Bestand (zumal bei einem sozialen Gefälle zwischen den Beteiligten). Deshalb dokumentieren viele Protokolle, „wie der Widerstand erlahmt und das Leugnen an Entschiedenheit verliert, um dann plötzlich zusammenzubrechen“86. Der Inquirent brauchte dafür keineswegs in Willkür zu verfallen87. Auf die Anwendung und Drohung von Gewalt ebenso zu setzen wie auf eine elaborierte Befragungstechnik voll Raffinesse und kommunikativem Zwang88, war ihm vielmehr gestattet.

II. Die Genese positivierter Mitwirkungsfreiheiten Der Reformprozess, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzt, markiert den zweiten epochalen Umbruch des deutschen Strafverfahrens. Gemessen an all den zahlreichen Veränderungen, die dies für die Kriminalrechtspflege mit sich brachte, nimmt sich der Bereich der Selbstbelastungsfreiheit naturgemäß nur als ein Element unter vielen aus. Gerade diese Neuerungen hätten aber, so meinen manche Autoren, überaus symbolkräftig nach außen gestrahlt;

84 Dazu allgemein I.2.b) in Kap. 5. Zur Zweikampf-Metapher vgl. Foucault 1992, 56; Jerouschek 2000, 373. 85 Zu den Praktiken, die die Forschung beschreibt, zählen – in relativer Übereinstimmung mit der heutigen Befragungswirklichkeit (oben I.3.b)aa) in Kap. 5) – etwa das Berufen auf Gedächtnislücken, das Abstreiten, freiwillige Bekennen, Erklären, und Abwälzen der Hauptschuld, die Gegendarstellung, der Verweis auf teuflische Eingebung und die Rechtfertigung mit Not, Opferprovokationen und Alkoholisierung (vgl. die Studien von Schwerhoff 1991, 104 ff.; Ulbricht 1993, 61 ff.; van Dülmen 1995, 24 ff.; Müller 1996, 372 ff.; Simon-Muscheid 2000, 661 ff.; Eibach, ZNR 2001, 102, 118). 86

Schwerhoff 1999, 63.

87

Nach Schnabel-Schüle (1997, 298 f.) demonstrieren die Verhörsprotokolle vielmehr eine oft erstaunliche Förmlichkeit, die jede Willkür mindestens erschwerte. 88

Aktenkundige Techniken sind: geschickte Fangfragen, Nichtaufklärung über Zeugenaussagen, Gegenüberstellungen, Ausdehnung der Befragungen, Isolation, Haftdauer, Ausspielen von Komplizen, Ausnutzen von Vertrauen oder Verwirrung usw. (vgl. Schwerhoff 1991, 104 ff.; Danker 1988, 151 ff.; van Dülmen 1991, 36 ff., 140 ff.; ders. 1995, 24 ff.; Müller 1996, 375 ff.). Die Folterverbote führten dazu, dass solche Verfahren an Bedeutung gewannen (plastisch bei Hartl 1973, 164 ff., 183 ff.).

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jedenfalls habe der Reformbewegung besonders jener Bereich am Herzen gelegen. Andere Stimmen sind da skeptischer. Sie konstatieren eine erstaunliche Zurückhaltung in nemo-tenetur-Fragen89.

1. Auflösung alter Prozessstrukturen Das ehedem agrarisch geprägte Deutschland erhält zu Anfang des 19. Jahrhunderts ein neues Gesicht. Durch die Bauernbefreiung setzt der Staat industrielle Arbeitskräfte frei. Er zieht sich aus der Wirtschaftslenkung zurück und legt sich moderne Ordnungsformen zu90. Den nachfeudalen Impulsgeber stellen freilich die Fürsten und ihre Beamten, nicht etwa das Bürgertum. Dort bilden sich erst im Laufe der Zeit einige Gruppen heraus, die um einen Anteil an der gesellschaftlichen Macht ringen. Das Strafrecht wird dabei auf ganz verschiedene Weise instrumentalisiert: Teils verschanzt sich der Bürger hinter dem Strafnormcodex, um nach „unten“ Distanz zu den niederen Schichten zu wahren91, teils führen seine politischen Vertreter nach „oben“ anhand der überkommenen Prozessstrukturen92 einen Stellvertreterstreit um die politische Herrschaft.

Immerhin wird dieses bürgerlich-liberale Veränderungsbegehren zur Prozessrealität, sei es durch die Fortgeltung französischen Rechts in den linksrheinischen Gebieten93 oder durch die Reformgesetze in den anderen deutschen Ländern. Dort wird ab Ende der 1830er Jahre in einer Kodifikationswelle das Strukturgerüst des Inquisitionsprozesses weggeschwemmt. Da dabei aber einige 89

So v.a. Frommel 1991, 550 f.; für die erstgenannte Position vgl. etwa Reiß 1987, 146 f.

90

Dazu Blasius 1978, 28 ff.; kennzeichnend dafür ist die einsetzende gesellschaftliche Durchdringung durch einen wachsenden und sich spezialisierenden Polizeiapparat (vgl. etwa WettmannJungblut 1990, 170 ff.; Roth 1997, 29 ff., 119 ff.; zu dessen noch immer virulentem Vollzugsdefizit aber Habermas, Rg 2003, 128, 136 ff.). 91 Veranlasst war das auch durch eine ansteigende Eigentumskriminalität der Unterschicht (Belege bei Blasius 1976, 28 ff.; ders. 1978, 19 ff., 46 ff.; vgl. auch Formella 1985, 28 ff.; WettmannJungblut 1990, 152 ff.; Roth 1997, 250 ff.; Becker 2001, 125 ff.). Meist wird diese zunehmende Verbrechensrate anomietheoretisch erklärt und als Effekt der sozioökonomischen Modernisierung und ihrer sozialen Folgekosten gedeutet (zur Diskussion Thome, ZfSoz 1992, 212, 216 ff.; Becker a.a.O., 20 ff., 181 ff.). Mindestens ebenso gewichtig dürften indes auch einige „labeling-Aspekte“ gewesen sein, etwa die wachsende Deliktssensibilität, die Verdichtung staatlicher Kontrolle und die Ausweitung des als strafbar definierten Handlungsbereichs (vgl. Ludi 1999, 17, 485 ff.). Das Bürgertum empfand die Kriminalitätsentwicklung nämlich als massive Bedrohung. In seinen Abwehrbewegungen ließ es sich auf Kompromisse mit Regierungen und der Feudalschicht ein (vgl. Blasius 1976, 21 f., 102 ff.) und wirkte an der restriktiven Kriminalisierung von Eigentumsdelikten mit. Nur so kam es zur „Überlagerung der Heiligkeit des menschlichen Lebens durch die Heiligkeit des Eigentums“ (ders. 1990, 216). 92

Abgesehen von den bis 1813 besetzten linksrheinischen Gebieten mit seinem französischen Prozessrecht galten in Preußen und Bayern neuere Kodifikationen mit einem aufgeklärten Inquisitionsprozess und in den verbleibenden Ländern das gemeine Recht (vgl. Schmidt 1965, 327). 93

Dazu z.B. Volk, JuS 1991, 281 ff.

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der alten Halterungen stehen bleiben, bildet sich das neue Verfahren meist in Übergangs- und Mischformen heraus. Diese haben indes allesamt gemeinsam, dass das Hauptverfahren, auf dessen Grundlage die Entscheidung getroffen wird, akkusatorisch beschaffen ist und dass es mündlich, öffentlich und unmittelbar abläuft94. Das neue Gesetz trennt das anklagende (und ermittelnde) Organ von der urteilenden Gerichts-Instanz und institutionalisiert es als Staatsanwaltschaft95. Charakteristisch sind schließlich auch die Laienbeteiligung in den Geschworenengerichten96 und die einsetzende Unabhängigkeit der Richter, die sich von der Staatsverwaltung lösen97. Nachdem all dies schon im Vormärz zu positivem Recht wurde (teilweise sogar in den neuen Länderverfassungen), schreiben die Beratungen und Beschlüsse der Paulskirchenverfassung den neuen status quo nur noch fest98. Die Zielvorstellungen der Reformbewegung sind offenbar ausgeschöpft. Im Reichsverfassungsentwurf mit seinem justizorganisatorischen Schwerpunkt präsentiert sich gewissermaßen der seinerzeitige Stand der strafrechtspolitischen Diskussion. Der Schutz persönlicher Freiheit sollte sich danach vorzugsweise durch eine Entflechtung der justiziellen Gewalten einstellen, von der man sich einen Rückgang staatlicher Übermacht versprach. Gemessen daran stand der abwehrrechtlich angelegte nemo-tenetur-Topos niemals im Vordergrund, auch nicht nach 1848. Dennoch greifen ihn die meisten partikularen Prozessordnungen auf, obwohl sie das Gebot zur Selbstbezichtigung keineswegs aufheben, sondern eigenwillige Mitwirkungspflichten fortbestehen lassen. Sie sehen bisweilen ausdrücklich vor, dass der Beschuldigte die Beantwortung der ihm gestellten Fragen schuldet, oder sie geben den Ermittlern auf, ihn zur Äußerung zu veranlassen. Eine Aussage- und Wahrheitspflicht ist darin allemal stillschweigend mitenthalten. Andererseits untersagen diese Gesetze fast durchweg das zwangsweise Herbeiführen einer Einlassung, ein-

94

Vgl. dazu etwa Geppert 1979, 67 ff.; Achenbach 1989, 182 ff.; Reuter 1991, 578 f.

95

Vgl. etwa Bandemer 1985, 145 ff.; Achenbach 1989, 179 ff.; Rüping, GA 1992, 147 ff.; Wohlers 1994, 56 ff., 67 ff.; Roth 1997, 202 ff.; Schulz 2001, 199 ff. zu den Spielarten in der damaligen Diskussion und Territorialrechte. Die Verfahrensstruktur bleibt weiter der Wahrheitsermittlung und damit der Inquisitionsmaxime verpflichtet, nur wird sie durch formale Elemente eines Parteiprozesses angereichert (dazu etwa Schmidt 1944, 269 ff.; Jerouschek, ZStW 102, 1990, 793, 799 sowie sogleich im Text). 96

Hierzu etwa Landau 1987; Reuter a.a.O., 579 f. Ekardt, Jura 1998, 121 ff.

97

Signifikant ist hierfür bekanntlich der Müller-Arnold-Prozess.

98

Vgl. Limbach 1995, 37 ff.; Kühne 1998, 330 ff. zu den gerichtsverfassungsrechtlichen Regelungen, den Verfahrensmaximen und den vereinzelten subjektiv-rechtlichen Gewährleistungen im Strafprozess der Paulskirchenversammlung. Eigene Akzente wurden z.B. bei der Wohnungsdurchsuchung, der instanziellen Selbstständigkeit der Gerichte, dem Verbot der Todesstrafe und der Beseitigung der Patrimonialgerichtsbarkeit gesetzt.

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schließlich der Lügenstrafen99. Obendrein billigt man den Zeugen, die sich durch ihr Bekunden der Verfolgungsgefahr aussetzen, ein Aussageverweigerungsrecht zu100. Was all dies für den Durchbruch von nemo tenetur bedeutet, bedarf indes einer genaueren Rückschau.

2. Die Grundlage für den Wegfall des Aussagezwangs Die deutsche Gesellschaft der Jahrhundertmitte bewegt sich hin zu konstitutionellen Staatsformen und respektiert dabei zusehends auch die elementaren Freiheiten. Ganz sicher gibt daher der bürgerliche Liberalismus auf einer sehr allgemeinen Ebene eine Grundtendenz vor, wonach sich die Verbrechensverfolgung nicht mehr einfach der betroffenen Individuen bedienen kann. Die konkrete Richtung, welche die davon geprägte Neufassung der Beschuldigtenstellung im seinerzeitigen Strafprozess einschlägt, diktieren indes andere, etwas verdecktere Faktoren. Hierzu zählt vornehmlich die Verlegenheit, in der sich das Kriminalverfahren befand (oben I.4.). Da man an den Überführungsmaßstäben der gesetzlichen Beweistheorie ohne die abgeschaffte Folter nicht dauerhaft festhalten kann – auch nicht durch Verhörskunst, Lügenstrafen und ähnliche Behelfe –, begannen Wissenschaft und juristische Praxis schon im ausgehenden 18. Jahrhundert einen zähen Disput, der die beweistheoretische Seite des Di99 In Preußen bspw. durch § 18 der VO v. 3.1.1849. Vgl. i.Ü. die Gesetzesübersichten zu den partikularrechtlichen Aussage- und Wahrheitspflichten sowie zu den Zwangsmittelfreiheiten bei Wodrich 1961, 156 f.; Fezer 1993, 667 f.; vgl. auch Achenbach 1989, 191. Allein § 43 StPOBraunschweig von 1849 anerkennt schon ausdrücklich ein Schweigerecht. 100 Vgl. Vormbaum 1990, 19 f., 22 f. zur Wahraussagepflicht des Zeugen und zu den Befreiungsgründen in den partikulargesetzlichen Regelungen. Rechtstechnisch passte der verbotsgetragene Ausschluss bestimmter Personen aus der Zeugenrolle (oben Fn 79) nicht mehr zum neuen Menschenbild und zur freien Beweiswürdigung. Daher erhielten diese Personengruppen ein Recht zur Zeugnis- oder Antwortverweigerung. Für den Fall drohender Selbstbelastung wurde dies dem Zeugen erstmals für das Zivilverfahren in der Allgemeinen Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten von 1793 gewährt, später dann auch in einzelnen partikularen Reformgesetzen (Nachweise bei Ruetz 1986, 9 ff. oder bei PreußOT, GA 1854, 414, 415). Zum endgültigen Durchbruch im Strafprozess kam es ab 1854 indes ganz ohne gesetzliche Grundlage. Das Preußische Obertribunal (a.a.O.; GA 1856, 377; 1861, 57, 58) erkannte die Selbstbelastung als Aussageverweigerungsgrund an und verwies dafür auf die identische Interessenlage von Zeugen und Beschuldigten. Wenn man bei letzterem die Selbstbezichtigungsnot durch ein Zwangsmittelverbot berücksichtige, müsse dies auf den Zeugen übertragen werden. Aufgegriffen wurde dies in unterschiedlichem Umfang durch § 155 III PreußStPO 1867, Art 145 WürtStPO 1868, § 107 StPO Baden 1864, Art 177 ThürStPO 1850, Art 107 § 2 StPO Oldenburg 1857, §§ 75, 172 StPO Hamburg 1869, § 87 III StPO Lübeck 1862, § 184 StPO Bremen 1870 und Art 151 Nr. 4 E-BayStPG 1870 (vage in der HessStPO 1865 und der SächsStPO 1868, nicht vorgesehen in Braunschweig und Mecklenburg). Teilweise genügten bereits drohende Vermögensnachteile oder Ehrverluste. Angesichts der legislativen Differenzen meint allerdings Sundelin, man könne „nicht behaupten, dass ‚nemo se ipsum prodere tenetur‘ anerkannt sei“ (ADStZ 1863, Sp. 133, 147; zur Entwicklung vgl. Karitzky 1959, 58 ff.; Hölscher 1972, 14 ff.; siehe auch Goltdammer, GA 1862, 820, 824 f.).

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lemmas schließlich zersetzt: Eine neue Beweisdoktrin verschafft sich Geltung und erlaubt nach und nach die freie Indizwürdigung101. Dieser Rechtsvorgang, der die verbindliche Festlegung von Art, Gegenstand und Beweiskraft der Beweismittel auflöst, ist freilich verzahnt mit dem Aufkommen der Sozialwissenschaften, deren Wissen ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend in das Kriminalrecht dringt102. Im Vernehmungsalltag, der nach dem Abschied vom zwangsbestimmten Gewaltverhältnis den Charakter einer kommunikativen Beziehung annimmt103, ist nun die Vernehmungspsychologie auf den Plan gerufen104. Motive und Persönlichkeit des Aussagenden, das individuelle Aussageverhalten und die Struktur der Einlassung werden hierdurch anders wahrgenommen. Dass sich das gesetzliche Korsett überlieferter Aussagebewertungen damit nicht mehr verträgt, gibt dem Übergang zur freien Beweiswürdigung zusätzlich Nahrung. Gleichzeitig verschiebt sich auch das Anforderungsprofil der Vernehmenden und Strafrichter. Ging es im alten Verhör um Kenntnis und Applikation der meist äußerlichen Glaubwürdigkeitskriterien105, bedarf es jetzt zunehmend der von Alltagshermeneutik, Aussagepsychologie und Berufserfahrung konstituierten Interaktionskompetenzen. Zum Objekt solcher Fertigkeiten wird die befragte Person als Ganzes. „Der strukturelle Zwang zur Personifizierung des Zeugen ist das Komplement zur

101 Jede Lockerung der Beweistheorie musste sich gegen das Bedürfnis durchsetzen, richterliche Entscheidungsspielräume zu kontrollieren (zur frühen Diskussion Pöltl 1999, 71 ff., 297 ff.). Für eine freie Beweiswürdigung wurde daher erst nach der Zwischenstufe einer negativen Beweistheorie votiert. Die gesetzlichen Beweisregeln galten dort vorübergehend fort, doch war das Vorliegen der formalen Beweise nur eine Mindestvoraussetzung, zu der die richterliche Schuldüberzeugung hinzutreten musste. Zur gesamten Entwicklung vgl. Walter 1979, 64 ff.; Küper 1984, 32 ff.; Schulz 1988, 140 ff.; Koch 1994, 257 ff.; Stichweh 1994, 272 ff.; Ekardt, Jura 1998, 121, 124; Zopfs 1999, 216 ff. (zur korrespondierenden Aufwertung des Indizienbeweises vgl. Pöltl a.a.O., 106 ff.; Michels 2000, 131 ff.). I.Ü. treibt die Erneuerung der Beweislehre andere Reformfelder an, so z.B. die Kontrollmechanismen des Öffentlichkeitsprinzips und der laienrichterlichen Mitwirkung, aber auch das mündliche und unmittelbare Verfahren (zu solchen Verschränkungen Küper a.a.O., 29 ff.; Landau 1987, 243 ff.; Stichweh a.a.O., 276 ff.; Kühne 1998, 359 f. und v.a. Koch a.a.O., 252 ff.). 102

Auch andere Wissenschaften gehen in die Verfahren ein oder entfalten neue Wirkungen (vgl. Schulte 1989, 91 ff.; Lorenz 1999, 255 ff.; Overath 2001, 143 ff. für die psychiatrische Begutachtung; Hartl 1973, 173 ff.; Ulbricht 1990, 236 ff.; Lorenz a.a.O., 71 ff.; Härter 2000, 472 für die Gerichtsmedizin; zum Ganzen m.w.N. auch Habermas, Rg 2003, 128, 146 f.). Speziell zu neuen natur-/wissenschaftlichen Methoden in der polizeilichen Spurenkunde vgl. Kube 1964, 117 ff.; Roth 1997, 92 ff.; Becker 2002, 348 ff. 103

Eingehend Niehaus 2003, 225 ff.

104

Vgl. Stichweh 1994, 267 ff., 288 ff.; Friedrich/Niehaus 1999, 169 f. zur sich herausbildenden Aussagepsychologie, wie sie die zeitgenössischen Anleitungen von Snell 1819; Jagemann 1838, 314 ff. und Friedreich 1842, 55 ff., 599 ff. repräsentieren. 105

Dazu Koch 1994, 248 ff.; Fischer 1998, Sp. 1689.

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Subjektivierung der Überzeugungsbildung auf der Seite des Gerichts.“106. Wenn die Auskunftsperson in der psychologisierten Vernehmung deshalb auch unterhalb ihrer wahrnehmbaren Oberfläche zum Ausforschungsobjekt wird, ist das gewiss ein Eingriff eigener Qualität. Dieser Blick ins Innere bestätigt und mehrt aber auch die neuen forensischen Einsichten. Und er bringt es mit sich, dass bestimmte Interessenkollisionen, die man über Jahrhunderte als wahrheitsgefährdend schon vage gekannt hatte, nunmehr in ihrer sozialen und psychischen Verstricktheit unmittelbar bedacht und eindringlicher reflektiert werden. Damit steuert das neue, geläufig werdende Wissen seinen Teil dazu bei, wenn das Verfahrensrecht trotz der unverminderten Verpflichtung zur wahrheitsfördernden Aussage (im neuen Staatsverständnis nunmehr bezeichnet als staatsbürgerliche Pflicht) auch die gegenläufigen Bedürfnisse berücksichtigt, darunter nach und nach die Selbstbelastungsgefahr.

Das Vorankommen im forensischen Wissen und die prozessualen Innovationen wirken bei der Implementierung von nemo tenetur Hand in Hand. Durch die Überführungsmacht der Indizien werden die Angaben des Verdächtigen und der Zwang zu dessen Einlassung entbehrlich107: Einmal sind die Juristen für die Strafverfolgung nicht mehr rechtlich auf das Geständnis angewiesen und zum anderen mehren sich mit dem modernen Expertentum auch die aussagegelösten Beweisführungsmöglichkeiten. Auf das Verhör will dennoch niemand verzichten, schon weil die öffentliche Selbstidentifikation mit der geheimen Tat unverändert die überzeugendste Basis bietet, um dem Verbrecher eine Täteridentität zuzuschreiben (oben I.3.b)bb) in Kap. 5). Im Verein mit den neuen sozialen Einsichten gewinnt die Beschuldigtenvernehmung in der veränderten rechtlichen Rahmung sogar einen besonders effektiven Zug. Jede verbale, mimische oder gestische Äußerung wird zum Indizienträger für das Innere des Befragten, dessen Widerspenstigkeit somit auf ihn zurückfallen kann108. Schweigen, Lügen, Leugnen brauchen nicht mehr gewaltsam gebrochen zu werden, weil sie in den modernen wissenschaftlichen Sinnmustern als Dokumente der Schuld imponieren und weil das Beweisrecht diese Deutung nun mit Gerichtsfestigkeit versieht109. Eingedenk des derart subtil tradierten 106

Stichweh 1994, 289.

107

Dazu in der Sache auch Langbein 1977, 61 ff.; Arzt, ZStR 110 (1992), 233, 240 f.; Ignor 2002, 252 ff. 108 Eine Plattform, auf der solche Schuldanzeichen von den Entscheidern (einschließlich den neu eingerichteten Laienrichtern) wahrgenommen werden, bietet die Öffentlichkeit des reformierten Verfahrens. Ohnehin hat diese ein zweites Gesicht: Zwar kann gerade die Publizität der Vorgänge bezeugen, dass vor Gericht kein Geständniszwang stattfindet (zur so begründeten Forderung nach einem öffentlichen Kriminalprozess Rheinische IJK 1818, 27 f.; skeptisch Leman 1842, 16), doch verspricht man sich von ihr durchaus auch einen Geständnisdruck – nämlich einen Interaktionsrahmen, der den Verdächtigen einer „permanenten Konfrontation“ mit Opfer und Zeugen aussetzt (zu dieser Erwartungshaltung vgl. Friedrich/Niehaus 1999, 180 f.). 109 „Schweigen erregt den größten Verdacht. ... Man würde also nicht zu hart verfahren, wenn man den Halsstarrigen so gar für überführt achten wollte. Warnen müßte man ihn freylich.“ (Glo-

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Teil 3: Grundfragen

Aussagezwangs kann man auf dessen explizite Rechtsform und erst recht auf die physische Vollstreckbarkeit verzichten110. Ungeachtet aller erreichten Zivilisierung setzt das Geheimhaltungsmuster der staatlichen Strafverfolgung also noch keine wirkliche, vom Recht markierte Grenze.

3. Der Reformdiskurs zur Mitwirkungsfreiheit An sich sollte man nun vermuten, dass das Zusammenfallen von perpetuierter Aussagepflicht und abgeschafftem Aussagezwang zum einen die Handschrift des seinerzeitigen Diskurses trägt, und dass aus diesem ferner hervorgeht, warum die spezifische Kompromisslösung hervorgebracht wurde. Das ist aber nur bedingt der Fall. Überraschenderweise hat sich die ausgeprägte zeitgenössische Prozessrechtsdiskussion ausgerechnet mit diesen Zusammenhängen nur am Rande befasst. Wenn sie sich überhaupt zu nemo tenetur äußerte, wurden die Probleme von ihr im Kontext der Verfahrensoberfläche gehalten und nicht auf die tiefer liegenden Wirkungen bezogen. Das verdient deshalb Beachtung, weil Prozessreformen im damaligen Kräftefeld bestenfalls so weit greifen, wie es der bürgerlich-liberale Pol artikuliert111. Dessen strafrechtliche Protagonisten112 standen für das Vorhaben, die Verhältbig/Huster 1783, 417). Solche Auslegungen des Schweigens „sind nicht Strafen, die man willkürlich verhängen oder nicht verhängen kann, sondern nothwendige Folgen“ (Sündelin, GA 1858, 624, 635; zur schuldindiziellen Deutung des Schweigens auch Mittermaier 1845, 508 f.; Zachariä 1846, 118; Scheurl 1848, 40; Geib 1848, 125; Köstlin 1849, 105; ebenso Art 171 II SächsStPO 1855, § 200 StPO-Baden 1845, § 216 Öster. StPO 1850, Art 183 BayStPO 1848, Art 127 StPO Sachsen-Weimar 1850; vgl. für die wenigen Zweifler etwa Hohbach, ArchCrimR NF 4, 1830, 449, 476 ff. (unter Hinweis auf die Unzuverlässigkeit dieses Indizschlusses). I.Ü. gilt wenigstens das Leugnen des Angeklagten auch als Strafschärfungsgrund (vgl. Schläfer 1950, 45, 76 f.). 110 Der Aussagezwang beruht auf dem Vorhandensein von Aussageerzwingungsmöglichkeiten. Diese haben lediglich eine andere Gestalt angenommen: Die Folter wird zunächst zu Verhörskunst und Lügenstrafe, um nunmehr durch die Zuschreibungen der freien Beweiswürdigung ersetzt zu werden (zu dieser „Sublimierung“ bereits Bendix, GA 1917, 31, 38 ff.). So gesehen erscheint es zweitrangig, dass die neuen Prozessordnungen keine ausdrückliche Aussagepflicht statuieren. Bezeichnenderweise enthalten sie nämlich auch kein explizites Beschuldigtenschweigerecht und schon gar keine dahingehende Hinweispflicht. 111 Unter den wirkmächtigen Akteuren stehen den bürgerlich-liberalen Verfechtern eines reformierten Strafverfahrens die Vertreter feudaler Ordnungsstrukturen (z.B. Landadel), aber auch spätabsolutistische Gruppen gegenüber, die das Inquisitionsverfahren einschließlich der ständischen Gerichtsbarkeit beibehalten wollen. Da die Position der wirtschaftsliberalen, aber politisch autoritären Landesregierungen durch die Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit gestärkt würde, gehören sie eigentlich auf die Reformseite, doch wegen der anderweitigen politischen Ziele des Bürgertums verhalten sie sich eher reserviert (vgl. Fögen 1974, 75 ff.; Haber, ZStW 91 (1979), 590, 592 ff.; Reuter 1991, 571 ff.; Blasius 1996). 112 Weite Teile der Strafrechtswissenschaft sind Träger der liberalen Bewegung. Die gleichermaßen politische wie wissenschaftliche Natur ihrer Studien, die neben den sich häufenden Petitio-

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nisse zwischen den Ausübenden und Unterworfenen staatlicher Gewalt gesetzlich zu regeln und dabei den gebotenen Grad individueller Freiheit auszutarieren113. Den Verlauf der Reformdiskussionen allein auf eine solche Haltung zurückführen zu wollen, bliebe jedoch allzu blass. Hilfreicher erscheint demgegenüber der Hinweis auf die Interessenlage der bürgerlichen Kräfte, die von spätabsolutistischen Herrschaftsstrukturen an wirtschaftlicher Entwicklung und Machtteilhabe gehemmt wurden. Die Verfolgung ihrer Exponenten wegen politischer Delikte war dafür ein beredtes Zeichen114. Daher mussten ihre rechtspolitischen Alternativmodelle nach der Eliminierung gerade jener Verfahrenselemente trachten, die sich als Abbild des anti-bürgerlichen Blocks begreifen ließen. Angegriffen wurden folglich die inquisitorischen Handhabungen mit der größten Symbolkraft, beispielsweise das Entscheidungsmonopol des abhängigen Berufsrichtertums115. Die physisch ohnehin nicht mehr erzwungene Mitwirkungspflicht, die keine vergleichbare politische Botschaft ausstrahlte, blieb dagegen im Schatten der spektakuläreren Reformfragen. Gleichwohl setzt eine nemo-tenetur-Debatte schon im ausgehenden 18. Jahrhundert ein. Das Geständnis gilt, wiewohl es substantiiert und durch äußere Umstände bestätigt werden muss, in der gemeinrechtlichen Dogmatik noch immer als wichtigster Tatbeleg116. Der Beschuldigte hat dieses Beweismittel von besonderem Rang117 durch eine wahre Einlassung beizusteuern, woran man

nen in den Ländergesetzgebungsverfahren die Reformkodifikationen vorantreiben (vgl. Haber a.a.O., 598 f.), ist ebenso wenig auseinander zu bringen wie der Charakter ihrer Autoren, die oft in beiden Arenen aktiv waren. 113

In diesem Sinne etwa Wesel 2001, 467 f.; Ignor 2001; Rüping/Jerouschek 2002, Rn 239 ff.

114

Zur Instrumentalisierung des Strafrechts durch die politische Restauration vgl. etwa Blasius 1983, 31 ff.; Reuter 1991, 565 ff. (zu den demgegenüber unaufgeregt-herrschaftlichen Verfahren bei den Unterschichtdelikten vgl. Hartl 1973, 268 ff.; Blasius 1978, 53 ff.; Schulte 1989). 115 Die Laienbeteiligung ist Ausdruck der umkämpften politischen Emanzipation des Bürgertums. Dass sie auch eine straflegitimierende Wirkung hat, die der Staat zu schätzen wusste (vgl. Jerouschek, GA 1992, 493, 496), ändert daran nichts. So werden die Schwurgerichte gerade in den politischen Deliktsfeldern tätig (vgl. Landau 1987, 285 f.). Die hierbei intendierte Kontrolle richterlicher Macht ist bei der Schaffung der Staatsanwaltschaft weniger offenkundig; vielmehr entsteht mit ihr sogar ein zusätzliches staatliches Verfolgungs- und Kontrollorgan (Fögen 1974, 39), dessen Einführung die liberale Bewegung daher auch weniger vehement fordert (zum Ganzen Haber, ZStW 91, 1979, 590, 600 ff.; vgl. auch Reuter 1991, 571 ff. Ekardt, Jura 1998, 121, 126 f.). 116

Grolmann 1798, 430: Geständnis ist „das erste und vorzüglichste Beweismittel“; in der Sache ebenso Kleinschrod, ArchCrimR 1802, 63, 68 f.; Dabelow 1807, 354; Bauer 1809, 210, 223; Tittmann 1810a, 12 ff.; Mittermaier 1810, 646 ff.; Müller 1837, 201; Jagemann 1838, 302. 117 „Diese Nothwendigkeit folgt auch daraus, weil man verschiedene Punkte, z.B. den Dolus, die Culpa, die Gemüthslage zur Zeit der That nicht aus den Umständen allein beweisen kann, sondern diese nothwendig aus dem Geständnisse erst bekannt und hergestellt werden müssen.“ (Kleinschrod, ArchCrimR 1802, 63, 66).

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ihn durch richterliche Mahnungen erinnern soll118. Allerdings finden sich auch Verfechter einer naturrechtlichen These, der zufolge eine Geständnispflicht dem menschlichen Wesen und dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb widerspreche und die Lüge des Beschuldigten verständlich sei. Während eine Autorengruppe diesen Gedanken nur gegen den physischen Aussagezwang, nicht aber gegen das strikte Kooperationsgebot wendet119, schließen andere hieraus sogar auf die generelle Fragwürdigkeit des Geständnisbeweises120. Das juristische Schrifttum weist solche Vorhaltungen entschieden zurück. Gerade dass der Verdächtige trotz seines natürlichen Selbsterhaltungstriebes gesteht, gebe seiner Aussage eine besondere Überzeugungskraft; dass er sich selbst belastet, sei nämlich nur durch ein Wiedergutmachungsbedürfnis oder andere schuldtypische Kalküle zu erklären121. An der Pflicht zur wahren Aussage hält man fest, werde diese doch durch die staatlichen Strafansprüche und die 118 Vgl. Steltzer 1793, 385; Tittmann 1810, 434 f.; Mittermaier 1810, 661 f.; Stübel 1811, 142 ff.; Abegg 1833, 194; Henke 1838, 676 ff.; Jagemann 1838, 309 f. 119 Vgl. Beccarias Votum für die Bestrafung hartnäckigen Schweigens (oben Fn 74), andererseits seinen Hinweis auf das „unveräußerliche Recht der Selbstverteidigung“ (1905, 90). 120 Besonders einflussreich Filangieri: Das „gesetzliche Axiom, nemo testis contra se ipsum, ist ohne Zweifel eine Folge“ des Grundsatzes, dass ein Geständnis wider die menschliche Natur ist (1786, 182), denn „die Natur, sage ich, ist es die den Mund des Schuldigen verschließt, wenn ihm der Richter über die Wahrheit der gegen ihn gerichteten Anklage befragt“ (a.a.O., 179). Das Bekenntnis des Verbrechens verlangt folglich eine übermenschliche Anstrengung (Überwindung des Geheimhaltungstriebes) oder eine Irrationalität, die in der auf sich genommenen Strafe „die Erwerbung eines grössern Guts erblicken läßt“ (a.a.O., 180; zu sinngleichen mittelalterlichen Kommentaren des Talmuds vgl. Niehaus 2003, 77). Im Anschluss daran unterstreicht bspw. Bergk (1802, 109 ff.), dass sich jedermann aus bloßer Achtung gegen die Menschheit jederzeit als Zweck behaupten und den Pflichten, die aus seiner animalischen Natur folgen, nachkommen müsse – auch durch ein Verhalten gemäß seinem natürlichen Bestreben, „sich selbst zu erhalten“ (a.a.O., 111; ähnliche Stimmen bei Tittmann 1810a, 2 Fn c; vgl. auch Turin 1801, 27 f., der aus dem Selbsterhaltungstrieb ein Recht auf juristische Selbst-/Verteidigung herleitet). Allerdings sollten diese Äußerungen nicht darüber hinweg täuschen, dass die Haltung der deutschen Naturrechtslehre zur Bedeutung von Selbstliebe/-erhaltung und zu deren Verankerung in der menschlichen Naturausstattung an sich eher ambivalent war (dazu Vollhardt 2001, 236 ff.). All dem noch weiter nachzuspüren, wäre jedoch ohne dogmatischen Nutzen für die hiesige Arbeit, weil sich solche Positionen vor der Spätaufklärung noch nicht im Rechtssystem niederschlagen. Auf frühe Erörterungen von nemo tenetur sei hier daher nur hingewiesen – etwa auf das philosophische Schrifttum im 17. Jhdt. (dazu Schmoeckel 2000, 410 ff.), vereinzelte mittelalterliche Quellen (dazu Helmholz 1997, 17 f.) und frühe Hinweise auf den Selbsterhaltungstrieb i.Z.m. Verteidigungs- und Gehörsrechten (dazu Rüping 1976, 56). 121 So Kleinschrod, ArchCrimR 1802, 63, 64, 66 ff., 73 f.; Stübel 1811, Bd. II, 66 ff.; Tittmann 1810a, 1 f.; Abegg 1833, 170; Henke 1838, 463 f.; Gerau, ZDStV NF 1, 1844, 261, 288 ff.; dezidiert auch Globig (1806, Bd. I, 143 f.) und Mittermaier (1821, 207 ff.), nach dem die Lüge die menschliche Natur entehre. Überdies wäre ein Recht ohne staatliche Gewährung bloße Fiktion. Im Falle der Verdächtigenaussage sei es im Interesse der Gesamtheit und wegen der Funktionsbedürfnisse des Strafrechts bewusst nicht eingeräumt worden (zu anders akzentuierten späteren Schriften Mittermaiers sogleich).

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Instruktionsmaxime verbürgt122. Ein Einlassungszwang per Folter soll indes genauso verboten sein wie der Eid123, denn das erzwungene Geständnis trage einen Glaubhaftigkeitsmakel an sich124. Noch keine Einigkeit herrscht hingegen in der Frage, ob man den Unbotmäßigen wirklich mit der zunächst noch formalgesetzlich zugelassen Ungehorsamsstrafe belegen könne125. 122 „Dadurch, dass die Menschen sich der Oberaufsicht und richterlichen Gewalt des Staats unterworfen, haben sie auch stillschweigend versprochen, dass sie über ihre Handlungen Rechenschaft ablegen wollen ...; sie haben damit ebenfalls versprochen, dem Richter die Wahrheit zu eröffnen.“ (Kleinschrod, ArchCrimR 1802, 63, 72; vgl. auch Globig/Huster 1783, 417; Bolley 1809, 229; Mittermaier 1821, 208 f., Hohbach, ArchCrimR NF 1830, 449, 466). Die seltenen Zweifel werden formal-logisch begründet, und sie beziehen sich nur auf die erzwungene Aussage. Vgl. Stübel: „Ob schon das Recht des Staates auf Strafe wider den Verbrecher zugleich das Recht in sich begreift, von eben demselben zu fordern, dass sie dem Staate bey der Verfolgung seines Rechts keine Hindernisse in den Weg legen“ und sich so ein Bekenntniszwang rechtfertigen ließe (1811, Bd. IV, 139), bestehe das Problem, dass beim ungeständigen Beschuldigten die Schuld und mit ihr das staatliche Recht zum Aussagezwang eben noch ungewiss sei (und wenn es wegen anderer Beweise gewiss sei, wäre die Zwangsanwendung überflüssig, a.a.O. 141; ähnliche Bezugnahmen auf Beccarias Folterkritik bei Bauer 1809, 296). Dass die Unschuldsvermutung weder mit Aussagezwang noch mit einer Aussagepflicht vereinbar ist, bringt später Leue (1840, 128 ff.) auf den Punkt. 123

Müsse der Beschuldigte seine Einlassung beeiden, würde die Religion dazu missbraucht, „ihn wider alle natürliche Empfindung zum Zeugniß gegen sich selbst zu zwingen“ (Globig/Huster 1783, 416; ebenso Beccaria 1905, 87 f.). Andere verteidigen den Eid (z.B. Salchow 1807, 544). I.Ü. bleibt das gegenüber der Wahrheitsgefährdung des unfreien Geständnisses ein seltener Diskussionsgegenstand; diese Unterart der geistigen Tortur verschwindet eher unkommentiert (vgl. Kaufmann 1990). 124

Das „Gefühl des Schmerzens kann den Beschuldigten zu einem geschwinden Geständnisse verleiten, um von der Pein, so bald als möglich, befreyt zu werden“ (Kleinschrod 1797, 87; vgl. auch a.a.O., 106 ff.). Gegen Folter votieren ebenfalls Klein 1796, 418; Grolmann 1798, 99 f.; Arnim 1801, 60 ff.; Hagemann o.J., 162 f.; Globig 1806, Bd. II, 131 ff.; Bauer 1809, 296; Tittmann 1824, 370 f.; Klenze 1836, 117 (anders offenbar Salchow 1807, 546 ff.). Folglich ist das Geständnis nach der Tortur (und ohne spätere Ratifizierung) ohne Beweiskraft (etwa Steltzer 1793, 372; Klein 1796, 76; Kleinschrod 1797, 107; Grolmann 1798, 449 f.; Globig 1806, Bd. II, 126 f.; Tittmann 1800, 364 ff.; ders. 1810, 448, 572; ders. 1810a, 9 f.; Henke 1817, 177; ders. 1838, 471; Mittermaier 1821, 219). 125 Grolmann, 1798, 450 hält dies für zulässig, „wenn der Verhörte offenbar auf Lügen ertappt wird. Hier kann er allerdings, weil er seine Verbindlichkeit, vor dem Gerichte die Wahrheit zu sagen, übertreten hat, gezüchtigt werden, allein der Richter muss sich, wenn er auf diese Züchtigung erkennt, sehr hüten, dass nicht der Beschuldigte glauben könnte, er werde gezüchtigt, um das ihm angeschuldigte Verbrechen einzugestehen“ (ebenso Dabelow 1807, 358; Bauer 1809, 191; Tittmann 1810, 449 ff.; Hagemann, o.J., 165 ff.; wohl auch Abegg 1833, 195 f., 206). Beschränkungen diskutieren Steltzer 1793, 401 f. (nur bei Leugnen bestimmter Aspekte); Henke 1817, 272 ff.; ders. 1838, 690 ff.; wohl auch Bolley 1809, 113, 229 ff. (nur bei Schweigen); Hohbach, ArchCrimR NF 1830, 449, 462 ff., 548 ff., 561 ff. und ihm zustimmend Müller 1837, 344 f. (bei den meisten Formen des Leugnens/Lügens). Insgesamt äußern sich Stübel 1911, Bd. IV, 212 ff., 238 ff. und Klenze 1836, 117 skeptisch; strikt ablehnend Arnim 1801, 43 ff.; Globig 1806, Bd. II, 135 f.; (vgl. auch Rheinische IJK 1818, 28 f.). Dass über die Lügenstrafen gestritten wird, zeigt i.Ü., wie künstlich die Datierung der Reformbewegung auf den Vormärz und die Jahrhundertmitte ist (zum Berner Preisausschreiben von 1782 als frühem Höhepunkt Schmidt 1990).

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Erst um die Jahrhundertmitte schreibt man den Ungehorsamsstrafen einen faktischen Foltercharakter zu und will sie daher als unzulässig verstanden wissen126. Für einige Autoren verkörpern sie nachgerade den Strukturunterschied von akkusatorischer und inquisitorischer Verfahrensform127. Überhaupt stößt die Rechtsstellung des Beschuldigten vornehmlich im Streit, welches dieser Prozessvorbilder zu übernehmen sei, auf Beachtung. Wenn es darum geht, die Vor- und Nachteile des angelsächsischen Anklageverfahrens oder des französischen Mischmodells aufzurechnen, bilanziert man dies mit Vorliebe gerade anhand von Aussagepflicht und Schweigerecht. Trotz einiger Unschärfen gilt der Anklageprozess als Verhandlung „zwischen zwei in freier, gleichberechtigter Stellung sich gegenüberstehenden Subjecten vor einer unpartheiischen, das Verfahren dirigierenden dritten Person“. Der Inquisitionsprozess gebe dieser (Richter-)Figur hingegen „alle möglichen erlaubten Mittel“, um „die höchste für den Menschen erreichbare Wahrheit zu erforschen“128. Dass hier der Beschuldigte infolge seiner direkten Beziehung zur verfahrensgegenständlichen Tat zwangsläufig in den Fokus der Ermittlungen gerate, präge die „nothwendige Richtung des Untersuchungs-Prinzips auf die Erlangung des Geständnisses und, da die Ablegung desselben dem Interesse des Angeschuldigten schnurstracks widerstreitet, das Bestreben, ihn, wenn nicht direct, doch indirekt, auch gegen seinen Willen, zur Ablegung desselben zu nöthigen.“. Dagegen verbiete sich „das Streben nach Erlangung eines Geständnisses nothwendig vom Boden des accusatorischen Prinzipes aus“. Die Parteistellung des Angeklagten im Anklageverfahren „gestattet blos die Aufforderung, sich über die ihm vorgelegten Anklagepunkte zu erklären“129. Hier sei jeder Aussagezwang „ein widernatürlicher Zustand“, während er im wahrheitsorientierten Inquisitionsprozess künstlich ausgesetzt werden müsse130.

126

Vgl. Welcker 1840, 24 ff.; Abegg 1841, 177 f.; Mittermaier 1845, Bd. I, 505 ff.; Scheurl 1848, 40 f.; Geib 1848, 116; Köstlin 1849, 101 ff.; Hagens 1849, 80; Sundelin, GA 1858, 624, 635; Zachariä 1846, 69, 112 f.; ders. 1968, 259 (eher affirmativ noch ders. 1837, 121 ff.; im bestimmten Umfang befürwortend auch noch Nöllner, ZDStV 1841, 36, 65 f.; offenbar auch Heffter 1857, 538). 127 Hierzu v.a. Mittermaier 1845, Bd. I, 503 ff.; Zachariä, 1846, 114 ff.; ders. 1868, 258 f.; Welcker a.a.O. (dazu Bandemer 1985, 187 ff.), wobei freilich verschiedene Auffassungen über den konkreten Inhalt beider Prinzipien bestehen (dazu etwa Stemann 1873, 11). Den zutreffenden Zusammenhang zur gesetzlichen oder freien Beweiswürdigung stellt hingegen Nöllner her (ZDStV 1841, 36, 45 ff.; ebenso Hepp 1842, 103 ff.). 128

Das erste Zitat bei Zachariä 1846, 53, das zweite bei Mittermaier 1834, 234.

129

Die Zitate bei Zachariä 1846, 45, 55 f. (in der Sache ebenso Temme 1850, 73, 131; Glaser, ArchCrim NF 1851, 70, 74 ff.; Biener 1852, Bd. II, 129 f.; Vassalli 1869, 88 f., 137; John 1877, 758; ähnlich schon Feuerbach 1825, 366 f.). Zu Recht zweifelte bereits Abegg (1841, 178 Fn 232) daran, dass die Zwangsmittelfreiheit dem Akkusationsprozess „wesensgemäß“ sei. Vielmehr bedarf sie einer Zusatzentscheidung, nämlich der (unausgesprochenen) Akzeptanz einer formalen Wahrheit. Für die gängige Verzeichnung ist es charakteristisch, dass manche Autoren im nemo-teneturSatz gar das Verbot des Beschuldigtenverhörs sahen (zu diesen Stimmen Rogall 1977, 99). 130 Mittermaier 1834, 233 f. (vgl. auch ders. 1845, Bd. I, 588 ff.; ders. 1856, 273 ff.; Leue 1840, 119 ff.; Hepp 1842, 101; Vassalli 1869, 48 ff.; Zachariä 1868, 243 ff.; John 1877, 757; kri-

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In die öffentliche Debatte gelangt das Schweigerecht also zunächst einmal im Windschatten der Diskussion um die gebotene Verfahrensform. Seine Berechtigung wird bei dieser Gelegenheit aber wie selbstverständlich und beinahe unbemerkt akzeptiert131. Schließlich setzt man gar die Unstrittigkeit des Geheimhalten-Dürfens voraus und bemisst die Vorzugswürdigkeit von Anklageprozess oder „gebändigtem“ Inquisitionsverfahren am Grad der jeweiligen Schweigerechtseinlösung132. Über diesen breitesten Strang in der Diskussion darf indes nicht vergessen werden, dass der nemo-tenetur-Satz daneben auch selbstständig und „auf eigene Rechnung“ seinen Beifall erhält: So sieht man ihn in den Kontext der allgemeinen Gewaltbeziehungen gerückt, wenn es im Zuge moderner staatstheoretischer Überlegungen heißt, dass sich nemo tenetur im konstitutionellen Rechtsstaat als „Signatur eines veränderten Subjectionsverhältnisses” ausnehme, in dem das Strafrecht den Angeklagten nicht länger „als ein seiner Gewalt verfallendes, gefesseltes Wesen behandeln“ könne. Ein Geständnis dürfe der Staat hierin nicht mehr verlangen, weil es ihm dafür an der Berechtigung fehle, die er bei jeder Inanspruchnahme des Bürgers vorweisen müsse133. Aber auch der alte Gedanke, dass das Schweigen im Verhör als ein natisch zu dieser Akzentuierung des Inquisitionsprinzips aber Temme, ZDStV NF 1847, 90, 99 ff.). Die Bedrohung der Äußerungsfreiheit in der inquisitorischen Verfahrensstruktur begründet man auch mit der psychologischen Überforderung des untersuchenden Richters, die ihn schuldvoreingenommen werden lasse und zu einer Tendenz der Geständniserzwingung führe (so Welcker 1840, 51 f.; Leue a.a.O., 106 f.; Mittermaier 1845a, 300 ff.; Köstlin 1849, 78), zumal ihm im Verhör ein prinzipielles Vorgehensermessen zukomme (so Zachariä 1846, 99 ff.). 131 Bei der Selbstbelastungsfreiheit des Zeugen war das nicht anders. Sie wurde anfangs kaum reklamiert (vgl. aber Steltzer 1793, 381). Von seiner Staatsbürgerpflicht zum Zeugnis könne, so hieß es, niemand „durch angebliche Nachtheile, welche ihn im Fall des Zeugnisses treffen würden ... befreit werden“ (Mittermaier 1834, 309). Viele Schriften der ersten Jahrhunderthälfte erörtern die möglichen Ausnahmen von der Zeugnispflicht, ohne dabei nemo tenetur zu bedenken (vgl. Zachariä 1837, 227 ff.; Mittermaier, Bd. I, 1845, 436 ff.). Insofern überrascht die Umstandslosigkeit, mit der man das Aussageverweigerungsrecht nach seiner Einführung (oben Fn 100) erläutert (vgl. Planck 1857, 232; Sundelin, ADStZ 1863, Sp. 133, 147; Zachariä 1868, 195). 132

Vom Schweigerecht her votieren für den Akkusationsprozess (zumindest im Hauptverfahren) v.a. Mittermaier und Zachariä (jeweils a.a.O.; daneben auch Leue 1840; Hepp 1842, 40 f.; Rulf 1851, 315 ff.; Planck 1857, 241 ff., 357 ff.; tendenziell für den gemäßigten Inquisitionsprozess Leman 1842, 28 ff., 45 ff.; Köstlin 1849, 91 f., 98 ff.; Abegg 1841, 39, 178 ff.; Sundelin, GA 1858, 624). Insgesamt thematisieren die Verfechter des Anklageprozesses die Mitwirkungsfreiheit konsequenter (ebenso Rüping 1994, 30) – wohl deshalb, weil zu dieser Zeit in den angelsächsischen Prozessrechten die Einlassungsfreiheit einschließlich entsprechender Belehrungspflichten bereits anerkannt war – eine „Komplett-Rezeption“ also nahe lag (instruktiv zu den Phasen der dortigen nemo-tenetur-Entwicklung die Beiträge in Helmholz u.a. 1997; vgl. auch Rathenau, ZStW 22 (1902), 514 ff.; Guradze 1971, 152 ff.; Rogall 1977, 72 ff., 81 ff.; Reiß 1987, 150 ff.; Wolff 1997, 23 ff.; Gerlach 1999, 123 ff.; Böse, GA 2002, 98, 108 ff.; ders. 2005, 150 ff.). 133 Dazu mit den Zitaten Wahlberg (GZ 1874, 152, 155) und Zachariä (1846, 69). Die allgemeinen Staat-Bürger-Verhältnisse im absolutistischen Polizei- und konstitutionellen Rechtsstaat sollen sich im inquisitorischen bzw. akkusatorischen Verfahrensprinzip spiegeln. Die traditionell inquisitorische Wahrheitspflicht des Beschuldigten wurzele in seiner allgemeinen absolutstaatli-

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türliches Recht anzuerkennen sei, lebt weiter134 – wenngleich er sich nun eher im kantischen Gewand zeigt und den Aussagezwang deshalb zurückweist, weil er den Beschuldigten zum bloßen Mittel der Untersuchung herabwürdige135. Diese Linien lassen sich kaum voneinander isolieren und auch nur schwer nach ihrem Einflussgewicht ordnen. Am Ende des Reformdiskurses steht jedenfalls eine Partikulargesetzgebung, die meist dem französischen Vorbild gemäß eine akkusatorische Prozessform mit einem stark inquisitorischen Strukturkern vorsieht136. Das neue Recht respektiert den Beschuldigten als Subjekt, nur gibt es ihm die janusköpfige Gestalt eines Erkenntnismittels, indem es – allein die Erzwingung der persistenten Auskunftspflichten ausschließt137, – am Geständnis als zentralem Überführungsmodus festhält138, – Ermittlung und Verhör daher auf die Geständniserlangung ausrichtet139, – und die unwahre Einlassung zu unterbinden sucht140. chen Unterwerfung, während die Einlassungsfreiheit als Teil des Anklageprozesses die neuen verfassungsrechtlichen Prinzipien realisiere (so Wahlberg a.a.O., 152 ff.; ders. 1873, 65 f.; ähnliche Andeutungen bei Biener 1852, Bd. II, 131; Vargha 1879, 354 ff.; kritisch Heinze 1875, 25 f.). Liepmann (ZStW 44, 1924, 647, 668) sieht in diesem Aspekt das wesentliche antriebskräftige Moment für die Implementierung des nemo-tenetur-Satzes (ähnlich wieder Schilling 2004, 99). 134 Für ein natürliches Gesetz der Selbsterhaltung, das der Staat nicht nur bei Notwehr und Notstand, sondern ebenso im Verhör achten müsse, plädieren Vassalli 1869, 141 ff.; Gneist 1874, 82 f.; ebenso noch RGSt 63, 233, 236; kritisch Geyer 1879, 260, Fn 1. 135

Rulf 1851, 310 sieht in der „Behandlung des Angeschuldigten zu einem ihm fremden Zwecke geradezu eine Verletzung seiner Persönlichkeit“ (ähnlich Stemann 1850, 13; Röder 1863, 93). 136 Die damit Realität gewordene Programmatik findet sich besonders klar bei Geib 1848, 89. Dass sie dem Mehrheitsvotum entspricht, dokumentiert die Debatte des 7. DJT zum richterlichen Verhör (vgl. 7. DJT 1869, Bd. II, 109 ff.). Den neuen Rechtszustand resümieren Temme 1850, 130; Planck 1857, 241 f.; Zachariä 1868, 237 ff.; Vassalli 1869, 209 ff.; Ullmann 1893, 377, Fn 1. 137 Hierzu oben in und bei Fn 99 und 109 sowie Gerau, ZDStV NF 1844, 261, 281 f.; Scheurl 1848, 40; Temme 1850, 74, 131 f.; Biener 1852, Bd. II, 130; Planck 1857, 248 (für eine sittliche Geständnispflicht Sundelin, GA 1858, 624, 633). Wegen der fehlenden Erzwingbarkeit der Wahrheitspflichtbefolgung ist dahingehender Ungehorsam nach Wahlberg strafprozessual irrelevant (GZ 1874, 152, 156 f., 160, 164 f.). In jedem Fall wird Geständniszwang abgelehnt. Er gilt sogar als strafwürdig (vgl. § 319 PreußStGB 1851, § 343 StGB für den Norddeutschen Bund). Inhaltlich schloss diese Schweigemöglichkeit von Anbeginn den entlastenden Beweisstoff ein (zur Pönalisierung der Aussageerpressung in den Partikularstrafgesetzen auch Rogall 2005, 515 ff.). 138 Affirmativ z.B. Kitka, ZDStV 1842, 149, 152; Gerau, ZDStV NF 1, 1844, 261, 267; Mittermaier 1845, Bd. II, 226 f.; Stemann 1850, 20; Schwarze 1855, 223 f.; Heffter 1857, 506. 139

Verhöre müssen „immer auch darauf ausgehen, den Angeklagten zur Ablegung eines Geständnisses zu veranlassen“ Geib 1848, 115 (vgl. auch a.a.O., 124 f.; Abegg 1841, 178 ff.; Puchta 1844, 237 ff.; Kitka, ZDStV 1842, 149, 153 ff.; Gerau, ZDStV NF, 1844, 261, 264 f.; Mittermaier 1845, Bd. II, 228 ff. sowie die zahllosen Praxis-Bspe. bei Jagemann 1841, 493 ff.). Kritisch aber Stemann 1850, 12 f.; ders. 1873, 5; Rulf 1851, 310, 318 ff.; Mittermaier 1856, 464 ff.; Zachariä 1868, 237 ff.; Vassalli 1869, 219 ff.; Glaser 1869, 87 f.; Wahlberg GZ 1874, 152, 166 und Planck 1857, 248, 357: „Somit hängt es, da das Gesetz abgesehn von jener Befugnis der Antwortverweigerung keine Grenzen gezogen hat, eigentlich nur von dem Willen und Geschick des Vorsitzenden ab, das Verhör mehr oder minder im Geist des frühern Inquisitionsprozesses zu gestalten (...)“.

6. Kap.: Geschichte des nemo-tenetur-Satzes

245

All dies erlaubt die folgende Zwischenbilanz: Durch ein zunehmend konsequentes Verbot zwangsgestaltiger Vernehmungsmethoden enthält die Beschuldigtenstellung, die sich im Verlauf der grundlegenden Prozessreformen ausbildet, eine eingeschränkte selbstbelastungsbezogene Geheimhaltungsoption. Festzuhalten ist zudem, dass sich diese Rechtsidee nicht zuletzt dank der Popularität des angelsächsischen Parteiverfahrens ausbreiten kann. Dennoch wird die These, dass es sich deshalb beim nemo-tenetur-Satz um ein Rezeptionsprodukt handele141, der Komplexität des Vorgangs nicht hinreichend gerecht. Von einer echten Rezeption ließe sich nur reden, wenn die fremden Normen nach ihrer Aufnahme durch den deutschen Rechtsorganismus identisch geblieben wären. Meist bringt ein Rechtsimport aber dort, wo das bisherige Recht mit seiner Systemumwelt diskursiv verbunden ist, einige Turbulenzen mit sich (systemtheoretisch gesprochen: eine Art von „outside noise“), die den vorhandenen Regelbestand ebenso wie die hinzukommende Norm umarrangieren142. Dies geschah auch beim nemo-tenetur-Satz: Indem er auf den Zusammenhang des deutschen, traditionell nicht-akkusatorischen Prozesstyps traf, wurde er von seiner angelsächsischen Kontextuierung (d.h. seiner Einbindung in eine Parteistellung) emanzipiert und in ein inquisitionshemmendes Freiheitsrecht umgeformt. Dass er überhaupt transformiert wurde, gelang obendrein nur deshalb, weil das modernisierte Strafrechtssystem infolge komplementärer Veränderungen in Beweisrecht und Umwelt (neues Wissen; Abschied vom obrigkeitsstaatlichen Gewaltverhältnis) aufnahmebereit war. Jene systeminternen und -externen Bedingungen entwickelten sogar einen untergründigen Sog (oben II.2.), auf den die Reformdebatte mit einem Rekurs auf die fremde nemo-tenetur-Norm nur reagierte. Dass die Selbstbelastungsfreiheit dabei vorerst ein halbiertes Recht 140 Zur Wahrheitspflicht Abegg 1841, 180 ff.; Scheurl 1848, 39; Glaser, ArchCrim NF 1851, 70, 77 f.; Sundelin, GA 1858, 624, 632; Schwarze 1855, 251; Nöllner ZDStV 1841, 36, 57, 65 f. passim. Nach dem Wegfall der Lügenstrafen begründet die Falschaussage des Angeklagten aber keine Sanktionen mehr. Freilich führt man diese Privilegierung bei den Aussagedelikten nicht auf Folterverbot oder Aussagefreiheit zurück, weil hiervon keine Rechte auf aktive Irreführung verbürgt würden. Die Straflosigkeit könne überhaupt nur gewohnheitsrechtlich begründet werden, und sie sei zudem auch praktisch notwendig, da strafbares Lügen nicht von erlaubtem Leugnen unterscheidbar sei (vgl. Liszt 1877, 130 ff.). 141 So v.a. Rogall 1977, 87; ebenso z.B. Böse, GA 2002, 98, 113. Tatsächlich lag die amerikanische Verfassung, die den nemo-tenetur-Satz damals schon enthielt (zu dessen dortigem prozessualen Status Moglen 1997; Salger 1998, 115 ff.), um 1830 in deutschen Übersetzungen vor (vgl. Dippel 1994, 25 f.). Die Strafrechtswissenschaft hatte nemo tenetur zudem im englischen Prozessrecht studiert (exemplarisch die entsprechenden Hinweise bei Mittermaier 1834, 238) und als Grundsatz gerade „britischer Jurisprudenz“ aufgefasst (so Glaser, ArchCrimR NF 1851, 70, 82; ebenso ders. 1869, 87 und bereits Feuerbach 1825, 367: „nemo tenetur prodere se ipsum, wie das englische Rechtssprichwort sagt“). Die Schweigebefugnisse im angelsächsischen Recht waren also nicht nur bekannt, sie wurden vielmehr explizit in den Zusammenhang mit der dortigen Prozessform gestellt. Insoweit muss man einen Wissenstransfer vermuten. 142

Dazu eingehend Teubner 1998.

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Teil 3: Grundfragen

blieb, weil Wahrheitspflicht, Wahrheitsermahnung und die schuldindizielle Schweigeverwertung weiter zum Zuge kamen, ist schließlich der Bremskraft des alltagskulturellen Geständnismusters als wirkmächtiger Umweltbedingung geschuldet (I.3.b) im 5. Kap.).

4. Die reichseinheitliche Einführung der Geständnisfreiheit Die Reichsstrafprozessordnung vollendet den partikularrechtlich begonnenen „liberalen Gestaltungsschub“143. Auch in Fragen des nemo-tenetur-Satzes wirkt sich die in der Reformzeit abgesteckte Markierung direkt auf die reichsrechtlichen Regelungen aus. Beim Erlass der RStPO will man, dies dokumentieren die Gesetzgebungsmaterialien, weder hinter den erreichten Stand des Schweigerechts zurückgehen, noch dessen Ausbau betreiben. So findet sich die endgültige Gesetzesfassung, wonach die Vernehmung des Beschuldigten frei von einer Aussagepflicht vonstatten gehen muss144 und dem Zeugen bei drohender Selbstbelastung ein Aussageverweigerungsrecht zusteht (§ 54 RStPO), bereits in den ersten Entwürfen145. In den Beratungen der StPO-Kommission des Bundesrats herrscht hierzu Konsens146. Was die Kommissionsmitglieder als „Motive“ zur Einlassungsfreiheit ausführen, spiegelt den Stand der Vorjahre. Die Argumentation tradiert die bekannte Grundstruktur, nämlich das Zusammentreffen einer (verdeckten) inquisitorischen Geständnisorientierung und einiger Beschuldigtenrechte: So heißt es, dass vom Verdächtigen kein Beitrag zur eigenen Überführung gefordert werde, weshalb selbst mittelbarer Zwang

143

Blasius 1983, 54.

144

Dies wird jedenfalls indirekt ausgesprochen. So lautet § 136 I 2 RStPO „Der Beschuldigte ist zu befragen, ob er etwas auf die Beschuldigung erwidern wolle“, und § 136 II RStPO spricht von einer „Gelegenheit“, die ihm zur Äußerung zu geben sei. In der Hauptverhandlung soll die Vernehmung „nach Maßgabe“ dieses § 136 erfolgen (§ 242 III RStPO). 145 Vgl. Schubert 1989, 4 ff. zu den wichtigsten Etappen im RStPO-Erlass. Der Inhalt von § 54 RStPO findet sich in allen Entwürfen – in denen des preußischen Justizministeriums von 1870 und 1873 (abgedruckt bei Schubert/Regge 1989, 48 ff., 113 ff.); in der Bundesratsvorlage der StPOKommission Mitte 1873 (a.a.O., 293 ff.); in der Reichstagsvorlage des Bundesrats 1874 (abgedruckt bei Hahn 1881, 4 ff.) und im Entwurf des Reichstags 1876 (a.a.O., 1509 ff.). Die Änderungen bei § 136 RStPO bestanden lediglich in der klarstellenden Einfügung des Abs. I, ohne dass dabei eine sachliche Neuerung beabsichtigt gewesen wäre (vgl. Hahn a.a.O., 701, 1531 f.; Kroth 1976, 140 ff.). 146 Zu einer eventuellen Aussagepflicht des Beschuldigten ist keine Diskussion vermerkt (vgl. Schubert/Regge 1989, 186). Beim Aussageverweigerungsrecht des Zeugen wird lediglich erörtert, ob es nur bei drohender Strafverfolgung oder auch bei sonstigen Nachteilen entstehen soll (bei Schubert/Regge 1989, 165; Motive 1873, 42). I.Ü. gab es auch zu den Mitwirkungsfreiheiten gemäß §§ 95 II, 102 RStPO keine Kontroversen.

6. Kap.: Geschichte des nemo-tenetur-Satzes

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unzulässig und kein Wahraussagegebot normiert worden sei147. Gleichzeitig will man aber die sittliche Wahrheitspflicht nicht schwächen und verzichtet deshalb auf eine Belehrung über das Schweigerecht. Richterliche Wahrheitsermahnungen wähnt man als überflüssig und sieht (nur) deshalb von ihrer Positivierung ab. Schließlich unterstreicht die Kommission, dass der Vernommene durch Schweigen vielfach seine Schuld anzeige148. Dieses zeitgenössische Dogma zur Mitwirkungsfreiheit, das auch die Reichstagsberatungen leitet149, durchbrechen allein jene Stimmen, die gegen das gesamte gemischte Prozesskonzept der RStPO zu Felde ziehen und den Beschuldigten im Zuge einer akkusatorischen Verfahrensumgestaltung gänzlich aus den strafrechtlichen Untersuchungsmitteln herausnehmen wollen. Diese Fraktion lobt in ihren Stellungnahmen zu den RStPO-Entwürfen die dort geregelte Einlassungsfreiheit des Beschuldigten150, wahrt aber Distanz zur kompromisshaften inquisitorischen Geständnisfokussierung des Verhörs151. Ungeachtet dieser Minderheitenposition152 dominiert indes eine Haltung, die nicht von der Beschuldigtenvernehmung und deren Ermittlungsfunktion abgeht153.

147 Die unklare Formulierung in den Motiven kann aber auch als bloßer Verzicht auf die positive Verankerung einer bestehenden Wahrheitspflicht verstanden werden (vgl. Fezer 1993, 668). 148

Zum Ganzen vgl. Motive 1873, 72. Die verdeckte inquisitorische Orientierung des Verhörs in der RStPO (zu ihr ebenso Kruse 2001, 41 ff.) wird zudem durch § 190 II belegt, wonach – i.Ü. gegen den Widerstand von Zachariä (bei Schubert/Regge 1989, 193, 254) – die Beschuldigtenvernehmung in der gerichtlichen Voruntersuchung noch ohne den Verteidiger erfolgt. Der Grund hierfür war die Befürchtung, die Anwälte könnten ihre Mandanten allzu oft von einem Geständnis abhalten (vgl. Motive 1873, 96 f.; beifällig Löwe, § 190 Note 7; kritisch Meyer 1873, 20 f.; Kronecker, ZStW 7, 1887, 395, 420 ff.). 149 Die Reichstagskommission stimmt in ihrem Bericht den Motiven zu. Insbesondere verwirft man den Gedanken, die Beschuldigtenvernehmung strukturell aus dem Beweisgefüge des Strafverfahrens herauszunehmen. Dass dies mit der Bedeutung der Einlassung für die Wahrheitsermittlung begründet wird (vgl. bei Hahn 1881, 1531), bekräftigt die unverändert inquisitorische Haltung gegenüber dem Verdächtigen (dessen Schweigerecht man gleichzeitig betont, vgl. a.a.O., 700 ff.). 150

Vgl. Wahlberg 1873, 66; Heinze 1875, 32 f.; John 1877, 779 f.

151

Vgl. Meyer 1873, 20 f., 43; Gneist 1874, 80 f.; Fuchs 1879, 67; für Ersetzung der richterlichen durch die staatsanwaltschaftliche Vernehmung Stemann 1873, 17 ff.; Wahlberg 1873, 67 f. 152 So verteidigt bspw. Heinze die Vernehmung des Angeklagten zu Beweiszwecken (1875, 23 ff.) – v.a. auch als „Äußerung der Unterordnung unter das Gemeinwesen“ (a.a.O., 26). 153

Wie hier die Einschätzung bei KMR/Lesch, Vor § 133/25 ff.; Böse, GA 2002, 98, 117; ders. 2005, 163. Die Diskussion um die Vernehmungsfunktion reicht bis in die Gegenwart (zusammenfassend Kruse 2001, 35 ff.). Degeners These, die Beschuldigtenvernehmung der RStPO habe originär nur der Gewährung rechtlichen Gehörs gedient (während ihm der Ermittlungszweck erst im 20. Jahrhundert nachträglich angedichtet worden sei, GA 1992, 443, 454 ff.; ähnlich Grünwald, StV 1987, 453 f.; ders. 1993, 61 f.; Bosch 1998, 161 ff.; Meyer-Mews, JR 2003, 361; Schilling 2004, 103 f., 213), verwechselt indes die akkusatorischen Präferenzen einer fleißig publizierenden Schrifttumsabteilung mit der gesetzgeberischen Realisierung. Dafür ist kennzeichnend, wie heftig Henschel – ein wichtiger Gewährsmann Degeners – für seine Deutung des § 136 II RStPO, wo-

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Teil 3: Grundfragen

5. Die Selbstbelastungsfreiheit unter dem Reichsstrafprozessrecht Mit Verabschiedung der RStPO verebbten die Grundsatzdebatten154. Die anstehende Systematisierung des Prozessrechts absorbierte die wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Alle Anstöße zu legislativen (Rand-)Korrekturen, zu denen es um die Jahrhundertwende kam, verliefen im Sande. Zur Selbstbelastungsfreiheit hatten sie sich ohnehin nur nebenbei verhalten155. Vom so genannten Schulenstreit, der viel Aufmerksamkeit auf sich zog, erhielt der nemo-tenetur-Satz ebenfalls keine Impulse. Wiewohl die Vertreter der „modernen Schule“ den Strafprozess als Gegengewicht zu ihrem tendenziell entgrenzten, täterorientierten Strafrechtskonzept begriffen und sich deshalb (wenngleich auf unausgearbeitetem Niveau) der alten liberalen Reformforderungen besannen156, schenkten sie den Mitwirkungspflichten des Beschuldigten kein nennenswertes Augenmerk157.

Auch die zeitgenössische dogmatische Auseinandersetzung mit der positivierten Rechtslage trägt wenig neue nemo-tenetur-Gesichtspunkte bei. Unaufgeregt problematisiert man die Ausgestaltung des Auskunftsverweigerungsrechts der Zeugen158. Obwohl das Geständnis unverändert als wichtiges Beweismittel nach die Vernehmung kein Überführungsmittel sein dürfe, angesichts des eher gegensätzlichen Gesetzestextes und der vorherrschenden Gegenansichten streitet (1909, 18 ff., 48 f., 68 f., 142). 154

In einigen Darstellungen zur RStPO schwingen die alten Debatten nach, etwa zur Beziehung zwischen Aussagepflichten des Beschuldigten und dem Streit um die Prozessform (vgl. Geyer 1880, 540, 547; Vargha 1879, 544 ff.). Vgl. auch Ullmann 1893, 236, 239, der Beschuldigtenrechte und Anklageprozess wie andere vor ihm (oben Fn 133) mit dem neuen Subjektionsverhältnis des Bürgers verbindet (ebenso Henschel 1909, 18 ff.). 155 Zu den Reformversuchen zwischen 1885 und 1908 siehe Intrator 1934; Bolder 1934; Schubert 1991d (vgl. auch ders. 1989, 39 ff.). Die Selbstbelastungsfreiheit wurde allein im Regierungsentwurf von 1908 angesprochen, da man dort dem Zeugen die Geltendmachung eines Auskunftsverweigerungsrechts erleichtern wollte (statt Glaubhaftmachung der Tatsache, wegen der eine Strafverfolgung droht, nur eidesstattliche Versicherung jener Gefahr, vgl. Intrator a.a.O., 37). Außerdem formuliert man für die Beschuldigtenvernehmung klarer, wie sie die Wahrnehmung rechtlichen Gehörs durch bessere Informierung erlauben könnte (vgl. die amtlichen Begründungen zu beiden Punkten bei Schubert 1991c, 107, 117, 452, 474 f. sowie die Anmerkungen von Lilienthal, ZStW 29, 1909, 414, 418, 549, 554 und Henschel 1909, 134). 156 Dies kann indes die fundamentale Differenz zum liberalen Denken nicht überdecken. Das Kaiserreich hatte den minimalistischen Staat durch den Interventionsstaat ersetzt, der die gesellschaftliche Komplexität über gleichermaßen soziale wie repressive Maßnahmen zu bewältigen sucht. Hierzu passt eine täterstrafrechtliche Lehre, die das Strafrecht nach Art der „modernen Schule“ dem Zweckdenken unterwarf (vgl. zum Ganzen Rentzel-Rothe 1995, 135 ff.). Strafprozessuale Liberalität bildet dann lediglich ein Oberflächenkorrektiv. 157 Verschiedentlich lässt die Diskussion der modernen Schule sogar ein therapeutisches Konzept des Beweisverfahrens erkennen, das durch Beschuldigtenrechte keine grundlegenden Grenzen erfahren soll (vgl. die Bemerkungen einiger Referenten bei Aschrott 1906, 331, 384, 445, 455). 158 Dazu Thilo 1878, 58 f.; Kayser 1879, 29 f.; Vargha 1879, 568; Geyer 1880, 519; Kries 1892, 360; Wach GS 1905, 1, 10 ff.; Binding 1904, 161 f.; dort jeweils auch ein Votum für die dahingehende, gesetzlich nicht vorgesehene Zeugenbelehrung (dagegen Stenglein 1887, 182; Rosenfeld 1912, 166; Löwe, § 54 Note 7). Dabei bringt Beling den neuen Akzent des Aussageverweigerungsrechts auf den Punkt: § 54 RStPO erklärt sich nicht mehr über Wahrheitsgefahren durch inte-

6. Kap.: Geschichte des nemo-tenetur-Satzes

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gilt159, zollt man dem Ausschluss des physischen Aussagezwangs gleichermaßen Applaus wie der Aussagefreiheit (die man unterdessen aus § 136 II RStPO erschließt)160. Selbst wenn die Wahrheitspflicht des Aussagenden immer wieder verneint wird161 und manche Autoren sogar die richterliche Ermahnung, der Angeklagte möge Abstand von der Lüge nehmen, für ebenso unzulässig halten wie alle Formen, auf ein Geständnis hinzuarbeiten162, lassen diese leisen Ausbauschritte ein zentrales Aggregat des Aussagezwangs unangetastet: Auf der Beweisebene können aus dem Schweigen oder Leugnen nach wie vor schuldindizielle Schlüsse gezogen werden163. Noch deutlicher zeigen sich die inquisitorischen Züge der RStPO in ihrer Handhabung durch die Strafverfahrenspraxis164. Bedingt durch gesetzgeberische Aktivitäten ressierte Zeugen, sondern durch deren Persönlichkeitsrecht, das mit dem „Interesse an exakter Strafjustiz“ abzuwägen sei (1903, 12 f., 32 ff.). 159

Nach Stenglein dient die Beschuldigtenvernehmung „zunächst Aufklärungszwecken“ (1878, 144). Dafür beruft sich Heinze (1875, 27 f.) auch auf den Normtext: „Soll“ die Beschuldigtenvernehmung „Gelegenheit geben“, sich zu äußern, spräche das für weitere Verhörszwecke (denn anderenfalls hätte man keine derart offene Formulierung gewählt). Zur hervorgehobenen beweisrechtlichen Rolle des Geständnisses vgl. Geyer 1879, 260 ff.; Kries 1892, 394 ff.; Birkmeyer 1898, 406 f.; Rosenfeld 1912, 179. 160

Vgl. Kayser 1879, 29: „universeller Rechtsgrundsatz“. Zur Einlassungsfreiheit auch Löwe, § 136 Note 3; Thilo 1878, 139; Birkmeyer 1898, 336; Beling 1903, 11; Dohna 1913, 110. Mitunter wird sogar die Pflicht zur Angabe der Personalien verneint (vgl. Stenglein 1878, 143; Kries 1892, 397; Rosenfeld 1912, 122). Zudem befürwortet Ullmann 1873, 380 eine fakultative Schweigerechtsbelehrung. Nach h.M. besteht aber keine solche Pflicht (vgl. m.w.N. Kroth 1976, 153 ff). 161 So Birkmeyer 1898, 101; für eine sittliche Pflicht Gneist 1874, 82; Thilo 1878, 139; Ullmann 1873, 380 Fn 1; Holtzendorff 1879, 382; Henschel 1909, 21 f.; für eine lex imperfecta Binding DJZ 1909, Sp. 161, 164; Mezger, ZStW 40 (1919), 152, 162; Dohna 1913, 111. Auf der Basis von § 136 I, II RStPO hält Kronecker die Wahrheitspflicht für unklar (ZStW 7, 1887, 395, 420). Folglich besteht Streit darüber, ob der Verteidiger eine Pflichtverletzung begeht, wenn er den Beschuldigten vom Gestehen abhält (dazu Vargha 1879, 552 f.). Das RMG sah im Leugnen immerhin ein zulässiges Verteidigungsverhalten, das leider oft missbraucht werde und dann strafschwerend berücksichtigt werden könne (vgl. auch Mayer, ZStW 27, 1907, 921, 923 ff.; näher zur damaligen Diskussion Schleutker 1961, 114 ff.; Stalinski 2000, 59 ff.). 162 Vgl. Geyer 1880, 547; Kries 1892, 398; Holtzendorff 1879, 382; Ullmann 1893, 380 f.; Löwe, § 136 Note 3 und 4c.; Henschel 1909, 36 und passim. Für einen „ruhigen Vorhalt der Wahrheitspflicht“ Binding DJZ 1909, Sp. 161, 164 sowie das RG (zitiert bei Henschel 1909, 49, Fn 4) und in der Sache auch Fuchs 1879, 71. 163 So Heinze 1875, 26 f., 34; Thilo 1878, 139; Löwe a.a.O.; Henschel 1909, 20, 119 f.; Rosenfeld 1912, 122 Fn 2; dagegen Geyer 1880, 547 und Ullmann 1893, 381 (der ein dahingehendes Verbot aber für undurchsetzbar hält, a.a.O., Fn 3). Wie das Leugnen (soeben Fn 161) hatte auch das Schweigen eine strafschärfende Wirkung (vgl. RGSt 38, 207; Hauck, ZStW 27, 1907, 926 ff.). 164

Die historische Kriminologie befasst sich kaum mit der Vernehmungsrealität im 19. und 20. Jhdt. Die vorhandenen Erhebungen zeigen allerdings, dass die Modernisierung des Rechts jedenfalls für die unteren Schichten eine Zunahme an Verständigungsproblemen und Entfremdung vor Gericht bedeutete (so m.w.N. Habermas, Rg 2003, 128, 141 f.), sodass ein erheblicher Teil der Beschuldigten von den bestehenden nemo-tenetur-Rechten kaum Gebrauch gemacht haben dürfte (kennzeichnend dafür die Aktenanalysen von Overath 2001, 225 ff.: oftmalige Geständnisablegung

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Teil 3: Grundfragen

und eine größere Verfolgungsdichte ist die registrierte Kriminalität während der Reichsperiode im Ansteigen begriffen165. Dass sich die intensivierte Ermittlungswirklichkeit unentwegt um den Verdächtigen als maßgebliches Ausforschungsobjekt gruppiert, verwässert die reale Mitwirkungsfreiheit. Wenn der Untersuchungsführer tunlichst „darauf bedacht sein soll, vom Beschuldigten ein Geständnis zu erhalten, da dieses von allen Beweismitteln das vorzüglichste“ sei166, trifft es sich gut, dass sich die Polizei an § 136 RStPO nicht gebunden fühlen muss167. Wiewohl man Beleidigungen, Drohungen, Versprechungen und Zwang für unzulässig erachtet, behält man sich „Einwirkungen auf das Gemüt“ und „kleine Kriegslisten“ vor168. Die prozessrechtlichen Vorgaben werden hierbei nicht gebrochen, denn sie sind noch von einer Unentschlossenheit, in der das Zwielicht der Praxis angelegt ist169.

Auch unter der RStPO kulminiert der Kampf von Geheimhaltungs- und Geständnismuster am Schauplatz des Verhörs. So erstaunt es wenig, dass man den nemo-tenetur-Satz mit dem Schweigerecht assoziiert. Dennoch gewinnt ein stiller Interpretationsvorgang an Fahrt, der neue Aspekte in diese Rechtspositionen hineindenkt. Dies ist nicht zuletzt ein Effekt modernisierter Ermittlungspraktiken170. So differenziert sich um die Jahrhundertwende eine an Sicherheit und Verbrechensbekämpfung orientierte Kriminalpolizei heraus, die der aufkommenden Großstadtkriminalität als spezialisierte Institution und mit einer weiter entwickelten wissenschaftlichen Kriminalistik entgegentritt171. Dass sie den Beals Folge äußeren Drucks und inneren, meist religiös begründeten Schuldgefühls; verbreitet habe sich aber auch aktives Verteidigungsverhalten nachweisen lassen, dass sich allerdings der vorhandenen prozessualen Instrumente in keiner Weise zu bedienen wusste). 165

Dazu näher Galassi 2004, 89 ff.

166

Schneickert 1927, 178. Im Schrifttum beklagen viele das Hinarbeiten der Praxis auf ein Geständnis, bspw. Rosenblatt, GA 1883, 446; Henschel 1909, 50 ff.; dazu auch Degener, GA 1992, 443, 458. 167 Dessen Bestimmungen waren nach h.M. nur an Gerichte adressiert (dazu Weingart 1904, 10; Kley 1929, 155 und noch Wilhelm 1947, 82 f.; zusammenfassend auch Kroth 1976, 151). 168 So Weingart 1904, 12 ff.; Wilhelm 1947, 83; Schneickert 1927, 179, 184 f.; für eine sich perfektionierende Vernehmungspsychologie stehen etwa Groß 1905, 36 ff., 130 ff.; Mezger, ZStW 40 (1919), 152 ff.; Liepmann, ZStW 44 (1924), 647 ff. 169

Aufschlussreich hierfür sind auch die straf- und standesrechtlichen Probleme, die sich ein Rechtsanwalt durch die „Rathserteilung an den Klienten, sich zur Sache nicht auszulassen“, einhandeln konnte (Fallstudie bei Falk 2000, 112 ff.). 170 Diese Entwicklung liegt im Zug der Zeit. Um die Wende zum 20. Jhdt. pflegt man ein pathologisches Bild des Verbrechers, dessen Schuldeinsicht als Element des Geständnisses widernatürlich erschien. Weil es bei ihm deshalb nur noch um die Tatrekonstruktion gehen konnte, mussten die sächlichen Beweismittel gegenüber dem Beschuldigtenverhör an Bedeutung gewinnen (vgl. Becker 2002, 286). 171 Auch wenn die Realität des polizeilichen Alltags schon wegen einer mangelhaften technischen Ausstattung weit hinter den Vorstellungen der aufkommenden wissenschaftlichen Kriminalistik zurückblieb (dazu Wagner 1996, 98), darf dieser polizeiliche Entwicklungsschub nicht unterschätzt werden. Er ist eingebettet in „die ‚Verwissenschaftlichung des Sozialen‘ in den Diskursen und Praktiken der Mediziner, Hygieniker und Statistiker des späten 19. Jahrhunderts“ (Becker

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schuldigten bei einigen ihrer neuen Methoden zunehmend auch außerhalb des Verhörs in Beschlag nimmt, stimuliert eine (zaghafte) Ausdehnung der Selbstbelastungsfreiheiten. Aufschlussreich hierfür ist die Regelung zur Editionspflicht (§ 95 RStPO). Deren Normtext nimmt vom Herausgabegebot nur zeugnisverweigerungsberechtigte Personen aus, nicht aber den Beschuldigten. Offenbar sah man zunächst noch keinen Anlass, den Verdächtigen ob seiner Selbstbezichtigungsfreiheit von dieser nonverbalen Aktivmitwirkung ausdrücklich freizustellen172. Dass diese Formen der Selbstüberführung allerdings dem Verbalgeständnis sehr bald analogisch gleichgesetzt werden, ist vermutlich auch dem sich häufenden Ermittlungszugriff auf sächliches Beweismaterial geschuldet. Was man in den Vorjahren nur gelegentlich vertreten hatte, dass nämlich der Gehalt von nemo tenetur in einem generellen Passivrecht bestehe, wird jetzt allgemein akzeptiert und begründet eine enge Auslegung der Herausgabenorm173. Zwänge zur nonverbalen Selbstbezichtigung, die bei der Sachbeweiserhebung obwalten können (oben III.1. in Kap. 1), finden also nach und nach die verdiente Beachtung174. Ohne nähere Auseinandersetzung bürgert sich dabei indes das Dogma ein, wonach der Beschuldigte lediglich vor Aktivpflichten zu bewahren sei175. Hiergegen regen sich allenfalls einzelne Bedenken176. Und überhaupt noch kein Prob-

2002, 11) und verläuft in den Diskussionen zur Kriminaltaktik (dazu Groß/Geerds 1977, 52 ff.), zum Erkennungsdienst und der Daktyloskopie (hierzu Kube 1964, 131 ff.; Wehner 1983, 21 ff.; Lindenberg 1996; Regener 1999, 131 ff.; Vec 2002) und zur Blutgruppenbestimmung oder zum Alkoholnachweis (vgl. Klaus 1933, 61 ff.) sowie zu sonstigen neuen Methoden (Darstellung bei Vec a.a.O., 19 ff., 80 f.). 172

Die Protokolle und Motive der RStPO schweigen zu diesem Punkt.

173

Dazu etwa Löwe, § 95 Note 2 f. und schon vor Erlass der RStPO neben Mittermaier (zu seiner Position Austermühle 2002, 124) auch Planck (1857, 238). Kennzeichnend dafür die Argumentation bei Rosenfeld 1912, 182: „Eine (…) Pflicht zu positivem Tun führt StPO 95 II in doppelter Form ein: Pflicht zur Vorlegung (Exhibition) und zur Auslieferung (Edition). Sie wird nach Analogie der Zeugnispflicht behandelt, woraus folgt, dass diese sog. Editionspflicht für den Beschuldigten nicht besteht.“ (Herv. R.K.). 174 Breit diskutiert wird die Frage, ob der Beschuldigte zu Schriftproben gezwungen werden könne (vgl. Planck 1857, 240; Stenglein 1887, 226; Kries 1892, 392; Vargha 1907, 260). Seine Vermessung und Registrierung muss er nach h.M. hinnehmen (dazu Vec 2002, 102 ff.). 175 Dass nemo tenetur vor Passivpflichten nicht bewahre, betonen Planck 1857, 224, 249; Liszt 1877, 131; Kries 1892, 289 f.; Löwe, § 86 Note 3a., ohne dafür eine Begründung zu geben. Offenbar ist dies eine Folge der angesprochenen Analogisierung: Soll sich der Schutz der verbalen Selbstbezichtigung auf die nonverbale Selbstbelastung ausdehnen, müsse es sich dort wie beim Gestehen um ein Tun handeln. 176 So etwa bei Vargha, der davon ausgeht, dass Beschuldigte weder unmittelbar noch mittelbar zu irgendeiner aktiven/passiven („redenden oder stummen“) Mitwirkung an ihrer eigenen Überführung gezwungen werden dürfen (1879, 357). Nach Birkmeyer (1893, 377) habe die RStPO diverse Duldungspflichten „entgegen der Regel“ des nemo-tenetur-Satzes positiviert.

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Teil 3: Grundfragen

lembewusstsein entwickelt sich für andere Formen des Staatshandelns, die den Geständniszwang feinsinnig substituieren: – Die hier zugehörigen heimlichen Ermittlungsmethoden (III.2. in Kap. 1) waren in ihrer technisch observierenden Unterart in der seinerzeitigen Infrastruktur kaum denkbar. Der verdeckte Personeneinsatz (eingeschleuste Polizeibeamte, Vigilanten, Lockspitzel) zählte indes von Anbeginn zum kriminalpolizeilichen Ermittlungsarsenal177. Obwohl das Normprogramm dergleichen nicht vorsah, schienen solche Nachforschungen von einer selbstverständlichen Zulässigkeit zu sein, weil sie die körperliche und sächliche Sphäre des Betroffenen unberührt ließen, während der von ihnen verkürzte Geheimnisschutz kaum ausgeprägt war178. Da sich aber auch niemand bereit fand, die reale polizeiliche Heimlichkeit an nemo tenetur zu messen179, hat seinerzeit offenbar ein Verständnis vorgeherrscht, das die Selbstbelastungsfreiheit unausgesprochen mit einer Freiheit von Zwang identifizierte180.

177 Dazu die Studie von Roth 1997, 284 ff.; vgl. auch Riehle, KrimJ 1984, 44 f.; Wagner 1996, 95 f. und Becker 2002, 64 ff. (illustrativ hierzu auch Regener 1999, 125 mit dem Foto einer Polizistengruppe, die für Vigilantendienste im Kriminellen-Outfit ausstaffiert war). Die Kriminalpolizei kennt „Spezialbeobachtungen“, um bei „geplanten Verbrechen die allmähliche Entwicklung zu beobachten und dann im richtigen Augenblick einzuschreiten“ (Weingart 1904, 36). Das erfordert, dass man mit dem Verdächtigen „in unmittelbare persönliche Berührung kommt, um ihn zum Sprechen zu bringen und um Vorgänge zu beobachten, die sich nur bei näherem Verkehr wahrnehmen lassen“ (a.a.O., 39). Solche Techniken beklagt das RG als allgemein üblich (bei Kohlrausch, ZStW 33, 1913, 688, 694), für andere entsprechen sie einer „gesunden Praxis“ (Hellwig, ArchKAK 18, 1905, 216, 222; für ihre Intensivierung z.B. Anonymus, ZStW 6 (1886), 522 ff., 537 f.). Das kriminalistische Schrifttum äußert sich zur Legitimität und Praktikabilität meist zustimmend (zur damaligen Debatte vgl. Teufel 1983, 152 ff.; Becker 2000), zumal diese Methoden auch international geläufig sind (für Frankreich und England vgl. Marx 1988, 17 ff.). 178 Der Schutz des individuellen Geheimbereiches war deutlich geringer ausgeprägt als die „physischen“ Gewährleistungen (zum Ganzen Dencker, StV 1994, 667, 677 ff.). Familiäre und häusliche Bereiche wurden von der deutschen Staats- und Polizeirechtswissenschaft zwar seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts diskutiert (dazu Austermühle 2002, 36 ff.), doch erhielten sie erst mit den Reformgesetzen eine gewisse rechtliche Gestalt – allerdings gleichsam nur als Rückseite der immer präziser werdenden Regelungen zur Durchsuchung, Beschlagnahme und Zeugnispflicht (a.a.O., 114 ff., 173 ff.). Auf die längste Tradition und die gründlichste Anerkennung kann insofern das Postgeheimnis verweisen (a.a.O., 59 ff., 91 ff., 111 ff.), sodass es kein Zufall ist, dass die Postbeschlagnahme gemäß § 99 RStPO die einzige ausdrückliche Befugnis zu heimlichen Ermittlungen in der RStPO darstellt. 179 Ohne expliziten Zusammenhang mit nemo tenetur aber Vargha 1907, 243: „Auch den Sicherheitsorganen, sowie allen öffentlichen Beamten und Dienern ist es verboten, selbst oder durch insgeheim bestellte Personen einen Verdächtigen zu Geständnissen zu verlocken, die dann dem Gerichte hinterbracht werden sollen.“ 180 Zusätzlich bestätigt wird dies durch die Diskussion listiger Vernehmungspraktiken, die man lediglich wegen ihrer Wahrheitsgefährdungen hinterfragte (vgl. etwa Geyer 1879, 262, 264; ders. 1880, 723; Ullmann 1893, 386; eher auf den Vernehmungszweck orientierend Vargha 1907, 242; Rosenfeld 1912, 123).

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– Gleichzeitig war es nunmehr möglich, dass sich der Bürger außerhalb des kriminalistischen Bereichs zur Mitteilung verfänglicher Informationen gehalten sah, da der Interventionsstaat in den verschiedensten gesellschaftlichen Feldern seine Auskunft begehrte (oben IV.2. in Kap. 1). Die dafür paradigmatische Zeugnispflicht wurde zwar unter allgemeinem Beifall seit langem durch ein Aussageverweigerungsrecht eingeschränkt, doch die Generalisierbarkeit dieser Konstellation war zunächst noch niemandem gegenwärtig. Außergerichtliche Geständnisse wurden daher auf ihre Beweiskraft befragt, ohne auf ihr womöglich normbedingtes Zustandekommen einzugehen181. Als die Judikatur den Konflikt zwischen Selbstbelastungsfreiheit und außerstrafrechtlichen Auskunftspflichten schließlich wahrnahm182, pflegte sie eine restriktive Deutung, die dem nemo-tenetur-Satz eine verfahrensübergreifende Schutzwirkung absprach183. Die Reichs-Abgabenordnung als erstes bedeutsames Verwaltungsverfahren mutete dem Steuerpflichtigen folglich auch gehörige selbstbelastungsrelevante Mitwirkungspflichten zu184.

6. Weimarer Zeit und Nationalsozialismus Auf der Gesetzesebene bleibt es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beim erreichten Bestand an Mitwirkungsfreiheit. Der wesentlich von Goldschmidt geprägte „Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen“ (1919/20) hätte den weiteren Ausbau allerdings beträchtlich vorangebracht. Er beabsichtigte die erneute Gesamtrevision des Verfahrens, vornehmlich durch einen stärker akkusatorischen Zuschnitt185. Mit Vorbedacht billigten deshalb §§ 35 II, 233 III des Entwurfs dem Beschuldigten ein ausdrückliches Schweigerecht zu, worüber man ihn bei jeder Vernehmung zu belehren habe. 181

Repräsentativ Birkmeyer 1893, 458.

182

So in einem Urteil des KG vom 25.4.1904, das eine straßenverkehrsrechtliche Auskunftspflicht in einer Polizeiverordnung wegen des von ihr entwickelten Selbstbelastungszwangs für nichtig erklärte (zitiert nach Wolany, DAR 1965, 309 f.). Das Problem reflektierte auch RGSt 37, 74 f.; 45, 97, 102. 183 Vgl. RGSt 60, 290 ff. und noch die gesamte, von Sautter (AcP 1962, 215, 240 ff.) zusammengefasste Zivil-Rspr. der Nachkriegszeit. Auch die Strafbewehrung einer selbstbelastungsrelevanten außerstrafprozessualen Auskunftspflicht erweckte keine reichsgerichtlichen Bedenken (vgl. RGSt 68, 286, 288 f.). 184

Ein Auskunftsverweigerungsrecht hatte nur der Dritte (§§ 177, 178 RAO). Bei der Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen schloss § 403 RAO lediglich die Erzwingbarkeit aus, und auch dies erst nach Einleitung eines Steuerstrafverfahrens (dazu Reiß 1987, 25 f.). 185 Dies sollte durch Abschottung der richterlicher Entscheidung (Hauptverhandlung) von der Verbrechensermittlung (Voruntersuchung) und erweiterte Parteirechte des Beschuldigten erreicht werden (zum Rückbezug auf die Reformliteratur vgl. Goldschmidt, ZStW 40, 1920, 569, 591; eingehend zum Entwurf Rentzel-Rothe 1995).

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Teil 3: Grundfragen

Dieser Punkt war – ungeachtet der umfassenden Kritik, der sich der Entwurf ausgesetzt sah – einer Zustimmung fähig. Heftig abgelehnt wurde jedoch der Vorschlag, wonach eine frühere Einlassung des Beschuldigten nicht verlesen und verwertet werden dürfe, wenn dieser in der Hauptverhandlung die Aussage verweigere (§ 236 I). Durch eine solche Ausweitung des Schweigerechts sah man die Axt an die inquisitorische Wurzel des Verfahrens gelegt, wodurch – so fürchtete der Kritikerchor – die Geständniserzielung und Strafverfolgung in Lähmung verfallen würden186. Der Entwurf scheiterte. Bestand hatte daher auch das Kompromissdogma zur Beschuldigtenstellung187: Der Verdächtige unterlag keinem Geständniszwang, aber lieferte durch Schweigen und Leugnen ein Schuldindiz und einen Strafschärfungsgrund188.

In eine widersprüchliche Richtung weisen später die Vorgänge nach 1933. Der bis dahin quantitativ ansteigende und sich qualitativ verschärfende Kriminalitätsanfall geht im Nationalsozialismus zurück189. Seinen Anteil daran hat gewiss auch ein rigoroses Strafrecht, das sich in einem neuen Staat-BürgerVerhältnis nunmehr ausschließlich dem Gemeinnutzen verpflichtet fühlt. Von daher war jedes Tatverdeckungsstreben suspekt. So ist es kein Zufall, dass die noch heute auffälligsten Strafdrohungen für postdeliktische Verdunklungsakte (§§ 142, 211 StGB) ihre Gestalt der damaligen Gesetzgebung verdanken190. 186

Der Vorschlag hätte i.E. die freie Beweiswürdigung mit einem verbindlichen Geständniswiderruf konfrontiert. Dem Beschuldigten wäre es möglich gewesen, bspw. auch seine Einlassung, die durch heimliche Ermittlungsmethoden gewonnen wurde, auf einfache Weise zu beseitigen (zur Entwurfsregelung und ihrer Kritik vgl. Hippel, ZStW 40, 1920, 325, 356 f.; Goldschmidt ZStW 40, 1920, 569, 599 ff. sowie die Quellen bei Herrmann 1971, 86 ff.; Rentzel-Rothe 1995, 88 f., 222; vgl. auch Bährle 1993, 52 ff.). 187

Die Lex Emminger als nächste größere Strafprozessreform bewirkte v.a. gerichtsverfassungsrechtliche und Zuständigkeitsänderungen sowie eine Lockerung des Legalitätsprinzips. Für nemo tenetur hatte sie ebenso wenig Bedeutung wie die Eingriffe der Justizbürokratie im Wege der Notverordnungen am Ende der Weimarer Republik. 188 Repräsentativ OLG Hamburg GA 1930, 315 und Hirschberg, MschrKrimPsych 1929, 337, 340 ff.; vgl. auch Kley 1929, 154 f.; Kohlrausch JW 1925, 1440, 1441; Wulffen 1926, 272, 283; Gerland 1927, 237; Beling 1928, 306, 309 f.; Becker 1948, 51. Kennzeichnend Liepmann, ZStW 44 (1924), 647: Der Beschuldigte habe ein Schweigerecht (668). Daher könne Leugnen die Strafe nicht erhöhen (680), wohingegen die Lüge nur wegen forensischer Erfahrungen kein Schuldindiz abgäbe (662 f.), wohl aber das Schweigen (669 f.). Der Richter solle unter Beachtung bestimmter Klugheitsregeln eine Aussage des Beschuldigten erwirken (664 ff.), dürfe aber weder drängen, noch drohen, sondern nur den Rat zur Aussage geben (671 ff.). 189 190

Dazu und zu möglichen Gründen Terhorst 1985, 9 ff., 98 f.; Wagner 1996, 26 ff., 214 ff.

Die im KraftfahrG von 1909 geregelte Pflicht, nach einem Verkehrsunfall diverse Feststellungen zu erlauben, wurde 1940 in das RStGB überführt (§ 139a RStGB), inhaltlich ausgedehnt und mit verschärften Sanktionsdrohungen versehen (zur Gesetzgebungsgeschichte von § 142 StGB zuletzt wieder Steenbock 2004, 13 ff.). Dies geschah, um der „sittlichen Pflicht zur Aufklärungshilfe“ als „Gemeingut aller gemeinschaftstreudenkender Volksgenossen“ Genüge zu tun (Freisler, DJ 1940, 525, 528). Auf eine Meldepflicht des Unfallverursachers wurde nur deshalb verzichtet, weil ein solches Verlangen „einfach nicht durchgesetzt werden könnte“ (Freisler, a.a.O., 529). Fast zur gleichen Zeit kam es bei der Neuregelung des Mordtatbestandes auf Intervention der NSDAP und des Oberkommandos der Wehrmacht zur Erfassung der Verdeckungsvariante, auf den die meisten

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255

Aus der nationalsozialistischen Gemeinschaftsideologie entsprang darüber hinaus „eine Auffassung des Verfahrensrechts, der der Inhalt höher steht als die Form“191. Neben den bekannten Phänomenen (Gleichschaltung und Ideologisierung der Justiz, Volksgerichtshof) führte dies zu einigen Gesetzesnovellen, von denen die Justizförmigkeit des prozessualen Vorgehens gelockert wurde192. Die Aussage- und Mitwirkungsfreiheit blieb dagegen unangetastet193. Anlässlich der Vorbereitung einer Gesamtreform diskutierte man ihre Problematik nur am Rande, ohne die lex lata ernsthaft verändern zu wollen194. Dafür spendete auch die Rechtswissenschaft Beifall195. Sicher zirkulierte dort eine Auffassung, dass Entwürfe zur Abänderung des § 211 RStGB ursprünglich verzichtet hatten (dazu Zwiehoff, JZ 2002, 343; vgl. auch Weiß 1997, 180 ff.). 191 Gleispach 1943, 14. Ein autoritärer Staat muss sich mit einem liberalen Strafprozessrecht schwer tun. Beschuldigtenrechte sind für das Programm einer gemeinsamen Wahrheitsfindung tendenziell hinderlich (zu diesem Zusammenhang z.B. Koch 1972, 27 ff.; Luge 1991, 22 ff.; vgl. auch Terhorst 1985, 19 ff.). 192 Vgl. zusammenfassend Rüping 1994, 239 f.; Oehler 1997, 52 ff. zu den Bereichen, in denen so die Rechtsstellung des Beschuldigten vor den Straf- und v.a. den Sondergerichten verschlechtert wird. Speziell gegen den „Gewohnheitsverbrecher“ richten sich daneben die neuen Formen der vorbeugenden Kriminalitätsbekämpfung (Vorbeugungshaft und so genannte planmäßige Überwachung; zur Praxis vgl. Wagner 1996, 198 ff., 254 ff.). 193 Durch das GewohnheitsverbrecherG von 1933 wird aber – unter Verwendung früherer Entwürfe (zu ihnen Klaus 1933, 105 ff.) – § 81a RStPO eingeführt. Die dort enthaltene Mitwirkungspflicht des Beschuldigten ist teilweise neu. Körperliche Untersuchungen (keine körperlichen Eingriffe!) ließ die Rspr. auch vorher schon zu – als Fall der Durchsuchung, während die Literatur meist Augenscheinsregeln anwandte (zum seinerzeitigen Streit Klaus a.a.O., 12 ff.; zusammenfassend Kopf 1999, 143 ff.). 194 Vgl. Koch 1972, 169 ff.; Schubert 1991, VIII f. zur Geschichte der Reformprojekte in der NS-Zeit. Die amtlichen Entwürfe (abgedruckt bei Schubert 1991) enthielten keine ausdrückliche Regelung zur Mitwirkungsfreiheit des Beschuldigten. Nur der erste Entwurf von 1936 sah, was später aufgegeben wurde, in § 148 den Hinweis vor, dass eine wahre Aussage erwartet wird und Lügen u.U. strafschwerend wirken. Die amtliche Begründung zu § 152 im E 1939 (abgedruckt a.a.O., 372 ff.) spricht von einer sittlichen Pflicht des Beschuldigten zur wahren Aussage, die man nicht habe positivieren wollen (dazu aus der Gesetzgebungskommission Niethammer 1938, 154, 156; Freisler 1938, 22 sowie die Beratungsprotokolle bei Schubert 1991a, 23; vgl. zur Einführung einer zivilprozessualen Wahrheitspflicht Stalinski 2000, 13). Wenn das Strafverfahren zwar der völkischen Gemeinschaft, aber auch der Entsühnung des Angeklagten diene, könne er nicht bloßes Objekt sein. Daher hieße es aus Kommissionssicht, „die Dinge überspannen, wollte man aus der Betrachtung des Strafverfahrens als einer Funktion der Gemeinschaft gegenüber dem Beschuldigten die Forderung herleiten, dass er zu seiner eigenen Überführung beizutragen habe“ (Lautz 1938, 112). Dem Zeugen wurde bei Gefahr der Selbstbelastung in allen Entwürfen ein Aussageverweigerungsrecht eingeräumt. Lediglich im E 1937 sah man in § 154 die Möglichkeit vor, ihn auch dann zu einer unerlässlichen Aussage zu zwingen, wenn die Selbstbelastung im Vergleich zur Bedeutung der Sache gering ist (dazu aus der Kommission Töwe 1938, 223 f. sowie die Protokolle der Kommissionsberatungen bei Schubert 1991a, 300 ff.; ders. 1991b, 123 ff.). 195 Leitsatz Nr. 8 der Denkschrift des NS-Rechtswahrerbundes zur „Neugestaltung des Strafverfahrensrechts“ von 1937 (abgedruckt bei Schubert 1991, XVIII ff.) lautet: „Den Beschuldigten trifft keine Wahrheitspflicht.“ Der strafprozessrechtliche Ausschuss der Akademie für Deutsches Recht votiert in seinen Stellungnahmen (abgedruckt bei Schubert 1998, 284 ff., 519 ff.) für eine

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Teil 3: Grundfragen

der Einzelne als Gemeinschaftsglied nach der neuen Soziallehre sein eigenes Verfahren zu fördern habe und dass deshalb de lege ferenda eine Beschuldigtenpflicht zur wahren Einlassung einzuführen sei196. Diese Stimmen fanden jedoch keinen Anklang und verstummten Ende der 30er Jahre 197. Nach Maßgabe der fortbestehenden Rechtslage wird die Praxis eigens angehalten, bei richterlichen und staatsanwaltlichen Vernehmungen das Zwangsmittelverbot zu achten198. In einigen rechtsfreien Räumen erlebt die Folter dennoch eine merkliche Renaissance. So greift vor allem im geheimpolizeilichen Verhörsalltag eine zunächst regellose „verschärfte Vernehmung“ um sich199, die später durch Heydrich per Erlass geordnet und mit einem halbrechtlichen Anstrich versehen wird200. Dass man die Tortur in den Protokollen und Akten

sittliche Wahrheitspflicht des Beschuldigten, die aber nicht zu einer prozessualen und durch Sanktionen abgesicherten Pflicht ausgestaltet werden dürfe. Das war nach den Diskussionsprotokollen zwar keine einhellige, aber die überwiegende Meinung der Ausschussmitglieder (wobei freilich diese Mehrheit in der Wahrnehmung des Schweigerechts ein Schuldindiz sahen, vgl. die Quellen bei Schubert a.a.O., 428 ff., 435 ff.). Auch das Aussageverweigerungsrecht des Zeugen wurde im Ausschuss nicht in Frage gestellt (vgl. die Diskussionsprotokolle a.a.O., 596, 612, wo man nur vereinzelt die Einschränkung des § 55 RStPO in Fällen besonders wichtiger Aussagen erwog). 196 So neben Siegert, ZStW 54 (1935), 14, 23 f. v.a. Henkel, DJZ 1935, Sp. 530, 535: Die Beschuldigtenmitwirkung sei „so zu gestalten, dass sie im größtmöglichen Umfang die Wahrheitsfindung ermöglicht und fördert, keinesfalls dagegen die Wahrheitserforschung hemmen und vereiteln darf.“ Verglichen mit dieser „Bindung an die Verfahrensaufgabe“ käme § 136 RStPO einem „Boykott der Strafrechtspflege“ gleich. Einführen müsse man vielmehr eine Erklärungs- und Wahrheitspflicht, zumal hierdurch dann auch die gerichtspraktische Berücksichtigung von Lügen als Schuldindiz plausibel werde (Sp. 538; ähnlich ders. 1943, 249 m.w.N. auch zur vereinzelten Diskussion um Lügenstrafen). 197 In vollem Umfang für den status quo etwa Niederreuther, GS 109 (1937) 64, 81 f.; Engelhardt, ZStW 58 (1939), 335, 343; Schaeffer/Hinüber 1936, 35 f., 49, 96; Gleispach 1943, 97, 145; Schmidt 1944, 292 ff.; Hippel 1941, 276 f., 417 (der es sogar als „durchaus herrschende Ansicht“ bezeichnet, dass sogar Angaben zur Person nur freiwillig seien, a.a.O., 423). Zur Diskussion auch Koch 1972, 121 f.; Stalinski 2000, 13 ff. 198

So Nr. 70 der Richtlinien für das Strafverfahren v. 13.4.1935 (dazu Wodrich 1961, 179 f.; Luge 1991, 121; Oehler 1997, 60). 199 Dazu Reemtsma 1991, 257 und die Aktenanalysen bei Luge 1991, 116 ff.; Rusinek 1992, 116 ff.; Tuchel 1995, 379 ff.; Dörner 1998, 111 ff.; Oehler 1997, 190. Vielfach geht es bei der Tortur indes gar nicht um eine inquisitorische Wahrheitsaufklärung, sondern um die bloße Herrschaftsausübung (vgl. Sofsky 1997, 87). 200 Die Erlasse vom 1.7.1937 und 12.6.1942 sollen die verschärfte Vernehmung steuern und vereinheitlichen. Die Folter wird an bestimmte Voraussetzungen gebunden (keine freiwillige Aussage, Notwendigkeit zur Aufdeckung v.a. fremder schwere Delikte und Deliktsvorhaben), das Genehmigungsverfahren und dessen Ausnahmen werden geregelt, ebenso Vollzugsformen (Stockschläge) und andere Modalitäten (instruktiv dazu Wodrich 1961, 173 ff.; Wehner 1983, 196 f.; Tuchel/Schattenfroh 1987, 175 ff.). Die Folter ist i.Ü. auch Gegenstand der Beratungen zwischen Gestapo und Reichsjustizministerium (dazu Blasius 1983, 137).

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zugleich mutwillig verschweigt201, macht sie zu einem Phänomen des nationalsozialistischen „Doppelstaates“ (Fraenkel). Offenbar, so muss man das Nebeneinander von Heimlichkeit der Folter und demonstrativer Aufrechterhaltung einer offiziellen Aussagefreiheit deuten, hatte sich der nemo-tenetur-Satz bereits so weit konsolidiert, dass man seine Kernbereiche nicht ohne Akzeptanzverluste (beim Publikum wie beim Strafverfolgungsstab) beseitigen konnte.

7. Strafprozessgesetzgebung nach 1945 Die Nachkriegsgesetzgebung macht sich den vor-nationalsozialistischen Bestand an Selbstbelastungsfreiheit zu Eigen. Den neuerlichen Vorschlägen, akkusatorische Elemente bei der Beschuldigtenbefragung sowie im gesamten Verfahren stärker zu gewichten, schenkt sie dagegen kein Gehör202. Jedoch wertet das VereinheitlichungsG von 1950 die Mitwirkungsfreiheit auf und führt § 136a StPO ein. Ohne damit einen substanziellen Rechtsausbau zu bezwecken, will man die ohnehin konsentierte Ablehnung bestimmter Vernehmungsmethoden nach den Erfahrungen der NS-Zeit durch ein eigenes Verbotsgesetz ikonografisch untermauern203. Bei dieser Gelegenheit war überdies angeregt worden, § 136 StPO um eine Belehrungspflicht zu ergänzen. Realität wurde dieser Vorschlag, den man mangels genügender Vorbereitungen zunächst zurückgestellt hatte204, mit der StPO-Reform von 1964. Die Neuregelung sollte indes nur geringfügig über die reichsstrafprozessuale nemo-tenetur-Dogmatik hinausgehen. Im Glauben an eine sittliche Wahraussagepflicht wollte der Gesetzgeber den Beschuldigten über sein prozessuales Recht zum Schweigen informieren205, ohne an der schuldindizierenden Verwertbarkeit des Schweigens zu rühren206. Erst 201 Zur Korrektheit in den Vernehmungsprotokollen Rusinek 1992, 113. Die Folter wurde bis 1942 verheimlicht, weil nach 1933 einige Gerichte die erpressten Geständnisse nicht anerkannt hatten (dazu Tuchel/Schattenfroh 1987, 176). 202

Zu dieser Nachkriegsdiskussion im Detail Herrmann 1971, 110 ff.

203

Die Gesetzgebungsmaterialien sprechen vom Willen zu einer entschiedenen, aber deklaratorischen Stellungnahme gegen die Gestapo-Folter und gegen seinerzeit diskutierte psychischtechnische Methoden der Wahrheitserforschung (vgl. Verhandlungen des BT, Sten. Berichte Bd. 4, 2882; dazu auch Schmidt 1967, § 136a/3; SK-StPO/Rogall, § 136a/1 f.). Zu der Belehrungspflicht, die in § 55 II StPO ebenfalls mit dem VereinheitlichungsG eingeführt wurde, sind in den Materialien keine Begründungen auffindbar. Soweit es überdies zu einer Neuregelung von §§ 81a, 81c StPO kam (die man nur vereinzelt als Selbstbelastungszwang kritisierte, vgl. Sauter, AcP 1962, 215, 248 Fn 194), war damit für nemo tenetur keine inhaltliche Änderung verbunden. 204

Vgl. Verhandlungen des BT, Sten. Berichte Bd. 4, 3072.

205

Dies fand ein geteiltes Echo (zur Furcht vor belehrungsbedingten Effektivitätsverlusten vgl. Dahs/Wimmer, NJW 1960, 2217, 2221 f.; Schmidt, NJW 1968, 1209, 1213 f.). 206 So die Begründung zum Regierungsentwurf in BT-Drucks. 3/2037, 31; BT-Drucks. 4/178, 32. Zur Gesetzesgenese Schmidt 1967, § 136/2 ff.; Kroth 1976, 165 f., 196 ff.; Bährle 1993, 55 ff.

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Teil 3: Grundfragen

ein Jahr später wurde dieser Anker eines strukturellen Mitwirkungszwangs vom BGH ein gutes Stück gehoben (und im weiteren Verlauf auf die Beweisverwertung des Teilschweigens reduziert)207. Die weitere nemo-tenetur-Entwicklung in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte geht aus Kapitel 1 hervor208: Verglichen mit den reichsstrafprozessualen Anfängen ist die inquisitorische RestEinbindung des Beschuldigten dabei stark reduziert, seine Mitwirkungsfreiheit dagegen gehörig ausgedehnt worden (ohne ihn aber aus der amtlichen Wahrheitsermittlung gänzlich herauszuhalten). Im Staat der Gegenwart fällt darauf allerdings doch wieder ein breiter Schatten. Indem er das Verfahrensrecht auf den Primat des Effektiven (und neuestens auch des Präventiven) einschwört209, kommt es zu Ermittlungsbefugnissen (etwa bei der heimlichen Nachforschung), die die latenten Selbstbezichtigungslagen drastisch aktualisieren.

207 Vgl. BGHSt 20, 281 (anders noch BGHSt 1, 366; Schleutker 1961, 72 m.w.N.). Zur seinerzeitigen Diskussion etwa Stree, JZ 1966, 593 ff.; zum derzeitigen Stand oben II.4.b)cc) in Kap. 1. 208 Was das Strafverfahrensrecht der DDR anlangt, so gehört es weder zu Vorgängernormen noch zur Gesetzgebungsgeschichte bundesdeutscher Regelungen und erlangt für diese daher keine rechtsmethodische Bedeutung. Daher sei auf die dortige Lage lediglich kurz hingewiesen. Das Schweigerecht war zwar allein beim sich selbst bezichtigenden Zeugen (§ 27 IV StPO-DDR) eigens positiviert, der Sache nach aber durchgehend anerkannt – und das keineswegs nur als unwillkommene Erbmasse der alten RStPO: „Der Beschuldigte oder der Angeklagte ist nicht verpflichtet, sich selbst zu belasten oder seine Unschuld zu beweisen“ (Kommentar, § 8 Anm. 2; ebenso Lehrkommentar, § 8 Anm. 3). Sein Schweigen darf nicht durch Methoden gebrochen werden, „die mit sozialistischen Rechts- und Moralauffassungen unvereinbar sind“, sondern nur auf humanistischen, fairen und sauberen Wegen, die sich mit der Menschenwürde vereinbaren lassen (Lehrbuch 1987, 197). Man leitete das Schweigerecht des Beschuldigten aus der Strafbarkeit der Aussagenötigung ab (§ 243 StGB-DDR) oder folgerte es daraus, dass die Ermittlungen grundsätzlich Aufgabe des Gerichts waren und der Beschuldigte keine Beweislast trug (§§ 8, 22 StPO-DDR; zur Diskussion Speck 1990, 100). Freilich gab es keine Belehrung über das Schweigerecht, und dessen Wahrnehmung galt als strafzumessungsrelevant (zum Ganzen Handbuch 1990, 72; vgl. auch die Literaturanalysen bei BGHSt 38, 263, 268; Arnold 1996, 495 ff.; Speck a.a.O., 100 ff.). Daher war der Beschuldigte kaum davor geschützt, in der Praxis doch noch einem inquisitorischen Zugriff ausgesetzt zu sein (so Arnold a.a.O., 746 f.). Überhaupt verfolgte man ein Verfahrensmodell, das sich an Wahrheitsfindung und Tätererziehung orientierte. In ihm war eher eine Beschuldigtenbeteiligung am Unschuldsnachweis oder der konstruktiven Tatverarbeitung angelegt, wohingegen ein Kommunikationsverweigerungsrecht leicht als Fremdkörper wirken musste. Der so eingebaute Widerspruch, den Vernommenen einerseits als selbstbestimmtes Subjekt zu achten und ihn andererseits zwangsfrei, aber unbedingt zur Aussage bewegen zu wollen (so noch Berlitz 1991, 23), spiegelt sich in den internen Diskussionen der Justiz (dokumentiert bei Arnold a.a.O., 86 ff. u.ö.). Er blieb bis zum Schluss unaufgelöst. 209 Zur jüngeren Entwicklung des Verfahrensrechts – v.a. unter den Stichpunkten: Einfluss von präventiven Zwecken, Vorfeldverlagerung, Befugniserweiterungen, Entformalisierung durch Aufweichung von Anordnungsbefugnissen und begrenzten Rechtsschutzmöglichkeiten – im Detail König 1993; vgl. auch Kinzig 2004, 102 ff., 133 ff.

6. Kap.: Geschichte des nemo-tenetur-Satzes

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8. Rechtsdogmatischer Ertrag Diejenigen Stimmen, die für eine konservative Lesart der Selbstbelastungsfreiheit eintreten, erhalten durch das vorstehende Kapitel eine gewisse Schützenhilfe: In der Tat stabilisiert sich der nemo-tenetur-Satz historisch als Verbot des Aussage- und Mitwirkungszwangs. Da die Abkehr von der traditionell vernehmungsfokussierten Inquisition unter dem Eindruck der besonders prekären neuzeitlichen Befragungspraxis vollzogen wurde, durchliefen nur der Geständniszwang und das, was ihm unmittelbar glich, die Filter zeitgenössischer Sensibilitäten. Überführungstechniken, die den Beschuldigten in anderer Art involvierten, fanden kaum Beachtung. Die Schutzwirkung von nemo tenetur wurde deshalb stets durch den Zwang zu einem Tun konturiert. Für die Gegenwart muss das jedoch wenig besagen. Abgesehen von der prinzipiell eingeschränkten rechtsmethodischen Verbindlichkeit der Dogmengeschichte (II.1. und 2. in Kap. 3) werden die Selbstbelastungsfreiheiten der Jetztzeit schon wegen der Umstellungen in Normprogramm und Normbereich nicht mehr durch ihre klassischen Vorgänger-Begriffe diktiert. Verantwortlich für diese „Unterbrechung“ ist zunächst die eigenwillige Vagheit der beteiligten historischen Rechtsgrundlagen: So hat man die RStPO/StPO niemals als „Sitz“ von nemo tenetur angesehen. Da in der Reichsperiode mangels kodifizierter Grundrechte auch auf konstitutioneller Ebene keine Normbasis vorgelegen haben kann210, war der nemo-tenetur-Satz zu dieser Zeit gar nicht selbst, sondern nur in einigen Konsequenzen positiviert (§§ 54, 136 RStPO). Das Sinngefüge, das hinter den prozessualen Ausprägungen stand, bildete dagegen eine ungeschriebene Normgröße211. Dabei blieb es auch unter der Weimarer Reichsverfassung von 1919212. Mit dem Grundgesetz wurde in die Gel210 Die Reichsverfassung von 1871 verzichtete auf einen Katalog von Grundrechten, die nach der seinerzeit vorherrschenden so genannten Programmtheorie den Gesetzgeber ohnehin nicht gebunden hätten (vgl. etwa Jestaedt 1999, 89 ff., 94 ff.; Stern 2000, 360 ff.; Kühne 2004, Rn 77 ff.). „Gegen den Gesetzgeber mussten die Grundrechte nicht wirken, denn in ihm war das Bürgertum repräsentiert.“ (Schlink, EuGRZ 1984, 457, 458). Aus Sicht des Bürgers musste nur noch sichergestellt werden, dass die Verwaltung keine eigenständigen Eingriffe vornehmen konnte. Durchgesetzt hatte sich deshalb die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Gesetzesvorbehalt). 211 Die Frage, ob man deswegen von einer gewohnheitsrechtlichen Norm ausgehen muss, ist angesichts der später einrückenden Rechtsgrundlagen müßig. 212 Ob es sich beim Grundrechtskatalog in Art 109 – 165 WRV um verbindliche Rechtssätze oder richtlinienförmige Programme handelte, war umstritten. Gegen Ende der Weimarer Republik setzte sich eine differenzierende Lehre durch, die danach unterschied, ob die Grundrechtsfassung vollziehbar oder wegen ihrer Vagheit umsetzungsbedürftig war. Allerdings galten auch die verbindlichen Grundrechte weitgehend nur im Rahmen der Gesetze, weil sie fast durchgängig mit Gesetzesvorbehalt versehen waren und die Legislative mangels eines konzisen Schranken-SchrankenSystems kaum zügeln konnten (vgl. m.w.N. Jestaedt 1999, 96 ff.; Stern 2000, 660 ff.; Dreier 2004, Rn 12 ff., 38 ff.).

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Teil 3: Grundfragen

tungsstruktur des nemo-tenetur-Satzes indes eine Normebene von übergeordneter Verbindlichkeit eingezogen213. Seither gehen die Selbstbezichtigungsfreiheiten vorwiegend vom positiven Verfassungsrecht aus (dazu Kap. 7). Die traditionellen nemo-tenetur-Deutungen, die der vordem ungeschriebenen Kategorie der Selbstbezichtigungsfreiheit galten, sind folglich abgelöst: durch die nunmehr allein maßgebliche Interpretation der einschlägigen Grundrechte (zu der die historische nemo-tenetur-Fassung bestenfalls noch einige Anregungen beizusteuern vermag)214. Schon von daher können sich die aktuellen nemo-teneturDogmatiken von der klassischen Interpretation unterscheiden. Außerdem darf eine langfristige prozesstatsächliche Verschiebung nicht übersehen werden. Die inquisitorische Wahrheitssuche im neuzeitlichen Strafverfahren war gruppiert um das Beschuldigtenverhör, das den Verdächtigen in einen Geständnis-Zweikampf mit einem einzigen rechtlich und faktisch überlegenen Gegenüber zwang. Die Reformzeit hatte mit einigen Geheimhaltungsrechten hier die Gewichte deutlich zu Gunsten des Beschuldigten verschoben. Zugleich differenziert dieser neue Prozess aber auf der staatlichen Seite eine Reihe unterschiedlicher Prozessrollen aus, sodass sich der Beschuldigte nunmehr neben den Gerichten auch mit Polizisten, Sachverständigen und Staatsanwälten konfrontiert sieht. Das ist begleitet von einer Perfektionierung dieser Instanzen, nämlich einer Spezialisierung innerhalb der Verbrechensaufklärung, einer Vervielfachung, Technisierung und Verwissenschaftlichung ihrer Ermittlungsmethoden. Getragen von diesen Nachforschungspotenzialen gewinnt das Ermittlungsverfahren ein präjudizierendes Übergewicht über die Hauptverhandlung215. Überhaupt geht in der modernen Kriminalistik auch die Bedeutung des Verhörs zurück – nicht absolut (da es weiterhin sinnstiftend und obligat bleibt),

213 Wenn angesichts fehlender Grundrechte in der Reichsverfassung der Schutz individueller Positionen zunächst durch die StPO u.a. Reichsgesetze übernommen und von der einfachrechtlichen Dogmatik fortgebildet wurde, und wenn nunmehr die Verfassungsrechtsdogmatik mit dem Anspruch auf lückenlose Vorrangigkeit auf eben diese Sachgebiete vorstößt (allgemein zu diesem Phänomen jetzt auch Rieß 2005, 445 f.), entsteht im einfachen Recht, etwa bei der strafprozessualen Dogmatik, natürlich der Eindruck, man werde gleichsam durch fremde Mächte besetzt (oben Fn 56 in Kap. 4). Mag sich dieses Unbehagen auch durch die verfassungshistorische Verspätung erklären, so bleibt es angesichts von Art 1 III GG dennoch hilflos und unberechtigt. 214 So selbstverständlich dies klingt, ist es doch keine dogmatische Praxis. Dort geht man vielmehr nach wie vor von den überkommenen nemo-tenetur-Vorstellungen aus und versucht, sich von dorther das Verfassungsrecht passend zu machen (unten I. in Kap. 7). 215 Die Weichen stellende Rolle des Ermittlungsverfahrens wird gerade von jener Forschung reflektiert, die Entscheidungs- und Selektionsvorgänge in den verschiedenen Kontrollinstanzen analysiert und dabei aufzeigt, wie stark die polizeiliche Untersuchung dasjenige determiniert, was am Ende des Verfahrens als kriminell behandelt wird (zusammenfassend Eisenberg 2002, Rn 501 ff.). Darüber hinaus gewinnen (vornehmlich im Bereich der leichten und mittelschweren Kriminalität) die Erledigungsformen im Ermittlungsverfahren seit Jahren an Relevanz (eingehend etwa LudwigMayerhofer 1998, 84 ff.).

6. Kap.: Geschichte des nemo-tenetur-Satzes

261

aber relativ. In dieser Lage öffnen technisierte und verdeckte Ermittlungsformen, die das Feld potenziell selbstbezichtigenden Beschuldigtenverhaltens vervielfachen und verfeinern, die Schere zwischen Gestaltungsanspruch und realer Wirkung einer klassisch gehaltenen Selbstbelastungsfreiheit.

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Teil 3: Grundfragen

7. Kapitel

Verfassungsrechtliches Fundament Das kommende Kapitel, das eine Stellungnahme zu den Rechtsquellen der Selbstbelastungsfreiheit formuliert und deren Geltungsbasis nachzeichnet, setzt ohne Umschweife auf die Verfassung, um dort die erhoffte Auskunft zu erhalten. In diesem Ausgangspunkt besteht Übereinstimmung mit der vorherrschenden Meinung. Eine darüber hinausgehende Deckung muss jedoch schon daran scheitern, dass sich bei den Detail- und Folgeproblemen gar keine „h.M.“ bestimmen lässt. Man kommt also nicht umhin, zu den verfassungsrechtlichen Aspekten des nemo-tenetur-Satzes eine eigene Haltung zu entwickeln. Dabei tut man gut daran, sich zunächst erst einmal über die Art und Weise einer sachgerechten „Rechtsgrundlagenermittlung“ zu verständigen.

I. Rechtsgrundlagenbestimmung: „Vorverständnis und Methodenwahl“ 1. Kritik des herkömmlichen Vorgehens a) Die Suche nach einem Geltungs-Alibi Judikatur und Schrifttum sind sich im Wesentlichen einig, dass sich der nemo-tenetur-Satz auf die Verfassung zurückführen lasse. Weiter reicht der Konsens aber nicht. Unklar bleibt, welche Grundgesetznorm denn nun die richtige sei216. Deshalb häufen sich die Studien, die das Grundgesetz gleich einem Katalog nach einem gefälligen Angebot durchblättern, ohne in ihrer Auswahl bislang übereingekommen zu sein. Das eigentlich Bemerkenswerte daran ist indes der forschungslogische Boden, auf dem jener Disput ausgetragen wird. Die Sorge seiner Protagonisten gilt nämlich einem Gebilde, das seine Gestalt schon angenommen hat und nur noch einen Sockel braucht, der den von Rechts wegen erforderlichen Halt verspricht. Dieses gemeinsame methodische Konzept kommt dort zur Sprache, wo man sich um eine „Lozierung“, „Lokalisierung“, „Zuordnung“, „Verortung“, „Verankerung“, „Ansiedlung“ oder „Herleitung“ von nemo

216 Das Bestehen von Selbstbelastungsfreiheiten steht bereits fest. Nur das Warum bleibt offen. So z.B. Quentmeier, JA 1996, 215, 216: Das „nemo-tenetur-Prinzip ist allgemein anerkannt, auch wenn in der Frage der rechtlichen Begründung noch keine Klärung erfolgt ist“ (ähnlich Ransiek 1990, 67; Wolff 1997, 28; Drope 2002, 179; Aselmann 2004, 40 f.).

