Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen: Eine literaturphilosophische Untersuchung zu den Vorsokratikern, Platon, Nietzsche und Heidegger 9783839449165

Sein oder Nichtsein - ist das noch eine Frage? Philipp Christian Kastropp setzt der tendenziellen Vernachlässigung der S

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Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen: Eine literaturphilosophische Untersuchung zu den Vorsokratikern, Platon, Nietzsche und Heidegger
 9783839449165

Table of contents :
Inhalt
1. Arbeit an den Ent- und Verdeckungen der Seinsfrage
2. Die vorsokratische Entdeckung der Seinsfrage
3. Platons Wiederentdeckung der Seinsfrage als Verdeckung
4. Nietzsche: Vom Antiplatonismus zum Nihilismus
5. Heidegger – die Wiederentdeckung der Seinsfrage?
6. Philologie der Seinsfrage
7. Literatur, Siglen, Internetquellen

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Philipp Christian Kastropp Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen

Literalität und Liminalität  | Band 26

Editorial Die literaturtheoretischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben zu einer Öffnung der Philologien insbesondere für kultur- und medienwissenschaftliche Fragestellungen beigetragen. Die daraus resultierende Erweiterung des Literaturbegriffs bedingt zugleich, dass die unscharfen Ränder der kulturellen Grenzen in den Blick rückten, wo Fremdes und Eigenes im Raum der Sprache und Schrift ineinander übergehen. Die Reihe Literalität und Liminalität trägt dem Rechnung, indem sie die theoretischen und historischen Transformationen von Sprache und Literatur ins Zentrum ihres Interesses rückt. Mit dem Begriff der Literalität richtet sich das Interesse auf Schriftlichkeit als Grundlage der Literatur, auf die Funktion der Literaturtheorie in den Kulturwissenschaften sowie auf das Verhältnis literarischer Texte zu kulturellen Kontexten. Mit dem Begriff der Liminalität zielt die Reihe in theoretischer und historischer Hinsicht auf Literatur als Zeichen einer Kultur des Zwischen, auf die Eröffnung eines Raums zwischen den Grenzen. Die Reihe wird herausgegeben von Achim Geisenhanslüke und Georg Mein.

Philipp Christian Kastropp, geb. 1987, lebt in München und ist spezialisiert auf die Schnittstellen zwischen Literatur und Philosophie. Nach dem Studium der Germanistik und Kulturwissenschaft sowie der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft promovierte er an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. mit einer Förderung des Evangelischen Studienwerks Villigst über die Erforschung von Seins- und Nichtsfragen.

Philipp Christian Kastropp

Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen Eine literaturphilosophische Untersuchung zu den Vorsokratikern, Platon, Nietzsche und Heidegger

Für T. und J. Eingereicht als Dissertation an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. unter dem Titel »Die Seinsfrage. Eine literaturphilosophische Auslegung ihrer Entdeckung, Verdeckung und Wiederentdeckung bei den Vorsokratikern, Platon, Nietzsche und Heidegger« D.30

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4916-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4916-5 https://doi.org/10.14361/9783839449165 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1 1.1 1.2

Arbeit an den Ent- und Verdeckungen der Seinsfrage ...................................................................................7 Hinweise zur Hermeneutik des Seinsbegriffs ....................................................... 10 Vorbemerkungen zur Quellenlage und Textauswahl ............................................... 13

2 2.1 2.2 2.3

Die vorsokratische Entdeckung der Seinsfrage ............................................15 Anaximanders metaphorische Seinsgründung...................................................... 22 Sinn und Wahrheit der Entdeckung der Seinsfrage ............................................... 30 Formen der Seinsfrage bei Heraklit................................................................... 32 2.3.1 Seinsmetaphorik im Zeichen des Gegensatzes ........................................... 38 2.3.2 Sein und/als Logos............................................................................... 43 2.3.3 Heraklits Seinsworte .............................................................................50 2.4 Parmenides Abstraktion der Seinsfrage............................................................. 53 2.4.1 Proömium und narrative Situation............................................................55 2.4.2 Die Entdeckung der Seinswelt .................................................................60 2.4.3 Die Entdeckung der Scheinwelt................................................................ 73 2.4.4 Die Relevanz des Parmenides ................................................................. 80 2.5 Spannungsfelder der Vorsokratik ..................................................................... 85 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Platons Wiederentdeckung der Seinsfrage als Verdeckung................................................................................. 95 Die Sichtbarkeit der Wahrheit des Seins ............................................................. 99 Sophistes I: Vorbereitung der Fragestellung ........................................................109 Sophistes II: Schritte zur Verschiedenheit .......................................................... 116 Sophistes III: Das Nichtseiende (τὸ μὴ ὂν) und Verschiedenheit (ἕτερον)................ 132 Kontextualisierung des Nichtseienden............................................................... 141

4 4.1 4.2 4.3

Nietzsche: Vom Antiplatonismus zum Nihilismus ....................................... 147 Gegen Platon – gegen die Metaphysik?...............................................................150 (Anti-)Sokratische Philologie .......................................................................... 153 Bemerkungen zu Nietzsches Wahrheitsbegriff ...................................................166

4.4 4.5 4.6 4.7

Zarathustras Metaphysik I: Vom Gesicht und Räthsel ............................................. 173 Zarathustras Metaphysik II: Der Genesende .........................................................186 Nietzsche und der Nihilismus ..........................................................................196 Von (Seins-)Wahrheit und/zur Kunst................................................................. 206

5 5.1

Heidegger – die Wiederentdeckung der Seinsfrage? ..................................... 211 »Das Nichts ist zugegeben« – Seinsvergessenheit/Nichtsvergessenheit ........................................................... 215 5.2 Vom Nichts zur Sprache als »Haus des Seins« ................................................... 236 5.3 Sprache und Mensch im »Haus des Seins« ......................................................... 241 5.4 Die Rückkehr in den Anfang als differenzielle Wiederholung................................... 261 6

Philologie der Seinsfrage.................................................................... 275

7 Literatur, Siglen, Internetquellen........................................................... 281 Textausgaben ...................................................................................................... 281 Sekundärliteratur ................................................................................................ 284 Sigeln ............................................................................................................... 297 Internetquellen ................................................................................................... 298

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Arbeit an den Ent- und Verdeckungen der Seinsfrage Das Sein selbst abschätzen: aber das Abschätzen selbst ist dieses Sein noch –: und indem wir Nein sagen, so thun wir immer noch, was wir sind… Man muß die Absurdität dieser daseinsrichtenden Gebärde einsehen; und sodann noch zu errathen suchen, was sich eigentlich damit begiebt. Es ist symptomatisch.1

Bis Friedrich Nietzsche Ende des 19. Jahrhunderts zu dieser aporetischen Bemerkung kommen konnte, musste die Frage nach dem Sein Zirkel des Entdeckens, Verdeckens und Wiederentdeckens durchlaufen. Dabei formiert sich seit der frühgriechischen Spekulation jene »Absurdität«, die nicht nur den Status des ontologischen Denkens, sondern ebenso deren metaphorische Verfasstheit ausprägt: Das Sprechen, Dichten, Denken über Sein verweist in einer Rückübertragung stets auf die ontologische Struktur des Seins selbst. Diese vorgeblich paradoxale Wechselbeziehung anhand der Vorsokratiker, Platons, Nietzsches und schließlich Heideggers philologisch fundiert philosophisch zu beleuchten, ist Aufgabe der nachstehenden Untersuchung. Dass Nietzsche dem auf den ersten Blick tautologisch anmutenden Aufbau der Ontologie eine gewisse Symptomatik unterstellt, scheint angesichts des parmenideischen Ursprungs der Seinsfrage, welcher besagt, »daß es [Sein] ist und daß nicht ist, daß es nicht«2 , einerseits nachvollziehbar, andererseits fragwürdig. Im Horizont dieser Fragwürdigkeit steht jene essentielle Problematik, welche sich im 1 Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1887-1889. In: Ders.: KSA, Band 13. S. 45. Alle weiteren Zitate entstammen dieser Ausgabe und werden durch Angabe der Bandnummer und Seitenzahl gekennzeichnet. 2 Parmenides: Über das Sein. S. 6-7; DK 28 B 2. Im Folgenden dient diese Ausgabe als Referenz. Zitation erfolgt durch die gebräuchliche Sigle nach Diels/Kranz (DK 28) und deren Unterteilung in A, B und C Fragmente. Gr.: »[…] ἔστιν τε καὶ ὡς οὐκ ἔστι μὴ εἶναι […].«

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Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen

diskursiven Spannungsfeld von Wahrheit und Unwahrheit, Sein und Nichtsein entfaltet – was dazu anhalten sollte, den epistemischen Rang der ersten und letzten Frage anzuerkennen und nicht zu pathologisieren. Amplifiziert man Nietzsches negativ konnotiertes »Abschätzen« vor diesem Hintergrund um eine positive Perspektive, hieße dies abzuschätzen – im Sinne des Abwägens –, welche Tragweite ontologische Bestimmungen für die Geschichte des Denkens innehaben und welche Bedeutsamkeit hermeneutische Erkenntnis für die Sprache der Ontologie aufweist. Um dieser Dopplung angemessen Rechnung zu tragen, müssen jene Texte für eine literaturphilosophische Arbeit prädominieren, die den intrinsischen Zusammenhang von Sein, Mensch und Sprache zum Thema haben. Diese Texte können nun dichterischer oder prosaischer Natur sein; bezüglich des vorgestellten Projektes erscheint es indessen nicht sinnvoll, eine gattungstheoretische Diskussion anzustoßen, sondern gerade den unlösbaren Konnex von Seinsmetaphorisierung und Seinsdenken stark zu machen. Aus dezidiert literaturwissenschaftlicher Sicht mag man sich an dieser ›Unentschiedenheit‹ stören. Sie ist allerdings von zentralem Gewicht, sofern es darum gehen soll, ein leitendes Band von den Vorsokratikern zu Heidegger zu knüpfen und so die relevanten Texte als dasjenige bestehen zu lassen, was sie sind: Versuche, Seinsqualitäten sprachlich dem Vernehmen zu überantworten. Historisch ist zu bilanzieren, dass Dichtung und Philosophie spätestens seit Platon als getrennte Systeme der Spekulation gefasst werden – wobei der Herrschaftsanspruch klar aufseiten der Philosophie verortet wurde. Dass sich dies nicht seit Anbeginn der Seinsphilosophie in solcher Weise verhält, ja dass gerade in den vorsokratischen Lehrstücken, die dem platonischen Denken den Weg bereiteten, ontologische Erkenntnisse im poetischen Rahmen zu Tage treten, korreliert mit dem Sein als gemeinsamem Fixpunkt von Dichtung und Ontologie. Wenn in der Politeia die Exilierung des Dichters aufgrund seines vorgeblich täuschend‐nachahmenden Wesens gefordert wird3 , so findet bereits hier eine Argumentation auf ontologischem Boden statt – ein Boden, der durch die Vorsokratiker4 ermöglicht, von Nietzsche anti‐platonisch revitalisiert und von Heidegger, die Metaphysik destruierend, wiederentdeckt wurde. Die folgende Untersuchung unternimmt es jedoch nur flankierend, die jeweiligen Gründe für das disziplinäre Auseinanderdriften zu eruieren. Wichtiger dürfte 3 Platon: Politeia (Der Staat). In: Ders.: Werke in acht Bänden, Band 4. S. 216-217; 398 a–b. Im Weiteren wird diese Ausgabe als Referenz verwendet. Markierung im Fließtext erfolgt durch die Angabe des Kurztitels (Pol.) und der Staphanus-Paginierung. 4 Die Bezeichnung ›Vorsokratiker‹ hat sich in Altphilologie und Philosophie etabliert und wird hier beibehalten – auch wenn sie strenggenommen nicht zutreffend ist. Zur Genese des Begriffs, vgl.: Laks, André: »Die Entstehung einer (Fach)Disziplin: Der Fall der vorsokratischen Philosophie.« In: Frühgriechisches Denken. S. 19-39.

1 Arbeit an den Ent- und Verdeckungen der Seinsfrage

eine akkurate Analyse der seinsreferentiellen Theoreme sein, die insofern von literaturwissenschaftlichem und philosophischem Interesse sind, als sie nicht auf institutionelle Separation hindeuten, sondern auf den Kontext von Sein und Sprache. Im Fokus ist deshalb eine Offenlegung derjenigen Tendenzen, welche der Entdeckung oder Verdeckung von Sein Vorschub leisten. Angesichts dessen gilt es vor allem, einen philologisch substanziierten Querschnitt über diejenigen Seinstexte zu gewährleisten, die in gewissem Sinn einen liminalen Rang dokumentieren, dementsprechend mit dem Fokus auf die Seinsfrage eine Position einnehmen, die zwar landläufig der Philosophie zugeordnet wird, aber gerade deshalb das Wesen der Wahrheitsfähigkeit von Sprache tangiert: das Fundament des Seinsdenkens in den Fragmenten Anaximanders, Heraklits, Parmenides; Platons ›nihilistische‹ Destruktion der vorsokratischen Seinskonfiguration im Sophistes; Nietzsches negativ‐ambivalente Wiederentdeckung der Seinsfrage von der Geburt der Tragödie bis zu Also sprach Zarathustra; Heideggers Seinsphilosophie der Unverborgenheit in Was ist Metaphysik? und Über den Humanismus. Diese Auswahl darf natürlich nicht als monolithisch angesehen werden, sondern verfolgt ein bestimmtes Ziel, welches durch angrenzende Texte der jeweiligen Denker und Forschungsliteratur untermauert wird: den Nachvollzug des ontologischen Sujets für prominente Vertreter des ›abendländischen‹ Denkens sowie den Aufweis der innerlichen Zusammengehörigkeit der jeweiligen Seinserklärungs- oder Seinsverklärungsversuche. Auf den ersten Blick mag diese Thematik antiquiert wirken. Richtet man hingegen erstens das Augenmerk auf den komparatistischen Ansatz, welcher die Verbindbarkeit hermeneutisch anspruchsvoller Denkweisen realisiert, und zweitens auf das Vorhaben, dem Poststrukturalismus, der die Tendenz zeigt, ontologisch tragfähige Wahrheitsbegriffe zu erodieren, die Basis des Seinsdenkens entgegenzuhalten, so ist die vorliegende Arbeit gerade in diesen Punkten ›aktuell‹. Das schon von Heidegger angeprangerte Verlorengehen der Seinsfrage wird – trotz ihres offensichtlich problematischen Gestus – hinsichtlich dessen gerade ob ihrer Unzeitgemäßheit zeitgemäß. Was aber in einem ausnehmenden Sinne verborgen bleibt oder wieder in die Verdeckung zurückfällt oder nur »verstellt« sich zeigt, ist nicht dieses oder jenes Seiende, sondern […] das Sein des Seienden. Es kann so weitgehend verdeckt sein, daß es vergessen wird und die Frage nach ihm ausbleibt.5 Wenn Heidegger 1927 in Sein und Zeit konstatiert, die Geschichte der Philosophie sei zugleich die Geschichte des Vergessens von Sein, so müssen unter Berücksichtigung dessen Seinszugänge sowie deren Verstellungen von den Vorsokratikern über 5 Heidegger, Martin: Sein und Zeit. S. 35. Für die vorliegende Arbeit wird diese Ausgabe verwendet. Zitation im Fließtext erfolgt durch Angabe der Sigle (S.u.Z.) und der Seitenzahl.

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Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen

Platon bis Nietzsche und Heidegger ausgemacht und analysiert werden. Aus diesem Grund liegt dieser Untersuchung eine quartäre Struktur inne, deren These als einheitlich zu bezeichnen ist: Die Suche nach dem Sein und dessen Wirken beginnt mit der frühgriechischen Seinsspekulation, wird von Platon durch einen die Verschiedenheit forcierenden Bruch mit dem vorsokratisch‐poetischem Wissen um das Sein als solches verdeckt und letztlich erst durch Heidegger – in der umwertenden Nachfolge Nietzsches – wiederentdeckt. Bevor jedoch mit der eigentlichen Auslegung der Seinstexte begonnen werden kann, sollen im Folgenden prägnant Anmerkungen zu einer Hermeneutik des Seinsbegriffs sowie zu Quellenlage und Textkorpus geschaltet werden.

1.1

Hinweise zur Hermeneutik des Seinsbegriffs

Wenn die Bedeutung von Sein der – textlich sowie ontologisch präsentierte – »wahre Sinn«6 desselben ist, muss Hermeneutik als Wissenschaft des Sinns in der vorliegenden Arbeit demnach die notwendige Praxis bilden. Hermeneutische Methode im Spiegel der Seinsfrage meint dann auch, der epistemischen Tragweite des Themas Rechnung zu tragen. Geht es um das Sein in verschiedenen historischen Zusammenhängen, so ist parallel eine Behandlung des jeweiligen Wahrheitsbegriffs gefordert. Wahrheit spiegelt sich spätestens seit Parmenides in der Struktur des Seins. Die Struktur des Seins offenbart – im Sinne des frühen Heidegger (vgl. S.u.Z., S. 33) – ihre Wahrheit im Noetischen. Dessen Verbindung zum Sein ist leitmotivisch mit dem Phänomen der Metaphorisierung in Kontakt zu bringen. Daraus ergibt sich ein Zirkel, aus dem sich eine methodische Vierheit kristallisiert: I.) Hermeneutisches Vorgehen als Entdeckung des Sinns von Sein, II.) der Sinn von Sein als Wahrheit des Seins, III.) das Erkennen als Offenheit von Wahrheit, IV.) Seinsmetaphern als Mittel, die Offenheit von Wahrheit dem Erkennen hermeneutisch zu überantworten. Bedenkt man angesichts dieses Verfahrens nun die geschichtlichen Bruchstellen der Ontologie, so zeigen sich die der Methodik inhärenten Schwierigkeiten: Wenn Wahrheit – wie etwa in Nietzsches antiepistemischem Bemühen – nicht mehr als Statthalterin des Sinns von Sein fungieren soll, sondern durch »[e]in bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen«7 ersetzt wird, muss geklärt werden, inwieweit dies die vorgegebene Arbeitsweise beeinflusst. Es sollte dann exponiert werden, ob ein Nexus von Sein und Denken jenseits der Hermeneutik bestehen kann 6 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. S. 303. 7 Nietzsche, Friedrich: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In: Ders.: KSA, Band 1. S. 873-890, hier S. 880-881. Zitation nach dieser Ausgabe durch Sigle (KSA 1) und Seitenzahl.

1 Arbeit an den Ent- und Verdeckungen der Seinsfrage

– sofern die Wahrheit des Seins sinnvoll ist. Gegen das Sein und dessen Wahrheit zu arbeiten, heißt: das Sein und dessen Wahrheit als Negativum anzuerkennen. Auf Seinstexte bezogen, subvertiert dieses negativ gewandte Erkennen den angedachten vierteiligen Zirkel von IV.) rückwärts und erweitert ihn dadurch um das Anwesen des konventionell-›sinnlosen‹ Widerspruchs, dessen ontologische Qualität die Wahrheit erst ermöglicht. Denn: Die Wahrheit des Seins wäre nicht wahr, wenn nicht die erkannte Falschheit in ihr läge. An den Negationen der Ontologie verkehrt sich die Hermeneutik selbst, um der zu erkennenden Wahrheit die Immanenz der notwendigen Falschheit einzuräumen. Wie ersichtlich geworden sein dürfte, geht es methodisch darum, diejenigen Theoreme aus den zu besprechenden Texten – von den Fragmenten der Vorsokratiker über Platon bis hin zu Nietzsche und Heidegger – zu filtern, welche strukturell entweder ontologischen Wahrheitsanspruch für sich proklamieren oder dessen Destruktion vorhaben. Nur ist die Grenzziehung hierbei nicht a priori nachvollziehbar. Wenn Platon zum Bespiel im Dialog Sophistes die Verschiedenheit mit dem Nichtseienden identifiziert8 , so verübt er einen formallogischen wie weitreichenden9 Fehler, der jedoch mit dem Anspruch kongruiert, Wahrheit zu entbergen. Erkenntnistheoretisch steht man vor einer κρίσις im griechischen Wortsinn der (Ent-)Scheidung oder der Auswahl: Es muss interpretatorisch herausgestellt werden, inwieweit die intentional erfasste Wahrheit der ontologischen Implikation gerecht wird. Was indessen unter ›Interpretation‹ zu verstehen ist, bedarf der Verdeutlichung. Leicht könnte behauptet werden, dass durch die Arbeit an Seinstexten eine ›neue‹ Wahrheit konstruiert würde, deren Aussage sich allein auf die Tatsache des Zweifels an einer ›alten‹ Wahrheit stützte. Dieser Einwand verfehlt das Faktum, dass jeder Autor untrennbar mit jenem historischen Geflecht verwoben ist, das sich aus der ontologischen Bindung von (Da-)Sein und Sprache ergibt. Eine ›neue‹ Wahrheit kann es für Sein dementsprechend insofern nicht geben, als dieses zwar den Möglichkeitsspielraum der Entscheidung festlegt, jene allerdings stets durch die Verwendung von Sprache an das a‐temporale Sein rückgebunden bleibt. Der folgende Satz Descartesʼ muss also exemplarisch kritisiert werden: »Denn mit dem Verstand für sich genommen nehme ich die Vorstellungen nur wahr, über die ich ein Urteil fällen kann, und so schlechthin betrachtet, findet sich in 8 »Wenn wir Nichtseiendes sagen, so meinen wir nicht, wie es scheint, ein Entgegengesetztes des Seiendes, sondern nur ein Verschiedenes.« Gr.: »Ὁπόταν τὸ μὴ ὂν λέγωμεν, ὡς ἔοικεν, οὐκ ἐναντίον τι λέγομεν τοῦ ὄντος ἀλλ᾽ ἕτερον μόνον.« (Platon: Sophistes. In: Ders.: Werke in acht Bänden, Band 6. S. 219-401; 216 a – 268 d; hier S. 360-361; 257 b). Alle Referenzen aus dieser Ausgabe. Kennzeichnung durch Stephanus-Paginierung und Sigle (Soph.). 9 Vgl. hierzu Kapitel 3.2 bis 3.4 der vorliegenden Arbeit.

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Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen

ihm kein eigentlicher Irrtum.«10 Descartesʼ reduktives Verfahren führt ihn in den Meditationen zu der Annahme, quasi‐solitär geistige Erkenntnis von materiellen Entitäten trennen und im Zweifel auslegen zu können. Diese Annahme hat sich in der nachcartesianischen Philosophie – in Kombination mit einer damit korrelierenden Wende hin zur Bewusstseinsphilosophie – weitgehend durchgesetzt.11 Wie zu zeigen sein wird, kann Irrtum aber augenscheinlich am Sein teilhaben; wenn es ihn nicht gäbe – auch nicht im Vernehmen des jeweiligen Denkers – wäre er nicht im Sein, wäre er kein Seiendes. An diesem Punkt greift die von Literatur in Position gebrachte Vergleichbarkeit. Indem eine Auswahl von Texten im Horizont eines Themas – der Entdeckung, Verdeckung und Wiederentdeckung der Seinsfrage – für die Untersuchung getroffen wurde, kann aufgrund dieser Selektion Gemeinsames und Unterschiedliches auf Konsistenz geprüft werden. Durch dieses abgleichende Verfahren dürfte evident gemacht werden, wie sich Theoreme im Medium der Literatur zu ihrem Status im Sein verhalten. Ob sich dabei eine endgültige Sinnerfüllung einstellt, bleibt zu hinterfragen. Die letzte Erfüllung repräsentiert ein Vollkommenheitsideal. Sie liegt allzeit in einer entsprechenden »Wahrnehmung« […]. Die Erfüllungssynthesis dieses Falls ist die Evidenz oder Erkenntnis im prägnanten Wortsinn. Hier ist das Sein im Sinne der Wahrheit, der recht verstandenen »Übereinstimmung«, der »adaequatio rei ac intellectus« realisiert, hier ist sie selbst gegeben, direkt zu erschauen und zu ergreifen.12 Auch wenn Husserls Denken teils in der cartesianischen Philosophie wurzelt, ist die zitierte Passage aus den Logischen Untersuchungen insofern für die vorgenommene Methode von Belang, als die phänomenale »Übereinstimmung« von heterogenen – jedoch epistemisch verbundenen – Perspektiven für die vorliegende Argumentation mitzudenken ist. Die Frage, ob sich diese »Übereinstimmung« äquivalent zur Wahrheit verhält, ist von dieser Warte aus nur verständlich, wenn Texte in die Forschung einfließen, die sowohl an der Wahrheit des Seins als auch an der Falschheit partizipieren – nur so kann von einer ›Allgemeinheit‹ der Erkenntnis gesprochen werden. Wie es schon Heraklit formuliert: Daher hat man sich dem Allgemeinen [τῷ κοινῷ] anzuschließen – d.h. dem Gemeinschaftlichen, denn der gemeinschaftliche [Logos] ist allgemein; ungeachtet der Tatsache 10 Descartes, René: Meditationes de prima philosophia. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. S. 102-103. Lat.: »Nam per solum intellectum percipio tantùm ideas de quibus judicium ferre possum, nec ullus error proprie dictus in eo praecise sic spectato reperitur[.]« 11 Dies gilt dezidiert nicht für Heidegger, der sich in Sein und Zeit von der cartesianischen Weltauslegung absetzt (vgl. S.u.Z., S. 89-101). 12 Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen, Band 2, Teil 2. S. 4-5. Die im Original vorgenommenen Fettschreibungen werden hier vom Verfasser kursiv markiert.

1 Arbeit an den Ent- und Verdeckungen der Seinsfrage

aber, daß die Auslegung eine allgemeine ist, leben die Leute, als ob sie über eine private Einsicht verfügen.13 Es kann erst von einer ›logischen‹ »Auslegung« (DK 22 B 1) – die hier referierte Übertragung Jaap Mansfelds verdeutscht daher richtigerweise den herakliteischen λόγος mit diesem Wort – gesprochen werden, wenn die Einsicht vorliegt, dass Texte, sofern sie es beanspruchen, Seinswissen zu entbergen, notwendig auch Irrtum in sich tragen. Dieser ist in Beziehung zur Gemeinschaftlichkeit der ›Logik‹ zu setzen und flankiert dadurch die Entscheidung, inwiefern letztlich Wahrheitsgehalt vorliegt – was besonders im Falle des späten Heidegger mittels seiner Philosophie der Unverborgenheit problematisiert werden muss.14 Diese methodischen Prämissen müssen nicht jedes Mal aufs Neue in den einzelnen Abschnitten der Arbeit betont werden. Vielmehr dürfen sie als leitmotivisches Band gesehen werden, das flankierend zur Untersuchung mitgedacht werden sollte.

1.2

Vorbemerkungen zur Quellenlage und Textauswahl

Will man die Entdeckung der Seinsfrage bei den Vorsokratikern als Fundament der Arbeit nachzeichnen, erweist es sich als unabdingbar, prägnant die verwendeten Quellentexte zu kommentieren. Für die vorliegende Betrachtung werden die nach Diels/Kranz kanonisierten Fragmente in zwei Ausgaben zur Zitation gebraucht: Einerseits die von Jaap Mansfeld neu übersetze und kompilierte Sammlung vorsokratischer Textstücke15 , andererseits flankierend die sechste Auflage der erstmals 1903 erschienenen Originalausgabe der Diels-/Kranz’schen Fragmente der Vorsokratiker. Dies hat pragmatische Gründe: Die Übersetzung Mansfelds wirkt aus heutiger Sicht zugänglicher als die frühe Übertragung von Diels; auch gelingt es Mansfeld, den Fragmentkorpus so zu ordnen, dass ein Gesamtbild der jeweiligen ›Lehre‹ entsteht, was einen ersten Zugang wesentlich erleichtert. Gegen eine singuläre Nutzung dieser Ausgabe spricht jedoch sowohl der umfangreichere Kommentar bei Diels/Kranz als auch die Unvollständigkeit der vorsokratischen Philosophien 13 Heraklit: Fragmente. In: Die Vorsokratiker I. S. 244-283, hier S. 244-245; DK 22 B 2. Alle weiteren Referenzen entstammen dieser Ausgabe. Sie werden im Fließtext nach Diels/Kranz (DK 22) nummeriert. Gr.: »διὸ δεῖ ἕπεσθαι τῷ κοινῷ, ξυνὸς γὰρ ὁ κοινός· τοῦ λόγου δ’ἐόντος ξυνοῦ ζώουσιν οἱ πολλοί ὡς ἰδίαν ἔχοντες φρόνησιν.« 14 Vgl. Kapitel 5.1 bis 5.3. 15 Im Fall der Vorsokratiker orientiert sich die Orthographie der griechischen Zitate an dieser Ausgabe, welche eine konsequente Kleinschreibung verfolgt. Im Abschnitt zu Platon wird die Orthographie des griechischen Textes von Bodin, Croiset und Méridier übernommen.

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bei Mansfeld.16 Ohne dies mitzudenken, trüge man dem philologischen Anspruch, der sich zweifellos ihm Rahmen einer so gearteten Forschungsarbeit stellt, kaum Rechnung. Zudem gestaltet es sich als hilfreich, manches Mal beide Übersetzungen gegenüberzuhalten, um so einer möglichen Bedeutungsvarianz nachzugehen. Da sich nun speziell Heidegger als Leser der Vorsokratiker, aber auch Platons und Nietzsches, hervortut, und dessen Denken ob der thematischen Engführung auf das Primat des Ontologischen durch die Untersuchung führt, dürfen seine – teils eigenwilligen – Übersetzungen nicht unbedacht bleiben. Dies bedeutet nicht, dass die Untersuchung streng Heidegger’schen Prämissen gehorcht. Vielmehr dienen Heideggers Texte als referenzielle Anknüpfungspunkte, die selbst der Auslegung bedürfen – was im letzten Kapitel geschehen wird.17 Eingedenk dessen ergibt sich die Dreiheit Mansfeld, Diels, Heidegger, die natürlich nicht bei jedem Fragment ausgeführt wird, sondern nur in Fällen, die einer Verdeutlichung bedürfen. Neben diesen Bemerkungen zur Übersetzungslage, gilt es vor der eigentlichen Analyse, kurz auf die Überlieferung der Fragmente einzugehen: Alle erhaltenen Texte sind sekundär tradiert. Dass dies Erschwernisse bezüglich der Echtheit der Fragmente birgt, ist ein trauriges, wenngleich unumstößliches Faktum. Um eine möglichst akkurate Zuschreibung zu gewährleisten, werden alle Referenzen der Vorsokratiker mit den üblichen Nummern und Buchstaben nach Diels/Kranz ausgewiesen. Dabei bedeutet die dem Kürzel von Diels/Kranz (DK) nachstehende Zahl den jeweiligen Philosophen, die der Nummer folgende Letter (A entspricht einem Bericht über Lehre oder Leben, B einem direkten Zitat, C einem fehlerhaften Fragment) steht für die Einstufung der Fundstelle, geschlossen wird ein Zitat mit der Fragmentnummer. Eingedenk dieser Bestimmungen kann im Folgenden die eigentliche Forschungsarbeit begonnen werden. Es wird hierbei einführend versucht, die vorsokratischen Philosophien in ihrem Verhältnis zur jeweiligen Entdeckungstendenz zu exponieren. Außerdem steht die Relation zwischen Materie und Denken zur Diskussion, welche letztlich auf die Relevanz der Metapher für das Denken selbst hindeutet.

16 Bei Mansfeld nicht enthalten sind beispielsweise die kosmologische Dichtung, große Teile der Pythagoreer und Abderiten oder die ältere Sophistik. 17 In der Forschung zu Heidegger zeigt sich eine Polarität, welche zwischen totaler Abneigung und Zuneigung seines Denkens zu oszillieren scheint. Die folgende Arbeit will sich dieser Radikalität insofern verweigern, als sie bestimmte Theoreme Heideggers aufnimmt, andere jedoch durchaus kritisch reflektiert. Auch an dieser Vagheit mag man sich stören. Doch ist es Aufgabe des philologischen Denkens, ja der Interpretation selbst, nicht um jeden Preis werkimmanente Konsistenz zu suggerieren, sondern Entscheidungen zu treffen, die sowohl zustimmender als auch ablehnender Natur sein können.

2 Die vorsokratische Entdeckung der Seinsfrage Kein Zweifel, daß diese Männer, die man meist mit Thales beginnen läßt, anders und in anderer Richtung gefragt haben als Platon und Sokrates. Man kann es vorläufig vielleicht so sagen, daß sie es zu tun hatten mit den onta, […] den ›seienden Dingen‹ um den Menschen her. Dies Wort, ›das Seiende‹, ist griechisch ein ganz gewöhnliches Wort der Umgangssprache, nicht wie bei uns ein philosophischer Begriff.1

Wenn Wolfgang Schadewaldt die Gewöhnlichkeit der vorsokratischen Verwendung des ontischen Begriffs ›Seiendes‹ herausstellt, so macht er gleichsam auf eine von Heidegger postulierte Schwierigkeit aufmerksam – jedoch mit dem Unterschied, dass letztgenannter ›Sein‹ und nicht ›Seiendes‹ als »›allgemeinste[n]‹« (S.u.Z., S. 3) und »selbstverständliche[n] (S.u.Z., S. 4) Begriff denken wird, der sich kategorial »undefinierbar« (S.u.Z., S. 4) darbringt. Die Problematik dessen wird bald offensichtlich, blickt man auf die übersetzungstheoretische Wendung innerhalb der zitierten Stelle: Schadewaldt reduziert den vorliegenden Plural von »seienden Dingen« auf den Singular »das Seiende«. Es drängt sich also die Frage auf, wie τὰ ὄντα für die Vorsokratiker zu verstehen ist. Hier könnte eine Rückführung auf die Grundform des Wortes zur Klärung beitragen: τὰ ὄντα ist der substantivierte Nominativ – oder Akkusativ – Neutrum Plural der partizipialen Form von εἶναι, welche substantiviert als τὸ ὄν geführt wird. Strenggenommen müsste dementsprechend, sofern von ›dem Seienden‹ gesprochen wird, der Dativ Singular τῷ ὄντι stehen. Das Griechische weist allerdings eine Besonderheit auf: Wird von einer substanziellen Gesamtheit gesprochen, so bezeichnet der Plural den kategorialen Oberbegriff. In dieser Hinsicht ist Schadewaldt letztlich zuzustimmen, lässt sich dieser singularisierende Plural durch die (früh-)griechische Philosophie bei fast allen Denkern – Parmenides nimmt, wie zu sehen sein wird, eine Sonderstellung ein – wiederfinden. So steht bei Anaximander »τοῖς οὖσι« (DK 12 B 1), bei Heraklit 1 Schadewaldt, Wolfgang: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. S. 10.

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»πάντων« (DK 22 B 53) und noch in Platons Phaidon »δύο εἴδη τῶν ὄντων«2 . Diese Beispiele belegen, dass am Anfang des abendländischen Seinsdenkens nicht der Begriff ›das Sein‹ im Zentrum stand, sondern vielmehr eine Hypostasierung festzuhalten ist, deren formaler Ausdruck auf die ganzheitliche Fülle des ontologischen Inhalts hindeutet. Der Beginn der Philosophie rankt sich also um ὄντα-bezügliche Spekulationen, die hingegen zu keiner Zeit den Unterton des Zweifels an der Wahrheit des Seins annehmen. Nicht das Sein als solches – auch nicht der Status des Seienden im Sein – wird von den Vorsokratikern skeptisch betrachtet; am Anfang des griechischen Denkens steht eine kombinatorisch‐positive Fragestellung, deren Gültigkeit aus ontologischer Perspektive gar nicht bezweifelt werden kann: Was ist das, was als Seiendes auftritt und geht? Was ist das Sein dieses Seienden? Martin Heidegger exponiert dies anschaulich in seiner 1932 gehaltenen Vorlesung Der Anfang der abendländischen Philosophie, indem er die ursprüngliche Seinsfrage an die Existenz des Menschen koppelt: Wir existieren, wir sind in unserem Sein auf das Seinsverständnis gebaut, noch mehr, auf die schon gefragte Seinsfrage und das, was sie über das Sein erfragte. Sofern wir existieren, geschieht immer noch jener Anfang [des ersten Fragens nach dem Sein]. Er ist gewesen, aber nicht vergangen – als Gewesener west er und behält uns Heutige in seinem Wesen.3 Was hier deutlich hervortritt, ist die Unausweichlichkeit des Zusammenhangs von Existenz und Seinsverständnis. Die von den Vorsokratikern gestellte Frage nach dem Auftauchen und Verschwinden des Seienden respektive dessen Verbindung zum umfässlichen Sein, ist aufs Engste mit der Tatsache verbunden, dass die ersten Fragen nach dem Seienden zwar verdeckt werden, jedoch durch ihre untrennbare Korrespondenz mit dem Sein temporal und damit geschichtlich nicht zu Nichts werden können. Seitdem unser Menschsein als existentes auf dem Geschehnis des Anfangs gegründet ist, seitdem ist jedes Fragen der Seinsfrage, wenn es wirkliches, sich verstehendes Fragen ist, ein Wiederfragen, in sich geschichtlich und somit eigentlich historisch. Die historische Erkenntnis hat nicht etwa nur den Sinn, das Gewesene zu behalten und das Behaltene weiterzuliefern, sondern vordem die Grundaufgabe, das Gewesene in der Höhe ihrer jeweiligen Größe hochzuwerfen. (GA II, 35, S. 98) 2 Platon: Phaidon. In: Ders.: Werke in acht Bänden, Band 3. S. 1-207, hier S. 72-75; 79 a–b. Alle weiteren Zitate aus dieser Ausgabe. Sie wird im Fließtext durch Angabe der Stephanus-Paginierung nachvollzogen. 3 Heidegger, Martin: Der Anfang der abendländischen Philosophie. Auslegung des Anaximander und Parmenides. In: Ders.: GA II. Abteilung, Band 35. S. 98. Alle weiteren Zitate aus dieser Ausgabe. Kenntlichmachung durch Sigle (GA II, 35) und Seitenzahl.

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Dass Heideggers Wortwahl zu Diskussionen anregen könnte, steht außer Frage. Dennoch öffnet er eben jenen Blickwinkel, der den Anfang des Seinsdenkens charakterisiert und dessen Wesen im Wechselspiel von Menschsein und Verständnis oszilliert. Wenn nach demjenigen gefragt wird, was unter dem Banner des Seins firmiert, wird stets das eigene Dasein befragt. Dieser Verstehensversuch des Daseins ist insofern historisch, als er einerseits Gewesenes ist und andererseits nicht aus der an‐wesenden Zeitlichkeit des Seienden zu lösen ist. Zusammengefasst: Wird heute nach dem Sein gefragt, so unterscheidet sich diese Frage in ihrem Wesen nicht von der ersten. Dass sich aus dieser Struktur Theoreme der Wiederkehr entfalten, muss dann nicht mehr verwundern. »Ein Gemeinsames ist es für mich, von woher ich anfange; denn ich werde dorthin wieder zurückkommen […]«4 (DK 28 B 5), wie Parmenides für seine Überlegungen ›methodisch‹ festhält. Damit ist das Programm einer anfänglichen wie heutigen Ontologie prägnant gekennzeichnet. Vorschnell wäre es hingegen, zu behaupten, dass die Frage nach dem Sein eine immer ›konservative‹ sei. Sie kann indessen gar nicht die Form des Beharrens annehmen, da der Beginn der Frage keinem ontologischen Wandel unterliegt, welcher das Heute beeinflussen könnte. Natürlich ist es möglich, im 21. Jahrhundert quasi‐aristotelisch die Differenzierung des Seienden in den Fokus der Betrachtung zu rücken – für das a‐teleologisch wahre Sein, das nicht wird, sondern ist, spielt dies aber schlicht keine Rolle. Denn »[d]ie Wahrheit des Seins ist ja gerade die Anerkennung der Unveränderlichkeit des Seins (nämlich der konkreten Totalität des Seins).«5 Für den Anfang der abendländischen Metaphysik ist dieses Geltenlassen noch erste Voraussetzung – für den Fortgang des Seinsdenkens eine Fragwürdigkeit, die schon für Platon ein gewisses Nichtsein evozieren wird.6 Alle diese den Anfang betreffenden Überlegungen erklären ferner nicht, wann das Sein in den Mittelpunkt der Philosophie tritt und in welcher Weise hierbei von Metaphernbildung zu sprechen ist. Dies soll kurz veranschaulicht werden. In der Philosophie und klassischen Philologie herrscht die allgemeine Übereinstimmung, dass – wie es auch Schadewaldt gesehen hat – mit Thales von Milet, also zwischen dem Ende des sechsten und der Mitte des fünften Jahrhunderts v.Chr, die frühgriechische Philosophie anzusetzen ist.7 Ob dies der Wahrheit entspricht oder vor Thales stringente Aussagen über die φύσις getroffen wurden, lässt sich kaum nachvollziehen. Freilich finden sich schon bei Hesiod Erklärungsmodelle über die 4 Gr.: »ξὺνον δὲ μοί ἐστιν,/ὁππόθεν ἄρξωμαι· τόθι γὰρ πάλιν ἵξομαι αὖθις.« 5 Severino, Emanuele: Vom Wesen des Nihilismus. S. 178. 6 Man denke in diesem Zusammenhang an den Dialog Parmenides. Im dialektischen ›Spiel‹ geht hier bereits das Nichtsein eine Verbindung mit dem Sein ein (vgl. Platon: Parmenides. In: Ders.: Werke in acht Bänden, Band 5. S. 195-319; 126 a – 166 c, hier S. 304-305; 162 a. Weitere Zitation durch Sigle [Parm.]). 7 Vgl. hierzu auch: Rapp, Christoph: Vorsokratiker. S. 13f.

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Weltentstehung8 , doch werden diese bereits von Aristoteles als ungenügend gekennzeichnet: »So sagt ja auch Hesiodos, die Erde sei zuerst unter den Körpern entstanden, so alt und volkstümlich ist diese Annahme [die Erde sei Prinzip].«9 Auch Aristotelesʼ Kritik an den mythischen Vorgängern ist nicht unbedingt als Novum zu bezeichnen. So erteilt schon Xenophanes um Mitte des fünften Jahrhunderts den anthropomorphen Göttern eine Absage: »Homer und Hesiod haben die Götter mit allem belastet,/was bei Menschen übelgenommen und getadelt wird:/stehlen und ehebrechen und einander betrügen.«10 Es zeigt sich demnach, dass ein Wandel in der Seinswahrnehmung stattgefunden haben muss. Waren bis zu Thales mythische Deutungen des Seienden die bestimmende Form der Spekulation, ändert sich zu seiner Zeit diese Anschauung zum In‐der-Welt-Seienden, da die Beschäftigung mit dem Prinzip des Stofflichen an die Stelle des göttlichen Wirkens im Seienden tritt – zumindest nach Aristoteles: Von den ersten Philosophen hielten die meisten nur die stoffartigen für die Prinzipen von allem; denn dasjenige, woraus das Seiende ist und woraus es als Erstem entsteht und worein es als Letztem untergeht, indem das Wesen bestehen bleibt und nur die Eigenschaften wechseln, dies, sagen sie, ist Element und Prinzip des Seienden. […] Thales, der Urheber solcher Philosophie, nennt es Wasser […].11 (Met., 983 b) Aristoteles setzt Thales als ersten Philosophen ein, der, sich vom Mythos lösend, versuchte, konsistente Aussagen über das Sein der Natur zu treffen. Auch wenn Aristoteles gerade das dadurch aufkeimende Primat des Stofflichen gegenüber dem Ideellen – vice versa – als philosophisch problematisch darstellt (vgl. Met., 984 a), offenbaren sich am Anfang des Seinsdenkens drei philosophische Knoten8 Zum Beispiel in der bekannten Passage der Theogonie, der zufolge zuerst das Chaos war: »Ἤτοι μὲν πρώτιστα Χάος γένετ·'« (Hesiod: Theogonie. S. 12-13; V. 116) 9 Aristoteles: Metaphysik, Bücher I(A)–VI(E). S. 46-49; 989 a. Für die vorliegende Arbeit dient diese Ausgabe als Referenz. Kenntlichmachung im Fließtext erfolgt durch Sigle (Met.) und BekkerZählung. Gr.: »φησὶ δὲ καὶ Ἡσίοδος τὴν γῆν πρώτην γενέσθαι τῶν σωμάτων· οὕτως ἀρχαίαν καὶ δημοτικὴν συμβέβηκεν εἶναι τὴν ὑπόληψιν.« 10 Xenophanes: Fragmente. In: Die Vorsokratiker I. S. 214-229, hier S. 220-221; DK 21 B 10. Im Folgenden wird diese Ausgabe nach Diels/Kranz zitiert. Gr.: »πάντα θεοῖσ᾿ ἀνέθηκαν ῞Ομηρός θ᾿ ῾Ησίοδός τε,/ὅσσα παρ᾿ ἀνθρώποισιν ὀνείδεα καὶ ψόγος ἐστίν,/κλέπτειν μοιχεύειν τε καὶ ἀλλήλους ἀπατεύειν.« 11 Gr.: »τῶν δὴ πρώτων φιλοσοφησάντων οἱ πλεῖστοι τὰς ἐν ὕλης εἴδει μόνας ᾠήθησαν ἀρχὰς εἶναι πάντων· ἐξ οὗ γὰρ ἔστιν ἅπαντα τὰ ὄντα, καὶ ἐξ οὗ γίγνεται πρώτου καὶ εἰς ὃ φθείρεται τελευταῖον, τῆς μὲν οὐσίας ὑπομενούσης τοῖς δὲ πάθεσι μεταβαλλούσης, τοῦτο στοιχεῖον καὶ ταύτην ἀρχήν φασιν εἶναι τῶν ὄντων[.] […] Θαλῆς μὲν ὁ τῆς τοιαύτης ἀρχηγὸς φιλοσοφίας ὕδωρ εἶναι φησὶν·«

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punkte: a) Philosophie als Gegensatz zur Theologie, b) Dichtung als philosophische Form, und c) Philosophie am Scheideweg zwischen Materie und Idee.12 Zu a): Nimmt man an, Thales sei der erste ›Philosoph‹ – dieses Wort ist natürlich eine Zuschreibung a posteriori –, verkennt man die historischen Allianzen zwischen Theologie und Wahrheitssuche. Obwohl Thales anders fragt – nämlich nach dem einen prinzipiellen Ursprung des Seienden – als Hesiod oder Homer, bedeutet dies nicht, dass mit ihm das Theistische gänzlich von Philosophemen geschieden wurde. Denn vertraut man Aristoteles als Gewährsmann, ist zu konstatieren: »Thales glaubte, daß alles von Göttern voll sei.«13 Mit dieser Verquickung von Göttlichem und ›rationaler‹ Weltauslegung ist Thales nicht alleine. Folgt man der Spur der frühesten Denker, findet sich dieser Zusammenhang durch fast die gesamte Geschichte der Vorsokratiker: Anaximenes behauptet nach Cicero, »Gott sei Luft«14 – wobei »Luft« als unbeschränktes Prinzip gesetzt wird; Xenophanes kritisiert zwar die attributive Menschlichkeit der Götter, beharrt aber darauf, dass »[e]in einziger Gott ist unter Göttern und Menschen der Größte,/weder dem Körper noch der Einsicht nach den sterblichen Menschen gleich […]«15 (DK 21 B 23); die Pythagoreer sehen die Göttlichkeit in der Zahlenharmonie gespiegelt16 ; Heraklit lehrt, dass »[d]er Gott […] Tag-Nacht, Winter-Sommer, KriegFrieden, Sättigung-Hunger«17 (DK 22 B 67) ist; Parmenides verpflichtet in seinem Lehrgedicht, welches als anabasische Offenbarung gelesen werden kann, die Göttinnen des Rechts (vgl. DK 28 B 1) und der Notwendigkeit (vgl. DK 28 B 8). Die Vorsokratik als Epoche der a‐theistischen ›Rationalität‹ hinzustellen, ist daher weder philosophisch noch philologisch haltbar. Jedoch ändert sich das Gottesverständnis am Anfang des abendländischen Denkens. Dies hat vor allem seinsbasierte Gründe: War bis Thales die Welt durchwirkt vom Sein der Götter, untrennbar das Seiende mit seiner theistisch motivierten Seinswertigkeit verbunden, wird nun expliziert, was vorher aus Gründen der Offensichtlichkeit des Seienden unbefragt blieb. So ist eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung der Philosophie die Bereitschaft, selbständig Modelle zur Erklärung einzelner Phänomene oder der Entstehung bzw. dem »Wesen« der Welt im ganzen zu entwerfen und sie in bewusster Konkurrenz zu traditionellen Erklärungen zu verteidigen. Das ist im Ansatz schon 12 Christof Rapp konstatiert ebenfalls diese Momente (vgl. Rapp, Christof: Vorsokratiker. S. 13-20). 13 Thales: Fragmente. In: Die Vorsokratiker I. S. 44-55, hier S. 50-51; DK 11 A 22. Gr.: »Θαλῆς ᾠήτη πάντα πλήρη θεῶν εἶναι.« 14 Anaximenes: Fragmente. In: Die Vorsokratiker I. S. 88-97, hier S. 97; DK 13 A 10. Lat.: »[A]era deum statuit […].« 15 Gr.: »εἷς θεός ἔν τε θεοῖσι καὶ ἀνθρώποισι μέγιστος,/οὔτι δέμας θνητοῖσιν ὁμοίιος οὐδὲ νόημα.« 16 Vgl.: Pythagoras, ältere Pythagoreer: Fragmente. In: Die Vorsokratiker I. S. 122-203, hier S. 144-145; DK 44 B 11. 17 Gr.: »ὁ θεὸς ἡμέρη εὐφρόνη, χειμὼν θέρος, πόλεμος εἰρήνη, κόρος λιμός […].«

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in der mythologischen Darstellungsform der Fall […]. Andererseits spielen bildhafte Darstellungsmomente und auch der reflektierte Mythos in der Philosophie noch lange Zeit eine Rolle.18 Wurden bis zum Auftreten des Seinsdenkens Götter als Ursächlichkeit des In‐derWelt-Seienden gefasst, changiert diese Annahme um das gegenteilige Verhältnis: Das, was vordem als göttliche Gewissheit galt, dient jetzt eher der Untermauerung eines Prinzips oder des generellen Seins – letzteres vor allem bei Anaximander und Parmenides. Diese Tendenz der auslegenden Argumentation geht mit b) einher. Die These, die Vorsokratik sei als Übergangsepoche zwischen Dichtung und Philosophie anzusehen, greift allerdings zu kurz, da ihr das Moment der teleologischen ›Verbesserung‹ des noetischen Gehalts innewohnt. Am Ende dieser Entwicklung stünde eine Art absolute Philosophie der Rationalität, deren formaler Ausdruck mit dem Inhalt vollkommen kongruiere – ein Gedanke, der aufgrund der literarischen Verfasstheit der Philosophiegeschichte seltsam mathematisch anmutet. Im Gegensatz zu dieser Einstellung gilt es vielmehr, die poetische Fülle der Lehrtexte zu exponieren. Denn der Emanzipationsprozess der Philosophie als eigener Wissensbereich, mit eigenem Selbstverständnis und mit literarischer Darstellung, vollzog sich in Griechenland und Rom in enger Verbindung mit und oft in einem Spannungsverhältnis zu unterschiedlichen Genres […].19 Dies ist besonders für den Beginn der abendländischen Philosophie zu konstatieren, da »bei den griechischen Vorsokratikern Prosa noch keine allgemein akzeptierte Form der Kommunikation zu sein scheint«20 . Sich über den Anfang zu äußern, erfordert eingedenk der sprachlichen Besonderheiten demnach immer eine Reflexion über die gebrauchten Tropen und Textformen. Ohne eine Analyse dieser Aussagequalitäten wäre nicht zuletzt dem Seinsthema kaum Rechnung getragen. Denn: Es hat auch ontologische Gründe, warum Xenophanes, Parmenides oder Empedokles den Hexameter benutzen, ebenso wie es Gründe hat, dass Platons Philosophie später im Ausschluss des Dichters mündet oder Nietzsche ungefähr 2500 Jahre darauf in Also sprach Zarathustra zur Form des Lehrgedichts zurückkehrt. Dies soll nicht bedeuten, dass es den dichtenden Philosophen an Stringenz mangelt – im Gegenteil: sind die poetischen Elemente ja als Zeichen zu deuten, Wissen prozessual und unmittelbar dem jeweiligen Adressaten zu übermitteln. Sofern gerade 18 Rapp, Christof: Vorsokratiker. S. 17. 19 Erler, Michael: »Einleitung.« In: Erler, Michael/Heßler, Jan Erik (Hg.): Argument und literarische Form in antiker Philosophie. S. 1-12, hier S. 1. 20 Erler, Michael: »Einleitung.« S. 2.

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die frühesten Zeugnisse menschlichen Seinsdenkens nicht aus Selbstzweck existieren, sondern pädagogischen und didaktischen Zielsetzungen dienen, unterliegt ihr Vorhandensein literarischen Regeln, die den philosophischen Auftrag untermauern. Daher muss flankierend zur ontologischen Interpretation stets das Poetische einbezogen werden. Neben dieser Prämisse ist es unabdingbar, prägnant auf die die Entdeckung der Seinsfrage betreffende Textauswahl einzugehen. Diese spiegelt sich in Punkt c), das anfängliche Verhältnis von Materie und Idee betreffend. Wie gezeigt worden sein dürfte, zieht Thales Erkenntnis aus dem Postulat, Wasser sei das Prinzip des Seienden. In ähnlicher Weise wird Anaximander von Simplikios und Theophrast der Gedanke zugesprochen, »Anfang und Element der seienden Dinge sei das Unbeschränkte [τὸ ἄπειρον]«21 (DK 12 A 9, B 1). Auf den ersten Blick mögen sich hier strukturelle Analogien auftun, da schon die Doxographen Anaximander zu den Vertretern des stofflichen Denkens zählten.22 Auf den zweiten besteht jedoch ein gravierender Unterschied: Das ἄπειρον kann schwerlich haptisch begriffen werden. Als unbeschränktes ἄ-πειρον23 handelt es sich um eine metaphorisch‐gedankliche Entität, die aus dem Seienden deduziert wird. Dies ist insofern von Interesse, als sich mit Thales und Anaximander eine sich bedingende und zugleich absondernde Tradition auftut: die elementare Frage, ob das phänomenal Seiende in der Welt dieselbe erklären kann oder ob ein übergeordnetes Sein angenommen werden muss, das notwendig das Seiende in sich greift. Platon wird diese Gegnerschaft im Sophistes allegorisch als »Riesenkrieg [γιγαντομαχία]« (Soph., 246 a) bezeichnen und Heidegger dieses grundsätzliche Problem am Anfang von Sein und Zeit wieder aufnehmen.24 Für das hier zu untersuchende Thema muss sich diesbezüglich positioniert werden: Soll es um den Zusammenhang von Sein und dessen Aus-Sprache gehen, sind Texte zu untersuchen, deren Struktur Seinsdenken widerspiegelt. Seiendes als Sein zu fassen – wie es bei materialistischen Seinsanalysen vorkommt –, kann allerdings nicht befriedigend den bedeutenden Aspekt der Seinsmetaphorisierung ins Auge fassen. Aus diesem Grund ist es von Belang, die Textselektion engzuführen: Ist es im ersten Schritt der Leitfaden, die Entdeckung der Seinsfrage zu exponieren, so soll vornehmlich Literatur untersucht werden, in welcher Sein im 21 Gr.: »ἀρχήν τε καὶ στοιχεῖον εἴρηκε τῶν ὄντων τὸ ἄπειρον […].« 22 Vgl. hierzu auch: Rapp, Christof: Vorsokratiker. S. 36. 23 Das Wort ἄπειρον ist ein auch als Adjektiv benutztes Kompositum aus dem privativen Abgrenzungs- oder Verneinungspartikel ἀ- und dem Substantiv πέρας (ionisch πεῖρας), welches in der Bedeutung ›Grenze‹, ›Beschränkung‹ geführt wird. 24 »Die genannte Frage [nach dem Sinn von Sein] ist heute in Vergessenheit gekommen, obzwar unsere Zeit sich als Fortschritt anrechnet, die ›Metaphysik‹ wieder zu bejahen. Gleichwohl hält man sich der Anstrengungen einer zu entfachenden γιγαντομαχία περὶ τῆς οὐσίας für enthoben.« (S.u.Z., S. 2)

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Ganzen im Zentrum steht. Betrachtet man die Fragmente der Vorsokratiker unter dieser Rücksicht und nimmt zudem das Metaphorische als Nahtstelle von Sein und Denken hinzu, ergibt sich eine auf Anaximander, Heraklit und Parmenides basierende Textauswahl, deren Begründung präziser in den jeweiligen Analysen stattfindet. Ziel dieses ersten Schrittes ist es, diese vorsokratischen Seinsentdeckungen als Basis der späteren Verdeckungs- und Wiederentdeckungstendenzen bei Platon, Nietzsche und Heidegger auszuweisen.

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Anaximanders metaphorische Seinsgründung Ja, Theophrast sagt direkt von diesem Satz [des Anaximander]: ποιητικοτέροις ονόμασιν αὐτὰ λέγων – Anaximander spricht hier in poetischen Worten. Aber »poetisch« sind diese Worte nur, wenn man ihnen eine betont rechtlich-sittliche Bedeutung gibt und dazu an der ungegründeten Voraussetzung festhält, es handle sich um Naturerkenntnis. Poetisch freilich sind sie in einem echten Sinne der Seinsdichtung – Er-dichten das Sein; das aber gerade das Verlassen der »Anthropomorphie« und deshalb Unmöglichkeit solcher Überlegung! (GA II, 35, S. 12)

Martin Heideggers Versuch, a priori den poetischen Wert des anaximandrinischen ›Satzes‹ abzusprechen, beziehungsweise ihn unter die Herrschaft einer – wie auch immer gearteten – ontologischen ›Echtheit‹ zu zwingen, mutet gleichwie übervorsichtig, wenn nicht verdrängend an.25 Ob dies sinnvoll erscheint, oder ob nicht vielmehr gerade die poetische Wortwahl eine Allianz mit den ontologischen Implikationen eingehen muss, kann nur mit Blick auf das Fragment geklärt werden. Daher wird es im Folgenden zuerst in der Übersetzung Jaap Mansfelds samt des Nachsatzes Theophrasts, darauf in der Übertragung Dielsʼ und letztlich im griechischen Original zitiert: 25 Michael Theunissen bemerkt kritisch zur Tilgung des Nachsatzes bei Heidegger: »Bedenklicher ist, wie Heidegger sich ihrer entledigt, nämlich kurzerhand, und am bedenklichsten stimmt seine vom lexikalischen Zugriff genährte Hoffnung, damit auch die Sache loszuwerden.« (Theunissen, Michael: Pindar. S. 926)

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»Aus welchen [seienden Dingen] die seienden Dinge ihr Entstehen haben, dorthin findet auch ihr Vergehen statt, wie es in Ordnung ist, denn sie leisten einander Recht und Strafe für das Unrecht, gemäß der zeitlichen Ordnung«, darüber in diesen eher poetischen [metaphorischen] Worten sprechend. (DK 12 B 1, A 9) Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung.26 »ἐξ ὧν δὲ ἡ γένεσίς ἐστι τοῖς οὖσι, καὶ τὴν φθορὰν εἰς ταῦτα γίνεσθαι κατὰ τὸ χρεών· διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις τῆς ἀδικίας κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν«, ποιητικοτέροις οὕτως ονόμασιν αὐτὰ λέγων. Lässt man Heideggers Kritik vorerst beiseite und nähert sich dem Text immanent, treten mehrere Ebenen in Anaximanders ›Satz‹ hervor, die in einem ersten Schritt strukturell festgehalten werden müssen: a) mittelbare Feststellung: »seiende Dinge [τοῖς οὖσι]« sind; b) Verhältnismäßigkeit: dies Seiende – man denke die Reduzierung des griechischen Plurals zum Singular mit27 – ist topologisch (εἰς ταῦτα) mit seinem Kommen und Gehen (ἡ γένεσίς und τὴν φθορὰν) verknüpft; c) Notwendigkeit dieser Aufweisung: es kann nur so sein (κατὰ τὸ χρεών); d) Grund: weil sie sich »Recht und Strafe [δίκην καὶ τίσιν]« für »das Unrecht [τῆς ἀδικίας]« schulden; e) temporale Konjunktion: die Verhältnismäßigkeit von a) und d) ist zeitlich organisiert (κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν). Wie zu sehen ist, bündelt Anaximander ›stringente‹ Aussagen über das Seiende von a) bis c) und nimmt diese in d) wieder auf. Die Begründung jedoch findet metaphorisch in d) statt – obwohl bei Anaximander natürlich nicht von einem wissenschaftlichen Beweis auszugehen ist. Demnach ist es gerade der poetische Passus, der dem Satz die ›philosophische‹ Tiefe verleiht. Will man das Fragment in seiner Ganzheit nachvollziehen, ist es daher in einem zweiten Schritt vonnöten, auf die Bedeutungsdreiheit von ἡ δίκη/ἡ τίσις/ἡ ἀδικία einzugehen. Greift man Heideggers Bemerkungen zu Anaximander wieder auf, kann zuvorderst festgehalten werden, dass man hier nicht »kritiklos Begriffe des Rechts und der Sittlichkeit aus der späteren Ethik oder gar aus der Spätantike und schließlich des Christentums diesen Worten unterlegen« (GA II, 35, S. 13) sollte. Dies ist sicherlich einerseits richtig, da das Wortfeld von ἡ δίκη neben »Recht, Gerechtigkeit […][,] Rechtsverfahren, Rechtsspruch«28 auch die Primärbedeutungen »Art 26 Diels, Hermann: Die Fragmente der Vorsokratiker. S. 89. Wenn im Folgenden die Übersetzungsvariante Dielsʼ verwendet wird, findet im Fließtext die der Übertragung nachstehende Kennzeichnung (Übers. D.) statt. 27 Vgl. S. 13 der vorliegenden Arbeit. 28 Gemoll, Wilhelm: Griechisch‐deutsches Schul- und Handwörterbuch. S. 217.

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und Weise, Brauch, Sitte«29 bereithält. Andererseits zeigt der bezügliche Begriff ἡ τίσις, der neben »Bezahlung, Ersatz, Entschädigung«30 vor allem als »Strafe, Rache, Genugtuung, Buße«31 gebraucht wird, dass eine Relation zwischen rechtmäßiger Art und Weise und Vergeltung vorliegt. Diese beiden Pole fallen in der ἀ-δικία – nicht umsonst ist im Fragment der Artikel ἡ vorangestellt – dem Un-Recht, der UnGerechtigkeit zusammen. Die Diffizilität liegt darin, dass Anaximander nicht klärt – sofern man von den erhaltenen Fragmenten ausgeht –, warum das Seiende sich Buße für die begangene Verschuldung leisten muss und worin dieses Unrecht bestehen soll. Gerade aber aus dieser Nichterklärung erwächst die ›Meta-Physik‹32 des Anaximanders. Eine ›Metaphysik‹, welche die Metapher über die simplifizierende Nennung einer stofflichen Entität erhebt und deshalb vom Seienden des Menschen ausgehend denkend das Ganze in den Blick nimmt. Wie Nietzsche weitsichtig in seiner unveröffentlichten Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen bemerkt: Wenn er [Anaximander] […] in der Vielheit der entstandenen Dinge eine Summe von abzubüßenden Ungerechtigkeiten schaute, so hat er das Knäuel des tiefsinnigsten ethischen Problems mit kühnem Griffe, als der erste Grieche, erhascht. Wie kann etwas vergehen, was kein Recht hat zu sein! […] Aus dieser Welt des Unrechtes, des frechen Abfalls von der Unreinheit der Dinge flüchtete Anaximander in eine metaphysische Burg […].33 Will Heidegger ethische Komponenten aus Anaximanders Satz weitestgehend heraushalten, so fokussiert sich Nietzsche auf diesen Punkt – um ihm im selben Moment die Metaphysik als Eskapismus entgegenzuhalten. Damit kommt Nietzsche bei aller Polemik der Kernaussage weitaus näher als Heidegger. Denn: Rechtmäßige Art und Weise, Schuld und Un-Recht sind menschliche Relationen34 , wohingegen das Auftauchen und Verschwinden des Seienden aus dem Bereich der Seinsfrage entstammt. Anaximander kontrastiert somit die allgemeine Struktur seines Denkens mit der poeto‐ethischen Notwendigkeit des Seins. Die vielen seienden Gemoll, Wilhelm: Griechisch‐deutsches Schul- und Handwörterbuch. S. 217. Gemoll, Wilhelm: Griechisch‐deutsches Schul- und Handwörterbuch. S. 742. Gemoll, Wilhelm: Griechisch‐deutsches Schul- und Handwörterbuch. S. 742. Im Wissen, dass der nachsokratische Terminus ›Metaphysik‹ zweierlei Bedeutung hat – ›nach der Physik‹ und ›über die Physik (hinaus)‹ –, wird er im Folgenden im Sinne einer πρώτη φιλοσοφία, einer ›Ersten Philosophie‹ gebraucht, die Aussagen über das Seiende im Ganzen treffen will und dabei das Materielle übersteigt (vgl. hierzu: Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit. S. 37-60. Zitation nach dieser Ausgabe durch Sigle (G.M.) und Seitenzahl). 33 Nietzsche, Friedrich: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. In: Ders.: KSA, Band 1. S. 799-872, hier S. 820. Alle weiteren Zitate aus dieser Ausgabe. Kennzeichnung durch Sigle (KSA 1). 34 Rapp sieht dies ebenfalls, jedoch ohne die Metaphern für die Bedeutung der anaximandrinischen Philosophie aufzuwerten (vgl. Rapp, Christof: Vorsokratiker. S. 42).

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Dinge sind, weil sie Recht auf Sein haben. Sie verwirken dieses Recht qua Dasein in Schuld, werden in der Zeit un‐recht-mäßig und verschwinden notwendig im Ort ihres Entstehens, um dort wieder aufzutauchen. Hiermit ist der anaximandrinische Satz knapp zusammengefasst. Was noch nicht vorstellig gemacht wurde, ist die Beschaffenheit des ›Ortes‹, der dem Seienden das Sein ermöglicht. Wie schon gezeigt, setzt sich Anaximander von Thales insofern ab, als er eben nicht das Stoffliche zum Prinzip erhebt, sondern durch eine Metaphorisierung des als seiend Erkannten auf mehr als nur das Seiende rekurriert. Diese Tendenz ist ebenso auf der Suche nach dem Ort der Herkunft und des Verschwindens des Seienden aufzufinden. »Als Prinzip der seienden Dinge bezeichnete er eine bestimmte Natur, das Unbeschränkte, und aus dieser seien die Welten und die darin befindliche Ordnung entstanden«35 (DK 12 A 11, B 2), wie Hippolytos berichtet. Das griechische Wort für Unbeschränktes ist τὸ ἄπειρον; es taucht in den Zeugnissen über Anaximander immer wieder auf36 und scheint von zentraler Bedeutung für den Milesier gewesen zu sein. Nur ist ein Begriff wie ἄπειρον aber nicht eine einfache Nennung einer beliebigen ontischen Gegebenheit. Vielmehr setzt Anaximander durch das Philosophem des Unbeschränkten einen starken Kontrast zum Seienden ins Werk: Das Seiende kommt und geht, ist im Zusammenhang mit dem Menschen und den Dingen zu denken und daher begrenzt. Das Unbeschränkte/Unbegrenzte ist jedoch weder ein solches ›Ding‹ noch ein Mensch. Es ist ein Anderes, was dem Seienden Anfang und Ende, ja den Seinsstatus selbst garantiert. Anaximander setzte nun als Ursprung der Erfahrungsgegenstände ein Gemeinsames an (erster Schritt), und zwar ein solches, das einer weiteren »extrapolierenden« Rückführung auf einen Ursprung nicht bedarf (zweiter Schritt). Als einen solchen beherrschenden Anfang (ἀρχή) bezeichnete er das ἄπειρον (Apeiron), d[as] h[eißt] das in jeder Hinsicht Unbeschränkte, Unerschöpfliche, in scharfem Kontrast zu den begrenzten […] Dingen der alltäglichen Erfahrung[.]37 Somit lässt sich schon bei Anaximander eine Prämisse ausmachen, die für beinahe die gesamte Vorsokratik Geltung erfahren sollte: Die Unmöglichkeit der Nichtswerdung des Seienden. Gibt es indessen kein Nichts – eine Feststellung, die mit Parmenides ihre volle Untermauerung erfahren und von Platon aufgebrochen wird38 –, so muss ausgewiesen werden, woher und wohin das Seiende seinen Weg nimmt. Wenn das In‐der-Welt-Seiende phänomenal kommt und geht, dementsprechend 35 Gr.: »οὗτος ἀρχὴν ἔφη τῶν ὄντων φύσιν τινὰ τοῦ ἀπείρου, ἐξ ἧς γίνεσθαι τοὺς οὐρανοὺς καὶ τὸν ἐν αὐτοῖς κόσμον.« 36 Vgl. neben DK 12 A 11, B 2: B1, A 1, A 9, A 14, A 15, A 16. 37 Mansfeld, Jaap: »Der erste Systematiker: Anaximander.« In: Die Vorsokratiker I. S. 56-65, hier S. 57. 38 Platon wird im Dialog Sophistes den sogenannten ›Vatermord‹ an der parmenideischen Lehre des nichtslosen Seins begehen (vgl. Soph., 241 d).

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Anfang und Ende hat, muss das Unbeschränkte – sofern es dem Seienden Sein zuspricht – als der Anfang anfangslos und endlos sein. Wie es Aristoteles in der Physik kommentiert: Alle Dinge sind entweder Anfang […] oder von einem Anfang hergeleitetes. Das Unbeschränkte hat keinen Anfang, sonst wäre ihm eine Schranke gesetzt. Weil es ein Anfang ist, ist es auch nicht entstanden und unvergänglich. Denn jedes Entstandene muß notwendig ein Ende nehmen, wie jedes Vergehen einmal zum Abschluss kommen muß. Somit gibt es […] keinen Anfang des Anfangs, sondern scheint dieser vielmehr Anfang alles übrigen zu sein […].39 (DK 12 A 15, B 3) Als absoluter Anfang besitzt das ἄπειρον eine doppelte Seinsfunktion: Es ist für sich selbst Sein und teilt damit dem Seienden den notwendigen Zustand zu, Seiendes zu sein. Durch dieses Vorgehen gelingt es Anaximander erstens, einen nichtslosen Anfang zu setzen, und zweitens, das Wesen des Seienden, welches phänomenal auftaucht und verschwindet, auf eine gemeinsame Basis zurückzuführen. Aus dieser Perspektive erscheint der Nachsatz Theophrasts, der dem ›Spruch‹ des Anaximander einen poetischen Gehalt zuweist, gegen Heideggers Kritik vertretbar. Natürlich nicht im Sinne einer rein kunstfertig‐selbstreferentiellen Poetologie, sondern so verstanden, dass die seinsbezüglichen Data (Recht, Schuld, Unrecht, Unbeschränktes) allesamt Metaphorisierungen ontischer und ontologischer Denkweisen darstellen. Der Kontrast zwischen ἄπειρον und dem Seienden, welches notwendig die Schuld für sein Da-Sein durch die Zeit verwirken muss, da es sonst selbst unbeschränkt und nicht vergänglich wäre, steigert sich durch diese Wendung hin zum Seinsdenken in metaphorisch gefasster Sprache umso mehr. Von dieser Interpretation aus gilt es nun zu fragen, wie sich die beiden Teile – unbeschränktes Sein und beschränktes Seiendes – zueinander verhalten, sofern ja von der Unterschiedlichkeit zwischen ἄπειρον und den seienden Elementen ausgegangen werden muss. Denn »[w]enn einer von ihnen [den Elementen] also unbeschränkt wäre, wären die übrigen schon lange zugrunde gegangen. Also sagen sie [die Milesier um Anaximander], das Unbeschränkte sei etwas anderes [als die Elemente], woraus diese entstünden«40 (DK 12 A 16). Hält man sich die Merkmale des ἄπειρον vor Augen und blickt erneut auf das Wort selbst, könnte ein Zugang zu diesem Problemfeld aufgemacht werden: Zuerst wird deutlich, dass es sich um eine ›negative‹ Bestimmung topologischer Natur handelt – wie das privative ἀ- und die Bedeutung des Substantivs πέρας als »Ende, 39 Gr.: »ἅπαντα γὰρ ἢ ἀρχὴ ἢ ἐξ ἀρχῆς, τοῦ δε ἀπείρου οὐκ ἔστιν ἀρχή· εἴη γὰρ ἂν αὐτοῦ πέρας. ἔτι δὲ καὶ ἀγένητον καὶ ἄφθαρτον ὡς ἀρχή τις οὖσα· τό τε γὰρ γενόμενον ἀνάγκη τέλος λαβεῖν, καὶ τελευτὴ πάσης ἐστὶ φθορᾶς. διὸ […] οὐ ταύτης ἀρχή, ἀλλ' αὕτη τῶν ἄλλων εἶναι δοκεῖ καὶ περιέχειν ἅπαντα […].« 40 Gr.: »ὧν εἰ ἦν ἓν ἄπειρον, ἔφθαρτο ἂν ἤδη τἆλλα· νῦν δ' ἕτερον εἶναί φασι, ἐξ οὗ ταῦτα.«

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Grenze […], das Äußerste, Höchste«41 belegt. Das Unbeschränkte ist demnach dasjenige, was von Grenze frei ist. Zudem muss auf den Zusammenhang von ἄπειρον, ἀρχή und φύσις, von Unbeschränktem, Anfang und ›Natur‹ geachtet werden. Denn »[a]ls Prinzip [oder: Anfang, ἀρχή] der seienden Dinge bezeichnete er [Anaximander] eine bestimmte Natur [φύσιν τινὰ], das Unbeschränkte [τοῦ ἀπείρου] […]« (DK 12 A 11, B 2), um nochmals Hippolytos zu zitieren.42 Der Konnex von Unbeschränktem und Anfang wurde schon skizziert: Weil das Seiende vergänglich ist, daher ihr Anfang und Ende Identität fordert, führt Anaximander dies auf den unvergänglichen Gegensatz zurück. Ohne diesen wäre das Seiende nicht zu denken, ja die seienden Dinge wären dann Nichtseiende, weil sie nicht aus dem Seinsreservoir des Unbeschränkten ihren Ursprung fänden, sondern aus dem Nichts, welches seinem Wesen nach kein Sein zusprechen kann. Eine Analyse der Verknüpfung von ἄπειρον und φύσις gestaltet sich weitaus komplizierter. Bisher konnte gezeigt werden, dass Anaximanders Philosophie gerade durch das Primat der metaphorischen Seinserklärung einen Vorzug gegenüber der materialfixierten ›Naturphilosophie‹ eines Thales erhält. Nur ist es allerding nicht zu leugnen, dass im Begriff φύσις eine gewisse ›Naturhaftigkeit‹ mitschwingt. So muss die Frage erlaubt sein, inwiefern das Sein des Unbeschränkten durch seine »bestimmte Natur« das Seiende beeinflusst und ob Anaximander nicht doch zu den ›Naturphilosophen‹ zu rechnen ist. Aus heutiger Warte pflegt man generell einen Unterschied zwischen Natur und Mensch – mitsamt seinen kulturellen und wissenschaftlichen Fähigkeiten – zu postulieren. Vielleicht aber birgt diese neuzeitliche Gegensetzung ein Missverständnis, das die wesentliche Sicht auf die frühgriechische Philosophie des Anaximander verstellt. Heidegger erkennt diesen Punkt und überträgt in für ihn typischer Weise φύσις gegen eine Engführung auf ›Natur‹: φύσις bedeutet das Von‐sich-aus-Aufgehen; als dieses ist es das jeweils nicht Geheure und [Ge-]Waltige: das Entstehen in das An‐wesen selber. Das Wort φύσις ist keineswegs so, wie wir längst durch die Übersetzung »Natur« verleitet sind zu meinen, auf die »Natur« eingeschränkt im Unterschied zu »Kultur«, »Geschichte«, »Kunst« und »Geist«. […] Das Wort meint nicht einen Bereich des Seienden […], sondern das Seiendsein des Seienden, das Anwesen des Anwesenden als des aufgehend Erscheinenden. […] Darum ist der Mensch als Seiender weder von der φύσις ausgeschlossen, noch ist er […] dadurch bloß »naturhaft« […] vorgestellt.43 41 Gemoll, Wilhelm: Griechisch‐deutsches Schul- und Handwörterbuch. S. 592. 42 Vgl. S. 23. Hier findet sich die komplette griechische Referenz. 43 Heidegger, Martin: Der Spruch des Anaximander. In: Ders.: GA III. Abteilung, Band 78. S. 145-146. Folgend Zitation nach Sigle (GA III, 78) und Seitenzahl.

