Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht [1 ed.] 9783428443635, 9783428043637

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Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht [1 ed.]
 9783428443635, 9783428043637

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WILFRIED KüPER

Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht

Schriften zum Strafrecht Band 30

Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrech t

Von

Prof. Dr. Wilfried Küper Heidelherg

DUNCKER & HUMBLOTI BERLIN

Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1979 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany

© 1979 Duncker

ISBN 3 428 04363 4

Vorwort Die hier vorgelegte Untersuchung, in deren Mittelpunkt die Auseinandersetzung mit Harro Ottos Monographie "Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil" (3. Auflage 1978) steht, möchte zu einer Reihe von Problemen aus dem Bereich des Pflichtenkonflikts und des rechtfertigenden Notstandes einen Diskussionsbeitrag leisten; ihre Aufmerksamkeit gilt dabei auch der sog. "Unzumutbarkeit" beim unechten Unterlassungsdelikt. Gegenstand und Anlage der Arbeit sind im übrigen in der "Einführung" (S. 13 ff.) näher erläutert. Herrn Dr. iur. habil. Michael Köhler, Heidelberg, schulde ich Dank für manches fruchtbare Gespräch und für nützliche technische Unterstützung. Dem Inhaber des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Senator Prof. Dr. Johannes Broermann, danke ich für seine spontane Bereitschaft, die Untersuchung in der Reihe "Schriften zum Strafrecht" zu veröffentlichen. Das Manuskript ist am 1. September 1978 abgeschlossen worden. Später erschienene Literatur konnte nur noch sporadisch in den fußnoten berücksichtigt werden. Heidelberg, im Oktober 1978

WHfried Küper

Inhaltsverzeichnis I. Einführung .................................................. ,

13

1. Gegenstand und Methode der Untersuchung ....... ,............

13

a) Zur dogmatischen Situation .................... . .............

13

b) Verfahren und Reichweite der Untersuchung ................

14

2.

~e.rminologische Vorbemerkungen zum Begriff der Ptiichtenkol11s10n .......................................................... 16

11. "Unlösbare" Pflichtenkollisionen? - Das Problem des Konflikts gleichwertiger Pflichten ........................................... 18 1. Der Ausgangspunkt ............................................

18

2. Der Konflikt gleichwertiger Handlungspflichten ........ . . . .....

19

a) Die Unlösbarkeitsthese ......................................

19

b) "Unlösbarkeit" der Ptiichtenkollision und Ordnungsfunktion des Rechts .................................................. 20 c) Das "ultra-posse"-Argument ................................ aal Grenzen des Grundsatzes "ultra posse nemo tenetur" bb) "ultra-posse"-Prinzip und Handlungspflichtenkollision .... ce) Der Aspekt der "Zweckrationalität" .....................

21 21

23 24

d) Kollision gleichwertiger Handlungspflichten und "Einheit des Normensystems" ............................................ 26 e) "Gewissenhafte Prüfung" als Rechtfertigungsschranke? ...... aal Das Problem und seine Aspekte ........................ bb) Die Unangemessenheit einer Einschränkung durch das Kriterium "gewissenhaften" Handeins ......................

27 27 28

3. Der Kontiikt zwischen gleichwertiger Handlungs- und Unterlassungsptiicht .................................................... 29 a) Die Unlösbarkeitsthese ............................ . .........

29

b) Einwände ...................................................

31

aal Der "Selbstwiderspruch" des Rechts .......... . ......... bb) Das "ultra-posse"-Prinzip ............................ ,.

32

c) Die Priorität der Unterlassungsptiicht ...................... . .

32

4. Zusammenfassung und Ausblick ................................

34

31

8

Inhal tsverzeichnis

111. "Echte" und "unechte" Ptlichtenkollisionen (Randbemerkungen zu einer fragwürdigen Unterscheidung) ............................... 37 IV. Relativierung des Tötungsverbots im Lebensnotstand? - Zur Kollision zwischen "Leben" und "Leben" ..............................

39

1. Vorbemerkung .................................................

39

2. Qttos Methodik und Lösungsvorschläge bei Tötungshandlungen zur Rettung des eigenen Lebens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 39 a) Die Ausgangsposition Qttos .................................

39

b) Folgerungen für Einzelfälle. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . ..

40

3. Einwände ......................................................

41

a) Die Tragweite der Argumentation: Relativierung des Tötungsverbots .....................................................

41

b) Kritik der theoretischen Ableitung ..........................

42

c) Kritik der zentralen Argumentationsfigur ("Anmaßung fremder Rettungschancen") ....................................... 44 aal Das Kriterium der "Chancenanmaßung" ................. 44 bb) Kritische Bemerkungen. . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 45 ce) Zusammenfassung 47 4. Grundsätzliche Überlegungen zur Relativierbarkeit des Tötungsverbots bei Kollisionen zwischen "Leben" und "Leben" .......... 48 a) Das Grundproblem und seine Erscheinungsformen .... . ......

48

b) Der Bezug zum Interessenabwägungsprinzip ................

51

c) Zum Stand der Diskussion ..................................

52

d) Kritik der bisherigen Argumente für die absolute Geltung des Tötungsverbots .............................................. 54 e) Gründe für die Aufrechterhaltung des Tötungsverbots ...... aal Analyse des Konflikts ................................... bb) Der Maßstab der Abwägung ........ . .............. . ....

57 57 59

f) Ergänzende Überlegungen ............................ . ...... aal Die Unsicherheit der Prognose ..................... . .... bb) Der praktische Aspekt ..................................

61 62 63

5. Das "Brett des Karneades" und die "Anmaßung fremder Rettungschancen" - neue Probleme eines alten Falles ............ 64 a) Qttos Überlegungen zum Karneades-Fall und seinen Varianten 64 b) Probleme der ersten und zweiten Fallvariante .............. 66 aal Kritik am Kriterium der "Chancenanmaßung" (2. Variante) 66

Inhaltsverzeichnis bb) Situationsvorteil und Interessenabwägung (2. Variante) .. ce) Die Verteidigung der Planke als Notstandsproblem und das Kriterium der "Chancenanmaßung" (1. Variante) .... dd) Probleme des defensiven Lebensnotstandes im KarneadesFall (1. Variante) ........................................ (1) Der "Defensivnotstand" und seine Bewertung ...... (2) Zulässigkeit von Tötungshandlungen im Defensivnotstand? .............................................. c) Probleme der dritten (und vierten) Fallvariante ............. aa) Nochmals zur "Chancenanmaßung" ...................... bb) Tun oder Unterlassen? .................... . ............. ce) Das Rechtfertigungsproblem .............................

9 68 69 72 72 73 77 77 78 80

V. Familiäre Pftirhtbindungen und Lebensnotstand - Zugleidl zur "Unzumutbarkeit" beim unerhten Unterlassungsdelikt .................. 83 1. Die Bedeutung familiärer Pflichtbindungen im "Innenverhältnis"

83

a) Der Standpunkt Ottos und erste Einwände ..................

83

b) Die Strukturen des Problems ............................... 86 aa) Die "Unzumutbarkeits"-situation und ihre Varianten .... 86 bb) Dogmatische Ansatzpunkte zur Lösung im Unrechtsbereich 87 c) Der Lösungsweg ............................................ aa) Der Ausgangspunkt ..................................... bb) Die Wahrnehmung "gleichwertiger Interessen" als Prinzip der Unrechtsneutralisierung ............................. cc) Unterschreitung der Gleichwertigkeitsschwelle und Unrechtsausschluß .........................................

90 90 91 95

d) Die systematische Einordnung des Prinzips gleichwertiger Interessenwahrnehmung ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 96 aa) Die Maxime der Wahrnehmung gleichwertiger Interessen als Rechtfertigungsprinzip .............................. 97 bb) Friktionen im Hinblick auf die Entsprechungsklausel des § 13 Abs. 1 StGB ........................................ 99 e) Zur Konkretisierung der Gleichwertigkeitsmaxime .......... 100 aa) Die "Unzumutbarkeitsgrenze" bei Selbstschädigung 101 bb) Die "Unzumutbarkeitsgrenze" bei Selbstgefährdung ...... 102 f) Gleichwertigkeitsmaxime und "besondere Gefahrtragungspflichten" ................................................... aa) Vorüberlegungen ........................................ bb) Besondere Gefahrtragungspflichten und Garantenstellung (1) Zur Struktur der "Notpflichten" ..................... (2) Garantenpflicht als "besondere Gefahrtragungspflicht"? cc) Zusammenfassung

104 104 105 105 107 109

Inhal tsverzeichnis

10

2. Die Bedeutung familiärer Pflichtbindungen im "Außenverhältnis" 110 a) Die herrschende Meinung und die Auffassung Ottos .. . . . . . . .. 110 b) Vorbemerkungen zur Kritik ................................. 113 aa) Vereinbarkeit der Lösung mit § 35 8tGB? ................ 113 bb) Divergenz der Ergebnisse bei "altruistischer" und "egoistischer" Notstandshandlung ............................... 114 c) Kritische überlegungen ..................................... 115 aa) Relative Interessenabwägung? .......................... 115 bb) Die Bewertungsaspekte .................................. 116 VI. Ergebnisse der Untersuchung .... . ................................. 118 Literaturverzeichnis

125

Stichwortverzeichnis

131

Abkürzungen BGH BGHSt DAR GA JA JBl

JR JuS JZ LK MDR MSchrKrim NJW OGH OGHSt ÖJZ OLG Rdnr. SJZ SK SchwG SchwZStr VDA VRS ZStW

Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Deutsches Autorecht Goltdammer's Archiv für Strafrecht Juristische Arbeitsblätter Juristische Blätter Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristenzeitung Leipziger Kommentar Monatsschrift für Deutsches Recht Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechts reform Neue Juristische Wochenschrift Oberster Gerichtshof für die Britische Zone Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes für die Britische Zone in Strafsachen österreichische J uristenzei tung Oberlandesgericht Randnummer Süddeutsche Juristen-Zeitung Systematischer Kommentar Schwurgericht Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Vergleichende Darstellung des Deutschen und Ausländischen Strafrechts, Allgemeiner Teil Verkehrsrechtssammlung Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

I. Einführung 1. Gegenstand und Methode der Untersuchung a) Zur dogmatischen Situation

Die Pflichten kollision ist nicht zu Unrecht als "Grenzsituation des Strafrechts" bezeichnet worden, die sowohl für das betroffene Individuum als auch für die Rechtsordnung selbst eine "kritische Lage" schafftl. Der Adressat einander widerstreitender Pflichtanforderungen kann sich dem Konflikt nicht entziehen; er muß ihn "lösen", sich für ein bestimmtes Verhalten entscheiden. Aber das Normensystem ist offenbar nicht stets imstande, ihm dafür verbindliche Anweisungen zu geben. Besonders die Kollision gleichwertiger Handlungspflichten stellt das Recht vor ein "Dilemma, das sein Wesen als rationale Normierung des Daseins betrifft"2: Soll die Rechtsordnung, gleichsam resignierend, dem einzelnen die Wahl überlassen, welcher Pflicht er den Vorzug gibt, soll sie also um der Erhaltung des einen Gutes willen die Aufopferung eines anderen, in der konkreten Situation ebenso wertvollen akzeptieren? Oder muß das Recht in solchen Fällen auf der - unmöglichen - Erfüllung beider Pflichten bestehen, weil jede den gleichen Rang hat und eine Vorzugsentscheidung nicht getroffen werden kann? Mit der Problematik derartiger "Grenzsituationen" hat sich die Strafrechtswissenschaft zwar immer wieder beschäftigt, und es ist auf diesem Gebiet inzwischen eine reichhaltige, wenn auch durchaus noch überschaubare Literatur entstanden3• Gleichwohl läßt sich nicht sagen, daß dieser Themenkreis Gegenstand lebhafter Diskussion ist. Eher kann man von einem verbreiteten Desinteresse der Dogmatik und von einer gewissen Stagnation der wissenschaftlichen Auseinandersetzung sprechen. Das gilt für die normtheoretischen und axiologischen Grundsatzprobleme ebenso wie für die zahlreichen Detailfragen der Pflichtenbewertung und -abwägung. Die "große" Monographie über diese vielschichtige Thematik wartet immer noch auf ihren Autor, und die bisher vorliegenden Untersuchungen beschränken sich auf Teilaspekte. 1 2

Vgl. Mangakis, ZStW 84 (1972) Mangakis, S. 449.

S. 447 ff., 449.

3 Die Zahl der Spezialuntersuchungen zur Ptiichtenkollision ist nicht sehr groß. Zu nennen sind vor allem: End, Existentielle Handlungen im Strafrecht, Die Ptiichtenkollision im Lichte der Philosophie von Karl Jaspers, 1959; Evers, Existenzphilosophie und rechtliche Ptiichtenkollision, JR 1960, 369 ff.;

14

I. Einführung

b) Verfahren und Reichweite der Untersuchung

Auch diese Arbeit kann und will nur Ausschnitte behandeln, und sie verfährt dabei sogar unsystematisch und etwas willkürlich. Sie konzentriert sich nämlich vor allem auf die Kritik der Thesen, die Harro Dtto in seiner Schrift "Ptlichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil" der letzten größeren Untersuchung zu unserem Themenkomplex - aufgestellt hat4 • Von dieser Basis aus werden Grund- und Grenzfragen der Ptlichtenkollision aufgegriffen und weitergeführt. Dieses für eine Monographie ungewöhnliche Vorgehen läßt sich unter mehreren Gesichtspunkten rechtfertigen. Dttos material reiche Untersuchung markiert, obwohl sie nunmehr über zehn Jahre zurückliegt5 , den jüngsten Stand der Auseinandersetzung und bereichert sie zugleich um neue Aspekte, die ihrerseits der Überprüfung bedürfen. Die scharfsinnige und eigenwillige Schrift hat bisher - kennzeichnend für die dogmatische Situation - auffallend wenig Resonanz in der Literatur gefunden, wenn man von einigen kleinen Rezensionen absieht6 • Das mag mit der nicht immer glücklichen Darstellung zusammenhängen, die manchmal sprunghaft anmutet und die Lektüre bisweilen mühsam macht. Die Methodik und die interessanten Lösungsvorschläge des Autors verdienen jedoch die kritische Diskussion, zu der er anregen will. Auch dort, wo man ihm nicht folgen kann, fördert seine Arbeit die Problemerkenntnis und vermittelt sie neue Perspektiven. Die hier vorgelegten Studien teilen mit Dttos Untersuchung, an die sie jeweils anknüpfen, den fragmentarischen Charakter der Problemauswahl und zugleich die Unschärfe und Spannweite der Thematik, die über den Bereich der "Ptlichtenkollision" (im engeren und weiteren Verständnis) hinausreicht. Denn einerseits analysiert Dtto in der geGallas, Ptlichtenkollision als Schuldausschließungsgrund, Festschrift für Mezger, 1954, S. 311 ff., wieder abgedruckt in: Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 59 ff.; Jansen, Ptlichtenkollisionen im Strafrecht, 1930; Kühn, Die Ptlichtenkollision im Strafrecht, 1908; Küper, Rechtfertigender Notstand, Ptlichtenkollision und übergesetzliche Entschuldigung, JuS 1971, 474 ff.; Lenckner, Ärztliche Hilfeleistungsptlicht und Ptlichtenkollision, Medizinische Klinik 64 (1969) S. 1000 ff.; Mangakis, Die Ptlichtenkollision als Grenzsituation des Strafrechts, ZStW 84 (1972) S. 447 ff.; Otto, Ptlichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, 1965, 3. Autl. 1978 (mit Nachtrag); von Weber, Die Ptlichtenkollision im Strafrecht, Festschrift für Kießelbach, 1947, S. 233 ff. 4 Vgl. Otto, Ptlichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, 1. Autl. Hamburg 1965, 3. Autl. Marburg 1978. - Siehe dazu die Rezensionen von Blei, GA 1967, 383; Foth, JR 1967, 39; Haejliger, SchwZStr 83 (1967) S. 98 f.; Kunst, ÖJZ 1966, 669; 1975, 251 f.; Küper, GA 1977, 378 f.; Naucke, MSchrKrim 1969, 178f.; Oehler, JZ 1967, 776; Schünemann, NJW 1976, 282. 5 Die 2./3., 1974/78 erschienene Auflage ist ein unveränderter Nachdruck des ursprünglichen Textes, erweitert um einen Nachtrag ("Ptlichtenkollision als rechtsmethodisches Problem", S. 117 ff.) und mit Ergänzungen zum Literaturverzeichnis (S. 135 f./139 f.). 6 Vgl. oben Fußn.4.

1. Gegenstand und Methode der Untersuchung

15

nannten Schrift nicht etwa Ptlichtenkollisionen aller Art, soweit sie für das Rechtswidrigkeitsurteil bedeutsam sind; er beschränkt sich vielmehr auf den sozusagen heikelsten Teilkomplex der Materie: die Konfliktslagen, in denen zur Rettung menschlichen Lebens wiederum das Rechtsgut "Leben" verletzt werden muß. Diese Beschränkung auf Kollisionsfälle, in denen "Leben gegen Leben" steht, gibt auch der vorliegenden Arbeit ihr Gepräge - mit einigen, vom Sachzusammenhang geforderten Abweichungen - . Andererseits versteht Otto den Begriff des "Pflichtenkonflikts" offenbar in einem sehr weiten und unbestimmten Sinn, der "einfache" Güterkollisionen einschließt7 ; seine Untersuchung erstreckt sich daher, in den gekennzeichneten stofflichen Grenzen, auch auf allgemeine Notstandslagen. über die extensive Spielart des Terminus "Pflichtenkollision", wie sie in der Literatur etwa seit den Arbeiten Jansens (1930) und von Webers (1947) verwendet wirdsPflichtenwiderstreit ist danach die durch mindestens eine Handlungspflicht qualifizierte Interessenkollision9 - geht der Autor damit noch hinaus; der inzwischen wohl zur "herrschenden Lehre" gewordenen Ansicht, daß der Begriff "Pflichtenkollision" mit der engeren Terminologie auf die Konkurrenz von Handlungspflichten zu beschränken sei (der Konflikt zwischen Handlungs- und Unterlassungsptlicht also zum Notstand gehöre)lO, erteilt Otto im Nachtrag indirekt eine Absage, ohne sich damit näher auseinanderzusetzen11 • Die vorliegende Arbeit Vgl. Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S. 82 ff. Vgl. Jansen, Pflichtenkollisionen im Strafrecht, S. 10 ff.; von Weber, Festschrift für Kießelbach, 1947, S. 233 ff., 236. Vgl. auch bereits Kühn, Die Pflichtenkollision im Strafrecht, S. 10. S Vgl. z. B. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 3. Aufl. 1978, S.293, der den entscheidenden Gesichtspunkt im Anschluß an Jansen darin sieht, daß der Täter "eine Handlungs- oder Unterlassungspflicht verletzen muß, wie er sich auch immer verhalten mag, denn eine der beiden kollidierenden Pflichten schreibt ihm ein positives Tun vor, damit überhaupt eine Pflichtenkollision entstehen kann". Vgl. ferner etwa Baumann, Strafrecht, Allg. Teil, 8. Aufl. 1977, S. 363 f.; Dreher, StGB, 37. Aufl. 1977, vor § 32 Rdnr. 11; Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 59 ff.; Hruschka, Festschrift für Dreher, 1977, S. 189 ff., 192 f.; Mangakis, ZStW 84 (1972) S. 456 f., mit Hinw. auf die ältere Literatur (Henkel, Oetker u. a.). - Verbal folgen auch Maurach / Zipf, Strafrecht, Allg. Teil, Teilband 1, 5. Aufl. 1977, S. 407 ff., diesem weiten Begriff der Pflichtenkollision; in der Sache bewegen sie sich jedoch auf der Linie der engeren Auffassung (unten Fußn. 10). 10 Vgl. z.B. Blei, Strafrecht I, Allg. Teil, 17. Aufl. 1977, S. 297 ff.; Eser, Strafrecht I, 2. Aufl. 1976, S. 130; Hirsch, Leipziger Kommentar (LK), Bd. I, 9. Aufl. 1974, vor § 51 Rdnr.86, 88; Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 137 f.; Küper, JuS 1974, 475; Lackner, StGB, 12. Aufl. 1978, § 34 Anm. 4; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S.5; Samson, Systematischer Kommentar (SK), Bd.1, 2. Aufl. 1977, § 34 Rdnr. 26 f.; Schönke / Schröder, StGB, 19. Aufl. 1978, § 34 Rdnr.4 (Lenckner); Stratenwerth, Strafrecht, Allg. Teil I, 2. Aufl. 1976, S.145; Wessels, Strafrecht, Allg. Teil, 7. Aufl. 1978, S.143. 11 Vgl. Otto, Pflichten kollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S. 119 f. 7

S

16

I. Einführung

bewegt sich in dem weiten Rahmen, der durch dieses unscharfe Begriffsverständnis vorgezeichnet ist und demgemäß "normale" Notstandsfälle mitumfaßt, soweit sie die Kollision "Leben gegen Leben" betreffen. Dies hat - wie sich noch zeigen wird - den Vorteil, daß Problemzusammenhänge zwischen dem rechtfertigenden Notstand (bzw. notstandsähnlichen Situationen) und der eigentlichen Pflichtenkollision deutlicher in den Blick kommen. Dabei wird von einem extensiven Begriff des Pflichtenwiderstreits ausgegangen, der den Konflikt von Handlungs- und Unterlassungspflicht einbezieht. 2. Terminologische Vorbemerkungen zum Begriff der Pftichtenkollision

Obwohl terminologische Fragen nicht in den Vordergrund gerückt werden sollen, muß freilich klargestellt werden, daß eine Nomenklatur, die den Begriff der "Pflichtenkollision" noch weiter faßt, nicht akzeptabel ist, mag sie auch für die Beurteilung der Sachprobleme unschädlich sein. Sie verwischt den Unterschied zur Grundstruktur des rechtfertigenden Notstandes. Bereits die gewöhnliche Notstandslage, wie sie in § 34 StGB umschrieben wird, enthält stets insofern Pfiichtimplikationen, als es darum geht, ob und unter welchen Voraussetzungen der Täter die an sich bestehende Unterlassungspflicht ("neminem laede") verletzen darf. Eine "Kollision" von Pflichten entsteht daraus erst, wenn jene Unterlassungspflicht in unvermeidlichen Widerstreit mit einer anderen Pflicht tritt, die notwendigerweise Handlungspflicht ist; denn nur dann liegt eine Situation vor, in der ein Täter, wie immer er sich verhält, zwangsläufig eine Pflicht vernachlässigen muß, und allein dieses unausweichliche "Entweder-oder" kann sinnvoll als "Kollidieren" von Pflichten bezeichnet werden. Besteht kein Handlungsgebot, das - abstrakt betrachtet und vor jeder Entscheidung über die Richtigkeit des Verhaltens - eine Verletzung der Unterlassungspflicht fordert, so hat man es lediglich mit einem Notstandsfall zu tun. Dies gilt auch dann, wenn die schlichte Unterlassungspfiicht durch eine besondere Schutzpflicht "verstärkt" wird, etwa weil der Täter gegenüber dem Rechtsgut, das durch den Notstandseingriff betroffen wäre, eine Garantenposition innehat; denn auch hier ist die Nichtbeachtung einer Pflicht keine notwendige Konsequenz jedes möglichen Verhaltens in der Konfliktsituation. Muß andererseits zur Rettung eines gefährdeten Gutes eine Handlungspflicht vernachlässigt werden, die gegenüber einem anderen Schutzobjekt besteht, so begründet diese Konstellation ebenfalls keinen Pflichtenkonflikt, solange der Täter nicht (auch) zur Erhaltung des ersteren Rechtsgutes verpflichtet ist. Man hat sich also davor zu hüten - und das ist im Grunde eine Binsenweis-

2. Terminologische Vorbemerkungen

11

heit -, von den unterschiedlichen Pflichtimplikationen des Notstandes auf das Bestehen einer PflichtenkoHision zu schließen; diese Redeweise kann nur Verwirrung stiften. Der Widerstreit von Handlungs- und Unterlassungspflicht bezeichnet das für eine Kollision VOn Pflichten erforderliche logische Minimum. Ob eine weitere Einschränkung des Begriffs - auf die Kollision von Handlungspflichten - geboten ist12 , das ist dann allerdings nicht mehr ein Problem der Logik, sondern eine Frage terminologischer Zweckmäßigkeit, über die man verschiedener Meinung sein kann. Wenn nur für den Handlungspflichtenkonflikt besondere Beurteilungsmaximen gelten, während die Kollision einer Unterlassungs- mit einer Handlungspflicht stets den allgemeinen Notstandsprinzipien folgt, so empfiehlt es sich, schon den Terminus "Pflichtenkollision" auf den Widerstreit VOn Handlungspflichten zu beschränken. Da diese Prämissen der engeren Terminologie indessen erst der Erörterung bedürfen, wird der Untersuchung ein extensiver Begriff des Pflichtenwiderstreits zugrundegelegt, der beide Arten der Pflichtenkollision umfaßt.

12

Vgl. oben S. 15 Fußn.l0.

2 Küper

11. "Unlösbare" Pflichtenkollisionen? Das Problem des Konflikts gleichwertiger Pflichten 1. Der Ausgangspunkt

Ottos Schrift gliedert sich in drei Kapitel. Bevor der Autor die problematischen Einzelfälle analysiert, befaßt er sich zunächst - im 1. Kapitel - mit einigen theoretischen Grundfragen (Pflichtbegriff, Inhalt des Rechtswidrigkeitsurteils, Struktur der Pflichtenkollision13) und gibt sodann, im 2. Kapitel, eine sehr knappe historisch-kritische Darstellung der bisher erörterten Lösungsansätze14. Aus diesen Partien der Arbeit können hier nur einige Gesichtspunkte herausgegriffen werden. Otto betont die Bedeutung der jeweiligen "sozialen Bezüge", insbesondere der unterschiedlichen "Rollenstellung", für die Konkretisierung von Rechtspflichten und hebt dabei die "Situationsbezogenheit" der Pflichtanforderungen hervor 15. "Unlösbare" Pflichtenkollisionen, in denen das Recht paradoxe, widersprüchliche Anforderungen stellt und jedes Verhalten des Pflichtsubjekts gleichermaßen mißbilligt, läßt Otto nicht gelten16 ; die Kategorie der "Unlösbarkeit" sei unvereinbar mit der Ordnungsfunktion des Rechts (verbindliche Vorzeichnung des Gesollten), der Einheit der Rechtsordnung und der immanenten Begrenztheit rechtlicher Imperative durch das "Menschenmögliche". Jeder Pflichtenwiderstreit ist daher nach Otto derart "auflösbar", daß entweder die eine Pflicht zurücktritt oder dem Adressaten freigestellt bleibt, welche Pflichtanforderung er erfüllen Will17. Damit ist ein fundamentales Problem der Lehre von der Pflichtenkollision angesprochen. Der Konflikt "gleichwertiger", "nicht abwägbarer" Pflichten hat in der Literatur - insbesondere bei Gallas bekanntlich zu der 'l'hese geführt, daß es Kollisionslagen gibt, die "wenn auch nicht absolut unlösbar, so doch jedenfalls mit den Wertmaßstäben des Rechts nicht zu lösen sind"18. Gallas meint, daß dem Täter in solchen Fällen, wie immer er sich entscheide, pflichtgemäßes Verhalten 13 Vgl. Dtto, Ptlichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S. 5 ff., 21 ff., 38 ff. 14 Dtto, S. 54 ff. 15 Dtto, S. 9 ff., 15, 17 f. 18 Dtto, S. 18 ff. 17 Dtto, S. 19/20. 18 Vgl. GaHas, Beiträge zur Verbrechenslehre, S.60.

2. Konflikt gleichwertiger Handlungspflichten

19

nicht attestiert werden dürfe; sein Handeln - oder Unterlassen könne lediglich entschuldigt werden, sofern und weil es keinen "vorwerfbaren Mangel an rechtlicher Gesinnung" dokumentiere19 • Die Auseinandersetzung mit dieser Auffassung ist bei Dtto - wie auch sonst im Schrifttum - auffallend kurz und apodiktisch ausgefallen, kürzer jedenfalls, als man dies in einer Monographie zur P1lichtenkollision erwartet. Eine gründlichere Erörterung der Problematik erscheint daher dringend notwendig.

2. Der Konflikt gleichwertiger Handlungspflichten a) Die Unlösbarkeitsthese

Dabei empfiehlt es sich, von der Konkurrenz gleichwertiger Handlungsp1lichten auszugehen, einer Konstellation, die Dtto seltsamerweise nirgends in ihrer Eigenart würdigt, wie er denn überhaupt - der "Nachtrag" macht dies deutlich - der Unterscheidung von Handlungsund Unterlassungsp1lichten keinen grundsätzlichen Erkenntniswert zugesteht20 • In die Rubrik des Kon1likts gleichrangiger Handlungsp1lichten gehört etwa die Situation, daß ein Vater bei einem Bootsunglück nur eines seiner beiden Kinder, die in akuter Lebensgefahr schweben, vor dem Ertrinken retten kann; weitere Beispiele - insbesondere aus dem Arztrecht - sind bekannt 21 • Hier würde Gallas eine "unlösbare" P1lichtenkollision annehmen, mit der Konsequenz, daß sich der Vater rechtswidrig verhält, gleichgültig, welches Kind er rettet; ihn trifft nicht anders als bei völliger Untätigkeit, wenn auch nicht mit gleicher Schwere - stets das Verdikt p1lichtwidrigen Unterlassens, obwohl er im konkreten Fall alles ihm Mögliche getan hat22 • Gallas begründet 19 Vgl. Gallas, S. 75 ff.; ebenso Jescheck, Allg. Teil, S. 294 f. Vgl. auch AndToulakis, Studien zur Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, 1963, S. 127 f. - In einem anderen Sinn verwendet offenbar Mangakis den

Begriff der "unlösbaren" Pflichtenkollision: er meint damit solche Konfliktslagen, in denen das Recht dem Verpflichteten - mit rechtfertigender Wirkung - die Entscheidung überlasse, welche Pflicht er erfüllen wolle. Vgl. Mangakis, ZStW 84 (1972) S.475, 477 f. von WebeT, Festschrift für Kießelbach, 1947, S. 234 ff., nennt die von Gallas als "unlösbar" bezeichneten Kollisionen "materielle", ohne daß im übrigen ein sachlicher Unterschied besteht. 20 Vgl. Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S. ll9 ff., 121 ff. 21 Vgl. etwa Bockelmann, Strafrecht des Arztes, 1968, S. ll5; LenckneT, Medizinische Klinik 64 (1969) S. 1000 ff. - Siehe auch unten S. 60 Fußn. 128. 22 Vgl. Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, S.71; ebenso AndToulakis, Studien, S. 127 f.; Jescheck, Allg. Teil, S.295. - ATthuT Kaufmann, Festschrift für Maurach, 1972, S. 329 f., 337 f., und neuerdings Schild, JA 1978, 635, beurteilen das Verhalten in solchen Fällen als "unverboten" (weder rechtswidrig noch rechtmäßig). Auf diese Variante wird hier nicht näher eingegangen. Zur Kritik jetzt eingehend HiTsch, Festschrift für Bockelmann, 1979, S. 89 ff., 103 ff., III f.

II. "Unlösbare" PBichtenkollisionen

20

dies damit, daß das Recht ein "rationales Kriterium für die Entscheidung" schlechterdings nicht angeben könne, während andererseits der naheliegende Ausweg, die Wahl der jeweiligen Rettungshandlung dem Verpflichteten zu überlassen, "auf die willkürliche Preisgabe eines Menschenlebens durch die Rechtsordnung hinauslaufen" würde 23 • Die "Einheitlichkeit des rechtlichen Normensystems" werde durch die Anerkennung einer derart unlösbaren Kollisionslage nicht in Frage gestellt: "Die Rechtsordnung" - so meint Gallas - "scheitert hier nicht an einem inneren Widerspruch, sondern an der Irrationalität der Lebenssituation. Es ist der Punkt erreicht, an dem das ,Richtige' sich nicht mehr allgemein bestimmen läßt, die dennoch unvermeidliche Wahl nur noch in persönlicher Gewissensentscheidung getroffen werden kann24 ." b) ..Unlösbarkeit" der Pftichtenkollision und Ordnungsfunktion des Rechts

Von den drei - allerdings nicht scharf getrennten - Einwänden, die Otto gegen diese überlegung vorbringt, ist sein Hinweis auf die von Gallas vernachlässigte Ordnungsfunktion des Rechts ("Vorzeichnung, Sicherstellung und Durchsetzung bestimmten Verhaltens")25 der am wenigsten beweiskräftige. Denn unverkennbar ist die Rechtsordnung in der beschriebenen Konfliktsituation außerstande, an das Pflichtsubjekt eine inhaltlich eindeutige, bestimmte Verhaltensanweisung zu richten, ihm genau zu sagen, was es tun und was es lassen soll. Das Recht kann zwar die Entscheidung des Vaters, wenigstens ein Kind zu retten, als richtig anerkennen; aber es vermag dem Träger gleichrangiger, einander widersprechender Handlungspflichten nun einmal keine Richtschnur dafür zu geben, welche Pflicht er erfüllen solL Insofern muß die Rechtsordnung bei dieser Art von Pflichtenkollisionen auf ihre "Vorzeichnungsaufgabe" notwendigerweise verzichten; die Bestimmungskraft des Rechts versagt vor der tragischen Paradoxie der Lebenssituation. Gerade die oft geäußerte Auffassung, daß es in solcher Lage dem Pflichtadressaten "freigestellt" sein müsse, wessen Leben er rettet, zeigt dies deutlich; denn ihr liegt das Eingeständnis zugrunde, daß das rechtliche Normensystem für derartige Fälle keine verbindliche Ordnung mehr bereithält, an der das Individuum sein konkretes Verhalten ausrichten kann. Das Recht hat die Macht und den Anspruch verloren, das menschliche Handeln ex ante ordnend, bestimmend und "vorzeichnend" zu regulieren; es kann allenfalls die Entscheidung des betroffenen Individuums für eine Handlungsalternative und das ihr entsprechende Verhalten tolerieren. 23

24 25

Vgl. Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, S.75. GaHas, S.74.

Vgl. atto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S. 18 f.

2. Konflikt gleichwertiger Handlungspflichten

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c) Das "ultra-posse"-Argument

aal Grenzen des Grundsatzes "ultra posse nemo tenetur" Daß es dies aber auch tun muß, weil es sonst "Unmögliches" fordern würde, darin allerdings hat Otto - gegen GaZlas - im Ergebnis Recht 26 • Indes ist auch dieser oft erhobene Einwand 27 nicht so selbstverständlich, wie es zunächst den Anschein hat. Denn es wäre ein Irrtum, zu meinen, daß die Rechtsordnung bei ihren Anforderungen an den einzelnen stets die Grenzen des "Möglichen" respektiert 28 • Das Beispiel des schuldunfähigen Täters, der nicht imstande ist, seine Willensbildung und damit sein Handeln an den rechtlichen Verboten oder Geboten auszurichten, zeigt vielmehr, daß der Satz "ultra posse nemo tenetur" keine uneingeschränkte Gültigkeit besitzt29 • Vom zurechnungsunfähigen Geisteskranken verlangt das Recht in der Tat vielfach etwas für ihn "Unmögliches", ein Verhalten, zu dem er sich infolge seines Defektzustandes gar nicht motivieren kann; erst bei der "Schuldfrage" wird dieses Manko berücksichtigt, auf die Verhaltenspflicht selbst hat es 26 Androulakis, Studien, S. 127 f., bemängelt, daß bei der Kollision gleichwertiger Handlungspflichten nicht genügend unterschieden werde zwischen der "Unmöglichkeit" der Pflichterfüllung als solcher und der (praktischen) "Unlösbarkeit" der Pflichtenkollision. Der Täter könne ja sowohl die eine als auch die andere Pflicht - alternativ - erfüllen, nur nicht beide zugleich: "Unmöglich ist nicht die Rettung des Kindes A oder des Kindes B, unmöglich ist die Lösung der Pflichtenkollision. " Die Wahl des Verpflichteten entscheide deshalb nur darüber, welche der beiden Handlungspflichten verletzt und welche erfüllt werde, nicht jedoch über die Geltung der jeweiligen Pflicht. Mit dieser in den Prämissen zutreffenden - und im Grunde trivialen Analyse wird jedoch die entscheidende Frage nicht beantwortet, ob das Recht die nur alternativ mögliche Erfüllung einander widersprechender Handlungspflichten kumulativ verlangen und damit insgesamt "Unmögliches" fordern kann. Verneint man diese Frage, wie dies im folgenden geschieht, so entscheidet die Wahl des Pflichtadressaten zwangsläufig auch darüber, welche Pflicht für ihn weiterhin gilt und welche ihre Geltung verliert: dem Akt der "Wahl" kommt insofern nicht nur faktische, sondern auch normative Wirkung zu. - Vgl. auch Hruschka, Festschrift für Dreher, 1977, S.194/195. 27 Vgl. etwa Baumann, Allg. Teil, S. 364; Eser, Strafrecht I, S. 131; Samson, SK, § 34 Rdnr. 29; Lenckner in Schönke / Schröder, Vorbem. § 34 ff. Rdnr.74, mit weit. Hinw. 28 Vgl. dazu auch Androulakis, Studien, S. 122 ff.; Münzberg, Verhalten und Erfolg als Grundlagen der Rechtswidrigkeit und Haftung, 1966, S. 191 ff., 205 ff. 29 Das hier erörterte Problem ist nur ein Ausschnitt aus dem großen Fragenbereich, inwiefern das "Können" der Rechtspflicht Grenzen setzt. Im Bezirk der Fahrlässigkeitsdelikte ist die Problematik vor allem durch die Arbeit von Jakobs, Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972, wieder aktuell geworden. Danach soll das tatbestandliche Unrecht der Fahrlässigkeitstat nur bei individueller Möglichkeit zur Normbefolgung vorliegen. Zur Kritik vgl. insbes. Schünemann, Festschrift für Schaffstein, 1975, S. 159 ff. In unserem Zusammenhang ist interessant, daß die herrschende Lehre, die das Fahrlässigkeitsunrecht durch objektiv-generalisierte Verhaltensanforderungen bestimmt, insoweit ebenfalls das "ultra-posse"-Prinzip durchbricht.

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Ir. "Unlösbare" Pflichtenkollisionen

keinen Einfluß. Freilich handelt es sich hier nicht um die Kategorie des "Könnens", die bei der Kollision gleichrangiger Handlungspflichten in Frage steht: Es geht um das individuell-psychische (intellektuelle oder emotionale) Unvermögen des anomal konstituierten Menschen, nicht um die generell-situationsbedingte, für jedermann in dieser Lage bestehende Unmöglichkeit, miteinander unvereinbare Pflichtanforderungen zu erfüllen. Dieser Unterschied in der Struktur des "Nichtkönnens" verdient Beachtung; er führt zu einer entscheidenden Bewertungsdifferenz. Denn für die Durchbrechung des ultra-posse-Prinzips im ersten Fall (Schuldunfähigkeit) gibt es gewichtige Gründe; im zweiten Fall (Pflichtenkollision) gilt dies m. E. nicht. Die für die heutige Strafrechtssystematik fundamentale, auch dem geltenden Recht zugrundeliegende (§§ 17, 20, 29, 35 StGB) Unterscheidung zwischen rechtswidrigem Verhalten und persönlicher Verantwortlichkeit, zwischen Unrecht und Schuld also, verbietet es, die normative Geltung der Verhaltenspflichten von der Einsichts- und Motivationsfähigkeit des jeweiligen Normadressaten abhängig zu machen. Schuld als Nichterfüllung rechtlicher Anforderungen trotz möglicher pflichtgemäßer Motivation setzt die Existenz eines von der Motivationsmöglichkeit unabhängigen Sollens voraus; deshalb kann die Rechtspflicht selbst nicht durch die Unfähigkeit des Verpflichteten, sich innerlich nach ihr zu richten, aufgehoben oder begrenzt werden:!o. Diese Indifferenz der Pflichtanforderungen gegenüber dem "psychischen Können" des Adressaten ist freilich nicht nur Postulat einer deliktssystematischen Logik, die von der Unterscheidung zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld ausgeht; sie hat zugleich einen sozusagen lebenspraktisch vernünftigen Sinn. Ständen Geisteskranke (i. S. des § 20 StGB) völlig "außerhalb" der rechtlichen Pflichtenordnung, mit der Folge, daß ihr Handeln keine Normverletzung darstellen würde, auch wenn es in der Person eines "geistig Gesunden" pflichtwidrig wäre, so hätte dies für das Rechtsleben schwer erträgliche Konsequenzen: Die Rechtsordnung müßte den Anspruch auf allgemeine, überindividuelle Verbindlichkeit ihrer Verhaltensnormen aufgeben und wäre zu einer Differenzierung nach Kriterien gezwungen, die sich der Erkennbarkeit ex ante weitgehend entziehen; über die Rechtswidrigkeit etwa einer Wegnahmehandlung oder Körperverletzung könnte häufig erst der psychiatrische Sachverständige definitiv entscheiden, und die Verhaltensnormen wären nicht mehr mit Verbindlichkeitsanspruch generell formulierbar. Die Extrapolierung der Motivationsfähigkeit aus 30 Vgl. dazu Androulakis, Studien, S. 125 f.; Armin Kaufmann, Festschrift für Welzel, 1974, S.396 Fußn.4; Münzberg, Verhalten und Erfolg, S.210/211; Otto, ZStW 87 (1975) S. 539 ff., 572 ff. Vgl. aber auch Lampe, Das personale Unrecht, 1967, S. 103 ff., 204 ff., 227 ff. (dazu Hardwig, JZ 1969, 459 ff., und Krümpelmann, GA 1970, 123 f.).

2. Konflikt gleichwertiger Handlungspflichten

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dem Strukturgefüge pflichtwidrigen Verhaltens verbürgt dagegen in dieser Hinsicht ein beträchtliches Maß an Rechtssicherheit: Die Grenzen zwischen Recht und Unrecht (Pfiichtwidrigkeit) werden - im vorhinein - generell bestimmbar und damit auch für die übrigen Rechtsgenossen, unmittelbar Betroffene oder sonstige Beteiligte, deutlicher erkennbar; eine extreme "Psychologisierung" der rechtlichen Anforderungen, die das Maß der individuellen psychischen Fähigkeiten zum Begrenzungskriterium der Pflichtverletzung erheben würde, wird vermieden. Diese generalisierende Abstrahierung vom "persönlichen Können" ist für das Recht letztlich unabdingbar. Denn bei der Bestimmung der Normwidrigkeit geht es - im Gegensatz zur "Vorwerfbarkeit" nicht allein um die zweiseitige Beziehung zwischen Pflichtsubjekt und Rechtsordnung, sondern immer auch um die Klarstellung der allgemeinen Verhaltensregeln für alle. Deshalb wäre es verfehlt, den personalen Geltungsbereich der Rechtspflichten auf einen Adressatenkreis zu beschränken, der zu ihrer Befolgung psychisch in der Lage ist:u .

bb) "ultra-posse"-Prinzip und HandlungspjlichtenkoZZision Gründe vergleichbarer Dignität, die für die Suspendierung des ultraposse-Grundsatzes sprechen, gibt es bei der Kollision unabwägbarer Handlungspfiichten dagegen nicht. Auch der Gedanke von Ga Zlas, daß die Rechtsordnung im Ausgangsfall "willkürlich" ein Menschenleben "preisgebe", sofern sie nicht die - unmögliche - Erfüllung beider Rettungspfiichten verlange, führt zu keiner anderen Beurteilung. Freilich bedeutet die Reduzierung der Pflichtanforderungen auf das situationsgemäß "Mögliche" - im Beispielsfall auf die wahlweise Rettung wenigstens eines Kindes - zwangsläufig den Verzicht auf den Schutz desjenigen Rechtsgutes, das mit der Entscheidung des Täters für die Erhaltung des anderen endgültig aufgegeben wird; diese Preisgabe eines Wertes mag man "willkürlich" nennen, weil vom Ermessen des wählenden Pfiichtsubjekts abhängt, welches Gut im Konfiiktsfall geopfert werden darf, und weil einer solchen Aufopferung keine sozial31 Treffend Münzberg, Verhalten und Erfolg, S.238: "Nicht erst im Prozeß. sondern schon im Zeitpunkt der Handlung muß die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens ex ante feststellbar sein, d. h. sie muß nach Kriterien bestimmt werden, die es den Beteiligten zumindest nicht von vornherein unmöglich machen, die Rechtswidrigkeit oder Rechtmäßigkeit des Verhaltens ihres Gegenübers zu erkennen und danach ihr Verhalten einzurichten. Hier zeigt sich ... ein bedeutsamer Unterschied zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld. Für die Erkennbarkeit der Schuld im Zeitpunkt der Tat besteht dieses Bedürfnis nicht. Denn von der Schuld hängen zwar nachträglich bedeutsame Rechtsfolgen ... ab, aber nicht die Richtigkeit des Verhaltens eines anderen. Der Rechtswidrigkeit kommt also in dieser Hinsicht eine soziale Bedeutung zu, die der Schuld fehlt." - Vgl. auch Otto, ZStW 87 (1975) S. 578 f. und - in anderem Zusammenhang - Schünemann, Festschrift für Schaffstein, 1975, S.163.