7. Kap.: Verfassungsrechtliches Fundament

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tenetur bemüht217. Die Selbstbelastungsfreiheit ist dort zum Rechtssatz erklärt und schon mit vorgefassten stabilen Schutzwirkungsstrukturen versehen, bevor man sie im zweiten Schritt einer Verfassungsnorm zuzuweisen sucht. Natürlich wird diese Arbeitsweise kaschiert, weil man nach dem juristischen Selbstverständnis eigentlich eine Ableitungsbeziehung demonstrieren und die nemo-tenetur-Wirkungen aus der Verfassungsnorm entwickeln muss218. Dennoch kommt die wahre Arbeitstechnik immer wieder zum Vorschein. So ist es schon bezeichnend, wenn die Rechtsgrundlagen von nemo tenetur in höchstrichterlichen Urteilsbegründungen bisweilen beziehungslos angehäuft oder gar ausgetauscht werden219. Besonders deutlich verrät sich die wirkliche Vorgehenslogik aber in solchen Argumentformen, in denen der vorverstandene nemotenetur-Satz gleichsam Gericht darüber hält, ob die verschiedenen grundgesetzlichen Verortungsvorschläge die notwendige Passform aufweisen. Diese Argumentation tritt in verschiedenen Ausprägungen zutage: So könne die Selbstbelastungsfreiheit, weil ihr ein absoluter Abwägungsschutz zuteil werde, nicht in der (relativierbaren) Rechtsgrundlage A wurzeln220. Andere Stimmen weisen eine eingriffsresistente Rechtsgrundlage B dagegen gerade zurück, um die vorhandenen, einfach-rechtlichen nemo-tenetur-Verkürzungen vor der Verfassungswidrigkeit zu bewahren221. Mit der Rechtsgrundlage C ließen sich wiederum, so heißt es andernorts, die ganz spezifischen Inhalte des nemo-tenetur-Satzes nicht zusammenbringen222. Und weil die Selbstbezichtigungsfreiheit diesen und jenen Zweck verfolge, 217

Mit dieser Terminologie Günther, GA 1978, 193; Kühl, JuS 1986, 115, 117; H. Schneider 1991, 37, 49; Wolff 1997, 28; Renzikowski, JZ 1997, 710, 715; Mäder 1997, 61; Jahn, StV 653, 654; Schulz 2001, 502. 218

Ungewöhnlich offen dagegen Wolff: Weil der nemo-tenetur-Satz unumstritten gelte und in seinem Kern feststehe, könne man von den allgemeinen Gepflogenheiten abweichen und anhand des Vorwissens nach der einschlägigen Grundgesetzbestimmung suchen (1997, 29). Diese Verfassungsnormen begründen demzufolge keine „Ableitungskette, sondern untermauern mehr die Selbstverständlichkeit der verfassungsrechtlichen Garantie der Aussagefreiheit“ (2000, 251). 219 Wolff 2000, 261 nennt diese Art, mit nemo tenetur umzugehen, als „Normenkumulation und Rechtsnormentausch“. Ein „berüchtigtes“ Bsp. bietet die Entscheidung BVerfG NStZ 1995, 555, in der das Gericht eine Vielzahl an nemo-tenetur-Rechtsgrundlagen anspricht: „Grundrechte aus Art 2 I GG“, „Persönlichkeitsrecht“, „Handlungsfreiheit“, „Würde des Menschen“, „Rechtsstaatsprinzip“, „Ausdruck rechtsstaatlicher Grundhaltung“, „Anspruch auf faires Verfahren“. 220

Als Rechtsgrund von nemo tenetur werden mit genau dieser Argumentstruktur bspw. die allgemeine Handlungsfreiheit (vgl. Wolff 1997, 30), der Ehrschutz (vgl. Böse, GA 2002, 98, 100 f.; ders. 2005, 134) und die informationelle Selbstbestimmung ausgeschlossen (vgl. Bosch 1998, 53). 221

Dies sei geradezu „elementar, weil so erst ein grundrechtsdogmatischer Weg eröffnet wird, das individuelle Schweigeinteresse einer Abwägung zugänglich zu machen“ (Kerbein 2004, 45). Nach Makrutzki müsse eine Menschenwürdeeinordnung vermieden werden, da sich sonst die Verfassungswidrigkeit z.B. von § 142 StGB auftue, was „unpraktikabel und wenig überzeugend“ sei (2000, 94). 222 So komme nach Röckl (2002, 109) bspw. Art 103 I GG als Rechtsgrundlage nicht in Frage, weil nemo tenetur nur Passivrechte verbürge, dies aber nicht nur gegenüber Gerichten. Beide

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Teil 3: Grundfragen

könne sie auch nicht auf der Rechtsgrundlage D beruhen223. Vielmehr müsse man ihn angesichts seiner Schutzwirkungen der Rechtsgrundlage E zuordnen224.

Im Grunde könnte die Abkehr vom juristischen Subsumtionsideal, das eine Normaussage aus dem Normtext deduziert, nicht deutlicher sein. Von nemo tenetur ist in Ob, Art und Maß alles schon bekannt, bevor es im Grundgesetz aufgewiesen wird. Die Rechtsgrundlagensuche in der Verfassung verkommt zu einem Ankopplungsvorgang, der eine fertige Regelungssubstanz an einen konstitutionellen Normtext heftet, um ihm verfassungsrechtliche Dignität zu verleihen. Statt die nemo-tenetur-Inhalte zu prägen, bestätigt die herangezogene Verfassungsnorm lediglich das hochspezifische Vorwissen, das in den Zuordnungsvorgang hineingelegt wurde. Dieses Vorgehen gleitet nur deshalb nicht ins Beliebige ab, weil man die jeweilige nemo-tenetur-Vorstellung wenigstens nicht völlig freihändig bildet. Man orientiert sich vielmehr an einschlägigen subkonstitutionellen Regelungen225 (wiewohl diese die Selbstbezichtigungsfreiheit eigentlich voraussetzen sollen226) und bedient sich der teleologischen Spekulation sowie vorzugsweise des rechtshistorischen Rekurses227, um ein nemo-teneturKonzept zu entwickeln, dass sich hernach an die Verfassung herantragen lässt.

Merkmale passten nicht zum rechtlichen Gehör. Das Menschenwürdegebot scheide nach Günther, GA 1978, 193, 195 f. und H. Schneider 1991, 47 f. deshalb aus, weil nemo tenetur nicht an der Verwertung physiologischer Reaktionen und an der Verpflichtung zur Passivität hindere. Nothhelfer 1989, 62 zufolge sei „ganz überwiegend anerkannt“, dass nemo tenetur ein „subjektives öffentliches Recht gewährt“. Eine Einordnung „als eine bloße, einem materiellem Grundrecht annexe Verfahrenskautel“ werde dem nicht gerecht. 223 Stellvertretend Lagodny, StV 1996, 167, 171: Weil nemo tenetur davon freistellen wolle, am Strafeingriff in den Ehrschutz mitzuwirken, wäre gerade dieses Persönlichkeitsrecht statt des Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung die Rechtsgrundlage. 224 Stellvertretend Dannecker, ZStW 111 (19999), 256, 286: Da der nemo-tenetur-Satz auch juristische Personen schütze, habe man ihn dem Rechtsstaatsprinzip statt der Menschenwürde einzurechnen. Vgl. auch Salger 1998, 14: Weil nemo tenetur nur Passiv- und keine Aktivrechte gewähre und weil gerade die aktive im Unterschied zur passiven Selbstbelastung die Menschenwürde missachte, bilde der menschenwürderelevante Kernbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts die Rechtsgrundlage. 225

Auch Wolff (2000, 251) registriert, dass einfachrechtliche Befunde „auf Verfassungsebene gehoben“ werden. Ausdrücklich für diese Methode spricht sich Böse (GA 2002, 98 f.; ders. 2005, 115) aus. 226

Nemo tenetur werde von § 136 StPO vorausgesetzt und nicht positiviert (so etwa BGHSt 20, 281, 282; Bruns 1977, 8; Rogall 1977, 104 f.; Dingeldey, JA 1980, 407, 408; Nothhelfer 1989, 9 f.; Fezer 1995, 3/10; Renzikowski, JZ 1997, 710; Weigend 1997, 155; Mäder 1997, 61; Dietrich 1998, 32; Salger 1998, 4 ff.; Drope 2002, 169; Minoggio, wistra 2003, 121, 124; Rau 2004, 36). 227 Als Elemente, die sein Vorverständnis prägen, gibt Torka 2000, 49 an: die „bisherigen Stellungnahmen zum Nemo-tenetur-Prinzip (...) seine historische Entwicklung (...) (die) Übersetzung der Aussage des Nemo tenetur se ipsum prodere (...) (und seine) Ratio“.

7. Kap.: Verfassungsrechtliches Fundament

265

b) Die Mängel der „Steckbriefmethode“ Wer einen Steckbrief von nemo tenetur entwirft und sodann in der Grundrechtsgemeinde nach einer passenden Physiognomie fahndet, erwartet nicht mehr, als sich durch eine kompatible Verfassungsregelung den hohen Status des Vorgewussten quittieren zu lassen. Sicher ist die Verbreitung solcher Praktiken historisch erklärbar, weil der verfassungsrechtliche Unterbau erst eingezogen wurde, nachdem sich eine ausgeprägte nemo-tenetur-Dogmatik bereits etabliert hatte (oben II.8. in Kap. 6) – und dennoch mutet die „Steckbrief-Technik“ anachronistisch an, und dies nicht etwa nur aus der Warte einer puristischen Methodik. So, als gäbe es keinen Stufenbau der grundgesetzlichen Ordnung, usurpiert bei ihm das an der Rechtstradition gedeutete Prozessrecht die sachliche Gestaltungsmacht, während übergeordnete Bestimmungen ausschließlich dazu dienen, dem Rechtsgrundlagenerfordernis äußerlich zu genügen. Unter der Herrschaft des Grundgesetzes kommt es der einfach-rechtlichen Dogmatik aber nicht zu, den Regelungsgehalt der Selbstbelastungsfreiheit autonom zu entwerfen und der Konstitution hernach zur Schein-Legitimierung zuzudiktieren. Die inhaltliche Regentschaft gebührt vielmehr der Verfassung (II.2.a) in Kap. 4). Überhaupt verfehlt das gängige Verfahren eine Reihe rechtswissenschaftlicher Standards. Welche Verfassungsbestimmung der Norminterpret auswählt, hängt bei der Steckbrief-Methode davon ab, welche Sichtweise auf nemo tenetur er persönlich pflegt. Differenzen zwischen den grundgesetzlichen Verortungsvorschlägen drücken dann nichts anderes aus als die Abweichung im gesetzesfernen Halbdunkel der Vorannahmen. Solchen Disputen, die ihren Ursprung im unterschiedlich gewählten Einstieg in die Rechtsgrundlagensuche haben, fehlt es an der gemeinsamen Prämisse als Basisbedingung, um in einer methodischen Konsensbildung aufgelöst werden zu können. Obendrein verschenkt die herrschende Vorgehensweise das interpretatorische Potenzial einer eigenständigen Verfassungsanalyse228. Die nach Art der h.M. ermittelten Rechtsgrundlagen tragen zur Lösung einzelner Sachfragen nichts bei, weil sie gegenüber den vorweg angenommenen nemo-tenetur-Strukturen keine zusätzlichen

228

Dagegen erwartet Wolff (1997, 29), dass sich nach einer Verfassungsnormzuordnung, die durch das Wissen um den nemo-tenetur-Kern gesteuert wurde, die Klärung offener Randbereiche „maßgeblich von der richtigen Rechtsgrundlage aus lenken“ ließe (ebenso Mäder 1997, 66 f.; Dietrich 1998, 32). Bosch will darauf dagegen verzichten. Er geht von mehrfachen grundgesetzlichen Verbürgungen von nemo tenetur aus, „ohne dass diesen jedoch mehr als Leitlinien entnommen werden können“. Bosch will der Selbstbelastungsfreiheit deshalb stattdessen „durch eine Bestimmung der Funktion dieses Prinzips“ Substanz geben (1998, 107), was freilich eine reichlich vage Basis ist und den kriminalpolitischen Impetus bei der Deutungsarbeit nicht verbergen kann (kritisch auch Gössel 2001, 194 f.; Verrel 2001, 7).

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Teil 3: Grundfragen

Impulse geben229. Besonders gut ist das dort sichtbar, wo eine trennscharfe Grundgesetznorm bevorzugt wird. Dieser Wahl liegt dann eine enge Übereinstimmung ihres kennzeichnenden Regelungsgehaltes mit der jeweiligen nemotenetur-Vorstellung zugrunde, die sich nur unkritisch bestätigen kann230. Die Steckbriefmethode kann auch nicht damit umgehen, wenn das Fahndungsbild zu detailversessen gerät. Dieser Fall ist keineswegs selten. Die Strafrechtsdogmatik hat häufig eine so spezifische Vorstellung von nemo tenetur, dass sich dafür unter den grundrechtlichen Kandidaten kein passender Anwärter findet. Will sie in dieser Lage dennoch nicht davon lassen, der Selbstbelastungsfreiheit just in ihrer prästrukturierten Gestalt ein verfassungsrechtliches Ansehen zu verschaffen, muss sie auf den Dreh verfallen, sich dafür eine treffende Rechtsgrundlage gewissermaßen selbst herzustellen. So greift man auf das Schuld-231 oder Rechtsstaatsprinzip232 zurück, bündelt ein Konvolut grund-

229 Deshalb kann diese Zugangsweise z.B. auf die Frage nach der „Einbeziehung der ‚staatlich veranlassten irrtumsbedingten Selbstbelastung‘ in den Gegenstand der Selbstbezichtigungsfreiheit“ (BGHSt 42, 139, 153) keine Antwort geben. Die jeweilige Rechtsgrundlage wird bei ihr als direkt einschlägig und mit nemo tenetur inhaltsidentisch auserkoren – sie hat also gerade die Bedeutung, die dem bevorzugten nemo-tenetur-Konzept entspricht. Wird die Selbstbelastungsfreiheit mit Blick auf die Rechtstradition gestaltet, verhalten sich auch die daran ausgewählten Verfassungspositionen abschlägig zum Schutz vor Täuschung (vgl. BGH a.a.O.). Wird der historische Topos heruntergespielt und der nemo-tenetur-Schutzbereich teleologisch ausgestaltet (zur „Freiverantwortlichkeit des Beschuldigten“ als Schutzzweck oben II.4. in Kap. 5), schlägt dies ebenfalls auf die konstitutionelle Ebene durch, weil die hiernach beschaffte Rechtsgrundlage einen breiteren Inhalt aufweist. Von keiner Seite des Streites erhält der jeweils herangezogene Verfassungsnormtext die ihm zukommende Rolle als Ausgangspunkt und Zurechnungsgrundlage der Normkonkretisierung. 230 So nimmt sich Böse für seine Rechtsgrundlagensuche vor, „die Untersuchung auf den Kern des Nemo-tenetur-Grundsatzes (…) zu beschränken“, nämlich auf das Schweigerecht (GA 2002, 98, 99). Auf dieser Basis macht er sodann die auf prozessuale Äußerungen spezifisch bezogene Regelung in Art 103 I GG als einschlägige Verfassungsnorm aus. Der Zirkel zu den Vorannahmen wird dann dadurch geschlossen, dass nonverbale Mitwirkungen, bei denen „keine Kommunikation in Bezug auf den strafrechtlichen Vorwurf abverlangt“ wird, infolge dieser verfassungsrechtlichen Zuordnung ebenso aus dem nemo-tenetur-Schutzbereich herausfallen wie jedes verfängliche Verhalten, das nicht gegenüber Gerichten erfolgt (a.a.O., 128; ebenso ders. 2005, 114 ff., 436 ff.). Eine ähnlich sich selbst erfüllende Argumentation findet sich bei Nothhelfer, demzufolge es bei nemo tenetur um einen hoheitlichen „Zwang, ... Verfehlungen zu offenbaren“ gehe (1989, 82 – Herv. von R.K.). Da das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eine Rechtsmacht über die Kundgabe persönlicher Lebenssachverhalte einräume, sei es die einschlägige Rechtsgrundlage. Aus der „Umschreibung des sachlichen Gewährleistungsbereichs des grundrechtlich geschützten informationellen Selbstbestimmungsrechts“ ergäbe sich wiederum der Ausschluss von Aktivrechten aus nemo tenetur. Diese Rechtsgrundlage gewährleiste nämlich nur die Entscheidungsfreiheit des Beschuldigten darüber, „welche persönlichen Umstände er durch sein aktives Verhalten offenbart“ (a.a.O., 91 f. – Herv. R.K.). 231 232

Vgl. Wolff 1997, 56, 59 f.

BGHSt 1, 39, 40; 14, 358, 364 f.; 25, 325, 330 f.; 31, 304, 308; BayObLG JZ 1984, 492; OLG Frankfurt/M. NStZ-RR 2004, 157; Grünwald, JZ 1968, 752; Paeffgen 1986, 71; Reiß 1987,

7. Kap.: Verfassungsrechtliches Fundament

267

gesetzlicher Normen233, kreiert ein neuartiges Persönlichkeitsrecht234 oder verkündet ein eigenes Verfassungsgewohnheitsrecht235. Teilweise sind diese Ausweichstrategien schon aus konzeptimmanenten Gründen abzulehnen. Beispielsweise ist die Berufung auf das Rechtsstaatsprinzip all jenen Zweifeln ausgesetzt, die sich generell mit dieser Verfassungsnorm verbinden236. Außerdem ist keineswegs ausgemacht, dass nemo tenetur überhaupt zu den ungeschriebenen, verfassungsrechtlichen Unterprinzipien zählt, die das Rechtsstaatsprinzip nach h.M. generieren soll237. Die Anhänger dieser Auffassung berufen sich im Wesentlichen darauf, dass das Rechtsstaatsprinzip (neben den Grundrechten238) gewisse mate155 ff.; H. Schneider 1991, 39 ff.; Velten 1995, 119; Dietrich 1998, 44; Bosch 1998, 72 f.; Jahn, StV 1998, 653, 654; Dannecker, ZStW 111 (1999), 256, 286; Minoggio, wistra 2003, 121, 128. 233

So v.a. Bosch 1998 (dazu soeben Fn 230); vgl. auch Lorenz, JZ 1992, 1000, 1006.

234

Nach Rogalls Verständnis, das er „anhand des Sinns und der Ziele des Verbots der Selbstbelastung“ (1977, 145) gewinnt, ist nemo tenetur von Art 2 I, 1 I GG geschützt. Dabei hat die „Selbstbelastungsfreiheit (...) schon hinreichend gefestigte Konturen erlangt“ (SK-StPO, Vor § 133/136), die sich mit den etablierten Formen des Persönlichkeitsrechts nicht zusammen bringen ließen (Rn 137 f.). Deshalb müsse sie „ein aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht herausgelöstes besonderes Persönlichkeitsrecht“ sein (Rn 136). 235

Vgl. SK-StPO/Paeffgen, Vor § 112/31; Weigend 1989a, 768; offenbar auch Lorenz, JZ 1992, 1000, 1006; Wolff 2000, 244, 449. 236 So kritisieren neuere Untersuchungen, wie bedenkenlos und methodisch unkontrolliert die h.M. zahllose Elemente in das Rechtsstaatsprinzip hineininterpretiert. Sobota listet allein 142 angebliche Ausprägungen auf (1997, 253 ff.; zu den strafprozessualen Unterpunkten Rzepka 2000, 180 ff.). Die Vorbehalte gegenüber einem eigenständigen Normsatz namens „Rechtsstaatsprinzip“ beruhen zudem auf seinen problembehafteten Merkmalen (z.B. inhaltliche Konkretisierungsbedürftigkeit und Spielräume auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite; innere Ausgleichsbedürftigkeit der Rechtsstaatselemente; Fehlen von Abwägungsmaßstäben usw.; im Detail Kunig 1986, 259 ff., 285 ff.). Im wissenschaftlichen Spezialschrifttum ist es deswegen noch unentschieden, ob das Rechtsstaatsprinzip einer (Neu-)Rekonstruktion zu unterziehen ist (hierzu Sobota a.a.O., 444 ff., 461 ff.). Kunig bestreitet sogar jegliche Geltung, zumal andere Verfassungsnormen die bisherigen Rechtsstaatselemente zuverlässiger begründen könnten (1986, 139 ff., 312 ff.). Meist beharrt man indes auf der Reservefunktion des Rechtsstaatsprinzips (z.B. Sobota a.a.O., 527; Dreier/SchulzeFielitz, Art 20-Rechtsstaat/43), da sich sein Wirkungsspektrum mit dem geschriebenen Recht nicht abdecken lasse, jedenfalls nicht ohne extensive Rechtskonstruktionen. Dieser Gedanke beträfe auch nemo tenetur. So sei nur über das Rechtsstaatsprinzip zu erklären, dass die Selbstbelastungsfreiheit auch Belehrungsansprüche einschließe (so Bosch 1998, 72 f.; vgl. auch Stuckenberg 1998, 548). Das ist falsch. Eine Begründung über die abwehr- und verfahrensschützende Grundrechtsschicht ist ebenso gut möglich (vgl. auch Möller, JR 2005, 314, 318 sowie Fn 54 in Kap. 4). 237 238

Dazu die kritische Analyse von Kunig 1986, 256 f.

Weil Grundrechte nach h.M. zum Rechtsstaatsprinzip gehören, werden auch die grundrechtlichen Selbstbelastungsfreiheiten nach dieser h.M. automatisch zu Rechtsstaatselementen. Allerdings hat diese zweite Rechtsgrundlage keine eigene Bedeutung (vgl. Rogall 1977, 138; ders. in SK-StPO, Vor § 133/132). Ein Gemeinschaftsinteresse an nemo-tenetur-Verbürgungen (als Insignien eines respektvollen und so sozial akzeptierten Strafprozesses) zu konstruieren und die Selbstbelastungsfreiheit deshalb unter das Rechtsstaatsprinzip zu subsumieren (so Buchholz 1990, 80; Dietrich 1998, 44), repliziert ebenfalls nur einen Topos, dessentwegen man in sämtlichen Grundrechten ein Rechtsstaatselement sehen kann – ohne dass diesen Grundrechtsgewährleistungen ein substanzielles Mehr zuwüchse.

268

Teil 3: Grundfragen

rielle Normsätze enthalte und dass zu diesen „bisweilen nur historisch erklärbaren Verbesonderungen“, die „auf ihre mittlerweile eigenständigen Erklärungswerte hin auszuforschen“ seien, nun einmal auch die historisch gewachsene Selbstbezichtigungsfreiheit zähle239. Da es aber die rechtshistorische Forschung überfordert, den Kreis rechtsstaatswürdiger Maximen abzustecken, lässt sich auf diesem Wege alles und jedes zum staatlichen Strukturprinzip erklären, sofern der Verfassungsinterpret es nur für bedeutsam hält. Ähnliche Defizite treten bei anderen Vorschlägen auf. In der Absicht, der Selbstbelastungsfreiheit das Schuldprinzip zu unterlegen, mischt man diesem die Aussage bei, dass Strafe als wirkungsintensiver Eingriff nicht nur von materiellen, sondern ebenfalls von formellen Vorkehrungen abhänge. In freier Assoziation zählt man dazu dann auch das Gebot, dass dem Angeklagten bis zur Schuldfeststellung die „Selbstständigkeit“ erhalten bleiben und er deshalb von allen gemeinschafts- und sanktionsfördernden Pflichten verschont werden müsse240. Eine vergleichbare Ergebnisorientierung ist der gewohnheitsrechtlichen Herleitung des nemo-tenetur-Satzes vorzuwerfen. In der Überzeugung, dass die Selbstbelastungsfreiheit trotz des Fehlens eigener positiver Rechtsgrundlagen bestehe, verweisen die Verfechter dieser These auf die vorkonstitutionelle Anerkennung von nemo tenetur. Dies kann aber nicht genügen, um die Existenz eines gewohnheitsrechtlichen Satzes darzutun241. Die Rückschau auf die jüngere Strafrechtsgeschichte (II.4. – 6. in Kap. 6) lässt bereits an der dafür unverzichtbaren Bedeutungsstabilität242 zweifeln. Außerdem besteht angesichts der vorhandenen Rechtsgrundlagen (sogleich II.) gar keine Positivierungslücke243.

Besondere Kritik an all diesen Verlegenheits-Konzepten ruft jedoch der Umstand hervor, dass sie allesamt mit Vorbedacht ausgerechnet auf eigens geschaffene oder ungeschriebene oder generalklauselartige Vorschriften zurückgreifen. In der Unbestimmtheit der so bemühten Verfassungsnormtexte suchen und finden sie ein derart unstrukturiertes Argumentationsfeld, das es ihnen erlaubt, genau die vorgefassten Selbstbelastungsfreiheiten als jeweils mitgeregelt auszugeben. Die Vagheit abstrakter Prinzipien entwickelt ebenso wie der Kosmos

239 So mit den Zitaten Paeffgen 1986, 71. Vergleichbar Reiß 1987, 155 ff.; H. Schneider 1991, 39 ff.; Dietrich 1998, 44; Weiß, JZ 1998, 289, 293: Neben den Grundrechten gehörten zum Rechtsstaatsprinzip althergebrachte, unbestrittene Rechtsüberzeugungen, die ein vorverfassungsmäßiges Gesamtbild abgeben. Der nemo-tenetur-Satz zähle hierzu, weil er alter Rechtstradition entspreche und im Bereich des Strafverfahrens das Staat-Bürger-Verhältnis grundlegend kennzeichne. Als Althergebrachtes wird er also konserviert und konstitutionalisiert. 240 Vgl. Wolff 1997, 56, 59 f. zu diesem Zweckkonstrukt. Versteht man das Schuldprinzip dagegen in der herkömmlichen Art, kann man es wegdenken (d.h. schuldloses Handeln bestrafen), und dennoch Selbstbelastungszwänge untersagen (vgl. auch Torka 2000, 87 f.). 241 Wäre die Gewohnheitsrechtsthese zutreffend, stünde für die Konkretisierung von nemo tenetur kein verschrifteter Ausgangsnormtext zur Verfügung. Die korrekte ungeschriebene Textfassung müsste zunächst festgestellt und in ihrer Geltung begründet werden (vgl. Müller/Christensen 2004, Rn 352; Wolff 2000, 336 ff.). 242

Zu den Geltungsbedingungen des Gewohnheitsrechts Fn 9 in Kap. 4.

243

Geschriebenes Recht derogiert Gewohnheitsrecht (Müller 1986a, 113; Wolff 2000, 359 ff.).

7. Kap.: Verfassungsrechtliches Fundament

269

des Nichtkodifizierten nur geringen Widerstand, wenn der Norminterpret ihnen eine Normschicht einschreibt, die exklusiv als Rechtsgrundlage der Selbstbezichtigungsfreiheit fungieren soll. Der Scheinplausibilität dieser Konstruktionen entgeht indes, wer die Ebene wechselt, wer also nicht nur deren innere Unstimmigkeit moniert, sondern den Rückzug auf das Unbestimmte oder Ungeschriebene als eine Strategie ausweist, die vorausbestimmte Rechtswirkungen im Nachhinein mit rechtlicher Geltung versorgen will. Die nemo-tenetur-Gehalte sind dort am Ende von den vorverständnisprägenden historischen und teleologischen Erwägungen determiniert (denen dies methodologisch keineswegs zusteht), was die grundgesetzlichen Normtexte zur oberflächlichen Legitimationsquelle degradiert.

2. Transparente Hermeneutik In Begriffen des Subsumtionsmodells wendet die hier kritisierte Arbeitsform den Untersatz in einen Obersatz und versieht ihn mit einem konstitutionellen Label. Freilich gelangt sie nicht ohne Not zu diesem Verfahren244. Zu einem guten Teil reagiert man damit vielmehr auf hermeneutische Erkenntnisbedingungen, denen zufolge eine einschlägige Rechtsnorm ohne einen ersten Vorentwurf des Falles gar nicht aufgefunden werden kann. „Das Herantragen einer bestimmten Ordnungsfrage im Hinblick auf die mögliche Weisungs-Bedeutung des befragten Textes ist der entscheidende Akt.“245 Überhaupt ergeben die normtextlichen Sprachdaten ihren Sinn allein über jenen Sachverhalt, auf den der Interpret sie bezieht. Um ihnen dafür beim Einstieg in die Interpretation erst einmal einen vorläufigen und späterhin revidierbaren Vorentwurf an Realdaten zuordnen zu können, müssen diese aus der Realitätsgesamtheit als normrelevant irgendwie herausgehoben werden246. Dafür braucht es ein entsprechendes Vorurteil. Verfassungsnormtexte lassen sich ohne eine vorgängige Vorstellung von ihrem Gegenstand demnach gar nicht begreifen. Man muss sich sozusagen unter der Selbstbelastungsfreiheit bereits etwas vorstellen, um das Grundgesetz auf ihre Gewährleistung hin lesen zu können. – Die Frage ist freilich, wie konkret diese Vorstellung sein darf: 244

Vgl. für eine Sammlung gleichartiger strafrechtsdogmatischer Zirkel Kaufmann 1973, 8 ff.

245

Esser 1972, 138 (Herv. R.K.). Dementsprechend geht der Rechtsarbeiter im Konkretisierungsmodell der Strukturierenden Rechtslehre „vom vorgelegten oder erdachten Sachverhalt aus und wählt mit dessen Merkmalen aus der Normtextmenge des so genannten geltenden Rechts diejenigen Normtexthypothesen, die er für einschlägig hält“ (Müller/Christensen 2004, Rn 281; Herv. R.K.; zur abduktiven Schlussform dieses Vorgangs vgl. Kaufmann 1999, 57). 246 Z.B. Esser 1972, 136 ff.; Hruschka 1972, 42 ff.; Kaufmann 1973, 17 ff.; ders., JZ 1975, 337, 340 f.; ders. 1999, 74; Habermas 1992, 244 f.; Röhl 2001, 96 f.; Müller 1994, 49 f.; Demko 2002, 88 ff.

270

Teil 3: Grundfragen

Normkonkretisierungsarbeit läuft nach dem Einstieg in den Deutungsprozess als ein wechselseitiges Zurichten der Real- und Sprachdaten ab, sodass sich die beteiligten Elemente aneinander bis hin zur Entscheidungsnorm verengen247. Dieser Interpretationsvorgang verkürzt sich allerdings umso mehr, je ausgeprägter der Regelungsgegenstand vorverstanden wird. Vom normkonkretisierend abzuschreitenden Weg des „Hin-und-Her-Wanderns“ ist dann ein guter Teil schon stillschweigend zurückgelegt. Genau eine solche Reduzierung ist der gängigen Methode, die Selbstbelastungsfreiheiten zu bestimmen, vorzuwerfen. In dieser Arbeit werden dagegen die reflektierenden Schritte zu Lasten der Vorverständnisanteile ausgedehnt. Je weniger nemo-tenetur-Vorwissen in die Grundgesetzanalyse eingeht (genauer: je unstrukturierter die Vorstellungen von den fraglichen Gewährleistungen anfangs sind), desto unvoreingenommener, nachvollziehbarer, kommunizierbarer und kontrollierbarer geht der Erarbeitungsvorgang vonstatten – weil er einfach früher einsetzt248. Deshalb werden hier die von der herrschenden Meinung angenommene Geltung ebenso wie die gängigen Konturen einer spezifischen Selbstbelastungsfreiheit weitgehend suspendiert – bis zu einer Gegenstandsabgrenzung, die für den Einstieg in den Deutungsprozess unabdingbar ist. Dadurch, d.h. weil die Normkonkretisierung schon in diesem Frühstadium einsetzt, lassen sich die Verfassungsvorgaben, die auf einen solchen unbestimmten Minimalsachverhalt rekurrieren, wieder eigenständig befragen. Man erfährt dann nicht mehr, was man schon gewusst hat, sondern was das Grundgesetz zu „sagen“ hat. Die sich dabei herausstellenden Schutzstrukturen sind gleichsam „grundrechts-authentisch“, weil sie nicht durch die Vorgaben verzeichnet wurden, die eine vorgefasste Gewährleistungsidee an sie heranträgt249. Auch eine solche Herangehensweise bestimmt die Einschlägigkeit der Verfassungsnormen danach, ob in deren Sachbereich ein vorab definiertes Spektrum von Aktionsformen fällt. Die Festlegung dieses Regelungsgegenstands orientiert sich aber nicht an den geronnenen Strukturen irgendeines Konzeptes von Selbstbelastungsfreiheit, sondern bezieht möglichst vorurteilslos alle eventuell

247

Vgl. oben I.1. in Kap. 3 sowie bspw. Hassemer 1968, 104 ff.; ders., ARSP 1986, 195, 201.

248

Zur prozeduralen Bewältigung des Vorverständnisproblems vgl. Hruschka 1972, 46; Kaufmann 1973, 19 f.; Hassemer, ARSP 1986, 195, 211; Röhl 2001, 101; Luhmann 1997, 285 f.; Müller/Christensen 2004, Rn 269 f. 249 Untersucht werden hier auf diese Weise nur die Bestimmungen des Grundgesetzes. Auf landesgrundrechtliche Gewährleistungen einzugehen, allen voran auf Art 52 V BrandVerf („Niemand darf gezwungen werden, gegen sich selbst (…) auszusagen.“), erübrigt sich. Deren Normativität beschränkt sich auf die jeweilige Landesstaatsgewalt, und auch das allenfalls in Ergänzung zur Grundgesetzbindung (wobei sich schwierige Detailfragen nach der Geltung der Landesgrundrechte gemäß Art 142 GG und nach ihrem Einfluss bei der Anwendung des bundesrechtlichen Strafrechts durch die Länderbehörden stellen).

7. Kap.: Verfassungsrechtliches Fundament

271

zugehörigen Realerscheinungen ein (um sich diese von den so ermittelten grundgesetzlichen Vorschriften zu einem Schutzgegenstand strukturieren zu lassen). Die anschließende Untersuchung muss also beim Einstieg in die nemotenetur-Konkretisierung mit einem breiten Wirklichkeitsausschnitt beginnen. Sie fragt demgemäß nach der konstitutionellen Regulierung jeder Verhaltensform, mit der man sich der eigenen Bestrafung wegen einer anderen Tat widersetzt. Eine weitere Eingrenzung erfolgt nicht. Ob ein Teil dieses Aktionsspektrums (und welcher Teil) ohne den Schutz der Verfassung bleibt, soll nicht von vornherein feststehen, sondern sich aus den angesprochenen Grundgesetzbestimmungen ergeben. Den folgenden Gegenstandsbereich bildet also jenes Verhalten, das ein Sanktioniert-Werden zu verhindern oder die Sanktion zu mildern sucht. Eine vorgreifende Auslese danach, ob dies verbal oder nonverbal, aktiv oder passiv erfolgt, wird dabei vermieden. Anforderungen an psychische Motivlagen des Handelnden (Selbsterhaltungstrieb, Scham, Verteidigungswille) bestehen nicht250. Unerheblich ist auch der (außer-/prozessuale) Handlungskontext. Als maßgeblich gilt allein die Zielrichtung gegen ein noch unabgeschlossenes Verfahren und die dort mögliche staatliche Sanktionierung (sei sie rechtmäßig oder nicht, und wie nahe liegend auch immer)251. Es werden sämtliche Aktionstypen in Rechnung gestellt, mit denen der Beschuldigte die richterliche Sachverhaltsarbeit252 torpediert, obstruiert oder ruiniert (Tabelle 1)253.

250 Nicht erforderlich ist natürlich, dass die sanktionsvereitelnde oder –mildernde Aktivität erfolgreich ist; vielmehr kommt es auf die Verhaltenstendenz an. Ebenfalls ohne Bedeutung bleibt es, gegen welche staatliche Sanktionsform sich der hiervon Bedrohte wendet. 251

Wegen dieses Finalitätskriteriums liegen Handlungen, die nach einem rechtskräftigen Urteil begangen werden, außerhalb des Gegenstandsbereiches. Eine Ausnahme ist davon nur zu machen, wenn sie mit Blick auf eine angestrebte oder befürchtete Wiederaufnahme des Verfahrens erfolgen und deshalb Verteidigungscharakter haben. Eindeutig irrelevant sind dagegen bspw. die Bemühungen, sich nach der Verurteilung wenigstens die Beute zu sichern. 252 Ergänzen könnte man dies um Strafvereitelungsformen, die auf die richterliche Normarbeit zielen (Beeinflussung der Auswahl heranzuziehender Normen und ihrer Deutung). 253

Material, das die Typen sanktionsabwehrenden Handelns illustriert, findet sich in Kap. 1 sowie bei Deutscher 1995, 116 ff.; Torka 2000, 229 ff. (vgl. i.Ü. zu anwaltlichen Strategien Weider 2000, 8 f.). Eine gewisse Deckung weist auch das Verhalten auf, bei dem die Rspr. von einem unsystematisch neben der Selbstbelastungsfreiheit stehenden „Recht auf Verteidigung“ spricht (etwa lügnerisches Leugnen oder Vorspiegeln günstiger Umstände, vgl. BGH StV 1981, 620; StV 1982, 418; StV 1985, 146, 147; NStZ 1996, 80; StrFo 2001, 263; 5 Str 552/93 v. 10.11.1993).

272

Teil 3: Grundfragen Tabelle 1 Typen von Strafvereitelungshandeln Verhaltensform

Wirkung Passivität Beweislage wird unvollständig gehalten (Informationsvorenthaltung)

Schweigen

Widerstand gegen ErmittNichtvornahme von beweis- lungseingriffe und Beweiserrelevanten Handlungen und hebungsakte Prozessakten Verbergen von Beweismitteln (Leugnen; Spurenbeseitigung; Bestimmen zur Falschaussage; Flucht; Spuren vermeidende Tatbegehung) Unverwertbarkeit von Beweismitteln erwirkende Prozesserklärungen

Beweislage wird reduziert (Beseitigung vorhandener Informationen) Beweislage wird destabilisiert (Infragestellen vorhandener Informationen)

Beweislage wird manipuliert (Einbringen irreführender Informationen)

Aktivität

Beweismittelbeseitigung (z.B. Urkundenunterdrückung) ausnahmsweise denkbar: wenn von außen her rührende Störungen der Beweislage zugelassen werden (z.B. Nichtunterbinden einer falschen Zeugenaussage)

Bestreiten Geständniswiderruf Unzuverlässigkeit von Beweismitteln bewirkende Prozesserklärungen (etwa Zeugendestruktion) Schaffen zweifelserzeugender Beweismittel Lügen (mit/ohne Fremdbelastung) Legen falscher Spuren (mit/ ohne Verdachtsablenkung) Irreführende Beweisanträge Vortrag falscher Rechtfertigungs-, Entschuldigungs- und Strafmilderungsgründe

Sobald man den Gewährleistungsgegenstand nur mit dieser vage konturierten Aktionsform umschreibt und die Verfassung nach dahingehenden Gewährleistungen befragt, macht es die Breite der Handlungsphänomene wahrscheinlich, gleich auf eine ganze Reihe zuständiger Verfassungsnormen zu stoßen. Statt einer einzigen individualisierbaren Geltungsbasis ist dann eine Mehrzahl unver-

7. Kap.: Verfassungsrechtliches Fundament

273

bundener grundgesetzlicher Schutzwirkungen angesprochen254. Dennoch kann man, um den gemeinsamen Schutzeffekt hervorzuheben, diese diffuse Regelungsgesamtheit als Strafvereitelungsfreiheit zusammenfassen255 (wohlwissend, dass ihre konkrete Gewährleistungssubstanz erst im Zusammenwirken mit dem einfachen Recht zutage tritt, oben II. in Kap. 4). Ein griffiger abgeschlossener nemo-tenetur-Satz, sei er klassisch konturiert oder aktualisiert, geht in diesem amorphen normativen Gefüge freilich notgedrungen verloren. Hierin liegt die Schattenseite der Entscheidung, auf die stillschweigende Unterstellung einer eigenständigen Selbstbezichtigungsfreiheit zu verzichten. Allerdings sollte man diesen Preis für den so realisierten Zugewinn an methodischer Zuverlässigkeit bedenkenlos zahlen256.

II. Verfassungsrechtliche Strafvereitelungsfreiheiten 1. Die Devise vom „weiten“ Grundrechtstatbestand Wer die von der Verfassung vorgesehenen Handlungsfreiheiten aufzeigen will, auf die der Einzelne zur Organisation seiner Sanktionsabwehr zurückgreifen kann, arbeitet mit einem weiten Grundrechtstabestand. Er erwartet, dass sich für die fraglichen Aktionstypen breite grundrechtliche Brutto-Gewährleistungen finden, die sodann durch subkonstitutionelle Eingriffe auf eine schmalere NettoFreiheit zurückgeschnitten werden. Die prima facie-Schutzwirkungen erstrecken sich nach diesem Modell allerdings auch auf solche Verhaltensweisen, die sich gegen eine reguläre hoheitliche Betätigung (Sanktionierung) richten.

254 Die neuere Literatur ist vielfach bemüht, Gewährleistungselemente aus dem Umkreis von nemo tenetur abzuschichten und zu verselbstständigen (so bspw. Rogall, JZ 1987, 847, 851; Renzikowski, JZ 1997, 710, 715; Derksen, JR 1997, 167, 169 f.; Lesch, ZStW 111, 1999, 624, 636 ff.). Dahinter steht die Absicht, das (verbleibende) Herzstück der Selbstbezichtigungsfreiheit abwägungsresistenter gestalten zu wollen (repräsentativ Bosch 1998, 58). Obwohl sich darin erneut die irrige Vorstellung eines substanzhaften eigenständigen nemo-tenetur-Satzes dokumentiert, erscheint das Anliegen einer solchen Entmischung nachvollziehbar. Sie zielt auf „Spezifität“ in der juristischen Systembildung (zu dieser Gestaltungsregel für die Strukturierung eines Normkomplexes, nach der gleichrangige Begriffe eines Systems keine Überschneidungen, sondern jeweils andere Regelungsinhalte aufweisen sollten, vgl. Sobota 1997, 419 ff.). Dies wird freilich auch vom hiesigen Konzept zugelassen, hier allerdings als binnenstrukturierte Vielfalt verschiedener Gewährleistungen innerhalb der Regelungsgesamtheit. 255 256

Gemessen am Strafvereitelungsbegriff in § 258 StGB ist die Terminologie untechnisch.

Dies fällt umso leichter, als diese Kosten später zurückerstattet werden. Genau genommen muss auf die nemo-tenetur-Formel nämlich überhaupt nicht verzichtet werden. Sie bleibt eine griffige Redensart, die einen Ausschnitt aus Strafvereitelungsfreiheiten bezeichnet. Dieser Auswahlschritt erfolgt in Kap. 8.

274

Teil 3: Grundfragen

Dieser Ansatz muss sich einer prinzipiellen Einwendung erwehren. Teilt ein derartiges Grundrechtsdenken die Freiheit nicht mit übervollen Kellen aus? Soll es tatsächlich ein Recht auf rechtsfeindliches Verhalten geben? Mutet es nicht absurd an, einem Handeln die grundrechtliche Obhut zuteil werden zu lassen, obwohl es zur weiteren Drittschädigung führt oder zumindest eine bestehende Unrechtslage perpetuiert257? Nicht selten ist man von genau dieser Sorge erfüllt und versieht deshalb die Grundrechte mit einem Vorbehalt sozialer Verträglichkeit. Ein Handeln, das vom Schutzbereich „eigentlich“ eingeschlossen ist, sei von ihm dann doch nicht erfasst, wenn es eine schwere strafrechtswidrige Verletzung anderer Personen darstellt258. Wegen eines ähnlichen ungeschriebenen Ausschlussmerkmals verbiete sich der verfassungsrechtliche Schutz ebenso bei gesellschaftsabträglichem Verteidigungshandeln259. Man müsse den Grundrechtsschutzbereich also durch tatbestandsimmanente Grenzen so weit verschmälern, dass die prima facie-Gewährleistung ermittlungsschädlicher Strafvereitelungsfreiheiten weitgehend ausgeschlossen sei. Typischerweise verfasst man solche Überlegungen in einer Handschrift, die sich von Hobbes und Hegel inspirieren ließ. Während der unbeschränkte Gebrauch von Freiheiten im menschlichen Naturzustand danach nur zur Freiheit des Stärkeren führe, herrsche wirkliche Freiheit erst in jenem Gemeinwesen, das die natürliche Willkür aufhebt und stattdessen rechtlich geschaffene Positionen verteilt. Freiheitsrechte sind so gesehen schon immer staatlich konstituiert, und die Beschränkungen, die mit ihnen einhergehen, fungieren als Bedingung des Frei-Seins260. Freilich ist es nicht einzusehen, dass sich diese Haltung, selbst wenn man sie teilen wollte, auch grundrechtsdogmatisch auswirken würde. Ein enger Grundrechtstatbestand, der die freiheitsnotwendigen Beschränkungen schon in den Schutzbereich einrechnet, korrespondiert mit ihr nämlich nicht besser als ein weiter Schutzbereich, der die gleichen Einschränkungen rechtstechnisch verlagert und der Kategorie des freiheitsbegrenzenden Eingriffs überträgt.

In dieser Lage hat ein weites Schutzbereichskonzept alle dogmatischen Vorzüge auf seiner Seite: Die Bestimmung der Sozialverträglichkeiten ist immer ein kulturelles Produkt, im Falle strafrechtlicher Untersagung ein staatlicher Machtspruch. Sie muss sich in der Verfassungsordnung legitimieren. Bei einem engen Grundrechtsbegriff, der sie als tatbestandsimmanente Schranke versteht, kommt 257

Insofern wäre allein die Verteidigung des Unschuldigen eine legitime Grundrechtsausübung.

258

Vgl. zuletzt wieder Stemmler 2005, 96 ff., 186 ff.; davor v.a. Isensee 2000, § 111/171; Jakobs, ZStW 110 (1998), 716, 718 f.; Möstl 2002, 300. Unter diesen Vorzeichen wird dann auch drittschädigendes (aktives/passives) Nachtatverhalten in toto aus dem Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheiten herausgenommen, sobald es seinerseits einen Straftatbestand verwirklicht (vgl. etwa H. Schneider 1991, 42 f., 51; Torka 2000, 126). 259 260

So KMR/Lesch, § 136/17.

Dafür zuletzt v.a. Jakobs 1997 (dazu bereits oben II.1.b) in Kap. 5 und die im grundrechtlichen Kontext vorgetragene Kritik von Lübbe-Wolff 1988, 84 f.).

7. Kap.: Verfassungsrechtliches Fundament

275

die gebotene Grundrechtsprüfung aber gar nicht in Gang, weil man das fragliche Verhalten aus der Grundrechtsstruktur auslagert und friedlos legt. Die Verträglichkeitsschranke ist ohne grundrechtsdogmatischen Standort und bleibt dadurch unkontrolliert. Bei einem weiten Schutzbereich rückt der gleiche staatliche Akt dagegen aus dem Dunkel der Tatbestandsrestriktionen ins Licht der ausdrücklich zu legitimierenden Grundrechtsschranke. Nur als Eingriff in einen ausgedehnten Grundrechtstatbestand wird er einem Prüfungsverfahren zugänglich. Da die fragliche Untersagung durch die hiervon geschützten Drittinteressen regelmäßig gerechtfertigt wird, ist das betreffende Verhalten zwar meist ebenso unzulässig wie beim engen Schutzbereichskonzept, aber der Weg zu diesem Ergebnis verzeichnet ein Mehr an Transparenz und Kontrollierbarkeit261.

2. Einzelgrundrechtliche Strafvereitelungsfreiheiten a) Die allgemeinen Abwehrrechte aa) Schutz vor staatlicher Ermittlung Die Verfassung stattet den Bürger mit einer geschützten Infrastruktur verschiedenartiger Ressourcen aus. Gewiss ist bei deren Nutzung zuerst an den „normalen“ Lebensvollzug gedacht, doch kann man diese Ausrüstung ebenso gut für die Verdunklung, Verheimlichung, Irreführung, Flucht oder sonstige Sanktionsabwehr in Stellung bringen. Der Staat darf dann den Beschuldigten an der strafvereitelnden Verwendung dieser leiblichen, gegenständlichen, kommunikativen und räumlichen Ressourcen nur im Rahmen der jeweils zulässigen Eingriffsformen hindern. Auf diesem Schutzniveau bewahrt Art 2 II 1 GG zunächst einmal davor, am Verteidigungsverhalten durch Maßnahmen mit integri261 Zudem unterläuft das enge Tatbestandsmodell auch die grundrechtsspezifischen Unterschiede in der Eingriffsresistenz. Wie hier daher BVerfGE 85, 386, 397; 90, 145, 171 f.; Dreier/Dreier, Vorb./120; Dreier/Hermes, Art 10/27, Art 13/22; Höfling 1987, 175 ff.; Lübbe-Wolff 1988, 87 ff.; Müller 1990, 28 ff.; Eckhoff 1992, 11 ff.; Morlok 1993, 401; Alexy 1994, 290 ff.; Lagodny 1996, 90 ff.; Enders 1997, 475 ff.; Sternberg-Lieben 1997, 405 f.; Borowski 1998, 204 ff.; Appel 1998, 321 ff.; Bethge, VVDStRL 57 (1998), 7, 20 ff.; Staechelin 1998, 103 ff.; Arnauld 1999, 67 ff., 103 ff.; Heß 2000, 98 ff.; Gutmann 2001, 217 f.; Kudlich, JZ 2003, 127, 128; Cornils 2005, 40 ff.; Cremer 2003, 84. Alles andere wäre eine Abkehr von einer Grundrechtstheorie, der es bis heute um ein rechtsstaatliches Verteilungsprinzip zu tun ist, „das von der grundsätzlich unbeschränkten Freiheit des Bürgers und der prinzipiell begrenzten Staatsmacht ausgeht“, sodass Freiheiten aus sich selbst heraus vor dem staatlichen Zugriff verteidigt werden und ihr Gebrauch „gegenüber dem Staat nicht eigens gerechtfertigt zu werden braucht“ (Bethge, a.a.O., 11; vgl. auch Stern 1988, 624 ff., 643 ff.; Schlink, EuGRZ 1984, 457, 467). Hierfür genügt es i.Ü., dieses Verteilungsprinzip als rechtstechnische Konstruktion aus Freiheit und legitimationsbedürftigen Eingriff zu begreifen, sodass es der Annahme einer ursprünglichen gesellschafts- und staatsfernen Sphäre (wie sie bspw. bei Schilling 2004, 67 ff. mittels einer kantischen Staatstheorie entwickelt wird) gar nicht bedarf.

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Teil 3: Grundfragen

tätsverletzender Wirkung (in biologisch-physiologischer wie geistig-seelischer Hinsicht) gehindert zu werden. Darüber hinaus mindert dies die polizeilichen Möglichkeiten, den Beschuldigten durch Befragung (vgl. auch Art 104 I 2 GG) und körperliche Untersuchung zu überführen. Legitimierungsbedürftig sind bereits geringfügige Beeinträchtigungen262. Der Grundrechtsträger kann die ihm garantierte körperliche Bewegungsfreiheit (Art 2 II 2 GG) nutzen, um die Sanktionsabwehr zu organisieren263. Physische Mobilität darf ihm der Staat nur unter engen Voraussetzungen und strikter Förmlichkeit beschneiden264. Zudem sind seine postalischen und technischtelekommunikativen Nachrichtenwege, auf denen man sich zu Strafvereitelungszwecken abstimmen kann, gegenüber der Fremdwahrnehmung von Verfassungs wegen abgeschottet. Vorbehaltlich der vor Art 10 GG legitimierbaren Überwachungsmaßnahmen erhält dies die Vertraulichkeit der medial vermittelten Informationen (hinsichtlich Ob und Was ihres Austausches)265. Darüber hin262 Gegen die ältere Judikatur, die unwesentliche Beeinträchtigungen nicht für tatbestandsmäßig hielt (so BVerfGE 17, 108, 115; BVerwGE 46, 1, 7; 54, 211, 223), spricht, dass sie als gerechtfertigter Eingriff genauer reflektiert und kontrollierbar gemacht werden (vgl. Dreier/SchulzeFielitz, Art 2 II/49 m.w.N.). Das notorische Abgrenzungsproblem verlagert sich damit von der Wesentlichkeitsgrenze hin zu der Frage, wann die unwesentliche Beeinträchtigung beginnt. Problematisch ist das bei körperlichen Eingriffen, die nach h.M. auch ohne Verletzungswert von Art 2 II 1 GG erfasst sind (a.a.O., Rn 22). Auch nicht-körperliche Einwirkungen gelten bei schmerzadäquater Wirkung als Eingriff (a.a.O., Rn 20: „alles, was psychisch-seelische Pathologien, wie Angstzustände, hochgradige Nervosität usw. verursacht“; dazu auch BVerfGE 56, 54, 75; OVG NRW DVBl 1995, 1370; OVG Koblenz NJW 1996, 1422; Münch/Kunig, Art 2/66; Hermes 1987, 223 ff.). Im Verein mit dem weiten Eingriffsbegriff (unten II.1.c)bb) in Kap. 9) macht dieses weite Tatbestandsverständnis viele Verhörskonstellationen vor Art 2 II 1 GG legitimierungsbedürftig. 263 Von Art 2 II 2 GG geschützt ist das Recht, jeden tatsächlich zugänglichen Ort aufzusuchen oder zu verlassen (vgl. Münch/Kunig, Art 2/74; vgl. auch BVerfGE 94, 166, 198, wo dies auf rechtliche Zugänglichkeit beschränkt wird). Dies richtet sich dagegen, permanent oder temporär auf einen eng umgrenzten Ort festgelegt (Freiheitsentziehung) oder in anderer Form in der Möglichkeit zum Dort-Sein und Dort-Nichtsein beengt zu werden (vgl. Kunig, a.a.O., Art 2/76; Gusy, NJW 1992, 457, 459 f.; Hellermann 1993, 137 f.; Pieroth/Schlink 2003, Rn 413 ff.). 264 Art 104 I 1 GG macht für jede Freiheitsbeschränkung die Einhaltung einfachrechtlich konkretisierter Förmlichkeiten zum Verfassungsgebot (BVerfGE 58, 208, 220; 65, 317, 321 f.; EuGRZ 1997, 519, 520; Rzepka 2000, 175 f.). Für Freiheitsentziehungen normiert Art 104 II – IV GG zudem eine Reihe verfassungsunmittelbarer Formvorschriften (dazu Gusy, NJW 1992, 457, 460 ff.). 265 BVerfGE 100, 313, 358. Weil Dritte in die Übermittlung zwischen getrennten Orten leichter einzudringen vermögen (BVerfGE 106, 28, 37; Gusy, JuS 1986, 89, 90; Deutsch 1992, 114 f.), ist das Medium der jeweiligen Distanzkommunikation eine geschützte Freiheitssphäre (Amelung 1990, 33; Welp 1974, 21). Darum wird nicht nur der Austausch vertraulicher Informationen gewährleistet (zumal diese Kommunikationsgehalte nur unter Verletzung des Schutzguts als einschlägig zu ermitteln wären), sondern die Übertragung jeglicher Daten (vgl. BVerfGE 106, 28, 36; Welp a.a.O., 27 ff.; Gusy, a.a.O.; Dreier/Hermes, Art 10/18). Da aber die Verletzbarkeit des Kommunikationsmediums der Schutzgrund ist, endet der Schutzbereich von Art 10 GG mit dem technischen Übertragungsbereich (vgl. BVerfGE 106, 28, 37; BGHSt 42, 139, 154; Welp, NStZ 1994, 294, 295; Sternberg-Lieben, Jura 1995, 299, 302; KK/Nack, § 100a/5; zur Gegenansicht Neuhaus

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aus steht dem Verfahrensunterworfenen sein Vermögen zur Verfügung, um es für seine Verteidigung zu verwenden (Art 14 GG)266. Im Schutz seiner Wohnund anderer Privatbereiche267, die Art 13 GG gegenüber dem Staat abschirmt, kann er etwa Belastungsmaterial verbergen, Absprachen treffen und ähnliche strafvereitelnde Aktivitäten entwickeln. In die Ausschließungswirkung solcher Territorien wird nur durch Art 13 II – VII GG eine Bresche geschlagen (physischer Zugang268 oder optische und akustische Observation269). Gelegentlich kommen dem Verteidigungsarsenal schließlich in einem Schutzwirkungsreflex die berufsbedingten Geheimhaltungsrechte zugute270, wie im Übrigen auch die aus Art 6 GG resultierenden Grenzen der Verbrechensaufklärung.

bb) Insonderheit: Persönlichkeitsrechte Besonders dichte Sanktionsabwehrpositionen werden dem Beschuldigten durch sein allgemeines Persönlichkeitsrecht zuteil (Art 2 I, 1 I GG)271. Dieser 2002, 390 f. m.w.N.). Das von einem Gesprächsteilnehmer erlaubte Mithören oder die Beschlagnahme von Anrufbeantworter oder eingetroffener Post beruht dagegen auf Zugriffsmöglichkeiten, die nicht in den Besonderheiten des Kommunikationskanals angelegt sind. Innerhalb der Übermittlung liegt indes stets ein Eingriff vor, wenn der Grundrechtsverpflichtete sich ohne Zustimmung beider Kommunikationsteilnehmer Kenntnis von den Inhalten/Umständen des Kommunikationsablaufs verschafft (vgl. BVerfGE 85, 386, 388; Sternberg-Lieben, a.a.O., 301; dazu bei der heimlichen Überwachung etwa Lammer 1992, 121). 266

Art 14 GG gewährleistet eine solche Nutzung des Eigentums aber nur, sofern die Nutzungshandlung keinem anderen Grundrecht unterfällt (vgl. Jarass/Pieroth, Art 14/5; Pieroth/Schlink 2003, Rn 915 f.) und soweit sie unverboten ist (a.a.O., Rn 914). Dass Art 14 GG seine Hand nicht einmal prima facie über den unerlaubten Eigentumsgebrauch hält, beruht auf der gänzlich subkonstitutionellen Konstituierung seines Tatbestandes und der damit verknüpften schutzbereichsimmanenten Schrankensetzung. 267

Der verfassungsrechtliche Wohnungsbegriff ist an den Rändern umstritten (näher hierzu etwa Münch/Kunig, Art 13/10 ff.; Dreier/Hermes, Art 13/16 ff., 23 ff.; am Bsp. der U-Haft-Zelle Schneider, JR 1996, 401, 403; zum Wohnungsumfeld vgl. Rogall, NStZ 1992, 45, 46). 268 Vgl. BVerfGE 32, 54, 72 f.; 42, 212, 219; 51, 97, 107, 110; 75, 318, 326; 89, 1, 12. Gleichgültig ist, ob der Amtsträger die Wohnung offen oder – da es an einem wirksamen Grundrechtsverzicht fehlt – als verdeckter Ermittler betritt, vgl. Frister, StV 1993, 151, 152; Weil, ZRP 1992, 243, 244 f.; Groth 1996, 50 ff.; Klein 2001, 216 ff.; Perschke 1997, 69 ff.; wohl auch BGHSt 42, 103, 104; a.A. Duttge, JZ 1996, 556, 562; zum Streitstand BGH NJW 1997, 1516, 1517. 269 Etwa BVerfGE 65, 1, 40; 109, 279 ff.; Sächs. VerfGH JZ 1996, 957, 967; Lammer 1992, 106 ff., Deutsch 1992, 119 f.; Kutscha, NJW 1994, 85, 86 f.; Geiger 1994, 145 ff., 221. 270

Sie können auf Art 5 I 2, 12 oder 14 GG fußen (vgl. Deutsch 1992, 96 f., 128; Jarass/Pieroth, Art 12/11). 271 Das Persönlichkeitsrecht hat seine Geltungsgrundlage in Art 2 I GG. Art 1 I GG bildet einen weiteren – heuristischen – Gesichtspunkt zur Ermittlung der fraglichen Persönlichkeitselemente (vgl. BVerfGE 34, 238, 245; Mangoldt/Klein/Starck, Art 2 I/85; Dreier/Dreier, Art 2 I/68 m.w.N.; Jarass, NJW 1989, 857; Enders 1997, 444; zur Geschichte der dogmatischen Konstituierung Geiger 1994, 89 ff.).

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Teil 3: Grundfragen

Anspruch auf Achtung seiner personalen Identität verschafft ihm zunächst einmal den Handlungsraum, damit er als Grundrechtsträger an der interaktiven Konstituierung seines sozialen Personen-Bildes durch ein selbstbestimmtes „impression management“ gebührend mitwirken kann (dazu sogleich). Als eine zweite Komponente tritt hierzu der Respekt vor seiner Privatsphäre272. Soziale Aktionsfähigkeit und individuelles Befinden hängen davon ab, dass gewisse Lebensdaten verborgen bleiben und nicht als offenkundig kursieren. Privatsphärenschutz gemäß Art 2 I, 1 I GG gewährleistet deshalb Intimität, metaphorisch verstanden als Arkanum, das den Verdächtigen umgibt und die informationelle Teilhabe von dritten Personen verhindert273. Allerdings hängt die Widerstandskraft, mit der sich diese Geheimhaltungsbefugnis gegenüber kollidierenden Aufklärungsinteressen bewährt, von der Sensibilität, Höchstpersönlichkeit und sozialen Zugänglichkeit der fraglichen Sachverhalte ab274. Jedenfalls in einer Bruttofassung besteht danach an biographisch konstituierten Personen- und Verhaltensmerkmalen wie auch an anderen Intimdaten ein informationelles Verfügungsrecht, das für den strafvereitelnden Gebrauch offen ist275. Das Wissen um eigenes Deliktshandeln muss somit weder verbal noch nonverbal preisgegeben werden276. Dass diese Informationen an sich überindi272 Zu beiden Schienen BVerfGE 54, 148, 153 f.; Jarass, NJW 1989, 857, 859; Dreier/Dreier, Art 2 I/23 ff. m.w.N.; vgl. auch Schmitt Glaeser, der die beiden Gewährleistungskomplexe als personale und soziale Identität unterscheidet (2001, Rn 32). Wegen seiner Offenheit könnte das allgemeinen Persönlichkeitsrechts indes auch auf neuartige Gefährdungen reagieren (so BVerfGE 54, 148, 153 f.; 65, 1, 41; 79, 256, 268; 95, 220, 241). 273

Rohlf 1980, 195 ff. und prägnant Rogall 1992, 32. Der Schutz des Privaten (vgl. für einen normbereichsanalytischen Versuch Rüpke 1976, 37 ff. u.ö.) äußerte sich bislang v.a. im Bereich der Selbstreflexion, des Unbewussten und beim Agieren in der Eigensphäre (vgl. etwa BVerfGE 101, 361, 382; BGHSt 44, 13, 17 zu deren räumlichem Aspekt). Er galt vornehmlich „intimen Spuren“, bspw. höchstpersönlichen Selbstgesprächen im Tagebuch, persönlichen Daten in Kranken- und ähnlichen Akten (vgl. BVerfGE 32, 373, 379; 44, 353, 372; 80, 367, 373 ff.; 89, 69, 82 f.; vgl. auch NJW 1999, 1777). 274 Die Sphärentheorie unterscheidet zwischen der Intimsphäre, die der öffentlichen Gewalt schlechthin verschlossen ist, und dem Bereich privater Informationen, in den im Rahmen der Verhältnismäßigkeit eingegriffen werden kann (z.B. BVerfGE 6, 32, 41; 27, 344, 350; 34, 238, 245 f.; 38, 312, 320; 54, 143, 146; 80, 367, 373 f.). Die berechtigte Kritik (vgl. etwa Rüpke 1976, 22 ff.; Amelung, NJW 1990, 1753, 1755 ff.) ist bekannt. Überzeugender ist ein fallspezifisch zu konkretisierendes Kontinuum verschieden intensiver Eingriffsresistenz (dazu etwa Störmer, Jura 1991, 17, 18 ff.; Enders 1997, 142 ff.), das die Kontextabhängigkeiten von Privatheit berücksichtigt (zur Diskussion Rohlf 1980, 24 ff.). Hilfreich bereits Simmel (1909/1992, 396), dem zufolge „um jeden Menschen eine ideelle Sphäre liegt, nach verschiedenen Richtungen und verschiedenen Personen gegenüber freilich ungleich groß, in die man nicht eindringen kann, ohne den Persönlichkeitswert des Individuums zu zerstören“ (Herv. R.K.). 275

Privatsphärenschutz schließt aber auch die kommunikativen Beziehungen zu den engsten Vertrauten ein (vgl. etwa Köhler, ZStW 107 (1995), 10, 30 ff.). 276 In diese Richtung, aber mitunter recht apodiktisch: BVerfGE 56, 37, 41 f.; 95, 220, 241; wistra 2004, 19; BGHSt 42, 139, 152; Rogall 1977, 145 ff.; ders., SK-StPO, Vor § 133/132, 138

7. Kap.: Verfassungsrechtliches Fundament

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viduelle Züge tragen (weil das nämliche Vortatgeschehen stets dritte Personen berührt), tritt dabei in den Hintergrund. Sie dürfen zurückgehalten werden, weil sie das fremdpsychische Bild der betreffenden Person ebenso prägen wie deren soziale Behandlung, die erfahrungsgemäß (und meist auch von Rechts wegen) auf abträgliche Reaktionen hinausläuft277. Diese typischen Implikationen der Publizität verhelfen deliktsbezogenen Daten zu einem elementaren Geheimnischarakter. Dagegen fehlt jene rechtsbegründende Sensibilität bei solchen Fakten, die aus der privaten Sphäre bereits entlassen wurden und nicht nur den engsten Vertrauten bekannt sind. Sie unterfallen genauso wenig wie das Entlastungswissen des Unschuldigen, das gleichfalls keine intersubjektive Brisanz aufweist, dem Privatsphärenschutz278. Die gemäß Art 2 I, 1 I GG gewährleistete Selbstdarstellung trägt der überindividuell-beziehungsförmigen Existenzweise des Menschen dadurch Rechnung, dass jedermann entscheiden kann, „wie er sich gegenüber der Öffentlichkeit darstellen will, was seinen sozialen Geltungsanspruch ausmachen soll“279. Vor Publikum braucht man sich (nur) im jeweils gewünschten Maße zu exponieren, kann sich auch anonymisieren und die eigene Erscheinung anderen vorenthalten. Die Bestimmungsmacht, über die der Beschuldigte deswegen hinsichtlich seines eigenen Gebarens verfügt, erschwert es der staatsseitigen Straftaterforschung, seine Geheimnisse anhand seines Auftretens zu entschlüsseln. Dass der Grundrechtsträger entscheiden kann, „ob seine Worte einzig dem Gesprächspartner, einem bestimmten Kreis oder der Öffentlichkeit zugänglich sein sollen“280, schützt ihn (prima facie) vor dem behördlichen Abhören, Aufzeichnen (ebenso Günther, GA 1978, 193, 198; Mäder 1997, 81; Verrel, NStZ 1997, 415, 418; Schlüter 2000, 102; Hufen 2001, 112; Drope 2002, 187 f.). 277

Privat ist ein Datum wegen der Reaktion des Umfeldes auf seine Publizität. Die Verfänglichkeit vortatbezogener Daten, die auf der drohenden strafrechtlichen Verwertung beruht, stellt dabei nur eine von vielen Formen dar, in der die Datenbrisanz den Privatsphärenschutz veranlasst (dazu Wolff 1997, 46 ff.; SK-StPO/Rogall, Vor § 133/138). Haben die Informationen eine weniger einschneidende soziale Relevanz – bspw. eine frühere MfS-Mitgliedschaft (BVerfGE 96, 171, 181) oder die Begehung von Bagatelldelikten, Disziplinarverstößen usw. –, hängt es vom Selbstverständnis des Grundrechtsträgers ab, ob er dies als für seine soziale Positionierung erheblich betrachtet (vgl. Morlok 1993, 393 ff.; speziell im persönlichkeitsrechtlichen Kontext a.a.O., 75 ff., 132, 446 f.; skeptisch Lammer 1992, 80 f.). Wird diese Erheblichkeit nicht empfunden, greifen anstelle des Privatsphärenschutzes die (sogleich anzusprechenden) subsidiären Geheimhaltungsrechte aus Art 2 I, 1 I GG (ähnlich bei zivilrechtlicher „Verfänglichkeit“ Taupitz 1989, 30 f.). 278 Hier greift das subsidiäre Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Dies gilt ebenso, wenn man der Mitteilung die ursprüngliche Verfänglichkeit nimmt (I.2.b) und II.1. in Kap. 12). 279 BVerfGE 63, 131, 142. Es geht also nicht um die adäquate öffentliche Abbildung des privaten Ichs, sondern um die öffentlich inszenierte Variante des Selbst. Primär zielt dies darauf, dem Grundrechtsträger die Chancen seines gesellschaftlichen Handelns zu erhalten und ihn vor einem verzerrten Image zu schützen (zusammenfassend Dreier/Dreier, Art 2 I/71 ff.). 280 BVerfGE 54, 148, 155. Vgl. auch BVerfGE 106, 28, 39: Recht auf „Auswahl der Personen, die Kenntnis vom Gesprächsinhalt erhalten sollen“. Zum Recht am nichtöffentlich gesprochenen

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Teil 3: Grundfragen

und Verwerten seiner stimmlichen Entäußerungen281. In gleicher Weise nutzt es seiner Wissensabschottung, dass die Strafverfolgungsorgane seine Äußerlichkeit nicht ohne weiteres (heimlich/offen) festhalten und bildhaft reproduzieren dürfen282, dass man gegen seinen Willen die Kleidung und Frisur nicht verändern und sich auch seiner Schrift nicht bemächtigen darf283. Diesem Zusammenhang ist obendrein der Ehrschutz zuzurechnen284. Ungeklärt bleibt bislang freilich dessen Reichweite, bietet sich als Schutzgegenstand doch die rein faktische soziale Anerkennung ebenso an wie das normativ fundierte Ansehen285. Doch ohnehin kommt diese Rechtsposition dem strafvereitelnden Handeln nur am Rande zustatten. Selbst unter dem Vorzeichen eines Ehranspruchs, dessentwegen der Staat demütigende Sachverhalte nicht publik machen286 und nicht herstellen darf

Wort ebenso BVerfGE 80, 367, 374; 101, 361, 381; NJW 1973, 891, 892; BGHSt 10, 202, 205; 14, 358, 359 f.; 31, 296, 299; 34, 39, 50; Wolfslast, NStZ 1987, 103, 105; Bottke, Jura 1987, 356 ff. (bei telefonischen Äußerungen einschränkend BGHSt 39, 335, 343 ff.). Hinter dem Recht, über die Redeadressaten ebenso wie über die Aufzeichnung der Rede entscheiden zu können – gleich, ob es um den sprachlichen Inhalt oder die Sprachform, etwa stimmlich-phonetische Merkmale geht (vgl. Wölfl 1997, 57 f.; Ackemann 1997, 53 f. m.w.N.) –, steht die Überlegung, dass sich das aufgezeichnete Wort von seinem Sprecher verselbständigt. Müssten die Akteure dessen beliebige Verwendung befürchten, wäre die menschliche Kommunikation erheblich beeinträchtigt. 281 So BVerfGE 34, 238, 246. Anders als bei Art 10 GG ist es belanglos, wenn der Äußerungsempfänger dem Staat ein Mithören gestattet, denn auch in diesem Fall liegt eine Verletzungen des Selbstbestimmungsrechts darüber, welcher Person der Kommunikationsinhalt zugänglich sein soll, vor (BVerfGE 106, 28, 39 f.). Nach BVerfG NJW 1992, 815 sind dienstliche oder geschäftliche Äußerungen ebenfalls geschützt. Die Persönlichkeitsnähe der Gesprächsinhalte ist unerheblich (a.A. Bottke, Jura 1987, 356, 357 ff.). Solche Gesichtspunkte können nur die Eingriffsresistenz beeinflussen (die generell als Einzelfallproblem gilt, vgl. BVerfGE 34, 238, 248; BGHSt 31, 296, 299 f.; BAG NJW 1998, 1333 ff.; Mangoldt/Klein/Starck, Art 2 I/89). 282 Der ehedem auf Schaustellung und Verbreitung fremder Bilder beschränkte Schutz bezieht nunmehr deren Herstellung ein (vgl. Amelung/Tyrell, NJW 1980, 1560 f.; Geiger 1994, 96 ff.). Dahinter steht erneut die Befürchtung, dass das Abbild von der Person isoliert wird und jene verzeichnet (so droht der Unbefangenheit sozialen Agierens erhebliche Gefahr, vgl. Paeffgen, JZ 1979, 516; zum Recht am eigenen Bild vgl. BVerfGE 34, 238, 246; 35, 202, 220; 54, 148, 154; 87, 334, 340; 101, 361, 381; Rogall, NStZ 1992, 45, 46 f.; Wölfl 1997, 58 ff.). Da die Schutzbedürftigkeit nicht aus der Intimität, sondern der Instrumentalisierbarkeit von Abbild oder Aufzeichnung herrührt, ist es gleichgültig, ob diese im privaten oder öffentlichen Kontext erfolgt (BVerfGE 101, 361, 381). 283

Vgl. BVerfGE 47, 239, 249; Mangoldt/Klein/Starck, Art 2 I/91, 106.

284

Zu dessen Anerkennung vgl. BVerfGE 54, 148, 154; 54, 208, 217; 75, 369, 380; 93, 266, 290; NJW 1994, 1780; Dreier/Dreier, Art 2 I/76; Scholz/Konrad, AöR 1998, 60, 66 m.w.N. 285

Vgl. allerdings die instruktive, normbereichsanalytische Problemannäherung bei Rühl 1998, 302 ff., 328 ff. 286 Vgl. Faber 1999, 71 ff.; Kuß 1999, 87 ff. und BVerfGE 89, 69, 82, dem zufolge das allgemeine Persönlichkeitsrecht vor der „Weitergabe von Befunden über den Gesundheitszustand, die seelische Verfassung und den Charakter“ schützt. In eben diesem Sinne sind auch BVerfGE 78, 77 (Entmündigung) und BVerfGE 99, 185 (Sektenmitgliedschaft) zu lesen, obwohl dort der Ehrenschutz nicht genannt wird.

7. Kap.: Verfassungsrechtliches Fundament

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(prima facie auch nicht durch Strafurteil287), kann der Beschuldigte ein behördliches Informationsbegehren nämlich allein bei einer drohenden Beschämungslage zurückweisen. Ein solcher Entwürdigungseffekt wird von der selbstbelastenden Enthüllung aber nur im Einzelfall – und besonders selten bei bagatellarischen Vortaten288 – hervorgerufen289.

Schließlich hat das BVerfG als jüngste Ausprägung des Persönlichkeitsrechts ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung inauguriert, das dem Individuum ebenfalls die selbstbestimmte Teilnahme an der sich interaktiv konstituierenden Gemeinschaft bahnt290. Anlass dafür gab die Angst vor den Verheerungen, die informationelle Dominanz gepaart mit den technologischen Potenzialen moderner Datenverarbeitung in den gesellschaftlichen Beziehungen anrichten kann (gerade wenn sie sich mit anderen staatlichen Machtinstrumenten verbündet). Die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der sozialen Akteure leidet, sobald sie nicht abschätzen können, wer was über sie weiß. Deshalb soll durch die Legitimationszwänge bei Erhebung, Weitergabe und Verwertung personenbezogener Informationen291 deren Beherrschung zwischen dem Einzelnen und 287 Das Schrifttum sieht im Strafurteil einen Eingriff in den Ehrschutz, weil darin eine defizitäre Einstellung zu einer Rechtsnorm festgestellt wird (vgl. Lagodny 1996, 122 ff.; Appel 1998, 492 f., 496). Da bereits der Verdacht ein entsprechendes Stigma generiert, kann die Durchführung des Strafverfahrens die Ehre ebenso tangieren (vgl. Haberstroh, NStZ 1984, 289, 290 f.; Eisenberg/Conen, NJW 1998, 2241, 2242; Lorenz 2001, 548 f.; Bachmann 1994, 120; SternbergLieben, ZStW 108 (1996), 721, 733 ff.), und zwar auch nach Einstellung oder Freispruch mangels Beweises (vgl. Kühl 1983, 37; Sternberg-Lieben a.a.O.; Krack 2002, 57 ff.). 288

Vgl. dazu am Beispiel der Verkehrsdelinquenz m.w.N. Kölbel 1997, 140 ff.

289

So aber i.E. Puppe, GA 1978, 289, 303 f.; Münch/Kunig, Art 2/35; Verrel, NStZ 1997, 415, 419; Böse, GA 2002, 100 (offenbar auch Jerouschek, ZStW 102 (1990), 793, 796; Neumann 1998, 382), die die Selbstbezichtigungsfreiheit als Schutz vor demütigenden Informationserhebungen begreifen (wofür sie offenbar – ebenso wie die Autoren in Fn 287 – für den Ehrbegriff auf faktische und nicht auf „verdiente“ Geltung rekurrieren). Der Vorschlag von Lagodny (StV 1996, 167, 171; kritisch Bosch 1998, 48 f.), nemo tenetur auf den Ehrschutz „zurückzuführen“, operiert hingegen mit dem Strafurteil als Eingriff in das Ehrenrecht. Hieran mitzuwirken, könne keine Pflicht bestehen. Eine solche Ableitung prozessualer Rechte aus dem Strafurteil, wäre aber nur plausibel, wenn eine Aussagepflicht nicht schon „für sich“ einen Grundrechtseingriff darstellen würde. 290 Dazu BVerfGE 65, 1, 41 ff.; 78, 77, 84 ff.; 84, 192, 194 f.; 92, 191, 197; NJW 1988, 3009; speziell für den Strafprozess BVerfG NStZ 1996, 45; NStZ 2001, 328, 329; vgl. auch Duttge, Staat 1997, 281, 288 ff. mit einem Rspr.-Überblick. Die dogmatische Herleitung durch das Gericht und alternative Begründungswege werden von Hoffmann-Riem (AöR 1998, 513, 519 ff.) näher erörtert (dazu auch Schlink, Staat 1986, 233, 242 ff.; Keller 1989, 131). Zwar fand sich auch grundsätzliche Kritik (bspw. Brossette 1991, 219 ff. sowie aus dem strafrechtlichen Schrifttum Duttge, a.a.O., 304 ff.; ders. NJW 1998, 1615 ff.; Rogall 1992, 42 ff., 57 f.; vgl. auch ders., GA 1985, 1, 9 ff.), doch sind Zeit und Praxis darüber hinweggegangen. 291 Geschützt ist jede „Information unabhängig von ihrer Bedeutung für die Person“ (Holznagel 2000, 38). Ihre Persönlichkeitsnähe ist auf Schrankenebene zu berücksichtigen (Weichert 1990, 17; Deutsch 1992, 74, 81; Ernst 1994, 72; Mangoldt/Klein/Starck, Art 2 I/111), insofern bei ihr die Gefahr der fremdbestimmten Datenverfügung steigt (vgl. Chirino Sanchez 1999, 83 f.; Macht 1999, 188 ff.).

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Teil 3: Grundfragen

der Allgemeinheit mediatisiert und einem staatlichen Wissensimperium Einhalt geboten werden292. Auf Brutto-Ebene schließen sich damit sämtliche Lücken, die gegenüber der staatlichen Verbrechensaufklärung von den Geheimhaltungsrechten ehedem noch belassen wurden293. Der Beschuldigte regiert danach (prima facie) jegliche Information über seine Person oder sein Verhalten. Er allein entscheidet über sein informationshaltiges Handeln (wohingegen das informationsbetroffene Handeln dem jeweils einschlägigen Grundrecht unterfällt294). Will sich der strafrechtlich ermittelnde Staat beim Grundrechtsträger dieses selbstbezogene Wissen oder einen gegenständlichen Träger solchen Wissens verschaffen, unterliegt dies den Anforderungen des informationellen Selbstbestimmungsrechts – sofern nicht schon der speziellere Geheimnisschutz der benannten Grundrechte und des Persönlichkeitsrechts angesprochen sind295. Die informationelle Selbstbestimmung deckt 292 Neben einigen speziellen Festlegungen (Zweckentfremdungsverbot; keine Sammlung von Informationsvorräten; keine Bildung von Persönlichkeitsprofilen; Aufklärungs-, Auskunfts- und Löschungsansprüche – dazu BVerfGE 65, 1, 45 ff.) führt das informationelle Selbstbestimmungsrecht im Wesentlichen zum Gesetzesvorbehalt einer bereichsspezifischen und verhältnismäßigen gesetzlichen Ermächtigung für die Erhebung und Verwendung von Informationen, weil nach BVerfGE 65, 1, 44 die Allgemeininteressen meist die Informationsverfügungsrechte überwiegen (vgl. aber Mangoldt/Klein/Starck, Art 2 I/109 ff. mit einigen Verhältnismäßigkeitskriterien). Den zentralen Topos in der strafprozessualen Anschlussdiskussion bildet dementsprechend die Schwelle, an der Ermittlungen wegen ihres Eingriffswertes einer Befugnisnorm bedürfen, dazu etwa Weßlau 1989, 160 ff.; Deutsch 1992, 69 ff.; Ernst 1994, 71 ff.; Riepl 1998, 190 ff.; Rogall 1992; Sternberg-Lieben, Jura 1995, 299, 305). So gesehen spekuliert die informationelle Selbstbestimmung vorwiegend auf die Trägheit des Gesetzgebers, was in einer Phase kriminalpolitischer Hektik freilich nicht aufgeht. Die verkümmerten inhaltlichen Grenzen haben dann einer materiellen Ausdünnung wenig entgegenzusetzen (vgl. zuletzt Müssig, GA 2004, 87, 95). 293 Der Beschränkung der informationellen Selbstbestimmung auf Informationssammlung per Datenverarbeitung (so Rogall, GA 1985, 1, 13 f.; ders. 1992, 49 ff.; Sternberg-Lieben, Jura 1995, 299, 300 Fn 70; Makrutzki 2000, 100 m.w.N.; vgl. auch Kunig, Jura 1993, 595, 599 f.) wurde eine berechtigte Absage erteilt (BVerfGE 78, 77, 84; dazu auch Duttge, JZ 1996, 556, 560). Alles andere wäre wegen der Invarianz der Probleme, die mit dem technologischen Verarbeitungsmodus nur graduell variieren, wenig überzeugend (vgl. Schlink, Staat 1986, 233, 248; Ernst 1994, 56 f.). 294 Geheimhaltungsinteressen im Bereich der Produktion des Informationsgegenstandes sind umfassend durch jene Grundrechte geschützt, die zuständig sind für das produzierende Verhalten oder die Produktionssphäre. Dagegen schützt informationelle Selbstbestimmung die Information und das Informieren über Verhalten oder Verhältnisse, nicht das Verhalten oder Verhältnis selbst. So greift etwa eine Observation direkt auf die Eigenart der beobachteten Person oder ihr Agieren zu und macht dies zu einer Information. Dafür ist das Recht am eigenen Wort bzw. Bild einschlägig, während sich informationelle Selbstbestimmung gegen das Zirkulieren solcher Informationen richtet (vgl. auch Geiger 1994, 181). Sie ist freilich dann wieder relevant, wenn bei der optischen/akustischen Überwachung zugleich Wissensentäußerungen registriert werden. 295 Vgl. Pieroth/Schlink 2003, Rn 377: „Auffangrecht“ der speziellen Persönlichkeitsrechte, soweit sie mit Informationen zu tun haben (ebenso Mangoldt/Klein/Starck, Art 2 I/108; Dreier/Dreier, Art 2 I/80; Nothhelfer 1989, 82; Rühl 1998, 95; Pohl 2002, 156 f.). Das BVerfG lässt eine Klarstellung vermissen. Dass es auch nach dem Volkszählungsurteil mit dem Privatsphären-

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283

folglich in subsidiärer Weise die gesamten gewussten personalen Sachverhalte und deren Vergegenständlichung ab (Erbgut, Datenträger, Aufzeichnung, Diebesbeute). Da die „Regeln des Datenschutzes“ bei identitätsprägenden Umständen hinter den vorrangigen Privatsphärenschutz zurücktreten, binden sie also vornehmlich den Zugriff auf den „vorgelagerten Informationsbereich“296 der einfachen personenbezogenen Sachverhalte (ganz gleich ob der Staat deren verbale oder nonverbale Preisgabe final oder faktisch, offen oder heimlich bewirkt297). Auch bei selbstbelastenden Informationen übernehmen sie diese Reservefunktion gegenüber der strafprozessualen Erhebung298 und Verwendung299.

schutz operiert, verweist auf dessen Spezialität (vgl. Störmer, Jura 1991, 17, 18 anhand BVerfGE 80, 367, 373; in dieser Richtung auch BVerfG NStZ 2001, 328, 329). Für die Gegenansicht, die in der informationellen Selbstbestimmung eine vorrangige persönlichkeitsrechtliche Ausprägung sieht, vgl. etwa Hufen 2001, 120. 296

Begriff von Duttge, NJW 1998, 1615, 1618.

297

Die Details obliegen hier dem Eingriffsbegriff. Problematisch erscheint insofern etwa die heimliche Informationserhebung, deren Eingriffscharakter überwiegend bejaht wird (etwa Rohlf 1980, 201; Schlink, Staat 1986, 233, 248; Keller 1989, 132; Weichert 1990, 114 f.; Lammer 1992, 26 ff.; Geiger 1994, 111; Lilie/Rudolph, NStZ 1995, 514, 515; Enders 1997, 456; Perschke 1997, 56; Renzikowski, JZ 1997, 710, 714; Böse, GA 2002, 98, 102; ebenso für den Privatheitsschutz z.B. Rüpke 1976, 91 f.; Rogall, JZ 1987, 847, 851; Duttge, JZ 1996, 556, 559, 563; Derksen, JR 1997, 167, 170; einschränkend BGHSt 39, 335, 343; 42, 139, 154). 298

Das BVerfG unterscheidet nemo tenetur vom Recht auf informationelle Selbstbestimmung (vgl. 2 BvR 1565/94 v. 14.12.2001). Zugeschlagen wird ihm die Selbstbelastungsfreiheit aber von Maunz/Dürig/Di Fabio, Art 2 I/187; SK-StPO/Wohlers, § 163a/44; Nothhelfer 1989, 82 f.; Jarass, NJW 1989, 857, 859; Renzikowski, JZ 1997, 710, 714 und offenbar auch von Ransiek 1990, 52 f.; Holznagel 2000, 39. 299 Anders als bei Beweisverboten, die als sekundäre Folgen grundrechtswidriger Datenerhebung entstehen (dazu Amelung 1990, 26 ff., 38 ff. und II.1. in Kap. 12), geht es hier um Grenzen der strafprozessualen Verwendung zivil-/verwaltungsrechtmäßig erhobener Daten. Deren Zweckentfremdung für den Strafprozess unterliegt nach BVerfGE 65, 1, 45 ff. gewissen Voraussetzungen (dazu etwa Holznagel 2000, 39; zur informationellen Gewaltenteilung bei der Strafverfolgung Weichert 1990, 47 ff.; Ernst 1994, 73 ff., 149 ff.; Riepl 1998, 216 ff.). Zwar wird mitunter bezweifelt, dass das informationelle Selbstbestimmungsrecht solche Datentransfers und Datenverwendungen, die ihrem Erhebungszweck fremd sind, verbieten kann (denn es handle sich hierbei nicht um den grundrechtstypischen Anspruch auf staatliches Unterlassen, sondern um staatsinterne organisatorische Vorkehrungen, so Wolff 1997, 250 ff., 257 ff.), doch verkennt die Kritik, dass die staatliche Herstellung von Informationspublizität den Kreis informierter Personen ausweitet und so als eigener Eingriff wirkt. Allerdings gibt es bei der Verwertungsschranke ebenfalls speziellere Rechte, nämlich Art 10 und 13 GG (dazu BVerfGE 100, 313, 315; 109, 279, 331 ff.; Dreier/Hermes, Art 10/50 f.; Macht 1999, 205 f.) und den persönlichkeitsrechtlichen Privatsphärenschutz (dazu etwa Rohlf 1980, 206 ff.; Störmer 1992, 37 f. u.ö.; Rogall 1992, 65; Wölfl 1997, 43 f.). Daher tritt die informationelle Selbstbestimmung auch bzgl. der Datenverwendung zurück, wenn es um selbstbelastende Informationen geht (Konkurrenzfrage verkannt von OLG Hamburg, JR 1986, 167, 168; offen gelassen von OLG Düsseldorf, StV 1992, 503, 505).

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Teil 3: Grundfragen

cc) Abwehrrechte aus der Menschenwürde? Sämtliche Versuche, den von Art 1 I GG angesprochenen Normbereich zu bestimmen und die Seinsgegebenheiten von Menschenwürde auszumachen, basieren bei aller philosophischen Hintergründigkeit auf Aussagen von gesteigertem Wertungscharakter300. Das beruht neben der Abstraktionshöhe des Normtextes auch darauf, dass beim Normbegriff der Menschenwürde kein „natürlicher“ Normbereich existiert und kein reales, wertungsunabhängig existierendes Referenzobjekt auszumachen ist. Würde ist allein eine Zuschreibung301. Beim Versuch, sie mit Inhalt zu füllen, handelt man sich all jene Unwägbarkeiten ein, die vorrechtlichen Konzepten generell eignen. Das belegt nicht zuletzt auch die strafprozessuale Selbstbelastungsdebatte, in der man es einerseits als Ausdruck von Menschenwürde ansieht, dass jedermann kraft seines Person-Seins für das eigene Tun einstehe302, während nach anderen Autoren die Würde nur gewahrt sei, wenn der zum Wesen des Menschen zählende Selbsterhaltungstrieb respektiert wird303. Offensichtlich projizieren beide Positionen ihre individuelle Unterstellung ungefiltert auf die Verfassungsnorm. Zur Zuschreibung von Menschenwürde bekennt sich offener, wer auf deren positive Bestimmung verzichtet und sie stattdessen vom Verletzungsvorgang her kennzeichnen will304. Mit der Absage an einen Würdebegriff fehlt indes jeder Maßstab, an dem sich der Eingriffscharakter der fraglichen Maßnahmen feststellen ließe. Daher muss diese Methode darauf zählen, dass die von ihr stigmatisierten Akte für sich sprechen und auf einhellige Ablehnung stoßen305. Auch der Versuch, mit der „Objektformel“ die Würdeverletzung zu definieren306, kann die verpönten Instrumentalisierungen angesichts der gesellschaftli300

Überblick über Versuche positiver Würdebestimmung bei Enders 1997, 6 ff., 10 ff.

301

Dazu Hoerster, JuS 1983, 93, 94 f.; Schlehofer, GA 1999, 357, 360.

302

In diesem Sinne Mangoldt/Klein/Starck, Art 1 I/51; Walder 1965, 80; Castringius 1965, 58 f.; Günther, GA 1978, 193, 197; Fischer 1979, 97 ff.; H. Schneider 1991, 46; Bosch 1998, 39; KMR/Lesch, § 136/17. 303 So zuletzt Torka 2000, 52 f., 128; vgl. auch Rüping 1976, 133 f.: Die Respektierung der Selbstbehauptung nach Art 1 I GG münde ins Schweigerecht. Ähnlich argumentiert, wer das Menschenunwürdige einer strafprozessualen Aussagepflicht in der „Überforderung“ der betreffenden Person sieht (etwa Tschacksch 1988, 89; Wolff 1997, 45; Salger 1998, 14). 304 Repräsentativ Mangoldt/Klein/Starck, Art 1 I/16; Höfling, JuS 1995, 857, 859; aus der Rspr. etwa BVerfGE 1, 97, 104; 27, 1, 6; 30, 1, 25; 72, 105, 116; 109, 279, 311 ff.; BayVerfGH BayVBl 1982, 47, 50. 305 306

Kritisch daher z.B. Dreier/Dreier, Art 1 I/52; Enders 1997, 385 ff.

Eine Würdeverletzung liege vor, wenn der „konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“ (Dürig, AöR 1956, 117, 127). Dieser Ansatz ist weit verbreitet (repräsentativ Münch/Kunig, Art 1/22 ff.; aus der Judikatur zuletzt BVerfGE 87, 209, 228; 109, 279, 312; vgl. auch Geddert-Steinacher 1990, 31). Er entwickelt gerade für die

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285

chen Immanenz, Ubiquität und Vielgestaltigkeit von Fremdbestimmung nicht abschließend markieren. Wenn der Konsens bricht, lässt sich deshalb die Auseinandersetzung darüber, ob die streitbefangene Maßnahme unter die ObjektMetapher zu subsumieren ist, nur noch dezisionistisch beenden. Der Unbestimmtheit der Objektformel verdanken sich die strafprozessualen Dispute, ob der Beschuldigte durch körperliche Untersuchungen (§ 81a StPO) und Vomitivmittelvergaben307 oder durch die von § 136a StPO verbotenen Vernehmungsweisen tatsächlich menschenunwürdig behandelt wird308. So lässt sich denn auch die These, dass Mitteilungs- und Mitwirkungspflichten entsubjektivierend auf eine Selbstüberführung zielen und die Würde des Betroffenen missachten309, füglich bezweifeln, wenn man die generelle strafprozessuale Einbindung des Beschuldigten bedenkt310. Die von der Objektformel erwarteten Evidenzen gibt es jedenfalls nicht. So geht man nicht zufällig darauf zurück, sich nur noch auf den faktischen Konsens, wonach es sich im Spektrum aller strafprozessualen Inanspruchnahmen ausgerechnet beim Selbstbelastungszwang um eine würdeverletzende Variante handle, zu berufen311. Obendrein hat es die Ansicht, die die Passivrechte auf Art 1 I GG zurückführt, mit dem Widerspruch zu tun, dass der Angeklagte beispielsweise sein Schweigerecht aufgeben und sich zur Sache einlassen kann312, obwohl der Grundrechtsverzicht im Menschenwürdebereich ansonsten als heikel gilt313. Ungeklärte Probleme trägt ihr strafprozessrechtliche Rhetorik eine besondere Attraktivität (vgl. etwa Rzepka 2000, 301), geißelt er doch die „Rückfälle“ in den neuzeitlichen Inquisitionsprozess, dem man gemeinhin (wenn auch nicht ganz zutreffend) vorwirft, den Beschuldigten wie eine Sache behandelt zu haben. 307 308

Etwa KG StV 2002, 122 f.; Neumann 1998, 384 ff.; Dallmeyer, KritV 2000, 252, 254 ff. Dazu SK-StPO/Rogall, § 136a/3, 80; Groth 1996, 82; Reiche 1999, 32 ff.

309 So BVerfGE 38, 105, 114 f.; 55, 144, 150; 56, 39, 42, 49; 95, 220, 242; NJW 1999, 779; StV 2002, 177; BGHSt 14, 358, 364; 38, 214, 220; Kunig 1986, 380; Maunz/Dürig/Herdegen, Art 1 I/82; H/H/Sp/Hellmann, § 393 AO/14; Stürner, NJW 1981, 1757; Wolter 1990, 498; Buchholz 1990, 79; Lammer 1992, 156; Weigend 1997, 153; Wieland 1997, 139; Götting 2001, 153; Weigend 2001, 275; Bock 2001, 259; Schohe, NJW 2002, 492; Röckl 2002, 103; Schilling 2004, 91. Oft bleibt dies ohne Begründung und spielt nur mit der Evidenz der Behauptung. Am klarsten argumentiert SK-StPO/Rogall, Vor § 133/132: Die Würdeverletzung liege darin, dass die Strafe als Beeinträchtigung der eigenen Rechtssphäre selbst herbeigeführt und der Einzelne in besonderer Weise funktionalisiert werde. Gemeint ist eine Degradierung zum Ermittlungsobjekt, die sich von anderen Prozesseingliederungen durch die aktive Selbstschädigung unterscheide. 310 Dass die „Behandlung als Mittel“ ein Spezifikum strafrechtlich verfänglicher Aktivpflichten ist und so ausgerechnet diese Maßnahmegattung diskriminiert, bestreiten zu Recht KMR/Lesch, § 136/5 f.; Günther, GA 1978, 193, 196; Ransiek 1990, 53; Mäder 1997, 72; Salger 1998, 13; Bosch 1998, 39 ff.; Schlüter 2000, 103 f.; Verrel, 2001, 227 ff.; Möller, JR 2005, 314, 317. 311

So explizit Nothhelfer (1989, 73 f.): Eine Selbstbelastungspflicht sei eine Würdeverletzung, da sie als solche konsentiert („vom herrschenden Rechtsethos“) angesehen werde (ebenso Stalinski 2000, 23 f.). 312

Die Verzichtsbefugnis zeigt Art 103 I GG an (vgl. Kölbel, NStZ 2003, 232, 235).

313

Vgl. dazu nur m.w.N. Spieß 1997, 107; Sternberg-Lieben 1997, 47.

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Teil 3: Grundfragen

auch die Unantastbarkeit der Würdegarantie ein, der zufolge keine Verkürzung von Art 1 I GG zu rechtfertigen ist314. Da Selbstbelastungsfreiheiten deswegen an sich nicht beschnitten werden könnten315, muss man sich, wo man den Eingriff doch einmal für zuträglich hält, mit einem verdeckten methodischen Lavieren behelfen. Das jeweils beschnittene Verteidigungsverhalten, das nemo tenetur zugehören und daher in den einschränkungslos gewährleisteten Schutzbereich von Art 1 I GG fallen könnte, wägt man zunächst mit den kollidierenden Eingriffszwecken ab und ordnet es im Falle seines Unterliegens der Menschenwürde gar nicht erst zu316.

Am Ende muss all dies jedoch gar nicht weiter verfolgt werden. Nach zutreffender Auffassung wird nämlich die Würdenorm durch einen abwehrrechtlichen Status kategorial verfehlt. Schutzwirkungen für die (wie immer verstandene) Menschenwürde erzeugen allein die speziellen Einzelgrundrechte. Art 1 GG fungiert als deren materialer Grund, ohne sich selbst als eigenes subjektives Recht in sie einzureihen oder gar vor sie zu stellen. Eine Anspruchs-Gestalt nimmt er nur indirekt ein, indem er den anderen Grundrechten als objektives Recht eine oberste heuristische Richtlinie und einen leitenden Interpretationsmaßstab bietet. Aus dieser Warte, die zunehmende Anerkennung erfährt317, gibt

314 Vgl. etwa BVerfGE 34, 238, 245; 75, 369, 380; 80, 367, 373; 93, 266, 293; Dreier/Dreier, Vorb./133; Art 1 I/151 f.; Enders 1997, 101 ff.; Lerche 2000, Rn 19; Höfling, JuS 1995, 857, 859; a.A. etwa Schlehofer, GA 1999, 357, 362. 315 Hierüber geht freilich Torka ohne eine Spur von Problembewusstsein hinweg, indem er den als Menschenwürdeelement gedeuteten nemo-tenetur-Satz in systematischer Weise mit der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zu praktischer Konkordanz führen will (2000, 125 f.). Problematisch auch BGHSt 38, 214, 221 ff.; 38, 263, 267 ff.: Der menschenwürderelevante nemo-tenetur-Satz umfasse einen Belehrungsanspruch, da sonst das Schweigerecht verkürzt würde, doch legitimierten kollidierende Interessen u.U. die Verwertung auch der unbelehrt abgelegten Aussage. 316 Diese Strategie ist für andere Rechtsfragen hinlänglich beschrieben (vgl. Alexy 1994, 95 ff.; Borowski 1998, 215; Lorenz, JZ 1992, 1000, 1005; siehe auch Müller 1979, 133, 204 f.). Die strafprozessuale Dogmatik bedient sich dieses Kunstgriffs, wo sie einen abwägungsresistenten Menschenwürdebereich von nemo tenetur von seiner abwägungsoffenen Schutzzone unterscheidet, in die sie sodann den Schutz vor heimlich bewirkter Selbstbelastung verlagert (repräsentativ Renzikowski, JZ 1997, 710, 714; Eschelbach, StV 2000, 390, 396; Schlüter 2000, 105 f.). 317 Art 1 I GG ist dirigierendes Prinzip, Auslegungsmaxime, Deutungsschema, verständnisleitender Grundsatz (vgl. Geddert-Steinacher 1990, 44 f., 164 ff.; Gröschner 1995, 45 ff.; Enders 1997, 118 ff., 152 ff., 310 ff., 391 ff.; Sobota 1997, 423; Dreier/Dreier, Art 1 I/128, 162 m.w.N.; demonstriert wird dies am Bsp. der Folter bei Jerouschek/Kölbel, JZ 2003, 613, 616 ff.). Dagegen sieht die h.M. in Art 1 I GG ein subjektives Recht (etwa Maunz/Dürig/Herdegen, Art 1 I/26; Münch/Kunig, Art 1/3; Höfling, JuS 1995, 857 f.). Der hier befürwortete Status von Art 1 I GG beruht auf der Abstraktionshöhe des Normtextes, die dessen Konkretisierbarkeit auch auf der sprachtheoretischen Basis der Strukturierten Rechtslehre besonders erschwert (Enders a.a.O., 382 ff.), v.a. aber auf seiner absoluten Gewährleistungsstruktur. Um diesen durchgängigen Vorrang durchzuhalten, müsste Art 1 I GG einen Schutzbereich aufweisen, bei dem Kollisionen mit der absoluten Menschenwürde anderer Grundrechtsträger ausgeschlossen sind. Dies reduzierte nicht nur die normative Reichweite von Art 1 I GG, es ist wegen der Unbestimmtheit des Schutzbereichs, die nur durch ein allgemein abgelehntes, präskriptives Würde-Bild vermeidbar wäre, auch gar nicht erreichbar (dazu im Detail Enders a.a.O., 101 ff.).

7. Kap.: Verfassungsrechtliches Fundament

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Art 1 I GG keine selbstständige Grundlage von Strafvereitelungsfreiräumen ab. Nemo-tenetur-relevant ist diese Norm nur insofern, als sie die derzeit anerkannten Aussagen der sonstigen Grundrechte, die hier auf ihre Einschlägigkeit hin untersucht werden, geprägt hat.

b) Schutzeffekt von Handlungsrechten aa) Allgemeine Handlungsfreiheit Die bisher angesprochenen Abwehrrechte schützen die (ideell, interaktiv, gegenständlich konstituierte) Güterausstattung des Grundrechtsträgers vor dem staatlichen Zugriff. Schon damit füllt sich ein Köcher an Hilfsmitteln, auf die der Beschuldigte zur Sanktionsabwehr zurückgreifen kann. Zusätzliche Mittel erhält er hierfür durch seine ausdrücklich gewährleisteten Verhaltensfreiheiten318. Dazu zählt zunächst die allgemeine Handlungsfreiheit (Art 2 I GG). Prima facie erlaubt sie sämtliche Betätigungen, ob aktiv oder passiv319 und in welcher konkreten Form auch immer (ohne dass hiervon ein prägender Bezug zur individuellen Selbstverwirklichung ausgehen müsste320). Verteidigung und Strafvereitelung jeder Art sind darin ohne Ausnahme eingeschlossen. Die allgemeine Handlungsfreiheit räumt das Feld lediglich zu Gunsten der Spezialfreiheiten – und auch dass nur bei deren Schutzbereichseinschlägigkeit321, also nicht schon in Fällen, in denen die sanktionsabwehrende Aktionsform bloß den weiteren Regelungsbezirk der speziellen Grundrechte berührt (ohne dass deren eigentlicher Schutzbereich zum Tragen kommt)322. Als derart subsidiäre Garan318 Substanziell besteht allerdings kein Unterschied von Handlungs- und Abwehrrecht, denn in beiden Fällen werden Handlungsmöglichkeiten eröffnet (ebenso Hellermann 1993, 133). 319

Zu diesem Gesichtspunkt Hellermann 1993, 36, 180 f. m.w.N.

320

Grundlegend zum Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit BVerfGE 6, 32, 36 ff.; vgl. z.B. auch BVerfGE 80, 137, 152 ff.; 90, 145, 171; 91, 335, 338. Gegen die vereinzelte Forderung nach einem personalen Bezug, die im strafprozessualen Schrifttum v.a. Duttge (1995, 164 ff.; Staat 1997, 281, 293 ff.) erhebt, spricht – neben den damit einhergehenden Abstrichen in der Dichte des Grundrechtsschutzes (dazu Pieroth, AöR 1990, 33 ff.) – insbesondere die dabei drohende Willkürlichkeit der Schutzbereichsbestimmung. Hierzu und zur h.M. Degenhart, JuS 1990, 161, 162 ff.; Alexy 1994; 309 ff.; Erichsen 2001, Rn 13 ff.; Dreier/Dreier, Art 2 I/28 f.; Kahl 2000, 31 ff.; Hufen 2001, 122 f.; Cremer 2003, 79 ff. 321 Dabei ist Art 2 I GG auch dann blockiert, wenn der Eingriff in das Spezialgrundrecht gerechtfertigt ist (stellvertretend Dreier/Dreier, Art 2 I/30, 93; Arnauld 1999, 54 m.w.N.). 322

Allerdings wird immer wieder behauptet, Spezialgrundrechte entwickelten „negative Spezialität“. Verhaltensweisen, die ihnen irgendwie zugehörig erscheinen, tatbestandlich aber ausgegrenzt sind, sollen danach nicht von Art 2 I GG aufgefangen werden (vgl. etwa Bethge, VVDStRL 57, 1998, 7, 24 f.; Kahl 2000, 19 f.; Duttge 1995, 90 ff.). Wie jede andere Normwirkung müsste sich dieser Verdrängungseffekt, der den betroffenen Verhaltensweisen jeglichen Grundrechtsschutz entzieht (einschließlich der formellen Verfassungsbindungen), indes dem spezialgrundrechtlichen

288

Teil 3: Grundfragen

tie sichert sie dem Beschuldigten zu, bei seiner Sanktionsabwehr „nur aufgrund solcher Vorschriften mit einem Nachteil belastet zu werden, die formell und materiell der Verfassung gemäß sind“323. Sein tätiges und unterlassensförmiges Bemühen, des Bestraft-Werden abzuwenden, kann allein bei Vorliegen eines verhältnismäßigen Gesetzes gebrochen werden324.

bb) Meinungsäußerungsfreiheit Nach Art 5 I GG darf jede Meinung gebildet und in jeder Form artikuliert werden. Da diese Freiheit zum Tun aber voraussetzt, dass das Nicht-Tun (d.h. die Nichtwahrnehmung des Handlungsrechts) ebenso offen steht325, enthält das Grundrecht auch eine negative Schutzebene und stellt es seinem Träger frei, eine bestimmte Meinung nicht zu haben und/oder nicht zu auszusprechen326. Beide Seiten werden für die strafprozessual inquirierte Person in dem Maße bedeutsam, in dem sie im Verfahren „Meinungen“ im Sinne des Art 5 I GG formulieren will oder soll. Wann eine (non-)verbale Entäußerung aber nun diese grundrechtsthematische Eigenschaft aufweist, ist verfassungsdogmatisch noch nicht ausgemacht. Gewiss zählen solche Kundgaben, die eine subjektive Einschätzung übermitteln, ohne weiteres zu den Meinungen der tatbestandlichen Art327. Umstritten ist dagegen, ob dem die tatsachenbasierenden (d.h. die dem Wahrheitsbeweis zugänglichen) Aussagen gleichstehen. Normtext zurechnen lassen. Ihm pauschal das Wort zu reden, muss auf Ablehnung stoßen (vgl. Maunz/Dürig/Di Fabio, Art 2 I/27; Dreier/Dreier, Art 2 I/93; Jarass/Pieroth, Art 2/2; Pieroth, AöR 1990, 33, 42; ders./Schlink 2002, Rn 341; Arnauld 1999, 53 ff.). Deshalb gewährleistet Art 2 I GG bspw. die unwahre Tatsachenbehauptung des Beschuldigten, sofern man sie mit der h.M. (unten Fn 329) aus der Meinungsäußerungsfreiheit ausschließt (vgl. Jarass/Pieroth, Art 5/5). 323

BVerfGE 29, 402, 408.

324

Ebenso mit Blick auf die Freiheit vom Selbstbelastungszwang Rogall 1977, 137; Wolff 1997, 30; Mäder 1997, 80; Bosch 1998, 46; vgl. auch Amelung 1990, 34 f. 325

Denn: Freiheit beruht auf erlaubten Handlungsalternativen (Alexy 1994, 194 ff.).

326

Zur Diskussion um die negative Meinungsfreiheit vgl. Hellermann 1993, 29. Zustimmend etwa BVerfGE 57, 170, 192; 65, 1, 40; 95, 173, 182; Eberle, DÖV 1977, 306, 308; Rohlf 1980, 183; Merten, DÖV 1990, 761; Deutsch 1992, 94; AK-GG/Hoffmann-Riem, Art 5 I, II/32; Dreier/Schulze-Fielitz, Art 5 I, II/74; Pohl 2002, 190 f.; Pieroth/Schlink 2003, Rn 559. 327

Die Freiheiten hinsichtlich solcher Meinungen sind bei der Sanktionsabwehr indes von geringer praktischer Relevanz. Das beruht weniger darauf, dass prozessuale Äußerungen nicht in eine Meinungsbildung beim Empfänger einfließen (so aber Merten, DÖV 1990, 761, 763), denn die Einbrüche des Subjektiven in die strafprozessuale Entscheidungsfindung sind so vielgestaltig, dass man die Wirkkraft der „Stimmungsarbeit“ nicht unterschätzen sollte (für die Geltung von Art 5 I GG im Strafprozess denn auch BVerfG NJW 1991, 2074; StV 1999, 532; NJW 2000, 3196). Art 5 I GG verliert aber dadurch an Bedeutung, weil für die aktive strafprozessuale Meinungskundgabe bereits Art 103 I GG eine Hörerschaft garantiert (für dessen Vorrangigkeit Münch/Wendt, Art 5/20) und weil das (negative) Recht, zu dem eigenen Dafürhalten nicht Stellung

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Das BVerfG anerkennt die vielfache Verwobenheit von Wertung und Faktum328 und bescheidet die Gleichstellungs-Frage nur für unwahre Sachausführungen abschlägig329. Die von ihm gleichwohl unterstellte Trennbarkeit von Tatsache und Meinung stößt indes auf eine ebenso pragmatisch motivierte wie grundsätzliche (erkenntnistheoretische und sprachwissenschaftliche) Skepsis, die beispielsweise auf der Interpretationsabhängigkeit der konkret einzuordnenden Angaben beruht330. Der Hinweis auf die werthaften Konnotationen jeder Tatsachenmitteilung, die schon der Auswahl der Tatsachen oder der Art und Weise des Mitteilens innewohnen, findet daher berechtigten Beifall. Die Funktion des Meinungsgrundrechts, für freie intersubjektive Kommunikation und Meinungsbildung zu sorgen, spricht ohnehin gegen die Ausgrenzung sachbezogener Ausführungen, würde damit doch ausgerechnet der Umlauf des überzeugungskräftigsten kommunikativen Instruments schutzlos gestellt331. Tatsachenmitteilungen sind also nicht anders als Meinungen zu behandeln. Konsequenterweise müssen dann aber nicht nur wahre, sondern sämtliche Sachangaben im Schoß des Meinungsäußerungsschutzes aufgehoben sein. Die Gegenauffassung, die unwahrhaftige Kundgaben dagegen aussortieren will, nähert sich gefährlich einem „staatlichen Meinungsrichtertum, gegen das Art 5 I 1 GG gerade gerichtet ist“. Um dies zu vermeiden, ist unter dem von Art 5 I GG gewährleisteten Verhalten „jede Äußerung von (auch unrichtigen) Ansichten und/oder (auch unwahren) Tatsachen zu verstehen“332. Prima facie erlaubt dies beziehen zu müssen (Merten, DÖV 1990, 761, 768), die Verteidigungsmöglichkeiten nur unwesentlich optimiert. 328 Meinung sei auch jene Tatsachenmitteilung, die „Voraussetzung der Bildung von Meinungen ist“ (BVerfGE 61, 1, 8; 65, 1, 41; 85, 1, 15; 94, 1, 7; Grimm, NJW 1995, 1697, 1699; AKGG/Hoffmann-Riem, Art 5 I, II/30; Scholz/Konrad, AöR 1998, 60, 86 ff.). Gleiches gälte, wo sich Wertungselemente „mit Elementen einer Tatsachenmitteilung oder -behauptung verbinden oder vermischen“ (BVerfGE 61, 1, 9; vgl. auch E 85, 1, 15; Grimm, a.a.O.) – bspw. bei der „Mitteilung persönlicher Erlebnisse“ (BVerwG NJW 1970, 908, 909). 329 Bewusste Wahrheitsentstellungen seien nicht schützenswert und trügen nichts zur Meinungsbildung bei (vgl. etwa BVerfGE 54, 208, 219; 61, 1, 8; 85, 1, 15; 90, 241, 247; Grimm, NJW 1995, 1697, 1699; AK-GG/Hoffmann-Riem, Art 5 I, II/30; speziell für prozessuale Äußerungen BVerfG StV 1999, 532, 534). Gelegentlich erstreckt man dies auch auf vermeintlich wahre Aussagen (etwa Scholz/Konrad, AöR 1998, 60, 85 f.). 330

Dazu im hiesigen Kontext Rühl 1998, 122 ff.; vgl. auch a.a.O., 198 ff. mit einer Normbereichsanalyse, die auf philosophische Perspektiven zu Tatsachen und Werturteilen rekurriert. Vgl. auch Wolter (Staat 1997, 426, 438 ff., 446 ff.) zu der Frage, wer denn aus wessen Perspektive eine konkrete Äußerung als Werturteil oder sachliche Behauptung festlegen soll. 331 Zum v.a. teleologisch begründeten Einbezug von Tatsachen (den Mangoldt/Klein/Starck, Art 5 I, II/26 m.w.N. als „inzwischen h.L.“ bezeichnet) eingehend Dreier/Schulze-Fielitz, Art 5 I, II/63 ff.; Münch/Wendt, Art 5/9 ff.; Maunz/Dürig/Herzog, Art 5/51 ff.; Brossette 1991, 190 ff.; Rühl 1998, 243 ff.; i.E. auch Pohl 2002, 192; kritisch Merten, DÖV 1990, 761, 762 ff. 332 Dreier/Schulze-Fielitz, Art 5 I, II/66. Ob die Aussage als wahr gilt oder nicht, wirkt sich nur auf die Legitimierbarkeit etwaiger Eingriffe aus (vgl. Münch/Wendt, Art 5/10; Köhler, NJW 1985,

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Teil 3: Grundfragen

dem Beschuldigten die innerprozessuale Einlassung jeglichen Inhalts und Wahrheitsgehalts (wobei Art 103 I GG für ausgewählte Verfahrensakteure auch einen richterlichen Zuhörer garantiert333). Außerdem wäre eine Auskunftspflicht ein vor Art 5 I GG zu rechtfertigender Eingriff, da der Prozessunterworfene kraft seiner negativen Meinungsfreiheit selbst entscheiden kann, ob er sich denn überhaupt verbal oder nonverbal und wozu auch immer äußert334. Mit Blick auf den Schutz des Schweigen-Könnens335 ergänzt das Meinungsgrundrecht damit die persönlichkeitsrechtlichen Mitteilungsfreiheiten336.

cc) Gewissensausübungsfreiheit Der Schutzbereich von Art 4 I GG umfasst jede Erscheinungsform des Gewissens, neben dem forum internum also auch das Äußern der entsprechenden Überzeugung sowie das überzeugungsgetragene Handeln337. Den Beschuldigten bewahrt dies davor, der staatlichen Inanspruchnahme zu tätiger oder unterlas2389, 2390; Arnauld 1999, 81; Schulze-Fielitz, a.a.O.; weiter differenzierend Rühl 1998, 248 ff., 282 ff.). 333

Zum Zusammenwirken beider Rechte Fn 358. Die Einschlägigkeit von Art 103 I GG ist in gewisser Weise prozessrollenabhängig und liegt nur bei den Äußerungen vor, die von einer verfahrensbeteiligten oder entscheidungsbetroffenen Person im Entscheidungskontext gemacht werden. 334 Vgl. Maunz/Dürig/Herzog, Art 5 I, II/43, 47; Eberle, DÖV 1977, 306, 310; ebenso, soweit es sich nicht um allein statistische Daten handelt, auch Mangoldt/Klein/Starck, Art 5 I, II/17 f., 26; Dreier/Schulze-Fielitz, Art 5 I, II/74, 124; differenzierend Rohlf 1980, 185. 335 Dazu gehört die Bestimmungsmacht „dass die Meinung dem, dem der Äußernde und Verbreitende sie nicht zukommen lassen will, auch nicht zukommt“ (Pieroth/Schlink 2003, Rn 561). Sofern nicht der speziellere Art 10 GG zum Zuge kommt, bilden die Tagebucheinsicht und das Abhören von Gesprächen folglich einen faktischen Eingriff in die Äußerungsfreiheit (auf der Basis des klassischen Meinungsbegriffs ebenso Eberle, a.a.O., 308 f.; Merten a.a.O., 765; Störmer 1992, 45 ff.; ders., Jura 1994, 393, 396; Schulze-Fielitz, a.a.O., Rn 99 m.w.N.; a.A. Hellermann a.a.O., 71; Katzer 2001, 75). 336

Zur mitunter deckungsgleichen Ansicht der EKMR vgl. Esser 2002, 683; Weiß, NJW 1999, 2236. Privatsphärenschutz und informationelle Selbstbestimmung verdrängen die negative Meinungsfreiheit nicht (denn sie haben andere Rechtsgüter zum Gegenstand) und überschneiden sich mit ihr ohnedies nur in einer Teilmenge. Anders als bei Art 2 I GG (vgl. oben bei Fn 278) muss nach Art 5 I GG auch dasjenige, das der Staat schon weiß (vielleicht weil es ihm vom Grundrechtsträger mitgeteilt wurde), nicht geäußert werden. Umgekehrt ist die Informationserhebung, die ansetzt am nicht i.e.S. kommunikativen Verhalten des Grundrechtsträgers (z.B. durch Observation) oder die zugreift auf Vertraute des Beschuldigten, nicht von Art 5 I GG, sondern ausschließlich vom Privatsphärenschutz gewährleistet (vgl. Deutsch 1992, 95; Ernst 1994, 41 f.). 337

Vgl. BVerfGE 78, 391, 395; Maunz/Dürig/Herzog, Art 4/132 ff.; Böckenförde 1970, 50 ff.; Herdegen 1989, 235 ff., 277 ff.; Hesse 1995, Rn 383; Pieroth/Schlink 2003, Rn 524. Der Außenbereich muss mit geschützt sein, weil sich die verpflichtende Wirkung des internen Gewissensimpulses auf äußeres Verhalten erstreckt (vgl. Klier 1978, 162). Art und Spektrum gewissensgeleiteter Aktivitäten und Unterlassungen hängen dabei vom subjektiven Verständnis der Grundrechtsakteure ab (vgl. Dreier/Morlok, Art 4/55; Filmer 2000, 113 f.).

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sungsförmiger Prozess- und Sanktionsförderung gegen sein Gewissen nachgeben zu müssen. Der daraus folgende Freiraum strafvereitelnden Verhaltens erlangt seine Konturen also dadurch, dass die fragliche Aktionsform auf ein internes moralisches (Gewissens-)Motiv zurückgehen muss. „Gewissen“ steht dabei für eine identitätskonstituierende, selbstbezogene Attitüde, die für ihren Träger gute/gerechte von bösen/ungerechten Handlungen subjektiv bindend trennt338. Die Maßstäbe dafür rühren – angesichts der Säkularisierung und Wahrheitsunfähigkeit sozialethischer Entwürfe – aus dem eigenen Verständnis der Akteure, die ihre inneren (moralischen) Steuerungsinstanzen selbst festsetzen339. Diese Individualität der internen Standards ändert nichts daran, dass es sich bei ihnen um essentielle personalitätsprägende Strukturen handeln muss340. Nüchtern kalkuliertes prozessuales Verteidigungshandeln, das unter mehreren Optionen die bestmöglichen Wege sucht, ist tatbestandlich ausgegrenzt. An einer überzeugungsgetragenen Motivlage fehlt es auch demjenigen, der getrieben durch seinen Selbsterhaltungswillen agiert. Art 4 I GG verwendet sich nur für die Person, die gleichsam „durch ein verinnerlichtes, christlich oder profan fundiertes Naturrechtsdenken den kategorischen Gewissensbefehl erhält, sich selbst zu schonen“341. Das Strafverfahren bleibt gegenüber moralischen Sinnentwürfen seiner Protagonisten neutral und nötigt den Beschuldigten weder in Selbstvorwürfe noch in einen Notwehrethos hinein342. Weil 338 Vgl. BVerfGE 12, 45, 55; Bethge 2001, Rn 10; Pieroth/Schlink 2003, Rn 522 (normbereichsanalytisch zu psychoanalytischen, entwicklungs- und lerntheoretischen Aspekten Klier 1978, 35 ff., 101 ff.). Soziologisch gesehen ist das Gewissen eine Instanz der internen Disziplinierung, deren Verinnerlichung wesentlich vom sozialen „Geständnismuster“ (oben I.2. in Kap. 5) befördert wird (vgl. auch die symbolisch-interaktionistische Version bei Luhmann, AöR 1965, 257, 263 ff.). 339

Zu dieser radikalen Individualisierung Dreier/Morlok, Art 4/41 ff., 55 (vgl. auch Luhmann, AöR 1965, 257, 259 ff.; Nothhelfer 1989, 56; Gast, BB 1992, 785, 788; Filmer 2000, 167 ff.; unklar BVerfGE 88, 203, 308). Dabei versteht es sich von selbst, dass die Rede von der individuellen „Festlegung“ des Gewissens keine intentionale Definition meint, sondern eine Chiffre ist für individuelle Biographien, in denen sozialisatorische und soziale Vorgänge wirksam werden. Jedenfalls kann Gewissen nicht mit intersubjektiver Moral gleichgesetzt werden. Die Verbindlichkeit gesellschaftlicher Standards will Art 4 I GG gerade unterbinden. Dass die eigennützige Strafvereitelung „leicht in Widerspruch zu ethischen Maßstäben“ gerät (Salger 1998, 12; ebenso Fischer 1979, 105), ist demnach unerheblich. 340

„Eine Gewissensfrage stellt sich dann, wenn eine Entscheidung in einer bestimmten Sache für die Konstituierung oder Dekonstituierung der Person bedeutsam ist.“ (Bethge 2001, Rn 11; ausführlich dazu Filmer 2000, 248 ff.). Art 4 I GG schützt freilich nicht die psychische Unversehrtheit, und so wird eine Gewissensfrage nicht erst dann aufgeworfen, wenn die innere Zerstörung des Grundrechtsträgers auf dem Spiel steht (dazu etwa Tiedemann, DÖV 1984, 61, 64 ff.; Herdegen 1989, 147; Münch/Mager, Art 4/22). 341

Nothhelfer 1989, 56 f.; ebenso für die h.M. etwa Rogall 1977, 129; Wolff 1997, 31; Bosch 1998, 45 f.; Röckl 2002, 108; Böse 2005, 124 f. (ohne Begründung a.A. Lorenz, JZ 1992, 1000, 1006). Es scheint, als verfolge man ein psychoanalytisch gefasstes Modell, in dem das Selbsterhaltungsmotiv den Triebwünschen des Es zugeordnet ist, während das Gewissen als rigide Über-IchInstanz dazu (potenziell) eine Konflikthaltung einnimmt. 342 Die Gesellschaft bewältigt die Risiken, die das Gewissen im Konfliktfall für die individuelle Stabilität und die interpersonale Handlungskoordination bereit hält, indem über das „Wegräumen

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Teil 3: Grundfragen

damit der Prozess keine systematische Beziehung zum Gewissen aufweist, ist die Einschlägigkeit von Art 4 I GG eine Einzelfallfrage. Aber selbst wenn sich der Grundrechtsträger moralisch just auf das konkrete Verteidigungsziel hin verpflichtet fühlt, wird er auf Art 4 I GG kaum einen Strafvereitelungsakt stützen können, mit dem er die normativen Ordnung verletzt. Er ist vielmehr gehalten, auf eine der meist vorhandenen gewissensschonenden Alternativen auszuweichen343. Forensisch bleibt also nur ein schmaler Bereich344.

Wichtiger ist deshalb ein selbstverständlich anmutender Aspekt, dem dennoch strukturelle Bedeutung zukommt: Auf seiner negativen Seite erspart Art 4 I GG dem Beschuldigten, Schuldbewusstsein oder überhaupt eine moralische Position zu seinem Verteidigungsverhalten entwickeln zu müssen345. Darüber hinaus bleibt es ihm überlassen, etwa empfundene Reue auch zu artikulieren. Deshalb kann er sich trotz „schlechten Gewissens“ verteidigen346. Dank von Anlässen“ und das Bereitstellen von gewissensneutralen Handlungsalternativen „der Einzelne an seinem Gewissen normalerweise vorbeigeleitet wird“; Gewissen verkümmert so zu einer „Instanz der Bestimmung für Krisenfälle“ (Luhmann, AöR 1965, 257, 279). Diese Leistung erbringt das Rechtssystem auch durch die Gewissensneutralität des Strafverfahrens, in dem der Angeklagte zur Reue nicht verpflichtet ist (ebenso Bottke 2001, 1253; Böse 2005, 120). Reue wird allenfalls honoriert (dazu Hammerstein 1996; Machura 2001, 148 f.). 343 Vgl. Luhmann, AöR 1965, 257, 283 f.; Böckenförde 1970, 63 ff.; Filmer 2000, 238 ff.; Maunz/Dürig/Herzog, Art 4/170; Münch/Mager, Art 4/25; Dreier/Morlok, Art 4/88. 344 Als interne Gegebenheit erlangt das Gewissen nur in kommunikativer Weise intersubjektive Plausibilität. Folglich geht man davon aus, der Grundrechtsträger, der sich auf sein Gewissen beruft, müsse sich in einer gesetzlich auszugestaltenden (Gellermann 2000, 257 ff.) Prozedur eine Überprüfung seiner Motivation gefallen lassen (nicht aber die Prüfung der Gewissensrationalität). Hierbei trage er eine Darlegungslast. Das interne moralische Muster muss zum betreffenden Handeln widerspruchsfrei passen (Gast, BB 1992, 785 ff.). Andernfalls unterläge die Gewissensfreiheit seiner Definitionsmacht und expandiere zu Lasten kollidierender Güter (vgl. etwa Klier 1978, 148 ff.; Herdegen 1989, 306; Nothhelfer 1989, 58 f.; Dreier/Morlok, Art 4/90 f.; Münch/Mager, Art 4/29; Maunz/Dürig/Herzog, Art 4/159 ff.). Die Plausibilitätsprüfung ist indes zu suspendieren, wenn die Glaubhaftmachung allein durch gewissenswidriges Verhalten möglich ist. 345 Die negative Gewissensfreiheit erspart dem Grundrechtsträger, überhaupt eine interne Gewissensentscheidung treffen zu müssen (vgl. Maunz/Dürig/Herzog, Art 4/55, 158; Dreier/Morlok, Art 4/86 m.w.N.; zur Diskussion auch Hellermann 1993, 23, 25, 141). Ausgeschlossen wäre bspw. die psychologische Manipulation zur Herstellung eines „schlechten Gewissens“ (vgl. BVerfGE 88, 203, 283anhand der Schwangerschaftskonfliktberatung nach § 219 StGB). Problematisch erscheinen Strafschärfungen wegen fehlender Schuldeinsicht (ebenso i.E. Hammerstein 1996, 404 f.). 346 Die negative Gewissensfreiheit erlaubt Inkonsistenz zwischen Denken und Tun. Als Gegenstück des positiven Rechts zu gewissensgeleiteter Aktivität befreit sie davon, gemäß der eigenen Überzeugung agieren, insbesondere sie bekennen zu müssen. Da es für das von Art 4 I GG geschützte Gewissensmotiv nicht erforderlich ist, dass der Betreffende gar nicht oder nur um den Preis schwerster innerer Verwerfungen anders handeln kann (oben Fn 340), gibt es durchaus praktische Fälle, in denen jemand gegen sein Gewissen passiv bleibt. Für die verbale Gewissensartikulation religiöser Motive ist diese Konstellation in Art 140 GG i.V.m. Art 136 III WRV ausdrücklich gewährleistet. Die vergleichbare Schutzwürdigkeit areligiöser Moralnormen führt dazu, das es auch für sie eine solche Bekenntnisfreiheit geben muss (ebenso wohl Maunz/Dürig/Herzog, Art 5/56, 158; zum Vorrang vor Art 5 I GG Heß 2000, 202).

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Art 4 I GG bestehen die anderweitigen Strafvereitelungsfreiheiten unabhängig davon, wie die Selbstreflexion der Grundrechtsträger zu prozessualen Vorwürfen und Ermittlungsgegenständen ausfällt347. Die Gewissensfreiheit ähnelt einer subjektivierten Unschuldsvermutung. Man verliert seine prozessualen Rechte nicht deshalb, weil man sich schuldig fühlt oder seiner Schuld bewusst ist.

c) Spezifische prozessuale Verbürgungen aa) Verfahrensgrundrechte Die bislang angesprochenen Freiräume für Verteidigungsverhalten erwachsen aus Gewährleistungen, die für die Situation einer strafvorwurfsbetroffenen Person unspezifisch sind. Einige andere Verfassungsnormen räumen dagegen eigens für diese Lage rechtliche Positionen ein. Strafabwehrendes Verhalten ist hier ausdrücklich anerkannt (freilich in der Absicht, die Verteidigungsaktivitäten aus einem extralegalen Halbschatten vor die ausgeleuchtete Kulisse des staatlich beherrschbaren Sanktionsverfahrens zu holen und in prozessualen Rollen und Formen zu kanalisieren348). Zu diesen Rechten, die ihre Träger in den Stand versetzen sollen, die strafprozessualen Vorgänge zu beeinflussen, zählt die Rechtsweggarantie. An den Strafvereitelungsfreiheiten hat sie flankierenden Anteil, indem sie die dort begründeten Verteidigungsrechte mit einer justiziellen Bewehrung versieht. Die administrative Verkürzung eines sanktionsabwehrdienlichen Rechts kann der richterlichen Prüfung unter-

347 Die Freiheit vom Bekenntniszwang besteht darin, nicht wegen empfundener Reue an der instanziellen Straftatverarbeitung (aktiv/passiv) mitwirken zu müssen. Das schlechte Gewissen darf selbst kontrolliert und muss nicht in der Beichte vor Gericht gereinigt werden. Die negative Bekenntnisfreiheit entwickelt insofern aber nur Abwehrwirkungen gegen psychische Einflussnahmen (Hypnose, Polygraphie) und physische Maßnahmen, die darauf abzielen, dass der Beschuldigte seine vorhandenen Schuldgefühle expliziert – die also die ihm erlaubte Nichtausübung seiner Gewissensäußerungsfreiheit verunmöglichen (ebenso, wenn auch missverständlich Scholler 1958, 150; unzutreffende Kritik bei Rogall 1977, 127 f.). Jedenfalls muss der Beschuldigte nicht etwa – nur weil er Reue empfindet – auf seine Bestrafung hinwirken. Vielmehr kann er gar nichts tun (eben Fn 346) oder sich für andere gewissensgetragene Aktionsformen entscheiden, z.B. für Schulderörterungen in schriftlichen Selbstreflexionen oder vertraulichen Kommunikationen (der staatliche Zugriff auf diese Kommunikationsformen nimmt ihm diese Möglichkeit zur Gewissensartikulation und bildet daher einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff; vgl. Scholler a.a.O., 162 ff.; Amelung, NJW 1988, 1002, 1004; ders., NJW 1990, 1753, 1758 f.; Lorenz, GA 1992, 254, 271 ff:, Störmer, Jura 1991, 17, 22 f.; ders., Jura 1994, 393, 396; ders. 1992, 39 ff.). 348 Als Gegenleistung für den Ausschluss „wilder“ Strafabwehr ist auch die Rechts- und Entscheidungsgewinnung in bestimmte Bahnen gewiesen (u.a. durch die prozessspezifischen Verbürgungen), was die einseitig exekutive, machtbasierende Schuldzuweisung erschwert (dazu Müller/Christensen/Sokolowski 1996, 137 f.; Stuckenberg 1998, 535 Fn 90).