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Heidegger öffnet mit dieser Bemerkung den ontologischen Gehalt von φύσις: Wird Natur heute als ein Teil des Seienden neben anderen – beispielsweise Kultur, Wissenschaft oder ähnlichem – gefasst, so erhält φύσις in Heideggers Der Spruch des Anaximanders eine umfassende Bedeutungserweiterung, die im Griechischen angelegt ist. Dabei kommt dem Heidegger’schen »Anwesen«, welches bei ihm als Übersetzung von τὰ ὄντα fungiert, eine zentrale Stellung zu: Das Unbeschränkte lässt das Seiende als Anwesen in φύσις erscheinen. Es geht demnach nicht nur um die Natur des Unbeschränkten an sich, sondern um das Band, das die φύσις zwischen dem ἄπειρον und dem Seienden knüpft. Das »Seiendsein des Seienden« könnte nicht sein ohne diese Verbindung zwischen dem Sein der Unbeschränktheit und der Beschränktheit der seienden Dinge, als welches auch der Mensch in die Welt tritt. Heidegger modifiziert hiermit im Spruch des Anaximander in gewisser Weise seine Überlegungen in seiner Auslegung des Anaximander und des Parmenides zugunsten einer Aufwertung der menschlichen Position. Dies erscheint gerade vor dem Hintergrund der Untrennbarkeit von Menschseiendem und Sein, welche durch die ›poetische‹ Metaphorisierung von Recht, Schuld und Unrecht von Anaximander offengelegt wird, von Belang. Dass die φύσις des ἄπειρον aus dieser Sicht eine ästhetische Aufwertung erfährt, davon zeugt ein Satz aus der aristotelischen Physik: »[…] die Erhabenheit eben des Unbeschränkten, denn es sei das Allumfassende und schließe alles in sich ein.«44 Ästhetisiert in dem Sinne, als das Sein des Unbeschränkten über die Beschränktheit des Seienden erhaben ist – wie die leicht veränderte Verwendung des poetischen Wortes σεμνότης als »Erhabenheit« belegt. Allenfalls ergibt sich diese Erhabenheit aus dem Erscheinen des Seienden in sein Anwesen, welches die Zeit des Seienden kundgibt. Das Anwesende ist das Jeweilige. In dessen Weile waltet das Aufgehen, griechisch gesagt: ἡ φύσις. Die ὄντα, die Seienden, sind, insofern sie Seiende sind, als die Weilenden verweilt aus der φύσις. Das Erweilnis nennt das Wesen des Seins des Seienden. Über das Sein des Seienden handelt der Spruch des Anaximander. (GA III, 78, S. 219) Auch wenn diese Referenz Heideggers auf den ersten Blick dunkel klingen mag, die Übertragung von φύσις als »Aufgehen« leuchtet aus mehreren Gründen ein: Das Seiende ist anwesend, wenn es aus dem Unbeschränkten aufgeht, seine beginnend‐rechtmäßige und endend‐schuldhaftige Zeitlichkeit als Seiendes erlangt. Während dieses Weges tilgt sich das Recht auf Weltlich‐unterschiedlich-Sein bis zum Endpunkt des totalen Unrechts, welches das Seiende durch die finale Beschränkung seiner Zeit wieder dem mit sich identischen ἄπειρον überantwortet. 44 Aristoteles: Physik. 6, 207 a 19f. Gr.: »[…] τὴν σεμνότημα καὶ τοῦ ἀπείρου, τὸ πάντα περιέχειν καὶ τὸ πᾶν ἐν ἑαουτῷ ἔχειν.«

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Denn, wie Karl Jaspers ausmacht, »die Zeit ist nicht das Apeiron, aber dieses steuert in den Ereignissen der Zeit«45 . Die deduktiv‐metaphorische Herleitung des unbeschränkten Seins aus dem Zeit-Seienden des Menschen weist aus dieser Perspektive erneut auf die von Aristoteles proklamierte »Erhabenheit« des ἄπειρον hin. Regieren in der Welt die Gegensätze – ein Gedanke, der am stärksten bei Heraklit fortentwickelt wird46 –, so kann es aufgrund der unterschiedslosen Art des Unbeschränkten eine Differenz in ihm nicht geben. Mit dieser Ästhetisierung des unterschieds-, zeit- und grenzenlosen Einen, das mit dem Seienden des Menschen insofern etwas zu tun hat, als es ihm erlaubt zu sein, ist eine philosophische Tendenz ins Werk gesetzt, die die abendländische Tradition aufs Tiefste prägen sollte. Daher kann Nietzsche resümierend Anaximander folgende Worte in den Mund legen: »Er fragt sich einmal: wie ist doch, wenn es überhaupt eine ewige Einheit giebt, jene Vielheit möglich? und entnimmt die Antwort aus dem widerspruchvollen, sich selbst aufzehrenden und verneinenden Charakter dieser Vielheit.« (KSA 1, S. 821) Die naheliegende Frage, ob für den philosophischen Bau der Fragmente des Anaximander eine Art ›Dialektik‹ von unbeschränktem Einen und seiendem Vielem zu konstatieren ist, kann dann eher negativ beantwortet werden. Die seienden Dinge sind zwar etwas anderes als das ἄπειρον, doch ließe sich nur mit Mühe eine Synthese zwischen den beiden Polen herstellen. Zudem ist mit keinem Wort von einer teleologischen Ausrichtung des Seins des Seienden die Rede. Vielmehr fällt die Vielheit erneut in ihren Anfang zurück – was einer fortschreitenden ›Produktion‹ von Seiendem diametral entgegensteht. Methodisch wirkt allerdings eines beinahe dual: Das Seiende kann nur auf das Ganze bezogen werden, wenn ihm die differentiellen Qualitäten des Seins (Unbeschränktheit, Anfangslosigkeit, Zeitlosigkeit) entgegengehalten werden. Ohne sie wäre die Deduktion auf das ἄπειρον letztlich nicht zu gewährleisten. So steht man vor dem Problem, ob es sich um einen rein noetischen Dualismushandelt. Für diese Lesart spricht Anaximanders metaphorische Übersteigerung des Stofflichen. Schließlich wird das, was in der Welt vorgeht, einerseits durch das Mensch-Seiende und den Mensch-Seienden erklärt, andererseits will nicht nur dieser Mensch und sein Umfeld ausgelegt werden, sondern das umfassende Sein selbst. Diese beiden Gegensätze finden ihre strukturelle Verbindung im metaphorischen Denken. Das metaphorische Denken, welches per se aus dem Seienden seinen Ursprung nehmen muss, ermöglicht erst die Sicht auf den Nexus zwischen Seiendem und Sein. Wenn zwischen ἄπειρον und Seiendem eher nicht von einer Dialektik auszugehen ist, so ist jene zumindest rudimentär in der von Anaximander begründeten ›Methode‹, das Sein des Seienden philosophisch 45 Jaspers, Karl: Aus dem Ursprung denkende Metaphysiker. In: Ders.: Die großen Philosophen. S. 617-975, hier S. 628. 46 Vgl. u.a. DK 22 B 8.

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durch die Metapher fassbar zu machen, zu ermitteln – hiermit trifft der von Heidegger ambivalent zugesprochene Titel »Seinsdichtung« (GA II, 35, S. 12) auf die Philosophie des Anaximander für diesen oftmals vernachlässigten Aspekt zu. Dass sich von Anaximander aus eine ›Geschichte‹ der ontologischen Erkenntnis aus dem Geiste des metaphorischen Denkens entwickelt, davon zeugen zwei Prägungen der abendländischen Philosophie, deren Rolle sich von kaum zu unterschätzender Tragweite erweisen sollte: Heraklits Philosophie der Gegensätze und Parmenidesʼ radikaler Ausschluss des Nichtseienden aus dem Sein. Um eine adäquate Behandlung der Entdeckung der Seinsfrage sicherzustellen, werden beide im Anschluss untersucht. Dem vorstehend wird ein Passus geschaltet, der die Folgen aus der von Anaximander begründeten Denkrichtung bündelt und hinsichtlich des Wahrheitsgehalts erläutern soll.

2.2

Sinn und Wahrheit der Entdeckung der Seinsfrage Im reinsten und ursprünglichsten Sinne »wahr« – d.h. nur entdeckend, so daß es nie verdecken kann, ist das reine νοεῖν, das schlicht hinsehende Vernehmen der einfachsten Seinsbestimmungen des Seienden als solchen. Dieses νοεῖν kann nie verdecken, nie falsch sein, es kann allenfalls ein Unvernehmen bleiben, ἀγνοεῖν, für den schlichten, angemessenen Zugang nicht zureichen. (S.u.Z., S. 33)

Heideggers phänomenologische Zuspitzung einer als »Vernehmen« gedachten Hermeneutik lässt sich im Spiegel der anaximandrinischen Philosophie auf einen bestimmten Wahrheitsbegriff transferieren, welcher in unterschiedlichen Ausprägungen die Beziehung zwischen Dichtung und Ontologie beeinflussen sollte: Geht man mit Anaximander, ist der Sinn der seienden Dinge, sich gemäß der Notwendigkeit in der Zeit des Da-Seienden zu tilgen, bis die Rückkehr in den Anfang die Unterschiedlichkeit des Seienden dem unterschiedslosen Unbeschränkten überantwortet. Dies kann als die von Anaximander entdeckte Wahrheit bezeichnet werden. Nach Heidegger müsste man dann davon ausgehen, dass diese Konfiguration im νοεῖν Anaximanders, dem Vernehmen der »Seinsbestimmung des Seienden«, seinen Wahrheitsgehalt entfaltet. In der Tat lässt sich hierfür eine Begründung finden: Folgt man dem Wortlaut des ›Spruchs‹ und den durch das ἄπειρον vorgegebenen Strukturen, so zeigt sich, dass durch die Entdeckung der Seinsfrage nicht einfach ein beliebiges Sein

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postuliert wird – wie es etwa durch eine theistisch‐anthropomorphe Setzung der Fall wäre. Vielmehr vernimmt Anaximander das Seiende als etwas, das in seiner Regelhaftigkeit nicht vom Sein an sich zu trennen ist. Damit liegt ein Erkennensversuch vor, dessen ontologischer Sinn Wahrheit offenbart und hinsichtlich dessen das Sein als solches in seiner umfassenden Qualität vermittelt wird. Die einzelnen Seienden erhalten so ihr zeitlich‐topologisches Wesen, sie klingen zusammen in der Frage, wie es um das Sein selbst bestellt ist. »Jedes hier genannte [Seiende] west im Zusammen, das selbst sammelnd sich versammelt hält, so zwar, daß es als diese Versammlung einzig das Seiende als das Jeweilige in seiner Weile angeht. Dieses Angehen ist das Sein selber, das Seiendes sein läßt.« (GA III, 78, S. 243) Das von Heidegger »Angehen« genannte Seinsbetreffen des Seienden ist ferner nicht von seiner Relation zu Sprache zu lösen. Präziser: Indem Anaximander das Seiende und das Unbeschränkte entschieden metaphorisch denkt – auch wenn es in der Philosophiegeschichte manches Mal irgendwie stofflich begriffen wird47 –, gelingt es ihm, ein Band des Erkennens zwischen demjenigen, was zu vernehmen ist (Seiendes) und demjenigen, was das zu Vernehmende in seiner Gesamtheit als Frage sinnhaft werden lässt (Sein), herzustellen. Dieses Vorgehen ist die Entdeckung der philosophisch gefassten und literarisch tradierten Wahrheit des Seins. Dass eine Hermeneutik des Seinssinns hier mitzudenken ist, scheint vor diesem Hintergrund beinahe selbstverständlich: »Die Antizipation von Sinn, in der das Ganze gemeint ist, kommt dadurch zu explizitem Verständnis, daß die Teile, die sich vom Ganzen her bestimmen, ihrerseits auch dieses Ganze bestimmen.«48 Bei genauerer Betrachtung trifft diese, aus der klassischen Rhetorik gewonnene Setzung Gadamers sowohl auf den Wahrheitsgehalt der anaximandrinischen Fragmente als auch auf den vom Rezipienten zu entdeckenden Sinn zu: Die von Anaximander angestoßene Suche nach dem Sinn von Sein kongruiert mit dem zu entbergenden Verständnis des Rezipienten. Es geht um die Erkenntnis des Ganzen aus dem Verständnis des Teils. Dies ist die ›Methode‹ Anaximanders – es wird die Methode eines jeden Denkens sein, das sich der Seinsfrage in Wahrheit widmet. Von nun an ist man vor das Problem gestellt, beantworten zu müssen, wie die Philosophie auf Anaximanders Entdeckung der Seinsfrage reagiert, ja ob es generell weitere Entdeckungen geben kann oder ob von einem singulären Phänomen die Rede ist. Gegen letztgenanntes sprechen mehrere Punkte, die den Fortlauf der Untersuchung bestimmen werden: Die Entdeckung des Sinns von Sein geht mit dem Bestreben einher, Wahrheit denkend zu entbergen und sprachlich zu formulieren. Wollte man hiergegen argumentieren, so müsste man annehmen, 47 Vgl. u.a. Burnet, John: Die Anfänge der griechischen Philosophie. S. 43-48. 48 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. S. 296.

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der Sinn von Sein könnte nur einmal entborgen werden. Aus dieser Perspektive wäre jeder Philosoph im Grunde Anaximandriner. Es müsste dann auch nicht mehr erkannt werden, sondern man könnte es mit dem Fundament des Milesiers belassen. Nicht-Erkennen ist jedoch kein zulässiges Gegenstück zum Erkennen – solange das Nichts nicht und Erkennen/Vernehmen gleich Sein ist, wie es Parmenides verstehen wird.49 Es bleibt der Philosophie nach Anaximander daher gar nichts anderes übrig, als sich erneut auf die Seinsfrage einzulassen – ebenso wie sie sich nicht von der Verbindung zwischen Sein und Sprache lösen kann. Aus diesen Gründen ist es notwendig, erneut das Sein zu prüfen und mit dem MenschSeienden abzugleichen. Es kommt in der Nachfolge Anaximanders deshalb auf dieselbe Frage an – eine Frage, deren Ursache an das Seiende des Menschen rückgekoppelt bleibt und somit gegensätzlichen Zugängen unterliegt. Dabei ist es gerade die Metaphorisierung, die diese Unterschiedlichkeit zur Sprache kommen lässt. Sie illustriert die Möglichkeit im Seienden und verweist durch ihre sprachliche Gebundenheit auf das, was die Möglichkeit erst sein lässt: das Sein. Dies soll nicht bedeuten, dass es sich bei Anaximander, Heraklit oder Parmenides ausschließlich um Dichter handelt. Vielmehr herrscht bei den Protagonisten der griechischen Frühzeit ein tiefes Verständnis, ohne den genannten Wert der Sprache nicht befriedigend auf das Sein rekurrieren zu können. Die griechische Frühzeit ist durchdrungen von diesem Verständnis, sodass die Möglichkeit des Zweifels an diesem nicht mitimpliziert wird. Wie sich die Trias von Sprache als metaphorischem Denken, Wahrheit und Sein im Einzelnen ausbedingt, soll folgend untersucht werden. Begonnen wird mit Heraklit, da sein Werk weitreichende Impulse für die Entdeckung der Seinsfrage liefert.

2.3

Formen der Seinsfrage bei Heraklit

Sollen die erhaltenen Fragmente Heraklits in der Nachfolge Anaximanders ausgelegt werden, so ist als erstes eine wichtige biographische Notiz anzubringen: Heraklit stammt wie Anaximander aus Ionien und soll »während der 69. Olympiade (504-501 v. Chr.) 40 Jahre alt gewesen sein«50 , dementsprechend etwa zwei Generationen jünger als Anaximander und ein Zeitgenosse des in Elea zu verortenden Parmenides. Zwischen Anaximander und Heraklit liegen die Philosophien Pythagorasʼ, Anaximenesʼ und Xenophanesʼ. Ob eine Kenntnisnahme der anaxi49 »…denn daß man es erkennt, ist dasselbe, wie daß es ist.« (DK 28 B 3) Gr.: »…τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι.« 50 Rapp, Christof: Vorsokratiker. S. 56.

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mandrinischen Gedanken anzunehmen ist, kann nicht nachgewiesen werden, auf Pythagoras und Xenophanes wird jedoch direkt eingegangen (vgl. DK 22 B 40). Dennoch gestaltet sich Heraklits Philosophie als wesentlich unterschiedenvon der milesischen Schule. Dies wird vor allem mit Blick auf die Gestaltung der Fragmente deutlich: Das Wort »Fragment« […] bekommt bei der Anwendung auf Heraklit einen ganz eigenen Sinn, denn in den meisten Fällen handelt es sich nicht um beliebig einsetzende oder abbrechende Satz- und Gedankenbruchstücke, sondern um wohlkomponierte, oft aphoristisch zugespitzte Sinnsprüche.51 Allein dieses Faktum zeigt, dass die sprachliche Konstruktion des Denkens für Heraklit eine nicht zu unterschätzende Rolle zugesprochen bekommt. Wieder allerdings nicht in einem ausschließlich poetischem Sinne, sondern zu einem der Erkenntnis dienlichen. Erneut klingt demnach das Verständnis mit, dass das zu Erklärende ontologisch nicht von seiner Aussageform zu trennen ist. Würde man hingegen Heraklit als reinen Dichter verstehen, so könnte man einige unumwunden dichtungskritische Fragmente nicht in das Gesamtwerk Heraklits integrieren: »Hinsichtlich der Erkenntnis der offenkundigen Dinge werden die Menschen irregeführt ähnlich wie Homer, der, verglichen mit allen anderen Griechen, noch der weiseste war.«52 (DK 22 B 56) Schon hier kündigt sich die polemische und erkenntniskritische Haltung Heraklits an, die sich sowohl auf den Menschen an sich als auch auf die ›Größen‹ seiner Zeit niederschlägt und noch steigern wird: »Homer, sagte er [Heraklit], verdient es, aus den Wettbewerben hinausgeworfen und verprügelt zu werden, und Archilochos etwa dasselbe.«53 (DK 22 B 42) Dass ein Mann, der Homer und Archilochos eine Tracht Prügel an den Hals wünscht, nicht unbedingt als ›Dichter‹ im klassischen Sinne verstanden werden sollte, dürfte nicht weiter verwundern. Auch Hesiod fällt dem herakliteischen Angriff zum Opfer: »Lehrer der meisten ist Hesiod; sie sind überzeugt, jener wisse das meiste, der Tag und Nacht nicht kannte: die sind ja doch eins!«54 (DK 22 B 57) Trotz dieser klaren Absage an die mythischen Vorgänger lesen sich die Fragmente Heraklits pointiert und strukturiert. Aus diesem Grund kann festgemacht werden, dass der Epheser in jene vorsokratische Traditionslinie einzuordnen ist, welche nicht einfach die Data des Seienden nennt, sondern im metaphorischen 51 Rapp, Christof: Vorsokratiker. S. 58. 52 Gr.: »ἐξηπάτηνται οἱ ἄνθρωποι πρὸς τὴν γνῶσιν τῶν φανερῶν παραπλησίως Ὁμήρῳ, ὅς ἐγένετο τῶν Ἑλλήνων σοφώτερος πάντων.« 53 Gr.: »Ὅμηρον ἔφασκεν ἄξιον ἐκ τῶν ἀγώνων ἐβκάλλεσθαι καὶ ῥαπίζεσθαι καὶ Ἀρχίλοχον ὁμοίως.« 54 Gr.: »διδάσκαλος δὲ πλείστων Ἡσίοδος· τοῦτον ἐπίστανται πλεῖστα εἰδέναι, ὅστις ἡμέρην καὶ εὐφρόνην οὐκ ἐγίνωσκεν· ἔστι γὰρ ἕν.« Auch bei Parmenides wird die Unterschiedslosigkeit von Tag und Nacht ein zentrales Thema. Allerdings kehrt sich dieser nicht ausdrücklich von Hesiod ab, sondern nutzt eher dessen reiche Metaphorik (vgl. DK 28 B 1).

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Denken des Anfangs die seinsreferentielle Möglichkeit mitimpliziert: die Traditionslinie Anaximanders und später Parmenidesʼ. Mit Heidegger: »Wir nennen diejenigen Denker, die im Umkreis des ›Anfangs‹ denken, die anfänglichen Denker. Deren sind der Zahl nach drei. Sie heißen Anaximander, Parmenides und Heraklit.«55 In dieses Gefüge ist die Heraklit immer wieder nachgesagte, orakelhafte ›Dunkelheit‹56 einzupassen. Schon Sokrates soll, glaubt man Diogenes Laertios, auf die Unergründlichkeit der herakliteischen ›Philosophie‹ verwiesen haben: »Was ich davon verstanden habe, zeugt von hohem Geist; und, wie ich glaube, auch was ich nicht verstanden habe; nur bedarf es dazu eines delischen Tauchers.«57 Heraklits Text – von einem ursprünglich geschlossenen Text ist trotz der aphoristischen Form der Fragmente auszugehen58 – fasst Wahrheit eher metaphorisch als er sie ad hoc zu Tage fördert. Dies ist insofern von Prägnanz, als durch dieses Vorgehen ein hermeneutischer Prozess in Gang gesetzt wird, dessen Grundlage ontologischer Natur ist. Wenn nach Heraklit »[n]ichtoffenkundige Harmonie […] stärker [ist] als offenkundige«59 (DK 22 B 54), so oszilliert diese Harmonie zwischen philosophischem Verstehen und beinahe pöbelhaftem Unverständnis. Vor diesem Hintergrund entsteht der klare Auftrag, nicht das Offensichtliche wahr‐zu-nehmen, sondern die verborgene und wesentliche Regelhaftigkeit hinter den Geschicken des Seins zu erkennen. Der Denker Heraklit ist der Dunkle, weil sein Denken dem Zu‐denkenden das Wesen wahrt, das ihm gehört. Heraklit ist nicht ὁ Σκοτεινός, ›der Dunkle‹, weil er absichtlich sich undeutlich ausspricht, er ist auch nicht ›der Dunkle‹, weil jede Philosophie für den gewöhnlichen Verstand und dessen Gesichtskreis sich ›dunkel‹, d[as] h[eißt] unverständlich ausnimmt, sondern Heraklit ist ›der Dunkle‹, weil er das Sein als das Sichverbergen denkt und gemäß diesem Gedachten das Wort sagen muss. (GA II, 55, S. 32) Bei aller Problematik, die sich aus Heideggers Vorsokratiker-Rezeption ergibt: Diese Kennzeichnung der herakliteischen ›Dunkelheit‹ ist sowohl philosophisch als auch philologisch nachzuweisen. Denn »Natur, so Heraklit, pflegt sich versteckt 55 Heidegger, Martin: Heraklit. 1. Der Anfang des abendländischen Denkens. 2. Logik. Heraklits Lehre vom Logos. In: Ders.: GA II. Abteilung, Band 55. S. 4. Alle weiteren Zitate aus dieser Ausgabe. Kenntlichmachung durch Angabe der Gesamtausgabe und Bandnummer (GA II, 55). 56 Vgl.: Cicero, Marcus Tullius: De finibus bonorum et malorum. Über das höchste Gut und das größte Übel. S. 136-137; 2,15. 57 Laertios, Diogenes: Leben und Lehren berühmter Philosophen. S. 57; 2, 22. Gr.: »τί δοκεῖ; […] ἃ μὲν συνῆκα, γενναῖα· οἶμαι δὲ καὶ ἃ μὴ συνῆκα· πλὴν Δηλίου γέ τινος δεῖται κολυμβητοῦ.« 58 Vgl. Rapp, Christof: Vorsokratiker. S. 58. 59 Gr.: »ἁρμονίη ἀφανὴς φανερῆς κρείττων.«

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zu halten«60 (DK 22 B 123). Analog zu Anaximander behandelt Heraklit also die φύσις, deren Übertragung als »Natur« – wie es Mansfeld hier unternimmt – einige Missverständnisse birgt. Ist ja die griechische φύσις ein deutlich weiterer Begriff als dasjenige, was man neuzeitlich als »Natur« zu fassen meint. Heidegger übersetzt das Wort an einer Stelle der Grundbegriffe der Metaphysik mit »sich selbst bildenden Walten des Seienden im Ganzen« (G.M., S. 38-39). Damit mag er wohl etwas über das Ziel hinausgeschossen sein, der Grundton ist jedoch – auf Anaximander und Heraklit bezogen – einleuchtend: Nicht das einzelne Seiende wird separiert wahrgenommen, vielmehr ist es nicht aus seinem Zusammenhang zu anderem Seienden zu lösen, woraus sich Einheit denken lässt und letztendlich Sein durchscheint.61 Diesen, dem Seienden inhärenten, Kontext zu begreifen, ist Arbeit des suchenden Denkens, das metaphorisch Erkenntnis ans Licht bringt. »Die Gold suchen, graben eine ganze Menge Erde um und finden nur weniges.«62 (DK 22 B 22) Wie letztzitierter Satz zeigt, ist die zu findende, ›goldene‹ Wahrheit nicht offenbar – sie muss ent‐deckt werden. Dieser Prozess der Offenlegung von Wahrheit ist ferner sprachlich im λόγος auszudrücken, um dem Sinn der verborgenen Erkenntnis Rechnung zu tragen. »Die φύσις, die es liebt, sich zu verstecken, gilt es zu entdecken, der Logos, der den Vielen nah ist und doch fremd bleibt, ist zu vernehmen und auszusprechen.«63 Heraklits ›Methode‹ ist angesichts dessen als polar zu bezeichnen: Auf der einen Seite steht die formale Ausgestaltung des Nicht-Offensichtlichen (Metapher), auf der anderen die darin zu entdeckende Wahrheit (ontologische Erkenntnis). Diese beiden Pole sind ineinander gespiegelt und ergänzen sich jeweils. Dies erschwert eine akkurate Auslegung einerseits, andererseits wird hierdurch erneut sichtbar, dass am Anfang des abendländischen Denkens literarische Gestalt und Seinserkenntnis eine Verbindung eingingen, die die Frage nach dem Satus des Seins sowie flankierend die Frage nach dem Sein des Seienden auf mehreren Ebenen zu beantworten sucht. Für diese Aufgabe muss der Leser Heraklits, sofern er literarisches und philosophisches Interesse hegt, gewappnet sein. »Wenn das Unerwartete nicht erwartet wird, wird man es nicht entdecken, da es dann unaufspürbar ist und unzugänglich bleibt.«64 (DK 22 B 18) Es gilt demnach, eine hermeneutische Erwartungshaltung einzunehmen. Heraklit fordert diese nicht nur für das Denken generell ein, sondern gestaltet seine eigene Philosophie sprachlich in einer Weise, die das Problem des Verstehens von Sein gleichsam mitaufnimmt. Dadurch 60 Gr.: »φύσις δὲ καθ΄ Ἡράκλειτον κρύπτεσθαι φιλεῖ.« 61 Hieraus entspringt der herakliteische Einheitsgedanke, der in 2.3.2 expliziert wird. 62 Gr.: »χρυσὸν γὰρ οἱ διζήμενοι γῆν πολλὴν ὀρύσσουσι καὶ εὑρίσκουσιν ὀλίγον.« 63 Pleger, Wolfgang H.: Der Logos der Dinge. S. 32. 64 Gr.: »ἐὰν μὴ ἔλπηται ἀνέλπιστον, οὐκ ἐξευρήσει, ἀνεξερεύνητον ἐὸν καὶ ἄπορον.«

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entsteht ein ›hermeneutisches Spiel‹ teils paradoxaler Natur. Wie es Hans-Georg Gadamer in Der Anfang des Wissens formuliert: Wo es knapp, konzentriert, paradox zugeht, da sind wir bei Heraklit. Es passt dazu, daß eines der Kunstmittel, die bei Heraklit eine hervorragende Rolle spielen, solchem Stil des Paradoxes wohl entspricht: das Wortspiel. Ein Wortspiel beruht auf einem plötzlichen Umschlagen einer schon eingeschlagenen Bedeutungs- und Verstehensrichtung in eine ganz andere.65 Als Beispiel führt Gadamer Fragment B 48 an: »Der Name des Bogens ist ›Leben‹ [βίος], seine Tat der Tod.«66 (DK 22 B 48) Im Griechischen sind »Leben« (βίος) und »Bogen« (βιός) – man beachte die unterschiedliche Setzung des Akuts – gemäß Äquivokation homophon. Der Satz könnte also lauten: »Der Name des Bogens ist Bogen [βιός], seine Tat der Tod.« Ein für Heraklit wesentliches Merkmal sticht hier heraus: Die Einheit der Gegensätzlichkeit. Denn »[i]m Worte sind schon die Gegensätze darin. Das ist gewiß der Grund, warum Heraklit Wortspiele besonders liebt. Sie erlauben ihm, seine eigene Wahrheit im Wortlaut einzufangen und den geebneten, gedankenlosen Umgang mit der Sprache […] aufzustören.«67 Dass somit die Grenze zum Humoristischen/Satirischen – verstanden im Schopenhauer’schen Sinne68 – erreicht wird, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass man es bei den Fragmenten Heraklits mit denkfesten ›Hypothesen‹ bezüglich des Seinsverständnisses zu tun hat. Was hingegen offenkundig mit diesem Punkt einhergeht, ist Heraklits Rekurs auf das Spiel. »Das ewige Leben ist ein Kind, spielend wie ein Kind, die Brettsteine setzend; die Herrschaft gehört einem Kind.«69 (DK 22 B 52) Die Bedeutung des kindlichen Spiels scheint in Heraklits Augen von solcher Prägnanz, dass letztlich die Regentschaft des Seins in dessen Arme zu legen ist. Hierzu passt eine Anekdote, die sich bei Diogenes Laertius finden lässt: Er [Heraklit] wich dem Verkehre aus und spielte mit den Knaben Würfel, und als sich die Ephesier dort an ihn herandrängten, rief er ihnen zu: »Was wundert ihr Gadamer, Hans-Georg: Der Anfang des Wissens. S. 51. Gr.: »τῷ οὖν τόξῳ ὄνομα βίος, ἔργον δὲ θάνατος.« Gadamer, Hans-Georg: Der Anfang des Wissens. S. 51. »Je nachdem wir, beim Auffinden einer solchen Inkongruenz, vom Realen, d.i. Anschaulichen, zum Begriff, oder aber umgekehrt vom Begriff zum Realen übergehen, ist das dadurch entstehende Lächerliche entweder ein Witzwort, oder aber eine Ungereimtheit.« (Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band. In: Ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung I und II. S. 109) 69 Gr.: »αἰὼν παῖς ἐστι παίζων, πεττεύων· παιδὸς ἡ βασιληίη.«

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euch, ihr heilloses Gesindel? Ist dies nicht eine anständigere Beschäftigung als mit euch die Staatsgeschäfte zu führen?«70 Die Abfälligkeit Heraklits, gerichtet gegen die Bürger der Stadt, kann als gleichzeitige Aufwertung seines eigenen Tuns verstanden werden, das nur im Blick der Menge irrelevant erscheint. Dabei ist Heraklits topologische Position von Belang: Im Tempel der Artemis, also jenem Ort, an dem er seine Schrift niedergelegt haben soll, hält sich der Denker auf: »Er legte es [das Buch] im Artemistempel nieder […].«71 Das Spiel mit den Kindern ist topologisch mit jener Göttin verwoben, die über Jagd und nach Heidegger über den Streit regiert: »Für Heraklit, der den Streit denkt als das Wesen des Seins, ist Artemis, die Göttin mit Bogen und Leier, die Nächste.« (GA II, 55, S. 18) Spiel und Streit besitzen eine Gemeinsamkeit: Sie sind nicht ohne den Prozess des Entbergens zu denken – ein Punkt, der, wie zu zeigen sein wird, im Fokus steht. Artemis ist jedoch nicht nur die Göttin des Streits, sie ist auch »die Göttin der φύσις« (GA II, 55, S. 16). Die Streit und Spiel immanente Kinetik kongruiert mit der φύσις, die die erste Bewegung des Wachsens aus dem Sein darstellt. Daraus resultiert, dass Artemis als diejenige Allegorie zu denken ist, welche nicht ausschließlich auf Göttliches rekurriert, sondern im Kontext von Spiel, Streit und Einheit des Gegensatzes auftritt. Dass sich diese Allegorisierungen/Metaphorisierungen generell als tragende Stützen für das Seinsdenken Heraklits erweisen, soll im Folgenden anschaulich gemacht werden. Hierbei wird in einem ersten Schritt auf die herakliteischen Gegensatzpaare eingegangen. 70 Laertios, Diogenes: Leben und Lehren berühmter Philosophen. S. 325; 9, 3. Gr.: »ἀναχωρήσας δ᾽ εἰς τὸ ἱερὸν τῆς Ἀρτέμιδος μετὰ τῶν παίδων ἠστραγάλιζε· περιστάντων δ᾽ αὐτὸν τῶν Ἐφεσίων, ,τί, ὦ κάκιστοι, θαυμάζετε; ' εἶπεν· ,ἢ οὐ κρεῖττον τοῦτο ποιεῖν ἢ μεθ᾽ ὑμῶν πολιτεύεσθαι;« 71 Laertius, Diogenes: Leben und Lehren berühmter Philosophen. S. 326; 9, 6. Gr.: »ἀνέθηκε δ᾽ αὐτὸ εἰς τὸ τῆς Ἀρτέμιδος ἱερόν.«

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2.3.1

Seinsmetaphorik im Zeichen des Gegensatzes Der Gott ist Tag-Nacht, Winter-Sommer, Krieg-Frieden, Sättigung-Hunger – alle Gegensätze, das ist die Bedeutung –; er wandelt sich, genau wie Feuer, wenn es sich mit den Duftstoffen verbindet, nach dem angenehmen Eindruck eines jeden [der Duftstoffe] benannt wird. (DK 22 B 67) ὁ θεὸς ἡμέρη εὐφρόνη, χειμὼν θέρος, πόλεμος εἰρήνη, κόρος λιμός (τἀναντία ἅπαντα· οὗτος ὁ νοῦς), ἀλλοιοῦται δὲ ὅκωσπερ (πῦρ), ὁκόταν συμμιγῇ θυώμασιν, ὀνομάζεται καθ΄ ἡδονὴν ἑκάστου.

Um das hier in Gänze zitierte Fragment im Spiegel der herakliteischen Philosophie zu erläutern, sollte zuerst dessen Aufbau analysiert werden: Das Subjekt beider Sätze – es handelt sich um zwei Sätze, auch wenn im Griechischen ein Komma die Trennung markiert – ist »der Gott« (ὁ θεὸς); ihm kommen die Wesensmerkmale der Gegensätzlichkeit zu: »Tag-Nacht«, »Winter-Sommer«, »Krieg-Frieden«, »Sättigung-Hunger« (ἡμέρη εὐφρόνη, χειμὼν θέρος, πόλεμος εἰρήνη, κόρος λιμός); allerdings nicht nur diese, sondern »alle Gegensätze« (τἀναντία ἅπαντα), denn »das ist die Bedeutung [der Sinn]« Gottes (οὗτος ὁ νοῦς), wie der Nachsatz erklärt. Der Gott ist weiterhin nicht starr, sondern ›dynamisch‹ wie »Feuer« (πῦρ), wenn es sich durch die Verbindung mit Duftstoffen (θυώμασιν), welche jeweilig nach dem Wohlgeschmack Namen zuteilen (ὀνομάζεται καθ΄ ἡδονὴν ἑκάστου), verändert (ἀλλοιοῦται). Wie zu sehen ist, operiert Heraklit mit mehreren Analogien, die die Allegorie Gottes beschreiben. Kurz zusammengefasst könnte man folgenden Gehalt extrahieren: Im Zentrum des Fragments steht der Gott, sein Wesen ist differenziell – wie die Metaphern darauf belegen. Aus dieser Differenzialität ergibt sich eine Bewegtheit die – wieder metaphorisch – wie Feuer aufzufassen ist. Damit ist zwar gesagt, dass Bewegung und Unterschiedlichkeit sind, ferner aber nicht, wer oder was der Gott ist; wie Gott ›funktioniert‹ ist dem hermeneutischen Prozess überantwortet, seine eigene Bestimmung bleibt aus. Denkt man in diesem Zusammenhang an Anaximander, tut sich eine Parallele zum ἄπειρον auf: Auch hier ist klar, dass es sich um das Unbeschränkte handelt, aus dem die seienden Dinge aufgehen und vergehen; was jedoch das ἄπειρον selbst ist, wird nicht ausphilosophiert – es kann auch gar nicht ›ausphilosophiert‹ werden, weil es im Sinne der Metapher keine Grenze hat. Heraklits Gott ist vor diesem Hintergrund ei-

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ner ähnlichen Unschärfe unterworfen. Dies hat ontologische Gründe: der Gott ist differenziell; seine attributiven Differenzen sind polar, fallen indessen in seiner ontologischen Einheit zusammen. Um näher auf dieses Problem einzugehen, bietet es sich an, auf das vielzitierte Fragment B 53 zu sprechen zu kommen: »Krieg ist von allem der Vater, von allem der König, denn die einen hat er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien gemacht.«72 (DK 22 B 53) Es heißt nicht pluralisch, ›Kriege‹ seien von allem ›Väter‹ und ›Könige‹, sondern singularisch »Krieg ist von allem der Vater, von allem der König«. Auch wird hier nicht Gott, sondern die Kriegsmetapher als Verwalter aller seienden Dinge (πάντων) in Szene gesetzt; Gott/Krieg/Vater/König sind in ihrem unifizierenden Wesen bedeutungsäquivalent, da sie in ihrer Funktion Schaffende sind und das richtige Verhältnis des Seienden zueinander im Streit garantieren. Bedenkenswert ist nun, daß Heraklit den Streit nicht als Prinzip der Zerstörung, sondern der Erzeugung anführt. Der Krieg produziert das Verhältnis beider zueinander, und nur in diesem Verhältnis gibt es sie. […] Von der Existenz von Dingen zu sprechen, heißt über einen strittigen, zwiespältigen Sachverhalt zu sprechen. Dinge gibt es nur als Sachverhalte. Sie sind das, was sie sind im Verhältnis zu ihrem Gegensatz.73 Daraus folgt ein ontologisches Prinzip der Verhältnismäßigkeit, welches im Harmoniegedanken des Verborgenen eine ästhetische Erhöhung erfährt. »Das Widerstreitende zusammentretend und aus dem Sichabsondernden die schönste Harmonie.«74 (DK 22 B 8) Die Gegensatzpaare leisten sich Abbitte gemäß der Notwendigkeit, dass dasjenige, was zu denken ist, nicht ohne seine Referenz auf das Gegenteil zu denken wäre. In der Oszillation von Bestimmung und Gegenbestimmung entfaltet sich die einheitliche Harmonie: »Sie verstehen nicht, wie Sichabsonderndes sich selbst beipflichtet: eine immer wiederkehrende Harmonie, wie im Fall des Bogens und der Leier.«75 (DK 22 B 51) Dies bedeutet keinesfalls eine temporal‐teleologische Ausrichtung des Seienden; vielmehr ist die von Heraklit propagierte Bewegung kreisförmig – ähnlich des Theorems der Ewigen Wiederkehr, wie sie Nietzsche in Also sprach Zarathustra entwerfen wird. Ob hinsichtlich des Harmoniegedankens des Sichabsondernden und Zusammentretenden von einer strengen ›Ontologie‹ ausgegangen werden kann, ist schwer zu beantworten. Nietzsche schreibt, Heraklit »leugnete überhaupt das 72 Gr.: »Πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστι πάντων δὲ βασιλεύς· καὶ τοὺς μὲν θεοὺς ἔδειξε τοὺς δὲ ἀνθρώπους, τοὺς μὲν δούλους ἐποίησε τοὺς δὲ ἐλευθέρους.« 73 Pleger, Wolfgang H.: Der Logos der Dinge. S. 41 74 Gr.: »τὸ ἀντίξουν συμφέρον καὶ ἐκ τῶν διαφερόντων καλλίστην ἁρμονίαν.« 75 Gr.: »οὐ ξυνιᾶσιν ὅκως διαφερόμενον ἑωυτῷ ὁμολογέει· παλίντροπος ἁρμονίη ὅκωσπερ τόξου καὶ λύρης.«

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Sein. Denn diese eine Welt, die er übrig behielt […] zeigt nirgends ein Verharren, eine Unzerstörbarkeit, ein Bollwerk im Strome« (KSA 1, S. 822-823). Darauf wird Heidegger später Nietzsche eine generelle Fehlinterpretation der Fragmente vorwerfen – wie er es ihm auch in Bezug auf seine Lesart des parmenideischen Lehrgedichts76 unterstellt: »So hat Nietzsche eine lebendige Schilderung der ›Persönlichkeit‹ des Heraklit gedichtet. Diese Darstellung konnte jedoch nicht verhindern, daß Nietzsche die fürchterlichste Mißdeutung dessen hinterlassen und in Umlauf gebracht hat, was Heraklit denkt.« (GA II, 55, S. 5) Angesichts der philologischen Tatsache, dass Heraklit definitiv Erklärungsversuche für Gegebenheiten unternimmt, die von der Warte der Vielheit aus auf das eine Ganze abzielen, gilt es eher, sich Heidegger anzuschließen. »Verbindungen: Ganzheiten und keine Ganzheiten, Zusammentretendes – Sichabsonderndes, Zusammenklingendes – Auseinanderklingendes; somit aus allem eins wie aus einem alles.«77 (DK 22 B 10) Heraklit operiert mit dem Paradoxon, dass sich die Einheit aus der immerwährenden Zweiheit der attrahierenden und destrahierenden Differenz erschließt. Aus gewissen Gründen, die wohl seine eigene Philosophie betreffen, hält Nietzsche dies für anti‐herakliteisch – was sicherlich diffizil ist, obgleich die wertende Zuschreibung Heideggers der »fürchterlichste[n] Mißdeutung« im Ton des Superlativs zu hart klingt. Was Heidegger wohl an der Nietzsche’schen Auslegung stört, ist die Reduzierung des Metaphysischen auf das Physische: Einmal leugnete er [Heraklit] die Zweiheit ganz diverser Welten, zu deren Annahme Anaximander gedrängt worden war; er schied nicht mehr eine physische Welt von einer metaphysischen, ein Reich der bestimmten Qualitäten von einem Reich der Unbestimmtheit von einander ab. (KSA 1, S. 822) Mit dieser Bemerkung bindet Nietzsche die Fragmente Heraklits an eine innerweltliche Immanenz, die in dieser Ausformung nur schwer zu halten ist. Kann ja festgehalten werden, dass gerade der Bezug zur φύσις und die Offenheit der herakliteischen Metaphorik kardinale Punkte seines Seinsentwurfs markieren. Die Frage, die Nietzsche durch seinen Versuch, Heraklit als Vorläufer des eigenen Denkens zu verklären, nicht aufmachen konnte, ist, welchen Zweck es hat, das Nicht-Offensichtliche diskursiv zur Verdeutlichung des Denkens heranzuziehen. Folgt man Wolfgang Schadewaldt in seiner Vorlesung Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, könnte man eine erste Sicht auf diese Schwierigkeit gewinnen: 76 Vgl. S. 82 der vorliegenden Arbeit. 77 Gr.: »συνάψιες· ὅλα καὶ οὐχ ὅλα, συμφερόμενον διαφερόμενον, συνᾷδον διᾷδον· καὶ ἐκ πάντων ἓν καὶ ἐξ ἑνὸς πάντα.«

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Mit dem Verhältnis des Bekannten zum Unbekannten, des Menschlichen zum Göttlichen kommen wir auf die […] Gegensatzlehre des Heraklit, die sich hier anschließt und für die zumal ein Begriff wichtig ist, der uns dann weiter leiten soll: der Begriff des Austauschs oder des Umschlags.78 Analog zur Verwendung des Wortspiels arbeitet Heraklit mit exemplarischen Tensionen, die in ihrer Gegenteiligkeit stets auf Identität hindeuten. »Dasselbe ist: lebendig und tot und wach und schlafend und jung und alt. Denn dieses ist umschlagend in jenes und jenes umschlagend in dieses.«79 (DK 22 B 88) Auch Schadewaldt berücksichtigt dieses Fragment in seinen Überlegungen und hebt die Bedeutung des letzten Satzes hervor: »Wir haben also diese Gegensätze, und sie sind identisch. Die Weise aber, wie sie identisch sind, nennt er [Heraklit] metapiptein, eigentlich ›umfallen‹. Dieser Umschlag ist es, der sie verbindet und als identisch ausweist.«80 Dass die Metapher des Feuers nun eine zentrale Rolle spielt, ist vor diesem Hintergrund mehr als einleuchtend. Ist doch das Phänomen der Flamme stets mit dem Hin‐und-Her-Schwanken ihres unhaptischen Körpers verbunden. Der Zweck der herakliteischen Metaphorik ist es – auch am Beispiel des Feuers –, klarzustellen, dass allem eine Ordnung unterliegt, die Ordnung selbst aber sich aus der Identität der Gegensätze im Umschlag speist. Fragment B 30 wird so hermeneutisch fassbar: Die gegebene schöne Ordnung [Kosmos] aller Dinge, dieselbe in allem, ist weder von einem der Götter noch von einem der Menschen geschaffen worden, sondern sie war immer, ist und wird sein: Feuer, ewig lebendig, nach Maßen entflammend und nach denselben Maßen erlöschend.81 (DK 22 B 30) Zwei Sachverhalte sind ausgedrückt: Erstens der ästhetische, unentstandene und regelhafte Charakter des ewigen Feuers, das weder seine Aitiologie aus Göttlichem oder Menschlichem erfährt, und zweitens das Aufkommen und Verschwinden desselben, das jedoch nie völlige Nichtigkeit erlaubt, sondern immer ist. Das Feuer erfüllt also jene Kategorien, die schon bei Anaximander durch das Sein des Unbeschränkten im Gegensatz zum Seienden des Menschen repräsentiert werden. Das reglementierte Umfallen/Umschlagen des Feuers kann unter diesen Prämissen als Metapher für Bewegung gelesen werden. Diese Bewegtheit ist aber 78 Schadewaldt, Wolfgang: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. S. 376-377. 79 Gr.: »ταὐτό τ΄ ἔνι ζῶν καὶ τεθνηκὸς καὶ ἐγρηγορὸς καὶ τὸ καθεῦδον καὶ νέον καὶ γηραιόν· τάδε γὰρ μετὰπεσόντα ἐκεῖνά ἐστι κἀκεῖνα πάλιν μεταπεσόντα ταῦτα.« 80 Schadewaldt, Wolfgang: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. S. 377. 81 Gr.: »κόσμον τόνδε τὸν αὐτὸν ἁπάντων οὔτε τις θεῶν οὔτε ἀνθρώπων ἐποίησεν, ἀλλ' ἦν ἀεὶ καὶ ἔστιν καὶ ἔσται· πῦρ ἀείζωον, ἁπτόμενον μέτρα καὶ ἀποσβεννύμενον μέτρα.«

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keineswegs ein blindes Vorpreschen in eine vage ›Zukunft‹; weitaus näher liegt die Wahrscheinlichkeit, dass das Aufflammen und Abklingen des Feuers innerhalb vorgegebener Bahnen vonstattengeht. Heißt es ja im zitierten Fragment: »nach Maßen entflammend und nach denselben Maßen erlöschend«. Hier lässt sich ohne philologischen Druck Fragment B 60 anschließen: »Der Weg hinauf und hinab [oder: hin und her] ist ein und derselbe.«82 (DK 22 B 60) Damit ist gesagt: Hin und Her sind identisch, sie sind Eines. Weiterhin ist gesagt: ohne das Hin, ist kein Her – vice versa –, sonst wäre keine Identität gegeben. Im Zentrum des Interesses Heraklits steht nicht das Wie des Hin und Her, also des Gegensatzes, sondern der ontologische Charakter dessen, welcher in Einheit aufgeht. Das eigentliche Rätsel des Seins ist nicht, wie sich im Wechsel des Geschehens die gleiche Ordnung des Ganzen erhält, sondern daß dieses Wechselsein sich selbst statthat. Das hat Heraklit als das Eine in allen Gegensätzen erkannt, die Einheit des in Gegensätzen Gespannten.83 Das Gadamer’sche ›Sich‐selbst-Statthaben‹ deckt sich mit Heraklits Unität des Differenziellen. Konnte für Anaximander festgehalten werden, dass mit dem Aspekt des durch Recht und der Strafe repräsentierten Seienden auf das Sein in Gänze geschlossen wird, so tut sich hier eine Parallele auf: »Über alles wird das Feuer, sagt er [Heraklit], einmal herankommen, urteilen und es verurteilen.«84 (DK 22 B 66) Die Vormachtstellung des Feuers vor den seienden Dingen ist mehr als offensichtlich. Daher können die Begriffspaare Gott/Krieg/Streit um das bedeutungskongruente Feuer erweitert werden. Ihnen allen ist gemein, dass sie über alles herrschen und in dieser Position den Gegensatz lenken. Als Metaphern stehen sie für ein und dasselbe, als ontologisch tragfähige Begriffe sind sie das Ein‐und-Dasselbe. Heraklit als Denker Desselben bleibt bei diesen Bestimmungen nicht stehen. Gleichwohl zeigt sich mit Blick auf weitere Fragmente, dass eine zusätzliche Ordnungsebene eingeführt wird, die im Denken des λόγος ihre Entfaltung findet. Diesem Begriff nachzuspüren, ihn auf seinen ontologischen Gehalt zu prüfen und ihn in Kontakt zur herakliteischen Identitätsvorstellung zu setzen, ist Ziel des nachstehenden Passus. Hierbei soll auch herausgearbeitet werden, dass Heraklit in keiner Weise als Vorläufer einer ›logischen‹ Philosophie von wahren oder falschen Aussagesätzen verstanden werden darf, sondern durch ihn eine reichere Bedeutung des Logischen offengelegt wird, welche auf Sein hindeutet. 82 Gr.: »ὁδὸς ἄνω κάτω μία καὶ ὡυτή.« 83 Gadamer, Hans-Georg: Der Anfang des Wissens. S. 84. 84 Gr.: »πάντα γάρ, φησί, τὸ πῦρ ἐπελθὸν κρινεῖ καὶ καταλήψεται.«

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2.3.2

Sein und/als Logos Wenn man – nicht auf mich, sondern – auf die Auslegung hört, ist es weise, beizupflichten, daß alles eins ist. (DK 22 B 50) Haben sie nicht mich, sondern den Sinn vernommen, so ist es weise, dem Sinne gemäß zu sagen, alles sei eins. (Übers. D.) οὐκ ἐμοῦ, ἀλλὰ τοῦ λόγου ἀκούσαντας ὁμολογεῖν σοφόν ἐστιν ἓν πάντα εἶναί.

Das hier in der Übersetzung Jaap Mansfelds und Dielsʼ wiedergegebene Fragment macht vielschichtige Problemfelder auf, die allesamt mit einem Verständnis des zentralen λόγος zusammenhängen. Zuerst verwundert allerdings die den Satz einleitende Wendung, welche den Autor aus der Verantwortung zu nehmen scheint: οὐκ ἐμοῦ, »nicht mich«, sondern den λόγος sollt ihr, die Menschen, hören. Zwei Lesarten wären nun möglich. Erstens: Der Autor vertritt eine andere Auffassung als sie der λόγος vorgibt. Was der λόγος festlegt, ist klar: ἓν πάντα εἶναί, »dass alles Eins ist«. Man müsste hinsichtlich dessen auf eine negative Konnotation des λόγος schließen. Das ist es, was die Mansfeld’sche Übersetzung des Partizips auch suggeriert, da sie das Fragment mit »Wenn« beginnen lässt. Nun ist es aber keineswegs nötig, in dieser Weise eine Übertragung vorzunehmen, ja es ist sogar relativ unpraktisch, weil der λόγος – wie darzulegen sein wird – in allen anderen Textstücken als Positivum auftritt. Daraus ergibt sich die zweite Lesart. Man könnte es vorsichtiger übersetzen und den λόγος dabei vorläufig unübertragen lassen: »Nicht (nur) für die, die auf mich, sondern (auch) für auf die, die auf den λόγος gehört haben, ist es weise, zuzustimmen, dass alles Eins ist.« (Übers. P. K.) Hermeneutisch wäre diese Übersetzung weitaus sinnvoller – trotz der schwer haltbaren Übertragung von ἀκούσαντας –, da Heraklit eindeutig den λόγος als seinsprägende Struktur etabliert. Das »nicht mich« erfährt aus dieser Perspektive einen Wandel, der den λόγος über den Menschen einstuft. Damit ist ausgesprochen, dass der λόγος etwas anderes als menschliche Meinung darstellt. Jetzt wird der Grund offensichtlich, weshalb sich Heraklit vom λόγος absetzt: Er ist in seiner menschlichen Determination selbst Meinungswesen. Auch ihm ist daher aufgetragen, den λόγος zu hören. Dies bedeutet nicht, dass er den λόγος nicht vernimmt – sonst könnte er keine Aussage darüber tätigen –, sondern dass er von den Menschen einfordert, den Gehalt des λόγος, dass alles Eins ist, zu ent‐decken, demnach in Anwesenheit zu bringen. Dass Martin Heidegger seine Überlegungen in Heraklits Lehre vom Logos um das Fragment B 50 entfaltet, wird auf Basis dessen greifbar. In einer kreisenden

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Denkbewegung nähert er sich in mehrfachen Übersetzungen einem tieferen Verständnis des Textes, um den Sinn des λόγος freizulegen. Die erste lautet: »Habt ihr nicht bloß mich angehört, sondern habt ihr (ihm gehorsam, horchsam) auf den Logos gehört, dann ist Wissen (das darin besteht), mit dem Logos das Gleiche sagend zu sagen: Eins ist alles.« (GA II, 55, S. 243) Die Annäherung an das Textstück ähnelt der Diels’schen und der hier vorgenommenen, wenn Heidegger versucht, den λόγος als Mittelpunkt des Satzes auszuweisen. In seinem direkten Kontakt zum Hören offenbart sich ein Teil seines akustischen Wesens, dass »[d]er Logos […] danach etwas Hörbares, eine Art Rede oder Stimme« (GA II, 55, S. 244) sein könnte. Ein Teilaspekt des λόγος wäre die Einstufung als eine Art ›Hintergrundgeräusch‹, das dem Hörenden nicht unbedingt ›bewusst‹ – Heidegger würde dieses Wort sicherlich kritisch sehen – sein muss, sondern ›halbbewusst‹ oder ›unbewusst‹ aufgenommen wird. Erst durch den Akt des Vernehmens, des Anhörens des logischen ›Rauschens‹, tritt die Essenz, dass alles Eins ist, aus demjenigen, was sich als φύσις vor Augen und Ohren befindet. Das vom Menschen zu erlangende Wissen dieser Essenz oszilliert im Gegensatz von Bejahung und Verneinung: Man kann im Erkennen zustimmen, ὁμολογεῖν, oder eben nicht – was an der Tatsache, dass alles Eins ist, nichts ändert. Es deutet sich hier jener Scheideweg zwischen Kenntnis und Un-Kenntnis an, der für die Vorsokratik zum bestimmenden Motto werden sollte: Die Divergenz von menschlicher Meinung und wahrheitsfähigem Sein.85 Dass sich das Hören‐auf-das-Einssein dann nicht allein auf das Akustische bezieht, sondern unter dem Banner des Denkens reüssiert, zeigt sich in der das Wissen mahnenden Wendung σοφόν ἐστιν, »es ist weise«. Es ist weise, ὁμο-λογεῖν und denselben λόγος denkend zu hören, den der λόγος als φύσις vorgibt. Dies scheint für Heraklit von außerordentlicher Wichtigkeit zu sein – wie auch B 112 belegt: »Verständigsein ist die wichtigste Tugend; und die Weisheit besteht darin, das Wahre zu sagen und zu tun in Übereinstimmung mit der Natur, im Hinhorchen.«86 (DK 22 B 112) Das »Verständigsein« oder »Weisesein«, das substantivierte σωφρονεῖν, steht in nächster Nähe zur Tugendhaftigkeit, deren ethische Relevanz mit der Wahrheit fusioniert. Dieser Wahrheit ist praktisch im Sagen und Tun Abbitte zu leisten, und zwar in einem hörenden Sinn auf dasjenige, was die ›Natur‹ als das Aufgehen des Seienden zuspricht. Man könnte dies aus einer heutigen Perspektive vorsichtig ›Kommunikationssituation‹ nennen: Das naturhafte Auftauchen bringt die Wahrheit ins Seiende, die der Mensch nicht nur empfangend 85 Man denke in diesem Zusammenhang an das parmenideische Lehrgedicht, welches klar die Polarität zwischen dem Weg der Wahrheit des Seins und der Meinung des scheinhaften Nichtseins behandelt (vgl. Kapitel 2.4.2 und 2.4.3 der vorliegenden Untersuchung). 86 Gr.: »σωφρονεῖν ἀρετὴ μεγίστη· καὶ σοφίη ἀληθέα λέγειν καὶ ποιεῖν κατὰ φύσιν ἐπαΐοντας.«

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vernehmen soll, sondern auch gemäß seiner Wahrnehmung richtig umsetzen muss. Auch wenn in B 112 der λόγος nicht explizit genannt wird, so ist doch nachvollziehbar, dass sich der herakliteische Weisheitsdiskurs um eine gewisse Sinnstruktur des Seins rankt. Daher lässt sich von diesem Punkt aus die Frage stellen, in welcher Weise das korrekte Verstehen des Seienden mit der Bedeutungspluralität des λόγος einhergeht. Marcel van Ackeren beschreibt dies in Anlehnung an Jaeger87 : Die Bedeutungen von Logos sind also eng aufeinander Bezogen: Heraklits Rede ist eine Auslegung, eine Erklärung, die Sinn hat. Diese Rede, ihr Sinn, koinzidiert mit dem Strukturprinzip des Kosmos […], indem der Logos des Menschen den kosmischen richtig wiedergibt. Damit ist auch etwas über die Richtigkeit des Sprechens und Denkens gesagt: Wenn sich das menschliche Denken an dem Logos orientiert, der die Wirklichkeit konstituiert, ist es auch wahr.88 Die ›Rede‹ Heraklits ist allerdings nicht bloß Gesprochenes; vielmehr ist sie auch als Im-Seienden-Fixiertes Literatur. Damit multipliziert sich das zu verstehen Aufgegebene in der Zeit. Genauer: Weil von Heraklits λόγος-Verständnis etwas da ist, ist eine ›Auslegung‹ seiner ›Auslegung‹ des Seins möglich. Aus diesen Gründen ist es durchaus plausibel, dass Mansfeld λόγος mit dem deutschen Wort ›Auslegung‹ übersetzt: Dasjenige, was phänomenal vor dem Menschen ›liegt‹, kann im Denken verstanden und selbst aus‐gelegt werden. Dabei verliert dieser Übertragungsvorgang auf das Seiende nie seinen Bezug auf das Sein, welches als einheitlich Ganzes das Einzelne sinnhaft sein lässt. Blickt man eingedenk dessen auf das bei Diels an erster Stelle gelistete Fragment, lässt sich erneut eine Brücke zur φύσις, die gehört werden will, schlagen. Es wird folgend in der Mansfeld’schen Übertragung zusammen mit einigen griechischen Originalen zitiert: Gegenüber der hier gegebenen, unabänderlich gültigen Auslegung [τοῦ δὲ λόγου] erweisen sich die Menschen als verständnislos, sowohl bevor als auch wenn sie sie einmal gehört haben [πρόσθεν ἢ ἀκοῦσαι καὶ ἀκούσαντες τὸ πρῶτον]. Denn obwohl alles in Übereinstimmung mit der hier gegebenen Auslegung geschieht [γινομένων γὰρ πάντων κατὰ τὸν λόγον τόνδε], gleichen sie Unerfahrenen, sobald sie sich überhaupt an solchen Aussagen und Tatsachen versuchen, wie ich sie darlege, indem ich jedes Einzelne seiner Natur gemäß zerlege [κατὰ φύσιν διαιρέων] 87 Ackeren bezieht sich hier auf Jaegers Die Theologie der frühen griechischen Denker (vgl. Jaeger, Werner: Die Theologie der frühen griechischen Denker. S. 131). 88 Ackeren, Marcel van: Heraklit. Vielfalt und Einheit seiner Philosophie. S. 88-89.

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und erkläre, wie es sich damit verhält. Den Menschen aber entgeht, was sie im Wachen tun, genau wie das, was sie im Schlaf vergessen.89 (DK 22 B 1) Gleich zu Beginn des Textstückes öffnet sich ein herakliteisches Gegensatzpaar: Auf der einen Seite steht das Wissen um den λόγος, auf der anderen dessen Unzugänglichkeit für den uneinsichtigen Menschen, der – auch wenn er den λόγος vernimmt – taub für dessen Gehalt zu bleiben scheint. Methodisch wird klar, warum dies so ist: Während Heraklit in der Lage ist, das Auftauchen des Seienden in seiner Vielheit als diese Multiplizität in Dihairese zu »zerlege[n]« (κατὰ φύσιν διαιρέων), befindet sich der unbedachte Mensch in einem Zustand der totalen Verblendung, bei dem es nicht einmal eine Rolle spielt, ob er wacht oder schläft. Ist in B 50 das Erlangen der ›logischen‹ Einsicht für den Menschen gleichwie gegeben, so erteilt Heraklit in B 1 dieser Möglichkeit fürs Erste eine scharfe Absage. Eine Erklärung für diese Differenz könnte in der Struktur des herakliteischen Textes liegen: Geht man davon aus, B1 sei tatsächlich der Anfang des ›Buches‹, stünde B 50 – ob es sich nun wirklich um den fünfzigsten ›Satz‹ oder hypothetisch den zweiten handelt, ist im Grunde irrelevant – definitiv nach B 1. Dementsprechend könnte man von einem immanenten Spannungsaufbau sprechen, wenn Heraklit als erste Setzung die Unerreichbarkeit von Wissen um den λόγος festmacht. Im Fortschritt des Textes fände dann jene naturgemäße ›Zerlegung‹ statt, die als Motto in B 1 vorgegeben wird. Wenn alles in Kongruenz mit der von Heraklit gewonnenen Auslegung in der Zeit geschieht (γινομένων γὰρ πάντων κατὰ τὸν λόγον τόνδε), muss diese Auslegung einen Anfang haben, an dem für den Leser Un-Wissen steht. Richtig verstandenes Wissen wird aus dieser Perspektive erst in der Vermittlung von λόγος und dem Erscheinen des Seienden gültig. Welche Präzision λόγος neben ›Auslegung‹, ›Sinn‹, ›Erklärung‹ erfahren könnte, wird vor dem Hintergrund des Fragments 45 deutlich. Es besagt: »Der Seele Grenze kannst du nicht entdecken gehn, auch wenn du jeden denkbaren Weg begehst: so unerschöpflich ist, was sie zu erklären hat [οὕτω βαθὺν λόγον ἔχει].«90 (DK 22 B 45) Die hier wiedergegebene Übersetzung Mansfelds gestaltet sich als problematisch, um den im zweiten Satz auftauchenden Bezug zum λόγος zu klären. Daher sei die Diels’sche kurz erwähnt: »Der Seele Grenzen kannst du im Gehen nicht ausfindig machen, und ob du jegliche Straße abschrittest; so tiefen Sinn hat sie.« (Übers. D.) Wie zu sehen ist, übernimmt Diels die übliche 89 Gr.: »τοῦ δὲ λόγου τοῦδ' ἐόντος ἀιεὶ ἀξύνετοι γίνονται ἄνθρωποι καὶ πρόσθεν ἢ ἀκοῦσαι καὶ ἀκούσαντες τὸ πρῶτον· γινομένων γὰρ πάντων κατὰ τὸν λόγον τόνδε ἀπείροισιν ἐοίκασι πειρώμενοι καὶ ἐπέων καὶ ἔργων τοιούτων ὁκοίων ἐγὼ διηγεῦμαι, κατὰ φύσιν διαιρέων ἕκαστον καὶ φράζων ὅκως ἔχει· τοὺς δὲ ἄλλους ἀνθρώπους λανθάνει ὁκόσα ἐγερθέντες ποιοῦσιν ὅκωσπερ ὁκόσα εὕδοντες ἐπιλανθάνονται.« 90 Gr.: »ψυχῇ πείρατα ἰὼν οὐκ ἂν ἐξεύροιο πᾶσαν ἐπιπορευόμενος ὁδόν· οὕτω βαθὺν λόγον ἔχει.«

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Verdeutschung von λόγος mit »Sinn«, belässt es demnach mit einer substantivischen Übersetzung – anders als Mansfeld, der das λόγον ἔχει, das ›hat Sinn‹, zu der verbalen Wendung »was sie [die Seele] zu erklären hat« zusammenzieht. Beide Varianten begnügen sich hingegen mit der begrifflichen Engführung des λόγος auf das Bedeutungsfeld des Verstehens/Erklärens/Sinnes. Dass dies dem Text zumindest partiell gerecht wird, muss nicht weiter kommentiert werden, jedoch verharrt dieses Vorgehen in einer Bahn, die den Überbegriff des λόγος nicht weiter hinterfragt. Geht man kritisch auf Martin Heideggers Etymologie des Begriffes ein, tut sich möglicherweise ein bisher unbeachtetes Feld auf: »Was heißt nun eigentlich λόγος und λέγειν, wenn das Wort, wie wir behaupteten, ursprünglich mit Sagen und Aussagen, mit Rede und Sprache nichts zu tun hat?« (GA II, 55, S. 266) Zuvorderst wird in dieser Referenz klar, dass Heidegger die erstgelieferte Interpretation91 zurückweist. In scharfem Kontrast zu einer Lesart, die den λόγος als Zu-Hörendes verortete, fährt Heidegger fort: λέγειν, das lateinische legere, ist dasselbe Wort wie unser ›lesen‹, das von uns sogleich auf die Schrift und damit auf das geschriebene Wort und so wiederum auf Rede und Sprache bezogen wird. ›Lesen‹ verstehen wir jetzt und hier und künftig in einem weiteren und zugleich urspünglicheren Sinne: ›die Ähren auf dem Acker lesen‹; λέγειν, lesen, λόγος, die Lese. (GA II, 55, S. 266-267) Offensichtlich motiviert Heidegger eine gewisse ›Rückkehrbewegung‹, deren Ziel a) eine Reduktion der durch die Zeit angewachsenen Bedeutungspluralität und b) eine Loslösung des Konnexes λόγος/›Wort‹ zu sein scheint. Dass diese Besinnung auf das ›Ursprüngliche‹ seine Berechtigung hat, liegt einerseits auf der Hand92 , andererseits wirkt somit die sprachliche Konnotation beinahe redundant – bis sie letztlich ganz verschwindet: »Lesen ist ein Aufnehmen und Aufheben vom Boden, ist Zusammenbringen und Zusammenlegen und dergestalt das λέγειν, Sammeln. […] Das Lesen hat sein Ende erst in jenem Aufheben, das das aufgenommene Eingebrachte aufbewahrt.« (GA II, 55, S. 267) Der paradoxal‐revolutionistische Gestus Heideggers erfährt seinen Fluchtpunkt in der Tilgung des Sprachlichen zugunsten einer Fokussierung auf die Aspekte des (Auf-)Sammelns und (Auf-)Bewahrens. Heideggers Übersetzung des Fragments B 45 lautet hinsichtlich dieser Vorbedingungen: »Der Seele äußerste Ausgänge auf deinem Gang nicht wohl kannst du sie ausfinden, auch wenn du jeden Weg abwanderst; so weitweisende Lese (Sammlung) hat sie.« (GA II, 55, S. 282) Hiermit kündigt sich kontradiktorisches Potential 91 Vgl. S. 43 der Untersuchung. 92 Vgl. zum Zusammenhang zwischen ›lesen‹, legere und λέγειν: Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. S. 571.

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an: Wenn λόγος als Auslegung im strengen Wortsinn gefasst wird – als das AusLegen des Seienden –, stellt sich die Frage, inwieweit im Gegensatz dazu eine Sammlung des Seienden gewährleistet werden kann. Um näher auf diesen Punkt einzugehen, könnte es von Prägnanz sein, sich nochmals B 1 vorzuhalten. Heraklit sagt hier, dass er eine Vorgehensweise zur (Ver-)Sicherung des Wissens bereithält, nämlich »indem ich jedes Einzelne seiner Natur gemäß zerlege [κατὰ φύσιν διαιρέων] und erkläre [φράζων], wie es sich damit verhält« (DK 22 B 1). Um etwas sammeln und der Bewahrung überantworten zu können, muss es vorher in Vielheit vor‐liegen. Für denjenigen, der das Vor-Liegende auflesen will, ist der Akt des Sammelns demnach eine Rückführung der Vielheit in die Einheit des eigenen Wissens, welches insofern ›logisch‹ ist, als es erkannt hat, dass es zur Vielheit (Seiendes) Einheit (Sein) braucht. Aus diesem Wissen ergibt sich erst die nachträgliche Möglichkeit, das, was als Vieles aufgenommen wurde, wieder zu zer‐legen. Mit diesem letzten Schritt wird die Zer-Legung dann zur Aus-Legung, wird der Zuspruch der φύσις, die Wahrheit zu erkennen, gleichsam zur sinnhaften Erklärung des λόγος, welcher Eines ist. Den λόγος daher von seiner sprachlichen Referenz zu trennen – wie es bei Heidegger angelegt ist –, schlägt insofern fehl, als Heraklit eindeutig die Notwendigkeit der Aussprache (φράζων) dieser Einheit vorgibt. Das Zur-Sprache‐bringen des Logos, der sich durch alles zieht und das Auseinanderlegen der φύσις sind aber für ihn [Heraklit] dasselbe. Darin unterscheidet sich Heraklits Logos von all dem, was danach unter Logik verstanden wurde. Der Logos thematisiert die Einheit der Sache. Die richtige Rede bekommt ihre Richtung von der Einheit der Sache. […] [D]er Logos Heraklits ist, um die spätere Schulsprache zu gebrauchen, ontologisch. Diese Ontologie thematisiert jedoch weder Tatsachen, noch Gegenstände, noch Wirklichkeit, sondern das Wesen einer Sache […].93 Dass das »Wesen einer Sache« in B 45 mit der Grenzfreiheit der Seele (ψυχῇ) zusammenhängt, bedarf des Kommentars. Das Fragment beschreibt in knappen Worten einen Sachverhalt: Die Seele ist grenzenlos – man denke an das Unbegrenzte bei Anaximander – und jeder Versuch, ihre Vollendung zu erschreiten, muss scheitern, weil ihr λόγος zu tief (βαθὺν) ist. Der Text sagt nicht, dass der λόγος allein zu tief sei; er sagt auch nicht, dass der λόγος unergründlich sei. Vielmehr stellt Heraklit den Kontakt zum Seienden des Menschen her, wenn gerade die Seele – eine conditio humana – als dasjenige ausgewiesen wird, was in der Zer‐legung und Aus‐legung auf die Unbeschränktheit des Seins deutet. Heidegger bezeichnet die Seele als »das Wesen des Lebewesens ›Mensch‹« (GA II, 55, S. 282). Er liegt damit insofern richtig, als die Suche nach dem Kern dieses Wesens immer nur auf einen menschlichen λόγος zielen kann, ihn deshalb ›sammelt‹. Aus 93 Pleger, Wolfgang H.: Der Logos der Dinge. S. 76.