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II. "Unlösbare" Ptlichtenkollisionen

ethisch begrundbare Schutzwürdigkeitsdifferenz zugrunde liegt32. (Besteht eine derartige Differenz, etwa wegen der unterschiedlichen Intensität der den Gütern jeweils drohenden Gefahr, so liegt eine Kollision gleichwertiger Pflichten in Wahrheit gar nicht vor, so daß die Erfüllung der höherwertigen Pflicht Vorrang hat!) Indes - was ist andererseits die Konsequenz der Gallasschen Auffassung? Ein von der faktischen Erfüllbarkeit des Pflichtgebotes emanzipiertes Rechtswidrigkeitsurteil "demonstriert" zwar nachdrücklich die Erhaltungswürdigkeit beider Rechtsgüter; es erklärt sie auch angesichts der tragischen Paradoxie des Konflikts für gleichermaßen unantastbar. Doch läuft diese demonstrative Unnachgiebigkeit gegenüber dem "praktisch Vernünftigen" bei genauerem Zusehen darauf hinaus, daß die Rechtsordnung auf den Schutz beider betroffenen Güter verzichtet. Da nämlich die mögliche und gebotene Erhaltung jeweils eines Rechtsgutes unter dem Aspekt der (verbotenen) Opferung des anderen zugleich mißbilligt und damit jede Rettungshandlung ebenso als widerrechtlich qualifiziert wird wie das völlige Untätigbleiben3'3, geht vom Recht überhaupt kein - in sinnvolles Handeln umsetz barer - Rettungsappell aus. Die rechtskonform nicht mehr erfüllbaren Handlungspflichten heben sich im praktischen Effekt gegenseitig auf; ja, ihre Befolgung dürfte sogar durch Notwehr (bzw. Nothilfe) verhindert werden, weil jede Pflichterfüllung angesichts der Alternativität der Rettungsmöglichkeiten einen "rechtswidrigen Angriff" auf das geopferte Rechtsgut darstellp4. Die Rechtsordnung gibt also - folgt man Gallas - im Grunde sogar "mehr" an Güterschutz preis als bei Einräumung einer Wahlmöglichkeit: Sie zieht sich dadurch, daß sie Rettungsaktivität und Passivität gleich negativ einstuft und dem Pflichtsubjekt keine rechtmäßige Alternative eröffnet, von ihrer Schutzaufgabe gänzlich zurück. cc) Der Aspekt der "Zweckrationalität" Vor diesem Horizont wird im übrigen deutlich, daß es bei der Beurteilung des Konflikts gleichwertiger Handlungspflichten nicht primär um die Entscheidung zwischen "ethischem Rigorismus" und "utilitaristischer Zweckrationalität" geht, um die Frage also, ob das Lebensachtungsprinzip Konzessionen in der zuletzt genannten Richtung verträgt ("wenn schon nicht zwei Menschenleben gerettet werden können, soll wenigstens die Erhaltung des einen rechtmäßig sein"). Die hier Vgl. aber auch Mangakis, ZStW 84 (1972) S. 473 f. Zur Rechtslage bei völligem Untätigbleiben vgl. Struensee, Die Konkurrenz bei Unterlassungsdelikten, 1971, S. 41 f., der mit Recht betont, daß dem Untätigen bei nur alternativer Handlungsmöglichkeit lediglich das Fehlen einer Handlung angelastet werden kann. 34 Vgl. Hirsch, LK, vor § 51 Rdnr.86; zum Angriff durch Unterlassen eingehend Lenckner in Schönke / Schröder. § 32 Rdnr. 10 f. 32

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2. Konflikt gleichwertiger Handlungspflichten

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im Anschluß an die herrschende Meinung vertretene These, daß der Verpflichtete die Wahl hat, welches Rechtsgut er retten will, bedeutet keine Option für eine solche Nützlichkeitsbetrachtung, mag sie auch mit deren Ergebnis übereinstimmen; sie bezieht ihre Rechtfertigung vielmehr aus dem Gedanken, daß in diesem Problemkreis der Grundsatz "ultra posse nemo tenetur" ungeschmälert gelten muß, weil gewichtige Gründe für seine Einschränkung nicht erkennbar sind35 • Der "Nützlichkeitsaspekt" kommt bei der Kollision von Handlungspflichten erst ins Spiel, wenn die Erfüllung der einen Pflicht unter praktisch-zweckrationalem Blickwinkel ein "besseres" Ergebnis zeitigen würde als die Befolgung der anderen. Man denke etwa - um das Ausgangsbeispiel zu variieren - an den Fall, daß bei dem Bootsunglück drei Kinder eines Vaters in akuter Lebensgefahr schweben: Die Kinder A und B, die in unmittelbarer Nähe des Bootes zu ertrinken drohen, könnte der Vater auf Kosten des von einer Strömung abgetriebenen Kindes C retten, während dessen Leben nur unter der Voraussetzung erhalten werden kann, daß A und B ertrinken. Wollte man hier den zweckrationalen Gesichtspunkt ("wenn schon nicht alle, dann unbedingt wenigstens zwei") als legitimes Konfliktlösungskriterium gelten lassen, so hätte er seinen Ort bei der Bestimmung des jeweiligen Pflichtwertes: Das Gebot, zwei Kinder (A und B) zu retten, würde die höherwertige Verpflichtung repräsentieren; ein Fall des Konflikts gleichwertiger Handlungspflichten läge folglich gar nicht vor. Wird hingegen daran festgehalten, daß Menschenleben als absolute Höchstwerte nicht numerisch gegeneinander aufrechenbar sind, so muß der Quantitätsaspekt bei der Wertbestimmung der Pflichten und demgemäß auch bei der rechtlichen Lösung des Kollisionsproblems aus der Betrachtung ausscheiden. Dies hat die Folge, daß die unterschiedliche Zahl der von der Entscheidung des Verpflichteten betroffenen Rechtsgüter die Freiheit seiner Wahl nicht einschränkt: Selbst wenn der Vater das rational "Unvernünftige" tut und das eine Kind auf Kosten der beiden anderen rettet, handelt er rechtmäßig.

35 Dabei dürfte die prinzipielle Geltung dieses Grundsatzes nicht davon abhängen, daß man in der Rechtsnorm eine (imperativische) "Bestimmungsnorm" sieht - vgl. zu dieser heute wohl dominierenden Auffassung Jescheck, Allg. Teil, S. 188 ff., mit weit. Hinw. -. Auch wenn vom Charakter des Rechtssatzes als bloßer "Bewertungsnorm" ausgegangen wird, verlangt das Prinzip "ultra posse nemo tenetur" Anerkennung. Denn Gegenstand der Bewertung ist immer ein menschliches Verhalten, um dessen "Gesolltsein" es jeweils geht. Das Recht kann jedoch - jedenfalls grundsätzlich - ein Verhalten nicht als "unrichtig", als dem gesollten zuwiderlaufend bewerten, wenn die in Betracht kommende Verhaltensalternative nicht mehr im Bereich des Möglichen liegt: die "Möglichkeit" ist Grenzelement der "Bewertung". Vgl. auch unten S. 26 f.

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11. "Unlösbare" Pflichtenkollisionen

d) Kollision gleichwertiger Handlungspflichten und "Einheit des Normensystems"

Schließlich überzeugt in der Sache auch attos - äußerst knapp vorgetragenes - Argument, daß die GaHassche Auffassung dem "Dogma von der Einheit der Rechtsordnung" (gemeint als innere Widerspruchsfreiheit des Normensystems) zuwiderlaufe. atto bemerkt dazu: "Wenn die Rechtsgemeinschaft sich als unfähig erweist, ein eindeutiges Handeln eines Rechtsunterworfenen ... zu bestimmen, andererseits aber beansprucht - obwohl sie keinen rechtsgetreuen Weg zu weisen vermag -, das Verhalten abwertend zu beurteilen, kann von einer Einheit der Rechtsordnung nicht gesprochen werden 36." Diese Formulierung trifft das Problem freilich nur ungenau. Der "Selbstwiderspruch" der Rechtsordnung, der die Einheitlichkeit des Normensystems in Frage stellt, beruht darauf, daß das Recht - nach der GaHasschen Konzeption - zwei in der Realität unvereinbare Verhaltensanweisungen gibt und sie trotz nur alternativer Erfüllbarkeit mit gleicher Verbindlichkeit aufrechterhält. Die auf der Adressatenseite bestehende Unmöglichkeit, gleichzeitig "a" und "b" zu tun - A und B zu retten -, hat für den konkreten Pfiichtinhalt die unauflösbare Diskrepanz zur Folge, daß die Rechtsordnung nunmehr "a" ("b") zugleich gebieten und verbieten muß: Die Unvereinbarkeit der Handlungsgebote führt zu einem mit dem jeweiligen Gebot gleichrangig konkurrierenden Handlungsverbot. Das ist ein klassischer Fall des Satzes vom Widerspruch37• Gegenüber diesem Befund wirkt der Hinweis von Gallas wenig überzeugend, daß die "Einheit des Normensystems" gleichwohl erhalten bleibe, weil die Rechtsordnung "nur" an der "Irrationalität der Lebenssituation", nicht jedoch an einem "inneren Widerspruch ihrer Wertmaßstäbe" scheitere38 • Doch dieser "innere Widerspruch" ist gar nicht zu leugnen, wenn man die "Wertmaßstäbe" des Rechts nicht bloß als abstrakt-situationsneutrales "System" von Wertungen, sondern als Richtigkeitsaussagen und -anweisungen für konkretes menschliches Verhalten begreift - und einen anderen Sinn können sie schwerlich Vgl. Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S.19. Vgl. aber auch Philipps, Der Handlungsspielraum, 1974, S. 70 f., der meint, es bestehe hier letztlich kein Widerspruch. weil die Unvereinbarkeit der gebotenen Handlungen den Schluß auf das primäre Verbot eröffne, sich überhaupt in diese Kollisionslage zu begeben. Doch führt ein solches "Primärverbot", wie immer es sich damit verhalten mag, nicht über die Schwierigkeit hinweg, daß die Rechtsordnung, wenn sie für die Konfliktsituation einander widersprechende Verhaltensanweisungen gibt, zwangsläufig etwas verbieten muß, was sie mit gleicher Stringenz gebietet. Dieser Widerspruch wäre nur aufgelöst, sofern dann allein noch das "Primärverbot" gelten würde. Aber dies ist ersichtlich nicht der Fall: das Recht muß auch die aktuelle Konfliktsituation regeln, kann sich also nicht auf das Verbot beschränken, sie herbeizuführen. 38 Vgl. GaHas, Beiträge zur Verbrechenslehre, S.74. 36 37

2. Konflikt gleichwertiger Handlungspflichten

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haben Dann gibt es jedoch keine schärfere Wertungsdiskrepanz im Normensystem als die, daß ein bestimmtes Verhalten vom Recht (als richtig) gefordert und zugleich (als unrichtig) untersagt wird. Gestattet man dagegen dem Verpflichteten die Auswahl, welches Rechtsgut er retten will, so wird dieser Widerspruch beseitigt, ohne daß ernstliche Zweifel daran aufkommen können, daß nach den Wertprinzipien des Rechts beiden Rechtsgütern der gleiche Achtungsanspruch zukommt. Durch diese Konzession an das in der Lebenswirklichkeit Mögliche gewinnt das Normensystem einen Realitätsbezug zurück, der das Recht als sinnvolle Ordnung des sozialen Diesseits ausweist, die sich der Begrenztheit menschlichen Handlungsvermögens nicht verschließt. e) "Gewissenhafte Prüfung" als Recb.tfertigungsscltranke?

aa) Das Problem und seine Aspekte Auf einer anderen Ebene liegt die Frage, ob das Recht bei einem Konflikt gleichwertiger Handlungspflichten jede Entscheidung des Pflichtträgers respektieren muß, die zur Rettung eines Rechtsgutes führt. Oder hat in einem solchen Fall nur ein Verhalten rechtfertigende Wirkung, das auf einer "gewissenhaften" Prüfung beruht? Kann die Rechtsordnung etwa auch die aus sachfremden und unlauteren überlegungen resultierende Wahl des Pflichtsubjekts anerkennen? Und wie steht es, wenn der Verpflichtete überhaupt keine "abwägende Entscheidung" trifft, sondern spontan und "gedankenlos" handelt? Diese naheliegenden Probleme werden in der Literatur, soweit ersichtlich, nirgends erörtert. Mitunter wird allerdings "gewissenhaftes Handeln" mehr oder weniger selbstverständlich vorausgesetzt, wobei dann freilich unklar bleibt, ob und in welcher Richtung daraus Einschränkungen der Rechtfertigung abgeleitet werden sollen. So erklärt z. B. Mangakis, dem Recht stehe kein anderer "rational gangbarer Weg" zur Verfügung, "als daß es die vom Pflichtenträger in Verantwortungsbewußtsein und Gewissensqual (!) getroffene Entscheidung als eine in concreto richtige anerkennt"31I. In der Notwendigkeit, "die richtige Lösung des Konflikts dem Gewissen des einzelnen zu überlassen", sieht der Autor anscheinend sogar die entscheidende Begründung dafür, daß der Grundsatz "impossibilium nulla est obligatio" strikte Beachtung fordere 40 • Damit werden Schranken der Rechtfertigung angedeutet, die der Problematisierung bedürfen. In dieser Arbeit ist freilich nur eine umrißhafte Gedankenskizze möglich. 39 Vgl. Mangakis, ZStW 84 (1972) S.466 und öfter. Vgl. auch von Weber, Festschrift für Kießelbach, 1947, S.248. 40 Vgl. Mangakis, ZStW 84 (1972) S. 466 f.

II. "Unlösbare" Pflichtenkollisionen

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Dabei sollte zunächst klar sein, daß zwischen dem hier angesprochenen Problem der "gewissenhaften Entscheidung" (als möglichem Begrenzungskriterium der Rechtfertigung) und der pflichtlimitierenden Funktion des ultra-posse-Prinzips kein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Nicht eigentlich die Rücksichtnahme auf den anerkennenswerten Gewissensentscheid des Pflichtsubjekts nötigt dazu, die rechtlichen Anforderungen an pflichtgemäßes Verhalten auf das Mögliche zu reduzieren; vielmehr folgt - wie gezeigt wurde - die uneingeschränkte Geltung des Grundsatzes "impossibilium nulla obligatio" bereits daraus, daß einleuchtende Gründe für eine Suspendierung dieses Prinzips nicht vorliegen. Gäbe es solche Gründe, so wäre die Divergenz von objektiver Normanweisung und persönlicher Gewissenhaftigkeit des HandeIns schwerlich ein Hindernis für eine negative Verhaltensbewertung (wie sie Gallas fordert); denn es ist nicht ernstlich zweifelhaft, daß auch subjektiv-gewissenhaftes Handeln - oder Unterlassen - nach den Maßstäben der Rechtsordnung unrichtig sein kann. Andererseits gebietet die ultra-posse-Maxime nur, bei der Bestimmung der kollisionsbedingten Pflichtanforderungen die Grenzen tatsächlicher Erfüllbarkeit zu beachten: sie sagt nichts darüber aus, ob innerhalb dieser Schranken die Pflichtbefolgung "gewissenhaft" geschehen muß oder nicht. Dem ultra-posse-Grundsatz widerspricht es daher jedenfalls nicht, wenn die Rechtfertigung von einem solchen zusätzlichen Kriterium abhängig gemacht wird.

bb) Die Unangemessenheit einer Einschränkung durch das Kriterium "gewissenhaften" Handelns Aber wäre diese Einschränkung sachgerecht? - Unter "Gewissenhaftigkeit" kann in diesem Zusammenhang zweierlei verstanden werden. Einmal eine "pflichtgemäße Prüfung" der Situation im Sinne einer sorgfältigen Abwägung der Pflichtanforderungen, insbesondere der vorhandenen Rettungschancen. Damit wäre ein Rechtfertigungselement eingeführt, das aus der Notstandslehre bekannt ist, dort allerdings inzwischen fast einhellig abgelehnt wird 41 • Das Erfordernis gewissenhaften HandeIns kann aber auch - darüber hinaus - bedeuten, daß die Entscheidung des Pflichtträgers auf einem achtenswerten Motiv beruhen muß, nicht durch unlautere, verwerfliche Erwägungen bestimmt sein darf. Beide Gesichtspunkte geben jedoch keinen Anlaß, für die Rechtfertigung des Verhaltens die "Gewissenhaftigkeit" der Pflichterfüllung zu verlangen. Bei einer Kollision gleichwertiger Handlungspflichten haben die Interessen, deren Schutz das jeweilige Pflichtgebot dient, für die Rechtsordnung den gleichen Rang; sie stehen normativ auf derselben Stufe. Da die Erfüllung einander widerspre41

Vgl. Lenckner in Schönke / Schröder, § 34 Rdnr.49, mit weit. Hinw.

3. Konflikt zwischen Handlungs- und Unterlassungspflicht

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ehender Pflichtanforderungen nicht verlangt wird, hat der Täter im Ergebnis das rechtlich "Richtige" getan, wenn er der einen Pflicht nachkommt und die andere vernachlässigt: er tut, was er tun soll, und unterläßt, was er unterlassen darf. Daran ändert sich auch nichts, wenn er keine "sorgfältige Prüfung" der Sachlage vornimmt oder sogar aus ethisch anstößigen Beweggründen handelt. Eine Bindung der Rechtfertigung an die sittliche Lauterkeit der Motive würde die Ethik über das rechtlich Erlaubte entscheiden lassen und damit nicht nur zu moralischer Anmaßung, sondern auch zu einer weitreichenden Unklarheit der Beurteilungsmaßstäbe führen, die gerade im Rechtswidrigkeitsbereich nicht erträglich ist. Ist es etwa "verwerflich", wenn der Vaterum wieder zum Ausgangsbeispiel zurückzukehren - von seinen bei den in Lebensgefahr schwebenden Kindern dasjenige rettet, das er mehr liebt als das andere, weil es das gesündere oder intelligentere ist? Unmoralisches Verhalten hat jedermann vor seinem Gewissen zu verantworten; ein tauglicher Maßstab für die Entscheidung über Recht und Unrecht ist es nicht.

3. Der Konflikt zwischen gleichwertiger Handlungs- und Unterlassungspflicht Ausgangspunkt der bisherigen überlegungen zum Problem der "unlösbaren" Pflichtenkollision war die Koinzidenz gleichwertiger, unvereinbarer Hand~ungspflichten42. Mit der Einsicht, daß in solchen Fällen die Erfüllung der einen Pflicht die Vernachlässigung der anderen (oder mehrerer anderer) rechtfertigt und auf diese Weise eine "Lösung" des Konflikts stattfindet, ist nun allerdings für den analogen Widerstreit zwischen Handlungs- und Unter~assungspflicht noch nichts ausgemacht. Denn das Rechtfertigungsproblem ist hier offensichtlich anders strukturiert43 ; geht es doch darum, ob sogar der aktive Eingriff in einen fremden Interessenkreis (Verstoß gegen eine Unterlassungspflicht) durch die Befolgung eines gleichwertigen Handlungsgebots legitimiert werden kann oder nicht. Trotz dieser Strukturverschiedenheit, auf die noch zurückzukommen sein wird, dürfte jedoch für diese Variante des Pflichtenkonflikts die Möglichkeit "unauflöslicher" Kollisionen ebenfalls zu verneinen sein. a) Die Unlösbarkeitsthese GaUas hat freilich seine entgegengesetzte Ansicht gerade -

und in erster Linie - an Situationen entwickelt, in denen ein Widerstreit zwischen einer (jeweils gleichrangigen) Handlungs- und Unterlassungs42 Vgl. oben S. 19 ff. 43 Vgl. bereits Küper, JuS 1971, 475.

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H. "Unlösbare" Pflichtenkollisionen

pflicht besteht. In einem "unlösbaren" Pflichtenkonflikt dieser Art sollen sich z. B. die Anstaltsärzte befunden haben, die in den sog. Euthanasieprozessen der Nachkriegszeit44 wegen Beihilfe zur Tötung von Geisteskranken angeklagt waren45 • Die Ärzte hatten die befohlene Tötungsaktion u. a. durch die Eintragung von Kranken in "Verlegungslisten" unterstützt, zugleich jedoch einer großen Zahl von Anstaltsinsassen dadurch das Leben gerettet, daß sie diese mit wahrheitswidriger Begründung von den Listen absetzten 46 ; hätten die Ärzte ihre Mitwirkung gänzlich verweigert, dann wären - davon geht man bei der Beurteilung dieser Fälle jedenfalls allgemein aus - andere herangezogen worden, die den Tötungsbefehl ohne Einschränkung ausgeführt hätten. Nach Gallas stehen sich hier einerseits die Verpflichtung der Ärzte, jede Mitwirkung an der Aktion zu unterlassen, und andererseits ihre Garantenpflicht, das Leben der Patienten zu retten, als gleichwertige Pflichten gegenüber: Rettungsgebot und Tötungsverbot bleiben, obwohl im konkreten Fall unvereinbar, mit gleicher Verbindlichkeit in Kraft, weil sich - so Gallas - nicht sagen läßt, daß dem Tötungsverbot oder der Rettungspflicht das größere Gewicht zukomme. Die Konsequenz dieses "non liquet" ist für Gallas, daß die 44 Vgl. OGHSt 1, 321; 2, 117; SchwG Köln, NJW 1952, 358; BGH, NJW 1953, 515. - Zur strafrechtlichen Diskussion darüber vgl. die Literaturnachweise bei Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S. 2 Fußn. 6 - 22, und aus neuerer Zeit insbesondere: Lang-Hinrichsen, Festschrift für Bärmann, 1975, S. 583 ff.; Mangakis, ZStW 84 (1972) S. 470 ff., 477 Fußn.70; Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, 1969, S. 68 ff.; SpendeI, Festschrift für Engisch, 1969, S. 509 ff., Festschrift für Bruns, 1978, S. 249 ff., 252 ff. - Historisches Material zur "Euthanasie" - Aktion des Dritten Reiches: Ehrhardt, Euthanasie und Vernichtung "lebensunwerten" Lebens, 1965, S. 24 ff.; von Hase, Evangelische Dokumente zur Ermordung der "unheilbar Kranken" unter der nationalsozialistischen Herrschaft 1939 - 1945, 1964; Mitscherlich und Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit, Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, 1960; Nowak, "Euthanasie" und Sterilisierung im "Dritten Reich", 1977/78; G. Schmidt, Selektion in der Heilanstalt 1939 - 1945, 1965. 45 GaHas nennt ferner den von Welzel, ZStW 63 (1951) S.51, zur Diskussion gestellten, "etwas konstruierten" Fall des "Bahnwärters" (Stellwerksbeamten), der einen führerlosen Güterwagen über eine abschüssige Strecke auf einen Bahnhof zurasen sieht, wo er auf einen dort haltenden, vollbesetzten Personenzug aufzufahren droht. Der Beamte stellt im letzten Augenblick die Weiche so um, daß der Güterwagen auf ein Nebengleis gelenkt wird, wo einige Arbeiter einen Güterzug entladen. Gallas bemerkt dazu: "Würden die Arbeiter durch den Aufprall getötet und hatte der Bahnwärter dies vorausgesehen, aber das sonst drohende noch größere Unheil eines Zusammenstoßes mit dem vollbesetzten Zug verhindern wollen, dann hatte er in einer Konfliktsituation gehandelt, die im Rechtsgrundsätzlichen der der Anstaltsärzte entsprach. Auch hier ist deshalb anzunehmen, daß der Bahnwärter, wie immer er sich auch verhalten hätte, rechtswidrig gehandelt hätte." (Beiträge zur Verbrechenslehre, S.74.) Zu vergleichbaren weiteren Fällen siehe auch SpendeI, Festschrift für Bruns, 1978, S. 251 f. 46 Zu den Einzelheiten vgl. etwa Kletisch, MDR 1950, 259 f.; SpendeI, Festschrift für Engisch, 1969, S. 511 ff.

3. Konflikt zwischen Handlungs- und Unterlassungspflicht

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Täter keine Möglichkeit hatten, sich rechtmäßig zu verhalten: Handeln und Unterlassen waren in dieser Situation gleichermaßen widerrechtlich41 • b)Einwände

aa) Der "Selbstwiderspruch" des Rechts Die Bedenken gegen diese Auffassung sind durch die Erwägungen zur Konkurrenz gleichrangiger Handlungspflichten schon vorgezeichnet. Der nächstliegende Einwand besteht darin, daß die "Unlösbarkeitsthese" auch im Bereich der Kollision von Handlungs- und Unterlassungspflicht einen in sich widerspruchsvollen und daher vom Adressaten nicht mehr in sinnvolles Verhalten transponierbaren Norminhalt voraussetzen muß. Der schon anläßlich des Konflikts gleichwertiger Handlungspflichten festgestellte "Selbstwiderspruch" des Rechts tritt hier sogar noch deutlicher zutage. Bei der Kollision von Handlungspflichten ist die - nach Gallas' Lehre unvermeidliche - Koinzidenz von verbotenem und gebotenem Tun, die jenen Widerspruch ausmacht, erst die Folge divergenter, in der Realität nicht gleichzeitig erfüllbarer Handlungsanforderungen: jede gebotene Rettungsaktivität wird, weil jeweils ein konträres Handlungsgebot besteht, "sekundär" zu einem verbotenen Verhalten48 • Bleibt indessen der Konflikt zwischen Unterlassungs- und Handlungspflicht ungelöst, so leidet die Verhaltensanweisung des Rechts bereits an einer "primären", ursprünglichen Widersprüchlichkeit: Das Normansinnen zielt nunmehr unmittelbar - und nicht erst als Reflex unvereinbarer Rettungsgebote - darauf ab, zu tun, was verboten und zu unterlassen, was geboten ist. Die Rechtsordnung gebietet die - in der gegebenen Situation nur durch verbotene Güterverletzung mögliche - Rettung und fordert zugleich die Unterlassung des gebotenen rechtsgutsverletzenden Eingriffs.

41 Vgl. Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, S.73. - Spendel, Festschrift für Engisch, 1969, S.516, verneint in den Euthanasiefällen eine Pflichtenkollision mit der Begründung, daß kein dem Tötungsverbot gegenüberstehendes Tötungsgebot angenommen werden könne. Dabei wird m. E. übersehen, daß die Annahme einer Rettungspflicht zwangsläufig eine Pflichtenkollision (im weiteren Sinne, vgl. oben S. 15 ff.) zur Folge hat, auch wenn jene Pflicht möglicherweise am Verbot aktiver Tötung ihre Grenze findet, weil sie hinter der Unterlassungspflicht zurücktritt. Spendel verwechselt, wie das auch sonst bisweilen zu beobachten ist, die Kollisionslage als solche mit dem Problem des Verhältnisses der Pflichten zueinander, also mit der Frage der Konfliktlösung (vgl. auch Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, S. 72 f.). Eine ganz andere Frage ist es, ob in den Euthanasiefällen wirklich eine Garantenpflicht bestand; dies wird hier vorausgesetzt, ohne daß darauf näher eingegangen werden kann. 48 Vgl. dazu oben S. 26 f.

11. "Unlösbare" Ptlichtenkollisionen

32

bb) Das "ultra-posse"-Prinzip Daß im übrigen auch bei dieser Variante des Pftichtenkonflikts vom Adressaten "Unmögliches" verlangt wird, wenn man die Handlungsund die Unterlassungspfticht mit gleicher Verbindlichkeit nebeneinander bestehen läßt, ist evident. Zu erwägen bleibt, ob es vielleicht einen plausiblen Grund für die Durchbrechung des ultra-posse-Prinzips gibt. In dieser Hinsicht ist die Ausgangslage, wegen der abweichenden Struktur des Pftichtenwiderstreits, freilich etwas anders als beim Konflikt gleichwertiger Handlungspfiichten. Das dort vorgebrachte Argument, das Fehlen einer rechtmäßigen Verhaltensalternative blockiere jeden Rettungsappell des Rechts und führe damit letztlich zu einem Verzicht der Rechtsordnung auf den Schutz der betroffenen Güter49 , verliert hier seine überzeugungskraft. Denn unterläßt der Täter die (zugleich gebotene und verbotene) Rettung, so respektiert er ja - gleichwertige - Interessen, die er sonst antasten müßte; verletzt er sie hingegen, kommt er also seiner Handlungspfticht nach, dann dient seine Tat wiederum dem Schutz der Rechtsgüter, die er durch seinen Eingriff erhält. So betrachtet gäbe die Rechtsordnung, würde sie Handeln und Unterlassen für gleichermaßen unerlaubt erklären, grundsätzlich nicht mehr an Güterschutz preis, als dies bei der Eröffnung einer rechtmäßigen Alternative der Fall wäre; darin liegt ein charakteristischer Unterschied zur Kollision gleichwertiger Handlungspftichten. Andererseits gewinnt das Recht aber auch nichts, wenn es dem Pftichtsubjekt die Möglichkeit rechtskonformen Verhaltens schlechthin vorenthält. Die Rechtsordnung kann zwar dadurch gleichsam "demonstrativ" zum Ausdruck bringen, daß ihr die durch das Verbot geschützten Interessen ebenso wichtig sind wie die Werte, deren Erhaltung das Rettungsgebot fordert. Da aber der Täter im Konflikt von Unterlassungs- und Handlungspfticht nun einmal entweder aktiv in das Geschehen eingreifen oder ihm untätig seinen Lauf lassen muß, bleibt die unterschiedslose Mißbilligung jeder Verhaltensalternative letztlich ein Akt leerer Deklaration, der zur Erhöhung des Rechtsgüterschutzes nichts beiträgt. Dann fehlt jedoch jeder einleuchtende Grund dafür, daß vom Täter Unmögliches verlangt werden sollte. Das Prinzip "ultra posse nemo tenetur" fordert deshalb uneingeschränkte Beachtung. c) Die Priorität der Unterlassungspfticht

Auch im Bereich der Kollisionen zwischen gleichwertiger Handlungs- und Unterlassungspfticht sind daher - in übereinstimmung mit Otto und der herrschenden Meinung - keine "unlösbaren" Kon49

Vgl. oben S. 24.

3. Konflikt zwischen Handlungs- und Unterlassungspflicht

33

fliktslagen anzuerkennen. Damit ist freilich die Frage nicht beantwortet, wie denn die "Lösung" des Pflichtenwiderstreits in solchen Fällen aussehen soll. Man könnte auch hier daran denken, dem Pflichtsubjekt selbst die Entscheidung zu überlassen, ob es handeln oder untätig bleiben Will 50 • Auf den ersten Blick scheint das die adäquate Konsequenz des Befundes zu sein, daß beide Pflichten normativ gleichrangig, faktisch aber nur alternativerfüllbar sind. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch bald, daß dies ein Mißverständnis wäreSi. Dazu muß man sich zunächst vergegenwärtigen, daß der Rang von Pflichten aus den Werten resultiert, zu deren Schutz die jeweilige Pflicht besteht ("abgeleitete Pflichtbewertung")S2; dabei spielen - wie vom gewöhnlichen Notstand her bekannt - nicht nur die abstrakten Güterwerte eine Holle, maßgebend ist vielmehr das Gewicht der am Konflikt beteiligten konkreten "Interessen", die in sorgfältiger Analyse der Gesamtlage zu ermitteln sind53 • " Gleichwertige " ("unabwägbare") Pflichten liegen daher vor, wenn sie sich auf Interessen beziehen, die nach der konkreten Situation im Verhältnis zueinander nicht vorzugswürdig sind. Dürfte nun der Verpflichtete im Konflikt zwischen einer gleichrangigen Handlungs- und Unterlassungspflicht die legitime Verhaltensalternative wählen, so wäre er konsequenterweise befugt, aktiv in Rechtsgüter Dritter einzugreifen, obwohl er keine "überwiegenden", sondern eben nur "gleichwertige" Interessen wahrnimmt. Es liegt auf der Hand, daß ein solches Ergebnis mit dem Prinzip der Interessenabwägung, wie es seit langem anerkannt und heute in § 34 StGB kodifiziert ist, nicht vereinbar wäre5'. Denn dieses Prinzip gestattet den Eingriff in eine fremde Gütersphäre nur bei Wahrnehmung (wesentlich) höherwertiger Interessen; eine "Handlungspflicht" vermag aber 50 So z. B. - jedenfalls für einen Teil der Fälle - Mangakis, ZStW 84 (1972) S.475, 477; auch Baumann, Allg. Teil, S.364 mit Fußn.34. Vgl. ferner ATthuT Kaufmann, Festschrift für Maurach, 1972, S. 337 ff., und im Anschluß an ihn Schild, JA 1978, 633, die ein "unverbotenes" Verhalten annehmen (siehe auch oben S. 19 Fußn. 22); dagegen aber mit Recht HiTsch, Festschrift für Bockelmann, 1979, S. 111 f. 51 Zum folgenden vgl. bereits KüpeT, JuS 1971, 475. 52 Vgl. dazu Blei, Allg. Teil, S.299; LenckneT in Schönke / Schröder, Vorbem. §§ 32 ff. Rdnr.75; MauTach / Zipf, Allg. Teil I, S. 408 f. Vgl. auch HiTsch, LK, vor § 51 Rdnr.89; Kühn, Die Pflichtenkollision im Strafrecht, S.13. 53 Vgl. oben Fußn.52, insbes. LenckneT. 54 Otto stellt im "Nachtrag" (S.122) die seltsame These auf, daß der Verpflichtete "im Falle des gleichen Ranges der sich ausschließenden Pflichtansinnen das höheTe Interesse wahrt, indem er übeThaupt rettend tätig wird". Das ist jedoch nicht richtig: Die Rettungsaktivität allein konstituiert keinen Wertvorzug der Interessen, auf deren Schutz sie sich richtet; vielmehr setzt - umgekehrt - das Handeln-Dürfen die Wahrung des höheren Wertes voraus. Bei einer Kollision zwischen gleichwertiger Handlungs- und Unterlassungspflicht fehlt es an dieser Voraussetzung.

3 Küper

11. "Unlösbare" Ptl.ichtenkollisioneI'l. einen "höheren Wert" nicht zu begründen, solange ihre Erfüllung lediglich dem Schutz von Interessen dient, die mit den beeinträchtigten auf gleicher Stufe stehen. In solchen Fällen hat das Recht - mit Rücksicht auf den Wert der verletzten Interessen - keinen Anlaß, die von der Handlungspflicht an sich geforderte Rechtsgutsverletzung zuzulassen. Daran zeigt sich, daß die Interessenabwägungsmaxime für die Kollison zwischen gleichwertiger Handlungs- und Unterlassungspflicht bereits eine Regelung enthält, und zwar in dem Sinn, daß der Pflicht zur Nichtvornahme der gebotenen Handlung die Priorität zukommt gegenüber der Verpflichtung zum Handeln 55. Da die Unterlassungspflicht nur zum Schutz überwiegender Interessen verletzt werden darf, das Recht andererseits kein verbotenes Tun gebietet - sonst geriete man wieder in die Aporien der "unlösbaren" Pflichtenkollison -, tritt die Handlungspflicht hinter einer gleichwertigen Verpflichtung zum Unterlassen zurück: sie wird durch die Unterlassungspflicht begrenzt. Der Pflichtträger verhält sich daher nur, aber auch immer dann rechtmäßig, wenn er die Handlungspflicht vernachlässigt und die Unterlassungspflicht befolgt, also das Verbot beachtet, indem er untätig bleibt. 4. Zusammenfassung und Ausblick Die beiden Grundtypen des Konflikts gleichwertiger Rechtspflichten folgen damit verschiedenen Regeln, je nachdem, ob Handlungspflichten untereinander konkurrieren oder ob eine Pflicht zum Handeln mit einer Unterlassungspflicht in Widerstreit tritt. Nur im ersten Fall gilt der Grundsatz, daß die Erfüllung einer Pflicht nach Wahl des Täters sein Verhalten rechtfertigt. Im zweiten Fall dagegen ist zwar das Unterlassen erlaubt, das Handeln jedoch widerrechtlich. Diese Art der Pflichtenkollision wird damit nach den Grundsätzen des rechtfertigenden Notstandes behandelt56 • Für die Verletzung von Handlungspflichten resultiert daraus eine Rechtfertigungsmaxime, die man als "Prinzip der gleichwertigen Pflichterfüllung" bezeichnen kann. Sie besagt: Die Nichtbeachtung einer Handlungspflicht ist bei der Kollision mit einer gleichwertigen anderen (Handlungs- oder Unterlassungs-)Pflicht erlaubt, wenn der Verpflichtete dieser anderen Pflicht nachkommt. Von dieser Warte aus ergibt sich für die Rechtswidrigkeitsproblematik der "Euthanasiefälle"57 ein neuer Aspekt. Stände nämlich fest, 55 Vgl. Küper, JuS 1971, 475; ferner z. B. Eser, Strafrecht I, S. 130 f.; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 5; Samson, SK, § 34 Rdnr.26. 56 Vgl. Küper, JuS 1971, 475; Lenckner in Schönke / Schröder, § 34 Rdnr.4,

mit weit. Hinweisen. 57 Vgl. oben S. 30 f. mit Fußn. 44 ff.

4. Zusammenfassung und Ausblick

35

daß man es in diesen Fällen mit einem Konflikt gleichwertiger Pflichten zu tun hat, so wäre die Lösung relativ einfach: Die Unterlassungspflicht, das Verbot aktiven Handeins, hätte Vorrang vor dem Rettungsgebot, würde ihm Grenzen setzen58 • Indessen liegen die Dinge schon im Ansatz komplizierter. Denn geht man davon aus, daß die Beachtung des Handlungsverbots zwangsläufig zur Tötung aller vom Vernichtungsbefehl betroffenen Kranken geführt hätte, so stellt sich zugleich die Frage, ob diese hypothetische Entwicklung das Wert- und Vorzugsverhältnis der kollidierenden Pflichten beeinflussen kann. M. a. W.: Hat nicht - obwohl "Leben" gegen "Leben" steht - die Unterlassungspflicht letztlich doch den geringeren Rang, weil sie sich auf Werte bezieht, deren Vernichtung bei Untätigkeit ohnedies sicher ist? Und muß nicht bei dieser Situation der Handlungspflicht die Priorität zuerkannt werden, da ihre Befolgung immerhin die Möglichkeit eröffnet, wenigstens einen Teil der vom Tode bedrohten Anstaltsinsassen zu retten? Diese Fragen führen wiederum auf das Grundproblem zurück, ob der "Höchstwert" des menschlichen Lebens im Rahmen der situationsbezogenen Interessenabwägung, wie sie zur Lösung des Pflichtenkonflikts erforderlich ist, ausnahmsweise eine Relativierung in der Richtung verträgt, daß das zweckrational "vernünftige" Verhalten auch vom Recht als richtig anerkannt wird59 • Das Problem wird uns in spä58 In der Vernachlässigung dieses normativen Problems, dessen Lösung vom Vorzugsverhältnis der konkurrierenden Pflichten abhängt, liegt die Schwäche der scharfsinnigen formallogischen Erwägungen, die Rödig (Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, S. 71 f.) zu den Euthanasiefällen angestellt hat. Rödig geht davon aus, daß die Ärzte zur Rettung der Anstaltspatienten verpflichtet gewesen seien und daher durch ihre Weigerung, an der Euthanasieaktion mitzuwirken, das Recht verletzt, weil eine Rettung gänzlich unmöglich gemacht hätten. Daraus will er folgern, daß das Verhalten der Arzte nicht verboten war. Verboten sei eine Handlung nämlich nur, wenn der Verbotsadressat verpflichtet sei, sie zu unterlassen (BGHSt 19, 298), also ein Unterlassungsgebot bestehe; hier sei jedoch - wegen der Pflicht zur Rettung - das Unterlassen gerade nicht geboten gewesen. "Folgerichtig war das tatsächliche Verhalten der Arzte ... nicht verboten" (S. 72). Bei dieser Folgerung wird indessen übersehen, daß erst das Konkurrenzverhältnis zwischen Handlungs- und Unterlassungspflicht darüber entscheiden kann, ob sich der Täter nach der Rettungspflicht richten darf oder die Unterlassungspflicht beachten muß. Solange diese Frage nicht entschieden ist, bleibt Rödigs Prämisse, es habe kein Unterlassungs-, sondern im Gegenteil ein Handlungsgebot bestanden, eine ungesicherte Hypothese. Die Entscheidung jener Frage ist aber nur nach den normativen Regeln der Pflichtenkollision möglich, nicht nach den formalen Prinzipien der Logik. 59 Dies ist übrigens der Standpunkt Ottos, der in den Euthanasiefällen für eine Rechtfertigung der Arzte eintritt: "Hatten die Arzte ... keine reale Möglichkeit mehr, alle Patienten zu retten, so mußten sie alles tun, um möglichst viele zu retten ... Wer nicht alle Personen retten kann, muß so viele retten, wie es ihm möglich ist. Dann allerdings kann die Rechtsordnung seine Handlung auch nicht mißbilligen. (Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S.109.) U



11. "Unlösbare" Pflichtenkollisionen

terem Zusammenhang noch näher beschäftigen. An dieser Stelle geht es vorläufig nur darum, die entscheidende Alternative aufzuzeigen, der nicht ausgewichen werden kann. Die These von der "Unlösbarkeit" der Ptlichtenkollision verschleiert die Notwendigkeit dieser Entscheidung.

111. "Echte" und "unechte" PHichtenkollisionen (Randbemerkungen zu einer fragwürdigen Unterscheidung) Die verwirrenden und wenig fruchtbaren begrifflichen Differenzierungen, die sich in der Literatur um das Phänomen der Pflichtenkollision ranken - "echt"/"unecht" bzw. "hypothetisch", "logisch"/"materiell " , "Situations"- und "Wertkonflikt" usw. 60 - will Otto durch die Unterscheidung von "Pflichtenauslegungskonflikt" und "echter Pflichtenkollision" ersetzen. "Echt" sei eine Pflichtenkollision nur dann, wenn aus der Koinzidenz verschiedener sozialer Rollen (z. B. als Vater und als Verkehrsteilnehmer) einander widersprechende Verhaltensanforderungen resultieren; bei Identität der Rollenstellung liege dagegen ein Scheinkonflikt vor, der durch Auslegung des Pflichtinhalts zu bereinigen sei61 . Dies ist gewiß eine originelle methodische Differenzierung. Doch erscheint sehr fraglich, ob mit dem hier in quasi-soziologischem Gewand wieder auftauchenden Unterschied zwischen "echter" (materieller) und "unechter" (logischer) Pflichtenkollision letztlich mehr gewonnen ist als eine vordergründige Phänomenbeschreibung. Macht man mit dem Gedanken ernst, daß es rechtlich "unlösbare" Pflichtenkonflikte nicht gibt, so sind doch wohl alle Pflichtenkollisionen im Grunde "Auslegungs-" oder besser: Entscheidungs- und Konkretisierungskonflikte, also letztlich "Scheinkollisionen"; "obligationes non colliduntur" (Kant)62. Der "Konflikt" kennzeichnet psychologisch wie sachlich die Unsicherheitsphasen eines Entscheidungsvorgangs, in dem schwierige Wertabwägungen zu treffen sind; er ist im Endstadium des gedanklichen Konfliktlösungsprozesses, mit der Konkretisierung des "wirklichen Sollens", aufgehoben und verschwunden 63 • Insofern charakterisiert auch der von Otto herausgestellte "Rollenkonflikt" nur eine spe60 Zur Terminologie vgl. die instruktive übersicht bei End, Existentielle Handlungen im Strafrecht, S.8. Vgl. neuerdings auch Hruschka, Festschrift für Dreher, 1977, S. 192 f. 61 Vgl. Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S. 44 ff., 50 ff. 62 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten (Ausgabe Weischedel), S.330. 63 Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß zur Ermittlung dieses Sollens weitere Regeln erforderlich sind, welche die Pflichten in ein (Rang-) Verhältnis zueinander bringen. Diese "Metaregeln" (Hruschka, a.a.O., S. 192 ff.) sind nur das logisch-axiologische Instrument zur Erkenntnis des richtigen oder falschen Verhaltens, dessen Qualität als "richtig" oder "unrichtig" durch die Anwendung jener Regeln nicht konstituiert, sondern nur offengelegt wird.

38

III. "Echte" und "unechte" Ptlichtenkollisionen

zieHe Variante "unechter" Ptlichtenkollisionen. Zur Konkurrenz gleichwertiger Handlungsptlichten steht diese überlegung nur scheinbar im Widerspruch. Denn auch hier löst das Recht miteinander unvereinbare Anforderungen letztlich auf, indem es jedes Verhalten des Ptlichtträgers, das im Rahmen der gebotenen Alternative liegt, als richtig anerkennt.

IV. Relativierung des Tötungsverbots im Lebensnotstand? Zur Kollision zwischen "Leben" und "Leben" 1. Vorbemerkung

Im 3. Kapitel, dem interessantesten Teil seines Buches, entwickelt Otto für eine Vielzahl umstrittener Fallkonstellationen originelle, scharfsinnig begründete Lösungsvorschläge 64 • Ausgehend von der Situationsgebundenheit der Pflichtinhalte differenziert er - schlagwortartig formuliert - je nach der "sozialen Beziehung" des Handelnden zum geretteten Rechtsgut einerseits, zum beeinträchtigten andererseits. Für Otto macht es danach einen erheblichen Unterschied, ob der Täter zur Erhaltung des eigenen Lebens oder z. B. im Interesse eines gefährdeten Angehörigen handelt, ob er mit der Rettungshandlung einen "beliebigen Dritten" oder etwa eine ihm kraft besonderen Rechtsverhältnisses "anvertraute" Person tötet, usw. So ergibt sich aus sukzessiver Fallanalyse ein detailliertes, subtil differenziertes Konfliktlösungssystem65 • Zweierlei ist daran besonders bemerkenswert und zugleich diskussionsbedürftig: einmal Ottos Grundposition und Lösungsmethodik bei der Beurteilung von "Handlungen zur Rettung des eigenen Lebens"66, ferner die Bedeutung, die der Autor den familiären Pflichtbindungen für die rechtliche Bewertung der Pflichtenkollision beimißt6 7• 2. Ottos Methodik und Lösungsvorschläge bei Tötungshandlungen zur Rettung des eigenen Lebens a) Die Ausgangsposition ottos

Den Ansatzpunkt zur dogmatischen Bewältigung derjenigen Kollisionslagen, in denen der Täter die Erhaltung seines Lebens bezweckt, sieht Otto darin, daß die Rechtsordnung eine schrankenlose Durchsetzung des Selbsterhaltungsaktes nicht anerkenne, andererseits aber was der Autor u. a. aus § 330 c StGB und aus der singulären Natur spezieller Pflichten zum Bestehen des Notstandes herleiten will- keine unbegrenzte Pflicht zur Aufopferung des eigenen Lebens statuiere68 • 64 Vgl. Otto, Ptlichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S. 76 ff. 65 Vgl. das zusammenfassende Schema bei Otto, S. 111 f. 66 Vgl. Otto, S. 77 ff. 67 Vgl. Otto, S. 94 ff., 99 ff., 105 ff. 68 Vgl. Otto, S. 79 f.

IV. Relativierung des Tötungsverbots im Lebensnotstand?

40

Daraus ergebe sich zwar der Satz, daß "niemand gegen seinen Willen von einem anderen zum Opfer für diesen anderen oder für Dritte bestimmt werden darf", "Rettungshandlungen auf Kosten Dritter demgemäß von der Rechtsgemeinschaft mißbilligt werden"69. Doch erfülle nicht jeder lebensvemichtende Erhaltungsakt diese Bedingungen. Voraussetzung der rechtlichen Mißbilligung, also der Rechtswidrigkeit, sei - außer der "Entscheidung eines Menschen über das Leben eines anderen" - vielmehr, daß "Rettungschancen nur auf Kosten eines anderen realisiert werden, indem der Handelnde Chancen des Opfers vernichtet und die eigenen dadurch verbessert"70. Nur diese Form der Aufopferung fremden Lebens zugunsten des eigenen und nicht die Lebensvernichtung schlechthin - dies ist Ottos zentrale, etwas unvermittelt eingeführte These - wird im Konfliktsfall von der Rechtsordnung verboten. Der Gedanke der "Chancenanmaßung"Tl, man könnte auch sagen: der "Aneignung" fremder Rettungschancen, wird damit zum ausschlaggebenden Rechtswidrigkeitskriterium, das Dtto an verschiedenen Fallgruppen erprobt und konkretisiert. b) Folgerungen für Einzelfälle

In dem bekannten "Bergsteigerfall" - B rettet sich, indem er das Seil kappt, das ihn mit dem in eine Gletscherspalte gestürzten, hoffnungslos verlorenen A verbindet und ebenfalls in den Abgrund zu ziehen droht n - führt dieses Kriterium nach Dtto zur Ablehnung pflichtwidrigen Verhaltens. Denn B erhalte sein Leben nicht "auf Kosten" des A, maße sich nicht dessen Rettungschancen an und bestimme ihn nicht zum Opfer, da dieser ja ohnehin "keine reelle Lebenschance" mehr habe; B nutze daher ausschließlich die für ihn selbst bestehenden Rettungsmöglichkeiten aus. Dtto formuliert in diesem Zusammenhang die Maxime: "Die Entscheidung über das todgeweihte Leben eines anderen kann dann nicht von der Rechtsordnung mißbilligt werden, wenn der Täter lediglich in seiner Person begründete Rettungschancen realisiert, ohne dabei die Chancen des Opfers auch nur geringfügig zu verschlechtern7lt." In dem berühmten KarneadesFaIF4 liege dagegen eine rechtswidrige Tat des Schiffbrüchigen vor, der seinen Schicksalsgenossen von der rettenden Planke stoße, die nur einen Menschen zu tragen vermöge; denn der Täter vernichte hier die Rettungschancen des ursprünglichen Plankenbesitzers zugunsten der eigenen Person15• 69

70 71 72

73 74

Otto, S. 8I.