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Teil 3: Grundfragen

zogen werden349, weil Art 19 IV GG dafür einen Rechtsweg vorhält350, der dem Beschuldigten schon bei einer plausibel vorgebrachten Freiheitsverletzung offen steht351. Heimliche Nachforschungseingriffe muss der Staat im Nachhinein aufdecken, um den Rechtsgang zu ermöglichen352. Obendrein unterliegen polizeiliche Maßnahmen sogar einer vorgezogenen richterlichen Aufsicht (Richtervorbehalt), wenn sie den Beschuldigten durch ihre Heimlichkeit oder Unvorhersehbarkeit irreparabel und ohne rechtzeitige (und sei es einstweilige) Rechtsschutzmöglichkeit in seiner Verteidigung beeinträchtigen könnten353. 349 Allerdings garantiert Art 19 IV GG nach h.M. keinen Instanzenweg (Grund: um einem „Rechtsschutz ad infinitum“ und die Nivellierung des Rechtskraft-Instituts zu verhindern, vgl. etwa BVerfGE 49, 329, 340 ff.; 65, 76, 90; 76, 93, 98; kritisch Vosskuhle 1993, 173 ff.; Dreier/SchulzeFielitz, Art 19 IV/Rn 94; einschränkend jetzt auch BVerfGE 107, 395). 350 Die prozessuale Ausgestaltung des Rechtswegs muss effektive richterliche Kontrollen erlauben (etwa BVerfGE 35, 263, 274; 65, 1, 70; 81, 123, 129; 84, 34, 49; Rzepka 2000, 158 ff.; skeptisch zur Tauglichkeit eines Effektivitätskriteriums beim justiziellen Entscheiden Frohn 1989, 23 ff.). Wann sich etwa die Rechtswegart für einen wirkungsvollen Rechtsschutz als geeignet, angemessen und zumutbar ausnimmt (dazu BVerfGE 60, 253, 269; 77, 275, 284; 88, 118, 123 ff.), ist naturgemäß unklar – so auch beim Rechtsschutz gegen strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen (§§ 98 II 2, 23 ff. EGGVG; zum Stand Bachmann 1994, 155 ff.; Amelung 2000, 921 ff.). 351 Festzustellen, ob eine wirkliche Rechtsverletzung vorliegt, ist gerade die Aufgabe, die Art 19 IV GG den Gerichten zuweist (vgl. Pieroth/Schlink 2003, Rn 1014; Dreier/Schulze-Fielitz, Art 19 IV/75). 352 Ist der Eingriff nicht bemerkbar, kann nur eine Benachrichtigung den Rechtsschutz initiieren (BVerfGE 65, 1, 70; 100, 313, 364; Deutsch 1992, 18 ff., 24 f.; Lammers 1992, 145; Hölscher 2001, 210 f.). Benachrichtigungspflichten sind bspw. in §§ 98b IV 1, 101, 110d, 163d V StPO vorgesehen. Abgesehen von den dortigen Lücken und Unzulänglichkeiten (dazu Hölscher a.a.O., 217 ff., 274 ff.; vgl. auch BGHSt 36, 305, 310 f.) liegt deren Schwäche darin, dass eine Pflichtverletzung folgenlos bleibt (vgl. Weßlau 1989, 206; Velten 1995, 91, 196 f.). An sich wären somit zusätzliche Kautelen erforderlich (etwa eine richterliche Kontrolle der Benachrichtigung, vgl. Erfurth 1997, 53). Angesichts der derzeitigen Defizite wird die Rechtsschutzgarantie also eher restriktiv ausgestaltet, wobei sie wegen der Normgeprägtheit ihres Schutzbereichs einer solchen legislativen Haltung „ausgeliefert“ ist (vgl. Cornils 2005, 443 ff. sowie oben II.1.b) in Kap. 4). Dass die genannten Einschränkungen den Rechtsschutz trotzdem nicht mehr als unbedingt erforderlich erschweren (zu dieser Grenze vgl. Dreier/Schulze-Fielitz, Art 19 IV/141), begründet man mit den Bedürfnissen effektiver Strafverfolgung (dazu mit unterschiedlichen Akzenten etwa BVerfGE 30, 1, 27; SächsVerfGH, JZ 1996, 957, 965; Deutsch 1992, 25 ff.; Makrutzki 2000, 55 ff.). 353 Dreier/Schulze-Fielitz, Art 19 IV/144; Bachmann 1994, 69 ff.; Amelung 2000, 914. Durch den Richtervorbehalt wird die fragliche Maßnahme nicht allein aus der Warte der unmittelbar ermittelnden Behörden, sondern durch einen unabhängigen Dritten bewertet. Überdies konkretisiert die richterliche Anordnung den jeweiligen Befugnisrahmen. Deshalb sind die Ausnahmen vom Richtervorbehalt eng zu fassen (vgl. BVerfGE 96, 44, 51 f.; NJW 2001, 1021, 1022; BGHSt 42, 103, 104). Allerdings erfolgt diese richterliche Prüfung meist ohne Anhörung des Beschuldigten (§ 33 IV StPO), was bis zum abschließenden Strafurteil nicht korrigiert wird (denn Ermittlungseingriffe sind unabhängig von den Eingriffen durch das Strafurteil und für dessen Erlass nicht thematisch). Da Art 103 I GG dennoch auf das richterliche Gehör besteht, muss gegen richterliche Ermittlungsakte ein nachträglicher Rechtsschutz gewährt werden (vgl. dazu BVerfGE 18, 399, 404; Amelung a.a.O., 915 ff.). Andere Autoren begründen dies mit Art 19 IV GG, da es sich bei den präventiv-richterlichen Entscheidungen wegen des fehlenden Gehörs um quasi-exekutives Vorgehen handele (dazu Vosskuhle 1993, 14 ff., 332 f.).

7. Kap.: Verfassungsrechtliches Fundament

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Dass nun das Gericht, das den Rechtsschutz gewährt, mit dem Beschuldigten nicht einfach hantieren kann, sondern auf ein Subjekt der gemeinsamen Rechtserzeugung trifft, stellt der Anspruch auf richterliches Gehör sicher (Art 103 I GG, vgl. auch Art 104 III 1 GG)354. Er ermöglicht der verdächtigten Person, zu Verteidigungszwecken auf die justizielle Entscheidungsfindung im Haupt- und Ermittlungsverfahren355 tätig einzuwirken. Dem Beschuldigten ist bei seinen Erklärungen, Tatsachenausführungen und Beweisanträgen356 die Aufmerksamkeit eines richterlichen Zuhörers gewiss357. Als verteidigungsbemühter Grundrechtsträger darf er hierüber keineswegs nur „wahrheitsdienlich“ an der interaktiven Rechtsgewinnung teilnehmen; ebenso gut lässt sich der Prozessgegenstand unter der Obhut von Art 103 I GG durch falsches Sachvorbringen und irreführende Beweisanträge verdunkeln358. Überdies kann der Beschuldigte auf die

354

Zu dessen Bedeutung mit Blick auf das obige (I.1. in Kap. 3) Modell richterlichen Entscheidens Frohn 1989, 68 ff.; Vosskuhle 1993, 116; Goebel 2001, 193; vgl. auch Neumann ZStW 101, 1988, 52, 60. Freilich hat dieses Konzept idealisierende Züge (oben II.4. in Kap. 5). 355

Anhörungsrechte gegenüber der Staatsanwaltschaft sollen aber durch das Rechtsstaatsprinzip begründet werden (vgl. Dreier/Schulze-Fielitz, Art 103 I/15, 17; LR/Rieß, Einl. H/76; SKStPO/Rogall, Vor § 133/90; Knemeyer 2001, Rn 39 f.; Bergner 1998, 114 ff.). Vorzuziehen ist hingegen eine Ableitung aus der verfahrensrechtlichen Schicht prozessbetroffener Grundrechte (dazu Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann, Art 103 I/56, 62). 356 Der Beweisantrag ist eine qualifizierte Form des Sachvortrags (dazu BVerfGE 57, 250, 274; 65, 305, 307; NJW 1997, 999, 1000; Schatz 1999, 262; Eisenberg 2002, Rn 167; a.A. Perron 1995, 58 ff.). 357 Nach dem BVerfG besteht a.) das Recht, über verfahrensbedeutsame Vorgänge informiert zu werden und sich b.) vor Erlass einer Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht äußern zu können, sowie c.) die Pflicht des Gerichts, jene Äußerung zur Kenntnis zu nehmen und zu berücksichtigen (zu dieser Sequenz Dreier/Schulze-Fielitz, Art 103 I/19; zu den Einzelausprägungen und Detailanforderungen, insbesondere zum Umfang der Informations- und Äußerungsrechte, zur Akteneinsicht und Ladung, zu Hinweispflichten, zu Begründung und Bekanntgabe von Entscheidungen, zum Überraschungsverbot, zum Recht auf Äußerungsvorbereitungszeit und zum im Detail strittigen Anspruch auf Dolmetscher, vgl. m.w.N. zur Rspr. Frohn 1989, 41 ff.; Waldner 1989, 13 ff.; Schulze-Fielitz a.a.O., Rn 32 ff.; Degenhart 1996, Rn 19 ff.; Knemeyer 2001, Rn 28 ff.). Das Strafprozessrecht hat diese Vorgaben ausgestaltet: hinsichtlich der Akteneinsicht (dazu II.2.b) in Kap. 11) mit § 147 StPO (vgl. Hiebl 1994, 24 ff.) und hinsichtlich der Äußerungen (unten II.1.a) in Kap. 11) insbesondere durch §§ 33 f., 230, 243 IV, 257 f. StPO. Auf Art 103 I GG ist nur noch subsidiär zurückzugreifen (dazu Rüping 1976, 144 ff., 168 ff.; Niemöller/Schuppert, AöR 1982, 387, 477 ff., 481 f.; Roxin 1998, § 18/4 f.; Knemeyer a.a.O., Rn 37 ff.; Rzepka 2000, 167 ff., 341; LR/Rieß, Einl. H/74 f., 80 ff.; KK/Pfeiffer, Einl./26 f.). 358 Streng genommen ist das aber nur ein Reflex der Normwirkungen von Art 103 I GG. Anders als von Art 5 I GG wird von Art 103 I GG ein Leistungsanspruch gewährt, gerichtet auf Bereitstellung einer Äußerungsmöglichkeit und einer richterliche Zuhörerschaft. Die Verhaltensfreiheit, sich überhaupt äußern zu dürfen, wird von Art 103 I GG vorausgesetzt. Diese Freiheit und der Umstand, dass beliebige Inhalte erklärt oder beliebige Beweise beantragt werden dürfen, folgen allein daraus, dass Art 5 I GG und subsidiär auch Art 2 I GG ein prima-facie-Recht zur Erklärung jeden Inhalts begründen, das durch keine thematischen Verbote zurückgeschnitten wird.

296

Teil 3: Grundfragen

Mitwirkungsgelegenheit verzichten (wenngleich sie ihm damit verloren geht359), denn das Gehörsrecht gibt ihm auf der negativen Seite die Freiheit, aus verteidigungstaktischen oder anderen Gründen das Angebot zur Einlassung und (Beweis-)Antragstellung auszuschlagen. Art 103 I GG gewährt aber keinen Geheimnisschutz und bewahrt auch nicht vor Aussagepflichten360, sondern setzt deren Abwesenheit voraus361. Weitere verfahrensspezifische Gewährleistungen gründen im allgemeinen Gleichheitssatz. Art 3 I GG führt nicht nur zu einer staatlichen Pflicht, alle vorwurfsbetroffenen Bürger gleich zu behandeln362, sondern gibt dem sanktionsabwehrbemühten Grundrechtsträger des Weiteren ein Recht auf Gleichbehandlung mit der Anklägerseite363. Diese zweitgenannte Anspruchsschicht firmiert 359

Wird das Angebot zur Äußerung nicht angenommen, ist die Möglichkeit, sich zur betreffenden Entscheidung zu äußern, erschöpft. Das entspricht einer „natürlichen Handlungslast“ (Plötz 1980, 85 ff.), denn das Recht auf Berücksichtigung kommt nicht zum Tragen und daraus folgende Nachteile müssen hingenommen werden (vgl. Rüping 1976, 145 f.; Waldner 1989, 36; Dreier/Schulze-Fielitz, Art 103 I/54 f.). Diese Nachteile sind sachimmanent und kein Grundrechtseingriff (vgl. auch unten II.3.b)bb) in Kap. 9). 360

Als formale Umkehrung der positiven Seite eines Leistungsrechts (= etwas beanspruchen können) besteht dessen negative Dimension in einem Recht auf Forderungsverzicht (= das Beanspruchen auch lassen können). Abwehrrechtlichen Charakter hat dies nur soweit, als es einen Geltendmachungszwang (= etwas Beanspruchen müssen) ausschließt. Bei Art 103 I GG, dessen positive Seite auf eine staatlich bereitzustellende Äußerungsgelegenheit zielt, bedeutet dies, dass man die fragliche Kommunikationschance nicht einfordern und ergreifen muss (vgl. auch Amelung 1981, 43). Eine darüber hinausgehende Verhaltens-, genauer: Nichtäußerungsfreiheit liegt dagegen jenseits der Umkehrung der positiven Anspruchsseite (verkannt von Niese, ZStW 63 (1951), 199, 219 und Böse, GA 2002, 98, 118 ff.; ders. 2005, 166 ff.; wohl auch von Castringius 1965, 21, 51 und Bauer 1972, 51). Demgegenüber ist es zur Begründung dieses Ergebnisses nachrangig (da sprachgebrauchsabhängig), was aus einer semantischen Analyse des Normtextes (Art 104 III 1 GG: „Gelegenheit“ zur Äußerung) folgt (darauf abstellend Rogall 1977, 124 f.; Nothhelfer 1989, 51; Salger 1998, 10; Möller, JR 2005, 314, 318). Kaum gesichert ist schließlich das Argument, Art 103 I GG verfolge einen anderen Normzweck (aktive Einflussnahme) als der auf passive Informationsvorenthaltung zielende nemo-tenetur-Satz (so Rogall a.a.O., 125; Nothhelfer 1989, 53 f.; Wolff 1997, 32). 361 „Wo keine Freiheit der Aussage besteht, (...) fehlt es an der auch für das Gehör vorausgesetzten Subjekt-Stellung des Betroffenen“ (Rüping 1976, 125). 362

Dazu BVerfGE 65, 377, 384; Sachs 2000, Rn 72 ff. (zum Legalitätsprinzip als rechtstechnischem Vehikel dieses Rechts Bohnert 1992, 249 ff.; zu praktischen Verwerfungen vgl. Hamm 1995, 278 f.). 363

Wenn sich Bürger und Hoheitsträger in ähnlichen Positionen gegenüber stehen, besteht ein Gleichbehandlungsgebot. Wehrt sich der Bürger in dieser Lage gegen eine Benachteiligung, kann er sich auf Art 3 I GG berufen, und zwar trotz der Normtextformulierung „alle Menschen sind gleich“ (praktiziert von BVerfGE 27, 391, 395; 74, 78, 92, 94 im Verhältnis von Bürger zur Finanz-/Kartellbehörde). Gegen eine Schlechterstellung des Hoheitsträgers lässt sich das objektivrechtliche Willkürverbot (dazu m.w.N. Münch/Gubelt, Art 3/12 ff.; Kunig 1986, 312 ff.) mobilisieren (praktiziert bei BVerfGE 35, 263, 271 f.). Der Statusunterschied zwischen öffentlichen und privaten Beteiligten mag vielfach eine Ungleichbehandlung rechtfertigen, aber er schließt es nicht in toto aus, dass zwischen ihnen ein fallkonkretes tertium comparationis und deshalb eine gleich-

7. Kap.: Verfassungsrechtliches Fundament

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üblicherweise unter der „prozessualen Waffengleichheit“364. Ihr zufolge steht dem Beschuldigten eine grundsätzliche Parität bei Informationslagen, Angriffsund Verteidigungsmitteln zu365. Freilich trifft das Monitum, dass eine völlige Egalität mit der Staatsanwaltschaft unmöglich sei366, ein echtes Problem367. Oft – sobald und soweit sich nämlich hinter den rollendifferenten Befugnissen eine prozessstrukturell begründete Unterscheidung verbirgt – steht dem Verfahrensrecht deshalb auch eine (erlaubte oder gar notwendige) Ungleichbehandlung zu Gebote. Wo es aber an einem Differenzierungsanlass mangelt, begründet Art 3 I GG einen Leistungsanspruch368 auf formalen Ausgleich des gleichheitswidrigen Anklägervorteils369.

behandlungsbedürftige Beziehung besteht (ähnlich Sandermann 1975, 110 f., 114 f., 117 ff.; a.A. Lammer 1992, 194 f.). 364 Meist leitet man die Waffengleichheit aus dem Fairnessprinzip ab (vgl. BVerfGE 38, 105, 111; 63, 45, 69; Kohlmann 1974, 318 f.; Rzepka 2000, 346; Sachs 2000, Rn 78; Hill 2001, 46). Gegenüber dieser normtextgelösten wolkigen Allgemeinnorm ist jedoch der speziellere Art 3 I GG vorzugswürdig (zumindest i.E. ebenso BVerfGE 52, 131, 144, 156; Müller, NJW 1976, 1063, 1066; Dreier/Heun, Art 3/64, 95; Mangoldt/Klein/Starck, Art 3/205; vgl. auch SK-StPO/Paeffgen, Art. 6 EMRK/79). 365 Zu denken ist an Beweisantragsrechte im Ermittlungsverfahren und zusätzliche Hinweispflichten oder an den Schutz vor staatlichen Zugriffen auf Verteidigungsmaterial (vgl. Kühne 2003, Rn 175). Vorgeschlagen wird, zum Ausgleich der strukturellen Beweisnot, an der der Beschuldigte beim Nachweis von Vernehmungsfehlern leidet, den Beamten eine umfassende Dokumentation der Vernehmungssituation aufzuerlegen (vgl. Bosch 1998, 81 f.). Bspe. für weitere Einsatzfelder bietet die Judikatur des EGMR (hierzu SK-StPO/Paeffgen, Art. 6 EMRK/79; Safferling, NStZ 2004, 181, 182 f.). 366 So mit Hinweis auf prozessrollenimmanente Eigenarten etwa BVerfGE 63, 45, 67; BGHSt 18, 369, 371; Kohlmann 1974, 318 ff.; Müller, NJW 1976, 1063, 1065; Tettinger 1984, 32; Lammer 1992, 195; Perron 1995, 63; Jahn 1998, 134; Roxin 1998, § 11/13; Kühne 2003, Rn 175; Hill 2001, Rn 44. 367

Das ist indes nicht schon Grund genug, Gleichbehandlungsansprüche in ein vages und notorisch normgelöstes Ausbalancieren von Ankläger- und Angeklagtenrechten zu überführen (so aber Roxin 1998, § 11/13). Für den dabei drohenden Dezisionismus repräsentativ ist es, wenn Bosch (1998, 83 f.) aus der Notwendigkeit eines Gleichgewichts von Ankläger- und Angeklagtenrechten folgert, dass verdeckte Ermittlungsmethoden unzulässig seien, weil sie die Informationsbeherrschungsrechte des Beschuldigten wirkungslos machen und die Rechte-Balance stören würden (ähnlich Lammer 1992, 200 ff. mit Vorschlägen zur Wiederherstellung des „Gleichgewichts“). Solches Argumentieren ersetzt gleichheitsrechtliche Strukturen durch rechtspolitisches Dafürhalten. 368 Ohne Begründung bestreitet indes Safferling (NStZ 2004, 181, 184), dass aus der Waffengleichheit ein Rechtsanspruch resultieren könne. 369

Es braucht einen Grund für eine Ungleichbehandlung, der zu ihr in angemessenem Verhältnis steht (zu den differenzierten Kriterien und der unterschiedlichen Kontrolldichte Münch/Gubelt, Art 3/14; Dreier/Heun, Art 3/25 ff.). Diese Prüfungsstruktur greift auch im Strafprozess (tendenziell ebenso, aber inkonsequent Spaniol 1990, 231 ff.). Allerdings kann selbst dieser Gleichstellungsanspruch keine identischen Einflussnahmechancen garantieren, wenn die Ausgangsbedingungen der Akteure differieren (vgl. Rzepka 2000, 346).

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Teil 3: Grundfragen

Neben diesen speziellen Positionen bezieht der Beschuldigte aus den prozesshandlungsrelevanten, einzelgrundrechtlichen Verbürgungen, die für ihn ohne fachkundige Unterstützung oft gar nicht realisierbar wären, einen Anspruch auf anwaltlichen Beistand370. Dass er sich danach jederzeit eines Verteidigers eigener Wahl (notfalls eines ihm bestellten Pflichtverteidigers) bedienen kann, erhöht seine Aussichten, Ermittlungs- und ähnliche Maßnahmen zu kontern und trotz des professionellen Vorsprungs der staatlichen Prozessakteure ein kompetentes Strafvereitelungsgebaren an den Tag zu legen. Mittelbar kommen ihm dabei auch die professionellen Befugnisse des Verteidigers371 zugute, obwohl sie auf fremden Grundrechten – vorwiegend der von Art 12 GG gesicherten Berufsfreiheit des Anwalts372 – basieren.

bb) Fairnessprinzip Neben den genannten Garantien enthalte das Grundgesetz – so heißt es jedenfalls in der verfassungs- und prozessrechtlichen Dogmatik – ein eigenständiges Fairnessprinzip. Dieses „allgemeine Prozessgrundrecht“373 vervollständige die expliziten Gewährleistungen. Aus ihm seien ergänzende originäre Rechte abzuleiten374. Davon könnten auch die Strafvereitelungsfreiheiten profitieren, wären da nicht die Zweifel grundsätzlicher Art. Diese werden einesteils von der generalklauselartigen Vagheit geweckt, die das Fairnessprinzip zu einem freihändig nutzbaren Werkzeug macht, mit dem sich beliebige Rechtspositionen

370 Die h.M. entnimmt das Recht auf einen Verteidiger dem Fairnessprinzip (Fn 91 in Kap. 1). Angesichts des verfahrensinternen Kompetenzgefälles sieht man darin allerdings zunehmend einen Gesichtspunkt des Grundrechtsschutzes durch Verfahren. Wenn man die Garantie anwaltlicher Hilfe daher verbreitet aus Art 103 I GG folgert (weil die „Bürger ohne rechtskundigen Beistand ihr Recht gar nicht zu Gehör bringen“ könnten, so Pieroth/Schlink 2003, Rn 1078; ebenso etwa Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann, Art 103 I/103 ff.; Jahn 1998, 210 f. m.w.N.), ist dies allerdings zu eng, weil der Anwalt eben nicht nur Art 103 I GG, sondern auch weitere prozessual relevante Grundrechte umzusetzen hilft. Rechtsgrundlage ist daher diese Grundrechtsgesamtheit. 371 Vor allem Akteneinsichts-, Verkehrs-, Beratungs-, Anwesenheits-, Äußerungs-, Frage- und Beweisantragsrechte (zusammenfassend KK/Pfeiffer, Einl./70 ff.; Spaniol 1990, 282 ff., 335 ff.; Roxin 1998, § 19/59 ff.; Rzepka 2000, 403 ff.). 372

Dazu im Detail Jahn 1998, 155 ff.

373

So BVerfGE 57, 250, 275; ähnlich BVerfGE 89, 120, 129; NJW 2001, 2245, 2246; StV 2002, 578, 580; Meyer-Goßner, Einl./19; Steiner 1995, 117, 203, 206; Störmer, ZStW 108 (1996), 494, 509; Tettinger, Staat 1997, 575, 580; i.E. auch Dörr 1984, 145 ff. 374 Nach h.M. müsse sich der Gesetzgeber an jenen Ver-/Geboten orientieren, die sich aus dem Fairnessprinzip sachspezifisch erarbeiten ließen (BVerfGE 70, 297, 308; 86, 288, 317 f.). Auf Rechtsgewinnungsebene ergäben sich aus dem fair trial ebenfalls subsidiäre Verfassungsrechte, wenn Kernelemente eines rechtsstaatlichen Verfahrens in Frage stünden (zur Rspr. Steiner 1995, 45 f.) und keine spezielle grundgesetzliche Regelung vorhanden sei (so etwa Tettinger 1984, 58, 62 f.; Hamm 1995, 290 f. m.w.N.; SK-StPO/Rogall Vor § 133/103; Marczak 2000, 7 ff.; Kasuistik bei Tettinger a.a.O., 22 ff.; ders. Staat 1997, 575, 580 ff.; Steiner a.a.O., 47 ff.; Schmidt-Jortzig 2001, 521 ff.; Fallgruppen bei Rogall a.a.O., Rn 106 ff.; Marczak a.a.O., 72 ff.).

7. Kap.: Verfassungsrechtliches Fundament

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kreieren lassen375. Zum anderen beruhen sie auf dem Geruch der methodisch unterstellten Zurichtung, den die gesamte Fairness-Konstruktion trägt. Der Versuch der h.M., anspruchsartige Beschuldigtenpositionen aus dem „fair trial“ zu fabrizieren und diesen wiederum im seinerseits ungeschriebenen Rechtsstaatsprinzip abzusichern, verhüllt die ungenierten Zweckkonstruktionen nur dürftig376. Die Beliebigkeit bei der Konkretisierung einer grundgesetzlichen Verfahrensfairness ist auch nicht mit Blick auf Art 6 EMRK zu beheben, wird dort doch nur eine einfachgesetzliche Zurechnungsgrundlage für einen vielfarbigen Corpus einzelner Fairness-Aspekte geboten377. Der Fairness-Gedanke ist aber keineswegs ohne Wirkung. Er verkörpert in der Sprache der hier rezipierten Rechtsmethodik vielmehr ein prozesstheoretisches Normkonkretisierungselement: Er ist bei der Strafprozessrechtsauslegung als eine Devise am Werk, die dazu drängt, die jeweiligen Normen stets mit grundrechtsorientierten Augen zu lesen und grundrechtskonkurrierende Gesichtspunkte möglichst zurückzustellen378. Als Arbeitsprinzip, das die Schutz375 So laufen die Substantiierungsversuche meist auf ein freies Abwägen von Individual- und Strafverfolgungsinteressen hinaus (wie etwa bei Jäger 2003, 207 ff. zu beobachten). Offen kommt dies in den Kriterien von Schneider (NStZ 2001, 8, 10) zum Ausdruck („Evidenzerlebnis“ über „Unhaltbarkeit eines Zustandes“). Kritisch Heubel 1981, 64 ff., 70 ff.; Schulz 2001, 491 f. 376 Wo man die Existenz eines Fairnessprinzips behauptet (zur Rekonstruktion der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur Steiner 1995, 35 ff.; Tettinger, Staat 1997, 575, 587 f.), wird es stets nur als Rechtsstaatselement und Grundrechtsfolge postuliert und eben nicht normkonkretisierend hergeleitet (ebenso in der Literatur, etwa bei Dörr 1984, 142 f.; Spaniol 1990, 202 ff.). In den Kategorien der Strukturierenden Rechtslehre ist das unzulässiges Richterrecht (i.E. ebenso Heubel 1981, 48 ff.; Nothhelfer 1989, 43 f.; Tönnies, ZRP 1990, 294; skeptisch auch Tettinger, a.a.O., 590 f.). Kennzeichnend dafür ist es, wenn Befürworter des Fairnessprinzips konstatieren, es gelte schließlich auch ohne Rechtsgrundlage kraft „institutioneller Stützung“ (Steiner 1995, 147) oder „faktischer Anerkennung“ (SK-StPO/Rogall, Vor § 133/102; Marczak 2000, 205). 377

Nach der Rspr. des EGMR enthält Art 6 I EMRK das allgemeine Prinzip des fairen Verfahrens (ausdrücklich die englischsprachige Normtextfassung), dass durch die in Art 6 I – III EMRK erwähnten Einzelgesichtspunkte nicht abschließend exemplifiziert werde (zusammenfassend Rzepka 2000, 25 f.). Der EGMR entnimmt dem Fairnessprinzip daher auch ungeschriebene Beschuldigtenrechte (zur Kasuistik Rzepka a.a.O., 82 ff.). Auf die verfassungsrechtliche Dogmatik wirkt sich das allenfalls indirekt aus. In der deutschen Rechtsordnung nimmt Art 6 EMRK in Gestalt seines Transformationsgesetzes den Rang eines einfachen Bundesgesetzes ein (entwickelt also nur – oder: immerhin – einfachgesetzliche Bindung). Auf der verfassungsrechtlichen Ebene bietet er daher lediglich eine Interpretationshilfe bei der Grundrechtsauslegung (dazu BVerfGE 19, 342, 347; 74, 358, 370; 83, 119, 128; NJW 2004, 3407, 3408; aus der gelegentlichen Kritik Konrad 2000, 41 ff.). Ungeachtet seiner völkerrechtlichen Bindung kann der Gesetzgeber von der EMRK daher ausdrücklich abweichen (vgl. BVerfGE 74, 358, 370). Überdies sind auch die Entscheidungen des EGMR ohne fallübergreifende normäquivalente Bindungswirkung; die deutschen Gerichte müssen sich mit ihnen in der Regel nur inhaltlich auseinandersetzen (vgl. BVerfG NJW 2004, 3407, 3410) – sie also ebenso wie die anderen einschlägigen Präjudikate (zu ihnen oben II.1.c) in Kap. 3) berücksichtigen (zum Ganzen näher und differenzierend SK-StPO/Paeffgen, Art 6 EMRK/6 ff.; Weigend, StV 2000, 384, 386 ff.; Ehlers, Jura 2000, 372, 373; Esser, StV 2005, 348 ff.). 378

Zur Einordnung als Auslegungstopos schon oben II.2.c) in Kap. 3).

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Teil 3: Grundfragen

wirkungen grundrechtsindizierter Verfahrensnormen effektiviert, zielt die Verfahrensfairness damit auf Herstellung einer überobligatorischen Grundrechtsverwirklichung379. Sie bietet aber keinen Ankerplatz, von dem aus sich diverse zusätzliche Beschuldigtenrechte (etwa zur Sanktionsabwehr) im Wege der Rechtsgewinnung kreieren ließen. Der verbreiteten These, „fair trial“ garantiere dem Beschuldigten das Schweigen-Dürfen380, wäre folglich nur Anerkennung zu zollen, falls damit eine schweigerechtsfreundliche Auslegung der einschlägigen Prozessnormen unterstrichen (oder eine Aussage zu den subkonstitutionellen Rechtswirkungen von Art 6 I EMRK381 getroffen) werden sollte. Dem Fairnessprinzip einen Gewährleistungsgehalt beizugeben, der über den Rang einer Auslegungsdirektive hinausgeht, ist ohnehin weitgehend entbehrlich. So werden die Frage-, Hinweis- und Belehrungspflichten, welche die so genannte richterliche Fürsorge als ungeschriebenes Fairness-Element gebiete382, durch subkonstitutionelle Bestimmungen im Wesentlichen abgedeckt383. Das Fairness-Prinzip würde hier nur für die verfassungsrechtliche Gewichtigkeit sorgen. Überflüssig ist „fair trial“ jedenfalls zur Begründung des Vertrauensschutzes384. Vorteilhafte, halbwegs verfestig379 Es geht nicht nur um ein bereits von Art 1 III GG erfasstes Gebot, die Grundrechte im Verfahren zur Geltung zu bringen, wie Steiner (1995, 159) der hier vertretenen Ansicht vorhält, sondern um grundrechtsorientierte Auslegung, die bereits im eingriffsvorgelagerten und eingriffslegitimierten Bereich greift (II.1.a) in Kap. 4). I.E. ähnlich Heubel 1981, 140; Kunig 1986, 379 ff.; Nothhelfer 1989, 48 ff.; Bosch 1998, 76 f.; Rzepka 2000, 321 ff.; SK-StPO/Paeffgen, Art 6 EMRK/72; vage auch LR/Rieß, Einl. H/99 ff.; Ransiek 1990, 6 f.; Roxin 1998, § 11/11; Kühne 2003, Rn 287 f.; Bottke 1999, 455 ff.; Wolf 2000, 153. 380 So BVerfGE 38, 105, 112 f.; NStZ 1995, 555; BGHSt 25, 325, 330; 38, 214, 220; 38, 263, 266; 38, 302, 305; NStZ 1995, 411; BayObLGSt JZ 1984, 492; LR/Gollwitzer, Art 6 MRK/28; Günther, GA 1978, 193, 198 f.; Bringewat, JZ 1981, 289, 294; Dörr 1984, 152; Roxin 1998, § 15/24; Jahn 1998, 300; Rzepka 2000, 387. 381

Nach dem EGMR (Funke./.Frankreich, Serie A, Bd. 256, Ziff. 44; vgl. auch Murray./.UK, EuGRZ 1996, 587, 590; Heaney and McGuiness./.Ireland, no. 34720/97, ECHR 2000-XII, § 40; J.B../.Schweiz, NJW 2002, 499, 501; Allan./.UK, StV 2003, 257, 259) schütze der „fair trial“ den Beschuldigten vor einer Mitteilungspflicht. Nemo tenetur gilt ihm als „Folge“, „Bestandteil“, „Kernelement“ eines fairen Verfahrens (zu dieser Rspr. z.B. Frommel/Füger, StuW 1995, 58, 65 f.; Mäder 1997, 62; Müller, EuGRZ 2001, 546, 550 ff.; Lutz, ZStR 120, 2001, 410, 412; Esser 2002, 521; ders., JR 2004, 98, 102; Röckl 2002, 420 ff.; Meyer-Ladewig 2003, Art 6/52 ff.). 382 Für eine Ableitung aus dem „fair trial“ etwa BGHSt 25, 325, 330; NStZ 1988, 191; MeyerGoßner, Einl./156; Plötz 1980, 333; Kielwein 1985, 166 ff.; Roxin 1998, § 11/12; Rzepka 2000, 187, 348; Marczak 2000, 109 ff.; Beulke 2005, Rn 383; vgl. auch Hill 2001, Rn 47 ff. 383 Dazu vor allem Hübner 1983, 70 ff., die an der Fürsorge-Kasuistik (Schutz vor Überraschungsentscheidungen; protektives Nachfragen in der Verhandlungsleitung; Rechtsbelehrungen; Heilung gerichtlicher Verfahrensfehler; Reaktion auf willensmangelhafte Prozesshandlungen; Nichtbehinderung anwaltlicher Verteidigung) nachweist, dass die betreffenden Probleme mit den vorhandenen Vorschriften zu bewältigen sind (dazu auch Jung 1984, 111, 117; Kielwein 1985, 29 ff.; Kühne 2002, Rn 289). Die Gegenkritik (vgl. SK-StPO/Rogall, Vor § 133/112) ist den Erforderlichkeitsnachweis schuldig geblieben. 384 Begründungslos für dessen Herleitung aus dem Fairnessprinzip etwa BGHSt 32, 44, 45; 36, 305, 309; 43, 195, 210; mitunter ebenso das BVerfG (dazu Pieroth, JZ 1990, 279, 285 f.).

7. Kap.: Verfassungsrechtliches Fundament

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te Rechtspositionen, die gegen Abänderung oder Wegfall verteidigt werden könnten, entstehen im Strafprozess nur in Gestalt von Zwischenentscheidungen, an denen der Beschuldigte sein Strafvereitelungsverhalten ausrichtet. Sofern die Gerichte deshalb an solche Prozesslagen ausnahmsweise gebunden werden müssen, folgt dies schon aus dem jeweiligen Grundrecht, das durch ein wortbrüchiges Vorgehen beeinträchtigt wäre385. In aller Regel ist dem Beschuldigteninteresse an einer planbaren Verteidigung indessen bereits Genüge getan, wenn das Gericht, das von der fraglichen Konstellation abrücken will, dies rechtzeitig ankündigt386. Dazu ist es bereits durch das in Art 103 I GG begründete Verbot von Überraschungsentscheidungen gehalten.

cc) Unschuldsvermutung Der Bewegungsraum, den die Verfassung dem Strafvereitelungsbemühen bereitstellt, erfährt schließlich durch die Unschuldsvermutung eine weitere Stütze387. Diese bringt eine Logik zur Geltung, die im Grunde schon der Verfahrensidee innewohnt: Ein Procedere, das die Schuldfrage zu klären bestimmt ist, kann die Konsequenzen der Schuld erst an seinem Ende verhängen. Vorher darf der Prozess keine Strafe und keine strafadäquaten materiell-rechtlichen Folgen verteilen388. Deshalb muss auch die verfahrensrechtliche Heranziehung des Verdächtigen unterhalb der Belastungsschwelle eines Straffälligen („Störerhaftung“) bleiben. Dass die Tatverantwortung in dieser entscheidungsvorgelagerten Phase erst noch zu klären ist, setzt der Eingriffsschwere, die auf dem Beschuldigten lasten darf, ein oberes Limit, denn die ihm widerfahrende Behandlung muss sich auch noch rechtfertigen lassen, wenn sich ihm bis zum Schluss keine Schuld nachweisen lässt389. Wo der Staat zur Strafverfolgung ein Verfahren 385 Ein Bsp. ist die Bindung an richterliche Zusagen, die bei Wahrung bestimmter Kautelen abgesprochen wurden und auf die hin der Angeklagte nicht revidierbare Vorausinvestitionen erbracht hat (vgl. BGHSt 43, 195, 210; Bottke 1999, 463 ff.; Weigend 2000, 1032 ff.). Je nach Gewicht der Enttäuschung des Vertrauens in die Zusage ändert sich hier die Eingriffsschwere des Strafurteils. Folglich ist dieser Gesichtspunkt in dessen Verhältnismäßigkeitsprüfung einzustellen, und das Urteil muss auch hinsichtlich seines zusagewidrigen Gehalts geeignet, erforderlich und angemessen sein (dazu Kölbel, NStZ 2002, 74, 77 ff.). 386

Vgl. dazu m.w.N. zur Rspr. etwa Plötz 1980, 216 f.; Rzepka 2000, 189 f., 210 f.

387

Die Unschuldsvermutung wird meist auf das Rechtsstaatsprinzip gestützt, vgl. BVerfGE 19, 342, 347; 22, 254, 265; 25, 327, 331; 38, 105, 115; 53, 152, 162; 74, 358, 370; 82, 106, 114; SKStPO/Rogall, Vor § 133/74; Paeffgen 1986, 53 f.; Stuckenberg 1998, 48 ff., 546 ff. 388 Verdächtige dürfen also nicht als Verurteilte behandelt und v.a. nicht bestraft werden (vgl. BVerfGE 19, 342, 347; 22, 254, 265; 35, 311, 320; SK-StPO/Rogall, Vor § 133/75 f.; Stuckenberg 1998, 530 ff.; Roxin 1998, § 11/4; Murmann, GA 2004, 65, 74). Die Bestimmung der Strafadäquanz diverser Maßnahmen ist aber problematisch (vgl. etwa Weßlau, StV 1991, 226, 231). 389 Eingriffe von einer Schwere, die man nur dem Schuldigen zumuten könnte, müssen beim Verdächtigen unterbleiben (vgl. Gropp, JZ 1991, 804, 808 ff.; Köhler, ZStW 107, 1995, 10, 22; Neumann 1998, 390). Welche Limitierungen sich daraus genau ergeben, ist allerdings noch ungeklärt, bspw. auch die Frage einer grundsätzlichen Umkehrbarkeit der fraglichen Gütereingriffe.

302

Teil 3: Grundfragen

vorsieht, ist für das betroffene Subjekt der Pflichtenkreis des Schuldigen also zwangsläufig hinausgeschoben390. Die Unschuldsvermutung bringt freilich nicht nur diese verfahrensimmanente Notwendigkeit gleichsam deklaratorisch auf den Begriff, sondern sie füttert das Schuldpräsumtionsverbot auch noch zusätzlich aus391. Sie besagt nämlich nicht nur, dass die bloße Verdächtigkeit dem Überführt-Sein nicht gleichstehen kann, sondern sie lässt es ebenso wenig zu, dass das Maß des Zumutbaren allein wegen der Verdachtsstellung steigt. Solange über die Verantwortung einer Person nicht entschieden werden kann, soll man ihr – so die Gewährleistung der Unschuld – an sich nur denjenigen Pflichtenkreis auferlegen können, der bei einem Tatunzuständigen tragbar ist392. Grundrechtseingreifende Ermittlungsmaßnahmen lassen sich jedenfalls nicht darauf stützen, dass die beschuldigte Person diese Beeinträchtigungen kraft ihrer Tatverdächtigkeit hinzunehmen habe. Garantiert ist gewissermaßen ein Begründungsverbot (oder anders gesagt: die Unzulässigkeit, prozess- oder materiell-rechtliche Inanspruchnahmen auf den Verdacht irgendeines Grades zu stützen393). Sobald von einem Beschuldigten mehr verlangt wird als von jedem Unschuldigen (d.h. einem Unverdächtigen oder Nicht-Beschuldigten), erhöht dies folglich den Rechtfertigungsaufwand, weil sich der Staat nicht mit dem Hinweis auf die Verdachtsbefangenheit und eine deswegen verminderte Schutzwürdigkeit begnügen kann394. 390 Eine etwaige Aussagepflicht des Beschuldigten wäre von diesem Aspekt der Unschuldsvermutung nicht ausgeschlossen. Eine solche Pflicht würde keine strafadäquate Wirkung entwickeln, und obendrein ließe sie sich neutral an die Verfahrensbetroffenheit knüpfen und von Schuldpräsumtionen unabhängig halten (ähnlich Puppe, GA 1979, 289, 299 Fn 42; Nothhelfer 1989, 39; Stuckenberg 1998, 84 Fn 304; Bosch 1998, 96; a.A. offenbar Torka 2000, 68). 391

Hierzu zählt bspw. das Zusammengehen mit „in dubio pro reo“: Wegen des Zweifelssatzes trägt die Anklage die Beweislast. Falls trotz aller Nachweisbemühungen beim Gericht noch Zweifel bestehen, schließt die Entscheidungsregel des in-dubio-Satzes die Verurteilung aus (vgl. Kokott 1993, 14 ff., 182 ff.). Aus der Unschuldsvermutung folgt dann, dass der Angeklagte in dieser Lage als unschuldig fortgilt und deshalb freizusprechen ist (vgl. etwa Zopfs 1999, 260, 309, 329). 392 Dank der Unschuldsvermutung gilt nur eine zweistellige Unterscheidung von Schuld und Unschuld einer Person: Da die verfrühte Schuldzuweisung unterbleiben muss, verbleibt der Beschuldigte im Unschuldigenstand (prägnant Lesch, JR 2005, 302). Auch ein dazwischen liegender Status der (graduierbaren) Verdächtigkeit, an den abgestufte Zumutbarkeiten geknüpft werden könnten, ist ausgeschlossen (Neumann 1998, 390 f.; ebenso Frister 1988, 109 ff.; vgl. auch Ransiek 1990, 71; Gropp, JZ 1991, 804, 806 f.; Haberstroh, NStZ 1984, 289 f.; SK-StPO/Paeffgen, Vor § 112/22; Stuckenberg 1998, 536). 393

Verbot, „ für den Beschuldigten eine höhere Belastungsschwelle mit der Begründung festzulegen, dass er mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit schuldig sein, und dem Schuldigen gegenüber massivere Eingriffe zulässig seien als gegenüber dem Nichtschuldigen“ (Neumann 1998, 390). 394 In der abwehrrechtlichen Grundrechtsprüfung das nahe liegende Kriterium der Verdachtsschwere zu berücksichtigen und bei den Strafverfolgungsinteressen, die mit den Individualgütern kollidieren, in Anschlag zu bringen, wird durch die Unschuldsvermutung, die hier quasi als Schranken-Schranke wirkt, untersagt (vgl. auch oben II.1.b) in Kap. 5 sowie unten I.4.b)aa) in

7. Kap.: Verfassungsrechtliches Fundament

303

In ihrer Eigenschaft als Begründungsverbot operiert die Unschuldsvermutung also innerhalb der Normkonkretisierung, indem sie dort die Riege eingriffslegitimierender Gesichtspunkte reduziert395. Den Strafvereitelungsfreiheiten steht sie damit indirekt bei. Missverstanden würde die Unschuldsvermutung jedoch, wenn man ihr originäre Befugnisse zur Sanktionsabwehr entnehmen wollte. Ihre sekundierende Struktur wird daher verkannt, wenn es heißt, dass, wer als unschuldig gilt, auf dieser Position auch beharren und die eventuelle Tatschuld verschweigen oder verleugnen dürfe396. Ablehnung verdient dieses Diktum schon deshalb, weil nach seiner Maßgabe die Schweige- und Bestreitensrechte im Falle einer verdachtsbasierenden Schuldindizierung entfallen würden. Da dies keineswegs zutrifft397, müssen die nämlichen Rechtspositionen eine von der Unschuldsvermutung unabhängige Grundlage haben. Die Unschuldsvermutung fungiert allerdings als deren Adjutant. Sie schüttet um diese Rechte einen Wall, der eine typische Verletzungsform (zusätzlich) abzuhalten vermag: nämlich die Schuldvermutung, unter deren Geltung das sanktionsabwehrende Prozessverhalten nicht komplikationslos ausführbar wäre398.

Kap. 10; ähnlich wie hier Röckl 2002, 121, 130; i.Z.m. nemo tenetur verkannt von Kadelbach, StV 1992, 506, 508 und Bosch 1998, 96). 395 Die stärkere Inanspruchnahme des Verdächtigen muss als Sonderopfer eines Unbescholtenen (ähnlich Lesch, JR 2005, 302) begründet werden. Zu denken ist dabei etwa an die bei ihm typischerweise erhöhte Tatspurendichte und seine dadurch vergrößerte Aufklärungsnähe (vgl. Frister 1988, 112 ff.; Neumann 1998, 391) oder daran, dass er eine gegenüber jedermann zu rechtfertigende Pflicht (bspw. am Verfahren teilzunehmen) missachtet (so für die fluchtbedingte Untersuchungshaft Köhler, ZStW 107, 1995, 10, 22). 396 So für das Leugnen Haberstroh, NStZ 1984, 289, 293; für das Schweigen Arndt, NJW 1966, 869, 670; Guradze 1971, 160, 163 f.; Bauer 1972, 51; Müller 1980, 63; Dingeldey, JA 1984, 407, 409; Kadelbach, StV 1992, 506, 507 Fn 4. 397 Selbst bei Wegfall der Unschuldsvermutung wäre ein Schweige- und Lügerecht in einer Brutto-Fassung vorstellbar, wenn es auch auf Nettoebene wirkungslos würde. Die Schuldvermutung entwickelte allein den faktischen Zwang, sich zur Vermeidung von Strafe entlasten zu müssen. Das Verteidigungsrecht könnte dann zwar nicht effektiv wahrgenommen werden, aber gleichwohl bestehen. Anders gesprochen: Die Schuldvermutung ließe spezifische Eingriffe in die Strafvereitelungsfreiheiten zu, ohne aber deren Schutzbereich zu negieren (i.E. ebenso Rogall 1977, 111 f.; Torka 2000, 67 f.; irrig Bosch 1998, 94 Fn 324; unklar Schulz 2001, 501 ff.). Umgekehrt bliebe auch bei einer Geständnispflicht die Unschuldsvermutung in Kraft, denn rechtstechnisch kann der Geständige bis zum Schuldnachweis als unschuldig behandelt werden (vgl. Nothhelfer 1989, 40; Wolff 1997, 36 f.; Salger 1998, 7; verkannt von Peres 1991, 121). 398 Ähnlich Nothhelfer 1989, 40; Wolff 1997, 36; Lutz, ZStR 120 (2002), 410, 413. Klarstellend: Die Schuldvermutung/-indizierung würde nicht nur von der Unschuldsvermutung gehindert, sie wirkte als Entlastungszwang und wäre vielmehr auch ein mittelbarer Eingriff etwa in die Mitteilungsfreiheit (ähnlich wie hier Rüping, JR 1974, 135, 138).

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Teil 3: Grundfragen

3. Fazit Verzichtet man auf das methodisch unbefriedigende Unterfangen, für einen autonom prästrukturierten nemo-tenetur-Satz eine grundgesetzliche Basis aufsuchen zu wollen (und sie notfalls sogar zuzurichten), nimmt man unwillkürlich auch Abschied von der Vorstellung, die Selbstbelastungsfreiheit sei eine in sich geschlossene Norm, die als selbstständiger Rechtssatz oder als teil-autonomer Bestandteil eines Rechtssatzes mit eigener Gesetzeskraft versehen ist. Dieser Schritt muss getan werden. Er führt auf den Weg, auf dem man unbefangen an die Verfassung herantritt, um in deren Gewährleistungspalette die vorhandenen Selbstbezichtigungsfreiheiten zu ersehen. Wer dieser Richtung folgt, stößt auf die Sach- und Normbereiche eines breiten Grundrechtsspektrums, das verschiedenste strafvereitelnde Aktionsformen umfasst (Tabelle 2). Tabelle 2 Strafvereitelungsrelevante Grundrechtsschutzbereiche Verhaltensform mit Strafvereitelungs-/Strafmilderungswirkung Passivität Aktivität Im prozessualen Handlungsrahmen:

Im prozessualen Handlungsrahmen:

Schweigen: Art 2 I, 1 I GG (Privatsphäre, Art 5 I, 103 I GG bzgl. Äußerungen und z.T. auch Ehrschutz und informationelle Anträge Selbstbestimmung) sowie Art 5 I GG sonstige prozessuale Nichtaktivität: nega- i.Ü. prozessspezifische Verbürgungen tive Seite der (Prozess-)Grundrechte; Art 2 I GG Im außerprozessualen Handlungsrahmen Im außerprozessualen Handlungsrah(jenseits des Ermittlungshandelns) sind men: Nutzung grundrechtlich geschützter Güter (Körper, Bewegungsfreiheit, Passivrechte ohne praktische Relevanz Eigentum, Wohnung, Kommunikationsmedien, Vertrauensbeziehungen, Selbstdarstellung, familiäre Beziehungen, Beruf) als Ressourcen für Organisation der Verteidigung (notfalls Art 19 IV GG) Gelegentlich Art 4 I GG und subsidiär Art 2 I GG

Gelegentlich Art 4 I GG und subsidiär Art 2 I GG

7. Kap.: Verfassungsrechtliches Fundament

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Mit der Identifizierung dieser Rechte, die – untechnisch gesprochen – für solche Aktionstypen teilweise „gemacht“ sind und ansonsten „bei Gelegenheit“ zum Zuge kommen, ist indes erst der Einstieg in die nemo-tenetur-bezogene Normprogrammanalyse vollzogen. Man hat hiernach einen ausdifferenzierten Schutzraum von zweifach vorläufiger Art vor sich: Systematisch muss in der Gesamtheit der Strafvereitelungsrechte die Unterabteilung der speziellen Selbstbelastungsfreiheiten noch näher bestimmt werden (I. in Kap. 8), und materiell zeichnet sich die insoweit vorhandene, effektive Freiheitssubstanz erst Fall für Fall durch das konturgebende Gesetzesrecht ab (Teil IV).

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Teil 3: Grundfragen

8. Kapitel

Nemo tenetur als Grundrechtsausschnitt Mit den bisherigen Antworten auf die in Kapitel 2 formulierten Grundfragen gewinnt die Selbstüberführungsfreiheit langsam an Form: Der nemo-teneturSatz ist danach seit über 150 Jahren eine anerkannte Größe des deutschen Rechts. Im Anschluss an den sukzessiven Verzicht auf die martialischen Werkzeuge, mit denen man das Geständnis ehedem erzwungen hatte, wurden einzelne Geheimhaltungsrechte im Zuge einer generellen Prozessreform zusehends kodifiziert. Dieser Vorgang lässt sich historisch durch seine wissens- und verfahrenssoziologischen Impulsgeber erklären (II. in Kap. 6). Zugleich ist er auch in der Sache begründbar, weil ein Prozess, der sich das individualschützende Wesen der Selbstbezichtigungsfreiheit zu Eigen macht, auf plausible Weise ein „natürliches“ Handlungsmuster autorisiert und mit dem Segen des Gesetzes versieht (Kap. 5). Vollends verbindlich wurde diese Entscheidung durch den Verfassungsrang, den ihr die überholende Konstitutionalisierung nach 1945 einbrachte. Zwar ist die vordem ungeschrieben geltende Selbstbelastungsfreiheit im Grundgesetz nicht als eigener Rechtssatz enthalten, doch wird sanktionsabwehrendes Gebaren vom unspezifischen Freiheitsbestand des Bürgers ausnahmslos erfasst (Kap. 7).

I. Der zu nemo tenetur gehörende Grundrechtskomplex 1. Stellenwert der nemo-tenetur-Formel Freilich erweckt ein solcher Zwischenbefund den Anschein, als sei der nemotenetur-Satz demontiert worden. Die Selbstbelastungsfreiheit hat sich als eigene Gewährleistung aufgelöst und verliert sich in einer Reihe allgemeiner Grundrechtswirkungen. Diese Verfassungsnormen halten in ihrer Summe außer jener Regelungswirkung, die man landläufig mit dem nemo-tenetur-Satz identifiziert, noch zahlreiche anderweitige Rechtspositionen vor. Gerade deshalb aber – und dies verdient es festgehalten zu werden – schließt die in Kapitel 7 zusammengetragene Sammlung konstitutioneller Strafvereitelungsrechte jeden Aktionstyp ein, den die gegenwärtige Debatte in einen Zusammenhang mit der Selbstüberführungsfreiheit bringt. Diese Verhaltensweisen partizipieren also durchgängig am hohen Rechtsstatus des Strafvereitelungsgebarens. Obendrein muss auf die nemo-tenetur-Formel überhaupt nicht verzichtet werden. Sie kann als eine Redensart dienen, um einen Ausschnitt materieller Strafvereitelungsfreiheiten griffig zu bezeichnen. Gewiss ist nemo tenetur dann

8. Kap.: Nemo tenetur als Grundrechtsausschnitt

307

lediglich eine Ausdrucksweise, die ohne normativen Eigenwert eine spezielle Terminologie für einen Teil anderweitig begründeter Rechtswirkungen einführt (Abbildung 3)1 – doch hat auch das seinen Wert: Eine solche Sprachregelung kommt den Bedürfnis nach Praktikabilität entgegen, indem sie mit dem eingeführten Vokabular operiert. Sicherlich bleibt, wenn hernach von nemo tenetur die Rede ist, eine fundamentale Differenz zur bisherigen dogmatischen Praxis, weil diese eine autonome Selbstbelastungsfreiheit in das Verfassungsrecht implementieren wollte (während hier eine handverlesene Auswahl aus jenen Rechten, die aus der Verfassung herausgearbeitet wurden, ein eingängiges Etikett erhält). Ungeachtet dessen rechtfertigt sich das Festhalten an der nemo-teneturFormel aber durch deren argumentative Verfügbarkeit und durch die Prägnanz, mit der sie ein Segment grundrechtlicher Gewährleistungen akzentuiert. Gesamtheit materieller Strafvereitelungsfreiheiten (Bruttofassung)

Normebene: Konglomerat freiheitsgewährender Grundrechte

Ergebnisebene: Arsenal verschiedener Verhaltensmöglichkeiten

Freiheitsausschnitt, der „Selbstbelastungsfreiheit“ genannt wird Abbildung 3: Nemo-tenetur-Sektor innerhalb der Strafvereitelungsfreiheit

Damit wird an dieser Stelle allerdings ein weiterer Arbeitsgang fällig: Jener Teil der Strafvereitelungsfreiheiten, der Selbstbelastungsfreiheit heißen soll, muss eigens auserkoren werden. Das ist, um es abermals zu unterstreichen, eine 1

In diese Richtung andeutungsweise auch Neumann 1998, 383.

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Teil 3: Grundfragen

reine Semantisierungsarbeit, die auf den materiellen Gewährleistungsgehalt der ein- bzw. ausgeschlossenen Rechtspositionen keinesfalls durchwirkt2. Dennoch kann dies nicht nach Gutdünken erfolgen. Wenn man aus der bunten Gesamtheit an Strafvereitelungsoptionen einen Sektor auf einsichtige Weise begrifflich hervorheben will, sollte das vielmehr ganz bewusst erfolgen: Der ausgewählte Ausschnitt muss eine signifikante Gemeinsamkeit aufweisen.

2. Auswahl des zu nemo tenetur gehörenden Grundrechtskomplexes Die definierende Festlegung dessen, was im Interesse der argumentativen Handhabung mit der nemo-tenetur-Formel bezeichnet wird, durchläuft hier zwei Phasen: Der erste Schritt bestimmt innerhalb der Gesamtmenge der geschützten strafvereitelnden Verhaltensformen die nemo-tenetur-typische Verhaltensteilmenge (unten a)), während sich daraus in der zweiten Etappe diejenigen Strafvereitelungs-Grundrechte ergeben, die diesen eingegrenzten Verhaltensausschnitt abdecken (unten b)). Die dabei zutage tretende Grundrechtsfamilie stellt die Rechtsgrundlage für jenen prima facie-Schutz dar, der den Grundrechtsträgern bei ihrem selbstbelastungsmeidenden Agieren zuteil wird3. In ihrer Summe tragen die hiervon gemeinsam generierten Schutzwirkungen den abkürzenden Titel der Selbstbelastungsfreiheit.

a) Merkmale des Schutzgegenstands Als Richtschnur, an der entlang man das selbstbezichtigungsrelevante Verhalten aus dem allgemeineren Strafvereitelungsgebaren hervorheben kann, bietet sich zu allererst der etablierte Sprachgebrauch an. Da die nemo-teneturFormel nur hierdurch ihr vertrautes und anschlussfähiges Gepräge behält, will sich auch die vorliegende Untersuchung darüber nicht einfach hinwegsetzen. Vielmehr dient ihr die Wortverwendungstradition als eine erste generelle Markierung. Nach deren Maßgabe zeichnet sich die zu nemo tenetur gehörende Un2 Welches strafabwehrende Verhalten mit welcher Intensität geschützt ist, hängt allein vom jeweils zuständigen Grundrecht ab. An der Qualität des dort erzeugten Schutzes ändert sich nichts, wenn er die besondere Bezeichnung des nemo-tenetur-Satzes trägt – ebenso wenig, wie die grundrechtlichen Strafvereitelungsoptionen dadurch eine materielle Einbuße erleiden, dass sie den Namen der Selbstbelastungsfreiheit nicht erhalten. Die h.M., die nemo tenetur als eigenen Verfassungsrechtssatz begreift, neigt indes dazu, die Verhaltensweisen, die von seinem Tatbestand nicht erfasst werden, für konstitutionell unabgesichert zu halten (anders aber Lagodny, StV 1996, 167, 171; Schneider, JR 1996, 401, 407; Bernsmann, StV 1997, 116, 117). 3 Um in Abbildung 3 zu bleiben: Die Auswahl erfolgt in der Ergebnisebene (d.h. bei den Verhaltensweisen) und zieht dann automatisch eine Verengung der Normebene (d.h. im Rechtsgrundlagenspektrum) nach sich.

8. Kap.: Nemo tenetur als Grundrechtsausschnitt

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terform des sanktionsabwehrenden Verhaltens dadurch aus, dass der Grundrechtsträger eine (vom Staat womöglich gewünschte) Selbstbelastung zu vermeiden sucht. Als „Selbstbelastung“ wird dabei all das bezeichnet, was für die Herstellung einer staatlichen Sanktion nutzbar wäre, vorzugsweise für die Verhängung von Strafe. Eine weitergehende Orientierung am traditionellen Sprachgebrauch wäre indes untunlich. Da die nemo-tenetur-Kategorie in der derzeitigen Strafrechtsdiskussion diverse Randunschärfen aufweist (oben Kap. 1), kann sich die Begriffsarbeit hieran ohnehin nicht durchgehend binden. Sie benötigt stattdessen anderweitige Kriterien. Hierfür bietet sich eine Anleihe bei der sachstrukturellen Basis an (Kap. 5)4. Die Entscheidung, welches Verhalten zur Selbstbelastungsfreiheit zählt, orientiert sich danach am Kriterium des dunklen Geheimnisses und knüpft bei der Auswahl des Schutzgegenstandes an die Eigenart tatverheimlichender Handlungsformen an. Auf dieser Grundlage wird der hier interessierende Unterfall strafvereitelnder Aktionstypen dadurch charakterisiert, dass die agierende Person gerade ihr selbstüberführendes Geheimnis zu kontrollieren sucht. So gesehen bestehen die Selbstbelastungsfreiheiten in einer spezifischen Verhaltensfreiheit – nämlich darin, selbstbelastendes Wissen verborgen halten zu können und zu dürfen. Dank dieser geheimnissoziologischen Präzisierung wird dem nemo-teneturGebaren eine Kennzeichnung zuteil, durch die sie sich vom sonstigen Strafvereitelungsverhalten deutlich abhebt. Ihre Aktionsformen treten in einer tatbestandlichen Situation auf, in der dem Akteur höchstselbst wegen eines (zutreffend/unzutreffend) für real gehaltenen Vor-Ereignisses5 ein strafförmiger oder strafähnlicher Nachteil droht (ohne dass sich dies zur konkreten Gefahr zugespitzt haben muss)6. Der Betroffene hält in dieser Lage gegenüber dem 4 Bei der Begriffsbestimmung hätte man auch mit den historischen Verwendungsweisen von nemo tenetur operieren können. Selbstbezichtigungsfreiheiten wären danach auf die Abwesenheit von Zwang zur selbstbelastenden verbalen oder nonverbalen Aktivität zugeschnitten worden. Nun lässt sich diese überkommene nemo-tenetur-Interpretation zwar geschichtlich erklären (nemo tenetur als „Frontstellung gegen den Geständniszwang im Inquisitionsprozess“, Neumann 1998, 376; oben Kap. 6), doch gilt dies wenig in einer modernen Prozessrealität, die sich von ihrer ursprünglichen Vernehmungsfokussierung entfernt. Ohnehin findet sich in den seinerzeitigen Diskursen keine stringente Begründung für die Verbindung der Selbstbezichtigung zur Aktivität und zum Zwang. 5 Darauf, dass es wirklich stattgefunden hat, kann es nicht ankommen. Zur Zeit des strafabwehrenden Verhaltens ist das Ereignis – wie die Unschuldsvermutung sogar in Fällen gesteigerten Verdachts garantiert – noch gar nicht als soziales Faktum mit dem Grundrechtsträger verbunden. 6 Der Nachteil darf aber noch nicht eingetreten sein. Ausgegliedert bleiben ebenfalls Strafvereitelungsakte vor und bei der Tat (während es unerheblich ist, ob sie vor oder nach der Tataufdeckung bzw. entsprechender Ermittlungsversuche erfolgen; zu beiden Zeitachsen vgl. Schleutker 1961, 2). Proaktiv und präventiv ansetzende polizeiliche Methoden können daher nicht an nemo tenetur gemessen werden.

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Teil 3: Grundfragen

Staat sein Tatwissen zurück, das in seinem Inneren kognitiv präsent und/oder von Gegenständen (etwa Tagebuch, Computerdatei) getragen ist7. Das kann in jeder Form der Wissenskontrolle geschehen – etwa indem er davon absieht, sein Wissen (per Auskunft, Edition usw.) weiterzugeben. Auch wenn er tätig verhindert, dass sich der Staat dieses Wissen selbst verschafft, gehört das in den Bezirk von nemo tenetur8. Dieser Schutzgegenstand lässt sich genauso gut durch die Merkmale eines Eingriffs beschreiben. Eine Verkürzung der Selbstüberführungsfreiheit liegt danach bei jedem Datenerhebungsakt vor, der nicht nur eine bestimmte, von der grundrechtsspezifischen Eingriffsdogmatik (unten in Kap. 9) noch näher herauszuarbeitende äußere Handlungsform aufweist (Zwang usw.), sondern der auch objektiv dazu tendiert, den Grundrechtsträger zur Freigabe seines Tatwissens (genauer: zur aktiven Preisgabe oder zum Geschehenlassen des Wissensübergangs) zu bewegen. Maßgeblich ist dabei der Verlust der Wissenskontrolle, wohingegen mit dem Umfang des staatlichen Wissenserwerbs lediglich die Eingriffsintensität variiert.

Nach allem wird der Schutzgegenstand von nemo tenetur durch den Bezug des fraglichen Verhaltens auf das „geheime Tatwissen“ angezeigt. Die Informationen müssen vom Grundrechtsträger verborgen werden (was trotz Mitwisserschaft dritter Personen der Fall sein kann9) und überdies einen solchen themati7 Beim Zugriff des Staates auf sächliche Beweismittel kommt es für nemo tenetur nicht darauf an, ob der Akt der Beweismittelerlangung einer Wissensmitteilung durch den Beschuldigten gleich kommt (zu den hier entstehenden Abgrenzungsproblemen am Bsp. des US-amerikanischen Strafrechts Schlauri 2003, 150 ff.). Maßgeblich ist vielmehr, ob das Zugriffsobjekt einen gegenständlichen Wissensspeicher darstellt. Das Wissen des Beschuldigten verliert seinen Geheimnischarakter nämlich nicht dadurch, dass es aus dem Kopf heraus gelangt und in schriftlicher oder anderer Form verdinglicht oder niedergelegt wird (solange es nicht-öffentlich bleibt). Der fragliche Informationsträger muss seine Aussagekraft indes durch eine derartige zurechenbare Wissensübertragung vom Wissensträger erlangt haben. Augenscheinsobjekte, die kraft ihres „Soseins“ zu sprechen vermögen (z.B. Tatspuren), sind dagegen, selbst wenn sie vom Wissensträger hervorgebracht wurden, keine Wissensträger (zusammenfassend zur vergleichbaren Problematik beim strafrechtlichen Urkundenbegriff etwa Küper 2002, 296). 8

Praktisch betrifft das – solange der Staat nicht von außen auf das nur intern Gewusste direkt zugreifen kann (Wahrheitsdroge u.ä.) – die Fälle, in denen der Grundrechtsträger verhindert, dass der Staat eines gegenständlichen Wissensträgers habhaft wird, indem er den Gegenstand bspw. vor der Beschlagnahme verbirgt oder zerstört oder indem er den Zugriff abwehrt. 9 Es kommt nur darauf an, dass das Wissen vor dem Staat geheim gehalten wird (zum relativen, d.h. personenbezogenen Geheimnis vgl. Fn 16 in Kap. 5). Allerdings ist das intersubjektiv geteilte Geheimnis auch ein Wissen des Mitwissers, über das dieser (z.B. durch Verrat) verfügen kann. Wenn der Staat diese Informationen bei der dritten Person abschöpft oder wenn diese sich von sich aus offenbaren, betrifft das den Verhaltensbereich des Wissensbetroffenen in keiner Weise. Die Auskunft des Zeugen und Denunzianten gehört also nicht in das Feld von nemo tenetur (ebenso auf der Basis des vorherrschenden Konzeptes auch Dencker, StV 1994, 667, 678 f.; Lagodny, StV 1996, 167, 170; Renzikowski, JZ 1997, 710, 715 f.; Pawlik, GA 1998, 378, 386 ff.; Makrutzki 2000, 108 f.). Die Selbstbelastungsfreiheit verbürgt diverse Geheimhaltungsaktivitäten und nicht den Geheimniswert bestimmter Informationen. Sie wird allein dort in Anspruch genommen, wo der Wissensbetroffene handelt und dadurch sein eigenes tatrelevantes Wissen schützt (bspw. sein Wis-

8. Kap.: Nemo tenetur als Grundrechtsausschnitt

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schen Bezug zur drohenden Nachteilszufügung aufweisen, dass die Sanktionsgefahr durch den Übergang der Daten stiege10. Diese Verfänglichkeit eignet vornehmlich dem Selbstbelastungswissen11. Tatneutrale Wissensbestände münden nur im Einzelfall in einen Sanktionsnachteil, das Wissen des Unschuldigen gar nur in atypischen Sachlagen. Allein in solchen Sonderkonstellationen unterfällt das unerhebliche, entlastende, unverwertbare Wissen, das ohne voraussehbare Verfänglichkeit ist, nicht nur sonstigen Geheimhaltungsgrundrechten, sondern gerade der engeren Selbstbelastungsfreiheit. Das strafprozessuale Schweigerecht, das die Geheimhaltung auch unverfänglichen Wissens garantiert (§ 136 StPO)12, reicht demnach über das nemo-tenetur-Gebiet hinaus13. Im Ganzen erstrecken sich die Selbstbelastungsfreiheiten auf jedes Verhalten, mit dem die sanktionsbedrohten Personen den Übergang ihres Wissens, das sich zu Sanktionszwecken benutzen ließe, aus ihrem eigenen Kreis in die staatliche Domäne zu unterbinden suchen. Von der h.M. unterscheidet sich dieses Format durch sein Zustandekommen, denn es beruht auf der deklaratorischen Hervorhebung grundrechtlicher Normwirkungen und verkörpert keine Konturen eines eigenständigen Rechtssatzes. Vor allem aber weicht auch sein Zuschnitt von der vorherrschenden Vorstellung ab: – Einesteils ist er deutlich schmaler, weil er in Anlehnung an die Geheimnissoziologie nur von der postdeliktischen Wissenswahrung handelt. Ob (und wie weit) der Grundrechtsträger darüber disponieren kann, sich an der staatlichen Beweiserhebung oder an der sonstigen Sanktionsvorbereitung durch tatwissensneutrale Verhaltensweisen zu beteiligen – etwa bei der Bereitstellung seiner physischen Erscheinung – entscheiden die Strafvereitelungsgrundrechte, die außerhalb von nemo tenetur liegen14. sen um die Existenz oder Erreichbarkeit der Mitwisser verheimlicht) – nicht aber durch den Versuch, fremdes Wissen zu kontrollieren oder solche Personen gegen Ermittlung und Benützung abzuschotten. Das ist keine Form, um das eigene Wissen durch eigenes Verhalten zu kontrollieren. 10 Gänzlich außerhalb der Reichweite der Selbstbelastungsfreiheit liegt die Informationsverwertung. Nemo tenetur handelt allein von einem entsprechenden Verwertungshorizont. 11

Dagegen erhöht die Mitteilung von offenkundigen Daten die Verfolgungsgefahr nicht.

12

Vgl. auch die Straffreiheit der Angeklagtenlüge bei unverfänglichen Angaben in § 153 StGB.

13

Gegenüber den nemo-tenetur-Grundrechten ist dies also eine freiheitserweiternde Grundrechtsausgestaltung, die durch Praktikabilitäten veranlasst wird: Dass zu offenkundigen Sachverhalten ein Schweigerecht besteht, erklärt sich aus der Absurdität einer Mitteilungspflicht, die Wissensreservate eigentlich achtet und nur die Bestätigung bereits bekannter Informationen verlangt. Dass die Auskunft auch zu entlastenden und irrelevanten Daten verweigert werden darf, beruht wiederum darauf, dass das Schweigen zu verfänglichen Themen nur unter dieser Voraussetzung unverfänglich ist. 14 Auch nach Verrel schützt nemo tenetur nur das Beschuldigtenwissen (2001, 253 ff.; im Wesentlichen ebenso Schlauri 2003, 180 ff.). Der „sonstige“ Körperlichkeits-Bereich werde durch den „Verhältnismäßigkeitsgrundsatz“ geschützt, der, wie Verrel dunkel meint, „einer umfassenden In-

312

Teil 3: Grundfragen

– Gleichzeitig greift die Selbstbezichtigungsfreiheit, bei der auf weitere definitorische Grenzziehungen verzichtet wird, aber auch weiter aus. Neben der Befugnis des Grundrechtsträgers, die von ihm intern erinnerten Daten und alle von ihm erzeugten personalen/sächlichen Wissensträger in seiner Sphäre bewahren zu können, erlaubt sie ebenfalls das aktive Errichten eines wissensabschottenden Schutzwalls.

b) Die Rechtsgrundlagen-Familie Damit steht fest, welche Züge die hier interessierende Unterform des sanktionsabwehrenden Verhaltens trägt, jedenfalls in den Augen eines geheimnissoziologisch orientierten Sprachgebrauchs. Ebenso wie es sich dabei nur um einen Teil der Strafvereitelungsaktivitäten handelt, werden diese Aktionsmöglichkeiten aber auch nur von einem Ausschnitt der Strafvereitelungsgrundrechte gewährleistet – nämlich allein von jenen Gewährleistungen, die für das soeben ausgewählte nemo-tenetur-Verhalten einschlägig sind (Abbildung 3). Was von der umfassenden Grundrechtspalette insofern „übrig bleibt“, ist freilich noch immer eine Allianz unterschiedlicher Verfassungsnormen15. Der Regelungsstrumentalisierung des Beschuldigten als Mittel des personalen Sachbeweises im Weg“ stünde (a.a.O., 285). Freilich ist es Verrel dabei um die Ausgliederung von Regelungsabschnitten aus einem eigenständigen grundrechtsindifferenten nemo-tenetur-Rechtssatz zu tun. Während die Beschränkung auf den Wissensschutz nach der hiesigen Vorstellung lediglich den diskursiven Praktikabilitäten dient und einen allein terminologischen Unterschied zwischen Selbstbelastungs- und Strafvereitelungsfreiheiten markiert (wohingegen materielle Differenzen davon unabhängig nur durch die jeweiligen Grundrechte erzeugt werden), nimmt er also eine substanzielle Abschichtung vor. Solche Grenzsetzungen unterliegen deutlich höheren Begründungsanforderungen als die lediglich verbale Unterscheidung in der hiesigen Arbeit. Jener Beweislast kommt Verrel nur ungenügend nach: Dies betrifft zunächst jenen „Leib-Seele-Dualismus“ (254), den er mit einer angeblich geringeren Schutzwürdigkeit der Körperinstrumentalisierung zu „unterfüttern“ sucht (a.a.O., 255 ff., 284). Außerdem rechtfertige sich seine wissensbezogene nemo-tenetur-Deutung dadurch, dass auch das einfache Prozessrecht das Beschuldigtenwissen gründlicher sichere als die körperliche Mitwirkungsfreiheit, weil Duldungspflichten dort ausschließlich für die Inanspruchnahme des Körpers vorgesehen sind. Dass aber das Beschuldigtenwissen wirklich im Unterschied zum Körper vor absolutem Zwang bewahrt wird, deutet die lex lata bestenfalls vage an (nämlich v.a. für die Zugriffsform der Hypnose in § 136a I StPO). So stützt Verrel seine Prozessrechtsanalyse denn auch darauf, dass dort das Wissen v.a. deshalb weiter als der Körper geschützt sei, weil mit seiner „Identifizierung (...) als spezifischem Schutzgegenstand von nemo tenetur (...) der Art und Weise seiner zwangsweisen Indienststellung grundsätzlich keine Bedeutung mehr“ zukäme (2001, 247). Die Gewährleistungsunterschiede zwischen Beschuldigtenwissen und Beschuldigtenkörper ergäben sich also aus dem nemo-tenetur-Satz – dessen Struktur doch aus dieser Schutzdifferenz eigentlich erst hergeleitet werden soll. 15 Für einen Patchwork-Charakter der nemo-tenetur-Grundlagen votiert auch Peres (1991, 121), doch ist das mit der hiesigen Auffassung nicht zu verwechseln. Wenn Peres von der „Ableitung der Selbstbezichtigungsfreiheit aus den einzelverfassungsrechtlichen Spezialgewährleistungen“ spricht, sind damit jene Grundrechte gemeint, in die das Strafurteil eingreift. Die unfreie

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komplex, der den Namen der Selbstbelastungsfreiheit trägt, besteht danach aus einem mehrgliedrigen Gefüge selbstbezichtigungs-unspezifischer Grundrechtsnormen. Es handelt sich dabei in erster Linie um – den persönlichkeitsrechtlichen Schutz der Privatsphäre, der das passive Zurückhalten des eigenen Wissens prima facie erlaubt (wie neben ihm auch die negative Meinungsfreiheit und in einer Reservefunktion das Recht auf informationelle Selbstbestimmung); – die von Art 5 I GG (und am Rande auch von Art 103 I GG) gewährte Brutto-Befugnis zur verbal-tätigen Geheimhaltung und – die allgemeine Handlungsfreiheit, die eine subsidiäre Garantie für die verbleibenden Geheimhaltungsaktivitäten übernimmt16. Diese Grundrechte stellen die Vortatverheimlichung gemeinsam unter Schutz, ohne sich darin zu erschöpfen. Auch beruht weder ihr Zusammenwirken noch ihre interne „Zuständigkeitsverteilung“ auf einer strategischen Abstimmung. Es handelt sich vielmehr um einen grundrechtsübergreifenden Gewährleistungseffekt, der sich eher „bei Gelegenheit“ einstellt. Wenn dennoch die Summe der von ihm entwickelten Normwirkungen als nemo-tenetur-Satz bezeichnet wird, so bezeichnet dieser Ausdruck also grundrechtsverschiedene Schutzbereichsegmente, die deshalb mit diesem technischen Namen belegt werden, weil sie wegen ihres sachlichen Zusammenhangs eine solche verbindende Vokabel vertragen.

II. Gewährleistungsstrukturen Dass hinter nemo tenetur ein grundrechtlicher Gewährleistungsbestand steht, der sich aus Schutzbereichsabschnitten verschiedener Grundrechte zusammensetzt, kann nicht ohne Folgen bleiben. Einmal sind sämtliche Themen der Selbstbelastungsfreiheit in einer solchen Regelungsarchitektur der Sache nach Grundrechtsprobleme, die sich in einer allein-strafprozessualen Schreibweise nicht hinlänglich bearbeiten lassen. Dem rechtlichen Rang der Selbstbelastungsfreiheit wird vielmehr nur gerecht, wer die jeweils problemzugehörigen, verfas-

Selbstbezichtigung ist für ihn nur wegen ihrer strafprotegierenden Wirkung ein Eingriff. Das unterschlägt jene Grundrechte, zu deren Normbereichen das Selbstbezichtigen „an sich“ zählt. 16 Damit sind die wichtigsten Rechtsgrundlagen benannt. Bedeutung können ebenfalls der Ehrschutz (Art 2 I, 1 I GG), Art 4 I GG und die negative Seite der Prozessgrundrechte erlangen, doch ist ihr auf Einzelfälle beschränkter nemo-tenetur-Anteil faktisch zu vernachlässigen. Die allgemeinen Abwehrrechte (II.2.a)aa) in Kap. 7) schützen das wissenskontrollierende Verhalten nicht direkt, aber die dafür nutzbaren Ressourcen (Hilfsmittel). Außerdem kommen sie nemo tenetur mittelbar zustatten, weil die Sanktionsdrohungen, mit denen der Staat diverse geheimhaltungsbeschränkende Normen abstützt, vor ihnen legitimiert werden müssen (II.2. in Kap. 9).

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Teil 3: Grundfragen

sungsdogmatischen Kategorien konsultiert17. Das muss zum anderen aber exakt bei demjenigen nemo-tenetur-Grundrecht erfolgen, das durch die betreffende Fragestellung konkret angesprochen wird. Hierbei können durchaus einige einzelgrundrechtliche Besonderheiten zum Vorschein kommen, falls beispielsweise die Eingriffsschranken der beteiligten Gewährleistungen differieren. Auf solche Unterschiede innerhalb der nemo-tenetur-Grundrechtsgemeinde hätte man dann Rücksicht zu nehmen. Wohin all dies führt, sei hier an einigen allgemeineren Fragen demonstriert, bevor sich der vierte Teil der Arbeit in genau dieser Manier dem Selbstbelastungs-Strafrecht nähert.

1. Produktionskontext Bei der Mobilisierung der Selbstbezichtigungsfreiheit legt man gewöhnlich keinen Wert auf spezifische Prozessarten und Prozessrollen. Nemo tenetur sei angesprochen, sofern sich der Rechtsträger materiell zu sanktionsdienlichen Mitwirkungen aufgerufen sieht, auch außerhalb des Strafverfahrens18. Dies verdient volle Zustimmung. Dass an die Kulissen des Produktionskontextes keine formalen Anforderungen gestellt werden, beruht aber nicht – wie die h.M. unterstellt – auf der Weite eines eigenständigen Rechts auf Selbstbelastungsfreiheit, sondern auf den dahinter liegenden Schutzreichweiten der sachlich zuständigen Grundrechte. In diesen Bestimmungen fußt die prima facie-Erlaubnis, das selbstreferenzielle Tatwissen in jeglichen Handlungszusammenhängen geheim halten zu können – und zwar deshalb, weil ihre Normtexte keine Anhaltspunkte erkennen lassen, um die jeweils gewährten Aktionsformen auf den strafgerichtlichen Lebensbereich zu beschränken. Lediglich Art 103 I GG weist eine derartig verengte Sachbereichsstruktur auf. Dass seine Rechtswirkungen in den fraglichen außerprozessualen Handlungsfeldern ausbleiben, wird indes dadurch kompensiert, dass sich dort das fragliche Verhalten (wissensverdeckende Rede) bereits auf Art 5 I GG und Art 2 I GG stützen kann.

17

Dazu und zur Kritik an der noch verbreiteten Verfassungsblindheit oben II.2. in Kap. 4 sowie Kölbel, NStZ 2003, 232, 234. In die hier verfochtene Richtung bewegen sich z.B. auch Wolter 1990, 505; Renzikowski, JZ 1997, 710, 713; Derksen, JR 1997, 167, 170; Popp, NStZ 1998, 95, 96; Drope 2002, 204 ff. 18 So spricht Verrel am Bsp. außerstrafprozessualer Mitwirkungspflichten von „zweifellos in den engeren Bereich des nemo-tenetur-Grundsatzes fallenden öffentlich-rechtlichen Auskunftsansprüchen“ (NStZ 1997, 361, 363; sachlich ebenso BGHSt 27, 374, 379; SK-StPO/Rogall, Vor § 133/132; ders., JR 1993, 380, 381; Reiß 1987, 181 ff.; Nothelfer 1989, 93 ff.; H. Schneider 1991, 42; Schünemann, DAR 1998, 424, 428; Kroß 2004, 178 ff.). Auch nach BVerfGE 56, 37, 49 f. ist der nemo-tenetur-Satz außerhalb des Strafverfahrens zu beachten (wenngleich für die Zuordnung zu den Schutzbereichen von Art 1 I GG oder 2 I GG danach zu differenzieren sei, zu welchem Zweck die selbstbelastenden Daten erhoben werden).

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Die Ansicht, dass Selbstbelastungsfreiheiten allein in jenen Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren bestünden, wo sie auch verwertet werden, hat zuletzt vor allem noch Wolff vertreten19. Dabei muss hier gar nicht interessieren, dass es ihm zufolge am Rechtsstaatsprinzip liege (genauer: an einem angeblichen, objektiv-rechtlichen staatsinternen Strukturierungsgebot), wenn andernorts erhobene Informationen nicht in die Sanktionierung eingehen dürfen20. Hiermit ist nämlich ohnehin noch nicht dargetan, weshalb die nemo-tenetur-Grundrechte die außerstrafprozessuale Preisgabe verfänglicher Informationen ausblenden sollten. Getragen von der Vorstellung, dass es sich bei nemo tenetur um eine eigene Norm handele, verweist Wolff insofern nur darauf, dass sich deren Garantien historisch im Strafprozess herausgebildet haben und gerade dort ausgestaltet wurden21. Damit übersieht er, dass die grundrechtlichen Schutzbereiche, die der Selbstbezichtigungsfreiheit mit dem Grundgesetz zugewachsen sind, weit über den sanktionsprozessualen Aktionsraum hinaus reichen.

2. Personelle Gewährleistungen Wo man von den Trägern des nemo-tenetur-Satzes spricht, hat man meist ein anklagebedrohtes Individuum im Sinn. Dennoch liegt es keineswegs fern, dass auch juristische Personen angesichts ihrer Sanktionsbedrohung (§ 30 OwiG) der Selbstbelastungsfreiheit bedürfen. Die h.M. nähert sich dieser Frage erneut auf eingefahrenen Gleisen, indem sie im Glauben an einen unabhängigen nemotenetur-Satz prüft, ob dessen vorgeblich exklusive Rechtsgrundlage auf juristische Personen anwendbar ist. Je nach der bevorzugten verfassungsrechtlichen Zuordnung fällt das Urteil dann in toto positiv22 oder abschlägig aus23 (weshalb man der gegnerischen Auffassung mit Vorliebe dadurch begegnet, dass man der Selbstbelastungsfreiheit kurzerhand eine abweichende Geltungsbasis unterlegt, die für die eigene Haltung in der Rechtsträger-Frage „passend“ ist24). All das 19 Für eine Ausgliederung außerstrafprozessualer Beweiserhebungslagen aus dem Schutzbereich von nemo tenetur auch Lorenz, JZ 1990, 1000, 1005; Vogel 1993, 185 Fn 73; Bosch 1998, 59; Binder 2001, 140. 20 Vgl. Wolff 1997, 99 ff., der auch die Aussageverweigerungsrechte außerhalb des eigenen Sanktionsverfahrens – z.B. § 55 StPO – über dieses Konstrukt erklären will (a.a.O., 141). Das im Rechtsstaatsprinzip enthaltene Willkürverbot schließe das staatsinterne objektivrechtliche Organisationsprinzip ein, Informationen nur im Rahmen der Verfahren und für die Zwecke, für die sie erhoben wurden, einzusetzen. Der Gesetzgeber müsse dafür die verschiedenen Verfahren gegenseitig abschotten, vornehmlich bei sanktionsrechtlich relevanten Daten (a.a.O., 238 ff.). 21

Wolff 1997, 100 f.

22

So Weiß, JZ 1998, 289, 294 ff.; Dannecker, ZStW 111 (1999), 256, 286; Schlüter 2000, 106 ff.; Müller, wistra 2001, 167, 171. 23 24

BVerfGE 95, 220; Ransiek 1996, 358; Mäder 1997, 303; Wolff 1997, 194; Rüfner 2001, 64.

Kennzeichnend insofern die Kritik von Weiß, NJW 1999, 2236, 2237, der BVerfGE 95, 220 vorhält, man möge nemo tenetur doch auf das Rechtsstaatsprinzip zurückführen (sodass juristische Personen mitgeschützt wären) und nicht (wie das BVerfG a.a.O.) auf die Menschenwürde.

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Teil 3: Grundfragen

geschieht in der Annahme, für nemo tenetur könne es nur eine einheitliche Antwort geben. Geht man hingegen – mit der vorliegenden Arbeit – von einer unspezifischen nemo-tenetur-Grundrechtsmehrheit aus, dann ist die Rechtsträgerschaft juristischer Personen für jede der beteiligten Gewährleistungen eigens zu prüfen und womöglich auch unterschiedlich zu beurteilen. Tatsächlich können sich Verbände nicht auf Art 2 II 1 und 2, Art 4 I und Art 6 GG berufen, da deren Normbereiche an besondere menschliche Qualitäten (physische/psychische Existenz) anknüpfen25. Diese Bestimmungen leisten zur Selbstbelastungsfreiheit jedoch nur einen vernachlässigenswerten Beitrag. Die besonders wichtigen Schutzbereiche von Art 2 I und Art 5 I GG sind für juristische Personen dagegen zugänglich, da diese durchaus in eine grundrechtstypische Gefährdungslage geraten können und deshalb in gleicher Weise wie natürliche Personen geschützt werden müssen. In Abrede gestellt wird das allein für die nemo-tenetur-einschlägigen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (oben II.2.a)bb) in Kap. 7). Nach allgemeiner Auffassung impliziert jedenfalls deren Menschenwürdeanteil eine personale Realstruktur. In diesem Normbereich kann sich kein Verband bewegen, weshalb die gesteigerte Eingriffsresistenz, mit der Art 1 I GG die inneren Persönlichkeitsrechtssegmente auszeichnet, für ihn entfällt. Da dieser Umstand den sonstigen, um das Menschenwürdeelement reduzierten Persönlichkeitsschutz aber gar nicht betrifft26, schließt er es keineswegs aus, dass ein (allein) von Art 2 I GG getragenes und deshalb mit etwas vermindertem Gewicht versehenes Geheimhaltungsrecht durch korporative Aktionsformen ausgeübt werden kann27.

Dass bei entsprechenden Aussagepflichten für juristische Personen eine persönlichkeitsrechtstypische Eingriffslage besteht und selbstbelastende Informationen auch von ihnen prima facie zurückgehalten werden dürfen28, leuchtet gerade mit Blick auf die anstehende Aussageverwertung ein. Es kann nämlich 25 Zu diesem Filter und seiner weitgehend unbestrittenen Handhabung nur Stern/Sachs 1988, 1126 f.; Rüfner 2000, Rn 36 ff.; Dreier/Dreier, Art 19 III/34 ff. 26

Vgl. Schlüter 2000, 108; Dreier/Dreier, Art 2 I/82 und Art 19 III/37 m.w.N. zum Streitstand. Von BVerfGE 95, 220, 242 wird der nemo-tenetur-Satz als eigene Einheit verstanden und in toto auf den Menschenwürdeanteil von Art 2 I, 1 I GG zurückgeführt. Juristische Personen seien von ihm daher ausgeschlossen. Die persönlichkeitsrechtlichen Gewährleistungsschicht jenseits von Art 1 I GG wurden vom Gericht dagegen ignoriert. Sie lassen sich aber nicht einfach unterschlagen, nur weil ihr Zentrum unanwendbar ist. Ansonsten wären nämlich fast alle Grundrechte den juristischen Personen schon deshalb verschlossen, weil sie über einen Menschenwürdekern verfügen (so zutreffend Weiß, JZ 1998, 289, 294). 27 Das betrifft neben informationsbezogenen Persönlichkeitsrechtselementen auch den Ehrschutz und das Recht am gesprochenen Wort, nur nicht das Recht am eigenen Bild (vgl. BVerfGE 106, 28, 43; Kau 1989, 102 ff.). 28 Bei drohender Geldbuße gemäß § 30 OwiG verfügt der Verband daher auch über ein Aussageverweigerungsrecht (§§ 444 II, 432 II, 433 I 1 StPO).

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nicht zweifelhaft sein, dass die drohende staatliche Sanktion neben dem Eigentums- auch das Persönlichkeitsrecht der juristischen Person verkürzt (weil dieses sanktionsbetroffene Gut spätestens dadurch konstituiert wird, dass die Rechtsordnung eine Sanktionsform einführt, die derartige Rechtspositionen als „Sanktionsobjekte“ voraussetzt29). Wenn also die betreffende Kollektiveinheit mit einer selbstüberführenden Auskunft verbandsgrundrechtlich geschützte Belange schmälert, spricht dies dafür, dass auch das darauf beruhende Interesse des Verbandes, diese Auskünfte zu vermeiden, dem Grundrechtsschutz zugänglich ist30. Unterstrichen wird dies dadurch, dass die sanktionsrelevante Mitteilung der juristischen Person dazu führen kann, dass sie ihren Betrieb sanktionsbedingt einstellen muss, was die Grundrechtsbetätigung der hinter ihr stehenden natürlichen Personen beeinträchtigt31.

3. Eingriffsresistenz Mit den effektiven Selbstbelastungsfreiheiten deckt sich deren bisher beschriebene Brutto-Fassung nur dort, wo der Staat auf ein freiheitsverkürzendes Gesetz verzichtet32 oder wo er davon absehen muss, das geheimnisschützende 29 Welches jener Grundrechte, die Verbänden generell offen stehen, von einer konkreten juristischen Person in Anspruch genommen werden kann, hängt ab von deren Aktionsradius, denn juristische Personen sind artifizielle Körper, denen von der Rechtsordnung stets nur eine relative Rechtsfähigkeit eingeräumt wird (vgl. Dreier/Dreier, Art 19 III/36). Grundrechtlich geschützt werden müssen daher nur die Voraussetzungen für die Erfüllung der Verbandszwecke, die dem Verband durch das Recht oder die Körperschaftsmitglieder zugewiesen werden (Kau 1989, 99 ff.; Rüfner 2000, Rn 33). In diesem Sinne erzeugt das Recht ein sanktionsabwehrendes Rechtsfähigkeitselement des Verbands, d.h. der sanktionsandrohende Staat erschafft eine Sanktionierbarkeit korporierter Adressaten, nämlich das (Persönlichkeits-)Recht, in das er einzugreifen androht (dazu für die Unternehmensstrafe Schlüter 2000, 112 ff.). 30

Vgl. Weiß, JZ 1998, 289, 295 f.; Schlüter 2000, 117 f.; vgl. auch Drope 2002, 199: „Die Anwendung des Nemo-tenetur-Satzes auf juristische Personen, die eine ‚strafempfängliche‘ ‚Persönlichkeit‘ haben, ist damit nur die Konsequenz aus den Argumenten für eine Verbandsstrafenbegründung.“ 31

Juristische Personen sind ein Medium der Grundrechtsausübung von natürlichen Personen. Zwar haben juristische Personen eigene Grundrechte (unabhängig von den hinter ihnen stehenden Individuen), doch bestehen diese überindividuellen Grundrechtswirkungen letztlich deshalb, um die Individuen in der korporativen Ausübung ihrer eigenen Grundrechte zu fördern (vgl. etwa Bethge 1985, 25 ff.; Stern/Sachs 1988, 1118; Rüfner 2000, Rn 31 f.; ders. 2001, 56 ff.). Dieser individualistische Letztgrund ist bei der Auslegung von Art 19 III GG zu berücksichtigen (vgl. etwa Rüfner 2001, 59). Eingedenk dessen schlägt auch der Umstand, dass es direkt auf die Grundrechtsausübung der dahinter stehenden natürlichen Personen durchwirken würde, wenn ein möglicher sanktionsbedingter Untergang der juristischen Person durch die Selbstbelastung u.U. angestoßen und/oder vorangetrieben wird, zu Gunsten einer verbandsgrundrechtlichen Schutzlage aus. 32 Die vortatbetroffene Norm regelt selbstverständlich nur die Untat, nicht deren anschließende Verdeckung (vgl. bereits Binding 1922, 24).

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Teil 3: Grundfragen

Verhalten der Grundrechtsträger zu beschweren (weil sich die in Frage kommende hoheitliche Maßnahme als Grundrechtseingriff darstellt und an jene abwehrrechtliche Schwelle stößt, an der sie nicht mehr zu rechtfertigen ist). Wo Staatshandeln indes legitimiert werden kann, nimmt es den legalen NettoFreiraum zurück33. Man muss also, wenn man die wirklich bestehenden nemotenetur-Rechte erkennen will, Fall für Fall erfassen, ob ein einschlägiges subkonstitutionelles Gesetze existiert und wie es sich auf die Freiheitssubstanz auswirkt. Mit jeder Eingriffsprüfung, in der sich der fragliche Hoheitsakt als statthafte Schranke oder als irreguläre Freiheitsbeschneidung erweist, zeichnen sich die Umrisse der sich dabei herausbildenden definitiven Freiheit –sozusagen das Arsenal tatsächlich greifbarer Geheimhaltungsmittel – mit zunehmender Klarheit ab. Für die Konstellationen strafgesetzlicher Geheimhaltungsschranken wird diese Konkretisierungsarbeit vom anschließenden 4. Teil übernommen. Eine Reihe von Strafgesetzen muss dafür an derjenigen verfassungsrechtlichen nemo-tenetur-Norm gemessen werden, die für das betroffene Geheimhaltungsverhalten eine prima facieFreiheit vorhält. Dabei ist es durchaus denkbar, dass die Differenzen zwischen den grundrechtsspezifischen Schranken-Schranken zu Buche schlagen und deshalb die Abwehrwirkungen der fallkonkret heranzuziehenden nemo-tenetur-Grundrechte variieren. Dies ist indes nicht allzu wahrscheinlich. Dafür weisen die Eingriffsanforderungen bei den einschlägigen Bestimmungen allzu viele Gemeinsamkeiten auf.

Entscheidend werden demnach die normübergreifenden Grundrechtsstandards sein (unten Kap. 10). Hierzu rechnet sich neben den formalen Rechtmäßigkeitsbedingungen vornehmlich die erforderliche Eingriffsverhältnismäßigkeit nebst einem so genannten Kernbereichsschutz. Was dessen Effekt anlangt, wäre es allerdings ein Irrglaube, wenn man annehmen wollte, dass die Verfassung einem jeden Grundrecht wenigstens das Herzstück zusichern und so auch für jedes Geheimhaltungsverhalten eine absolut unberührbare Tabuzone vorsehen würde. Die Wesensgehaltsgarantie (Art 19 II GG) regelt etwas Derartiges nicht. Ihre Rechtswirkungen gehen nicht über das Verhältnismäßigkeitsprinzip hinaus, denn sie unterbindet allein solche Eingriffe, die in Ansehung des mit ihnen verfolgten Ziels unangemessen sind34.

33 Bei den legitimierten Eingriffen liegt die Wirkung der nemo-tenetur-Grundrechte immerhin noch darin, dass die Maßnahmen überhaupt gerechtfertigt werden mussten. 34 Art 19 II GG gibt nur an, dass ein Leerlaufen von Grundrechten zu verhindern ist. Dies ist umgesetzt mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Dessen Anwendung bildet den jeweiligen, variablen Wesensgehalt des Grundrechts heraus (zu dieser h.M. vgl. BGHSt 4, 375, 377; Häberle 1983, 58 ff., 234 ff.; Alexy 1994, 271 f.; Hesse 1995, Rn 332; Dreier/Dreier, Art 19 II/15 ff. m.w.N.). Wer Weitergehendes, d.h. eine starre, fallunabhängige und absolute Wesensgehaltssubstanz vertritt (etwa Enders 1997, 457 ff.; zur Diskussion Stelzer 1991, 47 ff.), gewinnt nur wenig: Statt der Unbestimmtheit dessen, was sich an grundrechtlichem Schutz in der Verhältnismäßigkeitsabwägung

8. Kap.: Nemo tenetur als Grundrechtsausschnitt

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Von Seiten der Menschenwürdegarantie wird die Hoffnung auf eine schutzbereichszugehörige, vollständig abgeschottete Mindestgewährleistung im Übrigen ebenso enttäuscht. Jedenfalls verkörpert der „Menschenwürdekern“ aller Grundrechte keinen ehernen Grundrechts-Innenbereich, der dem staatsseitigen Zugriff ein für alle Mal entzogen ist. Vielmehr verweist diese Figur darauf, dass man mit dem Würdebegriff, der als interpretationsleitender Topos in die Grundrechtsauslegung eingeht (oben II.2.a)cc) in Kap. 7), auch bei der Eingriffsprüfung operieren kann. Dies betrifft vor allem die Angemessenheitsabwägung, in die der jeweilige Norminterpret seine Menschenwürdesicht als Abwägungsposten einzubringen vermag. Damit kann er die intersubjektive Bereitschaft senken, das kollidierende Eingriffsgut als höherwertig und den betreffenden (aus seiner Sicht: würdemissachtenden) Eingriffsakt als verhältnismäßig anzusehen. Bei so gearteten Mindestpositionen verflüssigen sich die Konturen freilich im Spiel der Argumente, sodass der eingriffsbegrenzende Beitrag von Art 1 I GG nicht als Resistenzsphäre verdinglicht werden darf35. Speziell bei den nemo-teneturGrundrechten gibt § 136a StPO zwar gewisse Anhaltspunkte, welche geheimnisenthüllenden Staatspraktiken nie und nimmer akzeptiert würden – und doch belegt die Uneinigkeit bei seiner Detailauslegung, dass der Konsens über den „Würdekern“ keinesfalls in Beton gegossen ist.

behaupten kann, hat er es mit der Vagheit dessen zu tun, was bei den betreffenden Grundrechten jeweils zum resistenten Wesenskern zu rechnen ist. 35

Vgl. Enders 1997, 457; Dreier/Dreier, Art 1 I/163 ff.

Teil 4

Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht Das Ringen um die Selbstauskunft des Beschuldigten findet auch jenseits der Verhörskommunikation statt, etwa bei der Sachbeweiserhebung oder im Prozessvor- und Prozessumfeld. Jede nachdeliktische Situation kann zum Schauplatz werden. Oftmals bringt dort allerdings auch das Strafrecht seine meist kontextübergreifenden Rechtsvorschriften in Stellung, was die effektiven Geheimhaltungsspielräume gehörig beeinflusst. So belegt das 9. Kapitel, dass auf diese Weise die breiten Selbstbelastungsfreiheiten, für die das Grundgesetz einen Brutto-Schutz vorsieht, in beträchtlichem Maße beschnitten werden. Solchen Strafrechtseingriffen sind indes, wie hier anhand der wichtigsten Konstellationen zu zeigen ist, durch Verfassung (Kap. 10) und Strafprozessrecht (Kap. 11) gewisse Grenzen gesetzt. Dem nemo-tenetur-Satz wird damit aber noch nicht hinreichend Genüge getan. Die dafür ebenfalls erforderliche Feinabstimmung übernimmt Kapitel 12, das sich mit originär innerstrafrechtlichen Mitteln um eine beidseitige Optimierung von Geheimhaltungsgrundrechten und kollidierenden Belangen bemüht (Kap. 12).

9. Kapitel

Strafrechtliche Einwirkung auf nemo tenetur I. Unterschiede strafgesetzlicher Grundrechtsrelevanz Das Strafrecht übt seinen Einfluss auf die Selbstbelastungs-Grundrechte auf verschiedenen und teils gewundenen Wegen aus. So unterscheiden sich die aktuell nemo-tenetur-relevanten Strafnormen beispielsweise danach, ob von ihnen ein grundrechtsausgestaltender oder ein grundrechtseingreifender Effekt ausgeht (oben II. in Kap. 4). Außerdem ist darauf Acht zu geben, dass die verschiedenen strafrechtlichen Bestimmungen auch verschiedene nemo-teneturGrundrechte ansprechen können (soeben II. in Kap. 8). Nun hat allerdings das neuere Schrifttum damit begonnen, die Selbstbezichtigungspflichten weiter zu gliedern, um deren jeweiliger nemo-tenetur-Relevanz

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

genauer Rechnung zu tragen. Vor allem beim indirekten Selbstbezichtigungszwang mache die „Vielzahl und Verschiedenartigkeit der Konstellationen (…) die Präzisierungsbedürftigkeit der Aussage deutlich, nemo tenetur schütze den Beschuldigten ‚schon‘ gegenüber mittelbaren Beeinträchtigungen seiner Selbstbelastungsfreiheit“1. Will man den Gedanken in grundrechtsdogmatische Worte fassen, so sieht man sich offensichtlich vor die Frage gestellt, wann die nemotenetur-Schutzbereiche durch faktische Grundrechtseingriffe verkürzt werden: durch direkte oder auch indirekte, durch intensive oder auch minder schwere, durch typische oder auch atypische Selbstbelastungszwänge. Schließlich macht die bereits erwähnte Bindingsche Normentheorie darauf aufmerksam, dass die Binnenstruktur der Strafnorm nicht übersehen werden darf. Wenn sich eine strafrechtliche Vorschrift zerlegen lässt – einmal in die Handlungsverbote/-gebote, die von der tatbestandsimpliziten Verhaltensnorm festsetzt werden, und zum anderen in die sekundäre Sanktionsnorm (oben III.2.a) in Kap. 4) –, dann sind die von ihr hervorgerufenen grundrechtlichen Schutzbereichsverkürzungen ebenfalls auseinander zu halten2. Ein handlungslenkender Zwang, der wissenskontrollierende Aktivitäten erschwert, geht nämlich ausschließlich vom Primärnormbestandteil des Strafgesetzes aus3, während die Strafbewehrung sonstige Grundrechtsbeeinträchtigungen entwickelt4.

1 Ausschlaggebend hierfür seien „die Umstände der jeweiligen Drucksituation“ (Verrel 2001, 101, 282). Obschon solche Hinweise die Problematik zutreffend markieren, leiden sie daran, dass sie sich die Selbstbelastungsfreiheit als einen eigenständigen Rechtssatz vorstellen, weshalb die Konkretisierung der relevanten Mitwirkungszwänge dazu dienen könne, „den Schutzbereich von nemo tenetur mittels einfacher Formen zu definieren“ (Verrel a.a.O., 281, Herv. R.K.). 2 Unter dem Grundgesetz ist deshalb die ursprünglich normtheoretisch motivierte Differenzierung zwischen Primär- und Sekundärnorm zwingend – eben weil sie mit verschiedenartigen Grundrechtseingriffen korrespondiert (dazu – auch m.w.N. zur entsprechenden Rspr. des BVerfG – Lagodny 1996, 80 ff.; Appel 1998, 433 ff.; vgl. auch Paulduro 1992, 112; Lewisch 1993, 221 f.; Haubrich 2001, 9). Bisweilen werden die Problemebenen freilich vermengt (etwa von Kudlich, JZ 2003, 127, 129; ders. 2004, 270; Hefendehl 2002, 95 ff.; Böse 2003, 91 ff.), weil man davon ausgeht, eine Verhaltensnorm gewinne je nach Art ihrer Sanktionsbewehrung eine unterschiedliche Verbindlichkeit oder Eingriffsschwere. Tatsächlich stellt sich auf Primärnormebene aber nur die Frage: Ist ein Verhalten legal oder nicht. Das Maß, mit dem die Spielräume zulässigen Agierens durch eine Verhaltensnorm reduziert werden, wird von deren Strafbewehrung nicht beeinflusst. Insoweit ist sogar der Normzwang einer lex imperfecta identisch (vgl. Roth 1994, 181; Stern/Sachs 1994, 110, 131; Appel, 1998, 473 f., 490 f., 570; Stächelin 1998, 111 f.; Altenhain 2002, 283). 3

Die Prüfung dieses Strafnormbestandteils ist strafrechtsunspezifisch und erfolgt ebenso wie z.B. bei einer strafprozessualen Verhaltensregelung. 4 Auch außerhalb des Strafrechts kennt die Rechtsordnung zahlreiche Sekundärnormen, mit denen sie sich der Einhaltung von selbstbelastungsrelevanten Verhaltensnormen versichert. Zu denken wäre an die Sanktion bei verweigerter/falscher Angabe von Personaldaten gemäß § 111 OwiG und an die Vollstreckung durch Zeugniszwangsmittel nach § 70 StPO oder an den Zwangsvollzug bei strafprozessualen Dokumentationspflichten (oben IV.2.c) im 1. Kap.). Die Grundrechtswirkun-

9. Kap.: Strafrechtliche Einwirkung auf nemo tenetur

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II. Strafgesetzliche Eingriffe in nemo-tenetur-Grundrechte 1. Tatbestandsimplizite Verhaltensnormen a) Eingriff durch finale Selbstbelastungspflichten Der direkt adressierte Amtsbefehl verkörpert den klassischen Grundrechtseingriff mit seinen sich wechselseitig bedingenden Attributen der Imperativität, Finalität und Rechtsförmigkeit5. Einen eindeutigen Anwendungsfall hat diese Eingriffsart mit der straftatbestandsimpliziten Primärnorm: Formal in Kraft getretene Strafgesetzestexte verlangen nicht nur, dass man sie in institutionellen Verarbeitungsprozessen normkonkretisierend verwendet6, sondern sie verpflichten obendrein den Laienadressaten zur vor-juristischen Berücksichtigung7. Ungeachtet gewisser Fehlerspielräume (Parallelwertung in der Laiensphäre; diverse Irrtumsformen) muss der Bürger das Gesetz zu einer normativen Sinngröße verarbeiten und sein Verhalten hieran orientieren8. In dieser Weise verengt die strafrechtliche Verhaltensnorm schon mit ihrem Erlass (und ohne einer weiteren Individualisierung zu bedürfen9) die legalen Handlungsalternativen der Normadressaten. Sie beeinträchtigt jene grundrechtlichen Freiheiten, von denen das untersagte Verhalten prima facie verbürgt wird. Dabei ist es für

gen jener Sekundärnormen entsprechen freilich nicht denen der Strafe (dazu etwa Lagodny 1996, 80, 100 f., 111 ff.). 5 Vgl. etwa Eckhoff 1992, 175 ff. mit eingehender Kritik. Klassizität wird einer solchen Maßnahmeform weniger als ein historisches Datum zugeschrieben, sondern als „Extrakt einer idealtypischen Fokussierung auf Beeinträchtigungsfälle von fragloser Grundrechtsrelevanz“ (Bethge, VVDStRL 57 1998, 7, 38; ebenso Lübbe-Wolff 1988, 47; Stern/Sachs 1994, 85 ff.; A. Roth 1991, 134 ff.; Roth 1994, 29 ff.). 6 Für diese Pflicht professioneller Norminterpreten, die Normtexte hin zu konkretisierter Normbedeutung zu verarbeiten, steht bei Müller der Geltungsbegriff (Fn 23 in Kap. 3). 7 Dazu und zur Polyfunktionalität des Normtextes, der von Juristen und Laien Verschiedenes fordert, vgl. Müller/Christensen 2004, Rn 17, 158, 305 ff. 8 Damit der Bürger dieser Erwartung entsprechen kann, muss er „im Regelfall (…) anhand der gesetzlichen Regelung voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist. In Grenzfällen ist auf diese Weise für ihn wenigstens das Risiko einer Bestrafung erkennbar“ (BVerfGE 87, 209, 224; dazu auch Müller/Christensen 2004, Rn 163 ff.). Dass nun der Laienadressat selbst solche Strafnormen, die diesen Anforderungen entsprechen, höchst selten zur Kenntnis nimmt, und dass er sein Alltagsverhalten, mag es äußerlich auch der Norm entsprechen, meist an außerrechtlichen Parametern organisiert, ändert nichts an dem Befolgungsanspruch, den das Recht erhebt. 9

I.E. ebenso Lagodny 1996, 85. Zur verhaltenssteuernden Wirkung bedarf es nur in Ausnahmefällen einer individualisierenden Entscheidung staatlicher Instanzen (wenn etwa bei Blankettnormen eine Inhalts- oder Adressatenkonkretisierung nötig ist). Eine ganz andere Frage ist es, ob wegen der materiellen Betroffenheit durch das Gesetz bereits eine prozessrechtliche Befugnis besteht, selbiges unmittelbar anzugreifen, oder ob hierfür ein konkretisierender Akt abzuwarten ist (zu diesem Unterschied z.B. Eckhoff 1992, 198 ff.).

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

den Eingriffseffekt gleichgültig, ob der Gesetzgeber just diese Aktionsformen verbieten wollte10. Zieht man dieses Muster zu Rate, lassen sich leicht einige strafrechtliche Tatbestände identifizieren, die nemo tenetur verkürzen, indem sie ihre Adressaten zur Preisgabe von vordeliktsbezogenem11 Wissen verpflichten, obwohl dessen Verwertbarkeit abzusehen ist12. Nemo-tenetur-Eingriffe dieses Typs entziehen der passiven Wissenszurückhaltung den Status des rechtlichen Dürfens. In aller Regel wird der eigentliche Zweck jener Gebotsnormen zwar in eine andere Richtung weisen, doch kommt es allein darauf an, dass sie ihre Anordnung aufrechterhalten, obwohl der Grundrechtsträger ihnen bloß durch ein selbstbelastendes Tätigwerden nachkommen kann. Für ihren Eingriffswert zählt aus-

10 Entscheidend ist „die Intention des Gesetzes selbst, wie sie durch Auslegung zu ermitteln ist“ (Müller 1990, 74). Anders als Teile der Debatte (z.B. A. Roth 1991, 187 u.ö.; Di Fabio, JZ 1993, 689, 695) hat auch die Rspr. für das Finalitäts-Kriterium „nie ausschließlich auf die rein subjektive Absicht desjenigen abgestellt, der die betreffende Regelung erließ. Maßgeblich war immer die ‚objektive‘, weil (durch Interpretation) dem Tenor der Maßnahme zu entnehmende Absicht“ (Eckhoff 1992, 188; dazu auch Stern/Sachs 1994, 140; Albers, DVBl 1996, 233, 236). Dass dies unumgänglich ist, zeigt sich in der Virtuosität, mit der der Gesetzgeber das Nebeneinander seiner Intentionen und objektiven Handlungsfolgen zuweilen instrumentalisiert. Ein Bsp. dafür bietet der Hintersinn, mit dem er das von § 142 StGB entwickelte Geheimhaltungsverbot (dazu sogleich) begrüßt: als „keine vom Gesetz erstrebte, sondern nur eine – im Interesse der Verkehrssicherheit allerdings durchaus willkommene – Nebenfolge der Anwendung des auf den Schutz anderer Interessen gerichteten Tatbestandes.“ (BT-Drucks. 7/2434, 5; Herv. R.K.). 11 Der mit nemo tenetur in dieser Untersuchung begrifflich abgesteckte grundrechtliche Normbereich erstreckt sich nur auf Verhaltensformen nach einer Bezugstat (Fn 6 in Kap. 8). Ein „Recht auf unerkannte Deliktsbegehung“ ist darin nicht eingeschlossen (zu dessen Diskussion z.B. Keller 1989, 139 ff.; Kerr, NStZ 1997, 160, 161; Jahn, StV 1998, 653, 654; Odenthal, NStZ 1993, 52 – i.E. jeweils pro; Geppert, BA 1992, 289, 295 f.; Schneider, NStZ 1993, 16, 22; Wolff 1997, 218; Joecks, wistra 1998, 86, 89; Möstl 2002, 250 Fn 319 – jeweils contra). Die Strafvereitelungsgrundrechte außerhalb der nemo-tenetur-Gruppe können solche prima facie-Gewährleistungen aber durchaus vorsehen, sodass es für das Verbot der tatbegleitenden Verheimlichung eines Gesetzes bedürfte (zumindest, wenn das strafrechtliche Verbot, das sich gegen die Deliktsbegehungskomponente eines tatbestandlichen Verhaltens wendet, nicht auch dessen Selbstschutzkomponente erfasst). Davon hängt es bspw. ab, ob es strafschärfend berücksichtigt werden darf, dass Entdeckungsrisiken bei Tatbegehung in qualifizierter Weise gemindert werden (vgl. etwa BGH NJW 1998, 1327; NStZ 2000, 586 und 4 StR 611/99 v. 11.1.2000; ebenso Hörnle 1999, 277; Schäfer 2001, Rn 376). I.Ü. läge auch im Vermummungsverbot des §§ 17a II Nr. 1, 27 II Nr. 2 VersG ein diskussionsbedürftiger Eingriff in jenes Verdunklungsrecht (als Verbot der vorbeugenden Selbstbegünstigung kritisiert z.B. von Stächelin 1998, 295). Gleiches gälte für Begleitstraftaten von Steuerhinterziehungen (Fn 259 f. in Kap. 1), für die Fahrtenbuchauflage (Fn 239 und 241 in Kap. 1) oder für die Bewährungsweisung zur Dokumentation zukünftigen und u.U. eben auch deliktischen Verhaltens (vgl. den Fall in BVerfG NStZ 1993, 482 oder das elektronische Halsband). 12 Den Begriff „Eingriff in nemo tenetur“ verwenden dafür ebenfalls Ruck 1986, 66 ff.; Berthold 1993, 59; Schünemann, DAR 1998, 424, 427; vgl. auch Seebode, NStZ 1993, 83, 84 f.

9. Kap.: Strafrechtliche Einwirkung auf nemo tenetur

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schließlich, dass ihretwegen jedes andere (nicht belastende) Verhalten objektiv illegal ist13. Eine solche imperative Erwartung, die auf einen verfänglichen Enthüllungsakt zielt, spricht beispielsweise § 142 I, II StGB aus. Nach den dort normierten Vorstellungs- und Meldepflichten haben die betroffenen Grundrechtsträger einige Basisinformationen zu ihrer Beteiligung an einem Unfallereignis (schlüssig/verbal) mitzuteilen, selbst wenn es um ihre strafbare Verstrickung geht14. Diese Pflicht zur Selbstentäußerung beeinträchtigt jene nemo-teneturGrundrechte, die das schweigend-passive Zurückhalten von Informationen gewährleisten (Art 2 I i.V.m. Art 1 I GG sowie Art 5 I GG). Da diese Grundrechte ihre Schutzwirkung gegenüber jedem staatlich gesetzten Zwang zur Mitteilung verwertbaren Wissens gewähren, ohne dass es auf qualifizierende Eigenschaften der konkreten Wissensempfänger ankäme, ist es für den Eingriffswert von § 142 StGB zweitrangig, ob die fraglichen Daten gegenüber einem anwesenden oder herbeigerufenen Amtswalter artikuliert werden müssen oder gegenüber dem privaten Unfallgegner15. Von § 142 StGB werden solche Selbstbelastungszwänge relativ häufig erzeugt, da dieser Tatbestand auf die postdeliktische Konfliktbewältigung zugeschnitten ist. Den nemo-tenetur-Träger behandelt er daher fast schon als seinen bevorzugten Adressaten. Mitteilungspflichten mit vergleichbarer Grundrechtsrelevanz bilden sich aber ebenfalls im Bereich von § 323c StGB und den unech13 Dass es sich bei solchen Strafnormen um Gebote und normative Verhaltenssteuerung handelt, wird von Verrel verkannt, der hier von einer „normativ nicht provozierten, sondern bloß faktischen Beeinträchtigung der Selbstbelastungsfreiheit“ (2001, 91; Herv. R.K.) spricht. 14 Zu Selbstbelastungsmechanismen in diesem Kontext NK/Schild, § 142/20 sowie oben VI.1. in Kap. 1. Dass nach h.M. allein jene Aktivpflichten und nicht auch die Passivpflichten in § 142 I Nr. 1 StGB (dazu sogleich) mit nemo tenetur kollidieren, mündet in einen absurden Formalismus: Um den Zwang zur aktiven Selbstbelastung gering zu halten, sei der Unfallbeteiligte nur zur Mitteilung von Marginalangaben verpflichtet, nicht aber zu den weiteren Auskünften i.S.v. § 34 StVO. Gemessen an der Selbstbelastungsfreiheit sei es aber unbedenklich, dass er zumindest die Feststellungen i.S.v. § 34 I Nr. 5b StVO dulden muss. Die dafür erforderliche Ausweisvorlage (= geschützte Aktivität) dürfe er wiederum verweigern. Seine Pflicht zur Hinnahme der Feststellungen bedeute dann aber, dass er auf die Polizei zu warten habe (= nicht geschützte Passivität), und jene könne eben diese Mitteilungen ausnahmsweise erzwingen (so z.B. Geppert, BA 1991, 31, 38). 15 Wo man darauf besteht, dass es sich beim unmittelbaren Mitteilungsempfänger um den Staat handeln muss (Fn 280 in Kap. 1), geht dies auf ein entsprechendes Vorverständnis zurück. Den fraglichen nemo-tenetur-Grundrechten lässt sich diese Aussage nicht entnehmen. Da es insofern nur auf die Gefahr i.S. einer Verwendungsmöglichkeit des Staates ankommt (den die Mitteilung auch indirekt über den privaten Empfänger erreichen kann), vermindert die beim privaten Enthüllungsadressaten fehlende Zwangsläufigkeit eines solchen Zugangs (d.h. die geringere Verwertungswahrscheinlichkeit) zwar die Eingriffsintensität und erleichtert dem Staat die Rechtfertigung, hebt aber die Eingriffsqualität der Norm nicht auf (a.A. offenbar LK/Geppert, § 142/64). Gleichwohl ergibt sich daraus ein Ansatz, um den Konflikt zwischen nemo tenetur und dem Beweissicherungsinteresse durch eine restriktive Auslegung zu entschärfen (dazu unten III.3.a) Kap. 12).

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

ten Unterlassungstatbeständen heraus, da deren nemo-tenetur-unspezifische Gebotswirkung auch in zufällig auftretenden Selbstbelastungslagen beibehalten wird16. Das einschlägige Fallmaterial setzt sich überwiegend aus Situationen zusammen, in denen die Grundrechtsträger im unmittelbaren Nachgang an eine Straftatbegehung einer Hilfeleistungs- oder Erfolgabwendungspflicht unterliegen. Damit in derart exzeptionellen Konstellationen ein nemo-tenetur-Eingriff zustande kommt, muss der Akteur freilich auf die selbstbelastende Aktion festgelegt sein. Kann er das jeweilige Strafrechtsgebot auch in geheimnisschonender Weise befolgen, wird er nicht auf die Wissenspreisgabe hingelenkt17. Man kann sich solche Verwicklungen zunächst einmal anhand gewisser Fluchtszenarien vor Augen halten. Nahe liegt ein nemo-tenetur-Eingriff ferner bei der Unterlassensbeihilfe zur Falschaussage. Wenn man vom Angeklagten verlangt, gegen ein etwaiges Falschzeugnis einzuschreiten, zwingt man ihn zu einem verräterischen Prozessverhalten – sei es, dass bei der geforderten Intervention ein eigener Enthüllungsbeitrag unvermeidbar ist oder dass dies geheimhaltungsnotwendige Verdeckungshilfen des unwahrhaftigen Zeugen zunichte macht18. Ähnliche Zwangslagen entstehen bei der Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 AO), falls der Steuerpflichtige zur Auskunft herangezogen wird, obwohl er seine Angaben nicht neutral halten kann19 (und z.B. Hinweise auf eine vorjährige Steuerverkürzung geben muss20).

16 Hinsichtlich ihres nemo-tenetur-Eingriffswertes unterscheiden sich diese Normen von § 142 StGB lediglich durch die geringere Häufigkeit, mit der sich der ihnen innewohnende Selbstbelastungszwang realisiert. 17 Aus der hiesigen Sicht liegt ein Eingriff in nemo tenetur vor, wenn der Grundrechtsträger infolge staatlicher Hinwirkung die Wissenskontrolle verliert und wenn dies wiederum die Sanktionsgefahr erhöht (oben I.1. in Kap. 8). Hat der Normadressat dagegen einen gewissen Spielraum, um der Strafnorm Folge zu leisten, und kommt er ihr nicht unverfänglich, sondern ausgerechnet per Selbstenthüllung nach, ist der sanktionsfördernde Effekt nicht der Verhaltenserwartung, sondern ihm selbst zuzurechnen. Das fragliche Handlungsgebot stellt dann keine Mitteilungspflicht dar, weil es nicht notwendig zur Mitteilung anhält (ohne nähere Begründung ebenso RGSt 59, 90, 93; Franzen/Gast/Joecks 2001, § 393/22; Stein, JR 1999, 265, 272; Kahlo 2001, 356; Grünewald, GA 2005, 502, 511). 18 Der Rspr. zufolge kann es einem Angeklagten „in besonderen Ausnahmefällen zugemutet werden (…), auf ihm zustehende prozessuale Rechte (...) zu verzichten“ (OLG Düsseldorf NJW 1994, 273). Eine Pflicht zu Tatwissen anzeigendem Prozessverhalten im Straf-/Zivilprozess wird, bei Unklarheiten über die einzelnen Ingerenzvoraussetzungen, z.B. befürwortet von BGHSt 3, 18; MDR 1953, 272; OLG Düsseldorf a.a.O.; ebenso – ohne auf den Selbstbelastungszwang einzugehen – auch BGH NStZ 1993, 489; OLG Hamm NJW 1992, 1977 (der Judikatur zustimmend Jakobs 2000, 34 f.; sie kritisch zusammenfassend Schünemann 1971, 205 ff.; Scheffler, GA 1993, 342 ff.; Müller 2000, 402 ff.). Dass es der Rspr. eher um den Schutz der Rechtspflege zu tun ist und dass der Selbstbelastungszwang dafür nur ein unumgängliches Zwischenziel darstellt, ist für den nemo-tenetur-Eingriff unerheblich. Es entspricht der Finalstruktur der meisten imperativen Eingriffsakte („wer wollte schon eingreifen nur um des Eingreifens willen“, Roth 1994, 39; ebenso A. Roth 1991, 214 f.). 19 Meist entfällt freilich auch hier der nemo-tenetur-Eingriff: Droht bei der steuerlichen Erklärung die Preisgabe eines früheren Steuerdelikts, kann der Grundrechtsträger die Selbstanzeige wäh-

9. Kap.: Strafrechtliche Einwirkung auf nemo tenetur

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Sicherlich unterliegen sämtliche Selbstenthüllungspflichten der UnterlassensGruppe dem Vorbehalt einer abwägenden Zumutbarkeitsprüfung (ausgenommen § 142 StGB21). Diese eröffnet – ihren deliktssystematischen Standort auf der Unrechtsebene unterstellt22 – die Möglichkeit, einige der angesprochenen Handlungspflichten doch noch zu begrenzen. Rechtspraktisch ist damit aber bestenfalls ein grobmaschiger Filter eingezogen, da nach derzeitigem Stand eine eindeutig selbstbelastungsfreundliche Wertungspraxis dominiert und die verfängliche Normbefolgung höchst selten als unzumutbar gilt23.

b) Eingriff durch finales Verbot aktiver Verheimlichung Die überkommene Meinung hat bloß ein rechtsdogmatisches Schulterzucken übrig, wenn sich der Beschuldigte beim aktiven Geheimhalten seines Tatwissens strafbar macht. Nemo tenetur verbürge nur das Recht auf Untätig-Bleiben. Das tätige Behindern von explorativem Staatshandeln läge außerhalb dieses Schutzbereichs und könne ohne Konflikt mit der Selbstbezichtigungsfreiheit (straftatbestandsimplizit) untersagt werden. Dem Gesetzgeber sei es „vor dem Hintergrund von ‚nemo tenetur‘ nicht verwehrt, durch das Verbot aktiver

len. Hinsichtlich eines nicht-steuerlichen Delikts sind belastende Mitteilungen ohnehin unverwertbar. Zum Selbstbelastungszwang kommt es nur, wo diese Sicherungen versagen (§§ 371 II, III, 393 II 2 AO; oben VI.3. in Kap. 1). I.Ü. verbietet § 370 AO ebenso, durch falsche Erklärung (also tätig) eine frühere (Steuer-)Straftat zu verdecken (vgl. BGH StV 2002, 202; Franzen/Gast/Joecks 2001, § 393/37), nur gehört dies der sogleich in b) angesprochenen Fallgruppe an. 20

In ähnlicher Weise verbieten die Buchführungspflichten in §§ 283, 283b StGB das passive Deliktsverbergen (Verschweigen) im Feld geschäftlicher Dokumentation. Salditt (2002, 67) spricht von einem „Zwang, für den äußersten Fall Beweis gegen sich selbst zu sammeln und verfügbar zu halten“ (zu Aufzeichnungs- und Vorlagepflichten im Verwaltungsrecht oben IV.2.c) in Kap.1). 21 Die verfänglichen Pflichten des § 142 StGB knüpfen an die Unfallbeteiligung und damit typischerweise an ein deliktisches Vorher-Geschehen an. Durch diese mit Vorbedacht erfolgte Verkopplung hat es der Gesetzgeber nach ganz h.M. ausgeschlossen, dass die Pflichtbefolgung wegen der Selbstbelastungsgefahr als unzumutbar gilt (vgl. BGH VRS 10 (1956), 220, 221; LK/Geppert, § 142/198; Magdowski 1979, 139; Hartman-Hilter 1996, 52 f.). Ausnahmen werden nur für atypische Konstellationen erwogen. So könne Unzumutbarkeit vorliegen, wenn sich der Unfallbeteiligte bzgl. einer vorsätzlichen Unfallverursachung (dafür Hartman-Hilter a.a.O., 49 ff.) oder wegen eines unfallunabhängigen Vordelikts (dazu LK/Geppert, § 142/198 m.w.N.) belasten würde. 22

Eingehend zur unrechtsausschließenden Wirkung v.a. Stree 1988. Wenn man die Zumutbarkeit erst in der Schuldfrage berücksichtigt, verschiebt sich seine Problematik hin zur Konstellation der unvollkommenen Privilegierung (unten III.2.). 23 Oben VI.3. in Kap. 1. Besonders abweisend zeigt sich die h.M. bei der Steuerhinterziehung durch Unterlassen, deren Zumutbarkeit sie mit Blick auf die Selbstanzeigemöglichkeit meist in toto bejaht (vgl. BVerfG wistra 1988, 302 f.; BGHSt 43, 381, 399; Berthold 1993, 65; vgl. aber für die Fälle der § 371 II, III AO oben bei Fn 322 ff. in Kap. 1).

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Selbstbegünstigungshandlungen Passivität zu erzwingen“24. Deshalb brauche man keine Notiz davon zu nehmen, dass sich womöglich auch das pflichtschuldige Stillhalten selbstbelastend auswirkt25. Wo dem so sei, realisiere sich ein allgemeines Lebensrisiko26. In jüngster Zeit beginnt der Grenzwall zwischen aktiven und passiven Selbstbelastungen allerdings zu bröckeln. Im neueren Schrifttum wird nicht allein sein unbestimmter Verlauf beanstandet, sondern ebenso seine zweifelhafte Berechtigung. Erklären kann man die Positionen der h.M. überhaupt nur geschichtlich – nämlich mit der historischen Ermittlungsstruktur, die dezidiert auf Aussage und Geständnis fokussiert war und so auch nur für jene Selbstüberführungsformen ein Schutzbedürfnis hervorrief. Der deshalb zunächst mit dem Schweigerecht assoziierte nemo-tenetur-Satz wurde dann zwar, als neue Ermittlungsmethoden aufkamen und den Beschuldigten vermehrt auch anderweitig in Beschlag nahmen, um vergleichbare Gewährleistungsbereiche erweitert, doch hat man mit diesem Analogisierungsprozess vor der untätigkeitsbedingten Selbstbelastung Halt gemacht (II.5. in Kap. 6). Dem Passivitäts-Dogma lag jedoch keine sorgfältig diskutierte Entscheidung zugrunde. Es sind aber auch gar keine sachlichen Gründe, die sich hier vorbringen ließen, denkbar. Nimmt man auf das Beschuldigteninteresse an Tatwissensgeheimhaltung überhaupt erst einmal Rücksicht, indiziert das eine Gleichbehandlung aller hierdurch motivierten Verheimlichungsarten27. Eine Differenzierung zwischen aktiver Selbstbelastung und verfänglicher Untätigkeit wäre nur nachvollziehbar, wenn dem ein entsprechendes normatives Gefälle zugrunde läge. Gerade daran aber fehlt es. Die Inanspruchnahme des Beschuldigten hat viel24

H. Schneider 1991, 30; ebenso bspw. NK/Schild, § 142/20 f.; LK/Geppert, § 142/64; ders., BA 1991, 31, 36; Rogall 1977, 158; Ruck 1986, 42 ff.; Becker 1992, 181 sowie die Nachweise in Fn 309 in Kap. 1. Erwogen wird lediglich, bestimmte Marginaläußerungen (z.B. pauschales Abstreiten) „wie bloßes Schweigen zu bewerten“ und v.a. bei §§ 145d II Nr. 1, 164 StGB als QuasiPassivität zu behandeln (so Müller 2000, 216 f.). 25 Genau genommen wäre die aktive Geheimhaltung selbst auf dem Boden der h.M. nicht schutzlos. Strafrechtliche Passivpflichten würden in grundrechtliche Gewährleistungen eingreifen, die jenseits von nemo tenetur liegen (mindestens Art 2 I GG). Bislang wird das freilich ignoriert. Man weist allenfalls auf ein vages und grundrechtsgelöstes „Verteidigungsrecht“ hin (so Paeffgen 1986, 100 ff.; Prittwitz, StV 1995, 270, 273; Müller 2000, 221 ff.; zur Rspr. vgl. Fn 38 in Kap. 7 und Torka 2000, 99 ff.). 26 Mitunter können sich strafrechtliche Aktivitätsverbote allerdings selbst nach der h.M. zu nemo-tenetur-Eingriffen auswachsen, etwa bei der Geständnisnötigung durch einen Dritten. Da in aller Regel kein Rechtfertigungsgrund greift (unten I. in Kap. 12), verbietet der Staat hier nicht nur die Vollendung des Aussagezwangs (durch den Dritten), sondern auch die deliktswertige Gegenwehr (des nemo-tenetur-Trägers). Normativ ist die Abwendung der Nötigung also ebenso versperrt wie deren Hinnahme. Das Recht sieht nur den verfänglichen Weg der Hinzuziehung polizeilicher Hilfe vor (vgl. aber § 154c StPO; i.E. ähnlich Kroß 2004, 187 f.). 27

Ebenso z.B. Kopf 1999, 163, 166 f.; Torka 2000, 55, 93, 127.