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diesem Grund schreibt Heidegger der Seele eine Tätigkeitsfunktion zu: »Achten wir auf die Wurzelbedeutung von ψυχή, nach der das Wort soviel wie ›Atem‹ bedeutet, und nehmen wir das Atmen als Grundzug der ζωή, des Lebens, dann ist Atmen das ausholende Einholen.« (GA II, 55, S. 314) Dies hieße auf B 45 übertragen, »daß die ψυχή, das einholende Ausholen ins Offene, durch einen λόγος, durch ein Sammeln, bestimmt sei« (GA II, 55, S. 303). Dass »ausholende[s] Einholen« und »einholende[s] Ausholen« dasselbe sind, ist für eine Interpretation von B 45 im Lichte des herakliteischen λόγος-Begriffs nicht unbedingt das Interessanteste. Weitaus dringlicher scheint die Frage zu sein, inwieweit die grenzenlose Offenheit der Seele mit dem Verstehen des ihr inhärenten λόγος korrespondiert. »Der Seele ist der Sinn eigen, der sich selbst vermehrt.«94 (DK 22 B 115; Übers. D.) Überträgt man dies auf die nach Heidegger ein- und ausholende Bewegung der Seele, kann seine Position als gestärkt angesehen werden: Die Seele holt das zu Sammelnde ein, um es in einer Aus-Legung im Einklang mit der φύσις, dem naturellen Auftauchen und Verschwinden des Seienden, auszuholen. Dieser Prozess ist nicht abschließbar, er ist ewig in dem Sinne, als er keine Limitierung der Seelenbewegung erlangen kann, weil der ihr eigene λόγος eine metaphorische Tiefenstruktur aufweist. Aus heutiger Sicht mag dies befremdlich klingen, da Heraklit keine Segregation zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit annimmt. Wie Gadamer scharfsinnig analysiert: Man darf hier nicht im post‐cartesischen Stile die ›substanzielle‹ Unterscheidung des Äußeren und Inneren voraussetzen – man muß die schlichteste Beobachtung darin erkennen, daß ψυχή ›Leben‹ ist und daß das Lebendige im Unterschied zu allem Summe ist, das deshalb mehr wird, weil etwas dazugekommen ist, ›sich‹ vermehrt, ›sich‹ entfaltet und am Ende ›sich‹ sucht. Das Sich-Entzünden des Feuers, das Sich-Bewegen des Lebendigen […] und das Sich-Denken des Denkens sind Manifestationen des einen Logos, der immer ist.95 Es kann für Heraklit keinen Unterschied zwischen Innen und Außen – neuzeitlich formuliert: zwischen Subjekt und Objekt – geben, weil die Bewegung des Lebens, zu der auch der Tod gehört, an den λόγος gekoppelt ist, welcher in seiner Relation zur φύσις im Auf- und Untertauchen alles durchzieht. Damit ist man in der Lage, final zum Ausgangsfragment zurückzukehren, um festzustellen, »daß alles eins ist« (DK 22 B 50). Die Aufgabe des Menschen liegt darin, diese Weisheit zu erkennen und ihre universale Gültigkeit im Tun und Sagen umzusetzen, womit schließlich das Band zwischen dem Sinn des λόγος und seiner sprachlichen Struktur geknüpft wird. 94 Gr.: »ψυχῆς ἐστι λόγος ἑαυτὸν αὔξων.« Dieses Fragment wird nach Diels zitiert, da es nicht in die Sammlung Mansfelds aufgenommen wurde. 95 Gadamer, Hans-Georg: Der Anfang des Wissens. S. 91-92.

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Vor dem Hintergrund dieser λόγος-bezüglichen Überlegungen gilt es im Folgenden, eine resümierende Übersicht der gewonnen Erkenntnisse zu liefern. In diesem Zusammenhang soll auch auf die sogenannten ›Fluss-Fragmente‹ eingegangen werden.

2.3.3

Heraklits Seinsworte Absolute Metaphern ›beantworten‹ jene vermeintlich naiven, prinzipiell unbeantwortbaren Fragen, deren Relevanz ganz einfach darin liegt, daß sie nicht eliminierbar sind, weil wir sie nicht stellen, sondern als im Daseinsgrund gestellte vorfinden.96

Mit Hans Blumenberg kann die Frage aufgeworfen werden, ob sich Heraklits Denken insofern metaphorisch ausnimmt, als sowohl die Behandlung der Gegensätzlichkeit des Seienden als auch der daraus deduzierte λόγος-Begriff Momente der Übertragung vom Phänomenal-Ontischem auf Einheitlich-Ontologisches darstellen. Es sei nochmals an Heraklits Vorgehen erinnert: a) Erkennen einer ontischen Begebenheit (seiende Vielheit in Differenz); b) Rückführung dessen auf einen Begriff (Übertragung auf Gott/Krieg); c) kategoriale Übermittlung durch die untrennbare Bezugnahme zwischen λόγος und φύσις; d) Aufweis der Einheitlichkeit durch die Bedingungen, die der λόγος vorgibt (onto‐logische Übertragung). Es wird ersichtlich, dass die bestechende Qualität des herakliteischen Denkens gerade darin besteht, das auf den ersten Blick simpel und offensichtlich wirkende Seiende in zwei ›Übertragungsstufen‹ so zu befragen, dass eine universale Seinserklärung durch den λόγος daraus erwächst. Da festgemacht werden kann, dass der auslegende λόγος zeitlich ›organisiert‹ ist, muss der metaphorische Rekurs auf den Fluss nicht verwundern – auch wenn dieser in der Forschung zumeist als nicht‐herakliteisch gilt.97 »Denen, die in dieselben Flüsse hineinsteigen, strömen immer neue Gewässer zu; so auch die Seelen; sie dünsten ja aus dem Feuchten hervor.«98 (DK 22 B 12) Das Gewässer bringt stets Seiendes zur Auslegung herbei und treibt es weg, ist analog zur tieftragenden Seele. Daher ist es »unmöglich, zweimal in denselben Fluß hineinzusteigen, so Heraklit. [Der Fluß] zerstreut und bringt wieder zusammen […] und geht heran 96 Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie. S. 27. 97 Vgl. zur Unechtheit der Fragmente: Rapp, Christof: Vorsokratiker. S. 67-72. 98 Gr.: »ποταμοῖσι τοῖσιν αὐτοῖσιν ἐμβαίνουσιν ἕτερα καὶ ἕτερα ὕδατα ἐπιρρεῖ· καὶ ψυχαὶ δὲ ἀπὸ τῶν ὑγρῶν ἀναθυμιῶνται.«

2 Die vorsokratische Entdeckung der Seinsfrage

und geht fort«99 (DK 22 B 91). Hinsichtlich Heraklits ›Philosophie‹ der Gegensätze könnte es durchaus sein, dass es sich hier um nachträgliche Zuschreibungen anderer Philosophen handelt, »weil man dessen eigentliche Lehre missverstand, weil man sie weiterentwickeln oder zuspitzen wollte oder weil man sie bewusst entstellen und lächerlich machen wollte«100 . Dies mag aus rein philologischer Perspektive von Relevanz sein, ändert jedoch an der vorliegend gegebenen Interpretation wenig. Eher deutet es darauf hin, dass die ›Dunkelheit‹ Heraklits bei nachfolgenden Philosophen zu einer Stilisierung führte – wie etwa der etymologische Fokus auf die sprachlich motivierte Seinsbewegung in Platons Kratylos beweist, wenn Sokrates den Heraklitieern zuschreibt, »alles Seiende gehe und es bleibe nichts fest«101 . Aus sprach- und erkenntnistheoretischer Sicht erscheint Heraklits Engagement für den λόγος gleichwohl bedeutsamer. Ging Heidegger in Heraklits Lehre vom Logos noch von einer nur partiell sprachlichen Wechselwirkung von λόγος und Seiendem aus, so erfährt diese Einstellung in seinem Vortrag Das Wesen der Sprache eine Wendung, die von Interesse sein könnte: Denn mit das Früheste, was durch das abendländische Denken ins Wort gelangt, ist das Verhältnis von Ding und Wort, und zwar in der Gestalt des Verhältnisses von Sein und Sagen. Dieses Verhältnis überfällt das Denken so bestürzend, daß es sich in einem einzigen Wort ansagt. Es lautet: λόγος. Dieses Wort spricht in einem zumal als Name für das Sein und für das Sagen.102 Jenseits aller Emphase der Bestürzung rekurriert Heidegger auf einen Punkt, der sich in Heraklits Philosophie spiegelt: Es betrifft den Zusammenfall des ontischen Phänomens mit seinem übergeordneten Seinsbau. Dieser Zusammenfall erfüllt im Wort λόγος nicht bloß den offenbaren Tatbestand des Ausdrucks einer Sache; vielmehr überträgt sich das Erkannte auf eine Erkenntnisstufe, die zwar dem Seienden gemein ist, allerdings darüber hinaus das allgemeine Sein zum Thema hat. Aus diesem Grund kann Heraklit ohne Zwang nachträglich als ›Metaphoriker‹ bezeichnet werden – auch wenn die erste systematische Metaphorik mit Aristoteles anzusetzen ist103 und λόγος keinen bildhaften Charakter aufweist. Denn: Im Wort λόγος zeigt sich nicht nur das zur Geschichte gewordene Seiende 99 Gr.: »ποταμῷ γὰρ οὐκ ἔστιν ἐμβῆναι δὶς τῷ αὐτῷ καθ΄ Ἡράκλειτον […] σκίδνησι καὶ πάλιν συνάγει […] καὶ πρόσεισι καὶ ἄπεισι.« 100 Rapp, Christof: Vorsokratiker. S. 67. 101 Platon: Kratylos. In: Ders.: Werke in acht Bänden, Band 3. S. 395-575; 383 a – 440 e, hier S. 455; 401 d. Gr.: »[…] τὰ ὄντα ἰέναι τε πάντα καὶ μένειν οὐδέν·« 102 Heidegger, Martin: »Das Wesen der Sprache.« In: Ders.: Unterwegs zur Sprache. S. 157-216, hier S. 185. 103 Vgl. Aristoteles: Poetik. S. 68-69; 1457 b.

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der Sprache als Erscheinung selbst, sondern die Positivität des nicht zum Nichts reduzierbaren Seins. [I]m Sein ist auf ewig die Geschichte der endlichen Weise, das Sein zu sehen, enthalten: im ewigen Sein, das sich auf ewig im Erscheinen zeigt, ist auf ewig die Geschichte dieses Sichzeigens enthalten (jene Geschichte nämlich, die sich auf dem Hintergrund des Erscheinens entwickelt), und somit sind alle Positivitäten enthalten […], die die Geschichte in ihrem Verlauf nach und nach mit sich fortreißt.104 Transferiert man dies auf die Seinsentdeckung bei Heraklit, so darf davon ausgegangen werden, dass in der Geschichte des Endlichen mehr als »das Sein zu sehen« inkludiert ist; dieses ›Mehr‹ besteht in der Überformung des Optischen und Akustischen zugunsten einer Metaphorisierung, welche das Denken des Seins zu Wort bringt und somit als In‐der-Welt-Seiendes geschichtlich weiter tradiert wird. Von hier aus ist man wieder in der Lage, die ersten Fragen nach dem Sein ernst zu nehmen, sie aus dem Ursprung denkend dem Jetzt zu überantworten. »Auf der Peripherie des Kreises fallen Anfang und Ende zusammen.«105 (DK 22 B 103) Auf dem Umfang des Kreises, welcher als liminale Figuration der Einheit dient, findet jene Gemeinsamkeit ihren Fluchtpunkt, die von der ersten Frage ausgehend die letzte Frage ins Auge nimmt und die letzte Frage im Lichte der ersten erscheinen lässt. Diese wechselseitige Beziehung bedarf weiterer Konkretisierung. Nachfolgend ist es daher vonnöten, Parmenidesʼ absolute Bestimmung des Seins nachzuvollziehen und so den auf Abstraktion basierenden Kontrast zwischen Heraklit darzustellen. Dabei fallen mehrere Faktoren ins Gewicht: die Rolle des Dichterischen für den ontologischen Gehalt des Textes, die Exklusion des unmöglichen Nichtseins und die Skizze einer Welt der Falschheit. 104 Severino, Emanuele: Vom Wesen des Nihilismus. S. 156. 105 Gr.: »ξυνὸν γὰρ ἀρχὴ καὶ πέρας ἐπὶ κύκλου περιφερείας.«

2 Die vorsokratische Entdeckung der Seinsfrage

2.4

Parmenides Abstraktion der Seinsfrage Nach Möglichkeit müssen wir uns loslassen in das Ganze, so befremdlich es zunächst scheinen mag. Aber wir haben doch irgendwo noch den Rest einer Verwandtschaft und Nachkommenschaft bewahrt. Diesen gilt es zu einer ursprünglichen Fülle zu entfalten. (Seinsverständnis.) Sinn und Gehalt des Werkes und der Geist des Parmenides zugänglich nur, wenn wir ihn beschwören. Diese Beschwörung notwendig mit unseren Mitteln der Interpretation. (GA II, 35, S. 104)

Mit diesem kurz gefassten Motto versucht Heidegger, einen Einstieg zum parmenideischen Lehrgedicht leitmotivisch zu garantieren. Er spielt damit einerseits auf die formelle Problematik des Textes an und kolportiert andererseits eine beinahe mystische Formel der Geistesbeschwörung, welche ihren Ursprung aus einer Verwandtschaftsbeziehung von der ersten dezidiert seinsthematischen Philosophie zu einer ontologischen Lesart bezieht. Dass der von Parmenides ausgeübte Einfluss von nicht zu unterschätzender Tragweite ist, klingt in den Worten Heideggers auf den ersten Blick verklärt. Lässt man sich jedoch auf die philosophiegeschichtliche Bedeutung des Eleaten ein, so begründet sich diese Verklärung rasch: Schon bei Platon finden sich zahlreiche Zeugnisse, ja sogar zwei vollständige Dialoge, Parmenides und Sophistes, in deren Zentrum die Auseinandersetzung mit Parmenides steht. »Auch Platon erwähnt ihn, der ihn ja sogar in einem Dialog hat auftreten lassen, weil er ihn außerordentlich geschätzt und zumal in seinem Altersdenken an ihn als Ontologen am stärksten angeknüpft hatte.«106 Platon ist mit dieser Einschätzung nicht alleine; vielmehr darf konstatiert werden, dass sich von Platon aus eine Rezeptionsgeschichte des parmenideischen Denkens entwickelt, die bis Nietzsche und Heidegger nachwirkt. Die Gründe für die außerordentliche Rolle des Parmenides sind mannigfaltig: sei es seine stringente Reduzierung auf die Stellung des Seins, die poetische Verfasstheit des Lehrgedichts, seine resolute Kritik an der Meinungswelt des Menschen oder der Reiz an einem Denken, welches die täglichen Erfahrungen – wie Bewegung oder Vielheit – für fälschlich erklärt. Im Folgenden sollen alle diese Punkte in die Untersuchung einfließen, um ein anschauliches Bild seiner Entdeckung der Seinsfrage zu garantieren. 106 Schadewaldt, Wolfgang: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. S. 311.

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Dabei ist stets zu betrachten, dass mit Parmenides eine Zäsur des Ontologischen markiert ist. Konnte für Anaximander und Heraklit dokumentiert werden, dass das Denken des Seins durch die Aufwertung der Metapher vom Seienden ausgehend das Ganze in den Fokus nimmt, so ist es gleichsam zutreffend, dass das Sein – trotz dessen zentraler Position – nicht abstrakt benannt wurde. Mehrere Übertragungsstufen brachten jene ontologische Essenz ans Licht, die für die jeweilige Philosophie als Wahrheit fungierte. Für Parmenides gilt hingegen nun eine klare Botschaft: »Man soll es aussagen und erkennen, daß es Seiendes ist; denn es ist [der Fall], daß es ist, nicht aber, daß Nichts [ist][.]«107 (DK 28 B 6) Unter diesem Banner ist der gesamte Text zu lesen. Dies mag zunächst simplifizierend klingen; allerdings wird schon hier ein tiefgreifendes Problem ersichtlich: Parmenides trennt nicht zwischen Seiendem und Sein. Das von ihm verwendete griechische Wort ist das neutrale Substantiv τὸ ἐὸν, »das Seiende«, beziehungsweise die ebenfalls neutrale Feststellungsklausel im AcI ἔστι εἶναι, »es ist, daß es ist«, oder wie Diels es ohne den AcI, dafür mit einer Substantivierung des εἶναι übersetzt: »Sein ist« (Übers. D.). In dieser Formel kündigt sich nicht nur das scheinbar tautologische Selbstverhältnis einer jeden Ontologie an, sondern zudem die früheste Programmatik der Philosophie: zu erkennen, dass das Erkannte nicht Nichts ist, sondern Sein. An dieser Tatsache darf das Denken – sofern es Wahrheit entbergen will – nicht rühren, und muss es im selben Moment doch, da menschliches Denken in seinem bewegten Wesen nicht anders kann, als das Sein mit dem Nichts zu identifizieren. Eben diese nicht zu vermeidende Komplexität wird im parmenideischen Lehrgedicht verhandelt. Es stellt daher zweierlei dar: a) die abstrakte Entdeckung der Seinsfrage im Ausschluss des Nichts; b) das Paradoxon, gerade dadurch jenen Nihilismus ins Wort zu bringen, der eigentlich negiert werden muss. Das Denken des Parmenides birgt vor diesem Hintergrund eine ideologische Gefahr, die zwischen den beiden Wegen von wahrem Sein und scheinhaftem Nichtsein oszilliert: Lässt man sich auf »das unerschütterliche Herz der wirklich überzeugenden Wahrheit«108 (DK 28 B 1) ein und zieht daraus die radikal‐ontologischen Schlüsse, die der Text vorschlägt, so tut sich eine Divergenz auf zwischen der deduzierten Wahrheit und den »Meinungen der Sterblichen, denen keine wahre Verläßlichkeit innewohnt«109 (DK 28 B 1); diese immanente ›Logik‹ ist zwar von einer menschlich‐interpretatorischen Warte aus für das Denken zugänglich, spricht jedoch zugleich gegen die sinnliche Wahr-Nehmung des Menschen. 107 Gr.: »χρὴ τὸ λέγειν τε νοεῖν τ' ἐὸν ἔμμεναι· ἔστι γὰρ εἶναι,/μηδὲν δ' οὐκ ἔστιν·« 108 Gr.: »Ἀληθείης εὐκυκλέος ἀτρεμὲς ἦτορ […].« 109 Gr.: »[…] βροτῶν δόξας, ταῖς οὐκ ἔνι πίστις ἀληθής.«

2 Die vorsokratische Entdeckung der Seinsfrage

Wie diese Differenz im Lehrgedicht dargestellt wird, soll im Folgenden Schritt für Schritt untersucht werden. Zuvorderst sei allerdings auf die narrative Situation des Proömiums eingegangen.

2.4.1

Proömium und narrative Situation

Sicherlich lassen sich bei Anaximander, Heraklit und Parmenides – in ihren Versuchen, das Sein entdeckend zu denken – mannigfache thematische Schnittstellen ausmachen; in einem Punkt unterscheidet sich Parmenides: Während Anaximander und Heraklit die prosaische Form zur Vermittlung der Wahrheit nutzen, operiert Parmenides mit dem Hexameter und einer autoritären Instanz, der Göttin Dike, die einen Schüler unmittelbar über das Sein und dessen Struktur belehrt. Auch holt Parmenides in epischer Tradition durch ein Proömium erzählerisch aus, um potenzielle Leser/Schüler auf das Kommende einzuschwören: Die Stuten, die mich tragen, so weit nur mein Mut reicht, gaben mir das Geleit, seit sie, führend, mich auf den ruhmvollen Weg der Göttin, der den wissenden Mann in alle Städte trägt, brachten. […] Jungfrauen wiesen den Weg. […] Dort ist das Tor der Bahnen von Nacht und Tag. […] Selbst ätherisch, ist es ausgefüllt mit großen Türflügeln, deren ineinandergreifende Schlußbalken der unerbittlichen Dike unterstellt sind.110 (DK 28 B 1) Das Proömium erzählt aus Sicht eines unbenannten Mannes von einem anabasischen Weg an das Tor, welches – man denke an Heraklit – als Metapher für die Einheit der Gegensätze von »Nacht und Tag« fungiert.111 Dieser Mann ist nicht unbegleitet, sondern benötigt, trotz seines offensichtlichen Wissens, die Weisung der »Jungfrauen«. Das Tor, an dessen Schwelle der Weg des Mannes führt, ist bewacht von der Hore Dike – es sei hier an Anaximanders Aufweisung des Seienden durch »δίκην καὶ τίσιν« (DK 12 B 1) erinnert –, also der allegorischen Form der Gerechtigkeit. Auf sie [Dike] nun redeten die Jungfrauen ein mit besänftigendem Wort und überzeugten sie in vernünftiger Weise, daß sie auf ihre Bitte den mit einem Stift versehenen Riegelbalken sofort vom Tor zurückschöbe, welches sich in seiner uner110 Gr.: »ἵπποι ταί με φέρουσιν, ὅσον τ' ἐπὶ θυμὸς ἱκάνοι,/πέμπον, ἐπεί μ' ἐς ὁδὸν βῆσαν πολύφημον ἄγουσαι/δαίμονες, ἣ κατὰ πάντ' ἄστη φέρει εἰδότα φῶτα· […]/κοῦραι δ' ὁδὸν ἡγεμόνευον./[…] ἔνθα πύλαι Νυκτός τε καὶ Ἤματός εἰσι κελεύθων[.] […] αὐταὶ δ' αἰθέριαι πλῆνται μεγάλοισι θυρέτροις·/τῶν δὲ Δίκη πολύποινος ἔχει κληῖδας ἀμοιβούς.« 111 Im Besonderen sei bezüglich des Tag-/Nacht-Motivs nochmals an das anti‐hesiodsche HeraklitFragment B 57 erinnert: »Lehrer der meisten ist Hesiod; sie sind überzeugt, jener wisse das meiste, der Tag und Nacht nicht kannte: die sind ja doch eins!« (DK 22 B 57)

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meßlichen, vorher von den Türflügeln ausgefüllten Weite auftat […].112 (DK 28 B 1) Es ist zu sehen, dass nicht der unbenannte Mann durch sein Wirken das Tor zur Göttin aufschlägt. Vielmehr braucht es Überzeugungsarbeit seitens der Jungfrauen, um den Zugang zur Göttin zu gewähren. Dieser persuasive Akt muss »in vernünftiger Weise« vonstattengehen. Dessen Gelingen korrespondiert mit der nachfolgenden Willkommensheißung der Göttin: »Vertrauensvoll empfing mich die Göttin, sie ergriff mit ihrer Hand meine Rechte, begrüßte mich und sprach die folgenden Worte[.]«113 Nach dieser Passage wird ausschließlich die Göttin das Wort haben. Es findet demnach ein Wechsel der Erzählerinstanz statt, der den Eingelassenen zu einem stummen Hörer degradiert und allein die göttliche Autorität ermächtigt, Wahrheit und Lüge zu sprechen. Junger Mann, Gefährte unsterblicher Wagenlenkerinnen, der du mit den Stuten, die dich tragen, mein Haus erreicht hast, willkommen! Es ist ja kein böses Geschick, das dich fortgeleitet hat über diesen Weg, um ans Ziel zu gelangen – einen Weg, der weitab vom üblichen Pfad der Menschen liegt –, sondern göttliche Fügung und dein Recht.114 (DK 28 B 1) Konnte für Heraklit festgehalten werden, dass seine ›Philosophie‹ im schroffen Gegensatz zu den epischen Vorgängern Homer und Hesiod formuliert wurde, so darf dies angesichts des letzten Zitats aus dem Schluss von B 1 für Parmenides nicht gelten. Ist es ja eindeutig eine göttliche Ermächtigung – fast im Sinne einer Apokalypse115 –, die dem Hörer das positive Recht auf Mit-(der-Göttin-)Denken zuspricht. Noch deutlicher wird dies in den nachstehenden Zeilen: So gehört es sich, daß du alles erfährst: einerseits das unerschütterliche Herz der wirklich überzeugenden [eigentlich ›gutgerundeten‹] Wahrheit, andererseits die Meinungen der Sterblichen, denen keine wahre Verläßlichkeit innewohnt. Gleichwohl wirst du auch hinsichtlich dieser Meinungen verstehen lernen, daß das Gemeinte gültig sein muß, insofern es allgemein ist.116 (DK 28 B 1) 112 Gr.: »τὴν δὴ παρφάμεναι κοῦραι μαλακοῖσι λόγοισιν./πεῖσαν ἐπιφραδέως, ὥς σφιν βαλανωτὸν ὀχῆα/ἀπτερέως ὤσειε πυλέων ἄπο· ταὶ δὲ θυρέτρων/χάσμ' ἀχανὲς ποίησαν ἀναπτάμεναι […].« 113 Gr.: »καί με θεὰ πρόφρων ὑπεδέξατο, χεῖρα δὲ χειρί/δεξιτερὴν ἕλεν, ὧδε δ' ἔπος φάτο καί με προσηύδα·« 114 Gr.: »ὦ κοῦρ' ἀθανάτοισι συνάορος ἡνιόχοισιν,/ἵπποις ταί σε φέρουσιν ἱκάνων ἡμέτερον δῶ,/χαῖρ', ἐπεὶ οὔτι σε μοῖρα κακὴ προὔπεμπε νέεσθαι/τήνδ' ὁδόν – ἦ γὰρ ἀπ' ἀνθρώπων ἐκτὸς πάτου ἐστίν –,/ἀλλὰ θέμις τε δίκη τε.« 115 Vgl. Jaspers, Karl: Aus dem Ursprung denkende Metaphysiker. S. 642. 116 Gr.: »χρεὼ δέ σε πάντα πυθέσθαι/ἠμὲν Ἀληθείης εὐκυκλέος ἀτρεμὲς ἦτορ/ἠδὲ βροτῶν δόξας, ταῖς οὐκ ἔνι πίστις ἀληθής./ἀλλ΄ ἔμπης καὶ ταῦτα μαθήσεαι, ὡς τὰ δοκοῦντα/χρῆν δοκίμως εἶναι διὰ παντὸς πάντα περῶντα.«

2 Die vorsokratische Entdeckung der Seinsfrage

Kontrastiert man diese Sätze mit Hesiods Theogonie, so wird klar, dass sich Parmenides – anders als Heraklit – mit einiger Wahrscheinlichkeit am dort begründeten Wahrheits-/Falschheitsdikurs orientiert: So aber sprachen die Göttinnen zuerst zu mir, die olympischen Musen, Töchter des aigisführenden Zeus: »Hirtenpack ihr, Draußenlieger und Schandkerle, nichts als Bäuche, vielen Trug verstehen wir zu sagen, als wäre es Wahrheit, doch können wir, wenn wir es wollen, auch Wahrheit verkünden.« So sprachen die beredten Töchter des Zeus […] und hauchten mir göttlichen Sang ein, damit ich Künftiges und Vergangenes rühme.117 Während die Musen bei Hesiod den Erzähler mit einer Beschimpfung ob seiner Faulheit begrüßen, offeriert Dike im parmenideischen Lehrgedicht als erstes das Angebot, sich auf das Kommende einzulassen. Dasjenige, was zu folgen scheint, ist sowohl bei Parmenides als auch bei Hesiod analog: Wahrheit und Falschheit in allen Facetten – daher heißt es bei Parmenides auch, »daß du alles erfährst«118 . Wolfgang Schadewaldt sieht diesen Aspekt in Anlehnung an Jaeger119 ebenfalls: »[A]uch Hesiod hatte eine echte Vision der Musen, die zu ihm traten […] und die entscheidenden Worte sagten: sie könnten viel Trügerisches sagen, dem Wahren ähnlich, aber sie könnten, wenn sie wollten, auch das Wahre künden.«120 Dieser Punkt stellt eine akkurate Analyse der parmenideischen Seinsphilosophie vor die Herausforderung, hermeneutisch filtern zu müssen, welche Philosopheme Wahrheitsanspruch besitzen und welche nicht. Eben hier setzt wieder die Konvergenz von Dichtung und Seinsdenken ein, die schon für Anaximander und Heraklit galt. Für einen Einstieg in den Text des Parmenides ist deshalb die Erkenntnis wichtig, »daß zwei verschiedene Sphären des Wissens geschieden werden wie bei Hesiod: das Trügerische und das Unentborgene.«121 Mit der Fokussierung auf das »Unentborgene« spielt Schadewaldt mit einiger Sicherheit auf Heideggers Freiburger Vorlesung Parmenides aus den Jahren 1942/43 an, die Dike vornehmlich in Kongruenz zur Wahrheit als Ἀλήθεια einstuft. »Ἀ-λήθεια heißt in der ›wörtlichen‹ Übertragung ›Un‐verborgenheit‹«122 , was für Heidegger bedeutet, dass sich Seinserkenntnis im Spannungsfeld von Verbergung und Entbergung zeigt. 117 Hesiod: Theogonie. S. 4-7; V. 24-32. Gr.: »τόνδε δέ με πρώτιστα θεαὶ πρὸς μῦθον ἔειπον,/Μοῦσαι Ὀλυμπιάδες, κοῦραι Διὸς αἰγιόχοιο·/'ποιμένες ἄγραυλοι, κάκ᾽ ἐλέγχεα, γαστέρες οἶον,/ἴδμεν ψεύδεα πολλὰ λέγειν ἐτύμοισιν ὁμοῖα,/ἴδμεν δ᾽, εὖτ᾽ ἐθέλωμεν, ἀληθέα γηρύσασθαι.'/ὣς ἔφασαν κοῦραι μεγάλου Διὸς ἀρτιέπειαι·/[…] ἐνέπνευσαν δέ μοι αὐδὴν/θέσπιν, ἵνα κλείοιμι τά τ᾽ ἐσσόμενα πρό τ᾽ ἐόντα[.]« 118 Hervorhebung durch den Verfasser. 119 Vgl. Jaeger, Werner Wilhelm: Die Theologie der frühen griechischen Denker. S. 107-127. 120 Schadewaldt, Wolfgang: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. S. 317. 121 Schadewaldt, Wolfgang: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. S. 317. 122 Heidegger, Martin: Parmenides. In: Ders.: GA II. Abteilung, Band 54. S. 21. Im Folgenden Markierung durch Kürzel (GA II, 54).

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Lässt man Heideggers Lesart vorerst beiseite und konzentriert sich erneut auf den Wortlaut des Gedichts, so ist zu beachten, dass sich (Schein-)Lug und (Seins-)Erkenntnis nicht nur auf den Inhalt auswirken, sondern reflexiv in der sprachlichen Form spiegeln. Wieder gibt Schadewaldt entscheidende Hinweise: Um noch von der äußeren Form zu sprechen: es ist eine ungewöhnliche, schwerflüssige Sprache, nicht annähernd von der Glätte eines Xenophanes. […] Wir werden die Sprache also zu verstehen haben als nicht primär die Sprache eines Dichters. Das heißt aber nicht, daß diese dichterische Form in ihrer Ungelenkheit und Schwere bloß äußerlich wäre. Im Gegenteil, gerade diese Schwere, aus der sich die Gedanken gleichsam entringen, entspricht einer gewissen Schwere auch der Vorstellungen und ist eigentümlich charakteristisch[.]123 Aus Schadewaldts Bemerkung ergeben sich zwei Merkmale: die xenophaneische Tradition einer dichterischen Einheits-Philosophie und, damit verbunden, die sprachliche Evolution des Aussagegehalts zugunsten eines Denkens, das gerade in der Poetisierung die Komplexität des Seins verhandelt. So sind in Xenophanes Hexametern einige Fragmente zu finden, die den späteren Monismus des Parmenides vorwegzunehmen scheinen: »Ein einziger Gott ist unter den Göttern und Menschen der Größte,/weder dem Körper noch der Einsicht nach den sterblichen Menschen gleich«124 (DK 21 B 23), und noch deutlicher B 26: »Immer bleibt er [Gott] am selben Ort, ohne irgendwelche Bewegung,/denn es geziemt sich für ihn nicht, bald hierhin, bald dorthin zu gehen, um seine Ziele zu erreichen.«125 (DK 21 B 26) Auch Parmenides wird die absolute Bewegungslosigkeit des Seins fordern126 , jedoch in einer weitaus klareren und ausgearbeiteteren Weise als es bei Xenophanes der Fall ist. Schon Diogenes Laertios berichtet aufgrund der Nähe zwischen Xenophanes und Parmenides von einem Lehrer-/Schülerverhältnis – er stellt allerdings auch eine Abgrenzung der beiden heraus: »Parmenides aus Elea, Sohn des Pyres, war ein Schüler des Xenophanes (dieser, nach Theophrast in der Epitome, ein Schüler Anaximanders). Obwohl er Schüler des Xenophanes war, teilte er seine Auffassungen nicht.«127 (DK 28 A 1) Ob Xenophanes tatsächlich der Schüler Anaximanders war, ist schwer greifbar; die Hypothese aber, er sei der Lehrer des Parmenides gewesen, ist erstens wegen des gemeinsamen Wohnortes Elea und zweitens ob der sowohl formalen als auch thematischen Überlappung und Distanzierung stichhaltig. 123 124 125 126 127

Schadewaldt, Wolfgang: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. S. 314. Gr.: »εἷς θεός ἔν τε θεοῖσι καὶ ἀνθρώποισι μέγιστος,/οὔτι δέμας θνητοῖσιν ὁμοίιος οὐδὲ νόημα.« Gr.: »αἰεὶ δ᾿ ἐν ταὐτῷ μίμνει κινούμενος οὐδέν/οὐδὲ μετέρχεσθαί μιν ἐπιπρέπει ἄλλοτε ἄλλῃ[.]« Vgl. zur Akinesie des parmenideischen Seins S. 68. Gr.: »Ξενοφάνες δὲ διήκουσε Παρμενίδες Πύρητος Ἐλεάτης (τοῦτον Θεόφραστος ἐν τῆι Ἐπιτομῆι Ἀναξιμάνδρου φησὶν ἀκοῦσαι). ὅμως δ' οὖν ἀκούσας καὶ Ξενοφάνους οὐκ ἠκολούθησεν αὐτῶι.«

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Parmenides nutzt in der Nachfolge des Xenophanes den Hexameter zur Ausgestaltung des Seinsdenkens; auch ist die Metapher der Auffahrt zu Göttin mitsamt der Scheidung zwischen Wahrheit und Lüge ein Beleg für Parmenidesʼ Wissen um die epische Tradition. Dennoch sollte man sich von diesen Sachverhalten nicht zu der Annahme verleiten lassen, Parmenides sei ein Dichter, dessen Hauptziel es gewesen wäre, die Nachahmung irgendeiner äußerlichen ›Wirklichkeit‹ zu propagieren. Vielmehr operiert der Eleate mit einer Seinsdeduktion, die in einem ersten Schritt das reine Denken und seine Zusammenhänge als Wahrheit des Seins zu Wort bringt; erst der zweite Schritt, die Beschreibung des Weges der Menschen, verstellt von ontologischem Unwissen, wird auf die fälschlich wahr‐genommene ›Wirklichkeit‹ zu sprechen kommen. An dieser Struktur des Textes lässt die Göttin keinen Zweifel, wenn sie das Programm des Zu-Denkenden vorgibt. Aufgrund der kardinalen Position im Lehrgedicht wird ihre Setzung daher folgend im Fließtext auf Deutsch und Griechisch wiedergegeben: Wohlan, ich werde also vortragen (du aber sollst das Wort, nachdem du es gehört hast, den Menschen weitergeben), welche Wege der Untersuchung einzig zu erkennen sind: die erste, daß es ist und daß nicht ist, daß es nicht ist, ist die Bahn der Überzeugung, denn sie richtet sich nach der Wahrheit; die zweite, daß es nicht ist, und daß es sich gehört, daß es nicht ist. Dies jedoch ist, wie ich dir zeige, ein völlig unerfahrbarer Pfad: denn es ist ausgeschlossen, daß du etwas erkennst, was nicht ist, oder etwas darüber aussagst: denn solches läßt sich nicht durchführen; (DK 28 B 2) εἰ δ' ἄγ' ἐγὼν ἐρέω, κόμισαι δὲ σὺ μῦθον ἀκούσας,/αἵπερ ὁδοὶ μοῦναι διζήσιός εἰσι νοῆσαι·/ἡ μὲν ὅπως ἔστιν τε καὶ ὡς οὐκ ἔστι μὴ εἶναι,/Πειθοῦς ἐστι κέλευθος (Ἀληθείῃ γὰρ ὀπηδεῖ),/ἡ δ' ὡς οὐκ ἔστιν τε καὶ ὡς χρεών ἐστι μὴ εἶναι,/τὴν δή τοι φράζω παναπευθέα ἔμμεν ἀταρπόν·/οὔτε γὰρ ἂν γνοίης τό γε μὴ ἐὸν (οὐ γὰρ ἀνυστόν)/οὔτε φράσαις. Der Schüler erhält eine dreifache Mission: a) die kommende Ausführung der Göttin hörend nachzuvollziehen, b) den dargelegten μῦθος unter die Menschen zu tragen128 und c) das Paradoxon an‐zu-erkennen, dass der zweite Teil der von Dike offenbarten Wege im Spiegel des wahrheitsfähigen ersten Teils geprüft werden muss. Was das Zu-Erkennende ist, führt Dike bereits unmissverständlich aus. In der pointierteren Übersetzung Diels: »der eine Weg, daß IST ist und daß 128 Die Mansfeld’sche und Diel’sche Übersetzung des μῦθος mit »Wort« ist sicherlich nicht falsch. Dennoch sei angemerkt, dass das Wortfeld breiter ausgelegt ist; so stehen auch folgende Bedeutungen zur Debatte: »Rede, Erzählung […] Nachricht, Bericht, Bescheid, Befehl […], Sache, Begebenheit, Geschichte« (Gemoll, Wilhelm: Griechisch‐deutsches Schul- und Handwörterbuch. S. 512). Besonders die Variante »Befehl« könnte aufgrund des autoritären Duktus der Göttin hinzugedacht werden.

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Nichtsein nicht ist«, im Gegensatz zur Un-Erkennbarkeit, »daß NICHT IST ist und daß Nichtsein erforderlich ist« (beide Übers. D.). Diese Programmatik dient – anders als bei Anaximander oder Heraklit – einer vollständigen Ent-Deckung des Seins. Sie sagt die Unleugbarkeit des Seins und die Verstellung dessen im Sinne der menschlichen Meinung. Parmenides ist also jetzt auf dem von den Menschenpfaden weit abliegenden Weg der Göttin unterwegs, im Begriff, ihn ganz zu durchlaufen. […] Jetzt soll im Voraus geklärt und festgehalten werden: was überhaupt erfragt werden kann und was nicht, welche Wegrichtung das Fragen einschlagen muß und welche es nicht einschlagen kann bzw. nicht darf. (GA II, 35, S. 115) Heidegger lenkt die Sicht auf eine wesentliche Komponente, die das Verhältnis von Ontologie und Literarizität des Textes betrifft: Wenn die Göttin in B 2 für den Fortlauf festlegt, dass der Schüler weder in der Lage ist, die Falschheit zu erkennen noch zu sagen, sie aber den scheinhaften Trug von B 9 bis B 19 ausexerziert, so geschieht dies vor dem Hintergrund ihrer theistischen Autorität. Damit erklärt sie nicht das Nichtsein, sondern offenbart dasjenige, was dem Glauben der Menschen nach Seiendes sei. Mit dem wahren Sein, welches im ersten Part in aller Vollständigkeit beschrieben wird, hat der Weg des Menschen nur insofern etwas zu tun, als dieser als un‐wahr vernommen werden muss. Wie Parmenides nach dem Proömium den Wahrheitsteil des Lehrgedichts gestaltet, soll im nachstehenden Passus untersucht werden. Besonderes Augenmerk wird hierbei auf die Merkmale des Seins gelegt, welche in ihrer abstrakten Konfiguration das abendländische Denken aufs Tiefste prägen sollten.

2.4.2

Die Entdeckung der Seinswelt Zum erstenmal im Abendland wundert sich ein Denker, daß Sein ist, daß es unmöglich ist, zu denken, daß Nichts sei. Das Selbstverständlichste ist das Rätselvollste, aber auch Klarste. Sein ist und Nichts ist nicht, das ist für Parmenides eine Offenbarung des Denkens durch das Denken selber.129

Dass vor allem dem Noetischen für den ersten, dezidiert auf das wahre Sein fokussierten Teil des parmenideischen Lehrgedichts eine zentrale Rolle zukommt, wird bereits mit Blick auf das einleitende Fragment B 3 deutlich: » … τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι« (DK 28 B 3), in der Übersetzung Mansfelds: »denn daß 129 Jaspers, Karl: Aus dem Ursprung denkende Metaphysiker. S. 642.

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man es erkennt, ist dasselbe, wie daß es ist.« In der Diels’schen Übertragung: »denn dasselbe ist Denken und Sein.« (Übers. D.) Nun ist allerdings das griechische Wort νοεῖν nicht schlicht als dasjenige zu verstehen, als was man den rein geistigen Akt des ›Denkens‹ neuzeitlich nimmt. Auch ist νοεῖν nicht ausschließlich als sensuell konnotiertes ›Erkennen‹ aufzufassen. Vielmehr kann mit Heidegger der deutsche Begriff ›Vernehmen‹ eingetragen werden. Das Sein ist dasselbe wie das Vernehmen und umgekehrt (Grundaussage über das Sein). Beide gehören zusammen; aber wohl zu beachten: es wird nicht gesagt, daß das Sein […] auch zum νοεῖν eine Beziehung habe, sondern: Sein hat als ein solches nur die Befugnis im Vernehmen und umgekehrt. (GA II, 35, S. 119) Somit ergibt sich, dass der Zusammenhang von Vernehmen und Sein gleichsam als horizontaler Kontext gedeutet wird, in dem das Sein unter die Erstrangigkeit des Vernehmens eingeordnet wird. Aufs Erste scheint diese Interpretation hermeneutisch ausreichend: Das Ver-Nehmen birgt das griechische »némō ›ich teile aus, eigne mir an, besitze‹«130 ; mit dem Präfix ›Ver-‹, welches schon im Mittelhochdeutschen die Dreiheit von griechisch »parà, pró und perì«131 in eins setzt, findet eine Kombination von örtlichen, sensorischen und metakategorialen Faktoren statt. Man könnte das Vernehmen als eine Art wahrnehmende Aneignung des ausgeteilt Vorliegenden bezeichnen – was letztlich im Wort ›Vernunft‹ seine substantivierte Form bekommt. Heidegger geht indessen nicht weiter auf die den Satz entscheidende Verwendung von ἐστίν ein. Eine bisherige Übertragung könnte lauten: »Denn es ist dasselbe: Vernehmen/Vernunft und Sein.« (Übers. P. K.) Nimmt man Hans-Georg Gadamers Analyse des Fragments ernst – obgleich er B 3 als platonischen Nachtrag, der durch Clemens in den parmenideischen Text eingedrungen sei, sieht132 –, so ist miteinzubeziehen, »daß ἐστίν hier nicht als Kopula dient, sondern Existenz bedeutet, und zwar nicht nur in dem Sinne, daß da etwas ist, sondern auch in dem für das klassische Griechisch kennzeichnenden Sinne, daß es möglich ist, daß es die Kraft hat, zu sein«133 . Diese Feststellung im Fragment mildert den Duktus der Strenge; so neigt sich das horizontale Verhältnis von Vernehmen und Sein, dass eine Beinahe-Äquivalenz entsteht. »Die beiden [ἐστίν νοεῖν/ἐστίν εἶναι] sind dasselbe, oder besser gesagt: Die beiden sind durch eine unauflösliche Einheit verbunden.«134 An der Auslegung dieses Fragments spiegeln sich zwei unterschiedliche Modelle des abendländischen Denkens, zumal eine der beiden für die weitere Un130 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. S. 648. 131 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. S. 950. 132 Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Der Anfang der Philosophie. S. 154. 133 Gadamer, Hans-Georg: Der Anfang der Philosophie. S. 154. 134 Gadamer, Hans-Georg: Der Anfang der Philosophie. S. 154.

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tersuchung eine kardinale Rolle spielen wird: entweder die Annahme, das Sein sei ohne das Zu-Sein des Vernehmens; oder aber, das Sein müsste immer mit dem Vernehmen gedacht werden. Aus der ersten Annahme folgt ein widersprüchlich‐nihilistisches Szenario: Wenn das Sein ohne das Vernehmen wäre, müsste es mangelhaft sein, da ihm etwas fehlen würde, was unzweifelbar Seiendes ist. Dadurch entstünde eine gewisse ontologische ›Lücke‹, die Nichtseiendes zuließe – was diametral gegen den Text des Parmenides spräche. Die zweite Annahme ist im Gegensatz dazu ontologisch stichhaltig: Vernehmen und Sein bilden eine onto‐noetische Allianz, welche sich wechselseitig bedingt. Prägnant formuliert: Ohne Vernehmen kein Sein, kein Sein ohne Vernehmen. Da man davon auszugehen hat, dass nicht Nichts ist, sondern Sein, das immer im Denken und Wahrnehmen vernommen wird, muss die zweite Annahme als bestätigt angesehen werden. Hieraus entsteht das von Heidegger angeschnittene Problem, ob nun eine Vormachtstellung des Seins oder des Denkens vorliege.135 In der Forschung zeigt sich eine Divergenz der Auslegung: »[N]ach den einen [Interpretatoren] besagt das Fragment soviel wie ›nur das, was man denken kann, kann sein‹; nach den anderen ›nur das, was sein kann, kann gedacht werden.‹«136 Vielleicht ist es möglich, mit einer textimmanenten Analyse dieser Schwierigkeit auf die Spur zu kommen, da das nachstehende Fragment B 4 diesen Punkt nochmals in den Fokus nimmt: Betrachte mit Verständnis das Abwesende als genauso zuverlässig anwesend [wie das Abwesende]: denn nicht wird das Verständnis das Seiende vom Seienden abschneiden, von seinem Zusammenhang, weder als ein, wie es sich gehört, sich überallhin gänzlich Zerstreuendes noch als ein Sichzusammenballendes.137 (DK 28 B 4) Mansfeld setzt hier »Verständnis« für das griechische νόος, welches die kontrahierte Variante von νοῦς ist, ein. Diels überträgt den Ausdruck mit »Geist« (Übers. D.). Letzteres ist nicht unbedingt weiterführend, da mit »Geist« ein gewisser Idealismus mitimpliziert werden könnte, der so im Text nicht angelegt ist. Auch »Verständnis« wirkt teils irreführend, weil aufgrund dessen ebenfalls eine rein geistige Ebene aufgemacht würde, die im Wort ›Vernehmen‹ zwar mitschwingt, jedoch in Kombination mit einer phänomenalen Aneignung gedacht werden sollte. Der erste Satz in B 4 resorbiert aus dieser Perspektive B 3 und drückt aus: Es muss das, was scheinbar nicht zugegen ist, in einer vernünftigen Weise angese135 Das Wesen der Heidegger’schen ›Kehre‹ besteht im Grunde in der Umkehrung der noch in Sein und Zeit vorherrschenden Hierarchie Dasein/Sein zugunsten der Stellung Sein/Eksistenz (vgl. S. 219f. der vorliegenden Arbeit). 136 Marcinkowska-Rosół, Maria: Die Konzeption des ›noein‹ bei Parmenides von Elea. S. 66. 137 Gr.: »λεῦσσε δ' ὅμως ἀπεόντα νόῳ παρεόντα βεβαίως·/οὐ γὰρ ἀποτμήξει τὸ ἐὸν τοῦ ἐόντος ἔχεσθαι/οὔτε σκιδνάμενον πάντῃ πάντως κατὰ κόσμον/οὔτε συνιστάμενον.«

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hen werden; verfährt man vernünftig, so ist das Nicht-Zugegene dem Zugegenen gleichrangig anwesend. Die Ursache für diese ›Warnung‹ folgt im nächsten Satz: Gerade der ›geistige‹ Part des Vernehmens birgt die Gefahr, das »Seiende vom Seienden ab[zu]schneiden«, es also in einem Akt der Separation als Getrenntes aufzufassen. Auch das Zusammenkommen von Seiendem ist nicht – wie sollte es sich unieren, wenn es nicht als Getrenntes sein kann. Das Seiende legt der Vernunft die Prämisse auf, dass alles Sein sowohl geistig als auch phänomenal keinen nihilistischen ›Zwischenraum‹ der Leere zulässt. Greift man auf Fragment B 8 vor, lässtsich eine stringente Wendung ausmachen, die die Beziehung zwischen Sein und Denken/Vernehmen klarstellt: »Und daß man es erkennt, ist dasselbe wie die Erkenntnis, daß es ist. Denn nicht ohne das Seiende, bezüglich dessen es als Ausgesagtes Bestand hat, wirst du das Erkennen finden.«138 (DK 28 B 8) Der zweite Satz lässt die in B 3 noch unentschiedene Relation von Sein und Vernehmen changieren. Dabei ist deutlich, dass Sprache eine konstitutive Qualität zukommt, indem sie das wahre Sein fasst und so dem Vernehmen überantwortet. »Hier ist klar gesagt, daß man nicht Denken antreffen kann ohne Seiendes, das, worin man damit gründet. Das ist nicht die idealistische Identität von Denken und Sein, sondern […] daß es ein Denken nicht geben kann, was sich nicht auf Seiendes bezieht«139 , wie Schadewaldt das Fragment interpretiert. Im Grunde ist damit der Streit um die Beziehung von Sein und Vernehmen inhärent beigelegt. Genau genommen musste die Möglichkeit des Streits von Anfang an entschieden sein. Denn: Wenn Ist ist – was in Fragment B 2 festgestellt wird –, muss auch das Vernehmen Sein sein. Die Identität von Sein und Vernehmen besagt dann den einfachen Tatbestand, dass Seiendes in den Formen des Materiellen und Geistigen für den Ein- und Ausdruck im Vernehmen zusammenfällt. Dass der Aussage in Fragment B 6 – Mansfeld ordnet es philologisch sinnvoll nach B 4 ein – der Beginn gewidmet ist, muss daher nicht verwundern: »Man soll aussagen und erkennen, daß es Seiendes ist; denn es ist [der Fall], daß es ist, nicht aber, daß Nichts [ist]; ich fordere dich auf, dies gelten zu lassen.«140 (DK 28 B 6) Wie bei Heraklit ergibt sich hieraus die Frage, wie das griechische λέγειν, welches Mansfeld und Diels mit »aussagen«, respektive »sagen« (Übers. D.) wiedergeben, auf die Komposition der parmenideischen Seinsentdeckung zu übertragen ist. Heidegger verdeutscht das Textstück streitbar mit: »Es muß das Hinstellen sowohl wie das Vernehmen verbleiben, das Sein nämlich (das Seiend qua Sein) ist das Ist. Das Nichtsein hat kein ›es ist‹; das freilich heiße ich dich dir 138 Gr.: »ταὐτὸν δ' ἐστὶ νοεῖν τε καὶ οὕνεκεν ἔστι νόημα./oὐ γὰρ ἄνευ τοῦ ἐόντος, ἐν ᾧ πεφατισμένον ἐστιν,/εὑρήσεις τὸ νοεῖν·« 139 Schadewaldt, Wolfgang: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. S. 323. 140 Gr.: »χρὴ τὸ λέγειν τε νοεῖν τ' ἐὸν ἔμμεναι· ἔστι γὰρ εἶναι,/μηδὲν δ' οὐκ ἔστιν· τά σ' ἐγὼ φράζεσθαι ἄνωγα.«

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kund zu halten.« (GA II, 35, S. 120) Das »Hinstellen« entzieht dem Wort λέγειν die sprachliche Komponente. Während in Heideggers Auseinandersetzung mit Heraklit die Übertragung von λέγειν mit »[auf]lesen« (GA II, 55, S. 266-267), welche immerhin rudimentär die Wechselwirkung von Wort und Phänomen berücksichtigt, vorherrschte, scheint nunmehr das Sprachliche aus seiner Interpretation des Eleaten getilgt zu sein. In Heideggers Vorlesung Parmenides, die relativ spärlich auf das Denken des Vorsokratikers eingeht, wird der gesamte Text wie folgt charakterisiert: »Man sieht aber auch leicht, daß sich hier in den Versen des Parmenides kaum etwas ›Poetisches‹ findet, wohl dagegen sehr viel von dem, was man das ›Abstrakte‹ heißt.« (GA II, 54, S. 3) Mit dieser Kennzeichnung ist Heideggers Programm prägnant zusammengefasst: Selbstverständlich trifft es zu, dass Parmenidesʼ Lehrgedicht einen äußerst abstrakten Denkweg vorgibt, jedoch finden sich ebenfalls poetische Momente wie die Auffahrt zur Göttin, oder allgemeiner: eine narrative Grundstruktur der Erzählung, die die Komplexität der Aussage erst ins Wort kommen lässt. Das Zu-Wort‐kommen ist für Parmenides eben nicht unbedeutend, sondern eine notwendige Form des Vernehmens – nicht grundlos beginnt das Fragment B 6 mit der auffordernden Wendung χρὴ, »[n]ötig ist« (Übers. D.). Heidegger interpretiert hingegen, dass »das Vorausstehen des λέγειν vor dem νοεῖν an dieser Stelle […] nicht verständlich [würde], wenn λέγειν sagen, νοεῖν denken bedeutet; der ›Satz‹ ἐὸν ἔμμεναι müßte nämlich erst gedacht und dann gesagt werden […]«141 . Betrachtet man allerdings die Narrativität des gesamten Textes, so muss festgehalten werden, dass die Göttin einem Noch‐nichtalles-Wissenden das Wesen des Seins sagt. Das Denken/Vernehmen wird durch diese Konstruktion erst ins Werk gesetzt. Der das Wort Hörende muss, nachdem er die Merkmale des Seins vernommen hat, die Position der Göttin einnehmen, um das Denken im Wort zu formulieren. Das Wissen um das Sein erschließt sich somit für den Schüler/Leser in einem Vorgang der Nachträglichkeit. Dabei ist die von der Göttin gegebene Auskunft über dasjenige, was zu wissen ist, dreipolig. Erstens (Wahrheit): Sprechen und Vernehmen des zu Erkennenden, »daß Seiendes [ist] [ἐὸν ἔμμεναι]«. Zweitens (Ist-Nicht): die Unmöglichkeit, »daß Nichts [ist] [μηδὲν δ’ οὐκ ἔστιν]«. Dieser Weg ist nicht gangbar, »[d]enn der erste Weg der Untersuchung, vor dem ich dich [zurückhalte], ist jener«142 (DK 28 B 6). Drittens (Schein): der Weg der Menschen, welche Wege eins und zwei auf sonderbare Weise vermischen und dadurch ein pseudo‐reales, für den Verstand gefährliches Zerrbild des Seins kreieren: Ich halte dich aber auch zurück von dem Weg, über den die nichtwissenden Menschen irren, die Doppelköpfigen. Denn Machtlosigkeit lenkt in ihrer Brust den ir141 Schlüter, Jochen: Heidegger und Parmenides. S. 154. 142 Gr.: »πρώτης γάρ σ' ἀφ' ὁδοῦ ταύτης διζήσιος [.]«

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renden Verstand; sie treiben dahin, gleichermaßen taub wie blind, verblüfft, Völkerschaften, die nicht zu urteilen verstehen, denen Sein und Nichtsein als dasselbe und auch wieder nicht als dasselbe gilt und für die es von allem eine sich verkehrende Bahn gibt.143 (DK 28 B 6) Im Gegensatz zum zweiten Weg des Nicht-Ist ist der dritte Weg für die Göttin skizzierbar. Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Während der erste Weg das wahre Sein und dessen Folgen markiert, so ist vom zweiten Weg nur die singulär‐ontologische Aussage zu treffen, er sei nicht. Der dritte Weg indessen stellt das dar, was der Mensch als Seiendes glaubt, demnach die Verschränkung von Wahrheit und der Undenkbarkeit des Nichtseins. Wie Heidegger richtig bemerkt: »Dieser dritte Weg hat mit dem ersten, dem allein aussichtsreichen und eigentlich zu gehenden, das Gemeinsame, daß er im Unterschied zum zweiten, der schlechthin aussichtslos ist und zu nichts führt, doch zu etwas führt.« (GA II, 35, S. 128) Wozu der dritte Weg führt, schildert Parmenides nach der Behandlung des Wahrheits-Teils. Bevor verstanden werden kann, was es heißt, dem Schein nachzugeben, muss das Sein in allen Bereichen exponiert werden, jedoch immer eingedenk des zweiten Weges des Nichts. Daher fährt die Göttin in B 7 repetitiv warnend fort: Denn niemals kann erzwungen werden, daß ist, was nicht ist. Im Gegenteil, du sollst das Verstehen von diesem Weg der Untersuchung zurückhalten, und die vielerfahrene Gewohnheit soll dich nicht zwingen, über diesen Weg das ziellose Auge schweifen zu lassen, das wiederhallende Ohr und die [sprechende] Zunge. Nein: beurteile in rationaler Weise die streitbare Widerlegung, die ich ausgesprochen habe.144 (DK 28 B 7) Parmenides weiß um die Gefahr, die die Erfahrung des Hörers mit sich bringt. War ja dessen Welt vormals nicht durch die Entdeckung des Seins geprägt, sondern bestimmt von der blind‐tauben Annahme, Sein sei mit Nichtsein kongruent. Besonders dem letzten Teilsatz (κρῖναι δὲ λόγῳ πολύδηριν ἔλεγχον/ἐξ ἐμέθεν ῥηθέντα) kommt deshalb eine signifikante Bedeutung zu. Leider wirkt hier Mansfelds Übersetzung von λόγῳ mit »rationaler Weise« und κρῖναι mit »beurteile« etwas unglücklich; bei Diels heißt es: »[…] nein mit dem Denken bring zur Entscheidung die streitreiche Prüfung, die von mir genannt wurde.« (Übers. D.) 143 Gr.: »αὐτὰρ ἔπειτ' ἀπὸ τῆς, ἣν δὴ βροτοὶ εἰδότες οὐδὲν/πλάττονται, δίκρανοι· ἀμηχανίη γὰρ ἐν αὐτῶν/στήθεσιν ἰθύνει πλακτὸν νόον· οἱ δὲ φοροῦνται/κωφοὶ ὁμῶς τυφλοί τε, τεθηπότες, ἄκριτα φῦλα,/οἷς τὸ πέλειν τε καὶ οὐκ εἶναι ταὐτὸν νενόμισται/κοὐ ταὐτόν, πάντων δὲ παλίντροπός ἐστι κέλευθος.« 144 Gr.: »οὐ γὰρ μήποτε τοῦτο δαμῇ εἶναι μὴ ἐόντα·/ἀλλὰ σὺ τῆσδ' ἀφ' ὁδοῦ διζήσιος εἶργε νόημα·/μηδέ σ' ἔθος πολύπειρον ὁδὸν κατὰ τήνδε βιάσθω,/νωμᾶν ἄσκοπον ὄμμα καὶ ἠχήεσσαν ἀκουήν/καὶ γλῶσσαν, κρῖναι δὲ λόγῳ πολύδηριν ἔλεγχον/ἐξ ἐμέθεν ῥηθέντα.«

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Letztgenannte Übertragung ist aus folgenden Gründen vorzuziehen: κρῖναι meint im Griechischen vor allem das (Unter-)Scheiden zwischen mehreren vorliegenden Sachverhalten, bis letztendlich eine Ent-Scheidung getroffen werden kann. Diese Entscheidung soll nach Parmenides im Einklang mit dem λόγος geschehen. Dass λόγος an dieser Stelle mehr als nur ›Wort‹ besagen kann, ist kaum von der Hand zu weisen, da vom ›Auflesen‹ bis zu ›Sinn‹ oder ›Denken‹ vielfältige Varianten einzutragen wären. Mit Blick auf Heideggers Übersetzung des letzten Satzes eröffnet sich ein divergentes Feld: »[…] sondern scheide, indem du sie vor dich hinstellst die Aufweisung des vielfachen Widerstreits, […] die von mir ausgegebene.« (GA II, 35, S. 131) Heidegger fokussiert sich ebenfalls auf die Scheidung. Die Frage, was geschieden werden soll, beantwortet er mit einer beinahe formelhaften Wendung, die λόγῳ und πολύδηριν ἔλεγχον zusammenzieht. Dieses Verfahren mutet seltsam an; nicht nur wird der Dativ von λόγῳ mit einer Kombination des Verbs »hinstellen« und dem Akkusativ des Substantivs »Aufweisung« wiedergegeben, sondern auch wird der eigentliche Akkusativ von πολύδηριν ἔλεγχον mit dem Genitiv »des vielfachen Widerstreits« übersetzt. Diese Mühen sind wohl im Grunde nur vonnöten, da Heidegger um jeden Preis λόγῳ aus dem Feld von ›Sinn‹, ›Denken‹ und ›Wort‹ in die Bedeutungsebene von ›stellen‹ transferieren will. Im Falle von Fragment 7 ist dies allerdings eher irreführend. Denn sieht man auf den Kontext des gesamten Textstücks, so wird deutlich, dass es sich um eine klare Differenzierung zwischen den seinstäuschenden Sinnesorganen Auge, Ohr, Zunge/Sprache (νωμᾶν ἄσκοπον ὄμμα καὶ ἠχήεσσαν ἀκουήν καὶ γλῶσσαν) und demjenigen handelt, was einzig den Weg des wahren Seins nachvollziehen kann: dem verständigen λόγος, der die Ent-Scheidung herbeiführen kann, den streitbar‐widerlegenden ἔλεγχος der Göttin von der Scheinwelt der Menschen zu unter‐scheiden. »Das menschliche Hören, Sehen und Sprechen soll völlig übergangen werden zu Gunsten des Scheidens mit dem Logos der von der Göttin gesagten streitreichen Prüfung (ἔλεγχος)«145 , wie es Mansfeld trotz seiner sehr ›neuzeitlichen‹ Übersetzung in Die Offenbarung des Parmenides und die menschliche Welt erkennt. Im Rahmen dieser »Prüfung«, welche bei Platon variabel ausgearbeitet und bei Aristoteles zur Methode des Widerlegens systematisiert wird146 , fährt die Göttin fort, die Merkmale des Seins zu deduzieren. »Auf diesem Weg gibt es sehr viele Zeichen: daß Seiendes nicht hervorgebracht und unzerstörbar ist, einzig, aus einem Glied, unerschütterlich, und nicht zu vollenden; weder war noch wird es 145 Mansfeld, Jaap: Die Offenbarung des Parmenides und die menschliche Welt. S. 43. 146 Vgl. zum platonischen ἔλεγχος v.a. Platon: Theaitetos. In: Ders.: Werke in acht Bänden, Band 6; S. 1-217; 142 a – 210 d. Zum aristotelischen ἔλεγχος: Met., 1005 a – 1006 b.

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einmal sein, da es jetzt zugleich ganz ist, eins zusammengeschlossen.«147 (DK 28 B 8) Das Seiende ist nicht Nichts; wenn Nichts nicht ist, kann das Sein nicht aus diesem kommen oder in dieses gehen. Das Sein muss eins sein, denn zwischen dem Seienden gibt es kein Nichtseiendes. Das Seiende muss unvollendbar finit sein; wäre es dies nicht, grenzte es an Nichts. Das Seiende hat kein ›War‹ und kein ›Wird‹, seine Zeit muss immer das Jetzt sein, da innerhalb des Seienden Konklusion herrscht. Es scheint, dass diese Informationsdichte für den Leser/Hörer einen Moment der Verarbeitung bedarf. Diesen Moment gibt die Göttin nicht, sie unterbricht den Rezeptionsprozess harsch, um mahnend die Grundbedingung ihrer Ausführungen aus dem Fragment B 7 zu wiederholen: »Denn welche Herkunft für es wirst du untersuchen wollen? Wie, woher wäre es gewachsen? Ich werde nicht gutheißen, daß du sagst oder gar verstehst: ›aus Nichtseiendem‹. Denn es ist nicht sagbar noch denkbar, daß [etwas] nicht ist.«148 (DK 28 B 8) Die Göttin schneidet den Weg des Nichtseienden für das Denken ab. Der Leser/Hörer mag sich nun fragen, ob das Seiende, wenn es nicht aus dem Nichtseienden kommt beziehungsweise in dasselbe geht, aus dem Seienden den Ursprung findet. Wieder verhindert die Göttin diese (Un-)Möglichkeit des Nachvollzugs abrupt: »Aber auch nicht ›aus Seiendem‹: denn die Kraft der Überzeugung wird es nie zulassen, daß etwas darüber hinaus entsteht. Ebendeswegen hat Dike es nicht, die Fesseln lockernd, freigegeben, daß es werde oder untergehe, sondern sie hält es fest.«149 (DK 28 B 8) Die Vermutung, Seiendes entstünde aus Seiendem, liegt der menschlichen Erfahrungswelt ebenso nah wie das Gegenteil. Wenn das Seiende aber eine untrennbare Einheit bildet, was aus der Prämisse, Nichtseiendes sei nicht, hervorgeht, so darf auch Seiendes nicht in dem Sinne ›kreativ‹ sein, als es Seiendes aus sich selbst produziere. Möglicherweise bringt sich die Göttin daher namentlich in dieser Passage selbst ins Spiel, um den einzigen Weg nochmals autoritär zu stützen, ja um die Ent-Scheidung zwischen den Wegen klarzustellen: Die Entscheidung darüber liegt doch hierin: Entweder ist es, oder es ist nicht; und entschieden worden ist ja, den einen Weg als unerkennbar und unbenennbar aufzugeben, da er kein wahrer Weg ist, während es den anderen Weg gibt und dieser 147 Gr.: »[…] ταύτῃ δ' ἐπὶ σήματ' ἔασι/πολλὰ μάλ', ὡς ἀγένητον ἐὸν καὶ ἀνώλεθρόν ἐστιν,/ἐστι γὰρ οὐλομελές τε καὶ ἀτρεμὲς ἠδ' ἀτέλεστον·/οὐδέ ποτ' ἦν οὐδ' ἔσται, ἐπεὶ νῦν ἔστιν ὁμοῦ πᾶν,/ἕν, συνεχές« 148 Gr.: »τίνα γὰρ γένναν διζήσεαι αὐτοῦ;/πῇ πόθεν αὐξηθέν; οὔτ΄ ἐκ μὴ ἐόντος ἐάσσω/φάσθαι σ' οὐδὲ νοεῖν· οὐ γὰρ φατὸν οὐδὲ νοητόν/ἔστιν ὅπως οὐκ ἔστι.« 149 Gr.: »οὐδὲ ποτ' ἐκ μὴ ἐόντος ἐφήσει πίστιος ἰσχύς/γίγνεσθαί τι παρ' αὐτό· τοῦ εἵνεκεν οὔτε γενέσθαι/οὔτ' ὄλλυσθαι ἀνῆκε Δίκη χαλάσασα πέδῃσιν,/ἀλλ' ἔχει· «

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auch wirklich stimmt. Wie könnte deshalb Seiendes erst nachher sein, wie könnte es entstehen?150 (DK 28 B 8) Die Aufweisung der »Entscheidung« (κρίσις) ist in direkte Nähe zur UnterScheidung in B 7 zu setzen. Es geht um die wesentliche Entscheidung, dass Seiendes ist und Nichtseiendes nicht. An dieser ist festzuhalten – auch, oder gerade wegen der Tatsache, dass Seiendes nicht nur nicht aus Nichtseiendem entspringt, sondern dass Seiendes ebenso nicht Seiendes kreiert. Karl Reinhardt geht in seiner maßgebenden Analyse Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie darauf ein: Denn wie wir bereits sahen, handelt es sich hier um die besondere Frage, ob ein Seiendes aus einem Seienden entstehen könne. Um das zu bestreiten greift die Göttin auf ihren ersten Beweis zurück, sie mahnt den Jünger an den Scheideweg, wo sich das Sein vom Nichtsein trennte[.]151 »Scheideweg« ist eine äußerst treffende Bezugnahme auf κρίσις; indem sich die Wege scheiden, offenbart sich die Unwerdbarkeit und Unvergänglichkeit des einen Seins. »Also ist Entstehung ausgelöscht und unerfahrbar Zerstörung.«152 (DK 28 B 8) Diese Bestimmung ist auf das ganze Sein anzuwenden, weshalb wieder deutlich wird, dass von einer ontisch‐ontologischen Differenz für den ersten Teil des Lehrgedichts nicht die Rede sein kann. Es darf im wahren Sein keinen Unterschied zwischen Seiendem und Sein geben, da Seiendes als Einheit ohne Nichts ist. Ist das Sein ohne Nichts, kann kein Klein oder Groß, kein Zunehmen oder Abnehmen sein. Auch teilbar ist es nicht, da es als Ganzheit ein Gleiches ist. Es ist ja nicht irgendwie an dieser Stelle ein Mehr oder jener ein Weniger, das es daran hindern könnte, ein Geschlossen-Zusammenhängendes zu sein, sondern es ist als Ganzheit von Seiendem innen erfüllt.153 (DK 28 B 8) Die Methode der Dihairese, also Seinszusammenhänge solange begrifflich zu zergliedern, bis schließlich eine gültige Definition gefunden wird, kann für Parmenides keine Anwendbarkeit finden. Das Sein ist ein Unteilbar-Gleiches ohne Mangel. Dessen Zusammenhang erschließt sich aus der innerlichen Fülle seines Seins. 150 Gr.: »ἡ δὲ κρίσις περὶ τούτων ἐν τῷδ΄ ἔστιν·/ἔστιν ἢ οὐκ ἔστιν· κέκριται δ' οὖν, ὥσπερ ἀνάγκη,/τὴν μὲν ἐᾶν ἀνόητον ἀνώνυμον (οὐ γὰρ ἀληθής/ἔστιν ὁδός), τὴν δ' ὥστε πέλειν καὶ ἐτήτυμον εἶναι./πῶς δ' ἂν ἔπειτα πέλοιτὸ ἐόν; πῶς δ' ἄν κε γένοιτο;« 151 Reinhardt, Karl: Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie. S. 46. 152 Gr.: »τὼς γένεσις μὲν ἀπέσβεσται καὶ ἄπυστος ὄλεθρος.« 153 Gr.: »οὐδὲ διαιρετόν ἐστιν, ἐπεὶ πᾶν ἐστιν ὁμοῖον·/οὐδέ τι τῇ μᾶλλον, τό κεν εἴργοι μιν συνέχεσθαι,/οὐδέ τι χειρότερον, πᾶν δ' ἔμπλεόν ἐστιν ἐόντος.«

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Wenn das Sein/Seiende ein Gefülltes ist, was es als nichtsloses Sein sein muss, darf es innerhalb seines Seins keinen Wandel, keine Bewegung geben. »Andererseits ist es unbeweglich/unveränderlich in den Grenzen gewaltiger Fesseln, ohne Anfang, ohne Aufhören […]. Als ein selbes und im selben verharrend […] befindet es sich und verbleibt in dieser Weise am selben Ort.«154 (DK 28 B 8) Die Metapher der »Fessel« korreliert mit der temporalen Verfasstheit des Seins. Sie kann als Darstellungsform der ontologischen Grundthematik des Unwerdenden gesehen werden. Hinsichtlich dessen beraubt Parmenides freilich dem Seienden jede Form von Kontingenz – was durch den Wechsel der figural‐göttlichen Fessel-Halterin zum Ausdruck kommt: »Denn die mächtige Unentrinnbarkeit hält es in den Fesseln der Grenze, die es ringsum einschließt; weshalb es nicht erlaubt ist, daß das Seiende unvollendet wäre. Denn es ist nicht in irgendeiner Sicht mangelhaft – wäre es dies, würde es ihm an allem mangeln.«155 (DK 28 B 8) Durch den Rekurs auf die durch Ἀνάγκη figuralisierte »Unentrinnbarkeit« vereinigt Parmenides die Göttinnen des Rechts und des Schicksals/der Notwendigkeit. Er gewährleistet somit eine Dopplung der Autorität, welche Zufall und Bewegung gänzlich aus der Sphäre des Seienden exkludiert. Das durch Ἀνάγκη gefesselte Sein repräsentiert in gewissem Sinne die dem Text inhärente ›Logik‹, welche das Nichts nicht zulässt. »Parmenidesʼ being is bound by his logic, but his logic issues from his ontology.«156 Natürlich kommt das Denken des Parmenides nicht einer Logik nach heutigem Verständnis gleich. Vielmehr herrscht in der Argumentation des Eleaten der ›Zwang‹, das Seiende Schritt für Schritt in allen Facetten dem Leser/Hörer auszubreiten. Das Schicksal/die Notwendigkeit ist aus dieser Perspektive eine zusätzliche Instanz, dem unbewegten Ist des Seienden Geltung zu verschaffen. »Denn es gibt sonst nichts und wird auch nichts geben außer dem Seienden, weil das Geschick verfügt hat, daß es ganz und unbeweglich/unveränderlich ist.«157 (DK 28 B 8) Das »Geschick« (Μοῖρ’) fügt sich nahtlos an die Seite der Göttinnen des Rechts und der Unentrinnbarkeit. Es handelt sich daher um eine zur Einheit – man denke an Heraklits Unifizierung des Vaters und Kriegs – allegorisierte Dreiheit, die einem doppelten Zweck dient: der figurativen Verdeutlichung des Gehalts für den Rezipienten und einer ›beweisenden‹ Meta-Allegorisierung des Sachverhalts der verfügten Unbewegtheit. Analog dazu steht die von den Göttinnen verkörperte ontologische Macht im diametralen Gegensatz zur kontingenten Welt des Menschen, der das Seiende 154 Gr.: »αὐτὰρ ἀκίνητον μεγάλων ἐν πείρασι δεσμῶν/ἔστιν ἄναρχον ἄπαυστον […]. ταὐτόν τ' ἐν ταὐτῷ τε μένον καθ' ἑαυτό τε κεῖται/χοὔτως ἔμπεδον αὖθι μένει« 155 Gr.: »κρατερὴ γὰρ Ἀνάγκη/πείρατος ἐν δεσμοῖσιν ἔχει, τό μιν ἀμφὶς ἐέργει,/οὕνεκεν οὐκ ἀτελεύτητον τὸ ἐὸν θέμις εἶναι·/ἔστι γὰρ οὐκ ἐπιδεές· μὴ ἐὸν δ' ἂν παντὸς ἐδεῖτο.« 156 Austin, Scott: Parmenides. Being, Bounds and Logic. S. 154. 157 Gr.: »οὐδὲν γὰρ ἔστιν ἢ ἔσται/ἄλλο πάρεξ τοῦ ἐόντος, ἐπεὶ τό γε Μοῖρ' ἐπέδησεν/οὖλον ἀκίνητόν τ' ἔμεναι · «

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scheinbar willkürlich vernimmt und seinem Belieben nach ins Wort bringt: »Darum ist alles Name, was die Sterblichen angesetzt haben, im Vertrauen darauf, es sei wahr: Entstehen und Vergehen, Sein und Nichtsein, den Ort wechseln und die leuchtende Farbe ändern.«158 (DK 28 B 8) Der »Name« kann hier als das negative Gegenstück zur Notwendigkeit der wahren Aussage über das Sein gewichtet werden. Dabei kommt eine ontologische Inversion ins Spiel: Das Sagen des Ist, wie es in B 6 vorgegeben wird, entspricht der ontologischen Prämisse des wahren Seins samt seiner Vorgaben (Ist = Unbewegtheit, Begrenztheit, Kontinuität, Gefülltheit, Mangellosigkeit, Vernehmbarkeit, Anfangslosigkeit, Endlosigkeit); den Menschen nun treten vermeintlich Phänomene entgegen, die gegen die Bestimmungen des Ist verstoßen. Diese Missachtungen spiegeln sich letztlich insofern im Dasein des Menschen, als er es nicht nur darauf belässt, die Phänomene an‐zu-erkennen, sondern ihnen zusätzlich durch die Namensgebung ›quasi‐ontologische‹ Rechtfertigung verleiht. Auf dieses Problem verweist auch Jörg Jantzen: Was die Menschen setzen, sprechen sie zugleich als Namen aus, oder umgekehrt, indem sie Namen geben, nehmen sie Setzungen vor. Inwiefern sprechen sie diese Namen dem ἐόν zu, denn dies ist mit τῷ […] gemeint? Sie sagen nicht, daß das ἐόν werde und vergehe, sei und nicht sei usw.; ihnen fehlt ja der Begriff des ἐόν vollständig. Aber ihre Namen benennen, was auch in ἔστιν benannt ist. Freilich falsch; denn indem sie immer schon sagen und sagen müssen, daß dies und jenes so und so ist, verstoßen sie gegen das grundsätzliche Gebot, nur ἔστιν sagen zu dürfen.159 Jantzen evoziert hier eine grundsätzliche Komplikation: Sprache oszilliert bei Parmenides in der polaren Opposition von wahr und falsch. Das Sagen des Falschseins im Benennen der Dinge ist jedoch nicht mit der totalen Fälsche des Nichtseins gleichzusetzen, welche ja nicht sagbar wäre, sondern erfüllt partiell Teilbereiche des Ist. Dies erschwert das Verständnis des parmenideischen Textes exponentiell. Zur Verdeutlichung sei die narrative Struktur erneut vor Augen geführt: Die Göttin spricht zu einem Hörenden. Worüber sie spricht, wird mehrfach wiederholt: über das Seiende und dessen Kontexte, die sich aus dem Vernehmen erschließen. Natürlich benennt sie in diesem Zusammenhang etwas, allerdings nicht irgendetwas, sondern das, was Sein ist und als solches sich selbst zum (wahren) Namen hat. Die Sprache der Wahrheit lässt nur diese Operation zu. Die Sprache der Falschheit hingegen erlaubt es, gegen das Erkennen der Wahrheit 158 Gr.: »τῷ πάντ' ὄνομ' ἔσται,/ὅσσα βροτοὶ κατέθεντο πεποιθότες εἶναι ἀληθῆ,/γίγνεσθαί τε καὶ ὄλλυσθαι, εἶναί τε καὶ οὐχί,/καὶ τόπον ἀλλάσσειν διά τε χρόα φανὸν ἀμείβειν.« 159 Jantzen, Jörg: Parmenides zum Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit. S. 102.