Wie Fußn. 69. Vgl. Otto, S.87. Vgl. Otto, S.5I. Otto, S.83. Zustimmend neuerdings Schild, JA 1978, 634. Vgl. Otto, S.3.

3. Einwände

41

Zu demselben Ergebnis kommt Otto z. B. in dem makabren "Mignonette-Fall": Schiffbrüchige Matrosen hatten, nachdem sie zwanzig Tage in einem kleinen Rettungsboot auf offener See umhergetrieben und zuletzt eine Woche ohne Nahrung waren, den im Sterben liegenden Schiffsjungen getötet und verzehrt; sie wurden vier Tage später gerettet76 • Der Autor meint: Die Täter "vergrößern ihre Rettungschancen dadurch, daß sie die des Jungen vernichten. Mögen diese Chancen auch gering sein, so ist das doch unwesentlich. Es bestanden jedenfalls noch Chancen. Die Matrosen handelten demgemäß pflichtwidrig77." Auch im "Ballonfall"78 liegt nach Ottos Auffassung eine rechtswidrige Tat vor: Ein Freiballon, in dessen Gondel sich A und B befinden, droht ins Meer abzustürzen, wenn nicht einer der Insassen die Gondel verläßt und dadurch dem Ballon Auftrieb gibt; B rettet sich, indem er den A über Bord wirft. Anders als im "Bergsteigerfall ", meint Otto, maße sich bei dieser Konstellation B Rettungschancen des A an. Zwar seien A und B unrettbar verloren, solange sie sich in der Gondel befänden; doch habe A immerhin die Möglichkeit, genauso lange zu leben wie B. Die Chancen bei der Ballonfahrer seien während ihres Aufenthalts in der Luft also "im Ausgangspunkt gleich"; daher verbessere B seine Rettungsaussichten auf Kosten seines Schicksalsgefährten79 . 3. Einwände a) Die Tragweite der Argumentation: Relativierung des Tötungsverbots

Diese Auswahl von Problemfällen aus Ottos Arbeit mag zur Illustration seiner Lösungsmethodik hier genügen. Der Versuch einer kritischen Würdigung dieser Argumentation führt zunächst zu ihrem Ansatzpunkt zurück. über den an sich zutreffenden Ausgangssatz, daß die Rechtsordnung eine "schrankenlose Durchsetzung" der Selbsterhaltung zu Lasten fremden Menschenlebens nicht billige, wäre dabei kaum ein Wort zu verlieren, enthielte er nicht implizit schon jene dann ausdrücklich formulierte Einschränkung, daß die Rechtsgemeinschaft den einzelnen andererseits nicht "unbegrenzt" zur Aufopferung des eigenen Lebens verpflichte80 • Sieht man beides im Zusammenhang, so heißt dies nichts anderes, als daß sich der Selbsterhaltungszweck bei einer Kollision "Leben gegen Leben" in bestimmten Fällen eben doch durchsetzen Wie Fußn.73. Zum Karneades-Fall eingehend unten S. 64 ff. Wie Fußn.74. 77 Vgl. Otto, S.87. 78 Otto, S. 50. 79 Otto, S. 84/85. 80 Vgl. Otto, S.80, 81. 75

76

IV. Relativierung des Tötungsverbots im Lebensnotstand?

42

darf, nämlich dann, wenn eine Pflicht zum Lebensopfer nicht besteht. Es liegt auf der Hand, daß dieser Ausgangspunkt eine geradezu brisante dogmatische Grundentscheidung enthält. Sie besteht darin, daß dem von Lebensgefahr betroffenen Notstandstäter "grundsätzlich" d. h. der Möglichkeit nach, wenngleich in noch näher zu bestimmenden Grenzen - die Legitimation zur Tötung eines anderen (im Sinne der "Pflichtgemäßheit" des Verhaltens) zugesprochen wird. Das Tötungsverbot wird m. a.W. durch die Anerkennung einer nur "begrenzten" Aufopferungspflicht von vornherein relativiert, und lediglich die Ermittlung seiner Schranken, nicht aber seine absolute Geltung, steht im Notstandsfall zur Debatte. Dies ist denn auch die unausgesprochene Arbeitsbasis der weiteren überlegungen Dttos, die in den mitgeteilten Lösungsvorschlägen deutlich wird: Die zentrale Argumentationsfigur der "Chancenanmaßung" fungiert als eine Art Regulativ zur "Feinstrukturierung" der Geltungsgrenzen des Tötungsverbots. b) Kritik der theoretischen Ableitung

Vergegenwärtigt man sich diese Tragweite der Ausgangsthesen, so muß deren theoretischer Ableitung die besondere kritische Aufmerksamkeit gelten. In diesem Punkt zeigt Dttos Argumentation unverkennbare Schwächen. Die "Begrenztheit" der Pflicht zur Aufopferung des eigenen Lebens, die wiederum das Tötungsverbot im Notstandsfall relativieren soll, wird von Dtto - wie schon angedeutet wurde einmal aus § 330 c StGB hergeleitet: Die Bestimmung zeige, "daß die Rechtsordnung von dem einzelnen nicht verlangt, jederzeit sein Leben zur Rettung eines anderen bewußt zu opfern"81. Diese Feststellung ist als isolierte Aussage gewiß richtig. Aber hat sie im Kontext unseres Problems, für die Beurteilung in Lebensgefahr begangener Tötungshandlungen, einen Erkenntniswert, der ihr über den Bereich des § 330 c StGB hinaus prinzipielle Bedeutung verleiht? Das ist sehr zu bezweifeln! Jene Vorschrift zeigt doch nur, daß die allgemeine Hilfeleistungspflicht, die bei Unglücksfällen (nicht allein bei Lebensgefahr) besteht, an der Gefährdung oder Aufopferung wichtiger Eigeninteressen (nicht nur des Lebensinteresses) ihre Grenze findet, weil Hilfeleistung dann "unzumutbar" wird. Wie bekannt, ist bereits recht zweifelhaft, ob sich diese Unzumutbarkeitsgrenze auf andere Handlungspflichten, insbesondere Garantenpflichten, übertragen läßt; das mag hier dahinstehen82• Jedenfalls beweist § 330 c StGB nicht, daß es Fälle gibt, in denen das Verbot aktiver Tötung zurückzutreten hat, weil sich das eigene Leben des Täters in Gefahr befindet; die Vorschrift würde sonst auch beweisen, daß schlechthin die "erhebliche eigene Gefahr" oder die Befolgung 81

82

Otto, S. 80.

Vgl. dazu unten S. 86 ff.

3. Einwände

43

einer "anderen wichtigen Pflicht" geeignet wäre, jenes Verbot einzuschränken - eine offenkundig indiskutable Konsequenz! Wenn man schon im positiven Recht nach Anhaltspunkten dafür sucht, was der Gesetzgeber über die Pflicht zum eigenen Lebensopfer und ihre Grenzen aussagt, dann drängt sich der Hinweis auf die Regelung des entschuldigenden Notstands geradezu auf: Selbst gegenwärtige Lebensgefahr, so gibt das Gesetz hier zu erkennen, entbindet im allgemeinen nicht von der Pflicht zur Beachtung der rechtlichen Verbote; sie "entschuldigt" lediglich die pflichtwidrige Tat.

Otto beruft sich freilich - und sogar in erster Linie - gerade auf den Ausnahmecharakter einer "Pflicht zum bewußten Lebenseinsatz" in unserer Rechtsordnungs:t. Derartige Pflichten seien gesetzlich "nur für ganz bestimmte Pflichtträger festgelegt" (z. B. in § 6 WStG und in den §§ 106, 109 SeemannsG) und darüber hinaus gewohnheits rechtlich lediglich für einen kleinen Kreis weiterer Personen anerkannt, z. B. für Polizisten, Feuerwehrleute, Wettermänner im Bergbau usw. Indes, welche Folgerungen erlaubt dieser Befund? Sicher nicht den Gegenschluß, daß andere, nicht derart exponierte und besonders "in Pflicht genommene" Personen sich bei Tötungshandlungen zur Rettung des eigenen Lebens im Notstandsfall stets pflichtgemäß verhalten. So weit will Otto denn auch offensichtlich nicht gehen; er interpretiert den (entschuldigenden) Notstand der §§ 54 a. F., 35 n. F. StGB nicht im Sinne der früheren "Einheitstheorie" (Hold von Ferneck, Robert von Hippel und jetzt wieder Gimbernat Ordeig84) als Unrechtsausschlußgrund. In Wahrheit eignen sich aber die besonderen "Notpflichten" überhaupt nicht zur Stützung der These, daß die im Lebensnotstand begangene Vernichtung fremden Lebens für den "gewöhnlichen Rechtsgenossen" u. U. erlaubt sein kann. Ganz abgesehen davon, daß z. B. § 6 WStG - der übrigens nicht allein Lebensgefahren betrifft - nur eine sonst mögliche Entschuldigung ausschließt, liegt die Funktion der genannten, positiv- oder gewohnheitsrechtlichen Sonderpflichtnormen darin, den Radius des speziellen Pflichtenkreises so weit auszudehnen, daß er im Ernstfall auch die übernahme akuter Risiken für "Leib und Leben" einschließt85• Dies bedeutet einmal, daß Handlungspflichten, etwa Garantenpflichten oder auch die allgemeine Hilfeleistungspflicht nach § 330 c StGB, durch derartige Risiken nicht begrenzt werden. Es bedeutet ferner, daß eine Rechtfertigung nach dem Prinzip des überwiegenden Wertes (§ 34 StGB) infolge der besonderen PflichtOtta, Ptlichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S. 80. Zur älteren Literatur vgl. die Hinweise bei Siegert, Notstand und Putativnotstand, 1931, S.22 mit Fußn.2; zuletzt Gimbernat Ordeig, Fest83

84

schrift für Welzel, 1974, S. 485 ff., 491 ff. 85 Vgl. im übrigen unten S. 104 ff.

44

IV. Relativierung des Tötungsverbots im Lebensnotstand?

gebundenheit der tätereigenen Gütersphäre ("Leib und Leben") auch dort ausgeschlossen sein kann, wo die Abwägung an sich - für den gewöhnlichen Bürger - positiv ausfiele. Entsprechendes gilt für die Notstandsentschuldigung nach § 35 Abs.l StGB. Man kann, unter dem Aspekt von Verbot und Erlaubnis betrachtet, auch sagen: Die speziellen Notpflichten erweitern den personalen Geltungsbereich des Verbots über den normalen Adressatenkreis hinaus, indem sie für besonders verpflichtete Personen die Möglichkeiten erlaubten Verhaltens stärker beschränken. Ein Argument für die These, daß das Tötungsverbot bei Handlungen zur Erhaltung des eigenen Lebens außer Kraft treten kann, ergibt sich daraus logischerweise nicht. Denn sollte jenes Verbot für den "gewöhnlichen Rechtsgenossen" ohnehin, auch im Lebensnotstand, uneingeschränkt gelten, dann gilt es für den Träger der einschränkenden Sonderpflicht "erst recht". Ottos Hinweis auf den Ausnahmecharakter der besonderen Pflichten zum Lebenseinsatz setzt also die Relativierbarkeit des Tötungsverbots, die er plausibel machen soll, im Grunde schon voraus. c) Kritik der zentralen Argumentationsfigur ("Anmaßung fremder Rettungschancen")

aa) Das Kriterium der "Chancenanmaßung" Die theoretische Ableitung des von Otto so scharfsinnig entwickelten Konfliktlösungssystems bleibt nach alledem unbefriedigend. Ein endgültiges Urteil gestattet diese Kritik freilich noch nicht. Dazu muß Ottos zentrale Argumentationsfigur, die "Anmaßung fremder Rettungschancen", genauer unter die Lupe genommen werden. Seine Ausgangsthese, "daß die geltende Rechtsordnung schrankenlose Maßnahmen (?) zur Rettung des eigenen Lebens mißbilligt, andererseits aber auch keine unbegrenzte Pflicht statuiert, das eigene Leben zu opfern"86, führt den Verfasser zu einer Folgerung, die zunächst so klingt, als solle das Tötungsverbot unangetastet bleiben: Niemand dürfe "gegen seinen Willen von einem anderen zum Opfer für diesen anderen oder für Dritte bestimmt werden", "selbst wenn das Leben des Opfers bereits todgeweiht erscheint"87. Die entscheidende Relativierung steckt indes, wie wir bereits sahen, in Ottos Begriffsverständnis der "Aufopferung": der Rettungshandlung "auf Kosten" des Betroffenen, die nur dann vorliegen soll, wenn "der Handelnde Chancen des Opfers vernichtet und die eigenen dadurch verbessert"88. Mag auch der Doppelsinn des Ausdrucks "Opfer" etwas irritieren, so ist das Gemeinte doch 86 Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S. 8l. 87 88

Wie Fußn. 86. Otto, S. 8l.

3. Einwände

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unmißverständlich klar: Maßgebend ist die Realisierung von Rettungschancen zu Lasten der Möglichkeiten des Betroffenen, sozusagen die "Zueignung" fremder überlebensaussichten. Dieses Kriterium bezeichnet in Ottos System die Grenze zwischen pflichtgemäßem und pflichtwidrigem Verhalten im Lebensnotstand. (Der weitere Gesichtspunkt: die "Entscheidung" eines Menschen über das Leben eines anderen, dessen Relevanz mir nicht deutlich geworden ist, tritt demgegenüber zurück und kann hier vernachlässigt werden.) Vielleicht enthält dieser Gedanke die bisher vermißte materielle Begründung für die von Otto postulierte Möglichkeit erlaubter lebensvernichtender Notstandshandlungen.

bb) Kritische Bemerkungen Fremde Rettungschancen kann sich der Tötende sicherlich dann nicht "anmaßen", wenn der Betroffene selbst schlechterdings keine Aussicht mehr hat, der akuten Lebensgefahr zu entgehen. Einfachster Prototyp dieser Konstellation ist der schon erwähnte "Bergsteigerfall"89. Otto entscheidet diesen Problemfall denn auch mit der bestechend einfachen überlegung, daß demjenigen, der nichts (d. h. keine Chance) hat, auch nichts genommen werden kann: "Wo nämlich keine Lebensrettungschancen auf Seiten eines Menschen vorhanden sind, rettet derjenige sein Leben nicht auf Kosten des Betroffenen, der in seiner Person vorhandene Möglichkeiten der Rettung nutzt90 ." Indes: Zerschneidet der Bergsteiger B das Seil, an dem sein todgeweihter Gefährte A über dem Abgrund schwebt, so liegt andererseits auf der Hand, daß B das Leben des A immerhin insofern "opfert", als dessen vorzeitiger Tod für B die Voraussetzung eigenen überlebens ist. So betrachtet rettet sich B, eben weil er A tötet und nur dadurch dem eigenen Tod entrinnen kann, durchaus "auf Kosten" des A, nimmt er dessen - wenngleich vom unabwendbaren Tode bedrohtes - Leben als "Opfer" für sich in Anspruch. Was berechtigt Otto also dazu, diesen Aspekt auszuklammern und eine Rettung "auf Kosten" des Getöteten nur anzunehmen, wenn dieser überhaupt noch eine Rettungschance hat, deren er beraubt werden kann? Nach einer befriedigenden Antwort auf diese Frage sucht man bei Otto vergeblich; er scheint bereits vorauszusetzen, daß als Gegenstand rechtlich relevanter "Aufopferung" lediglich die Rettungsaussicht (Überlebenschance) in Betracht kommt. Gerade diese Einschränkung bedürfte jedoch der näheren Begründung. Sie könnte nach Ottos Argumentationsansatz nur darin gefunden werden, daß dem Leben eines Menschen, der in einer Gefahrensituation keine Rettungschance mehr besitzt, die rechtliche Schutzwürdigkeit 89 Vgl. oben S.40. 90 Otto, S. 83.

IV. Relativierung des Tötungsverbots im Lebensnotstand?

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abzusprechen ist - oder daß sie doch praktisch zu einer "quantite negligeable" wird -. Denn allein unter dieser Prämisse wäre die Folgerung plausibel, daß dem Betroffenen, da er ja ohnehin mit Gewißheit bald sterben muß, durch den lebensverkürzenden Eingriff "nichts genommen" wird, so daß sich der Täter nicht "auf Kosten" des Getöteten rettet. Damit dürfte aber auch der entscheidende Einwand gegen Ottos Beweisführung deutlich geworden sein: sie hat den sonst allenthalben mit Recht abgelehnten Gedanken zur Voraussetzung, daß rettungslos verlorenes, "todgeweihtes" Leben keinen Schutz mehr verdient; der Güterschutz wird vielmehr von vornherein reduziert auf die Sicherung der (in unseren Fällen nicht mehr vorhandenen) "Überlebenschance". Nun läßt sich Otto gewiß nicht vorwerfen, daß er die rechtliche Schutzlosigkeit todgeweihten Lebens als allgemeines Prinzip vertritt. Das ändert aber nichts daran, daß er bei der Entscheidung des Bergsteigerfalles und ähnlicher Konstellationen der Sache nach auf diese höchst fragwürdige Maxime zurückgreift. Zu diesem grundsätzlichen Einwand gegen das Kriterium der "Chancenanmaßung" kommen Bedenken gegen seine Durchführung. Es will z. B. nicht recht einleuchten, daß Otto zwar dem in die Gletscherspalte gestürzten Bergsteiger jede "reelle Lebenschance" (gemeint ist wohl: jede reale Überlebenschance) abspricht - und damit dessen Tötung für legitim erklärt -, im "Mignonette-Fall" dagegen anders votiert; dort werden dem getöteten Schiffsjungen, der immerhin schon "im Sterben liegt", kurzerhand noch "geringe" Rettungschancen eingeräumt, mit der Folge, daß seine Tötung rechtswidrig sein S01l91. Diese Differenzierung mutet ziemlich willkürlich an. Auch die Überlegungen, mit denen Otto im "Ballonfall" von seinem Lösungsansatz aus zur Rechtswidrigkeit der Tötungshandlung gelangt92 , bleiben unbefriedigend. Der Hinweis des Autors, daß der später getötete Ballonfahrer A die Möglichkeit gehabt habe, "genauso lange zu leben" wie der Täter B - nämlich bis zum gemeinsamen tödlichen Absturz bei der -, trifft nicht den wesentlichen Gesichtspunkt. Denn mit dieser Erwägung wird das Bestehen einer Rettungschance (überlebensaussicht) für A, die B sich "anmaßen" könnte, nicht zureichend begründet. Deshalb führt auch der Gedanke nicht weiter, daß die Chancen von A und B "im Ausgangspunkt gleich" sind, "solange sie noch mit dem Ballon schweben"92'. Bleiben beide in der Gondel, so hat ja keiner eine Überlebenschance, und die Lage ist insofern nicht anders als im "Bergsteigerfall", wenn das Seil nicht gekappt wird. Trotzdem besteht freilich ein Unterschied zwischen beiden Konstellationen, der 91 92 93

Dtto, S.87. Vgl. Dtto, S.84/85. Dtto, S. 84.

3. Einwände

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bei Otto nur undeutlich anklingt, aber wohl das eigentliche Motiv dafür ist, daß der Autor im "Ballonfall" eine Rettung "auf Kosten" des Getöteten annimmt. Denn das Opfer hat hier - im Gegensatz zur Situation des "Bergsteigerfalles", in der es bedingungslos verloren ist - tatsächlich noch eine gewisse Rettungsaussicht, und zwar genau diejenige, die dann der Täter für sich ausnutzt: die Möglichkeit nämlich, dem eigenen Tod durch die Tötung des Gefährten zu entrinnen. Und diese Chance büßt das Opfer ein, wenn es nun seinerseits über Bord geworfen wird. Insofern verbessert der Täter seine Möglichkeiten in der Tat "auf Kosten" der überlebenschancen seines Schicksalsgefährten; unter diesem Aspekt ist Ottos Fallentscheidung logisch folgerichtig. Allerdings führt sie in eine seltsame Wertungsfriktion, die zeigt, wie fragwürdig es ist, die Rechtswidrigkeit der Tötungshandlung aus dem Bestehen einer faktischen überlebensaussicht des Getöteten abzuleiten. Argumentiert man so, dann wird im "Ballonfall" das Tötungsverbot lediglich um einer Rettungschance willen aufrechterhalten, die deren Inhaber (A) nur durch den Angriff auf das Leben des Täters (B) realisieren könnte. Der Täter darf also, pointiert formuliert, das Opfer allein deshalb nicht töten, damit es die Möglichkeit behält, ihn umzubringen und dadurch dem eigenen Tod zu entgehen! Daß dies eine plausible Begründung ist, die das Rechtswidrigkeitsurteil verständlich macht, wird schwerlich behauptet werden können. Wenn man schon mit Otto - den Schutzbereich des Tötungsverbots auf die Gewährleistung der überlebensaussicht reduziert, so dürften deshalb Rettungschancen dieser Art nicht mehr als schutzwürdig anzuerkennen sein, mit der Konsequenz, daß ihre Ausnutzung legitim wäre. Im "Ballonfall" hätte die Entscheidung dann ebenso zu lauten wie im "BergsteigerfaU" .

ce) Zusammenfassung Aber wie man zu diesen Einzelfragen auch stehen mag - der Autor ist den Beweis für seine These schuldig geblieben, daß im Lebensnotstand die Tötung des Opfers erlaubt ("nicht pflichtwidrig") ist, wenn es keine Rettungschance mehr besitzt, die der Täter vernichten kann. Die griffige Formel von der Rettung "auf Kosten" fremder überlebensaussichten überspielt die entscheidende Frage nach dem Grund für eine solche Verkürzung des Lebensschutzes und läuft damit Gefahr, die eigentlichen Sachprobleme zu verfehlen. Bei der Beurteilung der zuletzt erwähnten Konstellationen (Bergsteiger-, Mignonette- und Ballonfall) und ähnlicher Fälle, in denen die Situation des Getöteten ohnehin mehr oder weniger aussichtslos war, wird man daher andere Wege gehen müssen. Über den Ausgangspunkt sollten dabei keine Meinungs-

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IV. Relativierung des Tötungsverbots im Lebensnotstand?

verschiedenheiten bestehen: Auch dem vom Tode gezeichneten, unrettbar verlorenen Menschenleben steht grundsätzlich der volle rechtliche Schutz gegen lebensverkürzende Eingriffe zu; das schon "todgeweihte" Leben ist kein Rechtsgut geringeren Ranges oder minderer Schutzwürdigkeit als das "hoffnungsvolle", nicht vom unabwendbaren Untergang bedrohte94 • Die Tatsache allein, daß das Opfer in einer Gefahrensituation keine "reale überlebenschance" mehr hat, begründet daher für den Täter noch keine Legitimation zur Tötung, auch wenn er selbst sich in unausweichlicher Lebensgefahr befindet. Ottos Argument, daß in solchen Fällen keine (verbotene) Rettung "auf Kosten" des Betroffenen stattfinde, scheitert an der prinzipiellen Unzulässigkeit der damit implizierten Differenzierung zwischen bedingungslos " todgeweihtem " und noch "überlebensfähigem" Menschenleben95 •

4. Grundsätzliche überlegungen zur Relativierbarkeit des Tötungsverbots bei Kollisionen zwischen "Leben" und "Leben" a) Das Grundproblem und seine Ersclleinungsformen

Wenn dennoch Zweifel aufkommen, ob in derartigen Notstandslagen das Tötungsverbot uneingeschränkt aufrechterhalten werden kann, so haben sie ihren Grund nicht - oder jedenfalls nicht primär und spezifisch - in der "aussichtslosen" Situation des Opfers. Die Bedenken hängen vielmehr mit den zunächst befremdlich anmutenden Konsequenzen zusammen, die sich für das Schicksal beider am Notstand Beteiligter ergäben, wenn der Täter jenes Verbot (seine Geltung einmal unterstellt) beachten würde. Gerade dann nämlich müßten beide zugrundegehen: der - potentielle - Täter, weil er auf die einzige Rettungschance verzichten muß, die in der Tötung des Opfers liegt; das potentielle - Opfer, weil selbst dieser heroische Verzicht an seinem ohnehin besiegelten Untergang nichts ändert. Die Befolgung des Tötungsverbots, das doch der Erhaltung menschlichen Lebens dienen soll, scheint bei dieser tragischen Konstellation zu einer geradezu lebensfeindlichen Maxime zu werden, die jede Möglichkeit, Leben zu 94 Vgl. dazu auch BockeLmann, Strafrecht des Arztes, 1968, S. 112 ff. (im Rahmen von Notstandsproblemen bei der Organtransplantation); Sax, JZ 1975, 147 f.; zuletzt SpendeL, Festschrift für Bruns, 1978, S. 262 ff. 95 Dieser Einwand trifft alle Versuche, die darauf abzielen, das Tötungsverbot allein im Blick auf die ohnehin "aussichtslose Lage" des Opfers zu suspendieren. Er gilt z. B. auch für den Hinweis Stratenwerths, Allg. Teil I, S.143, daß beim Betroffenen "die Gefahr praktisch nicht mehr erhöht" werde und deshalb keine verbotene Handlung vorliege. Ein lebensverkürzender Eingriff, der bewirkt, daß sich die bestehende Gefahr früher (und in anderer Weise) realisiert, bedeutet jedoch immer eine Gefahrsteigerung (vgl. Samson, SK, § 34 Rdnr.20). Auch wenn dies nicht so wäre, bliebe er doch ein Akt der Lebensvernichtung, der nicht damit legitimiert werden kann, daß sich die Gefahr kurze Zeit später "von selbst" verwirklicht hätte.

4. Grundsätzliche überlegungen

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erhalten, verwehrt, ein völlig sinnloses Lebensopfer erzwingt und sich damit selbst ad absurdum führt91l ! Muß deshalb das Verbot, einen anderen Menschen zu töten, nicht ausnahmsweise zurücktreten, weil seine Fortgeltung nur größeres Unheil stiften würde? Und kann unter diesen Umständen noch ernstlich zweifelhaft sein, daß das zweckrational Vernünftige: die Erhaltung wenigstens eines Menschenlebens bei sonst unvermeidlichem Untergang beider Beteiligter, auch vom Recht als richtige Lösung akzeptiert wird91? Die Relevanz des hier auftauchenden Grundproblems ist nicht auf Fälle von der Art des "Bergsteiger-" oder "Mignonettefalles" beschränkt, auf Situationen also, in denen für den Getöteten schlechterdings keine überlebenschance mehr bestand. Das Problem zeigt sich an derartigen Konstellationen nur in gleichsam exemplarischer Schärfe. Es tritt auch nicht allein bei Handlungen zur Rettung des eigenen Lebens auf. Man begegnet ihm vielmehr - in tatsächlich, aber nicht prinzipiell unterschiedlichen Varianten - überall dort, wo eine Notlage die Betroffenen derart zu einer "Gefahrengemeinschaft" zusammenschließt, daß nur durch die Tötung eines Teils der gefährdeten Personen der sonst unabwendbare Tod aller verhindert werden könnte; der Täter selbst kann dabei innerhalb oder außerhalb der Gefahrengemeinschaft stehen. Hierher gehören daher, neben alten Schulbeispielen wie etwa dem "Fährmannfall"9B, auch die schon in anderem Zusammenhang99 erwähnten "Euthanasiefälle" . In dieser Fallgruppe waren zwar die Opfer - anders als im "Bergsteigerfall " - nicht bereits derart vom Schicksal gezeichnet, daß für sie keine Rettungsmöglichkeit mehr bestand; die Verwirklichung ihrer überlebenschancen war indessen, ähnlich wie im "Ballonfall", davon abhängig, daß andere Mitglieder der Gefahrengemeinschaft getötet wurden. Der Täter mußte deshalb, wollte er überhaupt Menschenleben retten, selbst eine Auswahl der Opfer treffen und insofern "Schicksal spielen"IOo. Die für 96 Vgl. auch Mangakis, ZStW 84 (1972) S.475: "Hier steht die Menschenachtung in einem kraß offenen Gegensatz zu sich selbst." 97 Vgl. auch von Weber, Das Notstandsproblem, S.30: " ... ein vernünftiges Recht kann nicht verbieten, daß wenigstens ein Menschenleben gerettet wird, wenn die Rettung beider unmöglich ist." Ebenso zuletzt wieder Zimmermann, MDR 1954, 147. 9B Ein Fährmann, der eine Schar von Kindern über einen reißenden Fluß setzt, erkennt in der Mitte des Stromes, daß er wegen eines Lecks das andere Ufer mit der voll beladenen Fähre nicht erreichen wird, so daß alle Kinder zu ertrinken drohen, wenn er nicht einige ins Wasser stößt, um dadurch das Fahrzeug vor dem Kentern zu bewahren. Vgl. zu diesem Fall Klefisch, MDR 1950, 261; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 27 f.; Otto, Pfiichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S.52, 107 f.; K. Peters, JR 1950, 743. 99 Vgl. oben S.30. 100 Vgl. zu diesem Unterschied Henkel, Der Notstand nach gegenwärtigem und künftigem Recht, S. 91; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 27 f.; Mangakis, ZStW 84 (1972) S. 469 ff.; Oetker, Festgabe für Frank, Bd. I, 1930, S.373.

4 Küper

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IV. Relativierung des Totungsverbots im Lebensnotstand?

die rechtliche Beurteilung zentrale Frage aber bleibt über solche Unterschiede hinweg dieselbe: Hat die Aufrechterhaltung des Tötungsverbots noch Sinn, wenn nur seine Mißachtung die Möglichkeit bietet, in einer Gefahrenlage Menschenleben zu retten? Verneint man diese Frage, so muß man sie konsequenterweise in

allen Fällen verneinen, in denen sie sich stellt101 • Dttos Lösung, nach

der z. B. im "Fährmannfall" und in den "Euthanasiefällen" ebensowenig eine rechtswidrige Tötungshandlung vorliegen soll wie im Beispiel des Bergsteigers, der seinen Gefährten in den Abgrund stürzen läßt, ist - so betrachtet - durchaus folgerichtig. Nur leidet die Begründung darunter, daß vom Sachproblem her Zusammengehöriges auseinandergerissen wird und Dttos Untersuchung zur Klärung der eigentlichen Grundfrage wenig beiträgt. Im "Bergsteigerfall" (und analogen Konstellationen) hat sich der Autor, wie gezeigt wurde 102 , den Zugang zum Kern des Problems durch seine allzu vordergründige Argumentation schon verstellt. Bei der Erörterung der übrigen Sachverhalte, insbesondere der "Euthanasiefälle" , gelangt er im Grunde über die Wiederholung der Behauptung nicht hinaus, daß der Täter einen - möglichst großen - Teil der Gefährdeten retten darf, wenn andernfalls alle Beteiligten zugrundegehen müßten. Der Rückgriff auf existenzphilosophische Erwägungen103 kann nicht darüber hinwegtäu101 Für eine einheitliche Lösung in dieser Richtung etwa Klefisch, MDR 1950, 261; Oetker, a.a.O.; Zimmermann, MDR 1954, 147 ff. - Mangakis, ZStW 84 (1972) S. 473 ff., betont zwar, daß das Tötungsverbot (Unterlassungspflicht) nicht hinter der Handlungspflicht zurücktreten könne; er will jedoch die vom einzelnen "in concreto gewissenhaft getroffene Entscheidung" als richtig anerkennen. Das läuft praktisch auf die Preisgabe des Tötungsverbots hinaus. - Wenig einleuchtend ist es, wenn z. B. Eb. Schmidt, SJZ 1949, 565, danach differenzieren will, ob die Getöteten bereits vom Schicksal derart "gezeichnet" sind, daß es für sie schlechterdings keine Rettung mehr gibt, oder ob der Täter die Opfer aus dem Kreis der Gefährdeten noch auswählen und insofern selbst "Schicksal spielen" muß; nur im letzteren Fall soll nach Eb. Schmidt der Tötende widerrechtlich handeln, weil er "dem Schicksal vorgreift". Solche Erwägungen knüpfen die Legitimation zur Tötung pragmatisch an ein eher zufälliges Kriterium und sind im übrigen stark gefühlsbestimmt. Es wird übersehen, daß es im Grunde nur eine Alternative gibt. Ist das Tötungsverbot sinnlos geworden, so deswegen, weil seine Beachtung den Untergang aller Gefährdeten zur Folge hätte; als bloßes Verbot, "Schicksal zu spielen", gewinnt es seinen Sinn nicht zurück. Hat das Tötungsverbot aber gleichwohl Sinn, dann deshalb, weil der Täter in der gegebenen Situation überhaupt nicht töten darf, unabhängig davon, ob er nun "Schicksal spielt" oder den schon vorgezeichneten Untergang des Opfers nur vollstreckt. Im übrigen: Ist in unseren Problemfällen nicht im Grunde jede Tötung eine Einmischung in den schicksalhaften Verlauf, zumindest als Anmaßung, das Schicksal zu kennen und vollziehen zu können? Vgl. dazu auch Mangakis, ZStW 84 (1972) S. 474 f. ("übernahme der Rolle des vernichtenden Schicksals" auch bei einer "Beschleunigung der vom Schicksal selbst bereits festgelegten Entwicklung"). 102 Vgl. oben S. 44 ff. 103 Vgl. Otto, Ptlichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S.108/109.

4. Grundsätzliche Überlegungen

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sehen, daß Otto einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit der rechtlichen Problematik dieses Satzes ausgewichen ist. b) Der Bezug zum Interessenabwägungsprinzip

Unterstellen wir vorläufig einmal, mit dem Autor und einigen anderen Stimmen aus der Literatur104, daß die Tötung von Menschen in jenen Fällen nicht rechtswidrig ist, weil ein entsprechendes Verbot seinen Sinn verloren hat, so wäre freilich die genauere dogmatische Einordnung dieses Ergebnisses noch zu leisten. Aus der Fülle der systematischen "Sekundärprobleme" , die hierbei entstehen - erinnert sei nur an die intrikate Notwehrproblematik105 - , soll an dieser Stelle lediglich die von Otto im Nachwort 1°O kurz berührte Frage herausgegriffen werden, ob das Resultat mit den Prinzipien der Interessenund Pflichtenabwägung in Einklang gebracht werden könnte. Die Unzulässigkeit einer wertmäßigen Differenzierung zwischen den verletzten und den erhaltenen Interessen, wie sie im "Bergsteigerfall" beispielhaft sichtbar wurde 107, scheint diese Möglichkeit zunächst auszuschließen. Denn "Leben" ist für das Recht nun einmal gleichwertig mit "Leben", und an dieser konstanten Wertrelation ändert sich auch dann nichts, wenn nur durch die Tötung eines oder mehrerer Menschen verhindert werden kann, daß alle Glieder einer Gefahrengemeinschaft zugrundegehen. Müßte man also, wenn das Tötungsverbot zugunsten der Möglichkeit, überhaupt Leben zu erhalten, zurücktreten soll, auf eine systematische Ableitung und Verankerung dieser Einsicht verzichten, eine Ausnahme postulieren, die sich in die herkömmliche Systematik des Unrechtsausschlusses nicht einfügt? 10' Vgl. z. B. Brauneck, GA 1959, 261 ff., 271; Kern, ZStW 64 (1952) S. 255 ff., 290; Klefisch, MDR 1950,260 f.; Eh. Schmidt, SJZ 1949, 565; Zimmermann, MDR 1954, 147 ff. Vgl. auch Mangakis, oben S.50 Fußn.l0l; Schild, JA 1978, 633 f. 105 In Fällen von der Struktur des "Bergsteigerfalles" mag es zwar einleuchten, dem Opfer die Notwehrbefugnis, die es praktisch meist ohnehin nicht ausüben kann, auch rechtlich abzusprechen, weil die "Verteidigung" an seinem eigenen Schicksal nichts ändern würde (vgl. auch Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 31). Bei Situationen, in denen der Täter die Opfer unter den Gefährdeten auswählen muß ("Fährmannfall", "Euthanasiefälle") oder aus sonstigen Gründen "Chancengleichheit" zwischen Täter und Opfer besteht ("Ballonfall"), wird dagegen der Ausschluß des Notwehrrechts problematisch. Soll sich z. B. in den Euthanasiefällen nicht jeder Betroffene dagegen wehren dürfen, daß gerade er - der ja ebensogut zum Kreis der Geretteten gehören könnte - zugunsten anderer geopfert wird? Andererseits würde jedoch die Zubilligung der Notwehrbefugnis bedeuten, daß den potentiellen Opfern der Rettungsaktion von Rechts wegen die Macht eingeräumt wird, den Untergang aller zu erzwingen. Gegen ein Notwehrrecht Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, S. 74 f.; dafür Spendel, Festschrift für Engisch, 1969, S.517. 106 Vgl. Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S.122. 107 Vgl. oben S. 44 ff.

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IV. Relativierung des Tötungsverbots im Lebensnotstand?

Indessen ist die Interessenabwägungsmaxime bei genauerem Zusehen elastisch genug, um auch solche Ausnahmefälle in sich aufnehmen zu können. Sie verlangt ja nicht unbedingt, daß die vom Täter geschützten und die beeinträchtigten Interessen nach rechtlich-sozialethischen Maßstäben ein Wertgefälle aufweisen (wenngleich dies gewiß der Normalfall einer Rechtfertigung nach dem Interessenabwägungsprinzip ist); gefordert wird nur, daß sich ein wesentlich "überwiegendes", nach der konkreten Situation eindeutig vorzugswürdiges Interesse begründen läßt. Ist jedoch die Tötung von Menschen nicht widerrechtlich, sofern sie das einzige Mittel darstellt, den sonst sicheren Untergang der gesamten Gefahrengemeinschaft zu verhindern, so steht damit zugleich fest, daß die vom Täter wahrgenommenen Interessen den Vorzug verdienen108 : nicht weil sie "mehr wert" sind als die beeinträchtigten, sondern weil ihre Durchsetzung das überleben wenigstens eines Teils der Gefährdeten sichert, noch größeres Unheil verhütet und damit die rechtlich "angemessene" Maßnahme ist. Für die Kollision von Handlungs- und Unterlassungspflicht, wie sie z. B. in den Euthanasiefällen vorliegt, würde dies bedeuten, daß der Handlungspflicht der Vorrang zukommt, da ihre Befolgung der Verwirklichung vorzugswürdiger Interessen dient. Ein Konflikt gleichwertiger, ranggleicher Pflichten bestände dann in Wahrheit gar nicht. c) Zum Stand der Diskussion

Doch zurück zu der entscheidenden Frage: Hat es in den genannten Fällen noch Sinn, das Tötungsverbot aufrechtzuerhalten? Nach den bisherigen Erwägungen liegt eine negative Antwort immerhin nahe. Trotzdem wird die Rechtswidrigkeit der Tötung in der Literatur ganz überwiegend bejaht109. Zur Begründung hat man vor allem darauf verwiesen, daß es mit der singulären Stellung des menschlichen Lebens innerhalb der Rangordnung rechtlicher Werte nicht vereinbar sei, diesen "absoluten Höchstwert" gleichsam als Rechnungsposten in ein zweckrationales Kalkül einzubeziehen. Welzel und GaHas haben diesen Einwand, der in vielen Äußerungen zum Thema anklingt110 - Dtto setzt 108 Auch wenn der Täter die Personen, die Träger des vorzugswürdigen oder unterlegenen Interesses sind, durch einen "Auswahlakt" erst konkretisieren muß! 109 Das ältere Schrifttum war großzügiger. Vgl. z. B. von Bar, Gesetz und Schuld im Strafrecht, Bd.IH, 1909, S. 263 f.; Henkel, Der Notstand nach gegenwärtigem und künftigem Recht, 1932, S. 92; Oetker, Festgabe für Frank, Bd.l, 1930, S. 373 f.; ders., VDA Bd.2, 1908, S. 354 f.; Maurach, Kritik der Notstandslehre, S. 95; von Weber, Das Notstandsproblem, S. 30 f., 41. 110 Vgl. auch BGH, NJW 1953, 513; Hartung, NJW 1950, 152; Lang-Hinrichsen, Festschrift für Bärmann, 1975, S. 587 f.; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 29 ff.; Oehler, JR 1950, 489; K. Peters, JR 1949, 496 f. und JR 1950, 742 f.; Eb. Schmidt, SJZ 1949, 565; von Weber, Festschrift für Kießelbach, 1947, S. 184.

4. Grundsätzliche überlegungen

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sich damit allerdings nicht auseinander - wohl am eindringlichsten formuliert. "Gewiß mag es für Sachgüter", schreibt Welzel 111 , ",rationell' sein, die Gewinn- und VerlustsaIden im Falle der vorgenommenen und der unterlassenen Rettungshandlung miteinander zu vergleichen und die Wahl des kleineren übels bei überwiegen der ersteren zuzulassen. Aber wo Menschenleben mit Menschenleben in gemeinsame Gefahr geraten, widerstrebt es sittlichem GefühlllZ, sie als bloße Rechnungsposten in eine Gesamtrechnung einzusetzen. Wäre eine solche Rechnung nicht die höchst sublimierte Form eines kollektivistischen Rechtsdenkens, das bis in seine ersten Anfänge zu überwinden unsere Aufgabe sein muß?" Ganz ähnliche Gedanken finden wir bei Gallas: "Für eine lediglich durch rationale Zweckerwägungen bestimmte, hier also notwendig quantitativ verfahrende Güterabwägung" könne nicht zweifelhaft sein, daß die Ärzte in den Euthanasiefällen das "höhere Interesse" wahrgenommen hätten, wenn sie an der Vernichtungsaktion mitwirkten, um wenigstens einen erheblichen Teil der Betroffenen zu retten. "Ein Rechtsdenken jedoch, für das die Rechtswerte nicht bloße Nützlichkeitswerte sind, das sich vielmehr der Fundierung des Rechts in den durch Christentum und Humanitätsgedanke geprägten sittlichen Grundüberzeugungen unseres Kulturkreises bewußt ist, kann sich mit einer solchen Betrachtungsweise nicht begnügen. Es muß vielmehr in jedem Menschenleben einen unvergleichlichen Personwert sehen, der nicht als bloßes Quantum einer Gewinn- und Verlustrechnung behandelt werden darf 113." Damit ist der Punkt bezeichnet, über den die Diskussion bisher nicht hinausgelangt ist: Auf der einen Seite die "rationale" Überlegung, daß es doch schwerlich sinnvoll sein kann, am Tötungsverbot selbst dann festzuhalten, wenn allein seine Mißachtung die Chance bietet, wenigstens einen Teil der sonst in ihrer Gesamtheit dem Untergang preisgegebenen Menschen zu retten - mag es sich bei den durch die Rettungshandlung Begünstigten nun um viele oder wenige oder gar nur um einen (möglicherweise mit dem Täter identischen) einzelnen handeln -. Auf der anderen Seite die These, daß sich hinter solcher Berufung auf das offenbar "Vernünftige" ein vordergründiges Nützlichkeitskalkül verberge, dessen Zweckrationalität der einzigartig-unvergleichbaren Qualität der betroffenen Personwerte nicht gerecht werde. Diese Alternative scheint den gegensätzlichen Standpunkten den Charakter von Bekenntnissen aufzuzwingen, die man jeweils akzeptieren Vgl. Wetzet, MDR 1949, 375. Dazu Kant, Reflexionen zur Moralphilosophie, Akademie-Ausgabe Bd. XIX, 1934, S. 131 (Nr. 6677): "Man muß das sittliche Gefühl nicht zur Beurteilung bringen, sondern nach derselben ... ; wenn das Gefühl ... vor der Maxime vorläuft, so entspringt ein falsch Urtheil." - Interessant auch Zimmermann, MDR 1954, 148. 113 Vgl. Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, S.71. 111

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IV. Relativierung des Tötungsverbots im Lebensnotstand?

oder ablehnen, nicht aber mit Argumenten diskutieren kann. Der Versuch, die Auseinandersetzung weiterzuführen, ist gleichwohl notwendig und - wie sich zeigen wird - keineswegs aussichtslos. d) Kritik der bisherigen Argumente für die absolute Geltung des Tötungsverbots

Zunächst sind Zweifel angebracht, ob die von Welzel und Gallas genannten Gründe - so, wie sie vorgetragen werden - dazu geeignet sind, die geforderte Aufrechterhaltung des Tötungsverbots verständlich zu machen. Mit der pointierten Abweisung eines quantitativen "Nützlichkeitsdenkens", in dessen Kategorien der Höchstwert des menschlichen Lebens zum bloßen Faktor eines quasi-ökonomischen Kalküls werde, wird die mögliche Gegenposition zu sehr vereinfacht und deshalb in Wahrheit nicht getroffen. Insbesondere der Hinweis darauf, daß der "Personwert" des Lebens nicht analog einem bei Sachgütern vertretbaren Verfahren zum "Quantum einer Gewinn- und Verlustrechnung" reduziert werden dürfe, ist - bei aller Richtigkeit des Gedankens - in unserem Zusammenhang wenig förderlich 114 • Wer die Tötung ausnahmsweise für zulässig hält, wenn und weil sie angesichts des sonst unvermeidlichen Untergangs aller Gefährdeten das einzige Mittel darstellt, Menschenleben zu erhalten, behauptet damit nicht etwa implizit eine numerische Quantifizierbarkeit des Rechtsgutes "Leben" in der Weise, daß die Rettung der größeren Anzahl eine Tötung weniger (oder eines) Menschen aufwiegen könne. Eine solche "Gewinn- und Verlustsaldierung", die Menschenleben wie materielle Güter gegeneinander aufrechnen würde, steht hier gar nicht zur Diskussion: Das Zahlenverhältnis zwischen Getöteten und Geretteten spielt für die Suspendierung des Tötungsverbots keine Rolle, vermag die Entscheidung nicht zu beeinflussen. Die für die mögliche Rechtfertigung maßgebende Erwägung ist vielmehr allein, daß durch eine Tötungs., handlung Menschen - gleichgültig, wie viele - gerettet werden, die sonst ebenso umgekommen wären wie die Getöteten. Freilich ergibt sich dabei logischerweise immer ein günstiger rechnerischer Saldo, wenn man die Zahl der tatsächlich (durch die Handlung des Täters) getöteten Personen mit der Anzahl derjenigen vergleicht, die zu Tode gekommen wären, sofern sich der Täter passiv verhalten hätte; die Zahl der Opfer ist im letzteren Fall notwendigerweise größer. Aber nicht aus dieser numerischen Differenz zwischen faktischen und potentiellen Opfern, die den Rettungseffekt der Tötungshandlung quantitativ widerspiegelt, soll deren Rechtfertigung abgeleitet werden, sondern aus der Erwägung, daß die Vernunft es gebietet, 114 Vgl. in diesem Zusammenhang bereits Henkel, Der Notstand nach gegenwärtigem und künftigem Recht, S. 92.