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mehr stets dieselbe Qualität. Es besteht kein Unterschied, ob man beispielsweise die Kontrolle über einen sächlichen Wissensträger, der im Körperbereich verborgen ist, durch eine tätige Herausgabe oder durch eine Leibesvisitation verliert. In beiden Fällen gleicht sich die Ausschaltung des davon betroffenen Ichs ebenso wie das jeweils verursachte Erniedrigungsgefühl28. Allerdings wird das Passivitätskriterium durch die Auflösung des selbstständigen nemo-tenetur-Rechtssatzes in einer Reihe unspezifischer Grundrechte ohnehin gegenstandslos. So gesehen muss man es den Kritikern der h.M. sogar anlasten, dass sie die Selbstbelastungsfreiheit uminterpretieren, um ihr Abwehrrechte gegen Duldungs- und andere Passivpflichten einzureihen. Ohne einen Brückenschlag zu den Rechtsgrundlagen der Selbstbelastungsfreiheit zu suchen, hantieren sie dabei nämlich ebenso wie die h.M. mit einer autonomen nemotenetur-Norm (nur dass sie ihr eben ein neues Gesicht geben wollen). Unter den Vorzeichen eines Programms, das die nemo-tenetur-Gehalte aus seiner grundrechtlichen Basis entwickelt, kann es jedoch allein diesen verfassungsrechtlichen Normen (statt der normtextgelösten nemo-tenetur-Figur) zukommen, über das geschützte Verhaltensspektrum zu befinden (oben I. in Kap. 7). Die deswegen zu Gebote stehende Grundrechtsanalyse hat nun ohne größeres Aufheben (genauer: schon durch den Verzicht auf vorwegverstandene Prästrukturierungen) die prima facie-Gewährleistung aktiver Strafvereitelungsakte freigelegt (II. in Kap. 7) und bei einem Bezug zur Wissenskontrolle auch dem nemo-teneturBereich zugeordnet (I. in Kap. 8). Aus der definitiven Freiheit werden diese Aktionstypen daher lediglich durch ein Verbot herausgehalten29. Das Strafrecht hat freilich ein breites Sortiment solcher Untersagungen parat. Der nemo-tenetur-Träger ist in der postdeliktischen Phase unablässig mit den 28

Eingehend Verrel 2001, 226 ff. und Neumann 1998, 378 ff., die demonstrieren, dass auch im verhaltenslenkenden und im willensbeeinträchtigenden Effekt kein echter Unterschied zwischen beiden Fällen besteht (weshalb es denn auch im materiellen Strafrecht keineswegs als ausgemacht gelten kann, dass sich der von vis compulsiva entwickelte Unwert von dem der vis absoluta abhebt; zur Diskussion bei §§ 240, 253 StGB vgl. nur die Nachweise bei Kölbel 1997, 337; Küper 2005, 395 ff., 409 f.). 29 Dass auch der Passivpflichtige am Schutz von nemo tenetur partizipiert, führt keineswegs dazu, dass die strafprozessuale Anordnung einer verfänglichen Duldung absolut verboten wäre (so aber Sautter, AcP 1962, 215, 247 ff.). Im Rahmen des Verhältnismäßigen sind Duldungs- und Mitwirkungspflichten vielmehr gleichermaßen möglich (vgl. aber unten I.4.b)cc) in Kap. 10). Da nun aber eine Duldungspflicht strukturell gesehen immer das schwerere Geschütz als die Mitwirkungspflicht darstellt (denn sie ist als Fall des unmittelbaren Zwangs ein Mittel zur Mitwirkungsvollstreckung), hat sie die größere Eingriffsintensität. Duldungspflichten lassen sich daher gegenüber den Selbstbelastungsfreiheiten schwerer legitimieren als bislang angenommen (weil es mit dem Mitwirkungszwang ein vorzugswürdiges, schonenderes Mittel gibt). Andererseits sind Mitwirkungspflichten nicht länger ausgeschlossen (bzw. von einer Einwilligung abhängig, dazu Amelung 1981, 109 ff.), sondern vornehmlich dort implementierbar, wo bereits explizite Duldungspflichten bestehen (genauer zum Ganzen Neumann 1998, 387 ff.; zustimmend Radtke 2001, 332).

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

Unterlassensbefehlen irgendeiner Strafnorm konfrontiert. Ein echter Selbstbelastungszwang entsteht hierdurch bei Lichte besehen jedoch nur selten, denn die Befolgung solcher Anordnungen lässt sich meist ohne weiteres mit der nachdeliktischen Geheimhaltung vereinbaren30. Zu einem Geheimhaltungsverbot arten die Jedermannsverbote nur aus, wenn die strafgesetzgemäße Untätigkeit verfänglich ist, wenn also allein durch die strafbare Aktivität der Übergang des eigenen Tatwissens in den Bereich staatlicher Sanktionstätigkeit vermieden würde. Nur in diesen Sonderlagen wohnt dem strafrechtlichen Handlungsverbot ein nemo-tenetur-Eingriff inne. Solche Konstellationen können eintreten, wenn der nemo-tenetur-Träger den bevorstehenden Verlust seines verfänglichen Geheimnisses bloß noch durch den Verstoß gegen die allgemeinen Verbote der Drittschädigung abwenden könnte (etwa durch Behinderung der wissensexplorierenden Amtswalter oder durch Übergriffe auf sächliche Träger seines Tatwissens31). Hier ist ein nemo-tenetur-Eingriff auch bei den dahingehenden Teilnahmenormen möglich32. Obendrein ist an die (singulären) Fluchtverbote zu denken. Im Fall des § 142 I StGB hindern sie den Grundrechtsträger, sein Ereigniswissen durch Entfernen vom Ereignisort abzuschotten33, und bei § 121 StGB untersagen sie ihm jedenfalls eine gemeinschaftliche und gewaltförmige Flucht aus

30 Zur Begründung oben in und bei Fn 17 (i.E. wie hier i.Ü. auch Torka 1999, 144 ff.). Dass man etwa die fremde Diskette, auf der man sein Tatwissen gespeichert hat, nicht zerstören darf (§ 303 StGB), ist nur dann eine Verheimlichungshindernis, wenn 1. die staatliche Beschlagnahme droht und 2. der Geheimhaltungserfolg nicht auf strafrechtlich neutralem Wege (evtl. durch Datenlöschung oder Verbergen der Diskette) erreichbar ist. Genauso wenig ist das Verbot, einen Polizisten körperlich anzugreifen, um dessen eindringlichem Frageverhalten ein Ende zu machen, ein nemo-tenetur-Eingriff, so lange man den Wissensverlust schlicht durch Stillschweigen (also durch normkonformes Verhalten) abwenden kann. 31 Die Verbote aktiver Geheimhaltung, die den Kontrollverlust an einem von Beschlagnahme bedrohten gegenständlichen Wissensträger verhindern soll, bilden das Hauptanwendungsfeld der hier problematisierten Eingriffsform. Je nach Sachlage beruht das Verdunklungsverbot dann auf §§ 212, 223, 240, 113 StGB (Verbot eines geheimhaltungsnotwendigen Angriffs auf den Vernehmungsbeamten) oder – häufiger – auf §§ 303, 267, 274 StGB (Verbot einer geheimhaltungsnotwendigen „Behandlung“ der wissenstragenden Sache). Mit solchen Untersagungen wird in die allgemeine Handlungsfreiheit und in die Verwendungsfreiheit der grundrechtlichen Normalressourcen eingegriffen. 32

Wenn das Strafrecht dem Grundrechtsträger verbietet, an deliktischen Drittaktivitäten zum Schutz seines Geheimnisses teilzunehmen, ist das freilich nur dann ein nemo-tenetur-Eingriff, wenn die Haupttat sowie der Teilnahmeakt für die Geheimniswahrung unentbehrlich sind. 33

In der normgemäßen Anwesenheit (= Nicht-Flucht) nach dem Unfall liegt im Regelfall der Hinweis auf die eigene Unfallbeteiligung. Deshalb steigert „allein schon die in § 142 I StGB normierte Pflicht, als Unfallbeteiligter am Unfallort zu verharren, (…) die Strafverfolgungsgefahr.“ (H. Schneider 1991, 132; ebenso z.B. Geppert, BA 1991, 31, 36; Hartman-Hilter 1996, 17, 19; Verrel 2001, 94). Infolge der Wartepflicht kann die Täterperson eruiert und so ihr Tatwissen mindestens rekonstruiert werden. I.Ü. generiert § 142 StGB aber auch Verdunklungsverbote, weil derjenige, der seinen Unfallbeitrag am Unfallort zu verdecken sucht, seiner Feststellungsduldungspflicht nicht nachkommt (dazu LK/Geppert, § 142/90, 99, 101). Für die Konstellation des § 142 II StGB ist das in Abs. 3 S. 2 ausdrücklich normiert.

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der Untersuchungshaft auch dann, wenn er nur auf diesem Wege die Freiheit erlangen und allein von hier aus den Verlust seines dunklen Geheimnisses (etwa die Beschlagnahme eines Wissensträgers) abwenden kann34. Dagegen gehören die Verbote, einem Belastungszeugen den Mund zu verschließen (§§ 212, 240 StGB), nicht in den Kreis der nemo-tenetur-Eingriffe, da sie lediglich davon abhalten, das fremde Zeugenwissen zu blockieren35.

Dass das Strafrecht also gelegentlich ein Geheimhaltungsverbot generiert, ist der Breite und Ausnahmslosigkeit seiner unspezifischen Verhaltensnormen geschuldet. § 153 StGB enthält allerdings eine nemo-tenetur-verkürzende Beimischung in vergleichsweise hoher Konzentration. Das dortige Lügeverbot, das jeden Zeugen daran hindert, die staatliche Informationslage verbal zu verdunkeln, erstreckt sich leicht auch auf Situationen, in denen die betroffene Auskunftsperson ihr selbstbelastendes Tatwissen nur durch unwahrhaftige oder verdeckt unvollständige Aussagen vor der sonst eintretenden Enthüllung bewahren kann36. Durch § 157 I StGB ist dieser Eingriff in Art 5 I GG nicht zurückgenommen37. Er wird nicht einmal gemildert, denn § 157 StGB hält die freiheits34

Wenn es zuträfe, dass § 121 StGB angesichts der bereits vorhandenen Verbote fluchtbegleitender Übergriffe (§§ 113, 223, 303 ff. StGB) lediglich einen „strafschärfenden (...) Charakter“ hat (Binder 2001, 70; ebenso H. Schneider 1991, 118 f.; LK/Bubnoff, § 121/2), wäre er als spezifisch sekundärrechtliche Eingriffsform (unten 3.a)) einzuordnen. Damit würde aber die implizit-primäre Verhaltensnorm des § 121 StGB übersehen. Der Tatbestand beschreibt die besonders effektive (gefährliche, drittschädliche) Gefangenenflucht und enthält damit auch deren Untersagung. 35

Vgl. Fn 9 in Kap. 8: Nemo tenetur verbürgt gewisse Verhaltensformen, mit denen die Kontrolle über das eigene Tatwissen aufrechterhalten wird – nicht den Geheimniswert diverser Information (dazu auch sogleich in c)aa)). 36 Zur Strafbarkeit des verdächtigen Zeugen bspw. BVerfGE 38, 105, 112; BGHSt 1, 22, 28; 2, 233, 234; 7, 332; NJW 2000, 154, 156; Müller 2000, 118. Einschränkend auf unerkannt verdächtige Personen aber Montenbruck, JZ 1985, 976, 977 f.; kritisch zur Rechtslage Vormbaum 1992, 15. Das Lügeverbot ist ein nemo-tenetur-Eingriff, weil das Aussageverweigerungsrecht, auf das sich der Zeuge zurückziehen kann, oftmals keine unverfängliche Verhaltensalternative zur Falschaussage eröffnet. Vielmehr zeigt es das Bestehen des Geheimnisses an und löst Nachforschungen aus – jedenfalls aus Sicht des Zeugen. 37 Ein Aussageverweigerungsrecht steht der Anwendung von § 157 StGB nicht im Wege (vgl. Bemmann 1966, 486 ff.), auch nicht bei dahingehender Belehrung (vgl. BGH StV 1995, 250; 2000, 2034, 2036; für eine Berücksichtigung im Strafmilderungsermessen Lackner/Kühl, § 157/1, 12; ähnlich OLG Düsseldorf JR 1991, 520 f.; zurückhaltend BGH NJW 2000, 154, 157). Allerdings hat § 157 StGB einen schmalen Normbereich. Die Privilegierung ist nach h.M. nur am Platze, sofern der Zeuge durch seine Aussage die eigene Strafverfolgung voranbringen würde (vgl. z.B. Bergmann 1988, 84 f.; H. Schneider 1991, 227 f. m.w.N.). Sie greift, gleichsam in Ergänzung zu § 55 StPO, lediglich dann ein, wenn er falsch aussagt, weil er bei der wahrheitsgemäßen Offenbarung eigenen Wissens eine Strafverfolgungsgefahr gewärtigt (oder das Gericht diesen Beweggrund nicht auszuschließen vermag, BGH JR 1989, 428). Kann der Zeuge die Wahrheit sagen, ohne eigene Delikte preiszugeben, lässt sich aber eine aussageunabhängig begründete Strafverfolgungsgefahr nur durch die Lüge abwenden, hilft § 157 StGB ihm dagegen nicht (so für den Fall, in dem ein Dritter den Zeugen bei dessen Wahraussage denunzieren würde, etwa BGHSt 7, 2; Lackner/Kühl, § 157/6; NK/Vormbaum, § 157/26; kritisch Bemmann a.a.O., 492 f.).

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

beschränkende Verhaltensnorm des § 153 StGB vollumfänglich aufrecht und ermächtigt lediglich dazu, die Zwangslage des (potenziell) verdächtigen Zeugen auf der (sekundären) Sanktionsebene anzurechnen.

c) Geheimhaltungserschwernis als mittelbarer Eingriff aa) Nicht-imperative Geheimhaltungshindernisse Das Strafrecht belastet den geheimhaltungsbemühten nemo-tenetur-Täger nicht nur mit den bisher genannten Verhaltensnormen, durch deren (in der Normkonkretisierung erzeugten) Tenor sich seine Möglichkeiten zur aktiven und passiven Wissenskontrolle reduzieren, sondern auch mit mittelbar gelagerten Behinderungen. Die damit gemeinten Bestimmungen zerfallen in zwei Grundformen. Dabei sorgt die erste (und unten bei 3. behandelte) Variante dafür, dass an die Geheimhaltungsbemühungen des Grundrechtsträgers solche nicht-normativen Nachteile anschließen, die ähnlich motivierend wirken wie ein Verbot. Bei der hier zunächst interessierenden Gruppe handelt es sich dagegen um Strafnormeingriffe mit einer tripolaren Wirkungsstruktur. Jene tatbestandsimpliziten Verhaltensnormen reglementieren zwar allein den Aktionskreis von dritten Personen, doch unterbinden sie dabei auch solche Maßnahmen, die der nemo-tenetur-Träger für seine eigene Geheimhaltungsanstrengung unbedingt benötigt hätte. Dieser Nebeneffekt kann bei vielen Strafnormen eintreten, besonders leicht bei den Regeln zur anwaltlichen Verteidigung. So wird der Verteidiger mit den Teilnahmeverboten rechtlich außerstande gesetzt, den Mandanten auf ein strafbares, aber geheimhaltungsnotwendiges Verhalten hinzulenken38. Darüber hinaus darf, wie sich am Verbot des anwaltlichen Lügeratschlags zeigt, dem Beschuldigten nicht einmal jede unverbotene Geheimhaltungsform von rechtskundiger Seite nahe gelegt werden39. Falls der nemo-tenetur-Träger auf solche Hil38

Bsp.: Es steht die behördliche Beschlagnahme eines sächlichen Tatwissensträgers bevor, der im Dritteigentum steht. Der hierüber informierte Anwalt unterweist den Beschuldigten darin, dass die Vernichtung des fraglichen Gegenstands helfen würde, das Tatgeheimnis zu wahren. Durch das Verbot gegenüber beiden Akteuren nimmt das Strafrecht am Beschuldigten einen zweifachen Eingriff vor: Neben dem Verbot der Sachbeschädigung entzieht es ihm die Hilfe, über deren verteidigungstaktische Vorzüge informiert werden zu können (weiter hierzu unten II.2. in Kap. 11). 39

Die Debatte, welches Verteidigerhandeln trotz Strafvereitelungstendenz aus § 258 I StGB herauszuhalten sei, ist kaum noch zu überschauen. Jedenfalls tritt die h.M. bei der stimulierungsneutralen Lügeberatung für Tatbestandslosigkeit ein, nicht aber beim weitergehenden Lügeratschlag (z.B. BGH 2 StR 214/82 v. 29.9.1982; NStZ 1999, 188 Tröndle/Fischer, § 258/9; SKStGB/Hoyer, § 258/28; Frisch, JuS 1983, 915, 924; Bottke, ZStW 96, 1984, 726, 757; Otto, Jura 1987, 329, 330; Vogt 1992, 230 f.; Beulke 1989, Rn 29, 35; ders., JR 1994, 116, 117; ders. 2001,

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festellungen angewiesen ist, entzieht ihm der Staat, der sie unter Strafe stellt, indirekt die Möglichkeit zum eigenen Geheimhaltungsakt. Damit lassen sich allerdings jene Strafgesetze, die eine eingeweihte dritte Person zur Enthüllung des Beschuldigtenwissens nötigen, nicht vergleichen. Beispiele für solche Verrats-Zwänge bieten die zeugenschaftlichen Aussage- und Wahrheitspflichten (§§ 153 ff. StGB) ebenso wie vereinzelte strafbewehrte Anzeigegebote40. Auf eine besonders subtile Weise brachte zuletzt auch der Geldwäschetatbestand diese Problemlage hervor. Nach einer weit verbreiteten Ansicht nötigt er den Strafverteidiger, der sich seine Bemühungen gemäß § 261 II Nr. 1 StGB nicht durch qualifiziert bemakelte Gelder honorieren lassen darf41, eine Vergütung abzulehnen, wenn die Mittel aus einem durchweg anrüchigen Vermögen fließen würden. Bei manchem (de facto) begüterten Beschuldigten bleibt dem Anwalt dann nur die, durch deren Wahl er seine Zweifel an der Unbescholtenheit der Mandanteneinkünfte überdeutlich signalisieren müsse42. Sollte eine anstößige Honorarannahme dennoch einmal stattgefunden haben (oder sollte jedenfalls ein entsprechender Verdacht aufkommen), muss sich der Verteidiger zudem gedrängt fühlen, die Vorgänge im Innenverhältnis zu seiner eigenen Verteidigung offen zu legen43. Gleichsam auf die Spitze getrieben wird dies durch die Regelung in § 261 IX 1, X StGB, die ihn anhält, die fraglichen Zahlungen mitzuteilen und sich die Vorteile der Tätigen Reue durch Weitergabe des ihm anvertrauten

1188; Wolf 2000, 339; Widmaier 2000, 1051; zur Gegenansicht Wassmann 1982, 133; Vormbaum 1987, 426; Jahn 1998, 305; U. Günther 1998, 168; Stumpf 1999, 122 f.). Mit Ausnahme von Fezer (1993, 681 f.) differenziert man im Lager der h.M. aber nicht danach, ob die fragliche Lüge un-/verboten ist. Möglich ist diese Position ohnehin nur durch eine höchst umstrittene Sonderdogmatik zu § 258 StGB. Viele Handlungen, die nach allgemeinen Kriterien der Beteiligungslehre einer der Teilnahmeformen zugeschlagen würden, rechnet die h.M. bekanntlich zur täterschaftlichen Strafvereitelung, um so auch bei der tatbestandslosen eigennützigen Selbstschutzhandlung des Vortäters (hier: des Beschuldigten) die Strafbarkeit der Beteiligten (hier: des Anwalts) zu sichern (aus der kontroversen Diskussion NK/Altenhain, § 258/24; LR/Lüderssen, Vor § 137/128 ff.; Frisch, JuS 1983, 915, 920 ff.; Rudolphi 1985; Rosenkaymer 1988, 86 ff.; Beulke 1989, Rn 151 ff.; Keim 1990; Ebert, ZRG 1993, 1, 59 ff.; Ferber 1997, 72 ff., 83 ff.; Jahn 1998, 291 ff.; Stumpf a.a.O., 86 ff.; Jerouschek/Schröder, GA 2000, 51, 60 f.; Dessecker, GA 2005, 142, 147 ff.). 40 Vgl. die Beispiele oben VI.1. im 1. Kap. Zu den fraglichen Bestimmungen zählt auch das GwG, das bezüglich verdächtiger Gelder diverse Mitteilungs-, Registrierungs- und Nachfragepflichten vorsieht. Deren Verletzung kann u.U. nach §§ 258, 13, §§ 261, 13 StGB oder §§ 261, 27 StGB geahndet werden (zusammenfassend Pohl 2002, 39 f.). In Umsetzung der Geldwäscherichtlinie (2001/97/EG, NJW 2002, 804 ff.) ist davon neuestens auch der Verteidiger betroffen. 41

Vgl. BGHSt 47, 68; Tröndle/Fischer, § 261/32 ff.; NK/Altenhain, § 261/126 ff. m.w.N.; einschränkend auf Fälle, in denen der Verteidiger sichere Kenntnis von der Gelderherkunft hat, jetzt BVerfGE 110, 229 (wobei das Schrifttum eine Reihe weiterer Modelle diskutiert, um die Strafbarkeitsrisiken des Verteidigers zu senken; dazu z.B. Bussenius 2004, 128 ff., 160 ff. m.w.N.). 42 BGHSt 47, 68, 76 und Katholnigg, JR 2002, 30, 32 bagatellisieren diesen Effekt. Ihn andererseits als Selbstbezichtigungszwang zu qualifizieren (vgl. OLG Hamburg NJW 2000, 673, 676; Hamm, NJW 2000, 636; Kargl, NJ 2001, 57, 62 f.; Hombrecher 2001, 76 f.; Mehlhorn 2004, 158), ist schon deshalb ungenau, weil die fragliche Handlungsnorm nur an den Anwalt adressiert ist und daher den Beschuldigten nicht zur Eigenüberführung nötigen kann. 43

Dazu BVerfGE 110, 229, 260.

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

Mandantenwissens zu verdienen44. In all diesen Fällen bleibt die Selbstbelastungsfreiheit der indirekt betroffenen Person indessen unberührt. Dass jene Strafnormen den Geheimnischarakter der gegenständlichen Daten aufheben45, wirkt am nemotenetur-Satz spurlos vorbei. Dessen Gewährleistungsbereich besteht aus Freiheiten zu geheimhaltendem Tun und Lassen – nämlich das eigene Tatwissen verschweigen, es abschotten oder irreführend kommunizieren zu dürfen (oben I. in Kap. 8) – und an diesem Verhalten wird der nemo-tenetur-Träger durch die drittgerichtete Enthüllungspflicht nicht gehindert.

bb) Eingriffswert nicht-imperativer Erschwernisse Die vorerwähnten Strafnormen als nemo-tenetur-Eingriff zu behandeln, versteht sich keineswegs von selbst. Von ihnen werden die Selbstbezichtigungsfreiheiten nur auf Umwegen beeinträchtigt. Grundrechtsdogmatisch ist noch nicht abschließend geklärt, unter welchen Bedingungen dergestaltige nichtimperative Staatsakte als so genannter faktischer Eingriff für ihre rechtsverkürzende Wirkung gerechtfertigt werden müssen46. Nach einer verbreiteten Ansicht ist das bereits bei einem (nicht unerheblich) beeinträchtigenden Effekt indiziert47. Ferner tendieren Judikatur und Lehre dazu, „finale Staatsakte stets als Grundrechtseingriffe anzuerkennen“ und ansonsten Unmittelbarkeit und Maßnahme-Intensität den Ausschlag geben zu lassen48. Von der strafprozessualen Diskussion zur Selbstbelastungsfreiheit kann man in diesen Fragen keine Hilfestellung erhoffen. Bisweilen lässt man sich dort zu 44

Hier für einen nemo-tenetur-Eingriff Galen, StV 2000, 575, 582; vgl. auch Hombrecher 2001, 38 ff. 45 Durch das Abschöpfen eingeweihter Mitbürger wird die informationelle Selbstbestimmung des Informationsbetroffenen verkürzt (eingehend Pohl 2002, 152 ff.), aber eben nicht der selbstbelastungsrelevante Ausschnitt dieses Grundrechts. 46 Hier wird davon ausgegangen, dass hoheitliche grundrechtsverkürzende Maßnahmen nur in Gestalt eines „Eingriffs“ legitimierbar sind. Entweder gehört die fragliche staatliche Maßnahme zu einer der Eingriffs-Unterarten (sodass sie der Schranken-Schranken-Kontrolle unterliegt) oder nicht (vgl. Lübbe-Wolff 1988, 209). Im Umlauf ist aber auch ein gegenläufiges Modell, wonach es nicht verschiedene Eingriffsformen gebe, sondern neben dem Eingriff weitere Typen der Grundrechtsbeeinträchtigung existierten, auf die das Verfassungsrecht ebenfalls mit einem Schutzprogramm reagiere – aber nicht notwendig mit den formalen, materiellen und instanziellen Elementen, die dem Eingriffsinstitut vorbehalten sind (vgl. dazu bspw. die Überlegungen bei Heintzen, VerwArch 1990, 532, 537 f.). 47 Nach Bethge (VVDStRL 57 (1998), 7, 40) genügen der heutigen Grundrechtsdogmatik „nicht unerhebliche Einwirkungen des Staates in ein grundrechtliches Schutzgut gegen den Willen des Grundrechtsträgers“ (ebenso Isensee 2000, § 111/59). 48 Weber-Dürler, VVDStRL 57 (1998), 57, 85 f. (Herv. i.O.); dazu auch Albers, DVBl 1996, 233, 235; Di Fabio, JZ 1993, 689, 695. Zielgerichtetheit, Schwere oder Unmittelbarkeit der Verkürzung kompensieren die etwaige Schwäche der je anderen Merkmale (vgl. Huber 1991, 236).

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unangebrachten Generalisierungen hinreißen, denen zufolge nemo tenetur entweder nur vor direktem Zwang schütze oder schlechthin auch vor jedem indirekten Druck49. In der Sache werden mittelbare prozessuale Mitwirkungszwänge50 (genauer: zur Enthüllung motivierende Verfahrensnachteile der Wissenszurückhaltung) aber sehr uneinheitlich behandelt51. Die jeweiligen Positionen sind stets kontextual bestimmt. Man argumentiert situationssensibel – aber ohne Gespür für die verfassungsrechtliche Dimension des Gegenstands (weshalb sich oft nicht einmal erkennen lässt, ob bei den jeweils akzeptierten Fällen gar kein nemo-tenetur-Eingriff vorliegen oder ein solcher gerechtfertigt sein soll52). So kann es nicht erstaunen, dass sich hierüber allein „Wertungsgesichtspunkte herausgebildet haben, die (...) einzelfallbezogene Bedeutung erlangen“; als fallübergreifende Kriterien werden lediglich die gezielten und besonders schweren Schweigenachteile genannt53. Ein aussagekräftiges Kriterienraster, das für die Einordnung der hier fraglichen Strafnormen ohne weiteres maßstäblich sein könnte, liegt also nicht auf der Hand. Was Not tut, sind Überlegungen, die (ohne die einzelgrundrechtli49 Das erste Postulat bei Böse, wistra 1999, 451, 455; das zweite z.B. bei SK-StPO/Rogall, Vor § 133/139 und Kraft 2002, 155. Das Fehlen jeder Diskussion zum Zwangsbegriff i.Z.m. der Selbstbelastungsfreiheit konstatiert auch Wolff 1997, 130. 50 Nach Verrel sollen darunter „alle sonstigen Nachteile anzusehen sein, die aus der hingenommenen Mitwirkungsverweigerung im weiteren Verlauf des Verfahrens resultieren und den Betroffenen ebenso wie die direkten Sanktionen zur Selbstbelastung veranlassen können“ (2001, 16). Das trifft insofern zu, als es auf die (nicht-imperative) Verhaltenslenkung durch faktische Nachteile rekurriert. Unberücksichtigt bleiben indes die hier interessierenden tripolaren Eingriffsstrukturen. Außerdem ist es unkorrekt, beim Gegenbegriff des unmittelbaren Zwangs die Primär- mit der Sekundärnorm zu vermengen. 51 Man kann das an den Fällen der faktischen Benachteiligung beobachten. Unbedenklich seien die schuldindizielle Verwertung und die Kostennachteile des Teilschweigens (dazu II.4.b)bb) und cc) in Kap. 1) sowie die beweisrechtliche Nutzlosigkeit des Schweigens nach vorherigen Einlassungen (II.3. und IV.1.a) in Kap. 1). Statthaft sei es, dass die Wissenszurückhaltung die Begleiterscheinungen des Verfahrens verschärfen kann (d.h. zusätzliche Ermittlungseingriffe notwendig macht), zumal ohnehin nichts dagegen spreche, dass das streitige Verhandeln die Ressourcen des Angeklagten (Geld, Zeit usw.) mehr beansprucht als bei einem Geständnis (dazu Arzt, ZStR 110, 1992, 233, 243). Unzulässig ist es aber, an das Schweigen oder Nicht-Mitwirken solche faktischen Nachteile zu binden, wie sie die Würdigung als Schuldindiz (oben II.4.b)cc) und IV.1.a) in Kap. 1) und die darauf beruhende Begründung eines Anfangsverdachts (oben IV.1.c) in Kap. 1) darstellen. 52 Auch Verrel, der als einstweilen einziger Autor den mittelbaren prozessualen Mitwirkungszwang systematisch untersucht (2000, 17 ff.), behält diese Mischmethode bei. Die Rezeption seiner Befunde leidet folglich darunter, dass die Merkmale derjenigen staatlich erzeugten Schweigenachteile, die der Selbstbelastungsfreiheit nicht abträglich seien, erst nach ihrer eingriffsausschließenden oder eingriffslegitimierenden Funktion sortiert werden müssten. 53 So das Resümee Verrels, der die wichtigsten Wertungskriterien rekonstruiert (2001, 101 ff., mit dem Zitat a.a.O., 101). Für die Rechtserheblichkeit eines Schweigenachteils sollen danach aber auch Topoi, wie die „Ungleichgewichtigkeit der Prozessrisiken“, der „Sachzwang“ oder kollidierende Drittinteressen bedeutsam sein.

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chen Besonderheiten überspielen zu wollen54) zurück an den gemeinsamen Problemursprung gehen: Der Eingriffscharakter einer Maßnahme gehört danach neben der Schutzbereichszugehörigkeit des maßnahmebetroffenen Verhaltens zum Rechtsfolgen auslösenden Grundrechtstatbestand. Mit dem Eingriffsattribut wird das Staatshandeln belegt, gegen das die fraglichen Grundrechte schützen55 und das daher zumindest rechtfertigungsbedürftig sein soll56. Einerseits dehnt eine extensiv verfasste Eingriffskategorie deshalb die staatlichen Begründungslasten in wünschenswerter Weise aus, ohne notwendig die definitiven Rechtssphären zu verschieben57. Andererseits darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass durch das so verbreiterte Spektrum eingriffswertiger Maßnahmen der bei den Grundrechten anfallende Prüfungsstoff zunimmt, sodass die Prüfmaßstäbe unter dieser Beanspruchung zu Schaden kommen könnten58. In diesem Argumentationsfeld müssen jedenfalls die subjektiv finalen Beeinträchtigungen unabhängig von ihrer jeweiligen Form als Eingriff gelten, weil es für die Grundrechtsbindung keine Rolle spielen darf, ob der Staat für einen vorbedachten Effekt einen nicht-imperativen oder indirekten Modus wählt59. Die hier gegenständlichen Strafnormen werden davon allerdings nicht betroffen, denn sie entstanden ganz sicher nicht, um mit ihrer Hilfe an das Beschuldigtenwissen zu gelangen. Gleichwohl ist ihnen ein Eingriffsgehalt beizumessen. Sobald die grundrechtsverkürzenden Konsequenzen objektiv vorhersehbar (nicht 54 Vgl. zu – für die hiesige Fragestellung unerheblichen – bereichsspezifischen Problemen Stern/Sachs 1994, 43 ff., 155, 178. 55 Vgl. z.B. Arnauld 1999, 90. Mit einem weiten Eingriffsbegriff korrespondieren folglich weite Gewährleistungsgehalte, vgl. Albers, DVBl 1996, 233, 237 ff.; Di Fabio, JZ 1993, 689, 695. 56

Vgl. Bethge, VVDStRL 57 (1998), 7, 38.

57

Um die rechtstechnisch-konstruktive Regel-Ausnahme-Struktur von Freiheit und Beschränkung sicher zu stellen, ist ein weiter Eingriffsbegriff noch wichtiger als ein weiter Tatbestandsbegriff (zu ihm oben II.1. in Kap. 7): Bei engen spezialgrundrechtlichen Schutzbereichsverständnissen unterfallen die herausdefinierten Gegenstände wenigstens dem subsidiären Art 2 I GG, während eine staatliche Maßnahme, die als Nicht-Eingriff gedeutet wird, mangels einer entsprechenden Auffang-Kategorie überhaupt nicht gerechtfertigt werden muss (vgl. Arnauld 1999, 92). 58 Die Grundrechtsdogmatik könnte geneigt sein, wegen eines überhand nehmenden Spektrums eingriffswertiger Staatsakte die Strenge der Schranken-Schranken zu mildern. Schon jetzt werden in der Rechtspraxis formale Eingriffsschranken zu Gunsten „flexiblerer verfassungsrangiger Lösungsmechanismen“ aufgegeben (zu dieser drohenden „Planierung der abwehrrechtlichen Prüfungsinstrumentarien“ etwa Bethge, VVDStRL 57, 1998, 7, 37, 45). Beklagt wird v.a. die Aufweichung des Gesetzesvorbehalts in der Rspr.-Praxis. Freilich besteht für die hiesige Untersuchung insofern kein Problemdruck, da sie nicht von Eingriffen durch befugnislose Realakte handelt, sondern gerade Vorbehaltsgesetze zum Gegenstand hat (wegen ihres Bezuges auf Realakte sind so auch die von A. Roth 1991, 162 ff. vorgetragenen „Argumente gegen die Grundrechtsrelevanz jeder faktischen Betroffenheit“ vorliegend ohne Belang). 59 Dazu und zum Folgenden – mit freilich jeweils verschiedenen Akzenten – etwa Eckhoff 1992, 209, 270 ff.; Roth 1994, 129 ff., 199 ff., 259 ff.; Weber-Dürler, VVDStRL 57 (1998), 57, 89 ff.; Arnauld 1999, 101 ff.; Cremer 2003, 159 ff.

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außergewöhnlich) sind, kann das fragliche Staatsorgan nämlich den Effekt seiner Maßnahme abschätzen. Da der Staat dann folglich durch die Grundrechte ansprechbar ist – sodass er von der betreffenden Maßnahme absehen oder sie von ihrer Legitimierbarkeit abhängen lassen kann –, darf von seiner konstitutionellen Bindung nicht abgegangen werden60. Deshalb sind die hier untersuchten Strafbestimmungen (etwa § 258 StGB) ein Eingriff in die Selbstbelastungsfreiheit. Die jeweiligen anwaltsgerichteten Verhaltensbefehle sind ihnen rechtsmethodisch zuordenbar, sodass der Gesetzgeber ihre nemo-tenetur-verkürzende Beschuldigtenauswirkung objektiv erwarten konnte61. Nochmals: Objektiv waren die betreffenden Geheimhaltungsbarrieren für den Staat beeinflussbar. Wenn aber die nemo-tenetur-Grundrechte auf die Wahrnehmung genau dieser Gestaltungsmöglichkeit auch Einfluss nehmen konnten, müssen jene Strafnormen – angesichts der Lenkungsfunktion aller Grundrechte – als Eingriff gelten. Demgegenüber fällt es nicht ins Gewicht, wenn die fraglichen Regelungen direkt nur an dritte Personen gerichtet sind62, solange der Staat gewärtigen konnte, dass sich die Wahrnehmung der Selbstbelastungsfreiheiten hierdurch (d.h. über die personalen Zwischenursachen) erschwert63. Ebenso wenig hat man die Intensität, mit der das wissensschützende Vorgehen von den strafrechtlichen Verhaltensnormen beeinträchtigt wird, für die Rechtfertigungsbedürftigkeit mittelbarer Beeinflussungsketten in Rechnung zu stellen. Es ist nicht einzusehen, warum der Staat nur für erhebliche

60 Zum Zusammenhang von objektiver Vorhersehbarkeit eines Handlungserfolges und der Steuerungsfunktion der handlungslenkenden Norm vgl. (aus strafrechtlicher Sicht) etwa Hruschka 1988, 403. Problematisch, wenn mangels Einschlägigkeit hier auch nicht zu erörtern, sind dann umgekehrt die unvorhersehbaren Grundrechtsbeeinträchtigungen (dazu etwa Stern/Sachs 1994, 152 ff.; A. Roth 1991, 352 ff.). 61 Bei gesetzgeberischen Maßnahmen ist die objektive Vorhersehbarkeit gleichbedeutend mit der rechtsmethodischen Zuordenbarkeit. Der Staat muss alle Strafnormen rechtfertigen oder unterlassen, mit denen er eine grundrechtsschädliche Normauslegung ermöglicht. Dafür ist es unerheblich, dass sich die hier fraglichen Normen nur in relativ seltenen Konstellationen auf das Beschuldigtenwissen beziehen. 62

Dies firmiert als Folgewirkungsreflex, personell-mittelbare oder sequenzielle oder Drittbeeinträchtigung (vgl. Roth 1994, 281 f., 299 f.; Stern/Sachs 1994, 160). 63 Mit Zunahme der Zwischenursachen mag dies problematischer werden (vgl. dazu Heintzen, VerwArch 1990, 532, 544). So ist für den personell-mittelbaren Eingriff zu fordern, dass dem Staat als Ursprungsurheber die Beeinträchtigungen zurechenbar sind, die über den unmittelbar betroffenen Dritten (Kausalmittler) beim Grundrechtsträger eintreten. Ein solcher Eingriff „in mittelbarer Täterschaft“ liegt nur vor, wenn der Staat den Mittler normativ steuert (vgl. A. Roth 1991, 221 ff.). Bei einer behördlichen Einzelfallmaßnahme kann es deshalb problematisch sein, die drittvermittelte Einwirkung dem hoheitlichen Auslöseakt anzulasten, wenn der eingeschaltene Dritte seinen Nachteil rechtsmittelförmig abwehren konnte (zum Ganzen Roth 1994, 305, 361 ff.). Dagegen kann der Grundrechtsschutz des Beschuldigten bei den vorliegenden Legislativmaßnahmen nicht davon abhängen, dass der direkt angesprochene Verteidiger die fraglichen Strafgesetze angreift. Es genügt, dass der Staat durch den Strafnormerlass eine Situation schafft, in der es für den Verteidiger vernünftig ist, so zu handeln, dass dadurch die Selbstbelastungsfreiheit des Beschuldigten verkürzt wird (vgl. auch Cremer 2003, 163 ff.).

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

Grundrechtsbeeinträchtigungen Rede und Antwort stehen soll. Vielmehr kann es auch an Nadelstichen keine Willkür geben64.

2. Sanktionsnormen Strafgesetze entwickeln vermittels ihres Strafbewehrungselementes eine zusätzliche Grundrechtsrelevanz. Die in ihnen enthaltene Sanktionsnorm berechtigt zur Nachteilszufügung. Diese Normschicht – also schon der abstraktgenerelle Legislativakt und nicht erst die individualisierende Sanktionszuweisung65 – schmälert auf finale Weise die grundrechtlichen Positionen der angesprochen Akteure, nämlich das allgemeine Persönlichkeitsrecht (durch die Ermächtigung zum Unrechtsvorwurf66) und die Bewegungsfreiheit gemäß Art 2 II 2 GG bzw. das Vermögen gemäß Art 2 I GG (durch die Ermächtigung zum dahingehenden Rechtsgüterentzug67). Die Sanktionsandrohung ist indes keine Handhabe, um die Verhaltensmöglichkeiten zur individuellen Kontrolle selbstbelastenden Wissens normativ zu verengen, sondern eine qualifizierte Absicherung solcher (un-/mittelbarer) Freiheitsbeschränkungen. 64 Allerdings wird ihm die Rechtfertigung eines solchen Eingriffs leichter gelingen (vgl. schon Fn 15; wie hier Stern/Sachs 1994, 206 f.; Duttge 1995, 106; Roth 1994, 267 ff.; Weber-Dürler, VVDStRL 57 (1998), 57, 87 m.w.N.; Arnauld 1999, 98; Nachweise zur Gegenansicht bei Roth a.a.O., 34). 65

Vergleichbar ist die Lage insofern bei einer prozessualen Duldungs- oder Mitwirkungspflicht, nur wird dort fälschlicherweise behauptet, die abstrakt-generelle Gesetzesbestimmung werde als Freiheitseinschränkung „denklogischerweise (...) erst durch ihre Anordnung relevant“ (Torka 2000, 131). Nun trifft es zwar zu, dass erst die individualisierende administrative Entscheidung die Verhaltensfreiheiten durch eine Pflichtenaktualisierung vermindert (ebenso wie erst die Sanktionsverhängung materiell spürbar ist), und dennoch erzeugt schon die jeweilige Befugnisnorm einen Eingriffswert. Dies zeigt der Vergleich mit dem ehedem bestehenden Zustand. Gegenüber der Rechtsposition ohne Eingriffsermächtigung führt die Befugnisnorm insofern zu einer unmittelbaren Schutzbereichsverkürzung, als sie das Gehorsamsgebot statuiert, sich einer etwaigen Einzelfallmaßnahme – handle es sich nun um eine Pflichtenanordnung oder um eine Sanktionsverhängung – fügen zu müssen (vgl. Lübbe-Wolff 1988, 51 f.; Sachs 1994, 126; Lagodny 1996, 107). Neben der Sache liegt erst recht jene These, nach der ein Selbstbelastungszwang erst in der konkreten Durchsetzung des gesetzesrealisierenden Einzelaktes zutage trete (so Rüster, wistra 1988, 49, 52). Träfe dies zu, hingen grundrechtliche Abwehrrechte von einer vorherigen vollstreckungsprovozierenden Widersetzlichkeit ab (vgl. auch Besson 1997, 88 f.). 66 Dem Verurteilten wird eine defizitäre Einstellung zur Norm vorgehalten (vgl. Lagodny 1996, 96 ff.; Appel 1998, 467 ff., 492 f.; Stächelin 1998, 112 f.). Etwas anderer Akzent bei Wolff 1997, 50: Eingriff in Persönlichkeitsrecht durch Versetzen in den (rechts-)folgenreichen Status des Bestraft-Seins. Kritisch zur h.M. indes Altenhain 2002, 311 ff., der allerdings die faktischen Verrufswirkungen übersieht und nur mit dem formalen Fehlen eines ausdrücklichen Tadels im Strafurteil argumentiert. 67 Vgl. Lagodny 1996, 129 ff.; Appel 1998, 470 f., 493. Bei der Strafhaft kommt es infolge von Streuwirkungen überdies zu Folgebeeinträchtigungen anderer Grundrechte, bspw. von Art 14 GG hinsichtlich strafvollzugsbedingter Besitzbeschränkungen (dazu Kölbel, StV 1999, 498, 501).

9. Kap.: Strafrechtliche Einwirkung auf nemo tenetur

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Der Staat muss demzufolge begründen, warum er den straftatbestandlichen Part des nemo-tenetur-Reglements überhaupt mit einer Sanktionsankündigung unterlegt, und das ausgerechnet mit dem gesteigert grundrechtsverkürzenden Instrument der Strafe. Das obliegt ihm im besonderen Maße dort, wo er das verbotswidrige Geheimhaltungsgebaren sogar härter bedroht als ein äußerlich vergleichbares Tun, dem kein Vortatverdeckungsmotiv zugrunde liegt. Namentlich in den Fällen, in denen der nemo-tenetur-Träger den bevorstehenden Verlust seiner Tatwissenskontrolle durch einen Verdeckungsmord (§ 211 II 3. Gruppe StGB68) abzuwenden sucht (aber auch bei den in § 252 StGB69 und §§ 306b II Nr. 2, 315 III 1.b., 315b III StGB typisierten Übergriffen), wartet das Strafrecht mit einer solchen Sanktionsschärfung auf70. Zwar bleibt der durch die Verhaltensnormen gezogene Geheimhaltungsspielraum hiervon unberührt, doch gewinnen die sekundären Straffolgen, die bei Vornahme verbotener Verdeckungshandlungen zum Zuge kommen, an Nachdruck.

68 Generell zum Konflikt mit dem Strafvermeidungsinteresse BVerfGE 45, 187, 265. Auch mit nemo tenetur kollidiert der Verdeckungsmord (etwa Haas 2004, 245) – dies aber nur, wo durch die fragliche Handlung der sonst unvermeidbare Verlust des Tatwissensgeheimnisses abgewendet wird (etwa bei Abwehr der Beschlagnahme eines sächlichen Wissensträgers), nicht jedoch bei der Tötung eines Augenzeugen (denn hier wird nur das fremde Wissen blockiert, vgl. oben bei Fn 35). I.Ü. behandelt die h.M. den Verdeckungstatbestand als Ausprägung niedriger Beweggründe (§ 211 II 1. Gruppe StGB; zur Diskussion etwa Freund, JuS 2002, 640, 644). Auf dieses subsidiäre Mordmerkmal kann sie also in jenen Fällen zurückgreifen, in denen sich die Verdeckungsabsicht nicht gegen die Strafverfolgung richtet – weil der Täter außerstrafrechtliche Folgen strafbarer Taten vermeiden oder nichtstrafbare Taten im Dunkeln halten oder statt des Tatnachweises die Festnahme verhindern will. Dass die Detailzuordnung dennoch umstritten ist (zur Diskussion z.B. BGHSt 41, 9; Küper 2005, 335 ff.; Sowada, JZ 2000, 1035 ff.), kann hier dahinstehen, da jene peripheren Verdeckungsaktivitäten zumeist außerhalb des strafbezogenen nemo-tenetur-Sachbereichs liegen (oben I. in Kap. 8). 69 § 252 StGB pönalisiert eine akute Handlungslage, in der dem Täter die Entdeckung und damit auch die Wissensenthüllung droht (vgl. LK/Herdegen, § 252/3; H. Schneider 1991, 125; vgl. auch NK/Kindhäuser, § 252/4; Perron, GA 1989, 145, 150, 158). Strafschärfenden Charakter erlangt die Selbstbegünstigung hier durch die angehobene Strafhärte (verglichen mit den „normalen“ Gewaltverboten in §§ 223, 240 StGB; vgl. Rudolphi, JuS 1979, 859, 863; H. Schneider a.a.O., 122). Zu beachten ist aber, dass § 252 StGB nur eingreift, wenn das Geheimhaltungsmotiv die tatbestandlich erforderliche Besitzerhaltungsabsicht nicht vollständig in den Hintergrund drängt (dazu zusammenfassend Küper 2005, 90 ff.). Gewalt, die nach einem Diebstahl allein aus Selbstschutzerwägungen heraus angewandt wird, erfährt keine Strafschärfung. 70 Jenseits der positivierten Fälle wird die Absicht wissenskontrollierender Strafvereitelung bei der Strafzumessung für die Nachtat nicht strafschärfend berücksichtigt (vgl. LK/Gribbohm, § 46/75 ff.), sondern im Gegenteil eher strafmildernd herangezogen (vgl. Fn 305 in Kap. 1). Allerdings kann das verdeckungsmotivierte Folgeverhalten bei der Ersttat-Sanktion strafschärfend zu Buche schlagen (dazu sogleich).

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

3. Nemo-tenetur-Eingriff durch Sanktionsakte a) Strafschärfung wegen Nachtatverhaltens Im Strafzumessungsbereich treten echte Eingriffe in das nemo-teneturVerhalten nur deshalb auf, weil die Rechtspraxis die Sanktionsverhängung gezielt variiert. Nach § 46 II StGB können postdeliktische Geheimhaltungsakte in eine erhöhte Vortatsanktion münden. Trotz aller Zurückhaltung gegenüber der strafschärfenden Würdigung von Verteidigungsverhalten behält sich die Rechtsprechung vor, zumindest aus exzeptionellen Verheimlichungsversuchen auf ein gebührend anzuhebendes Strafmaß zu schließen71. Bei Vorliegen diffiziler und kasuistischer Voraussetzungen wollen die Gerichte in die Strafe einberechnen, dass der Beschuldigte leugnet oder lügt72. Dies sei gleichermaßen angezeigt, wenn die nemo-tenetur-Träger bei der Vortatverdeckung offensiv auf rechtliche Positionen dritter Personen übergreifen und/oder die Beweislage in qualifizierter Weise trüben73. Die Fallreihe ließe sich verlängern74.

71 In der jüngeren Judikatur des BGH werden Entscheidungen, die eine fallkonkrete Strafschärfung realisieren, „immer mehr zu einem Tabu“ (SK-StGB/Horn, § 46/133; zurückhaltender MüKoStGB/Franke, § 46/48). Allerdings erhält man die Strafschärfungsdrohung dennoch aufrecht. Die Judikate verfahren nämlich durchgehend nach dem Muster: „Eine Strafschärfung ist ausgeschlossen, es sei denn (…..); diese Ausnahmelage liege aktuell aber nicht vor.“ (vgl. dazu bspw. die anschließenden Quellen). Torka bezeichnet diesen argumentativen Vorbehalt als „salvatorische Formel“ (2000, 102 f.). 72 Dabei spielt es keine Rolle, ob die unwahrhaftige Einlassung für das Verdecken des Tatwissens unabdingbar war oder nicht. Zur Indizkonstruktion und den Strafschärfungsfällen oben II.4.b)aa) in Kap. 1. 73 Auch hier sind geheimhaltungsnotwendige Handlungsweisen eingeschlossen, häufig etwa bei der Benennung eines falschaussagebereiten Zeugen (oder bei dessen Überredung). Dennoch könne sich darin eine rechtsfeindliche und uneinsichtige Haltung des Angeklagten ausdrücken (vgl. BGH StV 1995, 297; BGHR StGB § 46 II Nachtatverhalten 20; BGHR StGB § 46 II Verteidigungsverhalten 12; BGH v. 24.3.1995, 4 StR 113/95; BGH v. 10.2.1998, 4 StR 66/98). Das ist, wie z.B. auch die schwere Zeugenbeleidigung, einer jener Fälle, in denen die strafschärfungsbegründende Handlung bereits selbstständig strafbar ist (ohne dass die Kumulation beider Reaktionen eine Doppelbestrafung darstelle; vgl. Bruns, NStZ 1981, 81, 83; Torka 2000, 266). Allerdings sind die jeweiligen Voraussetzungen keineswegs synchronisiert, da die bloße Duldung der Falschaussage zwar für die Unterlassensbeihilfe genügt (oben II.2.b)), aber nicht ohne weiteres für die Strafschärfung (BGH a.a.O.; Schäfer 2001, Rn 380) oder die Versagung der Bewährungsaussetzung (BGH MDR/H 1987, 799). 74 Eine Strafschärfung ist möglich, wenn das Unrecht im Prozess durch Verschweigen des Beuteverbleibs und Verweigern der Wiedergutmachung perpetuiert wird, ohne dass dergleichen für die Verteidigung erforderlich ist (Fn 59 in Kap. 1). Allerdings betrifft das nur selten geheimhaltungsnotwendige Verhaltensweisen. Ebenso selten wird nemo tenetur durch die Strafschwerung verkürzt, die wegen der Schadensaufrechterhaltung sogar noch in der Strafvollstreckung realisiert werden kann (Geiler/Walter, StV 1989, 212, 213: „im Vollzug fortwährender Geständniszwang“): § 57 V StGB macht die Strafrestaussetzung bei anhaltendem Beuteverstecken unwahrscheinlich

9. Kap.: Strafrechtliche Einwirkung auf nemo tenetur

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In diesen Sachlagen steht der Angeklagte „vor einer paradoxen Situation, weil er mit einer Diskrepanz zwischen dem, was das Recht ‚sagt‘, und dem, was es ‚tut‘, konfrontiert ist“75. Die verschärfte Sanktionsverhängung verkürzt zunächst einmal die Art 2 II 1, 14 und 2 I GG und ist damit an sich gegenüber nemo tenetur indifferent (soeben 3.). Zugleich erweckt sie unversehens ein Regelwerk zulässiger Verteidigung zum Leben, indem sie die zum Anlass genommenen Geheimhaltungsformen (seien sie legal oder eigens verboten) dauerhaft mit einem Zusatznachteil belegt, der sich nur durch Verzicht auf den fraglichen Verheimlichungsakt vermeiden lässt. Über solche aktionssteuernden Effekte generiert die Summe jener (realen/antizipierbaren) Strafbemessungen einige ungeschriebene (Quasi-)Verhaltensnormen, von denen die aktive Wissensabschottung eigenständig beschränkt76 und der Beschuldigte vereinzelt gar zur Selbstenthüllung angehalten wird77. Dass die Strafschwerungsdrohung allein auf die Vortat reagiert, wie die dogmatische Indizkonstruktion vorgibt78, stimmt also nur auf der Problemoberfläche79 – ohne mit den materiellen Wirkungen, die (vgl. auch OLG Hamburg, NStZ 1988, 274, das hierdurch sogar schon eine günstige Sozialprognose gemäß § 57 I StGB für widerlegt hält). Im Hintergrund steht dabei die Überlegung, dass man dem Betroffenen zwar nicht anlasten könne, dass er die Tat auch noch nach rechtskräftigem Schuldspruch leugnet (vgl. BGH StV 2002, 599; Bock/Schneider, NStZ 2003, 337, 340), doch schade die Wissenspreisgabe jetzt nicht mehr der Verteidigung, sodass sie dem Verurteilten im Opferinteresse zuzumuten sei (vgl. OLG München, JR 1989, 294; Terhorst, JR 1989, 295 f.). Für nemo tenetur ist § 57 StGB indes kaum relevant, weil der hiervon ausgehende Enthüllungsdruck die Verurteilung nicht mehr befördern kann. Zu einem echten Eingriff in die Selbstbelastungsfreiheit kommt es nur, wenn diese Rechtslage dem Angeklagten bereits im Hauptverfahren vor Augen geführt wird oder wenn er sie aus anderen Gründen antizipiert. 75

Somek/Forgó 1996, 261.

76

I.E. ebenso Frisch (ZStW 99 (1987), 751, 782): „Rechtspflegeschutztatbestände minderer Form“. Der Unterschied zu den qualifiziert bestraften Verdeckungsdelikten (soeben 3.), die keine eigenständige Verhaltensnormierung entwickeln, liegt darin, dass dort der Sanktionszuschlag ein zusätzliches sekundäres Mittel zur Stabilisierung einer bereits existierenden Verhaltensnorm darstellt (der Verdeckungsmord ist bereits von § 212 StGB untersagt), während bei der strafschärfenden Berücksichtigung des Nachtatverhaltens entweder gar keine explizite Primärnorm existiert (diese also allein von der Strafzuschlagsandrohung hervorgebracht wird) oder der Strafzuschlag als eigene Norm neben eine bestehende strafbewehrte Verhaltensnorm tritt. 77 Der Sanktionszuschlag beeinträchtigt also v.a. Art 103 I, 5 I GG und gelegentlich auch die persönlichkeitsrechtlichen Schweigegrundrechte. Dass die strafschärfende Berücksichtigung des qualifizierten Schweigens ein Schweigeverbot enthält, nimmt i.Ü. auch die h.M. unausgesprochen an, denn wie sonst könnte sie eine solche Verwertung beim „normalen“ Schweigen als mittelbaren Aussagezwang (vgl. nur Verrel 2001, 46, 48 sowie oben II.4.b)aa) in Kap. 1) verbieten? Bei Strafschärfungen wegen Leugnens, qualifizierter Spurenbeseitigung usw. ist für die h.M. statt des nemo-tenetur-Satzes, der allein Passivrechte verbürge, indessen nur die vage bleibende Verteidigungsfreiheit betroffen (zusammenfassend Torka 2000, 99 ff., 246 ff.). 78 79

Oben II.4.b)aa) in Kap. 1.

Indem das fragliche Nachtatverhalten als konditionaler Mechanismus wirkt und den Strafzuschlag auslöst, wird „der retrospektive Indiziengehalt eines Nachtatverhaltens überlagert (...) durch dessen prospektiv ausgerichteten Motivationsgehalt“ (Torka 2000, 42).

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

unter Grundrechtsägide konstatiert und beachtet werden müssen, in Einklang zu stehen. Eine normtextartige Gestalt hat dieser nemo-tenetur-Eingriff nur durch den Strafzuschlag angenommen, der in einer Kette von Urteilen zur Sprache kommt. Diese Judikatur verkörpert gleichsam eine Sanktionsnorm, von der in rechtsähnlicher Form die Folge festgeschrieben wird, mit der die Praxis reagiert, wenn der Beschuldigte gewisse Erwartungen an sein prozessuales Benehmen missachtet. Diese Erwartungen (Quasi-Verhaltensnormen) bleiben indes unausgesprochen. „Regelungstechnisch“ werden sie, wie bei den Strafnormen des kodifizierten Rechts (oben III.2.a) in Kap. 4), implizit von der Sanktionsnorm mitformuliert80. So kann man den Eingriffscharakter der Strafschärfungs-Judikatur auch nicht dadurch in Zweifel ziehen, dass der Sanktionszuschlag durch „das Gelingen des Tatnachweises bedingt“ sei und sich eigentlich nur beim Schuldigen realisiere81. Der nemo-tenetur-verkürzenden QuasiVerhaltensnorm unterliegt vielmehr auch der Freigesprochene, denn solange seine Lossprechung im Prozess nicht abzusehen ist, empfängt er von der drohenden Strafschärfung die gleichen verhaltenslenkenden Signale wie der später Verurteilte.

b) Eingriff durch materiell-strafrechtliche Angebote? aa) Das dogmatische Problem Undeutlich ist der Eingriffscharakter, wenn der Staat mit Vorteilen operiert, die dem Grundrechtsinhaber bei Inanspruchnahme seiner Selbstbezichtigungsfreiheiten verloren gehen. Formal unterbreitet er dem nemo-tenetur-Träger in diesen Konstellationen ein Angebot, etwa auf einen Sanktionsabschlag, der unter der Bedingung einer Selbstenthüllung steht: – So setzt, vergleichbar mit den Verfahrenseinstellungen gemäß §§ 45 III, 47 I Nr. 3 JGG82, der Strafbonus, den das Gericht in einer Absprache in Aussicht stellt, meist ein zu offenbarendes Schuldbekenntnis voraus83; 80 Dass die nemo-tenetur-verkürzende Befolgung dieser Quasi-Verhaltensnorm ausschließlich auf der kognitiven Vorwegnahme eines Nachteils (nämlich auf der absehbaren Anwendung der Strafnorm) beruht und dass dieser Nachteil bei Gütern außerhalb von nemo tenetur eintreten wird (nämlich in Form geschärfter Strafeingriffe), entspricht der motivatorischen Funktionsweise (fast) jeder sanktionsbewehrten Verhaltensnorm. Es ist kein Grund, diese Verhaltenslenkung bei den mittelbaren Eingriffen einzuordnen (vgl. Stern/Sachs 1994, 112). 81

Aus diesem Grund soll nach Verrel (2001, 46) ein „mittelbarer“ Zwang vorliegen.

82

Dagegen setzt § 153a StPO eine Zustimmung des Beschuldigten und nicht dessen Geständnis voraus (vgl. BVerfG MDR 1991, 891, 892). Er kann die Tat weiter bestreiten und sein Wissen kontrollieren, sodass nemo tenetur nicht tangiert ist. 83 Freilich ist nicht geklärt, wie detailreich und umfassend die Wissenspreisgabe sein muss (vgl. einerseits BGHSt 43, 195, 204 und andererseits BGH NJW 1999, 370; dazu Weigend, NStZ 1999, 57, 61 f.).

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– überhaupt müssen entlastende oder strafmildernde Umstände, die ihrerseits auf die fragliche oder eine andere Straftat hinweisen können, vom Beschuldigten mitgeteilt werden, sofern sie den Amtsermittlungen sonst verborgen blieben und nicht zu seinen Gunsten berücksichtigt würden84. – und schließlich sind solche Wirkungen auch den Verheißungen von Rücktritt und Tätiger Reue nicht fremd, weil der Straftäter ihren Anforderungen mitunter nur durch die Preisgabe des Wissens über eine andere Straftat entsprechen kann85. In all diesen Fällen sieht man sich vor die Frage gestellt, ob der geständnisbedingten Offerte ein eingriffsartiger Einlassungsdruck innewohnt86. Zumindest für das Angebot der strafmildernden Geständnisverwertung neigt eine breite Autorenfront dazu, einen Zwangscharakter zu bejahen und mit einem Eingriff in eins zu setzen. Wie selbstverständlich geht man davon aus, dass „durch diese Praxis mittelbarer Druck ausgeübt ... (und eine) Prozessförderungspflicht des

84 Zu den reduzierten Möglichkeiten, mit Schweigen sozial wirksam zu werden oder die eigene Wirksamkeit zu kontrollieren, vgl. Fn 104 in Kap. 5. Wer im Prozess vorteilhafte Umstände verschweigt, kann jene Interpretation seines Verhaltens nicht verhindern, nach der er gerade deshalb „keine entlastende Alternative benannt hat, weil es tatsächlich auch keine gibt“ (Verrel 2001, 37). Freund (1987, 132 f.) wendet allerdings gegen die h.M. ein, dass die angekündigte strafrichterliche Entscheidung, die ohne Rücksicht auf die entlastende Alternative erfolgt, gelegentlich unzumutbar zur Selbstbelastung nötige (v.a. wenn der Vortrag subjektiver Entlastungsmomente das bisher Erfolg versprechende Leugnen der objektiven Tatbestandsverwirklichung unterlaufen würde; kritisch auch Salditt 2002, 69). 85 Da im Fall von § 24 StGB die versuchte Tat nicht strafbar ist, sind die im Rücktrittsverhalten mitgeteilten Informationen, die sich auf die Rücktrittstat beziehen, nicht selbstbelastend. Selbstbezichtigungsrisiken entstehen nur, wenn – wie typischerweise bei Verdeckungsstraftaten – ein Rücktrittsakt unmöglich ist, ohne damit Daten zu etwaigen Vortaten (oder abgeschlossenen realkonkurrierenden Straftaten) mitzuteilen. Ähnliche Verwicklungen ergeben sich bei § 371 AO, wenn die Selbstanzeige einer Steuerstraftat zwangsläufig Angaben zu allgemeinen Vor- und Paralleldelikten enthält (die von der steuerdeliktischen Strafaufhebung nicht erfasst sind). Diese Informationen können nämlich allgemeinstrafrechtlich unbesorgt verwertet werden, da sie nicht unter § 393 II AO fallen (so jedenfalls BGHSt 49, 136, 145 ff.; vgl. auch Röckl 2002, 99). Dagegen kann das Verhalten, zu dem die Bestimmungen der tätigen Reue motivieren sollen, nicht nur für vorvergangene Taten, sondern sogar auch für den fraglichen („bereuten“) Vorfall von selbstbezichtigender Art sein, da solche Reueakte nur zur Strafmilderung und nicht zur Straffreiheit führen. Am Bsp. von § 142 IV StGB hält es Mitsch denn auch für fraglich, dass dies mit nemo tenetur zu vereinbaren ist (ZStW 111 (1999), 65, 122). 86 Gegen den ersten Anschein ist das in § 136a I 3 StPO positivierte Verbot, einen gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteil zu versprechen, dafür nicht nutzbar zu machen. Geregelt ist dort nur ein Sonderfall, nämlich das Antragen ungesetzlicher Bevorteilung. Für die Bewertung des Anbietens (d.h. des Anbietensaktes als solchen, ganz unabhängig von der Art des Angebotenen) ist das unergiebig. Sowieso muss man in Rechnung stellen, dass § 136a I, II StPO als einfachrechtliche Norm für die verfassungsrechtlich zu bestimmende Eingriffswertigkeit staatlicher Maßnahmen nur nicht abschließende Bspe. formuliert.

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Beschuldigten eingeführt“ werde87. Diese Auffassung findet nicht nur in der Strafrechtsjudikatur eine Stütze (speziell bei der „Drohung mit einem Unterlassen“88), sondern auch in der Grundrechtsdogmatik. Wendet sich der Staat gegen ein schutzbereichswahrnehmendes Verhalten, indem er einen Vorteil an ein alternatives Handeln knüpft, wird das von ihr wegen des zwangsgleichen Lenkungseffektes als Grundrechtseingriff behandelt89. Andere Stimmen mahnen indes zur Vorsicht und ziehen eine formale Trennschicht zwischen Angebot und Zwang. Zwar ähnle das bedingte Angebot der kompulsiven Drohung mit einem Unterlassen, denn der Sprecher versuche in beiden Fällen sein Gegenüber durch ein konditioniertes Passiv-Bleiben zu beeinflussen90, doch markieren die Folgen, die für das Ausbleiben der geforderten Reaktion angekündigt sind, eine Differenz: Verschlechtern sie gegenüber der Vergleichslinie, also gegenüber dem gedachten Normal-Hergang, den Lauf der Dinge, handele es sich um Zwang, andernfalls um ein strukturdifferentes Angebot. Da sich der hypothetische Verlauf, den die Vergleichslinie ohne die fragliche Maßnahme nimmt, nur selten prognostizieren lässt, wird dafür die normativ (legitim) erwartbare Entwicklung zum Maßstab genommen. So gesehen unterliegt man einer kommunikativen Zwangseinwirkung, wenn für den Fall, dass man das angesonnene Verhalten unterlässt, ein Nachteil oder ein handlungspflichtwidriges Unterlassen in Aussicht steht91. Wird dagegen ein überobligato87 Bosch 1998, 199; vgl. auch Grünwald, StV 1987, 453, 454 und Weßlau 2002, 79 („Geständnisdruck“); Weigend 1989, 338 („Widerspruch“ zu nemo tenetur); Jerouschek, ZStW 102 (1990), 793, 806 („mittelbarer Geständniszwang“); Weßlau, KritJ 1993, 461, 463 („Beeinträchtigung“ des Schweigerechts); Kirsch 1995, 240 („Verstoß“ gegen Selbstbelastungsfreiheit); Rzepka 2000, 394 („Zwang“); Verrel 2001, 54 („mittelbarer Geständnisdruck“). Die gleiche Position teilen jene, die einen nemo-tenetur-Eingriff darin sehen, dass ein Vorteil in einem zivil- oder öffentlichrechtlichen Zusammenhang von einer eventuell selbstbezichtigenden (nicht selbstständig erzwingbaren) Mitwirkung des Wissensträgers abhängig gemacht wird (stellvertretend BVerfGE 96, 171, 181; Wolff 1997, 131 f.). 88 Enthält das Angebot, ein drohendes Übel abzuwenden, zugleich die Ankündigung, davon abzulassen, falls der Adressat sich nicht in einer bestimmten Weise verhalte, sei dies dann eine nötigende Drohung, wenn die so heraufbeschworene Entscheidungslage unzumutbar ist (BGHSt 31, 195; Küper 2005, 107 ff.). 89 Die Konstellation läuft unter: „Eingriff durch Lenkungswirkung“, bei dem der verhaltenssteuernde Effekt auf der motivierenden (korrumpierenden) Kraft des überobligatorischen (aber verlockenden, unentbehrlichen usw.) Vorteils beruht (dazu Lübbe-Wolff 1988, 260 ff.; Huber 1991, 228; Roth 1994, 188 ff.; Weber-Dürler, VVDStRL 57 (1998), 57, 69 f.). Ein Beispiel aus dem Subventionsrecht bildet die „Empfangsauflage“. Diese Sachlagen sind nicht zu verwechseln mit dem Eingriffscharakter, den die rechtliche oder faktische Bevorteilung bei anderen Teilnehmern des fraglichen gesellschaftlichen Teilsystems hervorrufen kann (durch Minderung ihrer relativen Partizipationschancen (zu diesem Eingriff durch Interventionswirkung etwa Lübbe-Wolff a.a.O., 281 ff.; Huber a.a.O., 358 ff.; Roth 1994, 329 ff.). 90

Beide folgen dem Schema: Wenn Du X (nicht) tust, tue ich Y nicht (vgl. Gutmann 2001, 87).

91

Dazu eingehend Gutmann a.a.O., 92 ff., 101 ff., 110 ff.

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rischer Vorteil (sei es ein zusätzliches Gut oder eine freiwillige Nachteilsabwendung) avisiert und unter eine Bedingung gestellt, besteht keine Zwangs-, sondern allenfalls eine schwierige Entscheidungslage. Der Empfänger einer solchen Ankündigung gewinnt, gemessen am normativ bestimmten Normalverlauf, eine ursprünglich nicht vorhandene Handlungsoption (Angebotsannahme), ohne bei der Angebotsablehnung die bisherigen Möglichkeiten einzubüßen92.

bb) Die unproblematischen Angebotsfälle Mithilfe der vorstehenden Unterscheidung kann man diejenigen Offerten, die keinen Grundrechtseingriff darstellen, präzise bestimmen. Danach werden die geschützten Aktionsweisen jedenfalls nicht dadurch verkürzt, dass der Staat den Verzicht auf das an sich gewährleistete Verhalten nahe legt, indem er dafür eine Leistung anbietet, die der Grundrechtsträger nicht konkret zu beanspruchen vermag93. Der Bürger braucht sich dann auf diesen Vorschlag nicht einzulassen. Da er aber in das Angebot obendrein einschlagen kann, werden seine Handlungsspielräume sogar erweitert – wenn auch um eine Option, für die er eine grundrechtliche Position preisgeben muss94. Zu diesen Fällen, in denen angesichts der unbeschädigten grundrechtlichen Freiheit kein Eingriff vorliegt, zählt das staatliche Angebot, den Rücktritt oder eine Tätige Reue zu honorieren. Ganz sicher muten die beiden Rechtsinstitute dem Täter, falls er sich ihre Strafvorteile nur durch die Preisgabe seines selbstbezogenen Deliktswissens verschaffen kann, eine schwere Auswahl zu. Die Strafbefreiung/-milderung wird vom Staat jedoch überobligatorisch offeriert. Gäbe es Rücktritt und Tätige Reue nicht, hätte der nemo-tenetur-Träger, nachdem er das (Versuchs-)Unrecht der Folgetat erst einmal verwirklicht hat, lediglich in Aussicht, entweder auf das Misslingen des Tatnachweises zu hoffen (und ihn durch Folgeverhalten womöglich illegal zu verhindern) oder regulär bestraft zu werden. Keiner dieser Wege wird ihm durch das Rücktritts- und ReueAngebot verstellt – gleich, ob er darauf eingeht oder nicht. Vielmehr verdankt

92

Auch dazu Gutmann (a.a.O., 157 ff.). Im nemo-tenetur-Zusammenhang weisen solche Sachlagen eine besondere Dramatik auf, wenn das Angebotene von existenzieller Wichtigkeit ist (z.B. Gewährung des Asylrechts) und die Offerte daher faktisch nicht ausgeschlagen werden kann. Hier wird der Adressat geneigt sein, auch sehr kostenintensive Angebotsbedingungen zu akzeptieren (z.B. selbstbelastende Angaben im Asylverfahren). Der formalen Struktur nach ist diese „WucherOfferte“ aber kein Zwang, solange der avisierte Vorteil nicht von Rechts wegen auch ohne die Angebotsbedingung gewährt werden muss (Gutmann 2001, 167 f., 187). 93 94

Vgl. Gutmann 2001, 203; i.E. ebenso Eckhoff 1992, 281 f.

Auch die Möglichkeit zum Grundrechtsverzicht bzw. zur Eingriffseinwilligung erweitert deshalb die Freiheit (dazu ebenfalls Malacrida 1992, 105; Sternberg-Lieben 1997, 20 ff. m.w.N.).

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er ihm die zusätzliche Gelegenheit, die Vortat durch den Abbruch der Folgetat zu verraten und so eine Lösung mit mittlerem Sanktions-Saldo zu suchen. Ebenfalls ohne Eingriffswert ist die richterliche Einladung, bislang verborgene Entlastungsumstände in den Schuld- und Strafausspruch einfließen zu lassen, sofern sie der Beschuldigte – nötigenfalls um den Preis einer anderweitigen Selbstbelastung – offen legt. Auch diese Offerte ebnet dem Grundrechtsträger einen neuen Bewegungsraum, nämlich den gleichzeitig ent- wie belastenden Verteidigungsvortrag. Darin, dass die mildernden Umstände beim fortwährenden Schweigen ohne Beachtung bleiben (müssen), liegt keine grundrechtseingreifende Unterlassungsdrohung95. Das Außerachtlassen geheim gehaltener Daten weicht nicht von der Vergleichslinie ab, da diese entlang der subjektiv bestmöglichen Aufklärung statt am objektiven Optimum verläuft (also die unmögliche Verwertung unzugänglicher Informationen nicht einberechnet)96. Ist aber die Nichtberücksichtigung unbekannten Entlastungsmaterials nicht zu beanstanden, besiegelt der davon ausgehende Anstoß zum Entlastungsvorbringen lediglich eine unvermeidbare Darlegungslast; die Rede von einem nemotenetur-Eingriff ist hier fehl am Platze. Anders verhält es sich ausschließlich dort, wo derjenige, der das Angebot auf Berücksichtigung eines selbstbelastenden Entlastungsvortrags ausschlägt, zusätzliche Nachteile befürchten muss. Nur solche negativen Normalfallabweichungen bringen einen echten Aussagedruck, genauer: eine außerordentliche Darlegungslast hervor. Einen Paradefall dafür, dass dem Beschuldigten sein Schweigen zu zusätzlichem Schaden gereicht, entstünde etwa, wenn das Untätigbleiben als Schuldanzeichen herangezogen würde97. Vergleichbare Wirkungen werden allerdings auch strafrechtlichen Bestimmungen wie dem § 283b StGB zugeschrieben. An sich fällt an dieser Blankettnorm, die zunächst einmal nur eine handelsrechtlich reguläre Buchführung

95 I.E. ebenso Meyer-Goßner, Einl./80; Nickl 1978, 71 ff.; Dencker, ZStW 102 (1990), 51, 73 (vgl. auch Quentmeier, JA 1996, 215, 220 f.; Arzt 1997, 15 f.; Verrel 2001, 35 ff., 57 f.; Bock 2001, 91 und oben Fn 145 in Kap. 7). Für den Beschuldigten sei eine dahingehende Mitwirkung zumutbar (eingehend, wenn auch einschränkend Freund 1987, 127 ff.). Auch zu Schlüssen in dubio pro reo sei das Gericht nur verpflichtet, wenn es dafür eine tatsächliche Grundlage gibt; entlastende und zweifelsbegründende Umstände müssen nicht zu Gunsten des Schweigenden unterstellt werden (BGH NJW 1995, 2300). 96 Diese Angebote sind für den Beschuldigten deshalb zweischneidig, weil die dadurch eröffnete Entscheidungsmöglichkeit auf unsicherer Prognosegrundlage ausgeübt werden muss und das Kalkül daher fehlschlagen kann. Den Beschuldigten allein wegen dieser „Qual der Wahl“ vor Angeboten zu schützen und ihm so die Angebotswahrnehmung zu verschließen, wäre freiheitsrechtlich indes problematisch (dazu generell Gutmann 2001, 165 ff., 278, 292 ff., 305 und am Bsp. der Prozessaussage Weßlau 2002, 233; vgl. auch Sternberg-Lieben 1997, 24, 277). Damit erklärt sich, dass der Beschuldigte auch die verfahrensausdehnenden Folgen seines Verteidigungsverhaltens (bis hin zur Verlängerung der Untersuchungshaft) tragen muss (dazu Arzt, ZStR 110, 1992, 233, 243 sowie Esser 2002, 304 anhand der dahingehenden Rspr. des EGMR). 97

Diese Einschätzung steht in vollständigem Einklang mit der h.M. (oben II.4.b)cc) in Kap. 1).

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verlangt, wenig auf98. Ihre besondere Problematik rührt aber daher, dass sie statt einer Verhaltensfolge (einer Schadensverursachung) schon ein schlichtes Unterlassen verbietet. Die geschäftsmännische Befolgung von § 283b I Nr. 1 StGB lässt sich daher nicht am Ausbleiben eines deliktischen Resultates bemessen, sondern nur am Vorhandensein der Handelsbücher ersehen. Das kann sich, sobald jemand in Verdacht gerät, keine Bilanzen erstellt zu haben, durchaus als verhängnisvoll erweisen. Wenn dem Gericht dann keine Bücher vorliegen, hat es nämlich den Anschein, der Verdächtige habe auch keine geführt99. Für ihn ist es in der Tat angeraten, vorhandene Dokumente vorzulegen – selbst bei anderweitig belastendem Inhalt. Das alles beruht freilich nur darauf, dass das Gericht das fragliche Handelsbuch nicht berücksichtigen kann, solange es inexistent erscheint100. § 283b I Nr. 1 StGB begründet also lediglich eine Variante der normalen Darlegungslast, nicht etwa eine neue Qualität.

Auf eine wirkliche Eingriffswirkung versteht sich indessen eine gesetzliche Beweislastumkehr. Wenn dem Angeklagten in zweifelhaften Beweislagen die Prozessniederlage drohte, falls er weiter schweigen wollte, würde er gedrängt, seine Sache darzustellen und sogar zu belegen, sei dies für ihn auch sonst verfänglich101. Obwohl die Rechtsordnung bislang sorgfältig darüber wacht, dass derlei gar nicht erst vorkommt, hat sich diese Struktur unversehens durch die materiell-strafrechtliche Vorschrift des § 73d I StGB realisiert. Hiernach darf der Verfall von Gegenständen bereits angeordnet werden, wenn der Ermittlungsstand die „Annahme“ rechtfertigt, dass diese Vermögenswerte aus rechtswidrigen Taten (oder für deren Begehung) erlangt wurden. Während jede ande-

98 Freilich kann bereits in dieser Dokumentationspflicht, wo sie das Verschweigen deliktswertiger Geschäftspraktiken verbietet, ein nemo-tenetur-Eingriff der oben bei II.1.a) erfassten Variante liegen (i.E. auch Arzt, JZ 2003, 456, 457; a.A. mit unklaren Gründen Otto, wistra 1983, 233, 234). 99 Kritisch daher Volk (1989, 231 f.): Angesichts der Ungreifbarkeit „erfolglosen Unterlassens“ könne es dem Staat nicht gelingen, „den Nachweis zu erbringen, dass jemand Handelsbücher nicht geführt hat“. Komme ein dahingehender Verdacht auf, liege es nahe, „vom Beschuldigten etwas zu verlangen, was ihm nicht abverlangt werden darf, nämlich zu gestehen oder sich zu entlasten“. 100 Bei den Normen des Verwaltungsrechts, die zur Präsentation (verfänglicher) Aufzeichnungen verpflichten (oben IV.2.c) in Kap. 1), droht widrigenfalls eine Sanktion. Deshalb liegt in ihnen ein „Verstoß“ gegen nemo tenetur (so bspw. Schneider, NStZ 1993, 16, 23; Wolff 1997, 228 m.w.N.) bzw. genauer: ein Eingriff. Die im Text skizzierte Konstellation gestaltet sich dagegen anders. Bei ihr besteht das Angebot, das präsentierte (verfängliche) Dokument als Unschuldsbeweis zu berücksichtigen. Die Nichtberücksichtigung beim Verschweigen der Bücher ist kein eingriffsbegründender Nachteil, weil sie gar nicht zu verhindern ist und damit auf der Normallinie liegt. § 283b StGB führt nicht zu einer Normallinienabweichung, sondern verschiebt lediglich deren Verlauf (geringfügig). 101 Aus der objektiven Beweislast entstünde eine Beweisführungslast. Die beim BeweisfälligBleiben und Schweigen (= Ablehnung des richterlichen Angebots, den Entlastungsbeweis zu beachten) eintretende Vergleichslinienabweichung läge hier darin, dass auch das gerichtsbekannte Entlastungsmaterial, das den richterliche Zweifel begründet, ohne Einfluss auf die Entscheidung bliebe, während es sich regulärerweise in dubio pro reo für den Angeklagten auswirkt. I.E. ebenso für einen nemo-tenetur-Eingriff Stuckenberg 1998, 553; Drope 2002, 329. Von BVerfGE 9, 167; Lewisch 1993, 285 ff. wird diese Problemschicht der Beweislastumkehr dagegen übersehen.

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re vergleichbare strafrechtliche Entscheidung bei einem Gewissheitsgrad, der die volle richterliche Überzeugung nicht erreicht, zu Gunsten des Beschuldigten ausgehen muss („in dubio pro reo“), kann der strafrechtliche Verfall also schon dann erfolgen, wenn sich das Gericht der suspekten Sachherkunft nur in einem geringeren Maße sicher ist102. Die Folgen sind nicht zu übersehen. Erreicht der Richter das Stadium einer hohen, aber unvollständigen Gewissheit, kann der Beschuldigte die anstehenden wirtschaftlichen Nachteile nur vermeiden, indem er sein Sacherwerbswissen (auch bei deliktischer Sacherlangung) preisgibt – wohingegen er bei einem normalen Beweismaß noch folgenlos stillschweigen könnte. Augenscheinlich generiert hier das Strafgesetz eine kleine Beweislastumkehr103. Von der h.M. wird dies freilich weitgehend entschärft, da sie die Überzeugungsanforderungen nach § 73d StGB verfassungskonform auslegt und den normalen Standards annähert104. Hierdurch sinkt das Mehr gegenüber dem normalen Entlastungsdruck auf ein vernachlässigenswertes Maß.

cc) Die eingriffswertigen Angebotsfälle In den vorgenannten Konstellationen wurde durch die analytische Trennung von Zwang und Angebot zugleich die Differenz zwischen Verkürzung und Erweiterung von Handlungsfreiheiten abgebildet. Deshalb konnte mit ihr auch der grundrechtliche Eingriffsbegriff korrespondieren. Gelegentlich kann es für die Grundrechtsdogmatik aber gute Gründe geben, von der strikten Schärfe dieser formalen Abgrenzung abzurücken. Anders als dies zuweilen angenommen

102 So spricht der 1. Strafsenat des BGH davon, dass für die Anordnung des Verfalls statt der uneingeschränkten tatrichterlichen Überzeugung bereits eine „ganz hohe Wahrscheinlichkeit von der deliktischen Herkunft des Vermögensgegenstandes genügt“ (BGH NStZ-RR 1996, 116; vgl. auch BGH 1 StR 482/95 v. 29.8.1995). Dies deckt sich mit der gesetzgeberischen Vorstellung (vgl. BT-Drucks 11/6623, 5 ff.). 103

Weil durch die Absenkung des erforderlichen Beweismaßes der in-dubio-Satz im Zwischenbereich bis zur uneingeschränkten richterlichen Überzeugung nicht mehr zum Tragen kommt, entsteht in diesem Sektor zweifelhafter Beweislagen eine objektive Beweislast des Beschuldigten, die sich subjektiv als Beweisführungsdruck auswirkt (ähnlich wie hier Bock 2001, 152 f., 184 f., 260 ff.; ohne Vertiefung wird darin ein Selbstbelastungszwang ausgemacht von Weßlau, StV 1991, 226, 232; Eser 1993, 846; Kirsch 1995, 237; a.A. offenbar BVerfG NJW 2004, 2073, 2079; Geppert 2002, 61 Fn 90). 104 Danach muss der Richter uneingeschränkt überzeugt sein, dass die Gegenstände aus rechtswidrigen Taten erlangt wurden (ganz hohe Wahrscheinlichkeit), doch braucht er diese Taten nicht im Detail festzustellen (vgl. BVerfG NJW 2004, 2073, 2077; BGHSt 40, 371, 373; NStZ 1998, 362; StV 2003, 160; Tröndle/Fischer, § 73d/5 f.; Schäfer 2001, Rn 258). Es bleiben freilich in anderweitiger Hinsicht verfassungsrechtliche Bedenken (dazu MüKo-StGB/Joecks, § 73d/13 ff.).

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wird105, ist das gerade in den Fällen der Strafbonusofferte angezeigt106. Bedenkt man, dass sich die innerprozessuale Interaktionslogik in der Spannung zwischen positiven Geheimhaltungsrechten und einer lebensweltlichen Geständniskultur bewegt (oben I.3. im 5. Kap.), erkennt man hinter dem Strafmilderungsangebot nämlich ein Amalgam aus Schuldpräsumtionen, Geständniserzielungstechniken und geständnisorientierter Ausdeutung des Beschuldigtenverhaltens, das gleichzeitig angestoßen ist durch eine strukturelle Geheimhaltungsmacht des Verdächtigen. In dieser Gemengelage nähme sich die formale Bestimmung des Zwangs als ein ausgeklügelter Fremdkörper aus, der den realen Unschärfen in den Beeinflussungsformen nicht gerecht wird. Wegen der Strafrahmenweite und der faktischen Strafzumessungsdisparitäten lässt sich die Strafe, die bei streitiger Verteidigung von Rechts wegen zu verhängen wäre, nicht vorhersehen. Eine exakte normative Vergleichslinie besteht nicht. Der Beschuldigte kann sich nie sicher sein, wie ihn das gerichtliche Anerbieten eigentlich stellt. Dass ihm sein Richter wenigstens eine subjektiv wahrhaftige Prognose stellt, vermag er nicht zu überprüfen. Deswegen bleibt es für ihn im Dunkeln, ob ihn die Strafbonusofferte gegenüber der „wirklichen“ Normalstrafe (nicht nur gegenüber der ihm mitgeteilten Straferwartung) tatsächlich eine Milderung verheißt107, sodass er sich umgekehrt auch nicht gewiss sein kann, dass er für seine abschlägige Antwort keinen Zuschlag zur „eigentlichen“ Sanktion erhält108. Aus seiner Warte ist der Angebotscharakter der richterlichen Ankündigung strukturell nur hypothetisch (weshalb man bei ihr besser von einem „Geständnisvorschlag“ sprechen sollte). In einer solchen Lage versagt die analytische Differenz von Zwang und Offerte, weshalb für die Bewertung des Vorgangs der staatlich erzeugte psychische Konflikt in den Vordergrund rückt109. Die staatsseitige Intention, zum Verzicht auf die Schweigemöglichkeit

105 Einige Autoren verneinen einen nemo-tenetur-Eingriff wegen einer freiheitserweiternden Wirkung des Strafbonusangebots (für die Verfahrenseinstellung Verrel 2001, 64 und wohl auch Weßlau 2002, 237 ff.; für die Kronzeugenregelung Jeßberger 1999, 138 f.; für die Absprache Siolek 1993, 137). 106

Zum Folgenden vgl. Kölbel, NStZ 2003, 232, 235.

107

Dieser Vorteil könnte zudem gemindert sein, wenn bei einem etwaigen Schadensersatzverfahren das strafprozessuale Geständnis die zivile Haftung präjudiziert. Die Praxis schwankt zwischen einer formalen Übernahme des Geständnisses und einer bloßen Indizkraft (vgl. OLG Bamberg NJW-RR 2003, 1223). 108

Nach einigen empirischen Hinweisen hat der Angeklagte sogar Grund, gerade dies zu befürchten (vgl. neben Fn 85 in Kap. 5 eingehend Schünemann 1990, 36 ff.). 109 In diesem Sinne gewinnt die Rede von einer freiwilligkeitsaufhebenden „Sanktionsschere“ (Weigend JZ 1990, 774, 778 f.; ders., NStZ 1999, 57, 59; ders. 2000, 1041) ihre Berechtigung.

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zu drängen, gibt schließlich den Ausschlag, das Strafmilderungsansinnen als Eingriffsakt zu behandeln110. Auch der These111, dass der Angeklagte mit dem Staat gleichsam einen Pakt eingehe, was als Verzicht auf den grundrechtlichen Geheimhaltungsschutz die Eingriffswirkung ausschließe112, ist nicht beizutreten. Die ausgehandelte Wissenspreisgabe wird durch den gerichtlichen Geständnisvorschlag motiviert und damit staatlich veranlasst. In einem normativen Sinne darf der Verzichtsdisposition, sobald ihre staatliche Veranlassung erst einmal als Eingriff ausgemacht ist, nicht mehr diejenige Freiwilligkeit zugesprochen werden, die für eine wirksame Einwilligung erforderlich wäre. Alles andere liefe auf einen argumentativen Selbstwiderspruch zwischen Einwilligungs- und Eingriffsdogmatik hinaus113. Ein vereinbartes und damit eingriffswertig hervorgerufenes Eingestehen verkörpert deswegen keinen Grundrechtsverzicht (ebenso wenig wie das Geständnis, das der Grundrechtsträger auf die Ankündigung einer Schweigesanktion hin ablegt114). Nun ist kürzlich indes ein Sonderfall der geständnisbedingten Strafmilderungsankündigung ins Blickfeld geraten. Der Angeklagte wird hierbei aufgefordert, durch sein Bekenntnis gewisse Opferschädigungen (z.B. die soziale Stigmatisierung des Vergewaltigungsopfers) abzuwenden, die mit dem Prozess sonst einhergehen würden; widrigenfalls wären sie ihm als strafschärfende Tatspätfolgen aufzubürden115.

110

Dieser Befund zwingt keineswegs dazu, jedes Strafmilderungsangebot für unzulässig zu halten, weil es sich auf keine Eingriffsermächtigung berufen könne (so in Auseinandersetzung mit der hiesigen Position KMR/Eschelbach, Vor § 213/68d). Die formal erforderliche Befugnisgrundlage wird durch § 46 II StGB gestellt. 111 Sie wird von Siolek 1993, 138 vertreten; ähnlich Peres 1991, 121; Eser 1993, 48 ff.; Dahs/Langkeit, NStZ 1993, 213, 214; Jeßberger 1999, 135. 112 Zur Eingriffsausschlusswirkung des Grundrechtsverzichts vgl. BVerfGE 85, 386, 398; Bethge, VVDStRL 57 (1998), 7, 44. 113 Mit Ausnahme von Maßnahmen absoluten Zwangs belässt jeder Staatsakt beim Adressaten eine gewisse Freiwilligkeit, mit der er zwischen erwartetem und widersetzlichem Handeln wählt (oben Fn 177 in Kap. 5). Ginge die so ausgelöste Reaktion auch dann noch als freiwilliger Grundrechtsverzicht durch, wenn das staatsseitige Auslösen als Grundrechtseingriff markiert ist, würden die eingriffsdogmatischen Kriterien obsolet (vgl. Kölbel, NStZ 2003, 232, 235; ähnlich Amelung 1981, 83; ders. StV 1985, 257, 261). Dennoch erschöpft sich die Dogmatik des freiwilligen Grundrechtsverzichts nicht darin, Spiegelbild des Eingriffs zu sein. Eine eigene Relevanz hat sie etwa in den Fällen, bei denen einer staatlichen Maßnahme zugestimmt wird, ohne durch sie selbst, wohl aber durch frühere Vorgänge beeinflusst worden zu sein (z.B. Einwilligung durch Inhaftierten; vgl. auch Fn 53 in Kap. 7). 114 Ebenso für Unfreiwilligkeit des Grundrechtsverzichts, wenn der Staat andernfalls ein pflichtwidriges Unterlassen ankündigt (vgl. Amelung 1981, 86 f.; siehe auch Sturm 1974, 183 f.; Malacrida 1992, 33). 115 Für eine Zulässigkeit dieser Strafschärfung beim nicht geständigen Täter, dessen Verteidigungsrechte hierdurch überhaupt nicht berührt würden, sprechen sich BGH NJW 2001, 2983;

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Derartige Fälle lassen sich nicht über einen Leisten schlagen. So muss man dieser Strafzumessungspraxis die Qualität des nemo-tenetur-Eingriffs bestreiten, wenn die Opferfolgen mit hoher Sicherheit eintreten. Gemessen an der normativen Vergleichslinie, nämlich an der schärferen Strafe, wirkt dann die gerichtlich eröffnete Aussicht, bei einem Geständnis auf die (höhere) Regel-Sanktion zu verzichten, allein freiheitserweiternd116. Eine solche sichere Vergleichslinienerwartung existiert jedoch nur ausnahmsweise. Da die in Rede stehende, verfahrensverursachte sekundäre Viktimisierungsform zwar gehäuft auftritt, aber nicht als Automatismus117, wird die Strafschärfungserwartung für den geständnislosen Normalverlauf unsicher. Angesichts dieser ungewissen Vergleichslinie bietet die angetragene, nicht angehobene Strafe nur potenziell eine Freiheitserweiterung. Lebensweltlich ist der zwangsgleiche psychische Druck entscheidend, der Beschuldigte möge im Hinblick auf unsichere Opferfolgen und Strafzuschläge von seinem Tatbestreiten absehen118. Dies bildet einen legitimierungsbedürftigen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht.

III. Fortbildung der nemo-tenetur-Grundrechte durch Eingriffsverzicht Wenn das Strafrecht diverse Grundrechte ausgestaltet, geht es meist darum, dass mit ihm objektive Schutzpflichten umgesetzt werden119. Seinem grundBGHR StGB § 46 II Verteidigungsverhalten 15; Verrel 2001, 51; Schäfer 2001, Rn 381 aus. BGH StV 2002, 599, 600 beschränkt dies auf Ausnahmelagen. 116 Dieser Strafzuschlag ist keine selbstständige sanktionsartige Reaktion auf die Geständnisverweigerung. In den oben in 4.a) angesprochenen Fällen knüpft die Strafschärfung an Fakten an, die ausschließlich durch Nachtatverhalten verursacht werden (z.B. Zeugenmissachtung oder zusätzliche Beutesicherung). Hier dagegen wird das Sanktions-Mehr durch eine Eigenart der Vortat ausgelöst, weil das seinerzeitige Delikt die Ausgangsursache für den spezifischen Spätschaden setzte, der sich dann im streitigen Verfahren entfaltet. Unterstellt man die strafzumessungsrechtliche Relevanz solcher Folgen (trotz des in der Verfahrensdurchführung liegenden staatlichen Anteils an ihrer Verursachung), liegt die Vergleichslinie für die Geständnisentscheidung also beim Eintritt der sanktionsanhebenden Folgen und der – anders als in den obigen Fällen – höheren Strafe. Ihr gegenüber bietet das Gericht eine etwaige Absenkung an. 117 Dies ist ein klarer Befund der Opferforschung. Zur Wechselwirkung von Tatcharakteristika, Tatbedeutungszuschreibung durch das Opfer selbst, Umfeldreaktionen und kultureller Umwelt etwa Lachmann, MschrKrim 1988, 47, 59; vgl. auch die Befunde bei Orth 2001, 88 ff., 120 f. und zum Forschungsüberblick z.B. Kiefl/Lamnek 1986, 244 ff., 253 ff.; Schneider, MschrKrim 1998, 316, 329; Volbert 2002, 150 f., 156 ff.; Albrecht 2005, 143. 118 Der Angeklagte kann also damit rechnen, dass die fraglichen Opferfolgen nicht eintreten. In diesem Fall bestünde die Vergleichslinie in einer ungeschärften Strafe. Gemessen daran bietet das Gericht dann für das Geständnis das Normalmaß an Strafe und keine Besserstellung. Es stellt lediglich eine größere Sanktionshärte für das Bestreiten in den Raum. 119 Vgl. Dietlein 1992, 21 ff.; Unruh 1996, 26 ff. zu den Herleitungsmodellen der objektiven Schutzpflicht. Die h.M. (repräsentativ BVerfGE 92, 26, 46; Klein, NJW 1989, 1633, 1635 f.) verweist insofern auf objektivrechtliche Grundrechtsfunktionen, wobei ungeklärt ist, ob dahinter nun ein anfechtbares Wertordnungstheorem oder lediglich eine grundrechtstheoretische Neuinterpretation steht (dazu Dreier 1993, 12 ff.; instruktiv Holoubek 1997, 76 ff., 155 ff., 251 ff.). Vgl. auch

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rechtlichen Auftrag folgend versucht der Staat auf diese Art, die Rechte des einen vor den Beeinträchtigungen durch den anderen zu bewahren. Freilich darf er dessen Belange gegenüber dem strafenden Zugriff nicht übersehen, denn von Verfassungs wegen sind beide Funktionsrichtungen in eine Balance zu bringen120. Ein Schutzinteresse kann nur dann, wenn dies abwehrrechtlich (d.h. vor der Täter-, besser: Akteursfreiheit) zu legitimieren ist, in strafrechtliche Obhut genommen werden, doch ist der Grad seiner Schutzbedürftigkeit andererseits in die Prüfung der Eingriffsverhältnismäßigkeit einzustellen. Auch die eben aufgeführten nemo-tenetur-Eingriffe unterliegen dieser Anforderungslage. Sie sind gewissermaßen eingeklemmt zwischen zwei gegenläufigen verfassungsrechtlichen Erwartungen, nämlich der Sicherung ihres jeweiligen Schutzgutes und dem Respekt vor der Selbstbelastungsfreiheit. Allerdings darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen Eingriffsverboten und Eingriffsgeboten meist ein breiter Korridor an Ausgestaltungsmöglichkeiten verbleibt (unten Kap. 10). Wo also die Strafnorm nicht illegitim ist, aber auch nicht ergehen muss, beruht es auf der subkonstitutionellen Entscheidung des Gesetzgebers, wenn das fragliche Rechtsgut mit den Mitteln des Strafrechts vor den Geheimhaltungsaktivitäten des nemo-tenetur-Trägers abgeschirmt wird. Neben dem Schutzgut erfährt dabei im Übrigen auch die Selbstbelastungsfreiheit eine Ausformung, indem ihre Begrenzbarkeiten zur Grenze verdichtet und Bruttofreiheiten in Nettopositionen überführt werden121. Nun versteht sich das Strafrecht aber gleichermaßen darauf, die grundrechtlichen Positionen unter umgekehrten Vorzeichen fortzuschreiben. Das ist immer dann der Fall, wenn es in den strafbewehrten Ver-/Geboten, mit denen diverse Drittrechtsgüter an sich gesichert werden, speziell (oder unter anderem) für den Selbstbegünstigungstäter eine Lücke lässt. Überall, wo das Strafrecht nach diesem Regel-Ausnahme-Schema verfährt, kommt es den nemo-teneturGrundrechten entgegen, indem es dem wissenskontrollierenden Verhalten (anders als seinem geheimhaltungsneutralen Pendant) die Straflosigkeit erhält122. Müller 1990, 120 ff.; Jeand’Heur, JZ 1995, 161, 163 ff. mit der Mahnung, Schutzpflichten nicht allein grundrechtstheoretisch herzuleiten, sondern bereichsdogmatisch über normtextnähere Normprogramm- und Normbereichsanalysen (siehe zuletzt auch wieder Cremer 2003, 229 ff.). 120

Dazu Jeand’Heur, JZ 1995, 161, 164; Lagodny 1996, 11 ff., 260 f.; Holoubek 1997, 159 ff.; vgl. auch Wahl/Masing, JZ 1990, 553, 556; Tiedemann 1991, 50 ff.; Roth 1994, 465 ff.; Isensee 2000, § 111/ 83 ff.; Appel 1998, 187 f., 412 f.; Sch/Sch/Eser, Vor § 1/27. 121

Zu dieser grundrechtsausgestaltenden Rolle des Strafrechts, die auf der Realisierung von Schrankenvorbehalten innerhalb der verfassungsrechtlichen Spielräume ebenso wie auf der Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten beruht, bereits oben II. in Kap. 4. 122 Die nemo-tenetur-Ausgestaltung durch Privilegierung ist davon zu unterscheiden, dass man auf eine Strafnormierung gegenüber jedermann verzichtet und den Möglichkeitsraum positivierbarer aktiver/passiver Prozessunterstützungsformen nicht ausschöpft. In jener Situation fehlt es an einer Vergleichsgrundlage, um sinnvoll von einem nemo-tenetur-Privileg sprechen zu können; sie als

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Auch aktives Geheimhalten erfährt insofern eine straftatbestandliche Privilegierung, als sich die vorhandenen Verbote der Prozesslüge, der Strafprozesserschwerung und der Flucht (z.B. aus der Untersuchungshaft) nicht an den Beschuldigten wenden (vgl. §§ 153, 258 I, 120 StGB). Dieser kann in der Interaktion mit den Strafverfolgungsorganen sein verfängliches Wissen beispielsweise durch irreführende Angaben gegenüber der staatlichen Nachforschung wappnen, wenn er keine Unbeteiligten belastet und keine fehlgehende Aufklärungsarbeit verursacht. Solange die Falschverdächtigung lediglich eine Begleiterscheinung darstellt, ist die unwahrhaftige Einlassung und Tatsachenmanipulation auch nicht durch die Handlungsverbote in §§ 145d II Nr. 1, 164 StGB untersagt125. Mit dem gängigen passivitätsorientierten nemo-tenetur-Verständnis lässt sich die Freistellung solcher Aktivitäten zwar nur mühsam zusammen bringen126, doch aus der hiesigen Perspektive liegt es auf der Hand, dass die fraglichen strafrechtlichen Anweisungen andernfalls in die nemo-tenetur-Grundrechte eingreifen würden127.

Tathandlung aus. Unmissverständlicher kann sich der Gesetzgeber nicht äußern. I.Ü. spricht gegen das von Schmidhäuser behauptete Entschuldigungsprivileg, dass es für andere Fälle eigens positiviert wird (§ 258 V StGB). Wieso sollte es dann in § 258 I StGB unausgesprochen normiert sein (vgl. auch Keim 1990, 53 ff.; Ferber 1997, 73 f.; U. Günther 1998, 82; Seel 1999, 37). 125 Nach der restriktiven Tatbestandsauslegung der h.M., der es dabei gerade um die Berücksichtigung des Selbstschutzmotivs zu tun ist (kritisch hierzu Deutscher 1995, 129 ff.), bildet es kein „Verdächtigen“ i.S.v. § 164 I StGB, wenn ein wahrheitswidriges Leugnen/Bestreiten der eigenen Täterschaft zwangsläufig den Verdacht auf eine andere Person lenkt oder reduziert (z.B. BayObLG NJW 1986, 441; OLG Düsseldorf NJW 1992, 1119; NK/Vormbaum, § 164/23 ff.; SKStGB/Rudolphi/Rogall, § 164/14 ff.; LK/Ruß, § 164/6; Wessels/Hettinger 2005, Rn 696 f.). Die überwiegende Ansicht stellt dem auch die unwahrhaftige Zurückweisung einer Zeugenaussage und das entsprechende Leugnen/Bestreiten gleich, wenn dabei ein Dritter ausdrücklich (aber ohne zusätzliche Tatsachenbehauptungen) der Falschaussage oder des gegenständlichen Delikts beschuldigt wird (jeweils a.a.O.). Sobald aber solche Einlassungen derart substantiiert sind, dass sie über die Verdachtsablenkung hinaus eine neue und falsche Spur für fehlgehende Ermittlungen legen, sei dies nach § 164 StGB (SK-StGB/Rudolphi/Rogall, § 164/15; Geppert, Jura 2000, 383, 387 f.) oder jedenfalls § 145d II Nr. 1 StGB strafbar (vgl. OLG Celle NJW 1964, 733; OLG Zweibrücken NStE § 145d/1; BayObLG NJW 1984, 2302; KG JR 1989, 26; SK-StGB/Rudolphi/Rogall, § 145d/27; MüKo-StGB/Zopfs, § 145d/34 f. und § 164/25 f.; Fahrenhorst, JuS 1987, 707, 709; Stree 1987, 528 ff.; Becker 1992, 185 ff.; Geppert 2002, 49). 126 Prononciert verneinend H. Schneider 1991, 31, 358 u.ö.; ebenso z.B. Tröndle/Fischer, § 164/3; Deutscher 1995, 162 f.; Saal 1997, 186 ff.; Bosch 1998, 191 ff.; Krischer 2000, 178 (vgl. auch Fn 309 in Kap. 1). Deshalb werden die vorhandenen Privilegien konkurrenzrechtlich, rechtsgutorientiert und schuldpsychologisch erklärt (vgl. die Zusammenfassung bei H. Schneider a.a.O., 346 ff.; Binder 2001, 22 ff.). 127 Z.B. Art 2 I, 5 I GG durch Anzeigepflicht; Art 103 I, 5 I GG durch Lügeverbot; Nutzung der Normalressourcen nach Art 2 ff. GG durch Verdunklungs- und Fluchtverbot. Zwischen der als eigenständige Norm begriffenen Selbstbelastungsfreiheit und den Selbstbegünstigungsprivilegien stellen eine Verbindung her: Münch 1961, 11 f.; Hoffmann 1965, 53 ff.; Torka 2000, 201; in diffuser Weise auch Binder 2001, 10 f., 44 ff., 140 ff.

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2. Unvollkommene Privilegierungen Gelegentlich wird das Verteidigungsmotiv vom Strafrecht auf Sekundärrechtsebene berücksichtigt. Für die geheimhaltungsmotivierte Zeugenlüge (§§ 153, 157 I StGB) wurde dies bereits erwähnt (oben II.1.b)). Unabhängig von einer prozessualen Rolle betrifft dies genauso denjenigen, der im Willen, sich durch Geheimhaltung vor Strafe zu schützen, zugleich die Verfolgung einer anderen Person obstruiert (§ 258 V StGB)128. Ebenfalls (lediglich) straffrei ist es nach § 258 V StGB, im eigenen (Sanktionsabwehr-)Interesse eine dritte Person zu entsprechendem, wissensschützendem Verhalten anzustiften (bzw. sie darin zu unterstützen)129. Die gleiche Privilegienstruktur sieht obendrein der Geldwäschetatbestand für einen Sonderfall der Selbstanzeigepflicht vor: Will etwa ein Bankangestellter die Ermittlung deliktisch bemakelter Gegenstände verhindern oder gefährden – was ihm sowohl bei tätigen Transaktionen als auch (nach bestrittener Ansicht130) bei bloßer Missachtung des Anzeigegebots (§§ 261, 13 StGB, 11 GwG) als Straftat angerechnet wird – geht er straffrei aus, wenn er hierdurch seine Vortatbeteiligung zu tarnen sucht (§ 261 IX 2 StGB)131.

128 § 258 V StGB greift nicht ein, wenn der Vereitelungsbeitrag ohne die (objektiv vielleicht nahe liegende) Absicht geleistet wird, das Wissen über eine eigene Vortat geheim zu halten. Erforderlich ist, dass zur Abwendung einer konkret wahrgenommenen Strafverfolgungsgefahr gehandelt wird, wohingegen etwa die bloße Vortatbeteiligung – für sich genommen – nicht hinreicht (etwa BGHSt 43, 356, 359; Schönke/Schröder/Stree, § 258/35; Seel 1999, 75; Gubitz/Wolters, NJW 1999, 764). Umgekehrt genügt es, wenn der Strafvereiteler die Strafverfolgung irrig befürchtet (z.B. BGH StV 2002, 426). 129

Dass der teilnehmende Vortäter hier straffrei bleibt, entnimmt die h.M. – trotz eines eher unergiebigen Wortlautes – dem § 258 V StGB (meist über einen Gegenschluss zu § 257 III 2 StGB, vgl. BT-Drucks 7/550, 251; BayObLG NJW 1978, 2563; Rudolphi, JuS 1979, 859, 862; Fahrenhorst, JuS 1987, 707; Binder 2001, 19; LK/Ruß, § 258/34; Tröndle/Fischer, § 258/18; Sch/Sch/Stree, § 258/38). An der Rechtswidrigkeit der Teilnahme hält sie freilich fest (vgl. z.B. Brammsen, StV 1993, 135, 139 Fn 40). Allerdings bleibt für dieses sanktionsprivilegierte Verbot ohnehin nur ein reduzierter Anwendungsbereich, da die h.M. originäre Teilnahmeaktivitäten bei § 258 StGB zur Täterschaft hoch stuft (oben Fn 39). Anstiftungs- und beihilfewertige Aktivitäten des Vortäters gelten danach oftmals schon als täterschaftliches Vereiteln und bleiben wegen ihrer Eigennützigkeit tatbestandslos (§ 258 I StGB). 130 131

Zur Diskussion etwa NK/Altenhain, § 261/93.

Ob der Vortäter bei der anschließenden Geldwäsche als Täter oder Teilnehmer fungiert, ist für § 261 IX 2 StGB belanglos (Schönke/Schröder/Stree, § 261/5). Bis zu dessen Einführung musste der „gewaschene“ Gegenstand allerdings aus der Tat „eines anderen“ herrühren. Möglicher Täter von § 261 StGB war nur der Unbeteiligte oder Teilnehmer der Vortat. Damit wollte der Gesetzgeber einem Selbstbelastungszwang zuvorkommen (vgl. BT-Drucks. 11/7663, 26). Nunmehr kann man zwar § 261 StGB darüber hinaus auch als Vortäter verwirklichen, doch ist dies dann bei jeglicher Form der Vortatbeteiligung durch § 261 IX 2 StGB straffrei gestellt. Damit wurde das vortäterbezogene Verhaltensprivileg aufgehoben, das Sanktionsprivileg aber gleichzeitig auf alle Formen der Vortatbeteiligung erweitert (zu den Details vgl. BT-Drucks. 13/8651, 10; Schittenhelm 1998, 536 ff.). Aus Sicht von nemo tenetur war dieser Umgestaltungseffekt indes eher zufällig.

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

Die Strafrechtsdogmatik möchte diesen Vorbildern auch andere Regelungen nachbilden und plädiert dafür, auf die selbstschutzmotivierte Missachtung strafnormativer Geheimhaltungsgrenzen generell nur mit (fakultativ) geminderten Strafen zu reagieren. Gleichwohl würde hierdurch, wiewohl sich der Staat bei der Strafdrohung zurückhält, der Fundus legaler Geheimhaltungsformen durch die jeweiligen primären Verhaltensnormen verkleinert. Die rechtspraktische Präsenz, die dieses Verfahren der unvollkommenen Privilegierung bislang gewonnen hat, lässt sich allerdings kaum abschätzen, zumal noch offen ist, auf welche straftatbestandlichen nemo-teneturEingriffe es sich denn überhaupt ausdehnen kann132.

3. Klarstellend: Rest-Eingriffe durch Privilegierungsgrenzen Die beiden vorgenannten Arten des Selbstbegünstigungsprivilegs lassen sich in ihren Auswirkungen auf nemo tenetur erst überblicken, wenn man auch die Ränder ihrer Besserstellungswirkung sondiert und jene Grenzlinien benennt, an denen die strafbewehrten Reglementierungen wieder einsetzen. Für solche Strafbarkeitsschwellen sorgt zunächst einmal die jeweilige Gegenstandsspezifik. Jede Privilegierung erstreckt sich nur auf ihren eigenen Tatbestand, nicht aber auf idealkonkurrierend mitverwirklichte Delikte. So wird etwa das unwahrhaftige Verteidigungsvorbringen, das nach § 153 StGB unverboten ist, strafrechtlich doch untersagt, sobald es zu einer Begleitschädigung führt (etwa zu einer substantiierten Drittverdächtigung und Beteiligtentäuschung133 oder zur Verleumdung eines Verfahrensbeteiligten, § 187 StGB134). Auf die gleiche Weise bleibt Dem Legislator ging es darum, die Postpendenzfeststellung bei zweifelhafter Vortat-Täterschaft zu ermöglichen und die Teilnahme am Anschlussdelikt des Vortäters bestrafen zu können (BGH NJW 2000, 3725; NK/Altenhain, § 261/19 f.; Joerden 2003, 773 f.). 132 Zu den Befürwortern einer im Einzelfall möglichen Strafmilderung oben Fn 305 in Kap. 1. Unabhängig davon, auf welche Straftaten man diese Analogisierung von § 157 StGB dann tatsächlich erstrecken will, ist dort eine Verallgemeinerungsfähigkeit der privilegierten Behandlung der Selbstbegünstigung vorausgesetzt, die angesichts der Ambivalenzen im StGB (vgl. oben II.3.) anderen Autoren als zweifelhaft gilt (dazu Langer, JZ 1987, 804, 810; vgl. auch Saal 1997, 226 f., 234 ff.). Zumindest bei §§ 121, 142 StGB muss das Zumessungsprivileg daran scheitern, dass der Gesetzgeber eine geheimhaltungs- und strafvermeidungsmotivierte Handlung straftatbestandlich geradezu vertypt hat (vgl. oben Fn 21). 133 134

Zu §§ 164, 145d II Nr. 1 StGB oben Fn 125.

Der EGMR hat hiergegen keine Einwände, soweit sich die Strafdrohung nicht durch ungebührliche Strenge („unduly severe“) auszeichnet und die Verteidigung nicht lähmt (Brandstetter./.Österreich, Serie A, Nr. 211). Nach der deutschen Rspr. sind verteidigungshalber vorgetragene ehrenrührige Tatsachen nur dann nach § 193 StGB gerechtfertigt, falls sie mit dem Leugnen belastender Tatsachen zusammenfallen und nicht angriffsweise darüber hinausgehen (BVerfG NJW 2000, 3196, 3198; RGSt 48, 414; 58, 39; BGH NStZ 1995, 78; zustimmend Jahn, StV 1996, 259, 261; Arzt/Weber 2000, § 7/26; Rengier 2002a, § 29/46; Aselmann 2004, 270 ff.; vgl. auch Tröndle/Fischer, § 193/28; Wolf 2000, 269; für eine tatbestandliche Restriktion von § 185 StGB hingegen Wohlers, StV 2001, 420, 423; zur Paralleldogmatik bei Verteidigeräußerungen vgl. Fahl, JA 2003, 452, 453 f. m.w.N.). Bei der Verleumdung wird die Einschlägigkeit von § 193 StGB oft so-

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das Verbot von Verdeckungsdelikten (oben II.1.b)) ungeschmälert, obschon § 258 I StGB die fraglichen Verdunklungshandlungen straffrei stellt135. Ebenso wenig wirkt sich die Tatbestandslosigkeit der eigenen einfachen Flucht (§ 120 StGB) auf die verwirklichten Begleitdelikte (z.B. §§ 303, 242 StGB) aus136. Dass die Privilegierungsnormen nur in ihrem eigenen Normbereich die Strafrisiken begrenzen, resultiert aus ihrem normalen Tatbestandsbezug. An die Sanktionsprivilegien sind aber auch echte salvatorische Klauseln angelagert, um deretwegen die an sich begünstigten Geheimhaltungstechniken in den fraglichen Sonderfällen, namentlich bei einigen atypischen Vortaten, dann doch nicht straffrei ausgehen. Bei § 157 StGB betrifft das die Eidesbekräftigung, die eine bereits erstattete Falschaussage vor dem gleichen Gericht verdecken soll137. Zweifelhaft sei auch die Sanktionsfreistellung nach § 258 V StGB für denjenigen Strafvereiteler, dessen zu verbergende (Beihilfe-)Vortat in einer bereits vordeliktisch gegebenen Vereitelungszusage an den Haupttäter besteht138.

gar gänzlich bestritten, weil das Strafvermeidungsinteresse des Schuldigen nicht rechtlich anerkannt sei und/oder weil § 193 StGB generell keine wissentlichen Falschbehauptungen rechtfertige (vgl. Sch/Sch/Lenckner, § 193/2; SK-StGB/Rudolphi, § 193/2, 7 ff.; MüKo-StGB/Regge, § 187/21; Fahrenhorst, JuS 1987, 707, 709; H. Schneider 1991, 321; Brammsen, StV 1994, 135, 140). Nach dieser Auffassung könnte man allein an § 34 StGB denken. 135 Vgl. nur BGHSt 15, 53, 54; BayObLG NJW 1978, 2563; MüKo-StGB/Cramer, § 258/7; Fahrenhorst, JuS 1987, 707, 708; Sch/Sch/Stree, § 258/34. Auch § 258 V StGB wird von der h.M. nicht auf andere Delikte ausgedehnt, vgl. BGHSt 2, 375, 378; 5, 75, 81; 17, 236, 238 f.; Stree a.a.O., Rn 37; Cramer, a.a.O., Rn 54; Rudolphi, JuS 1979, 859, 863; Geerds, JR 1981, 35, 36; Langer, JZ 1987, 804, 812; Wessels/Hettinger 2005, Rn 734. 136

Vgl. H. Schneider 1991, 189. Untersagte Begleitdelikte sind hierbei auch §§ 113, 240, 223 ff. StGB, doch stellt ein entsprechendes gewaltförmiges Vorgehen ohnehin meist eine qualifizierte und daher für sich schon verbotene Flucht dar (§ 121 StGB). 137

Das bei § 157 StGB sonst maßgebende Kriterium des subjektiv empfundenen Selbstbelastungskonflikts legt eine Differenzierung danach nahe, ob der Eid die vorherige Falschaussage in Deliktsfortführungsabsicht bekräftigen (abschließen) soll oder ob es dem Zeugen nach einem Motivwechsel um die Verdeckung des Falschzeugnisses geht, das er bereits als beendet ansieht (zutreffend Bergmann 1988, 99). Die h.M. überspielt dies allerdings mit einem formalen Konkurrenzargument. Die Strafbarkeit nach § 153 StGB gehe im Meineid auf, weshalb es bei dessen Begehung an einer Vortat fehle, deren Sanktionierung der Täter i.S.v. § 157 StGB verhindern wolle (BGHSt 5, 269; 8, 301, 319; OLG Stuttgart NJW 1978, 71; NK/Vormbaum, § 157/21 f.; Rengier 2002a, § 49/46). Auch eine mit der Falschaussage tateinheitlich begangene weitere Straftat (z.B. § 263 StGB) sei kein taugliches Referenzdelikt für § 157 StGB. Es verliere seine Vortateigenschaft mit der Eidesbekräftigung, da es nun mit § 154 StGB tateinheitlich zusammenfalle (BGHSt 9, 121; MüKo/Müller, § 157/23; LK/Ruß, § 157/6). 138

So Tröndle/Fischer, § 258/18; entsprechende Skepsis auch bei BGHSt 43, 356. Neben einem zweifelhaften Vorverschuldensargument (die Zwangslage sei durch die Vereitelungszusage selbst verschuldet) formuliert der BGH in dieser Entscheidung auch gesteigerte Anforderungen an die erforderliche objektive Zwangslage (genauer: an die Wahrscheinlichkeit der Strafverfolgung), die zur Selbstschutzabsicht des Vereitelers hinzukommen müsse (kritisch z.B. Gubitz/Wolters, NJW 1999, 764). Ungeklärt ist vor diesem Hintergrund die Lage in den Fällen, in denen eine Vor-

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

§ 261 IX 2 StGB gilt schließlich nur für die Beteiligten des Deliktes, aus dem das Tatobjekt herrührt. Deshalb wird der nemo-tenetur-Träger, der allein durch eine Geldwäsche das Offenbarwerden einer sonstigen Vortat verbergen kann (weil sie vielleicht mit der fremden Herkunftstat der bemakelten Gelder eng zusammenhängt), für derartige Transaktionen (oder die pflichtwidrige Nichtanzeige) durchaus mit Strafe belegt139. Einschneidende Eingriffe entstehen endlich mit dem beteiligungsspezifischen Zuschnitt der Verhaltensprivilegien. Oft wird der Grundrechtsträger vom Normbefehl nur dann ausgenommen, wenn er sein Geheimnis mit Beiträgen von quasi-täterschaftlicher Qualität zu wahren sucht, wohingegen es ihm untersagt ist, die Geheimniswahrung durch nichttäterschaftliche Teilnahme an der ihm geltenden, drittseitigen Verdeckungshilfe zu betreiben. Auf diese Weise ist die strafvereitelnde Kollusion vornehmlich durch das Anstiftungs-/Beihilfeverbot bei der Falschaussage erschwert (obwohl der Teilnehmer für eigenhändige unwahrhaftige Einlassungen in seinem eigenen Strafprozess nach § 153 StGB und als Zeuge in einem sonstigen Prozesskontext nach § 157 I StGB straffrei bliebe140). Gleiches gilt für das Teilnahmeverbot bei der drittorganisierten Flucht (die dagegen im Falle des selbsttätigen Entweichens strafrechtlich nicht untersagt ist141).

tat (und damit eine Selbstbegünstigungsabsicht) möglich, aber nicht nachgewiesen ist (zur bisherigen Diskussion vgl. H. Schneider 1991, 166 ff.). 139 Zur von § 261 IX 2 StGB unberührten Strafbarkeit von Unbeteiligten an der Herkunftstat vgl. Sch/Sch/Stree, § 261/5, 27. So besteht bspw. für einen Bankangestellten auch dann eine strafbewehrte Pflicht zur Transaktionsanzeige, wenn er damit zugleich Hinweise auf eine eigene frühere Geldwäscheaktivität (an anderen Geldern) geben würde (zu diesem Beispiel BT-Drucks. 12/2704, 18; Werner 1996, 107 ff., nach denen das Problem im Wege der tätigen Reue gemäß § 261 IX 1 StGB behoben werden soll). 140 Neben der Unterlassensbeihilfe des Angeklagten, die schon oben II.1.a) zur Sprache kam, wird auch seine Strafbarkeit wegen aktiver Teilnahme an einer zeugenschaftlichen Falschaussage für möglich gehalten in BGH NJW 1958, 956; MDR 1974, 14; vgl. i.Ü. den Überblick zur Rspr. bei Müller 2000, 397 ff. sowie die Ausführungen bei H. Schneider 1991, 222 f.; Torka 2000, 208 ff.; Brammsen, StV 1994, 135, 136 ff.; Heinrich, JuS 1995, 1115, 1116 ff. m.w.N.; speziell zur Nichtprivilegierung des falschaussagebegünstigten Teilnehmers in § 157 I StGB BGHSt 1, 22, 28; 3, 320, 321; 7, 2, 5; Bergmann 1988, 85 f.; Krischer 2000, 238 ff.; SK-StGB/Rudolphi, § 157/3; MüKo/Müller, § 157/12. Hinter dem voll strafbewehrten Verbot, sich als Angeklagter an Falschaussagen zu beteiligen, steht die Erwägung der h.M., wonach der Teilnehmer nicht selbst Beweisperson sei und ihm gegenüber die psychisch oft als prekär empfundenen Härten des Zwangs zur selbstbelastenden Aussage – und nur darauf nehmen die §§ 153, 157 StGB Rücksicht (oben Fn 37) – nicht gemildert werden müssen. Strittig ist v.a., ob das fragliche Teilnahmeverhalten auch in der Wahrnehmung strafprozessual eingeräumter Rechte liegen kann (dazu unten II.1.b) und c) in Kap. 11 sowie eingehend, aber aus anderer Perspektive Müller a.a.O., 193 ff., 211 ff.). 141 Es gibt kein eigentliches Fluchtverbot, auch nicht im Prozessrecht. Der Vollstreckungstitel (Untersuchungshaftanordnung, Strafurteil), dem Röhl (2001, 194) immerhin noch eine solche Wirkung beimisst, ist keine generell-abstrakte Verhaltensnorm (so aber in der Sache Paeffgen 1986,

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IV. Strafrechtsschutz der nemo-tenetur-Grundrechte Nun bezieht der Staat auch aus dem Ensemble der nemo-tenetur-Grundrechte den Auftrag, eine Verletzung dieser Verfassungsgüter durch andere Personen abzuwenden. Dafür spricht die normative Dignität der Selbstbelastungsfreiheit ebenso wie ihre faktische Vulnerabilität. Der Gesetzgeber ist demnach zu Maßnahmen angehalten, die den nicht-staatlichen Eingriff in die Geheimhaltung von Tatwissen verhindern können. Der privaten Veranlassung der Wissenspreisgabe (Aussageerpressung) und dem privaten Unterbinden notwendiger Verheimlichungsakte muss er sich in den Weg stellen. Folge geleistet hat er diesem Konkretisierungsauftrag vor allem mit §§ 223 ff., 240 StGB, die (implizitprimär) die zwangsvermittelte Geheimnisexploration untersagen142. Einer schutzbedürftigen Gefährdung unterliegt die Selbstbezichtigungsfreiheit natürlich auch im hoheitlichen Kontext, nur ist die Bewältigung der dortigen Enthüllungszwänge die Sache des abwehrrechtlich strukturierten Prozessrechts143. Allerdings tritt der individuelle Amtsträger, der für die Geheimnisenthüllung zur Folter greift, mit einem Fuß aus der staatlichen Sphäre heraus und 79 ff.). Er verpflichtet den konkreten Adressaten zur Duldung der freiheitsentziehenden Maßnahme, ist aber keine Verhaltensvorschrift, die die Flucht eigenständig untersagen könnte (vgl. Lagodny 1996, 383). Nach BGHSt 4, 396, 400 f.; 17, 369, 371 f. sei jedoch die Anstiftung zur Fremdbefreiung strafgesetzlich verboten. Tatbestandslos sei die Anstiftung ebenso wie die Beihilfe zur Flucht nur bei der gewaltfreien gemeinschaftlichen Flucht mit anderen Häftlingen, weil hier die drittbezogenen Verhaltenselemente nach BGHSt 17, 369, 373 ff.; OLG Celle JZ 1961, 263 in der nicht-tatbestandlichen selbstbegünstigenden Haftentziehung aufgehen (zur weiter reichenden Gegenmeinung etwa Tröndle/Fischer, § 120/9). 142 Diese Schutzpflichtumsetzung soll nach einer Strömung der Beweisverbotsdebatte dadurch komplettiert worden sein, dass die Verwertbarkeit von Beweismaterial, das durch Privatpersonen mit verbotswidrigem Geständniszwang erlangt wurde, nur bei hinreichenden Strafverfolgungsinteressen zulässig sei. Das Strafgesetz und diese prozessuale Verwertungsschranke ergänzten sich zur gemeinsamen „Erfüllung eines Verfassungsgebots“ objektiv-grundrechtlicher Herkunft (Rogall, ZStW 91 (1979) 1, 41; ders., in: SK-StPO, § 136a/13). Übersehen wird bei dieser Konstruktion mindestens zweierlei: dass die Schutzpflicht einen primären Anspruch auf tätiges Sichern erzeugt, während das Beweisverwertungsverbot einen Unterlassensanspruch realisiert, und dass jede Schutzpflichtumsetzung privatgerichtet ist, während sich die Verwertbarkeitsgrenze gegen den Staat wendet (vgl. i.Ü. auch Störmer 1992, 125). 143 Deshalb unterscheiden sich auch, anders als Bosch 1998, 169 Fn 191 zu meinen scheint, die strafgesetzlichen Verbote in §§ 223 ff., 240 StGB deutlich von den prozessualen Verboten in § 136a I, II StPO. § 136a StPO ist von allein abwehrrechtlicher Art. Die Regelung wendet sich gegen staatliche Akteure mit der klarstellenden Funktion, ausgewählte Grundrechtseingriffe kurzerhand zu untersagen, ohne dies von einer näheren Überprüfung (bzgl. Eingriffswert, Befugnisnorm, materielle Legitimierbarkeit) an den Grundrechten des Beschuldigten (sowie der Zeugen und Sachverständigen, §§ 69 III, 72 StPO) abhängen zu lassen. Auch die sekundären Folgen, die das Prozessrecht für amtsseitige verbotswidrige Maßnahmen in § 136a III StPO vorsieht (vgl. überdies § 359 Nr. 3 StPO), sind abwehrrechtlich strukturiert. Das Beweisverwertungsverbot stellt den Folgenbeseitigungsanspruch klar, den die betroffenen Grundrechte bei illegitimen Eingriffen des Staates entwickeln (Amelung 1990, 38 ff. und unten II.1.a) in Kap. 12).