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das Wort zu erheben – was der einheitlichen Struktur der Wahrheit als Sein keinerlei Abbruch tut. Zugespitzt formuliert: Das Sein ist wahr, und weil es wahr ist – wie es die Göttin deduziert hatte –, muss das Falsche ein dem wahren Sein Zu-Gehöriges sein. Der ständige Widerspruch der Menschen, der sich aus dem Glauben an das Nichtsein speist, legitimiert sich ausschließlich auf dem Fundament des Seins. Wenn dem nicht so wäre, müsste die Göttin nach der letzten topo‐logischen Metapher des Seins in B 8, welche die Kugelförmigkeit dessen hervorhebt160 , nicht auch noch den trügerischen Meinungsweg (Doxa) der Menschen beschreiben. Es ist daher durchaus berechtigt, Karl Bormann zuzustimmen, dass der Doxa-Teil zum Weg der Wahrheit [gehört]. Aber er spricht nicht vom Seienden, sondern von der scheinbaren Realität und ihrer Entstehung. Nicht die vom richtigen νοεῖν erfaßte Wirklichkeit, sondern die vom richtigen νοεῖν durchschaute scheinbare Realität ist sein Thema.161 Der in B 6 aufgemachte Zwei(-drei-)weg von Seiendem, Nichtseiendem und Trug erfährt seine ontologische Tiefe aus der ersten Bahn der Wahrheit des Seienden. Nur aus dieser Sicht ergeben die Ausführungen der Göttin ab B 8 Sinn. Parmenides selbst lässt an dieser Struktur der Narration keinen Zweifel, wenn er die Göttin dezidiert in die Erzählung eingreifen lässt: »Damit beende ich dir verläßliche Aussage und Begriff hinsichtlich der Wahrheit. Von hier ab aber lerne die menschlichen Meinungen verstehen, indem du die trügerische Ordnung meiner Verse hörst.«162 (DK 28 B 8) Mansfelds Übersetzung »verläßliche Aussage und Begriff« macht vor allem die sprachliche Ebene des göttlichen Vortrags stark; im Griechischen steht indessen πιστὸν λόγον ἠδὲ νόημα, also »zuverlässiges Wort/Aussage und auch Vernehmen« (Übers. P. K.), was wieder auf die sich ontologisch bedingende Einheit von wahrer Sprache und Vernehmen hindeutet, welche schon B 3 zum Thema hatte. Mit dieser letzten ›Warnung‹ bereitet die Göttin auf das Kommende vor. Die Programmatik dessen formt Parmenides metaphorisch, wobei er die Brücke zum Beginn des Lehrgedichts schlägt, an dem der Hörer vor »das Tor der Bahnen von Nacht und Tag«163 (DK 28 B 1) geführt wurde. Ist für den Erkenntnisweg, den die Göttin von B 1 bis B 8 vorlegt, eine Fokussierung auf das einzig wahre Seiende zu 160 »Da es andererseits eine letzte Grenze gibt, ist es allseits vollendet, gleich der Masse einer wohlgerundeten Kugel, vom Zentrum her in alle Richtungen sich gleichermaßen erstreckend.« (DK 28 B 8) Gr.: »αὐτὰρ ἐπεὶ πεῖρας πύματον, τετελεσμένον ἐστί/πάντοθεν, εὐκύκλου σφαίρης ἐναλίγκιον ὄγκῳ,/μεσσόθεν ἰσοπαλὲς πάντῃ« 161 Bormann, Karl: Parmenides. S. 67. 162 Gr.: »ἐν τῷ σοι παύω πιστὸν λόγον ἠδὲ νόημα/ἀμφὶς ἀληθείης· δόξας δ' ἀπὸ τοῦδε βροτείας/μάνθανε κόσμον ἐμῶν ἐπέων ἀπατηλὸν ἀκούων.« 163 Vgl. S. 54f. der vorliegenden Arbeit.

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konstatieren, findet nunmehr ein Perspektivwandel statt – wobei die Erzählerinstanz kontinuiert. Wurde bis B 8 aus der Sicht der Göttin ihre allgemeingültige Wahrheit beschrieben – man könnte daher mit Heidegger die Hypothese wagen, es handle sich um eine Äquivalenz zwischen der Göttin und dem proklamierten Wahrheitsbegriff164 –, so ›versetzt‹ Parmenides die Erzählerin ab B 8 in eine menschliche Position. Zu beachten ist jedoch, dass das Ende von B 8 noch exakt dieses Changieren wertend thematisiert: »Sie haben sich nämlich entschieden, zwei Formen zu benennen – von denen nur eine zu benennen nicht erlaubt ist: darin liegt ihr Fehler.«165 (DK 28 B 8) Der ›Urfehler‹ des Menschen ist demnach intrinsisch mit dem Moment des Sprachlichen verwoben. Im Benennen des Dualismus von Licht und Dunkelheit oszilliert das menschlich‐trügerische Verhalten zu demjenigen, was sie als Wahrheit meinen: Sie haben sie von der Gestalt nach als Gegensätze geschieden und voneinander getrennte Merkmale festgelegt: für die eine der Flamme himmlisches Feuer, das milde und vernünftig ist, sehr leicht, mit sich selbst in jeder Hinsicht dasselbe, jedoch nicht dasselbe wie die andere [Gestalt] – andererseits haben sie auch diese [bestimmt], für sich, als Gegensatz: unwissende Nacht, eine dichte und schwere Gestalt.166 (DK 28 B 8) Parmenides kontrastiert das wahre Seiende mit dem Trieb zum Gegensatz, dessen Ausdruck in der vermeintlichen Differenz von Tag und Nacht gipfelt. Wichtig erscheint angesichts dieser trügerischen Relation, dass hier das grundsätzliche Problem der Identität tangiert wird. Um dies in eine kurze Formel zu bringen: Die Weisheit des Lichts/der Flamme ist autoidentisch unterschiedlich zur UnWeisheit der Dunkelheit/Nacht. Freilich birgt dieses Gefüge die Kontradiktion; betrachtet man ferner die Zielsetzung der Göttin, kann es nur darum gehen, den Widerspruch vorzustellen – wie der letzte Satz von B 8 beweist: »Die entsprechende Weltanordnung teile ich dir in ihrer Gesamtheit mit, damit nicht irgendwelche menschliche Einsicht dich übertrumpfe.«167 (DK 28 B 8) Ab diesem Punkt weist die parmenideische Göttin nicht mehr das Einzig‐zu-Erkennende aus. Vielmehr nutzt sie ihren Machtstatus, um im selben Gestus die Einstellung der Menschen zu den Erscheinungen zu kennzeichnen. Diese sind bald so und bald so, ändern 164 »Die Göttin ist die Göttin der ›Wahrheit‹. Sie selbst – ›die Wahrheit‹ – ist die Göttin.« (GA II, 54, S. 6-7) 165 Gr.: »μορφὰς γὰρ κατέθεντο δύο γνώμας ὀνομάζειν·/τῶν μίαν οὐ χρεών ἐστιν – ἐν ᾧ πεπλανημένοι εἰσίν[.]« 166 Gr.: »τἀντία δ' ἐκρίναντο δέμας καὶ σήματ' ἔθεντο/χωρὶς ἀπ' ἀλλήλων, τῇ μὲν φλογὸς αἰθέριον πῦρ,/ἤπιον ὄν, μέγ' ἐλαφρόν, ἑωυτῷ πάντοσε τωὐτόν,/τῷ δ' ἑτέρῳ μὴ τωὐτόν· ἀτὰρ κἀκεῖνο κατ' αὐτό/τἀντία νύκτ' ἀδαῆ, πυκινὸν δέμας ἐμβριθές τε.« 167 Gr.: »τόν σοι ἐγὼ διάκοσμον ἐοικότα πάντα φατίζω,/ὡς οὐ μή ποτέ τίς σε βροτῶν γνώμη παρελάσσῃ.«

2 Die vorsokratische Entdeckung der Seinsfrage

sich je nachdem, wie das Licht sie trifft, beziehungsweise die Nacht sie verdunkelt. »Dieses Erscheinende aber gibt sich gerade als das Seiende, der Schein ist das vermeintliche Sein. […] Was aber durchscheint, daß alle Mannigfaltigkeit des Erscheinenden dieses Ursprungs aus Licht und Dunkel ist, das bleibt unüberholbar […].« (GA II, 35, S. 186) Galt es bislang, die Entdeckung des wahren Seienden herauszuarbeiten, muss im Folgenden der Weg der Meinungen anhand dieser Indizien analysiert werden. Es soll dadurch gezeigt werden, dass Parmenides eine zweite Entdeckungsebene einschiebt, die dem didaktischen Anspruch gewidmet ist, das ganze Seiende samt der Falschheit für das Erkennen fruchtbar zu machen.

2.4.3

Die Entdeckung der Scheinwelt Daß die Göttin der Wahrheit, die den Parmenides führt, ihn vor beide Wege stellt, den des Entdeckens und den des Verbergens, bedeutet nichts anderes als: das Dasein ist je schon in der Wahrheit und Unwahrheit. Der Weg des Entdeckens wird nur gewonnen im κρίνειν λόγῳ, im verstehenden Unterscheiden beider und Sichentscheiden für den einen […]. (S.u.Z., S. 222-223)

Auch wenn Heidegger hier nicht dezidiert den ganglosen Weg des Nichtseienden ausschließt, fasst er prägnant die von Parmenides aufgebrachte Ontologie zusammen – natürlich mit einem Verve, der seine in Sein und Zeit proklamierte Daseins-Philosophie ins Zentrum rückt: Das Lehrgedicht stellt das Dasein des Rezipienten vor die Ent-Scheidung (vgl. DK 28 B 7), welche zugleich als κρίσις die größte Herausforderung für das Denken selbst ist, zwischen Wahrheit und Erfahrung wählen zu können. Diese Wahl kann als nachträgliche Rückbesinnung gehandelt werden, da nur der erste Weg des Ist sein Seinsversprechen einhält. Der Weg des Ist muss dementsprechend vernommen worden sein, um die Bahn der Meinung zu durchschauen. Durch diese narrative Gestaltung wird die κρίσις zur kritischen Entlarvung des zweiten Weges durch den Verstand. Da dem Verstand aus der Sicht des Seienden hingegen nicht zu trauen ist, muss die Göttin ihre Autorität als Wahrheit ins Spiel bringen und dem Leser/Hörer ausbreiten, was die Gesamtheit der Falschheit innerhalb ihrer Wahrheit ausmacht. Die implizite Frage, die sich der Leser von nun an vorhalten muss, ist die nach der menschlich‐scheinbaren Bezugnahme auf das Seiende, welche zwar von der Göttin ausgesprochen wird, allerdings der eigenen Erfahrungswelt entspricht.

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Nachdem alles als Licht und Tag benannt und das ihrem jeweiligen Vermögen Entsprechende diesem und jenem Einzelnen beigelegt wurde, ist alles voll von Licht und unsichtbarer Nacht zusammen – die beide zugleich sind –, da es nichts gibt, das nicht einem der beiden zugehört.168 (DK 28 B 9) Wie am Ende von B 8 tritt die Namensgebung als Pfeiler des Scheins ins Blickfeld. In B 9 aber ist von einer Prozessualität des Nennens die Rede, welche von einem Anfang ausgehend alles (πάντα) dem Nächtlichen/Täglichen zuschreibt. Dieser Beginn – man bedenke, dass es für das Seiende keinen solchen geben kann – wird in B 9 nicht genauer ausformuliert. Wichtiger erscheint die Parallele zum Seienden: Auch das Scheinsein ist voll. Ausgefüllt von Namen, die Einzelheiten bezeichnen, ist der Ausgang des Trugs Nacht und Tag zu gleichen Teilen. »Die Zwei-Einheit der Elemente, d.h., die Welt, weist also eine bestimmte Übereinkunft mit dem Seienden, als Ganzheit und Vollheit auf.«169 Der im Dasein stehende Mensch denkt somit nach Parmenides die Einheit als Dualität der Gleichzeitigkeit. Vor dieser ›Ursprungsszene‹ entwickelt sich die parmenideische ›Pseudo-Kosmogonie‹. »Kennenlernen wirst du den Ursprung des Äthers und alle Zeichen im Äther und der reinen Fackel der klaren Sonne blendende Taten, und woher sie entstanden sind[.]«170 (DK 28 B 10) Analog zu den »viele[n] Zeichen [σήματ’ (…) πολλὰ μάλ’]« (DK 28 B 8) des Seienden in B 8 ist auch der Äther reich an Attributiven. Leider ist das exakte Herkommen des ätherischen Ortes nicht zu rekonstruieren. Es könnte sich wieder um eine Anspielung auf Hesiods Theogonie handeln: »Aus dem Chaos gingen Erebos (finsterer Grund) und die dunkle Nacht hervor, und der Nacht wieder entstammten Aither (Himmelshelle) und Hemere (Tag), die sie gebar, befruchtet von Erebosʼ Liebe.«171 Dass Parmenides ebenfalls eine kosmogonische Dreiheit an das Entstehen des geglaubten Seienden koppelt, ist inhärent nachzuvollziehen, da neben Äther und Sonne »das herumwandelnde Wirken des Rundäugigen, des Mondes,«172 (DK 28 B 10) zum Ausdruck gebracht wird. Dabei scheint das Anliegen der Göttin vor allem darauf gerichtet zu sein, dass der hörende/lesende Schüler kosmische Genealogien zu verstehen lernt: »[K]ennenlernen wirst du aber auch den rings umfassenden Himmel, woher er entstand und daß die Unentrinnbarkeit ihn überwand und fesselte, die Bande der Gestirne 168 Gr.: »αὐτὰρ ἐπειδὴ πάντα φάος καὶ νὺξ ὀνόμασται/καὶ τὰ κατὰ σφετέρας δυνάμεις ἐπὶ τοῖσί τε καὶ τοῖς,/πᾶν πλέον ἐστὶν ὁμοῦ φάεος καὶ νυκτὸς ἀφάντου/ἴσων ἀμφοτέρων, ἐπεὶ οὐδετέρῳ μέτα μηδέν.« 169 Mansfeld, Jaap: Die Offenbarung des Parmenides und die menschliche Welt. S. 150. 170 Gr.: »εἴσῃ δ' αἰθερίαν τε φύσιν τά τ' ἐν αἰθέρι πάντα/σήματα καὶ καθαρᾶς εὐαγέος ἠελίοιο/λαμπάδος ἔργ' ἀίδηλα καὶ ὁππόθεν ἐξεγένοντο[.]« 171 Hesiod: Theogonie. S. 12-13; V. 123-125. Gr.: »ἐκ Χάεος δ' Ἔρεβός τε μέλαινά τε Νὺξ ἐγένοντο·/Νυκτὸς δ' αὖτ' Αἰθήρ τε καὶ Ἡμέρη ἐξεγένοντο,/οὓς τέκε κυσαμένη Ἐρέβει φιλότητι μιγεῖσα.« 172 Gr.: »ἔργα τε κύκλωπος πεύσῃ περίφοιτα σελήνης […].«

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zu tragen[.]«173 (DK 28 B 10) Die Einführung der allegorisierten »Unentrinnbarkeit«/Notwendigkeit für das Seiende in B 8 findet ihre Analogie in der Wiederaufnahme der Ἀνάγκη in B 10. Was in diesem Kontext erstaunlich wirkt, ist die Rhetorik einer göttlichen ›Institutionalisierung‹ der Gestirne. Zwar spricht Parmenides nicht von einem anfänglich chaotischen Kosmos, offensichtlich bedürfen die Planeten aber der göttlichen Fesselung, um ihren festen Platz einzunehmen. Die Wirkmächtigkeit des Theistischen wird hinsichtlich des kryptisch anmutenden Fragments B 12 deutlicher: Denn die engeren [Ringe] füllen sich mit ungemischtem Feuer, die auf sie folgenden mit Nacht, hinein aber schießt auch ein Teil Feuer. Inmitten von diesen aber die Göttin, die alles lenkt: überallhin gebietet sie über schauderhafte Geburt und Mischung, indem sie zum Männlichen das Weibliche führt, daß Mischung stattfinde, und andererseits wiederum das Männliche zum Weiblichen.174 (DK 28 B 12) Im griechischen Originaltext steht das von Mansfeld als »Göttin« wiedergegebene δαίμων, welches, im Gegensatz zu Ἀνάγκη in B 10, eine eher allgemeine theistische Formulierung ist. Diels übersetzt daher vorsichtiger, indem er »Göttin« in Klammern setzt: »Und inmitten von diesen ist die Daimon (Göttin) […].« (Übers. D.) Mit welchen Implikationen diese »Daimon« einhergeht, ist immanent klar: Sie – es muss eine weibliche Göttin sein, da der folgende Relativsatz mit ἣ, »die«, eingeleitet wird – befindet sich im Zentrum des Mischgeschehens von Feuer und Nacht. Diese Mischungen erstrecken sich allerdings nicht nur auf die Ebenen des Elementaren, sondern treten ebenso im zum Männlichen/Weiblichen allegorisierten Bereich auf. Dabei zeigt sich eine negative Konnotation dieses Vorgangs, welche ihre Berechtigung aus der im Wahrheitsteil gegebenen Deduktion des Seienden erfährt: Die Unmischbarkeit des einen Seins spiegelt sich in der ästhetisierten Form der »wohlgerundeten Kugel« (DK 28 B 8); der der Meinung nach von der Göttin provozierte ›dämonische‹ Verbindungs- und Geburtsprozess von Mann und Frau wird hingegen mit dem poetischen Adjektiv στυγερός, welches so viel wie »verhaßt, abscheulich, unselig, furchtbar«175 bedeutet, belegt. Parmenides scheint damit einen gewissen ›Ekel‹ vor dem Geschlechtlichen zum Ausdruck zu bringen, welcher sich aus dem Kontrast zur ›Schönheit‹ des einheitlichen Seienden speist. Auch wird erst in B 16 ein Kontext von Erkenntnis und Mischung erwähnt. Vielmehr ist die Beschreibung des Zusammenhangs von 173 Gr.: »εἰδήσεις δὲ καὶ οὐρανὸν ἀμφὶς ἔχοντα/ἔνθεν ἔφυ τε καὶ ὥς μιν ἄγους΄ ἐπέδησεν Ἀνάγκη/πείρατ' ἔχειν ἄστρων.« 174 Gr.: »αἱ γὰρ στεινότεραι πλῆντο πυρὸς ἀκρήτοιο,/αἱ δ' ἐπὶ ταῖς νυκτός, μετὰ δὲ φλογὸς ἵεται αἶσα·/ἐν δὲ μέσῳ τούτων δαίμων ἣ πάντα κυβερνᾷ·/πάντα γὰρ στυγεροῖο τόκου καὶ μίξιος ἄρχει/πέμπουσ' ἄρσενι θῆλυ μιγῆν τό τ' ἐναντίον αὖτις/ἄρσεν θηλυτέρῳ.« 175 Gemoll, Wilhelm: Griechisch‐deutsches Schul- und Handwörterbuch. S. 693.

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Mann und Frau auf eine rein operationale Darstellung reduziert, was die Allegorien des Männlichen/Weiblichen – nach Jaap Mansfeld – zu Elementen werden lässt. Die Geburt ist ein schmerzhafter und mühevoller Prozess. Geburt und Mischung heißen vielleicht deshalb ›schaudererregend‹, weil die Elemente von sich her keinen Trieb haben, sich zu verbinden, und sie von einer Göttin gezwungen werden müssen, Bewegung zu machen, die nicht unmittelbar mit ihrer elementaren Natur gegeben sind.176 Mansfelds Rekurs auf die Elementarisierung der Geschlechter leuchtet vor dem Hintergrund ihrer dualen Funktionalität ein. Dies erklärt jedoch nicht befriedigend die Verwendung des wertenden στυγερός. Auch fährt Mansfeld fort, indem er die Elemente in Richtung des Vernehmens rückt: »Es ist nämlich sonderbar, daß hier von den Elementen ausgesagt wird, daß sie Schmerz empfinden können. Diese Anthropomorphisierung kann man vielleicht auch damit erklären, daß für Parmenides die Elemente auch ›denken‹, mithin empfinden können.«177 Bleibt man nahe am Gesamtbild des Texts, so ist es wahrscheinlich, dass B 12 und folgend B 13 als Kontrast zum ›geschlechtslosen‹ Neutrum des Seienden gelesen werden können. Der Mensch und seine scheinbare Geburt aus dem Nichts sind ja gerade Exempel des Nihilismus par excellence. Daher wird in B 13 die vergöttlichte Liebe als erste unter den benannten Gottheiten von der Daimon ins Entstehen gerufen: »Als ersten von allen Göttern schuf sie [: die gebietende Göttin] den Eros.«178 (DK 28 B 13) Die Daimon wacht also einerseits über die verhasste Mischung der Geschlechter, andererseits erschafft sie den Eros, welcher von einer distanzierten Warte aus als Allegorie dieser Mischung gesehen werden kann. Dass der Eros die Primärposition innerhalb der Götter einnimmt, ist insofern nicht verwunderlich, als es Parmenides in B 18 darauf ankommt, das elementar‐kosmogonische Mischverhältnis auf die Welt des Menschen zu transferieren: »Wenn Frau und Mann zusammen die Keime der Liebe mischen, formt die Kraft, die diese in den Adern aus verschiedenem Blute bildet, wohlgebaute Körper, wenn sie nur die Mischung bewahrt.«179 (DK 28 B 18) Fragment 18 ›verweltlicht‹ dementsprechend den vorher vergöttlichten Mischungsprozess. Interessant ist, dass die Negativität der Vermengung und Entstehung in B 12 einer phänomenalen Ästhetik der Liebe weicht. Diese Liebe hat den Gesetzen der Balance zu gehorchen – anderenfalls drohte eine Schändung der Wohlgeborenheit: »Denn wenn die Kräfte, nachdem der Samen vermischt worden ist, einander bekämpfen und keine Einheit bilden, 176 177 178 179

Mansfeld, Jaap: Die Offenbarung des Parmenides und die menschliche Welt. S. 165. Mansfeld, Jaap: Die Offenbarung des Parmenides und die menschliche Welt. S. 165. Gr.: »πρώτιστον μὲν Ἔρωτα θεῶν μητίσατο πάντων[.]« Lat.: »femina virque simul Veneris cum germina miscent,/venis informans diverso ex sanguine virtus/temperiem severans bene condita corpora fingit.«

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werden sie, indem der Samen zweifach bleibt, schrecklich das entstehende Geschlecht schädigen.«180 (DK 28 B 18) Angesichts der Stringenz der bisherigen Argumentation des Lehrgedichts fällt eine Interpretation von B 18 ungleich schwerer. Zwar geht es auch hier um die Aufweisung einer polaren Struktur – Mann und Frau/lieben und kämpfen – und um die möglichen, daraus entstehenden Szenarien – ›gut‐schöne‹ Einheit/›schlecht‐hässliche‹ Zweiheit –, doch wirkt das Fragment gleichsam kontextfern. Sicher ist jedenfalls, dass sich schon bei den älteren Pythagoreern ähnliche Beschreibungen, jedoch auf die Zahl(-en) bezogene, finden lassen: »Die Zahl hat zwei Gestalten eigener Art, Ungerades und Gerades; ein drittes, das GeradeUngerade, ist Ergebnis der Mischung dieser beiden.«181 (DK 44 B 5) Auch bei Heraklit konnte in der vorliegenden Arbeit eine Beschäftigung mit Verbindungsverhältnissen nachgewiesen werden182 , die letztendlich in einer metaphorischen Unifizierung zusammenfielen. Diese Parallelstellen müssen indessen nicht heißen, dass Parmenides eine bestimmte Tradition weiterentwickelt. Im Grunde ist dies – trotz einer als sicher geltenden Beeinflussung durch die Pythagoreer – sogar ausgeschlossen, da es sich im Meinungen-Teil nicht um eine eigentliche Seinsphilosophie handelt, sondern um dasjenige, was die Menschen als ›Realität‹ ansehen. Mit Blick auf B 16 sticht dies signifikant heraus: Denn so wie zu jeder Zeit [einer] hat die Mischung der vielirrenden Körperglieder, so auch wird das Erkennen den Menschen zuteil. Denn dasselbe, was sie denkt, ist sie für die Menschen: die ursprüngliche Beschaffenheit der Glieder, für alle und jeden. Deren Fülle nämlich ist Erkenntnis.183 (DK 28 B 16) Immanent ergibt sich nachstehende Gliederung für das Textstück: a) allem liegt die Vermengung der Glieder zugrunde; b) das Erkennen funktioniert in Analogie zu dieser ›Gabe‹; c) veränderte Wiederaufnahme von B 3: Äquivalenz zwischen Erkennen und der Konstruktion der Glieder; d) die Glieder sind abhängig von ihrem eigenen »Mehr« (Übers. D.) des Erkennens. Es zeigt sich, dass der den Wahrheitsteil durchziehende Erkenntnisdiskurs erneut aufgenommen wird. Allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Ist in B 3 von einem direkten Zusammenhang von Vernehmen/Denken und Seiendem die Rede, wird das Seiende in B 16 wie im ganzen Meinungs-Part nicht direkt 180 Lat.: »nam si virtutes permixto semine pugnent/nec faciant unam permixto in corpore, dirae/nascentem gemino vexabunt semine sexum.« 181 Gr.: »ὅ γα ἀριθμὸς ἔχει δύο μὲν ἴδια εἴδη, περισσὸν καὶ ἄρτιον, τρίτον δὲ ἀπ' ἀμφοτέρον μειχθέντων ἀρτιοπέριττον« 182 Vgl. DK 22 B 10. 183 Gr.: »ὡς γὰρ ἕκαστˈ ἔχει κρᾶσιν μελέων πολυπλάγκτων,/τὼς νόος ἀνθρώποισι παρίσταται· τὸ γὰρ αὐτό/ἔστιν ὅπερ φρονέει μελέων φύσις ἀνθρώποισιν/καὶ πᾶσιν καὶ παντί· τὸ γὰρ πλέον ἐστὶ νόημα.«

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angesprochen – vielleicht ist dies eine Ursache, warum das hier verwandte Verb zuerst nicht νοεῖν ist, sondern φρονεῖν184 . Zudem scheint sich das zergliedert»vielirrende« Denken des Menschen in einer Art ›passivischer‹ Interaktion zum Vernehmen/Denken zu befinden. »Das menschliche Denken ist deshalb so variabel und von der Mischung der Formen abhängig und tritt deshalb ohne eigenes Zutun der Menschen an diese heran, weil es eben das Denken der φύσις der Glieder ist […].«185 Die naturhaft‐auftauchende φύσις der sich mischenden Glieder diktiert das Denken der Menschen; die metaphorische Relation zwischen dem Menschen und dem Denken der Glieder ist so nur eine scheinbare, da die Angefülltheit der φύσις konkret auf die wandelnde Erkenntnis des Menschen bezogen ist.186 Diese dynamische Erkenntnis hat freilich mit der wahren Seinserkenntnis nur insofern etwas zu tun, als sie innerhalb des Seienden als Kontradiktion anerkannt werden muss. Auch im Falle von B 16 und B 18 muss deshalb stets der Wahrheitsteil mitreflektiert werden, da die trügerische Sinnhaftigkeit als Widerspruch erst aus der Wahrheit des Seins erfahren wird. Mit diesem Fragment schließt der sogenannte Doxa-Teil des Gedichts. Rückblickend lassen sich folgende Kernaussagen zusammenfassen: Als erstes Ziel der Argumentation wird die Beschreibung einer vollständigen Kosmogonie ausgegeben. Das wesentliche Merkmal ist hinsichtlich dessen die scheidende Benennung der Oppositionen Nacht/Tag, Licht/Dunkel. Diese duale Polarität zieht sich durch den gesamten Weg der Meinungen – denn im Grunde »spricht Parmenides […] gar nicht von der Doxa, sondern von den Doxai. Die Wahrheit ist nur eine einzige, während die Meinungen der Menschen mannigfaltig sind«187 , wie Gadamer, ohne das Fragment 19 zu berücksichtigen, bemerkt. Im zweiten Schritt weitet sich der Lernprozess der Entstehung aus, wenn die Daimon als inmittige Fesslerin der Gestirne auftritt, um die Mischverhältnisse der Glieder zu exponieren. Diese entsprechen sowohl der kosmischen als auch der ›weltlichen‹ Erfahrung, enthebeln jedoch durch ihre einseitig zugeschriebene Macht im selben Moment jegliche willentliche Beteiligung des Menschen. 184 φρονεῖν als »bei Sinnen sein, denken, Einsicht haben, vernünftig sein« (Gemoll, Wilhelm: Griechisch‐deutsches Schul- und Handwörterbuch. S. 792). 185 Marcinkowska-Rosół, Maria: Die Konzeption des ›noein‹ bei Parmenides von Elea. S. 170. 186 Dass diese Korrelation von elementar‐gliedhaftem Wandel in der Nachfolge des Parmenides durchaus ernst genommen wurde, ja an das Seiende gebunden wurde, davon zeugt die rhizomatische Ontologie des Empedokles. Dies führt dazu, dass bei letztgenanntem die φύσις – verstanden als Kommen aus dem und Gehen ins Nichts – keinen Wahrheitsanspruch mehr besitzt: »Natürliche Entstehung gibt es bei keinem von allen Sterblichen und auch kein Ende im jämmerlichen Tod; es gibt nur Mischung und Wechsel [Mischung und Entmischung] von Sichmischendem; natürliche Entstehung ist dafür nur der Name bei den Menschen!« (DK 31 B 8). Gr.: »φύσις οὐδενός ἐστιν ἁπάντων θνητῶν, οὐδέ τις οὐλομένου θανάτοιο τελευτή, ἀλλὰ μόνον μίξις τε διάλλαξίς τε μιγέντων ἐστί, φύσις δ' ἐπὶ τοῖς ὀνομάζεται ἀνθρώποισιν.« 187 Gadamer, Hans-Georg: Der Anfang der Philosophie. S. 137.

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Das Hauptthema ist deshalb das gemeinte Werden eines Kosmos, das sich bis zum Werden des Menschen erstreckt. Daran lässt die Wahrheit und Falschheit erzählende Göttin keinen Zweifel, indem sie am Ende den Bogen zum Ausgang des ersten Teils schlägt: In dieser Weise also sind der Meinung nach die Dinge um uns entstanden und sind sie auch jetzt und werden sie künftig, nachdem sie sich voll entwickelt haben, ein Ende nehmen. Die Menschen aber haben diesen Dingen einen Namen, für jedes einen bezeichnenden, beigelegt.188 (DK 28 B 19) In diesem letzttradierten Fragment fasst die Erzählerin final den Kontrast zwischen dem Ist des ungewordenen Seienden und der ›Realität‹, wie sie »der Meinung nach [κατὰ δόξαν]« – also entgegen der Gadamer’schen Analyse singularisch – von den Menschen gedacht und benannt wird: entstehend, werdend und vergehend. Von diesem Punkt aus lässt sich die Frage stellen, aus welchem Grund es die dichterische Seinsphilosophie des Parmenides nötig hat, dem Weg der Wahrheit die Bahn der Meinungen entgegenzuhalten. Ist seine abstrakte Reduzierung auf ontologische Data doch ein radikaler Bruch sowohl mit der vorsokratischen Naturphilosophie als auch mit einer rein theistischen Offenbarung. Dass nun jemand, der sich wie Parmenides als Überwinder des bisherigen, kosmologischen Philosophierens präsentiert, plötzlich den Ehrgeiz entwickelt, auch noch eine nicht zu überbietende Theorie innerhalb der (ohnehin als verfehlt eingeschätzten) Kosmologie zu offerieren, ist eine durchaus verblüffende Vorstellung.189 Man könnte Christof Rapps Beitrag ergänzen: Im parmenideischen Lehrgedicht wird das Seiende in seiner Totalität entdeckt. Dies kann natürlich nicht bedeuten, dass es vor dieser Entdeckung Nichtseiendes war und danach Nichtseiendes wird – wie die Ist-Zeit des Seienden unzweifelhaft vorgibt. Die Absolutheit des seienden Ist ist zugleich die immer gültige Wahrheit desselben. Hermeneutisch muss diese Wahrheit sinnhaft sein, da das vom Seienden untrennbare Vernehmen in seiner ›logischen‹ Stringenz stets an den reziproken Kontakt zum Seienden selbst gelangt. Der Vorwurf der Tautologie ist hierbei nicht von der Hand zu weisen, relativiert sich aber mit Blick auf den Meinungsteil. Denn: Es ist unmöglich, die gemeinte Entstehung des Kosmos mit Nichtseiendem gleichzusetzen. Auch sie ist daher In-Wahrheit-Seiendes, was darauf hindeutet, dass ohne die Falschheit die Wahrheit ihren Anspruch wahr zu sein nicht hätte. »Wenn die Wahrheit für 188 Gr.: »οὕτω τοι κατὰ δόξαν ἔφυ τάδε καί νυν ἔασι/καὶ μετέπειτ' ἀπὸ τοῦδε τελευτήσουσι τραφέντα·/τοῖς δ' ὄνομ' ἄνθρωποι κατέθεντ' ἐπίσημον ἑκάστῳ.« 189 Rapp, Christof: Vorsokratiker. S. 131.

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ihn [Parmenides] als ganzes dagewesen ist, hat sie das wahre Sein zugleich in Relation zur Scheinwelt offenbart […].«190 Parmenides Ontologie realisiert dieses Spannungsfeld mit der konsequenten Notwendigkeit, das Seiende in seiner Gänze zu greifen – also auch unter Rücksicht auf das Scheinerleben des Menschen. Die in der vorliegenden Arbeit genutzte Hermeneutik, die davon ausgeht, dass nur im An-Erkennen des Widerspruchs eine Lösung desselben im Lichte der Wahrheit gefunden werden kann, ist nichts anderes als eine Methode, welche in einem Analogieverhältnis zur parmenideischen Seinsphilosophie funktioniert. Die poetische Ausformung seines Denkens unterstützt dieses Vorgehen insofern flankierend, als sich gerade in der Literarisierung der anfänglichen Seinsfrage Zugriffsfelder auf die Möglichkeitsstruktur des Seienden auftun. Dass der Möglichkeit der Falschheit für das wahre Seiende von Parmenides eine tragende Rolle zugesprochen wird, kann aus der Perspektive des Meinungsteils als bestätigt angesehen werden. Hieraus resultiert das Erfordernis einer zirkulären Interpretation, die stets aufs Neue die Wahrheit des Seienden im Spiegel der phänomenalen Möglichkeit prüfen muss. »Ein Gemeinsames ist es für mich [der wahrheitskündenden Göttin], von woher ich anfange; denn ich werde dorthin wieder zurückkommen.«191 (DK 28 B 5) Im nachstehenden Abschnitt soll die Relevanz der von Parmenides entdeckten Seinswahrheit für die Philosophie gebündelt dargestellt werden. Ziel dessen ist es auch, Nietzsches und Heideggers Positionen einzubeziehen.

2.4.4

Die Relevanz des Parmenides [E]r [Parmenides] hat ein Princip, den Schlüssel zum Weltgeheimniß, abseits von allem Menschenwahne, gefunden, er steigt jetzt, an der festen und furchtbaren Hand der tautologischen Wahrheit über das Sein, hinab in den Abgrund der Dinge. […] Nun tauchte er in das kalte Bad seiner furchtbaren Abstraktionen. Das, was wahrhaft ist, muß in ewiger Gegenwart sein […]. (KSA 1, S. 842)

Nietzsches emphatische Narrativisierung der parmenideischen Philosophie macht jenen kardinalen Punkt deutlich, der für die frühe Ontologie des Eleaten 190 Steuben, Hans von: »Wahrheit und Gesetz. Die Offenbarung des Parmenides.« In: Parmenides: Über das Sein. S. 93-211, hier S. 196. 191 Gr.: »ξυνὸν δὲ μοί ἐστιν,/ὁππόθεν ἄρξωμαι· τόθι γὰρ πάλιν ἵξομαι αὖθις.«

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kennzeichnend ist: die abstrakte Reduktion der angeblichen Vielheit auf die einfachste Bestimmung, dass ist, dass es ist. Nietzsches ›Geschichtsschreibung‹ des Vorsokratikers zeugt dabei von einer gewissen Ablehnung – was sich sicherlich auch in der Vorbildrolle des Parmenides für Platon begründet. Dass Parmenides das »Weltgeheimiß« entdeckte, indem er das absolute Primat des Seins gegenüber der Scheinwelt der Menschen postulierte, ist insofern nicht zu bestreiten, als sich die parmenideische ›Formel‹ schlicht als unhintergehbar erweist. Aus dem anfänglichen Denken der Opposition von Sein und scheinbarem Nichtseienden entsteht die Urfrage der Metaphysik, welche dieselbe allerdings nicht beantworten konnte: »Der Gegensatz des Positiven und des Negativen ist das große Thema der Metaphysik, aber dieses lebt in Parmenides mit jener grenzenlosen Prägnanz, die das metaphysische Denken nicht mehr zu durchdringen vermochte.«192 Das von Parmenides ›erdichtete‹ Verhältnis zwischen Wahrheit und Lüge spiegelt sich im Dasein des Menschen, welcher als Seiender vor die Frage gestellt ist, inwieweit seine unleugbare Positivität mit der wahrgenommenen ›Realität‹, die durch das Denken die Erscheinungen als Negativa vernimmt, zu vereinbaren ist. Die intellektuelle Leistung besteht aus dieser Perspektive in einer metaphorischen Rückführung des Erkannten auf die Totalität des seienden Ist – was dem Menschen als sich bewegende, erzeugende, benennende und nicht zuletzt sterbende Allegorie des Trugs zuwiderlaufen muss. Wie Nietzsche zu verstehen glaubt, könnte sich aus diesem basal‐ontologischen Zusammenhang eine anthromorphistische Kopplung ergeben, die ›Sein‹ dann vornehmlich als Metapher auf das Wahrgenommene übertrüge: Den Begriff des Seins! Als ob der nicht den ärmlichsten empirischen Ursprung bereits in der Etymologie des Wortes aufzeigte! Denn esse heißt ja im Grunde nur »athmen«: wenn es der Mensch von allen anderen Dingen gebraucht, so überträgt er die Überzeugung, daß er selbst athmet und lebt, durch eine Metapher, das heißt durch etwas Unlogisches, auf die anderen Dinge und begreift ihre Existenz als ein Athmen nach menschlicher Analogie. Nun verwischt sich bald die originale Bedeutung des Wortes: es bleibt aber immer so viel übrig, daß der Mensch sich das Dasein andrer Dinge nach Analogie des eigenen Daseins, also anthropomorphisch, und jedenfalls durch eine unlogische Übertragung, vorstellt. (KSA 1, S. 847) In Nietzsches Charakterisierung des auf Parmenides zurückgehenden Seinsdenkens offenbart sich ein tiefer Widerstand gegen die Ontologie. Indem Nietzsche auf das lateinische »esse« rekurriert und damit eine bloße Metaphorisierung des Wortgebrauchs konstruiert, verdinglicht er die Verbindung zwischen Denken/Vernehmen und Sein, die im Griechischen in dieser Weise kaum zu halten wäre. Auch mutet sein Begriff von ›Logik‹ hier unreflektiert an. Nietzsche bleibt die Antwort 192 Severino, Emanuele: Vom Wesen des Nihilismus. S. 52-53.

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schuldig, wie das übertragende Denken des Menschen anders sein sollte als »anthropomorphisch«. Dadurch bagatellisiert er die parmenideische Philosophie, da das Leitthema des Lehrgedichts nur partiell auf einen »empirischen Ursprung« zurückzuführen ist. Vielmehr ordnet Parmenides antinomisch die Erfahrungswelt des Menschen demjenigen unter, was das ›logische‹ Denken festsetzt: dem Sein. Wendet man dies gegen Nietzsche, so lässt sich Heideggers Kritik durchaus rechtfertigen: »Nietzsches Verhängnis war, daß er – bei aller Klarheit – keinen griechischen Philosophen so gänzlich mißverstanden hat wie Parmenides. Dementsprechend war er später nicht der eigenen Aufgabe gewachsen!« (GA II, 35, S. 189) Heidegger spricht Nietzsche, analog zur Heraklit-Auslegung des letzteren193 , eine Fehldeutung des parmenideischen Textes zu; zugleich setzt er dies in Kontakt zu Nietzsches – angeblichem – Versagen, die abendländische Philosophie zu revolutionieren. Ob diese Unterstellung begründet ist, bleibt zwar zu zeigen, was jedoch mit einiger Sicherheit behauptet werden darf, ist die zentrale Bedeutung eines Verständnisses des parmenideischen Seinsdenkens für die philosophische Fundierung der eigenen Programmatik – was Nietzsche teils verfehlte. Denn mit Parmenides treten essenzielle Problemfelder in den Fokus der Philosophie: die Fragen nach der Differenz wahr/falsch, der Kontradiktion, der Wahrheitsfähigkeit von Sprache, der Endlichkeit/Unendlichkeit, Bewegung/Ruhe, der Zeit, der Position des Menschen. All diese Fragen spiegeln sich im Fundament der ersten Frage nach dem Status und den Bestimmungen des Seins. Aus diesem Grund ist G.E.M. Anscombe zuzustimmen, wenn sie in Anlehnung an den vielzitierten, allerdings auf Platon bezogenen Satz Whiteheads194 feststellt: »Whiteheadʼs remark about Plato might, somewhat narrowly, be applied to his great predecessor: Subsequent philosophy is footnotes on Parmenides.«195 Diese These sollte indessen um eine poetologische Notiz erweitert werden. Parmenides schildert die abstrakte Entdeckung des Seins im Gewande des Gedichts, was in Rückschau auf die Deutlichkeit seiner Aussage nochmals exponiert werden sollte, da die literarische Verfasstheit der philosophischen Essenz gewisse Vorteile bietet, die von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit für die ontologische Aussage sind. Erstens: Der Zusammenhang von Denken/Vernehmen und Sein wird auf formaler Ebene stark gemacht. Die der Dichtung eigentümliche Möglichkeit, Vorstellungsinhalte als Literatur zur Sprache zu bringen, spiegelt wiederum die Mög193 Vgl. S. 38. 194 Nach Whitehead besteht die abendländische Philosophie aus einer »Reihe von Fußnoten zu Platon« (Whitehead, Alfred North: Prozess und Realität. S. 91). 195 Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret: From Parmenides to Wittgenstein. In: Dies.: The collected philosophical papers, Volume 1. S. xi.

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lichkeit per se, das Sein als möglich anzuerkennen. Während das Nichtsein nicht erkannt werden kann, also auch keine Möglichkeit zulässt, offeriert das Sein Kriterien der Auswahl, welche vor dem Hintergrund ihres Anspruchs auf Wahrheit geprüft werden müssen. Betrachtet man den parmenideischen Text in Gänze, so ergibt sich ein Vexierbild dieser Struktur, welches die ontologische Notwendigkeit aufzeigt, sowohl den Weg der Wahrheit als auch die Bahn der Meinungen zu denken. Zweitens: Indem Parmenides einen Seinstext dichtet, schafft er ein proportionales Band zwischen Denken und Sein. Literatur – als in der Zeit befindliche Fixierung des Gedachten – fungiert als Übertragungsinstanz zweier zusammengehöriger ontologischer Sachverhalte: des ›geistigen‹ Anteils des Vernehmens und des materiellen. Das Seiende des Denkens erfährt hierdurch seine berechtigte Partizipation am Seienden des Vernehmens im Allgemeinen. Ein Einwand könnte dabei sein, dass auch ein freier Vortrag – beispielsweise im Sinne eines sokratischen Dialogs – Vorstellungsinhalte ins Vernehmen projiziert. Natürlich ist dies richtig, jedoch besteht ein wesentlicher Unterschied zur Literarisierung des Denkens: Literatur manifestiert das Seiende der Sprache in einen geschichtlichen Zusammenhang, der einen chronologischen Zugriff a posteriori eröffnet. Gerade die anfängliche Entdeckung der Seinsfrage bleibt somit in ihrer Eigenart als Wahrheit für einen hermeneutischen Zugang temporal ent‐deckt. Dieser letzte Faktor verdeutlicht nicht nur die Signifikanz der Literatur für die philosophische Tradition, sondern zeugt auch vom Wert einer nachträglichen philologischen Herangehensweise an die ersten Texte der abendländischen Seinsspekulation. Drittens: Die aus der Möglichkeitskomposition resultierende Opposition von Wahrheit und Falschheit legt dem Leser/Hörer den Auftrag der Wiederholung auf. Parmenides lässt keinen Zweifel daran, dass die erlebte Welt des Menschen trügerischer Natur ist, da sie gegen die eigentliche Seinserkenntnis spricht. Die Form des hexametrischen Lehrgedichts erlaubt es – durch die Rhythmisierung der Sprache – für die Hörer-/Leserschaft eine repetitive Praxis zu gewährleisten, was die Aufgabe erleichtert, die wahrgenommene ›Realität‹ mit der Wahrheit des Seins abzugleichen. In diesem Kontext ist eine weitere Erklärung für die Einführung der göttlichen Erzählerin auszumachen: Parmenides steigert die Kompetenz des Vorgebrachten durch die poetische Form, die für das frühgriechische Publikum eine gewisse Unmittelbarkeit196 der Aussage implizierte. Dass dies für die Epoche der Vorsokratik keineswegs mehr selbstverständlich war, davon zeugen die prosaisch‐metaphorisierenden Philosophien eines Anaximanders oder Heraklits. »Offenbar brauchte 196 Noch bei Platon findet sich im Frühdialog Ion eine Legitimation der Dichtung aus dem Geiste des Enthusiasmus, welcher sich aus der unmittelbaren Göttlichkeit des Vorgetragenen speist.

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es also eine derart massive Mediendifferenz wie die zwischen Poesie und Prosa, um Philosophien der Literatur in die Welt zu setzen.«197 Parmenides befindet sich an der Nahtstelle dieser »Mediendifferenz«; er positioniert sich allerdings konträr zu Heraklit nicht gegen die Homer’sche und Hesiod’sche Tradition, sondern nimmt die poetischen Elemente gleichsam in sein Denken auf, um somit einen Partner an seiner Seite zu wissen, der einerseits das Ontologische stützt und andererseits auf der Ebene des Rezipienten Muster der Vergewisserung einbringt. Daraus entsteht indessen kein Mythos im klassischen Sinne, sondern der Aufweis der denkfest ersten Frage nach dem Sein im Ganzen. Der Grund für den parmenideischen Rekurs auf die Göttlichkeit liegt dann in der Neuartigkeit und Besonderheit dieses Denk-Weges, welcher in dieser Weise gestaltet ist, »um die Un‐gewöhnlichkeit und Erhabenheit dieses Weges darzustellen und deutlich zu machen, daß es einer Abkehr vom Gemeinen sehend bedarf und einer einzigartigen Hinkehr zu dem abseits Gehenden« (GA II, 35, S. 140). Heideggers »Un‐gewöhnlichkeit« ist insofern ein treffender Terminus, als die Gewohnheit des Menschen durch die Allegorie der Göttin und die hexametrische Form zwar aufgenommen wird, sich in einem zweiten Schritt aber die phänomenale Gewohnheit aus deren Zentrum fragend zur »Un‐gewöhnlichkeit« wendet. Daher lässt sich der mystifizierend klingende Begriff der ›Seinsoffenbarung‹ auf den parmenideischen Lehrtext mit ruhigem Gewissen anwenden. Aber weshalb und wozu soll es um das Sein und Seinsverständnis gehen? Was geschieht denn, wenn es darum geht? Dann geschieht nichts Geringeres, als daß das vordem in der Offenbarung noch verborgene Seiende im Ganzen erstmals und künftighin […] die Stätte und den Spielraum findet, in dem es aus seiner Verborgenheit heraustreten kann, um als das Seiende, das es ist, überhaupt zu sein. (GA II, 35, S. 93) In der Offenbarung des Parmenides verbirgt sich die Weisheit des Seins, die im Wechselspiel von geglaubter Gewohnheit und »Un‐gewöhnlichkeit« mit den Mitteln ontologischer Dichtung zu Tage tritt. Inwieweit dies in den Bezugsrahmen der vorsokratischen Epoche einzupassen ist, soll im Folgenden geklärt werden. Auch steht flankierend eine Rückbesinnung auf Anaximander und Heraklit zur Debatte. Ziel des nachstehenden Passus ist eine abschließende Erörterung der Entdeckung der Seinsfrage bei den Vorsokratikern. Es soll somit eine grobe Übersicht gewährleistet werden, welche die wesentlichen Merkmale des frühgriechischen Seinsdenkens bündelt und unter philosophiehistorischen Gesichtspunkten untersucht. 197 Kittler, Friedrich: Philosophien der Literatur. S. 25.

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Spannungsfelder der Vorsokratik In vielen Fällen ist gerade in der frühen Philosophie eine sichere Entscheidung zwischen metaphorischem und literalem Wortgebrauch noch gar nicht möglich, auch wenn wir nach allen gängigen Kriterien zuversichtlich sind, es mit Philosophie zu tun zu haben. So ist mit der Eliminierung bildhafter Elemente zwar im Allgemeinen ein Gewinn an Klarheit und Rationalität verbunden, ein wesentlicher Rationalitätszuwachs dürfte mit der Bereitschaft und der Fähigkeit verbunden sein, Gründe für die eigene Konzeption auszuführen und bis zu einem gewissen Grad auch Modell- und Hypothesencharakter solcher Konzeptionen zu durchschauen.198

Christof Rapps Analyse der Verbindung von Literatur und Philosophie entwirft ein auf Philosophie zentriertes Bild, das für die Ontologie der Vorsokratiker kommentiert werden sollte: Sicherlich ist es einerseits richtig, dass eine bestimmte Selbstreflexion für das Verständnis ontologischer Zusammenhänge vonnöten ist. Andererseits besteht aus literaturwissenschaftlicher Sicht kein Bedarf, »zuversichtlich« zu sein, dass es sich um Philosophie im engeren Sinne handelt. Macht doch gerade die Vermengung von literarischen und ontologischen Elementen den besonderen Reiz einer Untersuchung der vorsokratischen Fragmente aus. Dieser Reiz besteht auch in der Schwierigkeit, das metaphorische und seinsdichtende Denken nicht von seiner philosophischen Aussage zu trennen, sondern vielmehr in einem hermeneutischen Akt zusammenzuführen. Anderenfalls stünden ›rational‐philosophische‹ Argumente gegen ›irrational‐literarische‹ Aspekte – ein Gedanke, der der metaphorischen Verfasstheit der herakliteischen und anaximandrinischen Lehren sowie der poetischen Ontologie des Parmenides zuwiderläuft. Was indessen als ›rational‹ bezeichnet werden darf und was nicht, ist ebenso fragwürdig, wie die genannten Vorsokratiker als rein dichterische Mytho- oder Theologen einzustufen. Eher darf mit Aristoteles behauptet werden, dass zu Beginn der Seinsspekulation ein Drang nach prinzipiellem Wissen herrschte: Wer sich aber über eine Sache fragt und verwundert, der glaubt sie nicht zu kennen. (Deshalb ist der Freund der Sagen auch in gewisser Weise ein Philosoph; denn 198 Rapp, Christof: Vorsokratiker. S. 17-18.

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die Sage besteht aus Wunderbarem.) Wenn sie [die Vorsokratiker] daher philosophierten, um der Unwissenheit zu entgehen, so suchten sie das Erkennen offenbar des Wissens wegen, nicht um irgendeines Nutzens willen.199 (Met., 982 c) Auch wenn Aristoteles in Auseinandersetzung mit den Vorsokratikern deren Kontradiktionen zu überwinden sucht, seine hier gegebene Zuschreibung kann durchaus Anwendung finden. Dass mit Anaximander, Heraklit und Parmenides die Entdeckung der Seinsfrage in den Fokus rückt, ist aus dieser Perspektive mehr als plausibel: Das Seiende liegt als unmittelbar Nächstes und Eigenes zu gleichen Teilen vor. Dies soll nicht bedeuten, dass eine starke Empirielastigkeit zu erkennen ist, zeigt sich ja eine denkende Überformung, die von Seienden kommend das absolute Sein erklären will. Die gemeinsame Leistung der um das Sein bemühten Philosophen ist es, »verwundert« ob der Breite der Erscheinungen, in einem Übertragungsverfahren das Erkannte sprachlich und noetisch einer übergeordneten Erkenntnis zuzuführen – was nichts anderes darstellt, als eine revolutionäre Aufwertung des Wissens. Dieser Modus Procedendi führte bei Anaximander zu der basalen wie folgenreichen Erkenntnis, die in der Zeit befindlichen Seienden dürften nicht Nichts sein, sondern müssten ihrem Ver-Gehen, Endlich-Vieles zu sein, Abbitte leisten, indem sie Anfang und Ende im ἄπειρον nehmen. Bei Heraklit wird diese Annahme nun um den Faktor der Gegensätzlichkeit präzisiert, welche als Differenz in Einheitlichkeit kulminiert. Diese Einheit wird mit der Einführung des λόγος um eine zweite Übertragungsstufe ergänzt, da die herakliteische ›Logik‹ die Vielheit des Vor-Liegenden an die Unifikation des Wissens rückbindet, was letztlich im Rahmen der Aus-Legung eine Interpretation des Seins legitimiert. Mit Parmenides tritt eine entschiedenere Form der Seinsabstraktion in die Geschichte des Wissens, wenn er dezidiert das Sein zum Thema macht: Das Seiende ist, das Seiende ist auch Vernehmen/Erkenntnis. Ist das Seiende, so kann kein Nichtseiendes sein, weil es nicht vernommen/erkannt werden kann. Gibt es das Nichtseiende nicht, gibt es nur Seiendes – ohne Anfang und Ende. Wenn nur das Seiende ist, muss dasselbe voll sein. Herrscht Vollheit, darf es keine Bewegung, keine Teilbarkeit, keine Differenz, keine Veränderung geben. Daher muss das Seiende eine zusammenhängende Einheit bilden, gleichend der Form einer Kugel. Aus dieser Einzigartigkeit verbietet sich bei Parmenides die Unterscheidung zwischen Seiendem und Sein. Der irrende Mensch vernimmt diese Bestimmungen des Seienden allerdings nicht. Will Parmenides alles im Seienden Befindliche erklären, also auch das widersprüchliche Vernehmen, Leben, Benennen des Menschen, muss er die (Pseudo-)Entstehung der geglaubten Scheinwelt nachzeichnen. Dies ist der 199 Gr.: »ὁ δ᾽ ἀπορῶν καὶ θαυμάζων οἴεται ἀγνοεῖν (διὸ καὶ ὁ φιλόμυθος φιλόσοφός πώς ἐστιν· ὁ γὰρ μῦθος σύγκειται ἐκ θαυμασίων)· ὥστ᾽ εἴπερ διὰ τὸ φεύγειν τὴν ἄγνοιαν ἐφιλοσόφησαν, φανερὸν ὅτι διὰ τὸ εἰδέναι τὸ ἐπίστασθαι ἐδίωκον καὶ οὐ χρήσεώς τινος ἕνεκεν.«

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zweite Schritt der Lehrgedichtes, der nur aus der ersten – wahren – Deduktion verstanden werden kann. Wie ersichtlich ist, geriert sich die parmenideische Ontologie im direkten Vergleich am komplexesten; andererseits sind gemeinsame Schnittmengen festzustellen: »Am Ende sind Parmenides und Heraklit im höchsten Einverständnis – wie alle wirklichen Philosophen – nicht auf Grund eines Verzichts auf Kampf, sondern gerade aus letzter jeweils eigener Ursprünglichkeit.« (GA II, 35, S. 32) Ob Parmenides und Heraklit das Denken des jeweils anderen kannten, ist nicht zu rekonstruieren. Was hingegen beiden zugrunde liegt, ist jene Bestrebung, die schon für Anaximander galt: die wahrgenommene Vielheit durch sprachliche Übertragungsleistungen dem Einheitsdenken zu überantworten. Auch wenn Anaximander, Heraklit und Parmenides zu differierenden Annahmen kommen200  – die als literarisch zu bezeichnenden Elemente sind insofern maßgebliche Bestandteile ihres Denkens, als erst durch sie die Möglichkeit des Seinsentwurfs fragend zur Sprache kommen kann. »[E]s genügt schon, daß nach dem Sein auch nur gefragt wird, damit es gefunden sei. Dieses Erfragen als solches erbringt den wesentlichen Fund; und das Sein bleibt nur Fund, sofern und solange nach ihm die Frage steht. (Das Sein wird er‐funden – gedichtet – gebildet.)« (GA II, 35, S. 94-95) Im Sinne Heideggers konvergiert das Fragen nach dem Sein mit dessen ErFindung und damit Er-Dichtung. Diese Setzung a priori mutet aufs Erste nicht unbedingt ›schlagfertig‹ an. Geht man hingegen näher auf das Wesen der Frage ein, ergeben sich stichhaltige Argumente für diese Sichtweise: In der Frage fällt das Vernehmen/Denken mit dem Dasein des Fragenden zusammen. Indem gefragt wird, kommt das Sein zur Sprache. Das Zur-Sprache-Kommen des Seins ist nichts anderes als die Er-Dichtung des Wahrgenommenen in Angleichung und Rückkopplung an das Wissen selbst. Hieraus folgt ein Zirkel, der dem hermeneutischen nicht unähnlich ist, da in beiden Fällen die Wahrheit des Seins sinnhaft entborgen werden soll. Nun sind Anaximander, Heraklit und Parmenides nicht die einzigen Vorsokratiker, denen es um die Aufdeckung des Seinsveständnisses bestellt ist. »Anaximenes ist der Meinung, es gebe nur ein Prinzip der seienden Dinge, ein bewegendes und unbeschränktes: die Luft[.]«201 Wie zu sehen ist, nimmt beispielsweise Anaximenes, wohl gestorben »in den Jahren der 63. Olympiade (528-525 v. Chr.)«202 , den von 200 So ist das Werden/die Bewegung für Anaximander im Seienden und für Heraklit im Generellen kein Problem, was für Parmenides ausgeschlossen bleibt. 201 Anaximenes: Fragmente. In: Die Vorsokratiker I. S. 88-97, hier S. 88-89; DK 13 B 3. Gr.: »μίαν δὲ κινουμένην ἄπειρον ἀρχὴν πάντων τῶν ὄντων δοξάζει Ἀναξιμένης τὸν ἀέρα·« 202 Rapp, Christof: Vorsokratiker. S. 48.

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Anaximander aufgeworfenen Unbeschränktheits-Diskurs auf – allerdings mit einem bedeutenden Unterschied: Er physikalisiert das Sein. Damit deutet sich wieder jene Grenzziehung zwischen Denken und Stoff an, die für Thales zugunsten des Materiellen entschieden wurde, jedoch dem Vernehmen/Denken nicht umfassend Rechnung tragen konnte. Jeder das Sein verdinglichende Entwurf muss sich an der Problematik der Willkür messen. Denn wenn Luft das Prinzip des Seins sein sollte, so könnte man ebenfalls behaupten, Wasser, Feuer oder Erde seien die ontologischen Urgründe. Eben dies geschieht in der dichterischen Philosophie des Empedokles (»495/4 bis 435/4«203 ), der in der Nachfolge des Parmenides paradoxerweise eine rhizomatische Aufsplitterung des Seins propagiert: »Die vier Wurzelgebilde aller Dinge höre zuerst: leuchtend‐heller Zeus [Feuer] und lebensspendende Hera [Erde] und Aidoneus [der ›Unsichtbare‹ – Luft] und Nestis [die ›Fließende‹ – Wasser], die mit ihren Tränen den sterblichen Quellstrom befeuchtet.«204 Einerseits spielt für Empedokles die metaphorische Relation auf denkfeste Zusammenhänge wie für Parmenides oder Heraklit eine entscheidende Rolle; andererseits gerät durch die Abweichung vom parmenideischen Monismus die Stringenz der Aussage in Konfusion, da erklärt werden muss, wie sich die »Wurzelgebilde« zueinander verhalten. »Einmal kommt alles in Liebe zu Einem zusammen – Glieder, welche der Leib besitzt auf blühenden Lebens Gipfel; das andere Mal dagegen, zerschnitten von schlimmen Fehden, wird jedes auseinandergetrieben, wenn das Leben zerbricht.«205 (DK 31 B 20) Empedokles versucht, die Bewegung im Sein durch die Metaphern von Zuneigung und Abneigung fassbar zu machen: »Einmal kommt alles in Liebe zusammen zu Einem, das andere Mal fliegt es, jedes für sich, wieder auseinander im Groll des Hasses.«206 (DK 31 B 17) Dieses Vorgehen birgt mehrere Nachteile. Zwar kann das Vernehmen/Denken durchaus die wahrgenommene Separation und Zusammenfügung durch Liebe und Hass deuten; dadurch wird aber jene Untrennbarkeit des Seins aufgebrochen, die unbedingt gelten muss, sofern man den notwendigen Ausschluss des Nichtseienden beibehalten will. Diese Kontradiktion hält Empedokles indessen nicht davon ab, analog zu Parmenides das Nichtseiende aus der Spekulation zu verbannen. »Es gibt nämlich gar keine Möglichkeit, daß aus Nichtseiendem [etwas] entsteht, und daß Seiendes völlig 203 Rapp, Christof: Vorsokratiker. S. 156. 204 Empedokles: Fragmente. In: Die Vorsokratiker II. S. 68-155, hier S. 74-75; DK 31 B 6. Zitation nach Diels/Kranz. Gr.: »τέσσαρα γὰρ πάντων ῥιζώματα πρῶτον ἄκουε·/Ζεὺς ἀργὴς Ἥρη τε φερέσβιος ἠδ' Ἀιδωνεύς/Νῆστίς θ', ἣ δακρύοις τέγγει κρούνωμα βρότειον.« 205 Gr.: »ἄλλοτε μὲν Φιλότητι συνερχόμεν' εἰς ἓν ἅπαντα/γυῖα, τὰ σῶμα λέλογχε, βίου θαλέθοντος ἐν ἀκμῇ,/ἄλλοτε δ' αὖτε κακῆισι διατμηθέντ' Ἐρίδεσσι/πλάζεται ἄνδιχ' ἕκαστα περὶρρηγμῖνι βίοιο.« 206 Gr.: »ἄλλοτε μὲν Φιλότητι συνερχόμεν' εἰς ἓν ἅπαντα,/ἄλλοτε δ' αὖ δίχ' ἕκαστα φορεύμενα Νείκεος ἔχθει«

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ausgerottet wird, ist weder zu verwirklichen, noch kann es davon Kunde geben: denn man wird es [Seiendes] immer ansetzen, wie man es auch einfügt.«207 (DK 31 B 12) Natürlich kommt Empedokles richtigerweise zu dem Schluss, aus dem ontologischen Status des Seienden ergebe sich die Unmöglichkeit des Nichtseienden. Nur findet er – trotz seiner metaphorischen Bemühungen – keine passende Antwort auf die Frage, warum gerade vier Wurzeln das Sein ausmachen sollten und warum Liebe und Hass die Attraktion und Detraktion erklären sollten. Die literarischen Momente dienen Empedokles daher nicht zur Entdeckung der Seinsfrage, sondern zur rhetorischen Festigung seiner Lehrmeinung. Wenn Aristoteles in der Rhetorik die korrekte Verwendung von sprachlichen Mitteln skizziert, geht er wohl auch aus diesem Grund kritisch auf Empedokles ein: Zum dritten keine doppeldeutigen Worte zu gebrauchen. Dies aber wird man tun, wenn man nicht das Gegenteil beabsichtigt. Das machen nämlich die Leute dann, wenn sie nichts zu sagen haben, aber doch vorgeben, als sagten sie etwas. Solche Menschen nämlich sagen dies in Poesie, wie z.B. Empedokles; denn das in wortreicher Periode Vorgetragene erweckt Täuschung und die Zuhörer sind in gleicher Weise affiziert wie die Menge bei den Wahrsagern.208 Die empedokleische Ambivalenz zwischen scheinbar ontologischer Aussage und wahrem Gehalt könnte nicht scharfzüngiger Verworfen werden – auch wenn Aristoteles ihn an anderer Stelle als ernstzunehmenden Vertreter der Vorsokratik einstuft (vgl. Met., 985 a), respektive nicht nur das Sprachliche, sondern die Substanzlosigkeit seines philosophischen ›Systems‹ anprangert (vgl. DK 31 B 53, B 54). Natürlich fragt Empedokles nach dem Sein, doch sind seine poetischen Antworten eher physischer, religiöser und medizinischer Natur. Mit Empedokles setzt jene Verdeckung der originären Seinsfrage ein, die für die Geschichte des abendländischen Denkens bestimmend werden sollte. Nimmt man exemplarisch weitere Vorsokratiker in die Untersuchung auf, kann diese Tendenz als bestätigt angesehen werden. So vermengt zum Beispiel die anspruchsvolle ›Philosophie‹ eines Anaxagoras ionische und parmenideische Elemente. Nach Christof Rapp: »(1) Am Anfang war alles miteinander vermischt. (2) In allem gibt es einen Anteil von allem. (3) Es gibt keinen kleinsten Teil von irgendetwas. (4) Nichts entsteht aus etwas, was nicht ist.«209 Gerade der letzte Punkt zeugt 207 Gr.: »ἔκ τε γὰρ οὐδάμ' ἐόντος ἀμήχανόν ἐστι γενέσθαι/καί τ' ἐὸν ἐξαπολέσθαι ἀνήνυστον καὶ ἄπυστον·/αἰεὶ γὰρ θήσεσθαι, ὅπῃ κέ τις αἰὲν ἐρείδῃ.« 208 Aristoteles: Rhetorik. S. 178-179; 1407 a. Gr. [Text folgt der Ausgabe W. D. Rossʼ (Aristotelis: Ars Rhetorica. S. 153)]: »τρίτον μὴ ἀμφιβόλοις. τοῦτο δ᾽ ἂν μὴ τἀναντία προαιρῆται, ὅπερ ποιοῦσιν ὅταν μηδὲν μὲν ἔχωσι λέγειν, προσποιῶνται δέ τι λέγειν· οἱ γὰρ τοιοῦτοι ἐν ποιήσει λέγουσιν ταῦτα, οἷον Ἐμπεδοκλῆς· φενακίζει γὰρ τὸ κύκλῳ πολὺ ὄν, καὶ πάσχουσιν οἱ ἀκροαταὶ ὅπερ οἱ πολλοὶ παρὰ τοῖς μάντεσιν·« 209 Rapp, Christof: Vorsokratiker. S. 175.