4. Grundsätzliche überlegungen

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eine lebensrettende Tötung zuzulassen, wenn ohne das Eingreifen des Täters die Geretteten und die Getöteten gleichermaßen verloren wären. Hier wird keine "Gewinn- und Verlustrechnung" aufgemacht, in der die auf dem Spiel stehenden Güter als bloß quantitative Größen fungieren, die nach dem Saldierungsprinzip miteinander verrechnet werden; es geht vielmehr um das einer anderen Dimension zugehörige Problem, ob die Lebensschutzfunktion des Tötungsverbots nicht pervertiert, ins Absurde verkehrt wird, wenn seine Beachtung dazu führen muß, daß jede Rettung unterbleibt und der Tod auf der ganzen Linie siegt. Die "Unvergleichlichkeit" der vom Täter verletzten und geschützten Rechtswerte, ihre "Unabwägbarkeit" nach quantitativen Gesichtspunkten, wird dabei vorausgesetzt115. Das vom Zweifel am Sinn eines solchen Verbots inspirierte Votum für den Vorrang der Lebenserhaltung formuliert lediglich das Bedürfnis nach rationaler Legitimation des Rechtswidrigkeitsurteils, und es verneint sie auf Grund der Maxime, daß "etwas" (die Rettung eines oder einiger Menschen) immerhin besser ist als "nichts" (der Untergang aller)116. Freilich ist ein solches Prinzip, wenn auch nicht numerisch-quantifizierend, so doch "zweckrational", an der "Nützlichkeit" orientiert. Was indessen ist an diesem Gedanken so anstößig, daß man glaubt, ihn des inhumanen "Kollektivismus" (Welzel) verdächtigen und ihm die "sittlichen Grundüberzeugungen unseres Kulturkreises" (GaHas) entgegensetzen zu müssen - überzeugungen, die doch, wie die gesamte Diskussion über unsere Problemfälle zeigt, in der entscheidenden Frage offenbar wenig gesichert sind117 ? Man wird vielleicht einwenden, es sei 115 Es ist deshalb sehr irreführend, wenn in der Diskussion um die Euthanasiefälle immer wieder der Gesichtspunkt des numerischen Verhältnisses von Getöteten und Geretteten ins Spiel gebracht wird, der mit unserem Problem gar nichts zu tun hat. Vgl. schon OGHSt 1, 334 ("günstiges Zahlenverhältnis"); OGHSt 2, 121 ("die vermutlich größere Gruppe innerhalb der Gefahrengemeinschaft"); ferner z. B. Ktefisch, MDR 1950, 260 ("Wer das Leben von Tausenden rettet ... , wenn er einen oder einige dem unbestimmbaren Schicksal überläßt, wahrt das höhere Interesse."); K. Peters, JR 1949, 496 ("Abwägung der Zahl der geopferten und geretteten Leben"); Spendet, Festschrift für Engisch, 1969, S. 515 f.; von Weber, Festschrift für Kießelbach, 1947, S.247, 250; zuletzt wieder Lang-Hinrichsen, Festschrift für Bärmann, 1975, S. 587 ("Güterabwägung von Menschenleben auf quantitativer Grundlage"), S. 591 ("Rettung einer größeren Anzahl zu Lasten einer kleineren Anzahl"). - Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S.29, hebt dagegen mit Recht hervor, daß das Zahlenverhältnis von geretteten und geopferten Menschen für eine rational-"vernünftige" Argumentation, die nach dem Sinn des Tötungsverbots fragt, im Grunde ein irrelevanter Gesichtspunkt ist. 116 Vgl. auch von Weber, Das Notstandsproblem, S. 31: "Die Richtigkeit der an die Gefahrengemeinschaft angeknüpften rationalen Erwägungen ist offenbar unabhängig von der Größe des Wertes, die man dem menschlichen Leben beilegt; mag man ihn hoch oder niedrig ansetzen, stets wird man die Rettung eines Lebens dem Untergang aller vorziehen müssen." 117 Vgl. auch Mangakis, ZStW 84 (1972) S.475; Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, S.70; Zimmermann, MDR 1954, 148.

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IV. Relativierung des Tötungsverbots im Lebensnotstand?

eben mit dem Rang des Rechtswertes "Leben" schlechterdings unvereinbar, Menschen - einen oder mehrere - zur Rettung anderer (oder eines anderen) zu opfern, wie auch immer die Situation beschaffen sei, weil dabei der Mensch "bloß als Mittel gebraucht" und nicht mehr "als Zweck an sich selbst betrachtet" werdel18 • Dieser der kantischen Philosophie entstammende Einwand l19 , der wohl den Kern der Bedenken von GaUas und Welzel ausmacht, besagt, ins Juristisch-Dogmatische gewendet, daß angesichts der "Selbstzweckhaftigkeit" der Person die Vernichtung menschlichen Lebens ausnahmslos kein "angemessenes Mittel" zur Erreichung eines an sich legitimen Zwecks sein könne. So steht es denn auch in anderem Zusammenhang nahezu wörtlich bei Welzel. "In der berühmten Zweckformel: ,Richtiges Mittel zum richtigen Zweck' ist die Verwendung eines Menschen bloß als eines Mittels für andere Zwecke niemals ein ,richtiges' Mittel, d. h. irreparable (!) Eingriffe in Leib und Leben unschuldiger (!) Menschen können niemals dadurch gerechtfertigt werden, daß diese Menschen als Mittel für die Erreichung umfassenderer Zwecke verwendet werden l20 ." Die Maxime der kantischen Ethik, daß der Mensch "Zweck an sich selbst" sei, deren juristische Relevanz Welzel in der zitierten Formulierung bezeichnenderweise deutlich einschränkt, hält indessen unsere Rechtsordnung auch sonst keineswegs durch - es gibt zahlreiche Fälle gerechtfertigter Eingriffe in personale Güter - ; das geschieht nicht einmal dort, wo es um die Vernichtung oder Gefährdung menschlichen Lebens geht. So ist z. B. die Tötung des Angreifers in einer Notwehrsituation (§ 32 StGB) grundsätzlich, d. h. der Möglichkeit nach, erlaubt: Das Recht erkennt damit an, daß zur Verwirklichung berechtigter individueller und kollektiver Belange - Schutz des Angegriffenen, Bewährung der Rechtsordnung - die Lebensvernichtung ein "richtiges Mittel" sein kann. Und § 34 StGB zeigt darüber hinaus, daß es immer118 Vgl. Wetzet, ZStW 63 (1951) S.52. Siehe auch Lang-Hinrichsen, Festschrift für Bärmann, 1975, S.586; von Weber, Festschrift für Kießelbach, 1947, S.250. 119 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Ausgabe WeischedeI, Bd. IV, S. 59 f.: "Nun sage ich: der Mensch existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden."; S. 61: "Der Mensch aber ist keine Sache, mithin nicht etwas, das bloß als Mittel gebraucht werden kann, sondern muß bei allen seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden." Vgl. auch Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, S.543 (Ausgabe Weischedel); Reflexionen zur Rechtsphilosophie, S.493 Nr.7698 (AkademieAusgabe Bd. XIX). - Es ist übrigens interessant, daß Kant diesen Fundamentalsatz bei seiner Auseinandersetzung mit dem "Notrecht" (Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, S. 343) ganz aus dem Spiel läßt! 120 Vgl. Wetzet, ZStW 63 (1951) S. 52. Vgl. auch Wetzet, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 91.

4. Grundsätzliche überlegungen

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hin nicht prinzipiell unzulässig ist, auch das auf der Eingriffsseite der Notstandstat betroffene Rechtsgut des Lebens in eine am jeweiligen Gefahrengrad orientierte Interessenabwägung1Z1 einzubeziehen - wenn auch der Rechtfertigung lebensgefährdender Notstandshandlungen enge Grenzen gesetzt sind _122. Wer aber die Lebensgefährdung als Folge einer Notstandstat billigt, d. h. daran die Rechtfertigung nicht scheitern läßt, ist damit - da die Verwirklichung einer Gefahr nie ausgeschlossen werden kann - zugleich bereit, auch die Vernichtung menschlichen Lebens um anderer berechtigter Zwecke willen in Kauf zu nehmen. Gleiches gilt etwa für die Billigung lebensgefährdenden Verhaltens unter dem Gesichtspunkt des sog. "erlaubten Risikos". Kann man von hier aus dann nicht den "nächsten Schritt" tun, der in der Anerkennung des Satzes besteht, daß zur Verwirklichung des legitimen Zwecks, Leben zu erhalten, auch die Tötung von Menschen jedenfalls dann ein adäquates Mittel ist, wenn sonst alle Gefährdeten sterben müssen? e) Gründe für die Aufrechterhaltung des Tötungsverbots

Trotzdem meine ich - so überraschend das nach der vorangegangenen Kritik klingt -, daß man diese Frage im Ergebnis negativ beantworten muß, freilich aus Gründen, die in der bisherigen Diskussion nicht hinreichend deutlich geworden sind. Sie haben wenig zu tun mit Gallas' und Welzels Einwand, das menschliche Leben dürfe nicht als "bloßer Rechnungsposten" eines quantitativen Gewinn- und Verlustkalküls fungieren, und sie resultieren auch nicht aus der - unserer Rechtsordnung im Grunde fremden - sittlichen Maxime, daß der Mensch "jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden" müsse. Man tut gut daran, sich dem Problem noch einmal in ruhiger überlegung und gleichsam mit größter Unbefangenheit zuzuwenden, damit seine Konturen schärfer hervortreten.

aa) Analyse des Konflikts Daß eine Tötungshandlung auch in einer Situation verboten sein soll, in der keine andere Möglichkeit besteht, Menschenleben zu erhalten, ist auf den ersten Blick deshalb so wenig plausibel, weil sich die Rettung eines oder mehrerer Menschen im Vergleich mit dem sonst unvermeidlichen Untergang aller Glieder der Gefahrengemeinschaft zunächst als die "bessere Lösung" ausnimmt; die aktive Tötung ohnehin unrettbar verlorener Personen scheint daher gegenüber der Unter121 die ja nichts anderes als eine Variante der Mittel-Zweck-Relation ist -. 122 Vgl. näher Hirsch, LK, vor § 51 Rdnr. 70 f.; Lenckner in Schönke / Schröder, § 34 Rdnr.28. Zur Rechtfertigung von Tötungshandlungen im defensiven Lebensnotstand vgl. im übrigen unten S. 72 ff.

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IV. Relativierung des Tötungsverbots im Lebensnotstand?

lassung einer solchen Handlung, die zugleich den Tod aller Beteiligten bedeuten würde, das "kleinere übel" zu sein, für welches sich die Rechtsordnung, wenn der Konflikt überhaupt gelöst werden soll, entscheiden mußl23'. Ihre anfängliche überzeugungskraft, die sich gegen alle moralischen Skrupel hartnäckig durchsetzt, bezieht diese Erwägung aus der starken Appellwirkung, die von der "existentiellen" Alternative "Rettung oder Untergang" - "Sein oder Nichtsein" - auf das abwägende Denken in der Richtung ausgeht, der "Rettung", dem "Sein", gegenüber dem "Nichtsein", dem "Untergang", den Vorzug zu geben124 • In Wahrheit verkürzt jedoch die Orientierung an dieser scheinbar zwingenden Alternative die entscheidenden Bewertungsprobleme, wie sie sich aus der genaueren Analyse des Konflikts ergeben, und sie verzerrt deshalb die Maßstäbe, nach denen er zu beurteilen ist. Dies wird deutlicher, wenn wir uns vergegenwärtigen, was "Rettung" und "Untergang" in der gegebenen Wirklichkeitssituation, im Blick auf das jeweils begünstigte oder beeinträchtigte Rechtsgut des menschlichen Lebens, ihrem konkreten Inhalt nach bedeuten (wobei der "Untergang" vorläufig als ein im Falle des Unterlassens "mit Gewißheit" eintretendes Ereignis unterstellt wird; auf die Problematik dieser Prämisse wird noch zurückzukommen sein): Alle an der "Gefahrengemeinschaft" beteiligten Personen haben in der Notstandslage, um deren Beurteilung es geht, zweifellos noch die Aussicht, eine gewisse Zeitspanne zu leben, wenn auch nicht mehr die Chance, die Gefahrensituation zu überleben. Der Zeitraum, der diese "Lebenserwartung" ausmacht, ist unter der Voraussetzung, daß niemand handelnd ("rettend") in die Krise eingreift, freilich für alle mehr oder weniger kurz bemessen, unter Umständen sogar sehr gering (Stunden, Minuten). Sein Endpunkt wird bestimmt durch die - je nach den Fallgegebenheiten chronologisch verschieden anzusetzende schicksalhafte Verwirklichung der Gefahr im "Untergang", dem Tod der jeweils Betroffenen (oder auch, wovon hier aber abgesehen werden kann, durch die vorzeitige Vollendung des individuellen Lebensschicksals unabhängig von der Realisierung der aktuellen Gefahrenlage: früherer Krankheits- oder altersbedingter Tod usw.). Doch ist diese Spanne menschlicher Existenz in der Zeit, wie kurz ihre Dauer auch sein mag, unbestreitbar "Leben", das als solches unter dem Schutz der 123 Vgl. z. B. Henkel, Der Notstand nach gegenwärtigem und künftigem Recht, S. 92; Maurach, Kritik der Notstandslehre, S.95; Oetker, Festgabe für Frank, Bd. 1, 1930, S. 373 f. Siehe auch Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 29 f. und BGH, NJW 1953, 513. 124 Vgl. auch Rödigs Bemerkung zum Verhalten der Euthanasieärzte: "Nicht allein seiner Tendenz, sondern auch seinem Erfolge nach war dieses Verhalten Rettung, und es ist doch sonderbar, zu hören, eine Rettung solle widerrechtlich sein." (Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, S.70.)

4.

Grundsätzliche überlegungen

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Rechtsordnung steht und daran ungeschmälert partizipiert. Gemessen an diesem beinahe trivialen Befund, den jedoch die Redeweise vom ohnehin "sicheren Untergang" mit ihren negativen Assoziationen ("Nichtsein") allzu leicht verschleiert, hat der rettende Eingriff in den Geschehensablauf einen doppelten Effekt: er verkürzt für das jeweilige Opfer die durch die Gefahrensituation vorgegebene Lebensdauer und verlängert sie, Gelingen vorausgesetzt, für den jeweils Begünstigten über den Zeitpunkt hinaus, in dem sich sonst die Gefahr realisieren würde. Und wie der ohne diesen Eingriff sichere "Untergang aller Beteiligten" gleichwohl deren "Leben" (bis zum nahen Tod) als positiven Aspekt einschließt, so ist umgekehrt im Begriff der "Rettung", da sie das Lebensende nur hinauszuschieben vermag, der negative Aspekt des Todes als Horizont des Daseins stets mitzudenken; auch der Gerettete bleibt sterblich. Die Suspensivwirkung der Rettungshandlung kann sich im Einzelfall sogar in einem mehr oder weniger geringfügigen Gewinn an zusätzlicher Existenzspanne erschöpfen, je nach dem weiteren Schicksal des Begünstigten: der Gerettete stirbt etwa kurz darauf an einem Herzschlag.

bb) Der Maßstab der Abwägung Diese überlegungen, die nur Selbstverständliches wieder ins Bewußtsein rufen sollten, schärfen den Blick dafür, daß sich die anfangs so komplex wirkende Problematik der notstandsbedingten Tötung bei sogenannten "Gefahrengemeinschaften" im Grunde auf eine einfachere Frage reduzieren läßt, nämlich auf das Problem, welcher Stellenwert der je unterschiedlichen künftigen Zeitlichkeit des Lebens, der größeren oder geringeren "Lebenserwartung", im Kontext der Konfliktlösung zukommt. Hier sind wir dann wieder auf bekanntem Terrain, begegnet uns eine vertraute Frage in veränderter Gestalt125 • Wer nämlich dafür plädiert, aus Gründen der "Vernunft" das Tötungsverbot außer Kraft zu setzen, wenn seine Beachtung den baldigen Tod aller Gefährdeten zur Folge hätte, müßte den Abwägungsgesichtspunkt aufweisen, der es rechtfertigt, die ohnehin geringe Lebensspanne eines (oder mehrerer) Menschen noch weiter abzukürzen, um die Lebenserwartung eines anderen (oder mehrerer anderer) zu erhöhen. Dieser Nachweis könnte aber nur gelingen, wenn das zeitquantitative Moment der "größeren Lebenserwartung" bei der Interessenabwägung einen Wertvorzug derart begründen würde, daß "längeres Leben" im Vergleich mit dem "kürzeren" oder zumindest "sehr kurzen" für die Rechtsordnung den wichtigeren Wert repräsentiert, dem sie im Konfliktsfall die Priorität einräumtl26 • 125 Vgl. schon oben S. 47 f. 126 Zu einem ähnlichen Problem bei der Organtransplantation vgl. auch Bockelmann, Strafrecht des Arztes, S. 112 ff.

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IV. Relativierung des Tötungsverbots im Lebensnotstand?

Die Antwort auf die so präzisierte Grundfrage unserer Problemfälle ergibt sich aus dieser Sicht dann freilich fast von selbst: Das Recht schützt das Leben jedes Menschen als gegenwärtige Daseinsform, als biologische Existenz "hier und jetzt", um seiner selbst willen in gleichem Maße, ohne Rücksicht auf seine je unterschiedliche Zukunft. Die voraussichtliche Dauer dieser Existenz in der Zeit, die "Lebenserwartung" des einzelnen, ist deshalb kein tauglicher Maßstab für eine graduelle Differenzierung der Schutz- und Vorzugswürdigkeit, wie sie die Interessenabwägung voraussetzt. Das Leben des Hochbetagten, der schon "am Rande des Grabes steht", oder des unheilbar Erkrankten, dessen "Tage gezählt" sind, ist der Rechtsordnung nicht weniger wichtig als das Leben eines jungen und gesunden Menschen, der - wie man zu sagen pflegt - "seine ganze Zukunft noch vor sich hat". Scheidet jedoch die Zukunftsperspektive als Abwägungsmaßstab aus, so muß dies auch dann gelten, wenn nicht Alter oder Krankheit, Gesundheit oder Jugend, sondern Gefahrkonstellationen der äußeren Daseinssituation unterschiedliche Lebenserwartungen begründen 127• Auch in solchen Fällen können wir die Schutzwürdigkeit des Rechtsgutes "Leben" nicht nach der je verschiedenen Zukunftsspanne gewichten, die ihm - aller Voraussicht nach - zugemessen ist; jedes Leben ist vielmehr ungeachtet seiner künftigen Dauer mit jedem anderen Leben rechtlich gleich128 • Das Verbot, die noch so kurze Spanne menschlichen Lebens zur Erhöhung der Lebenserwartung anderer, sonst ebenfalls "verlorener" Menschen weiter zu verringern, bezieht aus dieser Gleich127 Dagegen werden Differenzierungen nach Grad und Nähe der Gefahr oder etwa unter dem Gesichtspunkt besonderer Gefahrtragungspflichten durch diese Erwägung nicht ausgeschlossen. Denn hierbei geht es gerade nicht um Abstufungen der Vorzugswürdigkeit unter dem bloßen Zeitaspekt der "Lebenserwartung", sondern um Maßstäbe anderer Dignität, die das zentrale Wertprinzip unberührt lassen, daß menschliches Leben als "gegenwärtiges Dasein" vom Recht geschützt wird. Vgl. auch die Überlegungen zum Defensivnotstand unten S. 72 ff. 128 Dies hat auch Bedeutung für die Pflichtbewertung, die bei der Kollision von Handlungspflichten vorzunehmen ist. Man denke etwa an den Fall, daß ein Arzt vor der Alternative steht, welchem von zwei Patienten, die beide in akuter Lebensgefahr schweben, er seine Hilfe zuwenden soll. Hier begründet die höhere Lebenserwartung des einen kein vorzugswürdiges Interesse und damit für den Arzt keine höherwertige Handlungspflicht. Wohl mit Recht hat Lenckner, Medizinische Klinik 1969, S. 1000 ff., daraus gefolgert, daß nicht nur das unterschiedliche Alter der Patienten kein zulässiger Abwägungsfaktor ist, sondern sich sogar eine Differenzierung nach der größeren oder geringeren VberZebenschance (Erfolgsaussicht der Hilfe) verbietet. Denn auch in diesem Fall würden Maßstäbe angelegt, die sich an der künftigen Dauer des Lebens orientieren. Die Gleichwertigkeit der Handlungspflichten bedeutet - nach den früher herausgearbeiteten Grundsätzen (oben S. 19 ff.) - allerdings, daß die Entscheidung dann dem Arzt überlassen bleibt: sein Verhalten ist, wie immer diese Entscheidung ausfällt, stets rechtmäßig, sofern er nur überhaupt dem einen Patienten hilft. Vgl. Lenckner, Medizinische Klinik, 1969, S. 1000 ff.; vgl. aber auch Krey, JuS 1971, 248 f. und dazu Küper, JuS 1971, 474 ff.

4. Grundsätzliche überlegungen

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heiti 29 seinen Sinn, und an ihr scheitert die Möglichkeit, für den durch die Rettungshandlung jeweils Begünstigten ein "vorzugswürdiges Lebensinteresse" zu begründen. Dabei kann es dann keinen Unterschied ausmachen, ob sich die Tat gegen ein Opfer richtet, für welches schlechterdings keine überlebenschance mehr bestand ("Bergsteigerfall", "Mignonettefall"), oder ob der Täter durch eine Auswahl aus dem Kreis der gefährdeten Personen darüber entscheidet, wer durch das erzwungene Lebensopfer anderer gerettet wird ("Ballonfall", "Fährmannfall", "Euthanasiefälle")130. In jedem Fall schützt die Rettungshandlung, mag sie der Abwendung eigener oder fremder Lebensgefahr dienen, kein überwiegendes Interesse. Für den Konflikt von Handlungs- und Unterlassungspflicht bedeutet dies, daß beide Pflichten gleichwertig sind, weil sie sich auf gleichermaßen schutzwürdige, nicht gegeneinander abwägbare Interessen beziehen. Nach den früher entwickelten Grundsätzen 131 tritt daher die Handlungspflicht gegenüber dem Tötungsverbot (der Unterlassungspflicht) zurück. f) Ergänzende tJberlegungen

Noch ein weiterer Aspekt sollte nicht außer Betracht bleiben, unter dem dieses Ergebnis eine gewisse Bestätigung findet. Denn es ist auch aus anderen Gründen keineswegs so "sinnlos", wie es zunächst scheint, auf der Priorität des Tötungsverbots zu bestehen. Der vordergründige Eindruck, daß dieses Verbot jeden Sinn verliere, wenn nur seine Mißachtung die Chance biete, Menschenleben zu erhalten, entsteht ja nicht allein deshalb, weil dabei stillschweigend eine höchst fragwürdige axiologische Prämisse vorausgesetzt wird: die Abwägbarkeit der Interessen nach dem Kriterium der unterschiedlichen "Lebenserwartung". Dieser Eindruck beruht zugleich darauf, daß eine hypothetische Alternative des tatsächlichen Geschehens - nämlich der mit der Verbots129 Wohin es führt, wenn man die Basis der Gleichheit verläßt und versucht, Reflexionen über den "Wert" auch des kurzfristigen Lebens anzustellen, zeigen - abgesehen von der Problematik des "lebensunwerten Lebens" - beispielhaft die Ausführungen Bocketmanns, Strafrecht des Arztes, S. 114 f.: ,,(Es) ist zu bedenken, daß ein Leben, welches keinen biologischen Wert mehr hat, sehr wohl unter anderen Gesichtspunkten Wert haben kann ... Solange er noch nicht tot ist, kann der Mensch eine Erbschaft machen, ... eine höhere Dienstaltersstufe erreichen ... Dies alles zeigt, daß der Wert des Lebens selbst dann, wenn es zur Neige geht, keine bloß biologische Größe ist." - Zur rechtlichen Einschätzung des "Lebenswertes" und ihren Schwankungen im historischen Kontext neuerdings Eser, Festschrift der Tübinger Juristenfakultät, 1977, S. 377 H. 130 Für ein einheitliches Rechtswidrigkeitsurteil in diesem Sinn ausdrücklich auch GaHas, Beiträge zur Verbrechenslehre, S.72 Fußn.30; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S.31. Vgl. auch oben S.50 Fußn.l0l und Spendet, Festschrift für Engisch, 1969, S. 516 f. 131 Vgl. dazu oben S. 29 ff.

IV. Relativierung des Tötungsverbots im Lebensnotstand?

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beachtung verbundene "Untergang aller", einschließlich der Geretteten - als ein im Unterlassungsfall sicher und mit Notwendigkeit eintretendes Ereignis betrachtet wird. aa) Die Unsicherheit der Prognose Aber wie steht es damit in Wirklichkeit? Die bekannten Schulfälle, wie etwa der "Bergsteiger-" und der "Ballonfall", in denen wir bei der Problemstellung solche "Sicherheit" kurzerhand voraussetzen, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich hier immer nur um " Annahmen", um mehr oder weniger zweifelhafte Vermutungen über einen möglichen Geschehensablauf handelt. Vernichtet der Täter menschliches Leben mit dem Ziel und der Folge, daß wenigstens ein Teil der Gefährdeten gerettet wird, so wissen wir "sicher" eigentlich nur, daß er einerseits getötet und andererseits eine Gefahr abgewendet hat. Ob ohne diese Handlung wirklich alle Beteiligten, die getöteten wie die geretteten Menschen, hätten sterben müssen, das "wissen" wir jedoch nicht, sondern wir können darüber nur Mutmaßungen anstellen l32• Wie schwankend die Basis derartiger Vermutungen sein kann, zeigen die vieldiskutierten "Euthanasiefälle" mit bestürzender Deutlichkeit. Die an der Vernichtungsaktion beteiligten Ärzte hatten möglicherweise gute Gründe zu der Befürchtung, daß bei ihrer Weigerung andere, dem nationalsozialistischen Regime skrupellos ergebene Kollegen an ihre Stelle treten würden, die alle Insassen der Anstalt (d. h. alle diejenigen, auf die sich der Tötungsbefehl inhaltlich bezog oder beziehen ließ) in den Tod geschickt hätten; es mag, wenn auch keine einschlägigen Exempel für einen solchen Vorgang, so doch Anhaltspunkte dafür gegeben haben, daß die Entwicklung in dieser Richtung verlaufen werde l33 • Aber wer vermöchte auf die Frage, ob es wirklich dahin gekommen wäre, wenn die Ärzte ihre Mitwirkung verweigert hätten, eine Antwort zu geben, der nichts Spekulatives mehr anhaftet134 ? Immerhin konfrontiert uns die unheilvolle Geschichte der sogenannten "Euthanasiemaßnahmen" auch mit zumindest einem Beispiel dafür, daß die entschlossene Weigerung des für die Anstalt Verantwortlichen Erfolg hatte und alle seine Patienten unbehelligt blieben1:f5. Bestand Vgl. dazu auch Oehter, JR 1950, 492; K. Peters, JR 1950, 743. Vgl. Ktefisch, MDR 1950, 259 f.; OHGSt 2, 117 (120). 134 Die Ausführungen in OGHSt 2, 120, die sich auf entsprechende Feststellungen des Schwurgerichts stützen, verdecken dieses Problem mit der allzu apodiktischen, nicht näher begründeten Bemerkung: "Die Dienstverweigerung versprach nach der Sachlage nur als eine gemeinsame Aktion aller Anstalts- und Fachärzte Deutschlands Erfolg. Eine solche aber kam ... nicht in Betracht, weil feststeht (!), daß genügend willfährige Ärzte vorhanden waren ... Vereinzelte Dienstverweigerungen aber hätten die Kranken nicht geschützt, sondern ... sogar viele weitere Kranke das Leben gekostet." 135 Darauf hat Spendet, Festschrift für Engisch, 1969, S. 512 f. mit Fußn. 11 ff., zu Recht hingewiesen. 132 133

4. Grundsätzliche t)berlegungen

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deshalb nicht auch im Falle der angeklagten "Euthanasie"-Ärzte dafür doch noch eine gewisse, wenn auch vielleicht nur geringe Chance? Und kann man denn ausschließen, daß selbst willfährige Nachfolger ebenfalls nur einen Teil der zur Tötung vorgesehenen Patienten auf die "Verlegungslisten" gesetzt, weiß man, nach welchen Maßstäben diese Ärzte ausgewählt hätten und ob nicht einige der Getöteten dann sogar verschont worden wären136? Dies alles sind offene, letztlich nicht überzeugend beantwortbare Fragen, und vor ähnlichen Problemen stehen wir häufig auch bei anderen, weniger komplexen Situationen, wenn es darum geht, die mutmaßliche Entwicklung des Geschehens zu bestimmen.

bb) Der praktische Aspekt Zu dieser prinzipiellen Ungewißheit, die aus dem hypothetischen Charakter des als Alternative angenommenen Ereignisablaufs resultiert, tritt nicht selten eine gravierende "praktische" Unsicherheit in der Sachverhaltsbeurteilung. Sie hängt mit der Schwierigkeit zusammen, die stets ungewöhnliche und extreme, oft von Panik bestimmte Ausgangslage, die den Täter zur Tötung veranlaßt hat - und damit auch das Geschehen, wie es sich ohne diese Handlung entwickelt hätte -, in tatsächlicher Beziehung hinreichend aufzuklären. Die "Grenzsituationen" der Gefahrengemeinschaft sind nachgerade prädestiniert dazu, in der Praxis unüberwindbare Beweisprobleme heraufzubeschwören. Besonders bei Konstellationen von der Art des "Bergsteiger-" oder "Ballonfalles", in denen der überlebende Täter zugleich der einzige - naturgemäß wenig verläßliche - "Augenzeuge" des tragischen Vorfalls ist, wird eine einwandfreie Sachverhaltsaufklärung vielfach gar nicht möglich sein. Wer garantiert, daß der Täter unter dem Eindruck der Gefahr nicht einer groben Fehleinschätzung der Situation erlegen ist, als er annahm, sein Opfer sei ohnehin rettungslos verloren? Das Gericht jedoch bleibt auf seine einseitige Sachdarstellung angewiesen und muß, wenn sie nicht gänzlich unglaubhaft erscheint, "in dubio pro reo" davon ausgehen, daß die Tötungshandlung noch größeres Unheil verhütet hat. Die "Sicherheit" über den hypothetischen Geschehensablauf, die der These von der Sinnlosigkeit des Tötungsverbots eine gewisse Plausibilität verleiht, reduziert sich somit - aus prinzipiellen wie praktischen Gründen - auf eine weithin ungesicherte, bestenfalls sehr wahrscheinliche, möglicherweise auch nur spekulative Unterstellung zugunsten des Täters. Auf derart fragwürdiger Grundlage das Tötungsverbot preiszugeben, wäre auch vom Standpunkt der in diesem Zusam138 Bezeichnend OGHSt 1, 321 (330): "Ganz offen bleibt dabei außerdem, welche Kranken denn im einzelnen von anderen Gutachtern etwa gestrichen worden wären."

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IV. Relativierung des Tötungsverbots im Lebensnotstand?

menhang so oft bemühten "praktischen Vernunft" ein allzu voreiliger Verzicht der Rechtsordnung auf die Verteidigung ihres höchsten individuellen Gutes, dessen exzeptioneller Rang ein Maximum an Rechtsgüterschutz fordert. Nicht zuletzt angesichts der erheblichen Unsicherheitsfaktoren, die unser Urteil über den mutmaßlichen Geschehensablauf bestimmen, wird man jedenfalls nicht mehr überzeugend behaupten können, es sei schlechterdings "sinnlos", am Verbot der Vernichtung fremden Menschenlebens auch in Situationen der Gefahrengemeinschaft festzuhalten. - Ob die Verletzung dieses Verbots zur Bestrafung des Täters führt, der in der Tötung die einzige Möglichkeit sieht, den sonst drohenden Untergang aller Beteiligten zu verhindern, ist im übrigen ein anderes, hier nicht näher zu behandelndes Problem. Es gehört in den Bezirk der - gesetzlichen oder übergesetzlichen "Entschuldigung", ein Gebiet, in dem es nicht mehr um die Berechtigung des Verbots, sondern um die Verantwortlichkeit und Strafwürdigkeit des Täters geht. 5. Das "Brett des Karneades" und die "Anmaßung fremder Rettungschancen" - neue Probleme eines alten Falles Kehren wir nach diesen überlegungen noch einmal zu Ottos Versuch zurück, die Grenze zwischen verbotenem und erlaubtem ("nicht pflichtwidrigem") Notstandsverhalten danach zu bestimmen, ob sich der Täter jeweils fremde Rettungschancen "anmaßt". In den früher erörterten Fällen konnte diese Methode vor allem deshalb nicht befriedigen, weil sie unberücksichtigt läßt, daß das Tötungsverbot auch dann seinen Sinn behält, wenn das Opfer - schlechthin oder jedenfalls beim Unterbleiben einer Notstandshandlung - keine überlebensaussichten mehr hat. Nun beschäftigt sich Otto freilich nicht allein mit Konstellationen dieser Art; er verwendet das Kriterium der "Chancenanmaßung" auch bei anderen Situationen, weil er es als allgemeingültigen Lösungstopos betrachtet, der allerdings nach den jeweiligen Fallgegebenheiten konkretisiert werden muß. Aufschlußreich - und zugleich weiterer Diskussion bedürftig - sind insofern die Ausführungen des Autors zu verschiedenen Varianten des bekannten "Karneades-Falles"137.

a) Ottos 'überlegungen zum Karneades-Fall und seinen Varianten

In der ersten Variante geht es um folgenden Sachverhalt: Nach einem Schiffbruch hat sich einer der überlebenden (A) auf eine im Meer treibende Planke gerettet, die nur einen Menschen zu tragen vermag; ein anderer Schiffbrüchiger (B) versucht, ebenfalls die Planke 137

Vgl. auch oben S.40.

5. Das "Brett des Karneades"

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zu erklimmen (bzw. sie dem Unglücksgefährten wegzunehmen), aber ihr Besitzer stößt ihn - mit tödlichem Erfolg - ins Wasser zurück. Otto meint dazu, hier habe sich A keine Überlebenschancen des B angemaßt, sondern lediglich die eigenen realisiert. Denn: "In der konkreten Situation hatte der Schwimmende (B) überhaupt nur Rettungschancen, wenn und soweit er sich die des Plankenbesitzers zugeeignet hätte, indem er diesem das Brett fortnahm. Die Verteidigung des Brettes war daher nur eine Handlung zur Wahrung jener Rettungschancen, die dem Brettinhaber selbst zu eigen waren. Ein Eingriff in eigene Chancen des Schwimmenden liegt nicht vor. Die Rechtsgemeinschaft kann daher die Handlung des Brettbesitzers nicht mißbilligen. Er handelt nicht pflichtwidrig 138 ." - In der zweiten Variante stößt umgekehrt der "Schwimmende" (B) den Inhaber der Planke (A) ins Wasser; dieser ertrinkt. Hier maßt sich B nach Otto überlebensaussichten des A an, und sein Verhalten ist deshalb rechtswidrig: "Die Rettungschancen des ursprünglichen Plankenbesitzers werden durch den Schwimmenden vernichtet. Allein dadurch erst vermag dieser eigene Rettungschancen zu begründen139 ." Als dritte Variante wird der Fall gebildet, daß die beiden Schiffbrüchigen A und B gleichzeitig die rettende Planke in der Ferne erblicken; der körperlich stärkere B verdoppelt seine Anstrengungen, erreicht die Planke zuerst und schwimmt mit ihr davon, so daß A ertrinkt. In diesem Fall habe es - so Otto - zunächst den Anschein, als eigne sich B Rettungschancen des A an. Doch verhalte es sich in Wirklichkeit anders. Es bestehe eine Situation "freien, aber anständigen Wettbewerbs: Jeder hat die Chance zu überleben durch Entwicklung der in seiner Person gegebenen Möglichkeiten." Die Position des einen sei "bedingt und beschränkt" durch die des anderen; deshalb dürfe jeder seine Chance zu realisieren versuchen. Die Lage des A sei - so betrachtet - von Anfang an aussichtslos gewesen, weil er mit dem besseren Schwimmer B habe konkurrieren müssen. "Verwirklicht nun B die ihm eigenen Möglichkeiten, so verschlechtert er die des A nicht, da dieser nur dann eine Rettungschance hatte, wenn B sich aufopferte." Ein solches Opfer verlange aber die Rechtsordnung nicht140 • - Anders sei wiederum die vierte und letzte Fallvariante zu beurteilen: B befürchtet mit Grund, daß der kräftigere A schneller sein und die Planke eher erreichen wird; um dies zu verhindern, drückt B ihn "unvermutet unter Wasser", so daß A ertrinkt. "Hier verbessert B seine Position, indem er die Chancen des A vernichtet und damit die Beschränkung der 138

139

140

Dtto, Pflichtenkollision Dtto, S. 83. Dtto, S. 84.

5 Küper

und Rechtswidrigkeitsurteil, S. 83.

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IV. Relativierung des Totungsverbots im Lebensnotstand?

ihm eigenen Grenzen überschreitet. Er vergrößert seine Rettungschancen auf Kosten des A" und handelt demgemäß rechtswidrig l41 • Man wird schwerlich bestreiten können, daß diese vier Varianten im Ergebnis richtig entschieden sind. Die Resultate, zu denen der Autor bei der Beurteilung der Rechtswidrigkeitsfrage gelangt, leuchten ausnahmslos ein. Auf diesem Gebiet bewährt sich daher anscheinend seine Methode, rechtswidriges und erlaubtes Notstandsverhalten nach dem Kriterium des Eingriffs in fremde Rettungschancen zu differenzieren. Doch bei genauerem Zusehen melden sich Zweifel, ob eine solche Orientierung an faktischen "Aussichten" - gekoppelt mit dem Versuch, die Chancen den beteiligten Personen jeweils als "eigene" oder "fremde" zuzuordnen - den adäquaten Beurteilungsmaßstab angibt. b) Probleme der ersten und zweiten Fallvariante

aa) Kritik am Kriterium der "Chancenanmaßung" (2. Variante) An Ottos Darlegungen zur ersten Variante fällt zunächst auf, daß der Autor das Verhalten des A, die Verteidigung der lebensrettenden Planke, nicht unter dem Gesichtspunkt der Notwehr würdigt. Hat B den A "rechtswidrig angegriffen", als er versuchte, in den Besitz der Planke zu gelangen, so war es dem A nach § 32 StGB (§ 53 a.F.) erlaubt, diesen Angriff dadurch abzuwehren, daß er den B ins Wasser zurückstieß. Die von Otto für wesentlich gehaltene Frage, ob damit "eigene" überlebenschancen des B vernichtet oder nur solche des Verteidigers wahrgenommen wurden, stellt sich dann für die Handlung des A gar nicht mehr. Diese Frage taucht - gewissermaßen unter umgekehrtem Vorzeichen - allein im Rahmen des Problems auf, ob der Angreifer (B) rechtswidrig oder erlaubt handelte, als er dem A die Planke streitig machte, ist also identisch mit der Problematik der zweiten Fallvariante. Nur wenn man wegen der Notlage des B die "Rechtswidrigkeit" des Angriffs (im Sinne des § 32 StGB) verneinen würde, entstände für A eine normale, nicht durch ein Notwehrrecht qualifizierte Notstandssituation l42 , und lediglich in diesem Fall könnte es für die Bewertung seiner Abwehrhandlung von Bedeutung sein, ob er damit in Rettungschancen des Beingreift. Doch bleiben wir vorerst beim Verhalten des B (zweite Variante). Daß er rechtswidrig handelt, wenn er versucht, den Ader lebensrettenden Planke zu berauben, steht im Ergebnis außer Frage; die Notlage, in der sich B befindet, gibt ihm kein Recht, das Leben des A dem sicheren Untergang preiszugeben. Aber liegt dies wirklich daran, daß 141 142

Otto, S. 84.

Vgl. dazu näher unten S. 69 ff.

5. Das "Brett des Karneades"

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B - wie Otto meint - nicht seine eigenen Rettungschancen zu realisieren sucht, sondern ausschließlich "fremde", diejenigen des A, für sich in Anspruch nimmt? Dtto spricht allein dem A originäre, "eigene" überlebensaussichten zu, da er bereits im Besitz der Planke ist, während dem B derartige Rettungschancen, die A zunichte machen könnte, nicht zugestanden werden, weil jener das Brett erst noch erobern muß; von hier aus erscheint es konsequent, daß nur B in "fremde" Rettungschancen eingreifen und damit pflichtwidrig handeln kann. In Wahrheit ist dies jedoch eine zu einseitige Betrachtungsweise, die sich allzu vordergründig an der zunächst günstigeren Position des Plankenbesitzers orientiert und diese voreilig mit "der Rettungschance" gleichsetzt. Der augenblickliche Besitz des Brettes ist aber nur einer von verschiedenen Faktoren, die über die Rettungsaussichten der Beteiligten entscheiden; wer den rein faktischen Begriff der "Chance" zum Maßstab des Rechtswidrigkeitsurteils erhebt, muß folgerichtig alle Momente berücksichtigen, die nach der konkreten Situation für die Beurteilung wesentlich sind. Dazu gehören etwa auch körperliche Kraft und Geschicklichkeit der beteiligten Personen. Hat B danach begründete Aussicht, den A von der Planke zu verdrängen, so kann ihm folglich eine "eigene", aus seinem Energiepotential resultierende Rettungschance nicht abgesprochen werden; sie realisiert er - unter Verdrängung der Chancen seines Gegners -, wenn es ihm gelingt, den A von der Planke zu stoßen. Umgekehrt muß A, um sich seine günstigere Ausgangsposition zu erhalten, die Attacke des B erfolgreich ahwehren und ihn an der Durchsetzung seiner Chancen hindern. Die Situation des Karneades-Falles - in seiner ersten und zweiten Variante - wird daher nicht adäquat erfaßt, wenn man mit Dtto allein dem A "eigene" Rettungschancen zuordnet. Sofern B nur einige Aussicht hat, in den Besitz der Planke zu kommen, konkurriert vielmehr seine überlebenschance mit derjenigen des A; beide Beteiligten müssen, wenn sie der Gefahr entrinnen wollen, ihre Möglichkeiten wahrnehmen und dabei jeweils die des Konkurrenten vernichten. In dieser Hinsicht ist die Lage für beide gleich. Daran scheitert Dttos Versuch, zwischen der Vernichtung (Anmaßung) "fremder" und der bloßen Wahrung "eigener" Rettungschancen zu differenzieren und darauf das Rechtswidrigkeitsurteil zu gründen. Die Zweifel an Dttos Kriterium der "Chancenanmaßung" verstärken sich, wenn man im Karneades-Fall annimmt, daß B dem schon völlig entkräftet auf der Planke treibenden A körperlich weitaus überlegen ist und ihn mühelos ins Wasser stoßen kann. Ist B gewillt, von dieser überlegenheit Gebrauch zu machen, so hat A überhaupt keine Rettungschance; seine Lage ist aussichtslos, und der Besitz der Planke, den er nicht zu verteidigen vermag, nützt ihm gar nichts. Nur B hat unter diesen Um5·

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IV. Relativierung des Tötungsverbots im Lebensnotstand?

ständen die reale Aussicht, zu überleben: diese Chance verwirklicht er, wenn er den A von der Planke verdrängt. Gleichwohl handelt B rechtswidrig.

bb) Situationsvorteil und Interessenabwägung (2. Variante) So richtig es also ist, daß B den Ader Rettungsmöglichkeit nicht berauben darf, die mit dem alleinigen Besitz der Planke verbunden ist, so wenig hat dies offenbar mit der von Otto vorgenommenen Zuordnung der Chancen zu tun. übrig bleibt das - vom Autor vorschnell zur Inhaberschaft "der Rettungschance" deklarierte - Faktum, daß A als Besitzer der Planke zunächst eine vorteilhafte Position innehat, deren Fortbestand ihm Aussicht auf Rettung bietet und die andererseits B erwerben muß, wenn er dem Tode entgehen will. Im Blick auf diese Position - und nur in dieser Hinsicht - kann man in der Tat von einer "Anmaßung" fremder Chancen sprechen, wenn B den A aus dem Besitz der Planke verdrängt. Doch ist dies lediglich eine Umschreibung der tatsächlichen Lage, mit der für die Rechtswidrigkeitsbeurteilung noch nichts gewonnen ist. Denn die entscheidende Frage ist ja gerade, weshalb B dem A jenen Situationsvorteil nicht nehmen darf, sondern insoweit den status quo unangetastet lassen muß. Der bloße Hinweis auf die günstigere Position des Brettbesitzers beantwortet diese normative Frage nicht, er enthält keine Erklärung für die Rechtswidrigkeit der "Chancenanmaßung", setzt sie vielmehr schon voraus; Ottos Argumentation ist insofern zirkulär. Die Antwort kann nur aus dem Interessenabwägungsprinzip gewonnen werden und ist unter diesem Aspekt denn auch denkbar einfach. Die Verdrängung des A von der Planke stellt eine Tötungshandlung dar, weil sie das Leben des Betroffenen, der sonst den Schiffbruch überlebt oder jedenfalls länger gelebt hätte, durch aktives Eingreifen in das Geschehen verkürzt. Da B mit dieser der eigenen Lebensrettung dienenden Tat keine "wesentlich überwiegenden", sondern allenfalls 143 "gleichwertige" Interessen wahrnimmt - sein Lebensinteresse ist gegenüber demjenigen des A nicht vorzugswürdig - , ist eine Rechtfertigung nach Notstandsgrundsätzen ausgeschlossen. Die Rechtswidrigkeit der Notstandshandlung folgt also aus dem Fehlen eines eindeutigen Wertvorzugs zugunsten des B. Deshalb darf er die Position, die A mit dem Besitz der Planke erworben hat, nicht antasten und muß darauf verzichten, seine eigene Rettungschance auf Kosten des A zu realisieren; seine Handlung ist lediglich nach § 35 Abs. 1 StGB entschuldigt.

143

Zur weiteren Präzisierung unten S. 75 Fußn. 170.

5. Das "Brett des Karneades"

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cc) Die Verteidigung der Planke als Notstandsproblem und das Kriterium der "Chancenanmaßung" (1. Variante) Es zeigt sich somit, daß Ottos überlegungen, soweit sie das Verhalten des B betreffen, nicht weiterführen: Das Kriterium der "Chancenanmaßung" ist teils inadäquat, teils nichtssagend und damit dogmatisch unergiebig. - Wie steht es nun mit der Bewertung des Verhaltens von A (in der ersten Variante des "Karneades-Falles")? Es wurde schon gesagt, daß sich die Rechtmäßigkeit seiner Abwehrhandlung zwanglos aus seinem Notwehrrecht ergibt, sofern man voraussetzt, daß die widerrechtliche Notstandstat des B - der Versuch, A von der Planke zu verdrängen - zugleich einen "rechtswidrigen Angriff" im Sinne des § 32 StGB darstellt144. Bei diesem Ausgangspunkt kommt es gar nicht darauf an, ob und inwieweit A in "Rettungschancen" des B eingreift: er darf sich in jedem Fall, auch durch Tötung des Gegners, verteidigen. Nun ist freilich diese Voraussetzung nicht unproblematisch. In der Literatur wird die Auffassung vertreten, daß eine nach § 35 StGB entschuldigte Notstandshandlung für den Betroffenen kein Notwehrrecht begründe, weil der Bedrohung, die von einem schuldlos Handelnden ausgehe, die spezifische Qualität eines "rechtswidrigen Angriffs" fehle, wie er in § 32 StGB (§ 53 StGB a.F.) gemeint seP45. Dahinter steht die - im einzelnen verschieden fonnulierte - überlegung, daß einerseits der für die Notwehr konstitutive Gedanke der "Rechtsbewährung"146 in solchen Fällen an Bedeutung verliere und andererseits der Gesichtspunkt des individuellen Güterschutzes zur Legitimation der in § 32 StGB verankerten Verteidigungsbefugnis allein nicht ausreiche. Ob derartige Erwägungen wirklich zum Ausschluß der Notwehrlage führen können oder ob sie lediglich - wie die 144 Vgl. oben S. 66. 145 Vgl. dazu besonders Schmidhäuser, Festschrift für Honig, 1970, S. 185 ff., 196 f., Strafrecht, Allg. Teil, 2. Auf!. 1975, S.348, 467 f. Nach Schmidhäusers Ansicht wird in § 32 StGB ein Angriff auf die "empirische Geltung" der Rechtsordnung vorausgesetzt, "d. h. ein Verhalten, durch das der Angreifer bekennt, daß für ihn in diesem Augenblick die Gebote und Verbote der Rechtsordnung nicht gelten" (Allg. Teil, S.348, 467 f.). Davon könne aber nur bei einem Täter die Rede sein, "der selbst geistig an den Werten teilhat, die er durch sein Verhalten normativ verletzt, und der sich über diese Teilhabe in der konkreten Tat hinwegsetzt" (Festschrift für Honig, S. 196 f.). Eine in Leibes- oder Lebensgefahr begangene Notstandshandlung enthalte jedoch - ebenso wie etwa der Angriff eines Kindes oder eines Geisteskranken keine derartige Mißachtung der empirischen Geltung. - Ganz ähnlich Bertel, ZStW 84 (1972) S. 1 ff., 11; Hruschka, Festschrift für Dreher, 1977, S.203, 205 ff. (allerdings ohne Erwähnung der Notstandshandlungen); Otto, Festschrift für Würtenberger, 1977, S. 129 ff., 141 f. (der sogar einen "Angriff" verneinen will); Suppert, Studien zur Notwehr und "notwehrähnlichen Lage", 1973, S. 321 f. Zur Kritik vgl. Hirsch, Festschrift für Dreher, 1977, S. 211 ff., 215 ff., 218 ff.; Maurach / Zipf, Allg. Teil, Teilband 1, S.379; Roxin, ZStW 83 (1971) S. 369 ff, 387. 146 Vgl. Lenckner in Schönke / Schröder, § 32 Rdnr.l, mit weit. Hinweisen.