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

begeht neben dem unzulässigen behördlichen Grundrechtseingriff zudem einen Übergriff inter privatos144. Von den §§ 223 ff., 240 StGB wird auch dies verboten. Jedoch macht die Rechtsordnung auf sekundärrechtlicher Ebene einen Unterschied zum zivilem Handeln, denn für die Übergriffe aus dem Amt heraus erhält die Strafbewehrung des Geständniszwangs in §§ 340, 343 StGB die besondere Qualität der schwerer sanktionierten Aussagenötigung145. Im Übrigen setzen auch die §§ 123, 201 – 202a, 206 StGB die nemo-teneturGrundrechte einfach-rechtlich fort. Der Staat reagiert mit ihnen darauf, dass die Selbstbelastungsfreiheiten prima facie vor einer irrtumsbedingten Geheimnisenthüllung bewahren (was hier nur am Rande erwähnt werden kann146), weshalb 144

Die private Seite des Vorgangs wird auch von der persönlichen zivilrechtlichen Außenhaftung des Amtsträgers nach § 839 BGB dokumentiert (die durch die befreiende Schuldübernahme in Art 34 GG nur eine Überleitung der Passivlegitimation erfährt, vgl. MüKo-BGB/Papier, § 839/119 ff.). Das zeigt allerdings nur den doppelten Charakter an, den die Folter, die in Ausübung des Amts erfolgt, aufweist. Neben der tätigen Privatperson muss sich diesen Übergriff ebenso der Staat zurechnen lassen, sodass auch er Beschuldigtenrechte unzulässig verletzt (etwa Wagner 1975, 93 ff., 178 ff.; Rogall 2005, 529). So besteht gemäß Art 2 II 1, 104 I 2 GG ein grundrechtsprimäres Abwehrrecht gegen die Folter (dazu etwa Jerouschek/Kölbel, JZ 2003, 613, 616 ff.). Eine subkonstitutionelle Foltermaßnahme scheitert i.Ü. aber nicht erst an der mangelnden verfassungsrechtlichen Legitimierbarkeit, sondern bereits am einfach-rechtlichen Verbot, nämlich an § 136a StPO nebst den Transformationsgesetzen zu Art 7 IPbR und Art 3 EMRK. 145

§ 343 StGB stellt nur einen Ausschnitt der von § 136a StPO untersagten Verhaltensweisen unter Strafe (also auch nur einen sehr kleinen Teil sämtlicher nemo-tenetur-Eingriffe). Das erklärt sich mit der gesetzgeberischen Absicht, die Strafnorm den Intensivübergriffen vorzubehalten (dazu Rogall 2005, 523 f.). 146 Überwachung und Ausforschung berühren, je nach der verwendeten Technik, verschiedene nemo-tenetur-Grundrechte, namentlich Art 10, 13 GG (wenn sie die Abschottungswirkung räumlich-medialer Privatbereiche aufheben), das Recht am eigenen Wort/Bild (wenn sie sich die kommunikationserheblichen Elemente der Betroffenenerscheinung zunutze machen) sowie v.a. den Privatsphärenschutz und Art 5 I GG (wenn sie die Wissenszurückhaltungsbefugnis unterlaufen). Dabei erlangt bspw. die akustische oder visuelle Verhaltensüberwachung deshalb einen Eingriffswert, weil deren Effekt – nämlich die Geheimnisenthüllung durch den Überwachten ohne zugrunde liegende autonome Entscheidung (oben I.3.ee. in Kap. 5) – in einem normativen Sinne die genannten Grundrechte verkürzt: Der überwachte Grundrechtsträger, der sich im sozial üblichen Maße wahrgenommen wähnt, verkennt das den anderen Akteuren verfügbare Wissen über sein Handeln. Damit geht ein erheblicher Kontrollverlust einher, da dieses überraschende Mehr-Wissen unerwartete Reaktionen der Anderen zeitigen kann. Überwachung fügt dem eigenen Handeln also einen Zusatz sozialer Risiken hinzu (bspw. ungewollt verräterisch zu sein). Geheimhaltungsreservate, die eigene Erscheinung und das Geheimhalten sind nun aber gerade deshalb grundrechtlich geschützte Belange, um dem Bürger des Grundgesetzes die mit dem Ent-/Verbergen verknüpften sozialen Implikationen zur eigenständigen Beeinflussung an die Hand zu geben. Polizeiliche Überwachung, die dieses Element der Handlungssteuerungskompetenz aufhebt, erzeugt folglich eine grundrechtsverkürzende Wirkung (aktualisiert also keineswegs nur – wie bspw. Schneider, GA 1997, 371, 376, meint – ein allgemeines Kommunikations- und Lebensrisiko). Angesichts dessen fällt es gar nicht ins Gewicht, dass bei der staatlichen Ausforschung der Verlust an Selbstöffnungs- und Selbstdarstellungskontrolle durch den Staat sogar proaktiv angestoßen wird. Abweichend von der h.M., der zufolge allenfalls gravierende Täuschungsformen die Entschließungsfreiheit in zwangsanalogem

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ihre Träger auch gegen verdeckte Privatermittlungen abzuschirmen sind. Eine ähnliche Sicherungsfunktion obliegt § 203 StGB, der das Geheimnisreservat147, in dem der Wissensträger die advokatorische Hilfe zum verteidigungsfunktionalen Geheimnisumgang sucht, dadurch stützt, dass er dem eingeweihten Anwalt ein strafbewehrtes Enthüllungsverbot auferlegt148 und davon nur unabgeschlossene schwerstdeliktische Sachverhalte ausnimmt (§ 139 III StGB)149. Nemo tenetur ist damit gegenüber vielfältigen Privateingriffen gerüstet.

V. Fazit Wenn das Schrifttum die hier erwähnten Strafnormen und deren Auswirkungen auf das Verteidigungshandeln des Beschuldigten überprüft, sucht es meist Ausmaß beeinträchtigen (so BGHSt 42, 139, 149; KK/Boujong, § 136a/19), und abweichend auch von jenen Autoren, die nur die Ausforschung dem Zwang gleichstellen (vgl. Fezer, NStZ 1996, 289, 290; Roxin, NStZ 1997, 18; Bernsmann, StV 1997, 116, 118; Derksen, JR 1997, 167, 170; Pawlik, GA 1998, 378, 388; Bosch 1998, 90; Müssig, GA 2004, 87, 100), ruft vielmehr jede Methode der heimlichen Wissensenthüllung einen grundrechtsverkürzenden Effekt hervor. Unabhängig von ihren kategorial verschiedenen Ablaufmechanismen erzeugen irrtums- und zwangsvermittelte Einwirkungsformen prinzipiell (d.h. abgehoben von individueller Raffinesse und Intensitätsabstufungen der Fälle) ein vergleichbares Resultat, nämlich den für Folge-Interaktionen relevanten Verlust geheim gehaltenen Wissens. Angesichts dessen kommt es auch nicht mehr darauf an, ob verdeckte Ermittlungen eine Umgehungsfunktion erlangen, d.h. ob sie die für offene Ermittlungen vorgesehenen Verbote (etwa die Untersagung des Mitteilungszwangs, vgl. Meyer, JR 1987, 215, 216; Bosch 1998, 308; Wolter 2000, 974) und Regularien (etwa die Belehrungen in der Vernehmung, vgl. Roxin, NStZ 1995, 465, 467 f.; ders. NStZ 1997, 18, 19) obsolet werden lassen. Verdeckte Ermittlungen sind vielmehr bereits ohne diese Erwägung als Grundrechtseingriff rechtfertigungsbedürftig. Daran ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Einwilligung oder des Grundrechtsverzichts zu rütteln. Notwendig wäre dafür die Kenntnis aller für die Grundrechtsverzichtsentscheidung erheblichen Tatsachen. An ihr fehlt es nicht nur, wenn der verdeckt agierende Staat auf die „freiwillige“ Äußerung hinwirkt (so aber Meurer, 2001, 1291), sondern auch, wenn er sich als deren Empfänger andient (vgl. auch Amelung, StV 1985, 257, 263; Weiler, GA 1996, 101, 106; Wölfl 1997, 99; Eschelbach, a.a.O., 393; Makrutzki 2000, 106). Dennoch ist mit alledem der Stab über ein verdecktes polizeiliches Vorgehen erst dann gebrochen, wenn der Staat dafür keine formelle Ermächtigung und/oder keine materielle Rechtfertigung vorzuweisen vermag (ebenso SKStPO/Wohlers, § 163a/43 ff.). Die Maßnahmeverhältnismäßigkeit wird sich dabei für qualifizierte Täuschungen besonders schwer dartun lassen (vgl. die Bspe. bei Pawlik, GA 1998, 378, 387; Schneider, GA 1997, 371, 375 f.; ders., JR 1996, 401, 407 f.). 147

Zur Verschwiegenheitspflicht der Verteidiger BVerfGE 110, 229, 256; Wolf 2000, 218 ff.

148

Trotz seines Schweigerechts sieht sich der Beschuldigte durch den Staat, der ihn in die Lage des „Sich-verteidigen-Müssens“ versetzt, zur Auskunft an seinen Verteidiger gedrängt, weil andernfalls kein sachgerechtes Verteidigen möglich ist. Dieser Druck wird, ungeachtet der Zweifelhaftigkeit seines Eingriffswertes (zum dahingehenden Streit vgl. Fn 123 in Kap. 1), durch die Anwaltspflicht, jene Auskunft geheim zu halten, kompensiert (Hand in Hand mit der prozessualen Verschwiegenheitsregelung in § 53 I Nr. 2 StPO, vgl. auch § 97 StPO). In diese Richtung ebenfalls Schünemann, ZStW 1990 (78), 11, 62; Welp 1973, 393 f.; Mörlein 1993, 8 m.w.N. 149

Vgl. aber auch die aus § 261 StGB resultierenden Anwaltspflichten (oben bei Fn 41 ff.).

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

nach einer inneren Arithmetik, um sich mit deren Hilfe einen Reim darauf zu machen, dass sanktionsvereitelndes Verhalten einesteils privilegiert, zuweilen aber auch mit schärferer Strafe belegt wird150. Dass hinter den Strafvorschriften tatsächlich ein solches systemgebendes „Selbstbegünstigungsprinzip“ am Werk ist, gilt als ausgemacht. Irgendwann werden sich, so glaubt man, sinnhafte Grundgedanken („allgemeine Regeln“; „Maximen“; „Strukturprinzipien“151) aus den fraglichen Bestimmungen rekonstruieren und rückwirkend für deren Auslegung nutzen lassen152. Daran stimmt freilich von Beginn an skeptisch, dass dieses Vorhaben durchweg auf Normtexte angewiesen ist, die durch verschiedene Gesetzgeber in historisch disparaten Kontexten, ohne Systematisierungsabsicht und ohne Sensibilität für die Strafvereitelungsproblematik ergingen153. Deshalb kommen jene Theorien des Selbstbegünstigungsstrafrechts schwerlich umhin, die gesetzgeberische Abstinenz zu korrigieren – sprich: eigene Deutungsmuster zu entwickeln und diese sodann der Rechtslage unterzuschieben. Der hier vertretene Ansatz versucht dagegen gar nicht erst, ein derartiges Belegstück für die Gefahren teleologischer Konzepte (oben III.1.c) im 3. Kap) zu liefern. Er verzichtet auf die Fabrikation eines „Selbstbegünstigungsprinzips“, weil sich ihm die betreffenden Strafgesetze als materiell-rechtliche Flanke eines Normgefüges erschließen, das als ein Feld wechselseitiger Bindung und Gestaltungsmacht die Konkretisierung der Selbstbelastungsfreiheiten rahmt (oben Kap. 4). Gewiss geht es dabei relativ unkoordiniert zu, vor allem weil viele der fraglichen Regelungen direkt aus vorkonstitutionellen Vorläufern hervorgegangen sind und nun mit den nemo-tenetur-Grundrechten als einer nachträglich hinzugekommenen, übergeordneten Bezugsebene zusammentreffen. Trotz der dadurch vorprogrammierten Brüche und Kanten bieten die verschiedenen materiellen Wirkungszusammenhänge aber einen Anknüpfungspunkt für gewisse Ordnungslinien. Es lässt sich nämlich festhalten, dass das Strafrecht gegenüber den beteiligten Grundrechten sowohl freiheitsverkürzende als auch freiheitsausgestaltende Funktionen realisiert. Einmal hindert es den Verdächtigen durch eine Reihe verschiedener Verhaltensnormen am geheimhaltungsnotwendigen Vorgehen. Zu diesen Grundrechtseingriffen zählen neben §§ 142, 153 ff. StGB gewisse Ausschnitte der Strafzumessungspraxis sowie einige Sonderkonstellati150 Vgl. Münch 1961; Hoffmann 1965; Erdmann 1969; Forster 1971; H. Schneider 1991; Binder 2001. 151

So die repräsentative Terminologie von H. Schneider (1991, 18, 326, 340).

152

So geht es H. Schneider (1991, 21 f.) um die Aufdeckung der „das Selbstbegünstigungsprinzip entscheidend konstituierenden kriminalpolitischen Wertungsfaktoren“ und um deren „strafrechtsdogmatische Umsetzung“. 153 H. Schneider (1991, 22) selbst: „(...) normalerweise agiert der Gesetzgeber bei der Abfassung von Strafnormen eher interventionistisch, ohne allzu stark auf systematische Überlegungen Rücksicht zu nehmen“.

9. Kap.: Strafrechtliche Einwirkung auf nemo tenetur

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onen der allgemeinen Begehungs- und Unterlassensdelikte. Eine ergänzende Fortformung erfährt die grundrechtlich gewährte Geheimhaltung des nemotenetur-Trägers hingegen durch den Schutz vor Drittbeeinträchtigung sowie durch einige (sachlich und personell) begrenzte Strafrechtsprivilegien, etwa bei der Lüge und der Ermittlungsbehinderung. Aus diesen unterschiedlichen Strafrechtswirkungen resultieren unterschiedliche Rechtmäßigkeitsanforderungen.

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

10. Kapitel

Verfassungsmäßigkeit des nemo-tenetur-Strafrechts Das vorige Kapitel hat jene strafrechtlichen Bestimmungen, die an der Konstituierung definitiver Selbstbezichtigungsfreiheiten teilnehmen, zusammengetragen und nach der Art ihrer Beiträge kategorisiert. Indem diese Strafvorschriften auf ihre jeweils eigene Weise – als Grundrechtsausgestaltung oder als Grundrechtseingriff – den Bestand konstitutioneller Schutzbereiche ergänzen oder beschneiden, aktivieren sie unweigerlich die maßstäblichen Wirkungen des Grundgesetzes. Sämtliche Spuren, die das Strafrecht bei nemo tenetur hinterlässt, müssen sich an den beteiligten Verfassungsnormen als rechtmäßig erweisen. Anhand der wichtigsten Beispielkonstellationen geht deshalb das folgende Kapitel der Frage nach, ob (oder mit welchen Abstrichen) das SelbstbelastungsStrafrecht den Anforderungen der Selbstbelastungs-Grundrechte entspricht.

I. Verfassungsmäßigkeit des Verhaltensregimes Die strafgesetzlichen Verhaltensnormen, die dem nemo-tenetur-Träger gewisse Geheimhaltungsmöglichkeiten nehmen, durften ergehen, wenn sie sich innerhalb grundrechtsübergreifender Schranken-Schranken bewegen und vor allem dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung tragen1. Die strafrechtlichen Bestimmungen müssen sich also einem statthaften Ziel verpflichten und hierfür ein taugliches, möglichst mildes und angemessenes Instrument darstellen. An sich liegt es in der Logik des hier vertretenen Konzeptes, dass die fragliche Strafnorm genau an demjenigen Grundrecht der nemo-tenetur-Familie auszurichten ist, das von ihr gerade angesprochen wird. Dies kann zu divergierenden Messlatten führen. Die Verfassungsmaßstäbe unterscheiden sich von Grundrecht zu Grundrecht (wenn diese beispielsweise statt des einfachen Eingriffsgesetzes einen qualifizierten oder gar keinen Gesetzesvorbehalt verlangen). Im hiesigen Zusammenhang kommt die so angelegte Vielfalt der konstitutionellen Bindung allerdings nicht zum Tragen, weil ausgerechnet die an nemo tenetur beteiligten Grundrechte keine ungleichen Schranken-Schranken aufweisen. Sie sind ohne grundrechtsspezifische Besonderhei-

1 Zur Vertiefung der sonstigen Eingriffsschranken gibt das Selbstbelastungs-Strafrecht keinen Anlass (gemeint ist insbesondere Art 19 I 1 und 2 GG; dazu im kriminalrechtlichen Kontext Stächelin 1998, 116 f.). Wenigstens erwähnt seien die außergrundrechtlich-strafrechtsspezifischen Verfassungsgarantien (Art 102, 103 II, III GG; vgl. zu ihnen Lagodny 1996, 367 ff.; Appel 1998, 108 ff., 515 ff., 560 ff.; Hill 2001, Rn 50 ff.).

10. Kap.: Verfassungsmäßigkeit

365

ten und erlauben damit eine einheitliche Eingriffsprüfung anhand der allgemeinen Verhältnismäßigkeitskriterien2.

1. Ziele strafrechtlicher Verhaltensnormen Die Verfassung verleiht dem Strafgesetzgeber eine breite Zwecksetzungskompetenz3. Deshalb erfahren die hier interessierenden Strafnormen keine nennenswerte zweckbezogene Eingrenzung. Dass die jeweiligen Regelungsziele dennoch namhaft zu machen sind, liegt an ihren indirekten Auswirkungen auf die Grundrechtsprüfung: Die konkretisierten Zielvariablen verkörpern nämlich jenen Zustand, zu dessen Herstellung die gesetzlichen Geheimhaltungsverbote geeignet und erforderlich sein müssen. Mit ihnen ist überdies das jeweilige Verfassungsgut festgelegt, das sich in der Angemessenheitswertung gegenüber dem Interesse am Geheimhalten-Können bewähren muss. Die Rekonstruktion der Regelungsabsicht bleibt also keineswegs ohne Konsequenzen, wenn diese auch erst auf den anschließenden Verhältnismäßigkeitsstufen zu spüren sind. Gerade darin liegt die Problematik unbestimmter legislativer Zielverlautbarungen. Der Norm- und Verfassungsinterpret kann hier allzu leicht mit seiner eigenen Zweckvorstellung operieren – und zwar mit derjenigen, welche die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes je nach seinem Gutdünken trägt oder eben nicht. Verhindern ließe sich das nur, wollte man sich ausschließlich an der authentischen gesetzgeberischen Mitteilung orientieren4. Zu Recht findet sich die ganz h.M.5 dazu aber nicht bereit. Falls sich keine legislative Absichtserklärung nachweisen lässt, rekonstruiert sie den Regelungszweck aus dem jeweiligen Gesetzestext und dem dogmatischen Zusammenhang. Das Normziel liegt dann in dem Gut, das die fragliche Norm objektiv

2 Die – abgesehen von Art 104 GG - einzige erwähnungswürdige einzelgrundrechtliche Besonderheit, dass nämlich der Staat in die von Art 5 I GG gewährten Positionen nur mittels oder aufgrund „allgemeiner Gesetze“ eingreifen darf (Art 5 II GG), wirkt sich in keiner Weise aus. Unzulässig sind danach solche Verhaltensnormen, die sich gegen das Äußern einer bestimmten Meinung wenden und keinem vorrangigen Rechtsgut dienen (Vgl. BVerfGE 7, 198, 209 f.; 62, 230, 243 f.; 71, 162, 175; 71, 206, 214; 95, 220, 235 f.; 97, 125, 146). Verglichen mit den allgemeinen Verhältnismäßigkeitsanforderungen enthält aber nur der erste und formale Teil dieser Formel (Meinungsneutralität) ein zusätzliches Kriterium. Von jenen Eingriffen in Art 5 I GG, die in Kap. 9 registriert wurden, könnten an dieser Anforderung allein die Verbote scheitern, einen Dritten (Zeugen) zu verleumden (§§ 164, 187 StGB). In der Tat untersagen diese Vorschriften bestimmte Kommunikationsinhalte, doch wegen des ehrschützenden Normzweckes ist ihnen das von Art 5 II GG ausnahmsweise erlaubt (vgl. Mangoldt/Klein/Starck, Art 5 Abs. 1, 2/175; vgl. auch Paulduro 1992, 306 ff.). 3

Dazu etwa Raabe 1998, 79 f.; Meßerschmidt 2000, 881; Alexy, VVDStRL 61 (2002), 7, 17.

4

Dafür bräuchte es nicht nur ein Gebot an den Gesetzgeber, seine Regelungsziele bekannt zu geben (so Stächelin 1998, 121 ff.; grundsätzlich Meßerschmidt 2000, 917 ff.), sondern es wäre zu fragen, ob Gesetze, deren subjektive Zielrichtung nicht kundgetan ist, verfassungswidrig sind. 5

Vgl. Schnapp, JuS 1983, 850, 854; Meßerschmidt 2000, 908 f.; Clérico 2001, 31.

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

(bei methodengerechter Behandlung ihrer Sprachdaten) fördert6. Dies ähnelt dem Verfahren, das innerhalb der teleologischen Auslegungsmethode anzustellen ist, ohne sich mit ihm zu decken7. Während in die Erarbeitung des teleologischen Normzwecks sämtliche (grammatische, systematische, genetische) Normkonkretisierungselemente weitgehend paritätisch eingehen (oben III.1.c) im 3. Kap.), ist für die Rekonstruktion des verfassungsrechtlichen Regelungsziels jede explizite Bekundung des Legislators verbindlich. Das kann auch nicht anders sein, weil das, was auf dem grundrechtlichen Prüfstand steht, schließlich seine Entscheidung ist8. Wo sich der Gesetzgeber spezifisch zu seinen Intentionen erklärt, ist darüber also kein Hinweggehen. Der objektive Zweck kommt dann nur subsidiär zum Zuge.

Sieht man die strafgesetzlichen Geheimhaltungseingriffe vor diesem Hintergrund danach durch, welches Anliegen sie verfolgen, stößt man auf den gesamten traditionellen Kanon der „drei wesentlichen Motivationen der Grundrechtsbegrenzungen“9. Die 1. Gruppe versucht, individuelle Interessen und Rechtspositionen zu sichern, vornehmlich – die elementaren Drittrechtsgüter (Leben, Gesundheit, Eigentum, Handlungsfreiheit, soziale Achtung) durch das Verbot, darauf tätig/unterlassend überzugreifen (§§ 212, 223, 303, 240, 187 StGB sowie § 323c StGB10); – den Achtungsanspruch und die Handlungsfreiheit durch das Quasi-Verbot, sich im Prozess verleumdend und einschüchternd zu verhalten (Schärfung der Vortatstrafe gemäß § 46 II StGB)11; 6 Meßerschmidt 2000, 915. Nicht selten dürfte dabei auf die Geeignetheitsstufe (unten 2.) vorgegriffen werden, weil der Norminterpret als Normzweck nur das bestimmt, was die Norm aus seiner Sicht auch tatsächlich bewirken kann. Diese Verschleifung ist indes unbedenklich, solange der Regelung ein Ziel zugewiesen wird, das sich ihr methodengerecht zuschreiben lässt. 7

Das muss schon deshalb so sein, weil die Festlegung schutzwürdiger sozialer Situationen und/oder Funktionen, die für den verfassungsrechtlichen Rechtsgutaspekt und den damit arbeitenden Legitimationsdiskurs genügt, für eine teleologische Rechtsgut-Argumentation häufig zu allgemein bleiben wird (vgl. Vormbaum 1987, 70; vgl. auch die Unterscheidung von teleologischen Zwischen- und legitimierenden Endrechtsgütern bei Saal 1997, 104 f. m.w.N.). 8 Während es bei der Normzielfeststellung innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung darum geht, ob sich der Gesetzgeber mit dem ergangenen Gesetz für seine Vorhaben der geeigneten und notwendigen Mittel bedient, ist der teleologische Topos ein Teil der durch Gesetzgeber und Normtextinterpret arbeitsteilig durchgeführten Konstituierung fallspezifischen Normsinns, in der sich Bedeutung und Funktion des eigenwertig in der Welt befindlichen legislativen Produkts entfalten. 9

Allgemein zur Systematik, zu Unterschieden und vielfachen Überschneidungen der drei Grundanliegen – nämlich dem Schutz der kulturell-legislativ festgesetzten Rechte anderer Personen, der Sicherung des Bestandes und der Funktionsfähigkeit des Staates und der Sicherung der sonstigen Erfordernisse und Zustände, die kulturell als für das Gemeinwesen bedeutsam definiert werden – mit dem Zitat Stern/Sachs 1994, 301. 10 Zu dieser Zielrichtung von § 323c StGB vgl. Schöne 1974, 44 ff.; Harzer 1999, 103 ff.; Lackner/Kühl, § 323c/1. Gestritten wird um die Beschränkung auf existenzielle Individualgüter. 11 Nach objektiver Auslegung von § 46 II StGB befördert die Strafschärfung die genannten Güter, weil sie den Angeklagten von deren Verletzung abhält. Freilich legt die These, dass Prozessverhalten indizkräftig für die sanktionswürdige Schuld sei (oben II.4.b)aa) in Kap. 1), nahe, als

10. Kap.: Verfassungsmäßigkeit

367

– die Gesundheit und das Persönlichkeitsrecht durch den Druck, den Zeugen im Prozess zu schonen (Angebot auf Strafschärfungsverzicht bei drohenden vernehmungsbedingten Opferschäden gemäß § 46 II StGB)12; – das private Beweissicherungsinteresse durch Unfallabwicklungspflichten (§ 142 I, II StGB)13. Bei Gruppe 2 will der Gesetzgeber staatliche Institutionen oder die Staatstätigkeit gewährleisten, etwa: – das Fiskalinteresse durch die Pflicht zur vollständigen und wahrhaftigen Einkunftsmitteilung trotz Verfolgungsimplikation (§ 370 AO)14 – oder die ungestörte Durchführung rechtsvollziehender Staatstätigkeit durch das Verbot, sich korrekten amtlichen Enthüllungsakten zu widersetzen (§ 113 StGB). Gruppe 3 fördert eine Reihe sonstiger Gemeinwohlerfordernisse, die tendenziell individuell oder auch staatlich-institutionell begründet sein können. Dazu zählen namentlich15: Eingriffsziel (auch) den gerechten Schuldausgleich heranzuziehen. Gegenüber diesem Zweck sähe sich die Strafschärfungspraxis aber von vornherein Zweifeln an ihrer Eignung ausgesetzt, und das nicht nur, weil das fragliche Prozessverhalten womöglich auf schuldindifferenten Motiven beruht (vgl. Frisch, ZStW 99, 1987, 751, 779 f.; Dencker, ZStW 102, 1990, 51, 56 f.; Torka 2000, 249 f.). Entscheidend ist vielmehr, dass die Strafschärfungsjudikatur realiter darauf hinwirkt, dass der Angeklagte das betreffende Verhalten unterlässt – obwohl der h.M. nach ihren Prämissen doch daran gelegen sein muss, dass er dieses indizkräftige Prozessgebaren nicht unterdrückt, weil er nur in diesem Fall schuldadäquat bestraft werden könne. Würde die Rspr. tatsächlich das Eingriffsziel des gerechten Schuldausgleichs verfolgen, wäre ihre Praxis also dysfunktional. Objektiv gesehen muss es ihr um andere Regelungsintentionen gehen. 12

Zu dieser Zielformulierung vgl. Dencker, ZStW 102 (1990), 51, 61; Verrel 2001, 51, 54, 56.

13

Ausdrücklich BT-Drucks 7/2434, 4 f.; BT-Drucks 7/3503, 3 (vgl. auch BVerfGE 16, 191, 193; BVerfG 2 BvR 65/01 v. 16.3.2001; BGHSt 12, 253, 258; LK/Geppert, § 142/1 ff.). Dass § 142 StGB diesem Ziel nicht nur am räumlich fixierten Unfallort (Abs. 1), sondern auch außerhalb dieses Bereichs (Abs. 2) dient, wird oft kritisiert. Es bildet ein gleichheitsrechtliches Problem – und zwar schon des Verhaltensgebots und nicht erst, wie Lagodny (1996, 299) meint, der Sanktionsbewehrung – dass bei den meisten anderen Zivilrechtsverhältnissen keine vergleichbare Pflicht besteht, die Anspruchsabwicklung zu befördern (vgl. aber z.B. den ähnlich beschaffenen § 97 I InsO). Die Eigentümlichkeiten der in Abs. 1 beschriebenen Situation (gesteigerte Fragilität der Beweislage durch die Flüchtigkeit des Verkehrs), die für die dortige Lage eine Sonderregelung zu legitimieren vermag, liegen bei § 142 II StGB nicht (mehr) vor. Den Verfassungsinterpreten muss dieses „Rechtsguts-Defizit“ (NK/Schild, § 142/11 m.w.N.) indes weniger beunruhigen, weil es für ihn keine positive Zwecklegitimität aufzuweisen gilt. Das Grundgesetz hindert den Gesetzgeber nicht, sich auch solcher „normaler“ Beweislagen anzunehmen – selbst wenn sich für die Aufrechterhaltung des jeweiligen Systems kein gesteigerter Handlungsbedarf ausmachen lässt. Wenn aber der Gesetzgeber seine Steuerungsprioritäten selber setzen darf, kann in den entsprechenden Entscheidungen dann auch keine willkürliche Ungleichbehandlung liegen. 14 Die Steuerhinterziehung setzt einen Steuerverkürzungserfolg voraus. Damit wird angezeigt, dass § 370 AO die steuerrechtlichen Mitwirkungspflichten nicht um ihrer selbst willen, sondern im Dienste der staatlichen Vermögensinteressen schützt (vgl. Franzen/Gast/Joecks, § 370/14 m.w.N.).

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

– die Fähigkeit der Rechtspflege zur wahrheitsgemäßen Tatsachenfeststellung beim Verbot, falsches Zeugnis abzulegen und an solchen Falschbekundungen teilzunehmen (§ 153 StGB bzw. §§ 153, 26 f. StGB)16 – sowie die Effektivität der Rechtspflege beim Verbot, justizielle Ressourcen mittels unzutreffender Deliktsbeteiligtenangaben fehlzuleiten (§ 145d II Nr. 1 StGB17 und § 164 StGB18).

15 Erwähnen könnte man ebenso die Funktionsfähigkeit der Kreditwirtschaft (Dokumentationsund faktische Vorlagepflichten, § 283b StGB) sowie die Möglichkeit, im Rechtsverkehr zuverlässig mit Urkunden umgehen zu können (Verbot, solche Urkunden zu Verteidigungszwecken zu manipulieren, § 267 StGB) oder die privaten und staatlichen Interessen, im Rechtsverkehr mit Urkunden und technischen Aufzeichnungen Beweis zu führen (Verbot, die entsprechende Brauchbarkeit in Geheimhaltungsabsicht zu beseitigen, § 274 I Nr. 1, 2 StGB). 16 Vgl. Müller 2000, 53 f. zur objektiven Rekonstruktion dieser Zielrichtung aus den einzelnen Tatbestandselementen. Die v.a. von Vormbaum (1987, 119 ff., 175 ff.) entwickelte abweichende Vorstellung (ordnungsgemäße Entscheidung als Ziel des jeweils betroffenen Verfahrens) wirkt sich auf die hiesige Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht aus. Sie bezieht sich allein auf das Rechtsgut i.S. des teleologischen Gesichtspunktes, während sich die verfassungsrechtliche Legitimation auch nach Vormbaums Modell mit der „Rechtspflegetätigkeit“ als allgemeiner Schutzrichtung befasst (vgl. NK/Vormbaum, Vor §§ 153 ff./2; ders. 1987, 112, 166). 17 Zu diesem Zweck, dem i.Ü. auch Strafschärfungen dienen, die an eine schwerwiegende Fehlleitung der Ermittlungstätigkeit (ohne Privatverletzung) anknüpfen, etwa BT-Drucks. 7/3030, 8; eingehend Becker 1992, 47 ff., 102 ff.; Saal 1997, 97 ff.; vgl. auch BGHSt 6, 251, 255; 19, 305, 307. Dass die Arbeitskapazitäten gegen betrugsförmiges Verhalten nur bei den Rechtspflege und Präventivorganen geschützt werden (und nicht auch bei anderen Rechtsgutträgern), setzt nicht voraus, dass dem Staat zuvor unausgesprochen ein Recht auf Wahrheit gegen die Bürger zugesprochen wird (so aber Stübinger, GA 2004, 338, 349 ff.). Dieser Wahrheitsanspruch ist vielmehr die Konsequenz der Positivierung von § 145d StGB. 18 Die h.M. behauptet für § 164 StGB eine alternativ verstandene Verdopplung von Rechtspflege- und Individualgüterschutz. Verfassungsrechtlich mag ein solches Mehrfach-Ziel zwar angehen (während es in teleologischer Hinsicht wegen seiner interpretativen Beliebigkeit verhängnisvoll ist, vgl. NK/Vormbaum, Vor §§ 153 ff./26, § 164/9), doch bildet es bei § 164 StGB ein reines Zweckkonstrukt. Die herrschende Position weiß lediglich eine ergebnisorientierte Argumentation hinter sich, die sich nur dem Wunsch nach Schließung unerwünschter Strafbarkeitslücken verdankt (stützt sie sich doch allein darauf, dass andernfalls keine Strafbarkeit bei der Auslandsverdächtigung oder der Betroffeneneinwilligung eintrete, kennzeichnend Sch/Sch/Lenckner, § 164/1 f.). Vorzugswürdig ist die Auffassung (vgl. auch Langer 1973, 43 ff., 64 f.; Deutscher 1995, 10 ff.; SK-StGB/Rudolphi/Rogall, § 164/1), wonach § 164 StGB auf die Betätigungsressourcen der Rechtspflege zielt und den Schutz der Individualgüter des verdächtigten Individuums als sekundären Effekt darin mit aufnimmt (gerade umgekehrt aber die Individualgüterschutztheorie; vgl. zu einer Synopse der beidseitigen Argumente Vormbaum 1987, 452 ff.). Die verfassungsrechtliche Zweckbestimmung rekurriert nämlich stets auf den nächstliegenden Zweck in der Zielstaffelung, d.h. auf den Punkt, an dem „sich ein mit dem Eingriff verfolgtes Gegeninteresse erstmals manifestiert“ (Arnauld 1999, 233). In Anbetracht dessen ist es wesentlich, dass § 164 StGB beim Eintritt einer Störung im Rechtspflegeapparat eingreift (Stattfinden/Fortdauern eines objektiv nicht erforderlichen Sanktionsverfahrens). Individualgüter müssen dagegen nicht notwendig beschädigt werden, und selbst wo es dazu kommt, geschieht dies vermittelt über die Rechtspflegeschädigung. Der Individualgüterschutz ist daher der ferner liegende Nutzen von § 164 StGB; verfassungsrechtlich ist er als Schutzreflex zu konzipieren. Andernfalls wäre § 164 StGB oft nur eine Wiederholung der

10. Kap.: Verfassungsmäßigkeit

369

In der bisherigen Systematik bleiben solche Strafnormen unberücksichtigt, die nicht wegen eines originären Interesses hergestellt wurden, sondern anderweitigen Eingriffsgesetzen (und damit auch deren Schutzgütern) dienen. Hierbei handelt es sich um eine 4. Gruppe von Maßnahmen, denen es genau genommen darum geht, die Geltung der gestörten Verhaltensordnung zu stabilisieren. Sie sollen die Rehabilitierung einer anderen Strafnorm unterstützen, nachdem diese missachtet wurde und der Verletzungsnachweis nunmehr zwischen dem aufklärungs- und sanktionsinteressierten Staat und dem verdeckungs- und verteidigungsbemühten Beschuldigten im Streit steht. Indirekt kommen sie so letztlich auch dem Regelungsanliegen der „vortatbetroffenen“ Vorschriften zugute. Eine derartige Funktionsstruktur weisen auf: – das drittgerichtete Verbot, die rechtlichen/faktischen Elemente einer täterbezogenen Strafrechtsentscheidung zu obstruieren, damit diese Strafverfolgungstätigkeit ungestört bleibe und tatabschreckend wirke (§ 258 I StGB)19;

individualschützenden Normaltatbestände mit ihrem Verbot, die Rechtspflegeinstitutionen zur Privatschädigung in mittelbar täterschaftlicher Weise zu instrumentalisieren (z.B. §§ 239, 25 I 2. HS StGB; dazu BGHSt 42, 275). Die im Vergleich zu § 145d StGB bestehende systematische Vorrangigkeit und die höhere Sanktionsdrohung des Justizressourcenschutzes in § 164 StGB beruht hingegen auf dem besonderen Handlungsunrecht, weil sich die Manipulation hier gezielt eines personalisierten Referenzobjektes bedient. Gegenüber der unspezifischen Irreleitung in § 145d StGB hebt sich dies als eigene Qualität selbst bei einem Einverständnis des Verdächtigen ab, weil der Täter auch dann noch mit dem qualifizierten Mittel eines individualisierten Verdachts operiert. 19 Die Debatte zum Regelungsziel der Strafvereitelung ist zerfahren. Die h.M. sieht die Rechtspflege – der Tendenz nach verstanden als Institution – bei ihrer Straf- und Maßnahmendurchsetzungstätigkeit als Schutzgut an (BGHSt 30, 77, 78; 43, 82, 84; 45, 97, 101; U. Günther 1998, 26, 34 ff. m.w.N. in Fn 32). Das schlichte institutionelle Funktionieren kann indes kaum einen legitimen Zweck darstellen, denn es schließt ohne einen materiellen Funktionsmaßstab auch die Verfolgung Unschuldiger ein. Demgemäß wendet sich § 258 I StGB nach seinem Wortlaut auch nur dagegen, die dem Gesetz gemäße Sanktionierung einer (wirklichen) Vortat zu erschweren (dazu etwa Seel 1998, 23, Arzt/Weber 2000, 26/1). Überhaupt beschreibt § 258 I StGB einen misslichen Effekt, nämlich die Verhinderung einer Straf-/Maßnahmeverhängung, mit dem sein Regelungsziel zusammenhängen muss. Die Alternativen zur herrschenden Zweckbestimmung von § 258 I StGB greifen dies allesamt auf. Sie treffen sich darin, dass § 258 I StGB, indem er die Sanktionsverhängung zu garantieren sucht, die Geltung der vortatbetroffenen Verhaltensnorm unterstützen soll. Nur das ist auch sachgerecht, bedenkt man, dass die Strafvereitelung der Sache nach eine postdeliktische Hilfe zur Normmissachtung darstellt (und sich historisch erst verselbstständigen musste). Von daher ist es hier zweitrangig, dass die verschiedenen Ansichten den genauen Vorgang, in dem sich der Endeffekt einstellen soll, unterschiedlich konstruieren: In einer Variante sichert § 258 I StGB die Verhängung der Vortatsanktion und damit den Auslöser präventiver Mechanismen der vortatbetroffenen Norm (z.B. Rudolphi JuS 1979, 859, 861; ders. 1985, 384; Schröder 1999, 36). Aus anderer Warte zielt § 258 I StGB auf eine nachdeliktische Täterisolierung, was der präventionsgenerierenden Vortatstrafe zugute kommt (z.B. Frisch, JuS 1983, 915, 921; Seel a.a.O., 24 ff.). Und auch wer durch § 258 I StGB den staatlichen Strafanspruch i.S. einer materiell legitimen Ahndungsmöglichkeit geschützt sehen will (z.B. Fezer 1993, 672 f.; SK-StGB/Hoyer, § 258/3; Altenhain 2002, 256 ff.; i.E. auch Vormbaum 1987, 388 ff.), meint im Grunde das Gleiche, weil der Strafanspruch in den Strafspruch mündet und damit die Normgeltung restabilisiert.

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

– das drittgerichtete Verbot, deliktisch bemakelte Gegenstände tätig/passiv zu tarnen, damit die Gewinnabschöpfung erleichtert und der Täter vom direkten personalen Beistand sowie von indirekter (unbewusster) Unterstützung im Wirtschaftskreislauf abschreckend abgeschottet werde (§ 261 StGB)20; – und der tätergerichtete Druck zum Tatgeständnis, mit dem ein besonders normbekräftigender Strafprozessablauf ausgelöst werden soll, der den Symboleffekt geständnisloser Verfahren übersteigt (Strafbonusofferten)21. Diese Liste an Regelungsabsichten kann erst einmal nur hingenommen werden. Aufgrund des erwähnten gesetzgeberischen Zwecksetzungsermessens ist hiergegen nichts zu erinnern. Es muss sich erst anschließend erweisen, ob der Staat jene Ziele auch mit dem Mittel des Selbstbezichtigungszwangs verfolgen darf. Sofern er bei seiner Strafgesetzgebungstätigkeit überhaupt ein Anliegen verfolgt, braucht er diesen Beweggrund keineswegs zu legitimieren22; insoweit sind ihm lediglich negative Grenzen gesetzt. Freilich erfährt er auch dabei nur marginale Beschränkungen. So wird dem Legislator nicht abverlangt (was angesichts überkomplexer Regelungsfelder auch unrealistisch wäre), sämtliche Zielsetzungen systematisch stringent und widerspruchslos zu justieren23. Selbst unbestimmte Globalschutzgüter fallen nicht aus dem Rahmen der Verfassung24. Die jeweiligen Vorhaben dürfen nur nicht grundgesetzwidrig sein. Zuweilen 20

„Dadurch, dass die finanziellen Anreize für Straftaten entfallen, weil Verbrechensgewinne abgeschöpft werden, und dadurch, dass man Straftäter isoliert, indem das aus Straftaten Erlangte verkehrsunfähig gemacht wird (...), sollen primär zukünftige Straftaten verhindert werden.“ (Barton, StV 1993, 156, 160). Die (sonstigen) Funktionen von § 261 StGB sind kontrovers (dazu BTDrucks. 12/989, 27; NK/Altenhain, § 261/7; ders. 2002, 395 ff.; Rengier 2002, § 23/2; Schittenhelm 1998, 527 f.; für einen Überblick auch Bussenius 2004, 50 ff.). 21

Der Angeklagte soll – und sei es ohne Reue – mit dem Geständnis seine Normanerkennung demonstrieren und damit Normstabilisierungsarbeit leisten. Gegenüber der Symbolkraft, die geständnislose Strafverfahren zur Aufrechterhaltung der delegitimierten Verhaltensnorm aufbieten, zielt das auf eine qualifizierte Leistung, denn der Geständige unterwirft sich der Norm und rekonstruiert seine Tat ausdrücklich als Angelegenheit seiner selbst, dementiert also den beim Normbruch erzeugten Eindruck, dass auf Seiten der normativen Ordnung ein Defekt vorläge. Zweck der Bonusofferte ist folglich eine Funktionsoptimierung gesellschaftsintegrierender Strafwirkungen (dazu Kölbel, NStZ 2003, 232, 236; i.E. mit Differenzen im Detail ebenso BGHSt 43, 195, 209; Frisch, ZStW 99 (1987), 751, 780 f.; Jerouschek, ZStW 102 (1990), 793, 816 ff.; Schäfer, 2001, Rn 383; zurückhaltend Dencker, ZStW 102 (1990), 51, 66 f.; vgl. auch BGHSt 48, 134, 141 für den Sonderfall des Geständnisses beim Täter-Opfer-Ausgleich). 22 So aber Altenhain 2002, 289 ff. mit dem vagen Hinweis auf ein abweichendes Staatsverständnis; vgl. auch Stächelin 1997, 120. 23 So wird bspw. bei § 261 StGB moniert, dass es sich mit der strafprozessual anerkannten Verteidigungseinheit von Anwalt und Beschuldigten nicht zusammenfüge, den Vortäter auch von anwaltlichen Akteuren isolieren zu wollen (vgl. OLG Hamburg, NJW 2000, 673, 679). Verfassungsrechtlich ist damit freilich nur eine unbedenkliche Relativität kollidierender Anliegen festgestellt. 24 Vgl. aber die Warnung von Sternberg-Lieben (1997, 417), man könne sich mit vagen Gefährdungsnachweisen für allzu unscharfe überindividuelle Schutzinteressen begnügen.

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müssen sie den Verfassungsrang einnehmen25. Das betrifft überwiegend die schrankenlos gewährten Grundrechte26, bei nemo tenetur also insbesondere Art 103 I GG. Bei den punktuellen Verboten der Prozesslüge, die hierin eingreifen, werden indes Güter geschützt (Ehre, Rechtspflegeressourcen), die verfassungsrechtlich verankert sind (vgl. Art 2 I, 1 I GG und Art 92 ff. GG)27.

2. Eignung strafrechtlicher Verhaltensnormen Wenn der Staat die genannten Pläne gerade mit nemo-tenetur-Eingriffen verfolgt, wird von ihm gefordert, dass er damit ein zielführendes Unternehmen betreibt. Die fraglichen Verbots-/Gebotsnormen müssen imstande sein, einen förderlichen Beitrag zu leisten, damit eine Schädigung der jeweils geschützten Interessen unterbleibt28. Allerdings wird die dementsprechende Tauglichkeit einer verhaltenssteuernden Regelung gewissermaßen rechtstheoretisch fingiert: Die Eignung gründet auf dem Befolgungsanspruch der Verhaltensnorm, die den nemo-tenetur-Träger dadurch von seinem unerwünschten Tun und Lassen abhält, dass er die Vorschrift konkretisieren und in sein Handlungskalkül aufnehmen muss29. Ihre Verbindlichkeit macht die Selbstbelastungspflicht zum brauchbaren Instrument gegen schadensgeneigte Wissenszurückhaltung. Dass es faktisch effektivere Mittel des Staates geben mag, ist dafür ohne Belang. An Geeignetheit würde es nur dann fehlen, wenn die Norm mit ihrer Lenkungswirkung in die Irre weist und dem Adressaten eine Geheimhaltungsform untersagt, durch die das zu schützende Rechtsgut überhaupt nicht in Not geraten kann. Dafür enthält das hiesige Material keine Beispiele. Dass indes in singulären Konstellationen durchaus Zweifel an der Geeignetheit aufkommen können, erweist sich an einem Sonderproblem der strafprozessualen Verständigung. Das Gericht, das durch einen Strafmilderungsvorschlag ein Geständnis

25 Außerdem sehen mitunter auch qualifizierte Gesetzesvorbehalte eine Eingriffszweckbeschränkung vor. Im strafrechtlichen Kontext dazu und zur dahingehenden BVerfG-Rechtsprechung etwa Paulduro 1992, 139; Vogel, StV 1996, 110, 111 f.; Lagodny 1996, 138 ff.; Appel 1998, 198 ff.; Weigend 1999, 932; Fisch 2000, 189. 26 Für deren Beschränkbarkeit kann nicht jedes Interesse genügen (vgl. nur Dreier/Dreier, Vorb. Art 1/139 ff.; Sachs/Sachs, Vor Art 1/120 ff.; Müller 1975, 175 f.; Lübbe-Wolff 1988, 94 ff.; Stern/Sachs 1994, 624 f.; Misera-Lang 1999, 184 ff., 308 ff. m.w.N. zur Rspr.). 27

Vgl. Rüping 1976, 162; Münch/Kunig, Art 103/3c; Dreier/Schulze-Fielitz, Art 103 I/80.

28

Die gesetzgeberische Mittelwahl muss nach der Rspr. des BVerfG (zuletzt E 109, 279, 336) nicht auf das optimale Instrument gefallen sein (vgl. Günther 1983, 183 f.). Andernfalls würde der Gestaltungsspielraum des zur Entscheidung über das Vorgehen autorisierten Gesetzgebers sachwidrig reduziert (näher Clérico 2001, 38 ff.). 29 Dazu oben II.1.a) in Kap. 9. Falls ein Teil der Adressaten die Norm zu „umgehen“ vermag, widerlegt das die Tauglichkeit nicht (vgl. BVerfGE 47, 109, 118 f.; Lagodny 1996, 175).

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veranlasst, kann davon ausgehen, dass der Beschuldigte einen demonstrativen Akt der Norm-Anerkennung vollzieht und damit an der zeremoniellen Normstabilisierung mitwirkt. Es nimmt also einen sachdienlichen Grundrechtseingriff vor, um die Geltung der vom Angeklagten gebrochenen Verhaltensnorm zu unterstützen30. Dafür muss jedoch die Absprache-Prozedur den in BGHSt 43, 195 formulierten Anforderungen genügen. Nur dann geht das Gericht eine selbstverpflichtende Zusage ein, weswegen die sichere Aussicht besteht, dass der Angeklagte sein einmal abgelegtes Bekenntnis im Hinblick auf die gerichtliche Gegenleistung ebenfalls aufrechterhält. Werden hingegen die höchstrichterlich formulierten Absprache-Regeln missachtet und ist der Richter deshalb an sein Versprechen nicht mehr gebunden, wird im Gegenzug auch der Angeklagte dementieren. Sein Geständnis verliert, da es nicht beibehalten wird, die normbekräftigende Symbolik31. Um das Ziel eines qualifizierten präventiven Prozessverlaufs zu verfolgen, fehlt dem Strafmilderungsvorschlag, der in eine irreguläre Verständigung eingebunden ist und somit das strukturelle Risiko des Geständniswiderrufs birgt, demzufolge die Eignung32.

3. Erforderlichkeit strafrechtlicher Verhaltensnormen Das Verhältnismäßigkeitsprinzip verlangt auf seiner Erforderlichkeitsstufe einen fallspezifischen Eingriffsfolgenabgleich zwischen verschiedenen Typen des Staatshandelns: Der Staat darf über keine anderweitigen Instrumente verfügen, von denen die in Obhut genommenen Interessen (mindestens) ebenso effektiv bewahrt werden, ohne die Geheimhaltungsmöglichkeiten des nemotenetur-Trägers überhaupt oder vergleichbar intensiv zu beschneiden. Solche alternativen Zielverfolgungsmittel ergeben sich bisweilen aus normativen Variationen oder den Potenzialen nicht-imperativer Verhaltenslenkung33.

30 Kein Eingriff liegt vor, wo das Geständnis durch das richterliche Angebot nicht bedingt ist, etwa wenn sich der Angeklagte einlässt, obwohl gar keine wirksame Absprache vorliegt, weil z.B. keine Einigung erzielt wurde oder der Angeklagte vereinbarte Vorleistungen nicht erbracht hat (dazu Kölbel, NStZ 2003, 232, 235 f.). 31 Dass ein ausgehandeltes Geständnis innerhalb einer rechtmäßigen Absprache solche normbekräftigende Wirkungen erzielt, ist eine plausible Erwartung des Gerichts (oben Fn 21). Bei einem unzulässigen Abspracheverlauf ist diese Annahme dagegen von vornherein unrealistisch. Das Gericht kann sich auch nicht darauf zurückziehen, es habe sich die symbolischen Effekte wenigstens im Rahmen einer Einschätzungsprärogative versprechen dürfen. Über einen solchen Spielraum verfügt es nicht (vgl. auch Sternberg-Lieben 1997, 454). Derartige Rücknahmen an rechtlichen Kontrollen bestehen aus Gründen der Gewaltenteilung – also nur gegenüber der Legislative. 32

Zum Ganzen im Detail Kölbel, NStZ 2003, 232, 236. Der geständnismotivierende Eingriff (= die unverbindliche, da unsorgfältig herbeigeführte Strafmilderungszusage) ist nur noch für solche Ziele funktional, die auch durch die Verwertung eines widerrufenen Geständnisses befördert werden. Das kann im Einzelfall bei der Vermeidung vernehmungsbedingter Schäden des Opferzeugen der Fall sein. Ansonsten käme als ein solches anderweitiges Ziel nur das schiere Strafverfolgungsinteresse in Betracht (hierzu Fn 112). 33

Für einen umfassenden Katalog staatlicher Handlungsformen vgl. Kloepfer 1998, 193 ff.

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a) Zweckverfolgung durch nicht-imperative Alternativen Der Staat könnte beispielsweise selber vornehmen, was die (verfängliche) Gebotsnorm vom Bürger verlangt. Das wäre etwa dann der Fall, wenn er die zur Sicherung seiner Finanzausstattung erforderlichen Informationen, die er sich gegenwärtig durch eine Pflicht zur korrekten Angabe eigener Bezüge (§ 370 AO) verschafft, durch eine aktive Einkunftsüberwachung eigenständig erhebt. Jedenfalls gegenüber den hier untersuchten Grundrechten wäre dies die eher schonende Handlungsform. Das vom nemo-tenetur-Träger zurückgehaltene Tatwissen würde zwar ebenfalls aufgedeckt, aber ohne dafür den Wissensträger zu bemühen. In diese Zielverfolgungsform sind jedoch von Haus aus erhebliche Wahrnehmungslücken eingebaut, weil der Staat die gesuchten Daten per Überwachung immer nur selektiv erfasst. Verglichen mit der Mitteilungspflicht aller Bürger, die ihrem normativen Anspruch nach lückenlos ist, erreicht eine solche Eingriffsalternative keine adäquate Eignung34. Eingriffsmilder als Verhaltensnormen sind auch indirekte Steuerungsmodi, die den Adressaten mit der Ankündigung von Vor- und Nachteilen beeinflussen35. Deshalb könnte man darauf verfallen, das geheimhaltungsbemühte Nachtat- und Prozessverhalten nicht durch eigenständige (tatbestandsimplizite) Verbote/Gebote, sondern ausschließlich mittelbar über Verschiebungen der Vortatsanktion lenken zu wollen. Bei einer solchen Vorgehensweise wäre jedoch schon die strafzumessungsrechtliche Zuträglichkeit problematisch. Außerdem kann man nur dort von einer milderen Eingriffsalternative sprechen, wo die fragliche Maßnahme eine (mindestens) gleichwertige Zielverfolgungseignung aufweist. In dieser Hinsicht belässt das BVerfG dem Gesetzgeber einen breiten Einschätzungsspielraum. Das Gericht versetzt sich in die ursprüngliche Entscheidungsposition und sanktioniert allein evidente Fehleinschätzungen (da die Legislative angesichts der Unwägbarkeiten von Prognosen ansonsten paralysiert würde). Bei dieser geringen Prüfungsdichte wären die selbstbezichtigungsrelevanten Verhaltensnormen nur dann unverhältnismäßig, wenn für ein präsentes eingriffsmilderes Instrument die adäquate Brauchbarkeit ex ante feststand36. 34

Vgl. zu diesem Bsp. auch Berthold 1993, 62.

35

Hier besteht die rechtliche Freiheit zum unerwünschten Verhalten (unter Inkaufnahme des Nachteils/Vorteilsverlustes), während die Verhaltensnorm die Legalität dieser Verhaltensmöglichkeit gerade abschneidet (vgl. Lagodny 1996, 182 f.). 36 Zuletzt BVerfGE 109, 279, 340 f.; hierzu Paulduro 1992, 140 ff., 178 ff.; Günther 1983, 184, 190; Vogel, StV 1996, 110, 113; Lagodny 1996, 173 ff., 180; Sternberg-Lieben 1997, 437, 448 ff.; Appel 1998, 175 ff. jeweils m.w.N. zur Rspr. des BVerfG, das das Spannungsverhältnis zwischen der Parlamentssouveränität (d.h. der Gewaltenteilung und den daher demokratisch legitimierten Entscheidungsspielräumen des Gesetzgebers) und der Verfassungssouveränität (dem Rechtsstaatsprinzip und der deshalb kontrollierbaren Verfassungsbindung des Legislativhandelns) auszubalancieren versucht (zum Problem Raabe 1998, 147 ff.; Meßerschmidt 2000, 443 ff.; Cléri-

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Angesichts der empirisch nicht eruierten Wirkungsabläufe lässt sich dies für den hier angedachten Einsatz der Strafzumessung schwerlich behaupten. Bei einem Mangel an evidenten Eignungsäquivalenten verhindert also die legislative Einschätzungsprärogative, dass sich die nemo-tenetur-Eingriffe am Erforderlichkeitskriterium wirklich reiben. Umgekehrt reduziert sich dadurch aber auch, dies sei hier am Rande angemerkt, die Verfassungsnotwendigkeit strafgesetzlicher Freistellungen, etwa bei der Verdunklung (§ 258 I StGB) und der Prozesslüge (§§ 153 ff. StGB; §§ 145d II Nr. 1, 164 StGB). Gewiss wird durch den Umstand, dass der Staat das Fehlen jener strafrechtlichen Reglementierung mit seinem Ermittlungsapparat kompensieren und die Rechtspflege selbst schützen kann37, die Annahme genährt, dass angesichts dieser faktischen Schutzmöglichkeiten der massivere Verbotsweg ohnehin verstellt gewesen sei38. Der Gesetzgeber hätte indes die Tauglichkeit jener außerrechtlichen Alternativen genauso gut auch skeptischer beurteilen können, ohne damit seinen Einschätzungsspielraum zu überschreiten. Deshalb war er zu seinem Strafrechtsverzicht durch den Erforderlichkeitsaspekt keineswegs gezwungen.

b) Zweckverfolgung durch alternative Strafnormen Nun mag man eine eingriffsmildere Variante der strafnormativen Zweckverfolgung darin sehen, dass eingriffssensible Personengruppen aus dem Adressatenkreis der fraglichen Norm herausgenommen werden39. Bei der Eingriffserforderlichkeit sind diese Erwägungen jedoch fehlplaziert. Solche Regelausnahmen setzen die Verfolgung des Normziels passagenweise aus, wohingegen es bei der Erforderlichkeit um eingriffsmildere Maßnahmen geht, die das angezielte Vorhaben auch ohne solche Abstriche fördern. Solche minderschweren Alternativen können dagegen aus einem anspruchsvolleren Erfolgsbezug des jeweiligen Strafgesetzes resultieren. So führt beispielsweise die Verhaltensnorm eines abstrakten Gefährdungsdeliktes zur vollständigen Untersagung der jeweiligen Handlung, während der Normadressat eines Erfolgs- oder eines konkreten

co 2001, 46 ff.). Weitgehend unbeachtet bleibt dabei freilich, dass die Entscheidungsprärogativen des Legislators durch seine demokratische Legitimierung nur unzureichend legitimiert werden, weil durch diesen Status noch lange nicht gewährleistet ist, dass der Gesetzgeber auch das „richtige“ Sachwissen im erforderlichen Umfang akkumuliert (eingehend Ladeur 2004, 16 ff., 27 f.). 37

Eingehend dazu H. Schneider 1991, 159, 192, 374 f., 379 ff., 383 ff.

38

So für eine Wahrheitspflicht des Beschuldigten Torka (2000, 82; ähnliche Tendenz bei Fezer 1993, 672). Lagodny (1996, 383) bezweifelt jedenfalls die Erforderlichkeit einer Strafbewehrung. 39 Im nemo-tenetur-Kontext erwägt man das z.B. bei §§ 261, 13 StGB (vgl. die Überlegungen bei Werner 1996, 113 f.; für eine ähnliche Konstellation OLG Hamburg NJW 2000, 673 ff.; Hombrecher 2001, 81 ff.; Barton, StV 1993, 156, 162).

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Gefährdungstatbestands diese Aktivität nur unterlassen muss, wenn deren situative Gefahrschaffungsneigung abzuschätzen ist. Verbote abstrakter Gefährdung illegalisieren mithin ein größeres Verhaltensspektrum und sind demnach die intensiveren Grundrechtseingriffe40. Im Katalog des nemo-tenetur-Strafrechts betrifft das § 153 StGB, wo dem Zeugen die (geheimhaltungsmotivierte) Lüge unabhängig von ihrer interaktiven Wirkung versagt wird. Verglichen mit diesem Verbot, die justizielle Tatsachenermittlung auch nur abstrakt zu gefährden41, nähme sich ein Erfolgsdelikt als gelindere Alternative aus, da bei ihm die wissensverbergende Falschaussage partiell (etwa bei Entscheidungsunerheblichkeit) unverboten bliebe42. Freilich könnte sich ein Prozessreglement, das solche Lügemöglichkeiten eröffnet, gegenüber der schroffen Kompaktheit ausnahmsloser Verbote gewisse Effektivitätsverluste bei der Sicherung vertrauenswürdiger justizieller Tatsachenerhebung einhandeln43. Zumindest bleibt diese Befürchtung innerhalb der legislativen Einschätzungsprärogative.

c) Zweckverfolgung durch anderweitige Strafnormen Dichtere Eingriffsschranken begründet das Erforderlichkeitskriterium nur in einer Ausnahmekonstellation, und auch diese fußt nicht auf der Greifbarkeit grundrechtsschonender Alternativen, sondern auf der Existenz einer bereits wirkenden strafrechtlichen Steuerung. Unter diesen Vorzeichen rückt zunächst einmal die täterprivilegierende Auslegung von § 138 StGB44 in die Nähe der Grundrechtsgebotenheit. Die Anzeigepflicht in § 138 StGB dient nämlich den gleichen Schutzgütern wie jene Normen, deren (bevorstehende) Verletzung vom

40 Ihr oft geringeres Strafmaß ist für die Verhaltensbeschränkungsdifferenz unerheblich. Zum Problem eingehend Lagodny 1996, 186 ff., 200 f. 41 So BGHSt 8, 301, 313; 45, 16, 24; Sch/Sch/Lenckner, Vor §§ 153 ff./3; Tröndle/Fischer, Vor § 153/1; NK/Vormbaum, § 153/38; Müller 2000, 71; zum älteren Schrifttum Herrmann 1973, 176; auf die abstrakte Gefährdung der entscheidungsbetroffenen Drittgüter abstellend Hefendehl 2002, 324 f. 42 Freigestellt könnten also solche straftatverdeckende Falschaussagen bleiben, die z.B. für die justizielle Entscheidungsfindung thematisch irrelevant, beweisrechtlich unverwertbar oder mangels Glaubhaftigkeit belanglos sind (zur dahingehenden Diskussion vgl. Vormbaum 1987, 262 ff.; Müller 2000, 68 f.). Rechtspolitisch spricht sich Herrmann (1973, 178 ff.) für diese Lösung aus (vgl. auch Vormbaum 1992, 8 ff. und unten III.1.b) in Kap. 12). 43 Vgl. Vormbaum 1992, 7; Müller 2000, 70 f. m.w.N.; Otto 2005, § 97/2; siehe auch Lagodny 1996, 215; Appel 1998, 572 ff. 44

Dazu m.N. oben VI.1. in Kap. 1.

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Grundrechtsträger aufzudecken ist45. Diese Einzelbestimmungen untersagen die fragliche Schädigung auch noch nach Angriffsbeginn, nur verlangen sie in diesem Stadium vom Täter, das Verletzungsverbot durch seine Umkehr einzuhalten46. Oftmals ist er dadurch zur Einschaltung der Polizei gehalten, vornehmlich in Sachgestaltungen, in denen die betreffende Tat auch ohne sein ausbleibendes Zutun abgeschlossen würde47. Da dann also schon die haupttatbetroffene Norm zur Verbrechensanzeige verpflichtet, bedarf es dafür keiner eigenen Vorschrift. Letztlich verhindert die h.M. durch die restriktive Auslegung von § 138 StGB, dass dieser Tatbestand vom nemo-tenetur-Träger in entbehrlicher Weise etwas verlangt, was dieser ohnehin meist schuldet. Aus ähnlichen Gründen erscheint es bedenklich, wenn die Rechtsprechung mit vortatbezogenen Strafschärfungen auch dann auf ein missliebiges Prozessverhalten reagiert, wenn dieses selbstständig strafbar ist (oben II.3.a) in Kap. 9). In Ansehung der vorhandenen tatbestandlichen Schädigungsverbote (etwa § 187 StGB) verdoppeln die unausgesprochenen Normen, die von dieser Strafzumessungspraxis erzeugt werden, nur die bestehende Untersagung. Der derart draufgesattelte Strafzuschlag kann neben der lex lata keine eigene Regelungswirkung erzielen. Ein Geheimhalten, das, um im Beispiel zu bleiben, die Zeugenehre missachtet, ist bereits illegal, sodass die verhaltenslenkenden Effekte der hinzukommenden Strafschärfung gleichsam ins Leere stoßen. Dort, wo sie dem Prozessgebaren die Richtung vorgeben sollen, sind alle Weichen schon gestellt. Daher mangelt es der Strafschärfung an der Erforderlichkeit für die Verfolgung ihres Regelungsziels48.

45 § 138 StGB leitet sein Schutzgut von deren Schutzgütern ab. Sein Regelungsziel liegt in der Geltungssicherung dieser bezugstatbetroffenen Normen (durch erhöhte Abschreckung und bessere Tatverhinderungsmöglichkeiten). § 138 StGB gehört also zu Gruppe 4 (oben 1.). 46 Die unterlassene Erfolgsabwendung tritt folglich erst auf Konkurrenzebene hinter das vorangegangene Begehungsdelikt zurück (hierzu etwa Welp 1968, 321 ff.; Stein, JR 1999, 265, 271 ff.; Kühl 2002, § 18/105a m.w.N.). 47

Dazu Jerouschek/Kölbel, JZ 2003, 613, 615; vgl. auch Schmidhäuser 1988, 31 ff. (mit abweichenden Folgerungen). 48 Da die Strafschärfungsjudikatur im Hinblick auf bereits vorhandene Handlungssteuerungen überhaupt keine Lenkungswirkung entfaltet, ist auch ihre Geeignetheit zweifelhaft. Ihre Überflüssigkeit ist besonders deshalb von Belang, weil sie auf außerlegislatorischen Akten einer ständigen Rspr. beruht, der das gesetzgeberische Vorgehen (nämlich die vorhandene Riege eigenständiger Strafnormen) nicht zu genügen scheint. Wollte man die Konstituierung einer zusätzlichen, zu bereits bestehenden Verboten deckungsgleichen Regelung für einen zur Zielerreichung tauglichen und erforderlichen Eingriff halten, ergäben sich i.Ü. Bedenken auf sekundärrechtlicher Ebene. Hier kann sich die Nachtat-Strafe mit dem Zuschlag zur Vortat-Sanktion nämlich zu einer überzogenen „Gesamtsstrafe“ summieren, falls die beteiligten Gerichte nicht mit ihrem Rechtsfolgeermessen gegensteuern müssen.

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4. Angemessenheit der strafrechtlichen Verhaltensnormen Dass der Gesetzgeber diversen Interessen seine strafrechtliche Fürsorge angedeihen lässt, muss schließlich, insofern es zu Lasten grundrechtlicher Selbstbezichtigungsfreiheiten geht, einer Ergebniskontrolle standhalten. Die Zurückstellung des Geheimhaltungsinteresses darf sich gegenüber dem jeweiligen Schutzanliegen nicht als unangemessen ausnehmen und als Grundrechtsverkürzung nicht wesentlich schwerer wiegen49. Die Verfassung gibt sich hierbei aber nicht schon mit dem bloßen Ausschluss von Missverhältnissen zufrieden50, sondern verlangt eine anspruchsvollere „praktische Konkordanz“.

a) Praktische Konkordanz Die Angemessenheitsabwägung ist nicht irgendein verfassungsrechtlicher Topos. In der heutigen Grundrechtsdogmatik tut sie sich eher als lingua franca hervor und besetzt die thematischen Schwerpunkte der gesamten Verhältnismäßigkeitsprüfung. Hierfür offeriert die Prinzipientheorie von Alexy eine prominente rechtstheoretische Erklärung51. Nach deren Annahmen weisen Grundrechte die Normstruktur eines Prinzips auf. Ihre Normativität ist darauf gerichtet, die Rechtsfolge im Rahmen der rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten des jeweiligen Falles bestmöglich umzusetzen. Bei der komplementären Normgattung – d.h. bei den nach Art eines Konditionalschemas beschaffenen Regeln – tritt das Angeordnete indessen ganz oder gar nicht ein, je nach Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen. Werden in einem Sachverhalt zwei unvereinbare Regeln wirksam, ist dies deshalb nur dadurch aufzulösen, dass eine beteiligte Norm infolge eines tatbestandlichen Vorbehalts (oder wegen einer Metanorm) zurücktritt. Ein Prinzip wird dagegen im Kollisionsfall (nur) dem Grade nach 49 Anhand einer strafgesetzlichen Verhaltensnorm repräsentativ BVerfGE 90, 145, 185: Die Abwägungsprüfung diene dazu, „die als geeignet und erforderlich erkannten Maßnahmen einer gegenläufigen Kontrolle im Blick darauf zu unterwerfen, ob die eingesetzten Mittel unter Berücksichtigung der davon ausgehenden Grundrechtsbeeinträchtigungen für den Betroffenen noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem dadurch erreichbaren Rechtsgüterschutz stehen.“ Die geeignete und erforderliche Verhaltensnorm dürfe „nicht angewandt werden, (...) (wenn) die davon ausgehenden Beeinträchtigungen der Grundrechte des Betroffenen den Zuwachs an Rechtsgüterschutz deutlich überwiegen“. 50

Auf eine solche Schwelle des unverhältnismäßigen Opfers reduzieren aber z.B. Günther 1983, 206 f. und Mangoldt/Klein/Starck, Art 1 Abs. 3/243 die Proportionalitätsprüfung. 51 Zum Folgenden vgl. Alexy 1994, passim oder 1995, 216 ff., 2003, 217 ff. (zu weiteren prinzipientheoretischen Varianten zusammenfassend Borowski 1998, 62 ff.). Alexys Konzept wurde für das materielle Strafrecht rezipiert von Koch, ZStW 104 (1992), 785, 802 ff.; für das Strafverfahrensrecht etwa von Lammer 1992, 53 ff.; Lorenz, JZ 1992, 1000 ff.; Steiner 1995, 140 ff.; Schlüter 2000, 125 f.

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beeinträchtigt, da sein Realisierbarkeitsanspruch von vornherein unter dem Vorbehalt gegenläufiger Normen steht: Diese bestimmen mit ihrem fallspezifischen Gewicht, in welchem Maß das Prinzip erfüllbar ist. Nach Alexy bildet es eine typische Prinzipienkollision, wenn zu Gunsten eines verfassungsrechtlichen Gutes in ein Grundrecht eingegriffen wird. Die fallkonkrete Direktionskraft der beiden grundgesetzlichen Positionen ist dann durch die jeweils andere begrenzt, wobei die optimale Erfüllbarkeit dieser Belange in der Angemessenheitsabwägung herausgearbeitet wird. Die dabei zum Zuge kommenden Erwägungen sind daran auszurichten, dass mit zunehmendem Beeinträchtigungsgrad des verkürzten Prinzips der Wichtigkeitsgrad des realisierten Prinzips steigen muss52. Dasjenige Verfassungsgut, das hierbei letzten Endes obsiegt, steht dann gegenüber dem anderen Interesse in einer Vorrangrelation, die sich indes auf den Fallkontext der jeweiligen Abwägung beschränkt und für andere Sachverhalte neuerlich herauszuarbeiten ist53. Es ist ein Verdienst dieser Abwägungslehre, auf die Nichtexistenz sakrosankter Verfassungsgüter hinzuweisen. Unverfügbare Interessen, die jeder Abwägung per se entzogen wären, gibt es nicht54. Jegliche Belange müssen, wie schutzwürdig sie auch anmuten, immer erst in der Verhältnismäßigkeitsabwägung gegenüber jeweils entgegengesetzten Gesichtspunkten die Oberhand gewinnen55. Einen hervorgehobenen Nimbus erlangen sie nur im Sediment der bereits erfolgten Abwägungen, sofern sie aus diesen jeweils als vorrangig hervorgingen. Solchen Schutzgütern wächst mit der Zeit eine scheinbare Unbedingtheit zu, doch in der Sache verbirgt sich hinter ihrer vermeintlichen Abwägungsfreiheit lediglich die Erfahrung ihrer regelhaften (und oftmals evidenten) relativen Vorrangigkeit56. Selbst die elementarsten Rechte des Be52

So genanntes Abwägungsgesetz, dazu Alexy 1994, 146; ders. 1995, 226; ders. 2003, 232; eingehend Jansen, Staat 1997, 27 ff.; vgl. auch Lindner 1997, 77 ff., der entsprechende Kriterien namhaft macht. 53 Solche fallbedingten Vorrangrelationen haben die Form einer Präferenzregel (unter den Bedingungen des Falles X hat das Gut A vor dem Gut B Vorrang). Rspr. und Dogmatik erarbeiten hiervon einen Bestand, der sich um das jeweilige Grundrecht rankt und dann wie eine Regel abgerufen werden kann. 54

Dergleichen vertritt im Strafprozessrecht v.a. Wolter mit einer pointierten Abschichtung zwischen einem abwägungsoffenen Normalbereich strafprozessualen Eingriffshandelns und dem durch die Menschenwürde- und weithin auch die Wesensgehaltsgarantie abgesteckten abwägungssicheren Kernbereich (SK-StPO, Vor § 151/25 ff., 29 ff.; 1990, 503; NStZ 1993, 1, 3 ff.; ZStW 107 (1995), 793, 831 ff.; dafür auch Rüping, ZStW 91 (1979), 351 f.; Hassemer 1988, 197 ff.). Dazu, dass man manchmal nemo tenetur ebenfalls zu jenen Rechten zählt, in die ein Eingriff niemals möglich sei, vgl. Fn 353 in Kap. 1. 55 In den Begriffen der Prinzipientheorie ist auch Art 1 I GG am Ausgangspunkt seiner Konkretisierung ein Prinzip (Menschenwürde i.w.S.), sodass menschenwürderelevante Gegenstände mit kollidierenden Belangen abgewogen werden müssen. Nur soweit sie dabei überwiegen, handelt es sich bei ihnen um Bestandteile der Menschenwürde i.e.S., die nach der Regel des (so konkretisierten) Art 1 I GG unangreifbar und absoluten Ranges sind (vgl. Alexy 1994, 95 ff.). 56

Vgl. Alexy a.a.O.; Borowski 1998, 215 ff.; Lorenz, JZ 1992, 1000, 1005.

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schuldigten, mag man sie noch so restriktiv zuschneiden57, unterliegen solchen Interessenwidersprüchen, die gar nicht anders als durch (abwägende) Bevorzugung einer Seite aufzulösen sind. Den schein-absoluten Subjektgarantien geht also unvermeidlich ein (verstecktes) Werten, Wägen und Vergleichen mit entgegenstehenden Topoi voraus58, das in neuartigen Konfliktlagen auch einmal anders ausfallen kann.

Dennoch kommt die hier herangezogene Strukturierende Rechtslehre mit dem prinzipientheoretischen Ansatz nicht ohne weiteres überein, insbesondere wegen der mit ihm verschweißten Argumentationstheorie. Beispielsweise stimmt es skeptisch, wenn sich Regeln von Prinzipien dadurch unterscheiden sollen, dass sie ein gleichförmiges Subsumieren erlauben. Obwohl sich Alexy dezidiert vom Modell des klassischen Justizsyllogismus und von jeder Abbildtheorie der Sprache absetzt, klingt bei ihm dennoch ein dahin tendierendes Bedeutungskonzept an, da er es semantischen Regeln grundsätzlich zutraut, den Sinn einer Norm zu erschließen59. Tatsächlich werden solche Sprachregeln in den praktischen Gebrauchsweisen als praxisinhärente Regelhaftigkeiten aber überhaupt erst herausgebildet, sodass sie keinen sprachäußerlichen Maßstab für einen korrekten Gebrauch sprachlicher Zeichen abgeben können60.

57

Ein strenger (enger) Tatbestandszuschnitt der beteiligten Verfassungsgüter verringert die Kollisionswahrscheinlichkeit, ohne sie auszuschließen. 58 Vgl. Hassemer, der ausgeht von einer rechtsphilosophischen Position, die sich der Relativität ihrer Befunde bewusst ist und das Recht argumentierend (statt deduzierend) zu unverzichtbaren Rechtswerten berät (1988, 200). So, wie er sich einbindet in den Disput, warum etwa die Folter, nicht aber der Blutprobenzwang unverfügbare Güter verletze (a.a.O., 202), greift er dabei zurück auf ein wägend erörterndes Schutzgutbestimmen, dass in der Vorgehensweise derjenigen entspricht, mit der man ansonsten die Rechtfertigung von Schutzgutverletzungen begründet oder ablehnt. Die Vor-Positivität des Argumentierens lässt die formale Argumentstruktur, in der sich die fraglichen Beschuldigtenpositionen erst in der Konfrontation mit anderen Belangen abzeichnen, also unberührt (kennzeichnend auch SK-StPO/Wolter, Vor § 151/31 ff.; Kahlo, KritV 1997, 183, 201 ff.). 59

Dass er diesen Feststellungsmodus durch eine bedeutungsfestsetzende Rechtsgewinnungsvariante (für die er einen Fächer juristischer Argumente entwickelt) nur anreichert, ist verschiedentlich demonstriert worden (vgl. Christensen 1989, 74 ff., 83 ff., 184 ff.; Busse 1993, 175, 179 f.; Müller/Christensen 2004, Rn 254 ff.). 60 Man mag hier einen sich intersubjektiv und habitualisiert einstellenden Konsens konstatieren können, aber keine abgeschlossenen und kritikresistenten Sprachgesetze, die den unendlichen Sinngebungsstreit unterbinden könnten (oben II.2.d) in Kap. 3). Bei Alexy hingegen ist Normkonkretisierung letztlich als argumentatives Spiel der Gründe gedacht, das sich um das Auffinden einer notwendigen Verknüpfung bemüht. Dies betrifft bei der Prinzipienkollision auch die These von der auffindbaren richtigen Abwägung. Nach Alexy führen Abwägungen stets zu einem eindeutigen Ergebnis, weil sie entweder eine reale Ungleichwertigkeit der abzuwägenden Belange feststellen (VVDStRL 61, 2002, 7, 22) oder deren reale Gleichwertigkeit konstatieren und dem Norminterpreten deshalb einen Entscheidungsspielraum zuweisen (a.a.O., 22). Das ist freilich kaum damit zusammen zu bringen, dass Abwägungen in einer pluralen Gesellschaft notwendig plural ausfallen (vgl. auch die eingehende Kritik bei Jestaedt 1999, 229 ff.).

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

Es wäre allerdings denkbar, das Prinzipienmodell aus seiner diskurstheoretischen Einbettung zu lösen und für die Strukturierende Lehre dadurch fruchtbar zu machen, dass man gewisse Zwischenstufen der Normprogrammanalyse mithilfe der Prinzipienstruktur beschreibt. Der Gewinn für die Strukturierende Rechtslehre bestünde in der eigenständigen Erfassung jener Arbeitsschritte, die bei der Grundrechtsauslegung im Güterkollisionsfall unvermeidbar anfallen61. Nicht beseitigt würde damit aber das Rationalitätsdefizit dieser Interpretationselemente. Darin liegt überhaupt das eigentliche Manko, das hauptverantwortlich ist für das Unbehagen, das die gesamte Abwägungspraxis hervorruft. Ihr fehlen materielle Gewichtungskriterien, da es an einer kontextübergreifenden Güterordnung im Grundgesetz62 oder einer interindividuell konsentierten Präferenzskalierung mangelt63. Deshalb liegt die Befürchtung nicht fern, die Abwägungsdogmatik mache sich mit einer „Kadivernunft des Einzelfalls“ gemein64. Auch die Kontrollierbarkeitseffekte des Prinzipienmodells, das nach Alexy immerhin sage, „was rational begründet werden muss“65 (nämlich die Beeinträchtigungsund Wichtigkeitsgrade der beteiligten Interessen66), belassen unbestritten einen beträchtlichen dezisionistischen Rest. Deshalb konnte es auch der Strafverfahrensdogmatik nicht gelingen, über das Zusammenstellen relevanter Gesichtspunkte (Güterwichtigkeit, Eingriffsfolgen)67 hinauszugelangen und die Subjektivität der prozessualen Verhältnismäßigkeitsabwägungen aufzuheben. In den daraus gezogenen Konsequenzen kommt das abwägungsskeptische Schrifttum (einschließlich der Strukturierenden Rechtslehre) mit der prinzipien61

Die bei Prinzipienkollisionen einsetzenden Vorgänge wären dann also kein Arbeitsschritt, der auf eine vorgängige Auslegung folgt, sondern ein integrales Normkonkretisierungselement, d.h. eine von zahlreichen Operationen innerhalb der Normbereichs- und Normprogrammanalyse. 62

Ob das BVerfG eine solche Ordnung jemals vertreten hat, ist fraglich (vgl. Dreier 1993, 17 ff.). Das Schrifttum jedenfalls lehnt sie durchweg ab (stellvertretend Müller 1990, 18 ff.; ders. 1994, 216 ff.; Habermas 1992, 309 ff.; Alexy 1994, 138 ff.). 63 Fraglich ist es schon, ob sich für die verschiedenartigen Abwägungsposten wenigstens gemeinsame „Maßeinheiten“ finden lassen. 64 Müller 1990, 5. Das gleiche bittere Wort findet Luhmann (1997, 397). Für die Kritik grundlegend Schlink 1976, 134 ff., 154 ff.; vgl. auch ders., EuGRZ 1984, 457, 461 f.; Müller 1969, 20 ff.; ders. 1990, 17 ff.; ders. 1994, 207 ff.; im straf-(prozess-)rechtlichen Kontext Degener 1985, 30 ff.; Paeffgen 1986, 173 ff.; Köhler, ZStW 107 (1995), 10, 16; Appel 1998, 397 f.; Wolf 2000, 73 f.; zum Abwägungsproblem auch – obschon eher affirmativ – Sternberg-Lieben 1997, 406 ff. 65

Alexy 1994, 152; zum Abwägungsgesetz oben bei Fn 52.

66

Durch diesen Fokus auf die situative Interessenkonstellation werden aber, wie Ladeur (2004, 12 ff.) moniert, die langfristigen Interventionsfolgen ebenso ausgeblendet wie die Wirkungen der Nicht-Intervention (bzw. der gesellschaftlichen Selbstorganisation). 67 Zu solchen strafprozessspezifischen Topoi (Intensität, Dauer, Nebenfolgen des Eingriffs einerseits – Tatschwere, Straferwartung, Verdachtsintensität, Maßnahmenutzen andererseits) neben Degener 1985, 57 ff. v.a. Wolter, SK-StPO, Vor § 151/38 ff. (wobei Wolter die Grenzen seines Vorgehens freilich selbst benennt; vgl. a.a.O., Rn 44; ders., NStZ 1993, 1, 5; ders. 2000, 987).

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theoretischen Deutung von Grundrechten allerdings doch wieder überein. Wenn die Abwägung schon unvermeidbar ist, muss sie auf die Optimierung sämtlicher beteiligter Positionen durch Herstellung praktischer Konkordanz ausgerichtet werden68. Die Idee des „nach beiden Seiten hin schonendsten Ausgleichs“69 fordert vom Norminterpreten eine harmonisierende Begrenzung bei jedem Beteiligten der Interessenrelation. Soweit sich kein Sonderfall begründen lässt, müssen alle betroffenen Güter in Geltung bleiben, sodass keines vollkommen davon ausgeschlossen ist, den fraglichen Fall noch mitzuregieren70. Deswegen steht die weitere Untersuchung unter dem Leitmotiv, das „sowohl-als-auch“ lautet statt „entweder-oder“71. Nur mit einem solchen Arbeitsprogramm ist das Rationalitätsdefizit der Güterabwägung hinnehmbar. Der grundrechtlichen Angemessenheit des Selbstbezichtigungs-Strafrechts nachzugehen, muss vor diesem Hintergrund bedeuten, zunächst einmal die Gesichtspunkte zu substantiieren, die das Spannungsfeld zwischen Geheimhaltungsinteresse und kollidierenden Anliegen bilden (dazu sogleich b)). Vereinzelt ergeben sich daraus einige „eindeutige“ Güterrelationen, bei denen so vieles für die eine oder die andere Seite spricht, dass dies eine bestimmte Facette der gesetzgeberischen nemo-tenetur-Umsetzung präformiert. In der breiten Zone der Wertungsunschärfe gilt es dagegen, die lex lata als Wahrnehmung von subkonstitutionellen Abwägungsspielräumen einstweilen zu akzeptieren72. Damit, dass die strengen Grundrechtsbindungen des Strafrechts hier offenbar lückenhaft sind, darf es dennoch nicht schon sein fatalistisches Bewenden haben. Vielmehr kehrt das 12. Kapitel genau an diese Stelle zurück, um mit den Mitteln der grundrechtsorientierten Strafrechtsauslegung (II.2.b)aa) in Kap. 3) nach praktischen Konkordanzen zu suchen und der grundrechtlichen Federführung per Gesetzesauslegung gerecht zu werden.

68

Vgl. bspw. Alexy 1994, 152; Müller 1969, 55; ders./Christensen 2004, Rn 392.

69

Lerche 1961, 152 f.

70

Hesse 1995, Rn 72, 318; BVerfGE 81, 278, 292; 83, 130, 143; 93, 1, 21.

71

Praktische Konkordanz herzustellen bedeutet aus der hiesigen Sicht also nicht, nach einem Verhältnis zu suchen, in dem das Gut A vollständig realisiert wird, und das Gut B soweit eben möglich (und nötigenfalls eben auch gar nicht). Praktisch-konkordant ist vielmehr nur ein Verhältnis, in dem A und B in einem Maße Beachtung finden, das zwischen vollständiger Erfüllung und Nichterfüllung liegt (vgl. Clerico 2001, 221). Auch das (nicht völlig) nachrangige Gut wird unter Berücksichtigung seines geringeren Ranges wirksam gemacht (vgl. Albrecht 1995, 118 f.). „Es geht um eine Art Kompromiss (...), dass beide etwas gewinnen und etwas verlieren“ (Clérico a.a.O., 222). Das ist keineswegs auf eine Punktlösung aus, deren Verwirklichung von der Verfassungsjudikatur genau überprüft werden könne, sondern steht für eine Arbeitshaltung, mit der die einfachrechtliche Umsetzung zu suchen ist. 72 Es wäre anmaßend, dem ein eigenes Wägen entgegenzusetzen und dann als das allein Verfassungsgemäße zu preisen (und die jeweils thematisierte Strafnorm daran zu messen). Wo das geschieht, nimmt es schnell apodiktische Züge an (vgl. z.B. Berthold 1993, 64 f.; Breyer 1999, 69).

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b) Verfügbare Abwägungsposten aa) Bemakelung des Geheimhaltungsinteresses? Das Interesse an der Verheimlichung von Tatwissen ist von erheblichem verfassungsrechtlichem Gewicht. Diese Einordnung fußt auf einer Vorauswirkung der Wissensverwendungsfolgen. Durch den Horizont der drohenden strafrechtlichen Verwertung hebt sich die verteidigungsmotivierte Geheimhaltung des Beschuldigten von den selbstbelastungsneutralen Inanspruchnahmen seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts und seiner anderweitigen (Strafvereitelungs-)Grundrechte ab. Im Ergebnis wird diese Auffassung von der strafverfahrensrechtlichen Dogmatik weithin geteilt. In den zahlreichen prozessualen Standorten, an denen zum Schutz des Beschuldigtengeheimnisses eine Barriere staatlichen Vorgehens errichtet ist, erblickt sie die Pfeiler eines würderelevanten Subjektbestandes (II.2.a)cc) in Kap. 7). Die faktische Dringlichkeit des Geheimhaltungswillens schlägt sich also – jedenfalls bei aktiven Selbstbelastungen – in einer verbreiteten normativen Wertschätzung nieder. Der Konsens über diesen angehobenen Stellenwert endet beim Übergang in den materiell-strafrechtlichen Diskurs. Dort dominieren Positionen, denen zufolge das Geheimhaltungsinteresse nur mit einer pauschal reduzierten Wertigkeit zu Buche schlage. Wegen eines Basismangels der nemo-tenetur-Position soll sich jede fallkonkrete Abwägung mit kollidierenden, strafgesetzlichen Belangen sogar gänzlich erübrigen73. Der Wissensträger sei für seine Lage schließlich selbst verantwortlich74. Immerhin habe er die Strafverfolgungsdrohung und so auch sein Strafvermeidungsinteresse durch ein strafrechtswidriges Verhalten hervorgerufen75. Ein Geheimhaltungsanliegen, das derart anstößig ins Werk ge-

73

Besonders bezeichnend hierfür ist die Unterlassensdogmatik. Vom Schrifttum wird der nemo-tenetur-Makel dort meist als genereller „Abwägungstopos“ formuliert, der zu einer generellen Vorrangregel zu Gunsten der kollidierenden Güter führt. Die Judikatur nimmt nur verbal eine Einzelfallabwägung vor, um in der Sache jeweils zum gleichen Ergebnis zu gelangen (VI.3. in Kap. 1). 74

Wie indes bei der Geheimhaltung durch einen Unschuldigen zu verfahren sei, wird von dieser Ansicht nicht eigens erörtert. Bei ihm kann das individuelle Strafverhinderungsinteresse nicht bemakelt sein (vgl. Frellesen 1980, 178). Es müsste vom Staat sogar gefördert werden, weil er wegen jener Grundrechte, in die er nur bei Vorliegen der Strafvoraussetzungen eingreifen darf, die Strafvermeidung wollen muss. Das spiegelt sich nicht zuletzt in der Tatbestandslosigkeit einer Strafvereitelung zu Gunsten Unschuldiger (dazu etwa Jerouschek/Schröder, GA 1999, 51, 54). 75

Zwar spricht die h.M. – vgl. v.a. BGHSt 43, 356, 359; MüKo-StGB/Schneider, § 211/168; ders. 1991, 376; Ulsenheimer, GA 1972, 1, 25; Köhler, GA 1980, 121, 140; Bergmann 1988, 99 ff.; Timpe, NStZ 1989, 70, 71; Jakobs 1991, 29/98 Fn 192; Weiß 1997, 210; U. Günther 1998, 80, 225; Seel 1999, 35, 76; Torka 2000, 54, 98, 126; Sowada, JZ 2000, 1035, 1039; Roxin 2003, § 31/228 – meist unspezifisch von „Vorverantwortlichkeit“. Gemeint ist damit aber die Begehung einer früheren Straftat. Der Grundrechtsträger kann nämlich nicht irgendwie für seine Zwangslage

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setzt sei, könne man schwerlich gegen jene Drittrechtsgüter ins Feld führen, deren Verletzung hernach für die Tatwissenskontrolle unumgänglich ist76. Trotz seiner Eingängigkeit verdient dieses Rechtsmissbrauchsargument keine Gefolgschaft: Die verfängliche Handlungsanweisung muss sich zur Zeit des Nachtatgeschehens als verfassungsgemäß (angemessen) erweisen, soll sie das Vordeliktsverbergen verbieten. Das Geheimhaltungsinteresse hierbei als diskreditiert zu verbuchen („selber schuld“), mag aber nur in der Rückschau angehen, nicht jedoch im maßgeblichen Aktionszeitpunkt. In dieser Phase ist die Vordeliktsschuld, die wie jede Verantwortlichkeitsform in einem interaktiven Zuschreibungsprozess immer erst festgesetzt werden muss, als ein soziales Faktum gar nicht vorhanden77. Bis zur fraglichen Nach-/Verdeckungstat ist die gerichtliche Schuldzuschreibung nämlich noch nicht zustande gekommen. Es existiert hier allenfalls eine Verantwortungshypothese oder eine individuelle Zuweisung. Eine solche Behauptung darf indes nach der formalen Beschränkung, welche die Unschuldsvermutung in das juristische Begründen einführt, gegenüber der betroffenen Person nicht zur Pflichtengenerierung verwendet werden (oben II.2.c)cc) in Kap. 7)78. Das gilt für deren strafprozessuale Rechtsstellung79 gera-

verantwortlich sein, sondern allein durch Straftatbegehung, denn erst ein strafrechtliches Vorverhalten lässt sein Tatwissen und sein Strafvermeidungsinteresse überhaupt entstehen. 76 Der „Verursacher ist wegen der Verursachung gehalten, den Konflikt zu ertragen“ (Timpe 1983, 307 zu § 35 I 2 StGB). Mit Blick auf das Vortatverschulden begründet die h.M. i.Ü. auch einen Erfolgswertmangel des wissenszurückhaltenden Handelns. Der Staat betreibe die Straftataufklärung gegenüber dem Wissensträger berechtigt und führe dessen Sanktion obligatorisch herbei. Als Verhinderung des staatlich Gewollten sei daher das „Bestreben nach Sanktionsvereitelung (...) ausnahmslos illegitim“ (H. Schneider 1991, 377; vgl. auch a.a.O., 52, 364; Ulsenheimer, GA 1972, 1, 24; Westendorf 1999, 138; SK-StGB/Rudolphi, Vor § 13/33; Roxin 2003, § 31/228). Kurzschlüssig ist freilich schon die Prämisse, wonach der Staat nicht Ahndung und deren Abwehr zugleich affirmieren dürfe. Als relative Belange kann er durchaus beide Interessen verfolgen. Wer dagegen aus der Rechtmäßigkeit des Strafens die Unzulässigkeit strafvereitelnden Verhaltens folgert, negiert die Eigenwertigkeit des Strafherstellungsprozesses. Letzten Endes ließe sich so jedes Beschuldigtenrecht als illegitim abtun (i.E. ähnlich Rogall 1977, 160; Frellesen 1980, 179; Wolff 1997, 45; Zimmermann 2001, 146). 77 Der Verdeckungsakt des Normadressaten bildet gerade eine eigene Passage im Ablauf des Verantwortungszuschreibungsdiskurses. Die h.M. lässt sich auf dessen Unabgeschlossenheit überhaupt nicht ein, sondern operiert ausschließlich aus der Sicht des späteren Strafurteils, von der aus sie die Vorverantwortlichkeitshypothese – inzident – überprüft und dann als gerichtlich festgestellten Fakt auf den für die Handlungspflicht maßgeblichen Zeitpunkt (rück-)projiziert. 78 Es ist nicht gestattet, „die Grenzen der erlaubten Aktivität des Beschuldigten unterschiedlich zu ziehen, je nachdem ob der Beschuldigte schuldig ist oder nicht“ (LR/Lüderssen, Vor § 137/134). Die Reichweite dieses Begründungsverbotes ist indes beschränkt auf Handlungspflichten (greift also nicht im Schuldbereich), und sie untersagt nur den Rückgriff auf Vortatstrafbarkeit. Pflichten, in deren Konstituierung eine sonstige Vorverantwortlichkeit relevant wird, bleiben von der Unschuldsvermutung unberührt. So stellt bspw. nach der vorzugswürdigen Begründung der Ingerenz die straftatbestandliche Handlungsnorm den Rechtsgrund für eine einheitliche Vermeideverpflichtung dar, die durch aktive Erfolgsbewirkung ebenso wie durch unterlassene Erfolgsab-

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deso wie für materiell-strafrechtliche und sonstige Verhaltenspflichten80. Da es sich deshalb verbietet, die Vortatschuld argumentativ zu berücksichtigen, geht das grundrechtlich geschützte Interesse an der Geheimhaltung von Tatwissen ohne Wertminderung in die Angemessenheitsabwägung ein81.

bb) Aufwertung der kollidierenden Güter? Nun schlägt das Abwägungspendel der h.M. aber auch deshalb zu Lasten des Geheimhaltungsinteresses aus, weil jene Belange, die beim postdeliktischen Verbergen der Tat beeinträchtigt werden, eine Aufwertung erfahren. Vornehmlich die kollidierenden Individualrechtsgüter erlangen in dieser konkreten Spannungslage eine gleichsam sakrosankte Gravität. Man hält den Staat durchwendung verletzt werden kann (dazu Sch/Sch/Stree, § 13/32; Welp 1968, 191; Herzberg 1972, 252, 284 f., 289; Stein, JR 1999, 265, 270; vgl. auch Timpe 1983, 176 f.; a.A. Schünemann 1971, 117 f.; Otto 2002, 102 ff.). Der entsprechenden Aktivpflicht unterliegt freilich nicht jedermann. Dass sie sich gegenüber der Passivpflicht auf ausgewählte Adressaten verengt, beruht vielmehr auf dem zusätzlichen Tatbestandsmerkmal der Vorverantwortlichkeit für das Entstehen einer Erfolgsgefahr (vgl. Stein a.a.O., 271), weshalb bei den davon erfassten Personen die Sicherung vor den Folgen eigener Handlungen ist, was „phänotypisch als Rettung erscheint“ (Jakobs 2000, 30). Der Normadressat muss im Unterlassenszeitpunkt zu seiner Handlungsorientierung also seine vorherige Gefahrenverantwortung in die Normkonkretisierung einkalkulieren, auch wenn jene Verantwortlichkeit noch nicht in das Festsetzungsstadium gelangt ist. Dass die Rechtsordnung dennoch nur zurückhaltend Pflichten an einseitige (und damit stets perspektivenabhängige) Verantwortlichkeitshypothesen knüpft, dokumentiert die Störerdogmatik. Dort kann man die im Vergleich zum Nichtstörer vorrangige und intensivere Polizeipflichtigkeit des Verhaltensstörers damit begründen, dass seine Freiheitsinteressen in der Abwägung mit den kollidierenden gefährdeten Gütern infolge seiner staatlich vermuteten Gefahrenverantwortlichkeit wertbeschädigt sind und eher zurücktreten als die des Nichtstörers (vgl. dazu Frister 1988, 30, 37 sowie mit weiteren Subdifferenzierungen Lindner 1997, 61, 64 ff., 98 f., 117 f.). Um aber in die Störerrolle einzurücken, muss in der Eingriffssituation die Verantwortlichkeitshypothese der jeweils pflichtenerzeugenden Behörde schon weitgehend verifiziert sein. Bei nachträglicher Falsifizierung der Hypothese kommt es dann auf Entschädigungsebene zur Verantwortungszurechnungs- und Eingriffskompensation nach den Regeln des Anscheinsstörers (dazu aus der aktuellen Diskussion BGHZ 117, 303; 126, 279; Schoch, JuS 1993, 724 ff.; Lindner a.a.O., 146 ff., 153 ff., 162 ff.; Schenke 2004, Rn 251 ff.). 79 Zum Verbot, prozessuale Pflichten als „Störerhaftung“ auszugestalten und mit der hierfür konstitutiven „Störereigenschaft“ zu legitimieren, bevor letztere feststeht, vgl. Neumann 1998, 390 f.; Lesch, JR 2005, 302. 80 81

I.E. ebenso Frister 1988, 78 i.V.m. 30.

Zur pauschalierenden These, nach der das nemo-tenetur-Interesse in der Kollision mit anderen grundrechtlichen Bruttopositionen per se zurückzustehen habe, würde es auch nicht passen, dass die Rechtsordnung den Vortäter schützt, falls sein Geheimhaltungsinteresse durch einen Mitwisser erpresserisch ausgenutzt wird (§§ 240, 253 StGB), und dass sie ihm, sofern er sich zur Anzeige einer solchen Erpressung entschließt, sogar den Verzicht auf die Vortatverfolgung in Aussicht stellt (§ 154c StPO). Das einfache Recht behandelt den Vortäter also keineswegs als Freiwild, sondern bewertet seine Geheimhaltungsbemühungen jedenfalls höher als die – ihrerseits von der allgemeinen Handlungsfreiheit erfasste – Ausnutzung der Mitwisserschaft.

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weg für berechtigt, die Verheimlichungsoptionen des nemo-tenetur-Trägers zum Schutz gefährdeter Individualpositionen aufzuheben82. Dies wird freilich selten näher begründet83. Allein H. Schneider verweist darauf, dass die Privatgüter, denen dieses Vorgehen zugute kommt, an der antagonistischen Beziehung zwischen Beschuldigtem und strafverfolgendem Staat strukturell unbeteiligt seien. Obendrein ereile das Verhängnis, in die aggressive Deliktsgeheimhaltung verwickelt zu werden, nicht nur Polizeibeamte, sondern leicht auch Zeugen und zufallsbetroffene Personen, die an der Verbrechensbekämpfung völlig unbeteiligt sind. Sie seien daher von besonderer Schutzbedürftigkeit. Ohnehin könne ihnen nicht das Sonderopfer abverlangt werden, die strafrechtliche Obhut gegenüber einer bestimmten Tätergruppe zu verlieren, ohne für deren besondere Lage zuständig zu sein84. Dem muss man beipflichten. Was hierdurch ganz gewiss unterstrichen wird, ist die Sachgerechtigkeit strafgesetzlicher Gewährleistungen, die man dem Privaten gewährt, der in die Konflikte der Sanktionsabwehr unvorbereitet hineingezogen wird. Und sicherlich muss in die Abwägung ebenfalls eingestellt werden, dass er dabei möglichst nicht weniger geschützt werden sollte als die Opfer „normaler“ Täter. Ein Zwang zum Verbot drittverletzender Geheimhaltungsformen ergäbe sich daraus aber nur, falls sich ein gegenteiliges Staatshandeln unter keinen Umständen rechtfertigen ließe – falls sich die Pönalisierungsgründe also zu einem Untermaßverbot verdichten und die gesetzgeberischen Entschließungsspielräume auf einen unverzichtbaren Eingriff verengen würden85. Solche Ausnahmefälle können namentlich durch eine Schutzpflicht eintreten86,

82 Vgl. Münch 1961, 46 ff.; Hoffmann 1965, 175 f.; Rogall 1977, 158; Rudolphi, JuS 1979, 859, 863; Joerden, Jura 1990, 633, 635; Fezer 1993, 674, 678; Prittwitz, StV 1995, 270, 273; Jahn 1998, 300; Bosch 1998, 192; Sowada, JZ 2000, 1035, 1039; Binder 2001, 58; Aselmann, NStZ 2003, 71, 74. 83

Repräsentativ ist eher Torkas Polemik über die „Idee der Gerechtigkeit“ (2000, 126).

84

Vgl. H. Schneider 1991, 375 ff.; zustimmend Seesko 2005, 88.

85

Zum Schutz der fraglichen Güter besteht in diesen Fällen ein Pönalisierungsgebot. Dies bildet bei der abwehrrechtlichen Angemessenheit die Abwägungsgrenze „nach unten“ (etwa Lagodny 1996, 262 ff., 445 ff.; Hermes 1987, 253 ff.; Holoubek 1997, 161, 256 f.; Borowski 1998, 121). 86

Schutzpflichten können gegenüber jedem grundrechtlichen Privatgut bestehen (vgl. z.B. Unruh 1996, 75; Gellermann 2000, 239; Cremer 2003, 266). Das schutzpflichtauslösende Maß ihrer Gefährdung ist indessen ungeklärt (dazu Dietlein 1992, 105 ff.; Möstl 2002, 95 ff.). Besonderheiten gelten außerdem bei der Eigentumsgarantie, auf die zu verweisen der Staat etwa bei § 142 StGB versucht sein könnte. Beim Eigentum fehlt es an einer vorgegebenen Schutzbereichskontur, die zu verteidigen der Legislator aufgerufen wäre. Eigentum im Verfassungssinne wird erst dadurch konstituiert, dass eine eigentumsrelevante Position (im Bsp.: das Beweisinteresse) gegenüber Geheimhaltungsinteressen gewährt oder eben verweigert wird (dazu etwa Dietlein a.a.O., 79; Gellermann a.a.O., 240 f.).

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wiewohl daraus in aller Regel keine spezifischen Vorgaben hervorgehen87. Der Staat ist nur in Ermangelung geeigneter Alternativen gehalten, seinen Schutzauftrag ausgerechnet auf dem Verbotswege umzusetzen. Meist kann er zwischen mehreren ausgewogenen Mitteln wählen88. Eingedenk dessen zeichnet sich nur eine punktuelle Verfassungsnotwendigkeit der individualschützenden nemo-tenetur-Eingriffe (oben I.1.: Gruppe) ab. So muss man Lagodny und Isensee darin beitreten, dass der Staat, wenn er kraft seines Gewaltmonopols eine allgemeine Friedenspflicht verordnet, den pazifizierten Grundrechtsträger dann auch vor gewaltförmigen Übergriffen anderer Bürger im Verbotswege bewahren muss89. Diese Erwägung ist ein sehr gewichtiger Abwägungstopos. Gegenüber den Geheimhaltungsinteressen dringt er auch deshalb durch, weil sich gewaltbetroffene Rechtsgüter besonders schwer ersetzen lassen90. Ihr normativer Schutz ist daher unumgänglich. Der Gesetzgeber muss deswegen „das Tötungs-, das Körperverletzungs- oder das Nötigungsverbot zwingend aufstellen“91, selbst wenn dabei die Selbstbezichtigungsfreiheiten beschnitten werden92. Außerhalb dieser Fälle, also bei den meisten anderen individualschützenden Geheimhaltungsschranken, besteht die Güterrelation dagegen als ein Abwägungsverhältnis ohne eindeutige Gewichtung fort. 87

Vgl. oben II.1.b) in Kap. 4 sowie BVerfGE 46, 160, 164; 77, 170, 214 f.; 88, 203, 254; 92, 26, 46; 96, 56, 64; Klein, NJW 1989, 1633, 1637 f.; Wahl/Masing, JZ 1990, 553, 558 f.; Götz 1996, § 79/11 f.; Isensee 2000, § 111/162 ff.; zu einem instruktiven Schema zum Spielraum zwischen Über- und Untermaß beim Schutz durch Eingriff vgl. Möstl 2002, 108. 88 Das ausgewählte Mittel muss sich lediglich als eine austarierte Vorgehensweise darstellen (vgl. Hermes 1987, 261 ff.; Unruh 1996, 87; Lagodny 1996, 257 ff.; Gellermann 2000, 350 ff.; Cremer 2003, 169 ff., 191 ff.). Nach Stächelin (1995) begründet gerade diese Unschärfe die Gefahr eines kriminalpolitischen Missbrauchs der Untermaßformel. 89 Lagodny 1996, 263 ff.; Isensee 2000, § 111/97 ff.; vgl. auch Bernsmann 1989, 293 ff.; Möstl 2002, 300. Zur Frage, ob mit solchen objektiven Schutzpflichten auch subjektive und prozessual erzwingbare Schutzgewähransprüche korrespondieren, vgl. z.B. Hermes 1987, 208 ff.; Klein, NJW 1989, 1633, 1637; Huber 1991, 183 ff.; Alexy 1994, 414 f.; Unruh 1996, 58 ff.; Dolderer 2000, 383 ff.; Möstl a.a.O., 84 ff.; nach h.M. kann der Anspruchsgegenstand aber allein der Strafnormerlass und nicht die konkrete Bestrafung sein, weil jene zum Schutz des betroffenen Opfers zu spät kommt, vgl. Götz 1996, § 79/15; Dietlein 1992, 216 ff. 90

Zu den Abwägungstopoi der Kompensierbarkeit/Unwiederbringlichkeit Lindner 1997, 78.

91

Lagodny 1996, 264 (wobei sich die im Text genannte Nötigung als Verbot physischer Erpressung versteht). Neben den Schädigungsverboten ist i.Ü. auch das Rechtsschutzsystem ein „Ersatz für die verbotene Privatgewalt“. Deshalb bestehe nach Lagodny für den Staat eine Pflicht, auch dieses Ersatzmittel durch Verhaltensnormen zu schützen (a.a.O., 266 f.). Damit wird der schutzfunktionelle Ansatz indessen überdehnt. Objektive Schutzpflichten werden ausgelöst durch die drohende private Schädigung Privater, nicht durch Anschläge auf staatliche Institutionen. 92 Die dogmatische Detailgestalt solcher unverzichtbarer Verhaltensnormen wird davon jedoch nicht durchgängig prästrukturiert, weshalb an den Rändern jener Gewaltverbote wenigstens bei minderschweren Folgen auch Konkordanzmodelle, mit denen die nemo-tenetur-Grundrechte zur Geltung gebracht werden, denkbar sind (unten Kap. 12).

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Immerhin lässt sich hier Manches weiter fall- und normkonkret präzisieren, auf Seiten der kollidierenden Interessen etwa nach der individuellen und sozialen Bedeutung des fraglichen Guts und nach dem Maß seiner Beschädigung oder Gefährdung93. Auch für nemo tenetur sind zusätzliche Spezifizierungen möglich. So differiert die Intensität der jeweiligen Verkürzung mit dem Ausmaß, in dem das strafprozessual verwertbare Wissen offenbar wird, und mit dem Risiko seiner tatsächlichen Verwertung94. Außerdem stellen sich viele aktive Drittschädigungen, mit denen sich das Tatgeheimnis offensiv abschotten lässt, als atypische Inanspruchnahme der jeweiligen Gewährleistung dar (gemessen an der Grundrechtsfunktion von Art 5 I GG und Art 2 I GG), während sich der Grundrechtsträger, der sein Wissen einfach nur passiv verheimlicht, dichter am persönlichkeitsrechtlichen Gewährleistungsgrund entlang bewegt95. Dagegen beruht die These, dass die Grundrechtsbetroffenheit bei Handlungspflichten generell stärker als bei Unterlassenspflichten sei, auf einer unzulänglich formalen Verallgemeinerung96. In beiden Fällen liegt allein dann ein nemotenetur-Eingriff vor, wenn die Norm nur durch verfängliches Verhalten befolgt werden kann. Der dabei eintretende Grad der materiellen Beeinträchtigung von Geheimhaltungschancen ist von der jeweiligen Pflichtenform aber vollständig abgekoppelt97.

Trotz solcher Abschichtungen kann hier die Gewichtung zwischen nemo tenetur und den kollidierenden Gütern nicht bis zu eindeutigen Vorrangrelationen vorangetrieben werden. Mit Bedacht auf die Unschärfen des Abwägungsprogramms absolvieren die strafgesetzlichen nemo-tenetur-Eingriffe daher auch diese letzte Verhältnismäßigkeitsstufe unbeschadet. Sie scheinen möglich, wenn

93 Dabei ist nicht das kollidierende Grundrecht als solches heranzuziehen, sondern innerhalb des Grundrechts eine Binnenverortung des jeweils geschützten Detailinteresses vorzunehmen. Auch ohne Zugrundelegung eines Kernbereichmodells lassen sich Abschichtungen in seiner personalen und sozialen Relevanz ausmachen (d.h. in seiner Menschenwürderelevanz und seiner Nähe zum jeweiligen Grundrechtsschutzzweck; vgl. dazu etwa Gallwas 1995, Rn 638 ff., 660; Lindner 1997, 77). Das von § 142 StGB geschützte Beweissicherungsinteresse dürfte bspw. geringer zu veranschlagen sein als das Sacheigentum am betroffenen Kfz. 94 Generell zum Kriterium der Beeinträchtigungsintensität Gallwas 1995, Rn 647 ff.; vgl. auch Kudlich, JZ 2003, 127, 132 f. 95 Zu diesem Gesichtspunkt vgl. Müller 1990, 98 ff. („sachspezifische Modalität“), der dies indes nicht als Abwägungselement begreift, sondern daran eine Schutzbereichsgrenze festmacht. 96 „Die Auferlegung von Unterlassungspflichten greift typischerweise in geringerem Maße in die Freiheit des Betroffenen ein als die Statuierung von Handlungspflichten. Während Unterlassungspflichten alle Verhaltensweisen bis auf die verbotene zulassen, schließen Handlungspflichten alle Verhaltensweisen bis auf die gebotene aus dem Bereich des normativ Möglichen aus.“ (Neumann 1998, 378; dazu im nemo-tenetur-Kontext auch BVerfGE 56, 37, 42; Nothelfer 1989, 91; Weßlau, ZStW 110 (1998), 1, 31; Kroß 2004, 107; in der allgemeineren strafrechtlichen Unterlassensdogmatik Haubrich 2001, 47 m.w.N.). 97 Die Aussichten, eine eigene Unfallbeteiligung zu verbergen, werden vermutlich durch das Fluchtverbot (Unterlassenspflicht nach § 142 I StGB) empfindlicher geschmälert als durch die Vorstellungspflicht (Handlungspflicht nach § 142 StGB).

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auch nicht zwingend98. Dies gilt ebenfalls für die 2. und 3. Gruppe der strafgesetzlichen Selbstbelastungszwänge (oben I.1.: Schutz von staatlichen Gütern und Gemeinschaftsbelangen)99. Für all diese Bestimmungen bleibt es bei dem oben (in 4.a)) formulierten Vorhaben, die bestehenden Spannungslagen einfachrechtlich, d.h. durch Auslegung des Eingriffsgesetzes in praktische Konkordanz zu überführen (unten Kap. 12).

cc) Selbstbelastungszwang zur Strafverfolgung? In der Gesamtformation der fraglichen Güterkollisionen wartet indes eine partikulare Interessenkollision mit der Besonderheit auf, dass bei ihr die Geheimhaltungsinteressen die Abwägung doch einmal klar dominieren. Diese Vorrangrelation besteht im Kontext solcher Strafgesetze, die anderen Strafnormen zur Seite stehen, nachdem deren Geltung durch ein Vortatereignis in Zweifel gezogen wurde. Jene in Gruppe 4 (oben I.1.) zusammengefassten Eingriffe – Strafmilderungsvorschlag, § 258 StGB und § 261 StGB – stabilisieren allesamt eine vortatbetroffene Strafbestimmung, und zwar in zwei verschiedenen Grundformen: Der auf Strafmilderung basierende Geständnisdruck behebt die Infragestellung der Verhaltensordnung, indem er eine überobligatorische und damit gesteigert normbekräftigende Prozessleistung des Vortattäters hervorruft (Modell a.). Dagegen zielen die §§ 258, 261 StGB auf eine postdeliktische Isolierung 98

Damit korrespondiert die Lage bei den vorhandenen Verhaltensnormprivilegien. Bei ihnen ist der oben bei Fn 37 angesprochene Gedanke, wonach der Staat im Rechtspflegekontext typischerweise über wirksame Alternativen zur Verhaltensnorm verfügt, quasi schutzbedürftigkeitsmindernd zu verbuchen (ebenso Lagodny 1996, 383 f.). Dies formiert die Güterrelation zu Gunsten der Geheimhaltungsinteressen und vermittelt den Verhaltensnorm-Privilegierungen des Wissensträgers (in §§ 120, 153 StGB und der restriktiven Auslegung von §§ 145d II Nr. 1, 164 StGB) eine sachhaltige Plausibilität. Die Güterabwägung fällt freilich nicht derart einseitig aus, dass an jenen Freistellungen kein Vorbeikommen wäre. Deshalb kann sich der Staat auf fortbestehende Abwägungsspielräume auch bei den Rest-Eingriffen (d.h. bei den Grenzen der Verhaltensprivilegien, oben III.3. in Kap. 9) berufen. 99 Nichtstaatliche Rechtsgüter der Allgemeinheit sind auf Individualgüter als deren Vervielfachung oder als überindividuelle Einrichtungen mit personaler Lebensrelevanz rückführbar (vgl. dazu aus der Diskussion um den personalen Rechtsgutbegriff etwa NK/Hassemer, Vor § 1/138; Sternberg-Lieben 1997, 383 ff.). Nach H. Schneider sollen daher die Aufwertungsfaktoren, die für Individualpositionen streiten, auf die Gemeinschaftsbelange durchschlagen und ihnen ebenfalls ein besonderes Gewicht gegenüber nemo tenetur verleihen (1991, 378). Das ist methodisch nicht angängig. Kollektive Schutzgüter sind vorgelagerte Einheiten, die als Verselbstständigungen eingeführt werden, weil sie eher verletzt sind als die dahinter liegenden individuellen Interessen und daher auch eher eine Bestrafung erlauben als individualschützende Tatbestandsfassungen (ähnlich für § 153 StGB Vormbaum 1987, 173). Dann aber sollte man zur Strafnormlegitimation konsequenterweise auch auf Gewicht und Eigenart des tatbestandskonturierenden Gemeinschaftsbelangs abstellen und nicht in einer argumentativen Rosinentheorie wieder zurückgreifen auf die nur mittelbar tangierten personalen Güter.

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des Täters, auch um dritte Personen damit auf besonders eindrucksvolle Weise von der Begehung vortatentsprechender Delikte abzuschrecken (Modell b.)100. Nun ist es aber genauso gut vorstellbar, dass der Staat sein Vorhaben, die vortatbetroffene Norm zu rehabilitieren und deren Schutzgut zu konsolidieren, einfach dadurch betreibt, dass er die strafrechtliche Verfolgung des fraglichen Vordeliktes optimiert. Auf eine außerordentlich prägnante Weise geschähe dies durch eine Regelung, die dem Vortäter das Deliktsverbergen vollständig untersagt und durch die so erleichterte Deliktsaufklärung den Bruch der betreffenden Norm effektiver kompensiert. Eine solche – derzeit hypothetische – Regelung hätte das gleiche Ziel wie die Gruppe 4, aber sie würde ein neues Modell der vermittelnden Zweckerreichungsstruktur repräsentieren. Sie ginge davon aus, dass eine beförderte urteilsorientierte Vortatbearbeitung dem Vertrauen in die verletzte Norm zugute käme (Modell c.). Die drei Modelle a. – c. weisen eine gewisse Nähe zur so genannten Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege101 auf, die ebenfalls die Durchsetzung des Strafrechts und dessen präventive Wirksamkeit gewährleisten soll (nebst Tatausgleich, Rechtsfrieden und staatlichem Gewaltmonopol)102. Bei ihnen sind aber die zielführenden Prozesse, die beim Funktionsfähigkeits-Topos im Trüben bleiben103, besser sichtbar, und zwar auch in ihren Differenzen: Im Modell c. besteht der vermittelnde Zwischenschritt schlicht in der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs (genauer: in der Wahrnehmung der konkret eröffneten Befugnis zum Sanktionseingriff104), während sich die Mechanismen der anderen beiden Varianten demgegenüber etwas subtiler aus-

100

Dazu oben in und bei den Fn 19 – 21.

101

St. Rspr. seit BVerfGE 33, 367, 383. Wichtige Entscheidungen referiert Kröpil, AnwBl 2001, 198 ff.; zum Spannungsverhältnis mit nemo tenetur vgl. Günther, GA 1978, 193, 199 ff. 102 Das BVerfG erklärt die Notwendigkeit einer funktionsfähigen Strafrechtspflege zwar mit der „Idee der Gerechtigkeit“ als einem Rechtsstaatselement, doch diese Begründungsformel wird vom Schrifttum zutreffend als das im Text genannte Zielbündel dechiffriert (vgl. Hassemer, StV 1982, 275, 276; Niemöller/Schuppert, AöR 1982, 387, 394 ff.; Wolter 1990, 502; Weichert 1990, 39; Tiedemann 1991, 29; Lorenz, GA 1992, 254, 278; Lammer 1992, 47 f.; Kudlich 1998, 166 f., 170; LR/Rieß, Einl. G/10 ff.; Hill 2001, Rn 41 ff.). Überzogen indes Krahl 2002, 45: „Sammelbegriff für alle auf eine Verurteilung abzielenden Interessen“. 103 Statt auf die pauschale Effektivität der Institution abzustellen, müssten die jeweils betroffenen Funktionselemente erst noch konkret benannt und individualisiert werden (ebenso angemahnt von BVerfGE 77, 240, 255; Hassemer, StV 1982, 275, 279 f.; Müller 1990, 48; Jahn 1998, 192 ff.). Die aus der Rspr. von Kröpil (JuS 1999, 681, 683; AnwBl 2001, 198, 204) rekonstruierten Merkmale einer funktionsfähigen Rechtspflege (Leistungsfähigkeit der Institution; Möglichkeit vollständiger Wahrheitsermittlung; Möglichkeit, ein Strafverfahren einleiten, durchführen und in angemessener Zeit abschließen zu können) leisten die erforderliche Substantiierung noch nicht. 104 Vgl. Wolfslast 1995, 93 ff. zu diesem Verständnis des „Strafanspruchs“. Ein solches staatliches Interesse an der möglichen Eingriffswahrnehmung kennt freilich – das zeigen Opportunitätsprinzip und Strafrahmendivergenzen – deutliche Abstufungen (vgl. Müller/Pieroth/Rottmann 1973, 71).

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nehmen105. Sie setzen auf die Herstellung einer gegenüber geständnislosen Strafverfahren verstärkt symbolkräftigen Tätereinlassung (Strafmilderungsvorschlag) oder auf die qualifizierte Abschreckungswirkung der postdeliktischen Vereinzelung.

Diese unterschiedlichen Wirkungsverläufe sind verfassungsrechtlich von Bedeutung, denn die ungleichen Zielerreichungskonzepte bedingen ungleiche Abwägungsverhältnisse. Nur in den Modellen a. und b. setzen sich die bereits bekannten abwägungsoffenen Güterbeziehungen fort, nicht aber bei Modell c. Das Programm, Normstabilisierung auf dem Wege einer optimierten Deliktsverfolgung bewirken zu wollen, darf sich nämlich keines Selbstbezichtigungszwangs bedienen, weil der (Zwischen-)Zweck der einfachen Strafanspruchsdurchsetzung in der Abwägung mit der Selbstbelastungsfreiheit das Nachsehen hat106. Vom BVerfG wird diese Haltung ausdrücklich geteilt. Wenigstens beim Zwang zur aktiven Selbstenthüllung wiege der Nutzeffekt, also die erleichterte strafrechtliche Verfolgung des Wissensträgers, die Individualbelastung keinesfalls auf107. Dem hat sich das Schrifttum mit Recht angeschlossen108. Auf tönernen Füßen steht indes die apodiktische Begründung, mit der die strafverfolgungsdienlichen Selbstbezichtigungspflichten von der h.M. kurzerhand mit einer würdemissachtenden Verobjektivierung des Beschuldigtensubjekts assoziiert und deshalb absolut ausgeschlossen werden. Bei Lichte besehen wird durch diesen Verweis auf Art 1 I GG die Entscheidung, nemo tenetur den bloßen Strafverfolgungsbelangen überzuordnen, lediglich rhetorisch immunisiert (vgl. bereits oben II.2.a)cc) in 105 Nemo-tenetur-Eingriffe zum Schutz der Rechtspflege unterscheiden sich von Modell c hingegen durch eine wesentlich allgemeinere Zweckstafette: Statt um Bestrafung zur konkreten Normrehabilitierung geht es hier um die generelle Leistungsfähigkeit einer Institution, wofür deren Ressourcen (§§ 164, 145d StGB) und Fähigkeiten zur Tatsachenfeststellung (§ 153 StGB) erhalten werden sollen. 106 Der „Strafanspruch“ ist grundsätzlich ein staatliches Anliegen, das ungeachtet seiner hier offen gelassenen Verfassungsrangigkeit die Statthaftigkeit von Grundrechtseingriffen begründen kann. „Die symbolische Garantie des Rechts als Struktur der Gesellschaft ist legitimer Anlass des Strafverfahrens und der damit verbundenen Grundrechtseingriffe überhaupt.“ (Müssig, GA 1999, 119, 141 f.). Dass es sich dabei um eine Entscheidungsaussicht und kein bereits substanziell existierendes Gut handelt, sagt über seine soziale Bedeutsamkeit wenig aus und kann daher auch sein Gewicht nicht mindern (so aber Rosenkaymer 1988, 156). 107 108

BVerfGE 56, 37, 49 f.

Dort heißt es, die Pflicht zur aktiven Selbstbelastung dürfe nicht nur dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse dienen, sondern müsse für seine Verfassungsmäßigkeit einen dritten oder alternativen Zweck privater oder überindividueller Art verfolgen (vgl. Rogall 1977, 158 f.; ders. 2003, 497; Niemöller/Schuppert, AöR 1982, 387, 422; Reiß 1987, 188 ff.; Nothelfer 1989, 90; Dencker, ZStW 102 (1990), 51, 61; Brenner 1994, 77; Wolff 1997, 138; Dietrich 1998, 64 f.; Stein, ZStW 97 (1985), 303, 325; ders., JR 1999, 265, 272; Kölbel/Morlok, ZRP 2000, 217, 219; Kroß 2004, 191; a.A. Günther, GA 1978, 193, 202 ff.; in der Sache auch Schmidhäuser 1988, 26; zwischen natürlichen und juristischen Personen als nemo-tenetur-Trägern differenzierend Drope 2002, 207). Für die h.M. dezidiert wieder Röckl 2002, 122: „Das Strafverfolgungsinteresse des Staates ist nicht in die Abwägung einzustellen, da das Schweigerecht gegenüber diesem Rechtsgut unabhängig gewährt wird.“

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Kap. 7). In der Sache geht der Position der h.M. indes eine (stillschweigende) Festlegung voraus, die zu Gunsten von nemo tenetur ausfiel (vermutlich weil die Selbstbelastungsfreiheit nach den Erfahrungen der Strafrechtsgeschichte nicht durch inquisitorische Belange relativiert werden sollte). Sicherlich könnte man sich damit zufrieden geben. Allerdings ist man gut beraten, für den Fall, dass der Konsens einmal bricht, vorzusorgen und die Vorrangigkeit von nemo tenetur inhaltlich wirklich abzustützen109. Dabei zeigt sich obendrein, dass sich das fragliche Vorrangverhältnis keineswegs – wie die h.M. meint – auf aktive Selbstbelastungsformen beschränkt.

Grund, um nemo tenetur ausgerechnet gegenüber dem einfachen Strafverhängungsinteresse höher zu bewerten, gibt die besondere Wucht des sonst typischerweise vorliegenden Strafnormeingriffs: Die Selbstbelastungsfreiheit wird immer schon dann verkürzt, wenn die Verwertung des enthüllten Tatwissens droht. Da aber die Eingriffsintensität mit zunehmender Wissensverwendungsgefahr wächst, ist nemo tenetur stärker verletzt, wenn man sich gegenüber dem Staat anstatt einem Privaten erklären muss. Besonders gravierende Eingriffe sind dort am Werk, wo das Wissen den Strafverfolgungsbehörden direkt zugeht. Bei (Straf-)Normen, die allein dem Interesse der Verbrechensaufklärung dienen, wäre das aber regelmäßig der Fall. Bei ihnen ginge es primär darum, dem Beschuldigten die Wissensvorenthaltung speziell gegenüber den Strafverfolgungsorganen zu erschweren, um gerade deren Arbeit zu erleichtern. Damit siedelten sie typischerweise auf der höchsten und am schwersten zu legitimierenden Intensitätsstufe110. Dass die einfachen Belange der Verbrechensaufklärung die hierfür erforderliche Bedeutung nicht erreichen, liegt jedoch auch daran, dass im Verhältnis von Strafdurchsetzungs- und Geheimhaltungsinteresse das „DammbruchArgument“ zu Gunsten von nemo tenetur ausschlägt. Wäre der Weg, Ermitt109

Wäre die Selbstbezichtigungsfreiheit eigens konstitutionalisiert, hätte man damit ein leichtes Spiel. Mit der dann garantierten Wissensmacht wäre eine Subjektposition installiert, kraft derer man die staatliche Strafverfolgungskapazität unterlaufen dürfte (so schon zur lex lata Kudlich 1998, 25). Bei einem solchen Recht wäre der Vorwurf, es werde prozesswidrig „missbraucht“ (zur dahingehenden Diskussion in England etwa Rau 2004, 335 f.), von vornherein ausgeschlossen. Mehr noch: Ein derartiges gegenstaatliches Geheimhaltungsinteresse mit dieser spezifischen Stoßrichtung wäre gegenüber dem einfachen kontradiktorischen Enthüllungsinteresse ein absolutes Gut, denn es könnte nicht unter Berufung auf jene Belange, die zu beschädigen es exklusiv bestimmt ist, zurück geschnitten werden (ähnlich Weßlau 2002, 244 ff.). Der Gedanke, dass sich die Interpretation einer Norm nicht in Widerspruch zu deren konstitutioneller Funktionsbestimmung begeben darf, hilft aber deshalb nicht weiter, weil nemo tenetur gerade nicht als selbstständiger Rechtssatz positiviert ist, sondern sich aus unspezifischen Regelungen ergibt. 110

Dafür kann sich der Staat auch nicht darauf berufen, dass wenigstens bei der Verfolgung besonders schwerer Delinquenz ein qualifiziertes Interesse an der Strafverfolgung besteht (so aber Günther, GA 1978, 193, 202 ff.; vgl. auch Degener 1985, 73 ff. und § 30 IV Nr. 5 AO). Mit der Schwere der drohenden Strafe steigt das Gewicht des Geheimhaltungsinteresses ebenfalls: es korreliert mit der zu- und abnehmenden Vortatbedeutung, sodass die Güterrelation stets stabil bleibt (dazu auch Ransiek 1990, 77; ders. 1996, 359 f.; Schlüter 2000, 126 f.; Drope 2002, 207).

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lungsbelange gegen nemo tenetur hochzurechnen, erst einmal angelegt, würde er immer wieder beschritten. Eine einmal eröffnete Relativierbarkeit käme einer allgegenwärtigen Versuchung gleich, die Mühen des Strafverfahrens auf Kosten der Selbstbezichtigungsfreiheit abzukürzen111. Auch durch die Erwägung, dies nicht zuzulassen, erlangt die Selbstbelastungsfreiheit einen stabilen Vorrang vor dem kontradiktorischen Strafinteresse. Im Hinblick auf diese Abwägungsaspekte ist es nicht verfassungsgemäß, den nemo-tenetur-Träger allein im Dienste seiner eigenen Strafverfolgung (straf-)gesetzlich darin zu beschränken, sein Tatwissen geheim zu halten. Wenn es dem Staat nicht um einen einfachen Rechtsgüterschutz, sondern darum geht, vortatverletzte Normen zu stabilisieren, muss er dies entweder auf einem anderen Weg als über die normale Strafverhängung anstreben – wie bei Modell a, bei dem er auf eine demonstrative Strafakzeptanz durch den Täter hinwirkt – oder er muss auf solche alternativen Normwirkungen bauen, die – wie das Modell der Täterisolierung (Modell b) – ohne die besonders intensive Eingriffswirkung auskommen, speziell für die Ermittlungsbehörden das Tätergeheimnis zu negieren. Konsequenzen ergeben sich daraus vornehmlich im Verfahrensrecht. Der Beschuldigte darf durch seine prozessualen Pflichten nicht zielgerichtet („spezifisch“) an der Geheimniswahrung gehindert werden. Ebenso unzulässig ist es, Geheimhaltung straftatbestandsimplizit zu verbieten, bloß um an das Geheimgehaltene zu gelangen und es strafrechtlich zu nutzen. Strafrecht kann kein Mittel zur Wahrheitserforschung am beschuldigten Wissensträger sein. Derartige Strafnormen sind zwar einstweilen gar nicht vorhanden, doch könnte der Abstraktionsüberschuss der in Gruppe 4 zusammengefassten Normkonstellationen dazu führen, dass sie punktuell ihren derzeit unbedenklichen Wirkungsmodus verlieren und dann nur noch im Dienste der Strafverhängung zur Tatwissensenthüllung zwingen112. Ein idealtypisches Beispiel dafür böte vornehmlich der Strafvereitelungstatbestand in § 258 I StGB, sofern ihm das Vortäterprivileg 111 Dass es ins Uferlose führte, wollte man nemo tenetur überhaupt erst einmal durch das Strafinteresse relativieren, meint offenbar auch Weigend 2001, 276. Die Erwägung beruht darauf, dass das Beschuldigtenwissen die ergiebigste Informationsquelle im gegen ihn geführten Strafverfahren ist. Wird dieses Wissen in einem fremden Verfahren abgeschöpft oder wird der Beschuldigte im eigenen Verfahren in anderer Weise denn als Wissensträger herangezogen, gilt sie nicht mehr. Hier kann daher auch die Güterabwägung anders ausfallen. 112 Eine derartige Konstellation wurde am Beispiel des Geständnisses, das der Angeklagte auf eine unsorgfältig geführte und somit unverbindliche Strafmaßzusage hin ablegt, bereits erörtert. Hier liegt ein Übergang des Zwischenzwecks vor, denn solche Einlassungen bewirken keinen normbekräftigenden Effekt, sondern erleichtern nur noch die Sanktionsprozedur (vgl. oben bei Fn 32). Da dieses Anliegen – anders als die qualifizierte Normstabilisierung durch das rechtmäßig erzeugte Geständnis – hinter dem Geheimhaltungsinteresse zurückstehen muss, leidet diese Form nemo-tenetur-eingreifender Beweismittelgewinnung an Disproportionalität.