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vom Erbe des Parmenides, während die Skizze der Mischverhältnisse an Heraklit mahnt. Auch wird klar, dass Anaxagoras nicht mehr aus einer vornehmlich sprachlich motivierten Übertragungs-Deduktion die Seinsfrage denkt, sondern auf mathematisch‐physikalische Mittel zurückgreift – was schließlich die Nähe zu einem gewissen ›Materialismus‹ dokumentiert. »Gleichmäßig‐zusammen waren die Sachen alle, unendlich sowohl der Zahl [unbeschränkt zahlreich] als auch der Kleinheit nach.«210 Wenn alle Dinge einst in ihrer unendlichen Kleinheit zusammenwirkten, muss darauf eingegangen werden, wie sich dieser Aufbau des Seins zu der Unmöglichkeit verhält, aus dem Nichts zu kommen. »Denn […] es gibt nichts, das vom Kleinen her das Kleinste wäre, sondern es gibt immer wieder etwas, das noch weniger ist. Denn es ist ausgeschlossen, daß es das Seiende nicht geben würde.«211 (DK 59 B 3) Für Anaxagoras scheint die parmenideische Prämisse des nichtslosen Seins unumstößlich. Andererseits wird das Seiende stofflich gedacht, da die Einzeldinge im Sein unendlich teilbar und gleichnamig benennbar seien.212 Zudem führt Anaxagoras das Geistige/Vernehmende als durchwaltendes Prinzip ein – was letztendlich weitere Komplikationen heraufbeschwört: Aber der Geist ist etwas, das unbeschränkt und selbstherrlich ist, und er ist mit keiner Sache in Mischung verbunden, sondern er ist als einziger an und für sich. […] Denn er ist die feinste aller Sachen, wie auch die reinste, und er hat von jeder Sache jede Erkenntnis, und er hat die größte Kraft. […] Und wie es sein würde und wie es war und was jetzt ist und wie es sein wird, das alles ordnet der Geist an[.]213 (DK 59 B 12) Der Geist – hier ist diese Übersetzung von νοῦς durchaus zulässig – wird als das Andere der materiellen Dinge dargestellt. Obgleich er die Differenz zu den »Sache[n]« markiert, scheint er in seiner Wesenheit als ätherische Macht über die seienden Dinge eine unbestimmte Kenntnis zu verfügen. Aus diesem transzendentalen Standpunkt des Wissenden herrscht der Geist speziös über die Geschicke der Zeit, indem er »alles« an die jeweils zugebilligte Position bringt. 210 Anaxagoras: Fragmente. In: Die Vorsokratiker II. S. 170-229, hier S. 182-183; DK 59 B 1. Im Folgenden Zitation nach dieser Ausgabe. Kenntlichmachung durch Diels/Kranz. Gr.: »ὁμοῦ χρήματα πάντα ἦν, ἄπειρα καὶ πλῆθος καὶ σμικρότητα« 211 Gr.: »οὔτε γὰρ τοῦ σμικροῦ […] ἐστι τό γε ἐλάχιστον, ἀλλ' ἔλασσον ἀεί (τὸ γὰρ ἐὸν οὐκ ἔστι μὴ οὐκ εἶναι)[.]« 212 Vgl. hierzu: Rapp, Christof: Vorsokratiker. S. 177-181. 213 Gr.: » νοῦς δέ ἐστιν ἄπειρον καὶ αὐτοκρατὲς καὶ μέμεικται οὐδενὶ χρήματι, ἀλλὰ μόνος αὐτὸς ἐπ΄ ἐωυτοῦ ἐστιν. […] ἔστι γὰρ λεπτότατόν τε πάντων χρημάτων καὶ καθαρώτατον, καὶ γνώμην γε περὶ παντὸς πᾶσαν ἴσχει καὶ ἰσχύει μέγιστον· […] καὶ ὁποῖα ἔμελλεν ἔσεσθαι καὶ ὁποῖα ἦν, καὶ ὅσα νῦν ἔστι καὶ ὁποῖα ἔσται, πάντα διεκόσμησε νοῦς […].«

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Diese Konfiguration hat indessen wenig mit Seinsphilosophie zu tun, auch wenn der Geist einer Seinsmetapher relativ nahe kommt. Vielmehr wirkt dieses Gefüge wie ein Glaubenssatz. Fragment B 13 bestätigt dies: »Und als der Geist es zu bewegen angefangen hatte, fand aus all dem Sichbewegenden Aussonderung statt, und soviel auch der Geist in Bewegung setzte, es wurde alles voneinander getrennt.«214 (DK 59 B 13) Der Geist repräsentiert das anfänglich‐kinetische Prinzip. Er wird als solches ohne ontologische Begründung von Anaxagoras ins Werk gerufen. Hier weicht die Anaxagoras’sche Philosophie von der des Anaximander, Heraklit und Parmenides stark ab, benötigten letztgenannte freilich kein wie auch immer geartetes Prinzip, um durch literarisch‐poetische Momente, die Anaxagoras größtenteils schuldig bleibt – was mit einiger Sicherheit der Verdeckung der Seinsfrage Vorschub leistet –, auf das eine Sein zu schließen. »Die Fragmente über den Geist scheinen insgesamt mehr Fragen aufzuwerfen als sie beantworten, und es ist fraglich, ob Anaxagoras diese Fragen überhaupt beantworten wollte.«215 So mutet die polare Tension des Unvermischten (Geist) und dem Vermischten (Stoff) willkürlich an, ebenso die Beziehungsstruktur zwischen diesen beiden Merkmalen. Schon der platonische Sokrates, wie auch Rapp bemerkt216 , kritisiert Anaxagoras daher im Phaidon: Sondern als ich einmal einen lesen hörte aus einem Buche, wie sagte, vom Anaxagoras, daß die Vernunft [νοῦς, der Geist] das Anordnende ist und aller Dinge Ursache, erfreute ich mich an dieser Ursache, und es schien mir auf gewisse Weise sehr richtig […]. […] Und von dieser wunderbaren Hoffnung, o Freund, fiel ich ganz herunter, als ich fortschritt und las und sah, wie der Mann [Anaxagoras] mit der Vernunft gar nichts anfängt und auch sonst gar nicht Gründe anführt, die sich beziehen auf das Anordnen der Dinge, dagegen aber allerlei Luft und Äther und Wasser vorschiebt und sonst vieles zum Teil Wunderliches.217 (Phaidon, 97 b – 98 c) Dass Sokrates vom Geist-Prinzip des Anaxagoras vorerst angetan schien, braucht angesichts der Ideenlehre nicht zu verwundern – seine spätere Abkehr jedoch ebenso wenig. Im Grunde konzentriert die zitierte Referenz die Schwierigkeit: 214 Gr.: »καὶ ἐπεὶ ἤρξατο ὁ νοῦς κινεῖν, ἀπὸ τοῦ κινουμένου παντὸς ἀπεκρίνετο, καὶ ὅσον ἐκίνεσεν ὁ νοῦς, πᾶν τοῦτο διεκρίθη« 215 Rapp, Christof: Vorsokratiker. S. 186. 216 Vgl. Rapp, Christof: Vorsokratiker. S. 187. 217 Gr.: »Ἀλλ᾽ ἀκούσας μέν ποτε ἐκ βιβλίου τινός, ὡς ἔφη, Ἀναξαγόρου ἀναγιγνώσκοντος, καὶ λέγοντος ὡς ἄρα νοῦς ἐστιν ὁ διακοσμῶν τε καὶ πάντων αἴτιος, ταύτῃ δὴ τῇ αἰτίᾳ ἥσθην τε καὶ ἔδοξέ μοι τρόπον τινὰ εὖ ἔχειν […]. […] Ἀπὸ δὴ θαυμαστῆς ἐλπίδος, ὦ ἑταῖρε, ᾠχόμην φερόμενος, ἐπειδὴ προϊὼν καὶ ἀναγιγνώσκων ὁρῶ ἄνδρα τῷ μὲν νῷ οὐδὲν χρώμενον οὐδέ τινας αἰτίας ἐπαιτιώμενον εἰς τὸ διακοσμεῖν τὰ πράγματα, ἀέρας δὲ καὶ αἰθέρας καὶ ὕδατα αἰτιώμενον καὶ ἄλλα πολλὰ καὶ ἄτοπα.«

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Anaxagoras kann, sofern man den überlieferten Fragmenten Glauben schenkt, den ontologischen Status des Geistes nicht klären und muss dadurch auf die üblichen wie simplen Explikationen des Materiellen ausweichen. Dies stellt, analog zur Wurzelaufteilung des Seins bei Empedokles, einen enormen Rückschritt im direkten Vergleich zu Anaximander, Heraklit und vor allem Parmenides dar. Die Behauptung sei erlaubt, dass dieser Rückschritt vor allem an der Unvereinbarkeit von Werden und Ungewordenem liegt. Eben diese Unversöhnlichkeit versuchten die Atomisten Leukipp (Wirken vermutlich um 440 v. Chr.) und Schüler Demokrit (geboren nach 430 v. Chr.), der wohl sein Schüler war, zu lösen218 , indem sie von der parmenideischen Lehre ausgehend eine physikalische Theorie des Leeren und Vollen aufstellten. Demokrit glaubt, daß die ewigen Wesenheiten kleine, der Zahl nach unbeschränkte viele Substanzen sind. Für sie nimmt er als Ort etwas anderes an, und zwar etwas, das der Ausdehnung nach unbeschränkt ist. Er benennt diesen Ort mit folgenden Namen: das »Leere« und das »Nichts« und das »Unbeschränkte« […], und jede der Substanzen […] das »Ichts« und das »Feste« und das »Seiende«.219 Atomare Substanz und gehaltlose Leere befinden sich einer Art Wechselspiel von Attraktion und Detraktion, wobei sich die Atome aneinander fügen und so Körper und Ordnungen bestimmen. Aus parmenideischer Warte muss die Einführung des Nichtseienden allerdings ein Widerspruch bleiben. Es stellt sich die Frage, inwieweit sich Seiendes bewegen kann, wenn Sein ist. Die totale Unterschiedlichkeit von Seiendem und Nichtseiendem, die aus formallogischen Gründen akzeptiert werden muss, wird daher von den Atomisten zugunsten der Veränderung und der Vielheit aufgebrochen. Aristoteles benutzt zur Verdeutlichung der atomistischen Modulationshypothesen eine Metapher aus dem Bereich der poetischen Gattungen: »[U]nd es ändere sich durchaus, auch wenn nur wenig zu der Verbindung hinzukäme, und es erscheine überhaupt als etwas völlig anderes, wenn nur eine [Komponente] ihren Platz verändere. Entsteht doch aus denselben Buchstaben […] Tragödie wie Komödie.«220 (DK 67 A 9) Um im Bilde dieser Metapher zu bleiben: Natürlich lassen sich aus verschiedenen Buchstabenkombinationen sowohl Tragödie als auch Komödie bilden. Was jedoch nicht bedacht wird, ist, dass erst die ontologische Wesenheit der jeweiligen Gattung die Komödie und Tragödie als solche sein lässt. Die atomistische 218 Zur Datierung vgl. Rapp, Christof: Vorsokratiker. S. 188-189. 219 Demokrit: Fragmente. In: Die Vorsokratiker II. S. 254-345, hier S. 282-285; DK 68 B 37. Zitation nach dieser Ausgabe. Referenz im Fließtext nach Diels/Kranz. Gr.: »Δημόκριτος ἡγεῖται τὴν τῶν ἀιδίων φύσιν εἶναι μικρὰς οὐσίας τὸ πλῆθος ἀπείρους· ταύταις δὲ τόπον ὐποτίθησιν ἄπειρον τῷ μεγέθει, προσαγορεύει δὲ τὸν μὲν τόπον τοῖσδε τοῖς ὀνόμασι, τῷ τε κενῷ καὶ τῷ οὐδενὶ καὶ τῷ ἀπείρῳ, τῶν δὲ οὐσιῶν ἑκάστην τῷ τε δενὶ καὶ τῷ ὄντι.« 220 Gr.: »καὶ μετακινεῖσθαι μικροῦ ἐμμιγνυμένου καὶ ὅλως ἕτερον φαίνεσθαι ἑνὸς μετακινηθέντος – ἑκ τῶν αὐτῶν γὰρ τραγῳδία καὶ κωμῳδία γίνεται γραμμάτων.«

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Variabilität des Seins kommt aus dieser Perspektive einer reductio ad infinitum gleich, da die kleinsten Teile zwar Seinsanspruch genießen – sie sind »unteilbar und unterschiedslos und ohne Qualität und für Einwirkung unempfänglich« (DK 68 A 57) –, aus ihnen wird indessen kein zusammenhängendes anti‐nihilistisches Sein gefolgert, sondern ein Sein, das Nichtsein benötigt. Gegen diese Annahme werden in Bezug auf die Zeitlichkeit dann plausible Schlüsse gezogen: »Die Ursachen der heutigen Ereignisse hätten keinen Anfang, sondern alles Vergangene und Heutige und Künftige zusammen sei überhaupt seit unendlicher Zeit von vornherein durch die Notwendigkeit bestimmt.«221 (DK 68 A 39) Wenn es keinen Anfang gibt, was sicherlich bei den Entdeckern der Seinsfrage für Zustimmung gesorgt hätte, darf auch das Werden keinen Beginn haben. Das Werden ist aber für die Atomisten eine Tatsache, die aus dem Anfügen und Loslösen der Atome im Leeren resultiert – eine gewissermaßen ›freie‹ Philosophie, die die »Notwenigkeit« im Grunde ad absurdum führt. Blickt man von hier auf die atomistische Theorie der Worte, tritt das kontradiktorische Potenzial deutlich hervor. In mehreren Erklärungsschritten – »[a]us der Gleichnamigkeit«, »[a]us der Vielnamigkeit«, »[a]us der Namensänderung«, »[a]us dem Fehlen des Gleichen«222 (alle DK 68 B 26) – versucht Demokrit, einen Beweis für die rein konventionelle Wortgebung zu konstruieren. »Die Namen verdanken ihr Entstehen dem Zufall, nicht der Natur.«223 (DK 68 B 26) Der für die Entdeckung der Seinsfrage zentrale Begriff der φύσις wird insofern von seinem Wahrheitsgehalt losgelöst, als nun Worte etwas anderes sind als Natur. Darauf ließe sich erwidern: Wenn das Heute wie das Gestern oder das Morgen als φύσις anfangslos sein müssen, die Namen aber ins Werden kamen und zufällig vom Menschen auf das Seiende übertragen wurden und werden, ergibt sich ein ontologisches Gefälle zwischen Sprache und φύσις, in dem das Wort von der Wahrheit entfernt ist. Fragment B 117 geht in diese Richtung: »In Wirklichkeit wissen wir nichts; denn die Wahrheit liegt in dem Abgrund.«224 (DK 68 B 117) Lag bei Heraklit die Weite der Seele in deren Tiefen-λόγος, und korrespondierte diese Tiefe mit der ›Logik‹ des Auftauchens und Verschwinden als φύσις225 , so suspendiert der Demokrit’sche Wissensbegriff sich selbst, da die Wahrheit nicht mehr unmittelbar mit dem Zu-Wissenden zusammenhängt, sondern kryptisch in der »Meerestiefe«226 , wie es das poetische Wort βυθός nahelegt, uneinholbar geborgen ist. 221 Gr.: »μηδεμίαν ἀρχὴν ἔχειν τὰς αἰτίας τῶν νῦν γιγνομένων, ἄωθεν δ' ὅλως ἐξ ἀπείρου χρόνου προκατέχεσθαι τῇ ἀνάγκη πάνθ' ἁπλῶς τὰ γεγονότα καὶ ἐόντα καὶ ἐσόμενα.« 222 Gr.: »ἐκ τῆς ὁμωνυμίας«, »ἐκ τῆς πολυωνυμίας«, »ἐκ τῆς τῶν ὀνομάτων μεταθέσεως«, »ἐκ δὲ τῆς τῶν ὀμοίων ἐλλείψεως«. 223 Gr.: »τύχῃ ἄρα καὶ οὐ φύσει τὰ ὀνόματα.« 224 Gr.: »ἐτεῇ δὲ οὐδὲν ἴδμεν· ἐν βυθῷ γὰρ ἡ ἀλήθεια.« 225 Vgl. S. 45f. 226 Gemoll, Wilhelm: Griechisch‐deutsches Schul- und Handwörterbuch. S. 165.

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Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen

Das Bestreben, ontologisch tragfähiges Wissen einem Delischen Taucher gleich zu entdecken, bleibt somit für die Atomisten ein uneinlösbares Versprechen. Im Frühdialog Kratylos referiert Sokrates bezüglich der Wortgebung daher nicht ohne Grund im Sinne Heraklits: »Als ob nämlich alles ströme und fließe und in Bewegung sei, dahin, sagten wir, deuten uns die Worte das Sein und Wesen der Dinge.«227 (Krat., 436 e) »Das Wesen der Dinge« scheint für Demokrit zum einen im Zusammenspiel der Atome in der Leere des Nichtseins zu liegen, zum anderen fehlt die ontologisch‐hermeneutische Intention, durch Sprache diese Wesenheit fassen zu wollen. Im voranstehenden Passus wurde versucht, die Folgen aus der Entdeckung der Seinsfrage auf Basis der ausgewählten Beispiele Empedokles, Anaxagoras und den Atomisten prägnant nachzuzeichnen. Es konnte flagrant gemacht werden, dass bereits in der direkten Nachfolge der Ionier und Eleaten nicht mehr die Frage nach dem Sein als solchem im Fokus stand, sondern verschiedene Wendungen – insbesondere die Stärkung des Materiellen –, welche die eigentliche Fragestellung verdeckten. Eingedenk dieses philosophiehistorischen Umbruchs soll im Folgenden herausgearbeitet werden, dass Platon einerseits das Fundament der ersten Seinsfrage aufnimmt, andererseits durch die Idealisierung dessen Komplikationen, die im ideenkritischen Dialog Sophistes behandelt und zur Einführung des Nichtseienden führen werden, in das Denken treten, die für Nietzsche und Heidegger bestimmend sein sollten.

227 Gr.: »Ὡς τοῦ παντὸς ἰόντος τε καὶ φερομένου καὶ ῥέοντός φαμεν σημαίνειν ἡμῖν τὴν οὐσίαν τὰ ὀνόματα.«

3 Platons Wiederentdeckung der Seinsfrage als Verdeckung

Betrachtet man Platons Werk unter ontologischen Gesichtspunkten, offenbart sich eine doppelte Seinsmotivik: erstens die Wiederaufnahme der Frage, wie es um das Sein im Ganzen bestellt ist – respektive mit welchen Mitteln das Denken auf dieses Sein zugreifen kann; zweitens die Evolution der Seinsfrage mithilfe der dialektischen ›Technik‹. Dass sich Platons changierende Auseinandersetzung mit dem Sein als ein Vermittlungsversuch zwischen den vorsokratischen Problemfeldern des Materiellen und Geistigen erweist, wird allerdings nicht in jedem Text offensichtlich. Dementsprechend muss für die vorliegende Arbeit eine Textselektion vorgenommen werden. Stimmt man Michael Erlers Chronologie zu und attestiert »bestenfalls eine grobe Dreigliederung in frühe, mittlere und späte Dialoge«1 , bleibt zu zeigen, welche Texte für die Untersuchung fruchtbar sind und ontologischen Gestus besitzen. Nach der Disposition Erlers wären der ersten Gruppe jene Schriften anteilig, die »den Prozess des Sokrates (Apologia Sōktatous, Kritōn)«2 behandeln, weiterhin »die sogenannten Sophistendialoge (z.B. Prōtagoras, Iōn, Hippias I und II, Euthydēmos)«3 sowie »die sogenannten aporetischen […] Definitionsdialoge (z.B. Lachēs, Euthyphrōn, Charmidēs) und Schriften wie Gorgias, Kratylos und Menexenos«4 . Schon hier lässt sich zwar eine weit gefächerte Bandbreite an philosophischem Material erahnen, doch muss die Nähe zum Thema gewahrt bleiben – was etwa gegen eine Analyse der Apologie spricht. Die mittlere Phase steigert dahingegen die ontologische Komplexität, wenn die »›Ideendialoge‹ wie Phaidōn, Politeia, Phaidros, Symposion, aber auch ideenkritische Dialoge wie Parmenidēs und Theaitētos«5 hinzukommen. In Platons spätem Schaffen verschärft sich diese Divergenz; wieder stehen sich in dieser Phase ideenaffirmative Texte wie »Timaios […], Kritias und die Nomoi«6 und ideenkritische Dialoge »wie 1 2 3 4 5 6

Erler, Michael: Kleines Werklexikon Platon. S. 16. Erler, Michael: Kleines Werklexikon Platon. S. 16. Erler, Michael: Kleines Werklexikon Platon. S. 16. Erler, Michael: Kleines Werklexikon Platon. S. 16. Erler, Michael: Kleines Werklexikon Platon. S. 16. Erler, Michael: Kleines Werklexikon Platon. S. 16.

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Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen

Sophistēs, Politikos, Philēbos«7 gegenüber. Hinsichtlich dieses kurzen Abrisses des platonischen Werks kann festgehalten werden, dass der Fokus vor allem auf die mittlere und die späte Phase gerichtet sein sollte. Dies darf nicht bedeuten, dass zentrale Motive – wie der Sprache, der Dichtung oder der Sophistik –, welche auch in den Frühdialogen verhandelt werden8 , außen vor gelassen werden; vielmehr stellen diese Thematiken für die Seinsdebatten in den späteren Dialogen einen Hintergrund dar, der flankierend berücksichtigt werden muss. Ebenso ist die Bewertung vonnöten, dass Platons Texte »Kunstwerke [sind]. Sie gehören der Gattung des Dramas an und enthalten alle ästhetischen Momente, die diese Kunstform auszeichnen: Einheit von Ort und Zeit, handelnde Personen und dramatische Situation […]«9 . Die Struktur der platonischen Argumentation eröffnet deshalb eine kommunikative Situation, die Wissen nicht setzt, sondern prozessual durch den Text entwickelt und nicht um jeden Preis einen befriedigenden Abschluss finden muss – was letztlich als sokratische Aporie bezeichnet wird. Bietet ja gerade der Dialog als literarische Form den wesentlichen Vorteil, multiperspektivisch eine Frage aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und nicht starr eine Lehrmeinung zu postulieren.10 Diese literarische Verfasstheit macht eine Hinzunahme Platons in die Seinsdiskussion zum einen für eine literaturwissenschaftliche Analyse sinnvoll, zum anderen sind es gerade – analog zur metaphorischen und dichterischen Entdeckung der Seinsfrage bei den Vorsokratikern – literarische Elemente, welche Platon die philosophische Überwindung einer einfach materiellen Seinsvorstellung ermöglichen. Eingedenk dieser Vorbemerkungen soll folgend ein erstes ›Fallbeispiel‹ der platonischen Ontologie untersucht werden. Richtet man das Augenmerk auf die wohl erste konstitutive Nennung der sogenannten Ideenlehre11 im Phaidon, der inhaltlich den nahenden Tod Sokratesʼ in den Kontext eines Sterblichkeitsdiskurses bringt, so deutet sich jenes Seinsverständis an, welches für die Entdeckung der Seinsfrage bei den Vorsokratikern 7 Erler, Michael: Kleines Werklexikon Platon. S. 16. 8 Man denke an die Legitimierung der Dichtung aus dem Geiste des Enthusiasmus im Ion oder den Versuch im Kratylos, zwischen konventioneller und naturhafter Sprachgebung zu unterscheiden. 9 Pleger, Wolfgang H.: Platon. S. 10. 10 Ein vorsokratischer ›Vorgänger‹ dieser Formverwendung könnte Epimarchos gewesen sein. Seine zugespitzten und teils ironischen Texte behandeln unter anderem das für die Vorsokratik typische Thema des nichtslosen Anfangs (vgl. Epimarchos: Fragmente. In: Kranz, Walther (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Erster Band. S. 190-210, hier S. 195; DK 23 B 1). 11 Von einer strengen ›Lehre‹ kann im Grunde nicht gesprochen werden. Allein die Tatsache, dass die platonischen Dialoge Wissen nicht setzten, sondern entwickeln, spricht gegen diese Bezeichnung. Da sie sich allerdings in nahezu allen Disziplinen verbreitet hat, soll sie des Weiteren beibehalten werden.

3 Platons Wiederentdeckung der Seinsfrage als Verdeckung

Anaximander, Heraklit und Parmenides ausschlaggebend war: die Frage, wie das Sein im Ganzen deutbar gemacht werden kann. Sollen wir also, so sprach er [Sokrates], zwei Arten der Dinge setzen, sichtbar die eine und die andere unsichtbar? […] Und die unsichtbare als auf immer gleiche Weise sich verhaltend, die sichtbare aber niemals gleich? […] Wohlan denn, sprach er, ist nicht von uns selbst das eine Leib und das andere Seele?12 (Phaidon, 79 a–b) Nun ist bei Platon eine deutliche Wertung anzutreffen, die an parmenideisches Gedankengut mahnt. Wie die Textstelle aufzeigt: δύο εἴδη τῶν ὄντων, »zwei Arten der Dinge«, wie es Schleiermacher übersetzt, sollen das Sein ausmachen. Diese Übertragung bedarf jedoch des Kommentars. »Platon benutzt das Wort EIDOS, das meistens die Idee bezeichnet, oft aber auch die Gattung, die Art. Hier kann es nur die letztere Bedeutung haben. Dann müsste man also übersetzen: zwei Gattungen des Seins, zwei Arten des Seins.«13 Blickt man auf den Gesamttext, ist Gottfried Martin zuzustimmen, nur bleibt die Frage zu klären, wie τῶν ὄντων zu verdeutschen ist. Schleiermacher entscheidet sich zugunsten einer materiell klingenden Übersetzung, wenn τῶν ὄντων mit »der Dinge« ausgedrückt werden soll. Dies ist natürlich nicht falsch, fasst aber kaum die ontologische Tragweite des gegebenen Begriffs. Man könnte vielmehr – analog zum ›Satz‹ des Anaximander – ›seiende Dinge‹ eintragen. Dies muss nicht heißen, dass sich schon der Gegensatz zwischen seiend und nichtseiend ankündigt, wie es im Sophistes der Fall werden wird. Eher könnte der griechische Genitiv Plural im Deutschen mit ›zwei Gattungen des Seienden‹ vereinheitlicht werden. So würde die absolute Unterschiedlichkeit der ontologischen Data gemildert. Lässt sich ja im Schaffen Platons das Bestreben erkennen, gerade die Verbindung zwischen ideellem und materiellem Sein in Methexis aufzubauen. Die Gattungen des Seienden werden indessen klar definiert: Auf der einen Seite steht die Unveränderlichkeit, welche in Kongruenz zu Parmenides als bewegungslos dargestellt wird, allerdings von Platon den Zusatz der Unsichtbarkeit erfährt, auf der anderen das an Heraklit erinnernde bewegte Seiende, welches der Veränderung unterworfen ist. Zur Veranschaulichung führt Platon für die erste Art des Seienden die Metapher der Seele ein, für die zweite die des Körpers. Dabei wird eine Art ›auto‐psychische‹ Funktion proklamiert: Wenn sie [die Seele] aber durch sich selbst betrachtet, dann geht sie zu dem Reinen, immer Seienden, Unsterblichen und sich stets Gleichen, […] und dann hat sie 12 Gr.: »Θῶμεν οὖν βούλει, ἔφη, δύο εἴδη τῶν ὄντων, τὸ μὲν ὁρατόν, τὸ δὲ ἀιδές; […] Καὶ τὸ μὲν ἀιδὲς ἀεὶ κατὰ ταὐτὰ ἔχον, τὸ δὲ ὁρατὸν μηδέποτε κατὰ ταὐτά; […] Φέρε δή, ἦ δ᾽ ὅς, ἄλλο τι ἡμῶν αὐτῶν τὸ μὲν σῶμά ἐστι, τὸ δὲ ψυχή;« 13 Martin, Gottfried: Platons Ideenlehre. S. 37.

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Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen

Ruhe von ihrem Irren und ist auch in Beziehung auf jenes immer sich selbst gleich, […] und diesen Zustand nennt man eben die Vernünftigkeit.14 (Phaidon, 79 d) Eingedenk der parmenideischen Ontologie findet eine Begriffsverknüpfung statt. Es entsteht das für Platon bezeichnende Wortfeld: Seele (ψυχή ) – Reinheit (καθαρό ν) – Immerseiendes (ἀεὶ ὂν) – Immergleiches (ὡσαύ τως ἔχον) – Ruhehalten (πέπαυταί)15 – Vernünftigkeit (φρόνησις). Dies wird ergänzt durch die Bezugnahme auf das Göttliche, welches als Metapher für die Machtverhältnisse zwischen Seelischem und Körperlichem, also auch als Metapher zweiter Stufe für die ontologische Divergenz innerhalb des Seins, eingesetzt wird: »Betrachte es auch von dieser Seite, daß, solange Leib und Seele zusammen sind, die Natur ihm gebietet, zu dienen und sich beherrschen zu lassen, ihr aber, zu herrschen und zu regieren[.]«16 (Phaidon, 79 e – 80 a). Nun tritt eine bemerkenswerte Wendung in die Argumentation: »Leib und Seele« sind temporär vereint, was darauf schließen lässt, dass sie trennbar sind – wobei eine endgültige Separation in der ontologischen Einheitlichkeit der Seele nivelliert wird. In der Zeit ihres Zusammenseins ist ihnen von der φύσις der klare Auftrag erteilt, sich unterzuordnen (Körper), respektive zu herrschen (Seele). Es geht demnach um eine Besinnung auf den seelischen Faktor, welcher jedoch an die Letztinstanz der φύσις rückgekoppelt bleibt. »[…] [W]elches von beiden dünkt dich dem Göttlichen ähnlich zu sein und welches dem Sterblichen? […] Welchem nun gleicht die Seele? – Offenbar, o Sokrates, die Seele dem Göttlichen und der Leib dem Sterblichen.«17 (Phaidon, 80 a) Dieses göttliche Sein genießt als Seele einen privilegierten Wahrheitsanspruch, dessen Zugänglichkeit gleichsam gewährleistet sein muss. Es stellt sich daher von dem im Phaidon aufgeworfenen Problem ausgehend die Frage, wie der ontologische Status sinnlich vernommen werden kann. Dies kann als Kernthema der Ideenlehre Platons bezeichnet werden und soll im Folgenden anhand ausgewählter Textbeispiele anschaulich gemacht werden. Als kritische Referenz soll in diesem Zusammenhang auf Heideggers Analyse des platonischen Wahrheitsbegriffs eingegangen werden. 14 Gr.: »Ὅταν δέ γε αὐτὴ καθ᾽ αὑτὴν σκοπῇ, ἐκεῖσε οἴχεται εἰς τὸ καθαρόν τε καὶ ἀεὶ ὂν καὶ ἀθάνατον καὶ ὡσαύτως ἔχον, […] καὶ πέπαυταί τε τοῦ πλάνου καὶ περὶ ἐκεῖνα ἀεὶ κατὰ ταὐτὰ ὡσαύτως ἔχει […]· καὶ τοῦτο αὐτῆς τὸ πάθημα φρόνησις κέκληται;« 15 Die doppelte Akzentuierung liegt am nachfolgenden enklitischen Partikel τε. 16 Gr.: »Ὅρα δὴ καὶ τῇδε ὅτι ἐπειδὰν ἐν τῷ αὐτῷ ὦσι ψυχὴ καὶ σῶμα, τῷ μὲν δουλεύειν καὶ ἄρχεσθαι ἡ φύσις προστάττει, τῇ δὲ ἄρχειν καὶ δεσπόζειν« 17 Gr.: »[…] πότερόν σοι δοκεῖ ὅμοιον τῷ θείῳ εἶναι καὶ πότερον τῷ θνητῷ; […] Ποτέρῳ οὖν ἡ ψυχὴ ἔοικεν; – Δῆλα δή, ὦ Σώκρατες, ὅτι ἡ μὲν ψυχὴ τῷ θείῳ, τὸ δὲ σῶμα τῷ θνητῷ.«

3 Platons Wiederentdeckung der Seinsfrage als Verdeckung

3.1

Die Sichtbarkeit der Wahrheit des Seins Die Ideen sind das Seiende jedes Seienden. Das, was jede Idee zu einer Idee tauglich macht, platonisch ausgedrückt, die Idee aller Ideen, besteht deshalb darin, das Erscheinen alles Anwesenden in all seiner Sichtsamkeit zu ermöglichen. Das Wesen jeder Idee liegt schon in einem Ermöglichen und Tauglichmachen zum Scheinen, das eine Sicht des Aussehens gewährt.18

Heideggers Rekurs auf den platonischen Wahrheitsbegriff konzentriert sich im Wesentlichen auf die Engführung der Idee als ermöglichende Sichtbarkeit des Seienden.19 Gleicht man dies mit der im Phaidon vorgebrachten Dualität von körperlich‐sichtbarem Seiendem und seelisch‐unsichtbarem Seienden ab, so erstaunt dies auf den ersten Blick. Denn Platon fordert hier ausdrücklich eine Differenzierung zwischen beiden ontologischen Status. Es wirkt, als wolle Heidegger eben diesen Unterschied in seiner Betrachtung Platons Lehre von der Wahrheit neutralisieren, wenn er den platonischen Wahrheitsbegriff nicht aus dem Phaidon ableitet, sondern auf das Höhlengleichnis (Pol., 514 a – 517 a) in der Politeia zu sprechen kommt. Dies hat mehrere Gründe, die auf Heideggers Prätentionen abgestimmt sind: Heidegger versucht, einen Wandel der Wahrheitsauffassung im griechischen Denken von den Vorsokratikern zu Platon nachzuzeichnen und sich somit ontologisch in der Nähe erstgenannter zu positionieren. Die Schwierigkeit einer ausschließlich auf das Höhlengleichnis bezogenen Deutung erkennt Heidegger dabei – obgleich er mögliche Kritik im selben Moment abwehrt: Das »Höhlengleichnis« veranschaulicht nach Platons eindeutiger Aussage das Wesen der Bildung. Dagegen soll die jetzt versuchte Auslegung des »Gleichnisses« auf die platonische »Lehre« von der Wahrheit hinzeigen. Wird so dem »Gleichnis« nicht etwas Fremdes aufgebürdet? Die Auslegung droht in eine gewaltsame Umdeutung auszuarten. Mag dies so scheinen, bis sich die Einsicht gefestigt hat, daß 18 Heidegger, Martin: Platons Lehre von der Wahrheit. S. 30. Folgend wird diese Ausgabe verwendet. Kenntlichmachung durch Sigle (P.L.W.) und Seitenzahl. 19 Es ist erstaunlich, dass sich Heideggers Kritik gerade an der Sichtbarkeit der Idee festmacht. Wird doch in Über den Humanismus, der im Übrigen zusammen mit Platons Lehre von der Wahrheit erschien, von der »Lichtung des Seins« (Heidegger, Martin: Über den Humanismus. S. 15) gesprochen. Die Metapher der Lichtung soll allerdings im Gegensatz zu Platons Ideenlehre auf das Primat des Seins gegenüber dem Seienden hinweisen.

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Platons Denken sich einem Wandel des Wesens der Wahrheit unterwirft, der zum verborgenen Gesetz dessen wird, was der Denker sagt. (P.L.W., S. 20) Es handelt sich um den hermeneutischen Gestus, ein »verborgene[s] Gesetz« hinter dem scheinbar Offensichtlichen auszumachen – was einer literaturphilosophischen Interpretation zupasskommt. Zu Beginn des Gleichnisses, gleichsam als einleitendes ›Vorwort‹, steht die Forderung des Sokrates: »[V]ergleiche dir unsere Natur in bezug auf Bildung und Unbildung folgendem Zustande«20 (Pol., 514 a), worauf das bekannte Gleichnis des gefesselten Menschen folgt, der sich aus den in die Höhle geworfenen Schatten eine für ihn ›wahre‹ Wirklichkeit konstruiert, die sich allerdings in der – forcierten – Rückschau auf das außerhöhlisch‐wahre Seinsgefüge als teilwahr entlarvt. Das Kernthema ist also die Scheidung zweier Wahrheitsebenen, die sich erst nachträglich aus erlangtem Wissen als solche zu erkennen geben. »Eine ontologische Veränderung, der Wechsel in eine andere, transzendente Welt ist nicht gemeint. Der Höhlenbewohner verläßt die Sphäre seiner beschränkten Kenntnis, nicht seine Welt.«21 Daher mag Heidegger Recht behalten, wenn er davon ausgeht, dass das Gleichnis zwar zur Veranschaulichung der menschlichen Bildung dient, aber bezüglich des ontologischen Gehalts tief in das platonische Wahrheitsverständnis reicht. Der Mittelpunkt dieser Wahrheit ist die Metapher der Sonne – ohne ihre Erkenntnisgabe entzöge sich dem Menschen sowohl die Sicht auf die Schatten als auch auf die Dinge. Die Sonne jedoch gilt im »Gleichnis« als das »Bild« für jenes, was alle Ideen sichtig macht. Sie ist das »Bild« für die Idee aller Ideen. Diese heißt nach Platon ἡ τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέα, was man »wörtlich« und doch recht mißverständlich übersetzt mit dem Namen »die Idee des Guten«. (P.L.W., S. 17) Der anabasische Weg des Höhlenmenschen ist aus dieser Perspektive eine visuell‐metaphorische Aufhellung von der Verdunklung des Seienden hin zum reinen Schein des ideellen Seins, welches das Schatten-Sein erst in seiner Möglichkein sein lässt. Das noch im Phaidon als unsichtbar klassifizierte seelische Seiende changiert in der Politeia zum Kriterium des Wissens um das Sein schlechthin. »[U]nd wenn du nun das Hinaufsteigen und die Beschauung der oberen Dinge setzt als den Aufschwung der Seele in die Gegend der Erkenntnis, so wird dir nicht entgehen, was mein Glaube ist, da du dieses zu wissen begehrst«22 (Pol., 517 b), wie es Sokrates ausdrücklich nahelegt. Die Sonne bringt dasjenige zum 20 Gr.: »[…] ἀπείκασον τοιούτῳ πάθει τὴν ἡμετέραν φύσιν παιδείας τε πέρι καὶ ἀπαιδευσίας.« 21 Wallisch, Robert: Die letzte denkbare Einheit: Platons vorsokratische Ontologie. S. 69. 22 Gr.: »τὴν δὲ ἄνω ἀνάβασιν καὶ θέαν τῶν ἄνω τὴν εἰς τὸν νοητὸν τόπον τῆς ψυχῆς ἄνοδον τιθεὶς οὐχ ἁμαρτήσῃ τῆς γ᾽ ἐμῆς ἐλπίδος, ἐπειδὴ ταύτης ἐπιθυμεῖς ἀκούειν.«

3 Platons Wiederentdeckung der Seinsfrage als Verdeckung

Vor-Schein, was weithin in das Seiende hineinragt: das von Heidegger als »mißverständlich« ausgelegte ›Gute‹. [W]as ich wenigstens sehe, das sehe ich so, daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich dafür anerkannt wird, daß sie für alle die Ursache alles Richtigen und Schönen ist, im Sichtbaren das Licht und die Sonne, von der dieses abhängt, erzeugend, im Erkennbaren aber sie allein als Herrscherin der Wahrheit und Vernunft hervorbringend, und daß also diese sehen muß, wer vernünftig handeln will, es sei nun in eigenen oder öffentlichen Angelegenheiten.23 (Pol., 517 b–c) Die Ein-Sicht in ›das Gute‹ korreliert mit einem Seinserkennen ad hoc. Diese Erkenntnis führt zu einer Aitiologie des »Richtigen und Schönen«, welche als vernünftiges Vernehmen (νοῦς) Wahrheit (ἀλήθεια) aus dem herrschenden Ursprung des ›Guten‹ setzt. Platon erzählt hier von einem Erlebnis, das nicht zuletzt ethisch‐politischen Maßstäben dienlich sein soll. Dass Heidegger diesem Zweck der ideell‐moralischen Seinsschau nicht zustimmen kann, erklärt sich aus seiner eigenen Philosophie, die sich in der Rückkehrbewegung zu den Vorsokratikern als ›reines Denken‹ – man könnte sagen: als von Moral ›gereinigtes‹ Denken – ausbedingt. Daher muss er ›das Gute‹ (τὸ ἀγαθόν) gegen Schleiermacher ins Deutsche bringen: »τὸ ἀγαθόν bedeutet, griechisch gedacht, das, was zu etwas tauglich macht.« (P.L.W., S. 29) Heidegger versucht auf diesem Wege, das Griechische ›eigentlicher‹24 ins Deutsche zu übersetzen. Polemisch ausgedrückt: Das Griechische braucht das Deutsche, braucht Heideggers Übertragungen, um sich selbst ›richtig‹ zu verstehen. Dies zeigt sich eindrücklich an Heideggers Interpretation des Höhlengleichnisses, wenn τὸ ἀγαθόν den Anstoß zu einer Kritik an der Philosophiegeschichte gibt: »Diese Deutung [als ›das Gute‹] fällt aus dem griechischen Denken heraus, wenngleich Platons Auslegung des ἀγαθόν als Idee zum Anlaß wird, ›das Gute‹ ›moralisch‹ zu denken und schließlich als einen ›Wert‹ zu verrechnen.« (P.L.W., S. 29) Achtet man auf den Tonfall der Bemerkung, ist eine gewisse ›Schuldzuweisung‹ in Richtung Platon nicht zu leugnen. Diese einfache Schuldzuweisung wandelt sich im Folgenden zu einer doppelten, indem die neuzeitliche Philosophie ins Spiel gebracht wird und 23 Gr.: »τὰ δ᾽ οὖν ἐμοὶ φαινόμενα οὕτω φαίνεται, ἐν τῷ γνωστῷ τελευταία ἡ τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέα καὶ μόγις ὁρᾶσθαι, ὀφθεῖσα δὲ συλλογιστέα εἶναι ὡς ἄρα πᾶσι πάντων αὕτη ὀρθῶν τε καὶ καλῶν αἰτία, ἔν τε ὁρατῷ φῶς καὶ τὸν τούτου κύριον τεκοῦσα, ἔν τε νοητῷ αὐτὴ κυρία ἀλήθειαν καὶ νοῦν παρασχομένη, καὶ ὅτι δεῖ ταύτην ἰδεῖν τὸν μέλλοντα ἐμφρόνως πράξειν ἢ ἰδίᾳ ἢ δημοσίᾳ.« 24 Im Rahmen der Heidegger’schen Tendenz zur ›Vereigentlichung‹ bedenke man Adornos Kritik, welche dies gleichsam als Zug einer ideologischen Überformung des Denkens wertet (vgl. Adorno, Theodor W.: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Band 6. S. 413-526).

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schließlich seltsamerweise Nietzsche als Kulminationspunkt des Abdriftens vom ›echten‹ Wahrheitsbegriff dient: Der im 19. Jahrhundert als innere Folge der neuzeitlichen Auffassung der »Wahrheit« aufkommende Wertgedanke ist der späteste und zugleich schwächste Nachkömmling des ἀγαθόν. Sofern »der Wert« und die Auslegung auf »Werte« die Metaphysik Nietzsches tragen und dies in der Gestalt einer »Umwertung aller Werte«, ist Nietzsche auch, weil ihm jedes Wissen vom metaphysischen Ursprung des »Wertes« abgeht, der zügelloseste Platoniker innerhalb der Geschichte der abendländischen Metaphysik. (P.L.W., S. 29) Nun ist vom Höhlengleichnis ausgehend eine Allianz zwischen Platon und Nietzsche konstruiert, die letzten Endes Heidegger selbst als singulären Diagnostiker der abendländischen (Verfalls-)Philosophie und damit (Verfalls-)Metaphysik hervorhebt. Was Heidegger vergisst, ist seine eigene Verstrickung in die platonische Philosophie, ohne die sein ›Aristotelismus‹ nicht denkbar wäre. Zudem müsste sich Heidegger einen weiteren Vorwurf gefallen lassen, der sich aus Nietzsches späten Bestimmung der Umwertung in Ecce homo ergibt: »Aber meine Wahrheit ist furchtbar: denn man hiess bisher die Lüge Wahrheit. – Umwerthung aller Werthe: das ist meine Formel für den Akt höchster Selbstbestimmung der Menschheit, der in mir Fleisch und Genie geworden ist.«25 Gesetzt den Fall, Nietzsche hätte durch die »Umwerthung aller Werthe« eine Rückkehr vor Platon im Sinn, findet sich eine parallele Entwicklung in Heideggers Revolutionsversuch der abendländischen Philosophie – freilich unter dem Signum, auch Nietzsche überwinden zu wollen. Der gemeinsame negative Horizont ist beiden Denkern Platon, der die Wahrheit des Seins einerseits wie die prominenten Vorsokratiker metaphorisch, andererseits durchaus ethisch‐moralisch ins Licht bringt. Mit Hans Blumenberg: »Der formale Grundriß des Höhlenmythos, auf dem ein Prozeß des menschlichen Sicherfüllens, ja Sich-übersteigens eingezeichnet wird, hat also die Verwurzelung in einer mythischen Urvorstellung und zugleich die Funktion einer absoluten Metapher.«26 Die Heidegger’sche und Nietzsche’sche Arbeit an einer Überwindung der Metaphysik, ist dann immer auch Arbeit an denjenigen Metaphern, durch welche Platon das Sein denkt. In der durch Platon vorgebrachten partiellen Entdeckung der Seinsfrage als sichtbare Idee liegt zugleich die Verdeckung derselben als Verdunklung. Sowohl bei Heidegger als auch bei Nietzsche geht es in der Erkenntnis der platonischen Philosophie darum, das Gegenteil dessen aufzuzeigen, also die eigentliche Lichtung als Verdunklung zu begreifen – wobei gesagt werden muss, dass Platons Werk diese ›Angriffspunkte‹ offensichtlich liefert. 25 Nietzsche, Friedrich: Ecce homo. In: Ders.: KSA, Band 6. S. 255-374, hier S. 365. 26 Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie. S. 113.

3 Platons Wiederentdeckung der Seinsfrage als Verdeckung

Dies liegt vor allem am platonischen Gestus, die Wahrheit des Seienden erkennbar zu machen. »Dies wissen wir zur Genüge, und wenn wir es von noch soviel Seiten betrachten, daß das vollkommene Seiende auch vollkommen erkennbar ist, das auf keine Weise Seiende aber auch ganz und gar unerkennbar.«27 (Pol., 477 a) Das παντελῶς ὂν als das »vollkommene Seiende« unterliegt dementsprechend gewissen Regeln, die einen Abgleich von verschiedenen ontologischen Erkenntnisstufen ermöglichen. »Das höchste Sein ist das Wißbare und für alles andere Grundlage seines Erkanntwerdens; Seinsmächtigkeit ist Basis von Erkennbarkeit«28 , wie Emil Angehrn die referierte Textstelle interpretiert. Diese »Erkennbarkeit« ist bei Platon mit einer Seelenschau verbunden, welche anamnetisch das Als‐wahr-zu-Erkennende vorgibt. Analog zur Auffahrt des Schülers zur Göttin des Rechts bei Parmenides nützt Platon wieder die metaphorische Ebene des Mythos, um die Wahrheit des Seins topographisch und epistemisch vorstellig zu machen. »Den überhimmlischen Ort aber hat noch nie einer von den Dichtern hier besungen, noch wird ihn je einer nach Würden besingen.«29 Der »überhimmlische Ort« markiert einen ontologisch‐anamnetischen Wissensbereich, der, obwohl als Metapher eingeführt, dem Dichter unzugänglich zu sein scheint. Hier offenbart sich einerseits Platons Verhältnis zur Dichtung, welches ihr den Rang abspricht, Wissen zu entbergen30 , andererseits erfolgt die Bestimmung seines Wahrheitsbegriffs in der Beschreibung dieses Ortes: Er ist aber so beschaffen, denn ich muss es wagen, ihn nach seiner Wahrheit zu beschreiben, besonders, da ich von dieser Wahrheit zu reden habe: Das farblose, gestaltlose, stofflose, wahrhaft seiende Wesen, das nur der Seele Führer, die 27 Gr.: »Ἱκανῶς οὖν τοῦτο ἔχομεν, κἂν εἰ πλεοναχῇ σκοποῖμεν, ὅτι τὸ μὲν παντελῶς ὂν παντελῶς γνωστόν, μὴ ὂν δὲ μηδαμῇ πάντῃ ἄγνωστον;« 28 Angehrn, Emil: Der Weg zur Metaphysik: Vorsokratik, Platon, Aristoteles. S. 212. 29 Platon: Phaidros. In: Ders.: Werke in acht Bänden, Band 5. S. 1-193, hier S. 77; 227 a – 279 c, hier 247 c. Alle weiteren Referenzen aus dieser Ausgabe; Nachweis im Fließtext durch StephanusPaginierung und Sigle (Phdr.). Gr.: »Τὸν δὲ ὑπερουράνιον τόπον, οὔτε τις ὕμνησέ πω τῶν τῇδε ποιητὴς οὔτε ποτὲ ὑμνήσει κατ᾽ ἀξίαν.« 30 Heinz Schlaffer geht in seiner äußerst pointierten Schrift Poesie und Wissen detaillierter auf diesen Punkt ein. Prägnant lautet sein einleuchtendes Argument: »Poetisches Wissen war nämlich fragwürdig geworden, seitdem sich ein selbständiges Wissen außerhalb der Poesie gebildet hatte.« (Schlaffer, Heinz: Poesie und Wissen. S. 13) Platon liegt nun an der Nahtstelle dieses Phänomens. Sicherlich sind seine Texte von hohem literarischen Wert; andererseits entscheidet Platons Kritik an der Dichtung zugleich den »alte[n] Streit […] zwischen der Philosophie und der Dichtkunst [παλαιὰ μέν τις διαφορὰ φιλοσοφίᾳ τε καὶ ποιητικῇ]« (Pol., 607 b) zugunsten der Philosophie.

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Vernunft, zum Beschauer hat und um das das Geschlecht der wahrhaften. Wissenschaft ist, nimmt jenen Ort ein.31 (Phdr., 247 c) Es deutet sich ein widersprüchliches, obgleich an den Dialog Phaidon erinnerndes, Szenario an, wenn Sokrates seinem Gesprächspartner Phaidros den »überhimmlischen Ort« skizziert: Die Seele sieht etwas; da sie etwas sieht und natürlich nicht Nichts, erblickt sie eine ontologische Gegebenheit. Genauer: Sie erblickt nicht irgendeine ontologische Begebenheit, sondern dasjenige, was das Seiende sein lässt: das wahre Sein selbst. Diese οὐσία ὄντως οὖσα, das »wahrhaft seiende Wesen«, ist in seiner rein privativen Natur »farblos[e]« (ἀ-χρώματός), »gestaltlos[e]« (ἀ-σχημάτιστος) und »stofflos[e]« (ἀν-αφὴς). Dass es sich zwar um eine Sichtbarmachung handelt, diese jedoch kaum mit rein visuell‐mechanischen Mitteln erreichbar ist, wird klar, wenn man darauf achtet, wer hier sieht: ψυχῆς κυβερνήτῃ μόνῳ θεατὴ νῷ, »nur der Seele Führer, die Vernunft« kann der Wahrheit des Seins ansichtig werden. Die unhaptische Entität des Seins konvergiert also mit Platons Bestreben, die Seele als vernehmendes Medium der Wahrheitsschau stark zu machen. Die Frage, wie es um die innere Struktur des Ortes bestellt ist, beziehungsweise was dort zu sehen ist, beantwortet Platon, indem er die Angefülltheit durch »Wissenschaft« (ἐπιστήμη) postuliert. Durch dieses Vorgehen wird die ἐπιστήμη entmaterialisiert, was nicht davon ablenken sollte, dass von diesem Seh-Erlebnis Wissen um die Wahrheit selbst in die Welt des Materiell-Seienden mitgeführt wird. In diesem Umlauf nun erblicken sie [die Seelen] die Gerechtigkeit selbst, die Besonnenheit und die Wissenschaft, nicht die, welche eine Entstehung hat, noch welche wieder eine andere ist für jedes andere von den Dingen, die wir wirkliche nennen, sondern in dem, was wahrhaft ist, befindliche wahrhafte Wissenschaft. Und so auch von dem anderen erblickt die Seele das wahrhafte Seiende, und wenn sie sich daran erquickt hat, taucht sie wieder in das Innere des Himmels und kehrt nach Hause zurück.32 (Phdr., 247 d–e) Dass es in diesem Kontext um eine ontologische Setzung geht, tritt in Schleiermachers Verdeutschung zwar hervor, das griechische Original lässt indessen keinen Zweifel daran, wenn nicht die entstandene – menschliche – ›Wissenschaft‹ im Zentrum steht, ἀλλὰ τὴν ἐν τῷ ὅ ἐστιν ὂν ὄντως ἐπιστήμην οὖσαν, »sondern die in 31 Gr.: »Ἔχει δὲ ὧδε· τολμητέον γὰρ οὖν τό γε ἀληθὲς εἰπεῖν, ἄλλως τε καὶ περὶ ἀληθείας λέγοντα. Ἡ γὰρ ἀχρώματός τε καὶ ἀσχημάτιστος καὶ ἀναφὴς οὐσία ὄντως οὖσα, ψυχῆς κυβερνήτῃ μόνῳ θεατὴ νῷ, περὶ ἣν τὸ τῆς ἀληθοῦς ἐπιστήμης γένος, τοῦτον ἔχει τὸν τόπον.« 32 Gr.: »Ἐν δὲ τῇ περιόδῳ καθορᾷ μὲν αὐτὴν δικαιοσύνην, καθορᾷ δὲ σωφροσύνην, καθορᾷ δὲ ἐπιστήμην, οὐχ ᾗ γένεσις πρόσεστιν, οὐδ᾽ ἥ ἐστίν που ἑτέρα ἐν ἑτέρῳ οὖσα ὧν ἡμεῖς νῦν ὄντων καλοῦμεν, ἀλλὰ τὴν ἐν τῷ ὅ ἐστιν ὂν ὄντως ἐπιστήμην οὖσαν. Καὶ τἆλλα ὡσαύτως τὰ ὄντα ὄντως θεασαμένη καὶ ἑστιαθεῖσα, δῦσα πάλιν εἰς τὸ εἴσω τοῦ οὐρανοῦ, οἴκαδε ἦλθεν«

3 Platons Wiederentdeckung der Seinsfrage als Verdeckung

dem, was seiend ist, seiende Seins-ἐπιστήμη« (Übers. P. K.). Schleiermacher versucht der repetitiven Häufung der ontologischen Data Rechnung zu tragen, indem er das Attribut »wahrhaft« einfügt. Sicherlich hat Platon eine Kontrastierung von scheinhafter und wahrheitsfähiger ἐπιστήμη im Sinn, diese Gegenüberstellung resultiert aber aus dem ontologischen Gefälle zwischen psychisch vernommenem Sein und trügerischem Seienden, das das Menschsein einerseits beherrscht, andererseits durch Philosophie in Rückschau auf die Wahrheit des Seins sublimiert wird: Denn der Mensch muß nach Gattungen Ausgedrücktes begreifen, welches als eins hervorgeht aus vielen durch den Verstand zusammengefaßten Wahrnehmungen. Und dieses ist die Erinnerung an jenes, was einst unsere Seele gesehen, Gott nachwandelnd und das übersehend, was wir jetzt für das Wirkliche halten, und zu dem wahrhaft Seienden das Haupt emporgerichtet. Daher auch wird mit Recht nur des Philosophen Seele befiedert: Denn sie ist immer mit der Erinnerung soviel wie möglich bei jenen Dingen, bei denen Gott sich befindet und eben deshalb göttlich ist.33 (Phdr., 249 b–c) Die ›Befiederung‹ der Seele funktioniert als Metapher für die platonische Anamnesis-Vorstellung, welche als Erinnerung des wahren Seins im Seienden philosophisch nachwirkt. Wird »das Haupt [des Dichters] mit vieler Salbe begossen und mit Wolle bekränzt«34 (Pol., 398 a) – was nichts daran ändert, dass er letztlich aus der Stadt gejagt wird (vgl. Pol., 398 a–b) –, so symbolisiert die Metapher der Befiederung eine aszendent‐philosophische Bewegung, welche das eine Sein (Wahrheit) durch eine Transferleistung ins divergent‐viele Seiende (sinnliche Wahrnehmung) erinnert. »Dieses Wahre gesehen zu haben[,] ist die Voraussetzung für die Fähigkeit des Menschen, später in der Welt der vielheitlichen Wahrnehmung Einheiten, Ideen, bilden zu können.«35 Eine Präzisierung dieser Struktur trifft Platon hingegen nicht, was auch kaum vonnöten zu sein scheint, da der literarische Charakter der Dialoge ideell‐ontologisches Wissen eben nicht diktiert, sondern zur Debatte stellt. Worauf sich Platon indessen festlegt, ist der Zusammenhang von Philosophie und Göttlichkeit. Wenn die Sichtbarmachung der Wahrheit des Seins exklusiv dem Philosophen vorbehalten ist, eröffnet sich ihm dies ausschließlich, weil er 33 Gr.: »Δεῖ γὰρ ἄνθρωπον συνιέναι κατ᾽ εἶδος λεγόμενον, ἐκ πολλῶν ἰὸν αἰσθήσεων εἰς ἓν λογισμῷ ξυναιρούμενον. Τοῦτο δ᾽ ἐστὶν ἀνάμνησις ἐκείνων ἅ ποτ᾽ εἶδεν ἡμῶν ἡ ψυχὴ, συμπορευθεῖσα θεῷ καὶ ὑπεριδοῦσα ἃ νῦν εἶναί φαμεν καὶ ἀνακύψασα εἰς τὸ ὂν ὄντως. Διὸ δὴ δικαίως μόνη πτεροῦται ἡ τοῦ φιλοσόφου διάνοια· πρὸς γὰρ ἐκείνοις ἀεί ἐστιν μνήμῃ κατὰ δύναμιν, πρὸς οἷσπερ θεὸς ὢν θεῖός ἐστιν.« 34 Gr.: »[…] μύρον κατὰ τῆς κεφαλῆς καταχέαντες καὶ ἐρίῳ στέψαντες […].« 35 Wallisch, Robert: Die letzte denkbare Einheit. S. 35.

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»soviel wie möglich bei jenen Dingen, bei denen Gott sich befindet«, ist. Damit ist eine Bedeutungsverschmelzung von »Besonnenheit« (σωφροσύνη), »Wissenschaft« (ἐπιστήμη), »Gott« (θεός) und Philosophie getroffen, welche in ihrer historischen Tragweite – vor allem in Bezug auf Nietzsches Werk – nicht unterschätzt werden sollte. Die θεωρία, im Sinne einer ontischen ›An-Schauung‹ des Seienden, wird durch dieses Vorgehen zu einer θεορία, im Sinne einer auf Gott gewendeten Betrachtung des wahren Seins selbst. »Das wahrhafte Sein ist als eines gezeichnet, das durch sich selber ist und zugleich als Prinzip seines Anderen fungiert: Die Transzendenz der Idee ist Bedingung ihrer Immanenz, ihrer Begründungsfunktion für das Weltliche.«36 ›Das Gute‹, ›die Besonnenheit‹, ›das Schöne‹ sind aus dieser Perspektive – analog zu Heraklit – metaphorische Zuschreibungen für das Ein‐und-Dasselbe: das ideelle Sein, welches die Auslegung des (philosophischen) Menschen braucht. Vieles Schöne, sprach ich, und vieles Gute, was einzeln so sei, nehmen wir doch an und bestimmen es uns durch Erklärung. Das nehmen wir an. Dann aber auch wieder das Schöne selbst und das Gute selbst und so auch alles, was wir vorher als vieles setzten, setzen wir als eine Idee eines jeden und nennen es jegliches, was es ist. 37 (Pol., 507 b) Im griechischen Text ist das »was es ist« als ›ὃ ἔστιν‹ in Anführungszeichen gesetzt – was auf die Prägnanz des Seinsstatus hindeutet. Um sagen zu können, was etwas ist, demnach einer Sache ihren notwendig‐ontologischen Faktor zuzuschreiben, braucht es nach Platon den λόγος als Instrument der Erklärung. Hierin ist Platon mit Heraklit im Einverständnis, jedoch mit einem wesentlichen Unterschied: Der λόγος bei Heraklit fällt in der Formel ἓν πάντα εἶναί, »dass alles eins ist« (DK 22 B 50), zusammen.38 Auch bei Platon zeigt sich eine Rückübersetzung des Vielen in die Einheit. Letztgenannte ist hingegen nicht autoidentisch, sondern benötigt die gesehene Idee, um als Wahrheit vernommen werden zu können. Diese Idee reduziert sich eben nicht auf das rein Ontologische. Vielmehr wird dem Sein die ideelle Vielheit des ›Guten‹, ›Schönen‹, ›Gerechten‹, ›Epistemischen‹, ›Besonnenen‹ und ›Göttlichen‹ zugemutet. In seinem 1955 gehaltenen Vortrag Was ist das – die Philosophie? erkennt Heidegger diesen Punkt und führt ihn gezielt gegen Platon aus: 36 Angehrn, Emil: Der Weg zur Metaphysik. S. 249. 37 Gr.: »Πολλὰ καλά, ἦν δ᾽ ἐγώ, καὶ πολλὰ ἀγαθὰ καὶ ἕκαστα οὕτως εἶναί φαμέν τε καὶ διορίζομεν τῷ λόγῳ. – Φαμὲν γάρ. – Καὶ αὐτὸ δὴ καλὸν καὶ αὐτὸ ἀγαθόν, καὶ οὕτω περὶ πάντων ἃ τότε ὡς πολλὰ ἐτίθεμεν πάλιν αὖ κατ᾽ ἰδέαν μίαν ἑκάστου ὡς μιᾶς οὔσης τιθέντες, ,ὃ ἔστιν' ἕκαστον προσαγορεύομεν.« 38 Eine vertiefte Analyse dessen findet sich in Kapitel 2.3.2 der vorliegenden Arbeit.

3 Platons Wiederentdeckung der Seinsfrage als Verdeckung

Wir fragen: was ist das …? Dies lautet griechisch: τί ἐστιν. Die Frage, was etwas sei, bleibt jedoch mehrdeutig. Wir können fragen: was ist das dort in der Ferne? Wir erhalten die Antwort: ein Baum. Die Antwort besteht darin, daß wir einem Ding, das wir nicht genau erkennen, seinen Namen geben.39 In der Frage was ist das? spiegelt sich nach Heidegger ebenso eine metakategoriale Frage, die nicht bei der einfachen Nennung des Gegenstands stehen bleibt, sondern auf Problemfelder abzielt, die sich über die erste Frage erheben. So entsteht das Fragen über das Fragen selbst – ein konstitutives Merkmal der Philosophie als Meta-Physik. Wir können jedoch weiter fragen: Was ist das, was wir ›Baum‹ nennen? Mit der jetzt gestellten Frage kommen wir schon in die Nähe des griechischen τί ἐστιν. Es ist diejenige Form des Fragens, die Sokrates, Platon und Aristoteles entfaltet haben. Sie fragen z.B.: Was ist dies – das Schöne? Was ist dies – die Erkenntnis? Was ist dies – die Natur? Was ist dies – die Bewegung? (W.d.P., S. 9) Hier ist erneut ein Verweis auf den herakliteischen λόγος fruchtbar: Indem das Vor-Liegende durch den λόγος zur Aus-Legung wird, eröffnet sich erst die Möglichkeit einer Interpretation des ›Was‹, wie es Platon unternehmen sollte. Für das Seinsdenken ist es daher unabdingbar, »daß zugleich eine Auslegung darüber gegeben wird, was das ›Was‹ bedeutet, in welchem Sinne das τί zu verstehen ist« (W.d.P., S. 9). Die Vorsokratiker um Anaximander, Heraklit und Parmenides tangieren aber die τί-Frage im eigentlichen Sinne nur peripher; vielmehr operieren sie mit einem ontologischen Spannungsverhältnis, welches sich um die Wahrheit des Seins rankt: In der Frage nach der Wahrheit um etwas – sei es materiell oder geistig – befindet sich die nicht reduzierbare Qualität des Seins, welche die Stellung der Frage auf der einen Seite ermöglicht, auf der anderen die Vernehmbarkeit dessen reflektiert. Prägnant formuliert: Im denkenden Sprechen über die Wahrheit des Seins kommt das Sein zur Sprache. Platon hingegen genügt dies nicht, wenn er dem Sein die gesehene Idealität und damit ›das Gute‹, ›das Schöne‹ und so fort zubilligt; dadurch koppelt er die Wahrheit des Seins an einen ontologischen Abgleich mit der Frage nach dem ›Was‹ einer Sache. »So ist z.B. die Philosophie Platons eine eigenartige Interpretation dessen, was das τί meint. Es meint nämlich ἰδέα. Daß wir, wenn wir nach dem τί, nach dem quid [›was‹] fragen, dabei die ›Idea‹ meinen, ist keineswegs selbstverständlich.« (W.d.P., S. 9-10) Platons Denken ausschließlich auf die Ideenlehre zu reduzieren, ist sicherlich als gewagter Vorwurf zu werten – wie zu zeigen sein wird, löst sich Platon ja in den Dialogen Parmenides und vor allem Sophistes von der Affirmation des Ideellen. Was indessen 39 Heidegger, Martin: Was ist das – die Philosophie? S. 9. Im Folgenden durch W.d.P. gekennzeichnet.

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von Belang erscheint, ist die Wendung der Wahrheitsauffassung, die in der platonischen Philosophie nach Heidegger vor sich geht und bis in das heutige Denken hineinreicht. Lionel Pedrique macht dies in seinem Aufsatz Heidegger über Platon: Annäherung und Entfernung deutlich: Heidegger begreift sie [die Frage nach dem ›Was‹] als die Verwandlung dessen, was im τί ἐστιν gefragt wird, vom Fragen nach dem Sein des Seienden zum Fragen nach dem Seienden in seiner Seiendheit. Das »Was« des fragenden τί ἐστιν zielt somit eher auf die Washeit des Gefragten, während die eigentliche Frage nach dem Sein selbst verborgen und vergessen bleibt. Entsprechend dazu wird das ursprüngliche Verhältnis der Wahrheit als ἀλήθεια am Ursprung der Philosophiegeschichte zum Verborgenen der Wahrheit des Seins verdeckt.40 Die vorsokratisch gedachte ἀ-λήθεια, die für Heidegger nach der Kehre als UnVerborgenheit eine wesentliche Rolle spielt, wird von Platon gleichwie auf das Maß des ›Was‹ zurückgebrochen. Um allerdings auf das ›Was‹ einer ontischen Begebenheit rekurrieren zu können, braucht es den Abgleich mit der Idee. Dies bedeutet nichts anderes, als dass die Idee in ihrer Sichtsamkeit ›wahrer‹ ist als die Wahrheit selbst. »Die ἀλήθεια kommt unter das Joch der ἰδέα« (P.L.W., S. 32), wie es Heidegger anhand der Textstelle 517 c der Politeia, in welcher die Idee »als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervorbringend« dargestellt wird, erklärt. Daraus folgt für Heidegger: »›Unverborgenheit‹ meint jetzt das Unverborgene stets als durch die Scheinsamkeit der Idee Zugängliche.« (P.L.W., S. 28) Die Idee übersteigt aus diesem Grund die Wahrheit, welche von den zentralen Vorsokratikern sprachlich in den Kontext ihrer ontologischen Bedeutung gebracht wurde. Natürlich kann auch Platons Idee als subsummierend‐wahrheitsfähige Metapher für die Vielheit des Seienden gelesen werden. Diese Metapher verliert jedoch ihre Absolutheit im Angesicht des umfassenden Seins, weil die Wahrheit des Seins als solche genötigt ist, sich der Idee zu unterwerfen. Zusammenfassend kann daher festgehalten werden, dass paradoxerweise die erste Wiederentdeckung der Seinsfrage bei Platon zu einer parallelen Verdeckung führt. Diese Verdeckung gestaltet sich ferner nicht nur aus der Sichtbarkeit der Idee, sondern zugleich aus dezidiert ontologischen Schlüssen, welche Platon im ideenkritischen Dialog Sophistes berührt. Diesem soll im Folgenden unter Rücksicht auf den sprachlichen Kontext Rechnung getragen werden. 40 Pedrique, Lionel: »Heidegger über Platon: Annäherung und Entfernung.« In: Heidegger und die Griechen. S. 75-92, hier S. 88.

3 Platons Wiederentdeckung der Seinsfrage als Verdeckung

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Sophistes I: Vorbereitung der Fragestellung … δῆλον γὰρ ὡς ὑμεῖς μὲν ταῦτα (τί ποτε βούλεσθε σημαίνειν ὁπόταν ὂν φθέγγησθε) πάλαι γιγνώσκετε, ἡμεῖς δὲ πρὸ τοῦ μὲν ᾠόμεθα, νῦν δ᾽ ἠπορήκαμεν … »Denn offenbar seid ihr doch schon lange mit dem vertraut, was ihr eigentlich meint, wenn ihr den Ausdruck ›seiend‹ gebraucht, wir jedoch glaubten es einst zwar zu verstehen, jetzt aber sind wir in Verlegenheit gekommen«[…]. Haben wir heute eine Antwort auf die Frage nach dem, was wir mit dem Wort »seiend« meinen? Keineswegs. (S.u.Z., S. 1)

Mit diesem leicht veränderten Zitat – im eigentlichen Text steht der durch Klammern gekennzeichnete Einschub vor dem Hauptsatz – aus Platons Sophistes (244 a) lässt Martin Heidegger seinen grundlegenden Text Sein und Zeit beginnen. Warum die Wahl auf diese Referenz fällt, lässt sich möglicherweise aus dem Dialog selbst beantworten. Der Sophistes, ein Text aus dem Spätwerk Platons, thematisiert kritisch die komplexesten Fragen der frühgriechischen Philosophie: nach Bewegung, nach Ruhe, nach dem Seienden und Nichtseienden und nicht zuletzt nach einer ontologisch tragfähigen Bestimmung des Sophisten. Der Dialog greift gewissermaßen die in den ideenaffirmativen Schriften aufgeworfenen Komplexe reaktiv auf, um sie einer Neuuntersuchung zu unterziehen. Ähnlich wie im chronologisch ebenfalls späten Timaios41 führt dabei nicht Sokrates das Gespräch, sondern ein Fremder aus Elea, also jener Stadt, die gemeinhin Parmenides als Herkunftsort zugeschrieben wird. Sokrates, der in gewissem Sinn für den geschulten Leser als Figuration der Ideenlehre fungiert, ist hingegen nicht völlig aus dem Bild gedrängt, wenn man die Einleitung der Gesprächssituation betrachtet. Es handelt sich hier einerseits um eine Anknüpfung an den Vorgängerdialog Theaitetos, andererseits um eine Szene, welche auf die tiefgreifende Skepsis des Sokrates gegenüber des von Theodoros mitgebrachten, namenlosen Denkers schließen lässt. Auch wenn Theodoros betont, »einen Fremdling mit[zuführen], seiner Abkunft nach aus Elea, und ein Freund derer, die sich zum Parmenides und Zenon halten, 41 Vgl. Söder, Joachim: »Zu Platons Werken.« In: Platon-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. S. 19-59, hier S. 22-23.

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einen gar philosophischen Mann«42 (Soph., 216 a), demnach sogleich eine Identitätsbekundigung vorlegt, scheint Sokrates nicht unbedingt überzeugt, ja sieht gleichsam vorwissend in die narrative Situation, in welcher der Fremde letztlich nicht nur die Lehre des Parmenides zu destruieren sucht, sondern damit auch das Konstrukt der Idee als einheitlich Gesehenes abträgt. Aus diesem Vorwissen erstellt Sokrates ein ›Psychogramm‹ des »Fremdlings«: Solltest du etwa, Theodoros, dir unbewußt nicht einen Fremdling, sondern einen Gott mitbringen nach der Rede des Homeros, welcher ja sagt, daß sowohl andere Götter solche Menschen, die an Recht und Scham festhalten, als auch besonders der gastliche, zu geleiten pflegen, um den Übermut und die Frömmigkeit der Menschen zu beschauen: Vielleicht also begleitet dich auf dieselbe Art einer der Höheren, um uns, die wir noch so gering sind im Reden, heimzusuchen und zu überführen, ein überführender Gott?43 (Soph., 216 a–b) Sokrates überhöht den Fremden auf den ersten Blick, wenn er ihn zu einem Gott stilisiert. In dieser Stilisierung liegt auf den zweiten Blick eine unterschwellige Ablehnung. Das griechische Wort ὁ ξένος für »der Fremde« birgt diese Wechselseitigkeit in sich, die in der Etymologie des deutschen Wortes ›Gast‹ und im lateinischen ›hostis‹ – beide Begriffe sind ursprünglich sowohl positiv als auch negativ konnotiert44 – nachschwingt. Die Bedeutung des griechischen Substantivs oszilliert ebenso zwischen »Fremder […], Söldner, Mietsoldat« und eben »Gastfreund«45 . Auch wenn dieser Fremde aus Elea keinen Namen trägt, Sokrates unterstellt ihm jedenfalls skeptisch eine prüfende Funktion. »Sokrates beargwöhnt also gleich anfangs den Fremden, ein elenktischer Gott zu sein, als den er ironisch die Sophisten vorstellig macht […]. Der Sophist erscheint als widerlegender Gott.«46 Mehr noch: Sokrates stuft sich selbst – wenngleich wohl ironisch – rhetorisch unter den Gast ein, indem er ihn im selben Moment als »überführende[n] Gott« (θεὸς ὤν τις ἐλεγκτικός) ausweist. Um jedoch überführt und dadurch elenktisch widerlegt zu werden, muss vor der Widerlegung Wissen, respektive Meinung über das Seiende herrschen. Diese ontologische Meinung kann nun als »Übermut« oder »Frömmigkeit« zur Schau gestellt werden; Sokrates weiß 42 Gr.: »[…] τινὰ ξένον ἄγομεν, τὸ μὲν γένος ἐξ Ἐλέας, ἑταῖρον δὲ τῶν ἀμφὶ Παρμενίδην καὶ Ζήνωνα (ἑταίρων), μάλα δὲ ἄνδρα φιλόσοφον.« 43 Gr.: »Ἇρ᾽ οὖν, ὦ Θεόδωρε, οὐ ξένον ἀλλά τινα θεὸν ἄγων κατὰ τὸν Ὁμήρου λόγον λέληθας; ὅς φησιν ἄλλους τε θεοὺς τοῖς ἀνθρώποις ὁπόσοι μετέχουσιν αἰδοῦς δικαίας, καὶ δὴ καὶ τὸν ξένιον οὐχ ἥκιστα θεὸν συνοπαδὸν γιγνόμενον ὕβρεις τε καὶ εὐνομίας τῶν ἀνθρώπων καθορᾶν. Τάχ᾽ οὖν ἂν καὶ σοί τις οὗτος τῶν κρειττόνων συνέποιτο, φαύλους ἡμᾶς ὄντας ἐν τοῖς λόγοις ἐποψόμενός τε καὶ ἐλέγξων, θεὸς ὤν τις ἐλεγκτικός.« 44 Vgl. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. S. 332. 45 Gemoll, Wilhelm: Griechisch‐deutsches Schul- und Handwörterbuch. S. 528. 46 Iber, Christian: »Kommentar.« In: Platon: Sophistes. S. 179-496, hier S. 215.