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herrschende Meinung annimmt - gewisse Einschränkungen des Notwehrrechts zur Folge haben141, soll hier nicht weiter untersucht werden 148 • In unserem Zusammenhang interessieren vor allem die Konsequenzen, die sich auf der Grundlage dieser Auffassung für die Situation des Angegriffenen - im "Karneades-Fall": des A - und für die Bewertung seiner Abwehrhandlung ergeben. Stellt man sich, mit Schmidhäuser und anderen Autoren, auf den Standpunkt, es liege kein "rechtswidriger Angriff" vor, wenn die Notstandshandlung im Zeichen gegenwärtiger Leibes- oder Lebensgefahr (§ 35 StGB) stehe, so bedeutet dies nicht zwangsläufig, daß der Betroffene (A) von Rechts wegen schutzlos ist und die ihm drohende Gefahr nicht durch einen Eingriff in die Gütersphäre ihres Urhebers abwenden darf. Denn die Verneinung der Notwehrlage verleiht der Angriffshandlung nicht die positive Qualität eines rechtmäßigen Verhaltens, das der Betroffene notwendigerweise dulden müßte - sie sagt über die allgemeine rechtliche Bewertung der Tat überhaupt nichts aus - ; dem Angegriffenen wird lediglich das Notwehrrecht entzogen, während sonstige Möglichkeiten rechtmäßiger Gefahrenabwehr unberührt bleiben. Die Negierung eines "rechtswidrigen Angriffs" hat daher, was in der Literatur z. T. verkannt wird, unmittelbar nur die Konsequenz, daß die Reaktion des Betroffenen (statt nach Notwehrregeln) nach den Grundsätzen des rechtfertigenden Notstandes zu beurteilen ist149 ; ob und in welcher Weise er sich gegen die Bedrohung zur Wehr setzen darf, richtet sich nach den hierfür geltenden Rechtfertigungsmaximen l5o • Vgl. dazu die Übersicht bei Lenckner, a.a.O., § 32 Rdnr. 48 ff. Vgl. dazu die oben S.69 Fußn. 145 a. E. angegebene Literatur. 149 So mit Recht Hruschka, Festschrift für Dreher, 1977, S.205, 206; Otto, Festschrift für Würtenberger, 1977, S. 141 f. Vgl. auch Bertel, ZStW 84 (1972) S.l1 Fußn.41; Münzberg, Verhalten und Erfolg, S. 359 ff., 371 f.; Schmidhäuser, Allg. Teil, S. 337 f. ("Bekämpfung einer menschlichen Gefahrenquelle", allerdings eingeschränkt auf Angriffe nicht schuldfähiger Menschen); Samson, SK, § 32 Rdnr.15, § 34 Rdnr.16; Suppert, Studien zur Notwehr, S.322. 150 Dies wird von Roxin, ZStW 83 (1971), S. 387 und Hirsch, Festschrift für Dreher, 1977, S. 217 f., nicht genügend beachtet. Hirsch schreibt, die Versagung der Notwehr gegenüber lediglich entschuldigten Notstandshandlungen laufe darauf hinaus, "daß der entschuldigende Notstand faktisch wie ein Rechtfertigungsgrund wirken würde"; der Differenzierungstheorie wäre damit "der Boden entzogen" (S.218). Dieser Einwand träfe nur zu, wenn die Verneinung des Notwehrrechts stets zu einer Duldungspflicht des Angegriffenen führen müßte. Gerade dies ist jedoch die Frage, die nach den Regeln des rechtfertigenden Notstandes entschieden werden muß. Das gleiche Mißverständnis findet sich freilich auch bei Schmidhäuser. Er will die Abwehrhandlung gegen eine entschuldigte Notstandstat wiederum allein dem entschuldigenden Notstand zuordnen, ohne zu sehen, daß für den Angegriffenen der Rechtfertigungsgrund des § 34 StGB in Betracht kommt (Festschrift für Honig, 1970, S.197, Allg. Teil, S.468; diese Ausführungen sind mit den Darlegungen zur - rechtmäßigen - "Bekämpfung einer menschlichen Gefahrenquelle" [Allg. Teil, S. 337 f.] nicht koordiniert). 147

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5. Das "Brett des Karneades"

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Nun war bereits festgestellt worden, daß im "Karneades-Fall" B rechtswidrig handelt, weil er keine "wesentlich überwiegenden Interessen" wahrnimmt1 51 • Daraus allein folgt noch nicht, daß die Abwehrhandlung des A, der die Planke verteidigt und B dadurch tötet, ein rechtmäßiger Notstandsakt ist l52 ; sie ist dies nur dann, wenn sich für A nach § 34 StGB eine positive Abwägungsdiagnose stellen läßt, seine Interessen also, obwohl "Leben" gegen "Leben" steht, in der konkreten Situation "wesentlich überwiegen" - eine Möglichkeit, die Gefahr auf andere Weise abzuwenden, hat er ja offensichtlich nicht -. Dttos Darlegungen zur ersten Variante des "Karneades-Falles" können als Versuch verstanden werden, im Rückgriff auf die "Chancen" der am Konflikt beteiligten Personen eine solche positive Diagnose zu begründen, wenngleich der Autor nicht ausdrücklich mit der Interessenabwägungsmaxime arbeitet l53 • Aber tragen seine überlegungen dazu Wesentliches bei? Wir stoßen hier zunächst auf die in anderem Zusammenhang, bei der Beurteilung des Verhaltens von B, bereits vorgetragenen Bedenken: Es geht nicht an, von vornherein allein dem A "eigene" Rettungschancen zuzubilligen und deshalb einen Eingriff in die Chancen des B zu verneinen i54 ; A vernichtet vielmehr, indem er den Angriff des B abwehrt, zugleich dessen überlebensaussichten. Anders verhält es sich nur, wenn die Lage des B wegen der überlegenheit des Plankenbesitzers ohnehin hoffnungslos ist: dann hat lediglich A eine "Rettungschance". Doch kann von solchen Unterschieden im KräfteverhäItnis die rechtliche Bewertung seines Verhaltens nicht abhängig gemacht werden. Und ebensowenig überzeugend wäre es, wollte man dem A, sofern ihm B körperlich weitaus überlegen ist, ein Abwehrrecht mit der Begründung versagen, daß seine Situation aussichtslos sei und er also keine Rettungschance habe. Richtig bleibt allerdings - dies ist schon hervorgehoben worden -, daß A als Besitzer der Planke eine vorteilhafte Position innehat, deren Erhaltung ihm Rettungsaussichten bietet - ein relativer Situationsvorteil, über den sein Rivale B nicht verfügt1 55 • Doch gibt diese Tatsache als solche wiederum keine zureichende Erklärung dafür, weshalb es dem A gestattet sein sollte, sich seine günstigere Ausgangslage sogar durch die Tötung des B zu erhalten. Dttos Kriterium der "Chancenanmaßung" (bzw. ,,-nichtanmaßung") läßt insoweit eine normative Begründung für die postuVgl. oben s. 68. Wenn es auch - zugegebenermaßen - ein sonderbares Ergebnis wäre, daß A und B rechtswidrig handeln. Zu diesem Ergebnis kommt übrigens Schmidhäuser, vgl. oben S.70 Fußn. 150 a. E. 153 An späterer Stelle (S. 113) deutet Otto aber an, daß er seine Untersuchung auch als Beitrag zur Konkretisierung des Interessenabwägungsprinzips versteht. 154 Vgl. hierzu oben S. 66 ff. 155 Vgl. dazu oben S.68. 151

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IV. Relativierung des Tötungsverbots im Lebensnotstand?

lierte Erlaubtheit des Abwehrakts vermissen, und sie ist auf diesem Wege - durch eine bloß faktische Betrachtung der Rettungschancen - offenbar auch gar nicht zu gewinnen.

dd) Probleme des defensiven Lebensnotstandes im Karneades-Fall (1. Variante) (1) Der "Defensivnotstand" und seine Bewertung

Der für die Interessenabwägung ausschlaggebende Entscheidungsmaßstab kommt erst in den Blick, wenn diese beschränkte Perspektive erweitert und die Aufmerksamkeit auf die eigentümliche Qualität der Notstandssituation gerichtet wird, die das Verhalten des A bestimmt. A befindet sich gegenüber B zwar nicht - wie ja hier immer vorauszusetzen ist156 - in einer Notwehrlage, aber doch in einer deutlich "notwehrähnlichen" Situation157 , nämlich in einem Defensivnotstand, und er reagiert darauf durch eine ebenfalls notwehrähnliche Abwehrmaßnahme: Greift A doch mit seiner Verteidigungshandlung in die Gütersphäre gerade derjenigen Person ein, von der die Gefahr - bzw. eine wesentliche Steigerung der bestehenden Gefahrenlage - ausgeht. Bei Notstandshandlungen dieser Art geht es also nicht, wie im typischen Fall des § 34 StGB, um die ("aggressive") Abwälzung des Schadens auf einen an der Entstehung des Gefahrenzustandes unbeteiligten Dritten; vielmehr wird - wie bei der Notwehr - der Urheber der Gefahr gleichsam in die Schranken seines legitimen Handlungsspielraums zuruckverwiesen 158 • Und übereinstimmung mit der Notwehrsituation besteht auch darin, daß der vom Eingriff Betroffene die Güterkollison erst geschaffen hat1 59 • Die Interessenabwägung folgt deshalb anderen Regeln, als sie bei einem gewöhnlichen, aggressiven Notstand gelten; es sind "qualitativ und quantitativ weitergehende Beeinträchtigungen zulässig"160. Der Gesetzgeber hat in § 228 BGB, der unmittelbar nur die Sachwehr betrifft, die Abwägungsrichtlinien vorgezeichnet, nach denen auch im Rahmen des § 34 StGB das "überwiegende Interesse" zu bestimmen ist1 61 • Defensive Gefahrenabwehr ist 156 Vgl. oben S.70 nach Fußn.148.

157 Suppert behandelt in seiner grundlegenden Untersuchung zur "notwehrähnlichen Lage", 1973, Fälle dieser Art nicht. 158 Zum grundsätzlichen Unterschied zwischen defensivem und aggressivem Notstand vgl. etwa Hruschka, Festschrift für Dreher, 1977, S.203; Ortrun Lampe, NJW 1968, 89 ff., 91; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 102; Stratenwerth, ZStW 68 (1956) S. 41 ff., 59 und Allg. Teil, S.133, 143. Vgl. auch Blei, Allg. Teil, S. 151 f. 159 Vgl. Stratenwerth, ZStW 68 (1956) S.63. 160 Lenckner in Schönke! Schröder, § 34 Rdnr. 30. 161 Vgl. Hirsch, Festschrift für Dreher, 1977, S. 225 f.; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S.102, und in Schönke! Schröder, a.a.O.; Samson, SK, § 34 Rdnr.16. - Hruschka, Festschrift für Dreher, 1977, S.203 Fußn.23, be-

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danach - in den Schranken der Erforderlichkeit - statthaft, wenn der durch die Notstandshandlung bewirkte Schaden "nicht außer Verhältnis" zu der Gefahr steht, die dem Handelnden aus dem Herrschaftsbereich des Verletzten droht. Bis zur Grenze des "unverhältnismäßigen" Selbstschutzes nimmt daher der Verteidiger, mag auch das von ihm geschützte Rechtsgut nicht höherwertig sein, "wesentlich überwiegende" Interessen in "angemessener" Weise war. Es besteht kein Anlaß, diese spezielle Ausprägung der Interessenabwägungsmaxime, die der besonderen Schutzwürdigkeit des Bedrohten Rechnung trägt, auf Eingriffe in Sachgüter zu beschränken. Der für die Erweiterung der Notstandsbefugnis maßgebende Grundgedanke trifft ebenso auf Fälle des defensiven Notstandes zu, in denen zur Gefahrenabwehr die Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter erforderlich ist1 62 • Denn stets verteidigt der Notstandstäter in dem gefahrbedrohten Gut zugleich die Integrität seiner rechtlich garantierten Herrschaftssphäre gegen einen übergriff, der die reguläre Ordnung durchbricht1 63 ; dies gibt für die Interessenabwägung den Ausschlag. (2) Zulässigkeit von Tötungshandlungen im Defensivnotstand?

So betrachtet geht es in der ersten Variante des "Karneades-Falles" nur noch um die Frage, ob auf dieser Grundlage sogar Tötungshandlungen gerechtfertigt werden können, der Proportionalitätsmaßstab des § 228 BGB also auch in solchen Fällen gilt1 64 • Eine positive Anttrachtet den Defensivnotstand, soweit er nicht unmittelbar von § 228 BGB erfaßt wird, als "außergesetzlichen Rechtfertigungsgrund", weil auf ihn die Abwägungsregel des § 34 StGB nicht zutreffe. Das ist jedoch nicht überzeugend. Weder seinem Wortlaut noch seinem Sinn nach ist § 34 StGB auf aggressive Notstandshandlungen beschränkt. Auch handelt es sich bei dem Proportionalitätsmaßstab des· § 228 BGB nur um eine spezielle Ausprägung des Interessenabwägungsprinzips (vgl. Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 137). Beim "strafrechtlichen" Defensivnotstand geht es allein darum, den notwehrähnlichen Charakter im Rahmen des § 34 StGB analog § 228 BGB zu berücksichtigen. 162 Vgl. Hirsch, Festschrift für Dreher, 1977, S.225, 228; Lenckner in Schönke / Schröder, § 34 Rdnr.30. Vgl. auch Samson, SK, vor § 32 Rdnr.15; Schmidhäuser, Allg. Teil, S. 337 f.; Suppert, Studien zur Notwehr, S. 321 f. 163 Vgl. Stratenwerth, ZStW 68 (1956) S.59, 67. 164 Lenckner (oben Fußn. 162) will beim Defensivnotstand lediglich "in maßvollen Grenzen" die Verletzung "höchstpersönlicher Rechtsgüter wie Körperintegrität und Freiheit" zulassen, hat hierbei freilich nur Fälle präventiver Verteidigung im Blick, in denen noch kein "gegenwärtiger" Angriff vorliegt; Schmidhäuser, Allg. Teil, S. 333 f., 337 f., betrachtet die "Bekämpfung einer menschlichen Gefahrenquelle" (Abwehr eines Geisteskranken, Amokläufers usw.), die er dem rechtfertigenden Defensivnotstand zuordnet, als einen Fall der "Abwägbarkeit des Menschenlebens im Vergleich mit den Gütern von Leben und Gesundheit anderer Menschen", will also offenbar auch eine Tötung gestatten. Ausdrücklich ist allerdings nur von der Zulässigkeit der "Gefährdung des Lebens des Gefährlichen" die Rede (S.334).

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IV. Relativierung des Tötungsverbots im Lebensnotstand?

wort geriete in Konflikt mit der herkömmlichen, durch die bisherige Untersuchung prinzipiell bestätigten Auffassung, daß das menschliche Leben jedenfalls gegenüber mit Sicherheit tödlichen Eingriffen "notstandsfest" seP65. Doch darf nicht außer acht gelassen werden, daß diese Lehre an der Grundsituation des aggressiven Notstandes entwickelt worden ist, während man die hier diskutierte Konstellation überwiegend dem Notwehrbereich zuordnet und aus dieser Sicht dann auch gegen die Zulässigkeit einer Tötung keine grundsätzlichen Bedenken hat. Sie bestehen jedoch ebensowenig, wenn statt von einer Notwehrlage von einem Defensivnotstand ausgegangen wird; auch dann muß es - zumindest bei einem Angriff, der den Bedrohten in gegenwärtige Lebensgefahr bringt - zulässig sein, daß der Angegriffene die Bedrohung notfalls durch eine Handlung abwendet, die den Tod des Angreifers zur Folge hat. Das ist im Grunde, worauf neuerdings Hirsch mit Recht hingewiesen hat1 66 , unmittelbar einsichtig: "Von niemandem läßt sich rechtlich fordern, daß er, vor die Alternative gestellt, entweder von einem ihn objektiv Angreifenden umgebracht zu werden oder aber den Angreifer als letzten Ausweg zu töten, sich selbst opfert. Vielmehr hat der Schutz des Lebens des Bedrohten den Vorrang vor dem Schutz des Lebens desjenigen, von dem die unmittelbare Bedrohung ausgehtI67 ." Dies gilt insbesondere, wenn der Urheber der Gefahr, wie in unserem Fall B, eindeutig rechtswidrig hande1t1 68 , weil die eigene Notlage ihn zur Gefährdung oder Verletzung des Betroffenen nicht legitimiert und das Unrecht seines Verhaltens auch aus sonstigen Gründen169 nicht entfällt. Wollte man hier dem Bedrohten die Befugnis zur tödlich wirkenden Abwehr versagen, so würde dies bedeuten, daß die Rechtsordnung den vom Angreifer widerrechtDezidiert für die prinzipielle Erlaubtheit einer Tötung im Defensivnotstand aber Hirsch, Festschrift für Dreher, 1977, S. 228 f.; vgl. auch Hirsch, LK, vor § 51 Rdnr. 76. 165 Bei bloßer Lebensgefährdung werden ohnehin Einschränkungen gemacht. Vgl. die Angaben oben S. 57 Fußn. 122. - Ein weitgehend anerkannter Fall zulässiger Notstandstötung ist allerdings die sog. Perforation (medizinisch indizierte Tötung des Kindes in der Geburt); doch handelt es sich dabei um einen übergangsfall zum Schwangerschaftsabbruch. Vgl. dazu Eser in Schönke / Schröder, vor §§ 218 ff. Rdnr. 34, mit weit. Hinw. 166 Vgl. Hirsch, Festschrift für Dreher, 1977, S. 228 f., allerdings in anderem Zusammenhang: Hirsch beschäftigt sich mit den Fällen, in denen dem Rechtsgutsangriff kein personales Unrecht zugrunde liegt. weil es insoweit an der Verletzung der Sorgfaltspfticht fehlt. Nach Hirsch ist dann Notwehr nicht zulässig (S. 222 ff.), aber defensive Gefahrenabwehr entsprechend § 228 BGB gestattet (S. 225 ff.). 167 Vgl. Hirsch, Festschrift für Dreher, 1977, S.229. 168 Obwohl er i. S. des § 32 StGB möglicherweise nicht "rechtswidrig angreift". 169 Etwa wegen Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, vgl. oben Fußn. 166.

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lich geschaffenen Güterkonftikt ungelöst ließe: in Angriff und Abwehr läge gleichermaßen ein Verstoß gegen das Recht. Dies wäre eine Kapitulation des Rechts vor dem unerlaubten Handeln desjenigen, der für einen anderen unmittelbare Lebensgefahr heraufbeschwört. Die Rechtsordnung kann und muß diesen Konflikt lösen, indem sie die Interessen des Angegriffenen bevorzugt, sofern die mit der Abwehr entstehende Rechtsgütereinbuße nicht "unverhältnismäßig groß" ist. Ein disproportionaler Schaden ist jedoch auch bei einer Tötungshandlung des Notstandstäters jedenfalls dann zu verneinen, wenn es um die Beseitigung gegenwärtiger Lebensgefahr geht; die Tötung ist in dieser Situation das durchaus "verhältnismäßige" Abwehrmitte11 70 . Die Richtigkeit dieser Lösung wird bekräftigt, wenn man die Gründe berücksichtigt, die dafür sprechen, Fälle dieser Art der Notwehrregelung zu entziehen und nach den Grundsätzen des rechtfertigenden Notstandes zu beurteilen. Wer unter dem Zwang gegenwärtiger Lebens- oder Leibesgefahr einen anderen schuldlos angreift, soll nicht den einschneidenden Abwehrreaktionen ausgesetzt sein, zu denen - im Interesse der "Rechtsbewährung" - der in Notwehr Handelnde nach § 32 StGB befugt ist. Diese spezifische "Schärfe" des Notwehrrechts zeigt sich, wenn sie uneingeschränkt zur Geltung kommt l7l , in einer doppelten Privilegierung des Angegriffenen. Da er als Verteidiger der Rechtsordnung das (kollektive) "Rechtsbewährungsinteresse" auf seiner Seite hat, ist seine Eingriffslegitimation nicht mehr vom positiven Ergebnis einer individuellen Güter- und Interessenabwägung abhängig; insofern darf der Notwehrtäter - jedenfalls bis zur Grenze des "unerträglichen Mißverhältnisses"172 - auch wesentlich geringerwertige Interessen zu Lasten des Angreifers durchsetzen. Außerdem folgt die Erforderlichkeit der Gefahrenabwehr, wiederum bedingt durch die Dominanz des Rechtsbewährungsinteresses, anderen Grundsätzen, als sie beim rechtfertigenden Notstand gelten: der Bedrohte braucht dem Angriff nicht auszuweichen und darf zur Verteidigung 170 Hirsch, Festschrift für Dreher, 1977, S.229 Fußn. 55, sieht m. E. zu Recht - in der Tötung des Angreifers auch dann keine unverhältnismäßige Abwehr, wenn der Angriff die Gefahr einer schweren Körperverletzung (z. B. Verlust des Sehvermögens) enthält. - Vertritt man mit dem Text für die hier untersuchte Konstellation des Defensivnotstandes die Auffassung, daß A "wesentlich überwiegende" Interessen wahrnimmt, so läßt sich daran übrigens ablesen, daß die von B wahrgenommenen Interessen (vgl. oben S. 66 ff.) nicht etwa bloß "gleichrangig", sondern letztlich sogar "geringerwertig" sind, weil die Vorzugsentscheidung zugunsten des A ausfallen muß. l7l Die Einschränkungen der Notwehr, mit denen die h. M. eine "intrasystematische" Annäherung dieses Rechtfertigungsgrundes an den rechtfertigenden Notstand erreicht - vgl. dazu oben S. 70 Fußn. 147 -, müssen in diesem Zusammenhang natürlich außer Betracht bleiben. 172 Vgl. zu dieser Mißbrauchsschranke Lenckner in Schönke! Schröder, § 32 Rdnr. 50, mit weit. Hinw.

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sogar dasjenige Mittel wählen, das die sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr verspricht1 73 • Verneint man nun mit Rücksicht auf die Zwangslage des Angreifers die Notwendigkeit, daß sich ihm gegenüber das Recht in solcher Weise "bewährt", und beurteilt man die Situation des Bedrohten deshalb nach Notstandsregeln, so bleibt gleichwohl ein vollwertiges Abwehrrecht übrig, dem lediglich die besondere "Schärfe" der Notwehr fehlt: Der Angegriffene verliert zwar die Privilegien, die er als Notwehrtäter hätte - Erlaubnis zur Verteidigung auch wesentlich geringerwertiger Individualinteressen, keine Ausweichpflicht, Befugnis zu möglichst risikoloser Abwehr -; er büßt damit jedoch nicht das Recht ein, sich zum Zweck des Selbstschutzes mit verhältnismäßigen Mitteln zur Wehr zu setzen, wenn keine Ausweichmöglichkeit besteht. Und dieses Abwehrrecht enthält notwendigerweise die Legitimation, einen Angreifer zu töten, von dessen Verhalten gegenwärtige, nicht anders abwendbare Lebensgefahr für den Bedrohten ausgeht. - Im übrigen hat die Reduzierung der "schneidigen" Notwehrbefugnis auf ein defensives Notstandsrecht nicht zwangsläufig die Konsequenz, daß das Interesse an der "Bewährung" der Rechtsordnung als Abwägungsgesichtspunkt gänzlich ausscheidet. Handelt der Angreifer - wie in unserem Fall - rechtswidrig, so ist es nicht nur ein Gebot des Selbstschutzes, sondern auch der "Rechtsbewährung" , daß der Bedrohte diesen Angriff auf sein Leben notfalls sogar durch eine Tötungshandlung zurückweisen darf; sonst würde, wie schon bemerkt, das Unrecht über das Recht triumphieren. Zusammenfassend läßt sich deshalb zum Verhalten des A (erste Variante des "Karneades-Falles") feststellen: Auch wenn man seine Abwehrhandlung nicht nach Notwehr-, sondern nach Notstandsgrundsätzen beurteilt, ist sie gemäß § 34 StGB gerechtfertigt, weil A "wesentlich überwiegende" Interessen in "angemessener" Weise wahrnimmt. Die Tatsache, daß in der Notstandssituation "Leben gegen Leben steht", schließt die Rechtfertigung nicht aus. Der entscheidende Grund für eine so weitgehende Eingriffsbefugnis liegt darin, daß B durch sein rechtswidriges Handeln den A einem Defensivnotstand aussetzt; dessen Leben ist daher der in concreto vorzugswürdige Wert. Die von Dtto empfohlenen Beurteilungskriterien führen dagegen nicht weiter.

173 Vgl. z. B. Lackner, § 32 Anm. 2 f.; Wessels, Strafrecht, Allg. Teil, 7. Auf!. 1978, S.63, mit weit. Hinw.; instruktiv zur Erforderlichkeitsproblematik auch Lenckner, JZ 1973, 253.

5. Das "Brett des Karneades"

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c) Probleme der dritten (und vierten) Fallvariante

aa) Nochmals zur "Chancenanmaßung" In der dritten Fallvariante l74 ist das Verhalten des B nach Ottos Auffassung rechtmäßig ("nicht pfiichtwidrig"), weil der weniger leistungsfähige Schwimmer A im Wettbewerb ohnehin keine Aussicht hat, in den Besitz der rettenden Planke zu gelangen - es sei denn, B macht von seiner überlegenheit keinen Gebrauch und opfert sich auf. Deshalb soll eine "Verschlechterung" der Chancen des A, die zur Rechtswidrigkeit des Handeins führen müßte, nicht vorliegen, obwohl B verhindert, daß jener das Brett erreichen kann. Die Fragwürdigkeit dieser Argumentation, mit der nahezu unverhüllt das "Recht des Stärkeren" zum Legitimationsgrund rechtsgutverletzenden Verhaltens erklärt wird, liegt auf der Hand: Die Tatsache allein, daß nur B kraft seiner stärkeren Konstitution oder Kondition über eine reale Rettungschance verfügt, während die Lage des A aussichtslos ist, gibt keine befriedigende Begründung dafür, warum B in einer Weise handeln darf, die den Tod des Konkurrenten zur Folge hat175 • Die Schwäche der Ottoschen Beweisführung zeigt sich noch deutlicher, sobald man eine Fallabwandlung einfügt, die der Autor in seiner Kasuistik ausgespart hat: Wie verhält es sich, wenn der überlegene Schwimmer B - ähnlich wie in Ottos vierter Variante, in der allerdings A körperlich kräftiger isV 76 - seinen Schicksalsgefährten plötzlich "unter Wasser drückt", um zu verhindern, daß dieser den ohnehin erfolglosen Versuch unternimmt, die lebensrettende Planke eher zu erreichen? Auch hier kann ein Eingriff in Rettungschancen des A nicht ernstlich behauptet werden, da der Betroffene keinerlei Aussicht hat, im Wettkampf um den alleinigen Besitz des Brettes die Konkurrenz des B zu bestehen. Trotzdem ist nicht zweifelhaft, daß B ein (vollendetes) rechts:' widriges Tötungsdelikt begeht, wenn er auf solche Weise das Leben des A verkürzt, nicht anders als in der vierten Variante, in der B seinen kräftigeren Gegner an der Verwirklichung seiner Chancen hindert. Hier wie dort wäre die aktive Tötungshandlung nur durch die Wahrung wesentlich überwiegender Interessen zu rechtfertigen, und daran fehlt es, solange A den B nicht angreift. Die Bewertung des Verhaltens als rechtswidrig oder erlaubt hängt also offenbar nicht davon ab, ob und inwieweit in Rettungschancen des Getöteten eingegriffen wird, und sie kann auch gar nicht davon abhängen, weil todgeweihtes, rettungslos verlorenes Leben in vollem Umfang schutzwürdig bleibt177 • Vielleicht würde Otto replizieren, daß B in jener Fall174 175 176 177

Vgl. Vgl. V gl. Vgl.

oben auch oben oben

S.65. bereits oben S.68. S. 65 f. S. 45 ff., 59 ff.

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IV. Relativierung des Tötungsverbots im Lebensnotstand?

abwandlung mit dem unmittelbaren Angriff auf seinen Konkurrenten die Regeln des "freien, aber anständigen Wettbewerbs"178 verletze und sich insofern gewisse Chancen des A anmaße; schließt er doch den A von vornherein aus diesem Wettbewerb aus. Doch ersetzt der Verstoß gegen die Gebote der Fairneß die nun einmal fehlenden Rettungschancen des A nicht. Im übrigen ist nicht ersichtlich - und wird auch von Otto nicht dargelegt -, inwiefern die bloße Verletzung von "Wettbewerbsregeln" geeignet sein könnte, die Rechtswidrigkeit eines (nach Ansicht des Autors) sonst erlaubten Verhaltens zu begründen. So bleibt nur das Fazit, daß das Kriterium der "Chancenanmaßung" auch in Fällen dieser Art als Beurteilungsmaßstab wenig brauchbar ist.

bb) Tun oder Unterlassen? Damit ist freilich noch nicht gesagt, daß B in der dritten Variante des Karneades-Falles rechtswidrig handelt - nur in der vierten Variante und in der zusätzlichen Fallabwandlung ist dieses Ergebnis sicher -. Die eigentliche Problematik dieser Konstellation haben wir nämlich bisher noch gar nicht berührt. Dazu gehört zunächst die Frage, ob in dem Verhalten des B überhaupt eine aktive Tötungshandlung oder lediglich eine unterlassene Hilfeleistung zu sehen ist; letztere wäre wegen "erheblicher eigener Gefahr" nach § 330 c StGB nicht zumutbar und damit gestattet1 79 . Äußerlich betrachtet "handelt" B gewiß, wenn er sich den Besitz der lebensrettenden Planke verschafft und mit ihr davonschwimmt. Aber es ist bekannt, daß phänotypische Aktivität nicht identisch sein muß mit tätiger Erfolgsherbeiführung im strafrechtlichen Sinn, weil sich dahinter auch bloßes Unterlassen verbergen kann180. So wird die - allerdings vereinzelt gebliebene - Auffassung vertreten, daß die Vorenthaltung von Rettungsmitteln für die strafrechtliche Betrachtung stets nur Unterlassen ist, auch wenn sie sich in einem "Tun" äußert (wie z. B. in der Zerstörung des Rettungs178 Vgl. oben S.65. 179 Dazu, daß jedenfalls bei Lebensgefahr das Unrecht der unterlassenen Hilfeleistung entfällt - möglicherweise sogar schon der Tatbestand -, vgl. besonders Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen und Strafgesetz, 1976, S. 90 ff., mit umfassenden Literaturhinweisen. Auf das Problem des systematischen Standortes der "Unzumutbarkeit" bei § 330 c StGB soll hier im übrigen nicht näher eingegangen werden; ausführlich dazu Schöne, a.a.O. 180 In den folgenden Ausführungen kann die umstrittene Frage der Abgrenzung Tun/Unterlassen nur gestreift werden. Zur Problematik vgl. aus der neueren Literatur etwa: Engisch, Festschrift für Gallas, 1973, S. 163 ff.; Roxin, Festschrift für Engisch, 1969, S. 380 ff.; Samson, Festschrift für Welzel, 1974, S. 579 ff.; Sax, JZ 1975, 138 ff.; Spendel, Festschrift für Eb. Schmidt, 1961, S. 183 ff.; Welp, Vorausgegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, 1968, S. 103 ff.; weit. Nachw. bei Stree in Schönke / Schröder, vor §§ 13 ff. Rdnr. 158 f., 159 a.

5. Das "Brett des Karneades"

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geräts oder in der Hinderung eines Hilfswilligen)181. Nach einer anderen Meinung soll Aktivität in solchen Fällen immerhin dann als Unterlassen zu deuten sein, wenn der Täter eigene Rettungsbemühungen zu einem Zeitpunkt rückgängig macht, in dem der zur Rettung geeignete Kausalverlauf die Sphäre des Opfers noch nicht erreicht hat182. Es liegt deshalb nahe, das "Handeln" des B strafrechtlich als bloßes "Nichtüberlassen" der Planke zu bewerten und so zu beurteilen wie das Verhalten jemandes, der etwa dem Gefährdeten den Rettungsring nicht zuwirft. Bestand doch auch in unserem Fall vor dem Tätigwerden des B eine derartige Distanz des Bedrohten (A) zum möglichen Rettungsmittel, daß dieses noch "außerhalb seiner Sphäre" lag183 : A hatte bisher keine Position erlangt, in der er sich selbst weiterhelfen konnte. Gleichwohl dürfte die Qualifizierung als "positives Tun" (Begehung) den Vorzug verdienen. Bei der Neutralisierung von Rettungsmaßnahmen, die der Täter selbst eingeleitet hat ("Rücktritt vom Gebotserfüllungsversuch")184, mag es sachgerecht sein, die Rücknahme der zur Gefahrenabwendung geeigneten Leistung ihrer ursprünglichen Nichterbringung gleichzustellen, solange der Begünstigte daran nicht unmittelbar partizipiert185. Auch ist es einleuchtend, daß die aktive Vorenthaltung eines Rettungsmittels Unterlassungscharakter hat, sofern sich der Täter durch dessen Zerstörung oder Entfernung die notwendige eigene Mitwirkung an der Rettungsaktion unmöglich macht186. Findet jemand indessen, wie in unserem Fall, eine Situation vor, deren künftige Entwicklung ohne sein Tätigwerden zur Rettung des Gefährdeten führen würde, so greift er handelnd in den Kausalverlauf ein, sobald er durch Ausschaltung potentieller Rettungsfaktoren die Umstände derart verändert, daß der sonst ausgebliebene Erfolg eintritt. Sein Verhalten bewirkt für den Betroffenen - im Vergleich zum vorher gegebenen Zustand - eine "Verschlechterung der Rechtsguts181 Vgl. Meyer-Bahlburg, GA 1968, 49 ff., 50 f.; Ranft, JuS 1963, 340 ff., 342 f.; wohl auch Baumann, Allg. Teil, S.246. Kritisch dazu Roxin, Festschrift für Engisch, 1969, S. 387 f.; vgl. auch Engisch, Festschrift für Gallas, 1973, S. 180 ff.; Stree in Schönke / Schröder, vor §§ 13 ff. Rdnr.159. 182 Vgl. Roxin, Festschrift für Engisch, 1969, S. 382 f., 386 f.; zustimmend z. B. Sax, JZ 1975, 141; Stree (oben Fußn. 181), Rdnr. 159 a; Wessels, Allg. Teil, S. 137 f.; kritisch aber Blei, Allg. Teil, S. 279 f.; Engisch, S. 182 ff.; Rudolphi, SK, vor § 13 Rdnr.47; Samson, Festschrift für Welzel, 1974, S. 582 ff. 183 Wenn man sie so versteht wie Roxin, oben Fußn. 182. 184 Begriff von Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S.106 ff. 185 Vgl. jedoch die Bedenken von Blei, Rudolphi und Samson, oben Fußn.182. 186 Vgl. zu diesen Fällen Bertel, JZ 1965, 53 ff., 55; Roxin, Festschrift für Engisch, 1969, S.384; Rudolphi, SK, vor § 13 Rdnr.46; Samson, Festschrift für Welzel, 1974, S. 597 f.; Welp, Vorausgegangenes Tun, S. 137 f.

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IV. Relativierung des Tötungsverbots im Lebensnotstand?

lage"187, ist also mehr als bloße Unterlassung (oder Annullierung) einer begünstigenden Leistung und hat damit die Qualität einer Begehungstat. cc) Das Rechtfertigungsproblem Geht man von positivem Tun aus, so scheint nunmehr allerdings kein Weg an dem Ergebnis vorbeizuführen, daß B widerrechtlich handelt, wenn er durch die Entziehung der Planke den Tod des A verursacht; denn "wesentlich überwiegende Interessen" kann er anscheinend nicht für sich in Anspruch nehmen, da A sein Leben nicht unmittelbar bedroht. Doch ist zu bedenken, daß B, sobald er den Besitz der Planke erlangt hat, diesen Status gegenüber A auch verteidigen darf: Würde A versuchen, ihn vom Brett herunterzustoßen, so wäre Bs Abwehr nach § 32 StGB oder doch nach den Grundsätzen des Defensivnotstandes (§§ 34 StGB, 228 BGB) gerechtfertigt, auch wenn sie den Tod des Angreifers zur Folge hätte. Dies ist in anderem Zusammenhang, bei der Erörterung der ersten Variante, schon festgestellt worden188. Daran zeigt sich, daß die Rechtsordnung die von B geschaffene, sein überleben verbürgende Besitzlage anerkennt und schützt: das Recht verbietet dem A, sie zum Nachteil des B zu verändern und erlaubt diesem, sich einer Veränderung zu widersetzen, gibt also seinen Lebenserhaltungsinteressen den Vorzug189 . Ist dies aber richtig, dann kann auch der Entziehungsakt des "Davonschwimmens", der den Fortbestand jener vom Recht anerkannten Lage vorbeugend sichert, keine rechtswidrige Handlung sein. Es wäre ein seltsamer Wertungswiderspruch, würde man einerseits die Verteidigung der Planke gestatten, andererseits aber ein Verhalten als rechtswidrig beurteilen, das durch bloßes "Ausweichen" bereits die Entstehung der Verteidigungssituation verhindert. Ist die Verteidigung legal, muß dies für das "Ausweichen" erst recht gelten: in beiden Fällen wahrt der Handelnde deshalb überwiegende Interessen. Das Rechtswidrigkeitsurteil kann daher allenfalls an den Vorgang der Besitzbegründung (Ergreifen der Planke) anknüpfen. Insoweit führt der Gedanke der Interessenabwägung in der Tat nicht zur Rechtfertigung des Handelns: B schaltet durch die Inbesitznahme des Brettes zum Nachteil des A den entscheidenden Rettungsfaktor aus 190 , ohne 187 Vgl. insbes. Samson, a.a.O., S. 590 ff., 593, 595; ferner Engisch, Festschrift für Gallas, 1973, S.183; Schmidhäuser, Allg. Teil, S.700, 703; Stratenwerth,

Allg. Teil I, S. 84 f., 269. 188 Vgl. oben S. 66 ff., 69 ff. 189 Vgl. oben S.76. 190 Zwar könnte sich A, wenn B die Planke lediglich in Besitz nähme, ohne mit ihr davonzuschwimmen, vielleicht noch retten, aber doch nur durch eine gegen B gerichtete rechtswidrige Handlung. Bereits die Inbesitznahme des Brettes ist deshalb ein Eingriff in den Kausalverlauf, der die Lage des

5. Das "Brett des Karneades"

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durch überwiegende Interessen dazu legitimiert zu sein. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die Besitzbegründung mit der nachfolgenden Tätigkeit ("Davonschwimmen") eine einheitliche Handlung bildet. Die Rechtmäßigkeit des Folgeverhaltens hat ihren Grund darin, daß B sich gegen die Entziehung des in Besitz genommenen Rettungsmittels schützen und die von ihm begründete vorteilhafte Lage auch präventiv sichern darf. Auf den vorausgehenden Akt der Inbesitznahme wirkt diese später eingreifende Legitimation nicht zurück! Indessen gibt es auch im Bereich des Abbruchs rettender Kausalverläufe - und vielleicht gerade hier - Verhaltensweisen, die trotz ihrer rechtsgutsverletzenden Wirkung nicht so schwerwiegend aus der sozialen Ordnung herausfallen, daß sie das Recht bei Strafe verbieten müßte: "sozialadäquate" Handlungen l91 . In diesen Zusammenhang dürfte auch unser Fall gehören. Ohne eine unmittelbar gegen A gerichtete Handlung vorzunehmen und ohne seinen Herrschaftsbereich zu beeinträchtigen, hat B in einer Gefahrensituation lediglich seine Möglichkeiten zur eigenen Rettung genutzt und damit zwangsläufig diejenigen des A zunichte gemacht. Dies ist ein "im sozialen Leben gänzlich unverdächtiges"192 Verhalten, zu dessen Mißbilligung die Rechtsgemeinschaft keinen Anlaß hat, und es behält diesen Charakter auch dann, wenn es in seinen Auswirkungen zur Verletzung eines Rechtsgutes führt. Der Vergleich mit ähnlichen Fällen, in denen diese Beurteilung Evidenz für sich in Anspruch nehmen darf, kann das verdeutlichen. Man denke etwa an die folgende Situation: Bei einer Schiffskatastrophe ist in dem einzigen, unbeschädigt gebliebenen Rettungsboot nur noch ein letzter Platz frei, den A und B besetzen möchten; dem B gelingt dies, weil er sich in größerer Nähe zum Boot befindet, weil er die Chance eher erkannt hat oder weil er aus anderen Gründen das Rettungsboot schneller erreichen kann. A hat das Nachsehen und geht mit dem sinkenden Schiff unter; hätte B den letzten Platz im Boot nicht eingenommen, so hätte ihn A erhalten und wäre gerettet worden. Auch in diesem Fall verhindert B, daß sich die Situation zugunsten des A auswirken, die in ihr angelegte potentielle Rettungskausalität verwirklichen kann, und er setzt dadurch handelnd eine Ursache für dessen Tod. Gleichwohl wird niemand behaupten betroffenen Rechtsgutes wesentlich verschlechtert. Außerdem ist die Besitzbegründung nur ein Teilakt der folgenden Entziehungshandlung, mit der er - jedenfalls für die Bewertung als Handeln oder Unterlassen - eine Einheit bildet. 191 Zum Begriff der Sozialadäquanz vgl. die Hinweise bei Lenckner in Schönke / Schröder, vor §§ 13 ff. Rdnr. 68 ff. Eine Auseinandersetzung mit diesem Begriff, seiner Tragweite und seinem Verhältnis zum "erlaubten Risiko" ist im Rahmen dieser Untersuchung nicht möglich. 192 Vgl. BGHSt 23, 226, 228. Vgl. auch BGHSt 19, 152, 154. 6 Küper

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IV. Relativierung des 'l'ötungsverbots im Lebensnotstand?

wollen, daß B deshalb rechtswidrig handelt, selbst wenn er die Folgen seines Verhaltens überschaut. Ein anderes Beispiel: A und B sind dringend auf ein lebensrettendes (oder gesundheitserhaltendes) Medikament angewiesen, von dem in der einzigen Apotheke ihres Wohnortes nur noch ein Quantum vorhanden ist, das gerade zur Rettung eines Menschen ausreicht. B betritt die Apotheke kurze Zeit vor A und erwirbt das Medikament als erster; A stirbt infolgedessen (oder erleidet doch einen schwerwiegenden Gesundheitsschaden, der sonst ausgeblieben wäre). B handelt hier sicherlich rechtmäßig, wiederum unabhängig davon, wie seine Situationskenntnis beschaffen ist. Solche Verhaltensweisen sind rechtlich unverfänglich, "sozialadäquat" und daher nicht verboten. Nicht anders kann man die dritte Variante des "Karneades-Falles" beurteilen. Otto behält mit seinem Befund also letztlich recht. Nur liegen die Gründe dafür auf einem anderen Gebiet und haben mit den Erwägungen, auf die sich der Autor stützt, wenig zu tun l93 •

193 Den Ursachen für die in solchen Fällen vorliegende "Sozialadäquanz" im einzelnen nachzuspüren, würde hier zu weit führen. Offenbar wirkt ein Komplex verschiedener Faktoren derart zusammen, daß die Handlung unterhalb der Schwelle des rechtlich Mißbilligenswerten bleibt. Zu nennen sind etwa folgende Momente: die soziale Wertigkeit des vom Täter erstrebten Ziels (Selbsterhaltung); die nur mittelbare, reflexartige Auswirkung der an sich neutralen Handlung auf den Erfolg; das Fehlen jedes direkten Eingriffs in eine schon gesicherte Herrschaftssphäre des Betroffenen, schließlich der übergangscharakter des "positiven Tuns" zur erlaubten Unterlassung der Hilfe. Alle diese Faktoren konstituieren einen legitimen Handlungsspielraum des Täters.