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abhanden käme113. Eine solche Regelung, die dem Wissensträger auch die verteidigungsmotivierten Geheimhaltungsversuche untersagen würde, ließe sich nämlich allein auf das Ziel seiner erleichterten Sanktionierung zurückführen114. Dies wäre auf dem Boden der eben ausgeführten Angemessenheitsabwägung ein unverhältnismäßiger nemo-tenetur-Eingriff. Umgekehrt folgt daraus die Verfassungsnotwendigkeit des § 258 I StGB in seiner gültigen täterprivilegierenden Fassung115. Durch ein entsprechendes, auf Schuldebene siedelndes Privileg wäre die verfassungsgebotene Freistellung der eigennützigen Strafvereitelung folglich nicht substituierbar. Das kann aber nicht einfach auf jene Sachlagen übertragen werden, in denen die eigennützige Sanktionsabwehr auch eine drittgerichtete Verbrechensverfolgung beeinträchtigt. Gegen solche Verbote (die nur sanktionsprivilegiert werden, § 258 I, V StGB) ist nichts zu erinnern, weil sie die Isolierung des begünstigten Dritten intendieren und nicht nur die Ermittlungen gegen den Vereiteler stützen116. Auch wo es das Strafrecht untersagt, zur Verdeckung des eigenen Vortatwissens geeignete Verdunklungshandlungen anderer Akteure anzustoßen oder zu fördern (z.B. §§ 258, I, V, 26 f. StGB oder §§ 261 I, II, IX 2, 26 f. StGB), betreibt es ein qualifiziertes Anliegen – nämlich den Täter zu vereinzeln und die nachtatliche Verstrickung des sozialen Umfelds zu unterbinden117. In all diesen abwägungsoffenen Fällen wird das einfache Geheimhalten zwar beschränkt und darüber die Ahndung des Wissensträgers unterstützt, doch bildet dies stets nur einen Nebeneffekt, der anlässlich einer anderen primären Zweckverfolgung eintritt.

II. Verfassungsmäßigkeit des Sanktionsregimes 1. Strafbewehrung und Strafprivilegien Die Sanktionsbewehrung der nemo-tenetur-relevanten Strafnormen erzeugt zwar keinen eigenen Selbstbezichtigungszwang, doch durch die Aussicht auf die eingriffsintensiven Kriminalsanktionen hindert sie den Wissensträger mit

113 Zur dahingehenden Auslegung von § 258 I StGB durch Schmidhäuser bereits Fn 124 in Kap. 9. Das Folgende würde i.Ü. ebenso gelten, wenn § 153 StGB den Angeklagten einschlösse. 114 Für das anderweitige Ziel, die vortatbetroffene Norm durch die postdeliktische Vereinzelung des Täters zu stabilisieren, wäre die Pönalisierung der eigennützigen Strafvereitelung jedenfalls nicht funktional, weil die Unterstützung des Vortäters gar nicht in ihren Normbereich fiele (ebenso Seel 1998, 39; Joerden 2003, 782). 115 An der Legitimierbarkeit eines vortätergerichteten Strafvereitelungsverbots zweifelt offenbar auch Freund (MüKo-StGB/Vor. §§ 13 ff./229). 116 117

Vgl. Seel 1998, 74.

Dies ist nur rechtstechnisch gerichtet gegen den Vortäter und nemo-tenetur-Träger, der postdeliktische Helfer nicht rekrutieren und unterstützen darf (vgl. für § 257 III 2 StGB H. Schneider 1991, 178).

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besonderem Nachdruck an illegalen Geheimhaltungsversuchen. Dennoch bemisst sich die Verfassungsmäßigkeit der Strafdrohung nicht am grundrechtlichen Geheimhaltungsschutz, sondern am Ehr-Element des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und an Art 2 II 2, 2 I GG (dazu oben I. und II.2. in Kap. 9). Mit der (angedrohten/realisierten) Verkürzung dieser Positionen verfolgt der Staat den unbedenklichen Zweck, die Verhaltensgeltung der straftatbestandlichen nemo-tenetur-Beschränkungen zu stabilisieren. Gemessen an deren Schutzgütern muss sich das Sanktionsnormelement als präventionsgeeignet, erforderlich und angemessen erweisen118. Was die Tauglichkeit der Strafdrohung anlangt, sieht man im Allgemeinen „die Einsetzbarkeit von Strafe für den staatlichen Sicherungsauftrag außer Zweifel“119. Wo eine Verhaltensnorm indes auf eine Selbstoffenbarung verfänglichen Tatwissens hinausläuft, trifft sie auf wirkmächtige Gegenmotive, mit denen es nach den historischen Erfahrungen selbst sehr handfeste Zwangsmittel nicht immer leicht haben (oben I. in Kap. 7). Daher, so liest man gelegentlich, sei es „dysfunktional, solche Verhaltensweisen mit Sanktionen zu belegen, von denen sich ein durchschnittlich ansprechbarer und belastbarer Mensch aufgrund seines Selbsterhaltungstriebes nicht abbringen“ ließe. Derartige Strafnormen erschienen als „ungeeignet und unverhältnismäßig“120. Solche Einwände gründen freilich auf einer sehr subjektiven Angemessenheits- und Zumutbarkeitswertung, die sich mit dem Hinweis auf das Eignungsdefizit lediglich eine gesteigerte Eindringlichkeit verschaffen will (ohne die besagte strafnormative Unansprechbarkeit näher auszuleuchten121). Empirisch ist die These ohnehin nicht zu halten, weil sie ein kriminogenes Motiv und eine womöglich erhöhte Normverletzungsrate kurzschließt mit einem Minimum an realer Verhaltenswirksamkeit. Eine solche Behauptung ist, legt man die Gesamtheit potenzieller Deliktssituationen zugrunde, kaum zu vertreten122. Recht besehen kann der Fehlbetrag, den die strafnormative Steuerungsleistung in 118 Dazu Lagodny 1996, 291; Appel 1998, 577; vgl. auch Vogel 1993, 63. Anders als bei der Strafbewehrung, bei der die gesicherte Bezugsnorm allein die im gleichen Normtext geregelte implizite Verhaltensnorm ist, bezogen sich Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit bei den obigen Normen der 4. Gruppe darauf, eine andere vortatverletzte Norm rehabilitieren zu können. 119

Schmidt-Jortzig 2001, 507.

120

Die Zitate (Herv. i. O.) bei Gropp (1992, 244), wo sie vornehmlich auf § 120 StGB gemünzt sind (vgl. auch Erdmann 1969, 20 ff.; Montenbruck, JZ 1985, 976, 981; Ruck 1985, 20 ff.). 121 Sie wird in ihrer Pauschalität denn auch vielfach bestritten, vgl. z.B. H. Schneider 1991, 366 f.; Lagodny 1996, 412; differenzierend dagegen Kahlo 2001, 362. 122 Selbst beim Massendelikt der Verkehrsunfallflucht rechnet die kriminologische Forschung damit, dass es maximal bei 1/6 aller pflichtbegründenden Unfälle – und nur diese Unfallgesamtheit ist die Bezugsgröße – zum unerlaubten Entfernen kommt (vgl. Laumann 1998, 13 ff. m.w.N.; grundsätzlich zum Problem der Verhaltensgeltung von Verkehrsnormen Kaiser 1996, § 78/1ff.).

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Selbstbelastungslagen verzeichnet, nur spekuliert werden, da selbst die normalen Präventionsmechanismen erst ansatzweise aufgeklärt sind123. Die kulturelle Ambivalenz von Geheimhaltungs- und Geständnismustern (oben I. in Kap. 5) lässt jedenfalls erwarten, dass strafbewehrte Selbstbezichtigungspflichten auf außerrechtliche Widerständigkeit und Unterstützung gleichermaßen stoßen. In dieser schwer überschaubaren Lage verfügt der Gesetzgeber erneut über eine Einschätzungsprärogative, sodass er die Leistungsfähigkeit seines sanktionsrechtlichen Instrumentariums auch optimistisch veranschlagen kann, ohne damit seine grundrechtlichen Bindungen zu übergehen124. Auf der Erforderlichkeitsstufe resultieren für pönalisierte Geheimhaltungsschranken ebenfalls keine erwähnungswürdigen Grenzwerte. So wird verbreitet schon gegenüber der These, dass das Strafrecht die einschneidendste Regelungsform verkörpert, zur Vorsicht gemahnt; verwaltungsrechtliche Kontrollund Überwachungssysteme, die bislang eher sektoral das nemo-teneturInteresse verkürzen (oben IV.2. in Kap. 1), könnten sich bei einer hinreichenden Flächendeckung durchaus eingriffsintensiver auswirken125. Es erscheint indes fraglich, ob man in solchen Pauschalvergleichen die Ausdehnung verwaltungsrechtlicher Verhaltensnormen tatsächlich gegen die Strafdrohungsintensität punktueller Strafnormen aufrechnen kann. Jedenfalls im individuellkonkreten Vergleich nimmt sich die Strafdrohung wegen des mit ihr in Aussicht gestellten Unrechtsvorwurfs gegenüber der ordnungswidrigkeitsrechtlichen Sanktionsdrohung oder der Ankündigung von Verwaltungszwang als massivere Normdurchsetzungsform aus126. Wenn sich aber der Gesetzgeber von dieser größeren Rigidität eine Funktionalitätsplus verspricht, ist dagegen mangels evident gleichgeeigneter Alternativen nichts zu erinnern127. Auf der Angemessenheitsebene darf schließlich die Verkürzung der sanktionsbetroffenen Grundrechte nicht außer Verhältnis stehen zum Gemeinschafts123 Überblick über den Forschungsstand für – um im Bsp. aus Fn 122 zu bleiben – verkehrsstrafrechtliche Normen etwa bei Morlok/Kölbel, ZfResoz 1998, 136, 141 ff., 148 ff. 124

Zum Problem Günther 1983, 186 f.; Lagodny 1996, 318 ff., 362 f.; Weigend 1999, 932 f.

125

Dazu aus allgemeiner Warte etwa Schulz 1998, 119 f.; Appel 1998, 539 ff.; Stächelin 1998, 134 ff.; Möstl 2002, 150; vgl. auch Schmidt-Jortzig 2001, 508; Böse 2003, 94 f. 126 Vgl. Lagodny 1996, 345 ff., 359; zurückhaltender Frister 1988, 29. Vgl. auch Appel 1998, 543 ff., der mangels eines einheitlichen Maßstabs die jeweiligen Eingriffe, weil sie verschiedene Grundrechte verkürzen, für inkommensurabel hält. 127 Dafür, dass das Strafrecht eine Sonderrolle einnimmt und einem eigenen Kontrollmaßstab unterliegt (so in der Sache Sternberg-Lieben 1997, 464 ff., 473 ff.: mit abnehmendem personalen Charakter des geschützten Rechtsguts nehme die gesetzgeberische Pflicht zu, das Fehlen eingriffsmilderer gleichgeeigneter Mittel nachzuweisen), enthält das Grundgesetz keine Anknüpfungspunkte. I.E. wie hier anhand von § 370 AO Berthold 1993, 63 sowie generell Günther 1983, 194 f.; Paulduro 1992, 183 ff.; Vogel, StV 1996, 110, 114; Weigend 1999, 934; Fisch 2000, 195 f.; vgl. auch Hefendehl 2002, 221 ff.

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

interesse an der Stabilisierung verhaltenslenkender Normen und zu deren jeweiligen Schutzzielen128. Insofern ist die Dichte der verfassungsrechtlichen Abwägungskontrolle freilich abermals gering. Man darf zwar die Augen ganz sicher nicht davor verschließen, dass die drohende Vortatsanktion die Befolgung postdeliktischer Geheimhaltungsschranken erschwert129. Das staatliche Interesse, die Einhaltung jener Bestimmungen durch jeden Adressaten zu gewährleisten, kann mit diesem Aspekt aber durchaus mit- und die Abwägungsbeziehung offen halten130. Auf den strafförmigen Schutz der nachtatlich bedrohten Güter muss der Staat also keineswegs verzichten. Umgekehrt bewegen sich deswegen aber auch die durchaus plausiblen Selbstbegünstigungsprivilegien (§§ 157, 258 V, 261 IX 2 StGB) verfassungsrechtlich im arbiträren Feld. Im Ganzen lässt sich für die nemo-tenetur-verkürzenden Strafnormen – unbeschadet der notwendigen Pönalisierung intensiver Gewalt131 – aus dem Grundgesetz also weder eine (legitimierende) Strafbewehrungspflicht noch ein (limitierendes) Strafbewehrungsverbot herauslesen. Dennoch wird das 12. Kapitel gewisse gesetzesinterpretatorische Feinkorrekturen vornehmen132.

128

Allgemein zu dieser Abwägung Appel 1998, 582 ff.

129

So nimmt die empirische Forschung an, dass sich bei der Unfallflucht affektnahe Reaktionen realisieren, die aber keineswegs regelhaft und stets nur vorübergehend auftreten (vgl. Laumann 1998, 22 ff.). 130

Zunächst einmal spricht die erschwerte Normeinhaltungsmöglichkeit auch gegen den Grundrechtsträger (dazu sogleich). Zu seinen Gunsten und für die Sanktionslosigkeit der Verhaltensnormverletzung greifen sie erst dann durch, wenn die Normeinhaltung (d.h. das Andershandeln-Können) nicht nur erschwert, sondern durch fehlende Normkenntnis (§ 17 StGB) oder mangels empirisch erforderlicher Fähigkeiten (§ 20 StGB) ausgeschlossen ist. Nur in diesen Sachlagen überwiegen die strafbetroffenen Grundrechte in der Güterabwägung so deutlich, dass ein an die Deliktsbegehung geknüpfter Vorwurf unangemessen ist (eingehend Lagodny 1996, 367 ff., 400 f.; vgl. auch Frister 1988, 34 ff.). 131 Da beim Pönalisierungsgebot die staatliche Pflicht zum (Individualgüter-)Schutz durch Reglementierung weiter verengt ist auf eine Pflicht zur strafbewehrten Gebots-/Verbotsnorm, nehmen seine Voraussetzungen an Strenge noch zu. Allenfalls bei gewalttätigen und folgenschweren Geheimhaltungsversuchen können demnach Pönalisierungspflichten bestehen (ebenso Dietlein 1992, 114 f.; Götz 1996, § 79/12; Lagodny 1996, 446, 449; vgl. auch Münch/Kunig Art 2/57). Das BVerfG ist hier ebenfalls zurückhaltend; es hat dies überhaupt nur bei Gütern i.S.v. Art 2 II 1 GG angenommen und dann den Gesetzgeber insgesamt auf ein bestimmtes Schutzniveau infolge eines mehrgliedrigen Gesamtkonzepts und nicht exklusiv auf eine Strafnorm festgelegt (dazu Appel 1998, 68 f., 70). 132 Dies deckt sich mit der bundesverfassungsgerichtlichen Position. Das Gericht ist zur Hinnahme von Pönalisierungen v.a. dann bereit, wenn der Gesetzgeber materiell- oder prozessrechtliche Institute vorhält, damit der Norminterpret flexible Einzelfallproportionalitäten auf Gesetzesebene einrichten kann (vgl. etwa BVerfGE 34, 261, 267 f.; 90, 145, 189 ff.; Appel 1998, 589 f.).

10. Kap.: Verfassungsmäßigkeit

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2. Strafschärfungsfälle Ein etwas anderes Schicksal könnte allenfalls jene Fälle ereilen, in denen die geheimhaltungsmotivierten Normwidrigkeiten strafschärfend berücksichtigt werden (oben II.2. in Kap. 9). Am Ende geht aber auch diese Verhältnismäßigkeitsprüfung in der schon bekannten Weise aus. Seinen Grund hat das vorwiegend in der normativen Doppelbedeutung des Geheimhaltungsmotivs133. Der Strafvereitelungswille wird danach zwar als psychische Normeinhaltungsbarriere anerkannt („verständliche Zwangslage“), zugleich aber auch als Risikofaktor identifiziert, dessentwegen der nemo-tenetur-Träger das von der Rechtsordnung vorgesehene nachtatliche Verhaltensreglement besonders gern missachtet134. Wenn der Gesetzgeber hiergegen auf eine angehobene Strafdrohung setzt, weil er darin ein wirksames Mittel gegen den gesteigerten Tatanreiz sieht, bewegt er sich durchaus in den legislativen Prognosespielräumen zur Eignung und Erforderlichkeit seines Vorgehens135. Auch in der Angemessenheitsabwägung streitet die Befürchtung, dass die angestrebte Primärnormstabilisierung ohne Sondersanktion in ungewöhnlichem Maße in Frage stehen könnte, für eine qualifizierte Gegensteuerung136. Das Strafdrohungs-Mehr wird davon plausibilisiert (wenn auch nicht erzwungen)137.

133

Zum Folgenden Rudolphi, JuS 1979, 859, 862 f.; H. Schneider 1991, 108 ff., 112 ff., 119 ff., 125 f. 134 Mit diesem Aspekt wird vorwiegend der Verdeckungsmord erklärt (z.B. MüKoStGB/Schneider, § 211/162, 169; Sowada, JZ 2000, 1035, 1039; Arzt/Weber 2000, § 2/62; Rengier 2005b, § 4/52; Maurach/Schroeder/Maiwald 2003, § 2/34; aus der Gegenansicht Köhler, GA 1980, 121, 139 f.; Weiß 1997, 200, 249; Haas 2004, 246 f.). Bereits BVerfGE 45, 187, 265 hatte dieses Mordmerkmal mit einer überdurchschnittlichen Gefährlichkeit der Täter in Verbindung gebracht, damit aber eher deren besondere Skrupellosigkeit gemeint. 135

Verkannt z.B. von Perron, GA 1988, 145, 168.

136

Dagegen spricht nicht, dass der Verdeckungsmord nach h.M. (BGHSt 41, 8; NStZ 1999, 615) auch Geheimhaltungsversuche erfasst, die außerstrafrechtlichen Folgen zuvorkommen sollen (Fn 68 in Kap. 9), denn derartige („nicht-strafrechtliche“) Selbstschutzmotive erhöhen ebenfalls die Gefahr der Verdeckungstatbegehung (vgl. BGH NJW 1999, 1039). Dennoch ist diese Argumentationslinie umstritten. Freund hält ihr das vermeintliche Paradox entgegen, dass man nach ihren Annahmen konsequenterweise auch der größeren Tatgeneigtheit eingeschränkt schuldfähiger Personen mit einer schärferen Strafdrohung entgegentreten müsse, was jedoch wider das Schuldprinzip sei (JuS 2002, 640, 643). Er lässt damit freilich die notwendige Differenzierung zwischen verschiedenen Normbefolgungsbarrieren vermissen. Anders als gegenüber dem Strafvermeidungsmotiv dürfte die geschärfte Strafbewehrung bei psychischen Defektlagen ohne Wirkung bleiben und verfassungsrechtlich daher mangels Geeignetheit scheitern. 137 Wer die Regelungslage im StGB mit einem konsistenten Selbstbegünstigungsprinzip erklären will, muss erklären, warum dort dem Selbstbegünstigungsmotiv nur bei einzelnen Tatbeständen und nicht deliktsübergreifend mit einer Strafschärfung begegnet wird. Er kann dann bei den betreffenden Normen nur nach Besonderheiten suchen. Beim Verdeckungsmord ließe sich z.B. darauf verweisen, dass die typischen Tatopfer (Polizisten, Tatzeugen) deshalb besonders zu schützen sind,

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

III. Nemo-tenetur-schützendes Strafrecht Nun unterliegt das Strafrecht dem Verfassungsdiktat ebenfalls dort, wo es die Selbstbelastungsfreiheit absichert. Es muss hier den Mindestanforderungen an die Ausgestaltung der nemo-tenetur-Grundrechte entsprechen. Da sich die Dichte der dahingehenden Kriterien letztlich doch als gering erwiesen hat (oben I.4.b)bb)), können sich die Ausführungen aber kurz fassen: Die fraglichen Einwirkungs-, Ausforschungs- und Geheimnisverratsverbote (IV. in Kap. 9) ergänzen die Abwehrrechte, die sich gegenüber dem Staat aus den nemo-teneturGrundrechten ergeben, um Verbote der privatseitigen Verkürzung des Geheimniswahrens. Zu diesem Zweck beschränken sie ihre Adressaten (z.B. private Ermittler, Verteidiger und Amtsträger) in deren Berufs- und Handlungsfreiheit (Art 12, 2 I GG). Die jeweilige Strafandrohung ergänzt dies um einem weiteren Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht und in Art 2 I, 2 II 2 GG. Auf beiden Ebenen, sowohl hinsichtlich des Handlungsreglements wie auch bei dessen kriminalrechtlicher Form, konnte der Gesetzgeber im Rahmen seines Einschätzungsspielraums von Geeignetheit und Erforderlichkeit ausgehen138. In den Angemessenheitsrelationen zwischen (allgemeiner/beruflicher) Handlungsfreiheit und der Selbstbelastungsfreiheit sowie zwischen den strafbetroffenen Grundrechten und der Durchsetzung des normativen nemo-tenetur-Schutzes herrscht erneut das für Grundrechtskollisionen dieser Art eigentümliche offene Verhältnis. Möglich wäre mehr aber auch weniger Strafrecht. Eine eindeutige Präferenz zu Gunsten der nemo-tenetur-Absicherung (und damit eine Reglementierungs- und Kriminalisierungspflicht) besteht allenfalls beim schweren physischen Selbstenthüllungszwang139. Nur die §§ 223 ff., 340, 343 StGB nehmen sich daher als verfassungsnotwendige nemo-tenetur-Ausgestaltung aus.

weil sie nicht nur als Normalpersonen fungieren, sondern auch als Vertreter der Gesellschaft bei der Vortatbewältigung „vor Ort“. Dennoch schmeckt derlei nach ergebnisorientierter Konstruktion. Es darf als zweifelhaft gelten, dass das Gesetz genau dort eine verdeckungs-qualifizierte Strafbewehrung vorsieht, wo es einen deliktsspezifischen Anlass gibt. Verfassungsrechtlich ist das auch nicht notwendig. Der Gesetzgeber muss keineswegs allen Schutzgütern, die gesteigerten Gefahren ausgesetzt sind, den Schutz gehobener Strafdrohungen angedeihen lassen, sondern er kann das auf einige Güter beschränken. Art 3 I GG diskriminiert Willkür, ohne vollständige systematische Stringenz des Strafrechts einzufordern. 138 Angesichts prozessualer Instrumente und disziplinarrechtlicher Sanktionsdrohungen skeptisch zur Erforderlichkeit Ebel, Kriminalistik 1995, 825, 827; Schulz 2001, 660. 139

Vgl. oben I.4.b)bb) und II. sowie Jerouschek/Kölbel, JZ 2003, 613, 619 f.

10. Kap.: Verfassungsmäßigkeit

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IV. Fazit Das materielle Strafrecht hat vielfach an der Erzeugung definitiver Geheimhaltungs- und Selbstbelastungsfreiheiten teil. Dabei tritt es – neben seinen grundrechtsfortschreibenden Schutzwirkungen – vornehmlich in Gestalt des Eingriffs hervor. Dass das Strafrecht hier eine ganz eigene Ausgestaltungsleistung erbringt, beruht zur Gänze darauf, dass ihm für die Festlegung der konkreten Grundrechtsschranken von Verfassungsseite weite Einschätzungs-, Bewertungs- und Abwägungsspielräume eröffnet werden (oben II. in Kap. 4). Das Strafrecht exekutiert nicht etwa nur auf grundgesetzliches Geheiß die übergeordneten Vorgaben. Vielmehr basieren die meisten strafgesetzlichen Geheimhaltungsgrenzen auf einer subkonstitutionellen Entscheidung, die innerhalb eines grundrechtlichen Korridors getroffen wurde und verfassungskonform auch anders ergehen könnte. So gesehen wird der Bestand an effektiven Selbstbezichtigungsfreiheiten von der lex lata also (mit-)definiert. Anders verhält sich dies nur, wo das Strafrecht die unverrückbaren Verfassungsvorgaben unselbstständig ausführt. In diese Rolle wird es allerdings nur selten gedrängt, namentlich: – wo es in § 258 I StGB eine grundrechtsgebotene Privilegierung realisiert, – wo es massive gewaltförmige Übergriffe durch und gegen den nemo-teneturTräger zu pönalisieren hat – und wo es Strafschärfungen für bereits strafbares Nachtatverhalten ebenso wenig wie rechtswidrig verabredete Strafbonusofferten zulassen darf. Freilich bleiben alle Strafnormen – ganz unabhängig von den Unterschieden bei ihrer verfassungsrechtlichen Notwendigkeit – ein Gegenstand der subkonstitutionellen Feinarbeit. Demgemäß unternehmen die folgenden Kapitel den Versuch, die wichtigsten strafgesetzlichen Geheimhaltungsschranken strafrechtsdogmatisch zu präzisieren. Sie betreiben allerdings ausschließlich das Geschäft der Selbstüberführungsfreiheit und suchen allein nach der sachgerechten Bewältigung vorhandener strafgesetzlicher nemo-tenetur-Eingriffe140. Mit den Privilegierungs-Fällen, in denen das Strafrecht die Geheimhaltungsoptionen unberührt lässt, brauchen sie sich dagegen nicht zu befassen. Solche Regelungen geben nemo tenetur keinen Grund zur „Unzufriedenheit“:

140 Nochmals: Die anschließende Untersuchung ist mit den fraglichen Bestimmungen nicht in jener sonst gebräuchlichen Weise befasst, in der man ein Strafgesetz aus allen dogmatischen Blickrichtungen ordnet. Ihr Sichtfeld ist schmaler: Da sie von dem spannungsreichen Verhältnis zwischen grundrechtlicher Selbstbeschuldigungsfreiheit und Strafnorm handelt, fragt sie auch unterhalb der harten Verfassungsbindungen (nur) danach, wie sich nemo tenetur im Zuge der Strafnorminterpretation realisiert. Die betreffenden Straftatbestände unterliegen bei einer solchen Problemstellung einem „Tunnelblick der nemo-tenetur-Fokussierung“, auf den sich die strafrechtsdogmatische Argumentation verengt.

400

Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

In diesem Bereich verdichten sich grundrechtliche Geheimhaltungsmöglichkeiten zu realen Verhaltensrechten, weil es an einer Eingriffsnorm mangelt (sofern nicht noch außerstrafrechtliche Einschränkungen auftreten). Um es – stellvertretend für die Selbstanzeige, die eigennützige Ermittlungserschwerung (§ 258 I StGB) und die selbsttätige gewaltfreie Flucht – am Beispiel des Lügerechts des Beschuldigten zu illustrieren: Da § 153 StGB kein Wahrheitsgebot vorschreibt141 und auch das Prozessrecht dergleichen nicht vorsieht142, herrscht ein unbeschränkte, grundrechtlich angelegte Freiheit zur (drittschädigungsfreien) Falschangabe143. Aus Sicht der Selbstbelastungsfreiheit besteht in solchen Fällen daher kein Überprüfungsbedarf.

141 Dieses Lügeverbot wäre auch gar nicht ohne weiteres implementierbar, da eine Einlassung schon bei bewusst verschwiegenen Teilaspekten unwahr ist (oben Fn 62 in Kap. 5). Soll dem Beschuldigten das Teilverschweigen als Minus des Schweigerechts (oben II.1. in Kap. 1) weiterhin erlaubt sein, ginge dies nur durch die unpraktikable Konstruktion, dass es der Beschuldigte gegebenenfalls anzuzeigen hätte. Das offenkundige Teilverschweigen wäre dann eine zulässige Lüge, während das heimliche Teilverschweigen als reflexive Geheimhaltungsform verboten wäre (dazu anhand der Zeugenstellung z.B. Müller 2000, 93 m.w.N.). Denkbar wäre auch die Regelung, dass der Beschuldigte im beliebigen Umfang schweigen dürfte und dass er nur in dem, was er positiv ausdrückt, wahrhaftig sein müsse. Dann bliebe indes jedes Teilverschweigen legal (wie beim Verteidiger, vgl. Beulke 1989, Rn 17). 142

Vgl. BGHSt 38, 345, 352 sowie v.a. Fezer 1993. Implizite prozessuale Lügeverbote, wie sie sich nach Bosch (1998, 186) aus der negativen Beweiswürdigung der Lüge und aus der Praxis richterlicher Wahrheitsermahnungen ergeben sollen, existieren nicht: Die angeblichen schuldindiziellen Schlüsse sind bei der Lüge schon deshalb unzulässig, weil „eine für widerlegt erachtete Behauptung des Angeklagten nicht ohne weiteres ein Täterschaftsindiz abgibt“ (BGHSt 41, 153, 156). Und zur Wahrheit kann das Gericht auch ohne eine rechtliche Wahrheitspflicht ermahnen. 143

Ebenso – gegen die h.M. – i.E. auch Fezer 1993, 677 f.; Wasek 1998, 297, 306.

11. Kap.: Prozessrechtsbindungen

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11. Kapitel

Prozessrechtsbindungen des nemo-tenetur-Strafrechts Bevor Kapitel 12 mit der Suche nach subkonstitutionellen Konkordanzmodellen an die bisherigen Grundrechtsprüfungen anschließt und sich in einer normhierarchischen Diktion um mehrseitige Güteroptimierungen müht, unterbricht das folgende Kapitel diese freiheitsrechtliche Denkart. Die hier zum Einsatz kommende fragmentwahrende Auslegung steht für eine formale horizontale Konsistenz zwischen zwei Teilrechtsordnungen und verbürgt deren funktionale Differenz. Grundrechtliche Selbstbezichtigungsfreiheiten üben bei ihr nur einen indirekten Einfluss auf das Strafgesetz aus. Sie nehmen den Umweg über das Strafverfahrensrecht, das die Geheimhaltungsmöglichkeiten auf prozessualem Terrain ausgestaltet. Vom einfachen Prozessrecht aus kommt es zu punktuellen Auswirkungen auf das Strafrecht – überall dort, wo ein konkreter Regelungskonflikt zwischen diesen beiden Rechtsgebieten auftritt, der durch eine einschränkende (fragmentwahrende) Strafnormauslegung aufzulösen ist1.

I. Zur Erinnerung: Das Verfahren der fragmentwahrenden Auslegung Den Gedanken, der sich hinter der fragmentwahrenden Auslegung verbirgt, verfolgt die Strafrechtsdogmatik seit jeher, nur geschieht das meist sporadisch und ohne theoretische Basis. Deshalb wurde hier am Beispiel des Prozessrechts der strafrechtsmethodische Stellenwert der außerstrafrechtlichen Teilrechtsordnungen näher begründet und ein eigenes Konkretisierungselement entworfen, in dem der Prozessrechtsprimat auslegungspraktisch zu realisieren ist. Diese Art der Strafnormdeutung räumt verfahrensrechtlichen Erwägungen breiten Raum ein. Der Norminterpret muss sich fortwährend vergewissern, ob eine Prozessvorschrift den Sachbereich des von ihm aktuell bearbeiteten Strafgesetzes mitregiert. Wird er fündig, geht die nämliche Verfahrensnorm, falls sie abschließenden Charakter hat, in einen materiellrechtlichen Argumentschritt ein, bei dem eine Vorrangregel zwischen mehreren möglichen Strafnormauslegungen gegen die fragmentüberschreitende Variante befindet: Das Strafgesetz darf keinen Regelungsbestandteil entwickeln, der gemessen an der Prozessrechtslage

1 Inhaltlich gesehen ist die Bindung des Strafrechts an das Prozessrecht „härter“ als die praktische Konkordanz, da sie trennschärfere Grenzen setzt. Wo die fragmentwahrende Auslegung mit ihrer größeren Genauigkeit zum Zuge kommt, braucht es keinen grundrechtsorientierten Ausgleich. Das ist der pragmatische Grund, warum Kap. 11zwischen die aufeinander aufbauenden Kap. 10 und 12 eingeschoben wird.

402

Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

eine zusätzliche Verhaltenseinschränkung vornimmt – es sei denn, der Strafnormtext sieht diese überschießende Reglementierung unmissverständlich vor. In diesem Rahmen gewährleistet die fragmentwahrende Auslegung, dass der Beschuldigte bei Prozessrollenadäquanz seines Geheimhaltungshandelns straffrei bleibt. Sie sorgt für eine entsprechende Einschränkung des Straftatbestandes. Eine solche Behandlung kommt bei jedem strafgesetzlichen nemo-tenetur-Eingriff, der verfahrensrechtliche Berührungen aufweist, in Betracht. Da sich der primärrechtlich autorisierte Legalbereich aber nicht selten erst nach einer eingehenden Analyse des Prozessrechts erschließt, konzentriert sich die hiesige Untersuchung aus Raumgründen auf die wichtigsten Beispiele2. Dass die Schwerpunkte dabei ausgerechnet beim Verteidigungsverhalten in der Hauptverhandlung liegen, kann angesichts der dort besonders hohen prozessualen Regelungsdichte kaum verwundern.

II. Fragmentwahrende Auslegung des Selbstbelastungs-Strafrechts 1. Prozessverhalten des Angeklagten a) Drittbeeinträchtigende Verfahrenseinlassung In der Hauptverhandlung kleidet der angeklagte Grundrechtsträger, der sein Geheimnis offensiv zu sichern sucht, seine wissensverdunkelnde Rede typischerweise in die prozessualen Äußerungstypen der Einlassung, Stellungnahme, Frage oder Beweisantragsbegründung. Mit unwahren Erklärungen verletzt er mitunter allerdings Rechtsgüter anderer Personen. Dies steht dann z.B. nach §§ 145d II Nr. 1, 164, 187 StGB unter Strafe. Die h.M. befürwortet indes eine restriktive Straftatbestandsauslegung, weil sie diese Formen der Prozesslüge weithin für prozessual erlaubt hält3. Der verfahrensrechtlichen Dogmatik wird dies

2 Für die fragmentwahrende Auslegung ist es ohne Belang, ob die selbstbezichtigungsrelevanten Prozessregelungen durch die nemo-tenetur-Grundrechte determiniert werden oder ob sie zusätzliche Schutz- und Handlungsräume eröffnen, die über das verfassungsgebotene Maß hinausgehen. Das Strafrecht muss in beiden Fällen die subkonstitutionelle Konsistenz wahren. Deshalb wird durch die fragmentwahrende Auslegung mitunter auch solches Verhalten straffrei gestellt, dessen Untersagung an sich gar nicht die Qualität eines nemo-tenetur-Eingriffs hatte (weil die fragliche Norm nicht ausschließlich durch verfängliche, sondern ebenso durch geheimhaltungsneutrale Handlungen befolgt werden konnte). Auf der anderen Seite müsste man allerdings die fraglichen Prozessnormen, bevor sie für die fragmentwahrende Auslegung heranzuziehen sind, streng genommen erst noch auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfen. Das ist hier nicht zu leisten; ihre Unbedenklichkeit wird daher vorausgesetzt. 3 Die h.M. geht davon aus, dass „es im Strafprozess eine Wahrheitspflicht für den Beschuldigten nicht gibt und dass eine solche daher auch nicht indirekt über das Strafrecht begründet werden kann“ (Sch/Sch/Lenckner, Vor §§ 153 ff./36). So dürfe sich der Beschuldigte nach BGHSt 38, 345, 352 gegen den drohenden Widerruf der Haftverschonung prozessrechtlich gesehen auch mit unwahrem Vorbringen zur Wehr setzen. Dies stehe einer Betrugsstrafbarkeit im Wege, selbst wenn

11. Kap.: Prozessrechtsbindungen

403

freilich kaum gerecht, beharrt diese doch gerade darauf, dass es ungeachtet der nicht bestehenden Wahrheitspflicht an einem Lügerecht fehle (oben II.2. in Kap. 1). Diese Indifferenz einer unklaren prozessualen Regelungslage lasse, so wendet daher eine andere Autorengruppe ein, keine Schlüsse aus dem Prozessauf das Strafrecht zu. Verbotsgrenzen würden der Lüge vielmehr aus der Gegenrichtung gezogen4 – nämlich allein durch die strafrechtsautonome Konkretisierung der genannten materiell-rechtlichen Normen5. Mit Bedacht auf die Voraussetzungen der fragmentwahrenden Auslegung muss man dem in der Tat beitreten. Nur wenn das Prozessrecht eine wirkliche Erlaubnis für die Beschuldigtenlüge vorsehen würde, müsste man diese Handlungsweise aus den straftatbestandsimpliziten Lügeverboten heraushalten. Das ist aber nicht der Fall. Lässt man einmal das Schweigerecht beiseite (weil es in Gestalt des Teilschweigens lediglich die hier unerhebliche Passivlüge, genauer: das irreführende Verschweigen von Wissensbestandteilen erfasst6), wird das Einlassungsverhalten des Angeklagten in der StPO nur durch solche Bestimmungen geregelt, die ihm in Fortbildung von Art 103 I GG ein Äußerungsrecht zuerkennen7. Dies garantiert ihm, dass er sich überhaupt zu Wort melden darf, der Staat durch diese Lüge in tatbestandlicher Weise geschädigt wird (ebenso Geppert 2002, 46). Bei § 164 StGB beruhe die Tatbestandslosigkeit des unwahren Leugnens nach der Rspr. darauf, dass es sich bei einem solchen Verteidigungsvortrag um „zulässiges Verteidigungsverhalten“ (OLG Düsseldorf, NJW 1992, 1119; OLG Frankfurt/M. DAR 1999, 225) bzw. um ein „gutes Recht“ des Angeklagten (BayObLG NJW 1986, 441, 442) handele. Teile des Schrifttums begründen die restriktive Auslegung von §§ 145d II Nr. 1, 164 StGB ebenfalls mit der Zulässigkeit des Lügens (vgl. Fn 308 in Kap. 1; für § 187 StGB bei Wohlers, StV 2001, 420, 428 und für die Beschuldigtenprivilegien in §§ 138, 153, 258 StGB bei Rzepka 2000, 395). Obendrein folge aus dem Erlaubt-Sein der Lüge, dass etwaige Falschangaben im Steuerstrafverfahren nicht nach § 370 AO tatbestandsmäßig seien (so Franzen/Gast/Joecks 2001, § 393/36). 4 So insbesondere Schmidt, § 136/25 ff., 28; LR/Hanack, § 136/41; LR/Gollwitzer, § 243/75; H. Schneider 1991, 217, 359. 5

Für den Versuch, die Strafbarkeitsgrenzen von §§ 145d II Nr. 1, 164 StGB materiell-rechtlich und ohne Rückgriff auf prozessuale Positionen zu bestimmen, repräsentativ Fezer 1993, 673 ff. 6 Zur explizit-primären Schweigeerlaubnis des Angeklagten unten II.1.c)cc) Vor dem Hintergrund, dass die Lüge zwei Grundformen kennt – das Verheimlichen als Zurückhalten von Informationen und das Verfälschen als das Darstellen unzutreffender Informationen (dazu Ekman 2001, 28) –, wird erkennbar, dass durch das Teilschweigerecht als Unterfall des Schweigerechts nicht etwa, wie Buchholz (1990, 167) irrig meint, alle Prozesslügen erlaubt werden, sondern nur jene, bei denen die Unwahrheit der Einlassung aus ihrer Lückenhaftigkeit resultiert, d.h. aus dem (offenkundigen oder verdeckten) Weglassen von Bestandteilen einer inhaltlich korrekten und vollständigen Aussage (Verheimlichen). Dem strafrechtlichen Verhaltenstyp nach handelt es sich hierbei um die erst unter II.1.c) erörterten Unterlassungen. Bei den hier interessierenden drittschädigenden Lügen geht der Angeklagte über das partielle Verschweigen indes hinaus. Dieses Verfälschen von Informationen liegt außerhalb des schweigerechtlichen Normbereichs. 7 § 33 I StPO: Äußerung zu Entscheidungen in der Hauptverhandlung; § 243 IV StPO: Sachvortrag zum Prozessgegenstand; § 240 II StPO: Fragen an Zeugen und Sachverständige; § 257 I StPO: Erklärung zu Beweiserhebungen; § 258 II StPO: letztes Wort.

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

wohingegen ihm die Option, jene Äußerungsmöglichkeiten so oder so wahrnehmen zu können (durch wahre ebenso wie durch unwahre und drittschädigende Aussagen), lediglich als Reflex zufällt. Die Freiheit des Bekundungsinhalts ist in die Anspruchsstruktur prozessualer Leistungsrechte nicht eingeschlossen8. Eine Berechtigung zum Lügen existiert nur, soweit dieses unverboten ist (oben IV. in Kap. 10). Vom Strafprozessrecht wird dergleichen dagegen gar nicht thematisiert9. Da es also einer explizit-primäre Lügerechtsgrundlage entbehrt, muss die fragmentwahrende Einschränkung von §§ 145d II Nr. 1, 164, 187 StGB unterbleiben10.

b) Beweislagentrübung mittels Beweisantrags aa) Problemstruktur Eine elaborierte Form, das eigene Tatwissen zu schützen, besteht darin, die staatliche Ermittlung durch trügerische Unterlagen oder ein irreführendes Zeugnis fehlzuleiten. Wer dies beabsichtigt, kann im formalisierten Interaktionsgefüge des Strafprozesses gar nicht umhin, dafür seine prozessualen Gestaltungsrechte einzusetzen. So stellt es eine charakteristische Geheimhaltungstechnik dar, die Verlesung einer falschen (unechten oder verfälschten) Urkunde oder die Vernehmung eines falschaussagebereiten Zeugen zu beantragen11. Der Beschul-

8 Dazu Fn 145 in Kap. 7. Dass der Beschuldigte in seinem Vortrag keine inhaltlichen Restriktionen erfährt, gewährleistet ihm vielmehr – wenigstens als Bruttoposition – eine entsprechende verfassungsrechtliche Norm. Dabei handelt es sich nach der hiesigen Ansicht um Art 5 I GG (oben II.2.b)bb) in Kap. 7). Die Gegenauffassung käme stattdessen an Art 2 I GG nicht vorbei. Wie auch immer: Nur durch die von dort herrührenden Einschränkungen – nur durch die jeweiligen Verfassungsbindungen – könnten die strafgesetzlichen Lügeverbote eingeschränkt werden. 9 Auch dass die StPO i.U. zum Zivilprozess (§ 138 I ZPO) keine Wahrheitspflicht positiviert, ist nur soweit beredt, als dass das Strafverfahren eben auf das Lügeverbot verzichtet. Der Schluss auf eine stillschweigende Lügerechtseinräumung wird hierdurch nicht zugelassen. 10

Deshalb ist es bspw. unzutreffend, dass eine unwahre Angeklagteneinlassung wegen der Vorrangigkeit des Verfahrensrechts keine Teilnahme an der (von dieser Einlassung veranlassten) Falschaussage eines Zeugen sein könne (so aber BGH NJW 1958, 956; Sch/Sch/Lenckner, Vor §§ 158 ff./36). Die fragmentwahrende Auslegung würde nicht einmal daran hindern, in solchen Fällen die Vortat strafschärfend zu ahnden (i.E. ebenso OLG Köln MDR 1980, 594; a.A. Torka 2000, 222). Hierfür bedarf es anderweitiger Einwände. 11

Praktisch sind solche Fälle selten. Unverteidigte Angeklagte wirken, sieht man von einigen gerichtserfahrenen Ausnahmen ab, selten durch Beweisanträge o.ä. auf den Verfahrensablauf ein. Meist beschränkt sich ihr Verteidigungsbeitrag auf (auch strategische) Sacheinlassungen (vgl. Vogtherr 1991, 293; Perron 1995, 309, 315; Dölling u.a. 2000, 130). Da die vorhandenen empirischen Anhaltspunkte (z.B. Vogtherr a.a.O., 149 ff., 179 ff., 294 ff.; Perron a.a.O., 308 f., 313 ff.; Dölling u.a. a.a.O.; zusammenfassend Eschenhagen 2001, 50 ff.) in der Regel auch bei den Ver-

11. Kap.: Prozessrechtsbindungen

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digte bewegt sich mit solchen Verdunklungsverfahren im Bereich der strafbewehrten Untersagung (§ 267 I Var. 3 StGB bzw. §§ 153, 26, 27 StGB). Da er aber zugleich ein Verfahrensrecht (§§ 209 f., 244 f. StPO) wahrzunehmen scheint, könnte eine fragmentwahrende Auslegung angezeigt sein12. Das dahingehende Meinungsbild fällt etwas diffus aus. Dass die Vorlage einer falschen Urkunde von § 267 I 3. Var. StGB grundsätzlich erfasst ist, gilt zwar als selbstverständlich, doch wird mit Blick auf das Prozessrecht durchaus auch eine tatbestandliche Restriktion unterstützt13. Der BGH weist dies jedoch bei einem entsprechenden Beweisantrag des Verteidigers zurück14. Um hier die Strafbarkeitsrisiken gleichwohl abzusenken, fingiert er stattdessen bei demjenigen Akteur, der über die Beschaffenheit der fraglichen Dokumente nicht genau im Bilde ist, einen vorsatzausschließenden inneren Vorbehalt15. Dem Angeklagten kommt dies indessen kaum zugute, weil er die Qualität der vorgelegten Urkunden meist überschaut. Bei ihm handelt es sich daher typischerweise um eine strafbare, direktvorsätzliche Einführung des falschen Beweismittels16. Dies gelte ebenso bei der Benennung eines lügebereiten Zeugen. Hier entfalle die Strafbarkeit nur für solche Antragsteller, die zwar womöglich skeptisch, aber in die

teidigern keine übermäßigen prozessualen (Beweis-)Aktivitäten ausweisen, dürfte die Beweislagentrübung in der hier analysierten Form auch auf anwaltlicher Seite nicht allzu häufig auftreten. 12 Ähnlich verhält es sich bei den funktional verwandten Beweisanregungen und Beweisermittlungsanträgen. Dagegen ist bei den gängigen Methoden der Wissensabschottung außerhalb des prozessualen Handlungsraums (Urkundenmanipulation; Zeugenpräparierung) der „dem Angeklagten zustehende Selbstschutzbereich“ verlassen (Sch/Sch/Lenckner, Vor §§ 153 ff./36). Es fehlt an explizit-primären Berechtigungen, auf die das Strafrecht Rücksicht zu nehmen hätte. 13 So KMR/Hiebl, Vor § 137/37; Stumpf, NStZ 1997, 7, 11 ff.; Rengier 2005a, § 21/22; Rietmann 2002, 163. 14

V.a. BGHSt 38, 345, 348; vgl. auch BGH NJW 1992, 3048; Widmaier 2000, 1058.

15

Der BGH geht nach Art seiner „Hemmschwellentheorie“ vor (zu dieser Parallele Hilgendorf 2002, 503 f.): Der Verteidiger, der an der Urkunde lediglich zweifelt und sie für möglicherweise falsch hält, handle nicht mit dolus eventualis, sofern nichts Gegenteiliges darauf hinweist. Das Dokument lege er nur vor, um pflichtgemäß sämtliche Entlastungschancen auszuschöpfen. Er rechne damit, das Gericht werde die eventuelle Falschheit schon erkennen (BGHSt 38, 345, 350 f.; kritisch bspw. Tröndle/Fischer, § 258/13a; Beulke, JR 1994, 116, 120 f.; Stumpf, NStZ 1997, 7, 11; Wünsch, StV 1997, 45, 49; Otto, JZ 2001, 436, 438; Wohlers, StV 2001, 420, 422). 16 Auch im Schrifttum will man das Problem auf subjektiver Ebene bewältigen. So soll der Täuschungsvorsatz von der positiven Kenntnis der Urkundenmanipulation abhängen (so Widmaier 2000, 1058). Andere übertragen die gesteigerten Vorsatzanforderungen in § 258 I StGB auf § 267 I 3. Var. StGB (für den so bewirkten Ausschluss von Eventualvorsatz statt vieler z.B. Wünsch, StV 1997, 45, 49 f.; Albers 1998, 122 ff.; grundsätzlich auch Hilgendorf 2002, 510). Manche wollen wiederum die Erfolgszurechnung von der anwaltlichen Situationskenntnis abhängen lassen (vgl. Tröndle/Fischer, § 258/13d). Im Einklang mit dem BGH gelangen aber all diese Ansichten beim wissentlichen Einsatz falscher Urkunden zur Strafbarkeit nach § 267 I 3. Var. StGB.

406

Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

Tatneigung des Zeugen jedenfalls uneingeweiht waren17. Freilich wird dazu erneut auch die Ansicht vertreten, dass die fraglichen Beweisanträge dem Kreis möglicher Teilnahmeakte gänzlich entzogen seien, weil sie in Wahrnehmung prozessualer Rechte erfolgten18. Dabei ist für die Zeugenbenennung genau genommen noch gar nicht ausgemacht, dass sie den Tatbestand der Falschaussagenbeteiligung überhaupt verwirklicht. Zumindest irritiert die Selbstverständlichkeit, mit der solche Beweisanträge unter die allgemeinen Anstiftungsvoraussetzungen19 und/oder die Beihilferegeln subsumiert werden20. Für das hiesige engere Interesse ist dies jedoch ohne Belang. Unter den Vorzeichen der Selbstbelastungsfreiheit könnte das Problem bereits durch die fragmentwahrende Auslegung obsolet werden. Irreführende Beweisanträge würden danach, falls sich deren prozessuale Erlaubnis aufzeigen lässt, straftatbestandslos. Für die anschließende Untersuchung ist dies die leitende Überlegung. Dazu muss etwas ausgeholt und der Aufbau des strafprozessualen Beweisrechts in den Blick genommen werden.

17 BGHSt 46, 53, 55 f.; vgl. auch Aselmann 2004, 236 ff.; Otto, JZ 2001, 436, 438. Bei anwaltlichen Akteuren liegt in den Fällen gezielter (!) Beweistrübung durch Benutzung falscher Urkunden und falschaussagebereiter Zeugen nach h.M. auch Strafvereitelung vor (vgl. RGSt 66, 316, 324; BGHSt 29, 99, 107; NStZ 1983, 503; StV 1987, 195, 196; OLG Düsseldorf StV 1998, 65; OLG Köln StV 2003, 15; KMR/Hiebl, Vor § 137/25; Bottke, ZStW 96 (1984), 726, 758; Beulke 1989, Rn 61, 93; ders. 2001, 1183; Widmaier 2000, 1059; Wolf 2000, 322 f.; a.A. Ostendorf, NJW 1978, 1345, 1349; SK-StGB/Hoyer, § 258/26; zur Strafvereitelungsteilnahme Stumpf 1999, 197 ff.). Noch nicht fixiert ist indes die Versuchsschwelle (dazu etwa Otto, Jura 1987, 329, 331; ders. 2005, § 96/13; Stumpf a.a.O., 163 ff.). 18 Benenne der Angeklagte einen Zeugen, von dem er annimmt, er werde falsch aussagen, sei das nicht strafbar, den es entspräche seinem Recht auf Selbstverteidigung (Sch/Sch/Lenckner, Vor § 153 ff./36; Scheffler, GA 1993, 341, 349, 353), es sei prozessrechtlich erlaubt (LG Münster, StV 1994, 134; SK-StGB/Rudolphi, Vor § 153/49; NK/Vormbaum, § 153/112 f.; ders. 1987, 293 f.; Heinrich, JuS 1995, 1115, 1116 f., 1118 f.; Prittwitz, StV 1995, 270, 273; Rengier 2005b, § 49/67) bzw. sozialadäquat (Herzberg 1972, 310). Durchweg wird allerdings die prozessuale Zulässigkeit des betreffenden Beweisantrags in diesen Stellungnahmen nur behauptet. Die Gegenansicht spricht denn insofern auch lediglich von einer prozessualen Folgenlosigkeit (vgl. Brammsen, StV 1994, 135, 138, 139 f.). 19 Das kann nur bejahen, wer sich mit dem kausalen Hervorrufen des Falschaussagevorsatzes begnügt (vgl. Brammsen, StV 1994, 135, 136 f.; ebenso Torka 2000, 212 ff., der aber nur intensive Motivierungen hinreichen lässt). Die h.M. beanstandet bei der bloßen Zeugenbenennung jedoch das Fehlen des unverzichtbaren geistigen Kontaktes zwischen Angeklagtem und Haupttäter (vgl. Sch/Sch/Lenckner, Vor §§ 153 ff./37; Heinrich, JuS 1995, 1115, 1117; SK-StGB/Rudolphi, Vor § 153/51; Müller 2000, 160 f.; Krischer 2000, 41 ff.). 20 Nach Brammsen (StV 1994, 135, 137 f.) erfülle die Zeugenbenennung nach allen Ansichten die Beihilfevoraussetzungen, weil sie die Zeugenladung bewirke und damit a., ein zugangseröffnender und so erfolgskausaler Beitrag sei (Erfolgsverursachungstheorie), b., die Falschaussage erleichtere (Förderungstheorie) und c., die Rechtspflegegefährdung erhöhe (Risikoerhöhungslehre). Dieses oft (z.B. von LK/Ruß, § 154/15; Welp 1968, 310 Fn 97; Otto, JuS 1984, 161, 169; Maurach/Schroeder/Maiwald 1999, § 75/80; Krischer 2000, 105 ff.) gebilligte Ergebnis will Müller (2000, 159 ff.) indes auf ein schmales Band an Konstellationen reduzieren.

11. Kap.: Prozessrechtsbindungen

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bb) Reichweite des Beweisantragsrechts Der Richter befindet nicht nur über das Ergebnis des Beweisverfahrens, sondern dirigiert zuvor auch dessen Verlauf, Umfang und Ausgestaltung. Obschon die Untersuchungsmaxime von ihm verlangt, alle entscheidungsbedeutsamen Tatsachen aufzuklären (§§ 155 II, 244 II StPO), könnte die Beweiserhebung daher allzu leicht von seinen Vorerwartungen regiert werden und diese dann schließlich auch bestätigen21. Deswegen sorgt das Beweisantragsrecht der anderen Prozessakteure im Verein mit dem Beweisantizipationsverbot22 dafür, dass breiter gefächerte intersubjektive Sachverhaltsentwürfe verifiziert werden können. Das Gericht ist genötigt, den Erheblichkeitsprognosen aller beweisbemühten Beteiligten nachzugehen und den Ausgang ihrer Beweisvorschläge zur Kenntnis zu nehmen. Dabei aktualisiert die Verteidigungsseite mit ihren Beweisansinnen meist nur die amtliche Aufklärungspflicht. Sie gleicht die lebensweltlichen Selektionsstrategien aus, mit denen das Gericht den Nachforschungsumfang, den ihm das inquisitorische Normprogramm aufgibt, abkürzt23. Eine solche Vorurteilskorrektur instituiert das Beweisantragsrecht gerade hinsichtlich der Überzeugungskraft einzelner Beweisstücke. Das Gericht, das solche Anhaltspunkte oftmals ausblenden wird, denen es angesichts des bereits vorhandenen Beweisstoffes (und nach seinen subjektiven Interpretationsmustern24) keine durchschlagenden neuen Wendungen mehr zutraut, kann bei einem beantragten Beweismittel eine derartige vorwegnehmende Beweiswertigkeitswürdigung nur noch im Rahmen der enumerativen Ablehnungsgründe (§§ 244, 245 StPO) obwalten lassen25. Darüber hinaus zwingt das Beweisantragsrecht aber auch jene Beweiserhebungen, auf die der Richter wegen ihrer hochplausiblen Bedeutungslosigkeit durch-

21 Zu dahingehenden empirischen Anhaltspunkten etwa Lautmann 1972, 146, 170; Schünemann 1995, passim; Schmid/Drosdeck/Koch 1997, 22 ff., 102. 22 Zu dessen reichsgerichtlicher Schöpfung eingehend Wißgott 1998, 88 ff., 178 ff.; die verschiedenen Antizipationsformen und ihre Un-/Zulässigkeit differenzierend zuletzt Schulenburg 2002, 105 ff., 121 ff. 23 Auf Betreiben der Verteidigungsseite gerät dann jener Datenstoff doch noch in die Mühlen des Prüfens und Deutens, der dort von Rechts wegen ohnedies seinen Platz gehabt hätte (vgl. KK/Herdegen, § 244/23; Alsberg/Nüse/Meyer 1983, 32). 24 Das Geständnismuster ist dafür ein besonders wirkkräftiges Bsp., weil vor seiner Strahlkraft etwaige Gegenbeweise von vornherein verblassen (oben I.3.b)bb) in Kap. 5). 25

Damit berichtigt das Beweisantragsrecht ein neuerliches Defizit in der lebenspraktischen Wahrnehmung der Amtsaufklärungspflicht, nämlich den Verzicht auf einzelne Beweismittel nach Vorwegwürdigung der Beweislage. Es initiiert auch hier eine Amtsaufklärung, die ohnehin geboten ist. In dieser Rolle fungiert es ausschließlich als ein Behelf gegenüber einer faktischen Verkürzung der Amtsermittlung, ohne ein zusätzliches (amtspflichtüberschreitendes) Beweisverfahren zu erzwingen (vgl. Frister, ZStW 105 (1993), 340, 359).

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

aus verzichten durfte, in das Verfahren hinein. Dies gibt dem Angeklagten die Kompetenz zur abweichenden Erheblichkeitsprognose26. Insgesamt nimmt das Gesetz also einen Überschuss an irrelevantem Beweismaterial durchaus in Kauf, um ein relevantes Manko zu vermeiden. Dementsprechend breit aufgestellt ist bereits die Amtsaufklärungspflicht. So muss der Richter beispielsweise einen Zeugen, der sachgegenständliche Wahrnehmungen gemacht haben könnte, selbstverständlich laden und hören27. Von der Vernehmung darf er nach einer „Vorweg-Negation des Beweisgelingens (…) nicht einmal” dann absehen, wenn der „Zeuge in einem anderen Verfahren das Gegenteil von dem, wofür er benannt ist, bekundet hat“28. Das Gericht muss den Zeugen (von sich aus) selbst dann befragen, wenn es ihm ein Lügevorhaben zuschreibt oder wenn er seine Falschaussage ankündigt oder hierzu bekanntermaßen angestiftet wurde29. Durch solche Personen wenigstens in Ausschnitten etwas Sachdienliches zu erfahren, ist dem Gericht nämlich allemal möglich30. Aus 26 Eingehend Frister (ZStW 105 (1993), 340, 350 f., 357 ff.). Nur weil bei der Beweisergebnisprognose (i.U. zur Würdigung des Beweises; eben Fn 25) eine gewisser antizipierender Verzicht durch das Gericht statthaft ist, führt das Beweisantragsrecht, indem es zur Befassung mit diesen zulässig unterlassenen Beweismitteln zwingt, quantitativ gegenüber der Amtsaufklärung zu einem Ermittlungs-Mehr (dazu z.B. Schatz 1999, 224 ff.; KK/Herdegen, § 244/65 f.). Dagegen ist der Behauptung entgegenzutreten, dass der Sachaufklärungsanspruch des Beweisantragsrechts nicht über die Amtsaufklärungspflicht hinausreiche und dass den Beweisanträgen nur dann stattzugeben sei, wenn die gegenständliche Beweiserhebung von Amts wegen erfolgen müsste (zum Streit m.w.N. Wißgott 1998, 29 ff.; Schatz a.a.O., 211 ff.). 27 Nochmals: Wenn das Gericht von dem Zeugen nicht wusste oder sich von ihm keine Aufklärung versprach, bildet das Beweisantragsrecht eine Handhabe, um die stockende Befolgung der Inquisitionspflicht in Gang zu bringen. 28

KK/Herdegen, § 244/65; vgl. auch Alsberg/Nüse/Meyer 1983, 417, 615.

29

Zu diesem Fall Alsberg/Nüse/Meyer 1983, 611 m.w.N.

30

Vgl. den Beispielsfall in BGH StV 1993, 172. Durch den Beweisantrag wird das Gericht gezwungen, sich auch mit unzuverlässigen Beweismitteln (amtspflichtschuldig) zu befassen. Der Beweiswert eines Zeugen variiert mit seiner Wahrheitsbereitschaft, ohne bei einer Lügeabsicht gänzlich zu fehlen. Dass er unglaubwürdig ist, erlaubt deshalb nach ganz h.M. nicht, den Antrag auf seine Vernehmung wegen völliger Ungeeignetheit des Beweismittels (§ 244 III StPO) abzulehnen (vgl. z.B. BGH NStZ 1984, 42, 43; ebenso etwa BGH DAR/S 1981, 198; Alsberg/Nüse/Meyer 1983, 612 f. m.w.N. für den der Tatbeteiligung verdächtigen Zeugen). Ein Tatverdacht macht den Zeugen nur ungeeignet, wenn dies in ein rechtlich garantiertes Schweigen mündet (wenn er sein Aussageverweigerungsrecht wahrnimmt, vgl. BGH NStZ 1986, 181; StV 1993, 340; KK/Senge, § 55/12). Etwas anderes gelte indes (m.a.W.: die Amtsaufklärungspflicht werde nicht aktualisiert) bei evidenter vollständiger Unglaubwürdigkeit des Zeugen (vgl. BGHSt 14, 339, 342; KG JR 1983, 479; KK/Herdegen, § 244/78; Roxin 1998, § 43/16). Dem ist nicht zu folgen (skeptisch auch Grünwald 1993, 99; Eisenberg 2002, Rn 222; auf Extremfälle beschränkend Alsberg/Nüse/Meyer 1983, 610 f.; LR/Gollwitzer, § 244/291 f.). Andernfalls stellte der Staat, indem er in den Evidenzfällen vor falschaussagebereiten Zeugen kapitulierte, die Verhaltenssteuerungsfähigkeit seiner eigenen Strafnormen (§ 153 StGB) in Frage und zöge damit letztlich auch deren Verfassungsmäßigkeit (die Geeignetheit zur Verhaltenslenkung) in Zweifel. Deshalb überzeugt es mehr, auf die besagte Einschränkung zu verzichten (so wie auch die erklärte rechtsgrundlose Aussageunwilligkeit

11. Kap.: Prozessrechtsbindungen

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dem gleichen Grund erstreckt sich die Amtsaufklärung ebenso auf eine prozessrelevante, aber offensichtlich oder möglicherweise falsche Urkunde31. Da das Gesetz die Unvollständigkeit der Feststellungen (d.h. die richterlichen Vorwegurteile) mehr fürchtet als das Einsickern irreführender Beweismittel, soll das Gericht auch die Nachweispotenziale trügerischer Informationsträger testen und wenigstens ihre objektive Restleistung ausschöpfen. Es kann also ein Zweifaches festgehalten werden: Erstens ist die Amtsaufklärungspflicht durch das Beweisantragsrecht gegen Unterlassung gesichert und zweitens sind ihm unsichere Beweismittel immanent. Deshalb kann, nimmt man beides zusammen, der Angeklagte (wie sein Verteidiger) die amtspflichtgemäße richterliche Nachforschung per Antragstellung auslösen – und zwar unabhängig von der Wahrhaftigkeit des jeweiligen Materials, weil dieses davon ebenfalls unabhängig in die amtliche Nachforschung an sich schon eingegangen sein müsste. Da dieses Recht auf den wahrheitsneutralen ermittlungsinitiierenden Antrag ein prozessuales Verhaltensrecht enthält (Recht auf das beantragende Tun)32, öffnet sich ein Handlungsfreiraum, der sich selbst auf das bewusste oder eventualvorsätzliche Beibringen beweislagentrübenden Prozessstoffs erstreckt. Diese explizit-primäre verfahrensrechtliche Erlaubnis, sogar wissensverdunkelndes Beweismaterial in der Hauptverhandlung anzuführen, hat das Strafrecht zu achten. Es obliegt ihm daher, die entsprechenden Aktionsformen im Wege der fragmentwahrenden Auslegung von § 267 I 3. Var. StGB und §§ 153, 26 f. StGB tatbestandslos zu stellen.

cc) Einwände Hiergegen ließe sich Widerspruch erheben, wenn die Gestattungswirkung dieser prozessualen Befugnis auf den förmlichen Aspekt der Beweisantragstellung (d.h. auf die Vornahme eines technischen Verfahrensaktes) beschränkt wäre. Sofern man das Beweisantragsrecht des Beschuldigten derart reduzieren könnte, erschiene es nämlich als nicht abschließende Primärregelung. In diesem Fall dürfte das Strafrecht die formale Prozessordnungsmäßigkeit eines beweislagentrübenden Beweisantrags kurzerhand ignorieren, weil das Verfahrensrecht die Amtspflicht zum Antritt des Zeugenbeweises unberührt lässt, vgl. etwa BGH NStZ 1985, 281; Eisenberg a.a.O., Rn 230). Vor Wahrheitsgefahren durch falsche Zeugen schützt der Staat seine Rechtspflege in der Beweisaufnahme: durch die Strafdrohung (§ 153 StPO) und die richterliche Aussagewürdigungskompetenz, nicht aber durch Zulassungsschranken vor der Beweisaufnahme. 31 32

Ähnlich Stumpf, NStZ 1997, 7, 11 f.

Vgl. Art 89 Einl. zum Preußischen Allgemeinen Landrecht: „Wem die Gesetze ein Recht geben, dem bewilligen sie auch die Mittel, ohne welche dasselbe nicht ausgeübt werden kann.“ M.a.W.: Das Recht auf einen Antrag impliziert das Recht auf das zum Antrag erforderliche Tun.

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

dann die maßgebliche sachliche Dimension des Vorgangs (d.h. die Einfuhr eines falschen Beweismittels in die rechtspflegerische Informationsverarbeitung) gar nicht geregelt hätte. Da es indes kontraindiziert ist, eine einheitliche Befugnisnorm derart in zwei verschiedene Legalitätsebenen zu zerlegen und da eine entsprechende Begründung hierfür derzeit auch nicht ersichtlich ist, bedarf dieser Einwand keiner weiteren Antwort. Bislang sind allein die Überlegungen Müllers dazu angetan, eine solche thematische Begrenztheit der prozessrechtlichen Gestattung zu erwägen33. Seinen Anfang nimmt dies beim Begriff der prozessualen Erlaubnis, die er in eins setzt mit prozessordnungsgemäßem bzw. prozessual wirksamem und beachtlichem Handeln, während prozessordnungswidrig synonym sei mit unwirksam, nichtig, unbeachtlich. Auf dieser Basis stelle eine falsche Zeugenaussage einen ordnungsgemäßen Akt dar, weil man sie anerkanntermaßen berücksichtigen und als Indiz verwerten könne. Sei sie also trotz ihrer Unwahrheit prozessordnungsgerecht, könne die StPO keine Wahrheitsanforderungen an sie gestellt haben. Dies sei gewissermaßen ein Belegstück dafür, dass das Verfahrensrecht generell nur über die formale Korrektheit verfahrensinterner Aktivitäten befinde und sich zur Aussagewahrheit indifferent verhalte. Die Reglementierung der Inhalte (z.B. von Beweisanträgen) überlasse es dem Strafrecht. Woran diese begriffsjuristische Beweisführung indes scheitert, ist die Spekulation ihrer Prämisse: Dass unwahres Prozesshandeln in der StPO weder erlaubt noch verboten werde, leitet Müller aus der unbewiesenen Identität von Prozessordnungsgemäßheit und Beachtlichkeit von Verfahrensakten her. Ohne diese überaus zweifelhafte Unterstellung sagt die prozessuale Relevanz des irreführenden Agierens nichts darüber aus, welchen rechtlichen Anforderungen es Folge leisten musste. Das explizitprimäre Erlaubt-Sein der beweislagentrübenden Beweisanträge lässt sich daher hiermit nicht beiseite schieben.

dd) Präzisierungen Nun wird im Schrifttum, selbst wo es den bisherigen Argumentweg mitzugehen bereit ist34, dennoch eine scharfe Grenze gezogen, vornehmlich zwischen falschaussagebereiten Zeugen mit bzw. ohne eigene sachgegenständliche Wahrnehmung. Deren Einführung sei nur im ersten Fall straflos. Wenn hingegen der Angeklagte (oder sein eingeweihter Verteidiger) wisse, dass der Zeuge zur Fallrekonstruktion überhaupt nichts beizutragen vermag, ziele seine Benennung auf

33 Vgl. Müller 2000, 200 ff. zum Folgenden. Ohne dass er sich um eine Begründung bemühen würde, klingt i.Ü. auch bei Torka die Behauptung an, die Prozessordnungsgemäßheit eines Beweisantrags sei für sich genommen als Strafrechtsgrenze unerheblich, da sie sich auf die Form beschränke und zum Inhalt (Beweislagentrübung) schweige (2000, 204 ff.). 34 Zu vergleichbaren Überlegungen Rietmann 2002, 156 ff.; vgl. auch Müller 2000, 208 f., 223; ders., NStZ 2002, 356, 359; ablehnend Krischer 2000, 163 ff.

11. Kap.: Prozessrechtsbindungen

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keine Sachverhaltserforschung. Mit ihr werde das Antragsrecht zweckentfremdet und „missbraucht“35. Tatsächlich kann bei der missbräuchlichen Wahrnehmung an sich bestehender Prozessrechte der fragmentwahrenden Auslegung der Boden entzogen sein, insbesondere wenn dadurch die explizit-primäre Legalität des nach der StPO eigentlich erlaubten Verhaltens entfallen ist36. Ansonsten setzt die Strafbarkeit jedoch voraus, dass sie vom Strafnormtext für den Missbrauchsfall klar vorgesehen wird37. Diese engen Voraussetzungen muss man hier allerdings nicht weiter vertiefen, denn es ist gar kein Rechtsmissbrauch, der in den fraglichen Sachlagen stattfindet. Jedenfalls kann die Intention des Antragstellers, amtliche Nachforschungen zu sabotieren38, dafür nicht ausschlaggebend sein, weil der Angeklagte auch im Vergleichsfall (d.h. bei der Benennung eines sachverhaltskundigen, aber dennoch falschaussagewilligen Zeugen) mit dieser Zweckentfremdungsabsicht agiert39. Wenn die vorgeschlagene Differenzierung dennoch Beifall verdient, dann hat das andere Gründe. Initiiert wird die Amtsaufklärung nämlich nur, falls der Antragsteller auf einen Sachverhalt hinweist, der durch das benannte Beweismittel möglicherweise zu belegen ist und in irgendeiner Weise für den Schuldvorwurf belangvoll sein könnte40. Ein Zeuge muss demnach, damit eine Amtspflicht zu seiner Befragung entstehen kann, zwar nicht notwendig glaubwürdig, wohl aber zur beweisthematischen Auskunft in der Lage sein. Ohne diese Fähigkeit fehlt

35

So Rietmann a.a.O., 169 ff.; vgl. auch Müller a.a.O., 208; MüKo-StGB/Cramer, § 258/ 11 f.

36

Ist der Verfahrensakt infolge des Missbrauchs bereits explizit-primär illegal, wird durch eine strafrechtliche Missbrauchssanktion kein prozessrechtlicher Legalbereich verkürzt. 37 Dann würde das Strafrecht durch die Sanktion prozessrechtlich legalen Verhaltens zwar in das Primärrecht hineinregieren, doch wäre dies zulässig. Der Gesetzgeber hätte nämlich eine überschießende straftatbestandliche Regelung eigens vorgesehen und die akzessorische Position des Strafrechts damit klar widerlegt. Zu einem – hier nicht einschlägigen – Bsp. führt § 330d Nr. 5 StGB: Umweltschädigende Handlungen sind u.U. auch dann tatbestandsmäßig, wenn sie verwaltungsrechtlich legal sind – dann nämlich, wenn sie sich auf einen wirksamen, aber wegen Rechtsmissbrauchs revidierbaren Erlaubnisakt stützen (eingehend zu dieser Konstellation Kölbel, GA 2002, 403, 418 f.; ders. GA 2005, 36, 54). 38

Dies entspricht dem gängigen Konzept des Rechtsmissbrauchs, für dessen Vorliegen nach h.M. die Ausnutzung eines Rechts zu zweckwidrigen Zielen maßgeblich ist, d.h. eine Absicht, die der Rechtseinräumungsintention widerspricht (vgl. bspw. BGHSt 38, 111, 113; StV 1991, 99, 100; KK/Pfeiffer, Einl./22a; Kudlich 1998, 21, 253 ff.; Jahn 1998, 54; Eschenhagen 2001, 23 f.; Abdallah 2002, 143; Fahl 2004, 124). 39 Auch der Zeuge mit eigener Gegenstandswahrnehmung wird vom Angeklagten wegen seiner Bereitschaft zu wahrnehmungswidrigen und falschen Aussagen in den Prozess eingeführt; dass an dem Zeugen wegen seiner Wahrnehmung objektiv ein richterliches Interesse besteht, ist für die subjektive Geheimhaltungsstrategie des Antragstellers unerheblich. 40

Vgl. KK/Herdegen, § 244/21.

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

es ihm an Beweiswert41. Objektiv gesehen ist bei dem Gericht, dem eine falschaussagewillige Person ohne sachgegenständliche Wahrnehmungen angedient wurde, das Gebot richterlicher Nachforschungen somit nicht am Werk. Dies kann nicht ohne Folgen für die Beweisantragstellerbefugnis, genauer: für deren strafrechtsbegrenzenden Effekt bleiben. Der Beschuldigte, der straflos jeden täuschenden Beweisstoff einführen darf, auf den von Amts wegen ohnehin zugegriffen werden muss, stößt hier vielmehr auf eine klare Grenze. Bei der Einbringung solcher Beweismittel, die nicht der Untersuchungsmaxime unterfallen – wie etwa der falschaussagebereite Zeuge ohne Sachwahrnehmung42 –, bleibt das straffreistellende Zusammenspiel von Antragsrecht und Amtsermittlung aus43. Das Verhalten liegt außerhalb der strafrechtsbegrenzenden Wirkung der Verfahrensnorm44. Im Wege des Beweisantrags darf der gerichtlichen Untersuchung ein unzuverlässiger Prozessstoff alles in allem nur dann ungestraft

41 Seine Vernehmung führte selbst beim größten Befragungsgeschick nur in (wahre) Belanglosigkeit oder unwahre (Schein-)Bedeutsamkeit. Er entspricht in seinem Beweiswert dem blinden Zeugen, der zu angeblich visuell wahrgenommenen Tatsachen befragt werden soll (zu diesem Fall Alsberg/Nüse/Meyer 1983, 603; KK/Herdegen, § 244/77). Allgemein zur Ungeeignetheit von Zeugen ohne Gegenstandswahrnehmungen etwa OLG Düsseldorf VRS 57, 289; Perron 1995, 243; Schulenburg 2002, 151). 42 Bei ihm steht ganz sicher fest, dass er als Beweismittel völlig wertlos und dass die Beweisaufnahme nutzlos ist (zu diesem Maßstab OLG Köln StV 1995, 293, 294). Das Korrelat bei der Urkundenfälschung ist die falsche Urkunde, die im unverfälschten Zustand ohne Bezug zum Gegenstand wäre. Auch bei kompetenter richterlicher Analyse (etwa dem Aufdecken der Verfälschung) könnte sie keine relevanten Informationen transportieren (a.A. Rietmann 2002, 174). 43 Es mag sein, dass die Gerichte einen Antrag auf Vernehmung eines angeblich auskunftsfähigen Zeugen kaum zurückweisen können, weil es für den Hinweis auf dessen Sachaussageunfähigkeit oft einer antizipierenden Beweiswürdigung bedarf. Diese faktisch begründete Möglichkeit zur Verfahrenseinführung darf indes nicht mit einer normativen Struktur verwechselt werden. Zu der hier vertretenen Grenze der fragmentwahrenden Auslegung finden sich i.Ü. ähnliche Überlegungen bei Müller (2000, 209), der für die betreffenden Beweisanträge dessen ungeachtet eine Zurücknahme des Strafrechts diskutiert – allerdings mit der kriminalpolitischen Erwägung, prozessuales Verteidigungshandeln nicht mit Strafbarkeitsrisiken zu erschweren (vgl. a.a.O., 224 f., 227 f.). 44 Sicher ist nicht jede Beantragung eines Beweises, dem das Gericht nicht ohnehin schon nachgehen müsste, prozessual unstatthaft. Vielmehr reicht die Beweisbeantragungsbefugnis über die Amtsaufklärungspflicht hinaus (oben Fn 26). Obendrein ist ein Antrag, dem das Gericht nicht stattgibt, lediglich unbegründet, wohl aber zulässig (so beim prozessverschleppenden Antrag BGH MDR/H 1990, 885; Scheffler, GA 1993, 341, 349). Diese Art prozessualer Verhaltenslegalität schließt aber eine gleichzeitige Verhaltensstrafbarkeit nicht aus. Die fragmentwahrende Auslegung beseitigt nur solche Straftatbestandsbereiche, die auf ein prozessual abschließend geregeltes und erlaubtes Verhalten fallen. Dieser abschließende Legalisierungscharakter kommt jedenfalls dem irreführenden Beweisantragstellen nur dann zu, wenn daraus für die gerichtliche Wahrheitsrekonstruktion etwas erwachsen kann. Infolge des beweisrechtsstrukturellen Gefüges besteht bei irreführenden Anträgen ohne amtspflichtauslösenden Effekt – unabhängig von ihrer prozessualen Gestattung – keine Abschirmung gegenüber der strafrechtlichen Zusatzregulierung.

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zugeführt werden, wenn die Beweisstücke unterhalb ihrer irreführenden Oberfläche eine (denkbare) objektive Prozesserheblichkeit aufweisen45.

c) Strafbarkeit und Non-Aktivität Geheimnisse lassen sich am ehesten wahren, indem man das betreffende Wissen gar nicht erst kommuniziert. Diese Geheimhaltungsform hat der moderne Strafprozess vermutlich deshalb mit leichtem Herzen akzeptiert, weil er in ihr etwas Defensives sah. Sobald das Schweigen jedoch auf Kosten von Drittgütern geht, zeigt es ein anderes Gesicht. Es erscheint dann schnell als ein anstößiges Unterlassen der Rede, dem doch noch eine strafrechtliche Reglementierung zuteil werden müsse. Dafür bietet selbst die Hauptverhandlung als formalisiertester Teil des Strafverfolgungsbetriebs genügend Problemstoff, vornehmlich wenn der Angeklagte auf eine Frage oder eine Stellungnahme, auf ein Widersprechen oder ein Klarstellen verzichtet – wohlwissend, dass er damit einen inkriminierten Erfolg abgewendet hätte.

aa) Schweigen als Unterlassensbeihilfe? Den Charakter einer anstößigen Nichtintervention erhält das Schweigen, wo der Angeklagte die Falschaussage eines Zeugen geschehen lässt, ohne dessen fehlerhafte Behauptung zu korrigieren. Untätigkeit fördert hier die Beweislagentrübung. Ähnlich verhält es sich bei demjenigen, der davon absieht, fremdseitigen verbalen Drittverletzungen (beispielsweise falschen verdächtigenden und/oder verleumderischen Äußerungen eines Mitangeklagten) richtig stellend entgegenzutreten. In beiden Fällen könnte das Schweigen als Unterlassensbeihilfe zu § 153 StGB46 bzw. zu §§ 164, 145d II Nr. 1, 187 StGB47 strafbar sein, 45 Nochmals: Das Beweisantragsrecht erlaubt irreführende Beweisanträge, soweit damit eine Informationsverarbeitung in Gang gesetzt wird, die sich eigentlich schon in Bewegung befinden müsste und nur wegen eines Amtsversäumnisses noch ruht. Ebenso wenig wie bei objektiv unerheblichem Beweismaterial funktioniert diese Begründungsstruktur bei der Prozesslüge des Angeklagten. Richterliche Nachforschungen müssen sich von Amts wegen zwar auf Informationen richten, die von geschehensnahen Zeugen erinnert und von relevanten Urkunden verkörpert werden, aber auf das Angeklagtenwissen müssen/können/dürfen sie von sich aus genauso wenig zugreifen wie auf bedeutungsloses Beweismaterial. 46 Daneben müsste der Angeklagte dann auch nach §§ 258, 27 StGB gegen die Falschaussage einschreiten, die seine Strafe erfolgreich zu hindern imstande ist. Allerdings wäre insofern das Unterlassen straffrei (§ 258 V StGB). 47 Es ist freilich umstritten, ob die passive Förderung einer tätigen Erfolgsbewirkung nicht als Täterschaft gelten muss. Wenn man stattdessen die Unterlassensbeihilfe mit der h.M. für möglich hält, stellt sich die Frage nach ihrer fallkonkreten Abgrenzung zur Täterschaft (es sei denn, man

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falls der Angeklagte den jeweiligen Erfolgseintritt durch sein Wortergreifen mindestens zu erschweren vermag48. Sein Schweigen aufzugeben, wäre ihm dann allerdings eine straftatbestandliche Pflicht, zu der es unter den Vorzeichen der fragmentwahrenden Auslegung keineswegs kommen darf. Ein derartiges Einschreitensgebot würde, wenn man ein abschließendes prozessuales Schweigerecht vorläufig unterstellt (näher unten cc.), den explizit-primär eingeräumten Bewegungsraum verengen49. Dies ist durch eine restriktive Interpretation der fraglichen Strafnormen auszuschließen. In der Sache ist eben diese prozessuale Erlaubnis auch der Grund, warum die h.M. das Schweigen aus den Tatbeständen von § 164 StGB50 oder § 145d II Nr. 1 StGB51 heraushält. Nur bei der schweigeförmigen Beihilfe zur Falschaussage (§§ 153, 27 StGB) zeigt sie sich zurückhaltend. Die Diskussion kreist um Grund und Grenzen einer Garantenpflicht, die den Angeklagten zum Einschreiten anhalten könnte52. Das Schweigerecht bleibt dagegen im Hintergrund; bis-

sähe den Passiven zwangsläufig in der Gehilfenrolle, vgl. den Überblick bei Kühl 2002, § 20/229 ff.; zur reduzierten Bedeutung dieses Streits bei den Aussagedelikten, bei denen ohnehin keine Angeklagtentäterschaft möglich ist, vgl. Müller 2000, 277 ff.). Für die hier anstehenden Fragen muss das nicht vertieft werden, weil die fragmentwahrende Auslegung den Straftatbestand um ein bestimmtes Verbot reduziert, und dies unabhängig davon, welcher Beteiligungsform das betreffende Verhalten zugeordnet ist. 48 So die h.M., während nach der Gegenansicht nur eine Pflicht zum Einschreiten besteht, wenn sich die Haupttat hierdurch unterbinden lässt (zusammenfassend Müller a.a.O., 286 ff.). 49 Ob der Angeklagte gänzlich schweigt oder ob er sich nach Art eines Teilschweigens zwar einlassungsbereit gibt und nur bei den im Text erwähnten drittseitigen Handlungen passiv bleibt, ist unerheblich, weil das Recht zum vollumfänglichen Schweigen das Recht zum partiellen Schweigen einschließt (oben II.1. in Kap. 1). 50 Vgl. NK/Vormbaum, § 164/24; Rengier 2005b, § 50/17. Ausdrücklich bezieht man sich zwar nur auf täterschaftliches Handeln (wo der Verdächtigungseffekt „von selbst“ entstanden ist), doch dürfte Teilnehmerhandeln ebenso gemeint sein (wenn der Effekt durch eine Drittäußerung angestoßen wurde). 51 So betont z.B. Becker die Relevanz des strafprozessualen Schweigerechts für die Bestimmung der in § 145d II Nr. 1 StGB tatbestandsrelevanten Handlungen (1992, 174 f.). Allerdings spricht er dem Schweigen mit irreführenden Effekt – insofern unzutreffend – bereits einen Erklärungswert und damit jede denkbare Tatbestandsmäßigkeit ab (a.a.O., 177 ff.). 52

Erörtert wird hier vornehmlich, welche Aktivitäten im Vorfeld der Falschaussage ingerenzbegründend wirken (eingehend m.w.N. Müller 2000, 292 ff.). Bei der Unterlassensbeihilfe durch den Angeklagten sind die Möglichkeiten insofern jedoch reduziert. Eine Garantenpflicht an die bloße Zeugenbenennung anzuknüpfen, scheitert an deren prozessualer Erlaubnis (oben 1.b)bb) sowie Vormbaum 1987, 291 f.). Wirkt der Angeklagte (nachweisbar) außerhalb des Prozesses auf den Zeugen ein, ist das meist selbst schon sanktionierbar, sodass eine zusätzliche innerprozessuale Beihilfe durch Schweigen nur von akademischem Interesse ist. Auch jenseits der Ingerenz verengen sich die denkbaren Garantenfälle auf die Ausnahmekonstellation, in der ein minderjähriger, aber jugendstrafrechtlich verantwortlicher Angehöriger des Angeklagten eine Falschaussage ablegt.

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weilen gilt es für die Falschaussagebeteiligung sogar als unerheblich53. Eine weit verbreitete Ansicht sieht in ihm zwar eine relevante Größe; allerdings erst auf Schuldebene (im Rahmen der Zumutbarkeit) und ohne sich die fragmentwahrenden Schlüsse zu Eigen zu machen54. Die hier vertretene Auffassung, dass die Unterlassensstrafbarkeit wegen der prozessrechtlichen Gewährleistung des Schweigens entfällt – dass die Schweigeerlaubnis also jede straftatbestandliche Einschreitenspflicht aufhebt –, hat bislang erst wenige Anhänger gefunden55.

bb) Aktivbeihilfe durch schweigeadäquates Verhalten? Wenn der Angeklagte einen drittverdächtigenden Eindruck oder ein vergleichbares interaktives Datum, das vom Hauptverhandlungsdiskurs immer wieder erzeugt wird, durch (Marginal-)Äußerungen perpetuiert, lastet das Strafrecht ihm dies als Aktivbeihilfe (z.B. zu §§ 164, 145d II Nr. 1 StGB) an56. Allerdings käme in diesen Fällen erneut eine fragmentwahrende Auslegung in Betracht, falls in ihnen das kodifizierte Schweigerecht57 des Angeklagten (unten cc.) einschlägig wäre58. Man muss dafür allerdings die fragliche Bekundung als 53 So ausdrücklich RG DR 1942, 1782; BGH MDR/D 1953, 272; KG JR 1969, 27; OLG Düsseldorf NJW 1992, 272; Brammsen, StV 1994, 135. Dagegen wird die Strafbarkeit bei RG DR 1943, 748; OLG Hamm NJW 1992, 1977; Welp 1968, 307 ff.; Schünemann 1971, 205 f., 213 ff.; Herzberg 1972, 309 ff.; Torka 2000, 216 ff., 221 von der Garantenpflicht abhängig gemacht, ohne den Konflikt zwischen einem prozessualen Schweigerecht und einer strafrechtlichen Erklärungspflicht zu thematisieren. 54 Zwar halten viele Autoren (etwa Sch/Sch/Lenckner, Vorb. §§ 153 ff./38; Scheffler, GA 1993, 341, 356 f.; Prittwitz, StV 1995, 270, 274; Müller 2000, 328) unter Hinweis auf die Geständnisfreiheit die Hinnahme der Falschaussage für straflos, aber indem sie das Schweigerecht lediglich in die Zumutbarkeitswertung einstellen und erst dort durchschlagen lassen, nehmen sie in der Sache eine Güterabwägung zwischen der grundrechtlichen Selbstbelastungsfreiheit und kollidierenden Belangen (Rechtspflege) vor. Dass diese Abwägung so oder so ausgehen kann, widerspricht der fragmentwahrenden Logik, die explizit-primär erlaubtes Verhalten ohne Wenn und Aber von strafgesetzlichen Verboten freistellt. 55 So aber LG Münster, StV 1994, 134; SK-StGB/Rudolphi, Vor § 153/49; Aselmann 2004, 123; wohl auch KG 1 Ss 261/99 v. 28.3.2001; MüKo/Müller, § 153/106; Otto, JuS 1984, 161, 169; Seebode, NStZ 1993, 83, 84; Rengier 2005b, § 49/71. 56

Täterschaft wäre dies, wenn die fragliche Äußerung den jeweiligen Kommunikationseffekt anstößt und nicht nur eine drittseitige Initiative fördert. Für die fragmentwahrende Auslegung tut dies nichts zur Sache. 57

Die fraglichen Äußerungen sind zwar auch eine besondere Form der Prozesslüge, nur erfahren sie insofern keine explizit-primäre Legalisierung (zum fehlenden prozessrechtlichen Lügerecht oben 1.a)). Für Langer (JZ 1987, 804, 811) hat das Verhältnis zwischen Prozessrecht und § 164 StGB damit schon sein Bewenden. 58 Die prozessrechtliche Schweigeerlaubnis kann freilich dann einmal hinfällig werden, wenn die strafprozessualen Regeln von anderweitigen Verhaltensnormen überlagert werden (allgemein dazu Fn 81 in Kap. 4). Bspw. kann aus § 823 I BGB ein Verbot resultieren, eine dritte Person

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Quasi-Schweigen behandeln. Dies wiederum setzt eine normative Demarkationslinie zwischen Stillschweigen und Rede voraus, anstatt den Unterschied naturalistisch anhand der stimmlichen Geräuschentwicklung zu bestimmen. Der gegenwärtigen Debatte ist dergleichen keineswegs fremd. So bedient sich der BGH bei der prozessrechtlichen Frage, welche Minimaleinlassung bereits zum Teilschweigen zählt und daher der richterlichen Beweiswürdigung zugänglich ist, eines solchen nicht-empirischen Konzeptes59. Überhaupt geht man mitunter bei der Abschichtung von menschlichem Tun und Unterlassen einem verwandten Gedanken nach. Die anerkannte Straflosigkeit einer Untätigkeit erstreckt sich danach auch auf jene Aktivitäten, die rechtlich allein unterlassensadäquate Wirkungen erzeugen60. Auf diese Weise auch die Spielarten des innerprozessualen Schweigens zu bestimmen, hat vieles für sich: Entwickeln die kommunikativen Signale, die geringfügige Äußerungen senden, keine weitergehenden sozialen Risiken als der kontextuale Mitteilungsgehalt, der an gleicher Stelle vom vollständigen Schweigen ausgehen würde, erfasst dessen Privilegierung auch die fraglichen Einlassungsrudimente, weil die gesellschaftliche Ordnung auf deren Verbot genauso wie auf ein Schweigeverbot verzichten kann.

durch Falschverdächtigungen zu verleumden. Selbst wenn man die fraglichen Behauptungen mit dem Schweigen gleichstellt (weil es sich z.B. nicht unterscheidet, ob der Belastungszeuge implizit durch die schweigevermittelte Unschuldsbeteuerung oder ausdrücklich der Falschaussage bezichtigt wird; so innerhalb von § 193 StGB i.E. RGSt 48, 414; BGH NStZ 1995, 78; Rengier 2005b, § 29/46), führte das strafprozessuale Schweigerecht nur dann zu ihrem explizit-primären ErlaubtSein, wenn § 823 I BGB restriktiv ausgelegt wird. Andernfalls wäre § 187 StGB wegen des bürgerlich-rechtlichen Verbotes nicht von überschießender Art und nicht der fragmentwahrenden Einengung bedürftig. Für die im Text genannten, nicht privatschützenden Strafnormen stellt sich dieses Problem indessen nicht. 59 „Völliges Schweigen bedeutet nicht das Unterlassen jeder Erklärung. Vielmehr kommt es darauf an, ob die Erklärung als nur teilweises Schweigen zu verstehen ist …“ (BGH NStZ 1997, 147). Zahlreiche Marginaläußerungen gelten in der Rspr. daher nicht als Teileinlassung, sondern rangieren unter der Schweige-Rubrik, sodass sie nicht zuungunsten des Angeklagten interpretiert werden dürfen (näher Fn 87 im 1. Kap.). „Als ein ‚Schweigen im Rechtssinne‘ lässt sich deshalb alles bezeichnen, was im Ergebnis dem Schweigerecht unterfällt, und zwar unabhängig davon, ob im Einzelfall einzelne Worte oder nonverbale Kommunikationsformen gebraucht werden oder nicht.“ Maßgeblich ist, ob ihm dem Prozessverhalten der Erklärungswert, sich zur Sache einzulassen, zugeschrieben werden kann (vgl. dazu mit dem Zitat Keiser, StV 2000, 633, 635). 60 Roxin (2003, § 31/100) hält „es sehr wohl für möglich, ein Tun einem Unterlassungstatbestand zu unterstellen, wenn normative Gründe dies gebieten. Das Tun bleibt Tun, aber es wird in einem solchen Fall aus einem Unterlassungstatbestand bestraft“ (gemeint ist: hiernach beurteilt). Das betrifft etwa die Fälle, in denen ein erfolgsabwendungspflichtiger Garant seine Handlungsfähigkeit aktiv ausschließt. Ein weiteres Bsp. ist der tätige Abbruch untunlich gewordener lebensverlängernder Maßnahmen (hierzu und zu anderen Fällen, in denen die Straflosigkeit des Unterlassens auf ein unterlassensadäquates Tun durchschlägt Roxin 1969, 393 ff., 401 ff.; ders. 2003, § 31/115; im hiesigen Zusammenhang Müller 2000, 216).

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Einlassungen des Beschuldigten, die vom gleichen Schlage wie das Stillschweigen sind, unterfallen also seinem Schweigerecht und werden folglich von der fragmentwahrenden Auslegung aus den fraglichen Tatbeständen (§§ 164, 145d II Nr. 1 StGB) herausgehalten. Vorausgesetzt ist dafür lediglich, dass bei ihnen nicht mehr artikuliert wird als durch die „echte“ Aussageverweigerung. Für den damit angezeigten Vergleich der jeweiligen Ausdrucksgestalt ist es entscheidend, dass das völlige Schweigen von den staatlichen Prozessakteuren zwar vorwiegend als Nicht-Kommunikation aufzufassen ist61, dass es aber als dezidiertes Nicht-Geständnis zugleich die Mitteilung transportiert, der Angeklagte beharre auf seiner Unschuld. Daran gemessen entwickeln auch einige sprachliche Aktivitäten keinen inhaltlichen Überschuss. Bei diesen schweigeadäquaten Einlassungstypen handelt es sich um: – das einfache Tatableugnen (weil es das im Schweigen liegende Unschuldsbeharren lediglich verbalisiert), – das Aussprechen einer mit dem Leugnen zwangsläufig verbundenen Drittverdächtigung (weil in dieser Sondersituation eine schweigebedingte Verdachtsentstehung nur verbalisiert wird)62 – und das Benennen des „großen Unbekannten“ (weil die schweigeförmige Unschuldsbeteuerung gleichermaßen behauptet, dass für den fraglichen Vorgang ein unbestimmter Dritter verantwortlich sei). In §§ 164, 145d II Nr. 1 StGB bleibt ein solches Verbalverhalten tatbestandslos63. Obendrein hat die fragmentwahrende Auslegung auch dort ihren Platz, wo der Angeklagte mit jenen schweigeäquivalenten Bekundungen ein zeugenschaftliches Aussagedelikt fördert64. Allerdings wirkt sich dies im Ergebnis kaum aus, da man ohnehin nur solche Äußerungen zur Beihilfe zählt, mit denen der Beschuldigte den Zeugen während der Falschaussage psychisch bestärkt (bekräftigende Zurufe; zustimmende Bemerkungen) oder hernach auch 61

Das ist die Kehrseite der beweisrechtlichen Unverwertbarkeit des Schweigens.

62

Bsp.: Neben dem Angeklagten kommt nur ein einziger Dritter als Täter in Frage. Oder: Das Leugnen impliziert den Vorwurf der Falschaussage durch den Belastungszeugen. 63 Der oben in 1.a) beim Lügerecht erzielte Befund wird durch das Schweigerecht gewissermaßen abgeändert. Von den Ergebnissen her ähnelt das Spektrum schweigeadäquaten Handelns jenen Freistellungen, welche auch die h.M. bei §§ 164, 145d II Nr. 1 StGB vornimmt. Überdies will der größte Zweig dieser herrschenden Ansicht (der so genannte „prozessuale Ansatz“, vgl. Küper 2005, 322) damit – der fragmentwahrenden Auslegung entsprechend – gerade die prozessrechtliche Lage im Strafrecht berücksichtigen. Allerdings bleibt man dabei oft merkwürdig unbestimmt, was sowohl die genaue explizit-primäre Erlaubnisnorm wie auch die Schweigeähnlichkeit der betreffenden Äußerungen anlangt (präziser und ähnlich wie hier aber Becker 1992, 181 ff., 193 ff.; ansatzweise auch Aselmann 2004, 252; unzutreffende Kritik bei Beulke 1989, Rn 35; Bosch 1998, 193). 64 Anhand des Tatabstreitens i.E. auch LK/Ruß, § 154/16; Schünemann 1971, 208 f., Otto 2005, § 97/72.

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noch zum Meineid ermutigt (Forderung nach Vereidigung; Bestätigung der Falschaussage)65. Die Schweigeähnlichkeit ist hier durchweg verlassen66. In der (älteren) Judikatur finden sich freilich Entscheidungen, die umgekehrt sogar das völlige Schweigen des Angeklagten hinüber in strafbares Gebiet rücken. So handle es sich um tätige Meineidsbeihilfe, wenn es der Angeklagte nach einer richterlichen Anfrage ablehnt, sich gemäß § 257 I StPO zu einer (falschen) Zeugenaussage zu erklären. Er signalisiere damit dem Zeugen, ihn zu decken, und gebe ihm Rückhalt für die bevorstehende Vereidigung67. Diese Argumentation verkürzt prozessuale Positionen. Sie kann das Schweigen nur deshalb in ein Tun (eine Rede) wenden und als Aktivbeihilfe sanktionieren, weil sie es als wortlose Kommunikation gleich jeder verbalen Mitteilung interpretiert. Das Ausdeuten des Schweigens ist aber prozessrechtlich generell untersagt. Die verweigerte Stellungnahme bleibt ein bloßes Untätigsein68. Als solches ist es explizit-primär durch das Schweigerecht erlaubt und dem Strafrecht unter Fragmentwahrungshinsicht entzogen.

cc) Prozessrechtliche Schweigeerlaubnis Dass sich im Strafprozessrecht eine Rechtsnorm findet, die dem Angeklagten das Schweigen erlaubt, wurde in der bisherigen Argumentation (eben aa. und bb.) nur unterstellt. Die Existenz einer solchen Befugnis ist nun im Nachgang zu belegen. Fündig wird man dabei freilich erst bei genauem Hinsehen. Nicht umsonst konstatiert das Schrifttum immer wieder, dass die StPO den nemo-teneturSatz und das Schweigerecht voraussetze und keineswegs selbst kodifiziere69. Tatsächlich ist das Schweigen in § 243 IV 1 StPO, und dort findet sich für die Hauptverhandlung die scheinbar treffendste Bestimmung, nicht einmal indirekt mitnormiert. Eingeräumt wird hier allein die richterliche Hinweispflicht, die als Stütze einer anderweitig konstituierten Auskunftsverweigerungsmöglichkeit

65 In diesem Fall ginge es um §§ 154, 27 StGB. Generell zu den fraglichen Konstellationen etwa BGHSt 17, 321, 323; Sch/Sch/Lenckner, Vorb. §§ 153 ff./37; Vormbaum 1987, 294; Krischer 2000, 66 ff., 115 ff. sowie das Fallbsp. bei RG DR 1942, 1782. Aus Sicht der allgemeinen Beteiligungslehre ist eine solche psychische Beihilfe freilich nicht unproblematisch (eingehend Müller 2000, 228 ff.). 66 Hier wird das bloße Tatbestreiten stets um ein Mehr ergänzt, weil sich der Angeklagte eine falsche Sachverhaltsversion zu Eigen macht. Dies entspricht letztlich einem substantiierten Leugnen, also einer Verbindung von (schweigeadäquater) pauschaler Unschuldsbekundung und (schweigeinadäquater) sachlicher Teileinlassung, die von der h.M. auch im Rahmen der Beweiswürdigung nicht mehr dem Schweigen und seinem Beweiswürdigungsverbot zugeordnet wird. 67

Vgl. BGH NJW 1958, 956 f.; MDR/D 1974, 14.

68

Die Judikatur ablehnend auch Sch/Sch/Lenckner, Vorb. §§ 153 ff./36; SK-StGB/Rudolphi, Vor § 153/49; LK/Ruß, § 154/16; Müller 2000, 216 f.). 69

Oben Fn 11 in Kap. 7.

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fungiert70. Dies zeigt zunächst einmal der Normtext an71. Aber auch die Normgenese belegt, dass § 243 IV 1 StPO auf das Schweigerecht lediglich referiert, ohne es gewähren72: Die Vorschrift wurde 1964 ebenso wie §§ 115 III 1, 136 I 2 StPO allein deshalb eingeführt, um den lange umstrittenen Belehrungsanspruch eindeutig festzuschreiben. Da das Auskunftsverweigerungsrecht dagegen niemals in Zweifel gezogen worden war, bestand weder Vorhaben noch Veranlassung, in dieser Norm das Schweigerecht zu regeln. Nun spricht das Schrifttum gelegentlich von einem „Recht des Angeklagten aus § 257 I StPO (…), nach einer Beweiserhebung auf Nachfrage zu schweigen“73. Dies bringt einen ganz anderen Regelungsstandort ins Gespräch, ohne dass dies jedoch überzeugen könnte. § 257 I StPO verpflichtet den Richter, beim Angeklagten anzufragen, ob er sich zur jeweiligen Beweisaufnahme erklären wolle. Die Rede ist also von einer Stellungnahme und einer amtlichen Erkundigungspflicht, keinesfalls aber von einem Stillschweigen. Auch wenn Verhaltensrechte die Freiheit zum Unterlassen an sich einbegreifen74, lässt sich § 257 I StPO kein Recht auf Erklärungsverweigerung entnehmen. Bei § 257 I StPO handelt es sich nicht um ein Freiheitsrecht, sondern um einen Anspruch auf eine Äußerungsgelegenheit, und solche Leistungsrechte kennen keine echte negative Freiheit. Dass dem Angeklagten das richterliche Angebot, sich zur Beweiserhebung äußern zu können, nicht zum Kontrahierungszwang gerät, ist dort vielmehr vorausgesetzt75.

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Das Schweigerecht ist grundrechtlich geschützt (Art 2 I i.V.m. Art 1 I GG). Um etwaigen innerprozessualen Eingriffen vorsorglich zuvorzukommen, sind dem Gesetzgeber einfach-rechtliche Vorkehrungen aufgegeben. Diesem Gestaltungsauftrag ist er mit der Aufklärungspflicht (§ 243 IV 1 StPO) nachgekommen (vgl. auch Ransiek, StV 1994, 343, 344; Lorenz, StV 1996, 172, 175 sowie Fn 54 in Kap. 4). 71 § 243 IV 1 StPO verpflichtet den Richter zum Hinweis an den Angeklagten, dass „es ihm freistehe, (…) nicht zur Sache auszusagen“. Noch deutlicher sind insofern §§ 115 III, 136 I StPO, bei denen es um Hinweise auf ein entsprechendes „Recht“ geht bzw. darum, dass dem Angeklagten seine Aussage „nach dem Gesetz freistehe“. 72 Vgl. BT-Dr. III/2037, 31; IV/178, 32; Schmidt, NJW 1968, 1209 ff.; Stree, JZ 1968, 593 sowie oben II.4. – 6. in Kap. 6. 73 Heinrich, JuS 1995, 1115, 1120 (Herv. R.K.). Vgl. Sch/Sch/Lenckner, Vor §§ 153 ff./36: „die nach § 257 StPO zulässige Weigerung“, sich zu äußern. Ähnlich Lesch, ZStW 111 (1999), 624 f., 638: das Schweigerecht folge als Reflex aus den prozessualen Angeklagtenrechten auf aktive Verteidigung. 74 Ebenso wie ein Grundrecht immer auch die negative Freiheit des Nutzungsverzichts gewährt, weil anders gar nicht garantiert ist, dass die Grundrechtswahrnehmung frei bleibt und keine Pflicht wird (oben z.B. bei Fn 110 in Kap. 7), folgt aus einem prozessualen Handlungs- oder Gestaltungsrecht, dass man seine Inanspruchnahme auch lassen darf (dazu auch OLG Düsseldorf StV 1990, 442; Keiser, StV 2000, 633, 636 f.; Verrel 2001, 29 f.). 75 Dieser normtheoretische Zusammenhang (vgl. dazu bereits oben II.2.c)aa) in Kap. 7) wiederholt sich i.Ü. auch bei anderen strafprozessrechtlichen Kandidaten (§§ 243 IV 1, 33 I, 240 II, 258 II StPO), bei denen man versucht sein könnte, eine implizite Schweigeerlaubnis zu gewinnen.

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Dennoch wurde das Schweigerecht des Angeklagten subkonstitutionell positiviert, wenn auch an eher verdeckter Stelle in Art 14 III Buchst. g des Internationalen Paktes über staatsbürgerliche und politische Rechte vom 16.12.1966. Das zugehörige Transformationsgesetz76 liegt rechtstechnisch zwar außerhalb der strafprozessualen Kernbestimmungen, teilt aber an deren explizit-primäre Natur. Dass der Normtext im IPbR insofern einige Unschärfen aufweist77, erklärt sich durch die Anlehnung an den 5. US-Verfassungszusatz. Ungeachtet dessen kann die substanzielle Freiheit vor verbaler Selbstbezichtigung, auf die hierbei unverkennbar rekurriert wird, im Kontext der bundesdeutschen Verfahrensstruktur nur als Schweigen-Dürfen gelesen werden78. Jedenfalls ist der primärrechtliche Erlaubnissatz, auf den die fragmentwahrende Auslegung in den beiden vorangegangenen Abschnitten aufbaut, damit allemal gegeben79.

2. Prozessuale Aktionsformen des Verteidigers Der Beschuldigte kann sich zu seiner Verteidigung eines kundigen Beistands bedienen (vgl. §§ 137, 140 StPO). Er wird diese Unterstützung auch dort suchen, wo er sein Tatwissen geheim halten will, da die Professionskompetenz eines anwaltlichen Helfers die Aussichten der Wissenskontrolle hebt. Deshalb mindern sich umgekehrt auch seine Chancen durch jene zahlreichen Strafgesetze, die dem Verteidiger aufgeben, sich derartiger Handreichungen zu enthal-

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BGBl. II 1973, 1533, 1541.

77

Der Angeklagte ist nach dem Normtext davor geschützt, „to be compelled to testify against himself or to confess guilt”. Hierdurch wird eine Verfügungswirkung des Geständnisses nahe gelegt und der Angeklagten überdies dem Zeugen angenähert. 78 Allgemeine Ansicht, vgl. nur BVerfGE 56,37, 43; BGHSt 38, 214, 220; 42, 139, 151 f.; SKStPO/Rogall, Vor § 133/131; ders. 1977, 117 ff.; Dingeldey, JA 1984, 407, 409; Salger 1998, 8 f.; LR/Gollwitzer, Art. 6 MRK (Art 14 IPBPR)/250, 255. Für die hiesigen Zwecke sind die Reichweitenbeschränkungen der in Art 14 III Buchst. g IPbR enthaltenen explizit-primären Erlaubnis (d.h. Schutz nur des Angeklagten nur vor Aussagezwang nur in der Hauptverhandlung, dazu Weiß, JZ 1998, 289, 291 f.; Bosch 1998, 24 ff.) unschädlich. Für die obige fragmentwahrende Auslegung genügt bereits ein Schweigerecht, das innerhalb dieser Grenzen liegt. 79 Der EGMR zählt zu einem fairen Strafprozess auch ein Aussageverweigerungsrecht des Angeklagten (Fn 166 in Kap. 7). Ob dem zu folgen ist, sodass die Schweigebefugnis eine weitere einfach-rechtliche Rechtsgrundlage in Art 6 I EMRK findet, kann hier wegen der expliziten Positivierung in Art 14 III IPbR auf sich beruhen. Folgt man der h.M., erhält das Schweigerecht durch die EMRK immerhin eine zusätzliche Rechtsschutzbewehrung (Beschwerde gemäß Art 34 EMRK; Wiederaufnahmegrund gemäß § 359 Nr. 6 StPO). Andererseits lässt der EGMR, obschon er es an sich untersagt, an die Wahrnehmung prozessualer Rechte einen Vorwurf zu knüpfen (EuGRZ 1983, 371, 380; 1985, 585, 587), negative Schlüsse aus dem Angeklagtenschweigen zu (seit EuGRZ 1996, 587, 590 f.). Nach dem Günstigkeitsprinzip (Art 60 EMRK) ist dies für das deutsche Verfahren unmaßgeblich.

11. Kap.: Prozessrechtsbindungen

421

ten80. Besonders § 258 I StGB sorgt für eine solche Beschränkung. Das Strafvereitelungsverbot isoliert den Beschuldigten gegenüber jeglicher Verteidigerhilfe, die das Verzögern oder Ausbleiben von rechtmäßiger Strafverhängung mitintendiert. Sofern dies mit advokatorischen Prozessrechten kollidiert81, könnte man hiergegen indes die fragmentwahrende Auslegung in Stellung bringen82. Das Befugnisrepertoire des Verteidigers ist in der StPO allerdings nur punktuell geregelt83. Die bestehenden Lücken sollen sich durch ein Verfahren füllen lassen, dass aus den versprengten Einzelregelungen auf die generelle Rechtsstellung des Verteidigers folgert, um von hier aus die im Gesetz fehlenden Einzelbefugnisse zu erschließen (samt ihrer Grenzen)84. Jene überwölbende „Rechtsstellungs-Norm“ muss in der Ordnung des Grundgesetzes jedoch durch die Verfassung (mit-)geschrieben werden85. Die Einzelrechte, die sich aus der allgemeinen Verteidigerstellung herauskristallisieren, sind deswegen keine „normalen“ prozessrechtlichen Regularien, sondern (auch) Aspekte einer Grundgesetzinterpretation. Durch ihre Nähe zur Verfassungsrechtlichkeit würde sich eine strafrechtliche Verkürzung dieser Verteidigerbefugnisse als ein normhierarchisches (eingriffsähnliches) Problem darstellen und nicht als der her80

Vgl. oben II.1.c) in Kap. 9. Eingehend zum Beratungs- und Hilfestellungsbedarf des Beschuldigten bei der Gestaltung seines Aussageverhaltens Schurig 2003, 19 ff., 104. 81 Ohne Belang ist die fragmentwahrende Auslegung für strafvereitelungswertige außerprozessuale Anwaltshilfe (z.B. Verdunklungshilfe durch Kontaktvermittlung bei der Verabredung von Falschaussagen; Bereitstellen von Urkundenfälschungswerkzeug). 82 Auch ohne Rekurs auf diese Auslegungsmaxime deutet die h.M. den Strafvereitelungstatbestand prozessrechtsakzessorisch (vorzugsweise unter dem Stichwort „Verteidigerprivileg“) und schließt die Aktivitäten des Verteidigers, bei denen er seine verfahrensrechtlichen Befugnisse wahrnimmt, aus dem Tatbestand aus (vgl. nur BGHSt 46, 53, 54 f.; Tröndle/Fischer, § 258/8a; NK/Altenhain, § 258/32; Krekeler, NStZ 1989, 146; Alber 1998, 63; Beulke 1989, Rn 1 f.; ders. 2001, 1178 f.; Hilgendorf 2002, 506; Mehlhorn 2004, 126; Fahl 2004, 74 f.; Ranft 2005, Rn 432 jeweils m.w.N.; zur Kritik abweichender Auffassungen Stumpf 1999, 30 ff.). Die Diskussion weist gewisse Berührungspunkte mit allgemeineren Fragen der (eingeschränkten) Strafbarkeit beruflichen Handelns auf (wobei die h.M. ihre „Verteidigerprivilegs-Lösung“ hierauf nicht übertragen will, weil das professionelle Verteidigerhandeln i.U. zu anderen Berufen auf die Herbeiführung eines tatbestandlichen Erfolges – Strafvereitelung – geradezu funktional ausgelegt sei und daher „naturgemäß“ mit dem Strafrecht kollidiere, vgl. Kudlich 2004, 47 f.). Ohnehin weist das „Verteidigerprivileg“ der h.M. einige Unschärfen auf (dazu etwa Wolf 2000, 258 ff.). Außerdem ist es auf § 258 StGB beschränkt (vgl. nur BGHSt 38, 345, 348; Wolf a.a.O., 280). 83 Bspw. in §§ 147, 53 I, 118a III, 122 II 1, 81 I, 61 Nr. 5, 79 I 2 StPO (für den vollständigen Katalog vgl. Wolf 2000, 147 ff.). 84 Vgl. dazu die repräsentative Position bei Wohlers, StV 2001, 420, 426 oder Mehlhorn 2004, 124 und die kritische Analyse bei Wolf 2000, 51 ff. 85 Dabei sind bspw. die anwaltliche Berufsfreiheit, die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Verfahrensdurchführung sowie das verfassungsrechtliche Rechtsgüterschutz- und Strafdurchsetzungsinteresse zu konfigurieren (ähnlich Jahn 1998, 155 ff.; a.A. z.B. Roxin 1999, 10).

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

kömmliche horizontale Regelungskonflikt, für den die fragmentwahrende Auslegung zuständig ist. Daher zählt beispielsweise die Strafbarkeit unwahrhaftiger Äußerungen86 nicht zu ihren Gegenständen, und zwar auch dann nicht, wenn man die hierfür bemühte Wahrheitspflicht verwirft, die den Verteidiger nach herrschender Lesart erst aus den Fängen der kruden Parteivertretung löse und zu einem Rechtspflegeorgan aufwachsen ließe. Selbst bei einer abweichenden Rechtsstellungskonzeption wäre die etwaige Lügeerlaubnis dann nämlich nicht von prozessrechtlicher Art, sondern höheren Ranges. Die Strafbarkeit der Anwaltslüge müsste sich vor der Verfassung bewähren87, nicht aber in der fragmentwahrenden Auslegung88. Diese kommt nur zum Einsatz, wo ein der Geheimhaltung des Angeklagten dienliches Recht des Verteidigers ausnahmsweise einmal einfach-/prozessrechtlich positiviert ist89.

a) Strafvereitelung per Anwaltsratschlag? Der Verteidiger unterliegt bei seiner Beratungstätigkeit gewissen Strafbarkeitsrisiken, auch wenn er den Mandanten über eine Verhaltensweise ins Bild setzt, die der Familie der nemo-tenetur-Grundrechte (zumindest in deren BruttoFassung) zugehört. Dass diese Form des Beistandes in die Zuständigkeit einer 86 Vgl. Beulke 1989, Rn 33: „Lügt der Mandant in der Hauptverhandlung, so darf sich der Verteidiger diese Lügen nicht zu Eigen machen (…). (V)ermittelt er also den Eindruck, selbst von der Richtigkeit des Inhalts der Einlassung überzeugt zu sein, so ist (…) die Strafbarkeitsgrenze gemäß § 258 StGB überschritten.“ (ebenso z.B. Pfeiffer, DRiZ 1984, 341, 344; Otto, Jura 1987, 329, 330; Krekeler, NStZ 1989, 146, 151 f.; Wolf 2000, 314 f.; a.A. etwa Ostendorf, NJW 1978, 1345, 1349; Stumpf 1999, 182; Rzepka 2000, 401; Abdallah 2002, 126 ff.). Gelegentlich kommen §§ 145d II Nr. 1, 164, 187 StGB in Frage. 87 Vergleichbar ist die etwaige Strafbarkeit des Verteidigers, der von seinem Mandanten heimlich Belastungsmaterial (Tatwerkzeuge, beweiskräftige Akten usw.) entgegennimmt und aufbewahrt. Der Umstand, dass die Inaugenscheinnahme und nähere Untersuchung solcher Dinge zur Einarbeitung und Verteidigungsorganisation erforderlich sein kann, soll diesem Verhalten nach h.M. den Strafvereitelungscharakter nehmen (wobei freilich offen ist, ob und wann der Verteidiger einer Rückgabepflicht unterliegt und ob er sich bei deren Missachtung durch die so erschwerte Auffindung/Beschlagnahme nach §§ 258, 13 StGB strafbar macht; zum Problem etwa OLG Frankfurt/M. StV 1982, 64; Haffke, NJW 1975, 808, 811 ff.; Krekeler, NStZ 1989, 146, 151; Beulke 1989, Rn 60, 69 ff. m.w.N.). Da das Aufbewahrungsrecht nur aus der allgemeinen Verteidigungsstellung hergeleitet werden kann, wäre seine straftatbestandliche Verkürzung keine Angelegenheit der fragmentwahrenden Auslegung. 88 Es spricht sogar einiges dafür, dass sich in § 43a III 2 BRAO für die Gruppe der Anwälte unter den Verteidigern eine explizit-primäre Untersagung der Lüge findet. Im Hinblick auf eine subkonstitutionelle vertikale Normabstimmung kann das Strafrecht dies problemlos mitvollziehen (zum Problem statt vieler Mehle 2002, 318 ff.). 89 Dazu zählt auch die Beweisantragstellung. Da das Primärrecht zwischen den Antragsbefugnissen des Anwalts und des Angeklagten nicht unterscheidet, ist die Strafdrohung (§§ 153, 27, 267 I Var. 3, 258 I StGB) auch gegenüber dem Erstgenannten im oben 1.b) beschriebenen Umfang zurückzunehmen.

11. Kap.: Prozessrechtsbindungen

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eigenen Prozessnorm fallen könnte, wird bislang kaum bedacht. Vielmehr soll die Zulässigkeit der Beratung aus hintergründigen Allgemeinkategorien (Beistandsfunktion, Organstellung) hervorgehen90. Die Grenze der Aufklärensbefugnis ergebe sich sodann aus der Art des fraglichen Beschuldigtenaktes. So geht die h.M. wie selbstverständlich davon aus, dass Verhaltensweisen, die dem Beratenen unzweifelhaft zustehen, angestoßen werden dürfen, ohne dass der Verteidiger damit eine Strafvereitelung begehe91. Im Ganzen korrespondiere die Unterweisungsbefugnis mit der prozessualen Legalität des Beratungsinhalts92. Weil es dem Verteidiger in Anbetracht seiner generellen Rechtsstellung aber versagt sei, unwahrhaftiges Beschuldigtenverhalten zu initiieren, hält man hingegen den Ratschlag zur Prozesslüge und zum unwahren Leugnen für prozessrechtswidrig93, gleichermaßen den Rat zur faktischen Verdunklung94 und zum Widerruf des als wahr erkannten Geständnisses95. Strafbar sei das irreguläre Ratgeberhandeln allerdings nur bei einer gewissen Mindestintensität, namentlich erst wenn es die Schwelle zur „Stimulierungsneutralität“ überschreite96.

90 Repräsentativ Beulke JR 1994, 116, 117. Nach dem hier vertretenen Verständnis von Prozessrechtsabhängigkeit wäre ein so begründetes Beratungsrecht mangels prozessrechtlicher Natur kein Fall der fragmentwahrenden Auslegung. 91 Vgl. für den Rat zum berechtigten Schweigen BGHSt 10, 393; MDR/H 1982, 970; OLG Düsseldorf NJW 1991, 996; LR/Ruß, § 258/20; Sch/Sch/Stree § 258/20; SK-StGB/Hoyer, § 258/26; Wassmann 1982, 132; Pfeiffer, DRiZ 1984, 341, 345; Beulke 1989, Rn 27; Wolf 2000, 337 f.; Otto 2005, § 96/9. Freilich liegt es nicht allzu lang zurück, dass der Verteidiger bei diesem Hinweis erhebliche (wenigstens standesrechtliche) Probleme bekam (vgl. Falk 2000, 112 ff.). 92

Ausdrücklich Fezer 1993, 681.

93

Oben Fn 39 in Kap. 9.

94

So am Bsp. des Veränderns des eigenen Aussehens etwa Beulke 1989, Rn 38; LR/Ruß, § 258/20a; a.A. OLG Karlsruhe StV 1991, 519; KMR/Hiebl, Vor § 137/16. 95

Der Rat zu diesem Widerruf sei ein Unterfall des Lügerats; vgl. BGHSt 2, 375, 378; Tröndle/Fischer, § 258/12; Bottke, ZStW 96 (1984), 726, 757; Pfeiffer, DRiZ 1984, 341, 345; Beulke 1989, Rn 34; a.A. v.a. diejenigen, die dies als Rat zur zulässigen Rücknahme einer freiwilligen Aussage akzentuieren (z.B. Schönke/Schröder/Stree, § 258/20; Krekeler, NStZ 1989, 146, 148; Fezer 1993, 681 f.; Wolf 2000, 339). 96 Vgl. etwa Beulke 1989, Rn 31; Bottke, ZStW 96 (1984), 726, 756; Krekeler, NStZ 1989, 146, 148; Vogt 1992, 229; prononciert Widmaier 2000, 1051. Dass nicht jede Motivierung genügen soll, wird vordergründig auf die Legalität der schlichten Rechtsaufklärung zurückgeführt. Der Sache nach dürfte dies aber eine Konsequenz jener h.M. sein, die wegen der Vortäterprivilegierung bei § 258 I StGB von den allgemeinen Kriterien der §§ 25 ff. StGB Abstand nimmt und gewisse Akte der an-sich-Teilnahme als täterschaftliche Strafvereitelung behandelt (oben Fn 39 in Kap. 9). Die Anforderungen an die Beratungsart verkörpern insofern das Bemühen der h.M., wenigstens an einer residualen Tatherrschaftsqualität festzuhalten. Wenn man hingegen bei § 258 I StGB auf den Normalmaßstäben der Täterschaft beharrt, müssen all jene Verteidigeraktivitäten, denen von Hause aus nur Teilnahme-Qualität zukommt, mangels Strafbarkeit der (lediglich eigennützigen) Angeklagtentat straffrei bleiben (eingehend zu solchen Ansätzen z.B. LR/Lüderssen, Vor § 137/128 ff.; § 138a/38 ff.; NK/Altenhain, § 258/37 f.; Stumpf, wistra 2001, 123, 126 ff.). Das betrifft namentlich die anwaltliche Beratung (so MüKo-StGB/Cramer, § 258/43; Vormbaum 1987,

424

Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

Das Defizit dieser Argumentation wurzelt darin, dass sie voreilig auf die allgemeine Verteidigerrechtsstellung zurückgreift und so die in § 137 I StPO vorgenommene spezifischere Regelung des Raterteilens überblendet. Gemeinhin wird diese Vorschrift, die dem Angeklagten den „Beistand eines Verteidigers“ zuspricht, zwar nur auf ein generalisiertes Auswahl- und Hinzuziehungsrecht verengt, doch kann man dem Normtext ebenso gut auch einen Anspruch auf ein konkretes strafabwehrendes Verhalten zuordnen („sich unterstützen lassen“). Nach dieser Interpretation ermächtigt § 137 I StPO zu wechselseitigen Interaktionsformen innerhalb der Verteidigungseinheit: Aus dem Beschuldigtenrecht, sich jederzeit „des Beistandes eines Verteidigers zu bedienen, folgt umgekehrt das Recht des Verteidigers, dem Beschuldigten in jeder Lage des Verfahrens beizustehen“97. Hierin ist lediglich ein funktionales Stufenverhältnis hineinzudenken, weil der Verteidiger nicht über vollständig autonome Rechtsmacht verfügt, kraft derer er sein professionelles Zuarbeiten dem Angeklagten etwa aufdrängen könnte. Sein Beistehensrecht ist vielmehr durch den Beistandswunsch bedingt98. Außerdem erstreckt es sich sachlich nur auf das, was der Geförderte legal agiert (denn § 137 StPO eröffnet dem Beschuldigten allein die Möglichkeit, seinen Rechtsraum im Verteidigungsverbund wahrzunehmen). Mit diesen Einschränkungen gestattet § 137 I StPO dem hinzugezogenen Verteidiger den Unterweisungsakt, weil die selbige Bestimmung dem Beschuldigten einen Anspruch auf eben diese Unterstützung zugesteht und damit deren Zulässigkeit mitnormiert99. Das Beraten als nachgerade idealtypische Beistandsform ist demnach explizit-primärrechtlich zugelassen (sofern es dem Adressaten nicht aufgezwungen wird und nichts Verbotenes betrifft). Die Ratschläge in den eingangs genannten Sachlagen fallen allesamt darunter. Dem Angeklagten steht das Verhalten, in dem er dort unterrichtet wird, durchgehend offen. Im Falle des unwahrhaftigen Leugnens und des Geständniswiderrufs wird es ihm vom Prozessrecht eigens eingeräumt (oben 1.c)), und bei der Prozesslüge und der faktischen Verdunklung nimmt er jedenfalls seine nemo-tenetur-Grundrechte unverboten wahr (IV. in Kap. 10). Ist dem Verteidiger deswegen seine dahingehende

427 ff.; Jahn 1998, 301 ff.; U. Günther 1998, 167; Stumpf 1999, 123; Dessecker, GA 2005, 142, 151 f.; vgl. auch SK-StGB/Hoyer, § 258/30 f.). 97

Wolf 2000, 152; vgl. auch LR/Lüderssen, § 137/4 ff.

98

Selbst die amtliche Bestellung (§§ 140 ff. StPO) ersetzt den Beistandswunsch nicht. Nach der (keineswegs unzweifelhaften) h.M. kann ein Verteidiger zwar auch dem unwilligen Angeklagten beigeordnet werden (vgl. OLG Hamburg StV 2000, 409; KK/Laufhütte, § 141/8 m.w.N.), doch bleibt dessen Freiheit unberührt, einzelne Verteidigungshandlungen unberaten vorzunehmen. 99 Aus § 136 I 2 2. HS StPO lässt sich ein solches Belehrungs- und Beratungsrecht des Verteidigers nicht entnehmen. Dort ist ein Belehrungs- und Beratungsanspruch des Beschuldigten gar nicht geregelt, sondern nur der Anspruch auf den Konsultationsrechtshinweis.

11. Kap.: Prozessrechtsbindungen

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Einflussnahme von § 137 I StPO erlaubt, kann sie nach der fragmentwahrenden Auslegung von § 258 I StGB nicht straftatbestandsmäßig sein.

b) Strafbarkeit der Informationsweitergabe? Der Verteidiger kann den nemo-tenetur-Träger nicht nur durch seine Autorität auf wissensschützende Handlungsvarianten hinorientieren, sondern er kann ihn auch mit solchen Informationen versorgen, vermöge derer der Beschuldigte seine Geheimhaltung selbst optimiert. Mitunter will man das dem Verteidiger jedoch als Strafvereitelung anlasten, insbesondere bei der Verwertung seines Aktenwissens. An sich wird die gängige Praxis, die Mandantschaft an den Erkenntnissen aus den Ermittlungsakten teilhaben zu lassen100, freilich nirgends beanstandet, und dies selbst dann nicht, wenn der Beschuldigte diese Einsichten absehbar zur Abstimmung von Falscheinlassungen oder zu ähnlichen Verdunklungsakten nutzen könnte. Sobald solche Mitteilungen aber den Untersuchungszweck in der Weise gefährden, dass sie den Beschuldigten über nahende Zwangsmaßnahmen ins Bild setzen und ihm gezielte geheimnisschützende Vorkehrungen erlauben (z.B. das Fortbringen der von der unerwarteten Durchsuchung bedrohten sächlichen Wissensträger), sollen sie dem Strafvereitelungstatbestand unterfallen101. In diesem Fall sei es im Übrigen gleichermaßen strafbar, wenn der Verteidiger sein brisantes Wissen ohne Akteneinsicht aus dem Ermittlungsbereich bezogen hatte102. Sogar wenn es sich nicht aus institutionellen Quellen speist, kann er mit der Wissensweitergabe eine Strafvereitelung begehen, sofern er dem Angeklagten damit eine beweislagentrübende Prozesslüge ermöglicht103.

100

Vgl. die empirischen Daten bei Vogtherr 1991, 125 ff.

101

Vgl. BGHSt 29, 99, 102 f.; LK/Ruß, § 258/20a; KK/Laufhütte, § 147/12; Meyer-Goßner, § 147/21; Tröndle/Fischer, § 258/9, 12; Schlüchter 1983, 121; Bottke, ZStW 96 (1984), 726, 757; Pfeiffer, DRiZ 1984, 341, 347 f.; Beulke 1989, Rn 40, 42; U. Günther 1998, 172; Ranft 2005, Rn 433. Sofern der Beschuldigte die Informationen nutzt, um strafbare Verdunklungshandlungen zu begehen, kann die vorangegangene Inkenntnissetzung durch den Verteidiger obendrein eine Beihilfe darstellen (vgl. Rietmann 2002, 95 f.). Dafür gelten die folgenden Überlegungen entsprechend. 102 Vgl. KG NStZ 1983, 556; Sch/Sch/Stree, § 258/20; Ostendorf, NJW 1979, 1345, 1349; Pfeiffer, DRiZ 1984, 341, 348; Beulke 1989, Rn 46 ff.; zustimmend nur bei deliktischem Sinnbezug des Informierens Stumpf 1999, 162 bzw. bei rechtswidrig erlangten Informationen AG Köln StV 1988, 256; Mehle, NStZ 1983, 557; Frisch, JuS 1983, 915, 924; Otto, Jura 1987, 329, 330; Krekeler, NStZ 1989, 146, 149; vgl. auch OLG Frankfurt/M. StV 1981, 28, 30; Vormbaum 1987, 420; Wolf 2000, 340 f.; zusammenfassend Walischewski 1999, 181 ff. 103 BGH NStZ 1999, 188; Tröndle/Fischer, § 258/12; Beulke 2001, 1181; a.A. Stumpf, wistra 2001, 123, 129.