3 Platons Wiederentdeckung der Seinsfrage als Verdeckung

voraussehend um die Gefährdung der Gewohnheit im Angesicht des Fremden – es ist eben jene revolutionäre Gefährdung des als wahr geglaubten Seienden, die Heidegger zu Beginn von Sein und Zeit anspricht. Wie diese Neuinterpretation des Seienden von Platon im Namen des Fremden zum Ausdruck gebracht wird, soll im Folgenden herausgearbeitet und mit der vorangegangen Ideenlehre kontrastiert werden. Der Text besitzt mehrere Ebenen, die allerdings von einem Leitgedanken geführt werden: »vom Sophisten zu suchen und durch die Rede aufzuhellen, was er wohl ist.«47 (Soph., 218 b–c) Schleiermacher übersetzt λόγῳ mit »Rede«, was sicherlich seine Berechtigung hat, im Grunde aber nicht eigens betont werden müsste. Vielmehr könnte man ›auflesende Untersuchung‹ eintragen, da dies den prozessual‐hermeneutischen Charakter des Entdeckens von Seinswissen, wie es der Protagonist selbst einfordert (vgl. Soph., 218 c–d), Nachdruck verleihen würde. In einem ersten Schritt wird diese ›Untersuchung‹ durch die Methode des »Angelfischer[s]« (Soph., 218 e) metaphorisiert. In Dihairese werden sieben verschiedene Merkmale des Sophisten – teils aus dem ökonomischen Bereich, teils als Verfechter einer bestimmten ›künstlichen‹ Überredungstechnik (vgl. Soph., 231 d–e) – ausgemacht, eine tragfähige Erklärung des sophistischen Phänomens wird indessen nicht gefunden. Der Anlass hierfür liegt gerade in der Vielgestaltigkeit der sophistischen Anwendungsmöglichkeiten: Der Sophist weiß sich in beinahe allen Themengebieten chimärisch zu bewegen, ja sogar die Hauptdisziplin der Erkenntnis zu unterwandern. Denn »wenn vom Werden und Sein im Allgemeinen gesprochen wird, wissen wir doch, daß sie selbst gewaltig sind im Widersprechen, und daß sie auch die andern tüchtig machen in dem, was sie selbst sind«48 (Soph., 232 c). Die Selbstreferenzialität der Philosophie, die uneigennützige Klärung des Seienden für sein Sein, wird vom Sophisten für seine rhetorischen Zwecke umgedeutet und in einer Übertragungsleistung auf die Schüler-/Hörer-/und interessanterweise Leserschaft (vgl. Soph., 232 d) transferiert. Natürlich liegt der Fremde mit dieser Einstufung selbst – analog zum platonischen Sokrates, der ebenfalls als geschickter Überredungskünstler das Wissen des Gegenübers herausfordert – an der Nahtstelle zum Sophismus. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass die Sophisten »den Schein [erwecken], dessen kundig zu sein, worüber sie sich streiten«49 (Soph., 233 c). Dem Fremden, Sokrates und Platon geht es in der Nachfolge der Vorsokratiker nicht um den kunstmäßigen Schein – zumal dieser als meinungsbestimmt schon von Parmenides entlarvt wurde –, sondern um die 47 Gr.: »[…] νῦν ἀπὸ τοῦ σοφιστοῦ, ζητοῦντι καὶ ἐμφανίζοντι λόγῳ τί ποτ᾽ ἔστι.« 48 Gr.: »[…] ὁπόταν γενέσεώς τε καὶ οὐσίας πέρι κατὰ πάντων λέγηταί τι, σύνισμεν ὡς αὐτοί τε ἀντειπεῖν δεινοὶ τούς τε ἄλλους ὅτι ποιοῦσιν ἅπερ αὐτοὶ δυνατούς;« 49 Gr.: »Δοκοῦσι γὰρ οἶμαι πρὸς ταῦτα ἐπιστημόνως ἔχειν αὐτοὶ πρὸς ἅπερ ἀντιλέγουσιν.«

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Rückübersetzung der Vielheit in die Einheit des Seins. Genauer gesagt: um die Aufdeckung des durch den Schein Verdeckten. Jedoch liegt gerade in diesem Punkt die Problematik der Philosophie Platons begründet: Die Frage nach dem Sein verdeckt sich selbst, indem entweder die gesehene Idee als Wahrheit fungiert oder, wie der Sophistes aufs Deutlichste zeigt, nicht mehr die Idee Maßstab der Erkenntnis ist, sondern das unerlaubte Nichtseiende im Sein verankert wird – eine zwar reizvolle, dennoch nihilistische Kontradiktion, die Heidegger aus Gründen der Todesbestimmtheit des da‐seienden Menschen in Sein und Zeit (vgl. S.u.Z., § 46-53) gelten lässt und in seinem zwei Jahre später gehaltenen Vortrag Was ist Metaphysik? im Rahmen einer Interpretation der Angst aufwerten wird.50 Die vom Sophisten ausgehende Gefahr erschließt sich indessen in der Gemeinsamkeit zur Philosophie: Beide ›Disziplinen‹ entbergen Verhältnisse zu demjenigen, was als seiend angesprochen wird. Ist es dem Philosophen aber um eine Untersuchung des wahren Seienden als solchem bestellt, so wird der Sophist – in seinem Bestreben zu widerlegen, zu überzeugen und zu täuschen – zum Vexierbild dessen, als er augenfällig nicht auf die Wurzel des Seins zurückdenkt, sondern das Seiende so wendet, dass es rhetorischen Zielsetzungen dient. Diese Zielsetzungen bewegen sich im universellen Rahmen des ontischen Scheins, welcher als Nachbildung des Ontologischen fungiert. Hier offenbart sich für Platon die unmittelbare Nähe zwischen Sophistik, Malerei und Dichtung: Von dem nun, welcher verheißt imstande zu sein, durch eine Kunst alles zu machen, wissen wir doch, daß er durch Verfertigung gleichnamiger Nachbildungen des wirklichen vermittelst der Malerkunst imstande sein wird, unnachdenkliche junge Knaben, wenn er ihnen von fern das Gemalte vorzeigt, zu täuschen, als ob er, was er nur machen wollte, vollkommen geschickt wäre, auch wirklich und in der Tat hervorzubringen.51 (Soph., 234 b) Maler, Dichter, Sophist arbeiten nach Platon als mimetische Trickster, die, obgleich sie ontologisch Tragfähiges zu produzieren dünken, das Band zwischen Sein und Vernehmen einerseits künstlich‐künstlerisch dehnen, andererseits die inhärente ›Logik‹ – verstanden als konsistente Auslegung des Vorliegenden – so 50 »Das Nichts ist die Ermöglichung der Offenbarkeit des Seienden als eines sochen für das menschliche Dasein. Das Nichts gibt nicht erst den Gegenbegriff zum Seienden her, sondern gehört ursprünglich zum Wesen selbst. Im Sein des Seienden geschieht das Nichten des Nichts.« (Heidegger, Martin: Was ist Metaphysik? S. 38) Alle weiteren Zitate aus dieser Ausgabe. Kennzeichnung durch Sigle (W.M.). 51 Gr.: »Οὐκοῦν τόν γ᾽ ὑπισχνούμενον δυνατὸν εἶναι μιᾷ τέχνῃ πάντα ποιεῖν γιγνώσκομέν που τοῦτο, ὅτι μιμήματα καὶ ὁμώνυμα τῶν ὄντων ἀπεργαζόμενος τῇ γραφικῇ τέχνῃ δυνατὸς ἔσται τοὺς ἀνοήτους τῶν νέων παίδων, πόρρωθεν τὰ γεγραμμένα ἐπιδεικνύς, λανθάνειν ὡς ὅτιπερ ἂν βουληθῇ δρᾶν, τοῦτο ἱκανώτατος ὢν ἀποτελεῖν ἔργῳ.«

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wenden, dass das Fundament der Wahrheit erodiert wird. Natürlich entkommt der Sophist damit der Logik nicht. Wie sollte er auch, da ja notwendigerweise mit den Mitteln des λόγος argumentiert werden muss, um der Falschheit den An-Schein der Wahrheit zu geben; ebenso ist es für den Maler unmöglich, der ontischen Faktizität des Geschaffenen zu fliehen. Die Heimtücke besteht in beiden Fällen in der mimetischen Abstraktion vom wahren Sein, die in ihrer Duplizierung eine ontische Ebene neben die ontologische stellt. Die Sprache als Verhandlungsort der Wahrheit nimmt somit eine Sonderposition ein, welche unbedingt beachtet werden muss, sofern man nicht am unumstößlichen Paradigma der Onto-Logie vorbeidenken will. Wie nun aber können wir nicht erwarten, daß es auch in Worten eine andere ähnliche Kunst [als die Malerei] gebe, vermöge deren es möglich wäre, Jünglinge und solche, die noch in weiter Ferne stehen, von dem wahren Wesen der Dinge durch die Ohren mit Worten zu bezaubern, indem man gesprochene Schattenbilder von allem vorzeigt, so daß man sie glauben macht, es sei etwas Wahres gesagt und der, welcher es sagt, der Weiseste unter allen in allen Dingen?52 (Soph., 234 c) Platon greift im Sophistes die bekannte Nachahmungskritik aus der Politeia (vgl. Pol., 602 b), die ebenfalls auf die Malerei und zusätzlich auf die Dichtung bezogen wird, auf, verleiht ihr jedoch im weiteren Verlauf eine ontologische Tiefenwirkung. Dies wird aufs Erste nicht unbedingt klar, da die Argumentationsweise in der Politeia sich zu wiederholen scheint, wenn es im Rahmen einer Analyse der Nachbildungskunst um die Unterscheidung zwischen Ebenbildnerei und Trugbildnerei geht (vgl. Soph., 235 a – 236 c). Während erstgenannte in Ähnlichkeitsverhältnissen ontische Analogien hervorbringt (vgl. Soph., 235 d–e), operiert zweitgenannte mit vermeintlichen Ähnlichkeitsverhältnissen, die unter logischen Aspekten den Anspruch auf Ana-Logie verlieren. Wie aber was nur scheint, weil es gerade vom gehörigen Orte aus betrachtet wird, dem Schönen zu gleichen, wenn es aber jemand genau betrachten könnte, dem gar nicht gleichen würde, dem es zu gleichen behauptet, wie wollen wir das nennen? Nicht eben, weil es zu gleichen scheint und doch nicht gleicht, ein Trugbild?53 (Soph., 236 b) 52 Gr.: »Τί δὲ δή; περὶ τοὺς λόγους ἆρ᾽ οὐ προσδοκῶμεν εἶναί τινα ἄλλην τέχνην, ᾗ (π)ου δυνατὸν αὖ τυγχάνει τοὺς νέους καὶ ἔτι πόρρω τῶν πραγμάτων τῆς ἀληθείας ἀφεστῶτας διὰ τῶν ὤτων τοῖς λόγοις γοητεύειν, δεικνύντας εἴδωλα λεγόμενα περὶ πάντων, ὥστε ποιεῖν ἀληθῆ δοκεῖν λέγεσθαι καὶ τὸν λέγοντα δὴ σοφώτατον πάντων ἅπαντ᾽ εἶναι;« 53 Gr.: »Τί δέ; τὸ φαινόμενον μὲν διὰ τὴν οὐκ ἐκ καλοῦ θέαν ἐοικέναι τῷ καλῷ, δύναμιν δὲ εἴ τις λάβοι τὰ τηλικαῦτα ἱκανῶς ὁρᾶν, μηδ᾽ εἰκὸς ᾧ φησιν ἐοικέναι, τί καλοῦμεν; ἆρ᾽ οὐκ, ἐπείπερ φαίνεται μέν, ἔοικε δὲ οὔ, φάντασμα;«

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Hier deutet sich ein bestimmender Faktor an, welcher den in der Politeia aufgemachten Diskurs von der Besinnung auf zur Kritik an der Idee denkt und letztlich den Bruch mit dem vorsokratischen Seinsverständnis vorwegnimmt: Das φάντασμα als »Trugbild« hat auf den ersten Blick den Status des Seienden inne. Allerdings nur auf den ersten Blick. Der zweite, philosophisch fundierte, ermöglicht eine Durchsicht auf das Wesen des Trugbilds, welches paradoxerweise seine ontologische Wesenheit zugunsten des Wahrheitsentzugs aufgegeben zu haben scheint. Im Medium der Sprache offenbart sich dann die absolute Unmöglichkeit: die Teilhabe des Nichtseienden am Sein als Falschheit – eine Problematik, welche die Seinsfrage zur vollkommenen Verdeckung führen wird. Denn dieses Erscheinen und Scheinen ohne zu sein und dies Sagen zwar aber nicht Wahres, alles dies ist immer voll Bedenklichkeiten gewesen schon ehedem und auch jetzt. Denn auf welche Weise man sagen soll, es gebe wirklich ein falsch Reden und Meinen ohne doch schon, indem man es nur ausspricht, auf alle Weise in Widersprüchen befangen zu sein, dies o Theaitetos, ist schwer zu begreifen.54 (Soph., 236 e – 237 a) Der Widerspruch (ἐναντιολογία) zeigt sich nach Platon als trügerisch im Wort dargestelltes Etwas. Daraus ergibt sich eine fundamentale Schwierigkeit, die für eine die Ontologie in den Fokus nehmende Poetologie weitaus interessanter ist als die bloße Abkehr von der Dichtung in der Politeia, welche sich in der Abstraktion vom ideellen Sein begründete: Wenn der sophistische »Zauberer [(γ)όητα]« (Soph., 235 a) den philosophisch geschulten Hörer in die Verlegenheit bringt, eingestehen zu müssen, dass dasjenige, worüber gesprochen wird, einerseits ontisch seiend ist, andererseits zu gleichen Teilen im Schein der Falschheit die Korrelation zum ontologischen Wahrheitsgehalt des Gesagten untergräbt, dann herrscht ein ontisch‐ontologisches Gefälle zwischen Aussage und Inhalt, welches geradezu einlädt, Nichtseiendes im Denken zu berücksichtigen. Dies kann als der von Platon eingesetzte Nihilismus verstanden werden, der die Einheitlichkeit des Seins destruiert. Daher muss Platon den ›Vater‹ der Ontologie, Parmenides, im namenlosen Namen des Fremden aus Elea stürzen, wenn die sophistische Redeweise konsequent als Spiel mit dem Nichtseienden gedacht wird. Diese Rede untersteht sich ja vorauszusetzten, das Nichtseiende sei. Denn sonst gäbe es auf keine Weise Falsches wirklich. Parmenides der Große, aber, o Sohn, hat uns als Kinder von Anfang an und bis zu Ende dieses eingeschärft, indem er immer ungebunden sowohl als in seinen Gedichten so sprach. [Der nächste Satz 54 Gr.: »Τὸ γὰρ φαίνεσθαι τοῦτο καὶ τὸ δοκεῖν, εἶναι δὲ μή, καὶ τὸ λέγειν μὲν ἄττα, ἀληθῆ δὲ μή, πάντα ταῦτά ἐστι μεστὰ ἀπορίας ἀεὶ ἐν τῷ πρόσθεν χρόνῳ καὶ νῦν. ὅπως γὰρ εἰπόντα χρὴ ψευδῆ λέγειν ἢ δοξάζειν ὄντως εἶναι, καὶ τοῦτο φθεγξάμενον ἐναντιολογίᾳ μὴ συνέχεσθαι, παντάπασιν, ὦ Θεαίτητε, χαλεπόν.«

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ist ein direktes Zitat (DK 28 B 7)] Nimmer vermöchtest du ja zu verstehn, sagt er, Nichtseiendes seie sondern von solcherlei Weg halt fern die erforschende Seele. So wird es von ihm bezeugt, vor allem muß es gewiß die Rede selbst zeigen bei gehöriger Prüfung.55 (Soph., 237 a–b) Der hierarchische Rang des Parmenides, in seiner Unangreifbarkeit vermeintlich starr wie das reine Sein, wird im dialogischen Fortschritt de‐sublimiert. Die Gefahr dessen liegt auf der Hand: Mit der Konsistenz der Entdeckung der Seinsfrage bei Parmenides steht und fällt die Ideenlehre selbst, die als ontologische Basis die Bestimmungen des Seins, wie sie im Lehrgedicht dargeboten wurden, metonymisch auf die gesehene Wahrheit verschoben hatte. Es zeigt sich an dieser Stelle des platonischen Werkes eine philosophiehistorische κρίσις, die das revolutionäre Potenzial des Sophistes offenlegt: »Plato steht jetzt vor der Wahl, entweder ein altbewährtes Schuldogma des Parmenides weiterhin mitzumachen: das Nichtseiende ist nicht, also: es gibt keinen ψευδὴς λόγος [keine trügerische Rede][.]«56 Dass Platon diesen Weg nicht beschreiten kann, ist inhärent nachzuvollziehen, müsste ja die Untersuchung des Sophisten schlicht mit der Feststellung abgebrochen werden, das Sein sei und der Sophist sei nichtseiend. »Und dann ist zugegeben, daß es keinen Sophisten gibt, weil es keinen geben kann. Das heißt: sie mit der Anerkennung des Schuldogmas des Parmenides als Philosophen anzuerkennen, sich selbst aber, Plato sich selbst, aufzugeben.« (GA II, 19, S. 411) Für Heidegger scheint dieser Sachverhalt von außerordentlicher Prägnanz zu sein, geht es in seinen Bemühungen freilich ebenfalls darum, in der Rückkehr zu den Anfängen der Metaphysik dieselbe ernst- und aufzunehmen, um sie zu destruieren. »Diese Lage, vor die sich Plato hier selbst stellt – wir können uns kaum mehr eine Vorstellung machen von der ungeheuren Bedeutung des Parmenides im Denken Platos –, diese Situation wiederholt sich auch für uns […].« (GA II, 19, S. 413) Die situative Wiederkehr spiegelt sich in der thematischen 55 Gr.: »Τετόλμηκεν ὁ λόγος οὗτος ὑποθέσθαι τὸ μὴ ὂν εἶναι· ψεῦδος γὰρ οὐκ ἂν ἄλλως ἐγίγνετο ὄν. Παρμενίδης δὲ ὁ μέγας, ὦ παῖ, παισὶν ἡμῖν οὖσιν ἀρχόμενός τε καὶ διὰ τέλους τοῦτο ἀπεμαρτύρατο, πεζῇ τε ὧδε ἑκάστοτε λέγων καὶ μετὰ μέτρων – ,οὐ γὰρ μήποτε τοῦτο δαμῇ, φησίν, εἶναι μὴ ἐόντα·/ἀλλὰ σὺ τῆσδ᾽ ἀφ᾽ ὁδοῦ διζήμενος εἶργε νόημα.' Παρ᾽ ἐκείνου τε οὖν μαρτυρεῖται, καὶ μάλιστά γε δὴ πάντων ὁ λόγος αὐτὸς ἂν δηλώσειε μέτρια βασανισθείς.« 56 Heidegger, Martin: Platon: Sophistes. In: Ders.: GA II. Abteilung, Band 19. S. 411. Im Folgenden wird diese Augabe unter Verwendung der Sigle (GA II, 19) und der Seitenzahl zitiert. Anm.: Man beachte, dass es sich bei Heideggers anspruchsvoller Lektüre des Sophistes um eine Vorlesung aus dem Wintersemester 1924/25 handelt, demnach vor Sein und Zeit und vor der Kehre zu datieren ist. Auch ist nicht zu vernachlässigen, dass Heideggers Vorlesung im Spannungsfeld von Aristoteles zu Platon angesiedelt ist – was verwundert, zumal im Werk Heideggers eher eine aristotelische Gewichtung festzustellen ist (vgl. Figal, Günter: »Scheu vor der Dialektik. Zu Heideggers Platoninterpretation in der Vorlesung über den Sophistes (Winter 1924/25).« In: Heidegger und die Antike. S. 219-235, hier S. 219-220).

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Fragestellung, die von diesem Punkt an den Dialog bestimmt: »Das ist uns doch auch deutlich, daß wir dieses Wort ›Etwas‹ jedesmal von einem Seienden sagen. Denn allein es zu sagen, gleichsam nackt und von allem Seienden entblößt, ist unmöglich.«57 (Soph., 237 d) Damit ist der faktische Tatbestand ausgedrückt, die Seinsbezüglichkeit nicht überholen zu können. Der Sophist aber, indem er das Band zwischen Sprache und Seinsreferenz kappt, »entblößt« das ὄν vom λόγος. Bis zu diesem Abschnitt wurde diese Problematik von Platon vorbereitet. Es konnte ausgemacht werden, dass die gesuchte Wesensbestimmung des Sophisten nur unter der Bedingung des von Parmenides exilierten Nichtseienden zu finden ist. Dies darf als Peripetie des Dialogs gesehen werden und zugleich als Peripetie der frühgriechischen Metaphysik selbst. Im nachfolgenden Passus soll daher textnah diese Bruchstelle des Denkens untersucht werden. Es steht nichts weniger zur Debatte als die Haltbarkeit des Heidegger’schen Mottos: »Rücksichtlosigkeit gegen die Tradition ist Ehrfurcht vor der Vergangenheit […].« (GA II, 19, S. 414)

3.3

Sophistes II: Schritte zur Verschiedenheit Der Vatermord mußte begangen werden; es mußte nämlich gesagt werden, daß sowohl das Nichtsein ist (ἔστιν ἐξ ἀνάνκης τὸ μὴ ὂν, Sophistes, 256 d) als auch, daß das »Sein« nicht ist (τὸ ὂν […] οὐκ ἔστιν, ibid., 259 b): weil das »Sein« in diesen Formeln nicht die Synthese der Bestimmungen und seines »Ist« ist, sondern nur dieses »Ist«, das reine Sein, von dem jede Bestimmung verschieden ist […].58

Diese Kennzeichnung des – im Übrigen im deutschen Sprachraum weithin unterschätzten – italienischen Philosophen Emanuele Severino gibt einen Vorblick in das von Platon aufgemachte Thema: die Absonderung des Seins von seinen Bestimmungen durch den Aufweis der Verschiedenheit. Um diese Abspaltung zu garantieren und somit die Natur des Sophisten aufzudecken, ist es jedoch notwendig – zumal sophistisches Argumentieren nicht in Frage kommt –, anhand philosophisch fundierter Merkmale des Seins das Nichtseiende (»τὸ μὴ ὄν« [Soph., 57 Gr.: »Καὶ τοῦτο ἡμῖν που φανερόν, ὡς καὶ τὸ ,τὶ' τοῦτο ῥῆμα ἐπ᾽ ὄντι λέγομεν ἑκάστοτε· μόνον γὰρ αὐτὸ λέγειν, ὥσπερ γυμνὸν καὶ ἀπηρημωμένον ἀπὸ τῶν ὄντων ἁπάντων, ἀδύνατον« 58 Severino, Emanuele: Vom Wesen des Nihilismus. S. 174.

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238 b]) zu prüfen. Dies vollführt Platon in mehreren Schritten, die sukzessiv Erkenntnis an die Seinsmerkmale rückbinden. Schritt a): Der Zusammenhang zwischen Zahl und Nichtseiendem in der Rede. Dass die platonische Ontologie nur in Auseinandersetzung mit Parmenides ihre Berechtigung findet, wird auch in Bezug auf das Verhältnis zwischen Vielheit und Einheit des Seins klar. Während für Parmenides die Einheit des Seins aus dem Ausschluss des Nichtseienden resultierte59 , verwirrt das zugegebene Nichtseiende, zumal es sagbar ein Etwas ist und zugleich wesentlich nichtseiend sein muss (vgl. Soph., 238 d – 239 a). Die Diffizilität liegt also an der logischen Benennbarkeit eines Zahlenwerts für ein zahlenloses Phänomen. Aus diesem Grund schließt der Fremde die Forderung an seinen Gesprächspartner Theaitetos an: »Komm her, und wacker, wie Jünglinge sind, strenge dich an, was du kannst, und versuche, ohne weder Sein noch Einheit noch Mehrheit der Zahl dem Nichtseienden beizulegen, nach der richtigen Regel etwas davon auszusagen.«60 (Soph., 239 b) Die Schwierigkeit besteht in der Gerichtetheit einer Aussage. Von 237 d bis 238 b wurde bereits festgehalten, dass sich ein Sprechen (λέγειν) immer nach etwas (τί) richtet, was Sein (ὄν) und damit eins (ἕν) ist. Das gilt ironischerweise auch für das μὴ ὄν, da es gesagt werden kann. »Das ›τί‹ λέγειν ist also gar nicht möglich, ohne daß der Sinn des λέγειν selbst, des Überhaupt‐etwas-Sagens, Sein und Eines mitgemeint sind« (GA II, 19, S. 418), wie Heidegger korrekt bemerkt. Er folgert daraus, dass »wenn man über das μὴ ὄν nicht sprechen kann, sofern jedes λέγειν ein λέγειν τί ist, dann kann man überhaupt nicht gegen den Sophisten sprechen, weil man überhaupt nicht über ihn sprechen kann, wenn anders er das faktische Vorhandensein des μὴ ὄν selbst ist« (GA II, 19, S. 421-422). Das Vorhandensein des Sophisten ist allerdings die erste Prämisse, an der sich Platons Denkweg orientieren muss. Deshalb wird vorerst von der zahlmäßigen Bestimmung des Nichtseienden abgesehen, weil das Reden über den Sophisten zu einer Überredung durch das tatsächliche μὴ ὄν werden würde – was, sofern man bei Parmenides bleibt, unmöglich scheint. Der Sophist entzieht sich hier noch der begrifflichen Festsetzung. Es muss zugegeben werden, »daß höchst listigerweise der Sophist in einen höchst schwierigen Ort entschlüpft ist«61 (Soph., 239 c). Somit wird der Ort, an dem sich der Sophist aufhält, von Platon zur Metapher des Nichtseienden. Wie es Jan Szaif feststellt: Dieser »unwegsame«, aporetische Ort ist der Begriff des Nichtseienden, und »verbergen« kann sich der Sophist dort, weil es ein ergiebiger Ausgangspunkt eristi59 Vgl. Kapitel 2.4.2 der vorliegenden Arbeit. 60 Gr.: »Ἴθι ἡμῖν εὖ καὶ γενναίως, ἅτε νέος ὤν, ὅτι μάλιστα δύνασαι συντείνας πειράθητι, μήτε οὐσίαν μήτε τὸ ἓν μήτε πλῆθος ἀριθμοῦ προστιθεὶς τῷ μὴ ὄντι, κατὰ τὸ ὀρθὸν φθέγξασθαί τι περὶ αὐτοῦ.« 61 Gr.: »[…] ὡς παντὸς μᾶλλον πανούργως εἰς ἄπορον ὁ σοφιστὴς τόπον καταδέδυκεν.«

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scher Widerlegungen ist, die es dem Sophisten ermöglichen, sich dem klärenden definitorischen Zugriff […] [zu] entziehen.62 Da eben dieser »definitorische[n] Zugriff« gefunden werden soll, kehrt der Fremde zu sicherem Grund zurück, wenn der Sophist erneut als trügerischer »Bildermacher [εἰδωλοποιὸν]« (Soph., 239 d) klassifiziert wird. Schritt b): Nichtwahrheit und Nichtseiendes im Bild. Konnte das Territorium des Nichtseienden bislang durch die Bestimmungslosigkeiten der Zahllosigkeit, Unvernehmbarkeit, Unaussprechbarkeit und Alogik (vgl. Soph., 238 c) nur scheinbar abgesteckt werden, so besinnt sich der Fremde nun auf das Tun des Sophisten, der das Unzureichende an diesen formalen Nicht-Bestimmungen sofort gegen den Philosophen wenden würde. Also wenn wir behaupten, er besitze eine trugbildnerische Kunst, so wird er uns gar leicht bei diesem Gebrauch der Worte fassen und die Rede zum Gegenteil herumdrehen, indem er uns fragt, wenn wir ihn einen Bildermacher nennen, was wir denn überall unter einem Bilde meinen.63 (Soph., 239 c–d) Der Fremde weiß um die Gefahr, die eine Einstufung als »Bildermacher« bringt, da der Sophist freilich auch mit dieser Erklärung nicht zufrieden wäre, sondern immer weiter den Bestimmungs-Regress vorantriebe. Aus diesem Grund ändert sich innerhalb in dieser Passage das Figurenverhältnis zwischen dem Fremden und Theaitetos: Der Fremde nimmt sich etwas zurück und lässt Theaitetos mehr Raum, um die Verstrickung deutlicher zu machen. In diesem Kontext gelingt es Theaitetos nicht, eine tragfähige Zuschreibung zu finden. Vielmehr wird klar, dass das Bild (εἴδωλον) in seiner Wechselhaftigkeit – zumal es in seinem Zustand als Seiendes zwar auf Sein hindeutet, jedoch eben nicht dieses ›echte‹ Sein ist, sondern nur repräsentiert – einen ontologischen Status haben muss, der seiner allgemeinen, wesenhaften Natur entspricht (vgl., Soph., 239 e – 240 b). Das εἴδωλον verfügt dementsprechend per se über einen anderen Wahrheitsstatus als dasjenige, was es abzubilden vorgibt. »Was sollten wir also anders sagen, daß ein Bild sei, o Fremdling, als das einem wahren ähnlich gemachte andere solche«64 (Soph., 240 a), wie es Theaitetos beschreibt. Aus dieser Perspektive ist das εἴδωλον ein Immer-Anderes, welches sich gegen die Wahrheit der Identität abhebt. Fremder: Ein anderes solches Wahres meinst du, oder worauf ziehst du das solches? Theaitetos: Keineswegs doch ein Wahres, sondern ein Scheinbares gewiß. 62 Szaif, Jan: Platons Begriff der Wahrheit. S. 400. 63 Gr.: »Τοιγαροῦν εἴ τινα φήσομεν αὐτὸν ἔχειν φανταστικὴν τέχνην, ῥᾳδίως ἐκ ταύτης τῆς χρείας τῶν λόγων ἀντιλαμβανόμενος ἡμῶν εἰς τοὐναντίον ἀποστρέψει τοὺς λόγους, ὅταν εἰδωλοποιὸν αὐτὸν καλῶμεν, ἀνερωτῶν τί ποτε τὸ παράπαν εἴδωλον λέγομεν.« 64 Gr.: »Τί δῆτα, ὦ ξένε, εἴδωλον ἂν φαῖμεν εἶναι πλήν γε τὸ πρὸς τἀληθινὸν ἀφωμοιωμένον ἕτερον τοιοῦτον;«

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Fremder: Und meinst du unter dem Wahren das wirklich Seiende? Theaitetos: So meine ich es. Fremder: Und wie? unter dem Nichtwahren also das Gegenteil des Wahren? Theaitetos: Was sonst? Fremder: Also für nichtseiend erklärst du das Scheinbare, wenn du es doch als das Nichtwahre beschreibst.65 (Soph., 240 b) Jetzt ist die totale Wendung gegen die vorsokratische Entdeckung der Seinsfrage vollzogen: Der Schein als »anderes […] Wahres« hält durch seine nichtseiende Immanenz Einzug in die Wahrheit des Seins, welche sich das Nichtseiende ehedem konsequent verboten hatte. Dass dieser nihilistische Gestus philosophische Komplikationen mit sich bringt, leuchtet sowohl Theaitetos als auch dem Fremden unmittelbar ein (vgl. Soph., 240 c). Die noetische ›Schuld‹ sieht der Fremde aber im Wesen des Sophisten begründet: »Und du siehst nun doch, wie durch dieses Schnellwechseln der vielköpfige Sophist uns genötigt hat, dem Nichtseienden wider Willen zuzugestehen, daß es irgendwie sei.«66 (Soph., 240 c) Waren noch bei Parmenides die Menschen als »Doppelköpfige[n] [δίκρανοι]« (DK 28 B 6) Allegorien des Verirrens im Angesicht des reinen Seins, so multipliziert der »vielköpfige Sophist [ὁ πολυκέφαλος σοφιστὴς]« die ontologische Verwirrung soweit, dass das Paradigma der Entdeckung der Seinsfrage zugunsten des Nichtseienden aufgegeben wird. Wenn der Fremde zugesteht, dass das Nichtseiende »irgendwie sei [εἶναί πως]«, so findet sich in dieser Unsicherheit eine gleichzeitige Bestimmung des Nichtseienden als ein Etwas im Sein. »Mit diesem εἶναί πως ist aber […] der bisherige traditionelle Sinn des ὄν im starren Sinn des Parmenides erschüttert.« (GA II, 19, S. 430) Dieser Bruch spiegelt sich erstens prominent in der Verknüpfung zwischen Nichtseiendem und Bildlichkeit, zweitens im sich bedingenden Verhältnis von Falschheit und λόγος. In der faktischen Existenz der Falschaussage (ψευδὴς δόξα) wird das Nichtseiende als irgendwie seiend vorgestellt (vgl. Soph., 240 d – 241 a). Dass dies eine Revision der ontologischen Tradition erfordert, macht der Fremde aus diesem Grund im Folgenden flagrant. Schritt c): Überwindung der ontologischen Tradition. Der radikale Widerspruch von Sein und Nichtsein, wie ihn Parmenides entdeckte, kann unter dem Gesichtspunkt des Irgendwie-Seins des Nichtseienden nicht aufrecht erhalten werden, 65 Gr.: »ΞΕ. Ἕτερον δὲ λέγεις τοιοῦτον ἀληθινόν, ἢ ἐπὶ τίνι τὸ τοιοῦτον εἶπες; ΘΕΑΙ. Οὐδαμῶς ἀληθινόν γε, ἀλλ᾽ ἐοικὸς μέν. ΞΕ. Ἆρα τὸ ἀληθινὸν ὄντως ὂν λέγων; ΘΕΑΙ. Οὕτως. ΞΕ. Τί δέ; τὸ μὴ ἀληθινὸν ἆρ᾽ ἐναντίον ἀληθοῦς; ΘΕΑΙ. Τί μήν; ΞΕ. Οὐκ ὄντως οὐκ ὂν ἄρα λέγεις τὸ ἐοικός, εἴπερ αὐτό γε μὴ ἀληθινὸν ἐρεῖς.« 66 Gr.: »Ὁρᾷς γοῦν ὅτι καὶ νῦν διὰ τῆς ἐπαλλάξεως ταύτης ὁ πολυκέφαλος σοφιστὴς ἠνάγκακεν ἡμᾶς τὸ μὴ ὂν οὐχ ἑκόντας ὁμολογεῖν εἶναί πως.«

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sofern die sprechbare Gültigkeit der Prämisse der ψευδὴς δόξα beibehalten wird. Deshalb zieht Heidegger den Schluss: Das μή ὄν, das als ψεῦδος das Thema einer ψευδὴς δόξα ist, ist nicht das Nichts, sondern ein μή ὄν, das in irgendeinem Sinne ist. Der λόγος als ψευδὴς λόγος oder die δόξα als ψευδὴς δόξα schließt in sich das Sagen bzw. das Ansprechen eines Nichtseienden als seiend oder auch eines Seienden als nicht‐seiend. (GA II, 19, S. 431-432) Im Sprechen des Nichtseienden offenbart sich die vom Sophisten vorgeführte Falschheit. Für Parmenides war diese Falschheit schlicht nicht mit dem reinen Sein zu kombinieren. Sie war Teil eines δόξα-fundierten Glaubens, welcher nicht mit dem wahren νοεῖν vereinbar ist, zumal λόγος, νοεῖν und ὄν in der monistischen Wahrheit zusammenfallen. »Deshalb bildet im Eleatismus nicht der in sich gegliederte Sachverhalt das Korrelat des λόγος, sondern der gleichsam monolithische Gegenstand, der keinerlei innere Differenzierung aufweist […].«67 Platon hingegen wertet diese δόξα in gewisser Hinsicht zu einem tragfähigen Phänomen zugunsten der »Differenzierung« auf – um im selben Moment seinen philosophischen ›Vater‹ zu entmachten. Fremder: Daß du mich nicht für einen ansehest, der seinem Vater Gewalt tut. Theaitetos: Warum das? Fremder: Weil wir den Satz des Parmenides notwendig, wenn wir uns verteidigen wollen, prüfen und erzwingen müssen, daß sowohl das Nichtseiende in gewisser Hinsicht ist, als auch das Seiende irgendwie nicht ist.68 (Soph., 241 d) Natürlich geht es Platon genau darum, seinem Vater den sicheren ›Thron‹ der entdeckten Seinswahrheit streitig zu machen. Dass dies nur unter Zwang – im Griechischen steht nicht grundlos das Wort βιάζεσθαι, welches in seiner medialen Form so viel wie »Gewalt anwenden, erzwingen […][,] Gewalt antun, bezwingen, verdrängen«69 bedeutet – möglich zu sein scheint, widerspricht eher der Heidegger’schen Lesart, die das (A-)Philosophem des Nichtseienden analog zu Platon stärkt. Für die hier versuchte Deutung spricht immanent 242 a: »Darum müssen wir wagen, jenen väterlichen Satz anzugreifen, oder wir müssen die Sache gänzlich unterlassen, wenn uns irgendeine Bedenklichkeit hiervon abhält.«70 (Soph., 242 a) 67 Kolb, Peter: Platons Sophistes. S. 86. 68 Gr.: »ΞΕ. Μή με οἷον πατραλοίαν ὑπολάβῃς γίγνεσθαί τινα. ΘΕΑΙ. Τί δή; ΞΕ. Τὸν τοῦ πατρὸς Παρμενίδου λόγον ἀναγκαῖον ἡμῖν ἀμυνομένοις ἔσται βασανίζειν, καὶ βιάζεσθαι τό τε μὴ ὂν ὡς ἔστι κατά τι καὶ τὸ ὂν αὖ πάλιν ὡς οὐκ ἔστι πῃ.« 69 Gemoll, Wilhelm: Griechisch‐deutsches Schul- und Handwörterbuch. S. 156. 70 Gr.: »Διὰ ταῦτα μέντοι τολμητέον ἐπιτίθεσθαι τῷ πατρικῷ λόγῳ νῦν, ἢ τὸ παράπαν ἐατέον, εἰ τοῦτό τις εἴργει δρᾶν ὄκνος.«

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Um diese Offensive kritisch gegen die Geschichte zu untermauern, greift der Fremde jetzt auf die vorsokratische ›Epoche‹ zurück. Er scheidet dabei drei grundsätzliche Modelle der Seinserklärungen voneinander ab: das der Vielheit (vgl. Soph., 242 c–d), das der Einheit, wie es die Eleaten um Parmenides dachten (vgl. Soph., 242 d), und schließlich diejenigen Philosophien – man halte sich Heraklits ›Ontologie‹ vor Augen –, welche Vielheit und Einheit zusammennahmen (vgl. Soph., 242 e – 243 a). Überzeugend findet der Fremde keines dieser Modelle: »Jeder, scheint es, hat uns sein Geschichtchen erzählt wie Kindern«71 (Soph., 242 c). Es klingt also ein gewisser Ton der Bevormundung durch die Vorgänger Platons an, wenn der Fremde einen Akzent auf seine Andersartigkeit legt, indem er insistiert, »[d]aß sie uns andere allzusehr übersehen und geringschätzig behandelt haben. Denn ohne danach zu fragen, ob wir ihnen folgen in ihren Reden oder zurückbleiben, bringen sie jeder das seinige zu Ende«72 (Soph., 243 a–b). Die mythische Geschichtlichkeit der Philosophie vor Sokrates gehört dementsprechend einer Revision unterzogen, um ein gemeinsames Fundament des Verstehens zu garantieren. Dass dies im Gewande einer dialogischen ›Geschichte‹ vonstattengeht, wendet Platon insofern gegen Parmenides zu seinen Gunsten, als im Sophistes das Seinswesen des Nichtseienden vorgebracht wird. »Damit ist gesagt, daß die Alten, sofern sie vom Sein handelten, über das Seiende etwas erzählten. Was an ihm vorkommt – also gar nicht in die Lage kamen, über des Sein des Seienden etwas auszumachen.« (GA II, 19, S. 441) Um Platons vertieftes ontologisches Programm durchzuführen, ist es allerdings unabdingbar, die Prämissen der Vorgänger zu durchdenken. Was diesbezüglich jedenfalls feststeht, ist der, und somit kehrt Platon erweiternd zu Schritt a) zurück, philosophische Streit um die Einheit und Vielheit des Seins. Man darf bei dieser ›Rückkehr‹ Platons Vorhaben nicht verkennen: Es geht ihm um die Einführung eines neuen ontologischen Paradigmas, welches die Vorsokratiker sowohl begrifflich als auch inhaltlich übertreffen soll. Dies heißt, dass weder die Vielheit – ist ja eine Benennung des Seienden als Zweifaches einerseits ein infiniter Regress, da auch eine Dreiteilung, Vierteilung und so fort möglich wäre73 , andererseits müsste das Geteilte jeweils als ein Seiendes angesprochen werden (vgl. Soph., 243 d – 244 b) – noch die parmenideische Einheit des Seienden für richtig befunden werden darf. Die Widerlegung des Letzteren gestaltet sich freilich weitaus problematischer: Der eleatische Monismus benennt die Einheit. Die Benennung und das eine Sein sind indessen zwei verschiedene 71 Gr.: »Μῦθόν τινα ἕκαστος φαίνεταί μοι διηγεῖσθαι παισὶν ὡς οὖσιν ἡμῖν […].« 72 Gr.: »Ὅτι λίαν τῶν πολλῶν ἡμῶν ὑπεριδόντες ὠλιγώρησαν· οὐδὲν γὰρ φροντίσαντες εἴτ᾽ ἐπακολουθοῦμεν αὐτοῖς λέγουσιν εἴτε ἀπολειπόμεθα, περαίνουσι τὸ σφέτερον αὐτῶν ἕκαστοι.« 73 Im Grunde kann dies als implizite Kritik an Empedokles oder den Atomisten gelesen werden.

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Sachverhalte (vgl. Soph., 243 c). »Denn setzt er zuerst den Namen als ein von der Sache Verschiedenes, so nennt er doch zwei«74 (Soph., 244 d), was im Umkehrschluss bedeuten würde, dass eine Namensgebung für das seiende Ganze zutreffen müsste (vgl. Soph., 244 d). Gerade auf dieser Ganzheit beharrt Parmenides in seinem Lehrtext, wenn er die Kugelform propagiert (vgl. DK 28 B 8). Die vorgebliche Seinsmetapher der Kugel birgt ferner eine Kontradiktion in sich, da die faktische Kugel eine Mitte besitzt, von welcher aus auf ihre Grenze geschlossen werden kann. Mitte und Grenze sind zwar Teile der Ganzheit, jedoch zwei Verschiedenheiten innerhalb der Einheit (vgl. Soph., 244 e – 245 b). Von diesem Punkt aus lässt sich schließen, dass die Einheit noetisch zwar vernommen werden kann, aber ontologisch nur irgendwie den Anspruch hat, Eines zu sein. »Denn wenn das Seiende nur die Eigenschaft hat, auf gewisse Weise eins zu sein: so zeigt es sich ja als nicht dasselbe seiend mit dem Eins, und so wird doch alles mehr sein als eins.«75 (Soph., 245 b) Die daraus resultierende Vagheit lässt allerdings auch das Gegenteil der Ganzheit nicht zu: »Wenn aber dagegen das Seiende nicht, weil ihm nur die Eigenschaft von jenem zukäme, ganz ist, das Ganze selbst aber ist auch, so wird ja das Seiende sich selbst fehlen.«76 (Soph., 245 c) Der aporetische Charakter dieser sich aufhebenden Bestimmungen dient Platon zur Veranschaulichung seiner Ausgangsprämisse: Jedes Philosophieren, das sich auf die Einheit oder Zweiheit reduziert, muss im Fokus einer Behandlung des Nichtseienden fehlschlagen. »Und es wird sich zeigen, wie eben so jedes tausend andern nicht zu beseitigenden Schwierigkeiten ausgesetzt ist für den, welcher sagt, das Seiende sei nur zwei oder eins.«77 (Soph., 245 d–e) Deshalb wird von einer weiteren Erklärung dieser Problematik abgesehen und auf dasjenige Denken eingegangen, welches einen differierenden Zugang zum Ontologischen bietet: das Denken im Spannungsfeld von Materiellem78 und Ideellem. Schritt d): Ontologie zwischen Idee und Materie. Platon greift nun das für die gesamte frühgriechische Philosophie zentrale Thema der Beschaffenheit des Seins auf. Während die eine Seite diesbezüglich behauptet, das Seiende sei körperlich‐materieller Natur, das Sein gleichsam ›verweltlichend‹, fordert die andere Seite eine – man denke an Platons eigene Lehre in den ideenaffirmativen Texten 74 Gr.: »Τιθείς τε τοὔνομα τοῦ πράγματος ἕτερον δύο λέγει πού τινε.« 75 Gr.: »Πεπονθός τε γὰρ τὸ ὂν ἓν εἶναί πως οὐ ταὐτὸν ὂν τῷ ἑνὶ φανεῖται, καὶ πλέονα δὴ τὰ πάντα ἑνὸς ἔσται.« 76 Gr.: »Καὶ μὴν ἐάν γε τὸ ὂν ᾖ μὴ ὅλον διὰ τὸ πεπονθέναι τὸ ὑπ᾽ ἐκείνου πάθος, ᾖ δὲ αὐτὸ τὸ ὅλον, ἐνδεὲς τὸ ὂν ἑαυτοῦ συμβαίνει.« 77 Gr.: »Καὶ τοίνυν ἄλλα μυρία ἀπεράντους ἀπορίας ἕκαστον εἰληφὸς φανεῖται τῷ τὸ ὂν εἴτε δύο τινὲ εἴτε ἓν μόνον εἶναι λέγοντι.« 78 Der Begriff ›Materie‹, im Sinne der aristotelischen ὕλη, ist eigentlich nachplatonisch. Er wird dennoch im Folgenden aus Gründen der Bedeutungsverallgemeinerung beibehalten (vgl. hierzu: Gadamer, Hans-Georg: Der Anfang der Philosophie. S. 89).

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– Abbildstruktur, welche das weltliche, bewegte und trügerische Seiende an das wahre, gesehene und ideelle Sein rückbindet (vgl. Soph., 246 a–c). »Zwischen diesen [beiden Richtungen] scheint mir nun ein wahrer Riesenkrieg zu sein, wegen ihrer Uneinigkeit untereinander über das Sein.«79 (Soph., 246 a) Dieser »Riesenkrieg« (γιγαντομαχία) oszilliert innerhalb der Fragestellung nach dem Sinn von Sein – was Martin Heidegger im Übrigen zu Beginn von Sein und Zeit zu seiner These der Vergessenheit der Seinssinnfrage anhalten wird (vgl. S.u.Z., S. 2). Wie in Schritt c) kontrastiert Platon beide Lager: Die Materialisten schlagen in ihrem Versuch, das Seiende haptisch darzustellen, insofern fehl, als sie zugeben müssen, dass gewisse intelligible Eigenschaften wie »Gerechtigkeit und Vernünftigkeit und die übrige Tugend und so auch die Seele, in welcher dies alles einwohnt«80 (Soph., 247 a–b), trotz ihrer Invisibilität seiend sind. »Ist zugestanden, daß es Seiendes gibt, das weder körperlich noch sinnlich wahrnehmbar ist, dann kann Körperlichkeit und sinnliche Wahrnehmung kein Seinsmerkmal mehr sein.«81 Die spürbare Abfälligkeit, mit der Platon die materialistische Sichtweise verwirft, verwundert mit Blick auf seine ideell geprägte Vergangenheit nicht. Ein Gespräch mit Materialisten wäre aus seiner Perspektive nicht unmittelbar zielführend, da sie »darauf beharren, daß, was sie nicht imstande sind, mit den Händen zu zerdrücken, auch ganz und gar nichts ist«82 (Soph., 247 c). Das Körperliche zur Erklärung des Seienden heranzuziehen, erlaubt nicht einmal im Ansatz die Frage nach dem Sein, da auf einer Ebene des Sinnlichen beharrt wird, die das Noetische – als welches zumal die Seele bei Platon fungiert – außer Acht lässt. Zugespitzt könnte man im Heidegger’schen Tonfall behaupten: Materialisten sehen nur das Ontische, während das Ontologische kaum berücksichtigt wird. Von diesem Standpunkt aus leuchtet der spontane Übergang zur Behandlung der Idealisten ein (vgl. Soph., 248 a). Auch hier gilt es, zunächst das Feld der idealistischen Überlegungen abzustecken; wobei Platon stets im Sinn hat, die eigentliche Fragestellung nach dem Wesen des Nichtseienden und, damit korrespondierend, dem des Sophisten zu vertiefen. Die Bezugnahme auf Idealisten erweitert die Untersuchung dann insofern, als sie ein Themenfeld aufmacht, von dem bislang noch nicht gesprochen wurde: das der Ruhe und Bewegung. 79 Gr.: »Καὶ μὴν ἔοικέ γε ἐν αὐτοῖς οἷον γιγαντομαχία τις εἶναι διὰ τὴν ἀμφισβήτησιν περὶ τῆς οὐσίας πρὸς ἀλλήλους.« 80 Gr.: »[…] δικαιοσύνης καὶ φρονήσεως καὶ τῆς ἄλλης ἀρετῆς καὶ τῶν ἐναντίων, καὶ δὴ καὶ ψυχῆς ἐν ᾗ ταῦτα ἐγγίγνεται […].« 81 Iber, Christian: »Kommentar.« S. 267. 82 Gr.: »[…] διατείνοιντ᾽ ἂν πᾶν ὃ μὴ δυνατοὶ ταῖς χερσὶ συμπιέζειν εἰσίν, ὡς ἄρα τοῦτο οὐδὲν τὸ παράπαν ἐστίν.«

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Fremder: Also das Werden und das Sein nehmt ihr [Idealisten] getrennt voneinander an. Nicht wahr? Theaitetos: Ja. Fremder: Und mit dem Leibe hätten wir durch die Wahrnehmung Gemeinschaft an dem Werden; durch den Gedanken aber mit der Seele an dem wahrhaften Sein, welches, wie ihr sagt, sich immer auf gleiche Weise verhält; das Werden aber immer anders.83 (Soph., 248 a) Platon erläutert im Grunde den alten Streit zwischen immobilem Sein und ontologischer Wandelfähigkeit. Es gelingt ihm aber im Rahmen dessen nicht nur die textimmanente Begrifflichkeit auszuweiten, sondern »etwa aus alter Bekanntschaft«84 (Soph., 248 b) seine eigene Position kritisch zu hinterfragen. Das basale Problem an dieser Einstellung ist die ontologisch‐bewegtbewegende Wirksamkeit des Leidens, welches eindeutig das Sein, sofern es als Erkanntes Gültigkeit beansprucht, beeinflusst. Dieses nämlich, daß, wenn das Erkennen ein Tun ist, so folgt notwendig, daß das Erkannte leidet, daß also nach dieser Erklärung das Sein, welches von der Erkenntnis erkannt wird, wiefern erkannt, insofern auch bewegt wird, vermöge des Leidens, welches doch, wie wir sagen, dem Ruhenden nicht begegnen kann.85 (Soph., 248 d–e) Die zentralen Begriffe in diesem Abschnitt sind: Erkennen (τὸ γιγνώσκειν), Tun (ποιεῖν), das Erkannte (τὸ γιγνωσκόμενον), Leiden (τὸ πάσχειν), das Sein (τὴν οὐσίαν)86 , Bewegtwerden (κινεῖσθαι). Platon verknüpft demnach den Erkenntnisprozess mit einer ontologischen Feststellung: Weil das Erkennen aktiv mit dem Sein im Leiden verwoben ist, wird die erlangte Erkenntnis passiv bewegt. »Sofern die οὐσία erkannte ist und damit angegangen, ist in ihr selbst das Moment der μεταβολή [des Wandels], der κίνησις gegeben.« (GA II, 19, S. 481) Dass die hier proklamierte Erkenntnis etwas mit dem Vernehmen, welches das Erkennen am Sein – man könnte sagen: hermeneutisch – teilhaben lässt, zu tun haben muss, wird insofern deutlich, als der Vernunft die Wesensart zu eigen ist, sich im Erkennen des Zu-Erkennenden zu verändern – wogegen die Idealisten natürlich parmenideisch opponieren würden, wie der Fremde in Frageform vorwegnimmt: »Daß es [das 83 Gr.: »ΞΕ. Γένεσιν, τὴν δὲ οὐσίαν χωρίς που διελόμενοι λέγετε; ἦ γάρ; ΘΕΑΙ. Ναί. ΞΕ. Καὶ σώματι μὲν ἡμᾶς γενέσει δι᾽ αἰσθήσεως κοινωνεῖν, διὰ λογισμοῦ δὲ ψυχῇ πρὸς τὴν ὄντως οὐσίαν, ἣν ἀεὶ κατὰ ταὐτὰ ὡσαύτως ἔχειν φατέ, γένεσιν δὲ ἄλλοτε ἄλλως.« 84 Gr.: »[…] ἴσως διὰ συνήθειαν.« 85 Gr.: »Μανθάνω· τόδε γε, ὡς τὸ γιγνώσκειν εἴπερ ἔσται ποιεῖν τι, τὸ γιγνωσκόμενον ἀναγκαῖον αὖ συμβαίνει πάσχειν. Τὴν οὐσίαν δὴ κατὰ τὸν λόγον τοῦτον γιγνωσκομένην ὑπὸ τῆς γνώσεως, καθ᾽ ὅσον γιγνώσκεται, κατὰ τοσοῦτον κινεῖσθαι διὰ τὸ πάσχειν, ὃ δή φαμεν οὐκ ἂν γενέσθαι περὶ τὸ ἠρεμοῦν.« 86 Hier steht der Akkusativ aufgrund des AcIs.

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wahre Seiende] weder lebe noch denke, sondern der hehren und heiligen Vernunft entbehrend unbeweglich stehe?«87 (Soph., 249 a) Mit der Einführung der »Vernunft«, des νοῦς, appelliert Platon implizit an die von Parmenides thematisierte Einheit von vernehmendem Denken und Sein (vgl. DK 28 B 3). Er verweist somit auf den lebenspraktischen – ob es sich um einen real‐ontologischen handelt, bleibt zu zeigen – Widerspruch, ein monistisches Sein unter der Voraussetzung der Belebtheit der Seele zu fordern. In den Worten Hans-Georg Gadamers: In der Tat ist es für niemanden denkbar, daß das Seiende an sich taub, bewegungslos sei und keinen Nous habe. Das ist nicht die Schlußfolgerung eines Beweises, sondern die Berufung auf eine selbstverständliche Überzeugung: Das, was ist, kann nicht ohne Leben, ohne Bewegung, ohne etwas von der Art des Nous auskommen.88 Wie Gadamer korrekt annimmt, führt Platon keinen direkten »Beweis« vor. Vielmehr appelliert er an die ›natürliche‹ Verflechtung des Lebens mit dem bestimmenden Faktor der Vernunft vor dem Hintergrund des Seins. »Denn es folgt ja, o Theaitetos, daß, wenn alles unbewegt ist, niemand nirgend von nichts könne Verstand haben.«89 (Soph., 249 b) Indem der idealistischen Seinsauslegung die Vernunft abgesprochen wird, führt Platon einen gewichtigen Einwand gegen den starren Monismus aus. Die Erschwernis hieran besteht in der Unleugbarkeit der Ruhe als ein Wesensmerkmal des Seins – ebenso wie an der Bewegtheit als eines derselben. Die Postulate der körperlichen Bewegung sowie der Statik reichen schlicht nicht aus, um das Seiende in seiner ruhenden und kinetischen Natur zu fassen. Zwar hat Platon nun Kontradiktionen gegen beide Lager vorgebracht, eine Lösung der Verwicklung scheint ferner ausgeschlossen. Dem Philosophen bleibt nichts anderes übrig, als sowohl das eine als auch das andere vom Seienden anzunehmen, somit »wie die Kinder zu sagen pflegen, muß er beides von dem Seienden und dem All, daß es unbewegt und daß es bewegt sei, sagen«90 (Soph., 249 b). Das Kind fungiert an dieser Stelle augenscheinlich als Allegorie der Unentschiedenheit. Lässt man diese Aporie der Gleichzeitigkeit von Bewegung und Ruhe zu, bleibt nur ein Ausweg: Das Seiende muss etwas anderes als Kinetik und Statik sein. Daher schließt Theaitetos: »Wir mögen wohl in der Tat das Seiende als ein drittes andeuten, indem wir sagen, daß Bewegung und Ruhe sind«, worauf der Fremde 87 Gr.: »[…] μηδὲ ζῆν αὐτὸ μηδὲ φρονεῖν, ἀλλὰ σεμνὸν καὶ ἅγιον, νοῦν οὐκ ἔχον, ἀκίνητον ἑστὸς εἶναι;« 88 Gadamer, Hans-Georg: Der Anfang der Philosophie. S. 90. 89 Gr.: »Συμβαίνει δ᾽ οὖν, ὦ Θεαίτητε, ἀκινήτων τε ὄντων νοῦν μηδενὶ περὶ μηδενὸς εἶναι μηδαμοῦ.« 90 Gr.: »[…] κατὰ τὴν τῶν παίδων εὐχήν, ὅσα ἀκίνητα καὶ κεκινημένα, τὸ ὄν τε καὶ τὸ πᾶν συναμφότερα λέγειν.«

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antwortet: »Nicht also Bewegung und Ruhe zusammengenommen ist das Seiende, sondern ein von diesen Verschiedenes«91 (beide Soph., 250 c). Jetzt ist freilich offensichtlich, dass beide Bestimmungen nicht von ihrer ontologischen Bedeutung zu trennen sind. Die Aporie ist nach wie vor persistent, was den Fremden dazu verleitet, zur eigentlichen Diskussion zurückzufinden. »Mit Ruhe und Bewegung haben wir also das Sein nicht schon verständlich gemacht, sondern die Schwierigkeit, nach dem Sinn des Seins zu fragen, nur wesentlich erhöht.« (GA II, 19, S. 497) Es tut sich allerdings in dieser »Schwierigkeit« eine strukturelle Parallele zum Leitthema des Sophistes auf: Wurde nach dem Wesen des Sophisten, verortet im dunklen Bereich des Nichtseienden, geforscht, und konnte diese Suche die Ausweglosigkeit entschieden nur verstärken, so ist man in der Frage nach dem Zusammenhang von Seiendem, Ruhe und Bewegung in der gleichen Aporie gelandet. Das reizvolle am Sophistes ist eben dieser kreisende Argumentationsgang, der immer aufs Neue Erkenntnis entbirgt. Wenn Michael Erler ermittelt, dass zur Form des gesamten Textes »ein langer Exkurs (232b–264b) [gehört], der – wie das oft bei Platon geschieht – gleichsam beiläufig Grundlegendes für das diskutierte Problem zur Sprache bringt«92 , kann konstatiert werden, dass gerade dies Exkursorische dem generellen Verständnis, welches nun das Philosophieren zur Gattungsbestimmung überführt, dienlich ist. Schritt e): Gattung (εἴδος/γένος) und Gemeinschaft (κοινωνία). Der genannte ›Nebenstrang‹ bringt Platon erst in die Lage, das Wesentliche in die Erkenntnis seines Protagonisten zu setzen, wenn wieder – analog zu Schritt a) – nach der zahlenmäßigen Ansprechbarkeit des Seienden gefragt wird. Es handelt sich nicht um eine bloße Rekapitulation von a), sondern um eine ausholende Fragebewegung, die eingedenk sämtlicher Schritte einen weiterführenden Wissensstand repräsentiert. Diesen koppelt der Fremde an die sprachliche Möglichkeit, dem Menschen sowohl eine Bestimmung zukommen zu lassen als auch an die ontische Tatsache, dass dieser Mensch eben nicht nur monobestimmt ist, sondern aus verschiedenen Perspektiven polybestimmt werden kann – was eine Kontradiktion bleiben muss, zumal das Eine eins ist und nicht zugleich vieles, vice versa (vgl. Soph., 251 a–c). Die Frage muss dementsprechend lauten, inwiefern scheinbar unverbindbare Pole (Eines/Vieles, Ruhe/Bewegung, Seiendes/Nichtseiendes) Gemeinschaft haben können und ob die daraus resultierende Rede vor dem Hintergrund eines konsistenten Seins Aussagewert hat oder nicht (vgl. Soph., 251 d). Bevor jedoch die anteilnehmende Verbindbarkeit nachvollzogen werden kann, muss gewissermaßen der ›Extremfall‹ einer absoluten Unvereinbarkeit der Be91 Gr.: »ΘΕΑΙ. Κινδυνεύομεν ὡς ἀληθῶς τρίτον ἀπομαντεύεσθαί τι τὸ ὄν, ὅταν κίνησιν καὶ στάσιν εἶναι λέγωμεν. ΞΕ. Οὐκ ἄρα κίνησις καὶ στάσις ἐστὶ συναμφότερον τὸ ὂν ἀλλ᾽ ἕτερον δή τι τούτων.« 92 Erler, Michael: Platon. S. 130.

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stimmungen des Seins geprüft werden – was einer völligen Destruktion des Seins gleichkäme: »Jede Onto-logie fällt in sich zusammen.« (GA II, 19, S. 514) Plötzlich gerät durch diese Annahme alles in Aufruhr, wie es scheint, sowohl bei denen, die das All bewegen, als bei denen, die es als Eins hinstellen, und die den Ideen nach das Seiende als immer auf die gleiche Weise sich verhaltend annehmen. Denn sie alle verknüpfen doch das Sein, indem die einen sagen, es sei wirklich bewegt, die andern, es sei wirklich ruhig.93 (Soph., 252 a) Alle Gegenspieler der bisherigen Philosophiegeschichte müssen zugeben, dass die Seinsbezüglichkeit – sei diese monistischer, dualistischer, kinetischer oder unbewegter Natur – ihres jeweiligen Denkens nicht zu lösen ist, sofern sie sich eingestehen, über die Merkmale des Seins etwas auszusagen. »Sie sind doch überall genötigt, das Sein zu gebrauchen, und das Ohne und das Andere und tausenderlei anderes, dessen sie nicht vermögend sind, sich zu enthalten, daß sie es nicht in ihren Reden verknüpfen […].«94 (Soph., 252 c) Mit Peter Kolb: »Dadurch steht ihr propositionaler Gehalt im Widerspruch zu den Voraussetzungen, aufgrund derer sie als Behauptung möglich ist.«95 Eine ruhende Bewegung, eine bewegte Ruhe, ein gezweites Eins, eine geeinte Zwei vermögen anscheinend nicht den Anspruch zu erfüllen, eine Gemeinschaft einzugehen, wenn sie als Absoluta gedacht werden – ebenso wie eine absolute Kombination, die letztlich in eins setzten würde, was offensichtlich verschieden ist (vgl. Soph., 252 d). Platons grundlegende Prätention wird hinsichtlich dessen greifbar: Es ist ihm um die Auflösung der absoluten Ontologie gelegen – dass hierbei später das Nichtseiende als Verschiedenheit eingeführt wird, liegt unter diesen Umständen schon in dieser Textstelle nahe. Ist eine totale Vermischung respektive Separation nicht im Bereich des Möglichen, hieße dies relativierend, dass »einiges zwar, anderes aber nicht sich vermischen könne«96 (Soph., 252 e). Zur Veranschaulichung greift Platon im Folgenden interessanterweise auf den Bereich des Grammatischen zurück. Natürlich handelt es sich nicht um den einzigen Rekurs auf die Ebene des Sprachlichen im Werk Platons – man denke an den etymologischen Vermittlungsversuch des Sokrates zwischen konventioneller und naturgegebener Lautgebung im Frühdialog Kratylos –, allerdings wird in diesem 93 Gr.: »Ταχὺ δὴ ταύτῃ γε τῇ συνομολογίᾳ πάντα ἀνάστατα γέγονεν, ὡς ἔοικεν, ἅμα τε τῶν τὸ πᾶν κινούντων καὶ τῶν ὡς ἓν ἱστάντων καὶ ὅσοι κατ᾽ εἴδη τὰ ὄντα κατὰ ταὐτὰ ὡσαύτως ἔχοντα εἶναί φασιν ἀεί· πάντες γὰρ οὗτοι τό γε εἶναι προσάπτουσιν, οἱ μὲν ὄντως κινεῖσθαι λέγοντες, οἱ δὲ ὄντως ἑστηκότ᾽ εἶναι.« 94 Gr.: »Τῷ τε ›εἶναί‹ που περὶ πάντα ἀναγκάζονται χρῆσθαι καὶ τῷ ›χωρὶς‹ καὶ τῷ ›τῶν ἄλλων‹ καὶ τῷ ,καθ᾽ αὑτὸ‹ καὶ μυρίοις ἑτέροις, ὧν ἀκρατεῖς ὄντες εἴργεσθαι καὶ μὴ συνάπτειν ἐν τοῖς λόγοις […].« 95 Kolb, Peter: Platons Sophistes. S. 131. 96 Gr.: »[…] ἢ τὰ μὲν ἐθέλειν, τὰ δὲ μὴ συμμείγνυσθαι.«

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Zusammenhang ausgezeichnet das Verhältnis zwischen Seiendem und Verlautung im λόγος exponiert. »In jedem λόγος aber, in jedem λέγειν, ist ein λεγόμενον, ist etwas gesagt. So ist das Gesprochene und in weiterem Sinne die Verlautbarung gleichsam der Repräsentant des Seienden selbst« (GA II, 19, S. 518), wie Heidegger strukturalistisch anmutend kommentiert. Im Zusammensein einer Buchstabenkombination offenbart sich ein hermeneutischer Strang, der ontologisches Wissen im λόγος durchscheinen lässt. »Wenn nun einiges sich hierzu versteht, anderes nicht: so geht es damit fast wie mit dem Buchstaben. Denn auch von diesen lassen sich einige nicht zusammenstellen miteinander, andere einigen sich wohl.«97 (Soph., 252 e – 253 a) Die Konföderation der Buchstaben geschieht nicht zufällig, sondern benötigt ein strukturelles Wesensmerkmal, welches die Verbindbarkeit als solche erst gewährleistet: »Die Selbstlauter aber gehen vorzüglich vor den übrigen wie ein Band durch alle hindurch, so daß es ohne einen von ihnen auch für die anderen nicht möglich ist, daß einer sich mit einem anderen verbinde.«98 (Soph., 253 a) Die Vokale werden von Platon metaphorisiert: Wenn die Selbstlauter als »ein Band [δεσμὸς]« den Zusammenhalt eines Wortes, eines Satzes, einer richtigen Rede garantieren, so verhält sich dies analog zum Sein, welches ebenfalls gewisse wesentliche Eigenschaften besitzt, ohne die ihre ontologische Grundstruktur nicht gegeben wäre. Heidegger sieht dies natürlich ebenfalls; er verwendet zur Illustration dieses Schemas eine weitere, für sein Denken eher untypische Metapher: Sie [die Vokale] sind, in naturwissenschaftlichem Bild, gleichsam KristallisationsKerne, an denen ein Wort als einheitliche Lautgestalt zusammenschießt. Diese φωνήεντα, die Vokale, die in allem das Band sind, sollen andeuten, daß es möglicherweise auch bei den ὄντα solches gibt, was διὰ πάντων κεχώρηκεν, was bei allem Seienden schon da ist. Das sind nichts anderes als die ursprünglichen Bestimmungen des Seins: ὄν [Seiendes], ἕν [Eins], ταὐτόν [Selbes], ἕτερον [Verschiedenes]. (GA II, 19, S. 518) Nun versteht es sich, dass diese basalen Merkmale einerseits in ihrem ontischen Auftreten für den Menschen selbstverständlich sind – was eine grundsätzliche Parallele zu Heideggers (frühem) Vorhaben darstellt, die Allgemeinheit des Seinsbegriffs zu fassen (vgl. S.u.Z., S. 3-4) –, andererseits macht Platon klar, dass eine »Kunst [τέχνης]« (Soph., 253 a) vonnöten ist, um diese Selbstverständlichkeit gegen das sophistische Scheinwissen zu verteidigen. Im Falle der Buchstaben ist diese ›Technik‹ die »Sprachkunde [γραμματικῆς]« (Soph., 253 a), im Falle der um 97 Gr.: »Ὅτε δὴ τὰ μὲν ἐθέλει τοῦτο δρᾶν, τὰ δ᾽ οὔ, σχεδὸν οἷον τὰ γράμματα πεπονθότ᾽ ἂν εἴη. Καὶ γὰρ ἐκείνων τὰ μὲν ἀναρμοστεῖ που πρὸς ἄλληλα, τὰ δὲ συναρμόττει.« 98 Gr.: »Τὰ δέ γε φωνήεντα διαφερόντως τῶν ἄλλων οἷον δεσμὸς διὰ πάντων κεχώρηκεν, ὥστε ἄνευ τινὸς αὐτῶν ἀδύνατον ἁρμόττειν καὶ τῶν ἄλλων ἕτερον ἑτέρῳ.«

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das Sein bemühten Philosophie kann dies nur das »dialektische Geschäft [τό γε διαλεκτικὸν]« (Soph., 253 e) sein. Im schroffen Gegensatz hierzu steht der Sophist, der von Platon erneut kontrastiv gegen den die Dialektik beherrschenden Philosophen positioniert wird (vgl. Soph., 254 a–b). Nach Heidegger hat im Sophistes »[d]ie Dialektik […] die Aufgabe, das Sein des Seienden sichtbar zu machen« (GA II, 19, S. 523), also – ähnlich wie im Phaidon – ontologischer Wahrheit zur An-Schauung zu verhelfen. Es verwischt nun der Kontrast zwischen Philosoph und Sophist, wenn Platon abermals die Metaphern von Dunkelheit und Licht ins Spiel bringt: »Der eine in die Dunkelheit des Nichtseienden entfliehend, mit der er aus unkünstlerischer Übung Bescheid weiß, ist wegen der Dunkelheit des Ortes schwer zu erkennen.«99 (Soph., 254 a) Die Fähigkeit, den Sophisten in das wahre Vernehmen zu rücken, konvergiert in gewisser Weise mit der Belichtung seines nichtseienden ›Versteckes‹. Der Philosoph hingegen, in vernunftmäßigem Verfahren mit der Idee des Seienden stets beschäftigt, ist wiederum wegen der Helligkeit der Gegend keineswegs leicht zu erblicken. Denn die Geistesaugen der meisten sind in das Göttliche hineinzuschauen unvermögend.100 (Soph., 254 a–b) Beide, Sophist und Philosoph, entziehen sich dem Anblick des Betrachters. Während erstgenannter jedoch eine pseudo‐nihilistische Leerstelle aufmacht, die nur der Philosoph zu durchschauen vermag, öffnet zweitgenannter eine Lichtung, auf welcher sich die Wahrheit des Seins für den Dialektiker erkenntlich zeigt. Platons repetitive Nutzung der polaren Metaphern Licht/Dunkel sollte angesichts dessen nicht unterschätzt werden: Nach Platon scheint das Licht der Wahrheit des Seins durch die angewandte Dialektik des Philosophen so weit in die Dunkelheit des Sophisten, dass selbst der undenkbarste Ort – die Lokalität, die im Grunde nicht einmal mehr Seinsanspruch erheben darf: das Nichtseiende – erhellt werden soll. Hans Blumenbergs Rekurs auf die Metapher des Lichts kann diesbezüglich Anwendung finden: Die Lichtmetaphorik ist nicht rückübertragbar; die Analyse richtet sich auf die Erschließung der Fragen, auf die Antwort gesucht und versucht wird, Fragen präsystematischen Charakters, deren Intentionsfülle die Metaphern gleichsam ›provoziert‹ hat. […] Welchen Anteil hat der Mensch am Ganzen der Wahrheit? In welcher Situation befindet sich der Wahrheit Suchende: darf er vertrauen, daß das 99 Gr.: »Ὁ μὲν ἀποδιδράσκων εἰς τὴν τοῦ μὴ ὄντος σκοτεινότητα, τριβῇ προσαπτόμενος αὐτῆς, διὰ τὸ σκοτεινὸν τοῦ τόπου κατανοῆσαι χαλεπός·« 100 Gr.: »Ὁ δέ γε φιλόσοφος, τῇ τοῦ ὄντος ἀεὶ διὰ λογισμῶν προσκείμενος ἰδέᾳ, διὰ τὸ λαμπρὸν αὖ τῆς χώρας οὐδαμῶς εὐπετὴς ὀφθῆναι· τὰ γὰρ τῆς τῶν πολλῶν ψυχῆς ὄμματα καρτερεῖν πρὸς τὸ θεῖον ἀφορῶντα ἀδύνατα.«

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Seiende sich ihm öffnet, oder ist Erkenntnis wesentlich Gewalttat, Überlistung, Abpressung, hochnotpeinliches Verhör des Gegenstandes?101 Für Platons Sophistes mag beides gelten: Indem der absoluten Wahrheit des Seins, wie von Parmenides bekundet, zur Erhellung des faktischen Phänomens des Sophisten Gewalt angetan werden musste, oszilliert die Beantwortung der (Nicht-) Seinsfrage zwischen Entdeckung und Verdeckung. Dies wird vor allem deutlich, wenn der Fremde beginnt, die Gattungsbeziehungen zu präzisieren. Zuerst wird in diesem Kontext rekapituliert: Es gibt fünf Eiden (»Sein, Bewegung, Ruhe, sowie zusätzlich Verschiedenheit und Identität«102 ) (vgl. Soph., 254 d – 255 e), in deren Spannungsfeld die Suche nach dem Nichtseienden anzusiedeln ist. Anhand der Bewegung exerziert Platon dann das basale Relationsproblem, welches auf den ersten Blick kontradiktorisch anmutet: Bewegung ist verschieden von Ruhe; Bewegung ist nicht Identität; Bewegung ist doch Identität, sofern Bewegung Anteil an der Identität hat (vgl. Soph., 255 e – 256 a). Denn wenn wir sagen, sie ist Selbiges und sie ist nicht Selbiges, meinen wir es doch nicht auf die gleiche Art; sondern wenn Selbiges, so sagen wir dies von ihr wegen der Teilnahme des Selbigen, wenn aber nicht Selbiges, dann wegen ihrer Gemeinschaft mit dem Verschiedenen, durch welche von dem Selbigen abgesondert sie nicht jenes, sondern ein Verschiedenes wird, so daß sie auch wiederum richtig nicht Selbiges genannt wird.103 (Soph., 256 a–b) Dies mag paradoxal klingen, ist allerdings vollkommen mit dem im Sophistes entworfenen Duktus des Aufweises der ontologischen Verschiedenheit vereinbar. Jan Szaif folgert deshalb weitsichtig, wenn er auf das widersprüchliche Potenzial der Textstelle eingeht: Wenn es heißt, daß Bewegung dasselbe ist (wie es selbst), dann erfolgt diese Charakterisierung mit Blick auf ihre Partizipation am Eidos Dasselbe (mit Bezug auf sich selbst); und wenn es dagegen heißt, daß sie nicht dasselbe (οὐ ταὐτόν) ist, dann mit Blick darauf, daß sie anderes ist als das Eidos Dasselbe (bzw. in Hinsicht auf Dasselbe am Eidos Anderes teilhat) […].104 101 Blumenberg, Hans: Paradigmen für eine Metaphorologie. S. 19. 102 Söder, Joachim: »Zu Platons Werken.« In: Platon-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. S. 19-60, hier S. 54. 103 Gr.: »Οὐ γὰρ ὅταν εἴπωμεν αὐτὴν ταὐτὸν καὶ μὴ ταὐτόν, ὁμοίως εἰρήκαμεν, ἀλλ᾽ ὁπόταν μὲν ταὐτόν, διὰ τὴν μέθεξιν ταὐτοῦ πρὸς ἑαυτὴν οὕτω λέγομεν, ὅταν δὲ μὴ ταὐτόν, διὰ τὴν κοινωνίαν αὖ θατέρου, δι᾽ ἣν ἀποχωριζομένη ταὐτοῦ γέγονεν οὐκ ἐκεῖνο ἀλλ᾽ ἕτερον, ὥστε ὀρθῶς αὖ λέγεται πάλιν οὐ ταὐτόν.« 104 Szaif, Jan: Platons Begriff der Wahrheit. S. 430.