V. Familiäre PHichtbindungen und Lebensnotstand Zugleich zur" U nzumutbarkeit" beim unechten Unterlassungs delikt Als letzter Fragenkomplex, dem sich die Untersuchung zuwenden muß, bleibt zu erörtern, welche Bedeutung den familiären Bindungen für die Beurteilung von Notstandssituationen zukommt, bei denen das Leben naher Angehöriger auf dem Spiel steht. Otto widmet diesem Problemkreis besondere Aufmerksamkeit und vertritt hierzu recht eigenwillige Thesen, die der Diskussion bedürfen. Die Problematik hat im wesentlichen zwei Aspekte. Einmal steht die Frage zur Debatte, ob die Pflicht zur Rettung eines nahen Angehörigen, wie sie z. B. dem Vater gegenüber seinem Kind obliegt, so weit reicht, daß der Verpflichtete sogar sein Leben aufopfern muß, wenn er nur dadurch das des Angehörigen retten kann. Der zweite Aspekt betrifft das Problem, wie sich die familiäre Pflichtbindung bei einem lebensvernichtenden Eingriff in die Schutzsphäre dritter Personen auswirkt: Darf etwa der Vater zur Rettung seines in akuter Lebensgefahr schwebenden Kindes einen anderen Menschen töten? 1. Die Bedeutung familiärer Pftichtbindungen im "Innenverhältnis" a) Der Standpunkt ottos und erste Einwände

Zu der ersten Frage hat Otto ursprünglich eine sehr rigorose Auffassung vertreten, an der er allerdings, wie im Nachwort erläutert wird l94 , nicht mehr festhält. Danach hat derjenige, der innerhalb der engsten, vom Recht anerkannten Lebensbeziehung - der "häuslichen Familiengemeinschaft" - "kraft seiner tatsächlichen Stellung die verantwortlichen Entscheidungen trifft", in der Tat "die Pflicht, auch mit dem eigenen Leben für die anderen einzustehen"195. Otto begründet dies mit existentialistisch inspirierten Erwägungen über die enge Verbundenheit der Familienmitglieder, die auch deren Rechtspflichten entscheidend präge. Hören wir dazu den Autor selbst: "Häusliche Familiengemeinschaft ist begründet in der Solidarität und der Pietät, das ist die Verläßlichkeit aller, die sich gegenseitig im Ganzen der Familie ein Halt sind. Sie finden in ihrem Zuhause eine Lebensordnung, die 194 Vgl. Otto, Ptlichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, 3. Autl., S. 118 f. 195 Otto, S. 99. 6'

V. Familiäre Pflichtbindungen und Lebensnotstand

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aus dem Wesen ihrer Beziehung zueinander, nicht aber aus äußeren Geboten erwächst. Das unbedingte Zusammengehörigkeitsgefühl, das Sichverlassenkönnen aufeinander und das gegenseitige Füreinandereinstehenwollen bilden zugleich die Voraussetzung und Grundlage für die in der Familie sich verwirklichende Unbedingtheit1 96 ." "Demgemäß bietet sich die häusliche Familiengemeinschaft innerhalb der Rechtsgemeinschaft als Anknüpfungspunkt besonderer Pflichtgehalte dar, und zwar geht die Betrachtung von der sog. Kleinfamilie aus, bestehend aus Eltern und Kindern. In diesem Bereich, in dem eine Wertverwirklichung auf Grund der Solidarität aller innerhalb der Gemeinschaft auch heute noch weitgehend erfolgt, ist sodann nach den einzelnen sozialen Stellungen gemäß der Verantwortung des einzelnen vor der Rechtsgemeinschaft zu unterscheiden: Kraft ihrer natürlichen Stellung innerhalb dieser Gemeinschaft sind die Eltern Garanten für das Wohl ihrer Kinder. Primär verpflichtet ist sodann der Vater auf Grund seiner natürlichen Stellung innerhalb der Familie, sekundär die Mutter, trotz aller Gleichberechtigung, die immer nur eine rechtliche sein kann. Die Pflicht, für das Wohl der Kinder zu sorgen, und zwar selbst unter Einsatz des eigenen Lebens, ist unabdingbar. Allein nämlich das Bewußtsein der heranwachsenden Kinder, die Eltern werden stets für sie einstehen, immer für sie bedingungslos da sein, vermag die notwendige Offenheit für die Wertverwirklichung innerhalb der Gemeinschaft zu erzeugen. Sie gewährt die Möglichkeit eines Hineinwachsens in eine echte Gemeinschaft197 ."

So weit Ottos - etwas emphatische - Begründung. Vor allem die letzten Sätze lassen die Quintessenz seiner Auffassung deutlich werden: Die Familie wird als "unbedingte" Lebensgemeinschaft verstanden, die für die Eltern - und offenbar nur für sie - ebenso "bedingungslose" Schutz- und Fürsorgepflichten gegenüber den Kindern zur Folge hat, Pflichten, deren Anspruch sogar das Opfer des eigenen Lebens einschließt. Unwillkürlich fragt man sich allerdings: Warum soll das nicht auch für die Ehegatten untereinander gelten, warum nicht ebenso für die - heranwachsenden - Kinder im Verhältnis zu ihren Eltern? Und wie steht es, wenn eine "Familie" nicht mehr existiert, weil sie sich etwa auf eine isolierte Vater-Sohn-Beziehung reduziert hat? Hört damit die "unbedingte" Fürsorgepflicht des Vaters auf? Soll schließlich die in die "häusliche Gemeinschaft" aufgenommene Großmutter nur deshalb von den erhöhten Pflichtanforderungen dispensiert sein, weil sie nicht mehr zur "Kleinfamilie" gehört? - Auf solche Fragen findet man bei Otto keine Antwort; seine Thesen bleiben in dieser Hinsicht unpräzise und verschwommen. Dagegen zeigt er immerhin die Konsequenzen auf, die sich aus seinem Verständnis der gesteigerten "Familienpflicht" bei Notstandssituationen im Eltern-Kind-Verhältnis ergeben. So etwa in folgendem Fall: Der Vater sieht, wie sein Kind von einem wilden Tier angegriffen wird; Rettung ist nur dadurch möglich, daß er sich selbst der Bestie ausliefert und damit den eigenen Tod auf sich nimmt. Dieser Fall zeigt nach Otto, daß die aus der Familien196 197

Otto, S. 95. Otto, S. 95/96.

1. Familiäre Pflichtbindungen und "Innenverhältnis"

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bindung folgende Pflichtenstellung "geradezu erschreckende Bedeutung erhalten" kann. Der Vater darf sich nämlich "seiner Verantwortung nicht entziehen, nur weil er nicht unmittelbar in Gefahr steht"; er muß vielmehr "den Forderungen seiner Sozialstellung nachkommen und sich noch in hoffnungsloser Situation (?) zu der ihn mit dem Kinde verbindenden Gemeinschaft bekennen"l98. Allerdings findet diese Pflicht ihre Grenze an einem "sinnlosen Opfer"199. Vor der "erschreckenden Bedeutung" dermaßen hoher Pflichtanforderungen ist Otto inzwischen selbst zurückgeschreckt. Im "Nachtrag" revidiert er seine Auffassung. Er beruft sich nunmehr auf soziologische Untersuchungen, die ergäben, daß "die Realität des Familienlebens" in zunehmendem Maße geprägt werde durch die "Eigenständigkeit und teilweise Distanz der Beziehungen der Ehepartner untereinander sowie auch der einzelnen Familienmitglieder zueinander". "Dieser Befund" - so meint Otto - "entzieht der Feststellung einer derart weitgehenden Opferpflicht die Voraussetzungen"200. Im Klartext heißt dies: Weil sich nach Auskunft der Soziologen eine Lockerung familiärer Bindungen bemerkbar macht, ist auch die rechtliche Forderung, daß Eltern zur Rettung ihrer Kinder notfalls ihr Leben hingeben müssen, nicht mehr angemessen. Das ist nun allerdings eine seltsame Wendung der Argumentation. Ursprünglich hatte Otto, ohne die Familiensoziologie um Rat zu fragen201 , das "Leitbild" einer auf unbedingter Verläßlichkeit beruhenden Familiengemeinschaft entworfen, in der die Eltern verpflichtet seien, für das Wohl ihrer Kinder "bedingungslos einzustehen"; um den Realitätsgehalt seiner Aussagen hatte er sich nicht weiter gekümmert. Nun soll der hohe Anspruch jenes "Idealbildes" mitsamt seinen rechtlichen Konsequenzen offenbar nicht mehr gelten, weil die - soziologisch ermittelte - "Wirklichkeit" ihm nicht gerecht wird! 198 Otto, S.97. 199 Otto, S. 96. Hat sich z. B. das Kind mit einer tödlichen Krankheit infiziert, "so brauchen Mutter und Vater sich natürlich nicht gleichfalls anzustecken, um mit dem Kinde gemeinsam zu sterben". Das folgt nach Otto "aus dem Wesen der Pflicht, die auf etwas Sinnvolles gerichtet sein muß. Sinnvoll ist das Opfer aber nur, wenn Rettungschancen bestehen" (S.96). Diese Einschränkung klingt einleuchtend, aber sie ist höchst problematisch. Das Fehlen einer "Rettungschance" (Überlebensaussicht), also die Unabwendbarkeit des krankheitsbedingten Todes, entbindet die Eltern nicht von ihrer Pflicht - ebensowenig wie etwa den Arzt -, sich um die Verlängerung des Lebens zu bemühen, zur Linderung etwaiger Schmerzen beizutragen usw. Im Hinblick darauf wäre auch ein Lebensopfer keineswegs gänzlich sinnlos, und Otto müßte es daher von seinen Prämissen aus konsequenterweise fordern. 200 Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S. 118. 201 Hinweise auf familiensoziologische Untersuchungen (u. a. König, Schelsky, Wurzbacher) finden sich erst im Nachtrag zur 2. Auflage, S. 118 mit Fußn.8ff.

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v. Familiäre Pflichtbindungen und Lebensnotstand

Man braucht freilich kein Soziologe zu sein, um zu wissen, daß es im Bereich der Familie neben sehr engen, durch starkes Zusammengehörigkeitsgefühl und große Opferbereitschaft geprägten Bindungen von jeher auch weniger konsistente Beziehungen gegeben hat, bis hin zur völligen Zerrüttung des Grundgefüges und zur totalen Entfremdung der Familienmitglieder; und beide Phänomene wird es wohl immer geben. Vielleicht geht in der Gegenwart die allgemeine Tendenz eher in die negative Richtung. Doch wie immer es sich damit verhalten mag: Was haben empirisch-statistische Erhebungen über die "Realitäten des Familienlebens", was hat überhaupt jene Realität eigentlich mit der hier interessierenden Rechtsfrage zu tun, welche Pflichten aus einer solchen Gemeinschaftsbeziehung erwachsen und wie weit sie reichen? Sollen sich etwa die Rechtspflichten jeweils nach den erfahrungswissenschaftlichen Befunden richten, die in soziologischen Untersuchungen über die Konsistenz oder Inkonsistenz des Familiengefüges erhoben werden? Davon abgesehen bleibt unerfindlich, inwiefern solche Erhebungen über allgemein-typische "Wandlungen der Familie"202 eine Bewertungsgrundlage abzugeben vermögen für die Entscheidung des speziellen juristischen Grenzproblems, ob Eltern zur Erhaltung des Lebens ihrer Kinder notfalls sogar den Tod auf sich nehmen müssen. Mir scheint: Qttos Methodik ist insoweit im "Nachtrag" nicht weniger unklar und anfechtbar, als sie es schon im Hauptteil der Untersuchung war. Weder die Beschwörung eines durch die "Unbedingtheit" gegenseitiger Solidarität fundierten Idealtypus der Familie noch der Hinweis auf die realtypische Wirklichkeit des Familienlebens tragen zur Lösung unseres Problems Nennenswertes bei. Der Jurist bleibt darauf angewiesen, dessen spezifisch rechtliche Strukturen gewissenhaft zu analysieren und von dieser Basis aus eine befriedigende Bestimmung der Pflichtgrenzen zu versuchen. b) Die Strukturen des Problems

aa) Die "Unzumutbarkeits"-situa.tion und ihre Varianten Es ist ein bemerkenswerter Mangel der Arbeit Ottos, daß der Autor auf eine solche rechtlich-dogmatische Analyse nahezu völlig verzichtet; nicht einmal der traditionelle systematische Kontext der Fragestellung wird mit hinreichender Deutlichkeit entfaltet. Dabei ist das Problem seit langem bekannt: Es geht um einen Ausschnitt aus dem meist unter dem Stichwort "Unzumutbarkeit" erörterten Fragenkreis, ob die Garantenpflicht dort ihre Grenze findet, wo die Pflichterfüllung dazu führen würde, daß der Garant eigene Rechtsgüter (insbesondere Leib oder 202 So der Titel des bekannten Buches von Helmut Schelsky: Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, 1954.

1. Familiäre Pftichtbindungen und "Innenverhältnis"

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Leben) gefährden oder sogar aufopfern müßte. Situationen dieser Art sind, genauer betrachtet, in verschiedenen Varianten denkbar. So kann sich der Garant im Zeitpunkt der Aktualisierung seiner Erfolgsabwendungspflicht selbst noch außer Gefahr befinden, so daß er bei einem Tätigwerden gezwungen wäre, sich (zumindest) in eine konkrete Gefahrenlage zu begeben. Möglich ist jedoch auch, daß der Garant, etwa im Falle einer Brandkatastrophe, ebenfalls bereits in einer Gefahr schwebt, die er - mit ihren eventuellen Folgen - "auszuhalten" hätte, wenn er zugunsten des Pflichtdestinatärs eingreifen würde. Natürlich können in diesen beiden Grundkonstellationen Art und Grad der mit dem Handeln verbundenen Gefahr oder Gefahrsteigerung wiederum unterschiedlich sein, je nachdem, auf welche Rechtsgüter des Garanten sich das Risiko bezieht und in welchem Maße seine Realisierung wahrscheinlich ist. Die Gradskala der "Wahrscheinlichkeit" reicht dabei von der bloßen (konkreten) "Möglichkeit" einer Selbstschädigung bis zur "Sicherheit" der Aufopferung.

bb) Dogmatische Ansatzpunkte zur Lösung im Unrechtsbereich Für die strafrechtsdogmatische Bewältigung solcher "Unzumutbarkeitssituationen" gibt es, wenn ich recht sehe, im Unrechtsbereich zwei grundsätzlich verschiedene Ansatzpunkte, die man in der Literatur seltsamerweise bisher nicht klar bezeichnet hat. Erwägenswert ist zum einen der Gedanke, daß die Unterlassungstat auch unter dem Aspekt der für den Garanten entstehenden (oder schon bestehenden) Eigengefahr prinzipiell nicht anders zu behandeln ist als das entsprechende aktive Tun. Dies würde bedeuten: Das durch die Pflichtenstellung, die subjektive Möglichkeit der Erfolgsabwendung und die Kausalität der Untätigkeit konstituierte tatbestandliche Unterlassungsunrecht kann infolge der Sondersituation des Garanten nur dann aufgehoben werden, wenn sich sein Nichthandeln im Hinblick auf die ihm selbst drohende Rechtsgutsbeeinträchtigung als Wahrnehmung "wesentlich überwiegender Interessen" darstellt (§ 34 StGB); unterläßt der Garant die Erfolgsabwendung hingegen zum Schutz solcher Eigeninteressen, welche im Verhältnis zu den Werten, die er durch sein pflichtwidriges Nichthandeln verletzt, gleiches oder gar geringeres Gewicht haben, so bleibt sein passives Verhalten rechtswidrig203 und kann allenfalls entschuldigt werden204 • Unter der Voraussetzung, daß die potentielle "UnzumutbarIn dieser Richtung z. B. Rudolphi, SK, vor § 13 Rdnr. 31; wohl auch Allg. Teil, S.516 (vgl. dazu unten Fußn.205); Hirsch, LK, vor § 51 Rdnr.174; Stratenwerth, Allg. Teil I, S.289. 204 Unmittelbar ist § 35 StGB ebenso wie im Rechtfertigungsfall § 34 StGB - bei diesem Ausgangspunkt freilich nur anwendbar, wenn im Zeitpunkt des Unterlassens die dort umschriebene Notstandssituation bereits vorliegt, der Garant sich also schon "in Gefahr" befindet. Muß er sich durch 203

Jescheck,

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keitssituation" die Tatbestandsmäßigkeit der Unterlassung nicht berührt, würden in diesem Lösungsmodell an den Unrechtsausschluß ebenso strenge Anforderungen gestellt wie bei einer entsprechenden Begehungstat: Rechtfertigungsmaßstab wäre allein das Prinzip des überwiegenden Interesses205 • Gerät die "Sympathieperson", zu deren Gunsten die Erfolgsabwendungspflicht besteht, in akute Lebensgefahr, so gäbe es danach für den unterlassenden Garanten schlechterdings keine Möglichkeit erlaubter Passivität, da die von ihm wahrgenommenen Interessen bestenfalls "gleichwertig" sein können; er müßte deshalb, wie es im Ergebnis auch Otto ursprünglich vorgeschlagen hat, sogar den sicheren eigenen Tod hinnehmen. Im übrigen käme es darauf an, von Fall zu Fall das Wertverhältnis der einander gegenüberstehenden Interessen exakt zu bestimmen. Dabei wäre es wohl nur konsequent, auch im Bereich der Unterlassung den für aktives Tun geltenden Grundsatz zu befolgen, daß eine schwerwiegende, vor allem aber irreparable Beeinträchtigung höchstpersönlicher Rechtsgüter (z. B. der körperlichen Unversehrtheit) für die Anerkennung eines "überwiegenden Interesses" im allgemeinen keinen Raum läßt, selbst wenn dem (Unterlassungs-)Täter akute Lebensgefahr droht. Die Grenzen der Rechtfertigung beim unechten Unterlassungsdelikt würden damit außerordentlich eng gezogen. Der zweite Ansatzpunkt, von dem aus die Lösung des Problems unternommen werden kann, besteht darin, daß die Erlaubnisanforderungen bei der Garantenunterlassung nicht - analog dem Begehungsdelikt - am Prinzip des überwiegenden Interesses orientiert, sondern von vornherein niedriger angesetzt werden. Wird damit zwangsläufig das Feld erlaubter Unterlassungen über die Rechtfertigungsschranken hinaus erweitert, die bei entsprechendem aktivem Tun bestehen, so sind hierbei sachlich (im Blick auf die rechtmäßigkeitsbegründenden Kriterien) und systematisch (hinsichtlich der Einordnung des "Unzusein Handeln überhaupt erst einer Gefahr aussetzen, so ist nur eine entAnwendung dieser Notstandsvorschriften möglich; sie begegnet jedoch keinen prinzipiellen Schwierigkeiten. Eine andere Frage ist es, ob im Entschuldigungsfall über die Grenzen des § 35 StGB hinausgegangen werden kann. 205 Dies ist offenbar auch die Konzeption Jeschecks, der sie freilich im entscheidenden Punkt nicht klar formuliert. Vgl. Allg. Teil, S.516: Den "Garanten trifft die Pflicht zur Erfolgsabwendung in gleicher Weise wie den Begehungstäter die Pflicht, den Erfolg nicht durch positives Tun herbeizuführen ... Deswegen kann die Unzumutbarkeit beim Garanten auch nur im Rahmen des entschuldigenden Notstands (§ 35) berücksichtigt werden." Unklar ist diese Formulierung deshalb, weil sie den Anschein erweckt, als könnten Notstandssituationen beim unechten Unterlassungsdelikt überhaupt nur entschuldigen. Daß aber auch hier eine Rechtfertigung kraft überwiegenden Interesses möglich sein muß, ist evident. Der von Jescheck S.515 erwähnte Unrechtsausschluß bei "höherrangiger Unterlassungspflicht" ist ja nichts anderes als ein Anwendungsfall des Interessenabwägungsprinzips im Bereich der Unterlassungsdelikte! sprechende

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mutbarkeitsproblems" in den Deliktsaufbau) wiederum verschiedene Wege denkbar. Sachlich kann die Abschichtung von rechtmäßiger und widerrechtlicher Unterlassung einmal in der Weise vorgenommen werden, daß - ähnlich wie bei § 330 c StGB - schon die mit der Erfolgsabwendung verbundene Aufopferung oder Gefährdung "erheblicher", nicht unbedingt überwiegender, "billigenswerter Eigeninteressen" der Handlungspflicht Grenzen setzt206 • Dies liefe darauf hinaus, daß im Bezirk der unechten Unterlassung bereits die Wahrnehmung "berechtigter" Interessen eine unrechtsneutralisierende Funktion erhält. Das jeweils zu fordernde Gewicht des wahrgenommenen Interesses müßte dann je nach der Art und Schwere des Erfolges, dessen Nichtabwendung dem Unterlassenden zuzurechnen ist, von Fall zu Fall ermittelt werden, wobei vielleicht der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Orientierungsrichtlinie dienen könnte201• Eine derart "offene" - und damit naturgemäß vage - Unzumutbarkeitsklausel stellt aber nicht die einzige Möglichkeit dar, für die Unterlassungsdelikte unabhängig vom Prinzip des überwiegenden Interesses eine erlaubnisbegründende Maxime zu formulieren, die in Notstandsfällen auf die Sondersituation des Garanten Rücksicht nimmt. Gedacht werden kann ferner daran, diese Maxime gleichsam auf einer "mittleren Abwägungsebene" anzusiedeln, d. h. die Wahrnehmung eines zumindest gleichrangigen also zwar nicht notwendig "überwiegenden", aber auch nicht bloß "erheblichen" oder "verhältnismäßig gewichtigen" - Interesses zu verlangen208 • Betreffen solche überlegungen die sachlichen Kriterien der Unrechtsbegrenzung, so ist davon die weitere - sekundäre Frage zu trennen, welche Systemstufe des Deliktsaufbaus damit angesprochen ist: Handelt es sich bereits um ein Problem der Tatbestandseinschränkung209 , oder geht es hier - was naheliegt - um die Berücksichtigung tatbestandsindifferenter "Gegeninteressen" auf der Rechtfertigungsebene 210 ? Beide Möglichkeiten sind diskutabel; darauf wird noch zurückzukommen sein. 206 So z. B. Schönke / Schröder, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr.155 (Stree). Dies ist der Sache nach auch die Auffassung aller Autoren, die in der "Unzumutbarkeit" ein tatbestandsbegrenzendes Pflichtregulativ erblicken. Vgl. etwa Dreher, § 13 Rdnr.18; Henkel, Festschrift für Mezger, 1954, S.280; Lackner, § 13 Anm.20, § 15 Anm. II, 1 c; weit. Nachw. bei Heimann-Trosien / Wolft, LK, Einleitung, Rdnr. 150. 201 Nach Schönke / Schröder, oben Fußn.206, "sind die in Frage stehenden Interessen und ihre Bedeutung gegeneinander abzuwägen", wobei hier konsequenterweise keine echte Abwägung mit dem Ziel der Ermittlung eines "überwiegenden Interesses" gemeint sein kann. 208 In diese Richtung geht der Vorschlag Schmidhäusers, Allg. Teil, S.690: "Wo ein Handeln dem Unterlassenden im Hinblick auf eigene wenigstens gleichrangige Güter nicht zugemutet werden kann, da ist das Unterlassen rechtmäßig. " 209 Vgl. oben Fußn.206. 210 So Schmidhäuser, S. 690.

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c) Der Lösungsweg

aa) Der Ausgangspunkt Die klarste und - jedenfalls im Grundgedanken - einfachste Lösung ergibt sich gewiß von dem zuerst genannten Ausgangspunkt aus, weil die Grenze zwischen erlaubtem und rechtswidrigem Notstandsverhalten danach im Bezirk der Garantenunterlassung ebenso verläuft wie bei analogen Begehungstaten. Der zweite Ansatzpunkt und die aus ihm ableitbaren Lösungsmodelle haben dagegen die eigenartige Konsequenz, daß die in § 35 Abs. 1 StGB umschriebenen (bzw. entsprechend gelagerten) Notstandssituationen sämtlich211 oder doch zu einem wesentlichen Teil 212 bereits das Unterlassungsunrecht berühren, so daß für den entschuldigenden Notstand nichts oder nur sehr wenig übrigbleibt213 • Dieser Effekt scheint dafür zu sprechen, auch auf dem Gebiet der unechten Unterlassungsdelikte am "Prinzip des überwiegenden Interesses" als zentralem erlaubnisbegründendem Topos festzuhalten und die Fälle sonstiger "Unzumutbarkeit", soweit sie überhaupt die Strafwürdigkeit berühren, dem Entschuldigungssektor zuzuweisen. Doch bestehen erhebliche Zweifel, ob diese Methode den richtigen Weg darstellt. Schon in früherem Zusammenhang, bei der Erörterung der Ptlichtenkollision und ihrer Varianten, hat sich gezeigt, daß die Unterlassung im Rechtswidrigkeitsbereich anderen Regeln folgt als das aktive Tun: Bereits die Erfüllung einer der Handlungsptlicht gleichwertigen anderen Pflicht, sei sie nun ihrerseits Handlungs- oder Unterlassungsptlicht, führt dort zu einem erlaubten Unterlassen; bei Kollisionslagen dieser Art begrenzt somit die Rücksichtnahme des Täters auf ranggleiche fremde Interessen - die er entweder durch Nichthandeln schont214 oder handelnd schützt2l1i - seine aus der GarantensteIlung resultierende Pflichtbindung. Die Vermutung liegt nahe, daß es sich ähnlich verhält, wenn der Garant seiner Erfolgsabwendungspflicht nur genügen kann, indem er vom Recht anerkannte Eigeninteressen aufopfert oder gefährdet. Es lohnt sich, dieser Vermutung nachzugehen. Freilich können die für die rechtfertigende Pflichtenkollision entwickelten Regeln auf die Konstellationen, um die es hier geht, nicht unmittelbar übertragen werden. Im Verhältnis zum Konflikt von Handlungsptlichten fehlt es ohnedies an einer hinreichenden VergleichSo nach der ersten Variante der Lösung. So nach der zweiten Lösungsvariante. 213 Vgl. z. B. Lenckner in Schönke / Schröder, Vorbem. §§ 32 ff. Rdnr.125: der Sachverhalt des § 35 StGB sei bei den Unterlassungsdelikten nicht erst Entschuldigungsgrund, sondern begrenze bereits den Umfang der Handlungspflicht. Vgl. auch Hardwig, Die Zurechnung, 1957, S.200. 214 Konflikt zwischen gleichwertiger Handlungs- und Unterlassungspflicht. 215 Konflikt gleichwertiger Handlungspflichten. 211

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barkeit der Kollisions- und Problemlage. Denn selbst wenn die Situation so beschaffen ist, daß der Garant zur Abwendung einer bereits gegebenen Eigengefahr eine Handlung vornehmen muß, die eine gleichzeitige Erfüllung seiner Erfolgsabwendungspflicht ausschließt, besteht rechtlich eben nur diese eine Handlungspflicht, so daß ein Pflichtenkonflikt gar nicht auftritt216 • Soweit dagegen die Beachtung des Handlungsgebots - der Erfolgsabwendungspflicht - den Garanten zwingt, eigene, bisher ungefährdete Güter in Gefahr zu bringen oder sogar der Vernichtung preiszugeben, ist zwar eine gewisse Verwandtschaft mit den Fällen der Kollision von Handlungs- und Unterlassungspflicht nicht zu verkennen: Die Erfolgsabwendung impliziert auch hier eine "Beeinträchtigung" (im weitesten Sinn) von rechtlich geschützten Interessen. Da diese Beeinträchtigung jedoch keine fremden Belange berührt, sondern allein die eigene Gütersphäre des Garanten betrifft und deshalb eine rechtliche Unterlassungspflicht nicht verletzen kann -, ist sie logischerweise stets und unabhängig vom Wertverhältnis der kollidierenden Interessen erlaubt. Der für den Konflikt von Handlungsund Unterlassungsptlicht geltende Grundsatz, daß das Recht die zur Erfolgsabwendung notwendige Inanspruchnahme zumindest gleichwertiger Interessen nicht gebietet, weil der Handlungspflichtige lediglich vergleichsweise geringere Werte verletzen darf, trägt daher in diesem Zusammenhang nicht mehr: Eine durch ein (Handlungs-)Verbot begründete Eingriffsschranke, die nur bei Wahrung "überwiegender Interessen" suspendiert wird und damit auch die Erfolgsabwendungspflicht entsprechend begrenzt, besteht eben gerade nicht, wenn die Befolgung der Handlungspflicht lediglich mit Eigeninteressen des Täters kollidiert 21i •

bb) Die Wahrnehmung "gleichwertiger Interessen" als Prinzip der Unrechtsneutralisierung Zu erwägen bleibt indes, ob jene für die Ptlichtenkollision erarbeiteten Beurteilungsmaximen über ihren unmittelbaren Anwendungsbereich hinaus auf ein allgemeines Prinzip zurückweisen, das auch in 216 Schmidhäuser, Allg. Teil, S.690, spricht zwar von der "allgemeinen Pflicht" jedes Menschen, "auch Leib und Leben seiner selbst zu erhalten" (vgl. auch Festschrift für Welzel, 1974, S. 817 ff.), und will damit solche Fälle anscheinend unter den Begriff der Pflichtenkollision bringen. Doch ist die "Selbsterhaltungspflicht" allenfalls eine moralische, keine rechtliche Pflicht (vgl. schon Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, Ausgabe Weischedel, S. 549 ff., 553), der Konflikt daher kein Rechtspflichtenkonflikt; und selbst wenn er es wäre, kann er nicht ohne weiteres im Rückgriff auf die Maßstäbe gelöst werden, die für gewöhnliche Handlungspflichtenkollisionen gelten. 217 Daran zeigt sich übrigens deutlich vgl. Fußn. 216 -. daß die für die Pflichtenkollision geltenden Maßstäbe versagen, sobald auf der "Eingriffsseite" eine echte, in einem Handlungsverbot fundierte Unterlassungspflicht nicht verletzt werden kann, weil eine bloße "Selbsterhaltungspflicht" des Täters an ihre Stelle tritt.

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solchen Fällen weiterführt: einen Grundsatz etwa des Inhalts, daß die Erfüllung der Erfolgsabwendungspflicht vom Recht generell nicht mehr gefordert wird, wenn sie zugleich Interessen beeinträchtigen müßte, die mit den durch die Pflichtbefolgung erhaltenen (also durch die Unterlassung "verletzten") Werten gleichrangig sind. Gäbe es ein solches Prinzip, so wäre konsequenterweise unerheblich, ob die Erfolgsabwendung zum Schutze eigener oder fremder Rechtsgüter unterbleibt; die mit der Unterlassung verbundene Wahrnehmung "gleichwertiger Interessen" hätte in jedem Fall erlaubnisbegründende Wirkung. Ich meine nun in der Tat, daß im Bereich der Garantenunterlassung ein derartiges Leitprinzip der Unrechtsneutralisierung gilt, das über den Bezirk der Pflichtenkollision hinausreicht und gleichsam das Gegenstück darstellt zum Grundsatz des überwiegenden Interesses bei den Begehungsdelikten. Zur Begründung läßt sich zweierlei geltend machen. Zunächst eine mehr formal-begriffliche Überlegung: Repräsentieren die kollidierenden Rechtsgüter - z. B. das Leben des in Gefahr geratenen Kindes einerseits und andererseits das Leben des rettungspflichtigen Vaters, der mit der Hilfeleistung seine physische Existenz aufs Spiel setzen müßte - nach den Wertmaßstäben des Rechts "gleichwertige" Interessen, so bedeutet dies, daß der Rechtsordnung die Integrität dieser Güter im Konfliktsfall "gleich wichtig" ist und daher eine Vorzugsentscheidung zugunsten des einen oder anderen nicht getroffen werden kann; die Garantenpflicht als solche begründet ja, wie sich schon in anderem Zusammenhang gezeigt hat218 , keinen Wertvorzug für das jeweils begünstigte Rechtsgut, da der "Pflichtwert" immer nur die Wertqualität der Interessen reflektiert, auf deren Erhaltung sich das Pflichtgebot bezieht. Dann aber besteht für das Recht kein Anlaß - wäre es sogar ein Widerspruch in den Bewertungsprinzipien -, das Rechtsgut, dessen Schutz die Erfolgsabwendungspflicht dient, gegenüber den rechtlich gleichermaßen schutzwürdigen Interessen des Garanten dadurch zu bevorzugen, daß dieser zur Erfüllung des Handlungsgebots verpflichtet bleibt. Die "Gleichwertigkeit" der Interessen findet vielmehr adäquaten und widerspruchsfreien Ausdruck nur in einer Lösung, die dem Täter freistellt, ob er seiner Pflicht zum Handeln nachkommen will oder nicht, also das Unterlassen gestattet. Daß bereits die Wahrnehmung gleichwertiger Eigeninteressen der Garantenunterlassung ihren Unrechtscharakter nimmt, verdeutlicht aber noch eine weitere Erwägung; sie berücksichtigt zugleich den in der Dialektik solcher Konfliktsentscheidungen angelegten Einwand, daß eine Freistellung vom Pflichtgebot, die aus der fehlenden Vorzugswürdigkeit des durch die Handlungspflicht begünstigten Rechts218 Vgl. oben S. 32 ff.

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guts abgeleitet wird, in ihrer Konsequenz zur faktischen Bevorzugung der - doch ebenfalls nicht "vorzugswürdigen" - Garanteninteressen führt und daher auch insoweit der Legitimation bedarf. Muß zur Abwendung einer Gefahr aktiv in eine fremde Gütersphäre eingegriffen werden, so reguliert das in § 34 StGB kodifizierte Interessenabwägungsprinzip über die Voraussetzungen rechtmäßigen Notstandshandelns auch den Umfang der Duldungs- und Aufopferungspflicht, die dem vom Eingriff Betroffenen auferlegt wird: Da der Notstandstäter allein wesentlich "geringerwertige" Interessen in Anspruch nehmen darf und auch dies nur in den Schranken der "Angemessenheit" -, findet die in § 34 StGB vorausgesetzte Verpflichtung jedes Rechtsgutsträgers zu einem gewissen Maß an Solidarität219 dort ihre Grenze, wo ihm zugemutet würde, die Beeinträchtigung zumindest "gleichwertiger" Eigeninteressen hinzunehmen. Daß in diesem Fall das Eingriffsgut, obwohl "an sich" - sozialethisch-wertrational - nicht vorzugswürdig, doch faktisch gegenüber dem in Gefahr geratenen Rechtsgut bevorzugt wird, erklärt sich nicht nur aus der Friedensschutzfunktion des Rechts, der es widerspräche, eine Störung der bestehenden Ordnung zu tolerieren, die nicht zugleich die Chance einer relativen "Verbesserung" der Lage 220 enthält1!21. Diese faktische Bevorzugung beruht darüber hinaus auf einem elementaren Gebot individueller Gerechtigkeit: Das Recht kann vom einzelnen eine Solidarisierung mit fremdem Schicksal, die sogar die Preisgabe schutzwürdiger - und ihrerseits rechtlich garantierter - Eigeninteressen einschließt, allenfalls dann verlangen, wenn ein derartiges Opfer zur Erhaltung eindeutig "höherer Werte" zwingend erforderlich ist; im übrigen muß jedermann die Risiken des Lebens und daraus resultierende Schäden selbst tragen, darf sich nicht auf Kosten anderer salvieren222 . 219 Vgl. etwa Wessels, Allg. Teil, S.58, 61. 220 - durch Abwendung eines sonst unausbleiblichen größeren Schadens -. 221 Daß der Notstandseingriff in Güter des einzelnen nicht nur individuelle Belange beeinträchtigt, sondern auch eine "Störung des allgemeinen Rechtsfriedens" darstellt und damit zugleich Ordnungs- und Friedensschutzinteressen des Rechts berührt, wird in der Literatur zu Recht hervorgehoben. Daraus wird meist die Forderung abgeleitet, dieses "zusätzliche" Eingriffsmoment bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen. Vgl. insbes. Blei, Allg. Teil, S. 151 f.; Henkel, Der Notstand nach gegenwärtigem und künftigem Recht, S. 86; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S.113 f.; Maurach, Kritik der Notstandslehre, S.34, 80, 84; Stratenwerth, ZStW 68 (1956), S. 52 f., mit Hinw. auf die ältere Literatur in Fußn.32. - Die Friedensfunktion des Rechts kommt jedoch bereits in der Struktur des Interessenabwägungsprinzips selbst zur Geltung: Die Rechtsordnung nimmt friedensstörende Notstandshandlungen nur hin, wenn sie ex ante betrachtet im Vergleich mit der Lage, die ohne den Eingriff bestände, die Situation "verbessern"; bei bloßer "Gleichwertigkeit" der kollidierenden Interessen gibt das Recht dagegen der Erhaltung des bestehenden Zustandes, dem "Rechtsfrieden", den Vorzug! 222 Vgl. dazu schon Graf zu Dohna, Die Rechtswidrigkeit. S.128. Siehe auch Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S.I11.

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Unter diesem Blickwinkel drängt sich die überlegung auf, daß diese Opfergrenze auch für den Garanten gilt, der bei einer dem Schutzbefohlenen drohenden Gefahr seine Erfolgsabwendungspflicht nur unter Verletzung oder Gefährdung eigener Rechtsgüter erfüllen könnte. Zwar ist er, abweichend von der in § 34 StGB beschriebenen Konstellation, keinem auf fremder Initiative beruhenden Eingriff in seine Gütersphäre ausgesetzt; vielmehr impliziert die Pflichtbefolgung für ihn die Notwendigkeit, seinen Interessenkreis selbst zu beeinträchtigen. Von dieser Differenz abgesehen, befindet sich der Garant im Falle der Pflichterfüllung jedoch in der gleichen Situation, wie sie bestände, wenn der Schutzbefohlene zur Gefahrabwendung in seinen Interessenbereich schädigend oder zumindest gefährdend eingreifen würde. Das vom Garanten geforderte Sonderopfer ist hier wie dort substantiell dasselbe; der Unterschied liegt lediglich im Modus seiner Realisierung (Duldung einerseits, eigenes Handeln andererseits)=. Angesichts dieser Vergleichbarkeit der Opferlage erscheint es daher nur folgerichtig, auch im Rahmen der Garantenpflicht prinzipiell kein höheres Maß an Solidarität zu verlangen, als der Destinatär des Pflichtgebots bei einem aktiven Eingriff in die Interessensphäre des Garanten fordern dürfte. Nun ändert aber das Faktum, daß der Eingriffsadressat zugleich Garant für die Integrität des Rechtsgutes ist, welches durch den Notstandsakt geschützt werden soll, offenbar nichts an der eingriffsbegrenzenden Grundregel des § 34 StGB, nach der zur Beseitigung einer Notstandslage nur wesentlich "geringerwertige" Fremdinteressen in Anspruch genommen werden dürfen - die Garantenposition des Betroffenen modifiziert allenfalls, worauf noch zurückzukommen sein wird, die Maßstäbe der Interessenbewertung -; denn die Garantenpflicht ist ja primär und spezifisch Schutz- und Fürsorgepflicht, nicht aber eine umfassende Aufopferungspflicht, die den Begünstigten zur schrankenlosen Durchsetzung seiner Belange berechtigen würde. So wenig der Garant deshalb einen vom Schutzbefohlenen ausgehenden Eingriff in (zumindest) "gleichwertige" Eigeninteressen hinnehmen müßte, so wenig kann konsequenterweise von ihm verlangt werden, derartige Interessen durch eine der Erfolgsabwendung dienende Handlung selbst preiszugeben. Ein Opfer dieser Qualität und Werthöhe darf er in jedem Fall verweigern, mit der Folge, daß die Nichterfüllung seiner Handlungspflicht insoweit erlaubt sein muß224. Dabei dürfte es 223 Vgl. dazu auch PhUipps, Der Handlungsspielraum, S.70: "Zwar ist es niemandem verboten, sich selbst Schaden zuzufügen; doch wenn er ... zu Handlungen verpflichtet wird, durch die er sich selbst schädigen würde, so sind seine Interessen diesen Pflichten gegenüber genauso schutzwürdig wie gegen (?) die Handlungen anderer." 224 Dies gilt auch insoweit, als die Unzulässigkeit des hypothetischen Notstandseingriffs etwa aus der "Angemessenheitsklausel" des § 34 StGB abgeleitet wird. Sollte es wirklich Fälle geben, in denen zwar zugunsten

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auch keinen grundsätzlichen Unterschied ausmachen, ob der Garant im Zeitpunkt der Aktualisierung seiner Handlungspflicht bereits gefährdet ist, oder ob er erst durch die Pflichtbefolgung in Gefahr geraten würde. Für die Bewertung seiner Interessen kommt es, unabhängig von solchen Modalitäten der tatsächlichen Ausgangssituation, entscheidend auf das jeweilige Maß der Eigengefährdung= oder gar Selbstschädigung an, das mit der Erfolgsabwendung verbunden wäre. Stellt sich die Unterlassung danach im Verhältnis zu der Rechtsgütereinbuße, deren Abwendung der Garant unterläßt, als Wahrnehmung "gleichwertiger Interessen" dar, so ist ihm Passivität gestattet.

cc) Unterschreitung der Gleichwertigkeitsschwelle und Unrechtsausschluß Nach alledem sprechen gute Gründe dafür, bei der Garantenunterlassung die Erlaubnisanforderungen nicht nach dem für Begehungsdelikte geltenden, sehr strengen Prinzip des "überwiegenden Interesses" zu bestimmen, sondern sie - im dargelegten Sinn - wesentlich niedriger anzusetzen 226 • Ob freilich die Schwelle der Interessen"gleichwertigkeit" sogar noch unterschritten werden kann, wie es der Sache nach jene Lehre fordert, die bereits der Gefährdung "erheblicher" billigenswerter Eigeninteressen pflichtbegrenzende Wirkung zuerkennt227 , erscheint höchst zweifelhaft. Die zuvor unternommene Analyse der Opferlage, die gezeigt hat, daß sich der zur Selbstgefährdung genötigte Garant materiell in der Position eines vom Notstandseingriff Betroffenen befindet, verbietet m. E. eine derart weitgehende Herabsetzung der Pflichtanforderungen. Da nämlich der Garant einen aktiven Eingriff des Gefährdeten dulden muß, der den Schutz wesentlich überwiegender Interessen bezweckt, gibt ihm die Wahrnehmung ledigdes Notstandstäters ein "wesentlich überwiegendes Interesse" bejaht werden kann, gleichwohl aber die "Angemessenheit" der Tat verneint werden muß, so zeigt eben die "Unangemessenheit" die Opfergrenze an, um die es im vorliegenden Zusammenhang geht. - Hier und im folgenden Text wird aus Gründen der Vereinfachung zwischen der Interessenabwägung im engeren Sinn und der Angemessenheitsprüfung nicht differenziert. Unter dem Begriff "Gleichwertigkeit der Interessen" werden vielmehr alle Konstellationen zusammengefaßt, in denen die Garanteninteressen entweder für sich betrachtet oder aus Gründen der "Angemessenheit" hinter den Interessen des Schutzbefohlenen nicht zurückstehen müssen. Dieser Vereinfachung liegt die überzeugung zugrunde, daß sich die Angemessenheitsklausel auf den Gedanken der Interessenabwägung zurückführen läßt und inhaltlich keine selbständige Bedeutung hat. Zum Streitstand in diesem Punkt vgl. Jescheck, Allg. Teil, S.291 mit Fußn.35. Vgl. auch unten S. 106 Fußn.258. 225 bzw. Gefahrsteigerung -. 226 Daß auch der Garant, ebenso wie der Begehungstäter, sich rechtmäßig verhält, wenn er mit seiner (Unterlassungs-)Tat sogar "wesentlich überwiegende" Interessen schützt, bedarf andererseits keiner weiteren Darlegung. Vgl. auch oben S.88 Fußn.205. 227 Vgl. die Hinweise oben S.89 Fußn.206.

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lich geringerwertiger eigener Belange keine Legitimation zur Vernachlässigung seiner Handlungspflicht; ein Opfer, das in dem Verzicht auf die Erhaltung weniger wertvoller Eigeninteressen besteht, hat er daher in Erfüllung seiner Handlungspflicht ebenso zu erbringen, wie er es bei einem entsprechenden Eingriff in seine Gütersphäre hinnehmen müßte. Die Erwägung, daß die Unterlassung der durch ein Garantieverhältnis geforderten Erfolgsabwendung regelmäßig einen geringeren Unrechtsgehalt aufweise als die vergleichbare tätige Erfolgsherbeiführung, stellt diese Konsequenz nicht in Frage; denn sollte eine solche Unwertdifferenz zwischen Handeln und Unterlassen bestehen228, so ist sie mit der Reduzierung der Rechtmäßigkeitsanforderungen auf das mittlere Niveau der "Interessengleichwertigkeit" bereits angemessen berücksichtigt. Durch die erfolgsabwendende Handlung betroffene "billigenswerte" Garanteninteressen, die dieses Niveau nicht erreichen, können daher lediglich Anlaß zu einer Entschuldigung der Unterlassungstat geben ob dabei über die Grenzen des § 35 StGB hinausgegangen werden kann, ist wiederum eine Frage für sich -. Darin zeigt sich die relative Berechtigung der Auffassung, daß die "Unzumutbarkeit", soweit sie für das unechte Unterlassungsdelikt Bedeutung gewinnt, überhaupt nur ein Entschuldigungsproblem sei. Diese Ansicht ist freilich insofern zu einseitig, als sie außer acht läßt, daß sich hinter dem Globalbegriff der "Unzumutbarkeit norm gemäßen Verhaltens" auch Sachverhalte verbergen, die schon das Unterlassungsunrecht suspendieren: eben die Fälle, in denen die Nichtbeachtung des Garantengebots durch die Wahrung mindestens gleichrangiger Eigeninteressen legitimiert wird (aber auch nur diese Fälle). d) Die systematische Einordnung des Prinzips gleichwertiger Interessenwahrnehmung

Bei einer Blickwendung von den sachlich-inhaltlichen Kriterien der Unrechtsbegrenzung, denen bisher unsere Aufmerksamkeit galt, zu ihrer Einordnung in den Deliktsaufbau verbleibt dann noch das Problem, auf welcher Systemstufe die erlaubnisbegrundende Maxime der "Wahrnehmung gleichwertiger Interessen" ihre Rangstelle findet: Entfaltet sie ihre unrechtsbegrenzende Wirkung bereits in Gestalt eines Tatbestandskorrektivs, oder läßt sie - als echter Rechtfertigungs228 Vgl. dazu die ausführliche übersicht bei Eggert, Die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens, Diss. Göttingen 1969, S. 106 ff.; ferner z. B. Grünwald, GA 1959, 115; Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 300; Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte und der Gedanke der Ingerenz, 1966, S. 64 f.; Roxin in: Einführung in das neue Strafrecht, 2. Aufl. 1975, S. 9.