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

Anders als die beiden letztgenannten Sachlagen, für die keine verfahrensrechtliche Regelung zu ersehen ist104, liegt der erste Problemfall im Umkreis des Akteneinsichtsrechts, das § 147 StPO näher ausgestaltet105. Das Akteneinsichtsrecht verschafft dem Angeklagten den erforderlichen Überblick, um sich in seinem Verfahren angemessen äußern und verteidigen zu können. Es ist ihm deshalb von Art 103 I GG garantiert (II.2.c)aa) in Kap. 7). Von Hause aus beruht die Akteneinsicht also nicht auf einem originären Anspruch des Verteidigers (obschon sie nach § 147 I StPO durch ihn wahrgenommen wird), sondern auf Grundrechten des Beschuldigten106. Die vom Rechtsträger wegverlagerte Ausübungsberechtigung hat technisch-organisatorische Gründe; sie ist eine Vorkehrung, um die stoffliche Unversehrtheit der Originalakten nicht zu gefährden. Da also der Verteidiger bei der Einsichtnahme materiell allein auf Rechnung des Mandanten agiert, darf er ihm keine Erkenntnisse vorenthalten, weil er den Informationsanspruch des Beschuldigten nur stellvertretend ausübt und weil dieses Informationsrecht thematisch unbegrenzt ist. Wie der Beschuldigte dann mit den ihm zustehenden Daten verfährt, liegt außerhalb der auf Informationsmittlung reduzierten Verteidigersphäre. Dieser prozessualen Rechtslage muss die Auslegung von § 258 I StGB Rechnung tragen. Der Wissenstransfer ist daher ungeachtet ermittlungshemmender Effekte straffrei zu stellen. Die Gegenansicht, die das rechtliche Gehör des Angeklagten etwas engherziger fasst und die in § 147 I StPO mitgeregelte, prozessrechtliche Mitteilungsbefugnis des Verteidigers in der eingangs geschilderten Weise einschränkt, macht dafür geltend, dass es § 147 I StPO um einen inhaltlichen Aktenschutz zu tun sei. Die das Recht ausübende Person werde vom Rechtsträger getrennt, um den Informationsfluss hin zum Beschuldigten mit einer zusätzlichen Kontrollinstanz (dem Verteidiger) zu versehen, die als Informationsfilter für die Selektion ermittlungsschädlicher Daten einstehe. Diese Behauptung ist freilich nichts weiter als ein kaum bemänteltes Zweckkonstrukt, das dem § 147 I StPO nur deshalb untergeschoben wird, um das Informierungsrecht des Verteidigers im gewünschten Maße beschränken zu können. Den Anforderungen an eine statthafte teleologische Argumentation (oben II.2.b) in Kap. 3) hält es in keiner Weise stand, vornehmlich weil sich dieser angebliche Normzweck von § 147 I StPO nicht mit der Normgenese verträgt. Der vormalige Gesetzgeber hielt die umfassende Mandantenunterrichtung seinerzeit für selbstverständlich und

104 Die fragmentwahrende Auslegung muss sich hier einer Stellungnahme enthalten (zu den Gründen oben bei Fn 85). 105

Zum Folgenden im Wesentlichen übereinstimmend z.B. Wassmann 1982, 148; Mehle, NStZ 1983, 557, 558; Welp 1984, 319 ff.; Vormbaum 1987, 419; Vogt 1992, 233 f.; Hiebl 1994, 48 ff.; Fezer 1995, § 4/29; Walischewski 1999, 162 ff.; Grüner 2000, 60 ff.; Wolf 2000, 151, 189; Rietmann 2002, 109 ff.; vgl. auch OLG Hamburg StV 1991, 551; LR/Lüderssen, § 147/127. 106 Da der Verfahrensausgang materiell allein den Angeklagten betrifft und da Art 103 I GG als Verfassungsgrundlage des Akteneinsichtsrechts allein dessen Grundrecht ist, kann an dieser Rechtsträgerschaft kein Zweifel bestehen (eingehend Hiebl 1994, 34 ff.).

11. Kap.: Prozessrechtsbindungen

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formulierte deshalb in § 147 II StPO gewisse Akteneinsichtsschranken107. Da er also die etwaige Gefährdung des Untersuchungszwecks erkannt und dafür eine spezifische Handhabe vorgesehen hatte, muss die Regelung in § 147 II StPO abschließenden Charakter haben108. Die Risiken der Akteneinsicht sind vom Gesetz mit Ermittlungsende (§ 169a StPO) hingenommen, während der ermittlungstaktische Geheimhaltungsbedarf in den vorherigen Phasen durch die Staatsanwaltschaft gewichtet und durch Einsichtsverweigerung gewährleistet werden kann. Der Versuch, den Verteidiger für den ermittlungsbehördlichen Reservedienst zu rekrutieren und ihn mit Überführungsaufgaben zu betrauen, kommt damit nicht überein.

3. Geheimniswahrung in der Zeugenrolle Obgleich der Geheimnisträger die Aufdeckung seines Tatwissens zuallererst von der direkt gegen ihn geführten Nachforschung zu befürchten hat, muss er auch die beiläufige Enthüllung im anderen Handlungszusammenhang gewärtigen. Besonders hoch sind derlei Risiken, wenn er zur Auskunftsperson in einem fremden Strafverfahren berufen ist. Seine dortigen Angaben können ihm nach einem binneninstitutionellen (also: relativ reibungsarmen) Informationsübergang ohne weiteres im eigenen Prozess zum Schaden gereichen. Die Geheimhaltungsverfahren, mit denen er dieser Gefahr zuvorkommen könnte, lenkt der Staat nicht zuletzt mit den Falschaussagetatbeständen (§§ 153 ff. StGB) in gewisse Bahnen. Da die Zeugenrechtsstellung ansonsten aber durch das Prozessrecht ausgestaltet wird, kommt es abermals zu jener normativen Zweispurigkeit109, bei der eine fragmentwahrende Strafnormauslegung angezeigt sein könnte. Sie wäre dann auf den Plan gerufen, wenn die strafgesetzliche Reglementierung in Bereichen einsetzt, in denen das explizit-primäre Verfahrensrecht keine korrespondierenden Zeugenpflichten vorsieht110.

107

Dies wurde bereits mehrfach belegt, vgl. zuletzt Rietmann 2002, 109 f. m.w.N.

108

Durch die Gegenansicht würde § 147 II StPO obsolet und schwer erklärlich: Wozu sollte man dem Verteidiger diverse Informationen unter Berufung auf diese Bestimmung – d.h. wegen der Gefährdung des Untersuchungszwecks – vorenthalten, wenn er sie ohnehin nicht in einer den Untersuchungszweck gefährdenden Weise verwenden (weitergeben) darf? 109 Sie setzt sich zusammen aus prozessualen und strafgesetzlichen Wahrheitspflichten. Das Zeugenverhalten wird indes nicht nur durch §§ 153 ff. StGB strafrechtlich erfasst, sondern auch durch z.B. § 187 StGB (dazu und zu § 193 StGB in diesem Kontext Prange 1995, 68 ff.). Explizite Primärnormen finden sich neben dem Prozessrecht in § 823 I BGB, wo auch dem Zeugen jene Lüge untersagt wird, durch die andere Personen zu Schaden kommen (vgl. Fn 58 sowie Prange a.a.O., 60 ff.; vgl. auch Rudolphi, GA 1969, 129, 143). 110 Bislang (oben 1. und 2.) wurden Verhältnisse untersucht, in denen das explizite Primärrecht diverse Erlaubnisse vorsieht, die das Strafrecht nicht konterkarieren darf. Im Folgenden geht es dagegen um abschließend konturierte, explizit-primäre Pflichten, die von Seiten des Strafrechts nicht extensiviert werden können.

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

a) Zeugenstatus trotz Beteiligungsverdachts? Der Beschuldigte, den man neben seinem persönlichen Prozess in drittgerichteten Parallelermittlungen zur Auskunft heranzieht, wirkt dort der Mitwirkungsstruktur nach als Zeuge. Auch wenn sich die jeweiligen Prozessgegenstände thematisch berühren, bleibt es bei dieser doppelten Rechtsstellung. Demzufolge muss er sich – obwohl er im eigenen Verfahren in allen Schattierungen schweigen und innerhalb der bereits erörterten Grenzen lügen darf – in der zeugenschaftlichen Einvernahme umgänglich zeigen. Zwar braucht er auch dort das Wissen um seine eigene Tat nicht preiszugeben (§ 55 StPO), doch unterliegt diese Auskunftsverweigerung einigen sanktionsbewehrten Kautelen111. Überhaupt ist ihm die verdunkelnde Falschaussage generell untersagt (§§ 153 f. StGB112). Prekär daran ist, dass dieses zeugenrechtliche Handlungsgerüst die Abwehr der persönlichen Anschuldigung erschwert. Es nimmt dem Betroffenen bisweilen die Möglichkeit, sein Wissen durch ein verfahrensübergreifend konsistentes Prozessgebaren gegenüber den Nachforschungen zu seiner eigenen Tat zu sichern. Wollte er etwa seine unzutreffenden Schutzbehauptungen, mit denen er sich gegen die ihm drohende Strafe zur Wehr setzen darf, im Parallelverfahren stabilisieren und aufrechterhalten, wäre dies ein (strafbares) Falschzeugnis. Stattdessen muss er dort korrekt aussagen oder schweigen – und dadurch zugleich sein eigenes (unwahres) Verteidigungsvorbringen entwerten113. Diese Problematik kulminiert beim Rollenwechsel: Richtet sich ein (verbundenes) Strafverfahren gegen mehrere Personen, sind diese darin durchweg Beschuldigte. Dies gilt auch im Verhältnis zu den Mitbetroffenen. Die Zeugenstel-

111 Das Aussageverweigerungsrecht nach § 55 StPO ist auf verfängliche Gegenstände reduziert und anzeigepflichtig. Wird die Gegenstandsbeschränkung offen missachtet und im weiteren Umfang geschwiegen, setzt die prozessrechtliche Vollstreckung ein (§ 70 StPO). Die reflexive Geheimhaltung mittels verdeckter, nicht angezeigter Verweigerung eines Aussageteils ist eine unvollständige und so nach § 153 StGB strafbare Falschaussage (zum Ganzen oben IV.1.aa. in Kap. 1). 112 Das Lügeverbot aus § 153 StGB gilt für den verdächtigen Zeugen uneingeschränkt. § 157 StGB führt lediglich zur arbiträren Strafmilderung (mitunter auch zum Strafverzicht). Die h.M. kann darin nichts Anstößiges finden, bestünde für den Staat doch nicht einmal beim Beschuldigten die Notwendigkeit, ihn die Wahrheit straflos obstruieren zu lassen (vgl. Bergmann 1988, 94 f.; Müller 2000, 118). 113

Wer zu einem Gegenstand seiner Angeklagteneinlassung in der Zeugenrolle schweigt, nimmt ihr lebensweltlich die Überzeugungskraft, auch wenn aus der Wahrnehmung des Aussageverweigerungsrechts nicht auf die Unwahrheit der Einlassung geschlossen werden darf (vgl. auch Schmidt 1982, 118; Grünwald 1993, 15). Durch die gegenständliche Beschränkung von § 55 StPO kann sich der Betroffene überdies als Zeuge zu Dingen äußern müssen, zu denen er als Beschuldigter trotz ihrer sehr indirekten Relevanz aus einem bestimmten Verteidigungskalkül heraus berechtigt schwiege. Außerdem kann eine vereinbarte gemeinsame Verteidigungsstrategie der Mitbeschuldigten womöglich nicht mehr durchgehalten werden (vgl. Prittwitz 1984, 55; zu weiteren Problemkonstellationen vgl. Montenbruck, JZ 1985, 976, 978).

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lung, die sie nach der materiellen personalen Struktur an sich innehaben, wird von ihrer (Mit-)Beschuldigtenrolle gleichsam absorbiert114. Dieser Zustand, in dem die ungeschmälerte Bandbreite der kommunikativen Geheimhaltungsmethoden verfügbar ist, fällt allerdings mit einer (endgültigen oder vorübergehenden) Verfahrenstrennung weg. Im abgetrennten Verfahren büßt der nemotenetur-Träger seinen ehedem bestehenden Mitbeschuldigtenstatus ein. Als Zeuge muss er nunmehr „bei einer Falschaussage mit einer Bestrafung nach § 153 StGB rechnen, mit der er vorher nicht bedroht war“115. Bei einer verfahrensübergreifend abgestimmten Verteidigung sieht er sich plötzlich vor die gleichen Konsistenzhindernisse gestellt, vor denen er auch bei niemals verbundenen Parallelverfahren stünde. Davon bleiben allein jene Wissensträger verschont, bei denen die Prozessverbindung fortwährt oder neben denen keine weitere Person beschuldigt wird. So gesehen herrscht verschiedenes Recht. Der Umstand, zu dritten Personen auskunftsfähig zu sein und instanziell tatsächlich zum Zeugnis herangezogen zu werden, waltet normativ (scheinbar) als Verhängnis. Diese Ungleichheit der Geheimhaltungschancen steht und fällt mit der prozessualen Zulässigkeit der Mehrfachrollenzuweisung, die bei dem Beschuldigten, der zugleich Zeuge ist, das fragliche Strafrechts-Mehr nach sich zieht. Sie wäre hingegen aufgehoben, würde der Betroffene seine Beschuldigtenrechte auch im fremden Verfahren genießen. Er könnte dann, sobald dort die Angelegenheiten der auf ihn gemünzten Anschuldigung zur Sprache kommen, nicht nur schweigen, sondern auch ungestraft lügen. Seine selbstschützenden Geheimhaltungsversuche im eigenen Prozess würden nicht länger aus dem Parallelverfahren heraus beeinträchtigt, denn die Sanktionsdrohung gegen das inhaltlich falsche oder verdeckt unvollständige Zeugnis dürfte sich unter Fragmentwahrungshinsicht nicht länger gegen seine Person richten, da er doch in beiden Prozessen explizit-primärrechtlich von der Wahrheitspflicht freigestellt wäre116.

114 Allg. Ansicht (vgl. nur SK-StPO/Rogall, Vor § 48/39 m.w.N.). Abgesehen von der Durchbrechung, die dieser Ansatz im materiellen Mitbeschuldigtenbegriff erfährt, wird er auch von Mitsch (1998) modifiziert – allerdings nur insoweit, als er dem Mitbeschuldigten neben den Beschuldigtenrechten ebenfalls die Zeugenrechte zuerkennt, ohne ihm aber die Zeugenpflichten zuzuschreiben (zum Ganzen schon oben IV.1.b) in Kap. 1). 115 So (kritisch) resümierend Roxin 1998, § 26/5; dazu etwa auch LK/Ruß, § 153/10; Lenckner 1974, 336, 338; Schmidt 1982, 82. Für eine regelmäßige Straffreiheit nach § 157 StGB votieren dann aber z.B. SK-StPO/Rogall, Vor § 48/41 und Montenbruck, JZ 1985, 976, 979 ff. 116 Einen vergleichbaren Effekt hätte die „weichere“ Lösung, der zufolge die Strafverfolgungsbehörden bei einem gemeinsamen Sachbezug mehrerer Verdächtiger verpflichtet wären, die Verfahren zusammen zu führen. Das Gesetz sieht indessen in §§ 2 ff. StPO die Verfahrensverbindung als Ausnahme vom Normalfall vor. Sie unterliegt amtlichem Ermessen (und zwar nach ganz h.M. – vgl. nur BVerfG StV 2002, 578 m.w.N. – gemäß § 4 I StPO analog auch bei zwei Verfahren innerhalb einer Gerichtszuständigkeit), und sie wird nur auf Ermessensfehler hin überprüft (vgl. BVerfG a.a.O.; BGHSt 18, 238, 239). Immerhin müssen bei dieser Entscheidung neben den Auswirkungen

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Genau diese Beschränkung von § 153 StGB träte ein, ließe sich der Beschuldigtenstatus materiell bestimmen und auf jeden Adressaten eines behördlichen Verdachts ausdehnen117. Diese Personen unterlägen danach nur dann den Verhaltenserwartungen von § 153 StGB, wenn sie sich – sei es im eigenen oder im fremden Verfahren – zu ausschließlich drittrelevanten Sachverhalten (d.h. sachstrukturell als Zeuge) äußern118. Da indes einige Prozessnormen, die den Verdächtigen klar als möglichen Zeugen behandeln, mit dessen automatisch eintretender Beschuldigtenstellung bekanntermaßen nicht in Einklang zu bringen sind119, kann dieser Lösung keine Zustimmung zuteil werden.

auf das Strafrechtssystem (dazu z.B. Rosenmeier 1973, 119 ff.) auch die Folgen für die Beschuldigtengrundrechte berücksichtigt werden (BVerfG a.a.O.). Man könnte nun auf den Gedanken kommen, dass das Ermessen von nemo tenetur hin zu einer Verbindungspflicht verengt sei, weil so die Geheimhaltungsmöglichkeiten des Beschuldigten besser zum Tragen kommen. Es geht auch durchaus in diese Richtung, wenn sich der BGH dagegen wendet, den Mitbeschuldigten aus sachfremden und willkürlichen Gründen (etwa zur Aussageerzielung) in die Zeugenrolle zu drängen (BGHSt 10, 8, 12), und wenn er ein Verbot statuiert, verbundene Verfahren zu trennen und hernach unter zeugenschaftlicher Heranziehung des ursprünglichen Mitbeschuldigten trotz gemeinsamer Berührungspunkte nebeneinander abzuwickeln (vgl. BGHSt 24, 257; 32, 100, 101; NJW 1964, 1034; JR 1969, 148; MDR/D 1971, 897; MDR/H 1977, 639). Richtig ist es ebenso, dass eine Missachtung dieser Vorgaben die Mitbeschuldigtenstellung der Aussageperson trotz formaler Verfahrenstrennung unberührt lässt und sie (was unter Fragmentwahrungshinsicht zwingend ist) nicht zum Adressaten von § 153 StGB machen kann (vgl. BGHSt 10, 8, 12; Sch/Sch/Lenckner, § 153/4a; SK-StGB/Rudolphi, § 153/3; NK/Vormbaum, § 153/25; LK/Ruß, § 153/10; Rogall, NJW 1978, 2535, 2538; Otto 2005, § 97/35). Über diese negativen Schranken hinaus reicht die Ermessenslenkung aber nicht; sie läuft schon gar nicht positiv auf eine Verbindungspflicht hinaus. Dem steht bereits das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art 101 I GG) entgegen, weil die Verfahrensverbindung – nicht nur bei Auswirkungen auf den jeweiligen Rechtsmittelweg (dazu Rosenmeier a.a.O., 144 f.) – die eigentliche Gerichtszuständigkeit umarrangiert (vgl. Müller 1980, 127 ff.). Darüber hinaus ist auch das Interesse des jeweils anderen Betroffenen zu berücksichtigen, den potenziellen (Mit-)Beschuldigten durch ein getrenntes Verfahren als Entlastungszeugen heranziehen zu können. In diesem mehrpolaren Interessengeflecht verlangt die Entscheidung eine Abwägung ohne eindimensionale Festlegung. 117

Dazu und zum ganzen Meinungsstreit überblicksartig oben IV.1.b) in Kap. 1.

118

Konsequenterweise würde die Person also auch im eigenen (gemeinsamen) Verfahren bei drittrelevanten Angelegenheiten als Zeuge agieren und von §§ 153 ff. StGB erfasst sein (vgl. Gerlach, JR 1969, 149, 152; Lenckner 1974, 346 ff.). 119 Wenn jedermann, der der Beteiligung an der gegenständlichen Tat verdächtigt wird, ein (Mit-)Beschuldigter wäre, würde § 55 StPO auf jene Zeugen reduziert, bei denen sich die verfänglichen Angaben auf einen gänzlich anderen Vorwurf beziehen (vgl. Bringewat, JZ 1981, 289, 291). § 60 Nr. 2 StPO wäre sogar vollkommen obsolet. Für das Vereidigungsverbot in § 60 Nr. 2 StPO wäre nicht einmal derjenige Zeuge reserviert, der erst während der Vernehmung in den Beteiligungsverdacht gerät (so aber Lenckner 1974, 338; Roxin 1998, § 26/6; vgl. i.Ü. bereits Fn 202 in Kap. 1). Der Verdacht entsteht in solchen Situationen nämlich bei der Befragung, sodass der Vernommene nach den Prämissen eines streng materiell verdachtsbasierenden Konzepts in deren Verlauf automatisch in den Beschuldigtenstatus einrücken würde. Deshalb dürfte man ihn ohnehin nicht vereidigen. § 60 Nr. 2 StPO, dessen Normbereich also selbst diese Randgruppe entzogen wäre, fiele der funktionalen Leere anheim (vgl. auch BGHSt 10, 8, 10 f.; NJW 1985, 76; Rogall, NJW 1978, 2535, 2536).

11. Kap.: Prozessrechtsbindungen

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Eher noch angängig ist eine vermittelnd-materielle Konzeption, nach der die verdächtigen Zeugen dann zu Mitbeschuldigten im drittbezogenen Verfahren werden, wenn man gegen sie in der gleichen Sache ermittelt. Dass dies dennoch nicht dem Normprogramm der StPO entspricht und dass das Gesetz die Beschuldigten- und Zeugenstellung allein an die formale Verfahrenskonstellation gekoppelt sehen will, bekunden indessen nicht nur einige aufschlussreiche Einzelbestimmungen120. Dies geht vor allem aus der Prozessrechtsgeschichte hervor121. Der ehedem selbstverständliche formale Beschuldigtenbegriff122 wurde nämlich erst dann ernstlich bezweifelt, als die Aussage des offenkundig verdächtigen und daher nach § 60 Nr. 2 StPO nicht zu vereidigenden Zeugen einen Prestigezuwachs erfuhr, weil dieser sich nach dem neu eingeführten Falschaussagetatbestand strafbar machen konnte. Die materiellen Lehren wollte den Strafverfolgungsbehörden, die seither aus beweistaktischen Gründen versucht waren, den Mitverdächtigen die Mitbeschuldigtenstellung vorzuenthalten und als Zeugen zu verwenden, Einhalt gebieten123. Ursprünglich aber ging das Gesetz von einer formal zu begründenden Beschuldigteneigenschaft aus (wie man selbst auf Seiten der Kritiker einräumt124). Um hiervon abzuweichen, bedürfte es triftiger Gründe. Dafür verweist man zumeist darauf, dass den Beschuldigten die Verteidigung erschwert werden kann, sobald ihnen die prekäre Doppelrolle droht, und dass die Strafverfolgungsbehörden diesen Rechtsstellungsnachteil durch ihre Verfahrensgestaltung gezielt zuweisen können125. Genau betrachtet ist dieser Einwand aber weniger 120 Vgl. neben §§ 55, 60 Nr. 2 StPO auch §§ 219 f., 223, 240, 245 StPO, die durchweg von Zeugen handeln, ohne auch den Mitbeschuldigten zu erwähnen. Ein Grund, weshalb diese Bestimmungen für Auskunftspersonen, gegen die in der gleichen Sache ermittelt wird, nicht gelten sollen, ist aber nicht zu erkennen (vgl. Grünwald 1993, 16). 121

Das Aussageverweigerungsrecht i.S.v. § 55 StPO entstand, als die Rspr. das beim Beschuldigten bereits anerkannte Verbot des Geständniszwangs auf die verfängliche Zeugenaussage übertrug (oben Fn 100 in Kap. 6). Für denjenigen, dem in der Zeugenrolle eine Selbstbelastungsgefahr droht, wurde ein eigenes Schutzinstitut geschaffen. Auf seine Verdächtigkeit (und daran geknüpfte Nachforschungen) mit der Zuweisung des Beschuldigtenstatus’ zu reagieren, wurde nicht erwogen. 122

Vgl. RGSt 27, 312, 314 f.; 52, 138 ff.; GA 1888, 168; GA 1928, 346.

123

Da ursprünglich nur die beeidete Falschaussage strafbar war, traf die Strafdrohung allein den unerkannt verdächtigen Zeugen, der zum Selbstschutz heimlich log. Nur bei ihm kam es zur strafbarkeitskonstitutiven Vereidigung (da sie doch bei offenkundiger Verdächtigkeit unterblieb, § 60 Nr. 2 StPO). Ohne Eid bedeutete es für einen (eigentlichen/ursprünglichen) Mitbeschuldigten also nur eine geringe strafrechtliche Mehrbelastung, wenn er als Zeuge herangezogenen wurde; auch für die staatliche Nachforschung war dies kein Gewinn (vgl. Grünwald 1993, 17, 43). 124 125

So Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177, 1226; Eisenberg 2002, Rn 931.

Rechtsmethodisch gesehen stellt sich diese Argumentation als grundrechtsoptimierender Ansatz dar, der die nemo-tenetur-Grundrechte durch Verfahren (nämlich den materiell-formellen Beschuldigtenbegriff) zu schützen sucht. Dass sie eine größere verfassungsrechtliche Verbindlichkeit für sich reklamieren könnte, liegt fern. Dies wäre nur der Fall, wenn die vom formellen Be-

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

plausibel, als es den Anschein hat. In seiner strikten Fokussierung auf Vernehmungslagen geht unter, dass der Beschuldigtenschutz an anderer Stelle durchaus hinter den Rechtspositionen des Zeugen zurückbleibt. Gemessen an der Zeugenstellung würde deshalb der Verdächtige, den man auch im fremden Verfahren automatisch als Beschuldigten behandelt, in einigen Abwehrrechten geschwächt (vgl. §§ 52 I, 81c III, 97 I StPO)126 und mit erweiterten Eingriffsduldungspflichten belegt (vgl. § 81c I, II StPO)127. Der Rechtsstellungsvergleich führt also zu einem unscharfen Saldo. Der These, dass eine Verfahrenstrennung unter der Ägide des formellen Beschuldigtenbegriffs den nemo-tenetur-Träger deutlich schlechter stelle als bei den alternativen Konzepten, mangelt es an der erforderlichen Evidenz, um die vom Gesetz präferierte formale Prozessrollendogmatik widerlegen zu können. Gegen die damit verbundenen – mit dem Pro-

schuldigtenbegriff geprägte Rechtslage sogar die Minima verfehlen würde, denen eine grundrechtsschützende Verfahrensnorm genügen muss („Ein Grundrechtsverstoß ist ein Verfahrensfehler dann, wenn er das grundrechtlich unmittelbar gebotene Minimum verletzt, das den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers begrenzt.“, Rossnagel, JuS 1994, 927, 929). Diese Basiskriterien (v.a. Anhörungsrechte u.ä.; vgl. nur Schmidt-Aßmann 1996, Rn 19; Bergner 1998, 123 ff.; Gellermann 2000, 323) sind auf Grundlage der h.M. aber allemal gewährleistet. Es geht also bestenfalls darum, innerhalb des breiten subkonstitutionellen Spielraums (oben II.1.b) und 2.b) in Kap. 4) die Grundrechte durch eine alternative Beschuldigtendogmatik optimaler auszugestalten. 126

Werden gegen mehrere angehörige Beschuldigte getrennte Ermittlungsverfahren zu einer gemeinsamen prozessualen Tat geführt, kann sich jeder Beschuldigte mit einer Einlassung verteidigen, die den Angehörigen belastet. Wirklich schaden muss er ihm damit nicht. In dessen Verfahren tritt er nämlich als Zeuge auf, der sich auf sein Zeugnisverweigerungsrecht (§ 52 I StPO) zurückziehen kann. Gemäß § 252 StPO ist dann auch die selbstschützende Angehörigenbezichtigung aus dem eigenen Prozess unverwertbar (vgl. Mitsch 1998, 726). Wäre er hingegen in beiden Prozessen ein Beschuldigter, müsste er sich zwischen Verteidigungsverzicht (Schweigen) und Angehörigenbelastung (Verteidigungsaussage) entscheiden. Er hätte darüber hinaus eine körperliche Untersuchung, die beweisthematisch nur für den angehörigen Mitbeschuldigten relevant ist, nach § 81a StPO zu dulden und könnte sie nicht mehr nach § 81c III StPO verweigern (Mitsch a.a.O., 733 f.; dort 736 ff. auch zum Nachbarproblem bei § 97 I StPO). 127 Nach § 81c StPO sind beim Zeugen einfache körperliche Untersuchungen nur zu bestimmten Beweiszwecken möglich, körperliche Eingriffe sogar nur in Form von § 81c II StPO. Intelligenz, psychisches Befinden oder Glaubwürdigkeit muss der Zeuge überhaupt nicht untersuchen lassen. Selbst wenn die Staatsanwaltschaft gegen mehrere Verdächtige wegen eines gemeinsamen Verdachtsthemas getrennt ermittelt, hebt der vermittelt-materielle Ansatz diese Zeugenschutzposition auf, weil der Betroffene für ihn stets Beschuldigter ist und so die gemäß § 81a StPO weiter gehenden Maßnahmen hinzunehmen hat. Zwar sind beim formalen Mitbeschuldigtenkonzept diese Eingriffe ebenfalls möglich – allerdings nur nach § 81a StPO im jeweils eigenen Verfahren. Der Unterschied zeigt sich, wenn der zu erhebende Beweis allein den Tatanteil des anderen Verdächtigen betrifft. Äußert sich etwa der A zu einer selbstständigen Tatbeteiligung des B und soll die Glaubhaftigkeit dieser Einlassung bspw. durch eine Untersuchung der Sehtüchtigkeit geprüft werden, kann ihm dies allenfalls in seiner Beschuldigtenrolle (§ 81a StPO) und nicht als Zeugen (§ 81c StPO) abverlangt werden. Nur nach der formalen Theorie müsste die Strafverfolgungsbehörde in diesem Fall erst eine Verfahrensverbindung herstellen oder die Relevanz des Gutachtens zur Überführung des A dartun (zum Rechtsstellungsvergleich auch Wolff 1997, 84 f.).

11. Kap.: Prozessrechtsbindungen

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zessrecht korrespondierenden und nicht überschießenden – Strafdrohungen lässt sich unter den Vorzeichen der Fragmentwahrung folglich nichts einwenden.

b) Verfahrensfehler und Falschaussage Gewöhnlich ist eine Zeugenbefragung in einen reglementierten Ablauf eingebunden und von einem normativ geleiteten Szenarium umgeben. Bei einer Falschaussage liegt der Fehler dann allein auf Seiten der sich strafbar machenden Auskunftsperson. Hin und wieder wartet aber auch das Gerichtspersonal im Vor- oder Umfeld der Vernehmung mit gewissen Normverstößen auf, wodurch die Strafdrohung (§§ 153 f. StGB) mit Blick auf die fragmentwahrende Auslegung in Frage gestellt sein könnte. Besonders drängend ist das Problem, falls die zeugenschaftliche Unwahrheit nicht einfach nur zufällig mit der richterlichen Missachtung einer Verfahrensnorm koinzidiert, sondern darauf aufbaut.

aa) Prozesspflicht zum wahren Zeugnis Die fragmentwahrende Auslegung käme dann ins Spiel, wenn in den fraglichen Sachlagen die straftatbestandliche Wahrheitspflicht des Zeugen über seine dahingehende prozessrechtliche Verpflichtung hinausginge. Wer den Streitstand unter diesen Vorzeichen mustert, wird vor allem bei Rudolphi und seinen Gefolgsleuten fündig. Die verfahrensrechtliche Wahrheitspflicht fungiert dort als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der §§ 153 ff. StGB128. Allerdings meinen diese Autoren, man müsse jene Verfahrensrechtsakzessorietät der Aussagetatbestände teleologisch herleiten und operieren deshalb mit einem Rechtsgut, das just in einem prozessordnungsgemäßen Justizbetrieb bestehe. Angesichts der normtheoretischen Grundlagen der prozessrechtlichen Strafrechtsbindung (oben III. in Kap. 4) ist dieser Begründungsaufwand entbehrlich. Skeptisch stimmt zudem, dass sich Rudolphis Beweisführung für die Straffreiheit etwaiger Falschzeugnisse darauf kapriziert, dass die betreffende Aussage infolge der vorangegangenen Prozessordnungswidrigkeit unverwertbar wurde129. Solche Auskünfte, die das Gericht nicht berücksichtigen darf, sollen die geschützten (weil vor128 Rudolphi, GA 1969, 129 ff. (zuletzt ders., in: SK-StGB Vor § 153/32 ff.). Vgl. auch das ähnliche Konzept bei Meinecke 1996, 170 ff., der zufolge in Anbetracht des Rechtsguts von §§ 153 ff. StGB keine „Aussage“ bzw. kein „Meineid“ vorliege, wenn infolge eines Verfahrensfehlers keine prozessuale Wahrheitserwartung entstanden ist. 129 Unverwertbare Äußerungen verwirklichen nach Rudolphi/Rogall auch § 145d StGB nicht. Normativ seien sie ungeeignet, behördliche Maßnahmen unnütz auszulösen (SK-StGB, § 145d/4). Bei diesem Tatbestand hat Rudolphi die wohl h.M. auf seiner Seite (OLG Hamburg StV 1995, 588; NK/Schild, § 145d/5; a.A. Lackner/Kühl, § 145d/4; Otto 2005, § 95/14).

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

schriftsmäßigen) Funktionsabläufe der Rechtspflege gar nicht gefährden (jedenfalls nicht in normativ erheblicher Weise), sodass bei ihnen keine Wahrheitspflicht entstehe. Damit wird allerdings die Zeugenpflicht/-strafbarkeit von der Funktion der jeweils übergangenen Vorschrift getrennt und stattdessen an ein (aus Zeugensicht) zufälliges Element gekoppelt. Ob die Verletzung einer Prozessnorm zu einem Verwertungsverbot führt, bestimmt sich nämlich nach der Bewandtnis, die sie für den Angeklagten statt für den Zeugenschutz hat (jedenfalls solange in der strafprozessualen Fehlerfolgenlehre die Rechtskreistheorie die Regie führt)130.

Auch die Ansichten der h.M. gehen auf ein teleologisches Konzept zurück. Dem Rechtsgut von § 153 StGB („geschützte Rechtspflege“) sind dabei freilich funktionsgerechte ebenso wie unzulängliche Systemerscheinungen eingeschrieben. Ein solches Schutzgut könne durch illegal bewirkte Falschaussagen durchaus gefährdet werden, wenn die Prozessordnungswidrigkeiten unbemerkt bleiben und die unwahren Angaben trotz ihrer Unverwertbarkeit in die richterliche Entscheidung eingehen. Dass der Staat an diesen Mitteilungen seinen Anteil hat, sei allein bei der Strafzumessung zu konzedieren131. Abgesehen von einigen fundamentalen Mängeln bei der Zeugenvernehmung, in deren Folge ausnahmsweise einmal ein Tatbestandsmerkmal von § 153 StGB fehle132, kenne indes die Notwendigkeit, der Zeugenlüge durch § 153 StGB zuvorzukommen, keine Ausnahme133. Damit stellt sich die h.M. freilich taub für die Regelungsgeschichte von § 157 StGB, die eine ganz andere Sprache als das Strafmilderungsmodell

130 Vgl. auch Meinecke 1996, 126 ff.; Müller 2000, 109 ff. zur Kritik an Rudolphi. An den Schwächen seines Konzepts hat i.Ü. auch der Theorieableger von Otto teil, nach dem es neben der Unverwertbarkeitswirkung darauf ankomme, ob das Gericht als Garant eines prozessordnungsgemäßen Verfahrens den Normverstoß hat erkennen und verhindern können (JuS 1984, 161, 165; ders. 2005, § 97/28 f.; vergleichbar Vormbaum 1987, 268 f.; Geppert, Jura 1988, 496, 498; Delventhal 1990, 41 ff., 50 ff.). 131 Vgl. dazu die von Montenbruck, JZ 1985, 976, 984 gezogene Parallele zur V-MannProblematik. Konsequenterweise besteht nach dieser Logik kein Anlass für eine Strafmilderung, wenn sich der staatliche Mitverursachungsanteil nicht auswirkt, weil der Zeuge ohnehin falsch ausgesagt hätte (vgl. BGH JR 1981, 248; Geppert, Jura 1988, 496, 497). 132 Bsp.: Kein Zeuge i.S.v. § 153 StGB ist der Mitbeschuldigte bei der willkürlichen Verfahrenstrennung (oben Fn 116). Beim falschen Empfänger der Aussage kann es an der zuständigen Behörde i.S.v. § 153 StGB fehlen (vgl. Lackner/Kühl, Vor § 153/6). Wird die Zeugenäußerung unter Verstoß gegen §§ 69 III, 136a StPO herbeigeführt, handelt es sich nicht um eine Aussage i.S.v. § 153 StGB (vgl. OLG Köln NJW 1988, 2485, 2486; Sch/Sch/Lenckner, Vor §§ 153 ff./23; LK/Ruß, vor § 153/30). 133 Vgl. BGHSt 8, 186, 190; 10, 142, 144; 16, 232, 235; 17, 128, 136; 23, 30, 31; 27, 74, 75; StV 1988, 427; 1995, 249; 2004, 482, 483; wistra 1999, 261; KG JR 1978, 77, 78; OLG Köln NJW 1988, 2485, 2486; OLG Düsseldorf wistra 1995, 353; OLG Karlsruhe, StV 2003, 505; Sch/Sch/Lenckner, Vor §§ 153 ff./23; LK/Ruß, Vor § 153/29 ff.; Maurach/Schroeder/Maiwald 1999, § 75/23 f.; Arzt/Weber 2000, § 47/105 ff.

11. Kap.: Prozessrechtsbindungen

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spricht134. Es muss obendrein auf Bedenken stoßen, dass sie der primärrechtlichen Frage, ob und wann der Zeuge prozessual überhaupt zur korrekten Aussage gehalten ist, keine Beachtung schenkt. Dergleichen kommt in ihrem Konzept gar nicht vor. Vielmehr hat man sich den Blick darauf verstellt, dass sich der Zeuge deshalb wahrhaftig mitteilen muss, weil dies zunächst einmal eine Prozessnorm von ihm verlangt. Anders als bei der klar formulierten Eidespflicht (§ 59 StPO) kommt diese Anordnung im Gesetz allerdings nur indirekt vor135. Sie ist allein in ihren personalen Ausnahmen (§§ 52 ff. StPO) und ihrer Vollstreckung (§ 70 StPO) mitnormiert136. Infolge dieser indirekten Regelungstechnik sind auch die konstitutiven Bedingungen der prozessualen Wahrheitspflicht nicht ohne weiteres zu erschließen, sondern in §§ 48 ff. StPO gewissermaßen nur zu ertasten. Dessen ungeachtet wirken jene Voraussetzungen auf das Strafrecht durch, denn sobald sie nicht vollständig vorliegen und der Zeuge deshalb prozessrechtlich nicht zu redlichem Auftreten gezwungen ist, führt die Bestrafung seiner Falschaussage zu einer sichtlich überschießenden straftatbestandsimpliziten Verhaltenslenkung137. Dies muss die fragmentwahrende Auslegung korrigieren138.

134

Bis 1943 sah § 157 Nr. 2 StGB eine Strafmilderung für die Falschaussage vor, wenn die gebotene Belehrung gemäß § 52 II StPO unterblieben war. Das Gesetz hatte damit das Strafmilderungsmodell der h.M. für eine signifikante Konstellation positiviert – und es hat dies abgeschafft! Im Gegenzug wurde in § 157 II StGB wenigstens für einen Sonderfall die Tatbestandslosigkeit eines verfahrensfehlerhaft bewirkten Aussagedeliktes vorgesehen (denn dass dort die Strafe für die Falschaussage eines Eidesunmündigen gemildert wird, ohne den schwerwiegenderen Meineid einer solchen Person zu regeln, lässt sich nur so erklären, dass man ganz selbstverständlich von dessen Tatbestandslosigkeit ausging; Otto, JuS 1984, 161, 166; Arzt/Weber 1999, § 47/103). 135 Ebenfalls von der Existenz einer prozessualen Wahrheitspflicht ausgehend BGHSt 25, 244, 246; SK-StPO/Rogall, Vor § 48/127; Maurach/Schroeder/Maiwald 1999, § 75/23; SKStGB/Rudolphi, Vor § 153/8; Otto 2005, § 97/16, 30; Prange 1995, 29; Meinecke 1996, 121; a.A. AK-StPO/Kühne, vor § 48/19; Müller 2000, 97. 136

Einen Fingerzeig darauf, dass die Wahrheitspflicht prozessual und nicht nur straftatbestandsimplizit von § 153 StGB geregelt ist, gibt neben der Eidesformel (§ 66c StPO) auch § 57 StPO. Der Zeuge ist danach über beide Pflichten ins Bild zu setzen. Nach dem Normtext hat ihn der Richter einmal „zur Wahrheit zu ermahnen“ und bei dieser Gelegenheit obendrein „über die strafrechtlichen Folgen einer unrichtigen oder unvollständigen Aussage zu belehren“. 137 Von der h.M. wird das unbesehen hingenommen. Das ist auch der Vorwurf, der ihr von Rudolphi gemacht wird, dass sie nämlich „die den Aussagedelikten zugrunde liegende Wahrheitspflicht streng von den prozessualen Aussage-, aber auch Wahrheitspflichten scheidet und erstere sehr viel weiter erstreckt, als es die einzelnen Prozessordnungen tun“ (GA 1969, 129, 131). 138 Entsprechendes gilt für das Verhältnis von §§ 59 ff. StPO und dem Meineidstatbestand. Das Fehlen einer prozessualen Wahrheitspflicht würde kraft einer engen, fragmentwahrenden Auslegung i.Ü. auch daran hindern, die falsche Zeugenaussage, die eine Sanktionierung Dritter erschwert, als Strafvereitelungsakt zu interpretieren. Auf § 258 V StGB käme es dann gar nicht an.

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

bb) Beispiel: Falschaussage nach Belehrungsdefizit Die Verwirklichung der §§ 153, 154 StGB ist also dadurch bedingt, dass man bei der Zeugenvernehmung zumindest jene prozessualen Anforderungen wahrt, die für das Entstehen einer explizit-primären Wahraussagepflicht unabdingbar sind. Deshalb müsste nun eigentlich der gesamte zeugenrechtliche Normkomplex daraufhin durchgesehen werden, bei welchen Bestimmungen es sich um eine derartige Basisvoraussetzung handelt. Dies soll hier wenigstens bei den nemo-tenetur-relevanten Regelungen geschehen. Dabei führt die Analyse von § 60 Nr. 2 StPO zu einer besonders eindeutigen Lösung. In der (rechtspraktisch gewiss seltenen) Situation, in der ein gerichtlich verdächtigter Zeuge vereidigt wird und dabei seine selbstschutzmotivierte Falschaussage bekräftigt, widerspricht sie der meist favorisierten Strafbarkeit gemäß § 154 StGB139: Das Verbot in § 60 Nr. 2 StPO hindert das Gericht, von solchen Zeugen, gegen die es einen Tatverdacht hegt, einen Eid abzufordern und/oder entgegenzunehmen140. Umgekehrt besagt dieser Rechtssatz, dass für die verdächtigte Auskunftsperson in dieser Lage kein Recht und schon gar keine Pflicht zur Bekräftigung ihrer Aussage besteht. Sobald der Zeuge dem Gericht suspekt erscheint,

139 Die h.M. befürwortet § 154 I StGB und kumuliert hier lediglich die Strafmilderungen aus § 157 I StGB und § 154 II StGB (vgl. BGHSt 8, 186, 190 f.; 23, 30, 32; NJW 1976, 1461; StV 1988, 427; 2004, 482, 483; Sch/Sch/Lenckner, § 154/17; a.A. Meinecke 1996, 178). Für ein gelegentlich obligatorisches Absehen von Strafe Müller 2000, 124; ders., NStZ 2002, 356, 357; ähnlich Montenbruck, JZ 1995, 976, 984. 140 § 60 Nr. 2 StPO verbietet die Vereidigung („ist abzusehen“) bei Personen, die der Tatbeteiligung usw. „verdächtig (…) sind“. Verdächtig-Sein ist eine subjektive Deutung, die das soziale Umfeld gegenüber der betreffenden Person vornimmt (vgl. Schulz 2001, 273 ff.), wobei es im vorliegenden Zusammenhang auf die entsprechende richterliche Interpretation ankommt (zum erforderlichen Grad der gerichtlichen Verdachtsvermutung vgl. Meyer-Goßner, § 60/23 f.; Eisenberg 2002, Rn 1164; zu ihren Inhalten Delventhal 1990, 74 ff.; Haas 2003, 13 ff.). Derjenige Richter, der keinen solchen zeugengerichteten Verdacht geschöpft hat, ist nicht Adressat des Verbots in § 60 Nr. 2 StPO. Wegen eines Tatverdachts von der Vereidigung abzusehen, wäre ihm unmöglich (vgl. auch Montenbruck, JZ 1985, 976, 979 f.). Der unerkannt verdächtige Zeuge, der in seiner reflexiven Geheimhaltung erfolgreich ist und gar nicht erst den Eindruck aufkommen lässt, er verfüge über ein verfängliches Geheimnis, zählt nicht zum Normbereich von § 60 Nr. 2 StPO. Wird von ihm die Bekräftigung seiner Aussage verlangt, ist das also keine Verletzung dieser prozessualen Norm. Seine explizit-primäre Pflicht zum wahren Eid (§ 59 StPO) besteht vielmehr fort, sodass es mit der Erstreckung von § 154 StGB auf diese Fälle nicht zu einer überschießenden implizitprimären Norm kommt. Für die Bestrafung des Meineids muss allerdings wie jede andere Tatbestandsvoraussetzung nachgewiesen werden, dass der Richter tatsächlich keinen Verdacht i.S. § 60 Nr. 2 StPO hatte. Wenn die h.M. sodann eine Strafmilderung gemäß § 154 II StGB vornehmen will (bei unverschuldeter Nichtbeachtung von § 60 Nr. 2 StPO etwa BGHSt 23, 30, 32; 27, 74, 75; NJW 1976, 1461; StV 2004, 482, 483; Sch/Sch/Lenckner, Vor §§ 153 ff./24, und ebenso bei verschuldeter Verdachtsverkennung etwa BGHSt 8, 186, 190 f.; StV 1995, 249), so ist dagegen nichts einzuwenden. Ein „minder schwerer Fall“ liegt hier keineswegs fern. Allerdings folgt er nicht aus der Strafrechtsbindung an das Prozessrecht.

11. Kap.: Prozessrechtsbindungen

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hat das Prozessrecht an ihn keine eidesbezogenen Erwartungen mehr. Wenn er sein falsches Zeugnis gleichwohl beschwört, verstößt das also gegen keine explizit-primäre Wahrbeeidungsnorm (weil eine solche nirgends vorfindlich ist141). Stünde dieses Verhalten nach § 154 I StGB unter Strafe, brächte das Strafrecht ein unzulässig überschießendes Verbot der Falschaussagenbekräftigung hervor142. Eine vergleichbare Konstellation kommt dadurch zustande, dass die Parteigänger der h.M. den verdächtigen Zeugen auch dann nach § 153 StGB bestrafen, wenn er vor seiner geheimhaltungsbemühten Prozesslüge nicht auf sein Auskunftsverweigerungsrecht hingewiesen wurde. Dass ihm wegen des gerichtlichen Versäumnisses nur eine Strafmilderung zukommen soll143, ist mit dem Fragmentwahrungskonzept jedoch nicht zu vereinbaren. Den Schlüssel hierfür bietet § 55 StPO. In Ausgestaltung der nemo-tenetur-Grundrechte ist nach § 55 I StPO die Pflicht, ein wahres Zeugnis abzulegen, unter bestimmten Umständen ausgesetzt. Dies senkt das Niveau an äußerlicher Verhaltenslenkung und baut – soweit die Bedingungen des fakultativen Schweigens situativ vorliegen – einen Normvorbehalt ein, der einer autonomen Festlegung des Zeugen unterliegt: Wahrhaftig äußern muss er sich nur, falls er sich überhaupt zur Mitteilsamkeit entschließt. Freilich ist ihm, so vermutet das Gesetz (§ 55 II StPO), die Wahrnehmung dieser Entscheidungsmacht realiter erschwert. Für seine Aussagebereitschaft und für seine Wahrheitsverpflichtung entscheide sich der Zeuge allein dann im Zustand hinreichender Kompetenz, wenn er über seine Handlungsalternativen aufgeklärt wurde, da er sich ansonsten in einem subjektiven Entschlie-

141 Denkbar wäre allenfalls, dass der rechtlich ungeschulte Zeuge von einem solchen Verbot irrig ausgeht. Womöglich weiß er nicht, dass für ihn als verdächtigen Zeugen keine Beeidungspflicht besteht und dass er in Wahrheit gar nicht schwören muss oder irgendetwas beschwören kann. Aufgrund seiner Rechtsunkenntnis befindet er sich dann in der irrigen Annahme, in der strafbewehrten Pflicht zu stehen. Bei einer Verletzung dieser vermeintlichen Pflicht handelt es sich um ein strafloses Wahndelikt (zur einschlägigen Fallgruppe Sch/Sch/Eser, § 22/82 ff.). 142

Die juristischen Sprachdaten geben keinen Hinweis, aus dem sich ablesen ließe, dass die prozessuale Regelung nicht abschließend sein soll oder dass sie der Gesetzgeber in § 154 I StGB korrigieren wollte. Insofern muss § 154 I StGB die Freistellung in § 60 Nr. 2 StPO respektieren. Aufgehoben ist in Verdachtssituationen allerdings nur die Pflicht zum wahren Eid. Ob der verdächtige Zeuge einer Pflicht zur wahren Aussage unterliegt und sich so wenigstens nach § 153 StGB strafbar gemacht hat, ist damit nicht vorentschieden (dazu sogleich). 143

Vgl. BGHSt 8, 186, 190 f.; StV 2004, 482, 483; OLG Karlsruhe StV 2003, 505; Rengier 2005b, § 49/36. Die Strafmilderung ist gegebenenfalls kumulativ zu § 157 StGB zu gewähren (BGH NStZ 1984, 134; StV 1995, 249). Sie entfällt indes, wenn der Zeuge auch bei einer Belehrung die verdunkelnde Lüge dem Schweigen vorgezogen hätte (BGH JR 1981, 248). Kritisch zum Ganzen Vormbaum 1987, 269; Meinecke 1996, 174; für ein obligatorisches Strafabsehen nach § 157 StGB votiert Müller 2000, 120 f.

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

ßungsfeld bewege, in dem ein vermeintlicher Zeugniszwang herrscht und sich auch auf das selbstbelastende Datum erstreckt144. Empirisch gesehen mag all das reichlich fiktiv erscheinen, doch für die Rechtsgewinnung fungiert diese Typisierung als eine verbindliche Normbereichsvermutung, die den hohen Stand von § 55 II StPO fundiert: Wenn das Gesetz dem verdächtigen Zeugen die Befugnis gibt, selbst darüber zu befinden, ob er sich der Wahrheitspflicht aussetzt, zugleich aber seine Entscheidungssituation als irrtumsbedroht identifiziert und deshalb fürsorglich einen richterlichen Hinweis vorsieht, so kann diese Vorkehrung nicht als nebensächliche Formalie verstanden werden. Dem Prozessrecht würde ein gründlicher Widerspruch untergeschoben, wollte man die Aussage des unbelehrten Zeugen an die gleichen Pflichten binden wie die Ausführungen seines instruierten Pendants. Wäre dies richtig, dürfte sich der Richter des Zeugen (der die Wahrheit schuldet) beliebig versichern – er könnte seiner Belehrungspflicht nachkommen und es genauso gut auch bleiben lassen. Ob sich der Zeuge dem Wahrheitszwang wirklich autonom unterwirft, erschiene zweitrangig, obwohl das Gesetz durch seine Vorsorge zeigt, dass dies belangvoll ist. Die ihm angetragene Schutzfunktion nimmt § 55 II StPO erst in einer Auslegung wahr, bei der die selbstbestimmte Auskunftsbereitschaft, mit der die Wahrpflicht des Zeugen auflebt, nur bei einem vorherigen Richterhinweis vorliegt145. Ohne diese Amtsinformation gelangt danach kein prozessuales Wahrheitsgebot zur Entstehung, denn die faktische Entscheidung des Zeugen, sich äußern zu wollen, gilt als unfrei und löst keine Verbindlichkeiten aus. Für das Strafrecht ist damit das Eichmaß gefunden: Während es für den unbelehrten Zeugen an einem prozessrechtlichen Lügeverbot mangelt, weil er trotz seiner Aussagewilligkeit eine derartige Verfahrenspflicht nicht wirksam initiiert, würde mit der Bestrafung einer hier abgelegten Falschaussage ein solches Verbot straftatbestandlich ins Leben gerufen146. Deshalb muss sich § 153 StGB durch eine fragmentwahrende Auslegung aus diesem Bereich zurückziehen.

144

Vgl. auch Müller 2000, 120 sowie oben II.5. in Kap. 1 zu § 136 I 2 StPO.

145

Entschließt sich der Zeuge zur Aussage und unterwirft er sich so der Wahrheitspflicht, wählt er dann aber statt der Lüge die wahre Selbstbelastung, ist dieser Selbstmitteilungsentschluss ebenfalls unfrei. Kompensiert wird dies durch das Verbot, die betreffenden Angaben gegen den Zeugen ins Feld zu führen (oben Fn 177 in Kap. 1). 146 Richtigerweise muss der Zeuge – gegen die h.M. (zum Streit oben Fn 178 in Kap. 1) – zu Beginn jeder Vernehmung gemäß § 55 II StPO belehrt werden. So ist sichergestellt, dass nur informierte Zeugen sich selbst belasten. Ein echtes Bedürfnis, das mit diesem Schutzanliegen kollidiert und es rechtfertigen könnte, den Richterhinweis auf den Verdachtsanlass hinauszuschieben, ist nicht ersichtlich. Ist aber der wahrheitspflichtbegründende Richterhinweis von der tatsächlichen richterlichen Verdachtsschöpfung unabhängig, stellen sich – anders als bei § 60 Nr. 2 StPO (soeben Fn 140) – keine Probleme, wenn das Gericht die Zeugenverdächtigkeit verkennt.

11. Kap.: Prozessrechtsbindungen

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III. Fazit Wirkliche (effektive) Selbstbelastungsfreiheiten herrschen nur in den Grenzen der zum Gesetz gewordenen Geheimhaltungsschranken. Deren Verlauf ist überwiegend ein Produkt wahrgenommener subkonstitutioneller Regelungsspielräume. Darin drückt sich eine Ausgestaltungsfunktion aus, die das Strafrecht mit den anderen nemo-tenetur-begrenzenden Rechtsgebieten teilt. Hierbei muss zwischen den beteiligten Regelungsmaterien freilich Übereinstimmung herrschen – nicht im Sinne einer einheitlichen Rechtsordnung, sondern einem funktionalen Normgefüge gemäß. Damit ist eine sehr spezielle Abstimmung gemeint: Unterhalb der Verfassungsebene besteht die (widerlegliche) Vermutung, dass sich das (selbstbelastungsrelevante) Strafgesetz nur als sekundäre Regelung betätigt und die außerstrafrechtliche Steuerung des geheimniswahrenden Verhaltens lediglich stabilisiert, anstatt zusätzliche Handlungserwartungen (Schranken) beizusteuern. Während dieser Aspekt in Bezirken mit relativ dünner außerstrafrechtlicher Verhaltensorganisation meist gegenstandslos ist, wirkt er sich bei den durchreglementierten Aktionsformen im Kriminalprozess häufiger aus. Hier stellt die fragmentwahrende Auslegung sicher, dass sich das Strafrecht auf seinen spezifisch sekundären Anteil an der nemo-tenetur-Fortschreibung beschränkt, dass es sich also nicht mit seinen eigenen Steuerungsansprüchen in die strafverfahrensrechtliche nemo-tenetur-Ausformung einmischt. Anlass, die prozessrechtliche Befugnis- und Pflichtenstruktur auf diese Weise von einer strafrechtlichen Zusatznormierung frei zu halten, besteht namentlich beim Schweigen und seinen Äquivalenten, bei der Beweisantragstellung und der prozessordnungswidrig zustande gekommenen Falschaussage sowie teilweise auch bei der advokatorischen Unterstützung. In jenen Bereichen verhindert eine restriktive Tatbestandsdeutung, dass das Strafgesetz das Geheimhaltungsgebaren zusätzlich erschwert und die strafprozessuale Festlegung entstellt. Gemessen am Gesamtgefüge des selbstbezichtigungsrelevanten Strafrechts nimmt sich dieser Rückzug des strafrechtlichen Eingriffs zwar nur als punktuelle Präzisierung aus – doch immerhin liegt auch darin ein Gewinn an definitiver (Selbstbelastungs-)Freiheit.

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

12. Kapitel

Praktische Konkordanz im Selbstbelastungs-Strafrecht Das abschließende Kapitel kehrt zurück zu der vertikalen Beziehung zwischen den nemo-tenetur-Grundrechten und dem Strafrecht. Das dort vorherrschende Einschränkungs- und Eingriffsverhältnis unterliegt einigen verfassungsrechtlichen Anforderungen. Kapitel 10 hatte mit deren Prüfung begonnen, ohne sie vollends abzuschließen. Die Untersuchung war bis zu dem Punkt vorgedrungen, an dem es gilt, praktische Konkordanz zwischen nemo tenetur und den jeweiligen strafgesetzlichen Schutzzielen herzustellen. Da eine solche Aufgabe nur unter Einbeziehung einfachrechtlicher Instrumente lösbar ist, erschien es sachgerecht, sie einem eigenen, nämlich dem jetzt anstehenden Kapitel vorzubehalten. Im Anschluss wird deshalb versucht, vorwiegend auf strafrechtsdogmatische Weise – genauer: durch Auslegung der nemo-tenetur-relevanten Strafnormen oder durch Umgestaltungen in deren Umfeld – einen Ausgleich zwischen Selbstbelastungsfreiheiten und kollidierenden Interessen herbeizuführen. So gesehen sind die folgenden Bemühungen einem spezifischen Auslegungsziel verpflichtet: Das Strafrecht soll zu einem Zustand hin interpretiert werden, in dem es Geheimhaltungs- und gegenläufige Schutzinteressen austariert. Ein Gelingen der Normkonkretisierung wird folglich daran gemessen, ob und wie sie beide Seiten – also nemo tenetur und das betreffende Schutzgut – möglichst optimal gelten lässt1. Dieses Erfolgskriterium ist der Leitfaden, an dem entlang sich die anschließenden Überlegungen bewegen2. Freilich kann das angemeldete Konkordanz-Ziel nicht irgendwie erarbeitet werden, sondern nur mit den Mitteln regulärer Rechtsmethodik3. Die hier gesuchte Lösung muss sich also durch einen spezifischen Effekt (praktische Konkordanz) auszeichnen und zugleich methodisch begründbar (d.h. einer Normtextgrundlage zurechenbar) sein. Durch diese Anforderungen erklärt sich die Abfolge des weiteren Vorgehens: Der erste Schritt trifft eine Vorauswahl der tauglichen Institute. Er sichtet die Riege

1 Dieses Vorhaben konkretisiert den Topos einer an Grundrechten aller Beteiligten orientierten Strafnormauslegung (zu diesem systematisch-teleogischen Aspekt oben II.2.b)aa) in Kap. 3 und II.1.a) in Kap. 4). 2 M.a.W.: Das folgende Kapitel fühlt sich allein dem Konkordanzziel und der Suche nach entsprechenden Verträglichkeitslösungen verpflichtet. Es verfolgt also ein hochgradige „Ergebnisorientierung“ und thematisiert die fraglichen Strafnormen daher nur hinsichtlich ihrer nemo-teneturSchnittstellen. 3 Vgl. auch Müller/Christensen 2004, Rn 392: Praktische Konkordanz bietet eine „formale Zielbestimmung“, doch muss die fragliche Lösung auch „normativ abstützbar, methodisch belegbar sein“. Die an den Vorgaben der Strukturierenden Rechtsmethodik orientierte Strafrechtsdogmatik ist das Instrument, um praktische Konkordanz zu erzeugen.

12. Kap.: Praktische Konkordanz

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denkbarer strafrechtsdogmatischer Lösungsmöglichkeiten und wählt diejenigen Konzepte aus, die für die Konkordanzherstellung überhaupt zielführend sind. Damit ist aber lediglich über ihre abstrakte Eignung entschieden. Um konkret verwendbar zu sein, müssen die verschiedenen Modelle auch den Filter der methodischen Statthaftigkeit passieren. Deshalb werden sie im zweiten Abschnitt daraufhin befragt, ob sich die von ihnen erwartete Ausgleichswirkung auf methodisch korrektem Wege hervorbringen lässt. Nur zwischen jenen Lösungsvarianten, die beiden Kriterien entsprechen, muss man sich schließlich entscheiden. Das geschieht am besten dadurch, dass man sie nach der Qualität ihrer Ausgleichswirkung staffelt4.

I. Vorauswahl der Konkordanzmodelle Das Spektrum denkbarer Konkordanzinstitute muss hier nicht erfunden werden. Wenigstens in Ausschnitten wird es mit Blick auf einzelne verfängliche Strafnormen hin und wieder angesprochen, mitunter gar näher diskutiert5. Das geschieht jedoch weder fall-/normübergreifend noch systematisch. Die vorhandenen Vorschläge sind deswegen erst einmal zusammenzustellen, in eine Ordnungsstruktur einzusortieren und teilweise noch zu ergänzen. Dafür ist es nützlich, sich darauf zu besinnen, dass nemo tenetur neben der Informationserhebungssituation (Produktionskontext) auch eine verwendungskontextuale Komponente aufweist, nämlich die drohende strafrechtliche Verwertung der Information gegen den Informationsgeber (oben VII.1. in Kap. 1). Anhand dieser beiden Elemente lässt sich das Spannungsverhältnis abbilden, das durch eine Selbstbelastungs-Strafnorm zwischen verschiedenen Gütern entsteht. Gleichzeitig ergibt sich daraus ein klares System an Problemlösungsmöglichkeiten. Die vorstellbaren Konkordanzvarianten haben darin allesamt einen Standort, der die Grundentscheidungen sichtbar macht, die mit der Wahl des einen oder anderen Konzeptes verbunden sind (vgl. Abbildung 4): Um im Bereich des Produktionskontextes, der durch die Strafnorm konstituiert wird, zu Lösungen zu gelangen, kommen vor allem Konstruktionen der materiell-strafrechtlichen Dogmatik in Betracht. Praktische Konkordanz versprechen dabei v.a. solche Schritte, die die strafbewehrten „Enthüllungspflichten“ des nemo-tenetur-Trägers reduzieren. Im Verwendungskontext kann man hingegen nur Maßnahmen ergreifen, die jenseits der pflichtbegründenden Vorschrift, nämlich bei den wissensverarbeitenden Anschlussoperationen des 4 Die dabei produzierten Überlegungen beziehen sich allein auf den Güterkonflikt, der durch strafrechtliche nemo-tenetur-Eingriffe entsteht. Praktische Konkordanzen zur Bewältigung außerstrafrechtlicher (z.B. strafprozessrechtlicher) Selbstbelastungs-Normen bleiben außer Betracht. 5 Vorwiegend prozessuale Modelle bei Wolff 1997, 135 ff.; Kölbel/Morlok, ZRP 2000, 217, 220 ff.; Rogall 2003, 471; Kerbein 2004, 163 ff.; materiell-rechtliche Varianten bei Deutscher 1995, 166 ff.; Zimmermann 2001, 166 ff.

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

Rechtssystems ansetzen und die dort mit materiell-rechtlichen oder prozessualen Mitteln den Selbstbelastungseffekt beseitigen. Jene Lösungskandidaten stellen das Geheimhaltungsinteresse ausschließlich zu Lasten des Vortatverfolgungsinteresses zufrieden. Dagegen gehen die Zugeständnisse, die man nemo tenetur im Produktionskontext macht, auf Kosten des dort geschützten Drittrechtsgutes. Allerdings ist dies ein ungleich geradlinigeres Unterfangen, das sich ohne Umschweife in die eigentlich kontroverse Güterrelation einmischt und das Entstehen selbstbelastender Daten gleichsam an der Wurzel packt. In praktische Konkordanz zu bringende Güterrelation

Geheimhaltungsinteresse

__________________________________________

Schutzgut Dritter

durch Strafnorm erzeugter Produktionskontext Verwendungskontext (Selbstbelastungswirkung)

Förderung der Strafverfolgung (an Abwägung unbeteiligt) Abbildung 4: Modell des Konkordanzherstellungsproblems

In eine Balance zu bringen sind, dies sei mit der Grafik ebenfalls klargestellt, lediglich das jeweils strafrechtlich geschützte Drittgut sowie das individuelle Geheimhaltungsinteresse des nemo-tenetur-Trägers. Dass der strafnormbedingte Geheimnisverlust zugleich auch der Vortataufklärung zugute kommt, gibt nur den Anlass für die Suche nach einer Konkordanzlösung. In den fraglichen Kompromissen muss dieser Belang – d.h. das staatliche Interesse am Selbstbelastungspotenzial der Strafnorm – dagegen nicht berücksichtigt werden. Dass die Durchsetzung des vortatbezogenen staatlichen Strafanspruchs6 hier keine 6 Selbstverständlich ist das „Strafinteresse“ kein Selbstzweck. Es erhält seine Substanz durch die Wirkungen, die man sich von der Vortatbestrafung verspricht. Damit sind insbesondere die gerechte Vergeltung begangenen Unrechts und die präventive Verhinderung neuen Unrechts gemeint (wobei der Schwerpunkt aus hiesiger Sicht auf der Rehabilitierung der verletzten Vortatnorm liegt). „Förderung des Strafinteresses“ ist also ein Kürzel für diese mitgedachten Effekte einer

12. Kap.: Praktische Konkordanz

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eigene ausgleichsbedürftige Größe ist, folgt aus dem oben (I.4.b)cc) in Kap. 10) festgestellten Verfassungsverbot, speziell im Strafverfolgungsinteresse eine verfängliche Mitteilungspflicht einzuführen. Was der Staat nicht positivieren kann, darf er auch nicht auf Umwegen anstreben. Gerade das wäre jedoch der Fall, wollte man die aufklärungsdienliche Begleiterscheinung einer nemo-teneturrelevanten Strafnorm als selbstständigen Konkordanzposten in Anschlag bringen. Durch eine solche Verwendung würde der Selbstbelastungseffekt argumentativ als erwünschter und daher intendierbarer (Neben-)Zweck einkalkuliert7.

1. Lösungen im Produktionskontext a) Suspendierung der strafrechtlichen Verhaltensnorm Wer besonders klar für nemo tenetur eintreten will, wird in den Aussageverweigerungsrechten oder in den Beschuldigtenprivilegien der §§ 153, 258 I StGB ein Vorbild sehen und das jeweils problemursächliche Strafgebot/-verbot bei tatsituativer Selbstbelastungsgefahr aussetzen8. Ein solcher Vorschlag könnte sich einer restriktiven Tatbestandsauslegung bedienen9 und von der strafgesetzlichen Untersagung jene Verhaltensweisen ausnehmen, die für die Geheimhaltung strafrechtlich relevanten Wissens unumgänglich sind10. Als alternative postdeliktisch eingreifenden, nemo-tenetur-relevanten Strafnorm, denen durchaus auch Verfassungsrang zukommen kann (z.B. im Hinblick auf die Realisierung staatlicher Schutzpflichten; vgl. auch Fn 106 in Kap. 10). 7 M.a.W.: Das beschuldigtenbezogene Straf- und Enthüllungsinteresse steht hinter dem Geheimhaltungsinteresse des gleichen Beschuldigten zurück, weil letzteres sonst schleichend zersetzt würde (oben I.4.b)cc) in Kap. 10). Das Strafinteresse ist deshalb kein Regelungszweck, der eine Einschränkung von nemo tenetur rechtfertigen kann. Es kann demzufolge auch nicht in Gestalt einer willkommenen Nebenwirkung einen Abwägungsposten abgeben, der den zugrunde liegenden (hier: strafgesetzlichen) nemo-tenetur-Eingriff legitimiert. I.E. entspricht dies auch der Position, die von der h.M. vertreten wird (vgl. die Nachweise in Fn 107 f. in Kap. 10). 8 Die Normausnahme hätte ihren Grund also nicht im Eingriffswert der Verhaltenserwartung, sondern in der absehbaren Verwertung der dabei anfallenden Beweise (dazu bei § 55 StPO Grünwald 1993, 146 f.). 9 Darauf laufen einige restriktive Deutungen von § 370 AO und die von der h.M. vorgenommene Einschränkung der §§ 138, 145d, 164 StGB hinaus (vgl. Fn 289, 308 und 324 in Kap. 1). Vgl. auch die kennzeichnende (Schul-)Falllösung von Roxin (1997, § 11/114): Erleidet Polizist P bei der Nacheile einen tödlichen Verkehrsunfall, ist dies dem verfolgten Straftäter S nicht im Rahmen von § 222 StGB objektiv zuzurechnen. Einmal habe sich bei P ein typisches Berufsrisiko realisiert und zum anderen sei alles andere ein nemo-tenetur-Eingriff (weil der Unfall durch S nur per Selbstgestellung zu vermeiden war). 10 Bei der Ausgestaltung dieses Modells könnte man durchaus Fantasie walten lassen. Denkbar wäre es, das situative Privileg seines Schädigers bei manchen Delikten davon abhängen zu lassen, dass sich der Normadressat wie bei § 153 StGB i.V.m. §§ 55, 56 StPO auf die personale Sondersituation (Selbstbelastungsgefahr) beruft. Der tatbetroffene Dritte würde hierdurch ins Bild gesetzt

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Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

Rechtstechnik böte sich ein Rechtfertigungsgrund an, der die straftatbestandsmäßige Abwendung der sonst besiegelten Selbstbezichtigung erlaubt. Außerhalb der Sonderfälle, in denen § 193 StGB eingreift oder eine Notwehrbefugnis besteht11, scheint dafür vornehmlich § 34 StGB bereitzustehen. Freilich müsste sich das Geheimhaltungsinteresse dann in die anerkannten Schutzgüter des § 34 S. 1 StGB einreihen, und es müsste die jeweils beeinträchtigte Rechtsposition wesentlich überwiegen. Hiergegen soll zu Buche schlagen, dass der Staat die Strafverhängung, die den für nemo tenetur charakteristischen Verweisungshorizont ausmacht, im Rahmen der Deliktsverfolgung ausdrücklich will. Das Informationszurückhaltungsinteresse sei also, da es auf Abwehr dieser rechtmäßigen Sanktion zielt, nicht schutzwürdig. Es gebe kein notstandsfähiges Rechtsgut ab; zumindest müsse es in der Güterabwägung unterliegen12. Unterschlagen wird dabei jedoch – abgesehen von den Unstimmigkeiten beim unschuldig Beschuldigten – die Eigenwertigkeit des Strafherstellungsprozesses. Die Rechtsordnung hat nemo tenetur in sich eingebaut. Obwohl es ihr darum zu tun ist, eine rechtmäßige Sanktion herzustellen, wird von ihr „unterwegs“ also auch der Geheimhaltungsbelang positiv anerkannt. Deshalb kann, wo nemo-tenetur-Belange verteidigt werden, eine Notstandslage durchaus gegeben sein. Allerdings müsste der Geheimhaltungsakt nach § 34 S. 2 StGB auch angemessen sein. Für diese Frage ist es aufschlussreich, dass die staatliche Verbrechensbekämpfung in einem formalisierten Rechtsgang erfolgt. Das kanalisiert nicht nur die staatsseitige Nachforschung, sondern auch die Vorwurfsabwehr. Diese muss primär im Verfahren vonstatten gehen. Durch die dort bereitgestellten Verteidigungsrechte zeigt der Staat an, dass er keine Sondererlaubnis vorsieht, zur Strafverhinderung alles Erforderliche tun und notfalls auch andere Personen beeinträchtigen zu dürfen13.

(und sein Erlaubnisumstandsirrtum verhindert). Auch an die vorübergehende Suspendierung der strafrechtlichen Pflicht bis zum Wegfall ihrer Verfänglichkeit könnte gedacht werden (zu diesem Modell jüngst Böse 2005, 455; Dettmers 2005, 103 ff.). Im Zeitpunkt der Selbstbelastungsrelevanz steht diese Lösung indes einer endgültigen Tatbestandsausnahme vollkommen gleich. 11 Das ist schon deshalb selten, weil es hierfür eines angriffswertigen Aktes bedarf, durch den ein Dritter den nemo-tenetur-Träger rechtswidrig an der Tatwissensgeheimhaltung hindert. Gelegentlich kommt dies aber vor, etwa bei einer unzulässigen Geständnisnötigung (sodass dann alles von den übrigen Notwehrvoraussetzungen abhängt). Die Schweigegelderpressung kann indessen nicht hierunter fallen, weil der bei ihr stattfindende Angriff (Wissenspreisgabe durch einen Dritten) nicht in den nemo-tenetur-Bereich fällt (vgl. Fn 9 in Kap. 8 und bei Fn 40 ff. in Kap. 9; zur Sachlage vgl. auch Kroß 2004, 98; Seesko 2005, 90 – allerdings mit abweichenden Erwägungen). 12 Zur ersten Variante RGSt 54, 338, 342; Förster 1971, 43 ff.; Joerden, Jura 1990, 633, 637; Haas 2004, 242; wohl auch Vormbaum 1987, 272 f.; für die zweite Version Langer, JZ 1987, 804, 811; Deutscher 1995, 167 f.; vgl. auch LK/Hirsch, § 34/39, 67; Sch/Sch/Lenckner/Perron, § 34/41. 13

Andernfalls hätte er zwei parallele Systeme legaler Verteidigung eingerichtet: das Prozessrecht und § 34 StGB als generelle Strafabwehrerlaubnis. Ein solches Nebeneinander ist zwar nicht denkunmöglich, aber kontraindiziert (ähnlich SK-StGB/Günther, § 34/52; Jakobs 1991, § 13/36; Maurach/Zipf 1992, § 27/41; Neuheuser 1996, 112 ff.). Zudem würde, wenn es in § 34 StGB einen Verteidigungsnotstand gäbe, dieses allgemeine Verteidigungssystem das speziellere ausspielen. § 34 StGB lieferte dann auch im Prozess eine flächendeckende Rechtsgewährung für das Beschul-

12. Kap.: Praktische Konkordanz

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Diese Überlegung muss die Auslegung von § 34 S. 2 StGB leiten. Deshalb kann nicht angemessen (gerechtfertigt) handeln, wer sich jenseits seiner prozessualen Mittel verteidigt und dabei eine Strafnorm verletzt.

Es bleibt also nur die nemo-tenetur-freundliche Tatbestandsauslegung. Zur Konkordanzherstellung ist eine derartige Verbotsausnahme aber grundsätzlich nicht in der Lage. Statt beiden Parteien ihr Auskommen zu lassen, schlägt sie sich allein auf die Seite des Selbstbezichtigungsschutzes. Dem als Rechtsgutinhaber an sich (d.h. gegenüber sonstigen Tätern) abgesicherten Dritten wird in der Konfrontation mit dem nemo-tenetur-Träger die vollständige Schutzlosstellung zugemutet und damit nichts anderes als der Güterverlust abverlangt. Anstelle eines Interessenausgleichs ordnet die Verbotsausnahme den einen Belang der anderen Position unter, obwohl doch eine derartige Einseitigkeit gerade vermieden werden soll14. Neben diesem fundamentalen Mangel fällt die defizitäre Zielgenauigkeit dieser Konfliktlösungsvariante, bei der sich die Privilegierung in einer Streuwirkung auch auf die gar nicht sanktionsbedrohten (und daher auch nicht privilegierungsbedürftigen) Teilnehmer erstreckt15, kaum noch ins Gewicht. Eine Verbotssuspendierung zu implementieren, wird hier folglich nicht versucht.

b) Sekundärrechtliche Konzession Können Selbstbelastungsrisiken keine verhaltensnormative Privilegierung des Anschlussverhaltens begründen, so legt die Rechtsordnung aber doch verschiedentlich ein sekundärrechtliches Zugeständnis nahe. Die drittschädigende Geheimhaltung bleibt dabei strafrechtlich untersagt, nur kommt für den nemotenetur-Träger, wenn er das Verbot missachtet, das Strafvermeidungsmotiv bei der Sanktionsverhängung in Anschlag. Vom Gesetz wird dieses Muster umge-

digtenverhalten. Der Staat hätte sich die Einräumung einzelner verfahrensrechtlicher Befugnisse sparen können (zumal deren Grenzen von § 34 StGB unterlaufen würden). 14 Dagegen ficht es die fragmentwahrende Auslegung (Kap. 11) nicht an, dass sie solche einseitigen Lösungen generiert. Sie sind bei der objektiven Koordination von Pflichtenlagen nicht zu vermeiden, wohl aber bei der abgestimmten Privilegierung subjektiver Grundrechtspositionen. 15 Dazu, dass durch das Privileg bei der Haupttat auch die Strafbarkeit desjenigen Teilnehmers entfällt, bei dem dies gar nicht durch eine Grundrechtseingriffslage veranlasst ist, etwa H. Schneider 1991, 155, 299; Berthold 1993, 101 ff.; Seel 1999, 36 f.; Torka 2000, 159, 164; Zimmermann 2001, 170; Dettmers 2005, 79. Diese Besserstellung ist weder gegenüber dem Opfer begründbar noch gegenüber dem strafbar bleibenden Teilnehmer, dem kein privilegierter Haupttäter zugute kommt. Solche Erwägungen haben dazu geführt, bei § 258 StGB einen tatbestandsspezifischen Täterbegriff einzuführen, der die ungerechtfertigte Bevorteilung des nicht privilegierten Teilnehmers reduzieren soll (dazu Fn 39 in Kap. 9).

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setzt in Gestalt des Sanktionsmilderungsermessen16 und der vollständigen Sanktionslosigkeit (insoweit sowohl als harte17 als auch als weiche, ermessensabhängige Lösung, vgl. § 157 I StGB). Freilich zieht sich das Vorhaben, eine dieser Vorlagen fortzuschreiben und ihr einen allgemeinen (ungeschriebenen) Strafausschließungs-, Strafabsehensoder Strafmilderungsgrund nachzubilden18, von vornherein einen entschiedenen Widerspruch zu: Eingedenk der Uneinheitlichkeit, mit der das StGB das Strafvermeidungsmotiv berücksichtigt (oben Kap. 9), lassen sich seine Sanktionsprivilegien höchstens von Fall zu Fall auf strukturäquivalent gelagerte Einzelkonstellationen übertragen19. Allerdings muss hier nicht einmal solchen singulären Analogisierungsmöglichkeiten nachgegangen werden. Gewiss könnte man meinen, bei diesem Modell werde der Selbstbelastungsfreiheit lediglich ein Strafrabatt zugegeben und somit ein Kompromiss mit dem weiterhin verbotsgeschützten Gegeninteresse erzielt. Das wäre indes unzureichend aus einer rein strafrechtlichen Retrospektive gedacht; man hätte nur ein Auge für den Bruch der Nachtatnorm und das Verständnis, das diese Fehlleistung verdient. Für eine Gestaltung des Güterkonflikts im Sinne des hier intendierten beidseitigen Ausgleich braucht es aber eine normative Steuerungsleistung im Nachtatzeitpunkt (also vor Begehung des Verdeckungsaktes20), durch die der fragliche Akteur auf 16

§ 157 I StGB. Dessen Generalisierung wird verbreitet gefordert (dazu Sch/Sch/Stree, § 258/34 und Fn 305 in Kap. 1). Nahe kommt dem auch der Vorschlag von Frisch (1993, 14, 29, 33 f.), der in rechtfertigungs- und schuldausschließungsähnlichen Sachlagen (denen man die Selbstbegünstigungsfälle zuordnen könnte) die Strafe systematisch mildern will (vgl. auch Wolter 1996, 7, 31 f.; zur Strafmilderung bei eingeschränkter Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens ebenfalls Hörnle 1999, 320 ff.). 17

§§ 258 V, 261 IX 2 StGB. Für eine Übertragung auf § 257 StGB z.B. Seel 1999, 91 ff. m.w.N.; ebenso bei § 145d II Nr. 1 StGB v.a. H. Schneider 1991, 277 ff.; vgl. auch Berthold 1993, 106 ff., der de lege ferenda einen Strafausschließungsgrund bei der durch Geheimhaltung motivierten Steuerhinterziehung vorschlägt. Die h.M. lehnt dergleichen ab (vgl. Sch/Sch/Stree, § 258/34, 37; MüKo-StGB/Cramer, § 258/54; Jescheck/Weigend 1996, § 47 II 3). 18 Zu denken wäre hier ebenfalls an das Vollstreckungsverbot in § 393 I 2 AO, das die steuerliche Mitteilungspflicht faktisch suspendiert (oben IV.2.d) in Kap. 1). Wollte man diese Regelung bei verfänglichen Strafrechtsverpflichtungen kopieren, würde allein deren polizeirechtliche Durchsetzung beschränkt. Strafrechtsdogmatisch ist etwas Derartiges nicht zu konstruieren. 19 Nicht zufällig differenziert Sch/Sch/Stree, § 46/13, zwischen Delikten gegen die Rechtspflege, bei denen man die drohende Strafverfolgung strafmildernd berücksichtigen könne, und (schweren) Delikten gegen unbeteiligte Dritte, bei denen sich die Strafvermeidungsabsicht straferschwerend auswirke. 20

Diese Einsicht dringt zunehmend durch. Die „Trennung des Erlaubten vom (bei Vermeidung von Strafe aus dem jeweiligen Delikt) Verbotenen muss gerade in einem Strafrecht, das nicht allein auf Repression angelegt ist, sondern immer auch dem präventiven Rechtsgüterschutz dienen will und soll, ein zentrales Anliegen bilden, das nicht erst dann Berücksichtigung erheischt, wenn gleichsam ‚das Kind in den Brunnen gefallen ist‘. Der Rechtsgenosse muss vielmehr vor der Vornahme bestimmter Verhaltensweisen feststellen können, ob er mit Strafe aus dem jeweiligen Delikt

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dasjenige Verhalten hingelenkt wird, das für die Gütergesamtheit am zuträglichsten ist21. Das Signal, das die sekundärrechtliche Konzession im postdeliktischen Handlungsmoment an den nemo-tenetur-Träger sendet, steht daran gemessen im Zwielicht: Sicher hält das Recht den Geheimhaltungsakt auch weiterhin unter strafnormativen Verschluss, sodass sich der Betreffende auf diesem Weg eine zusätzliche Straflast auflädt. Dass diese Bürde ein geringeres Gewicht als im Normalfall hat, spricht zugleich aber auch eine andere Sprache. Der Staat formuliert sogar eine recht eindeutige Botschaft, wenn er für das Dilemma, entweder das dunkle Geheimnis zu verlieren oder einen Dritten verbotswidrig zu beeinträchtigen, eigens einen Rückbau der Strafbewehrung vorsieht: Auf die Verlegenheit, sich zwischen einer individuell verhängnisvollen und einer verbotsbelegten Verhaltensmöglichkeit entscheiden zu müssen, wirkt das Sanktionsprivileg insoweit ein, als es die Unattraktivität der untersagten Option (Geheimniswahrung) senkt. Der einzige Lenkungsreiz, der davon ausgeht, weist in Richtung der Drittschädigung, wenn auch etwas besser verbrämt als bei der Verbotsausnahme22.

c) Insbesondere: Der Zumutbarkeitsvorbehalt Vornehmlich im unterlassensdeliktischen Bereich ist es geradezu üblich geworden, nemo tenetur und die kollidierenden Strafrechtsgüter durch das Institut der Unzumutbarkeit zu versöhnen. Das kann nicht verwundern. Diese Kategorie ist von Hause aus autorisiert, eine an sich unbedenkliche Anordnung einer eigenständigen individualisierenden Erträglichkeitskontrolle zu unterziehen. Folglich könnte man auch die Einhaltung einer Pflicht zum drittschützenden Eingreifen (und womöglich sogar das pflichtgemäße Unterlassen einer tätigen Drittschädigung) wegen ihrer unvermeidbaren Selbstbelastungseffekte für untragbar halten und ihre Missachtung straffrei lassen. Durch den sich abzeichnenden Verwendungskontext erhielte der Produktionskontext dann sozusagen den Charakter eines unzumutbaren Härtefalls. zu rechnen hat (…)“ (Freund 1992, 10, Herv. i.O.). Die Notwendigkeit, bei der Strafnormauslegung eine ex ante-Perspektive einzunehmen, wird v.a. in den Diskussionen zur objektiven Zurechnung immer wieder vermerkt (zusammenfassend Hübner 2004, 177 ff., 195). 21

Die Strafaufhebungs- und Strafmilderungslösung scheitert eigentlich schon an diesem Zeitaspekt. Als nachträgliche Beurteilung normwidrigen Verhaltens kommen sie zur Verhaltenslenkung zu spät, sofern man nicht unterstellt, dass der Normadressat sie antizipiert und einkalkuliert. 22 Dem Normadressaten wird angezeigt, man wolle auf seinen Normbruch nachsichtig reagieren. Der deliktische Geheimhaltungsakt werde, wenn er denn entdeckt wird, also gar nicht so kostspielig. Ebenso Zimmermann 2001, 172: Ermutigung, neues Unrecht zu begehen (ähnlich H/H/Sp/Hellmann, § 393 AO/29).

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Es zeigt sich indes schnell, dass dieser Ansatz die von ihm annoncierten Aussichten nicht verwirklicht – jedenfalls in den Augen der hiesigen Konkordanz-Logik. Der Grund dafür liegt in seinen formalen Strukturen, auch wenn über sie noch gar kein vollständiges Einvernehmen herrscht. Unzumutbarkeit führt nach einer ersten Ansicht zur Verminderung rechtlicher Vorgaben, sofern gewichtige Fallumstände dem konkret angesprochenen Subjekt die (ihm an sich mögliche) Normeinhaltung außergewöhnlich erschweren. Die individuelle Untragbarkeit pflichtgemäßen Verhaltens bewirkt danach eine personenbezogene, aber absolute Einschränkung des Normbefehls23. Nach dem Gegenmodell ist diese Unzumutbarkeitsfolge dagegen durch besonders bedeutsame Regelungsziele relativierbar24. Für diese zweite Version steht § 35 StGB. Falls der entschuldigende Notstand die Strafbegründungsschuld nachsichtig widerlegt und Rücksicht nimmt auf die Normeinhaltungserschwernis, die einer existenziellen Notlage innewohnt25, verdankt sich das nämlich stets auch einer „gewissen Proportionalität“ zwischen Rettungs- und Eingriffsgut26. Für die strafgesetzliche Ausgestaltung von nemo tenetur steht diese Frage allerdings dahin. § 35 StGB kommt hierbei schon wegen seiner anderen Voraussetzungen nicht zum Einsatz27: Da das Geheimhaltungsinteresse nicht zum Kreis der in § 35 StGB genannten Erhaltungsgüter zählt, ist der entschuldigende Notstand nur angezeigt, wenn sich der straftatbestandliche Verheimlichungsakt objektiv und subjektiv einer sonst bevorstehenden Freiheitsstrafe auf die mildeste Weise erwehrt. Dass § 35 StGB dies als verzeihlich behandeln würde, beruhte dann aber nicht auf dem Geheimhaltungsinteresse. Das fragliche Verhalten würde vielmehr wegen des drohenden Verlustes der Bewegungsfreiheit geschont28. An dem so geregelten Güterkonflikt wäre nemo tenetur also gar nicht beteiligt.

23

Diese Position wird etwa von Lücke 1973, 41 f., 56 f. repräsentiert.

24

Dazu stellvertretend Albrecht 1995, 59 ff., 131 ff. (a.a.O., 107 ff. auch zu zahlreichen Nachweisen im Streit um eine relative oder absolute Opfergrenze). 25 So RGSt 66, 222, 224 f., 66, 397, 398. Nach h.M. hängt die Berücksichtigungsfähigkeit des subjektiven Härtefalls in § 35 StGB aber davon ab, dass der Notstandsakteur außerdem durch die Bewahrung eines anerkannten Rechtsgutes den Erfolgswert seines Verletzungsaktes (und vermittels seiner Schutzintention überdies den Handlungsunwert) mindert (vgl. z.B. LK/Hirsch, § 35/4; SK-StGB/Rudolphi, § 35/3 ff.; skeptisch Moos, ZStW 116, 2004, 891, 911 ff.; Überblick über die Notstands-Theorien, die bisweilen auch die Zumutbarkeitsaspekte gänzlich durch Strafzweckerwägungen substituieren, bei NK/Paeffgen, Vor §§ 32 bis 35/266 ff.; Bernsmann 1989, 174 ff., 401 ff.; zuletzt Wortmann 2002, 52 ff.). 26 Zu diesem Notstandsmerkmal, das man zumeist auf § 35 I 2 StGB stützt, etwa Bernsmann 1989, 132 ff.; Lugert 1991, 108 ff.; Kühl 2002, § 12/53, 87 ff.; Wortmann 2002, 92 ff. 27 28

Anders Franzen/Gast/Joecks 2001, § 393/39.

Nicht selten wird jedoch die Zumutbarkeit eines solchen Freiheitsverlustes durchweg bejaht. Die Gütereinbuße basiere auf einer gesetzlich institutionalisierten Duldungspflicht und sei wegen dieses besonderen Rechtsverhältnisses oder als sonstiger Fall von § 35 I 2 StGB hinzunehmen (etwa Sch/Sch/Lenckner/Perron, § 35/24 ff.; Bernsmann 1989, 126 ff., 428 ff.; Deutscher 1995, 171; Haas 2004, 242). Das ist nur stimmig, soweit das tatbestandliche Strafvermeidungshandeln eine

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Raum für strafbarkeitsbegrenzende Zumutbarkeitserwägungen sieht die h.M. aber ebenso bei § 323c StGB (wo der Normtext dies ausdrücklich anspricht) und bei den unechten Unterlassungsdelikten29. Hier berücksichtigt man seit jeher den Umstand, dass selbstbelastende Nebenfolgen einer Rettungs- oder Hilfeleistungspflicht den Normadressaten leicht überfordern30. Im Sog einer Lehrmeinung, welche die Unzumutbarkeit als übergesetzlichen Entschuldigungsgrund reklamiert31, will man diese Kontrollwertung zuweilen sogar bei Begehungsdelikten vornehmen32. Dabei wird die Zumutbarkeitsfrage aber allenthalben als ein relatives Urteil begriffen, das den eventuellen Härtefall ins Verhältnis zum jeweiligen Regelungszweck setzt33. Weil das aufzugebende Geheimhaltungsinteresse zudem über eine derart schlechte Reputation verfügt, dass diese

Gefahr für das Erhaltensgut abwendet, die von einer bereits aktualisierten prozessualen Inanspruchnahme ausgeht (z.B. bei Flucht aus der Untersuchungshaft gemäß § 121 StGB). Diese Gefahr beruht auf einer Eingriffsduldungspflicht, was der Akteur als zumutbar hinzunehmen hat, denn gegen die drohende Eingriffsfortsetzung stehen prozessuale Rechtsbehelfe bereit. Das Verfahrensreglement wäre desavouiert, könnte die bereits wirksame Duldungspflicht straflos missachtet werden (vgl. Kühl 2002, § 12/77 ff.). Untauglich ist das Argument indes, wenn mit der tatbestandlichen Strafvermeidungsaktion eine Gefahr unterbunden wird, die für die Bewegungsfreiheit von der zukünftig drohenden Freiheitsentziehung ausgeht (ebenso beim Unschuldigen Lugert 1991, 19). Ein besonderes Rechtsverhältnis, nach dem „der zu Recht verfolgte Straftäter den staatlicherseits drohenden Verlust von Freiheit (…) von Rechts wegen dulden muss“ (H. Schneider 1991, 321), besteht hier noch gar nicht. Die Herstellung einer Strafeingriffsduldungspflicht ist erst in Arbeit. Da niemand ihr Zustandekommen vor Urteilserlass als gewiss unterstellen darf, lässt sie sich auch nicht fingieren. Die drohende Freiheitsstrafe bleibt demnach Gefahr i.S.v. § 35 StGB. Eine Notstandsentschuldigung scheitert jedoch an jenen Gründen, die oben (bei Fn 13) gegen § 34 S. 2 StGB in Stellung gebracht wurden (ebenfalls in diese Richtung Vormbaum 1987, 273). 29

Strittig ist im Wesentlichen nur, auf welcher Deliktsebene das Zumutbarkeitsurteil bei den (un-)echten Unterlassungsdelikten siedelt. Die Antwort darauf wird von der Struktur des Zumutbarkeitsurteils nicht präkludiert. Es besteht keine Notwendigkeit, die untragbare Pflicht zu begrenzen (so aber Hruschka 1988, 280 ff.; Lugert 1991, 86 ff.). Der Gesetzgeber kann die erschwerte Normbefolgung genauso gut fordern und allein auf die Strafbewehrung verzichten. Daher findet sich hierzu auch keine „Wesensargumentation“. Man rekurriert vielmehr auf die systematischen Folgen der jeweiligen Zuordnungsvarianten (kennzeichnend Stree 1998; Wortmann 2002, 134 ff., 147 ff.). Die vorliegende Arbeit plädiert im Anschluss an § 35 StGB für die Schuldeinordnung. 30

Dazu m.w.N. oben VI.3. in Kap. 1.

31

Zur Rekonstruktion dieser Lehre Achenbach 1974, 143 ff., 155 ff.; Wortmann 2002, 28 ff.

32

Torka 2000, 171 ff.; in diese Richtung bereits Jahn, StV 1996, 259, 261 f.

33

Vgl. oben bei Fn 24. Im Strafrecht zu dieser Devise stellvertretend Kühl 2002, § 18/141: „Die eigenen billigenswerten Interessen (z.B. an der Freiheit von Strafverfolgung) müssen immer gegen das abgewogen werden, was im Falle der Nichtvornahme der Rettungshandlung zu geschehen droht.“. Ähnlich BVerfGE 96, 68, 98 f.: Bei der Zumutbarkeitsprüfung werde „zwischen der Lage und den Fähigkeiten des Garanten sowie der Nähe und Schwere der Gefahr sowie der Bedeutung des Rechtsguts abgewogen“.

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Abwägungen (fast) allesamt zu seinen Lasten ausgehen, läuft die nemo-teneturgestützte Zumutbarkeitskontrolle dann doch weithin leer34. Diese recht eindimensionale Abwägungspraxis muss für die hiesigen Zwecke ebenso wenig hinterfragt werden35 wie die prinzipiellen Zweifel, die das gesamte Zumutbarkeitsinstitut in Frage stellen36. Die Zumutbarkeitsprüfung hat nämlich nicht das Zeug zum hier gesuchten Konkordanzmodell: Ginge es bei ihr darum, auf einer absoluten Grenze individuell erträglicher Normbefolgungskosten zu bestehen, wäre das jeweilige Drittinteresse arbeitsmethodisch schon von vornherein ausgeblendet37. Ein Ausgleich zwischen den kollidierenden Gütern würde gar nicht gesucht, und er würde auch nicht gefunden, weil dieses Zumutbarkeitsurteil eine Entweder-Oder-Entscheidung trifft und dabei einen der beteiligten Belange negiert. Das ist nicht anders, wenn man die Zumutbarkeitsprüfung nach Art der Einzelfallabwägung betreibt. Zwar ist der Blick dann für beide Interessenseiten wenigstens anfänglich offen, doch am Ende stellt sich der 34 Oben Fn 314 f. in Kap. 1. Auf die Spitze getrieben wird diese Position bei Böse (wistra 2003, 47, 49), der die Unzumutbarkeit über mit Hilfe der Figur der omissio libera in causa ganz ausschließen will, weil der nemo-tenetur-Träger die erschwerte Normeinhaltung selbst zu verantworten habe. 35 Die Einseitigkeit der praktischen Unzumutbarkeitsabwägung beruht darauf, dass die h.M. implizit und Teile des Schrifttums explizit das Geheimhaltungsinteresse ob seines deliktischen Hintergrundes als bemakelt ansehen. Das verträgt sich nicht mit der Unschuldsvermutung (I.4.b)aa) in Kap. 10). Diese lässt eine apriorische Wertminderung nicht zu, darf doch zwischen dem (evident bedeutsamen) Wissenskontrollinteresse des Unschuldigen und dem des berechtigt Verfolgten nicht unterschieden werden. Aus dem gleichen Grund kann man auch den eben ins Spiel gebrachten § 35 StGB nicht durch den schlichten Hinweis abtun, der Notstand sei durch das Vordelikt selbst verursacht (so aber z.B. Joerden, Jura 1990, 633, 638; Lugert 1991, 19 f.; Deutscher 1995, 171; Jahn, StV 1996, 259, 261; Zimmermann 2001, 163). 36 Vgl. zur herrschenden, insofern bei Begehungsdelikten ablehnenden Haltung z.B. LK/Hirsch, Vor § 32/196; MüKo/StGB/Schlehofer, Vor §§ 32 ff./222 f.; Jescheck/Weigend 1996, § 47 II 2. Die Einführung einer großflächigen Zumutbarkeitsprüfung sprengt die Enge von § 35 StGB (der zum Vorbild für eine analogische Ausdehnung schwerlich bestimmt ist; eingehend Wortmann 2002, 104 ff., 162 ff.). Dieses kodifizierte Zumutbarkeitsmodell im Auslegungswege zu korrigieren, ginge nur bei entsprechenden Vorgaben des höherrangigen Rechts an. Wenn es aber zutrifft, dass die Zumutbarkeitswertung einen Ausschnitt aus der Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen markiert (so Albrecht 1995, 229 ff.; Clérico 2001, 223 ff.), wäre dies tatsächlich der Fall (vgl. auch MüKo/StGB/Freund, Vor §§ 13 ff./232: „Eine Verhaltensnorm, die Unzumutbares abverlangt, lässt sich rechtlich nicht legitimieren.“). Das Zumutbarkeitskorrektiv wäre dann ein verfassungsrechtlich gebotenes Strafrechtsinstitut (vage in diese Richtung Wittig, JZ 1969, 546 ff.; ablehnend Schlehofer, a.a.O., Rn 223). 37 So in der Tat Lücke oben Fn 23. Epistemologisch muss es aber bezweifelt werden, dass sich der Härtefallcharakter der persönlichen Normbefolgungssituation kontextunabhängig (ohne Vergleichs- und Referenzobjekte) feststellen lässt. Vermutlich nimmt daher auch das absolute Zumutbarkeitsmodell Abwägungen mit dem jeweiligen Normzweck vor – wenngleich eben versteckt. Dessen ungeachtet ist es auch deshalb abzulehnen, weil es eine Aufopferungsgrenze i.S. eines Kern- und Wesensgehaltes etabliert, die das Verfassungsrecht nicht kennt (oben II.1.c) in Kap. 5 und II.2. in Kap. 8).

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Norminterpret auch hier vollständig auf die Geheimhaltungsseite (falls er die Normbefolgung für unzumutbar hält38) oder auf die des Schutzgutes (bei Annahme von Zumutbarkeit). Insofern belassen es beide Spielarten bei einem unzulänglichen Stufenverhältnis der fraglichen Güter, was lediglich dadurch etwas verdeckt wird, dass sie sich nicht ein für alle Mal auf einer abstrakten Kollisionsebene festlegen, sondern Fall für Fall über die Vorrangigkeit von nemo tenetur oder dem geschützten Tatobjekt flexibel entscheiden.

d) Konfliktmindernde Tatbestandsauslegung Am Vorhaben der allseitigen Interessenoptimierung müssen rigorose Privilegien des Selbstbegünstigungs-Täters scheitern, ganz gleich auf welcher deliktssystematischen Stufe sie eingerichtet werden. Solche Rezepturen kennen keine Kompromisse. Sie liegen gewissermaßen quer zu einem Programm, das alle beteiligten Belange lediglich so weit zurücknimmt, wie es für die eigene Fortgeltung möglich und zum Bestand des Kollisionsgutes unbedingt erforderlich ist. Eine Logik des Ausgleichs verlangt vielmehr nach Instrumenten, die auf der Seite des verkürzten Geheimhaltungsinteresses die besonders gravierenden Freiheitsverluste beseitigen, ohne damit auf der Seite des geschützten Drittrechtsguts mehr als nur marginale Sicherungslücken aufzureisen. Was Not tut, ist eine Strafrechtsdogmatik, die beide Interessen bestehen lässt, indem sie an beiden Positionen geringe Abstriche vornimmt. Ein derartiges Lösungsmodell erhält man, wenn man diese Programmanforderung direkt in eine Maxime der Tatbestandsauslegung übersetzt. Wer dem Strafrecht unter diesem Leitsatz gegenübertritt, bringt die fraglichen Vorschriften in den hier gesuchten Zustand des beidseitigen Ausgleichs: Er stellt geheimhaltungsnotwendige Rechtsverletzungen tatbestandslos, aber nur soweit es sich um geringfügige Übergriffe handelt – er kommt nemo tenetur also entgegen, ohne dem Schutzgut ein übermäßiges Opfer abzuverlangen. Allerdings lässt sich das damit Gemeinte nicht auf einer allgemeinen normgelösten Ebene operationalisieren, ohne dabei die jeweilige Deliktseigenart zu planieren. Notwendig ist vielmehr ein spezifizierendes Herangehen, das sich sensibel für die individuellen Konfliktstrukturen zeigt und die jeweiligen Kompromisslinien innerhalb der normkonkreten Möglichkeiten auslotet. Festgehalten sei vorerst also nur die Grundidee dieses Modells. Ob und wo sich ihm konkrete Umsetzungschancen öffnen, wird sich etwas später zeigen (unten III.). 38 In diesem Fall beseitigt er entweder die drittgutbegünstigende Pflicht (was der oben 1.a) zurückgewiesenen Lösung entspricht) oder – wenn man die Zumutbarkeit der Schuld- und nicht der Unrechtsebene zuordnet – die Sanktionierbarkeit des Pflichtverstoßes (i. S. des oben 1.b) verworfenen Modells).

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2. Lösungen im Verwendungskontext Der nemo-tenetur-Satz handelt von der Geheimhaltung solchen Wissens, das in irgendeinem Stadium einer verfahrensförmigen Sanktionsherstellung (potenziell) instrumentalisierbar ist. Wird vor diesem Informationsverarbeitungshorizont eine Barriere errichtet, verliert das strafrechtsgeprägte Geschehen, in dem die Staatsmacht an das fragliche Wissen gelangt, seine Brisanz. Dafür müsste es ausgeschlossen sein, dass dem nemo-tenetur-Träger jene Informationen, die er unter dem Eindruck des Strafrechts preisgibt, in irgendeiner sanktionsartigen Weise zum Nachteil gereichen. Erreicht wäre dies, wenn es gelänge, das Enthüllte als nichtexistent oder bedeutungslos auszugeben, denn dann würde der Enthüllungsakt für derartige Verwertungsvorgänge gleichsam ungeschehen gemacht. Im Idealfall löste sich das Belastungspotenzial der Daten vollständig auf, sodass der Eingriffsgehalt der datenerhebenden Strafnorm auf den Stand einer selbstbelastungsneutralen Grundrechtsverkürzung sänke. Zwar beeinträchtigt auch eine solche Inanspruchnahme immer noch Verhaltensfreiheiten oder subsidiäre Geheimhaltungsrechte (primär die informationelle Selbstbestimmung), aber sie obwaltet nicht als jener Intensiveingriff, der sich durch den Selbstbezichtigungsgehalt qualifiziert39. Auf dieser Reduzierung des Eingriffswertes beruht die Konkordanz-Eignung verwendungskontextualer Modelle: Indem sie die Strafnorm aufrechterhalten und nur in ihrer Neigung zum Selbstbelastungszwang zügeln, gewährleisten sie Drittgüterschutz, ohne nemo tenetur weiterhin (im ursprünglichen Maße) zu beschädigen. Technisch kann das durch den Ausschluss bzw. die Erschwerung der Wissensverwendung (unten b.) erfolgen oder durch Aufheben/Mindern der strafrechtlichen Wissensrelevanz (sogleich a).

a) Entschärfung des Wissens aa) Durch nachtatliche Normtreue konditionierter Sanktionsverzicht Eine kriminalrechtliche Nutzung der bei einer Strafnormbefolgung anfallenden Erkenntnisse wäre besonders gründlich ausgeschlossen, wenn für das Vor-

39

Oben II.2.a)bb) in Kap. 7; vgl. auch Rogall 2002, 474. Genau genommen kann auch eine solche Informationserhebung die Privatsphäre durchaus verkürzen. Dafür muss es sich um konkret persönlichkeitsrelevante Daten handeln, weil die verwendungskontextuale Blockade verhindert, dass die Mitteilungen diese Qualität bereits durch ihre Strafrechtsrelevanz erhalten. Dass bspw. § 303 StGB die Zerstörung einer fremden Diskette verhindert, auch wenn nur dadurch deren Beschlagnahme und die amtliche Lektüre der darauf gespeicherten Selbstreflexionen verhindert werden kann, ist also kein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht, falls sich der selbstbelastende Textinhalt nicht sanktionsmäßig realisieren kann – es sei denn, die Texte wären auch sonst von einer gehörigen Intimität und offenbarten brisante Lebensumstände.

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delikt, zu dem sie etwas besagen, keine Strafsanktion mehr drohte. In diesem Fall könnte der nemo-tenetur-Träger den postdeliktischen Normerwartungen auch dann Folge leistet, wenn er sich damit zu seinem Vorverhalten offenbart, weil er insofern straffrei ausgeht. Eine solche Entschärfung der Daten an ihre normativ erzwungene Preisgabe zu koppeln, birgt freilich rechtskonstruktive Probleme. Das Vortatereignis ist zu dem Zeitpunkt, in dem die Selbstbelastungslage virulent wird (Produktionskontext), mit seinen strafbarkeitsbegründenden Unrechts- und Schuldaspekten bereits vollzogen40. Die erforderlichen Institute müssten deshalb einer aktivierbaren (Straf-)Rechtsfolge nachträglich entgegentreten, und obendrein müsste es durch die Befolgung einer verfänglichen Verhaltenspflicht automatisch zu dieser Korrekturwirkung kommen41. Strafrechtliche Instrumente, die etwas Derartiges leisten, liegen sicher nicht auf der Hand. Die dogmatischen Kategorien, die bislang für den retrospektiven Strafverzicht vorhanden sind, setzen allesamt das Bereuen der Vortat oder eine objektive Nachtatleistung besonderer Art voraus42. Der nemo-tenetur-Träger kann dagegen in den vorliegenden Fällen lediglich die nemo-teneturVerkürzung (bzw. die Schwierigkeiten der postdeliktischen Normtreue) vorweisen. Um bei der Vortatbeurteilung eine Sanktionsverzicht einzurichten und dadurch der nachtatlichen Strafnormbefolgung den selbstbezichtigenden Zug zu nehmen, müsste man das vorhandene Regelungsinventar also beträchtlich strapazieren. Materiell-strafrechtlich dient sich hierfür neben einer „Anlehnung an den Strafbefreiungsgrund der Selbstanzeige“ (§ 371 AO)43 auch eine Rechtstechnik vom Schlage der Kronzeugen-Regelung44 an (§ 31 BtMG). Das Strafabsehen könnte ebenso wie die Strafaufhebung dafür sorgen, dass ein aufkeimen40

Zu dieser Zeitstruktur oben Fn 329 in Kap. 1 und bei Fn 6 in Kap. 8.

41

Das Vortatprivileg könnte auch schon durch die nachtatliche Selbstbelastungspflicht und nicht erst durch deren Befolgung ausgelöst werden, nur wäre das Drittgut dann weniger effektiv geschützt (weil seine Verletzung trotz des Privilegs denkbar ist). Bei dem Modell der Immunitätsgewährung (sogleich bei Fn 46) ist das ein praktisches Problem (dazu z.B. Jung 1974, 43). 42 Sie fordern vom Begünstigten insofern eine „überschießende Handlungstendenz“ (so nach der Durchsicht der fraglichen Modelle Jerouschek, ZStW 102 (1990), 793, 808 ff.). 43

So im hiesigen Kontext Schünemann, DAR 1998, 424, 429. Zur Ausgleichswirkung der Selbstanzeige bei nemo-tenetur-Eingriffen im Hinblick auf das Steuerdelikt auch Berthold 1993, 77 ff., 87 ff.; Zimmermann 2001, 180 ff. sowie Breyer 1999, 67, der § 371 AO für verfassungsnotwendig hält. 44 Das wird unterstützt durch die Thesen von Wolter (1996, 30 ff.), der für richterrechtliches Strafabsehen breiten Raum sieht. Dagegen ist das Modell von Rücktritt/tätiger Reue nicht einschlägig, da man dort einen Beitrag zur Vereitelung des vordem selbst deliktisch gesetzten Erfolgs belohnt, während die Leistung des postdeliktischen Geheimhaltungsverzichts dem vortatunabhängigen Drittrechtsgut gilt. Die hier angedachte Konstellation entspräche deshalb strukturell den Privilegierungen des Kronzeugen, bei denen ein Zusammenhang zwischen dem gegen ihn gerichteten Vorwurf und dem Gegenstand seines Aufklärungsbeitrags rechtspraktisch zwar häufig, rechtlich aber nicht vorausgesetzt ist (dazu Jeßberger 1999, 30 ff.; vgl. auch Pohl 2002, 71 f.).

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des Nachtatbegehungsmotiv augenblicklich wieder entfällt, da beide Institute den Grund zur Vortatverdeckung (d.h. die Aussicht auf die Vortatsanktion) beseitigen. Darin läge für das Strafabsehen und –aufheben, die ohnehin von Hause aus auf (kriminal-/fiskal-)politisch erwünschtes nachtatliches Verhalten hinwirken (indem sie nämlich einen postdeliktischen Kooperations-Akt mit einem Straflohn abgelten)45, nur eine moderate Funktionsausdehnung. Ähnliches könnte, wie die „immunity“ im US-amerikanischen Strafverfahren vorführt, auch ein prozessualer Sanktionsverzicht leisten. Das Immunitätsinstitut dient in den Vereinigten Staaten dazu, auskunftsverweigerungsberechtigte Zeugen zu gewissen Mitteilungen heranzuziehen. Sie erhalten dafür die verbindliche Zusage, die erstrebten Auskünfte ohne Selbstbelastungsschaden bezeugen zu können, weil ihnen gegenüber die Verfolgung der hierbei (mit-)offenbarten Delikte vollständig ausgeschlossen ist („transactional immunity“)46. Exemplarisch ist das deshalb, weil man diese Immunität nicht nur an die Befolgung einer verfänglichen Zeugnispflicht, sondern genauso gut an die Einhaltung einer verfänglichen Strafnorm knüpfen könnte. Allerdings müsste der deutsche Strafprozess, der keine echten Immunitätsformen kennt, für diesen prozessualen Sanktionsverzicht mit einem Verfahrenshindernis operieren47. Dies würde der Hindernis-Kategorie ein neues Anwendungsfeld erschließen, denn statt in der bisherigen Weise auf einen Basisdefekt bei der prozessualen Tatverarbeitung zu reagieren48, wäre sie auf die Feinkorrektur der verfahrensextern und zudem rechtmäßig bewirkten Datenpreisgabe gemünzt.

45 Kronzeugenregelungen erleichtern die Verfolgung bereits begangener Delikte und dienen so der Verbrechensvorsorge. Auch die Strafaufhebungsgründe beruhen auf rechtspolitischen Erwägungen und Interessenabwägungen (etwa Roxin, JuS 1988, 425, 432 f.). § 371 AO z.B. soll nach h.M. (zumindest auch) fiskalischen Interessen nutzen (zur Debatte BGHSt 49, 136, 139; Brauns 1996, 137 ff.; Kohlmann, § 371/10 ff.; Franzen/Gast/Joecks 2001, § 371/18 ff.). 46 Die meisten Bundesstaaten sehen freilich nur die Garantie vor, dass gegenüber den fraglichen Zeugen die Auskunftsverwertung weithin verboten ist („use and derivate use immunity“). Vgl. den Überblick bei Jung 1974, 21 ff.; Jaeger 1986, 213 ff.; Oehler, ZRP 1987, 41 ff.; Reiß 1987, 209 f.; Jeßberger 1999, 169 ff.; Rogall 2002, 473; Kraft 2002, 108 ff. 47 Immerhin werden Verfahrenshindernisse im Allgemeinen durch Umstände initiiert, die der Tatbegehung nachfolgen und sie nicht direkt prägen (hierzu I. Roxin 2000, 211 f.). I.Z.m. nemo tenetur wird dieses Modell denn auch von Kohlmann (§ 393/81 f.) herangezogen, der § 393 II AO i. U. zur ganz h.M. kein Beweisverwertungsverbot, sondern ein Verfolgungsverbot entnimmt (zustimmend Ruegenberg 2001, 216 ff.). Den prozessualen Sanktionsverzicht befürwortet in der Diskussion um § 142 StGB i.E. auch Ruck, der sich – allerdings de lege ferenda – für eine Einstellung der unfallauslösenden Tat ausspricht (1985, 157 ff.). 48 Die meisten Prozesshindernisse treten bei solchen Umständen ein, die nach Gewicht und Tragweite das Verfahren als Ganzes kontaminieren und in ihm nicht korrigierbar sind (dazu zuletzt Krack 2002, 246 ff.). Da sie den gesamten Prozess ab- und jede Sachprüfung ausschließen, muss ihre eigene Feststellung ohne eine solche Prüfung möglich sein. Ob Prozesshindernisse – wenn es an dieser Mangel-Evidenz fehlt – darüber hinaus auch durch schwerwiegend grundgesetzwidriges Staatshandeln ausgelöst werden, ist strittig (zur Diskussion z.B. Weiler, GA 1994, 561 ff.; Wolfslast 1995, 262 ff.; I. Roxin 2000).

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Für all diese Anleihen wäre dogmatisch ein gewagter Weg zu beschreiten. Seine Begehbarkeit braucht indes gar nicht näher geprüft zu werden, da er keine wahrlich attraktive Form der gesuchten praktischen Konkordanz verspricht. Fragt man weiter zurück, kann nämlich keine Variante des vortatbezogenen Strafverzichts, selbst wenn sie sich rechtsmethodisch einrichten ließe, eine Strategie zur hier gesuchten nemo-tenetur-Ausgestaltung bieten. Der Konflikt zwischen dem Geheimhaltungs- und dem strafrechtlichen Schutzinteresse wird beim Strafverzicht stets durch die vollständige Rücknahme der AusgangstatVerfolgung ausgeräumt. Damit geht die Befriedungswirkung zu Lasten Dritter, nämlich auf Kosten des vernachlässigten Staatsinteresses an der Vordeliktsstrafe. Dass dieser Posten an der herzustellenden Konkordanz unbeteiligt ist49, bedeutet nicht, dass man ihn außer Acht lassen dürfte. Er fungiert für die auszugestaltende Beziehung zwischen nemo tenetur und den kollidierenden Belangen vielmehr als Hintergrundgröße. Ohne in den Güterausgleich einzugehen, setzt er ihm von außen einen Rahmen und bürgt für eine rationale Einbindung ins strafrechtliche Gesamtsystem. Danach dürfen die Einbußen an Strafgerechtigkeit und Normstabilisierung, die sich aus der Sanktionslosigkeit der Vortat in Ansehung ihres konkreten Gewichts ergeben, den erzielten Nutzen (d.h. die Versöhnung von Geheimhaltungsschutz und Wahrung des Drittrechtsguts) nicht übersteigen50. Weil also die Rechtsordnung ihr Konkordanzergebnis nicht zu teuer erkaufen darf, kann das Strafverzichtsmodell nicht zum Tragen kommen, sobald das Vorweggeschehen schwerwiegend (= hohe Konkordanzkosten) und/oder die geheimhaltungsmotivierte Drittschädigung geringfügig ist (= geringer Konkor49 50

Dazu oben in und bei Fn 6 f.

Vgl. auch Rogall 2002, 474. Deshalb entspricht es der allgemeinen Meinung, dass die Kronzeugenregelung nur angängig ist bei einem Unrechtsgefälle von der Aufklärungs- zur Kronzeugentat (vgl. etwa Jung 1974, 69 f.; Jaeger 1986, 46; Jeßberger 1999, 107 f.). Sonst wiegt der tataufklärungsbedingte Normgeltungsgewinn den strafverzichtsbedingten Normgeltungsschaden nicht auf (zu dieser Aufrechnung von Schuld und Nutzen vgl. auch § 1 KronzG a. E. mit der Relation zwischen hinreichend gewichtiger Ermittlungshilfe und Kronzeugentat). Ähnliches gilt i.Ü. für Prozesshindernisse. Sofern man sie auch der Verfassung entnimmt, ist dafür eine Abwägung zwischen Strafverfolgungsinteresse und Rechtsverletzung ohnehin zentral (vgl. z.B. Weiler, GA 1994, 561, 582). Die insofern unstrittigen einfachrechtlichen Fälle werden zwar mit Blick auf das Eindeutigkeitserfordernis (eben Fn 48) verbal als abwägungsfeindlich verstanden, doch in der Sache verbirgt sich dahinter ebenfalls eine Wertung, nach der die fraglichen Nachtatumstände derart bedeutsam sind, dass sie einer Verfahrensdurchführung eindeutig im Wege stehen (vgl. z.B. Volk, StV 1986, 34, 36). Wegen dieser notwendigen Verhältnisordnung der Prozesshindernisse, kann man i.Ü. auch die rechtswidrige Tatprovokation des Staates nicht zu ihrem Anwendungsgebiet rechnen. Andernfalls würde mit dem einheitlichen Prozessabschluss die individuelle Unrechtsqualität der provozierten Tat eingeebnet; selbst ihr evtl. besonders hohes Gewicht könnte am Sanktionsverzicht nicht hindern, obwohl dann das Bedürfnis, auf den anstößigen und so normgeltungsschädigenden staatlichen Tatanstoß zu reagieren, eben nicht mehr evident überwiegt (ähnlich BGHSt 45, 321, 333 f.).

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danznutzen)51. In diesen Fällen lässt sich der strafrechtliche Zwang zum wissenspreisgebenden Verhalten nicht eliminieren. Allein bei relativer Geringwertigkeit des Vortatverfolgungsinteresses könnte sich die Selbstbelastungsfreiheit durch einen automatischen Strafverzicht mit den kollidierenden Drittbelangen arrangieren. Diese Lösung steht nemo tenetur also nur fall- und bedingungsabhängig zur Seite. Doch selbst dieser verbleibende Anwendungsbereich wird durch das Sanktionsmilderungsmodell absorbiert (näher sogleich bb.).

bb) Durch nachtatliche Normtreue konditionierte Sanktionsmilderung Die Einsatzgrenzen des automatischen Strafverzichts rühren daher, dass er die strafrechtliche Vortatverfolgung vollkommen negiert und damit eine Kontrolloperation provoziert, die ihn in seine Schranken weist. Würde die vortatbezogene Sanktion dagegen lediglich gemildert, könnte dies vermieden werden, da man bei dieser weicheren Lösung das Interesse an der Vordeliktsbearbeitung von vornherein im Hinterkopf behält. So verlieren die Konsequenzen des Geheimnisverlustes zum einen auch schon durch eine Reduzierung der Vortatstrafe an Brisanz – was die Beeinträchtigungsintensität der strafgesetzlichen Selbstbelastungspflicht senkt, ohne den postdeliktischen Schutz des Drittrechtsguts anzutasten52 –, und zum anderen lässt sich das Vorweggeschehen unverändert in einem Strafverfahren verarbeiten. In der Strafminderung, die die gesamte Spanne von der Normalsanktion bis zum Strafabsehen gleitend ausschöpfen könnte, würden die normalen Strafzumessungsgründe lediglich mit dem nachtatlichen Selbstbezichtigungskonflikt verrechnet. Eine solche Strafmilderung hebt also die Sanktionsgeltung der Vortatnorm nicht auf. Allerdings erschiene ihre Verhaltensgeltung immerhin beschädigt, wenn die Chance der Strafbonuserlangung vorweg abzusehen wäre und die Entdeckungsgefahr damit an Schrecken verlöre. Die Befürchtung, dies könne zu einer sorgloseren Vordeliktsbegehung ermutigen53, ist aber unbegründet. Der Normadressat kann die Strafmilderung schwerlich als „Notlösung“ vorauskalkulieren, weil die dafür konstitutiven ne51 Die erreichte Konkordanz zwischen nemo tenetur und dem Drittgut wiegt dann weniger als das zurückgestellte Interesse an der Vortatverfolgung. Wohlgemerkt: Die Verfassungswidrigkeit von § 371 AO ist damit nicht behauptet. In Abrede gestellt wird lediglich, dass diese suboptimale Bereinigung des Selbstbelastungszwangs verallgemeinert werden sollte. 52 Genau das könnte man für eine konkordanzuntaugliche Eingriffssubstitution halten, bei der der Zwangseingriff aus der Nachtatnorm vermindert wird durch einen Eingriff per vortatbezogener Bonusofferte. Dass derartige Angebote aber nur unter bestimmten Bedingungen grundrechtsverkürzend wirken, wurde oben (I.4.b) in Kap. 9) gezeigt. Sie sind bei der Strafmilderung in der vorliegenden Konstellation nicht gegeben, weil von ihr kein eigener Enthüllungsimpuls ausgeht. Die Aussicht auf den Bonus erleichtert lediglich die Einhaltung einer ohnehin bestehenden (strafgesetzlichen) nachtatlichen Pflicht. 53

Zu dieser Sorge in ähnlichem Zusammenhang Brauns 1996, 27, 143 ff.

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mo-tenetur-relevanten Anschlusskonstellationen im Vortatzeitpunkt noch gar nicht abzusehen sind. Wie sollte er sicher prognostizieren, dass später kein strafnormtreuer Ausweg bleiben wird, um sein Vortatwissens geheim zu halten54?

Vor diesem Hintergrund könnte man darauf verfallen, die Sanktionsmilderung neben dem eben abgehandelten (nur beschränkt zulässigen) Sanktionsverzicht heranzuziehen. Dass dies nicht angängig ist, beruht auf der Spannung, die zwischen beiden Modellen aufgrund ihres subjektiven Begleiteffektes eintritt: Kann der nemo-tenetur-Träger im Nachtatzeitpunkt erwarten, dass er durch das ihm nunmehr gebotene Verhalten automatisch Straffreiheit für sein früheres Tun erlangt, kostet ihn diese (nicht mehr verfängliche) Normtreue keine Überwindung55. Hat der Akteur dagegen eine in ihrem Maß ungewisse Sanktionsminderung in Aussicht, schadet ihm die normgemäße Wissenspreisgabe weiterhin im unbestimmten Umfang, und es bleibt für ihn ein (reduzierter) Anreiz zur verbotswidrigen Geheimniswahrung56. Rechtlich erfährt das anschlussdeliktisch verwickelte Tatobjekt zwar unterschiedslosen Schutz, doch bei der Sanktionsverzichtsvariante ist es einer geringeren Gefahr ausgesetzt, weil der Anlass zur geheimhaltungsmotivierten Nachtat nur bei ihr komplett entfällt. Paradoxerweise kommt nun das Strafverzichtsmodell umso eher zum Einsatz, je geringfügiger das Vordelikt ist (dazu soeben aa.). Obwohl es einen konsequenteren nachtatlichen Rechtsgüterschutz gewährleistet, greift es ausgerechnet in jenem Falltypus, in dem die Motive zur Verdeckungstat und die Notwendigkeiten zur qualifizierten Gegensteuerung am geringsten sind. In der Vergleichskonstellation, in der sich eine vorangegangene Intensivverletzung bagatelldeliktisch verdecken lässt, könnte dem ungleich stärkeren Tatanreiz aber lediglich mit den beschränkten Mitteln der vortatlichen Strafmilderung begegnet werden. Diese Ungereimtheit ist unvermeidbar – solange man die Strafverzichts- und Strafminderungslösungen parallel aufbietet. Eine Harmonisierung tritt nur ein, wenn man das ohnehin bloß beschränkt einsetzbare Verzichtsmodell beiseite lässt und dem nemo-tenetur-Träger durchweg mit einem Sanktionsrabatt soweit entgegen kommt, wie es die relative Bedeutung der Vortatbearbeitung zulässt und die Intensität der Selbstbelastungs- und Drittgutgefahr verlangt.

54

Der nemo-tenetur-Träger kann nur im nachtatlichen Zeitpunkt wissen (wobei es im Interesse der Lenkungsfunktion des Strafmilderungsmodells ist, wenn er dies weiß), dass ihm ein normkonformes Verhalten bei der Vortatbewertung zustatten kommen wird. Im Vortatzeitpunkt kann ihm allenfalls bekannt sein, dass diese Aussicht besteht, falls sich eine nemo-tenetur-relevante Nachtatsituation ergibt (nicht aber, dass es hierzu kommt). 55 I.Z.m. Wiedergutmachungsfragen weist auch Brauns darauf hin, dass ein Verzicht auf Vortatstrafe das Motiv zur Verdeckungstat beseitigt und dieser entgegen wirkt (1996, 30 f., 54, 58). 56 Dies hat einen ganz anderen Charakter: Während der Sanktionsverzicht den Interessenausgleich bewirken will, indem er die Verfänglichkeit gebotenen Tuns beseitigt, wird bei der Strafmilderung eine Belohnung für denjenigen ausgelobt, der dem Verdeckungsmotiv widersteht.

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b) Schranken der Wissensverwendung Das Strafmilderungsmodell verringert den strafgesetzlichen Zwang zu selbstbelastendem Verhalten, indem es die Strafe absenkt und so die prekären Konsequenzen der preisgegebenen Information und ihrer staatsseitigen Verarbeitung herabsetzt. Das Tatwissen, dessen Kontrolle der Beschuldigte beim normgemäßen Nachtatverhalten einbüßt, legt seinen fatalen Charakter in dem Maße ab, in dem man seinen strafjuristischen Sinnbezug modifiziert. Allerdings verliert der handlungsbegleitende Informationsübergang sein Bezichtigungspotenzial auch durch eine restriktive Reglementierung der drohenden Informationsverwendung. Eine erste Unterart derartiger Wissensverwendungsschranken setzt auf eine Binnenabschottung im staatlichen Bereich und versucht, den Datenfluss aus dem Produktions- in den Verwendungskontext abzuriegeln. Das hier zugehörige Regelungsparadigma verkörpert § 30 AO. Nach seiner Maßgabe unterliegen diejenigen Amtsträger, die das verfängliche Beschuldigtenverhalten im Entstehungszusammenhang wahrnehmen, einer Geheimhaltungspflicht57. Der Idee nach kann der nemo-tenetur-Träger unbeschwert von der Drittschädigung ablassen, weil der damit verbundene Selbstverrat bei der unzuständigen Stelle verpufft und nie zur kriminalrechtlichen Nutzung gelangt58. Das in seiner normativen Konstruktion daher durchaus konkordanzgeeignete Modell lässt sich aber keinesfalls umsetzen, ohne eine Handhabe für den nahe liegenden Fall einer verbotswidrigen Informationsweitergabe in Reserve zu haben. Diese Schwäche äußert sich just in den vorliegenden Sachlagen: An sich ist das Geheimhaltungsmodell darauf zugeschnitten, dass der Produktionskontext in einem gesellschaftlichen Bereich außerhalb des Strafverfolgungsbetriebs liegt, sodass sich das Weitergabeverbot gleichsam verzahnen kann mit den natürlichen Barrieren der administrativen Segmentierung oder den Übergangsschwellen aus dem privaten Feld. Bei vielen der hier behandelten verfänglichen Strafnormbefolgungen fällt das Wissen der nemo-tenetur-Träger aber im Akti-

57

Ein weiteres Bsp. ist § 16 BStatG. Zu diesem Modell auch das Sondervotum in BVerfGE 56, 37, 53 sowie SK-StGB/Rogall, Vor § 133/161; Reiß 1987, 222 f.; Nothhelfer 1989, 103 f.; Nagel 1998, 260 f.; Hefendehl, wistra 2003, 1, 4. Die Datenweitergabeverbote lassen sich streng darauf beschränken, dass das verfängliche Material allein wegen der strafrechtlichen Preisgabepflicht bekannt wird. Auch dafür gibt es Vorbilder: Die nach § 370 AO gegebenenfalls mitzuteilenden Informationen allgemein-deliktischer Art muss die Finanzbehörde geheim halten. Dies gilt nicht für Mitteilungen, die über das Maß der Auskunftspflicht hinausgehen (§ 30 IV Nr. 4 AO; dazu z.B. Reiß a.a.O., 109 ff.; Besson 1997, 43). 58 Dies ermöglicht dem Bürger, „seinen Offenbarungs- und Mitwirkungspflichten ohne Furcht vor strafrechtlichen oder anderen negativen Folgen nachzukommen“ (Hellmann 1995, 29 für § 30 AO; vgl. bspw. auch Besson 1997, 93). Dafür muss indes neben der kommunikativen Informationsweitergabe auch der Datenfluss mittels sächlicher Datenträger blockiert sein.