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Um diese Komplikation zu veranschaulichen, könnte man im Grunde vereinfachend subsummieren: Insofern sich die Bewegung manches Mal als Dasselbe zeigt, hat sie Gemeinschaft mit der Gattung des Dasselben; insofern sie nicht am Dasselben partizipiert, hat sie deshalb keinen Anteil am Dasselben, weil sie von der Warte des Dasselben aus mit der Gattung des Anderen konvergiert. Der revolutionäre Gehalt dieses Gedankens – ob tragbar oder nicht, bleibt zu hinterfragen – wird vollends deutlich, wenn Platon seine Figur des Fremden in die Lage bringt, konsequent die Verbindung der Bewegung am Eidos des Seienden zu explizieren. Diese Explikation funktioniert analog zu der vorangegangenen: »Also ist ja ganz deutlich die Bewegung wesentlich nicht das Seiende, doch seiend, inwiefern sie am Seienden Anteil hat.«105 (Soph., 256 d) Hält man sich Platons Zielsetzung des Aufbruchs ontologischer Absoluta vor Augen, konfligiert diese Annahme nicht mit einer Seinsvorstellung, die von einem relativen Standpunkt Nichtseiendes als seiend fasst. Im Sophistes will Platon eindeutig darauf hinaus, daß Nichtsein allgemein wie auch alle spezifischen Formen des Nichtseins grundsätzlich Weisen des Seins sind. D.h. er will gerade die ontologische Berechtigung dieser Ausdrucksweise, die es uns ermöglicht, von »nichtseiend sein« zu sprechen, darlegen.106 Wendet man nun den Fokus auf die Verschiedenheit, kommt gerade dieser eine zentrale Position zu. »Denn von allen [Eiden] gilt, daß die Natur des Verschiedenen, welche sie verschieden macht von dem Seienden, jedes zu einem Nichtseienden macht«107 (Soph., 256 d–e), dementsprechend Verschiedenheit als dasjenige geführt wird, was den ontologischen Status des Nichtseienden seiend sein lässt. »[U]nd alles insgesamt können wir also gleichermaßen auf diese Weise mit recht nicht seiend nennen, und auch wiederum seiend, und sagen, daß es sei, weil es Anteil hat am Seienden.«108 (Soph., 256 e) Die »Natur des Verschiedenen [ἡ θατέρου φύσις]« partizipiert aus dieser Perspektive am Wesen des Seins, welches auch durch Sprache gefasst werden kann. »An jedem Begriff also ist viel Seiendes, unzählig viel aber Nichtseiendes.«109 (Soph., 256 e) Schleiermacher übersetzt hier τῶν εἰδῶν mit »Begriff« und ἄπειρον mit »unzählig«, was zu Verständnisschwierigkeiten führen könnte. Man dürfte wohl auch verdeutschen: »An jedem einzelnen der Eiden ist das Seiende viel, der Anzahl nach unbeschränkt aber das Nichtseiende.« (Übers. P. K.) Freilich geht es Platon um den Aufweis der sprachlichen Komponente des Nichtseienden – wie könnte sonst der Sophist 105 106 107 108

Gr.: »Οὐκοῦν δὴ σαφῶς ἡ κίνησις ὄντως οὐκ ὄν ἐστι καὶ ὄν, ἐπείπερ τοῦ ὄντος μετέχει;« Szaif, Jan: Platons Begriff der Wahrheit. S. 427. Gr.: »Κατὰ πάντα γὰρ ἡ θατέρου φύσις ἕτερον ἀπεργαζομένη τοῦ ὄντος ἕκαστον οὐκ ὂν ποιεῖ[.]« Gr.: »[…] καὶ σύμπαντα δὴ κατὰ ταὐτὰ οὕτως οὐκ ὄντα ὀρθῶς ἐροῦμεν, καὶ πάλιν, ὅτι μετέχει τοῦ ὄντος, εἶναί τε καὶ ὄντα.« 109 Gr.: »Περὶ ἕκαστον ἄρα τῶν εἰδῶν πολὺ μέν ἐστι τὸ ὄν, ἄπειρον δὲ πλήθει τὸ μὴ ὄν.«

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gefunden werden, welcher sich in seinen Ausführungen Sprache zu seinen Zwecken verdreht. Allerdings sind die Gattungen in ihrer sprachlichen Bestimmbarkeit wesentlich davon abhängig, dass etwas ist, respektive nicht ist. Dies führt den Fremden zur abschließenden Feststellung einer ontologischen Rechtfertigung des Nichtseienden als Verschiedenheit. Im Folgenden sollen diese Legitimation und deren ontologische Begründung unter Berücksichtigung ihrer Prämissen herausgearbeitet werden, um letztlich eine Bewertung des platonischen ›Nihilismus‹ zu gewährleisten.

3.4

Sophistes III: Das Nichtseiende (τὸ μὴ ὂν) und Verschiedenheit (ἕτερον)

Nach der Illustration des Zusammenhangs von Gattungen und Nichtseiendem tut sich ein Wandel in der Argumentation auf: Wurde anfangs das Verschiedensein als ein »ist nicht« im Sinne von »… ist nicht identisch mit …« eingeführt, so geht hier das Nichtseiende als Resultat eines bestimmten Falls des Verschiedenseins hervor, nämlich aus dem Verschiedensein vom Seienden. Es wird als das Verschiedene vom Seienden aufgewiesen.110 Die faktische Existenz der Verschiedenheit wird nicht mehr an die Idee der Identität gekoppelt, wie es für das Sein der Idee in den ideenaffirmativen Texten vormals redundant gegolten hatte. Vielmehr ist von einem Dasein der Verschiedenheit für die Gattungen die Rede. Heidegger schließt daraus: »Was eigentlich gezeigt werden soll, ist, daß das ἕτερον, das Anderssein, in jedem der möglichen εἴδη da ist, daß es mit ihnen präsent sein kann, d.h. eine κοινωνία mit allen hat.« (GA II, 19, S. 557) Dies kann nur gültig sein, wenn Nichtseiendes als etwas gedacht wird und nicht wie bei Parmenides die totale Negation des Seins darstellt. Deshalb wiederholt der Fremde: »Wenn wir Nichtseiendes sagen, so meinen wir nicht, wie es scheint, ein Entgegengesetztes des Seienden, sondern nur ein Verschiedenes.«111 (Soph., 257 b) Die zu unterscheidenden Begriffe sind »Entgegengesetztes [ἐναντίον]« und »Verschiedenes [ἕτερον]«. Während erstgenanntes keinen ontologischen Status besitzen kann – was für die parmenideische Philosophie äußerst problematisch zu sein scheint –, ist zweitgenanntes für Platon indessen eine tragfähige Lösung der Schwierigkeit, wie es dem Sophisten gelingen konnte, Falsches als wahr zu deklarieren. Dies wird sprachlich besonders im Fall der Verneinung (ἀπόφασις) offenbar. Sie ist es, die das Nichtseiende in den Vollzug einer Rede bringt. 110 Iber, Christian: »Kommentar.« S. 308. 111 Gr.: »Ὁπόταν τὸ μὴ ὂν λέγωμεν, ὡς ἔοικεν, οὐκ ἐναντίον τι λέγομεν τοῦ ὄντος ἀλλ᾽ ἕτερον μόνον.«

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Wir wollen also nicht zugeben, wenn eine Verneinung gebraucht wird, daß dann das Entgegengesetzte angedeutet werde, sondern nur so viel, daß das vorgesetzte Nicht etwas von den darauffolgenden Wörtern oder vielmehr von den Dingen, deren Namen das nach der Verneinung Ausgesprochene ist, Verschiedenes andeute.112 (Soph., 257 b–c) Hieraus resultiert eine Lehre des Maßes. Ist das Nichtseiende nicht das schiere Gegenteil einer Gattung – als Beispiele gibt der Fremde nicht ohne Grund Verneinungen von Philosophemen aus der Ideenlehre an: das »Nichtgroße [τὸ μὴ μέγα]« (Soph., 258 a), »das Nichtschöne [τὸ μὴ καλόν]« (Soph., 257 e) und das »Nichtgerechte [τὸ μὴ δίκαιον]« (Soph., 258 a) –, hat die Negation die Funktion inne, »das unbestimmte Verschiedene in das bestimmte Verschiedene«113 umzuformen. Prägnant heißt dies, dass eine Aufwertung von Abstufungen durch den Beitrag des Nichtseienden stattfindet. Damit ist die Negation keine Besinnung auf eine Seinsunmöglichkeit, sondern eine positive Kategorie des Unterscheidens: Es »wird deutlich, daß die so verstandene Negation, wenn sie selbst Erschließungscharakter hat, innerhalb des konkreten Aufdeckens des Seienden die Funktion der Reinigung haben kann, so daß die Negation selbst produktiven Charakter bekommt« (GA II, 19, S. 560), wie Heidegger im Rückgriff auf Hegels Rezeption des Aristoteles (vgl. GA II, 19, S. 561) diesbezüglich zusammenfasst. Dies muss auch bedeuten, dass das Nichtseiende als Verschiedenheit unter den Gattungen verankert wird – zumal in der Form der Verneinung das Nichtgroße, Nichtschöne, Nichtgerechte für Platon nicht mit dem Nichtsgroßen, Nichtsschönen und Nichtsgerechten gleichzusetzen sind. Und darf man schon herzhaft sagen, daß das Nichtseiende unbestritten seine eigene Natur und Wesen hat, und so wie das Große groß und das Schöne schön war, und das Nichtgroße und Nichtschöne nicht groß und nicht schön, ebenso auch das Nichtseiende war und ist nicht seiend, und mit zu zählen als ein Begriff unter das viele Seiende?114 (Soph., 258 b–c) Platon geht es offensichtlich darum, die Gleichrangigkeit des Nichtseienden innerhalb der fünf größten Eiden festzusetzen. Dass dies einen ungeheuren Bruch mit dem Vater des Seinsdenkens darstellt, wurde zwar schon in Schritt d) festgehalten, findet unter den neu gewonnen Prämissen jedoch abermals Beachtung. 112 Gr.: »Οὐκ ἄρ᾽, ἐναντίον ὅταν ἀπόφασις λέγηται σημαίνειν, συγχωρησόμεθα, τοσοῦτον δὲ μόνον, ὅτι τῶν ἄλλων τὶ μηνύει τὸ μὴ καὶ τὸ οὒ προτιθέμενα τῶν ἐπιόντων ὀνομάτων, μᾶλλον δὲ τῶν πραγμάτων περὶ ἅττ᾽ ἂν κέηται τὰ ἐπιφθεγγόμενα ὕστερον τῆς ἀποφάσεως ὀνόματα.« 113 Iber, Christian: »Kommentar.« S. 318. 114 Gr.: »[…] καὶ δεῖ θαρροῦντα ἤδη λέγειν ὅτι τὸ μὴ ὂν βεβαίως ἐστὶ τὴν αὑτοῦ φύσιν ἔχον, ὥσπερ τὸ μέγα ἦν μέγα καὶ τὸ καλὸν ἦν καλὸν καὶ τὸ μὴ μέγα μὴ μέγα καὶ τὸ μὴ καλὸν μὴ καλόν, οὕτω δὲ καὶ τὸ μὴ ὂν κατὰ ταὐτὸν ἦν τε καὶ ἔστι μὴ ὄν, ἐνάριθμον τῶν πολλῶν ὄντων εἶδος ἕν;«

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»Weißt du auch wohl, daß wir dem Parmenides noch über sein Verbot [das Nichtseiende als seiend zu nehmen] hinaus sind unfolgsam gewesen«115 (Soph., 258 c), fragt der Fremde sein Gegenüber, Theaitetos, worauf er resümierend festhält: Wir aber haben nicht nur gezeigt, daß das Nichtseiende ist, sondern auch den Begriff, unter welchen das Nichtseiende gehört, haben wir aufgewiesen. Denn nachdem wir gezeigt, daß die Verschiedenheit ist, und daß sie verteilt ist unter alles Seiende gegeneinander, so haben wir von dem jedem Seienden entgegengesetzten Teile derselben zu sagen gewagt, daß eben er in Wahrheit das Nichtseiende sei.116 (Soph., 258 d–e) Sowohl in 258 c als auch in 258 d übersetzt Schleiermacher εἶδος mit »Begriff«, was nicht davon ablenken sollte, dass Platon nunmehr das Nichtseiende als Gattung mit der Verschiedenheit konvergieren lässt. Beide sind intrinsisch miteinander verwoben, wobei »das μὴ ὄν selbst […] als εἶδος sichtbar gemacht« (GA II, 19, S. 567) wurde. Will man verstehen, wie radikal dies Nichtseiend-Verschiedene das monistische Sein des Parmenides anficht, könnte ein Blick zurück auf 257 c von Nutzen sein. Platon verwendet hier eine Metapher, die diskutiert werden muss: »Das Wesen des Verschiedenen scheint mir ebenso ins kleine zerteilt zu sein wie die Erkenntnis.«117 (Soph., 257 c) Es zeigt sich an dieser Stelle eine Parallelisierung von Differenz und »Erkenntnis«, welche im griechischen Original als ἐπιστήμη geführt wird. ἐπιστήμη überträgt Schleiermacher im Phaidros noch mit »Wissenschaft« (vgl. Phdr., 247 c–e). Diese Übersetzung wäre aus heutiger Sicht auch für 257 c des Sophistes möglich. Für Platon bilden sich in der ἐπιστήμη jene Strukturmerkmale des Denkens ab, die Seinswissen zugänglich machen.118 Die ἐπιστήμη ist zwar eine gemeinsame Grundlegung des Wissens selbst, was im Sophistes allerdings deutlich wird, ist die zergliedernde Tendenz dieser ἐπιστήμη. Während 115 Gr.: »Οἶσθ᾽ οὖν ὅτι Παρμενίδῃ μακροτέρως τῆς ἀπορρήσεως ἠπιστήκαμεν;« 116 Gr.: »Ἡμεῖς δέ γε οὐ μόνον τὰ μὴ ὄντα ὡς ἔστιν ἀπεδείξαμεν, ἀλλὰ καὶ τὸ εἶδος ὃ τυγχάνει ὂν τοῦ μὴ ὄντος ἀπεφηνάμεθα· τὴν γὰρ θατέρου φύσιν ἀποδείξαντες οὖσάν τε καὶ κατακεκερματισμένην ἐπὶ πάντα τὰ ὄντα πρὸς ἄλληλα, τὸ πρὸς τὸ ὂν ἕκαστον μόριον αὐτῆς ἀντιτιθέμενον ἐτολμήσαμεν εἰπεῖν ὡς αὐτὸ τοῦτό ἐστιν ὄντως τὸ μὴ ὄν.« 117 Gr.: »Ἡ θατέρου μοι φύσις φαίνεται κατακεκερματίσθαι καθάπερ ἐπιστήμη.« 118 Michel Foucault erläutert in Die Ordnung der Dinge ἐπιστήμη wie folgt: »In einer Kultur, und in einem bestimmten Augenblick, gibt es immer nur eine episteme, die die Bedingungen definiert, unter denen jegliches Wissen möglich ist. Ob es sich nun um das handelt, das in der Theorie manifest wird, oder das, das schweigend durch eine Praxis eingehüllt wird, spielt dabei keine Rolle.« (Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. S. 213-214) Transferiert man dies auf das frühgriechische Denken, so wäre die Hypothese zu prüfen, inwiefern die ἐπιστήμη bei Platon eine Bruchstelle des Ontologischen markiert. Ist ja davon auszugehen, dass sich gerade die platonische Zergliederung des Seins als eine wesentliche Abgrenzung zum Einen-Sein-Diskurs der Vorsokratiker erweist.

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es für Parmenides keine solche Zerteilung geben konnte119 , setzt Platon mit der Erklärung des Wesens der Verschiedenheit jene aus dem Einen kommende Abstraktion ins Werk, die Aristoteles systematisierend fortentwickeln sollte und die bis heute – angetrieben durch die wachsende Technisierung – die Aufsplitterung in ›wissenschaftliche‹ Teildisziplinen begünstigt. So wie die Wissenschaft eine ist, obgleich ihre je für sich abgesonderten Teile eine eigene Namensbezeichnung tragen, insofern sie einen eigenen Gegenstandsbereich umschreiben, so ist das Verschiedene ein einheitlicher Begriff, obgleich es in viele Teile zerfällt, die nur bestimmte Funktionen der Idee des Verschiedenen sind. Die Analogie zwischen dem Zerfall der Wissenschaft in viele Einzelwissenschaften und die Metapher vom »Zerteiltwerden der Natur des Verschiedenen« (257c6) ist Ausdruck der Kritik am monolothischen Sein und am konturlosen Nichtsein des Parmenides. […] Das Zerstückeltwerden der Natur des Verschiedenen ist als Konkretion der Natur des Nichtseienden zu verstehen.120 Es ist eine beinahe ›ironische‹ Volte der Philosophiegeschichte, dass sich die einmalige Entdeckung der Seinsfrage bei den Vorsokratikern im Ausschluss des Nichtseienden an der Einführung dieses Nichtseienden bei Platon selbst überwinden sollte. Wenn dem vormals »konturlosen Nichtsein« des Parmenides von Platon ein ›geschärftes‹ Nichtseiendes entgegengesetzt wird, ist der epistemische Gewinn dieser Neuerung aber ein gleichzeitiger Verlust des unmittelbaren Zugangs zur Wahrheit. Von nun an muss geprüft werden, was Seiendes und was Nichtseiendes ist, da nicht mehr das eine Sein befragt wird, sondern das (Nicht)Seiende, welches vieles oder nichts sein kann. Platon hält ja eindeutig fest, »daß das Seiende wiederum ganz unbestritten tausend und zehntausenderlei nicht ist und so auch alles andere einzeln und zusammengenommen auf gar vielerlei Weise ist und auf gar vielerlei nicht ist«121 (Soph., 259 b). Vollkommen gelöst von Sinnentbergung ist diese Ontologie im Spiegel der Verschiedenheit freilich nicht. Im Gegenteil: Ziel der Untersuchung ist es, das Wesen des Sophisten zu klären, also herauszufinden, wann und zu welchen Zwecken Identität und Verschiedenheit vertauscht, missbraucht und umgedeutet werden (vgl. Soph., 259 c–d). Dies sollte nicht zu einer totalen Absonderung der in Sprache vorgetragenen Philosopheme verleiten, sondern bedarf einer tiefgreifenden Examination. »Aber auch, o Bester, alles von allem absondern zu wollen, schickt sich schon sonst nirgend hin, auf alle Weise aber nur für einen von den Musen 119 Vgl. DK 28 B 8: »οὐδὲ διαιρετόν ἐστιν, ἐπεὶ πᾶν ἐστιν ὁμοῖον« 120 Iber, Christian: »Kommentar.« S. 319. 121 Gr.: »[Ὥ]στε τὸ ὂν ἀναμφισβητήτως αὖ μυρία ἐπὶ μυρίοις οὐκ ἔστι, καὶ τἆλλα δὴ καθ᾽ ἕκαστον οὕτω καὶ σύμπαντα πολλαχῇ μὲν ἔστι, πολλαχῇ δ᾽ οὐκ ἔστιν.«

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verlassenen und ganz unphilosophischen.«122 (Soph., 259 d–e) Das Nichtseiende – zumal als Anwesenheit der Verschiedenheit in der Rede – ist für Platon eine ontische Tatsache, die sich durch das Sein zieht. Eine Separation des Nichtseienden von den Bestimmungen des Seins widerspräche einer hermeneutischen Sinnstiftung, »[w]eil es die völligste Vernichtung alles Redens ist, jedes von allem übrigen zu trennen. Denn nur durch gegenseitige Verflechtung der Begriffe kann uns je eine Rede entstehen«123 (Soph., 259 e). Hier fallen die sprachlichen und gattungstheoretischen Bedeutungen von εἶδος zusammen. Platon kehrt jetzt hinsichtlich dessen zur Ausgangssituation des Dialogs zurück, wenn der un‐musische und un‐philosophische Sophist final widerlegt wird. Wäre das Nichtseiende in Bezug auf die Gattungen nicht verbindlich, gäbe es in Reden keine Falschheit/Täuschung. Ohne Täuschung müsste jede Rede Anspruch auf absolute Wahrheit haben (vgl. Soph., 260 c–d). Was Täuschung ist, wurde schon in 236 b expliziert, nun aber nochmals aufgenommen, wenn der Fremde davon spricht, dass »notwendig alles voll Schattengestalten und Abbildern und trüglichen Scheines«124 (Soph., 260 c) sei. In diesen dunklen Orten der Verstellung – Platon denkt die Trias der Falschheit topologisch – ist der Sophist beheimatet, da er behauptet, Täuschung sei nicht im Sein. Damit ist die ›Figurenverschmelzung‹ von Parmenides und Sophist vollzogen. Der Sophist argumentiert genauso wie Parmenides (vgl. DK 28 B 2), weil er fordert: »Denn das Nichtseiende könne man weder denken noch sagen. Denn am Sein habe das Nichtseiende nirgendwie Anteil.«125 (Soph., 260 d). Wie nachgewiesen, versucht Platon indessen, das Nichtseiende als seiende Verschiedenheit in das Sprechen über das Sein einzubeziehen. Sophist und Parmenides sind dann nur mehr partiell sprachfähig, da sie die Anteilhaftigkeit des Nichtseienden am Sein leugnen, was schließlich heißen müsste, dass alles wahr wäre. Dies mag für Kunst reizvoll wirken – zumal sie mit den von Platon kritisierten ›Phantasmen‹ arbeitet –, das Bestreben im Sophistes ist es hingegen, ›richtiges‹ Sprechen hinsichtlich der aufgewiesenen Verschiedenheit philosophisch zu untermauern. Analog zu Schritt e) untersucht der Fremde daher das Grammatische, um die Kombinationsfähigkeit einer ontologisch korrekten Syntax zu verdeutlichen, wenn »eine zweifache Art von Kundmachung des Seienden durch die Stimme«126 (Soph., 261 e) erfolgt. Die Zweiheit besteht in der Notwendigkeit, Substantive und 122 Gr.: »Καὶ γάρ, ὠγαθέ, τό γε πᾶν ἀπὸ παντὸς ἐπιχειρεῖν ἀποχωρίζειν ἄλλως τε οὐκ ἐμμελὲς καὶ δὴ καὶ παντάπασιν ἀμούσου τινὸς καὶ ἀφιλοσόφου.« 123 Gr.: »Τελεωτάτη πάντων λόγων ἐστὶν ἀφάνισις τὸ διαλύειν ἕκαστον ἀπὸ πάντων· διὰ γὰρ τὴν ἀλλήλων τῶν εἰδῶν συμπλοκὴν ὁ λόγος γέγονεν ἡμῖν.« 124 Gr.: »[…] εἰδώλων τε καὶ εἰκόνων ἤδη καὶ φαντασίας πάντα ἀνάγκη μεστὰ εἶναι.« 125 Gr.: »[Τ]ὸ γὰρ μὴ ὂν οὔτε διανοεῖσθαί τινα οὔτε λέγειν· οὐσίας γὰρ οὐδὲν οὐδαμῇ τὸ μὴ ὂν μετέχειν.« 126 Gr.: »[…] τῶν τῇ φωνῇ περὶ τὴν οὐσίαν δηλωμάτων διττὸν γένος.«

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Verben zu koppeln, wobei eine voneinander getrennte Reihung von Haupt- und Zeitworten sinnlos wäre (vgl. Soph., 262 a–b). Es muss ergo, soll über Seiendes oder Nichtseiendes gesprochen werden, eine Art hermeneutische Grundstruktur wesentlich die Rede determinieren. Diese Grundstruktur – hier sticht erneut die relativierende Prätention Platons hervor – hat natürlich einen ontischen Status, da sie etwas und nicht nichts verhandelt. »Daß eine Rede, wenn sie ist, notwendig eine Rede von etwas sein muß, von nichts aber unmöglich.«127 (Soph., 262 e) Dieses ›Ist‹ der Rede macht jene Schwierigkeit aus, die schon in Schritt b) offensichtlich wurde: das faktische Vorhandensein der durch den Sophisten repräsentierten Falschrede. Während in b) noch die Zugangsmöglichkeit zur Klärung dieses Problems fehlte, kann der Fremde nun auf das Philosophem der Verschiedenheit zurückgreifen. Er illustriert dies anhand zweier kontrastiver Beispiele, die sich direkt auf seinen Dialogpartner Theaitetos berufen: »Theaitetos sitzt.«/»Der Theaitetos, mit dem ich jetzt rede, fliegt.«128 (beide Soph., 263 a) Dass beide referierten Sätze formallogisch richtig sind, leuchtet unmittelbar ein – ebenso wie die Tatsache, dass Theaitetos nicht fliegt, sondern sich auf dem Boden der onto-›logischen‹ Wahrheit befindet. Es handelt sich dementsprechend um eine Philosophie der Kongruenz: Die richtige Rede muss das wahrgenommene Phänomen (»Theaitetos sitzt«) in Übereinstimmung mit der Wahrheit zur Aussage bringen. »Die wahre [Rede] sagt doch das Wirkliche von dir, daß es ist«129 (Soph., 263 b), wie der Fremde daraus schließt. Im Griechischen steht für »das Wirkliche« τὰ ὄντα, was nicht mit einer beliebigen Form von ›Wirklichkeit‹ oder ›Realität‹ verwechselt werden sollte. Vielmehr könnte man ›das Seiende‹ an dieser Stelle eintragen: »Die wahre [Rede] sagt doch das Seiende, dass [wie] es ist, von dir.« (Übers. P. K.) Eine Rede, sofern sie dem Anspruch auf nachvollziehbare Wahrheit genügen will, muss das in Sprache Vorgebrachte mit dem für‐wahr-gehaltenen Seienden abgleichen – ein Gedanke der Nachweisbarkeit, welcher diametral gegen die Entdeckung der Seinsfrage aus dem Ursprung einer abstrakten Seinserfahrung steht. Bezieht sich die richtige Rede auf das Seiende, so verhält sich die Falschrede konträr hierzu: »Also das Nichtwirkliche oder Nichtseiende sagt sie aus als seiend.«130 (Soph., 263 b) Wiederum ist im Griechischen kein Rekurs auf ›Wirklichkeit‹ zu erkennen, es heißt schlicht: »Das Nichtseiende [Τὰ μὴ ὄντ᾽] sagt sie aus als seiend.« Beide Varianten haben eine Positivität gemeinsam: das Sagen als λέγειν. Das λέγειν kann somit gleichsam als Strukturmerkmal des Seienden festgehalten werden. Es stellt gewissermaßen das ›Bindeglied‹ zwischen dem Seienden und dem Nichtseienden dar; sie sind beide – sei es in der richtigen oder falschen Rede – anwesend und 127 128 129 130

Gr.: »Λόγον ἀναγκαῖον, ὅτανπερ ᾖ, τινὸς εἶναι λόγον, μὴ δὲ τινὸς ἀδύνατον.« Gr.: »,Θεαίτητος κάθηται' «/»,Θεαίτητος, ᾧ νῦν ἐγὼ διαλέγομαι, πέτεται' .« Gr.: »Λέγει δὲ αὐτῶν ὁ μὲν ἀληθὴς τὰ ὄντα ὡς ἔστιν περὶ σοῦ.« Gr.: »Τὰ μὴ ὄντ᾽ ἄρα ὡς ὄντα λέγει.«

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korrespondieren insofern miteinander, als sie ein Etwas, »ein gewisses Wissen über die angesprochenen Dinge«131 , über Theaitetos also, ins sprachliche Vernehmen tragen.132 Der Möglichkeitsspielraum zwischen Seiendem und Nichtseiendem ist dabei klar definiert: »Wird also von dir Verschiedenes als Selbiges ausgesagt und Nichtseiendes als seiend, so wird eine solche aus Zeitwörtern und Hauptwörtern entstehende Zusammenstellung wirklich und wahrhaft eine falsche Rede.«133 (Soph., 263 d) Mit dieser Konkretisierung rückt Platon eine unterschwellige Botschaft des Sinnes in den Fokus der Betrachtung: Eine Rede ist falsch (λόγος ψευδής), wenn sie die Wahrheitskriterien der Falschheit (Identitätsverschiedenheit, Vorspiegelung eines nichtseienden Seienden) erfüllt. Weil diese Kriterien in Wahrheit falsch sind, jedoch durch eine syntaktisch korrekte Rede repräsentiert werden, ist es die Aufgabe des Philosophen, das Wissen über einen Sachverhalt mit dem Vernommenen in Deckungsgleichheit zu bringen und so eine ontologische Sinnrelation herzustellen. Aussagen über die materielle Welt versuchen demnach, sprachlich die komplexen seienden Dinge in ihre Bestandteile zu trennen, indem ihnen tatsächlich oder vermeintlich zukommendes Seiendes zugesprochen wird. Das Verhältnis dieser beiden Teile (Substantiv und Verb) wird dann, um zu sehen, ob es sich um eine wahre oder falsche Aussage handelt, auf »Verschiedenheit« und »Selbigkeit« geprüft.134 Wie Christian Glasmeyer aufzeigt, funktioniert Platons ›Technik‹ des Prüfens von Selbigkeit und Verschiedenheit vor allem unter Rücksicht empirischer Phänomene – ein noetisches Problem, das es nicht zu unterschätzen gilt. Platon bemerkt diese Bruchstelle, wenn er den Fremden das Zusammenspiel von Gedanken, Rede und der definierten Verschiedenheit hinterfragen lässt: »Und wie steht es mit Gedanken, Meinung oder Vorstellung und Wahrnehmung? Ist nicht schon deutlich, daß auch diese alle in unseren Seelen wahr und falsch vorkommen?«135 (Soph., 263 d) Im griechischen Text steht anstelle der von Schleiermacher übertragenen Vierheit »Gedanken, Meinung oder Vorstellung und Wahrnehmung« die Begriffstrias διάνοιά τε καὶ δόξα καὶ φαντασία.136 Augenscheinlich 131 Glasmeyer, Christian: Platons Sophistes. S. 103. 132 Vgl. hierzu: Szaif, Jan: Platons Begriff der Wahrheit. S. 464-465. 133 Gr.: »Περὶ δὴ σοῦ λεγόμενα μέντοι θάτερα ὡς τὰ αὐτὰ καὶ μὴ ὄντα ὡς ὄντα, παντάπασιν ὡς ἔοικεν ἡ τοιαύτη σύνθεσις ἔκ τε ῥημάτων γιγνομένη καὶ ὀνομάτων ὄντως τε καὶ ἀληθῶς γίγνεσθαι λόγος ψευδής.« 134 Glasmeyer, Christian: Platons Sophistes. S. 104. 135 Gr.: »Τί δὲ δή; διάνοιά τε καὶ δόξα καὶ φαντασία, μῶν οὐκ ἤδη δῆλον ὅτι ταῦτά γε ψευδῆ τε καὶ ἀληθῆ πάνθ᾽ ἡμῶν ἐν ταῖς ψυχαῖς ἐγγίγνεται;« 136 Vgl. zur Übersetzung dieser Stelle: Dittmer, Johannes Michael: Schleiermachers Wissenschaftslehre als Entwurf einer prozessualen Metaphysik in semiotischer Perspektive. S. 137.

3 Platons Wiederentdeckung der Seinsfrage als Verdeckung

bereitet die Verdeutschung von φαντασία Schwierigkeiten. Heidegger bemerkt in diesem Kontext: »φαντασία meint hier nicht: phantasieren, sich nur vorstellen, sondern meint das in solchem sich nur Vorstellen, in solcher Präsentation Anwesende; φαντασία ist also gleichbedeutend mit λόγος als λεγόμενον.« (GA II, 19, S. 609) Platon, nachdem das Verschieden-Nichtseiende in der Rede als Falschheit identifiziert wurde, muss das Noetische (διάνοιά), das Meinende (δόξα) und Vor-Gestellte (φαντασία) in eins setzten, weil diese gedankliche Trias nicht in ein irgendwie geartetes absolutes Nichts münden darf, sondern als Anwesendes ebenso seiend sein muss wie das Nichtseiende in seiner Verschiedenheit. Die Folgerung daraus ist nicht überraschend: »Also Gedanken und Rede sind dasselbe, nur daß das innere Gespräch der Seele mit sich selbst, was ohne Stimme vor sich geht, von uns ist Gedanke genannt worden.«137 (Soph., 263 e) Für Platon ist eine Rede, ein »λόγος als λεγόμενον«, immer mit dem Wahrnehmungsakt zu denken – sei der λόγος verlautbarter oder schweigender Natur. Deshalb ist der zentrale Punkt die »Vereinigung des Sinneseindrucks und der Meinung [σύμμειξις αἰσθήσεως καὶ δόξης]« (Soph., 264 b), welche sich eben als wahr oder falsch erweisen kann. Sofern die φαντασία […] eine δόξα auf dem Grunde der αἴσθεσις ist, hat sie als δόξα auch λόγος-Charakter, d.h. sie ist durch das Phänomen des Etwas‐für‐etwasNehmen bestimmt. διάνοια, δόξα, φαντασία sind also τῷ λόγῳ συγγενεῖς (vgl. 264b2 sq), sie haben mit ihm dieselbe seinsmäßige Herkunft und können deshalb auch ψευδεῖς (vgl. b3) sein. (GA II, 19, S. 609) Nun ist die letzte Komplexität auf der Suche nach dem Wesen des Sophisten respektive der damit einhergehenden Etablierung des Nichtseienden als Verschiedenheit gelöst. Es konnte gezeigt werden, dass die ›innere‹ und ›äußere‹ Rede notwendig Wahrheit und Falschheit birgt, die Falschheit jedoch vom Sophisten als ontologische Wahrheit ausgegeben wird – was in der philosophischen Rückführung auf die inhärente Verschiedenheit enthüllt wird. Im daraus resultierenden Gefälle von Verschiedenheit und Identität befindet sich der Sophist, indem er das Seiende wie Parmenides als totale Wahrheit ohne tatsächlich‐nichtseiende Verschiedenheit vorstellt. In der den Sophistes beschließenden Passage kehrt Platon nun durch eine Bündelung der erlangten Erkenntnisse zu einer Untersuchung der Künste zurück. In der allegorisierenden Unterscheidung von nachbildender und hervorbringender Kunst (vgl. Soph., 265 a–b) wird dem Fremden zufolge die Divergenz von Gott und Mensch (vgl. Soph., 265 b) offenbar, wobei das Göttliche einer epistemischen Ursachenerklärung dient (vgl. Soph., 365 c–d). Sodann kommt der Eleate schließlich 137 Gr.: »Οὐκοῦν διάνοια μὲν καὶ λόγος ταὐτόν· πλὴν ὁ μὲν ἐντὸς τῆς ψυχῆς πρὸς αὑτὴν διάλογος ἄνευ φωνῆς γιγνόμενος τοῦτ᾽ αὐτὸ ἡμῖν ἐπωνομάσθη, διάνοια;«

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zu dem vorläufigen Ergebnis – nicht unähnlich der Dichterkritik in der Politeia (vgl. Pol., 598 e – 599 a) –, bildende und trugbildnerische zu teilen, um eine kritische Bemerkung bezüglich der werkzeuglosen Nachahmung (μίμησις) zu formulieren: »Wenn jemand, meine ich, seines eigenen Leibes sich bedienend deine Gestalt oder deine Stimme mittelst der seinigen ganz ähnlich erscheinen macht, so heißt dieser Teil der Trugbildnerei gewöhnlich die Nachahmung.«138 (Soph., 267 a) Die μίμησις wird nun erneut zwiegespalten, was zu einer Zergliederung in kenntnisreiche und unwissende Nachahmung führt (vgl. Soph., 267 b). All diese Separationen erfüllen einen Zweck: der gesellschaftlichen Verortung des Sophisten. Diese wird final in 268 c–d ausgesprochen: Also die Nachahmerei in der zum Widerspruch bringenden Kunst des verstellerischen Teils eines Dünkels, welche in der trügerischen Art von der bildnerischen Kunst her nicht als die göttliche, sondern als die menschliche, tausendkünstlerische Seite der Hervorbringung in Reden abgesondert ist; wer von diesem Geschlecht und Blute den wahrhaften Sophisten abstammen läßt, der wird, wie es scheint, das richtigste sagen.139 (Soph., 268 c–d) Mit diesen Worten beendet der Fremde seine Ausführungen über den Sophisten. Damit fanden sich nicht nur Bestimmungen einer politischen Gegnerschaft, vielmehr trat mit dem Beleg der Verschiedenheit jene Wendung in das Seinsdenken, die für die Vorsokratiker unhaltbar zu sein schien und sich für die Philosophiegeschichte als persistent erweisen sollte: die Verdeckung der Seinsfrage durch das immanente Nichtseiende. Den sich aus dieser Volte ergebenden Folgen soll im nachstehenden Passus Rechnung getragen werden. Nicht zuletzt gilt es hierbei, eine Beurteilung und Einordnung der Phänomene ›Nichtseiendes‹/›Verschiedenheit‹ zu liefern. 138 Gr.: »Ὅταν οἶμαι τὸ σὸν σχῆμά τις τῷ ἑαυτοῦ χρώμενος σώματι προσόμοιον ἢ φωνὴν φωνῇ φαίνεσθαι ποιῇ, μίμησις τοῦτο τῆς φανταστικῆς μάλιστα κέκληταί που.« 139 Gr.: »Τὸ δὴ τῆς ἐναντιοποιολογικῆς εἰρωνικοῦ μέρους τῆς δοξαστικῆς μιμητικόν, τοῦ φανταστικοῦ γένους ἀπὸ τῆς εἰδωλοποιικῆς οὐ θεῖον ἀλλ᾽ ἀνθρωπικὸν τῆς ποιήσεως ἀφωρισμένον ἐν λόγοις τὸ θαυματοποιικὸν μόριον, ,ταύτης τῆς γενεᾶς τε καὶ αἵματος' ὃς ἂν φῇ τὸν ὄντως σοφιστὴν εἶναι, τἀληθέστατα, ὡς ἔοικεν, ἐρεῖ.«

3 Platons Wiederentdeckung der Seinsfrage als Verdeckung

3.5

Kontextualisierung des Nichtseienden Die Platonische Unterscheidung zwischen dem Nichtsein als dem Sein entgegengesetzt (ἐναντίον) und dem Nichtsein als vom Sein verschieden (ἕτερον) [vgl. Soph., 257 b] ist für das abendländische Denken ebenso fatal gewesen, wie sie wesentlich und unausweichlich ist. Weil sie die Unterschiede ins Sein legt – und zwar sicher und definitiv –, sie aber weiterhin in der Zeit läßt (wie es schon Parmenides tat); deshalb muss man sich auf den Weg machen – ein Weg, der bis heute noch nicht zu Ende ist –, um nach jenem Sein zu suchen, das außerhalb der Zeit ist.140

Wenn Emanuele Severino eine Suche propagiert, die das Sein von seiner temporalen Verbindlichkeit löst, legt er das Augenmerk auf die von Platon geschlagene ›Wunde‹ des Nichtseienden. In diesem Kontext stellt sich die Frage, aus welchen Gründen die im Sophistes aufgetane Differenz von Entgegensetzung und Verschiedenheit a) »fatal«, b) »wesentlich« und c) »unausweichlich« sein sollte. Zu a): Die ontologische Fatalität des Unterschieds zwischen ἐναντίον und ἕτερον besteht in der platonischen Eigentümlichkeit – wobei bedacht werden sollte, dass sich dieser ›Platonismus‹ schon allein durch die Frage nach dem Sein selbst andeutet –, die nihilistische Entgegensetzung des Seins einerseits abzulehnen – wie es die Vorsokratiker taten – und andererseits die Verschiedenheit ins Anwesen zu denken. Dies ist eng mit der Kritik an der Ideenlehre verbunden: Durch die Konzeption der Idee, welche wie der vorsokratische Seinsbegriff metaphorisch das Sein in seiner Wahrheit zu fassen suchte, jedoch auf der anamnetischen Sichtbarkeit dieses Seins beharrte, entstand ein Relationsgefüge, das in seinem Abbildcharakter den Verweis auf die Einheit des Seins – wenn auch nicht mehr unmittelbar – zuließ. Dass dies fraglos Komplikationen beschwor, sah schon Aristoteles in der Metaphysik: Wenn man aber sagt, die Ideen seien Vorbilder und das andre nehme an ihnen teil, so sind das leere Worte und poetische Metaphern. Denn was ist denn das werktätige Prinzip, welches im Hinblick auf die Ideen arbeitet? Es kann ja auch etwas einem anderen ähnlich sein oder werden, ohne diesem nachgebildet zu sein; also 140 Severino, Emanuele: Vom Wesen des Nihilismus. S. 57.

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Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen

mag es nun einen Sokrates geben oder nicht, so kann es jemand geben wie Sokrates, und dasselbe gälte offenbar auch, wenn es einen ewigen Sokrates gäbe.141 (Met., 991 a) Natürlich behält Aristoteles Recht, wenn er die poetische Verfasstheit der Idee anmerkt. Nur stellt sich die Frage, inwieweit sein kritischer Impetus gerechtfertigt ist. Zeigte sich ja gerade im Sophistes – aber auch im Parmenides (vgl. Parm., 130 c–d) –, dass Platon von der Idee als ontologischem Urbild abrückt – freilich um den Preis, im erstgenannten Text den relativ‐seienden Gegensatz des Seienden in der Zeit zu verankern, was insofern kontradiktorisch ist, als das Sein in seiner Gänze nicht temporal sein darf, sondern aus dialektischer Perspektive die Zeit zwar birgt, aber nicht deren auf- und untergehende Qualität teilt. Vielleicht ist es dahingegen das Poetische an der Ideenlehre, was es entgegen aller Komplikationen Platon ermöglichte, auf ein bildliches und a‐temporales Sein zu schließen. Analog zu den Vorsokratikern – man denke an Anaximanders ἄπειρον, Heraklits λόγος oder an Parmenidesʼ abstrakte Seinsdeduktion – wird das Sein so von der Verschiedenheit abgetrennt und der notwendigen Einheit überantwortet. Dass dies Aristoteles, welcher das Seiende in der Unterscheidung und Einteilung zu gliedern sucht, nicht systematisierend genug erscheint, ist dann nicht verwunderlich. Der Sophistes offeriert indessen eine Wegschneide: Einerseits setzt er die ideelle Begründungskette außer Kraft, was aus stringent philosophischer Sicht nachvollziehbar ist, da es Platon auch in den Vorgängerdialogen nicht gelingt, die Methexis zwischen Seiendem (Materiellem) und Sein (ideellem Urbild) zu klären. Andererseits öffnet der Aufweis der Verschiedenheit und des Nichtseienden eine ontologische Lücke, die sich als unschließbar darbietet: Dachten die Vorsokratiker das Sein aus der Fülle der Identität, so wird nunmehr deutlich, dass sich das platonische Sein im Sophistes vornehmlich daraus speist, was es nicht ist. Der Vorteil an dieser Deutung ist offensichtlich: Von nun an wird der Philosoph legitimiert, darüber zu richten, was Seinsanspruch genießen darf und was nicht in Kongruenz zum wahr deklarierten Seienden steht. Ebenso flagrant wird der ›fatale‹ Nachteil: Das Seiende ist jetzt ursprünglich verschieden. Wenn dieses Wort im Deutschen eine Bedeutungsebene aus dem Feld des Todes bereithält142 , ist eine Parallelisierung zu Platons Sophistes durchaus erlaubt: Mit der Etablierung der Verschiedenheit innerhalb des Seins verscheidet der absolute Monismus, wie 141 Gr.: »τὸ δὲ λέγειν παραδείγματα αὐτὰ εἶναι καὶ μετέχειν αὐτῶν τἆλλα κενολογεῖν ἐστὶ καὶ μεταφορὰς λέγειν ποιητικάς. τί γάρ ἐστι τὸ ἐργαζόμενον πρὸς τὰς ἰδέας ἀποβλέπον; ἐνδέχεταί τε καὶ εἶναι καὶ γίγνεσθαι ὅμοιον ὁτιοῦν καὶ μὴ εἰκαζόμενον πρὸς ἐκεῖνο, ὥστε καὶ ὄντος Σωκράτους καὶ μὴ ὄντος γένοιτ᾽ ἂν οἷος Σωκράτης· ὁμοίως δὲ δῆλον ὅτι κἂν εἰ ἦν ὁ Σωκράτης ἀΐδιος.« 142 Vgl. hierzu: Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. S. 956.

3 Platons Wiederentdeckung der Seinsfrage als Verdeckung

ihn die Vorsokratiker kannten – sowohl im Noetischen als auch konnektiv in der Rede. Zu b): Die Wesentlichkeit der platonischen Differenz von ἐναντίον und ἕτερον beantwortet im Grunde schon die vorsokratische Entdeckung der Seinsfrage: Indem der Mensch das Sein befragt, jedoch prinzipiell nicht das seinen Seinszustand ermöglichende totale Sein ist, verknüpft sich immer die Verschiedenheit mit der denkenden Aussage über das Sein. Natürlich kann das Gegenteil des Seins (ἐναντίον) nicht sein – wie sollte es, da sein undenkbarer Zustand der der Nichtigkeit wäre. Andererseits ist das Denken dann, zumal exklusiv menschlich, a priori verschieden. Dies muss aber keineswegs den Schluss nach sich ziehen, Verschiedenheit sei das Nichtseiende. Im Gegenteil: Das wahrgenommene ἕτερον lässt das Seiende erst in der Sprache – die, wie Platon richtigerweise bemerkte, nichts anderes als das Denken selbst ist – den Geltungsbereich der Wahrheit entfalten. Dieser Geltungsbereich ist zwar stets verschieden vom absoluten Sein, jedoch schließt sich durch das Metaphorische hier die Möglichkeit zu ontologischer Erkenntnis auf, welche die Verschiedenheit auf dasjenige zurückführen kann, was sie ist: ein intrinsischer Teil des wahren Seins im Ganzen, das ἕτερον als Konkretion der seinsimmanenten Kontradiktion, ohne die das Sein nicht(-s) und mangelhaft wäre. Wesentlich trägt Platon dazu bei, einen Widerspruch im Denken festzumachen, der zutiefst menschlich ist: dasjenige als falsch und nichtseiend auszugeben, was nicht mit den Mitteln der Kongruenz zu vereinbaren ist. »Plato hat zum erstenmal den Menschen in der Situation des totalen Unheils gesehen, das durch sein Denken entsteht, wenn dieses falsch ist und sich selbst nicht versteht.«143 Dieses scheinbar falsche ›Sich‐selbst-nicht-Verstehen‹ versucht Platon mit allen Mitteln zu tilgen – bis hin zur Verstiegenheit, das Nichtseiende sei dasjenige, was nicht mit der ›wahren‹ Anschauung zu vereinbaren sei; obgleich das Seiende – wie Heidegger in Sein und Zeit beleuchten wird144 – per se erschlossen ist. Rainer Marten artikuliert dies verallgemeinernd hinsichtlich der Selbstbezüglichkeit des Menschen: Im ontologischen Fragen sucht menschlicher Geist keineswegs »fremdzugehen«. Er folgt in ihm keiner Sehnsucht, sich selbst zu verlassen, um »sich« in etwas ganz anderem und eben andersartigen wiederzufinden. Was er mit Blick auf Sein und Wesen als das für sich Verbindliche sucht, ist vielmehr eine Antwort auf sich selbst, eine Entsprechung.145 143 Jaspers, Karl: Die fortzeugenden Gründer des Philosophierens. In: Ders.: Die großen Philosophen. S. 228-616, hier S. 304. 144 Vgl. hierzu: Tugendhat, Ernst: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger. S. 299-321. 145 Marten, Rainer: Denkkunst. S. 45.

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Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen

Die platonische Lehre von der »Entsprechung« macht hingegen das Andersartige in der Verschiedenheit stark. Es handelt sich nicht mehr um die rein ontologische Identitätssuche, auf der sich die Vorsokratiker befanden, sondern um die stringent‐dialektische Fortentwicklung dessen. Dies schien nur möglich zu sein, indem ein Problem gelöst werden sollte, das sich wesentlich aus der Frage nach dem Sein selbst ergab: die Frage nach dem Sein des Nichtseienden. Man könnte mit einer platonischen Metapher sprechen: »Oder sind wir, beim Zeus, ohne es zu bemerken, in die Wissenschaft freier Menschen hineingeraten? Und mögen wohl gar den Sophisten suchend zuerst den Philosophen gefunden haben?«146 (Soph., 253 c) So wie die Suche nach dem Sophisten die Entdeckung des Philosophen als Dialektiker zu Tage förderte, besteht die Wesentlichkeit des platonischen ἕτερον als Nichtseiendem darin, die Seinsfrage notwendigerweise, weil es essenziell zu dieser Frage gehört, zu verdecken – eine ›Leistung‹, die wohl nur Platon gelingen konnte, da er bestrebt war, im Geiste der Vorsokratiker dieselbe zu überwinden. Zu c): Hier schließt sich die Unausweichlichkeit der Verdeckung der Seinsfrage an. Schon Anaximander erkannte: Dasjenige, was als Seiendes auftaucht, muss wieder in jenen Ort verschwinden, der ihm die Seinsmöglichkeit gab. Die Frage nach dem Sein kommt nun prominent mit den Vorsokratikern als dieser Gedanke auf. In diesem befindet sich, insofern es für den Menschen als ZuDenkendes erscheint, das anfängliche Wissen des Nichtseins des Nichts. Weil letzteres allerdings immer unausweichlich mit der Frage nach dem Sein des Seienden zusammenhängt, muss auch die Frage nach dem Sein des Nichtseienden in Stellung gebracht werden. Im Grunde wird dies schon bei Parmenides offensichtlich. Denn die einfache Formel Sein ≠ Nichtsein besagt auch: Man weiß, dass das Sein ist, deshalb weiß man, dass Nichtsein nicht ist, weiß also etwas über das Nichtsein. Die essentielle Diffizilität besteht in der von Parmenides aufgemachten Polarität von Sein und Nichtsein, welche nihilistisches Wissen in sich trägt. Platon umgeht dies insofern, als er den Gegensatz (ἐναντίον) des Seins weiterhin gelten lässt und zugleich die Verschiedenheit (ἕτερον) für seiend‐nichtseiend hält. Damit kommt Platon dem ›wissenschaftlichen‹ Bedürfnis nach, das Nichtseiende als Zu-Wissendes im Sein sein zu lassen. »Wieder wirkt nämlich das Gesetz des Gegensatzes des Positiven und des Negativen, weshalb das Negative nicht nur das reine Nichts ist (Parmenides), sondern auch das andere Positive (Platon).«147 Dies kann als die Unausweichlichkeit der Verdeckung der Seinsfrage gesehen werden. Im Versuch, das absolute Negative zum verschieden Positiven zu wandeln, changiert die unmittelbare Frage nach dem Sein zur mittelbaren Feststellung, das Andere sei das Nichtseiende. 146 Gr.: »[Ἢ] πρὸς Διὸς ἐλάθομεν εἰς τὴν τῶν ἐλευθέρων ἐμπεσόντες ἐπιστήμην, καὶ κινδυνεύομεν ζητοῦντες τὸν σοφιστὴν πρότερον ἀνηυρηκέναι τὸν φιλόσοφον;« 147 Severino, Emanuele: Vom Wesen des Nihilismus. S. 64.

3 Platons Wiederentdeckung der Seinsfrage als Verdeckung

Inwiefern von dieser metaphysischen Verdeckung an Nietzsches ambivalentes Verhältnis zur Ontologie angeschlossen werden kann, soll im Folgenden verdeutlicht werden. Ziel des nachstehenden Passus ist es, die Gründe für eine Engführung der Untersuchung auf Nietzsches seinskritisches Werk offenzulegen.

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4 Nietzsche: Vom Antiplatonismus zum Nihilismus

Mit Platon gerät das ursprüngliche Bild vom ausschließlichen Sein ins Wanken. Betrachtet man die im Sophistes wiederkehrend auftauchende Beschäftigung mit Sprache unter dieser Perspektive, zeigt sich ein grundlegender Wandel innerhalb des frühgriechischen Denkens: Die Vorsokratiker Anaximander, Heraklit und Parmenides ›dichten‹ – im Sinne des nicht abbildenden, sondern vernehmenden ποιεῖν als νοεῖν – das Sein in einer Weise, die stets ontologische Ganzheit im Blick hat. Auch wenn Platon diese Fülle nicht bezweifelt – besteht ja ein wesentlicher Unterschied zwischen ἐναντίον und ἕτερον –, so ist durch die nichtseiende Qualität der Verschiedenheit die Ganzheit des Seins jedenfalls in Gefahr. Diesbezüglich ist Sprache zwar ein verbindlicher Teil des Seins, die Aussage über dieses Sein ermöglicht – genauer: fordert – von nun an allerdings, dass dasjenige, was nicht in Übereinstimmung mit dem faktisch Als‐wahr-Vernommenen steht, auch nicht ist. Die vermeintlich‐ontologische Kongruenz von Wahrheit und Phänomen raubt dem Denken somit das Sprechen über das Sein selbst – eine Tatsache, die zu einer Stärkung des Seienden innerhalb der Philosophie beiträgt und eine Schwächung des Poetischen nach sich zieht, da Dichtung und metaphorisches Sprechen Platon gemäß in die Nähe der Verschiedenheit rücken. Der philosophische Mensch dient dann einem gewissen Zweck: demjenigen, sein Denken im Spiegel der möglichen Erwartung an das Nichtseiende zu reflektieren – was einen bestimmten ›Willen‹ zur Denkbarmachung der Wahrheit bahnbricht, obgleich diese nihilistische Wahrheit den unmittelbaren Zugang zur eigentlichen Frage verstellt. Nietzsche wird im Kapitel Von der Selbst-Ueberwindung des Zarathustra schreiben: »Wille zur Wahrheit« heisst ihr’s, ihr Weisesten, was euch treibt und brünstig macht? Wille zur Denkbarkeit alles Seienden: also heisse ich euren Willen! Alles Seiende wollt ihr erst denkbar machen: denn ihr zweifelt mit gutem Misstrauen, ob es schon denkbar ist. […]

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Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen

Schaffen wollt ihr noch die Welt, vor der ihr knien könnt: so ist es eure letzte Hoffnung und Trunkenheit.1 Um in diesem Bilde zu bleiben: Platon ist im Sophistes ›getrieben‹, die Philosophie gegen die Täuschungsmanöver der Sophisten, die das parmenideische Argument nutzen, Nichtseiendes sei nicht zu denken, zu verteidigen. Damit vollzieht sich jedoch eine scheinbare Denkbarkeit des eigentlich ›unerlaubten‹ Nichtseienden: Es wird eine »Welt« kreiert, in der Nichtseiendes ist, folglich eine Welt, die sich ihres eigenen Seins versichern muss. Verfolgt man an dieser Wegmarke der Philosophie- und Wesensgeschichte des menschlichen Denkens die Aufgabe, eine angemessene Reaktion – gewissermaßen eine Re-Eta‐blierung oder Wiederentdeckung der Seinsfrage aus dem Geiste der ästhetischen Unmittelbarkeit – auf diese Verdeckungstendenz zu finden, so rücken mehrere Anschlussmöglichkeiten in den Horizont: Aristoteles, Heidegger und – möglicherweise auf den ersten Blick nicht sofort nachvollziehbar – Nietzsche. Erstgenannter setzt sich nicht nur durch eine Widerlegung des Nichtseienden im Kapitel über die Veränderung/Bewegung der Physik2 deutlich von Platon ab, vielmehr entwirft er eine Ontologie, die es Heidegger letztlich erst ermöglichen wird, die Frage nach dem Sein erneut und fundamental zu stellen. Heideggers Denken vollzieht sich – natürlich nicht ausschließlich, wenn man seine Rezeption der Vorsokratiker oder Nietzsches berücksichtigt – im Spiegel der für die Seinsphilosophie zentralen Begriffe φρό νησις, ουσία, φύ σις und τέχνη für und wider Aristoteles3 – wobei Aristoteles bei Heidegger als ›Vater‹ einer »ontologische[n] Phänomenologie«4 ausgelegt wird. Das Denken des Aristoteles ist dann der erste Anfang der ontologischen Phänomenologie, zu dem sich Heideggers Denken als zweiter Anfang spiegelsymmetrisch verhält: Während Aristoteles von der φύσις zur οὐσία hin dachte und dabei dem 1 Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. In: Ders.: KSA 4, Band 4. S. 146. Folgend alle Referenzen aus dieser Ausgabe; Zitation nach Sigle (KSA 4) und Seitenzahl; Sperrungen im Original werden durch Kursivierung markiert. 2 »›Veränderung‹ und ›Wandel‹ kann man durchaus nicht in einer anderen Gattung anordnen, und das wird klar, wenn man sich einmal ansieht, wie einige sie so ansetzen, die da behaupten, ›Unterschiedenheit‹ und ›Ungleichheit‹ und ›das Nichtseiende‹ sei Veränderung; davon muss sich aber gar nichts verändern, weder wenn etwas ›unterschieden‹ wäre, noch auch als ›ungleiches‹ oder ›nichtseiendes‹.« (Aristoteles: Physik. S. 106-107; 201 b 16-22) Gr.: »οὔτε γὰρ τὴν κίνησιν καὶ τὴν μεταβολὴν ἐν ἄλλῳ γένει θεῖναι δύναιτʼ ἄν τις, δῆλόν τε σκοποῦσιν ὡς τιθέασιν αὐτὴν ἔνιοι, ἑτερότητα καὶ ἀνισότητα καὶ τὸ μὴ ὂν φάσκοντες εἶναι τὴν κίνησιν· ὧν οὐδὲν ἀναγκαῖον κινεῖσθαι, οὔτʼ ἂν ἕτερα ᾖ οὔτʼ ἂν ἄνισα οὔτʼ ἂν οὐκ ὄντα·« 3 Vgl. Figal, Günter: »Heidegger als Aristoteliker.« In: Heidegger und Aristoteles. S. 53-76, hier S. 60-76. 4 Figal, Günter: »Heidegger als Aristoteliker.« S. 75.

4 Nietzsche: Vom Antiplatonismus zum Nihilismus

Begriff der φύσις im Nachvollzug ihres Wesens entwickelte, denkt Heidegger von der οὐσία zur φύσις zurück.5 Wenn Aristoteles die basale Frage stellt, was »das Seiende als Seiendes [ὄν ᾗ ὄν]« (Met., 1003 a 21) sei und dabei auf die verschiedenen Seinscharaktere6 stößt, so entfernt er sich zu gleichen Teilen von der Seinsdichtung wie sie die Vorsokratiker vorbrachten und an deren Grenze sich die Ablösung Platons vom reinen Sein und dessen literarischer Qualität befand. Dies bringt nun einerseits eine systematisierende Philosophie zu Tage, die zwar die Ontologie als Metaphysik etabliert, aber im selben Moment Denken über die Sache des Seins und nicht mehr Dichten in der Sache des Seins ist – was freilich erst einer Poetik als Poeto-Logie bahnbrechen konnte. Heidegger alliiert in diesem Sinne mit Aristoteles, um auf dessen Grundstock seine umfassende Kritik an der Metaphysik zu erarbeiten. Mit Heideggers Orientierung auf Aristoteles geht dementsprechend auch dasjenige verloren, was die Basis und den Beginn der abendländischen Seinsspekulation markierte: der intrinsische Konnex von (Seins-)Philosophie und Dichtung. Diesem Zusammenhang, der bei Platon – trotz seiner Ablehnung des Dichterischen – noch greifbar erscheint, kann erst wieder Rechnung getragen werden, wenn der Scheitelpunkt des Auseinandertretens von Philosophie und Dichtung ins Zentrum des Interesses rückt. Es sollte an Nietzsche sein, dieses Thema stark zu machen und es in einem Akt der rückwirkenden Zusammenführung einer philologisch fundierten Philosophie zu überantworten. Auch wenn sich bei Nietzsche in diesem Kontext ein zwiegespaltenes, wenn nicht ablehnendes Verhältnis zur ›klassischen‹ Ontologie eines Platon zeigt – das griechische Denken bleibt das prominenteste Referenzial seines umfassenden Werks. Mag der vorgeschlagene Argumentationsgang aufs Erste verwundern: Nietzsche setzt an jenem, für die vorliegende Untersuchung kardinalen Bereich kritisch an, den es fortzuentwickeln gilt: die Frage nach der Deutbarkeit dessen, was als ›Sein‹ angesprochen wird, und welche Verbindung dies mit den Mitteln des Ästhetischen eingeht. Dass Nietzsches Prätentionen hierbei changieren und ein ambivalentes Verhältnis – vor allem zu Platon – zu den griechischen Seinsinterpretationen vorliegt, soll nachstehend aufgewiesen werden. Abschließend steht die Frage im Fokus, wie sich Nietzsche zur Seinsfrage gibt und was unter dem Banner seines Nihilismus5 Figal, Günter: »Heidegger als Aristoteliker.« S. 75. 6 Vgl. zur Bestimmung der Seinscharaktere als »ὑποκείμενον« (Met., 1017 b 13-14), »αἴτιον τοῦ εἶναι« (Met., 1017 b 15), »μόρια ἐνυπάρχοντά ἐστιν ἐν τοῖς τοιούτοις ὁρίζοντά τε καὶ τόδε τι σημαίνοντα« (Met., 1017 b 17-18) und »τὸ τί ἦν εἶναι« (Met., 1017 b 21-22): Mincǎ, Bogdan: Poiesis. S. 58-60.

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Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen

Begriffs zu verstehen ist. Zuvorderst soll auf das Frühwerk Nietzsches eingegangen werden, welches Einblicke in sein philologisches Programm gewährt.

4.1

Gegen Platon – gegen die Metaphysik? Metaphysische Welt. – Es ist wahr, es könnte eine metaphysische Welt geben; die absolute Möglichkeit davon ist kaum zu bekämpfen. Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden; während doch die Frage übrig bleibt, was von der Welt noch da wäre, wenn man ihn abgeschnitten hätte. Diess ist ein rein wissenschaftliches Problem und nicht sehr geeignet, den Menschen Sorgen zu machen; aber Alles, was ihnen bisher metaphysische Annahmen werthvoll, schreckenvoll, lustvoll gemacht, was sie erzeugt hat, ist Leidenschaft, Irrthum und Selbstbetrug;7

Blickt man exemplarisch auf diese Textstelle aus der Aphorismensammlung Menschliches, Allzumenschliches aus dem Jahre 1878, lässt sich ein erster Zugang zu Nietzsches zwiespältigem Verhältnis gegenüber der Philosophie als Metaphysik festhalten: Nietzsches programmatische Abkehr – in Also sprach Zarathustra wird sie zur Zukehr, wie zu zeigen sein wird – von dieser begründet sich in einer scheinbaren Duplizierung der Welt, welche Parallelen zum vorsokratischen Seinsbegriff zulässt: Prangert Parmenides in seinem Lehrgedicht die Doppelköpfigkeit der Menschen an (vgl. DK 28 B 6), die auf der einen Seite das Sein verwirrt wahrnehmen und auf der anderen das Nichtsein als Seinserklärung zulassen, so metaphorisiert Nietzsche diese Kritik an der Anthropozentrie in gewissem Sinn verallgemeinernd, indem er durch eine Verschiebung die von Parmenides zugunsten des Seins – man könnte aus späterer Perspektive sagen: der Ontologie – getroffene Entscheidung (κρίσις) rückwirkend gegen die Metaphysik selbst wendet. Dabei spielt Nietzsches Rekurs auf die Wissenschaft eine tragende Rolle, denn »die allerschlechtesten Methoden der Erkentniss, nicht die allerbesten, haben daran [an die Metaphysik als Zugang zur Erkenntnis] glauben lehren« (KSA 2, S. 29) gemacht. Es ist Nietzsche demnach um eine Gleichsetzung 7 Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. In: Ders.: KSA, Band 2. S. 29. Alle weiteren Zitate aus dieser Ausgabe; Kennzeichnung durch Sigle (KSA 2) und Seitenzahl.

4 Nietzsche: Vom Antiplatonismus zum Nihilismus

von Glauben und Metaphysik bestellt, da sich beide anhand von »Methoden« vor dem Hintergrund einer zu erlangenden Erkenntnis spiegeln – wobei der Methodenbegriff freilich nicht unhinterfragt aufgenommen werden sollte. Wenn man diese Methoden, als das Fundament aller vorhandenen Religionen und Metaphysiken, aufgedeckt hat, hat man sie widerlegt. Dann bleibt immer noch jene Möglichkeit übrig; aber mit ihr kann man gar nichts anfangen, geschweige denn, dass man Glück, Heil und Leben von den Spinnfäden einer solchen Möglichkeit abhängen lassen dürfte. (KSA 2, S. 29) Der menschliche wie philosophische Versuch, über dasjenige, was über dem In‐der-Welt-Seienden liegt, zu sprechen, muss nach Nietzsche insofern fehlschlagen, als die angewandten Methoden der Seinsdeutung auf etwas hinweisen, dessen Erläuterung wenig bis nichts mit der Bejahung des Innerweltlichen zu tun hat und immer zur prognostizierten Verdopplung führt. Denn man könnte von der metaphysischen Welt gar Nichts aussagen, als ein Anderssein, ein uns unzugängliches, unbegreifliches Anderssein; es wäre ein Ding mit negativen Eigenschaften. – Wäre die Existenz einer solchen Welt noch so gut bewiesen, so stünde doch fest, dass die gleichgültigste aller Erkenntnisse eben ihre Erkenntniss wäre: noch gleichgültiger als dem Schiffer in Sturmgefahr die Erkenntniss von der chemischen Analysis des Wassers sein muss. (KSA 2, S. 29-30) Nietzsches Ironie, arrangiert durch die Metapher des Schiffers, der in akuter Notsituation wohl kaum naturwissenschaftliche Beobachtungen anstellen würde, ist nicht zu übersehen. Ebenso liegt der Schwachpunkt seines Angriffs auf der Hand: Philosophie ist stets denkender, sprechender und somit vernehmender Ausdruck einer bestimmten Seinsauffassung, welche nicht von ihrem onto‐logischen Wesen gelöst werden kann. Indem Nietzsche sich also kritisch über die Metaphysik auslässt, betreibt er nichts anderes als ein Denken, welches in letzter Konsequenz – auch im Willen gegen eine wie auch immer geartete Seinsauffassung – über das rein physische Vernehmen hinausdeutet und ebendeshalb den Charakter des Meta-Physischen erhält. Auch wenn Nietzsche dies sicher erkennt, zieht sich dieses symptomatische Spannungsfeld der innerphilosophischen Gegenphilosophie leitmotivisch durch sein Werk – was sich in den metaphysischen Theoremen der Ewigen Wiederkehr, des Willens zur Macht und des Übermenschen letztlich brechen wird. Die Figur, an der sich Nietzsche hierbei in Gegnerschaft orientiert, kann niemand anderes sein als der Stifter einer gewerteten Seinsauslegung, die einerseits das Ideelle – abgesehen von den ideenkritischen Schriften wie Parmenides oder Sophistes – stark machte und andererseits die Metaphysik im Rückgriff auf die von den Vorsokratikern entdeckten Seinsbestimmungen ermöglichte: Platon. »Wohl kaum eine andere Gestalt der Philosophiegeschichte hat Nietzsche während seiner

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Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen

gesamten philosophischen Beschäftigung so sehr irritiert, nämlich zugleich fasziniert und empört, wie Platon – Platon die Person wie auch Platon der Denker.«8 Dieser ›Irritation‹ muss auf dem Fundament seiner ontologischen Verfasstheit Rechnung getragen werden. Dass dem von Platon indizierten Nihilismus dabei eine essenzielle Stellung zukommt, ist der komparatistische Ansatzpunkt der vorliegenden Untersuchung. Bis Nietzsche zu seiner Diagnose des Nihilismus9 gelangt, finden sich jedoch zahlreiche Ambivalenzen, die sich in ästhetischen Auseinandersetzungen spiegeln. Prägnant: Nietzsches Ästhetik konvergiert mit seiner Ablehnung angestammter Philosophien und seiner negativen Beschäftigung mit Seins- und damit Wahrheitsdiskursen. Daher erscheint es zielführend, beide Seiten angemessen zu beleuchten, sofern Heidegger diesbezüglich im Recht ist: Das Denken, das das Seiende in seiner Seiendheit vorstellt, ist »Philosophie«. »Philosophie« wird seit Platon der Name für dieses zwischen dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen hin und her gehende Verstehen, das danach strebt, durch das Vorstellen des Seins als des Grundes für das Seiende vom Seienden selbst das maßgebende Wissen zu besitzen. »Philosophie« und »Platonismus« und »Idealismus« sind drei Namen, die im Wesen das Selbe nennen. (GA III, 78, S. 13) Nietzsche weiß um den von Platon etablierten, intrinsischen Zusammenhang von Philosophie, Idealismus und Seinsdenken. Dieses Wissen ist zugleich Triebfeder für seinen Abbauversuch – zugunsten einer dichterischen ›Philosophie‹ der Unmittelbarkeit wie sie die Vorsokratiker vorgaben – der genannten Trias. So heißt es schließlich im Nachlaß 1869-1874 explizit: »Meine Philosophie umgedrehter Platonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel.«10 Wie diese Verkehrung des Platonismus auszusehen hat und welche teils changierenden Formen sie in den verschiedenen Etappen in Nietzsches Schaffen annimmt, soll im Folgenden untersucht werden. Bevor dies geschehen kann, ist es allerdings vonnöten, mit Gianni Vattimo eine kurze Chronologie zu skizzieren. Vattimo gliedert Nietzsches Werk in drei 8 Patt, Walter: Formen des Anti-Platonismus bei Kant, Nietzsche und Heidegger. S. 69. 9 Nietzsche erkennt, dass sich die abendländische Philosophie, welche sich aus dem Erbe Platons speist, unweigerlich auf den Nihilsimus zubewegen muss – ebenso wie Platons Werk selbst im Nihilismus münden muss. Es ist vor allem Nietzsches Spätwerk, das einen Einblick in diese Parallelisierung von Ontologie/Wahrheit und Nihilismus gewährt. »Der Glaube, daß es gar keine Wahrheit giebt, der Nihilisten-Glaube ist ein großes Gliederstrecken für einen, der als Kriegsmann der Erkenntniß unablässig mit lauter Wahrheiten im Kampfe liegt. Denn die Wahrheit ist häßlich[.]« (Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1887-1889. In: Ders.: KSA, Band 13. S. 51. Alle folgenden Zitate aus dieser Ausgabe; Zitation durch Sigle (KSA 13) und Seitenzahl). 10 Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1869-1874. In: Ders.: KSA, Band 7. S. 199. Alle weiteren Zitate aus dieser Ausgabe; Kennzeichnung durch Sigle (KSA 7) und Seitenzahl.

4 Nietzsche: Vom Antiplatonismus zum Nihilismus

Episoden: »Von der Philologie zur Philosophie«11 über »Die Dekonstruktion der Metaphysik«12 bis zur »Philosophie Zarathustras«13 . Diese Einteilung erscheint insofern sinnvoll, als den wichtigsten Strömungen innerhalb des Hauptwerks Rechnung getragen werden. Zusätzlich sollte jedoch eine weitere Episode angefügt werden: der Nachlass und die in ihm verhandelten ontologischen Problemfelder. Betrachtet man die von Colli und Montinari bestellte Kritische Studienausgabe in fünfzehn Bänden, so wird deutlich, dass die Bände sieben bis dreizehn ausschließlich fragmentarische Texte aus dem Nachlass darstellen. Um diese Schriften nicht zu vernachlässigen, sollen hier in einem Vierschritt für das Thema relevante Texte analysiert werden. Durch dieses Vorgehen dürfte herausgearbeitet werden, dass Nietzsche bezüglich der Seinsfrage mehrere Entwürfe vorgibt, die nicht nur in sich oszillierend sind, sondern ebenso – gewissermaßen durch die Arbeit an Platon – ein gemeinsames Band erkennen lassen: die Neubeantwortung der Frage, wie Philosophie auszusehen hätte, wenn sie sich nicht primär an der Wahrheit des Seins orientiert. Begonnen wird mit Nietzsches erster Schaffensphase, die, wie Vattimo betont14 , aus seiner Provenienz als Altphilologe zu deuten ist.

4.2

(Anti-)Sokratische Philologie

Anders als Heidegger, dessen Zugang zur Metaphysik sich aus seiner philosophischen Herkunft speist, ist Nietzsches Herangehen an das abendländische Denken (alt-)philologischer Natur. Beiden gemein ist freilich die starke Orientierung auf das griechische Erbe. So schreibt Nietzsche im Vorwort zu Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung, dass ich nur, sofern ich Zögling älterer Zeiten, zumal der griechischen bin, über mich als ein Kind dieser jetzigen Zeit zu so unzeitgemässen Erfahrungen komme. So viel muss ich mir aber selbst von Berufs wegen als classischer Philologe zugestehen dürfen: denn ich wüsste nicht, was die classische Philologie in unserer Zeit für einen Sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäss – das heisst gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit – zu wirken.15 11 12 13 14 15

Vattimo, Gianni: Friedrich Nietzsche. S. 1 Vattimo, Gianni: Friedrich Nietzsche. S. 29. Vattimo, Gianni: Friedrich Nietzsche. S. 58. Vgl. Vattimo, Gianni: Friedrich Nietzsche. S. 5f. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: Ders.: KSA, Band 1. S. 243-334, hier S. 247.

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Nietzsches Selbstbehauptung kommt einer zukunftsbezogenen Rückkehrbewegung gleich, die ihre Wurzel aus dem Griechischen nimmt. Sie könnte gleichsam als ›Motor‹ beschrieben werden, der die als Stillstand empfundene Philosophie(-geschichte) in dem Sinne dynamisiert, als etablierten Seinssystemen – von Platon über Aristoteles bis Kant und Hegel – die Wert-Wurzel entzogen werden soll. In diesem Kontext hat Nietzsche nicht ein konsistentes Bild der Antike16 oder eine ›authentische‹ Rekonstruktion derer im Sinn; vielmehr macht er eine quasi‐metaphorische Relation zwischen Moderne und Antike auf, um die Statik der Philosophie und damit des Seinsdenkens zu vitalisieren. Es wird nicht auf Anhieb deutlich, wie und wer die Antike Nietzsches ist. […] Aufgrund des für die Moderne und für Nietzsche bestimmenden Bedürfnisses der Selbstverständigung repräsentieren die Griechen die notwendige Gegenseite eines Denkens, das sich als durch die Antike wiederzugebärende, neue Identität versteht.17 Nietzsche proklamiert diese »neue Identität« nicht durch den Versuch, strukturelle Parallelen zwischen Deutschem und Griechischem im Denken aufzudecken – wie es bei Heidegger oftmals der Fall ist, wenn er vom Griechischen ausgehend Übersetzungen wagt, die an das Wesen des Begriffes rühren sollen. Weitaus eher findet sich, vor allem in seinem frühen Schaffen, eine emphatische ›Typologisierung‹ des Griechischen, welche in ihrer möglichen Übertragbarkeit auf die Moderne das Affektive der Philosophie ins Blickfeld rückt. »Alles moderne Philosophiren ist politisch und polizeilich, durch Regierungen Kirchen Akademien Sitten Moden Feigheiten der Menschen auf den gelehrten Anschein beschränkt. Es bleibt beim Seufzer ›wenn doch‹ oder bei der Erkenntniß ›es war einmal‹.« (KSA 1, S. 812) Sicherlich generalisiert Nietzsche hier die Philosophie der Moderne – gilt ihm Schopenhauer zu dieser Zeit ja als erster Ansprechpartner18 –, dennoch wird der Grundton seiner Polemik klar: Nietzsche empfindet die Philosophie seiner Zeit als sanktionierte, kraftlose Instanz, deren Fluchtpunkt entweder im Konjunktiv oder in Nostalgie mündet. »Dagegen haben die Griechen es verstanden, zur rechten Zeit anzufangen, und diese Lehre, wann man zu philosophiren anfangen müsse, geben sie so deutlich, wie kein anderes Volk.« (KSA 1, S. 805) Die Griechen haben es nach Nietzsche gewusst, den richtigen Moment des Denkbeginns zu wählen, allerdings: »Sie konnten nicht zur rechten Zeit aufhören; denn noch im dürren Al16 Vgl. Lossi, Annamaria: Nietzsche und Platon. S. 17-18. 17 Lossi, Annamaria: Nietzsche und Platon. S. 18. 18 Nicht ohne Grund widmet Nietzsche Schopenhauer die dritte Unzeitgemässe Betrachtung (vgl. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemässe Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher. In: Ders.: KSA, Band 1. S. 335-427).