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grund - die Tatbestandskongruenz des Unterlassens unberührt229 ? Diese Systemfrage, die für Irrtumskonstellationen bedeutsam ist2!l0, auf der heute weitgehend akzeptierten Arbeitsbasis der sog. "eingeschränkten Schuld theorie " und gleichgerichteter Lehren allerdings ihre praktische Relevanz verloren hat, führt in die noch ungesicherte Tatbestandsstruktur des unechten Unterlassungsdelikts und im Zusammenhang damit in die ebenfalls noch ungeklärte Problematik der Entsprechungsklausel (§ 13 StGB) - Themen, die an dieser Stelle nicht in extenso verfolgt werden können. Deshalb nur einige knappe Bemerkungen zu diesem Problemkreis:

aa) Die Maxime der Wahrnehmung gleichwertiger Interessen als Rechtfertigungsprinzip Es ist heute weithin anerkannt, daß der Tatbestand des unechten Unterlassungsdelikts, soweit es um den systematischen Ort des "Einstehenmüssens"231 geht, nicht die Handlungspjlicht selbst umfaßt, sondern nur ihr rechtlich-soziales Substrat: das "Garantieverhältnis" als Summe der Merkmale einer Garantenstellung=. In der Logik der damit getroffenen Differenzierung zwischen dem pflichterzeugenden Sachverhalt und der Wertung seiner rechtlichen Konsequenzen als "Pflicht" liegt die Tendenz, dieses Grund-Folge-Modell auch auf unrechtsneutralisierende Unzumutbarkeitssituationen anzuwenden. Danach würde die Sachlage, die das Unterlassen des Garanten als Wahrnehmung zumindest gleichrangiger Interessen ausweist (und deshalb seine Erfolgsabwendungspflicht suspendiert), als negative pflichtregulierende Komponente der Garantenstellung zum Tatbestand des Unterlassungsdelikts gehören; die festgestellte Erlaubniswirkung der Unzumutbarkeitssituation wäre nur der Reflex eines solchen Mankos im Garantieverhältnis233 . Diese Konzeption würde gewiß das Bedürfnis 220 Die erste Alternative entspricht der verbreiteten Auffassung, daß bei der unechten Unterlassung die "Unzumutbarkeit" tatbestandsausschließend wirke. Vgl. die Hinw. oben S.89 Fußn.206. 230 Zum Irrtum über die "Unzumutbarkeit" beim Unterlassungsdelikt vgl. vor allem Schaffstein, Festschrift für OLG Celle, 1961, S. 204 ff. 231 Vgl. § 13 StGB: " ... wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt ... " 232 Vgl. z. B. BGHSt 16, 155; Baumann, Allg. Teil, S. 250 f.; Geilen, JuS 1965, 426; Jescheck, Allg. Teil, S.512; Lackner, § 15 Anm. II 1 c; Roxin, Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale, 2. Aufl. 1970, S. 142 f.; Schaffst ein, Festschrift für OLG Celle, 1961, S. 200 ff.; a. A. etwa Engisch, Festschrift für Mezger, 1954, S.158; Henkel, ebenda, S. 281 f.; Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 206; Kienapfel, JBl1975, 14; Schmidhäuser, Allg. Teil, S.664. Vgl. auch Herzberg, Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 1972, S. 27 ff., der zwischen "Garantenpflicht" und "Erfolgsabwendungspflicht" unterscheidet. 233 Dies entspräche Henkels Verständnis der "Unzumutbarkeit" als Tatbestandsregulativ: "Sie ist ein regulatives Element zur konkreten Bestim-

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nach einem einheitlichen "Irrtumstatbestand" , der als Bezugsobjekt des Vorsatzes alle für Begründung und Begrenzung der Garantenpflicht relevanten Sachverhaltsmomente umfaßt, am besten befriedigen 234 • Unterscheidet man indessen auch beim unechten Unterlassungsdelikt, wie bei der Begehungstat, zwischen der Erfüllung des Unrechtstypus (Tatbestandsmäßigkeit) und der Rechtswidrigkeit seiner Verwirklichung im konkreten Fall235 , so besteht kein Anlaß, in den Unrechtstatbestand den gesamten Sachverhalt einzubeziehen, aus dem die positive oder negative Entscheidung über die Erfolgsabwendungspflicht des Täters resultiert. Dem Typusgedanken entspricht vielmehr die Berücksichtigung lediglich derjenigen Elemente des Pflichtsubstrats, die generell, unabhängig von entgegenstehenden Integritätsinteressen des Täters, für ihn das Gebot begründen, den Erfolgseintritt zu verhindern. Zum Tatbestand gehört danach nur die elementare Schutzbeziehung des Garanten zu dem gefährdeten Rechtsgut, die Sonderverantwortlichkeit für dessen Bestand, also die Garantenstellung im eigentlichen Sinn, während die atypischen Umstände, die bei einer Kollision mit Eigeninteressen des Garanten seine Handlungspflicht beseitigen, Merkmale eines Rechtfertigungsgrundes sind. Die Angemessenheit dieser Unterscheidung wird auf dem Hintergrund einer wertmaterialen Betrachtung des Verhältnisses von Unrechtstatbestand und Rechtfertigung236 noch deutlicher. Eine Unterlassung, die trotz an sich bestehender Garantenpflicht wegen Unzumutbarkeit der Pflichtbefolgung kein Unrecht darstellt, ist - wie wir schon gesehen haben - ihrer Wertstruktur nach eine "acti%missio duplex"237, ein doppeIgesichtiges Verhalten, dessen materialer Gehalt infolge der Kollision von Fremd- mit Eigeninteressen durch negative und positive Bewertungsaspekte bestimmt wird: Der Unterlassende mißachtet den Integritätsanspruch des Rechtsgutes, zu dessen Erhaltung er kraft seiner im Tatbestand umschriebenen besonderen Schutzbeziehung aufgerufen ist und "verletzt" dadurch dieses Gut; andererseits "beachtet" und schützt er jedoch eigene billigenswerte Interessen, die mung des tatbestandlichen Unrechtsbereichs der unechten Unterlassungsdelikte" (Festschrift für Mezger, 1954, S. 281). 234 Vgl. auch Schaffstein, Festschrift für OLG Celle, 1961, S.205. 235 Grundlegend zum Tatbestand als Unrechtstypus Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, S. 32 ff. (vgl. zur Unterlassung S.27 Fußn. 32); ferner z. B. Lenckner in Schönke / Schröder, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr.48; Wessels, Allg. Teil, S.26. - Vgl. aber auch Schmidhäuser, Festschrift für Engisch, 1969, S. 433 ff., 450 ff., Allg. Teil, S. 285 f.; sowie zuletzt Rödig, Festschrift für Lange, 1976, S. 39 ff., 49 f. 236 Dazu schon Nowakowski, ZStW 63 (1951) S. 287 ff., 329; Schmidhäuser, Festschrift für Engisch, 1969, S. 441 ff., 450 ff., Allg. Teil, S. 282 f. 237 In Anlehnung an Nowakowski, ZStW 63 (1951) S.329: "Die gerechtfertigte Handlung ist immer eine actio duplex: Sie läßt einen Unwert befürchten und einen Wert erhoffen."

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ebenfalls vom Recht anerkannt und mit einem Achtungsanspruch ausgestattet sind (sonst wären sie für die Rechtswidrigkeitsbeurteilung belanglos). Die Suspendierung der Handlungspflicht geht infolgedessen darauf zurück, daß die Rechtsordnung um der Erhaltung der Garanteninteressen willen den mit der Rechtsgutsverletzung begründeten Unwert in Kauf nimmt. Wir finden daher in den Situationen "unzumutbaren" garantengemäßen Handeins, soweit sie das Unrecht berühren, die gleiche axiologische Struktur wieder, die für die Beziehung von Unrechtstypus und Rechtfertigung überhaupt charakteristisch ist: "Im Unrechtstatbestand ist der Unwert einer Rechtsgutsverletzung, im Rechtfertigungsgrund der Wert einer Gutsbeachtung erfaßt23B ." Der Unterschied zur Rechtfertigung der Begehungstat besteht lediglich darin, daß die Rechtsordnung - aus den bereits dargelegten Gründen an den "Wert der Gutsbeachtung" geringere Anforderungen stellt und schon die Wahrnehmung gleichwertiger Interessen genügen läßt.

bb) Friktionen im Hinblick auf die Entsprechungsklausel des § 13 Abs. 1 StGB Ist also die unrechtsausschließende "Unzumutbarkeit norm gemäßen Verhaltens" ihrer sachlichen Struktur nach ein Rechtfertigungsgrund, so könnte der damit vorgezeichneten deliktssystematischen Einordnung nur noch die Entsprechungsklausel des § 13 Abs.1 StGB im Wege stehen, falls sie nämlich den Zweck hat, daß beim unechten Unterlassungsdelikt bereits im Tatbestandsbereich eine komplexe Gesamtbewertung aller wesentlichen Umstände stattfinden soll, die sich auch auf die Unzumutbarkeit des gebotenen Handeins erstreckt. Der subjektive Wille des Gesetzgebers scheint tatsächlich in diese Richtung zu gehen239 • Unabhängig von der noch nicht abschließend geklärten Kontroverse um den genaueren Inhalt der KlauseP~40 läßt sich indessen jedenfalls für die hier diskutierte Unzumutbarkeitsproblematik sagen, daß der objektive Sinn und die Funktion des § 13 Abs. 1 StGB - also die für die Auslegung vorrangig maßgebenden Kriterien - zu einer solchen Deutung weder zwingen noch sie auch nur plausibel erscheinen lassen (eine Deutung übrigens, deren Konsequenz es wäre, daß sich im Bezirk 238 Vgl. Schmidhäuser, Allg. Teil, S.282. 239 Vgl. die Amtl. Begründung zum E 1962, BT-Drucks. IV/650, S. 125 f., in der sogar die Auffassung vertreten wird, die bisher von der Rechtsprechung wegen Unzumutbarkeit lediglich entschuldigten (l) Unterlassungen seien unter dem Aspekt der Gleichwertigkeitsklausel bereits nicht mehr tatbestandsmäßig. 240 Vgl. aus der Literatur etwa Blei, Allg. Teil, S. 295 f.; Herzberg, Die Unterlassung im Strafrecht, S. 60 ff.; Kienapfel, ÜJZ 1976, 197 ff.; Rudolphi, SK, § 13 Rdnr. 16 ff.; ders., Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte, S. 55 ff.; Roxin, Einführung in das neue Strafrecht, S. 4 ff.;Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen und Strafgesetz, S. 319 ff.; Stree in Schönke / Schröder. § 13 Rdnr.4. 7'

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des unechten Unterlassungsdelikts alle irgendwie strafwürdigkeitsrelevanten Faktoren, gleich welcher sachlich-systematischen Herkunft, in positive oder negative "Tatbestandselemente" verwandeln würden!). Die Entsprechungsklausel hat die Aufgabe, einer zu kurz greifenden Strafbarkeitsbegründung entgegenzuwirken, die sich daraus ergeben kann, daß die tatbestandsbildende Gleichstellungsprüfung auf das Garantenproblem verengt wird. Rechtfertigungs- (und Entschuldigungs-)gründe wie die "Unzumutbarkeit" verhindern jedoch ohnehin, kraft ihrer systematischen Wirkung, eine Bestrafung des Unterlassungstäters; einer komplexen Gleichstellungsprüfung auf der Tatbestandsebene, die eine "voreilige" Begründung der Strafbarkeit verhindert, bedarf es insoweit nicht. Deshalb haben solche Ausschlußgründe in der Entsprechungsklausel des § 13 Abs.1 StGB keinen sinnvollen Platz. Selbst wenn die Klausel eine Gesamtbewertung zum Inhalt haben sollte, die über die Ermittlung der sog. "Modalitätenäquivalenz" hinausreicht241 , würde daher die Frage der "Unzumutbarkeit" nicht in diesen Zusammenhang gehören: Es bleibt somit bei der Einordnung als Rechtfertigungsproblem. e) Zur Konkretisierung der Gleichwertigkeitsmaxime

Mit dem Gedanken, daß die "Unzumutbarkeit", soweit sie sich auf die Wahrnehmung gleichwertiger Eigeninteressen zurückführen läßt, im Bereich der Garantenunterlassung das Unrecht ausschließt, ist freilich nur das Grundprinzip der Rechtfertigung benannt. Es bedarf der näheren Konkretisierung im Einzelfall: Unter welchen Voraussetzungen kann bei einer mit der Erfolgsabwendung verbundenen Selbstgefährdung - oder Selbstaufopferung - des Garanten von einer "Gleichwertigkeit" seiner Interessen gesprochen werden? Es versteht sich von selbst, daß sich hierfür ebensowenig eine subsumtionsfähige Formel finden läßt wie bei der Bestimmung des "überwiegenden" Interesses. Die bekannten und notorisch komplexen Bewertungsprobleme, die im Rahmen der Interessenabwägung (§ 34 StGB) auftreten 242 , kehren im Bezirk der rechtfertigenden Unzumutbarkeit wieder, wobei sich lediglich die Perspektive insofern ändert, als es nicht auf das "wesentliche überwiegen", sondern auf die bloße "Gleichrangigkeit" ankommt. Immerhin hat aber die Diskussion über den Inhalt der Interessenabwägungsklausel, so bruchstückhaft ihre Ergebnisse bisher auch geblieben sind, gewisse Richtlinien aufgezeigt, deren Beachtung auch die Konkretisierung der Gleichwertigkeitsmaxime zu fördern vermag. Mit Dafür z. B. Blei, Allg. Teil, S. 296. Vgl. dazu etwa die übersicht bei Lenckner in Schönke / Schröder, § 34 Rdnr. 22 ff. Zu den Konkretisierungsproblemen in einem speziellen Fall Kollision von Vermögenswerten - vgl. auch meinen Beitrag, JZ 1976, 515 ff. 241

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dem Versuch, im Rückgriff auf derartige Richtwerte in das Prinzip der "Wahrnehmung gleichwertiger Interessen" schärfere Konturen einzuzeichnen, sollen die überlegungen zu diesem Problemkomplex abgeschlossen werden.

aa) Die "Unzumutbarkeitsgrenze" bei Selbstschädigung Dabei ist zunächst an den in anderem Zusammenhang herausgearbeiteten Befund zu erinnern, daß der Destinatär des Erfolgsabwendungsgebots vom Garanten kein höheres Maß an Solidarität verlangen kann, als er bei einem schädigenden oder gefährdenden Eingriff in dessen Rechtsgütersphäre fordern dürfte. Dies folgt, wie dargelegt wurde, aus der Vergleichbarkeit der Opferlage24:f. Darauf ist an früherer Stelle die These gestützt worden, daß die für die Rechtfertigung der Unterlassung maßgebende Zumutbarkeitsgrenze durch die "Gleichwertigkeit" der auf dem Spiel stehenden Garanteninteressen markiert wird; aber auch das Gleichwertigkeitsprinzip selbst gewinnt von hier aus an Profil und Substanz. Haben nämlich die Interessen, die der Garant bei Vornahme der Erfolgsabwendungshandlung preisgeben müßte, derartiges Gewicht, daß sie der Schutzbefohlene auf Grund allgemeiner Notstandsregeln nicht in Anspruch nehmen dürfte, so zeigt sich eben daran, daß sie nach den Maßstäben des Rechts nicht wesentlich geringerwertig und folglich - zumindest - gleich schutzwürdig sind. Die hypothetische Frage nach der Rechtswidrigkeit einer vom Pfiichtdestinatär ausgehenden Beeinträchtigung derjenigen Garanteninteressen, um die es im Unterlassungsfall geht, erhält daher die Funktion eines "heuristischen Prinzips", das über die Gleichwertigkeit Auskunft gibt. Bereits dieser Gedanke, der das Zumutbarkeitsproblem auf die Maßstäbe der Notstandsrechtfertigung zurückbezieht, erlaubt Folgerungen, die zur Konkretisierung der Gleichwertigkeitsmaxime beitragen. So ist heute wohl unbestritten, daß sogar akute Lebensgefahr dem Notstandstäter prinzipiell kein Recht gibt, einem anderen eine schwerwiegende Körperverletzung zuzufügen244 : das Interesse des Verletzten an der Erhaltung seiner körperlichen Unversehrtheit tritt trotz des Rangunterschiedes der kollidierenden Güter nicht hinter dem Lebensinteresse des Gefährdeten zurück245 • Klammert man das Problem, inwieweit aus der Garantenstellung ableitbare besondere "Gefahrtragungspflichten" diese Wertung modifizieren können, vorläufig noch aus, so ergibt sich für die Unterlassungsfälle die Richtlinie, daß vom Garanten keine Rettungshandlung verlangt werden kann, die für ihn eine gravierende Verletzung seiner Körperintegrität zur Folge 243 244

245

V gl. oben S. 93. f. Vgl. z. B. Samson, SK, § 34 Rdnr.18, mit weit. Hinw. Zur Frage der "Angemessenheit" vgI. oben S.94 Fußn. 224.

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haben würde. Selbst bei einer dem Schutzbefohlenen drohenden Lebensgefahr ist danach jedes Opfer "unzumutbar", das über eine nur geringfügige 24Sa körperliche Selbstschädigung hinausgeht246 .

bb) Die "Unzumutbarkeitsgrenze" bei Selbstgefährdung Schwieriger liegen die Dinge, wenn das erfolgsabwendende Verhalten des Garanten nicht die Verletzung der eigenen Gütersphäre, sondern deren bloße Gefährdung impliziert, also lediglich mit der übernahme eines gewissen Risikos oder dessen Erhöhung verbunden ist. Denn auch für die analogen Eingriffskonstellationen sind die Interessenabwägungskriterien noch wenig geklärt. So hält etwa Lenckner eine zur Abwendung einer konkreten Gefahr vorgenommene Notstandshandlung, die ihrerseits Leib oder Leben Dritter konkret gefährdet, schlechthin für unzulässig, weil eine befriedigende Differenzierung in dem Sinn, "daß die eine Gefahr wesentlich näher liege als die andere", in diesem Bereich "kaum jemals möglich sein" werde 247. Andererseits will z. B. Stratenwerth die notstandsbedingte Herbeiführung sogar einer konkreten Lebensgefahr unter dem Gesichtspunkt des § 34 StGB gerechtfertigt wissen, sofern die gefährdende Handlung der Rettung eines lebensgefährlich Verletzten dient und "die abzuwendende Gefahr wesentlich größer ist als die mit der Rettungshandlung verbundene"248. Hirsch schlägt dazu die "Präzisierung" vor, "daß dabei lediglich geringe konkrete Lebensgefährdungen ausnahmsweise gestattet" sind 249 . Eine hinreichend plausible und zugleich justiziable Lösung, die einerseits den unterschiedlichen Belastungseffekt von verletzendem 24Sa Roxin, KriminalpoIitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl. 1973, S.27, will "ungefährliche und keine Dauerwirkungen hinterlassende körperliche Eingriffe" zulassen. Damit sind in der Sache wohl geringfügige Beeinträchtigungen gemeint, also gravierende Verletzungen ausgeschlossen. 246 Die Rechtswidrigkeit eines erheblichen Eingriffs in die Körperintegrität eines Dritten wird bisweilen mit dem besonderen Unwert der Verletzung fremder Selbstbestimmung begründet, vgl. Hirsch, LK, vor § 51 Rdnr.75; Roxin, KriminalpoIitik und Strafrechtssystem, S.27; Stratenwerth, ZStW 68 (1956) S. 66 f., und Allg. Teil I, S. 144; vgl. auch GaUas, ZStW 80 (1968) S. 1 ff., 23 ff. Dieser spezifische Unwert scheint zu fehlen, wenn dem Garanten eine vergleichbare Selbstschädigung angesonnen wird. Aber nicht nur der von außen kommende Eingriff, auch der Rechtszwang, die eigene körperliche Unversehrtheit handelnd preiszugeben, tangiert insoweit die Autonomie! 247 Vgl. Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S.97, sowie in Schönke / Schröder, § 34 Rdnr. 28 a. E. - Ebenso für Notstandshandlungen im Straßenverkehr Kohlhaas, DAR 1968, 231 ff., 233 ("schon um klare Fronten zu schaffen"); Strutz, DAR 1969, 183. Aus der Rechtsprechung in diesem Sinn etwa OLG Hamm, VRS 20 (1961) S. 232, und dezidiert OLG Karlsruhe, VRS 46 (1974) S.275. 248 Vgl. Stratenwerth, Allg. Teil I, S. 142 f.; ebenso Samson, SK, § 34 Rdnr.15. 249 Vgl. Hirsch, LK, vor § 51 Rdnr. 70 a. E.

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und bloß gefährdendem Notstandseingriff beachtet, ohne andererseits die Solidaritätspflicht des Betroffenen zu überspannen, dürfte in der Tat am ehesten auf der von Hirsch angedeuteten Linie gefunden werden können. Die von Lenckner empfohlene Ausklammerung jeder konkreten Leibes- oder Lebensgefährdung aus dem Rechtfertigungsbereich gerät in Konflikt mit der individualisierenden Tendenz des § 34 StGB und widerspricht dem Gebot des Gesetzgebers, auf der Erhaltungs- und Eingriffsseite der Notstandstat den Grad der jeweiligen Gefahr zu berücksichtigen; dieser Vorschlag vernachlässigt außerdem die Tatsache, daß die Skala "konkreter" Gefahren für Leib oder Leben auch vergleichsweise geringfügige Risiken umfaßt, deren übernahme jedenfalls dann noch erträglich ist, wenn nur dadurch ein akut bedrohtes Menschenleben gerettet werden kann. Eine Abwägung allein nach der "Größe" der Gefahren, wie sie Stratenwerth vorschwebt (womit offenbar die unterschiedliche Wahrscheinlichkeit ihrer Verwirklichung gemeint ist), begegnet allerdings dem Bedenken, daß sie sich praktisch kaum wird durchführen lassen, auch wenn auf eine "wesentliche" Differenz des Gefahrengrades abgehohen wird; diese Methode schließt im übrigen nicht aus, daß der Betroffene, sofern sein Leben in die Zone konkreter Bedrohung gerät, einer Belastung ausgesetzt wird, die in ihrem Gewicht einer verbotenen gravierenden Körperverletzung gleichkommt. So bleibt nur der pragmatische - zugegebenermaßen nicht zwingend begründbare - Ausweg, leibes- oder lebensgefährdende Notstandshandlungen lediglich insoweit zu gestatten, als die verursachte Gefahr verglichen mit der abzuwendenden "unverhältnismäßig gering" ist. Auch im Rahmen dieses "Disproportionalitäts"-maßstabes wird dann allerdings die Einschränkung gemacht werden müssen, daß eine konkrete Lebensgefährdung nur zur Abwendung einer Lebensgefahr, nicht jedoch zur Verhinderung eines bloßen Körperschadens zulässig ist. Für die Unterlassungsfälle folgt daraus die Richtlinie, daß sich der Garant rechtmäßig verhält, wenn die mit der Rettungshandlung verbundene Selbstgefährdung über ein - im dargelegten Sinn - unverhältnismäßig geringes Risiko für Leib oder Leben hinausgeht. Freilich gilt auch für diese Konsequenz der schon beim Problem der zumutbaren Selbstschädigung gemachte negative Vorbehalt2 50 , daß eine etwa bestehende "besondere Gefahrtragungspflicht" nicht zu einer Korrektur des Befundes zwingt.

250

Vgl. oben S. 101.

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f) Gleichwertigkeitsmaxime und "besondere Gefahrtragungspftichten"

aa) Vorüberlegungen Mit diesem Vorbehalt müssen wir uns daher noch beschäftigen. Der bisher unternommene Versuch, der Gleichwertigkeitsmaxime schärferes Profil zu verleihen, hatte sich an der Frage orientiert, inwieweit zur Abwendung eines Notstandes schädigend oder gefährdend in eine fremde Rechtsgütersphäre eingegriffen werden darf. In diesem Zusammenhang ist deutlich geworden, daß derartige Eingriffe, sofern sie das Leben oder die Körperintegrität betreffen, nur in sehr engen Grenzen zulässig sind, in Grenzen, deren Überschreitung anzeigt, daß den jeweils in Anspruch genommenen Interessen bei der Abwägung zumindest gleiches Gewicht zukommt. Dabei ist allerdings außer Betracht geblieben, daß vom Garanten möglicherweise - kraft einer besonderen Gefahrtragungspflicht - ein höheres Maß an Solidarität verlangt werden kann als von beliebigen Dritten, mit der Folge, daß an die "Gleichwertigkeit" seiner Interessen erhöhte Anforderungen zu stellen sind. Vielleicht muß der Garant deshalb bei einem lebenserhaltenden Notstandseingriff, der vom Pflichtdestinatär ausgeht, sogar eine schwerwiegende Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit dulden, und vielleicht beschränkt sich daher seine Verpflichtung zur Risikoübernahme nicht auf "unverhältnismäßig geringe" Gefahren für Leib oder Leben. Eine derart erhöhte Duldungspflicht gegenüber verletzenden oder gefährdenden Eingriffsakten des Schutzbefohlenen würde - konsequenterweise - in den Unterlassungsfällen die für eine "zumutbare" Selbstgefährdung oder Selbstschädigung maßgebende Belastungsgrenze (Gleichwertigkeitsgrenze) entsprechend verschieben. In der Literatur zum rechtfertigenden Notstand stößt man immer wieder auf die Erwägung, daß eine besondere Gefahrtragungs- oder Aufopferungspflicht, wie sie auch bei einer Garantenstellung gegenüber dem gefährdeten Gut angenommen wird, die Interessenabwägung zuungunsten des Verpflichteten beeinflussen kann, und zwar sowohl auf der "Erhaltungs-" als auch auf der "Eingriffsseite" der Notstandshandlung251 • Die Güter des Sonderpflichtigen, so heißt es z. B. bei Lenckner, seien "zwar nicht weniger wert als die anderer", wohl aber - eine notwendige Folge der Pflicht - "wegen der Erhöhung der Opfergrenze weniger schutzwürdig"252. Denn wer in einer besonders engen Beziehung zu dem in Not befindlichen Gut stehe, müsse "weitergehend als andere zu dessen Rettung beitragen": "Dies kann dann 251 Vgl. z. B. Baumann, Allg. Teil, S.359; Blei, Allg. Teil, S.152; Hirsch, LK, vor § 51 Rdnr.75; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 101 f.; Schönke I Schröder, § 34 Rdnr.34; Watzka, Die Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens im strafrechtlichen Notstand, Diss. Freiburg 1967, S. 140 ff. 252 Vgl. Lenckner in Schönke / Schröder, § 34 Rdnr. 34.

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auch die Konsequenz haben, daß er sich Eingriffe in seine eigenen Güter, wenn sie zum Schutz des gefährdeten Guts erforderlich sind, in größerem Umfang gefallen lassen muß. Aus diesem Grund wird man, wenn ein Kind in Gefahr ist, die Opfergrenze bei dem als Garant verpflichteten Vater anders bestimmen als bei einem Dritten, und er wird eher z. B. auch Beeinträchtigungen seiner Körperintegrität hinnehmen müssen als ein völlig Unbeteiligter 253 ." Derartige überlegungen sind freilich, so plausibel sie auf den ersten Blick anmuten, außerordentlich problematisch. Es fällt auf, daß durchweg auf eine genauere Begründung für die "erhöhte Opferpflicht" des Garanten verzichtet wird254 und daß man nirgends etwas über die Maßstäbe erfährt, die dabei angelegt werden sollen. Offenbar befinden wir uns hier auf einem noch weithin unerforschten Terrain, das mit aller Vorsicht sondiert werden muß, will man voreilige Schlußfolgerungen vermeiden. Immerhin kommt man einen Schritt weiter, wenn zunächst unterschieden wird zwischen der herkömmlichen "besonderen Gefahrtragungspflicht", wie sie der Notstandslehre ein prinzipiell vertrautes Phänomen ist255, und der Möglichkeit einer aus dem Garantieverhältnis resultierenden Sonderpflicht zur Hinnahme von Beeinträchtigungen oder Risiken.

bb) Besondere Gefahrtragungspfiicht und Garantenstellung (1) Zur Struktur der "Notpflichten"

Seit langem ist anerkannt - davon war an früherer Stelle schon die Rede256 - , daß es bestimmte Berufsgruppen gibt, die auf Grund ihrer herausgehobenen sozialen PflichtensteIlung bei der Interessen253 254

Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 101 f. Hirsch, LK, vor § 51 Rdnr. 75, meint, beim Bestehen einer besonderen

Schutz- und Beistandspflicht könne der "Gesichtspunkt der Autonomie", der die Zulässigkeit körperlicher Eingriffe sonst weitgehend ausschließe - vgl. oben Fußn.246 -, "eventuell zurücktreten". Doch wird dafür keine nähere Begründung gegeben und der Gedanke auch sonst nicht präzisiert. - Auch die ältere Literatur (vgl. unten Fußn. 255), die sich sonst eingehend mit den "Notpflichten" beschäftigt hat, ist in diesem Punkt unergiebig; einige Andeutungen lediglich bei Oetker, VDA Bd.2, 1908, S.371. Watzka, Die Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens, S.140 ff., der sich ausführlicher mit dem Problem befaßt, beschränkt sich im wesentlichen auf die Behauptung, der Garant dürfe sich "bis zu einem gewissen Grade nicht auf Kosten des zu schützenden Rechtsguts den Gefahren entziehen, zu deren Abwehr er ja gerade ,auf Posten gestellt'" sei (S.142). 255 Vgl. dazu bereits Binding, Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, 1885, S. 780 ff.; BrogZio, Der strafrechtliche Notstand im Lichte der Strafrechtsreform, 1928, S. 48 ff.; Henkel, Der Notstand nach gegenwärtigem und künftigem Recht, S. 131 ff. (mit weit. Hinw. auf die ältere Literatur); Maurach, Kritik der Notstandslehre, S. 112 f.; Oetker, VDA Bd.2, 1908, S. 369 ff.; Siegert, Notstand und Putativnotstand, S. 36 f., 55 ff.; von Weber, Das Notstandsproblem, S. 93 ff. 256 Vgl. oben S. 43 f.

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ab wägung strenger behandelt werden müssen als das Gros der gewöhnlichen Rechtsgenossen. In diesem Zusammenhang werden etwa genannt: Feuerwehrleute, Polizeibeamte, Wettermänner im Bergbau usw. Daß im Hinblick auf den speziellen Pflichtenkreis dieser Personen modifizierte Abwägungskriterien gelten, wenn die Träger solcher Sonderpflichten bei ihrer Tätigkeit selbst in Not geraten oder Notstandshandlungen anderer ausgesetzt sind, ist verständlich und angemessen. Wer einen Beruf ausübt, der ihn der Allgemeinheit gegenüber dazu verpflichtet, notfalls auch akuten Gefahren für Leib und Leben standzuhalten, darf sich bedrohlichen Situationen, in denen diese Verpflichtung zur Risikoübernahme aktuell wird, nicht auf Kosten fremder Interessen entziehen, muß also - im Rahmen seiner Sonderpflicht - gefährdende Eingriffe dulden und auf rechtsgutverletzende Abwehrmaßnahmen verzichten. Dogmatisch bedeutet dies, daß die in die Pflichtbindung "eingebrachten", mit der besonderen Gefahrtragungspflicht gleichsam belasteten Rechtsgüter nicht genügend schutzwürdig sind, um sich im Konflikt mit fremden Interessen durchsetzen oder behaupten zu können; der vom Recht sonst gewährte Schutz wird insoweit eingeschränkt als die Gefahrenlage nur die von vornherein bestehende Verpflichtung zum "Aushalten" der mit der Tätigkeit übernommenen Risiken konkretisiert257 • In den Grenzen der Gefahrtragungspflicht repräsentiert das pflichtgebundene Gut daher weder ein "überwiegendes" noch auch nur ein "gleichrangiges", sondern stets ein bloßes "geringerwertiges" Interesse 258 • Dies gilt freilich nur, soweit die Sonderpflicht reicht: Außerhalb des mit ihr übernommenen Risikos sind auch die Interessen des "Gefahrtragungspflichtigen" voll schutzwürdig, da sie von der einschränkenden Pflichtbindung nicht mehr erfaßt werden. Die Grenze dürfte dort zu 257 Dieser Gesichtspunkt findet sich der Sache nach schon bei Binding, Handbuch des Strafrechts, Bd. I, S.780, wo es heißt: die "Wehrhaftigkeit" eines Gutes könne im konkreten Fall dadurch "verloren gehen", "daß die in Not geratene Persönlichkeit verpflichtet ist, den Notstand ... zu bestehen". 258 Dieser Einfluß der Pflicht auf den Schutzwürdigkeitsgrad des Interesses zeigt übrigens, daß es nicht des vielfach vorgeschlagenen Rückgriffs auf "Angemessenheits"-erwägungen bedarf. um die besonderen Gefahrtragungspflichten beim rechtfertigenden Notstand adäquat berücksichtigen zu können (so zuletzt aber wieder Maurach / Zipf, Allg. Teil, Teilband 1, S. 403 f.); sie finden vielmehr schon in der Interessenabwägungsklausel eine sinnvolle Rangstelle (vgl. Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 127, 131, und in Schönke / Schröder, § 34 Rdnr. 34, 47). Würde es sich hierbei ausschließlich um ein Angemessenheitsproblem handeln, das mit der Interessenbewertung nichts zu tun hat, so wäre überdies keine befriedigende Beurteilung der - immerhin denkbaren - Konstellationen möglich, in denen die Gefahrtragungspflicht auf der Eingriffsseite der Notstandshandlung Bedeutung gewinnt und damit für den Täter (zu Lasten des betroffenen Pflichtträgers) den Spielraum erlaubter Gefahrabwendung erweitert; denn das Angemessenheitserfordernis ist in § 34 Satz 2 StGB lediglich als einschränkendes Element des Rechtfertigungsgrundes formuliert!

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ziehen sein, wo eine "Gefahr" umschlägt in die - erfahrungsmäßige - Gewißheit der Rechtsgutsverletzung 259 • Denn Gefahrtragungspflichten begründen nicht geradezu die Verpflichtung, eine Beeinträchtigung der in das Ptlichtverhältnis eingebrachten Rechtsgüter hinzunehmen; sie beruhen nicht darauf, daß die Interessensphäre ihres Trägers von Rechts wegen eine Einbuße erfahren soll, sind somit keine Aufopferungs-, sondern bloße Risikopflichten 260 • Der Feuerwehrmann etwa ist nicht schlechthin verpflichtet, in Ausübung seines Dienstes zum Schutze anderer "Leib und Leben" aufzuopfern - so wie der Strafgefangene die mit der Haft verbundenen Freiheitsbeschränkungen zu dulden hat -; von ihm wird lediglich verlangt, bei der Ausführung der ihm übertragenen Rettungsaufgaben auch akute Gefahren zu bestehen. (2) Garantenpflicht als "besondere Gefahrtragungspflicht"? Schon dieser kurze Aufriß dürfte deutlich machen: Mit derartigen Sonderpflichten zum "Aushalten" von Gefahren ist die Beistandspflicht, die für den Garanten aus seiner engen Beziehung zum schutzbedürftigen Rechtsgut erwächst, im entscheidenden Punkt nicht vergleichbar. Denn die Erfüllung der genannten Berufspflichten (die freilich auch mit einer Garantenstellung verbunden sein können261 ) enthält typischerweise, nach der Eigenart der geforderten Tätigkeit, gewisse Gefahren für die physische Unversehrtheit oder sogar die Existenz des Verpflichteten; die Sonderpflicht richtet sich daher von vornherein auf die übernahme solcher Risiken, schließt die Gefahrtragung als notwendiges und ursprüngliches Pflichtelement mit ein. Bei der Garantenpflicht fehlt es dagegen an einer derartigen "Typizität" der (mit der Pflichterfüllung verbundenen) Selbstgefährdung und damit an einem Merkmal, das die Risikoübernahme als genuinen und charakteristischen Aspekt der Pflichtenstellung ausweist; der Eintritt einer auch für den Garanten gefährlichen Situation bedeutet hier keinen selbstverständlichen Anwendungsfall der Pflicht, sondern eine atypische Ausnahmelage 262 • 259 Vgl. dazu Henkel, Der Notstand nach gegenwärtigem und künftigem Recht, S. 132: "Ganz allgemein wird man sagen können, daß die Notpflicht ... nicht bis zur Selbstaufopferung, bis zur Gewißheit des Lebensverlustes, reichen darf."; Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S. 92 f.; Siegert, Notstand und Putativnotstand, S.55; von Weber, Das Notstandsproblem, S.93. Vgl. auch Kuhnt, Pflichten zum Bestehen des strafrechtlichen Notstandes, Diss. Freiburg 1966, S.164; Watzka, Die Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens, S. 113 f. 260 Vgl. Oetker, VDA Bd.2, 1908, S.370: "Die Schädigung des bedrohten Gutes als solche ist vom Rechte keineswegs gewollt." 261 Inwieweit dies der Fall ist, soll und kann hier nicht untersucht werden. 262 Das kann allerdings im Einzelfall anders sein: wenn nämlich mit der Ubernahme einer Garantenpflicht - ausdrücklich oder konkludent - zugleich das Risiko der Selbstgefährdung übernommen wird. In diesem Fall

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V. Familiäre Pflichtbindungen und Lebensnotstand

Freilich: Die insoweit fehlende Vergleichbarkeit der Pflichtstrukturen schließt noch nicht zwingend die Möglichkeit aus, daß auch das Garantieverhältnis eine Risiko- oder Aufopferungskomponente gleichsam als peripheres Element - mitenthält. Doch bedürfte ein solcher Befund, da er nicht an ein notwendiges Merkmal der Pflichtenstellung anknüpfen kann, einer besonderen Begründung. Sie könnte allein in der überlegung gefunden werden, daß die Beziehung zwischen dem Garanten und dem ihm anvertrauten Rechtsgut - zumindest bei enger persönlicher Verbundenheit der Beteiligten - eine gesteigerte Pflicht zur Solidarität erzeugt, die sich nicht nur in der Entstehung einer Garantenposition äußert, sondern zugleich die Verpflichtung impliziert, die eigene personale Gütersphäre ("Leib und Leben") zugunsten des Pflichtdestinatärs in größerem Umfang preiszugeben, als dies im Verhältnis zu beliebigen Dritten der Fall ist. Ich sehe indessen keine Möglichkeit, aus der Garantenpflicht so weitreichende Folgerungen abzuleiten. Die gewiß bestehende "Solidarität" gibt nur den Entstehungsgrund der Handlungspflicht an und erklärt ihren Garantiecharakter ("Erfolgsabwendungspflicht"). Aber damit ist keine zureichende Begründung dafür gewonnen, daß die Rechtsgüter des Garanten im "Innenverhältnis" - gegenüber verletzenden oder gefährdenden Eingriffen des Pflichtdestinatärs - erheblich weniger schutzwürdig sind als außerhalb der Solidaritätsbeziehung263'. Auch sind keine besteht dann auch eine Gefahrtragungspflicht. Vgl. Oetker, oben Fußn.260, S. 371 (der bei Garantenstellungen die Gefahrtragungspflicht auf solche Konstellationen beschränken will); Watzka, Die Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens, S. 140 ff. 263 Bei der Notwehr gegenüber einem Angriff des Ehegatten hat die Rechtsprechung (vgl. BGH, GA 1969, 117; NJW 1969, 801; NJW 1975, 62; vgl. auch BGH bei Dallinger, MDR 1958, 12; OLG Stuttgart, NJW 1950, 119) freilich - unter Berufung auf die "Verbundenheit in enger Lebensgemeinschaft" - die Abwehrbefugnis des Angegriffenen erheblich eingeschränkt: Dem bedrohten Ehegatten wird zugemutet. sich auch auf unsichere Abwehrrnaßnahmen einzulassen, wenn er lediglich eine leichte Körperverletzung zu befürchten hat; er darf in diesem Fall ein sicher wirkendes, aber möglicherweise tödliches Verteidigungsmittel nicht einsetzen und muß deshalb notfalls die Körperverletzung hinnehmen. Es wäre indessen voreilig, aus solchen Einschränkungen, deren Legitimität nicht unbestritten und deren Tragweite unklar ist (vgl. näher Deubner, NJW 1969, 1184; Kratzseh, JuS 1975, 435ff.; insbes. die eingehende Analyse von Geilen, JR 1976, 314ff.; ferner Otto, Festschrift für Würtenberger, 1977, S. 148 f.), auf eine infolge der Garantenstellung reduzierte Schutzwürdigkeit der vom Angriff betroffenen Rechtsgütersphäre zu schließen. Die vom BGH praktizierte Restriktion der Notwehr hängt vielmehr - wenn sie Überhaupt berechtigt ist - mit der eigentümlichen Struktur dieses Rechtfertigungsgrundes zusammen. Die enge persönliche Beziehung der Beteiligten verstärkt auf der ErforderHchkeitsebene den Gesichtspunkt der größtmöglichen Schonung ("Prinzip des relativ mildesten Mittels"), der sonst durch den Vorrang des Verteidigungs interesses ("Prinzip des geringsten Risikos", vgl. dazu oben s. 75 f. bei Fußn. 173) Überspielt und weitgehend relativiert wird (vgl. auch Geilen, S. 314 ff. und Otto, S. 148 f.). Deshalb kann der angegriffene Ehegatte darauf verwiesen werden, jedenfalls das mit dem Einsatz eines zweifelhaf-

1. Familiäre Pflicht bindungen und "Innenverhältnis"

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wenigstens einigermaßen verläßlichen Kriterien für die notwendige Begrenzung einer solchen Gefahrtragungs- oder Aufopferungspflicht ersichtlich: In welchem Maße soll der Garant, wenn das Leben seines Schützlings auf dem Spiel steht, z. B. eine gravierende Körperverletzung hinnehmen müssen? Fällt eine schwere Erkrankung, etwa eine Lungenentzündung, noch in den Bereich des Zumutbaren, und wie verhält es sich mit erheblichen Verbrennungen oder sonstigen Verletzungen, die Dauerschäden zur Folge haben? Selbst bei engster persönlicher Verbundenheit, wie sie zwischen nahen Angehörigen besteht, läßt sich der Garantenpflicht kein Maßstab entnehmen, der hier eine befriedigende Differenzierung und Limitierung ermöglicht. Daran zeigt sich zugleich: Jenseits der Gradmarke nur "geringfügiger" Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit beginnt auch für den Garanten der Bezirk freiwilliger Opferbereitschaft, in dem sanktionierte Rechtspflichten - deren Inhalt ohnedies allzu unbestimmt bleiben müßte - ihren Sinn verlieren; und dasselbe gilt, wenn die Schwelle lediglich "unverhältnismäßig geringer" Lebensoder Leibesgefahren überschritten wird. Die Interessen des Garanten können dann nicht mehr als "geringerwertig" eingestuft werden, sondern behalten in der Abwägungsbilanz ihr volles, mindestens "Gleichwertigkeit" begründendes Gewicht; eine an sich pflichtwidrige Unterlassung, die derartige Interessen schützt, ist demgemäß gerechtfertigt. cc) Zusammenfassung Es bleibt somit bei den zuvor herausgearbeiteten Richtlinien für die Konkretisierung des Gleichwertigkeitsprinzips: Auch im Falle einer dem Schutzbefohlenen drohenden Lebensgefahr ist für den Garanten - mit rechtfertigender Wirkung - jedes Opfer "unzumutbar", das über eine nur geringfügige körperliche Selbstschädigung hinausgeht; der unterlassende Garant verhält sich ferner rechtmäßig, wenn die mit der Pflichtbefolgung verbundene Gefahr für Leib oder Leben nicht ten Abwehrmittels verbundene Risiko einer leichten Körperverletzung zu tragen. - Nimmt man mit dem BGH eine noch weitergehende Pflicht sogar zur Duldung von Verletzungen an, so findet sie ihre Erklärung darin, daß der überindividuell-generalpräventive Gedanke der Rechtsbewährung nicht mehr voll zur Geltung kommt, wenn die Beteiligten einander persönlich eng verbunden sind (vgl. Blei, Allg. Teil, S. 137 f.; Lenckner in SchönkeSchröder, § 32 Rdnr.53; vgl. aber auch Geilen, JR 1976, 316): die Notwehrlage entspricht dann in ihrer Wertstruktur weitgehend einer Notstandssituation, bei der es lediglich noch um die Abwägung der individuellen Interessen geht. Insofern ist es für die Beurteilung unseres Problems recht aufschlußreich, daß der BGH die Duldungspflicht neuerdings ausdrücklich auf "leichte Körperverletzungen" beschränkt (BGH, NJW 1975, 62). Darin sieht er offenbar das Maximum dessen, was auch für den Garanten an Aufopferung noch zumutbar ist (ebenso Deubner, NJW 1969, 1184; prinzipiell gegen eine Aufopferungspflicht Geilen, JR 1976, 316).

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V. Familiäre Pflichtbindungen und Lebensnotstand

mehr im Rahmen eines "unverhältnismäßig geringen" Risikos liegt. Es versteht sich, daß diese Richtlinien immer noch einen erheblichen Beurteilungsspielraum offenlassen. Vielleicht können sie in umfassender Einzelfallanalyse, im Durchgang durch den Rechtsstoff, präzisiert und mit subtileren Kriterien angereichert werden. Doch bedürfte es dazu einer besonderen Untersuchung. 2. Die Bedeutung familiärer Pllichtbindungen im "Außenverhältnis" Mit der Frage, welche Bedeutung familiären Pflichtbindungen für die Beurteilung von Notstandssituationen zukommt, haben wir uns bisher unter dem Aspekt beschäftigt, wie weit die Garantenpflicht gegenüber nahen Angehörigen im "Innenverhältnis" reicht, wenn der Garant sich selbst schädigen oder gefährden müßte. Dies ist indessen, wie früher schon angemerkt wurde 26 4, nur die eine Seite des Problems; denn vielleicht hat jene Pflicht auch Wirkungen im "Außenverhältnis" , erweitert sie die Befugnis des Garanten, zugunsten des Schutzbefohlenen in die Rechtssphäre dritter Personen einzugreifen. a) Die herrschende Meinung und die Auffassung Ottos Bei den bisherigen überlegungen zur Pflichtenkollision war freilich die gegenteilige Annahme ausdrückliche oder stillschweigende Grundlage der Argumentation: Die Garantenpflicht - davon wurde in dieser Untersuchung ausgegangen - begründet keinen Wertvorzug für das jeweils begünstigte Rechtsgut; vielmehr wird umgekehrt der konkrete "Pflichtwert" durch den Rang der Interessen bestimmt, auf deren Schutz sich die Erfolgsabwendungspflicht richtet 265 • So ist es denn auch durchaus herrschende Meinung, daß der Garant zur Rettung seines Schützlings fremde Rechtsgüter nur in demselben Umfang in Anspruch nehmen darf wie jeder Dritte266 • atto allerdings, der sich als bisher wohl einziger Autor ausführlicher mit diesem Problem komplex befaßt hat 267 , vertritt für die Situationen, in denen die Garantenpflicht auf enger familiärer Beziehung beruht, eine dezidiert abweichende Auffassung. Zur Illustration bildet er zunächst zwei Beispielsfälle. Im ersten Fall kann ein Busfahrer, dessen Fahrzeug ins Schleudern geraten ist, das Leben seines Kindes nur dadurch retten, daß er in ein entgegenkommendes Auto hineinsteuert und dessen Insassen tötet. Vgl. oben S. 83. Vgl. oben S.92. 266 Vgl. z. B. Hirsch, LK, vor § 51 Rdnr.88; Küper, JuS 1971, 475; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S.5, und in Schönke / Schröder, § 34 Rdnr.4; Samsan, SK, § 34 Rdnr.26. 267 Vgl. Dtto, Ptlichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S. 99 ff. 264

265

2. Familiäre Pftichtbindungen und "Außenverhältnis"

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Der zweite Fall ist ähnlich gelagert: Ein Vater sieht, wie sein Kind im Begriff ist, vor einen "offenen Personenwagen" zu laufen, der sich in zügiger Fahrt nähert. Schnell wirft der Vater seinen Spazierstock nach dem Fahrer, mit der Wirkung, daß dieser die Gewalt über sein Fahrzeug verliert, gegen einen Baum fährt und - wie vorausgesehen - tödlich verunglückt; das Kind wird auf diese Weise gerettet268 . Die Fälle mögen nicht besonders glücklich gewählt sein; es lassen sich gewiß lebensnähere Sachverhalte denken. Doch ist klar, was sie verdeutlichen sollen: es geht um Konstellationen, in denen die Rettung eines nahen Angehörigen aus gegenwärtiger Lebensgefahr nur durch die - aktive - Tötung eines Außenstehenden möglich ist.