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onsgebiet strafrechtlicher Institutionen an59. Gegen eine Verwertung vermögen daher nur innerorganisatorische Geheimhaltungspflichten zu helfen. Die Effizienz solcher Regelungen kann man sich indes schwer vorstellen60. Da diese Lösungsvariante also von vornherein mit der Hypothek derartiger Impraktikabilitäten belastet ist, wird sie hier nicht weiter verfolgt61. Anders verhält es sich mit dem Verbot des Datengebrauchsaktes selbst. Bei der Entproblematisierung außerstrafgesetzlicher Bestimmungen, die auf eine Verpflichtung zu verfänglichem Verhalten hinauslaufen, sind solche Beweisverwertungsverbote schon geraume Zeit ein prominentes Verfahren (oben IV.2. in Kap. 1), und dies auch aus Sicht des Gesetzgebers62. Daher spricht vieles dafür, sie für den Ausgleich strafgesetzlicher nemo-tenetur-Eingriffe ins Spiel zu bringen63: Beim Einsatz eines Verwertungsverbots kann man die Strafnormbefolgung vom Normadressaten unbesorgt erwarten, da die dabei unvermeidbaren verfänglichen Selbstentäußerungen keinen Eingang in die strafrechtliche Vortatverarbeitung finden64. Das regelkonforme Agieren des Beschuldigten ist, angelehnt an die datenschutzrechtliche Terminologie, „zweckgebunden“. Es befördert allein das aktuell bedrohte Strafrechtsgut und keinen anderweitigen Sanktionsbelang. Indem sich die Nachtatsituation hierdurch normalisiert und ih59

Bei § 142 StGB beruht das bspw. auf der polizeilichen Unfallaufnahme, bei den innerprozessualen Delikten auf dem Verfahrensumfeld. Sogar eine personale Identität der informationswahrnehmenden und der strafrechtlich zuständigen Person ist hier möglich (zu derartige Konstellationen und den daraus resultierenden Grenzen für das Geheimhaltungsmodell anhand des Besteuerungs- und Steuerstrafverfahrens etwa Reiß 1987, 255 ff.). 60 Die faktische Wissensverwertung kraft normwidrigen staatlichen Vorgehens ist irreparabel, soweit das Geheimhaltungsgebot nicht um ein Beweisverwertungsverbot ergänzt wird (vgl. auch Reiß 1987, 137 f.). Da dessen Ergreifen so oft angezeigt sein dürfte, dass dies leicht den Regelfall darstellen könnte, trägt die beweisrechtliche Lösung die eigentliche Last und saugt das Geheimhaltungsmodell faktisch auf. 61 Ohnehin wäre ein Mitteilungsverbot – das entweder eine grundrechtsrelevante Inpflichtnahme der privaten Informationsempfänger und/oder eine Beschneidung der behördlichen Auskunftsund Aktenherausgabepflicht (§§ 161, 95 StPO) darstellt – kaum ohne gesetzliche Grundlage herzuleiten (hierzu beiläufig Niemöller/Schuppert, AöR 107, 1982, 387, 423; Nothhelfer 1989, 101). 62 Zuerst in § 428 II RAO 1967 (heute § 393 II AO) bzgl. der Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen und jüngst in § 97 InsO für die entsprechende Einbindung des Insolvenzschuldners. Auch das Ordnungsrecht der Länder sieht dergleichen mitunter vor (vgl. etwa § 12 II 4 HessSOG). 63 Erörtert für verschiedene Delikte von BGHSt 47, 8, 15; Seebode, JA 1980, 493, 498; ders. NStZ 1993, 83, 85; Reiß, NJW 1980, 1806; ders. 1987, 203 f.; H. Schneider 1991, 151; Lammer 1992, 157; Wolter, NStZ 1993, 1, 9 f.; Vogel 1993, 185 Fn 73; Schünemann, DAR 1998, 424, 429; Kroß 2004, 194 f.; Aselmann 2004, 139 ff.; H/H/Sp/Hellmann, § 393 AO/30; Franzen/Gast/Joecks 2001, § 393/38; Maurach/Schroeder/Maiwald 2003, § 49/12; SK-StPO/Paeffgen, Art. 6 EMRK/82. 64 Bei einem Beweisverwertungsverbot ist es nämlich untersagt, die fraglichen Tatsachen dazu zu verwenden, einen bestimmten Sachverhalt im Wege des Schlussfolgerns zu (re-)konstruieren („beweisen“). Ähnlich Jäger 2003, 133.

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ren Sonderfallcharakter verliert, bildet sich praktische Konkordanz zwischen nemo tenetur und dem Drittrechtsgut aus. Zwar geht dies neuerlich zu Lasten der Vortatverfolgung65, doch wird diese am Ende nur in jenen Zustand rückversetzt, in dem sie sich ohne die zufällige strafgesetzliche Nachtatlage befände66. Bei der Detailausgestaltung ist indes Rücksicht auf spezifische Anfälligkeiten zu nehmen. So mutet das Beweisverwertungsverbot den Amtsträgern, die mit der Vortatbearbeitung betraut sind und Kenntnis von der Selbstbezichtigung erlangen, die kognitive Verfremdung zu, dieses Wissen künstlich auszublenden67. Dies könnte man nur durch Auslöschung des fraglichen Beweismaterials (Beweismittelvernichtungsgebot) oder durch Austausch der Bearbeiter (Befangenheit) erleichtern. Darüber hinaus droht das Verwertungsverbot, falls ihm keine Fernwirkung zukäme, leicht ins Leere zu laufen, weil dann allemal das Beweismaterial verwendet werden kann, das sich anknüpfend an die verfängliche nachtatliche Normtreue beibringen lässt68.

II. Rechtsmethodische Zulässigkeit der Konkordanzmodelle Die Riege der dogmatischen Instrumente, die den hier angezielten Ausgleich zwischen Geheimhaltungsinteresse und kollidierenden Drittgütern herstellen könnten, ist schmal. Im deutschen Strafrechtssystem bestehen dafür lediglich drei Möglichkeiten: Man kann im nachtatlichen Bereich manche selbstbelastungsmeidende Bagatellschädigung aus den strafgesetzlichen Ge-/Verboten herausinterpretieren oder man nimmt der postdeliktischen Normtreue durch ein Beweisverwertungsverbot die Verfänglichkeit oder man senkt ihretwegen die Strafe für das Vorgeschehen. Alle anderen Anregungen, die der Problematik ebenfalls Herr werden wollen, widersprechen dem Konkordanzdenken. Allerdings fragt sich für die drei in Betracht gezogenen Lösungsmöglichkeiten, ob sie überhaupt statthaft gestaltbar sind. Die bloße Zweckmäßigkeit kann dafür 65 Hin und wieder mag die Vortatverfolgung massiv behindert, gelegentlich sogar blockiert werden. Auch dann bleibt indes ein gehöriger Unterschied zum Sanktionsverzichtsmodell (oben 2.a)aa)) – einmal, weil solche weittragenden Wirkungen nur in Einzelfällen eintreten, und zum anderen, weil sich das Verwertungsverbot nicht gegen die Vortatsanktion selbst richtet (wie der Sanktionsverzicht), sondern gegen den Herstellungsvorgang. 66 Da der Produktionskontext niemals im Dienste des Strafverfolgungsinteresses stehen darf und das strafnormgeschützte Rechtsgut ein drittes sein muss, ist der Selbstbelastungseffekt immer ein unverhoffter Vorteil für die Deliktserforschungsarbeit. Das Verwertungsverbot nimmt ihr daher nur einen Zufallsposten, der ihr – strukturell gesprochen – ohnehin nicht zusteht. 67

Je geringer das dahingehende Zutrauen in die richterliche Entscheidungsfindung ist (ohne solche Zweifel aber z.B. Beulke/Satzger, JuS 1997, 1072, 1077), desto eher erscheint das Beweisverwertungsverbot als – unabdingbare – Fiktion, deren plausible Rechtskonstruktion für dogmatisch-theoretische Selbstberuhigung sorgt, ohne dass sich die ihr angesonnene Funktion in der tatsächlichen Entscheidungsfindung (und nicht nur in der Entscheidungsbegründung) niederschlägt. 68 Überblick über den Streit zur Fernwirkung des Verwertungsverbots z.B. bei Eisenberg 2002, Rn 403 ff.; zur dahingehenden Diskussion bei nemo-tenetur-Verletzungen z.B. Bosch 1998, 346 ff.

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keineswegs genügen. Sie allein deswegen rechtsschöpferisch zu kreieren, ist der Norminterpret durch seine Gesetzesbindung gehindert. Nur wenn die genannten Modelle die Gewähr bieten, unter Wahrung der rechtsmethodischen Standards einem Normtext zurechenbar zu sein (oben II. in Kap. 3), können sie Einzug in das Selbstbezichtigungs-Strafrecht halten. Bei der konfliktmeidenden Tatbestandsauslegung lässt sich das lediglich normkonkret an den jeweiligen Straftatbeständen testen (unten III.). Dagegen ist zur methodischen Statthaftigkeit der beiden verwendungskontextualen Konkordanzmodelle ein generalisierendes Urteil möglich (sogleich II.).

1. Begründung des Beweisverwertungsverbots a) Die konstitutionelle Rechtsgrundlage Auf eine einfachrechtliche Grundlage für eine Verwertungsverbotslösung, wie sie in einigen singulären Sachlagen durchaus gegeben ist (§§ 393 II AO, 97 InsO), kann man im Bereich strafgesetzlicher Selbstbelastungspflichten nicht verweisen. Es bleibt jedoch die Verfassung als denkbare Rechtsquelle. In dieser Frage ist es nützlich, kurzzeitig zu der bereits oben (II. in Kap. 4) diskutierten abwehrrechtlichen Seite der Grundrechte zurückzukehren und sich die Schrittfolge bewusst zu machen, in der dort für den Bestand konstitutioneller Schutzgüter Sorge getragen wird69: Auf der ersten Stufe garantiert jedes Grundrecht den Fortbestand der jeweiligen Guts-Integrität gegenüber ungerechtfertigtem Staatshandeln. Rechtstechnisch wird das getragen durch einen Primäranspruch auf Nichtbeeinträchtigung, der den fraglichen Störungsakt vorbeugend unterbindet (Eingriffsunterlassung) oder reaktiv beendet (negatorische Eingriffsbeseitigung). Gegen hiervon nicht erfasste Auswirkungen des rechtswidrigen Eingriffs richtet sich sekundär ein Folgenbeseitigungsanspruch, durch den die Grundrechte die Wiederherstellung des ursprünglichen (oder eines ihm gleichenden) Zustandes gewährleisten und das unzulässig beschädigte Schutzgut gleichsam reparieren. Falls ausnahmsweise nur dessen wertgemäße Integrität erhalten werden kann, kommt schließlich ein pekuniärer Kompensationsanspruch zum Zuge70.

69 Zum Folgenden Morlok, Verwaltung 1992, 371, 378 ff.; Höfling, VVDStRL 61 (2002), 260, 269 ff.; vgl. auch Schoch, VerwA 1988, 1, 34 ff., 46 f.; Roth 1994, 71 ff., 85 ff.; eingehend und sehr ähnlich Grzeszick 2002, 221, 340 ff.; Röder 2002, 219 ff., 230 ff. 70 Das geschilderte System ist grundrechtsdogmatisch nicht unbestritten. Einesteils wird bezweifelt, dass es über den Vorrang des Primärrechtsschutzes (hierzu BVerfGE 58, 300, 324; DVBl 2000, 350, 351) hinaus subsidiär gestaffelt ist. Andererseits stellt man verbreitet in Frage, dass die

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Vor diesem Hintergrund kann es nicht zweifelhaft sein, dass viele prozessuale Beweisverwertungsverbote in der geschilderten grundrechtlichen Anspruchsabfolge aufgehoben sind71. Wurde etwa ein Beweismittel durch einen Erhebungsakt gewonnen, der sich rechtlich nicht legitimieren lässt, und setzt sich dieser unzulässige Eingriff in der Beweismittelverfügbarkeit fort (sodass gar die Vertiefung des Unrechtszustandes durch die Beweismittelnutzung droht72), dann hilft ein Folgenbeseitigungsanspruch dieser Störungsfolge ab. Er bereinigt die rechtswidrige Informationslage beispielsweise durch Rückgabe oder Vernichtung der Informationsträger73. Soweit das Wissen kognitiv konserviert ist, wird es dagegen neutralisiert, was technisch just durch ein (unselbstständiges) Beweisverwertungsverbot erfolgt74. Würde die beweisförmige Datenverwertung eine eigene Grundrechtsverletzung darstellen, wird sie ebenso untersagt, wobei das Grundrecht in diesem Fall mit seinem primären Unterlassungsanspruch am Werk ist, mit dem es den Eingriffsvorgang (die Beweismittelverwendung) von

dritte (Schadensersatz-)Stufe überhaupt grundrechtlich (und sei es nur dem Grunde nach) verankert ist. Beide Streitfragen sind hier unerheblich. 71 Zur abwehrrechtlichen Deutung der Beweisverwertungsverbote Amelung 1990; ders. 1997; ders. 2001; ders. 2002, 425. Gewiss ist seine Lehre von einer allgemeinen Anerkennung weit entfernt (zur Rezeptionslage Amelung 2001, 1259 m.w.N.; speziell zur distanzierten Judikatur LK/Gössel, Einl. K/17 ff.). Dabei mag der Kritik manches Detail zuzugeben sein. In der Tat wäre es auch unzutreffend, jeglichen Verwertungsverbotsfall als grundrechtliches Abwehrrecht deuten zu wollen (was Amelung i.Ü. gar nicht intendiert; vgl. 1997, 515; ders. 2001, 1264). Legt man indes eine weithin schon fertige Beweisverbotslehre zugrunde und kritisiert, dass sich die grundrechtliche Folgenbeseitigungs-Struktur mit diesem „Paket“ nicht in harmonische Deckung bringen lasse, so ist das aus der falschen Richtung (wenn nicht gar prozesssrechts-autistisch) gedacht. Der Fehler liegt darin, fortwährend danach zu fragen, ob sich das Folgenbeseitigungsinstitut aus dem Verwaltungsrecht auf das Strafprozessrecht „übertragen“ lasse (so ausdrücklich z.B. Jäger 2003, 100). Offenbar nimmt man an, die Folgenbeseitigungs-Kategorie sei für das einfache Recht irgendwie disponibel. In Wahrheit aber kann das einfache Recht die übergeordnete Haftungsfunktion der Grundrechte gar nicht abschütteln. Das Strafprozessrecht ist vielmehr damit konfrontiert, dass die Grundrechte gegenüber rechtswidrigen straf- und strafprozessualen Maßnahmen automatisch Sekundäransprüche entwickeln. Diese Mechanismen sind „da“ (egal, ob es der Strafprozesslehre gefällt oder nicht), und sie wenden sich, am deutlichsten wo das Schutzgut in sozialen oder sächlichen Informationsreservaten besteht, eben auch gegen die eingriffsbedingte Datenverwertung. Inhaltlich können diese grundrechtlichen Abwehransprüche dann gar keinen anderen Inhalt haben als denjenigen, der als Beweisverwertungsverbot bekannt ist. Das Prozessrecht hat hier keinerlei Spielräume. Es muss diese übergeordnete Regelung exekutieren. Natürlich kann es auch aus außergrundrechtlichen (Rechts-)Gründen ein Beweisverwertungsverbot vorsehen, aber es kann sich dort, wo die Grundrechte ein solches Verbot „produzieren“, nicht verweigern. 72

Hierzu Amelung 1990, 41.

73

Dazu Labe 1990, 217 f.; Amelung 1990, 46 f.; vgl. auch BVerfGE 109, 279, 332 f.

74

Vgl. Amelung 1990, 26 f., 38 ff.; ebenso z.B. Ackemann 1997, 184; Müssig, GA 1999, 119, 133; Makrutzki 2000, 309; vgl. auch Südhoff 1995, 152 ff.; ähnlich Störmer 1992, 215 ff., 223 ff. (Unterlassung der in der Verwertung liegenden zusätzlichen Verletzung) und Eberle 1987, 359 (negatorische Beseitigung).

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vornherein hemmt75. All die genannten Verwertungsverbote finden ihre Rechtsgrundlage also in der jeweils maßnahmebetroffenen Grundrechtsposition. Das hier gegenständliche Beweisverwertungsverbot unterfällt allerdings keiner der beiden vorgenannten Spielarten, sondern imponiert als Verbotsform eigener Art. Dies beruht letztlich darauf, dass es technisch zwar den Verwertungsakt reguliert, dass sich seine eigentliche normative Wirkung davon aber gewissermaßen abspaltet und denjenigen Vorgang betrifft, in dem das Beweismaterial dem Staat zugeht. Sachlich heilt das Verwertungsverbot die missliche Art der Informationsgewinnung, nämlich den beiläufigen Enthüllungszwang im Strafgesetz, sodass es in dieser Hinsicht den unselbstständigen Verwertungsverboten gleicht. Anders als von jener Verbotskategorie wird von ihm ein rechtswidriger Zustand aber nicht kuriert, sondern gar nicht erst zugelassen, denn es beseitigt von Anfang an den qualifizierten, nemo-tenetur-spezifischen Eingriffsteil der fraglichen Strafnorm und sichert vorsorglich deren Rechtmäßigkeit76. Die Ähnlichkeit, die es durch diese eingriffshindernde Leistung mit den selbstständigen Verwertungsverboten erlangt, kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hiervon wiederum durch seine Stoßrichtung unterscheidet. Es wendet den Datengebrauch nicht wegen dessen eigener Eingriffswirkung ab, sondern allein um die Datenerhebung zu entschärfen77. Das staatsgerichtete Verbot, jenes Wissen strafprozessual zu verwerten, das der Grundrechtsträger anlässlich der Strafnormbefolgung ungewollt freigibt, ist also von singulärer Struktur78. Deshalb muss auch seine Rechtsgrundlage eigen75 Vgl. Amelung 1990, 37 f.; ders. 1997, 506; Störmer 1992, 38; Müssig, GA 1999, 119, 133. Ob dieses Beweisverwertungsverbot tatsächlich durch ein unselbstständiges Beweisverwertungsverbot verdrängt wird, wenn vor der Verwertung schon der Erhebungseingriff unzulässig war (so Eisenberg 2002, Rn 385), erscheint zweifelhaft: Der erste Grundrechtseingriff kann den zusätzlichen zweiten Eingriff kaum obsolet werden lassen. 76

Rechtfertigungsbedürftig bleibt zwar der Eingriff, der in der Erlangung unverwertbarer Informationen liegt – aber eben nicht wegen der Selbstbelastungsfreiheit. Diese ist nur betroffen, wenn der Staat ein Informieren veranlasst, dessen Verfänglichkeit absehbar ist (oben I. in Kap. 8). 77 Anders Amelung 1990, 38 i.Z.m. § 393 II AO und die in Fn 226 in Kap. 1 Genannten. Der nemo-tenetur-spezifische Eingriffsaspekt besteht aber im Wissenspreisgabezwang und nicht im Wissensgebrauch. Dementsprechend wendet sich das hiesige Verwertungsverbot auch nicht gegen einen Verwertungseingriff, sondern es bewältigt eine verhängnisvolle Enthüllungspflicht, indem es die antizipierte Verwendung der Enthüllung widerlegt. In strafprozessualen Worten: Es verbietet die Verwertung wegen der sonst problemträchtigen Erhebung. Für die selbstständigen Beweisverwertungsverbote ist der Erhebungsvorgang hingegen ohne Belang. Auch wo sie ihn vorauswirkend beschränken (dazu z.B. LR/Gössel, Einl. K/110), fußt das allein in der unstatthaften Verwertung (ebenso Kelnhofer 1994, 217). 78 Ähnliches gilt für das Verbot, Schweigen/Passivität des Beschuldigten zu würdigen (oben II.4.b)cc) in Kap. 1). Dessen Einordnung in die selbstständigen Beweisverbote (so Amelung 1990, 38; Dencker 2001, 246) suggeriert, dass hiermit ein Eingriff durch die Verwendung des Schweigens abgewendet werde. Indes beruht die nemo-tenetur-Verkürzung auf dem Aussagedruck, der im

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ständig hergeleitet werden. Diese normative Herkunft ist indes trivialer als man meinen könnte: In dem fraglichen Verwertungsverbot drückt sich abermals der primäre Abwehranspruch der nemo-tenetur-Grundrechte aus79. Die verfassungsrechtliche Selbstbezichtigungsfreiheit schützt den Beschuldigten davor, in seinen Bemühungen um Tatwissensgeheimhaltung beschränkt zu werden. Eingriffe abzuweisen, bedeutet für diese Grundrechte zwar zunächst einmal, die an sie herantretenden Selbstbelastungspflichten aufzuheben. Die Eingriffsabwehr kann aber ebenso gut die Form annehmen, bei solchen verfänglichen (Straf-)Normen lediglich die selbstbelastungsrelevante Eingriffsschicht aufzulösen und die Strafvorschrift ihrer Eigenschaft zu entkleiden, mit der sie neben dem jeweils erwarteten Verhalten auch eine Selbstenthüllung verlangt. Das grundrechtsunmittelbare Primärrecht begnügt sich dann damit, für ein anteiliges, nämlich für das nemo-tenetur-bezogene Störungsunterlassen zu sorgen, während es die dafür unerhebliche Verhaltenslenkung unangetastet lässt (und sogar deren Unbedenklichkeit sichert)80. Dabei kennt der grundrechtliche Nichtstörungsanspruch keine halben Sachen. Den Strafgesetzen, deren Befolgung zu einer beiläufigen Wissenspreisgabe führt, nimmt er jeglichen selbstbelastenden Gehalt, indem er ausnahmslos jede strafrechtsdienliche Verwendung der so anfallenden Daten ausschaltet81. Dadurch erhält der nemo-tenetur-Träger im Produktionskontext gleichsam eine in die Zukunft reichende grundrechtliche Garantie, die ihm für seine normbegleitende Enthüllung den Verwendungsausschluss und damit die Unverfänglichkeit des abverlangten Verhaltens gewährt und die hernach durch ihre zeitlich unbegrenzt anhaltende Untersagungswirkung sicherstellt, dass die nämliche Strafnorm auch nicht nachträglich zur Selbstbelastungspflicht mutiert. Ob der Grundrechtsträger die Situation überblickt – ob er die nemo-tenetur-spezifische

Schweigezeitpunkt von der Vorwegnahme der Verwertung ausgeht. Nur diesen Beweiserhebungsakt (den quasi-normativen Mitteilungszwang) will das Verwertungsverbot auflösen. 79 Ebenso jetzt offenbar BGH NJW 2005, 763. Auch die Gemeinschuldner-Entscheidung (BVerfGE 56, 37, 50) wird von Störmer 1990, 168 und Wolff 1997, 113 in diesem Sinne interpretiert. Streng genommen handelt es sich bei dem Beweisverwertungsverbot der Herkunft nach also um gar keine einfach-rechtliche Konkordanzlösung (i.U. zu den anderen Konkordanzmodellen). 80 Das Beweisverwertungsverbot ist also ein spezifischer abwehrrechtlicher Mechanismus, der einen Unterlassungsanspruch realisiert. Unpräzise Rogall 2003, 469: Es sei „als prozessrechtliches Phänomen des Grundrechtsschutzes (durch Verfahren) zu betrachten“. 81 Für eine Verwendung des unverwertbaren Beweismaterials als Entlastungsbeweis (allgemein dazu etwa AE-EV 2001, 69; Brandis 2001, 131 ff.) gibt es nur selten Anlass, geht es hier doch um strafrechtsbedingt preisgegebenes Tatwissen. I.Ü. ist der Betroffene nicht gehindert, auf seinen grundrechtlichen Abwehranspruch (d.h. auf die Unverwertbarkeit) zu verzichten (vgl. auch § 97 I 3 InsO; wie hier Amelung 2001, 1271: „Einwilligung“; kritisch Jäger 2003, 103).

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Stoßrichtung des Strafgesetzes und deren Abwendung erkennt –, ist dafür nebensächlich82.

b) Zur Ausgestaltung des Verwertungsverbots Das hier gegenständliche Beweisverwertungsverbot bildet die zentrale Komponente des eben skizzierten Unterlassungsanspruchs. Es realisiert einen Ausschnitt des Abwehrrechts und wendet jenes spezifische Staatshandeln ab, von dem das vom Beschuldigten verlorene Geheimnis im Wege der kognitivinterpretativen Sachverhaltsbildung verarbeitet wird83. Daneben findet das Institut der Befangenheitsausschließung keinen Platz84. Die eingriffsunterbindende Konstruktion wird aber durch ein Benützungsverbot komplettiert, durch das die nemo-tenetur-Grundrechte jeglichen kriminalrechtlichen Wissensgebrauch gegen den Wissensträger abwenden. Um der strafnormgemäßen Enthüllung jede Selbstbelastungswirkung zu nehmen, erfasst der Abwehranspruch nämlich sämtliche Wissensverwertungsformen. Deshalb müssen auch solche Nachforschungen unterbleiben, bei denen das unfreiwillig Offenbarte als Spurenansatz zur

82 Das Vorliegen eines Grundrechtseingriffs hängt nur von der objektiven Freiheitsverkürzung ab, nicht etwa davon, dass der Maßnahmeadressat dies aktuell wahrnimmt. Ein Abwehrwille des betroffenen Grundrechtsträgers ist, so ihn die Grundrechtsdogmatik als Eingriffselement diskutiert (vgl. etwa Stern/Sachs 1994, 178; Isensee 2000, § 111/38), stets nur in einem potenziellen Sinne gefordert. Alles andere würde die Rechtfertigungsbedürftigkeit staatlichen Handelns an individuelle Sensibilitäten und situative Zufälligkeiten binden. Deshalb wird nemo tenetur schon dann verkürzt, wenn man verfängliches Wissen objektiv preisgeben muss (zur Grundrechtsrelevanz heimlicher Ermittlungsmethoden oben Fn 146 in Kap. 9). Die grundrechtsbedingte Unterlassenspflicht entsteht also allein schon durch das Strafgesetz. Da der Staat nicht rechtswidrig handeln darf, muss er sie obendrein von Amts wegen beachten. Es bedarf also auch keines entsprechenden Begehrens des Grundrechtsträgers, um das Verwendungsverbot zu aktualisieren (zur objektiv-rechtlichen Natur von grundrechtlichen Abwehrrechtswirkungen vgl. Isensee a.a.O., Rn 75; Amelung 1997, 511). 83 Erfolgt dennoch eine Beweisverwertung, wird die Strafnorm nachträglich zum unzulässigen Grundrechtseingriff. Verhindert wird dies durch die rechtsmittelförmige Durchsetzung des Beweisverwertungsverbots (dazu auch Macht 1999, 275 ff.). Das ist keine Folgenbeseitigung durch Aufhebung der beweismittelgestützten Entscheidung, sondern nichts weiter als die Vollstreckung der primären Unterlassenspflichten (durch negatorische Beseitigung der Störung, nämlich der mangels Rechtskraft noch nicht beendeten Verwertung im Urteil, vgl. Südhoff 1995, 155). 84 Es bildet nachgerade den richterlichen Auftrag, die vorhandenen Beweismittel auch auf ihre rechtliche Verwertbarkeit hin zu überprüfen. Träte bei jedem negativen Befund automatisch Befangenheit ein, verlöre dieses Institut seinen exzeptionellen Status. Die Selbstdisqualifizierung würde zum permanenten Begleiter der Entscheidungsstruktur. Dies vertrüge sich nicht mit dem Zutrauen, dass das Prinzip der freien Beweiswürdigung ansonsten in die Entscheiderpersonen setzt. Im Übrigen wäre eine zwingende Beweismittelvernichtung nötig, weil der nachfolgende Amtsträger durch den Akteninhalt sonst genauso befangen würde wie der ausgeschiedene (dazu Weiler, GA 1994, 561, 564; vgl. zum Problem auch Dencker 1977, 140 ff.).

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weiteren Beweisgewinnung dient85. Würde der Staat dieses Verwendungsverbot missachten, ginge der so erschlossene Überführungsstoff daher auf einen unerlaubten Grundrechtseingriff zurück86. Er unterläge somit ebenfalls einem Verwertungsverbot87 – das indes diesmal aus einem sekundären Folgenbeseitigungsanspruch resultiert und eine unzulässig gewonnene Beweislage beseitigt88. All dies gibt die Frage auf, ob das bei Gelegenheit der Strafnormbefolgung anfallende Wissen und die mit seiner Hilfe (verbotswidrig) erlangten Anknüpfungsbeweise wenigstens dann verwertbar sind, wenn sie durch einen alternativ gedachten Eingriff auch zulässig zu ermitteln gewesen wären. In der Folgenbeseitigungsdogmatik hat sich dazu eine bejahende Haltung eingebürgert89. Die Nutzung des Geheimnisses, das

85 Die „fruit of the poisonous tree“-Doktrin gilt also zumindest für den hier interessierenden Spezialfall eines Beweisverbots, nämlich für seine eingriffshindernde Unterart (i.E. ebenso z.B. Nagler 1998, 267 ff.; Reiß 1987, 231; Rogall 1977, 207; Lisken/Denninger/Rachor 2001, Rn F 293; Joecks 2003, 462). Sähe man dies anders, würde die ursprünglich (vom Strafgesetz) abgeforderte Mitteilung durch die anschließenden Beweiserhebungsakte doch noch nachträglich zur erzwungenen Selbstbelastung, weil sie sich durch ihre strafrechtsdienliche Nutzung gegen ihren Urheber wendet. Das BVerfG hatte sich im Gemeinschuldnerbeschluss insoweit zunächst noch bedeckt gehalten (so im Rückblick BVerfG wistra 2004, 19; die Fernwirkung seinerzeit sogar verneinend z.B. Stürner, NJW 1981, 1757, 1758). In § 97 InsO wurde vom Gesetzgeber nunmehr aber anerkannt, dass die nemo-tenetur-Grundrechte auch diese Folge-Relevanz der erzwungenen Selbstbezichtigung abwehren (zum Verwendungsverbot für pflichtgemäße Auskünfte in der Insolvenz etwa Richter, wistra 2000, 1, 2 f.; Bittmann/Rudolph, wistra 2001, 81, 84; Dencker 2001, 253; Rogall 2003, 479). Streng genommen geht die Fernwirkung des Verwertungsverbots sogar so weit, die Heranziehung der fraglichen Informationen zur Begründung eines Anfangsverdachts (bzw. zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens) auszuschließen (zum Problem Bachmann 1994, 58; Lisken/Denninger/Rachor a.a.O.; Hefendehl, wistra 2003, 1, 5 f.; offen lassend BVerfG wistra 2004, 19). Relevant ist das allerdings nur, wenn der Verdacht keine andere Wurzel als die fragliche Mitteilung hat. Außerdem ist das einmal eingeleitete Verfahren allenfalls in seinem Embryonalstadium durch Folgenbeseitigung umkehrbar, während es später auch von anderen Verdachtsmomenten getragen wird, sodass seine Einstellung nicht bloß die Eingriffsfolge beseitigen, sondern ein Mehr bewirken würde. 86 Dieser Grundrechtseingriff logiert – das sei abermals betont – in der Strafnorm, die das Ausgangsmaterial erzeugt und somit zu einem informationshaltigen Verhalten zwingt, das sich unversehens (durch die unerlaubte Folgebeweiserhebungen) doch noch als selbstbelastend erweist. 87

Die kausalen Folgen, die der strafgesetzliche Enthüllungszwang nachträglich gebiert, müssen vollständig beseitigt werden (vgl. auch Amelung 1990, 25, 59; ders. 2001, 1256 f.). Neben dem Verwertungsverbot geschieht das durch Aktenvernichtung, Datenlöschung usw. (vgl. Amelung 1990, 49 f.; zu den positivierten Fällen dieser Bereinigungsform vgl. Labe 1990, 112 ff.). 88 Gemessen am regulären Beweisverwertungsverbot wird es in einer fortgeschritteneren Beeinträchtigungsphase ausgelöst, denn gegenüber der Strafnorm erhält es die Selbstbelastungsfreiheit nicht präventiv aufrecht, sondern durch Schadensbeseitigung. Auch Beweisverwertungsverbote wegen Verletzung der auf nemo tenetur beruhenden Beweisgewinnungsverbote (§§ 136, 55 StPO) sind Folgenbeseitigungsansprüche (ähnlich Störmer 1992, 166). Durch sie wird die Verwertung der Selbstbezichtigung genauso unterbunden – nicht indem man deren Erhebung vorsorglich entschärft, sondern reaktiv heilt (oben Fn 74). 89 Vgl. aus der allgemeinen grundrechtsdogmatischen Debatte zum Folgenbeseitigungsanspruch z.B. die (kritische) Darstellung bei Grzeszick 2002, 347 f. m.w.N. (zur dementsprechend an-

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der nemo-tenetur-Träger beim strafgesetzgemäßen Verhalten verliert, bliebe danach unbeschränkt, wenn er sich ohnedies mitteilen wollte oder wenn die Strafverfolgungsbehörden jedenfalls die Folgebeweise statthaft hätten erlangen können. Plausibel wird das nur durch die Vorstellung, dass ein rechtserheblicher Selbstbelastungszwang nicht schon bei der tatsächlichen, sondern nur bei einer „normativ beachtlichen“ Verfänglichkeit vorläge (also nur bei der selbstbezichtigenden Enthüllung ohne hypothetische Alternativentstehung), weshalb das Verwertungsverbot auch nur in diesem Fall zum Einsatz komme90. Grundrechtsdogmatisch ist das jedoch nicht zu halten, zumindest nicht in den hier behandelten Konstellationen91. Die Schutzmechanismen der nemo-tenetur-Grundrechte stellen ihren Träger so, als würde er nicht beeinträchtigt. Wenn das bei Geheimnissen, die im Zugriffsbereich von hypothetischen Alternativermittlungen liegen, nicht gelten soll, so wird damit vom subkonstitutionellen Prozessrecht ein Teil der verfassungsrechtlichen Eingriffskonsequenzen für belanglos erklärt. Dies stellt, im Mantel dogmatischer Erheblichkeitswertung, sachlich einen eigenen Grundrechtseingriff dar, der einen Ausschnitt der an sich mobilisierten primären und sekundären Wirkungen der nemo-teneturGrundrechte negiert92. Ein solcher Schritt ist wie jede andere Grundrechtsverkürzung spruchsbegrenzenden Haltung in ihrem prozessrechtlichen Ableger etwa Amelung 1990, 42 ff., 49 ff.; ders. 1997, 508 f., 512 f.; ders. 2001, 1268 ff.; ders. 2002, 429; vgl. auch Eberle 1987, 360, 362 ff.). Diese Position ist sich mit der vorherrschenden Verwertungsverbotslehre (z.B. Rogall, NStZ 1988, 385, 387 ff., 392; Kelnhofer 1994, 141 ff., 248 ff.; vgl. jetzt aber auch Jäger 2003, 117 ff., 229 ff. sowie die Übersicht über die uneinheitliche Rspr. bei Jahn/Dallmeyer, NStZ 2005, 297 ff.) darin einig, den restitutiven Beseitigungsanspruch ungeachtet eines unerlaubten Anfangsvorgehens (z.B. einer belehrungslosen Vernehmung) für die eingriffsunmittelbaren Folgen (z.B. ein Geständnis) wie auch für die Folgen-Folgen (z.B. das geständnisbedingt aufgefundene Tatwerkzeug) aufzugeben, wenn der Staat dieser Beweismittel auch rechtmäßig habhaft geworden wäre (weil der Vernommene z.B. nach einer Belehrung ebenfalls ausgesagt hätte bzw. der Verwahrort des Tatwerkzeugs sowieso durchsucht worden wäre). Es müssten also lediglich die materiellen Eingriffsvoraussetzungen zur Erlangung der fraglichen Beweismittel bestanden haben. Dem Einwand, nach dem das Handlungsunrecht, das in einer regelwidrigen Informationserlangung liegt, notwendig auf das Erfolgsunrecht der Datenverfügbarkeit abfärbt, weil die Rechtsordnung die gegenständlichen Informationen dem Staat nur zuteilt, wenn er sie auf korrektem Wege erlangt (so z.B. Ackemann 1997, 186), will Amelung nicht anerkennen. Nur die materiellen Eingriffsvoraussetzungen und nicht auch deren prozessuale Realisierung sollen über die Rechtmäßigkeit oder Aufhebbarkeit der Informationslage entscheiden (1997, 512 f.). 90

So ausdrücklich z.B. Reiß 1987, 232; vgl. auch Hefendehl, wistra 2003, 1, 7 f.

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Die hiesige Lage unterscheidet sich von den unselbstständigen Beweisverwertungsverboten, weil die betroffenen Grundrechtspositionen dort durch das Vorliegen materieller Eingriffsvoraussetzungen verkürzbar sind, was vom Staat nur formal fehlerhaft wahrgenommen wird. Dass dies durch ein Verwertungsverbot korrigiert werden muss, mag man in der Tat bezweifeln. Das hier interessierende Verwertungsverbot hat aber von vornherein gar keine Korrektur-Funktion, sondern dient der Eingriffsunterbindung. 92

Es hat damit die gleiche Bewandtnis wie mit dem Streit um den Grundrechtstabestand (oben II.1. in Kap. 7): Hat man ein weites („unverformtes“) Bild vom Abwehrgrundrecht, ändert die Möglichkeit, dass ein Schutzgut durch hypothetische Maßnahmen beeinträchtigt werden dürfte, nichts an der Eingriffswirkung eines faktisch nun einmal erfolgten Aktes. Wenn man die hierdurch ausgelösten Grundrechtswirkungen deshalb abfängt, weil dieser Eingriff bei Lichte besehen gar kein Eingriff sei, dann nimmt sich diese Erwägung als nachgeschobene Beschneidung des Abwehr-

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zu legitimieren – nur kann dies hier schwerlich gelingen, weil der nämliche Eingriff allein dem Strafverfolgungsinteresse dient, das wiederum nicht dazu angetan ist, Restriktionen der Selbstbelastungsfreiheit zu fundieren (oben I.4.b)cc) in Kap. 10)93.

c) Ausnahmen vom Verwertungsverbot durch einfaches Recht? Durch die oben aufgezeigte Geltungsbasis des Verwertungsverbotes wurde die rechtsmethodische Zulässigkeit des entsprechenden Konkordanzvorschlags dargetan. Es bemisst sich hieran aber auch die Frage, ob das Beweisverwertungsverbot zu beschränken und etwa zeitlich auf vorkonstitutionelle Eingriffe zu verengen ist94. Die dahingehenden Versuche verdienen keine Zustimmung. Dem grundrechtsunmittelbaren Verwertungsverbot wäre bei nemo-teneturEingriffen jüngeren Datums nur dann kein Raum zu geben, wenn dem Gesetzgeber insofern ein Regelungsprimat zustünde95. Ginge es um eine von mehreren Varianten der Grundrechtsausgestaltung, wäre dies auch wirklich der Fall (denn die Einführung obläge dann dem Legislator und könnte nicht an seiner statt durch Verfassungsauslegung eintreten96). Das hier thematische Beweisverwertungsverbot ist aber ein Institut abwehrrechtlicher Art, das die Eingriffsfolgen strafrechtlicher Maßnahmen abfedert und damit deren Rechtmäßigkeit gewährleistet. In ihm äußert sich eine gleichsam automatisch („self executing“) zustande kommende Grundrechtswirkung, die den konstitutionellen Standard an Eingriffsfreiheit aufrechterhält. Wo dieser Zustand – wie beim SelbstbezichtigungsStrafrecht – nicht vollends sichergestellt ist, bildet es einen wesentlichen Funktionsausschnitt der übergeordneten Grundrechte, die verfassungsrechtlichen Bewegungsbereiche „aus eigenem Antrieb“ frei zu halten, solange die Störung vorhanden und nicht anderweitig (etwa subkonstitutionell) neutralisiert ist97. rechts aus. Sie bildet selbst wiederum einen Eingriff in das Grundrecht und muss legitimiert werden. Vermeiden lässt sich dies nur, wenn man die Reichweite grundrechtlicher Abwehrstrukturen vorab zurechtstutzt und dies dann so in das Grundrecht hineinverlagert, als enthielte dies schon immer nur die schmaleren Rechte. Bei solchen verengten Grundrechtsbegriffen, kann man es sich in der Tat sparen, die Verkürzung zu begründen. 93 Abgesehen von diesem materiellen Aspekt legitimiert die Alternativverlaufs-Dogmatik diesen Eingriff schon aus formellen Gründen nicht: Er müsste nämlich auf ein Gesetz gestützt werden können (näher Jahn/Dallmeyer, NStZ 2005, 297, 303). 94

So tendenziell BVerfGE 56, 37, 51; kritiklos anschließend Schäfer 1982, 50 f.; Reiß 1987, 230 ff.; Nothhelfer 1989, 105; Dietrich 1998, 134; Böse, wistra 2003, 47, 48 f.; ders. 2005, 458 ff.; a.A. Streck, StV 1981, 362, 364; Schramm 1990, 122 f.; Mäder 1997, 142; Wolff 1997, 144 f. 95

In diesem Sinne Reiß 1987, 239. Konsequenterweise dürfte es dann aber überhaupt keine selbstständigen Beweisverbote geben. 96 97

Vgl. dazu die grundlegende verfassungsrechtliche Erörterung bei Gellermann 2000, 372 ff.

Generell zur Zulässigkeit einer richterrechtlichen Rechtsfortbildung der staatshaftungsrechtlichen Folgen unzulässiger Staatsakte v.a. Grzeszick 2002, 403 ff.

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Man könnte aber auch an subkonstitutionell erzeugte inhaltliche Einschränkungen denken. Hierzu geben die Selbstbelastungspflichten in § 370 AO Anlass. Bei ihnen macht die Regelung in § 393 II AO, mit der die erzwungene Wissenspreisgabe bezüglich einkommensrelevanter nichtsteuerlicher Vordelikte beglichen wird, zwar den Rückgriff auf das grundrechtlich hergeleitete Verwertungsverbot entbehrlich, doch andererseits lässt sie die Benutzung einer besonders gewichtigen Selbstbezichtigung ausnahmsweise zu (§ 393 II 2 AO). Dass sich damit das im Hintergrund gleichsam mitlaufende, thematisch unbeschränkte konstitutionelle Verwertungsverbot ebenfalls reduziert, ist aber nicht zu begründen. Die grundrechtliche Eingriffsfolgenabwehr wirkt vielmehr in ganzer Breite fort –auch dort, wo die einfachrechtliche Beweisvorschrift enger gehalten ist. Eine korrespondierende Schmälerung des verfassungsrechtlichen Verwertungsverbots würde nämlich einen Eingriff darstellen (in Gestalt einer Beschneidung des Abwehranspruchs), den das davon begünstigte Strafverfolgungsinteresse nicht zu legitimieren vermag (I.4.b)cc) in Kap. 10)98. Nun zwingt § 370 AO gelegentlich auch zu Auskünften zu einer steuerlichen Vortat (VI.3. in Kap. 1). Hier soll das verfassungsrechtliche Verwertungsverbot sogar gänzlich ausgeschlossen sein, weil es der Gesetzgeber in § 30 IV Nr. 1 AO gerade erlaube, sämtliche Daten aus dem Besteuerungsverfahren in das Steuerstrafverfahren zu überführen99. Dem nemo-tenetur-Träger sei bereits durch die Selbstanzeigemöglichkeit geholfen. Indes trifft auch das nicht durchweg zu. Die subkonstitutionell vorgeschriebene Informationsdurchgängigkeit wird nämlich durch das höherrangige (grundrechtsbedingte) Verwertungsverbot „von selbst“ blockiert, sofern der Selbstbelastungslage nicht anderweitig abgeholfen wird. Genau diese Wirkung tritt dort ein, wo die Selbstanzeigeoption im Einzel- und Ausnahmefall ausgeschlossen ist und der Selbstbelastungszwang fortbesteht (§ 371 II, III AO)100.

98 Letztlich gleichsinnig OLG Stuttgart wistra 1986, 191, 192; Rogall 1977, 173 ff.; ders. 2003, 497; Stürner, NJW 1981, 1757, 1761; Otto, wistra 1983, 233; Reiß 1987, 233; Besson 1997, 168; Ruegenberg 2001, 92 ff., 219 ff.; H/H/Sp/Hellmann, § 393 AO/181 f.; Ranft 2005, Rn 358; Franzen/Gast/Joecks 2001, § 393/10, 72 ff.; ders. 2003, 455 m.w.N. 99 Vgl. OLG Hamburg wistra 1996, 239, 241; Streck/Spatscheck, wistra 1998, 334, 342; Aselmann, NStZ 2003, 71, 74. 100 Nach § 30 IV Nr. 1 AO steht das vom Betroffenen im Besteuerungsverfahren selbst produzierte Material für die steuerstrafrechtlichen Ermittlungen zur Verfügung (insbesondere auch jene Angaben, mit denen das Steuerdelikt begangen wurde). Da § 393 I 2 AO dem Grundrechtsträger freistellt, auch selbstbelastende Informationen preiszugeben, ist das unbedenklich – allerdings nur hinsichtlich dieser verfahrensrechtlichen Auskunftsgenerierung. Für die von § 393 I 2 AO unberührten materiell-rechtlichen Mitwirkungszwänge bedarf es, jedenfalls soweit die Selbstanzeigemöglichkeit (§ 371 AO) Lücken aufweist, freilich noch einer eigenen Konkordanzlösung. Wenn dem Beweisverwertungsverbot diese Aufgabe übertragen wird, muss es unbeschränkt sein.

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2. Begründung des Strafmilderungsmodells Beim Strafmilderungsmodell macht die einschlägige Rechtsgrundlage deutlicher als beim Beweisverwertungsverbot auf sich aufmerksam. Während eine zunächst denkbare verfahrensrechtliche Variante (Einstellung mit Auflage oder Weisung als abgesenkte Sanktion) mangels einer Prozessvorschrift mit hinreichendem Nachtatbezug schnell ausgeschieden werden kann101, liegt die normative Basis für eine materiell-rechtliche Strafmilderung offen auf der Hand: Die postdeliktische Lage des nemo-tenetur-Trägers gehört zum Sachbereich von § 46 II StGB, der auch das „Verhalten nach der Tat“ zum möglichen Strafzumessungsumstand erklärt. Sofern die Befolgung eines strafgesetzlichen Wissenspreisgabegebots dem zuzuschlagen und deshalb zur Senkung des Strafmaßes imstande ist, wäre das Fundament der Strafmilderungslösung gefunden. Gewiss ist diese Frage von einer erheblichen Komplexität, weil sie an strafzumessungsrechtliche Grundfragen rührt. Dennoch kann dieses unwegsame Gelände umgangen werden. Wie sich später (unten 3.) zeigen wird, zählt die Strafmilderung nämlich doch nicht zu den gesuchten Instituten der Enthüllungszwangskompensation – und um dies herauszuarbeiten, genügen auch die traditionellen Rezepte der strafzumessungsrechtlichen Mehrheitsfraktion. Deshalb wird hier deren Grundposition unterstellt, die eine Trennung vornimmt zwischen dem Durchgangsstadium der Schuldwertung und der darin sodann zum Zuge kommenden Präventionswertung102.

Auf der Ebene der Schuldwertung lässt sich die postdeliktische Normtreue nicht leicht einordnen. Dass sich der Grundrechtsträger dem Steuerungsanspruch der rechtlichen Ordnung beugt und die Drittrechtsgüter achtet, bildet normativ eine Selbstverständlichkeit. Im Falle eines nemo-tenetur-Eingriffs weist dies allerdings deshalb bemerkenswerte Züge auf, weil sich der Akteur in jene Handlungsgrenzen fügt, obwohl sie ihm seine einzige Chance zur Vortatverheimlichung nehmen. Zwar kann der tataufklärungsfördernde Aspekt dieses Vorgangs kaum als Strafmilderungsgrundlage herhalten, weil er sich strukturell als Nebeneffekt der Normbefolgung ausnimmt (und oft nur widerwillig erbracht

101 Da die Einstellung nicht folgenlos sein darf (sonst gehörte sie dem oben verworfenen Strafverzichtsmodell an), kommt ohnehin nur § 153a StPO in Frage. Dessen Voraussetzungen weisen aber keinen Bezug zum Nachtatverhalten auf. Wenn es zur Vortateinstellung kommt, dann erfolgt das nicht wegen des Enthüllungsansinnens, sondern als Konsequenz der vorhandenen sonstigen Merkmale (d.h. nur deshalb, weil es sich bei der Vortat zufällig um ein Vergehen mit allenfalls mittlerer Schuldschwere handelt und das öffentliche Verfolgungsinteresse beseitigt werden kann). 102 Außer Acht gelassen werden also bspw. die problematische Unterscheidbarkeit beider Wertungsstufen (die durch funktionale Schuldbegriffe gänzlich in Frage gestellt wird), die Unklarheiten des Schuldbegriffs sowie die Unterkomplexität des gesamten Konzepts (vgl. zur h.M. und ihrer Kritik die Darstellung bei Hörnle 1999, 23 ff. und Streng 2002, Rn 480 ff.).

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wird)103, doch könnte man immerhin daran anknüpfen, dass dem nemo-teneturTräger hier die Normeinhaltung schwerer als in sonstigen Handlungssituationen fällt und schwerer auch als allen anderen Normadressaten104. Dennoch wirkt sich diese Leistung nicht auf die Schuldwertung aus, zumindest nicht bei einer eng verstandenen Strafzumessungsschuld105. Die trotz erheblicher Gegenmotive gewahrte Konformität betrifft nämlich allein das nachtatlich verwickelte Drittrechtsgut und liegt außerhalb des vortatlichen Sinnzusammenhangs. In dem Augenblick, in dem der Betroffene auf Folgeschädigungen verzichtet, ist seine vorherige Unrechtsrealisierung meist schon vollendet, sodass sie weder in der Erfolgs- noch in der Handlungskomponente gemindert werden kann106. Die postdeliktische Strafnormeinhaltung samt ihrer Wissenspreisgabemomente ist also ohne Schuldbezug. Selbst wenn man die Strafzumessungsschuld aus sämtlichen tatbegleitenden Umständen erschließen wollte107, wäre daran nicht zu rütteln (solange man keine Indizkonstruktion zu Hilfe nimmt). Auf der Präventionsebene bereitet die Strafzumessungsrelevanz dagegen keinerlei Schwierigkeiten. Da auf dieser Entscheidungsstufe alle Faktoren verarbeitet werden, die für die sanktionsgetragene Beeinflussung des Verurteilten belangvoll sind, gibt die Verwertung des Nachtatverhaltens nirgends konstruktive Probleme auf108. Vornehmlich für die Einwirkungsbedürftigkeit des Angeklagten kann seine verfängliche Normtreue aufschlussreich sein. Ohne alltagstheoretische Fiktion, die ein derartiges Anschlussverhalten in einen konkreten Prognosewert umlegt und in Strafbemessungsdaten beziffert, ist dabei allerdings 103 Tateingeständnis, Wiedergutmachung oder Opferhilfe weisen dagegen ein solches überobligatorisches Moment auf. 104 Im Unterschied zum normalen Normadressaten ist beim nemo-tenetur-Träger das Geheimhaltungsmuster aktiv (oben I. in Kap. 5). 105 Dem Streitstand über die Strafzumessungsrelevanz des Nachtatverhaltens muss man mit Vorsicht begegnen. Dass es sich allein auf die Präventionswertung auswirke, wird nur selten vertreten. Der Streit kreist darum, ob es unmittelbar schuldrelevant ist oder die Tatschuld indiziert (zur Diskussion vgl. Baumann, NJW 1962, 1793, 1794 ff.; Hertz 1973, 66 ff.; Bottke 1979, 666 ff.; Moos 1983, 1284 ff.; Streng 2002, Rn 454). An der umstandslosen Rezeption jener Positionen hindert jedoch der Umstand, dass man bei ihrer Formulierung ganz andere postdeliktische Aktivitäten im Auge hatte; die hiesige Sachlage wird bislang nicht diskutiert (vgl. aber Brauns 1996, 210 ff., 253, der bei der strafzumessungsrechtlichen Würdigung der Wiedergutmachung neben der Taterfolgsminderung auch bestimmte Handlungsqualitäten schuldreduzierend berücksichtigt, u.a. die wegen des Entdeckungsrisikos gezeigte Überwindung und die Überführungsangst des Täters). 106

Darauf fußt auch die Schuldirrelevanz des Kronzeugenbeitrags (vgl. Jeßberger 1999, 87 f.).

107

Dies setzt voraus, dass hierfür „alle Umstände von Bedeutung sind, die sich in eine innere Beziehung zum schuldhaften Handeln setzen lassen (…, weil sie) mit der Erfolgs- oder der Handlungskomponente des dem Täter vorgeworfenen Unrechts in Zusammenhang stehen“ (Meier, GA 1999, 1, 11). 108 Vgl. Frisch, ZStW 99 (1987), 751, 778; vgl. auch dens. 1993, 16 Fn 76 (das Bestehen dieser Verwertungsmöglichkeit sei trivial) sowie Hertz 1973, 47.

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ganz sicher kein Auskommen109. Zwar finden sich durchaus einige empirische Hinweise auf die Indizkraft postdeliktischen Gebarens, doch fallen sie bisher noch allzu sparsam aus110. Unter diesen Vorzeichen erlaubt ein strafgesetzgemäßes Nachtatverhalten vorsichtige Präventivprognosen. Dafür muss es seine zumessungsrechtliche Unauffälligkeit ablegen; es darf als Selbstbezichtigungsakt nicht von selbstverständlicher Normalität sein111. Dann aber lässt sich begründen, dass derjenige, der sein drängendes deliktsbezogenes Geheimhaltungsinteresse hinter eine strafgesetzliche Anordnung stellt, den ihm rechtlich zugewiesenen Bewegungsraum auch sonst für seine eigenen Belange nicht sprengen wird und folglich einer geringeren unrechtsverdeutlichenden Einwirkung bedarf. Diese Vermutung meldet sich umso vernehmlicher zu Wort, je größer die so erbrachte Leistung erscheint. Sie steigt mit den Konsequenzen der aufgeopferten Geheimhaltungsaussicht112 und mit der Abwesenheit eines äußerlichen Normbefolgungszwangs113.

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Die darauf gründenden Skepsis (etwa SK-StGB/Horn, § 46/27 f.; Frisch, ZStW 99, 1987, 751, 779; ders. 1993, 27; Hörnle 1999, 85 ff.) kann aber nur darin münden, ein Mehr an empirischer Fundierung der prognosegestützten Entscheidung einzufordern. Deren Berechtigung sollte dagegen nicht in toto bestritten werden, denn normativ sind die Zweifel an ihrer Validierbarkeit unerheblich, weil das Gesetz den Richter in § 46 I 2 StGB ausdrücklich zu diesen Operationen verpflichtet (zum rechtsmethodischen Hintergrund oben II.3. in Kap. 3). Dennoch hat Frisch die hier verbleibenden Defizite wiederholt zum Anlass für eine strafzumessungsrechtliche Gesamtrevision genommen, die die Schuldstrafe funktional auf die Wiederherstellung des ursprünglichen Rechtszustandes als zentralen Strafzweck bezieht. Wie das verwirklichte Unrecht und die Tatverantwortung zeige danach auch das Nachtatverhalten die ausgleichsbedürftige Nicht-/Anerkennung des Rechts an und bilde so ein Kriterium der für die Rechtswiederherstellung erforderlichen Strafe (2000, 276 ff., 292 ff.). Damit erledigt sich dessen präventive Akzentuierung, weil die Präventionswertung zur Gänze überflüssig werde. Deren bisheriger Gegenstand sei „nichts weiter als eine in Präventionsterminologie gekleidete Reformulierung der Sachverhalte, die schon die Schuldstrafe bestimmen (…), wenn man Strafe als das ansieht, was nach begangenem Rechtsbruch zur Wiederherstellung des Rechts(zustands) erforderlich ist“ (a.a.O., 306). In der Tat hat dies Einiges für sich. An der Notwendigkeit von Fiktionen führt allerdings auch jener Entwurf nicht vorbei, nur kann er die Verrechnung der „Bestimmungsfaktoren“ zum Ausgleich eines normativ konstituierten „Normstabilisierungsbedürfnisses“ (1993, 18 f.) gut im Vagen lassen, während das dem empirischen Konzept der h.M. beim realen Einwirkungsbedarf des Täters nicht so leicht durchgeht. 110

Vgl. Göppinger/Bock/Böhm 1997, 392.

111

Verschiedentlich kann es bspw. auf die Einmaligkeit der abzuurteilenden Tat oder den durch sie markierten Abbruch einer devianten biografischen Phase hindeuten (vgl. LK/Gribbohm, § 46/225; Schäfer 2001, Rn 375, 389 f.). Umgekehrt ist es dann aber auch nicht von der Hand zu weisen, aus signifikanten Anschlussdelikten auf eine gesteigerte Sanktionsnotwendigkeit zu schließen (dazu BGH NStZ 1986, 158 (Theune); NStZ 1998, 404; Frisch 2000, 303 m.w.N.). Diese strafschärfende Berücksichtigung von Verdeckungstaten ist zwar ein grundrechtsdogmatisches Problem (oben I.3.c) in Kap. 10), entspricht aber der Strafzumessungslogik. 112 Gemeint ist nicht nur die Höhe der drohenden Vortatsanktion, sondern auch der ermittlungstaktische Nutzen der Enthüllung. Während der Hochverdächtige die Beweislage durch einen Ver-

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3. Verhältnis von beweis- und strafzumessungsrechtlicher Lösung Dem Verwertungsverbotsmodell eignet ein objektiver Charakter, da es allein durch das materielle Bestehen einer strafgesetzlichen Geheimhaltungsbeschränkung ausgelöst wird. Subjektiv muss der Betroffene hierzu nichts beisteuern, denn seine Enthüllung darf selbst dann nicht verwertet werden, wenn ihm deren Zwangshintergrund verborgen bleibt. Die Strafmilderungslösung fußt dagegen auf einer gänzlich anderen Basis. Sie reagiert auf die persönliche Leistung des Grundrechtsträgers, der sich zur verfänglichen normkonformen Aktion überwindet. Damit findet sie ihren Anstoß im fraglichen Subjekt, genauer: in dessen reflektiertem Umgang mit den selbstschädigenden Folgen des ihm abgeforderten Handelns. Infolge dieser Divergenzen ist das potenzielle Anwendungsfeld der beiden Konkordanzbewirkungsmodelle nur teilidentisch. Ihre gemeinsame Teilmenge liegt bei jenen objektiven Selbstbezichtigungslagen, die vom nemotenetur-Träger zutreffend erkannt werden114. Nur hier stellt sich ein Konkurrenzproblem. Vorrang hat in diesem Überschneidungsbereich die Verwertungsverbotslösung115. Als grundrechtlicher Abwehrrechtseffekt ist ihre Wirkung schon immer „da“ – und zwar ohne durch die subkonstitutionelle Milderungsoption verdrängt zu werden, weil nemo tenetur durch das Beweisverwertungsverbot besser zur Geltung kommt. Das Verwertungsverbot beseitigt im nachtatlichen Verhaltensdeckungsakt selten beeinflusst, ist die Nachtatversuchung besonders hoch, solang Vortat und Täter noch unerkannt sind. Das Gesetz greift diesen Aspekt z.B. in § 158 II 3. Var. StGB und § 371 AO auf, wo es dem Täter die Möglichkeit zur tätigen Reue bzw. zur strafbefreienden Selbstanzeige nimmt, sobald er entdeckt wurde (vgl. auch § 34 I Ziff. 16 ÖStGB, der für eine Selbstgestellung des Täters dann Strafmilderung vorsieht, wenn eine reale Fluchtoption besteht oder Nichtentdeckung wahrscheinlich ist). Auch bei einer „taktischen“, d.h. durch den Vortatbonus motivierten Normkonformität hängt die Milderung also von der Höhe des gezahlten Bezichtigungs-Preises ab. 113

Dass normativ eine Pflicht zum fraglichen Verhalten besteht (durch die jeweilige nachtatliche Strafnorm), muss für die Freiwilligkeitsfrage indes ausgeblendet werden (vgl. auch Meier, GA 1999, 1, 6 i.Z.m. § 46a StGB). Andernfalls wären i.Ü. auch Rücktritt und tätige Reue obsolet (denn dort wird stets ein Verhalten belohnt, das etwa durch §§ 823, 1004 BGB oder die zuvor missachtete Strafnorm ohnehin geboten ist). 114 Normtreues Handeln gemäß einer in ihrer Selbstbelastungszwangswirkung unerkannten Pflicht beruht nicht auf einer Selbstüberwindungsleistung und ist daher für die Strafbemessung neutral. Mit diesem Irrtum ändern sich die Beurteilung des Täters und damit die Präventionswertung (dazu generell Bruns 1985, 148 f.). Diese Konstellation unterfällt nur dem Verwertungsverbotsmodell. Umgekehrt ist beim eingebildeten nemo-tenetur-Eingriff ausschließlich an eine Strafmilderungslösung zu denken (dazu sogleich). 115 Dies gilt auch bei der strafprozessualen „Haftung“ für staatliches Unrecht. So unterliegt bspw. ein Geständnis, das auf einer fehlgeschlagenen Absprache beruht, einem unselbstständigen Beweisverwertungsverbot (dazu Kölbel, NStZ 2003, 232, 234 ff.; für ein selbstständiges Verwertungsverbot Beulke/Satzger, JuS 1997, 1072, 1075 f.). Durch diese beweisrechtliche Korrektur besteht für eine Strafmilderung kein Anlass (Beulke/Satzger, a.a.O., 1079 f.).

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regime sämtliche Spuren des Selbstbelastungszwangs, die eine Sanktionsmilderung nur teilweise tilgt (indem sie die Normtreuekonsequenzen lindert)116. Die beiden Modelle können auch nicht nebeneinander stehen, denn durch das Verwertungsverbot verliert die nachtatliche Normkonformität ihre Verfänglichkeit. Einer dadurch folgenlosen und daher selbstverständlichen nachdeliktischen Normtreue fehlt als Jedermannsleistung jene Signifikanz, die einen Strafbonus rechtfertigt. Die Beweisregelung stellt sich damit als alleiniges verwendungskontextuales Mittel zur Konkordanzherstellung heraus. Eine Strafnorm, die objektiv einen nachtatlichen Enthüllungszwang situiert, hat somit nur das eingriffskompensierende Beweisverwertungsverbot im Gefolge. Falls der nemo-tenetur-Träger bei seiner nachtatlichen Normeinhaltung einem Handlungsfolgenirrtum unterliegt und fälschlich annimmt, er werde sich dabei strafrechtlich belasten, ist seine Vortatstrafe aber ausnahmsweise doch einmal zu mildern. Die unerkannt eintretende Unverwertbarkeit kann hier seine Leistung, der Anordnung ungeachtet ihrer (eingebildeten) Nebenwirkungen nachzukommen, nicht schmälern. Folglich steht einer kumulativ hinzutretenden Strafmaßsenkung nichts im Wege. Gleichermaßen angezeigt ist diese Milderung bei einem Doppelirrtum, bei dem sich der Akteur einer nichtexistenten Selbstenthüllungspflicht ausgesetzt wähnt (etwa weil er seine Möglichkeiten zur unverfänglichen Normeinhaltung übersieht) und obendrein die prozessuale Verwendung seines scheinbar preiszugebenden Wissens gewärtigt. Der Einzugsbereich der Strafzumessungslösung liegt damit in jenen Konstellationen, in denen der beweisrechtliche Ausgleich eines tatsächlich oder vermeintlich vorliegenden nemo-tenetur-Eingriffs übersehen und dem eigenen Verhalten eine imaginäre Selbstbelastungswirkung zugeschrieben wird117. Zur eigentlichen Eingriffsbewältigung trägt das sanktionsrechtliche Modell aber nichts bei.

III. Das Programm der konfliktmindernden Tatbestandsauslegung Im ersten Abschnitt dieses Kapitels (oben I.1.d)) wurde mit der konfliktmindernden Strafnormauslegung eine weitere Verträglichkeitslösung avisiert. Ihrer 116 Grundrechte „suchen“ sich unter mehreren Kollisionslösungsmodellen die für ihr Schutzgut effektivste Variante aus, da mit ihnen die geringste Freiheitsverkürzung einhergeht. Zu dieser normativ begründeten Vorrangigkeit der Verwertungsverbotslösung kommt ihre größere Zielgenauigkeit, mit der sie nemo tenetur und Drittinteresse versöhnt: nämlich durch eine Beschränkung des Strafverfolgungsinteresses um genau dasjenige, was ihm ohnehin nur ermittlungsunabhängig und zufällig zustatten kam (wohingegen das Strafmilderungsmodell die Strafverfolgungsbelange weitergehend beschneidet). 117 Strafzumessungsrechtlich ist dieser umgekehrte Irrtum über eine Strafzumessungstatsache erheblich. Im Unterschied zum ersten Fall, wo der Selbstbelastungsgehalt der Enthüllung objektiv unverwertbar ist und dies nicht erkannt wird, ist die Handlungsfolgenerwartung im zweiten Fall wegen des Doppelirrtums genau genommen sogar korrekt: Da objektiv keine Pflicht zum selbstbezichtigenden Verhalten bestand und gar kein nemo-tenetur-Eingriff vorliegt, wird hier das Beweisverwertungsverbot nicht ausgelöst. Die Daten aus der verfänglichen Normeinhaltung können gegen den Grundrechtsträger, der zu ihrer Preisgabe nicht gezwungen war, verwendet werden.

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Idee nach stellt sie in Aussicht, den am Produktionskontext beteiligten Gütern dadurch Genüge zu tun, dass sie kontrollierte Abstriche am Tatbestand der Nachtatnorm vornimmt. Sie verspricht also, beiden Belangen zu ihrem Recht zu verhelfen, indem sie die straftatbestandlichen Grenzen gezielt verschiebt, sodass beiden Seiten etwas – aber eben nur etwas – gegeben und genommen wird. Die konfliktmindernde Tatbestandsauslegung reduziert den Schutz des Drittinteresses, ohne ihn zu beseitigen, und sie verringert die Reichweite des nemo-teneturEingriffs, ohne ihn vollständig aufzuheben.

1. Tatbestandslosigkeit bagatellschädigender Geheimhaltung Die Form des Güterausgleichs, die durch eine Straftatbestandseinschränkung herbeigeführt wird, beruht darauf, dass die kontradiktorischen Positionen auf eine graduierbare Weise realisiert werden können und dass die Zunahme auf einer Seite mit der Abnahme auf der anderen Seite korrespondiert. So kennt das Geheimhaltungsinteresse verschiedene Dringlichkeitsstufen, weil das Gewicht, mit dem die Selbstbelastungsfreiheit beschwert ist, von der Menge und den Themen der preisgegebenen Daten sowie von deren Erreichbarkeit für die Strafverfolgungsbehörden abhängt118. Wenn aber die Schwere der strafgesetzlich veranlassten Selbstbelastung mit dem Grad der Wissensverwendungsgefahr variiert, wäre dem nemo-tenetur-Träger schon dadurch gedient, dass man die qualifiziert verwertungsgeneigten Inanspruchnahmen aus seinen strafgesetzlichen Pflichten hinausinterpretiert. In aller Regel beeinträchtigt diese Verbotseinschränkung allerdings das gegenüberstehende Drittinteresse, das dann des Schutzes vor jenen tatbestandslos gestellten Geheimhaltungsakten entbehrt. Das Problem liegt folglich darin, für die Schutzreduzierung das rechte Maß zu treffen. Der Selbstbezichtigungsfreiheit durch ein Absenken der Strafrechtsgewährleistung zu größerer Wirksamkeit zu verhelfen, ist nur angängig, wenn dies der betroffenen Rechtsposition noch hinreichend gerecht wird. Dadurch bleibt der Korridor für eine konfliktmindernde Strafrechtsreduktion relativ schmal. Es kann allein um geringfügige Verletzungen der an sich geschützten Drittposition gehen. Man muss sich freilich umso eher bereit finden, auf diese Weise diejenigen Tatbestände, von denen die situativ einzigen Geheimhaltungswege verschlossen werden, restriktiv zu interpretieren, je umfangreicher und informativer das sonst Preiszugebende ist und je eher es die straftatverarbeitenden Prozesse fördert. Sofern aber der abgewendete Geheimhaltungseingriff nicht als banal erscheint, ist ein straftatbestandlicher Bagatellvorbehalt ge-

118 Wohlgemerkt: Das Risiko der Wissenspreisgabe bildet keine Frage der Eingriffsschwere. Die dahingehende Eintrittssicherheit ist für den Eingriff überhaupt konstitutiv (II.1.a) in Kap. 9).

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rechtfertigt – weil er eine verfassungsrechtliche Güterkollision in praktischer Konkordanz auflöst, genauer: weil er dem nemo-tenetur-Interesse durch eine gewisse Begrenzung des Geheimhaltungshindernisses entgegenkommt, ohne dem Drittrechtsgut einen übermäßigen Schutzverzicht abzuverlangen. Bei den so strafbefreiten Marginalschädigungen darf es sich indes keinesfalls um eine quantitative Schutzmaßsenkung handeln, die in Anlehnung an § 248a StGB einzelne geringwertige Tatobjekte aus der strafrechtlichen Rechtsgutgewährleistung komplett herausfallen lässt. In diesem Fall würde nämlich doch wieder nur jene unbefriedigende Alles-oder-nichts-Logik zur Geltung gebracht, die eine bestimmte (nämlich eine bagatellartige) Rechtsposition dem nemotenetur-Interesse rundum opfert119. Vielmehr wird eine echte Ausgleichswirkung allein durch eine qualitative Restriktion erreicht, die sich auf die minderschwere Beeinträchtigung der jeweiligen Tatobjekte bezieht: Das fragliche Gut (gleich welchen Wertes) bleibt seinem Inhaber hiernach erhalten, nur kann es der nemo-tenetur-Träger zur Vermeidung von Selbstbelastungen unbeträchtlich in seiner im Wesentlichen fortbestehenden Substanz beschädigen, ohne dafür Strafe zu erfahren120. Diese Überlegungen führen zu einer übergreifenden Auslegungsmaxime (anhand derer eine deliktsspezifische Ausrichtung zu erfolgen hat). Danach sind straftatbestandliche Aktivpflichten, denen lediglich in selbstverräterischer Weise nachzukommen ist, ebenso wie straftatbestandliche Handlungsverbote, von denen die letzte Möglichkeit zur Verhinderung eines Geheimnisverlustes untersagt wird, dahingehend zu lesen, dass sie geringfügige Beschädigungen ihrer jeweiligen Schutzgüter tolerieren (wobei die Bagatellgrenze mit Umfang, Verwertbarkeit und dem Verwendungsrisiko des sonst preiszugebenden Wissens korreliert). Einer solchen Auslegung sind zahlreiche strafgesetzliche Geheimhaltungsschranken zugänglich, nicht etwa nur jene Delikte, bei denen dies der Sache nach bereits erwogen wird (sogleich a) und b)). Der von nemo tenetur veranlasste, qualitative Geringfügigkeitstopos versteht sich als allgemeine strafrechtliche Interpretationsregel121. Ihr zufolge bleibt die – aktiv oder passiv be-

119 Wie bei den obigen Modellen (v.a. I.1.c)) bliebe es für das Drittinteresse nur dann bei bloßen Abstrichen, wenn man allein die allgemeine Rechtsgutebene in den Blick nimmt. Auf der Ebene konkreter Tatobjekte werden bagatellwertige Drittgüter hingegen vollständig aufgegeben. 120 Die Herausnahme qualitativer Bagatellen aus den Tatbeständen wirkt sich bspw. bei der geringfügigen Beschädigung eines Beweismittels aus (wobei es sich um eine hoch- oder geringwertige Sache handeln kann). Strafbar bleibt die vollständige Beweismittelvernichtung, selbst bei Sachen von geringem Wert. In der Diskussion um Inhalt und Auslegungsrelevanz des strafrechtlichen Bagatellprinzips spielt diese Unterscheidung keine Rolle (vgl. z.B. Ostendorf, GA 1982, 333, 342 f., 344; gelegentliche Anklänge indes bei Kunz 1984, 235 ff.). 121 Dies ist nicht zu verwechseln mit dem allgemeinen Bagatellprinzip, das im Schrifttum diskutiert wird (vgl. Krümpelmann 1966; Kunz 1984; Nugel 2004). Bei jener Debatte bemüht man

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wirkte – Körperverletzung, Sachbeschädigung usw. dann straftatbestandslos, wenn – sie in der Tatsituation für die Kontrolle eines vortatrelevanten (und nichttrivialen) Geheimnisses unabdingbar ist, – ihre jeweiligen Folgen ein gewisses Schädigungsniveau nicht übersteigen – und die Art und Weise ihres Vollzugs nicht schwerer als im deliktstypischen Durchschnitt wiegt122. Diese Anforderungskombination kann, das sei hier am Rande bemerkt, gelegentlich auch bei der Deliktsteilnahme des nemo-tenetur-Trägers für Straffreiheit sorgen (falls Tatbeteiligung und Haupttat wirklich einmal für die Geheimniswahrung unentbehrlich sind). Bei einer Haupttat, die lediglich das geringe Erfolgsunrecht qualitativbagatellartiger Schäden anrichtet, ist danach das Teilnehmen, das keinen eigenen außergewöhnlichen Handlungsunwert realisiert, kraft enger Auslegung von §§ 26, 27 StGB straffrei (obschon sich der Haupttäter strafbar macht123). Dabei sind, anders als man meinen könnte, diese Anstiftungs- und Beihilfeeinschränkungen keineswegs auf die Schützenhilfe der so genannten „Lehre vom akzessorischen Rechtsgutangriff“124 angewiesen: Nach Vorstellung dieser Beteiligungsdogmatik greife der Teilnehmer das haupttatbetroffene Gut eigenständig, wenngleich vermittelt über die täterseitige Fremdhandlung an. Daher setze seine Strafbarkeit (neben der rechtswidrigen Haupttat125) auch den Schutz des Rechtsgutes gegenüber seinem eigenen Angriff voraus126. sich ohne näheren Grundrechtsbezug darum, die Strafrechtsbegrenzung auf die „ultima ratio“ ernst zu nehmen und den darauf gründenden Zweifeln am Pönalisierungsbedarf bei allen minderschweren Schadensformen nachzugehen. Dies führt zu zwei Fragebereichen, nämlich erstens zur Charakterisierung des allgemeinen Bagatelldeliktes (wann gehört ein Verhalten, das formell dem Strafgesetz unterfällt, materiell dort „eigentlich nicht hin“) und zweitens zu den dort geeigneten dogmatischen Sonderbehandlungsmöglichkeiten. 122 Die Reduzierung des Erfolgsunrechts (von der man bei einem nur marginalen Ausmaß der Tatobjektsbeschädigung gemeinhin ausgeht; vgl. nur Krümpelmann 1966, 73), würde sonst durch ein angehobenes Handlungsunrecht ausgeglichen (zum Bagatelldeliktsbegriff, der Geringfügigkeit in beiden Hinsichten voraussetzt, etwa Krümpelmann a.a.O., 82 ff., 109; vgl. auch Kunz 1984, 309; Nugel 2004, 161 ff.). 123 Die Bagatellauslegung auch auf die Haupttat zu beziehen, ist grundrechtlich nicht geboten. Zwar würde damit dem nemo-tenetur-Träger insofern gedient, als sich für ihn dann leichter hilfswillige Geheimhaltungs-Täter fänden, doch wäre dieser nemo-tenetur-Nutzen nur ein Nebeneffekt. Die primäre Auswirkung, nämlich die Erweiterung der Verhaltensfreiheiten des Haupttäters, ist dagegen nicht begründbar. 124 Dazu v.a. LK/Roxin, Vor § 26/1 ff.; Überblick über den Meinungsstand bei Keller 1989, 161 ff.; SK-StGB/Hoyer, Vor § 26/7 ff. 125 Das Akzessorietätserfordernis erklärt sich daraus, dass eine Haupttat, die als „Medium“ des Teilnehmerangriffs gewissen Rechtswidrigkeitsanforderungen unterliegt, auch die Strafbarkeitsgrenzen von Teilnahmeakten konturiert (vgl. LK/Roxin, Vor § 26/5). 126 Gegen die h.M. (oben bei III.3. in Kap. 9) wäre in der Konsequenz dieses Ansatzes tatbestandslos: die Teilnahme des Gefangenen an seiner Gefangenenbefreiung (so LK/Roxin, Vor § 26/39; ders. 2003, § 26/47; SK-StGB/Hoyer, Vor § 26/32, 75; Gropp 1992, 244), die Teilnahme

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Dass es in den vorliegenden Fällen eben daran fehlt, scheint sodann strafbarkeitsauflösend auf die Teilnahmeaktivitäten des nemo-tenetur-Trägers durchzuschlagen127. Einer solchen Konstruktion bedarf es für die hiesigen Zwecke allerdings gar nicht, weil die Geringfügigkeitsmaxime die geheimhaltungsnotwendigen Bagatellschädigungen nicht nur in der Täterposition aus der strafrechtlichen Rechtsgütergewährleistung herausnimmt, sondern in jeder Beteiligungsrolle.

2. Vorbehalte? Bei alledem ist nicht zu übersehen, dass der hier vorgetragenen Auslegungsregel jene Delikte verschlossen sind, bei denen sich ein Erfolgsunrecht geringeren Grades nur durch unterschiedliche Eigenschaften der verletzten Tatobjekte, nicht aber durch eine mindere Verletzungsintensität ausmachen lässt128. Ferner kann die erhebliche Unbestimmtheit des Geringfügigkeitstopos’129 nicht von der Hand gewiesen werden. Das Bewegliche und Diffuse jener Schwelle, an der eine Bagatellschädigung in eine tatbestandliche Verletzung umschlägt130, bildet des Vortäters an seiner eigenen Strafvereitelung (so LK/Roxin a.a.O.; Seel 1999, 52 ff.; vgl. auch Gropp a.a.O., 248; U. Günther 1998, 230 ff.) und wohl auch die Teilnahme des Angeklagten an der zeugenschaftlichen Falschaussage (so der Sache nach Prittwitz, StV 1995, 270, 274 f.). Da die Rechtsgüter der §§ 120, 258, 153 f. StGB nicht gegenüber einem unmittelbaren (täterschaftlichen) Angriff des sanktionsbedrohten Grundrechtsträgers geschützt sind, könne er sie auch durch einen mittelbaren Angriff nicht verletzen. Dagegen bezweifelt etwa Lüderssen (LR, § 138a/51c), dass aus der Tatbestandslosigkeit täterschaftlichen Vorgehens automatisch folge, dass das fragliche Rechtsgut auch gegenüber indirekten (Teilnahme-)Angriffen ungeschützt ist (so aber ebenfalls Sch/Sch/Cramer/Heine, Vorbem §§ 25 ff./47b). 127 Würde sich die Geringfügigkeitsmaxime nur auf den täterschaftlichen Angriff beziehen und nur ihn (partiell) straflos stellen, wäre die Lage vergleichbar mit der Anstiftung oder Beihilfe des haupttatbetroffenen Tatopfers. Dessen Straflosigkeit zu erklären, ist für denjenigen problematisch, der (mit der h.M.) die Teilnahme aus dem Akzessorietätsprinzip erklärt und deren Unrecht aus dem der fremden Haupttat ableitet, weil sich der Teilnehmer dann daran mitwirkend anbindet (zu den hier liegenden Ungereimtheiten der h.M. LK/Roxin, Vor § 26/2, 18, 38). 128 Freiheitsberaubung und Gebrauchsanmaßung können kurz oder lang währen. Der Körper kann leicht oder schwer verletzt werden. Eine Urkunde kann man am Rande oder in ihrem zentralen Beweisinhalt verfälschen. Dagegen sind Tötung, Sachwegnahme oder Zueignung nur ganz oder gar nicht denkbar. Bei §§ 145d II Nr. 1, 164, 187 StGB lassen sich die Verdächtigungs- und Verleumdungswirkungen ebenfalls nicht sinnvoll abstufen. Dagegen ist eine unterschiedlich intensive Strafvereitelungswirkung durchaus möglich (Bsp.: verzögerte oder verhinderte Aburteilung). 129 Zu diesem Einwand im vorliegenden Kontext Jahn 1998, 340. Allerdings weiß die Strafrechtspraxis mit Normprogrammen von ähnlicher Unbestimmtheit (z.B. §§ 248a, 34 StGB, § 153 StPO) durchaus umzugehen (vgl. auch Krümpelmann 1966, 110). 130

Fest steht allerdings, dass diese Schwelle bei jenen Tatbeständen, bei denen die Tatbestandslosigkeit unwesentlicher Tatobjektsschädigungen mangels Strafbedürftigkeit ohnehin anerkannt ist (zur unerheblichen Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens bei § 223 StGB vgl. OLG Düsseldorf NJW 1991, 2918; zur unerheblichen Beeinträchtigung der bestimmungsgemäßen Brauchbarkeit bei § 303 StGB vgl. BGHSt 13, 207; NStZ 1982, 508 f.), nochmals steigt, wo ein Konflikt mit nemo tenetur behoben wird.

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jedoch den Preis für die so erzielte sensible Lösung des jeweils individuellen Güterkonflikts131. Eher noch schlägt es als Nachteil zu Buche, dass an der Tatbestandslosigkeit von Bagatellschäden zuweilen auch solche Teilnehmer partizipieren, die sich in gar keiner Selbstbelastungslage befinden. Man wird dieses Manko allerdings hinnehmen können, weil es nur bei unerheblichen Ereignissen von geringer sozialer Dramatik (Bagatellen) auftritt. Da die betroffenen Drittrechtsgutträger eine geringfügige Schutzlosstellung in aller Regel leicht verschmerzen, muss man auch nicht befürchten, dass sie vermehrt zur misslichen Putativnotwehr greifen (weil ihnen die Selbstbezichtigungslage ihrer Schädiger samt der darauf beruhenden Strafnormeinschränkung verborgen bleibt132). Der Bagatellausschluss hat also ganz sicher einige Schattenseiten, doch können diese seiner grundsätzlichen Berechtigung kaum etwas anhaben.

3. Beispieltatbestände a) § 142 I – III StGB Eine konfliktmindernde Tatbestandsauslegung durch die qualitative Schutzreduktion wird bei der Interpretation von § 142 StGB einen Tatbestandszuschnitt suchen, bei dem die Beweissicherungsinteressen auch ohne gesteigert verfängliche Mitwirkungen gewahrt sind. Genau auf jene Konkordanzlösung läuft ein hier aufzugreifendes Konzept im neueren Schrifttum hinaus, dem zufolge der Pflichtenkreis des § 142 StGB „nur gegenüber Privaten, nicht jedoch gegenüber der Polizei erfüllt werden“ muss133. Den Feststellungsbedürfnissen des Unfallgegners kommt dies weiterhin entgegen, da er die zur Schadensabwicklung erforderlichen Daten in der Privatkommunikation erheben kann. Er verliert lediglich die Möglichkeit, jene Feststellungen mit dem Strafrecht im Rücken auch polizeilich vornehmen zu lassen und sich damit eine amtliche Beglaubigung zu verschaffen. Dass die Beweissicherung in diesem überschüssigen Modus straflos verweigert werden kann, rechtfertigt sich durch die damit einhergehende Absenkung des Selbstbezichtigungszwangs – dadurch also, dass die 131

Man kann dieser Unbestimmtheit also auch eine positive Seite abgewinnen, weil sie eben eine Anpassung an die Individualitäten des konkreten Falls erlaubt (wohingegen z.B. die Beweisverwertungsverbotslösung keine Rücksicht nimmt auf die situative Dringlichkeit der Geheimhaltungs- und gegenläufigen Schutzinteressen). 132 Diese Befürchtung hegt Torka 2000, 55, 126. Dabei ist ohnehin zweifelhaft, dass es sich hier tatsächlich um Fälle der Putativnotwehr handelt. Mit der Straftatbestandslosigkeit einer Bagatellschädigung geht keineswegs automatisch ihre außerstrafrechtliche Erlaubnis einher. Als zivilrechtswidrige Übergriffe lösen sie Notwehrrechte aber gleichermaßen aus (vgl. Kühl 2002, § 7/59). 133 H. Schneider 1991, 149; ebenso Geppert, BA 1991, 31, 36 ff.; zustimmend Verrel 2001, 96 f. (ähnlich schon Magdowski 1979, 69).

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Wahrscheinlichkeit, mit der die betreffenden Unfallabwicklungsbeiträge eine strafprozessuale Verwendung finden, ohne Einschaltung der Polizei deutlich sinkt134. Technisch bedeutet diese Anwendung der Geringfügigkeitsmaxime bei § 142 StGB ein Zweifaches: Strafrecht gewährleistet dem Verunfallten kein beweisrechtliches Optimum, sondern allein jene selbsttätige Beweissicherung, die einen hinreichenden Zivilrechtserfolg verspricht. Der Unfallgegner muss dafür die fraglichen Feststellungen ermöglichen (§ 142 I Nr. 1 StGB), nicht aber das Eintreffen der Polizei abwarten. Hat er einen informationellen Grundstock bereitgestellt, kann er hernach die ihm angesonnene Hinzuziehung der Beamten zurückweisen. Anders verhält es sich nur, wenn sich die erforderliche Beweissicherung im privaten Austausch ausnahmsweise nicht realisieren lässt135. Wann das der Fall ist und die außerbehördliche Erkundigung für ein aussichtsreiches Vorgehen nicht genügt, bemisst sich an den zivilrechtlichen Haftungsvoraussetzungen136. Der Al-

134 Auch die Rspr. des BGH bietet jetzt ein vergleichbares Bsp. für diese Art der Konfliktlösung: In Fällen, in denen sich ein Steuerpflichtiger bei Erfüllung seiner Steuererklärungspflicht eines nicht-steuerlichen Delikts bezichtigen würde und in denen diese Information ausnahmsweise auch von der Steuer- an die Strafverfolgungsbehörde weiter geleitet werden könnte (§§ 30 IV Nr. 5, 393 II 2 AO), will er es zulassen, dass in der Steuererklärung nur reduzierte Angaben über die strafbar erworbenen Einkünfte gemacht werden. Es genüge der fragliche Betrag, auch wenn die Einkunftsquelle verschwiegen wird (BGH StV 2004, 578). Wie der Unfallgegner muss sich der Staat also mit der Kerninformation zufrieden geben und im Interesse von nemo tenetur auf ein informationelles Extra – die amtliche Beglaubigung bzw. die Überprüfungsmöglichkeit –verzichten. 135 Vgl. H. Schneider 1991, 145; Hartman-Hilter 1996, 123 ff.; LK/Geppert, § 142/102, 106, 108 f.; ders., BA 1991, 31, 39; NK/Schild, § 142/71. Im Gegenzug muss der Unfallbeteiligte faktisch darauf verzichten, sich gegenüber dem anderen Akteur rein passiv zu geben. Der Unfallgegner ist für die erforderlichen Daten nämlich v.a. auf seine Ausweisvorlage angewiesen. Er kann daher, wenn der Unfallbeteiligte darauf beharrt, dass § 142 I StGB von ihm nur das Erdulden der Feststellungen verlangt, zur Erlangung der Mindestinformationen die Polizei einschalten (vgl. auch LK/Geppert, § 142/100, 103). 136 Das bedeutet auch, dass der Feststellungsumfang sinkt, je unspezifischer („anspruchsloser“) die zivilrechtlichen Haftungsgrundlagen beschaffen sind. Deshalb ist es strafrechtserheblich, dass im reformierten Haftungsgefüge (§§ 7, 17, 18 StVG) ein verschuldensunabhängiges Schmerzensgeld vorgesehen ist (§ 11 S. 2 StVG) und dass die Halterhaftung erst bei höherer Gewalt entfällt (§ 7 II StVG). Hinzu kommt der Gesichtspunkt der Beweisverteilung: Der Unfallflüchtige, der dem Unfallgegner die ihm obliegende Beweisführung schuldhaft unmöglich macht, muss dessen Behauptung im Zivilprozess als wahr gelten lassen oder deren Unrichtigkeit nachweisen. Je weiter diese Beweislastregelung geht, desto weniger wird das Beweissicherungsinteresse durch eine Mitwirkungsverweigerung wirklich beeinträchtigt. Hinreichenden Zivilrechtserfolg versprechen mit anderen Worten bereits Marginalangaben im Verein mit einer sonstigen Beweisvereitelung, sodass der Unfallbeteiligte seiner Feststellungsduldungspflicht kurioserweise auch in diesem Fall gerecht wird (eingehend NK/Schild, § 142/63 ff.).

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koholisierungsgrad des Unfallbeteiligten zählt allerdings nicht zum Kreis der erforderlichen Basisinformationen137. Auch der ihm aufgegebenen Pflicht zur nachträglichen Unfallmeldung (§ 142 II, III StGB) braucht der Grundrechtsträger allein gegenüber dem anderen Unfallbeteiligten nachzukommen. Während ihm die h.M. diesen Privatkontakt nur zubilligt, wenn diese Mitteilungsform mindestens ebenso zügige Feststellungen wie das Vorstelligwerden bei der Polizei ermöglicht138, hat er hier richtigerweise die freie Wahl. Ungeachtet etwaiger Verzögerungen kann er den Feststellungsberechtigten auf dem risikoärmeren Weg direkt benachrichtigen, solange dadurch keine haftungsrelevanten Beweisverluste eintreten139.

137 Sogar jenem Schrifttum zufolge, dass § 142 StGB wegen nemo tenetur einschränkt, muss dem Verlangen nach einem polizeilichen Alkoholtest nachgegeben werden, weil eine derartige Beweiserhebung nicht in der Privatkommunikation vorgenommen werden könne (vgl. H. Schneider 1991, 147 f.; LK/Geppert, § 142/107 m.w.N. zur noch strengeren Judikatur). Anders sei dies nur, wenn der Test wegen einer eindeutigen Haftungslage privatrechtsunerheblich ist (zur Häufigkeit dieser Situation NK/Schild, § 142/67; Zopfs 1993, 80 ff.; für ein Bsp. OLG Saarbrücken, NZV 1999, 131). Diese Einschränkung ist aber viel zu eng: § 142 StGB konstituiert kein eigenes Beweissicherungsrecht für alle haftungsrechtlich belangvollen Umstände, an denen ein faktisches Beweissicherungsinteresse aufkommen mag, sondern sichert nur die Realisierbarkeit der vom Zivilrecht tatsächlich vorgesehenen Beweiserhebungsrechte (vgl. Dvorak, JZ 1981, 16, 17; a.A. Zopfs a.a.O., 78 f.). Diese zivilrechtlichen Ansprüche (§§ 229 f., 809 f. BGB) beschränken sich auf „normale“ Unfallfeststellungen und beinhalten kein Recht auf Blutuntersuchung (eingehend dazu Hartmann-Hilter 1996, 72 ff.). Wenn daher die Unfallbeteiligten voneinander keinen Alkoholtest verlangen können, erzwingt § 142 StGB auch nicht die dafür erforderliche Anwesenheit am Unfallort (andernfalls würde sein zivilrechtsgebundenes Pflichtenprogramm gesprengt). Sofern der Unfallbeteiligte seine notwendigen Basisangaben gemacht hat (soeben in und bei Fn 136), muss er also keine polizeilichen Feststellungen zu seiner Alkoholisierung abwarten. Bei Lichte besehen betreibt der Unfallgegner, der auf einer polizeilichen Trunkenheitsuntersuchung besteht, demnach die Ingangsetzung strafrechtlicher Ermittlungen, um an den dortigen Beweiserhebungsbefugnissen zu partizipieren, obwohl dieser Beweisnutzen mehr ist, als ihm das Zivilrecht zugesteht (wobei der hoheitlichen Deliktsaufklärung solche privatnützigen Nebeneffekte ohnehin eher fremd sind; vgl. dazu etwa OLG München NJW 2004, 1119). Im Übrigen führt auch das staatliche Interesse, das Unrecht einer unfallverursachenden Alkoholfahrt zu vergelten und zukünftige Trunkenheitsfahrten zu verhindern (Strafverhängungsinteresse), nicht zur fraglichen Wartepflicht. Abgesehen davon, dass § 142 StGB für solche Zwecke nicht gedacht ist, wird die Durchsetzung des Strafanspruchs aus der hiesigen Konkordanzlösungssuche ausgeblendet (oben bei Fn 6 f.). 138 Auf die Wahl zwischen der Meldung beim Berechtigten oder bei der Polizei wirke sich das Unverzüglichkeitsgebot in § 142 II StGB dergestalt aus, dass „der meldepflichtige Unfallbeteiligte grundsätzlich den Weg wählen muss, der die geforderten nachträglichen Feststellungen auch unverzüglich ermöglicht“ (Janiszewski 2004, Rn 532; ebenso neben BGHSt 29, 138, 142 z.B. Lackner/Kühl, § 142/26; Tröndle/Fischer, § 142/47). 139 Zur Ansicht, nach der „sich das Merkmal der Unverzüglichkeit ausschließlich jeweils auf die vom Täter gewählte Art der nachträglichen Meldung bezieht und das Wahlrecht nicht einschränkt“ (OLG Düsseldorf VRS 54, 1978, 41, 42) siehe bspw. LK/Geppert, § 142/156 sowie mit Blick auf nemo tenetur ebenso ders., BA 1991, 31, 41; Magdowski 1979, 176 f.; H. Schneider 1991, 150 f.; und der Tendenz nach auch NK/Schild, § 142/148.

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Bei der Behauptung, durch eine solche Normauslegung sei der Eingriff in nemo tenetur in sich zerfallen140, wird die Grundrechtswirkung allerdings überzeichnet. Mit der privaten Natur des Erklärungsempfängers löst sich die selbstbezichtigende Eingriffsqualität nicht vollständig auf, da die Enthüllungspflicht weiterhin staatlich gesetzt (und sogar erzwungen) wird141. Die Absage an die vorherrschende Ansicht, welche die Polizei als notwendigen Adressaten der Nachunfallspflichten aufbaut, verhindert lediglich, dass die „natürliche“ Trennung von Produktions- und Verwertungskontext automatisch verloren geht. Aufklärungsbeiträge, die der Unfallbeteiligte allein dem Feststellungsberechtigten erbringen muss, werden seltener zu strafrechtlichem Stoff142. Dass sich das Bezichtigungspotenzial der Inanspruchnahme nur im Fall einer Privatanzeige realisiert, senkt also die Eingriffsintensität.

b) § 153 StGB Der hier verfochtene qualitative Bagatellauschluss schlägt sich ebenfalls bei den Gefährdungsdelikten nieder. Er erklärt dort zunächst einmal die Tatbestandslosigkeit derartiger Gefahrherstellungen, die am (konkret oder abstrakt) bedrohten Tatobjekt lediglich zu geringfügigen Schäden führen können. Die Struktur der Gefährdungsdelikte lässt solche Erheblichkeitsabstufungen jedoch darüber hinaus auch auf der Achse des Gefahrengrades zu. Hier schließt der Geringfügigkeitstopos solche Sachlagen, bei denen die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gering bzw. dessen Abwendung zu erwarten ist, aus dem Normbereich „konkreter Gefahren“ aus143. Obendrein stützt er die Forderung, Zustände ohne jedes individuelle Risikopotenzial aus den abstrakten Gefährdungstatbeständen auszuscheiden144. Allerdings muss dies hier nicht weiter vertieft werden, da in dieser Deliktsform kaum einmal Verdeckungstaten auftre-

140

So offenbar H. Schneider 1991, 148 f.; LK/Geppert, § 142/64.

141

Dazu bereits oben II.1.a) in Kap. 9. Für selbstständig einklagbare, zivilrechtliche Rechenschaftsansprüche wird diese Meinung i.Ü. von der h.M. geteilt. Bei verfänglichem Auskunftsinhalt gelten jene Verpflichtungen, selbst wenn sie vorprozessual („privat“) beim Anspruchsinhaber befriedigt werden, deshalb als Selbstbelastungszwang, weil hinter ihnen die drohende staatliche (!) Zwangsvollstreckung steht (oben IV.2.a) in Kap. 1). 142 Wegen des Legalitätsprinzips ist die zum Unfallort gerufene Polizei fast immer verpflichtet, die Spurenlage (zu der die Feststellungen bei den Beteiligten zählen), unter strafrechtlichen Vorzeichen zu lesen. Wird der Unfall privat abgewickelt, kommt es dazu erst nach einer Strafanzeige. Die darin liegende Filterwirkung dürfte erheblich sein (instruktiv zu individuellen Anzeigemotiven Hanak/Stehr/Steinert 1989). 143

In der hier zugehörigen Diskussion (zusammenfassend Zieschang 1998, 43 ff.), taucht der Geringfügigkeitsgedanke nur vereinzelt auf (vgl. aber Ostendorf, GA 1982, 333, 339). 144 Auch in dieser Debatte (zu ihr z.B. Zieschang 1998, 349 ff.) kommen Geringfügigkeitsüberlegungen nur unterschwellig zum Tragen (vgl. aber Saal 1997, 112 f.).

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ten145. Eine wichtige Ausnahme bildet freilich die Falschaussage des verdächtigen Zeugen. Die ganz h.M. macht aus § 153 StGB ein abstraktes Gefährdungsdelikt, da sie auch die Zeugenlüge zu unbedeutenden und entscheidungsunerheblichen Gegenständen für strafbar hält146. Dabei gesteht sie durchaus ein, dass sie damit „Fälle von ausgesprochenem Bagatellcharakter unter Strafdrohung stellt“147. Dass es sachgerecht und möglich sei, den Strafbarkeitsbereich stattdessen auf konkret entscheidungsgefährdende Falschaussagen zu beschränken, ist man daher durchaus einzuräumen gewillt, doch sei diese Lösung de lege lata einfach nicht zu haben148. Nur vereinzelt wird eine solche enge Tatbestandsinterpretation verfochten149. Hiergegen verweist die h.M. auf den Sachbezug von § 153 StGB. Typischerweise sei die richterliche Entscheidung während der fraglichen Zeugenaussage noch in Arbeit, sodass sich die Erheblichkeit einer anscheinend belanglosen Falschaussage erst im Nachhinein herausstellen mag. Ohnehin ziehe mit der Lüge eine unabgeschirmte Gefahr ein, deren Realisierung (Verwertung in der Entscheidung) der Zeuge nicht beherrscht, da sie von verfahrenskommunikativen und richterkognitiven Anschlussprozessen abhängt. Wegen der oft undurchschaubaren juristischen Relevanz seiner Angaben und ihrer häufig unabsehbaren Fortwirkung im Interpretations- und Interaktionsgeflecht des Prozesses könne er die Tragweite seines Verhaltens subjektiv nur schwer überblicken150. Wollte man abstrakte Gefährdungen aus dem Falschaussagetatbestand herausnehmen, brächte dies demnach auch Strafbarkeitslücken bei konkreten Gefährdungen mit sich. 145 Zu denken ist jedoch an die artverwandte Hilfspflicht in § 323c StGB. Sofern die Hilfeleistung nur verfänglich möglich ist, sind daher Gefahren für geringwertige Tatobjekte tatbestandlich ausgeschlossen (unabhängig von nemo tenetur zu dahingehenden Überlegungen Haubrich 2001, 170 m.w.N.). Situationen mit geringer Gefahrintensität lösen ohnehin keine Hilfeleistungspflichten aus (vgl. Küper 2005, 299). 146 Dazu m.w.N. oben I.3.b) in Kap. 10. Eine Ausnahme macht die h.M. nur bei Äußerungsgegenständen, die kein „kommensurables“ Verhältnis zum Verhandlungsgegenstand haben. Nur liegt das nicht an der Entscheidungsunerheblichkeit solcher Prozesslügen. Es handelt sich bei ihnen vielmehr um gar keine „Aussage“ i.S.v. § 153 StGB, denn dafür muss die nämliche Äußerung mit dem Prozessstoff in einem „bei vernünftiger Betrachtung noch einsehbaren Zusammenhang stehen“ (so zum Ganzen Vormbaum 1987, 249 f., 263). 147

Vormbaum 1987, 266.

148

So Herrmann 1973, 178 ff.; Vormbaum 1987, 266 f.; Müller 2000, 71. Zu den nur abstrakt gefährlichen, unerheblichen Falschaussagen zählen freilich auch prozessual unverwertbare Prozesslügen. Soweit der Verfahrensfehler, der die Unverwertbarkeit begründet, bereits das Zustandekommen der prozessualen Wahrheitspflicht verhindert, ist diese Falschaussage aber schon durch die fragmentwahrende Auslegung tatbestandslos (oben II.3.b) in Kap. 11). 149 Vgl. Opperbeck 1969, 2 ff., 77: Bei § 153 StGB komme es auf eine konkrete Gefährdung oder Schädigung wahrhaftiger Rechtspflegetätigkeit durch Berücksichtigung der Aussage an. 150

Vgl. Vormbaum 1987, 264 ff.; Müller 2000, 70 sowie oben II.4. in Kap. 5.

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Dazu, dass Zeugen ihre konkreten Falschaussagen irrig für bedeutungslos halten, mag es in dem von der h.M. treffend beschriebenen Normbereich in der Tat gelegentlich kommen. Wegen dieser Konstellation, und nur wegen dieser, soll also die weite Interpretation von § 153 StGB, die hier an der Tatbestandsmäßigkeit keine Zweifel hegt, unumgänglich sein151. In solchen Fällen gereiche die enge Lesart nämlich der Rechtspflege zum Schaden, weil diese objektiv gefährdet werde, ohne dass dies zur Strafe führe (abgesehen vom Fahrlässigkeitsdelikt bei der rechtspraktisch seltenen Beeidung, § 163 I StGB)152. Ein rigoroses Verbot abstrakter Wahrheitsgefährdung würde dieser Schutzposition besser dienen, weil es sich auf sämtliche Falschaussagen erstreckt. Beim Normadressaten werde so das leicht fehlgehende Kalkül, das auf die konkrete Ungefährlichkeit der Äußerung setzt, von vornherein abgeschnitten153. Dennoch ist die engere Lesart richtig: Sie beseitigt den strafrechtlichen Schutz, den das lückenlose abstrakte Gefährdungsverbot den justiziellen Wahrheitsbelangen bietet, nur für eine Zone fehlender Gefahr, die lediglich in den schmalen Abschnitt irrtumsgetragener tatsächlicher Risiken hinüberreicht. Deshalb zieht es nur ein marginales Gewährleistungs-Minus nach sich, wenn man für § 153 StGB den Eintritt einer konkreten Gefährdung verlangt. Zugleich bringt dies aber einen willkommenen Freiheitseffekt hervor, weil sich die Geheimhaltungschancen des Zeugen so um einige straflose Verdeckungslügen erweitern. Durch eine derartige Absenkung der strafgesetzlichen nemo-teneturBeschränkung wird die Rechtspflegebeeinträchtigung allemal aufgewogen. Der justizielle Wahrheitsschutz ist durch diese konkordanzorientierte Normauslegung ohnehin nur in homöopathischer Dosis dezimiert. Diese Enge der Tatbestandsausnahme resultiert aus der realiter seltenen Gleichzeitigkeit ihrer Voraussetzungen: Notwendig ist ein Aussagegegenstand, in dem sich die (Vor-)Delikte des Zeugen und des Angeklagten treffen und gleichermaßen trennen. Im Grunde setzt die tatbestandslose Prozesslüge, die sich als Verdeckungsakt notwendig auf die eigene 151 Nur hier fühlt sich die h.M. überlegen. Vermutlich könnte sie damit leben, dass die objektiv entscheidungsunerhebliche Falschaussage nach der engen Interpretation von § 153 StGB kein vollendetes Delikt ist, sondern straflos ausgeht oder als Versuch endet (wenn der Zeuge die Aussage irrig für entscheidungsrelevant hält). 152 Ist nur die konkret entscheidungsgefährdende Falschaussage tatbestandsmäßig, bleibt es mangels Vorsatzes straflos, wenn eine solche Lüge in der fälschlichen Annahme ihrer Irrelevanz erbracht wird. Folglich ist die Wissensgeheimhaltung durch (im Aussagezeitpunkt vermutlich) unbedeutende Falschaussagen für den Zeugen also nur dann riskant (da leicht doch noch strafbar), wenn er von seiner Vereidigung ausgehen muss. Wegen des Fahrlässigkeitstatbestands (§ 163 StGB) würde ihn dann auch sein fehlender Vorsatz nicht retten. Denkbar bleiben natürlich umgekehrt gelagerte Fälle, in denen die irrige Annahme der Aussageunerheblichkeit lediglich eine nachträgliche Schutzbehauptung des Zeugen darstellt. Hiermit umzugehen, ist richterliches Alltagshandwerk. Ein Argument gegen die enge Tatbestandsdeutung folgt daraus nicht (vgl. auch Opperbeck 1969, 14; Herrmann 1973, 181). 153

Zur verfassungsrechtlichen Relevanz dieses Gedankens oben I.3.b) in Kap. 10.

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Vortat bezieht, einen thematischen Unterschied zwischen diesem Zeugengeheimnis und dem Anklagekern voraus, weil sie in diesem drittgerichteten Strafverfahren keine konkrete Entscheidungserheblichkeit erreichen darf. Andererseits müssen beide Materien wiederum so eng verbunden sein, dass der belastete Zeuge bei einer wahrhaftigen Aussage – und auch bei einer Aussageverweigerung154 – sein Geheimnis verlieren würde (sonst fehlt es am Selbstbelastungszwang). Angesichts dessen ist das vom Geringfügigkeitstopos gesteckte Ausmaß gewahrt.

4. Vorrang der materiell-strafrechtlichen vor der prozessualen Lösung Wo das Selbstbezichtigungs-Strafrecht nach dem hier entworfenen Muster restriktiv gedeutet wird und somit dasjenige Geheimhaltungshandeln straffrei bleibt, das nur geringfügigen Schaden anrichtet, ist aus nemo-tenetur-Warte der passende Schlüssel gefunden. Im Einzugsbereich dieser Lösung entsteht dem Grundrechtsträger kein strafrechtsbedingter Selbstbelastungsnachteil, da in ihm der Zwang zum verfänglichen Verhalten ausbleibt. Das Konkordanzmodell des Beweisverwertungsverbots kann damit nicht Schritt halten. Gewiss wird es der Selbstbelastungsfreiheit ebenfalls gerecht, ohne aber sämtliche Restrisiken für nemo tenetur zu beräumen. Die Selbstbezichtigung, die der Normadressat bei ihm weiterhin in die Welt setzen muss, ist durch das Verwendungsverbot zwar umgehend neutralisiert, doch durch die lebenspraktischen Lücken dieser normativen Mechanik sickern die Selbstbelastungs-Rückstände weiterhin durch155. Demgegenüber erreicht die konfliktmindernde Auslegung einen Mehrwert: Der nemo-tenetur-Eingriff ist hier vollends beseitigt. Das kommt der Rechtsordnung auch nicht zu teuer zu stehen, da man beim Drittschutzinteresse dafür nur solche Bagatellabstriche macht, bei denen das Güterarrangement ausgewogen bleibt. Das geringere Konkordanzherstellungspotenzial des Beweisverwertungsverbots erklärt dessen Subsidiarität bei der Bewältigung strafgesetzlicher Geheimhaltungsschranken. Soweit die Selbstbelastungswirkung durch eine tatbestandliche Geringfügigkeitsausnahme behoben wird, bleibt für die prozessuale Lösung 154

Wo die Wissenspreisgabe durch Aussageverweigerungsrechtswahrnehmung wirklich verhindert werden kann, sieht das Gesetz einen Ausweg aus dem Auskunfts- und Selbstbelastungszwang vor, sodass der nemo-tenetur-Eingriff beseitigt und eine konfliktreduzierende Auslegung nicht veranlasst ist. Eine vergleichbar unverfängliche Verhaltensalternative eröffnet § 157 StGB aber nicht. Er lässt die Mitteilungspflicht unberührt (II.1.b) in Kap. 9) und stellt bei deren Missachtung die Sanktionsfreiheit/-minderung auch nur in richterliches Ermessen. I.Ü. ist durch die Existenz von § 157 StGB nicht etwa die hier befürwortete Bagatellauslegung von § 153 StGB widerlegt, denn § 157 StGB behält neben ihr einen beachtlichen Anwendungsbereich. Zum Zuge kommt er vornehmlich bei erheblichen (entscheidungsrelevanten) Falschaussagen und nach h.M. auch bei fälschlich angenommener Verfänglichkeit der Wahraussage (vgl. BGHSt 8, 301, 317; NStZ 1990, 222 (Detter); OLG Düsseldorf NJW 1986, 1822). 155

Dazu oben Fn 67.

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keinerlei Raum. Die nemo-tenetur-Grundrechte können überhaupt keine beweisrechtliche Abwehrrechtswirkung (oben II.1.a)) entwickeln, weil es kraft einschränkender Pflichtenauslegung am abwehrrechtsauslösenden Eingriff fehlt. Das Verwertungsverbot wird erst dort initiiert, wo die produktionskontextuale Inpflichtnahme tatsächlich einsetzt, wo also die fragliche Strafnorm nicht geheimhaltungsfreundlich auszulegen ist. Sein Gebiet sind Verdeckungsdelikte, die entweder keinerlei qualitative Geringfügigkeit kennen oder das Bagatellschädigungsmaß konkret übersteigen (Abbildung 5). Strafrechtliche Hindernisse bei der Geheimhaltung von Tatwissen (soweit verfassungsgemäß und ohne Widerspruch zum Strafprozessrecht)

Aus rechtlichen Gründen unproblematisch. Kein Eingriff, da Schutzbereich von nemo tenetur nicht berührt (z.B. beim strafrechtlichen Abschöpfen eingeweihter Dritter).

Eingriff liegt (an sich) vor. Er muss rechtsdogmatisch bewältigt werden.

Aus situativen Gründen unproblematisch. Kein Eingriff, da wenigstens eine anderweitige Geheimhaltungsmöglichkeit besteht.

Bei geeigneten Straftatbeständen: Wegfall des Geheimhaltungshindernisses (Tatbestandslosigkeit) bei qualitativen Bagatellen (Strafnorm aus rechtlichen Gründen also doch kein Eingriff) Ansonsten („notfalls“): Kompensation des Geheimhaltungshindernisses durch Beweisverwertungsverbot (Strafnorm aus rechtlichen Gründen also ebenfalls kein Eingriff) Ergebnis: Es bleibt kein echter (unbewältigter) nemo-tenetur-Eingriff übrig.

Abbildung 5: Die Entproblematisierung des Selbstbelastungs-Strafrechts

Dieses System stellt den nemo-tenetur-Träger mitunter vor eine komplizierte nachtatliche Entscheidung. Selbstbelastungsnachteile vermeidet er nur, wenn er die Reichweite der Straftatbestandslosigkeit exakt überblickt. Lässt er das

12. Kap.: Praktische Konkordanz

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Schutzgut des Dritten unberührt, weil er zutreffend erkennt, dass ihm die fragliche Strafnorm dies mangels Bagatelleinschränkung abverlangt, wird ihm dafür die Unverwertbarkeit seiner damit verbundenen Enthüllung zuteil. Eröffnet ihm die Rechtsordnung jedoch den straflosen Ausweg, zur Vermeidung sonst drohender Selbstbezichtigungen das Drittgut geringfügig zu beeinträchtigen, ist er gut beraten, in diese Richtung zu gehen. Entscheidet er sich in dieser Lage gleichwohl für das nicht schädigende (quasi-strafnormgemäße) Verhalten, stellt sich dessen Verfänglichkeit als freiwillige Wissenspreisgabe ohne Eingriffshintergrund dar. Für ein Verwertungsverbot, das nur die Verwendung einer erzwungenen Selbstüberführung abwendet, besteht dann folglich kein Anlass156. Da das Verwertungsverbot nur bei normtreuem Verhalten zum Zuge kommt, ist diese Konfliktlösungsvariante bei Vornahme der nachtatlichen Drittschädigung gänzlich ausgeschlossen. Dass der Betroffene um die Unschädlichkeit der Normbefolgung womöglich gar nicht weiß, erklärt allenfalls sein Deliktsmotiv, ist aber für dessen strafrechtliche Qualität ohne Belang. Sobald er die Geringfügigkeitsgrenze übertritt, macht er sich nach den allgemeinen Regeln strafbar – je nach Bewusstheit der Geringfügigkeitsüberschreitung wegen einer Vorsatz– oder Fahrlässigkeitstat157.

5. Exemplarische Konsequenzen Die hier vorgeschlagene Lösung kommt dem nemo-tenetur-Träger entgegen, weil sie ihm Geheimhaltungschancen gibt, die ihm bislang nicht zugestanden werden. Er trägt allerdings die Verantwortung, das ihm zugewiesene Stellwerk korrekt zu bedienen und sich in der strafrechtlichen Handlungssituation für die jeweils vorgesehene Konkordanzlösung zu entscheiden. Für die nachtatlich verwickelten Drittrechtsgutträger entstehen kaum nennenswerte Beeinträchtigungen. Dagegen muss der Staat im Sektor der Verwertungsverbotslösung den Verlust wichtiger Beweismittel verkraften, mitunter sogar den Verlust von entscheidendem Beweismaterial. Das Aufkommen solch dramatischer Fälle bleibt aber schon von daher gering, als sich bereits das Vorliegen eines strafgesetzlichen nemo-tenetur-Eingriffs auf besonders geartete Sachlagen beschränkt. 156 Als anspruchsvolles Nachtatverhalten kann sich der Vorgang allerdings bei der Vortatstrafzumessung positiv bemerkbar machen (oben II.2.) Hierfür ist es unerheblich, ob auf die Bagatellschädigungsmöglichkeit bewusst verzichtet wurde oder ob der nemo-tenetur-Träger diese Option gar nicht reflektiert (weil sie ihm unbekannt ist oder weil er das Vorliegen ihrer Voraussetzungen verkennt). Diese Milderung dürfte i.Ü. auch der Versuchung auf staatsanwaltlicher Seite entgegenwirken, dem nachtatlich normtreuen nemo-tenetur-Träger das Beweisverwertungsverbot mit dem Vorhalt zu bestreiten, er habe doch Gelegenheit zum unverfänglichen drittschädigenden Verhalten gehabt und sei nur fälschlich von einer Bagatellüberschreitung ausgegangen. 157 Wenn sich sein Vorgehen im Rahmen einer eingebildeten Tatbestandseinschränkung hält, kommt ein Verbotsirrtum in Frage, während der Bagatellübergriff, der in Unkenntnis seiner tatbestandlichen Freistellung erfolgt, ein Wahndelikt darstellen kann.

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Etwas öfter treten die problematischen Konstellationen eigentlich nur im Zusammenhang mit der drohenden Beschlagnahme sächlicher Wissensträger auf158. Hier wird der bevorstehende Geheimnisverlust häufig nicht normgemäß abzuwenden sein, weil es an wissenskontrollierenden Verhaltensalternativen mangelt, die entweder von Hause aus (Verbergen oder Beschädigen eines eigenen Gegenstandes) oder wegen ihres Bagatellcharakters tatbestandslos sind (geringfügige Beschädigung eines fremden Gegenstandes). Sieht der Inhaber der Selbstbelastungsfreiheit in dieser Lage vom einzigen aussichtsreichen, aber strafrechtlich untersagten Geheimhaltungsversuch ab – etwa vom Angriff auf den ermittelnden Beamten oder von der Zerstörung der fremden Sache159 –, zieht dies die Unverwertbarkeit des beschlagnahmten Materials nach sich. Damit wird der Zoll dafür entrichtet, dass eine Strafnorm den Beschlagnahmeakt flankiert, die ob ihrer nemo-tenetur-Auswirkung einer Kompensation bedarf. Besonders weittragend sind diese Folgen bei § 142 StGB. Die Vorschrift verlangt zwar vom Grundrechtsträger, seinen Unfallanteil gegenüber anderen Beteiligten zu erklären (zum Eingriffscharakter dieser Restpflicht soeben 3.a)), doch darf die Staatsmacht dieses (aktiv/passiv) preisgegebene Unfallwissen, wenn es ihr denn zugetragen wird, nicht gegen ihn wenden160. Hierdurch ist der Nachweis des Unfalldelikts empfindlich getroffen, da das Verwertungsverbot auch die Folgebeweise einschließt (selbst wenn sich dieser Stoff hätte rechtmäßig gewinnen lassen). Falls der nemo-tenetur-Träger überhaupt nur wegen des Fluchtverbots in § 142 I StGB angehalten hat, beruht sogar seine Anwesenheit auf einem ausgleichsbedürftigen Eingriff – und mit ihr das gesamte, hierdurch verfügbar gewordene Spurenmaterial (einschließlich seiner Identifizierbarkeit)161. Dass das Verwertungsverbot die Strafverfolgung in diesen Fällen wahr-

158

Vgl. aber hierzu auch den engen Begriff des „Wissensträgers“ in Fn 7 in Kap. 8.

159

Dazu, dass die Situation, in der §§ 212, 211 StGB die Tötung des einzigen Augen-/Belastungszeugen verbieten, gar kein nemo-tenetur-Eingriff ist, vgl. oben bei Fn 35 in Kap. 9. 160 International gibt es dafür Vorbilder (dazu etwa Reiß, NJW 1980, 1806). Hierzulande, wo sich die zivil- und strafprozessuale Doppelverwertung der Nachunfallsbeiträge eingebürgert hat und meist ausgeblendet wird, dass die Unfallbeteiligten eine eigentlich kontraindizierte Hilfe zur eigenen Verfolgung leisten müssen, herrschen Vorbehalte gegen dieses Verwertungsverbot vor (z.B. Verrel 2001, 99). Sie dürften sich dadurch etwas beruhigen lassen, dass das Verwertungsverbot nur für eingriffsbedingtes Beweismaterial gilt. Hat sich der Unfallbeteiligte direkt der Behörde erklärt, obwohl keine Pflicht bestand, deren Hinzuziehung hinzunehmen, beruht die Selbstbelastung nicht auf § 142 StGB. Dies gilt auch für Mitteilungen, die das von § 142 StGB geforderte Mindestmaß thematisch übersteigen. Mangels eines Eingriffshintergrundes entsprechen sie jenen Daten, die von der Polizei ohne jede Inanspruchnahme des Unfallbeteiligten ermittelt werden. Hier ist nur an eine Vortatstrafmilderung zu denken (oben Fn 156). 161 In vielen Fällen wird die Fahrtunterbrechung indes durch den Unfallvorgang erzwungen. Dann stellt sich die Problematik nicht.

12. Kap.: Praktische Konkordanz

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lich massiv behindert, ist nicht zu monieren. Es tritt nur jener Zustand ein, der ohne die fragwürdige Selbstbezichtigungsschicht des § 142 StGB bestünde.

IV. Fazit Hinter dem Selbstbezichtigungs-Strafrecht verbirgt sich eine unaufgelöste Spannung zwischen nemo tenetur und dem jeweiligen Schutzgut. Daraus resultiert die Notwendigkeit, diese Belange (vorwiegend mit einfachrechtlichen Mitteln der grundrechtsorientierten Interpretation) in praktischer Konkordanz auszurichten. Die Zielvorgabe lautet, durch Auslegung einen Zustand zu schaffen, in dem sich keines der betroffenen Interessen wegen des kollidierenden Postens zurückziehen muss, sondern in dem beide Seiten wirksam bleiben – wenn auch mit gewissen Abstrichen (genauer: wegen dieser Abstriche). Viele dafür ins Gespräch gebrachte Kandidaten scheitern an diesem Anspruch. Ihm entspricht neben der Straffreistellung bagatellarischer Drittschädigung im Wesentlichen nur die Verwertungsverbotslösung. Weil beide Modelle auch rechtsmethodischen Rückhalt haben, können sie in einem gegliederten System das Zusammentreffen von Strafrechtsschutz und Geheimhaltungsbedürfnis moderieren. Danach ist an einer verfassungsgemäßen Strafnorm, durch die der Gesetzgeber zu einem verfänglichen Nachtatverhalten zwingt, außerhalb der Geringfügigkeitsfälle kein Vorbeikommen. Widrigenfalls droht dem nemo-tenetur-Träger die unverminderte Sanktion. Wenn er der strafrechtlichen Anordnung aber seinen Respekt erweist, erwächst ihm kein Selbstbelastungs-Schaden. Konkret: – Meist kann der nemo-tenetur-Träger das Strafgesetz befolgen und daneben auch einen Weg finden, sein Geheimnis zu wahren. Bei Vorhandensein solcher Aktionsmöglichkeiten besteht kein Anlass, die Selbstbelastungsfreiheit zusätzlich zu sichern. – Andernfalls kann der nemo-tenetur-Träger sein Geheimnis dadurch schützen, dass er die strafrechtlich gewährleisteten Güter eines Dritten geringfügig beschädigt – sofern dieses Verhalten durch eine restriktive Normauslegung aus den betreffenden Straftatbeständen herausfällt. – Zur Selbstbelastung zwingt das Strafrecht aber auch dann nicht, wenn das Geheimhalten tatsituativ nur normwidrig möglich wäre und das geschützte Handlungsobjekt dabei mehr als nur marginal beeinträchtigt würde. Der dann unumgängliche Geheimnisverlust (als Begleiterscheinung pflichtgemäßen Verhaltens) schlägt sich deshalb nicht nachteilig nieder, weil das fragliche Wissen strafrechtlich nicht verwertbar ist.

Gesamtbilanz Der so genannte nemo-tenetur-Satz bezeichnet ein ehrwürdiges Recht. Was dessen Verfassungsrangigkeit anlangt, so spricht die derzeitige Dogmatik mit einer einzigen Stimme. Auch über die wichtigsten Aussagen und den zentralen Gewährleistungsstrang ist man übereingekommen (Kap. 1). Deshalb hat es den Anschein, als sei bei seiner Interpretation zumindest das Kerngeschäft schon erledigt. Doch dieser Eindruck täuscht. Die nicht abreisende und sich sogar verstärkende Debatte belegt, dass es verfrüht wäre, um sich mit dem derzeitigen Stand zufrieden zu geben und nur noch einen randseitigen Unschärferest ausräumen zu wollen (Kap. 1). Bei genauerem Hinsehen erkennt man denn auch die zahlreichen Verkürzungen und Widersprüche, von denen die Selbstbelastungsdogmatik in Wahrheit durchzogen ist (Kap. 2). Der vielleicht schwerwiegendste Konstruktionsfehler liegt in einer eigenartigen „normhierarchischen Verkehrung“. So wie man den nemo-tenetur-Satz fast überall behandelt, stellt er ein normatives Gebilde dar, das seine Struktur durch ein rechtshistorisch geprägtes Vorverständnis (Kap. 6) und die Generalisierung einfach-rechtlicher Bestimmungen erhält. Jene Sinneinheit wird von außen an die Verfassung herangetragen, damit von dem konkreten grundgesetzlichen Rechtssatz, an dem sie dort schließlich haften bleibt, eine rechtsartige Autorität und eine gediegene Würde auf das nemo-tenetur-Konzept abfärben möge. – Diese Vorgehensweise weckt erhebliche Bedenken, jedenfalls wenn man die Rede vom Verfassungsstaat beim Wort nimmt und deshalb darauf besteht, die geltenden Selbstbezichtigungsfreiheiten ausgehend vom Grundgesetz auszuarbeiten. Ein wahrhaft verfassungsgeleitetes Rechtsgewinnungsverfahren muss demnach beim Grundgesetz beginnen. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als zunächst einmal sämtliche Grundrechtswirkungen zusammenzuführen, die in einem Sachbereich aus Geständnis, Geheimnis und Selbstbeschuldigung (Kap. 5) zum Tragen kommen. Dabei stößt man auf eine konstitutionelle Normengruppe, von der geheimhaltungsdienliche Verteidigungs- und Strafvereitelungsfreiräume in großer Vielfalt gewährleistet werden (Kap. 7). In diesem losen Verbund strafabwehrender grundrechtlicher Freiheiten ist auch der nemo-tenetur-Satz aufgehoben. Nemo tenetur verkörpert hier keinen selbstständigen, gesetzesartigen Rechtssatz, sondern bietet nur eine Formel, die aus dem Fundus jener verfassungsrechtlichen Strafabwehrrechte eine spezifische Teilgruppe terminologisch

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zusammenfasst. Es handelt sich dabei um jene Garantien, dank derer der Grundrechtsträger sein eigenes, strafrechtsrelevantes Tatwissen vor der staatlich veranlassten Preisgabe bewahren kann (Kap. 8). Diese nemo-tenetur-spezifischen Gewährleistungen sorgen für die Selbstbezichtigungsfreiheiten in ihrer Brutto-Fassung. Die konkrete Bestimmung des so abgesicherten Geheimhaltungsverhaltens obliegt demgemäß der Grundrechtsdogmatik. Dennoch fällt der sachliche Schutzgehalt keineswegs nur in deren Ressort. Ihre Substanz erhalten die nemo-tenetur-Rechte nämlich gleichermaßen durch eine einfach-rechtliche Regelungsschicht, von der die konstitutionelle Gewährleistung zurückgenommen oder weiter ausgebildet wird (Kap. 4). In dem Maße, in dem sich auch das Strafrecht auf beide Funktionen versteht (Kap. 9), werden die effektiven Geheimhaltungsmöglichkeiten der Grundrechtsträger also auch von seinen Regelungswirkungen mitgestaltet. Die vorliegende Untersuchung hat sich auf die strafrechtlichen Eingriffskonstellationen konzentriert und sich jener Tatbestände angenommen, die das Verheimlichen des eigenen Tatwissens reglementieren und dadurch die grundrechtliche prima facie-Freiheit reduzieren. Dabei entstand zunächst der Eindruck, als setze die Verfassung dieser lex lata nur geringen Widerstand entgegen (Kap. 10). In Wahrheit haben die an nemo tenetur beteiligten Grundrechte vor der subkonstitutionellen Gestaltungsmacht des Strafrechts aber mitnichten kapituliert. Sie üben vielmehr einen weichen Einfluss aus, von dem das einfache Recht durch und durch gesättigt ist. Realisiert werden diese Grundrechtseffekte von der konkordanzorientierten und der fragmentwahrenden Auslegung, durch die das Selbstbezichtigungs-Strafrecht seinen Feinschliff erhält (Kap. 11 und 12). Vor diesem Hintergrund hat die vorliegende Untersuchung den Versuch unternommen, der herrschenden Interpretationslage eine systematische – d.h. eine horizontale und vertikale – Abstimmung hinzuzufügen, die die Strafrechtsdogmatik im selbstbelastungsrelevanten Regelungsbereich bislang vermissen lässt. Dabei hat sich gezeigt, dass sich bei sämtlichen Strafnormen, von denen die nemo-tenetur-Grundrechte de lege lata verkürzt werden, ein Ausgleich mit dem Interesse an Selbstbezichtigungsfreiheit herstellen lässt. Bei einigen Formen des strafrechtsrelevanten Prozessverhaltens entfällt der Anlass für derartige Arrangements allerdings schon durch die Auswirkungen des Strafverfahrensrechts (weil die dortige Verhaltenslegalität in das Strafrecht herüberreicht). Für alle anderen Fälle wird hier ein gestuftes Lösungsmodell vorgeschlagen, das auf ein Beweisverwertungsverbot hinausläuft, soweit nicht (bei den dafür geeigneten Straftatbeständen) schon ein Bagatellvorbehalt zum Zuge kommt. Zusammengenommen bringt all dies folgende Konsequenzen mit sich:

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– Tätiges Verdunklungsverhalten (etwa ein Übergriff auf sächliche Wissensträger oder nachforschende Amtswalter) wird sowohl im Täter- wie im Teilnehmermodus strafrechtlich vielfach untersagt, bei massiver Gewalt sogar mit verfassungsgebotener Dringlichkeit. Im Hinblick auf nemo tenetur sind die geheimhaltungsnotwendigen, qualitativen Bagatellschädigungen davon indes ausgenommen. Die ansonsten einschränkungslos erwartete Normtreue erweist sich wegen eines Beweisverwertungsverbots als unverfänglich. Aus den gleichen normativen Gründen bleiben auch die strafgesetzlichen Handlungspflichten frei von Selbstbezichtigungszwang: Die gebotene Aktivität ist dank eines Verwertungsverbots ohne jede Selbstbelastungswirkung oder kann unterbleiben, soweit daraus nur marginale Drittverletzungen resultieren. – Unabhängig davon konnte speziell für den prozessualen Handlungskontext festgestellt werden: Eine Strafmilderung darf nur im Rahmen eines regulären Procedere verabredet werden. Strafschärfungen wegen offensiver Verteidigungsakte sind oft überflüssig und daher unstatthaft. Zu unverbotenem Prozessverhalten darf sich der nemo-tenetur-Träger durch den Verteidiger einschränkungslos beraten und per Informationsweitergabe unterstützen lassen. Sofern er sich in der Beschuldigtenrolle befindet, kann er straflos lügen, in schweigeadäquater Weise sogar bei Eintritt einer Drittverletzung (§§ 145d II Nr. 1, 164, 187 StGB). Eine strafbare Beteiligung an einer zeugenschaftlichen Falschaussage entfällt, falls der Vorgang geheimhaltungsnotwendig und urteilsirrelevant ist oder wenn er in Form eines Beweisantrags oder eines schweigewertigen Gebarens abläuft. Bei einer eigenhändigen Falschaussage in der Zeugenrolle vermeidet der nemo-tenetur-Träger seine Strafbarkeit jedoch nur im Ausnahmefall prozessualer Unerheblichkeit oder richterlicher Nichtbelehrung. Diese Befunde rücken zuweilen von der vorherrschenden Auffassung ab, und dies teilweise sogar mit Folgen von beträchtlicher Tragweite. Schon deshalb war der Begründungsaufwand vonnöten. Er hat überdies auch unterwegs – bei den Zwischenetappen des Arbeitsprozesses – manchen Gewinn erzielt. So behandeln die Kapitel 5 bis 8 einige inhaltliche und konstruktive nemo-teneturAspekte von grundsätzlicher Art. Sie schlagen eine generelle Interpretation der Selbstbezichtigungsfreiheit vor, die hier zwar nur in den materiellstrafrechtlichen Fragen demonstriert wurde, aber bei der Analyse aller anderen nemo-tenetur-Bereiche ebenfalls zum Zuge kommen kann.

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Sachregister

Normkonkretisierung 110 ff., 269 ff. – Gesetzesbindung 126, 162 – historisches Element 110 ff., 259 ff. – Methoden 125 ff. – Normbereich 103 f., 111, 119 ff., 139 ff., 261 – teleologisches Element 103, 129 ff., 361 f. Normstabilisierung 159 (Fn 73), 197 ff., 366, 369 f., 388 ff. Persönlichkeitsrechte 277 ff. praktische Konkordanz 377 ff., 440 ff. Primär-/Sekundärnorm 158 ff., 322 procedural justice 200 f. reformiertes Strafverfahren 202 ff., 238 ff. schutzbereichsimmanente Grundrechtsschranken 274 f. Schweigerecht – Beginn/Ende 27 ff. – Beweiswürdigung 36 ff., 238 ff., 257 – Einführung 234, 246 ff. – Einwirkungsverbote 29 ff., 52 – Strafzumessung 31 ff. – Themen 23 ff., 311 – und Strafrecht 413 ff. Selbstbegünstigungsprinzip 361 ff.

Steuerhinterziehung 90 ff. strafrechtliche Eingriffe (in nemo tenetur) 323 ff., 338 ff., 340 ff. Strafmilderung 34 f., 342 ff., 371 f. Strafschärfung 33, 340 ff., 376 Strafverzicht 452 ff. Strafzumessungslösung (bei postdeliktischer Normtreue) 456 ff., 470 ff. Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort 86 f., 325, 330, 479 ff. Unschuldsvermutung 303 ff., 382 ff. Unterlassensdelikte 89 f., 325 ff. Unzumutbarkeit 89 f., 327, 447 ff. Verdeckte Ermittlungen 50 ff., 189 ff., 263 f., 360 (Fn 146) Vernehmung und Geständnis 183 ff., 238 ff. Verteidiger – anwaltliche Unterstützung 40 f., 297 – strafrechtliche Beschränkungen 332 ff., 422 ff. Zeuge – Auskunftverweigerungsrecht 57 ff. – Aussagedelikte 331 f., 357 f., 375, 405 ff., 417 f., 428 ff., 433 ff., 482 ff. – informatorische Befragung 64 f.