Otto hält in solchen Situationen das Verhalten des Vaters für "nicht pflichtwidrig"269. Er begründet dies wiederum mit Reflexionen zur Bedeutung der Familie für die Rechtsgemeinschaft. Den Grundtenor seiner Erwägungen haben wir an anderer Stelle schon kennengelernt270 • Hier versucht der Autor, den Nachweis zu erbringen, daß die "Unbedingtheit" familiärer Schutz- und Beistandspflichten sich auch im Außenverhältnis durchsetzt, d. h. bei Verletzung Dritter zur Aufhebung des Unrechts führt. Diese Konsequenz soll sich - vor dem Hintergrund eines rechten Verständnisses von "Sinn und Gehalt der häuslichen Familiengemeinschaft" - daraus ergeben, daß das Recht die Solidarität naher Angehöriger selbst dann noch "umfassend billigt", wenn sie sich in der Tötung fremder Personen manifestiert271 ; sonst werde das "Bewußtsein unbedingter Verläßlichkeit" zerstört, das die Familie zusammenhalte und sie zur Keimzelle des Gemeinwesens mache. In der "häuslichen Familiengemeinschaft" dürfe deshalb jedes Mitglied von seinen Partnern berechtigterweise erwarten, daß im Notstandsfall eher ein Außenstehender getötet als der Tod eines Angehörigen hingenommen werde: "Das Kind steht den Eltern auch nach dem Willen der Rechtsordnung immer näher als jeder Dritte 272 ." Der Ausschluß der "Pflichtwidrigkeit" bedeute allerdings nicht, daß dem von der Rettungshandlung Betroffenen das Notwehrrecht ge268

Dtto, S. 99. Dtto, S. 101. -

Dtto macht allerdings die Einschränkung, daß die Tötung eines Dritten dann rechtswidrig sei, wenn das gefährdete Familienmitglied "sich aufgrund freier und bewußter Entscheidung in die Gefahr begeben" habe (S. 100). Dies wird nicht näher begründet. Die weitere Einschränkung, daß sich der Täter rechtswidrig verhalte, wenn er die Möglichkeit habe, die Gefahr durch Einsatz des eigenen Lebens abzuwenden (S. 99, 104), ist auf Grund der Ausführungen im "Nachtrag" (S. 117 f.) überholt. Beide Einschränkungen bleiben hier unerörtert. 270 Vgl. oben S. 83 ff. 271 Dies soll auch dann gelten, wenn es sich bei dem getöteten Dritten um eine dem Täter "anvertraute" Person handelt. Vgl. Dtto, S. 102 f., mit Beispielen. Auf diese Problem variante wird hier nicht näher eingegangen. 272 Vgl. Dito, S. 100. 269

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V. Familiäre Pflichtbindungen und Lebensnotstand

nommen werde; denn der Angegriffene brauche eine Notstandstat, die lediglich vom Standpunkt des Angreifers aus pflichtgemäß sei, nicht zu dulden, und allein dieser Gesichtspunkt sei für die "Rechtswidrigkeit" des Angriffs i. S. des § 32 Abs. 2 StGB (§ 53 Abs. 2 a.F.) maßgebend. Dasselbe Resultat (!) soll sich nach Otto aus der "Anwendung des übergesetzlichen Notstandes 273 unter Abwägung der Pflichten" ergeben: "Für den Vater überwiegt das Interesse am Leben seines Kindes, daher handelt er nicht pflichtwidrig. Der Betroffene aber ist nicht verpflichtet, eigene Lebenschancen anderen aufzuopfern. Er darf sich verteidigen. Für ihn überwiegt das Interesse der Selbsterhaltung274 ." Der Autor hat seine Lösung selbst als "eigenartig" empfunden, weil sie zu dem Ergebnis führt, daß der Täter zur Rettung nahestehender Personen Handlungen vornehmen darf, die ihm zum Schutz des eigenen Lebens nicht gestattet wären; denn im letzteren Fall ist nach Otto - wie wir sahen - die Rechtswidrigkeit einer Tötungshandlung nur ausgeschlossen, wenn sich der Täter keine fremden Überlebenschancen anmaßt275. Für Otto handelt es sich jedoch lediglich um eine scheinbare Diskrepanz. Weil die Verantwortung des einzelnen gegenüber der "engsten Gemeinschaft", der Familie, so weit gehe, daß er sogar sein Leben aufopfern müsse, sei es im Grunde "kein Widerspruch, daß die Rechtsordnung unter Umständen Handlungen mißbilligt, wenn sie zur Rettung des eigenen Lebens vorgenommen werden, nicht aber dann, wenn sie das Leben naher Angehöriger retten sollen"276.

Ottos Auffassung hat einige Ähnlichkeit mit Welzels früherer Notstandslehre. Welzel hatte ursprünglich versucht, den strafrechtlichen Notstand (§§ 52, 54 StGB a.F.) als eine Art Rechtfertigungsgrund minderen Grades zu interpretieren, allerdings - im Gegensatz zu Otto unter Einbeziehung der echten "Selbsterhaltung", also des Schutzes tätereigener Güter. Das Recht, so deutete Welzel jene Vorschriften, berücksichtige bei notstandsbedingten Eingriffen in objektiv höheroder gleichwertige Interessen "auch den berechtigten subjektiven Wert des (gefährdeten) Rechtsgutes für den Täter", seine "Nähe" zum Erhaltungsgut. Der Rettungsakt werde daher von der Rechtsordnung nicht mißbilligt; nur sein Erfolg sei rechtswidrig und berechtige den Betroffenen zur Notwehr. Auf dieser Grundlage wollte Welzel zwischen dem echten rechtfertigenden ("übergesetzlichen") und dem "straf273 Jetzt § 34 8tGB. 274 Otto, 8. 102. 275 Vgl. oben 8.39 ff. 276 Im "Nachtrag" (8. 117 f.) ist Otto offenbar entgangen, daß diesem Ar-

gument die Grundlage entzogen ist, nachdem er an der hier vorausgesetzten unbedingten Aufopferungspflicht nicht mehr festhält (vgl. oben 8. 85).

2. Familiäre Pflichtbindungen und "Außenverhältnis"

113

rechtlichen" Notstand nur einen quantitativen Unterschied anerkennen: lediglich der "Grad der rechtlichen Billigung" sei beim übergesetzlichen Notstand stärker277 • Otto kommt dieser Theorie, die Welzel später aufgegeben hat 218 , nicht nur im Ergebnis nahe, weil er ebenfalls die Rechtswidrigkeit der Tat verneint, ohne dem Betroffenen das Notwehrrecht abzusprechen. Auch in der Begründung besteht eine gewisse, wenn auch entfernte Verwandtschaft der Auffassungen; denn ähnlich wie Welzel leitet Otto aus der "nahen Beziehung" des Täters zum gefährdeten Rechtsgut die Folgerung ab, daß das Recht die Rettungshandlung nicht negativ bewertet. b) Vorbemerkungen zur Kritik

aa) Vereinbarkeit der Lösung mit § 35 StGB? Man würde es sich zu einfach machen, wollte man Ottos Lösungsvorschlag entgegenhalten, er sei mit § 35 Abs. 1 StGB n.F. nicht mehr vereinbar, weil das Gesetz für jene Notstandshandlungen, die der Autor als "nicht pflichtwidrig" betrachtet, lediglich eine Entschuldigung gelten lasse 279 • Dieser Einwand wäre nach neuem Recht ebensowenig stichhaltig, wie er es schon für § 54 StGB a.F. war. Denn er verkennt den seit langem anerkannten "sekundären" und "subsidiären" Charakter des entschuldigenden Notstandes, wie ihn nunmehr der Gesetzestext im Erfordernis einer "rechtswidrigen" Notstandstat deutlich zum Ausdruck bringt. § 35 StGB kommt auch bei Rettungshandlungen, die an sich unter die besonderen Merkmale dieses Entschuldigungsgrundes subsumiert werden können, erst zum Zuge, sofern die Rechtswidrigkeit der Tat feststeht. Eine Entscheidung darüber, wann dies der Fall ist, wird in § 35 StGB nicht getroffen; die Vorschrift setzt ein positives Ergebnis des Rechtswidrigkeitsurteils bereits voraus, äußert sich indessen weder direkt noch mittelbar über die Kriterien, die für diese Beurteilung maßgebend sind. Die Unvereinbarkeit der von Otto empfohlenen Lösung mit § 35 Abs. 1 StGB kann deshalb auch nicht in der abgeschwächten Form behauptet werden, daß seine Auffassung das Institut des entschuldigenden Notstandes "aushöhle", zu einer partiellen Funktionslosigkeit der gesetzlichen Regelung führe. Gewiß werden dem entschuldigenden Notstand nach Ottos Theorie zahlreiche Konstellationen entzogen, die man traditionell der Kompe211 Vgl. Welzel, ZStW 58 (1939) S. 534 ff., 536 f.; dazu die eingehende Kritik von Bockelmann, Strafrechtliche Untersuchungen, 1957, S. 83 f. 218 Wohl zuerst in seiner Schrift "Um die finale Handlungslehre", 1949,

S.27. 219

So aber Schünemann in seiner herben Kritik an Dttos Arbeit, NJW

1976, 282. 8 Küper

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V. Familiäre Pflichtbindungen und Lebensnotstand

tenz dieses Entschuldigungsgrundes zugewiesen hat280 ; aber der Funktionsbereich des § 35 StGB wird nun einmal - heteronom - durch die Entscheidung der Vorfrage mitbestimmt, ob die Notstandshandlung rechtswidrig ist oder nicht, und diese Entscheidung ist unabhängig von den Voraussetzungen des entschuldigenden Notstandes zu treffen.

bb) Divergenz der Ergebnisse bei "altruistischer" und "egoistischer" Notstandshandlung Auch das merkwürdige Ergebnis, daß nach Dttos Lösung Notstandshandlungen zugunsten Angehöriger erlaubt ("nicht pflichtwidrig") sind, die dem Täter - und damit auch dem Angehörigen - zum Schutz des eigenen Lebens verboten wären, begründet allein noch keinen grundsätzlichen Einwand281 ; es kommt vielmehr darauf an, ob es plausible Gründe für eine derartige Differenzierung gibt, die den Verdacht ausräumen, daß mit ihr das Prinzip der Gleichwertigkeit menschlichen Lebens unterlaufen wird. Dtto selbst ist es in seiner vorweggenommenen Antikritik allerdings nicht gelungen, die Divergenz der Resultate verständlich zu machen. Sein Hinweis auf die innerhalb der Familie bestehende erhöhte Verantwortlichkeit und die daraus folgende Pflicht zum Lebensopfer 282 ist eine Verlegenheitsauskunft, die nicht erklärt, warum die Rechtsordnung den Erlaubnisbereich bei "altruistischen" Rettungshandlungen erweitern sollte; dies könnte allenfalls mit der Erwägung begründet werden, daß die Erfüllung einer familiären Pflicht der Notstandshandlung einen zusätzlichen Wertakzent verleiht, der bei bloßer "Selbsterhaltung" fehlt. Doch überlegungen in dieser Richtung finden sich bei Dtto nicht. Soweit schließlich Bedenken dagegen erhoben werden können, daß der Autor einen Unrechtsausschluß postuliert, dem keine echte - auch die Notwehrbefugnis paralysierende - Rechtfertigung entspricht, betrifft solche Skepsis283 mehr die sekundären deliktssystematischen Konsequenzen seiner Theorie als ihren zentralen Gedanken. Immerhin wird auch anderwärts die Auffassung vertreten - und sie hat in der Strafrechtsdogmatik sogar eine gewisse Tradition -, daß man unter280 Wie weit diese Ausgliederung reicht (bzw. konsequenterweise reichen müßte), wird in Ottos Ausführungen allerdings nicht deutlich, weil er sich - der Anlage seiner Untersuchung entsprechend - nur mit einem Ausschnitt der einschlägigen Fälle, dem Konflikt Leben/Leben, befaßt. Wird aber "die Unverbrüchlichkeit der Treuebeziehung innerhalb der Familie als ein unbedingter Höchstwert anerkannt" (Otto, S. 104), so bleibt bei Notstandshandlungen, in denen sich diese Treuebeziehung manifestiert, für den Bereich der Rechtswidrigkeit wohl kaum mehr etwas übrig! 281 So aber anscheinend Blei, GA 1967, 383. 282 Eine Pflicht, die Otto freilich inzwischen selbst nicht mehr anerkennt, vgl. oben S. 112 Fußn. 276. 283 Vgl. die Kritik von Kunst, OJZ 1966, 669 und Oehler, JZ 1967, 776.

2. Familiäre Pflichtbindungen und "Außen verhältnis"

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scheiden muß zwischen den eigentlich "erlaubten", "rechtmäßigen" und den lediglich "unverbotenen", "neutralen" Notstandshandlungen, die zwar ebenfalls "nicht rechtswidrig" sind, aber andererseits das Prädikat eines "gerechtfertigten" Verhaltens nicht verdienen 284 • c) Kritische Uberlegungen

aa) Relative Interessenabwägung? Höchst fragwürdig ist allerdings Ottos Versuch, seine Theorie auf das Interessenabwägungsprinzip zu stützen. Die von ihm unterstellte Möglichkeit einer "relativen", gewissermaßen zweideutigen Abwägung, deren Resultat "für den Täter" ebenso positiv ausfallen kann wie "für den Betroffenen", ist eine Konstruktion, die sich mit dem Gesetz (§ 34 StGB) nicht vereinbaren läßt. Eine "Abwägung der Interessen", die als sinnvolles Prinzip der Konfliktregulierung diesen Namen verdient, ist nur in Gestalt einer objektiv-eindeutigen, für Täter und Betroffene gleichermaßen verbindlichen Gewichtung denkbar. Denn entweder überwiegen die vom Handelnden wahrgenommenen Interessen ("wesentlich"), dann haben zwangsläufig die beeinträchtigten das geringere Gewicht, und die Notstandshandlung ist - ihre "Angemessenheit" vorausgesetzt - rechtmäßig; oder es überwiegen umgekehrt die Interessen des Verletzten, mit der Folge, daß die Rechtswidrigkeit der Tat bestehen bleibt. Ein "beiderseitiges überwiegen" kann es nach der Logik und der Funktion des Interessenabwägungsprinzips nicht geben. Die Maxime läßt als "dritte Möglichkeit" nur die Gleichwertigkeit der Interessen 285 zu; ein solches Gleichgewicht hat die Konsequenz, daß eine Aufhebung des Unrechts, wenn sie überhaupt in Betracht kommt, jedenfalls nicht aus § 34 StGB hergeleitet werden kann. Hält man die hier diskutierten Notstandstaten mit Otto für nicht rechtswidrig, so gibt es deshalb nur eine systematisch zulässige Alternative. Entweder wird anerkannt, daß der Täter überwiegende Interessen auf Kosten geringerwertiger schützt, wenn er zur Rettung eines nahen Angehörigen einen Dritten tötet - dann muß man dem Betroffenen auch das Notwehrrecht absprechen -. Oder man behandelt die auf dem Spiel stehenden Interessen als "gleichwertig": Unter dieser Voraussetzung kann die Begründung des Unrechtsausschlusses nur unabhängig vom Prinzip der Interessenabwägung gefunden werden.

284 Darüber zuletzt eingehend Arthur Kaufmann, Festschrift für Maurach, 1972, S. 327 ff., mit weit. Hinweisen; ferner JuS 1978, 361 ff., 366 f.; Schild, JA 1978, 449 ff., 632 ff.; vgl. auch Ottos Bemerkungen im "Nachtrag", S. 122 ff. Zur Kritik Hirsch, Festschrift für Bockelmann, 1979, S. 103 ff.

285 Hierher gehört der Sache nach auch das nur "unwesentliche" überwiegen der vom Täter geschützten Interessen.

8'

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V. Familiäre Pflichtbindungen und Lebensnotstand

bb) Die Bewertungsaspekte In jedem Fall steht man vor der Aufgabe, den Sachgesichtspunkt zu benennen, der die behauptete Neutralisierung des Unrechts verständlich macht und die Folgerung gestattet, daß das Recht die Notstandstat erlaubt oder wenigstens als "nicht pflichtwidrig" (unverboten) gelten läßt. Otto, der sich insoweit leider nur auf Andeutungen beschränkt, sieht den materiellen Grund des Unrechts ausschlusses offenbar darin, daß sich im Rettungsakt die elementare Pflicht zu familiärer Solidarität durchsetzt und bewährt, eine Pflicht, der er wegen der fundamentalen Bedeutung der Familie für die Rechtsgemeinschaft ("Keimzelle" des Gemeinwesens) besonderen Rang zumißt. Dadurch gewinnt - so dürfte der Autor zu verstehen sein - die Notstandshandlung Wertqualitäten, die selbst im Falle der Tötung eines Außenstehenden das tatbestandliche Unrecht überwiegen oder doch hinreichend ausgleichen. Daran ist gewiß richtig, daß derartige Notstandstaten durch einen besonderen "Aktwert" gekennzeichnet sind: sie bezwecken eben nicht nur die Erhaltung eines Rechtsgutes, sondern auch die Erfüllung einer auf engen persönlichen Bindungen beruhenden "Pflicht" 2'86. Doch läßt sich damit, selbst wenn man diesen Aktwert sehr hoch ansetzt, ein irgendwie gearteter "Ausgleich" des mit der Notstandstat verbundenen Unrechts schwerlich begründen. Es darf zunächst nicht übersehen werden, daß der lebensvernichtende Eingriff in die Rechtssphäre eines "Dritten" kein isoliertes Individuum, sondern ebenfalls eine "Sozialperson" betrifft, die ihrerseits - als Vater, Sohn, Ehegatte usw. - in aller Regel Glied einer "Familie" ist. Diese Beziehung zerstört der Täter, wenn er zur Rettung eines Angehörigen einen ihm fremden Menschen tötet. Dem aus familiärer Solidarität erwachsenden "Pflichtwert", der sich in einer solchen Handlung manifestiert und ihr einen zusätzlichen Wertakzent verleiht, steht daher typischerweise ein vergleichbarer Unwert gegenüber: die Aufhebung der persönlichen Bindungen, die auf der Seite des Betroffenen bestehen. Otto macht den Fehler, daß er seinen Blick einseitig auf die menschlichen Beziehungen des Täters und deren soziale Wertigkeit richtet, ohne zu sehen, daß auch das Opfer normalerweise nicht allein in der Welt lebt. Zieht man aus seiner Auffassung die extremste Konsequenz, so müßte es zulässig sein, daß etwa ein Vater, um sein Kind aus Lebensgefahr zu retten, eine ganze Familie, ja sogar mehrere Familien ausrottet. Daß die Pflicht zu familiärer Solidarität derartige Taten sollte rechtfertigen können, ist schlechterdings nicht einzusehen! 286 Vgl. auch Rttdolphi, ZStW 78 (1966) S. 67 ff., 87, der mit Recht bemerkt, daß bei Notstandshandlungen zugunsten naher Angehöriger "dem Unrecht der Rettungstat noch der zusätzliche Rechtswert der Erfüllung einer sozialen Pflicht gegenübersteht".

2. Familiäre Pflichtbindungen und "Außenverhältnis"

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Aber auch unabhängig von solchen Erwägungen bleibt zu bedenken, daß die notstandsbedingte Tötung eines Menschen nicht nur in dessen Gütersphäre eingreift und regelmäßig sozial wertvolle Bindungen auflöst, sondern darüber hinaus den allgemeinen Rechtsfrieden tiefgreifend stört287• Die Handlung verletzt damit elementare Gemeinschaftsinteressen, deren Rang kaum geringer eingeschätzt werden kann als der Wert "solidarischen" Verhaltens unter Angehörigen. Die von Ottos Ansatz aus immerhin denkbare Möglichkeit, in der Rechtswidrigkeitsfrage jeweils danach zu differenzieren, ob und inwiefern auch auf der Opferseite familiäre Beziehungen betroffen sind, wird dadurch ausgeschlossen. So hat es doch seinen guten Sinn, daß man bisher darauf verzichtet hat, aus der Erfüllung einer Garantenpflicht gegenüber nahestehenden Personen die Erlaubtheit - oder zumindest Unverbotenheit - eines Eingriffs in fremde Interessen abzuleiten, sofern sie nicht ohnehin als wesentlich geringerwertig einzustufen sind. Otto kommt das Verdienst zu, diese traditionelle Auffassung mit beachtlichen Überlegungen in Frage gestellt zu haben; aber er hat nichts geltend gemacht, was sie derart erschüttern könnte, daß man sie aufgeben müßte.

287

Vgl. zu diesem Abwägungsgesichtspunkt oben S.93 Fußn.221.

VI. Ergebnisse der Untersuchung Zum Abschluß seien die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit, die durch verschiedenartige Problemfelder führte, in einigen Thesen kurz zusammengefaßt. Das Resume hält sich aus Gründen der besseren übersicht und des Sachzusammenhanges nicht streng an den chronologischanalytischen Gang der Untersuchung. 1. Der Konflikt gleichwertiger, nicht gegeneinander abwä~barer Rechtspflichten begründet keine "unlösbare" Pflichtenkollision in dem Sinne, daß sich der Täter - gleichgültig, welcher Pflicht er folgt stets rechtswidrig verhält und allenfalls entschuldigt werden kann. Vielmehr ist jeder Pflichtenwiderstreit bereits auf der Unrechtsebene derart "auflösbar", daß im Ergebnis entweder die eine Pflicht zurücktritt oder dem Adressaten - mit Erlaubniswirkung - freigestellt bleibt, welcher Pflicht er nachkommen Will 288 •

2. Geraten gleichwertige Pflichten miteinander in Kollision, so ist zu differenzieren zwischen dem Konflikt zweier (oder mehrerer) Handlungspjlichten einerseits und dem Widerstreit von Handlungs- und Unterlassungspflicht andererseits. a) Bei der Kollision gleichrangiger Handlungspjlichten rechtfertigt die Erfüllung der einen Pflicht die Vernachlässigung der anderen (oder mehrerer anderer); der Täter darf selbst darüber entscheiden, welche Pflicht er bevorzugt289 • Dies folgt maßgeblich daraus, daß der Grundsatz "ultra posse nemo tenetur", den die Rechtsordnung freilich nicht strikt durchhält29o , im Bereich des Handlungspflichtenkonflikts uneingeschränkte Beachtung fordert, weil zwingende Gründe für eine Durchbrechung dieses Prinzips nicht vorliegen 291 ; der Grundsatz gilt unabhängig davon, ob die Rechtssätze als Bestimmungs- oder nur als Bewertungsnormen verstanden werden 292 • Die Gegenmeinung, die jedes in der Konfliktsituation mögliche Verhalten als rechtswidrig ansieht293 , ist unvereinbar mit dem Postulat der Widerspruchsfreiheit des Nor288 289 290 201

292 293

S. 18 ff., 29 ff. S. 19 H., 27 H., 29. S. 21 f. mit Fußn.29. S. 23 f., 25. S.25 mit Fußn.35. S. 18 f.

VI. Ergebnisse der Untersuchung

119

mensystems 294 und führt zu einer nicht akzeptablen Einbuße an Rechtsgüterschutz 295 • - Erfüllt der Pflichtadressat von zwei (oder mehreren) gleichwertigen Handlungspflichten die eine, so setzt die Rechtfertigung der Unterlassungstat eine "gewissenhafte Prüfung" der Konfliktslage ebensowenig voraus wie ein "sittlich billigenswertes" Motiv für die Entscheidung des Täters 296 • Seine Wahlfreiheit wird auch nicht dadurch eingeschränkt, daß sich im Kollisionsfall qualitativ gleichwertige Pflichten jeweils auf die Erhaltung einer unterschiedlichen Quantität von Rechtsgutsobjekten richten 291• b) Bei einer Kollision von je gleichwertiger Handlungs- und UnterZassungspjlicht hat der Adressat dagegen nicht die Wahl, welche Pflicht er erfüllen will. Die Handlungspflicht tritt vielmehr hinter der Verpflichtung zum Unterlassen zurück; sie wird durch die Unterlassungspflicht - auf der Rechtfertigungsebene - begrenzt. Der Verpflichtete verhält sich daher nur, aber auch immer dann rechtmäßig, wenn er die Unterlassungspflicht befolgt, also das Handlungsverbot beachtet, indem er untätig bleibt298 • Der Konflikt zwischen Handlungs- und Unterlassungspflicht wird damit nach den Grundsätzen des rechtfertigenden Notstandes gelöst 29!1. Dies ergibt sich vor allem daraus, daß für solche Kollisionslagen das allgemeine Rechtfertigungsprinzip des "überwiegenden Interesses" gelten muß, welches den aktiven Eingriff in eine rechtlich garantierte fremde Gütersphäre (Verstoß gegen eine Unterlassungspflicht) nur zur Wahrung des "wesentlich höheren Wertes", nicht aber zum Schutz bloß "gleichwertiger Interessen" gestattet. Die Konsequenz ist, daß das Recht (lediglich) die Mißachtung der Handlungspflicht erlaubt, wenn diese mit einer gleichwertigen Pflicht zum Unterlassen kollidiert;31lo. - Die Auffassung, daß sich der Täter auch hier in jedem Fall rechtswidrig verhalte301 , ist im übrigen ähnlichen Bedenken ausgesetzt, wie sie insoweit beim Widerstreit von Handlungspflichten bestehen: sie suspendiert ohne einleuchtenden Grund das "ultra-posse"-Prinzip und widerspricht der "Einheit des Normensystems"302. 3. Die Regeln, nach denen die beiden unterschiedlichen Grundtypen der Kollision gleichwertiger Rechtspflichten zu beurteilen sind, erlauben 294 295 296

S. 26 f.

S.24.

S. 27 ff.

S. 24 f. S. 29 ff., 34. 299 S.34. 300 S. 33 f. 301 S. 29 ff. 302 S. 31 f. 297

298

VI. Ergebnisse der Untersuchung

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es, für die durch einen Pflichtenkonflikt bedingte Verletzung von Handlungspflichten eine einheitliche Rechtfertigungsmaxime zu formulieren. Sie kann als "Prinzip der gleichwertigen Pflichterfüllung" bezeichnet werden und besagt: Die Nichtbeachtung einer Handlungspflicht ist bei der Kollision mit einer gleichrangigen anderen (Handlungsoder Unterlassungs-)Pflicht gestattet, wenn der Verpflichtete dieser anderen Pflicht nachkommt303. 4. Das Wertverhältnis miteinander kollidierender Pflichten wird entscheidend vom Gewicht der am Konflikt beteiligten Interessen b€stimmt (abgeleitete Pflichtbewertung); ihre Wertigkeit ist entsprechend den beim rechtfertigenden Notstand geltenden Grundsätzen in sorgfältiger Analyse der "Gesamtlage" zu ermitteln. Gleichwertige ("unabwägbare") Pflichten liegen vor, wenn sie sich auf Interessen beziehen, die nach der konkreten Situation im Verhältnis zueinander nicht vorzugswürdig sind304 . Das Bestehen einer Garantenpflicht begründet bei sonstiger Gleichwertigkeit der auf dem Spiel stehenden Interessen keinen Wertvorzug für das durch die Pflicht geschützte Rechtsgut305. Der Garant darf deshalb zur Rettung seines Schützlings fremde Rechtsgüter nur in demselben Umfang in Anspruch nehmen wie jeder Dritte. Dies gilt auch, wenn die Garantenpflicht auf enger familiärer Bindung beruht und die Notstandshandlung einen Außenstehenden beeinträchtigt306 . Die Möglichkeit einer "relativen", "doppeldeutigen" Interessen- und Pflichtenabwägung, deren Ergebnis für den Täter und den vom Eingriff Betroffenen positiv ausfällt, kann nicht anerkannt werden 307 . Der besondere Aktwert, der die aus familiärer Solidarität zur Erfüllung einer Garantenpflicht vorgenommene Rettungshandlung kennzeichnet, reicht nicht aus, um ein sonst verbotenes Verhalten zu rechtfertigen oder dessen Unrecht jedenfalls derart zu neutralisieren, daß die Rechtswidrigkeit entfällt308 •

5. Der Erkenntniswert einer Unterscheidung zwischen "echten" und "unechten" Pflichtenkollisionen muß bezweifelt werden. Alle Pflichtenkonflikte sind im Grunde "Scheinkollisionen" in dem Sinn, daß der Konflikt lediglich die Unsicherheitsphasen eines Entscheidungsprozesses kennzeichnet, in dessen Endstadium das "wirkliche Sollen" konkretisiert und die Kollision damit "aufgelöst" ist309 .

303 304 305 306 307 308 300

S.34. S.33. S. 33 f., 92. S. 110 ff. S.115. S. 116 f. S. 37 f.

VI. Ergebnisse der Untersuchung

121

6. Vernichtet jemand fremdes Menschenleben, um sein eigenes Leben zu retten, so kann das erlaubte vom rechtswidrigen Verhalten nicht nach dem Kriterium abgegrenzt werden, ob sich der Täter "Rettungschancen" des Opfers "angemaßt" hat. Die Fragwürdigkeit dieses Kriteriums zeigt sich zunächst an Fällen, in denen der Getötete schlechterdings (oder jedenfalls beim Unterbleiben einer ihn begünstigenden Rettungshandlung) keine überlebensaussichten mehr hatte 310 ; sie wird aber auch bei der Analyse anderer Notstandssituationen deutlich 311 . Weder aus der in § 330 c StGB normierten begrenzten Solidaritätspflicht noch aus dem atypischen Charakter spezieller Gefahrtragungspflichten lassen sich für Notstandsfälle Einschränkungen des Verbots aktiver Lebensvernichtung ableiten 312 • Die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit einer im Lebensnotstand begangenen Tötungshandlung richtet sich vielmehr allein nach den Prinzipien der Notwehr, des "überwiegenden Interesses" und der "Sozialadäquanz":t13. Dabei sind die Modifikationen zu beachten, die das Interessenabwägungsprinzip unter dem Aspekt des Defensivnotstandes erfährt314 • Auch dem vom Tode "gezeichneten", unrettbar verlorenen Menschenleben steht grundsätzlich der volle rechtliche Schutz gegen lebensverkürzende Eingriffe ZU 315 .

7. Vereinigt eine akute Notlage die Betroffenen derart zu einer "Gefahrengemeinschaft", daß nur durch die Tötung eines Teils der gefährdeten Personen der sonst unabwendbare Tod aller verhindert werden kann, so ist eine lebensvernichtende Rettungshandlung (aktives Tun) gleichwohl widerrechtlich. Dies gilt unabhängig davon, ob der Täter selbst der Gefahrengemeinschaft angehört oder nicht. Es macht auch keinen Unterschied, ob sich die Tat gegen ein Opfer richtet, das nach der konkreten Situation schlechterdings keine überlebenschance mehr hat, oder ob der Täter durch eine Auswahl aus dem Kreis der Gefährdeten - "Schicksal spielend" - selbst darüber entscheidet, wer durch das erzwungene Lebensopfer anderer gerettet wird316 • Die Rechtswidrigkeit der Tötung folgt vor allem daraus, daß sich die Schutz- und Vorzugswürdigkeit des Rechtsguts "Leben" nicht unter dem Aspekt verschiedener "Lebenserwartungen" gewichten läßt. Denn das Recht schützt das Leben jedes Menschen als gegenwärtiges Dasein um seiner selbst willen in gleichem Maße, ohne Rücksicht auf seine jeweilige Zukunft; jedes Menschenleben ist deshalb ungeachtet seiner voraus310 S. 44 ff. 311 S. 64 ff. 312 S. 42 ff. S. 68 ff., 80 ff. S. 72 ff. 315 S.46. 316 S. 48 ff., 57 ff. 313

314

VI. Ergebnisse der Untersuchung

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sichtlichen künftigen Dauer mit jedem anderen menschlichen Leben rechtlich gleich 317 • Das auf den ersten - und sogar auf den zweiten Blick vernunftwidrige Verbotll 18 , eine minimale Spanne menschlicher Existenz zur Erhöhung der Lebenserwartung anderer, sonst ebenfalls "verlorener" Menschen zu verringern, bezieht aus dieser Gleichheit seinen Sinn. An ihr scheitert die Möglichkeit, für den durch die Rettungshandlung jeweils Begünstigten ein "vorzugswürdiges Lebensinteresse" zu begründen319• Das Ergebnis wird durch weitere prinzipielle und praktische Erwägungen gestützt320 • Die im Schrifttum in verschiedenen Varianten anzutreffende Begründung, daß "zweckrationale" Gesichtspunkte bei der Bewertung der Gefahrengemeinschaftsfälle von vornherein ausscheiden müßten, bleibt dagegen unbefriedigend321 • Für die Kollision von Handlungs- und Unterlassungspflicht ergibt sich die Konsequenz, daß beide Pflichten gleichwertig sind, so daß die Handlungs- gegenüber der Unterlassungspflicht zurücktritt32z• 8. Verneint man bei einer Notstandstat, die unter den Voraussetzungen des § 35 Abs.l StGB (Leibes- oder Lebensgefahr) vorgenommen wird, einen "rechtswidrigen" Angriff i. S. des § 32 StGB, so bedeutet dies nicht zwangsläufig, daß der Betroffene die Handlung dulden muß. Dem Angegriffenen wird lediglich das Notwehrrecht entzogen, während die Möglichkeit, seine Abwehrreaktion nach Notstandsgrundsätzen zu rechtfertigen, unberührt bleibt3Z3 • Bei einer "defensiven" Notstandshandlung, mit der in die Gütersphäre desjenigen eingegriffen wird, von dem die Gefahr ausgeht, gelten für die Interessenabwägung (und "Angemessenheit") andere Maßstäbe als im typischen Fall des "aggressiven" Notstandes. Defensive Gefahrenabwehr ist - in den Schranken der Erforderlichkeit - erlaubt, soweit der mit der Notstandshandlung verbundene Schaden nicht "außer Verhältnis" zu der Beeinträchtigung steht, die dem Verteidiger vom Angreifer droht. Unter diesen Voraussetzungen nimmt der Notstandstäter "wesentlich überwiegende Interessen" in "angemessener" Weise wahr3 24 • In diesem Rahmen sind auch Eingriffe in höchstpersönliche Rechtsgüter gestattet. Nach den Grundsätzen des rechtfertigenden Defensivnotstandes ist sogar eine Tötungshandlung rechtmäßig, wenn sie der Abwehr einer vom Opfer ausgehenden gegenwärtigen Lebensgefahr dient325 • 317

318 319 320

321 322

323 324 325

S. 57 ff. S. 48 ff., 54 ff. S. 59 ff. S. 61 ff. S. 54 ff., 56 f. S. 29 ff., 61. S.70. S. 72 f. S. 73 ff.

VI. Ergebnisse der Untersuchung

123

9. Die aktive Vorenthaltung eines Rettungsmittels ist strafrechtlich als "Unterlassung" zu bewerten, wenn sich der Täter durch dessen Zerstörung oder Entfernung die notwendige eigene Mitwirkung an der Rettungsaktion unmöglich macht. Findet jemand indessen eine Situation vor, deren künftige Entwicklung ohne sein Tätigwerden zur Rettung eines Gefährdeten führen würde, so greift er handelnd in den Kausalablauf ein, sobald er durch Ausschaltung potentieller Rettungsfaktoren die Umstände derart verändert, daß der sonst ausgebliebene Erfolg eintritt; sein Verhalten hat die Qualität einer Begehungstat326 • 10. Kann der Garant seiner Erfolgsabwendungspflicht nur durch ein Verhalten nachkommen, mit dem eine Gefährdung oder Aufopferung eigener Rechtsgüter verbunden ist ("Unzumutbarkeit"), so ist das Unterlassen nicht allein bei Wahrnehmung wesentlich "überwiegender" Interessen erlaubt. Vielmehr gilt der Grundsatz, daß das Recht die Erfüllung der Garantenpflicht bereits dann nicht mehr fordert, wenn die dazu notwendige Handlung Eigeninteressen beeinträchtigen würde, die mit den durch die Pflichtbefolgung erhaltenen Werten gleichrangig sind ("Prinzip der gleichwertigen Interessenwahrnehmung")321. Dies folgt u. a. daraus, daß der Destinatär des Erfolgsabwendungsgebots vom Garanten kein höheres Maß an Solidarität verlangen kann, als er bei einem schädigenden oder gefährdenden Eingriff in dessen Gütersphäre fordern dürfte3'28. Dagegen gibt die Wahrnehmung nur "geringerwertiger" Interessen dem Garanten keine Legitimation zur Vernachlässigung seiner Handlungspflicht; in solchen Fällen kommt lediglich eine Entschuldigung in Betracht3 29 • Die "Unzumutbarkeits"-situationen sind insoweit, ihrer unterschiedlichen Struktur entsprechend, differenzierend zu behandeln. - Das Prinzip der "gleichwertigen Interessenwahrnehmung" ist ebenso wie der Grundsatz des überwiegenden Interesses deliktssystematisch als Rechtfertigungsmaxime einzuordnen; die Tatbestandsmäßigkeit der Unterlassung bleibt unberührt33°. Daran vermag auch die Entsprechungsklausel des § 13 Abs. 1 StGB nichts zu ändern331 • 11. Das Rechtfertigungsprinzip der "gleichwertigen Interessenwahrnehmung" läßt sich im Rückgriff auf die bei der Interessenabwägung (§ 34 StGB) geltenden Kriterien näher konkretisieren. Kommt den Eigeninteressen, die der Garant im Falle der Pflichtbefolgung preisgeben müßte, derartiges Gewicht zu, daß sie der Destinatär des Erfolgsabwendungsgebots auf Grund allgemeiner Notstandsregeln nicht in

326 S. 79 f. 327 S. 87 ff., 91 ff. 328 320

330 331

S. 92 ff .. 94. S. 95 f. S. 96 ff. S. 99 f.

124

VI. Ergebnisse der Untersuchung

Anspruch nehmen dürfte, so zeigt dieser Befund, daß die Garanteninteressen nach den Maßstäben des Rechts nicht wesentlich geringerwertig und deshalb (zumindest) gleich schutzwürdig sind. Die hypothetische Frage nach der Rechtswidrigkeit eines vom Pflichtdestinatär ausgehenden Eingriffs in die Interessensphäre des Garanten kann daher als heuristisches Prinzip zur Ermittlung der Gleichwertigkeit fungieren 33 :!. Für die "Unzumutbarkeitsgrenze" bei potentieller Selbstschädigung ergibt sich daraus die - zunächst vorläufige - Richtlinie, daß vom Garanten keine Rettungshandlung verlangt werden kann, die für ihn den Verlust des Lebens oder eine gravierende Verletzung der Körperintegrit.ät zur Folge haben würde3'33 . Für Konstellationen bloßer Selbstgefährdung gilt die - vorläufige - Maxime, daß sich der unterlassende Garant rechtmäßig verhält, wenn die mit der Rettungsaktion verbundene Eigengefahr über ein "unverhältnismäßig geringes" Risiko hinausgeht334 • - Diese Beurteilungsgrundsätze ändern sich auch unter dem Gesichtspunkt spezieller Gefahrtragungspflichten nicht. Von Sonderfällen abgesehen 335 impliziert ein Garantieverhältnis - selbst bei enger persönlicher Verbundenheit der Beteiligten - nicht die Verpflichtung, die eigene personale Gütersphäre zugunsten des Pflichtdestinatärs in größerem Umfang preiszugeben, als dies im Verhältnis zu beliebigen Dritten der Fall ist 336 •

332 333 334 335 336

S. 100 ff. S. 101 f. S. 102 f. S. 107 Fußn.262. S. 105 ff.

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WesseIs, Johannes: Strafrecht, Allgemeiner Teil (Schwerpunkte), 7. Auf-

lage, Heidelberg, Karlsruhe 1978.

Zimmermann, Theo: Die Gefahrengemeinschaft als Rechtfertigungsgrund,

MDR 1954, 147 ff.

Stichwortregister Abbruch rettender Kausalverläufe 78 ff., 81, 123 Angehörige(r) - Pflicht zur Rettung 39, 83 ff., 110 ff., 120, 124 Angemessenheit(sklausel) 52, 94, 106, 122 Angriff - rechtswidriger bei Notwehr 24, 66, 69 f., 75 f., 108, 122 - bei schuldlosem Handeln 69 ff., 72 ff., 122

-

Gefahrtragungs- und Aufopferungspflicht bei 101 ff., 107 ff., 124 - Unzumutbarkeit bei 42, 86 ff., 90 ff., 96 ff., 99 ff., 123 f. Gefahrengemeinschaft 49 ff., 57 ff., 61 ff., 121 f. Gefahrtragungspflicht 39, 43 f., 60, 101, 103, 104 ff., 107 ff., 124 - und Angemessenheit(sklausel) 106 - und Garantenpflicht s. Garantenpflicht, -stellung

Ballonfall 41, 46 ff., 49, 51, 61 f., 63 Bergsteigerfall 40, 45 ff., 48 ff., 61 f., 63 Bestimmungsnorm 25, 118 Bewertungsnorm 25, 118

und Interessenabwägung 104 ff., 124 Gewissenhaftigkeit des Handeins 20, 27 ff., 50, 119 Gleichwertigkeit des Lebens 51, 52 ff., 56 f., 59 ff., 114, 121 f.

Defensivnotstand 72 ff., 80, 121, 122 - Tötung im 73 ff., 80, 122

- s. Tun, aktives

Einheit des Normensystems 20, 26 f., 31, 118 f. Einsichts- und Motivationsfähigkeit 21 ff. Entschuldigung - s. Notstand, entschuldigender; PflichtenkoHision,

de

entschuldigen-

Erforderlichkeit der Gefahrenabwehr 75 f., 108 Erlaubtes Risiko 57, 81 f., 121 Euthanasiefälle 30 f., 34 ff., 49 ff., 53 ff., 61, 62 f. Fahrlässigkeit 21 Fährmannfall 49, 51, 61 Familiäre Pflichtbindungen 39, 83 ff., 110 ff., 120, 124 Friedensschutzfunktion des Rechts 93, 117 Garantenpflicht, -stellung 16, 30 f., 42 f., 86 ff., 91 ff., 97 ff., 120, 123 f. 9'

-

Handeln, aktives

Handlungspflicht(en) 15 ff., 19 ff., 29 ff., 43, 83 ff., 86 ff., 90 ff., 97 ff., 118 ff. - Kollision gleichwertiger (gleichrangiger) 13, 15 ff., 18 ff., 23 ff., 27 ff., 29, 31 f., 34, 38, 60, 90 f., 118 ff. - Kollision einer H. mit (gleichwertiger) Unterlassungspflicht 15, 16 f., 29 ff., 32 ff., 35, 52, 61, 91, 119 f., 122 Hilfeleistungspflicht, allgemeine 39, 42 f., 78, 121 impossibilium nulla est obligatio - s. ultra posse nemo tenetur Interessen - geringerwertige 91 ff., 95 f., 101, 106, 109, 115, 123 f. - gleichwertige 33 f., 87 ff., 91 ff., 96 ff., 100 ff., 104 ff., 115, 120, 123 f. - überwiegende 43 f., 51 f., 53, 59 f., 68, 71 ff., 80, 87 ff., 95, 100, 106, 112, 115, 119, 121 f.

Stichwortregister

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Interessenabwägung 33 f., 43 f., 51 f., 57,61, 68, 70 ff., 80 f., 87 ff., 93, 100, 104 f., 106, 115, 120, 121 f., 123 f. - Leben gegen Körperintegrität 101 ff., 121 - und Gefahrtragungspftichten s. Gefahrtragungspfl,icht

Irrtum 97 f.

Kantische Ethik 56 ff. Karneades-Fall 40, 64 ff. Können 21 ff. Leben(s) - als biologische Existenz 59 f., 121 f. - Erhaltung des eigenen 39 ff., 121 - gegen Leben 15, 35, 39 ff., 51, 53, 71, 76, 110 ff., 121 f. - Gleichwertigkeit des s. Gleich-

wertigkeit

Höchstwert des 25, 35, 52 ff., Quantifizierbarkeit des 25, 57 ff. todgeweihtes 40, 44 ff., 47 f., 77, 121 Verkürzung des 45 ff., 58 ff., Zeitlichkeit des 58 ff., 121 f.

55 ff. 54 ff., 59 ff., 121 f.

Mignonettefall 41, 46, 49, 61 Motivationsfähigkeit 21 ff. Normensystem(s) - Einheit, Widerspruchsfreiheit des s. Einheit des Normensystems Notpftichten, besondere - s. Gefahrtragungspfl,icht Notstand - aggressiver 72 f., 122 - defensiver s. Defensivnotstand - Einheitstheorie 43 - entschuldigender 19, 43 f., 64, 68 f., 70, 87 f., 90, 96, 112 ff., 123 - rechtfertigender 16, 28, 33 f., 43 f., 56 f., 66 ff., 70 ff., 72 ff., 87 f., 93 ff., 100 ff., 112 f., 115 ff., 119, 121 f., 123 f. - unverbotener 19, 33, 114 f. Notwehr 24, 51, 56, 66, 69 ff., 74 ff., 80, 108, 111 ff., 121 f. - gegenüber Ehegatten 108 - Mißbrauch der 75 Notwehrähnliche Lage 72 Nützlichkeit 24 f., 52 ff., 122

Pfticht(en) - gleichwertige, unabwägbare s. Handlungspfl,icht(en) - zur Rettung Angehöriger s. An-

gehörige

zur Selbsterhaltung 91 s. a. Garantenpfl,icht, Gefahrtra-

gungspfl,icht, Handlungspfl,icht, Hilfeleistungspfl,icht

Pftichtenauslegungskonftikt 37 f. Pfiich tenkollision - Begriff 14 ff., 16 f. - echte/unechte, logische/materielle 37 f., 120 - entschuldigende 18 f.; s. a. N otstand, entschuldigender

- "unlösbare" 18 ff., 29 ff., 34 ff., 118 - s. a. Handlungspfl,icht(en) Prinzip der gleichwertigen Pfiichterfüllung 34, 90 ff., 120 Quantität 24 f., 52 ff., 119 Rechtsfrieden 93, 117 Rechtsgüterschutz 23 f., 32, 45 f., 47, 59 ff., 119 Rettungschancen - Aneignung, Anmaßung, Vernichtung fremder 40 ff., 44 ff., 64 ff., 69 ff., 77 f., 121 Rolle 18, 37 f. Schuld 21 ff. - s. a. Entschuldigung Schuld theorie, eingeschränkte 97 Schuldunfähigkeit - s. Einsichts- und Motivationsfähigkeit

Selbstzweckhaftigkeit des Menschen 56 f. Sozialadäquanz 81 f., 121 Tatbestand 89, 96 ff., 123 Tun, aktives 29, 78 ff., 87, 91, 96, 123 Ultra posse nemo tenetur 21 ff., 32, 118f. Unlösbare Pftichtenkollision - s. PfI,ichtenkollision, "unlösbare" Unrechtstypus 98 Unterlassen 19, 78 ff., 87 ff., 123 f. Unterlassene Hilfeleistung - s. Hilfeleistungspfl,icht, allgemeine

Stichwortregister Unterlassungsdelikt 83 ff., 87 ff., 90 ff., 96 ff. - entschuldigender Notstand beim 87 f. - Entsprechungsklausel (§ 13 StGB) beim 97, 99 f., 123 - und erhebliche Eigeninteressen 88 f., 95 f., 123 - und gleichwertige Eigeninteressen 88 ff., 91 ff., 123 f.; s. a. Interessen, -

gleichwertige; Prinzip der gleichwertigen Pjlichterjüllung

Prinzip des überwiegenden Interesses beim 87 f., 90, 123 - Rechtfertigung beim 21 ff., 29, 34, 90 ff., 96 ff., 100 ff., 123 f. - Tatbestandsstruktur 87 f., 89, 96 ff., 99 f. - Unzumutbarkeit beim 42, 83 ff., 86 ff., 96 ff., 99 ff., 123 f. Unterlassungspflicht

- s. Handlungspjlicht(en)

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Unzumutbarkeit - s. Garantenpjlicht, -stellung; Unterlassungsdelikt, Unzumutbarkeit

Verhaltensnorm

-

s. Bestimmungsnorm, Bewertungsnorm

Wahl der Pflichterfüllung 13, 20, 23 f., 25, 27 ff., 29, 34, 118 f. Werte

- s. Interessen

Widerspruch - Satz vom 26 f. - der Wertmaßstäbe 20, 26 f., 80, 92 Widerspruchsfreiheit des Normensystems s. Normensystem

Zumutbarkeit - s. Unzumutbarkeit Zweckrationalität - s. Nützlichkeit