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ter gebärdeten sie sich als hitzige Verehrer der Philosophie, ob sie schon unter ihr nur die frommen Spitzfindigkeiten und die hochheiligen Haarspaltereien der christlichen Dogmatik verstanden.« (KSA 1, S. 805) Die unausgesprochene Zäsur zwischen dem Beginn »der altgriechischen Meister Thales Anaximander Heraklit, Parmenides Anaxagoras Empedokles Demokrit und Sokrates« (KSA 1, S. 807) und der Verfallserscheinung macht dann natürlich Platon aus, der die ›ungriechische‹ – gemäß Nietzsches Anschauung schon bei Parmenides angelegte (vgl. KSA 1, S. 836f.) – Trennung von ideellem Sein und faktischem Werden in ihrer historischen Wirkmächtigkeit perpetuierte. Interessant an dieser Einstufung ist zweifellos die liminale Position des Sokrates, den Nietzsche noch unter die Größen der griechischen Spekulation einordnet. Verwundern muss dies jedoch mit Blick auf Nietzsches 1871 erstveröffentlichten Text Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik nicht. Nicht nur findet sich in dieser frühen Schrift eine Abkehr von der schulmäßig‐universitären Philologie, sondern ein ästhetisches Programm, welches sich vor dem Hintergrund »des Apollinischen und des Dionysischen« (KSA 1, S. 25) entfaltet. »Die Geburt der Tragödie ist gleichzeitig eine Neuinterpretation des Griechentums, eine philosophische und ästhetische Revolution, eine Kritik der zeitgenössischen Kultur sowie ein Programm zu deren Erneuerung.«19 Es geht Nietzsche hierbei um den Aufweis des stets wirkenden Gegensatzes, »des Traumes und des Rausches« (KSA 1, S. 26), ohne welchen die Einheit der kunstmäßig‐werdenden Erfahrung nicht gewährleistet werden könnte. Diesen allegorischen Gegensatz formuliert Nietzsche, indem er »Apollo, als der Gott aller bildnerischen Kräfte« (KSA 1, S. 27), welcher ordnend und ›traumhaft‹ Getrenntes und Zerrüttetes zusammenfügt, mit dem musisch‐rauschhaften Dionys kontrastiert, welcher nur ein Postulat zu fordern scheint: »Wir sollen erkennen, wie alles, was entsteht, zum leidvollen Untergange bereit sein muss, wir werden gezwungen in die Schrecken der Individualexistenz hineinzublicken […].«20 (KSA 1, 109) Beide Sphären sind indessen nicht zu trennen, vielmehr stehen sie in permanenter Wechselwirkung und dominieren so eine bestimmte Epoche der Tragödiendichtung, als deren Protagonisten Nietzsche vor allem Sophokles und Aischylos identifiziert (vgl. KSA 1, S. 68-71). Der schroffe Antipode dieser Epoche ist für Nietzsche Euripides, dessen eigentliche Stimme nicht mehr die Dualität von Apollinischem und Dionysischem 19 Vattimo, Gianni: Friedrich Nietzsche. S. 8. 20 Nietzsche ist in der Geburt der Tragödie bestrebt, der klassischen Stilisierung des Griechentums à la Winckelmann, Schiller und Hölderlin zu fliehen (vgl. Geisenhanslüke, Achim: Einführung in die Literaturtheorie. S. 29). Die hier zitierte Referenz weist hingegen Parallelen zum nihilistischen Gestus des Goethe’schen Mephistopheles auf: »Ich bin der Geist, der stets verneint!/Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,/ist wert, daß es zugrunde geht;/Drum besser wär’s, daß nichts entstünde./So ist denn alles, was ihr Sünde,/Zerstörung, kurz das Böse nennt,/Mein eigentliches Element.« (Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil. S. 47)

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spricht, sondern von einem anderen, metaphysischen Geist behaucht zu sein scheint: Sokrates. »Auch Euripides war in gewissem Sinne nur Maske: die Gottheit, die aus ihm redete, war nicht Dionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner Dämon, genannt Sokrates.« (KSA 1, S. 83) Das von Apollinischem und Dionysischem beherrschte Drama und Mysterienspiel erfährt durch den »aesthetischen Sokratismus« (KSA 1, S. 85) eine Bruchstelle, welche eine Parallelisierung zwischen Vorsokratik – nicht umsonst nennt Nietzsche seine Geschichte der vorplatonischen Epoche Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen – und attischer Tragödiendichtung zulässt: Analog zum ersten Anheben des Denkens in vorsokratischer Zeit entfaltet sich nach Nietzsche in der Tragödie eine Wirkungsästhetik, die sich aus der Unmittelbarkeit des Ausdrucks speist – ohne dabei kategorisch auf einen ›Essenzialismus‹ zurückkommen zu müssen: »En vérité, il n’y a pas d’essence du tragique : il n’y a qu’un certain art du tragique, où le plaisir joue avec le déplaisir, la jouissance avec la souffrance, la présence avec l’absence, l’identification avec la différenciation […].«21 Diese unmittelbar‐differenzierende Wirkung, die eben nicht auf eine Ontologisierung des Wahrgenommenen oder eine verstandesmäßige Überformung der ›Wirklichkeit‹ abzielt, zeigt sich im Spruch: »denn nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt« (KSA 1, S. 48). Natürlich kann diese Sentenz dem Seinsdenken nicht entkommen; geht es ja um »das Dasein und die Welt«, welche nichts anderes als seinsbezügliche Referenzen darstellen. Dennoch wird Nietzsches Ansinnen flagrant: Das »aesthetische[s] Phänomen« prädominiert, und nicht eine wie auch immer geartete Spekulation aus dem Geiste des umfassenden Seins. Dies bedeutet dann, dass erst die vorgängige Ästhetik demjenigen, was als Dasein und Welt auftritt, die finale Legitimation verleiht – nicht umgekehrt. Vor diesem Hintergrund wird Sokrates – genauer: demjenigen, was Nietzsche mit der Figur des Sokrates verbindet – eine Funktion zugesprochen, die dem Apollinischen und Dionysischen entgegensteht: »Mit Sokrates habe sich die Vernunft von der Erfahrung des Tragischen gelöst und eine Philosophie etabliert, die in einem fatalen Verkennen der Verfasstheit der menschlichen Existenz die Rationalität des Erkennens in den Mittelpunkt der Philosophie stellt.«22 Für Nietzsche steht die »Erfahrung des Tragischen« im Zentrum des Interesses. Eine Erfahrung, oszillierend zwischen Individuation und deren Enthebung, mit der das sokratische Streben nach ›wahrem‹, geprüftem Wissen nicht mehr vereinbar zu sein scheint. Von diesem Punkte aus glaubte Sokrates das Dasein corrigieren zu müssen: er, der Einzelne, tritt mit der Miene der Nichtachtung und der Ueberlegenheit, als Vorläu21 Pautrat, Bernard: Versions du soleil. S. 108. 22 Geisenhanslüke, Achim: Einführung in die Literaturtheorie. S. 29.

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fer einer ganz anders gearteten Cultur, Kunst und Moral, in eine Welt hinein, deren Zipfel mit Ehrfurcht zu erhaschen wir uns zum grössten Glücke rechnen würden. (KSA 1, S. 90) Nicht ohne jeden Pathos beschwört Nietzsche eine durch Sokrates angestoßene, epochale Trennung zwischen den Welten des Tragischen und des Rationalen herauf. Allerdings ist nicht »eine Destruktion der Rationalität am Leitfaden des Dionysischen [zu] erkennen«23 , sondern eine kühne Diagnose: Das Kollektiv der Vor-Sokratiker – freilich inbegriffen der Dichter vor Sokrates – besäßen einen Zugang zur ›Wahrheit‹ des Affekts, der demjenigen des Menschen, in welchem sich eben die Kunstriebe des Apollinischen und Dionysischen spiegeln, am nächsten käme. Das Erscheinen des Sokrates hingegen, gekoppelt an dessen ideelle und wertende (Wieder-)Entdeckung der Seinsfrage, bringt diese ›Urkraft‹ ins Wanken, ja zeitigt diese: Wer ist das, der es wagen darf, als Einzelner das griechische Wesen zu verneinen, das als Homer, Pindar und Aeschylus, als Phidias, als Perikles, als Pythia und Dionysus, als der tiefste Abgrund und die höchste Höhe unserer staunenden Anbetung gewiss ist? Welche dämonische Kraft ist es, die diesen Zaubertrank in den Staub zu schütten sich erkühnen darf? Welcher Halbgott ist es, dem der Geisterchor der Edelsten Menschheit zurufen muss: »Weh! Weh! Du hast sie zerstört, die schöne Welt, mit mächtiger Faust; sie stürzt, sie zerfällt!« (KSA 1, S. 90) Nietzsches Emphase des Erhabenen ist eine doppelte: Einerseits trifft man auf eine Erhöhung der Protagonisten der griechischen Frühzeit, andererseits wirkt »die dämonische Kraft« des »Halbgott[es]« Sokrates mindestens ebenbürtig – wenn nicht insofern stärker, als sie in der Lage ist, die mythische Tradition zu brechen. Annamaria Lossi verweist auf diesen Punkt: Indem die Logik durch Sokrates zum absoluten Kriterium der Wahrheitssuche aufsteigt, werden die Einstellungen der ersten Vertreter der Philosophie negiert, es wird die Ansicht derjenigen Tradition verdunkelt, die die Welt als deutungsvoll, ästhetisch interpretierbar, in ihrer unendlichen Komplexität unbegreifbar ansah.24 Sicherlich ist dies zutreffend, Lossis Bemerkung sollte allerdings erweitert werden. Der Sokrates, von dem Nietzsche an dieser Stelle spricht, ist ein enthusiasmiertes Mischwesen, das nicht die totale Ratio verkörpert, sondern – in gewissem Sinn wie die sokratische Stimme, die in Euripides laut wird – der Hilfe eines göttlichen Korrektivs bedarf: »In besonderen Lagen, in denen sein ungeheurer Ver23 Geisenhanslüke, Achim: Einführung in die Literaturtheorie. S. 29. 24 Lossi, Annamaria: Nietzsche und Platon. S. 48.

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stand in’s Wanken gerieht, gewann er einen festen Anhalt durch eine in solchen Momenten sich äussernde göttliche Stimme.« (KSA 1, S. 90) Nietzsche spielt hier auf das manisch‐pneumatische Element an, wie es sich in Bezug auf die Dichtung im platonischen Dialog Ion (vgl. 533 d – 534 e) und des philosophischen Aufweises der Unsterblichkeit der Seele im Phaidros (vgl. 245 c – 246 a) findet. Das »Dämonion des Sokrates« (KSA 1, S. 90) entspricht jedoch nicht blinder Raserei oder enthemmter Sinnlosigkeit. Im Gegenteil hemmt der durch Sokrates sich artikulierende Dämon die ›tragische‹ Erkenntnis: »Diese Stimme mahnt, wenn sie kommt, immer ab. Die instinctive Weisheit zeigt sich bei dieser gänzlich abnormen Natur nur, um dem bewussten Erkennen hier und da hindernd entgegenzutreten.« (KSA 1, S. 90) Nietzsche zeichnet ein umgekehrtes Bild von Sokrates, indem er ihm einen Prototyp des Menschen entgegenstellt: Während doch bei allen productiven Menschen der Instinct gerade die schöpferisch‐affirmative Kraft ist, und das Bewusstsein kritisch und abmahnend sich gebärdet: wird bei Sokrates der Instinct zum Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer – eine wahre Monstrosität per defectum! (KSA 1, S. 90) Dass Begriffe wie »Bewusstsein« und »Instinct« moderne Termini sind, die bei den Griechen schlicht keine Verwendung gefunden hätten, scheint Nietzsche nicht zu stören. Vielmehr ›popularisiert‹ und entphilologisiert er an dieser Stelle das Griechische, um einen unverbrauchten Zugang zu seiner Sicht auf Sokrates aufzumachen. Dabei ist Nietzsches Intention deutlich: Sokrates stellt keinen Menschen mehr da, der – nun verschwimmt das Griechentum mit der Moderne – Schaffenskraft aus dem Instinktiven schöpft, sondern dessen Januskopf, bei dem Intuition mit Kritikfunktion konvergiert und dessen ›Kreativität‹ von geistiger Leistungskraft dominiert ist. Es wäre nicht übertrieben, Nietzsches Sokrates als philosophische ›Missgeburt‹ zu verstehen, der als negative Allegorie zu den Vorsokratikern inszeniert wird. Und zwar nehmen wir hier einen monstrosen defectus jeder mythischen Anlage wahr, so dass Sokrates als der spezifische Nicht-Mystiker zu bezeichnen wäre, in dem die logische Natur durch eine Superfötation eben so excessiv entwickelt ist wie im Mystiker jene instinctive Weisheit. (KSA 1, S. 90) Der biologistische Exkurs, den Nietzsche durch die angebliche geistig‐rationale Doppelbefruchtung des Sokrates bemüht, bricht die Dualität von Apollinischem und Dionysischem zum Zwecke einer kontrastiven Trias, welche letztendlich wieder als Dualität die Geburt der Tragödie motivisch bestimmt: Die tragenden Figuren des Textes sind Apoll, Dionys und Sokrates (Euripides). Während erstgenannte allegorisch für das Prinzip des Tragischen stehen, also für ein Prinzip, das durch die Zwei angetrieben wird, verkörpert Sokrates ein neues, ›logisches‹ Denken, welches die Tiefe des Tragischen kritisch nivelliert. So wird das Sokratische ebenfalls zum

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(Gegen-)Prinzip; es handelt sich jedoch um ein »mörderische[s] Prinzip« (KSA 1, S. 87), das gegenwertig zum Tragischen funktioniert und das dialektische Seinsdenken erst in Gang setzen konnte. Es muss diesbezüglich differenzierend betont werden, dass »das ungeheure Triebrad des logischen Sokratismus gleichsam hinter Sokrates in Bewegung ist, und wie dies durch Sokrates wie durch einen Schatten hindurch angeschaut werden muss«, wobei Sokrates nach Nietzsche »von diesem Verhältniss eine Ahnung hatte« (beide KSA 1, S. 91) – was schließlich in der ›bewussten‹ Entscheidung kulminiert, dass Sokrates sehenden Auges »die Todesstrafe einer Verbannung vorzog«25 . Damit ist allerdings noch nicht geklärt, welche Rolle Platon, dessen Posten als literarisch‐historischer Gewährsmann der sokratischen Philosophie diffizil zu beurteilen ist26 , in diesem Gefüge zugesprochen bekommt. Den prekären Konnex zwischen platonischer Schriftlichkeit und sokratischer Mündlichkeit stellt Nietzsche wider Erwarten nicht in den Vordergrund. Eher stilisiert er das Schüler-/Lehrerverhältnis, indem er eine zweifach historisierende Idealisierung der ›Typen‹ Sokrates/Platon vornimmt: »Der sterbende Sokrates wurde das neue, noch nie sonst geschaute Ideal der edlen griechischen Jugend: vor allen hat sich der typische hellenische Jüngling, Plato, mit aller inbrünstigen Hingebung seiner Schwärmerseele vor diesem Bilde niedergeworfen.« (KSA 1, S. 91) Interessanterweise knüpft Nietzsche seine weiteren Bemerkungen zu Platon – man könnte sagen: stringent im die Ästhetik fokussierenden Duktus – an dessen Kunstfeindlichkeit, die sich aus der Beeinflussung durch Sokrates nachvollziehen lässt. »Wie Plato, rechnete er sie [die tragische Kunst] zu den schmeichlerischen Künsten, die nur das Angenehme, nicht das Nützliche darstellen« (KSA 1, S. 92), dementsprechend diametral der Philosophie entgegenstehen, weil die Künste »[e]twas recht Unvernünftiges, mit Ursachen, die ohne Wirkungen, und mit Wirkungen, die ohne Ursachen zu sein schienen« (KSA 1, S. 92). Mit dieser Einschätzung kommentiert Nietzsche fürs Erste konzis die platonische Dichterkritik, wie sie vor allem im zehnten Buch der Politeia (vgl. Pol. 595 a – 608 b) unternommen wird. Doch unterscheidet Nietzsche zwischen Platon und Sokrates27 insofern, als er erwähnt, »dass der jugendliche Tragödiendichter Plato zu allererst seine Dichtungen verbrannte, um Schüler des Sokrates werden zu können« (KSA 1, S. 92). Tatsächlich lässt sich eine gewisse Nostalgie bei Platon finden, bevor er durch die Figur Sokrates zum Angriff auf die Dichtkunst, welche aus platonischer Perspektive gattungstheoretisch das Epos unter die Tragödie einordnet, ausholt: 25 Patt, Walter: Formen des Anti-Platonismus bei Kant, Nietzsche und Heidegger. S. 78. 26 Vgl. hierzu: Erler, Michael: Platon. S. 47-55. 27 Vgl. hierzu: Lossi, Annamaria: Nietzsche und Platon. S. 49.

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Ich muß mich wohl erklären, sprach ich, wiewohl eine Liebe und Scheu, die ich von Kindheit an für den Homeros hege, mich hindern will zu reden. Denn er mag doch wohl aller dieser trefflichen Tragiker erster Lehrer und Anführer gewesen sein. Aber kein Mann soll uns doch über die Wahrheit gehen; also muß ich wohl sagen, was ich denke.28 (Pol., 595 b–c) Platon bemüht sich trotz seiner vormaligen Zuneigung zu den Werken Homers in der Nachfolge des Sokrates um den Ausschluss der Dichtkunst zugunsten der (guten, schönen, gerechten) Wahrheit. Der Philologe Nietzsche bemerkt die sich hier anschließende Schwierigkeit: Platon verwirft im Medium des kunstreichen Dialogs die Kunst im Allgemeinen, was stets eine Kontradiktion bleiben muss – ebenso wie der bei Nietzsche anzutreffende Widerspruch, Wahrheit durch eine logische Schlussfolgerung, welche dann Wahrheitsanspruch genießt, zu negieren. Ein gutes Beispiel dafür ist der eben genannte Plato: er, der in der Verurtheilung der Tragödie und der Kunst überhaupt gewiss nicht hinter dem naiven Cynismus seines Meisters zurückgeblieben ist, hat doch aus voller künstlerischer Nothwendigkeit eine Kunstform schaffen müssen, die gerade mit den vorhandenen und von ihm abgewiesenen Kunstformen innerlich verwandt ist. (KSA 1, S. 93) Die genuine Verwandtschaft zwischen den Ausdrucksformen des Tragischen und des Dialogischen ist für Nietzsche nicht nur eine formale. Vielmehr offenbart sich in dieser Affinität das Wesen der platonischen Philosophie selbst. Nietzsche gelingt mit diesem Hinweis Erstaunliches: Er bindet die Leistung der (platonischen) Philosophie an das Literarische zurück und gewährleistet somit die Möglichkeit einer Neuinterpretation der Trennung von Dichtung und Philosophie auf dem Fundament der Philologie. Der Hauptvorwurf, den Plato der älteren Kunst zu machen hatte, – dass sie Nachahmung eines Scheinbildes sei, also noch einer niedrigeren Sphäre als die empirische Welt ist, angehöre – durfte vor allem nicht gegen das neue Kunstwerk gerichtet werden: und so sehen wir denn Plato bestrebt über die Wirklichkeit hinaus zu gehn und die jener Pseudo-Wirklichkeit zu Grunde liegende Idee darzustellen. (KSA 1, S. 93) Nietzsche bezieht sich auf die bekannte Kritik Platons, Dichtung sei ein von der Wahrheit des (ideellen) Seins dreifach abstrahierendes, letztlich nihilistisches Phänomen (vgl. Pol., 598 e – 599 a). Nietzsches Platon kommt jedoch nicht nur aus denkerischer Notwendigkeit zu diesem Schluss, sondern aus dem ästhetischen Zwang, die traditionelle Kunstform des Tragischen, verstanden als ternär 28 Gr.: »Ῥητέον, ἦν δ᾽ ἐγώ· καίτοι φιλία γέ τίς με καὶ αἰδὼς ἐκ παιδὸς ἔχουσα περὶ Ὁμήρου ἀποκωλύει λέγειν. Ἔοικε μὲν γὰρ τῶν καλῶν ἁπάντων τούτων τῶν τραγικῶν πρῶτος διδάσκαλός τε καὶ ἡγεμὼν γενέσθαι. Ἀλλ᾽ οὐ γὰρ πρό γε τῆς ἀληθείας τιμητέος ἀνήρ, ἀλλ᾽, ὃ λέγω, ῥητέον.«

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mimetische Abweichung vom Sein, absorbieren zu müssen.29 Darin zeigt sich die strukturelle Ähnlichkeit zwischen der Tragödie sophokleischer Prägung und dem Dialogischen: Wenn die Tragödie alle früheren Kunstgattungen in sich aufgesaugt hatte, so darf dies in einem excentrischen Sinne vom platonischen Dialoge gelten, der, durch Mischung aller vorhandenen Stile und Formen erzeugt, zwischen Erzählung, Lyrik, Drama, zwischen Prosa und Poesie in der Mitte schwebt und damit auch das strenge Gesetz der einheitlichen sprachlichen Form durchbrochen hat[.] […] Der platonische Dialog war gleichsam der Kahn, auf dem sich die schiffbrüchige ältere Poesie sammt allen ihren Kindern rettete: auf einen engen Raum zusammengedrängt und einen Steuermann Sokrates ängstlich unterthänig fuhren sie jetzt in die Welt hinein, die an dem phantastischen Bilde dieses Aufzugs sich nie satt sehen konnte. (KSA 1, S. 93-94) Mit der Metapher des Schiffes, welches als letzter Rückzugsort der tragisch‐poetischen Tradition zu dienen scheint, überträgt Nietzsche die Verfallstendenz selbst ins Dichterische. Auch wird folglich ein neues Machtverhältnis sichtbar: Die Kunstform des Tragischen kann sich nicht mehr selbst regieren und damit ihre Wirkung entfalten, sie benötigt die Philosophie, welche als dialektische Ontologie im platonischen Nihilismus kulminieren wird, um sich zu rechtfertigen: »Hier überwächst der philosophische Gedanke die Kunst und zwingt sie zu einem Sich-Anklammern an den Stamm der Dialektik.« (KSA 1, S. 91) Annamaria Lossi schreibt in ihrer Untersuchung zu Nietzsche und Platon: »Nietzsche wünscht und strebt nach der Befreiung des Denkens, das unter dem Namen Platonismus seit Jahrhunderten dem Joch der Rationalisierung und Logisierung des Lebens unterstellt ist.«30 Es ist diese Loslösung von der Fessel der Dialektik, die Nietzsche in der Geburt der Tragödie antreibt, sein ästhetisches Programm gegen die Gründer der Philosophie, Sokrates und Platon, zu spiegeln. Dass dies anti‐ethische Implikationen nach sich zieht, ist mit Blick auf Sokratesʼ Bestreben deutlich, die Idee, welche in gewisser Weise nichts anderes ist als 29 Hier tut sich ein neuer Ansatz möglicher Nietzsche-Forschung auf: Die Medientheorie postuliert seit Marshall McLuhan (vgl. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle) immer wieder, neue Medien nähmen alte in sich auf, um sie gewissermaßen zu ›re‐mediieren‹ (vgl. Bolter, Jay David/Grusin, Richard: Remediation: Understanding New Media. S. 22f.). Nietzsche nimmt dieses Konzept im Grunde gattungstheoretisch in der Geburt der Tragödie vorweg. Allerdings mit einem frappanten Unterschied: Während nach McLuhan der Inhalt von Medien stets andere Medien seien (vgl. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. S. 25), legt Nietzsche das Augenmerk auf die Botschaft der jeweiligen Kunstform. 30 Lossi, Annamaria: Nietzsche und Platon. S. 49.

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eine Metaphorisierung des wahren Seins31 , mit Eigenschaften des Schönen und des Tugendhaften zu konföderieren: »Dann aber auch wieder das Schöne selbst und das Gute selbst und so auch alles, was wir vorher als vieles setzen, setzen wir als eine Idee eines jeden und nennen es jegliches, was es ist.«32 (Pol., 507 b) Die platonisch‐sokratische Identifikation von Sein, Idee, Gutem und Schönem ist schwerlich mit dem Tragischen in Verbindung zu bringen, da nach Nietzsche in der sokratischen Konstellation ein Glücksversprechen mitschwingt, welches der Tragödie innerlich fremd, ja feindlich ist. In direkter Rede formuliert Nietzsche das sokratische Credo, um dieses sogleich als Primitivismus herabzustufen: »Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der Tugendhafte ist der Glückliche«: in diesen drei Grundformen des Optimismus liegt der Tod der Tragödie. Denn jetzt muss der tugendhafte Held Dialektiker sein, jetzt muss zwischen Tugend und Wissen, Glaube und Moral ein nothwendiger sichtbarer Verband sein, jetzt ist die transscendentale Gerechtigkeitslösung des Aeschylus zu dem flachen und frechen Prinzip der »poetischen Gerechtigkeit« mit seinem üblichen deus ex machina erniedrigt. (KSA 1, S. 94-95) Nietzsche sieht in der sokratischen Philosophie die Peripetie einer geschichtlichen Epoche erreicht: Wenn Tugend und Wissen eine Allianz eingehen, um schließlich in ihrem dialektischen Zusammensein Glück zu garantieren, dann tritt eine Destruktion des gewohnten Umgangs mit dem Sein in Kraft, der eben nicht Wissen und Gerechtigkeit in eins setzt, sondern auf unmittelbare Wirkung abzielt. Dass Sokrates etwas von seiner ›Versündigung‹ – vor allem gegen das Dionysische – geahnt zu haben scheint, macht Nietzsche deutlich, wenn er die letzten Stunden des Maieutikers skizziert. »Jener despotische Logiker hatte nämlich hier und da der Kunst gegenüber das Gefühl einer Lücke, einer Leere, eines halben Vorwurfs, einer versäumten Pflicht.« (KSA 1, S. 96) Die sokratische Nullstelle kann freilich nicht mit ontologischer Spekulation gefüllt werden. Ist es ja gerade diese, die Sokrates, befördert vom Impuls der Dialektik, in den ›metaphysischen‹ Dialogen antreibt, das Sein mit der Idee gleichzusetzen. Vielmehr entspricht die Ausfüllung der sokratischen Leere erneut der enthusiastisch‐göttlichen Stimme, »eine Traumerscheinung, die immer dasselbe sagte: ›Sokrates, treibe Musik!‹« (KSA 1, S. 96) Nietzsche spielt hier auf die bekannte Passage im Phaidon an, in der 31 Man könnte sagen, dass dies einen Grund darstellt, warum die Ideenlehre schließlich zu Fall gebracht wird: Das Problem, wie das monistische Moment des Seins mit der Vielheit der Ideen bzw. mit der etwaigen Schlechtigkeit der Ideen, zu vereinbaren sei, wird schon von Platon im Dialog Parmenides gesehen (vgl. Parm., 130 cf.). Aristoteles bricht dann in der Metaphysik endgültig mit der Ideenlehre durch das Argument des »dritten Menschen« (vgl. Met., 990 b). 32 Gr.: »Καὶ αὐτὸ δὴ καλὸν καὶ αὐτὸ ἀγαθόν, καὶ οὕτω περὶ πάντων ἃ τότε ὡς πολλὰ ἐτίθεμεν, πάλιν αὖ κατ᾽ ἰδέαν μίαν ἑκάστου ὡς μιᾶς οὔσης τιθέντες, ›ὃ ἔστιν‹ ἕκαστον προσαγορεύομεν.«

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bezeichnenderweise vorerst nicht Sokrates das Wort hat, sondern Kebes seinem Meister dessen Beziehung zur Kunst ins Gedächtnis ruft: Denn nach deinen Gedichten, die du gemacht hast, indem du die Fabeln des Äsopos in Verse gebracht, und nach dem Vorgesang an den Apollon haben mich auch andere schon gefragt, und neulich Euenos, wie es doch zugehe, daß, seitdem du dich hier befindest, du Verse machest, obwohl du es zuvor nie getan hast.33 (Phaidon, 60 c–d) Im Angesicht des Todes verkehrt sich Sokratesʼ Verhältnis zur Kunst. Es ist »jene von ihm gering geachtete Musik« (KSA 1, S. 96), die an der Schwelle zum Selbstmord an die Position des wertorientierten Seinsdenkens tritt. »Es ist mir oft derselbe Traum vorgekommen in dem nun vergangenen Leben, der mir, bald in dieser, bald in jener Gestalt erscheinend, immer dasselbe sagte: O Sokrates, sprach er, mach und treibe Musik.«34  (Phaidon, 60 e) Natürlich sieht Nietzsche demgemäß auch seine Theorie von Apollinischem und Dionysischem bestätigt, da ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass Sokrates seinen Gesang Apoll widmet. Das war etwas der dämonischen warnenden Stimme Aehnliches, was ihn zu diesen Uebungen drängte, es war die apollinische Einsicht, dass er wie ein Barbarenkönig ein edles Götterbild nicht verstehe und in der Gefahr sei, sich an einer Gottheit zu versündigen – durch sein Nichtverstehn. (KSA 1, S. 96) Das sokratische Mantra, man dürfe nur über einen Sachverhalt Aussagen treffen, wenn man über diesen Wissen – als Verbindung der Wahrheit des Seins mit dem Sachverhalt – besitze oder aber sich im Zustand des Enthusiasmus befände und dann durch göttliche Eingabe Eingehauchtes vorbringe (vgl. Ion, 533 d), verkehrt sich, wie Nietzsche richtig bemerkt, im Phaidon zugunsten einer momentanen Mischform von Ergriffensein und logischer Einsicht. Heinz Schlaffer fügt in seinem äußerst konzisen Text Poesie und Wissen diesbezüglich an: »Poetisches Wissen war nämlich fragwürdig geworden, seitdem sich ein selbständiges Wissen außerhalb der Poesie gebildet hatte.«35 So wird das »Nichtverstehn« ante mortem zum »einzige[n] Zeichen einer Bedenklichkeit über die Grenzen der logischen Natur« (KSA 1, S. 96), was Nietzsche mit drei Fragen suggerierend an Sokrates rückbindet: [V]ielleicht – so musste er sich fragen – ist das Nichtverständliche doch nicht auch sofort das Unverständige? Vielleicht giebt es ein Reich der Weisheit, aus dem der 33 Gr.: »Περὶ γάρ τοι τῶν ποιημάτων ὧν πεποίηκας ἐντείνας τοὺς τοῦ Αἰσώπου λόγους καὶ τὸ εἰς τὸν Ἀπόλλω προοίμιον καὶ ἄλλοι τινές με ἤδη ἤροντο, ἀτὰρ καὶ Εὔηνος πρῴην, ὅτι ποτὲ διανοηθείς, ἐπειδὴ δεῦρο ἦλθες, ἐποίησας αὐτά, πρότερον οὐδὲν πώποτε ποιήσας.« 34 Gr.: »Πολλάκις μοι φοιτῶν τὸ αὐτὸ ἐνύπνιον ἐν τῷ παρελθόντι βίῳ, ἄλλοτ᾽ ἐν ἄλλῃ ὄψει φαινόμενον, τὰ αὐτὰ δὲ λέγον, ,ὦ Σώκρατες, ' ἔφη, ,μουσικὴν ποίει καὶ ἐργάζου'.« 35 Schlaffer, Heinz: Poesie und Wissen. S. 13.

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Logiker verbannt ist? Vielleicht ist die Kunst sogar ein nothwendiges Correlativum und Supplement der Wissenschaft? (KSA 1, S. 96) Diese Fragen besitzen insofern unbedingte Wichtigkeit, als sie nicht nur für den sterbenden Sokrates signifikant zu sein scheinen, sondern Nietzsches Werk selbst motivisch durchziehen. So wird das Ende des Logikers par excellence zum Anfang der Nietzsche’schen Bemühungen, eine Philosophie zu entwickeln, die sich aus dem Korsett der (onto-)logischen Faktizität zu befreien sucht. Die sokratisch‐platonische Wiederentdeckung der Seinsfrage unterliegt hinsichtlich dessen einer erneuten Entdeckung bei Nietzsche – allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Es wäre angebracht, in der Geburt der Tragödie gleichsam die Geburt eines revolutionär‐negativen Denkens zu sehen, das sich gegen »den Typus des theoretischen Menschen« (KSA 1, S. 98) richtet, respektive diesen als Allegorie für die Wahrheitssuche um der Suche und nicht um der Wahrheit willen festhält (vgl. KSA 1, S. 99). Die »theoretische Weltbetrachtung«, die Sokrates einleitet, enthält einen Optimismus, der die für die Tragödie förderliche Atmosphäre verdirbt. Der Sokratismus erfährt jedoch die prinzipielle Begrenztheit des Wissens und vermag daher das Dasein in seiner Negativität nicht zu rechtfertigen, mündet vielmehr in Pessimismus. Die Rechtfertigung des Daseins mit seinen dunklen Zügen ist aber gerade […] die Leistung der Kunst, und sie gilt ihm deshalb als lebensnotwendig, mindestens lebensfördernd.36 Walter Patt fasst prägnant die elementare Relation von aufkommendem Optimismus und untergehender Tragödie zusammen, indem er die Negativität zum Marker der ästhetischen Ermöglichungsleistung erhebt. Der platonische – wenn man die Textstruktur des Sophistes betrachtet, indessen nicht sokratische (vgl. Soph., 216 a – 218 a) – Gegensatz von ἐναντίον und ἕτερον37 kann diesbezüglich für Nietzsche in der Geburt der Tragödie nicht gelten, weil die tragische Negativität des Anders-Seins dem Dasein erst die Positivität abzuringen vermag. Nietzsche weiß hingegen um die ontologische Problematik, die sich an diesem Punkt ankündigt, wenn er singuläre Erkenntnis mit dem sokratischen Streben nach allgemeiner Seinsauslegung – man könnte sagen: Seinsverlegung – pathologisierend kontrastiert: Nun steht freilich neben dieser vereinzelten Erkenntniss, als einem Excess der Ehrlichkeit, wenn nicht des Uebermuthes, eine tiefsinnige Wahnvorstellung, welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam, jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe 36 Patt, Walter: Formen des Anti-Platonismus bei Kant, Nietzsche und Heidegger. S. 89. 37 Vgl. zur Unterscheidung dieser beiden Pole S. 147 der vorliegenden Untersuchung.

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des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei. (KSA 1, S. 99) Es wird eine klare Hierarchie skizziert, welche a) dem (Wahn-)Glauben eine Primärstellung einräumt, b) das kausale Denken unter diesen einstuft und c) das Sein als letzte denkbare und vor allem reversible Instanz vorstellt. Es findet sich demnach keine Polemik gegen das Ontologische per se, sondern eine einfache historische Bilanzierung: Mit dem sokratischen Optimismus changiert die tradierte Seinsauslegung, die, fern der Kausalität, das Sein möglicherweise noch im Rahmen der Erkenntnis zu fassen suchte, sich aber nicht verstieg, dieses Sein selbst dem Glauben unterzuordnen und damit in die Gewalt des Anders-Seins zu zwingen. Für Nietzsche macht diese einmalige Abweichung vom tragischen Seinsverständnis nichts weniger aus als das instinktive Wesen der metaphysischen Wissenschaft: »Dieser erhabene metaphysische Wahn ist als Instinct der Wissenschaft beigegeben und führt sie immer wieder zu ihren Grenzen, an denen sie in Kunst umschlagen muss: auf welche es eigentlich, bei diesem Mechanismus, abgesehen ist.« (KSA 1, S. 99) Auch wenn die Metapher des Mechanischen in gewisser Weise untauglich für die Illustration des Wandels des frühgriechischen Seinsdenkens zu sein scheint, zeigt sich schon in der Geburt der Tragödie die Programmatik des Nietzsche’schen Umwertungsversuch: Wenn das auf schlichtem Glaubenssatz basierende Denken nicht die Tiefe des Seins auszuschöpfen vermag, dann muss ein Weg gefunden werden, um die der Metaphysik eigene Liminalität zu überwinden. Die Frage, was nach dieser Grenzüberschreitung zu erwarten sei, beantwortet Nietzsches Werk – man bedenke den zentralen Text Also sprach Zarathustra – selbst: Nicht eine wie auch immer geartete logisierende Philosophie oder deren nihilistische Kulmination ist es, die an die Stelle des Wert-Denkens treten soll, sondern die von Platon ver- und geschmähte Kunst. Die Allegorie des sterbenden Sokrates beweist dies aufs Deutlichste: Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst – da bricht die neue Form der Erkenntniss durch, die tragische Erkenntniss, die, um ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht. (KSA 1, S. 101) Natürlich klingt hier die Beeinflussung durch Schopenhauer an, welchem Musik als »eine so unmittelbare Objektivation und Abbild des ganzen Willens«38 galt; doch während Schopenhauer einerseits im Bilde Platons verharrte und andererseits der Musik die »Möglichkeit seiner [der Objektivation] Erlösung«39 zusprach, 38 Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band. In: Ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung I und II. S. 341. 39 Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band. In: Ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung I und II. S 352.

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geht es Nietzsche nicht um einen ästhetischen Eskapismus, sondern um das Anwesen einer (tragischen) Erkenntnis, die ihre Wirkung quasi‐kathartisch durch Kunst sublimiert. Eingedenk der Unterscheidung von Tragischem/Sokratismus und Dionysischem/Apollinischem ist nun der Bogen geschlagen, der auf die ›Systematik‹ der Nietzsche’schen Bemühungen hinweist. Die Entgegensetzung des Sokratismus und des Tragischen wirft ein Licht auf das, was Nietzsche mit den Begriffen des Apollinischen und Dionysischen in Wahrheit verfolgte und was er später als den Platonismus der europäischen Kultur bestimmte, den er überwinden wollte.40 Die Tauglichkeit des Apollinischen und Dionysischen als interpretatorische ›Werkzeuge‹ ästhetischer Phänomene dürfte nicht bestritten werden. Was jedoch wichtiger zu sein scheint, ist das metonymisch‐metaphorische Gefüge, das Nietzsche durch die Dokumentation dieser Kunsttriebe aufmacht: Apollinisches und Dionysisches stehen für zwei sich perpetuierende Prinzipien, die durch den Optimismus des Sokrates gebrochen werden. Dieser Bruch ist insofern auf das Verhältnis zum Platonismus verschiebbar, als Nietzsche durch die Rückkehr zur »tragische[n] Erkenntniss« die Fraktur zwischen Mensch und Philosophie zu kitten sucht. Dass dies nur unter dem Signum des erneuten Aufbrechens (platonisch‐metaphysischer) Werte gewährleistet werden kann, muss im Folgenden herausgearbeitet werden. Im Zentrum steht dabei eine Skizze des Nietzsche’schen Wahrheitsbegriffs, der in Also sprach Zarathustra paradoxerweise eine metaphysische Konkretisierung erfahren wird.

4.3

Bemerkungen zu Nietzsches Wahrheitsbegriff

Eine erstaunliche Notiz an Nietzsches Anti-Platonismus ist die Nichtbeachtung des Dialogs Sophistes. War es doch jener Text, der nicht nur die Grenzen der platonischen Ideenlehre aufzeigte, sondern im selben Moment einen anti‐parmenideischen Nihilismus ins Werk setzte, den der späte Nietzsche weitsichtig selbst diagnostiziert: »Resultat: der Glaube an die Vernunft-Kategorien ist die Ursache des Nihilismus, – wir haben den Werth der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingirte Welt beziehen.« (KSA 13, S. 49) Nietzsche kommt indessen nicht spontan zu dieser Einschätzung. Vielmehr arbeitet er sich Schritt für Schritt an eine seinskritische Einsicht heran, deren Fundament sich in der ebenfalls späten Einstellung zu Parmenides spiegelt: »Parmenides hat gesagt ›man denkt das nicht, was nicht ist‹ – wir sind am anderen Ende und sagen ›was gedacht werden kann, muß sicherlich Fiktion sein‹. Denken hat keinen Griff auf Reales, sondern nur 40 Vattimo, Gianni: Friedrich Nietzsche. S. 15.

4 Nietzsche: Vom Antiplatonismus zum Nihilismus

auf – – –[.]« (KSA 13, S. 332) Nietzsche operiert demnach nicht gegen den Wahrheitsbegriff per se, sondern verweigert vehement das von Parmenides begründete Postulat der Äquivalenz von Sein und Vernehmen.41 Freilich begeht er hinsichtlich dessen folgenreiche Fehler. In DK 28 B 3 heißt es: » … τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι«, was man mit »denn es ist dasselbe (sich bedingend): Vernehmen und Sein« (Übers. P. K.) übertragen könnte. Es handelt sich also um eine ausschließlich positive Bestimmung des Äquivalenz-Verhältnisses von Sein und Vernehmen. Nietzsche nun verkehrt in der für ihn charakteristischen Weise den Satz ins Negative; zudem kümmert er sich weder um die problematische Übersetzung von νοεῖν mit ›Denken‹, noch hat er eine finale Antwort auf die Frage, worauf Denken dann »Griff« haben sollte, wenn nicht auf die ›Realität‹ des Seins. Nietzsches Rekurs auf DK 28 B 3 endet schlicht mit einer dreifachen Auslassung – woran ein Interpret Lacan’scher Prägung sicherlich Gefallen finden dürfte.42 Prägnant formuliert: Nietzsche bekennt sich auch gegen Ende seines Schaffens nicht zur Seinsauslegung parmenideischer oder gar platonischer Provenienz. Wichtiger erscheint ihm eine Fiktionalisierung des ontologischen Wahrheitsbegriffs in doppelter Potenz: Wenn die abendländische Metaphysik Sein und Wahrheit unifizierend in einer philosophischen ›Erzählung‹ verbindet, so ist die daraus entstehende Einheit für Nietzsche nichts anderes als ein erdichtetes Vorstellungsbild im Sinne des Lateinischen ›fingere‹ – was letztlich den Einheitscharakter von Sein und Wahrheit suspendieren soll. Diese These offenbart sich schon in der 1874 erschienenen Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, welche leitmotivisch das Motto durchzieht: »Woher, in aller Welt, bei dieser Constellation der Trieb zur Wahrheit!« (KSA 1, S. 877) Es ist kein Zufall, dass der zitierte Satz nicht mit einem Frage-, sondern mit einem Ausrufezeichen endet. Ist Ueber Wahrheit und Lüge ja vor allem eine Offenlegung eines sprachtheoretischen Problemfeldes, das nach Nietzsche einer radikalen Erneuerung bedarf: Wenn Wahrheit einem »Friedensschluss« (KSA 1, S. 877) zwischen den nach Kollektivität strebenden Menschen gleichkommt, Nietzsche jedoch aufzeigen will, dass es sich um ein Phänomen der Konventionalität handelt (vgl. KSA 1, S. 877), dann darf der Text ruhigen Gewissens als ›Kriegserklärung‹ gegen die gebräuchliche Wahr-Nehmung gelesen werden. Dass Nietzsche hierbei den fiktionalen Charakter des Sprachgebrauchs hervorhebt, illustriert wieder sein Ansinnen, den abendländisch‐metaphysischen Wahrheitsbegriff aufzubrechen. »Jetzt wird nämlich das fixirt, was von nun an ›Wahrheit‹ sein soll d.h. es wird eine gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden 41 Vgl. zur Explikation von DK 28 B 3: S. 61-63. 42 Nietzsche nimmt hier einen Baustein der Lacan’schen Ausformung der Psychoanalyse insofern vorweg, als er die kardinale Rolle und zugleich die Unzugänglichkeit zum Realen betont (vgl. Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch XI. S. 59f.).

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und die Gesetzgebung der Sprache giebt auch die ersten Gesetze der Wahrheit[.]« (KSA 1, S. 877) Wenn Nietzsche schreibt, dass eine »verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden«43 wird, bedeutet dies allerdings, dass vor der (Er-)Findung eine Aus-Legung stattgefunden haben muss. Von diesem Standpunkt aus wäre man in der Lage – analog zur Interpretation der herakliteischen Fragmente B 1 und B 5044 –, erneut den λόγος-Diskurs aufzubringen. Ging es in diesem vorrangig um den Nachvollzug des (auf-)lesenden Wesens des λόγος, welcher sich bei Heidegger als ein »Sammeln« (GA II, 55, S. 267) präsentiert, so wäre man in der Lage, die Brücke zwischen der Nietzsche’schen Fiktionalisierungstendenz und der Entdeckung der Seinsfrage als Entdeckung der Wahrheit zu schlagen. Was diese ›Sammlung‹ in Ueber Wahrheit und Lüge ausmachen könnte, ist insofern kompliziert zu eruieren, als Nietzsche eben nicht die Stärkung eines bestimmten Wahrheitsbegriffs in den Vordergrund rückt, sondern dasjenige, was der Ausdruck ›Wahrheit‹ impliziert, allgemein aus metapherntheoretischer Warte beurteilt. Wenn er den »Contrast von Wahrheit und Lüge« (KSA 1, S. 877) ins Zentrum seiner Überlegungen stellt, ist es ihm um die Aufdeckung »der Wahrheit in Form der Tautologie« (KSA 1, S. 878) aus dem Geiste der Sprache gelegen, also um die Frage: »Ist die Sprache der adäquate Ausdruck aller Realitäten?« (KSA 1, S. 878) Die Vermengung von philologischen und philosophischen Spannungsfeldern, wie sie für Nietzsche typisch ist, tritt hier drastisch in der Tendenz hervor, sich einer disziplinären Verortung zu widersetzen, um von der Philologie ausgehend auf Philosopheme zu rekurrieren. »Das ›Ding an sich‹ (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit sein) ist auch dem Sprachbildner ganz unfasslich und ganz und gar nicht erstrebenswerth.« (KSA 1, S. 879) Im Rückgriff auf Kant positioniert sich Nietzsche zwischen Sprachwissenschaft und Philosophie. Allerdings ist in diesem Dazwischen gleichsam ein Dagegen zu erkennen, wenn die philosophische Letztbegründung des Seienden – repräsentiert durch das »Ding an sich« – nicht mehr als Statthalterin der Wahrheit per se fungiert, sondern als leere metaphorische Formel ausgewiesen wird. So kann Nietzsche zum vielzitierten Ausspruch kommen: Was ist Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen. (KSA 1, S. 880-881) 43 Kursivierung durch den Verfasser. 44 Vgl. zur Interpretation des herakliteischen λόγος Kapitel 2.3.2 der Untersuchung.

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Die Geschichte der abendländischen Philosophie seit Platon ist indessen die Geschichte der Suche nach der Wahrheit des Seins. Für den frühen Nietzsche tritt diese Wahrheit hinter eine uneinholbare Kette von Metaphern zurück, respektive hat die Wahrheit nicht einmal Seinsberechtigung, weil, sobald sie begrifflich gefasst werden soll, das Metaphorische den vermeintlichen Wahrheitsstatus nivelliert. So wird Wahrheit selbst zu ihrem diametralen Gegenteil: zur Lüge, zur Falschheit, zum Irrtum. Diese Entlarvung der Wahrheit als Irrtum steht ganz im Einklang mit der Nietzscheschen Distanzierung von der metaphysischen Auslegung des Seins. Diese beiden Schritte ergänzen sich gegenseitig, sie bedingen einander. Es wäre vielleicht richtiger zu sagen, daß zwischen ihnen kein Unterschied besteht. »Wahrheit« ist nur ein anderes Wort für »Sein«: beide drücken dasselbe aus – dasjenige, was sich im Denken als dauerhaft, fest, beständig zeigt.45 Mihailo Đurić legt das Augenmerk auf den intrinsischen Zusammenhang von Wahrheit und Sein, den die Geschichte der metaphysischen Seinsinterpretation vorgibt. Nietzsche versucht dagegen, sich dieser zu verwehren, indem er Bewegtheit, Wandel und Werden – thetisch: in der Tradition Heraklits – im Kontext des Anthropomorphismus stark macht. »Der Forscher nach solchen Wahrheiten sucht im Grunde nur die Metamorphose der Welt in den Menschen; er ringt nach einem Verstehen der Welt als eines menschenartigen Dinges […].« (KSA 1, S. 883) Wenn die parmenideische Negation des Werdens insoweit Platon beeinflusste, als dieser Sein, Idee, Wahrheit, Wert und Ruhe in eins setzte und damit das menschliche Leben in seiner Bewegtheit gegenüber der denkerischen Abstraktion herabstufte, so arbeitet Nietzsche an der Destruktion dieser Konfiguration. An die Stelle des starren Seins tritt in Ueber Wahrheit und Lüge ein permanent werdendes Verweissystem, dessen Essenz, Wesen oder Sein mit den Mitteln metaphysischer – nach Nietzsche: menschlich‐konventioneller – Begründung nicht zu eruieren ist, beziehungsweise kein solches Wesen besitzen kann, da dieses eine weitere menschliche Relation wäre. »Also verweisen alle diese Relationen immer nur wieder auf einander und sind uns ihrem Wesen nach unverständlich durch und durch; nur das, was wir hinzubringen, die Zeit, der Raum, also Successionsverhältnisse und Zahlen sind uns wirklich daran bekannt.« (KSA 1, S. 885) Das immense Missverständnis, dem Nietzsche hier unterliegt, ist die alte Spaltung – man denke an die absurdistische Theorie der Atomisten46 – von materieller und vernehmender Seinsauslegung. Während erstgenannte, der Nietzsche in gewissem Sinn verhaftet bleibt, das Seiende kontradiktorisch separiert vom Denken denkt, ist zweitgenannte in der Lage, eine universelle Seinsebene 45 Đurić, Mihailo: Nietzsche und die Metaphysik. S. 36. 46 Vgl. den Abriss der atomistischen ›Theorie‹ auf S. 93f. der vorliegenden Arbeit.

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anzusprechen. Es mutet seltsam an, dass Nietzsche, welchem es eigentlich daran gelegen sein müsste, jenen »Trieb zur Metapherbildung, jene[n] Fundamentaltrieb des Menschen« (KSA 1, S. 887) für seine philologisch‐philosophischen Zwecke zu nutzen, gegen die Sprache der Wahrheit, welche zwangsläufig die Sprache des Seins ist, ausspielt. Daran ist auch nichts zu ändern, wenn Nietzsche romantisierend und pessimisierend den »intuitive[n] Mensch[en], etwa wie im älteren Griechenland« (KSA 1, S. 889), dem ›wissenschaftlichen‹ Menschen entgegenhält: Sobald es unternommen wird, einen Weg aus der (metaphero-)logischen Welt der Wahrheit zu finden, begibt man sich dennoch notwendig auf den Weg des λόγος, auf welchem dasjenige ausgelegt ist, was die Sammlung in Wahrheit ausmacht. Nietzsche versucht hingegen, mit aller Macht einen Ausweg aus dieser Konfiguration des logischen Zwangs zu beschreiten. Exemplarisch dafür steht der in der Götzen-Dämmerung anzufindende Aphorismus »Wie die ›wahre Welt‹ endlich zur Fabel wurde«47 . In mehreren Schritten beschreibt Nietzsche einerseits die Geschichte des abendländischen Wahrheitsbegriffs – die »Geschichte eines Irrthums« (KSA 6, S. 80) – und formuliert andererseits ein Programm zu dessen Überwindung. 1. Die wahre Welt erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, – er lebt in ihr, er ist sie. (Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend. Umschreibung des Satzes »ich, Plato, bin die Wahrheit«.) (KSA 6, S. 80) Nietzsche hebt für diese Epoche die Union von Wert und Wahrheit, repräsentiert durch Platon, hervor. Demjenigen, der sich an das ›Regulatorium‹ der weisen Tugendhaftigkeit hält, scheint es versprochen, in der Wahrheit präsentisch aufzugehen. Der zweite Schritt, sich vom ersten unterscheidend, macht die ›Christianisierung‹ des Platonischen deutlich: 2. Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften (»für den Sünder, der Busse thut«). (Fortschritt der Idee: sie wird feiner, verfänglicher, unfasslicher, – sie wird Weib, sie wird christlich . . .) (KSA 6, S. 80) Nun ist die Wahrheit nicht mehr präsentisch, sondern futurisch gedacht. Das Ideelle erhält einen unhaptischen, aszendenten Charakter, der aus ontologischer Perspektive den Seinszugang entrückt – was sich im dritten Schritt noch verschärfen wird. 47 Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. In: Ders.: KSA, Band 6. S. 55-161, hier S. 80. Zitation nach dieser Ausgabe; Kennzeichnung durch Angabe der Sigle (KSA 6) und Seitenzahl.

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3. Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ. (Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch.) (KSA 6, S. 80) Dieser Schritt arbeitet mit der bedrohlichen Paradoxie des Gegensatzes: Ist die wahre Welt nicht mehr nachzuvollziehen und dennoch »ein Imperativ«, so entsteht ein tiefes Misstrauen gegen das Verhältnis Wahrheit/Sein, welches die Idee negativ sublimiert. Dahingegen ist ein Kontakt zwischen wahrer Welt und Denken noch gegeben. Diesen Kontakt sieht Nietzsche im vierten Schritt losgelöst: 4. Die wahre Welt – unerreichbar? Jedenfalls unerreicht. Und als unerreicht auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend, verpflichtend: wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpflichen? . . . (Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des Positivismus.) (KSA 6, S. 80) Nietzsche konzediert an dieser Stelle eine Enttäuschung: Das Versprechen von der wahren Welt wurde durch die Metaphysik, welche sie ›fingierte‹, nicht eingelöst. Die Folge hieraus ist nicht nur ein totales Vergessen des Wahrheits-Werts, sondern ein sich aus Kenntnislosigkeit ergebender »Positivismus«, der mit der originären Metaphysik freilich kaum mehr zu vereinbaren ist. Mit Schritt fünf läutet Nietzsche aus dieser These die Negation der wahren Welt ein, indem er chronologisch in seine eigene Epoche springt: 5. Die »wahre Welt« – eine Idee, die zu Nichts mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpflichtend, – eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab! (Heller Tag; Frühstück; Rückkehr des bon sens und der Heiterkeit; Schamröthe Plato’s; Teufelslärm aller freien Geister.) (KSA 6, S. 81) Im Abgesang auf die »wahre Welt« – man beachte, dass Nietzsche diese nun durch Anführungsstriche markiert – wird Platon eine affektive Bewegtheit, »Schamröthe«, unterstellt. Betrachtet man die Etymologie des Wortes ›Scham‹, so wird klar: Scham kann nur dort entstehen, wo Schande im Spiel ist.48 Weil Platon aus Nietzsche’scher Perspektive eine Schandtat in Form der Unifizierung von Wahrheit/Wert/Idee/Sein/Mensch begangen hatte, konnte es zur nachträglichen Erkenntnis der Fehlerhaftigkeit seines Vergehens kommen, welches ihm schließlich die Bürde der Scham auflastet. Während Platon sich dem Affekt beugen muss, hallt jedoch der »Teufelslärm aller freien Geister«. Um welche Geräuschkulisse es sich hier handelt, ist nicht zu übersehen: Es ist der Lärm um das Nichts, es ist 48 Vgl. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. S. 792-793.

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der nihilistische Lärm, der sich nach dem Untergang der Idee, welche für Platon das Sein und für das Christentum Gott repräsentierte, breitmacht. Achtet man auf die Majuskelschreibung des ersten Satzes, erscheint dieser in einem neuen Licht: »eine Idee, die zu Nichts mehr nütz ist«, ist eine leere, wesenlose Idee, die dem Nichts mehr nützt. Nietzsche bleibt allerdings nicht bei dieser Diagnose stehen. Vielmehr legt er in Schritt sechs die Folgen aus der Abschaffung der Idee dar: 6. Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? … Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft! (Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrthums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA.) (KSA 6, S. 81) Nietzsche inszeniert den Untergang der ideellen Seins(-Welt-)Auslegung in sechs Akten: Mit und als Platon tritt die Idee auf die historische Bühne des Wahrheitsdiskurses. Dieser Diskurs verselbstständigt sich durch die Christianisierung der Wahrheit in einer aszendenten Bewegung auf ein zeitliches determiniertes Später. Soll dies Später hingegen wahr sein, so muss es in seinem Wesen ein ImmerSpäter sein. Die Verpflichtung an die sich fortwährend entziehende Wahrheit, und in diesem Fall denkt Nietzsche mit einiger Sicherheit an den Protestantismus und Kant, führt unweigerlich zu deren Infragestellung. Ist diese Wendung vollzogen, rückt eine Weltlichkeit in den Fokus, die sich ausschließlich mit der eigenen Überprüfbarkeit beschäftigt. Diesem Denken der Nachweisbarkeit kann die wahre Welt als Idee nicht mehr standhalten: Sie wird willentlich abgeschafft. Ist die wahre Welt beseitigt, dürfen freilich nicht ihre Antipoden – Schein, Lüge, Irrtum – an ihre Stelle rücken, da diese nichts anderes darstellen als negative Wahrheitsrelationen. Vielmehr muss etwas daraus resultieren, was weder Wahrheit noch Schein zum Leitmaß erhebt. Diesen neuen Anfang (»INCIPIT«) figuralisiert Nietzsche mit dem Auftritt Zarathustras, welcher eine revolutionäre Philosophie vorlebt – auch wenn diese nicht ohne metaphysische Implikationen auskommt. In dem bekannten Abschnitt »Wie die ›wahre Welt‹ zur endlich Fabel wurde« […] erzählt Nietzsche in sechs Stadien die Entwicklung von der dogmatischen Setzung einer an‐sich-seienden Wirklichkeit hin zu seinem eigenen Perspektivismus, der die »wahre« (nicht‐perspektivische), eigentlich seiende, unbedingte Welt als bloße Annahme und die vermeintlich »scheinbare«, dem Menschen erscheinende Welt als die perspektivisch wahre betrachtet.49 Mit Walter Patt könnte man behaupten: Nietzsche betreibt eine perspektivische Inversion, welche die platonische Seinssetzung zugunsten des ›subjektiven‹ 49 Patt, Walter: Formen des Anti-Platonismus bei Kant, Nietzsche und Heidegger. S. 122.

4 Nietzsche: Vom Antiplatonismus zum Nihilismus

(Er-)Scheinens aufhebt. Diese These greift indessen zu kurz, wenn man Schritt sechs, den von Nietzsche beschriebenen Neuanfang aus dem Geiste Zarathustras, betrachtet. Die Frage, ob damit die Überwindung der Metaphysik denkfest gegen die Geschichte der Philosophie als Seinsgeschichte positioniert werden kann, muss hinsichtlich dessen mit Blick auf den zwischen 1883 und 1885 erschienenen Text Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen beantwortet werden. Anhand ausgesuchter Textstellen soll hierbei deutlich gemacht werden, dass Nietzsche einerseits eine Realisierung des Fiktionalen vorhat, andererseits durch das wahrheitsgebundene Philosophieren der Theoreme des Willens zur Macht, der Ewigen Wiederkehr und des Übermenschen den Weg für metaphysische Spekulation bereitet. Inwieweit dies mit der Textform des Lehrgedichts korreliert, respektive welche Vorteile diese Gattungswahl mit sich bringt, soll flankierend besprochen werden.

4.4

Zarathustras Metaphysik I: Vom Gesicht und Räthsel Zarathustra An diesem Werke muß Einem jedes Wort einmal wehgethan haben und verwundet, und wieder einmal tief entzückt haben: – was man nicht so verstanden hat, hat man gar nicht verstanden.50

Nietzsche unternimmt in Also sprach Zarathustra, einem »Prosagedicht, als dessen überzeugendstes Vorbild das Neue Testament erscheint«51 , nichts weniger als eine revolutionäre Neubestimmung der Philosophie. Dies offenbart sich einerseits auf formaler Ebene – nicht zufällig handelt es sich um ein mit den Mitteln der Dichtung formuliertes Kunstwerk –, andererseits in der emphatischen Postulierung metaphysischer Theoreme. Schon diese beiden Punkte deuten darauf hin, dass Nietzsche eine Verwirklichung der konstatierten Fiktionalisierungstendenz im Sinn hat. Die philosophische Vorarbeit für dieses anspruchsvolle Unterfangen ist dann die Erosion der bisherigen Wertfiguren, die nach Nietzsche von Platon installiert und durch das Christentum transzendiert wurden: die der Idee und die Gottes. 50 Nietzsche, Friedrich: Nachlaß 1885-1887. In: Ders.: KSA, Band 12. S. 338. Alle Referenzen aus dieser Ausgabe; Zitation nach Sigle (KSA 12) und Seitenzahl. 51 Vattimo, Gianni: Friedrich Nietzsche. S. 59.

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Aus diesem Grund scheint es sinnvoll, auf den Aphorismus 125 der Fröhlichen Wissenschaft zu verweisen: »Wohin ist Gott? rief er [der tolle Mensch], ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! […] Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? […] Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! […] Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?[»]52 Dass Nietzsches charakteristische Weitsicht es nicht erlaubt, nach der vom Menschen betriebenen Abschaffung Gottes, welche mit der Überwindung der ideellen Seinsauslegung konvergiert, den Nihilismus final ins Werk zu setzten, ist ebenso nachvollziehbar wie die Tatsache, dass dieser Nihilismus eine vorläufige wie ebenfalls zu überwindende Folge aus dem Tode Gottes sein muss. Dies darf nicht zu der Unterstellung verleiten, Nietzsche sei politisch motivierter ›Atheist‹. Wäre doch Atheismus nichts anderes als dasjenige, was der Nihilismus, welcher einem Zögling der platonischen Metaphysik entspricht, dem zukünftigen (Über-)Menschen auflastete. Insofern erscheint es nachgerade zwingend, wenn Nietzsches Projekt, die klassisch‐platonische Metaphysik als nihilistisch zu entlarven, um dadurch ihre Destruktion als notwendig zu erweisen, die sich gegen die in dieser Metaphysik gedachte Idee Gottes richtet. Tatsächlich ist die Kritik des metaphysischen Gottesbegriffs und die Leugnung eines dadurch bestimmten Gottes selbst nicht einfach nur »Atheismus«, sondern konsequente Weiterführung des metaphysischen Ansatzes.53 Diese Referenz Thomas Buschs nimmt vorweg, was als die Ambivalenz Nietzsches bezeichnet werden könnte: Indem die Metaphysik Platons nach dem Tod Gottes ihre Basis verliert, öffnet sich ein zweiter metaphysischer Zugang zur Interpretation desjenigen, was die Vorsokratiker als Seinsfrage vorgaben. Die dichterische Verfasstheit des Zarathustra kann aus dieser Perspektive durchaus auch in diese Tradition gestellt werden. Denn: Wenn hinter Platon zurückgegangen werden soll, um den Pfad einer zukünftigen Philosophie zu beschreiten, so bietet es sich an, den Ausgangspunkt des abendländischen Denkens implizit als Vorbild zu nehmen. Die kardinalen Themenfelder des Zarathustra unterscheiden sich dabei 52 Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. (»la gaya scienza«). In: Ders.: KSA, Band 3. S. 343-651, hier S. 480-481. 53 Busch, Thomas: Die Affirmation des Chaos: zur Überwindung des Nihilismus in der Metaphysik Friedrich Nietzsches. S. 135.

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natürlich auf den ersten Blick von denen der Vorsokratiker; allerdings ist ihnen eine poetisch‐tragische Unmittelbarkeit inne, die bezüglich der ›metaphysischen‹ Aussage Parallelen zu den Vorsokratikern aufweist. Im Wesentlichen geht es Nietzsche darum, dem bisherigen Menschenbild ein Korrektiv in Form des Übermenschen kontrastiv an die Seite zu stellen. 1887 wird Nietzsche in Zur Genealogie der Moral schreiben: Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird, als von dem, was aus ihm wachsen musste, vom grossen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der grossen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgiebt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Bergsteiger Gottes und des Nichts – er muss einst kommen . . .54 Nietzsche fasst in dieser Passage prägnant zusammen, was im ersten Buch des Zarathustra wie folgt formuliert wird: »Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muss: und darum sollst du deine Tugenden lieben, – denn du wirst an ihnen zu Grunde gehen.« (KSA 4, S. 44) In den »Tugenden« ist all das subsummiert, was die ideelle Seinsinterpretation bei Platon ausmachte: das Gute, das Schöne, das Gerechte. Die paradox anmutende Forderung Zarathustras, gerade die Liebe zu diesen Tugenden würde deren Überwindung bergen, korrespondiert mit dem Kapitel Vom Freunde: Will man einen Freund haben, so muss man auch für ihn Krieg führen wollen: und um Krieg zu führen, muss man Feind sein können. Man soll in seinem Freunde noch den Feind ehren. Kannst du an deinen Freund herantreten, ohne ihn zu übertreten? (KSA 4, S. 71) Überträgt man dies auf das Verhältnis Nietzsche/Platon, ergibt sich eine erstaunliche Analogie, die beinahe dialektisch zu verstehen ist: Weil Nietzsche erkennt, dass die platonische Ontologie das Sein ideell‐wertend denkt, offenbart sich ihm aus dieser Tradition die Notwendigkeit ihres Umsturzes – was, wie nachzuweisen sein wird, den Kern der Heidegger’schen Nietzsche-Auslegung bestimmt. Die Figur des Zarathustra ist diesbezüglich die Konkretion der Möglichkeit, das übermenschliche Potenzial mit den zweiten und dritten Theoremen, das der Ewigen Wiederkunft des Gleichen und das des Willens zur Macht, zu verflechten und für den Rezipienten erfahrbar zu machen. Dass Nietzsche hierbei eine weltliche Rückholbewegung des von Platon transzendierten Seinssinns vorhat, wird mit Sicht auf die Konzeption des Übermenschen deutlich: »Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde! Ich 54 Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. In: Ders.: KSA, Band 5. S. 245-412, hier S. 336.

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beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden!« (KSA 4, S. 14-15) Nietzsche betreibt also keine blinde Philosophie der Sinnlosigkeit, sondern bindet die Suche nach dem Sinn des Seins an den Menschen zurück, welcher willentlich die Wahrheit des Übermensch-Seins erfahren soll. Der zu kurz gedachte Einwand, Also sprach Zarathustra unterläge anti‐ontologischen Zielsetzungen, wird hinsichtlich dessen entkräftet. »Ich will die Menschen den Sinn des Seins lehren: welcher ist der Übermensch, der Blitz aus der dunklen Wolke Mensch.« (KSA 4, S. 23) Der »Sinn des Seins« ist jetzt rückgekoppelt an die Immanenz der Weltlichkeit; wobei festgehalten werden muss, dass der Übermensch zwar aus dem seienden Menschen zu denken ist, jedoch dieser Mensch um die Qualität des Willens zur Macht überstiegen wird. Dass diese ontologische Erhebung nicht zufällig vonstattengeht, davon zeugt die Narration des Lehrtextes. Tritt die Figur des Zarathustra ja einerseits als emphatischer Proklamator des Übermenschen auf und vollzieht andererseits im Rahmen dessen einen leidvollen Auf- und Abstieg (vgl. KSA 4, S. 245), der in erster Linie dem Bruch mit überkommenen Wertvorstellungen dient. Wenn Zarathustra »alte zerbrochene Tafeln um [s]ich und auch neue halb beschriebene Tafeln« (KSA 4, S. 247) hat, so illustriert dies den emotionalen Ballast, den der Protagonist auf dem Weg zum Übermenschen schultern muss. Der Ausruf »ich schäme mich, dass ich noch Dichter sein muss!« (KSA 4, S. 247), zeigt eindrucksvoll die Divergenz, in der sich Nietzsche selbst zu befinden scheint. Die Rettung aus diesem Gefüge kommt einer Selbstermächtigung gleich, wenn »der Wille zur Macht« (KSA 4, S. 147) zum Instrument wird, die Ewige Wiederkehr nicht nur vorstellig zu machen, sondern sich zugleich einzugestehen, »der Lehrer der ewigen Wiederkunft« (KSA 4, S. 275) zu sein. Ewige Wiederkunft, der Wille zur Macht und der Übermensch sind dementsprechend keine separierten Theoreme. Sie gehören ihrem Wesen nach zusammen, sind alleinstehend nicht zu denken. Wie es Heidegger in seiner naturgemäß stark ›ontologisierenden‹ Nietzsche-Lektüre zusammenfassen wird: Macht ist aber nur Macht als Machtsteigerung. Macht anerkennt, je wesentlicher sie Macht ist und je einziger sie alles Seiende bestimmt, nichts außerhalb ihrer als werthaft und wertvoll. Darin liegt: der Wille zur Macht als Prinzip der neuen Wertsetzung duldet kein anderes Ziel außerhalb des Seienden im Ganzen. Weil nun aber alles Seiende als Wille zur Macht, d.h. als nie aussetzendes Sichübermächtigen ein ständiges »Werden« sein muß, dieses »Werden« jedoch sich niemals »zu einem Ziel« außerhalb seiner »fort«- und »weg«bewegen kann, vielmehr ständig, in die Machtsteigerung eingekreist, nur zu dieser zurückkehrt, muß auch das

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Seiende im Ganzen als dieses machtmäßige Werden immer wieder selbst wiederkehren und das Gleiche bringen.55 Es ist gerade diese Zusammengehörigkeit, die Nietzsches Text so anspruchsvoll werden lässt, da – auch wenn die Theoreme innerhalb der Narration nicht immer im selben Kontext auftauchen – der Wille zur Macht Übermensch und Ewige Wiederkehr bedingt. Um nochmals Heidegger zu resümieren: Das Wesen des Willens zur Macht ist die Ermächtigung des Seienden; nicht irgendeines Seienden, sondern »des Seienden im Ganzen«. Der Grund hierfür ist die Unbedingtheit des Theorems: Bezöge sich der Wille zur Macht nicht auf alles Seiende, wäre er in seinem Wesen mangelhaft. Da die immerwährende »Machtsteigerung« des Willens zur Macht keine Mangelhaftigkeit dulden kann, sondern sich konzentrisch – über den bisherigen Menschen und dessen Werte – ausweiten muss, ist die Ermächtigung über das Seiende »ein ständiges ›Werden‹«. Dieses Werden darf aus dieser Perspektive kein Ziel besitzen, da der Wille zur Macht sich stets genug sein muss. Gibt es kein Ziel, keine Teleologie im aristotelischen Sinne, so bewegt sich das Werden aus und auf den Willen zur Macht zu und kann nur bringen, was schon dagewesen sein wird. Dieser letzte Schritt ist dasjenige, was Nietzsche – trotz der problematischen Ausgestaltung dessen im Text – unter der Ewigen Wiederkehr versteht und Heidegger als den »Gedanke[n] der Gedanken«56 bezeichnen wird. Blickt man immanent auf die Gestaltung der Ewigen Wiederkehr, wird deutlich, dass es Nietzsche um einen Reifeprozess des Protagonisten geht, bis der Gedanke als gelebtes Wissen durchbricht. Dies korrespondiert mit der figuralen Komposition, es »verlangt zuerst die Dichtung der Gestalt des Denkers dieses Gedanken, seines Lehrers« (N 1, S. 287). Nietzsche erlaubt dieses Vorgehen einen kreisend‐annähernden Zugang zum Gehalt der Lehre, wie sie Zarathustra an sich erfährt. »Allein, wo von ihr [der Wiederkehr] unmittelbar gesprochen wird, geschieht auch dies noch dichterisch, in Gleichnissen, die den Sinn und die Wahrheit im Bilde, das ist im Sinnlichen und somit als Sinnbild darstellen.« (N 1, S. 287) Es ist dies Metaphorische, das den Konnex der Theoreme für eine literaturphilosophische Untersuchung, von den Vorsokratikern ausgehend und sich über Platon erstreckend, reizvoll werden lässt. Nietzsche nivelliert auf Grundlage dessen die 55 Heidegger, Martin: Nietzsche. Zweiter Band. S. 37. Alle Referenzen entstammen dieser Ausgabe; Kenntlichmachung durch Sigle (N 2) und Seitenzahl. Anm.: Dass Heideggers Nietzsche-Lesart durchaus problematischer Natur ist – vor allem, wenn es um den Werk-Charakter des ›Textes‹ Der Wille zur Macht und der damit einhergehenden Nihilismus-Auslegung geht –, ist nicht von der Hand zu weisen. Dennoch gilt Heidegger in diesem Kapitel, das sich dezidiert einer Interpretation des Zarathustra widmen soll, als wichtiger Gewährsmann, da seine Lesart wesentliche Punkte ins Licht rückt. 56 Heidegger, Martin: Nietzsche. Erster Band. S. 284. Zitation nach dieser Ausgabe; Markierung durch Sigle (N 1) und Seitenzahl.

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Grenzen von Dichtung und Philosophie im Sinne der Ewigen Wiederkehr, welche – neben dem Willen zur Macht und dem Übermenschen – den Werkcharakter des Textes betont. »Doch was hier dichten heißt und was denken, läßt sich nicht nach geläufigen Vorstellungen ausmachen, weil es erst durch das Werk selbst neu bestimmt oder mehr nur angekündigt wird.« (N 1, S. 288) Heideggers Unsicherheit bezüglich der Gattungsentscheidung Dichtung/Denken muss jeden Rezipienten, dem es um die hermeneutische Entschlüsselung der Ewigen Wiederkehr gelegen ist, treffen, weil Nietzsche die Figur des Zarathustra selbst als Fluchtpunkt dieser Imponderabilität in Szene setzt. Untersucht man hinsichtlich dessen das im dritten Buch des Zarathustra befindliche Kapitel Vom Gesicht und Räthsel – wie es Heidegger ebenfalls unternimmt –, lässt sich ein erster Zugang zur Wiederkehr aufmachen. Schon die Kapitelüberschrift korreliert mit der für die Vorsokratiker eruierten Alliierung von Metaphorischem und Philosophischem: Das Wort ›Gesicht‹, von dem hier leitmotivisch die Rede ist, könnte etymologisch ein Abstraktum des lateinischen ›sequi‹ sein, was das (Ge-)Sehen als prozessuales Folgen einstufen würde.57 Euch, den kühnen Suchern, Versuchern, und wer je sich mit listigen Segeln auf furchtbare Meere einschiffte, – […] – denn nicht wollt ihr mit feiger Hand einem Faden nachtasten; und, wo ihr errathen könnt, da hasst ihr es, zu erschliessen – euch allein erzähle ich das Räthsel, das ich sah, – das Gesicht des Einsamsten. – (KSA 4, S. 197) Nietzsche koppelt eine dreifache Sinnstruktur aneinander, die eine doppelte Sinnlichkeitsstruktur aufweist: a) Der Sinn des »Räthsels« muss »errathen« werden. »Das Fassen des Rätsels ist ein Sprung, zumal dann, wenn das Rätsel auf das Seiende im Ganzen geht […].« (N 1, S. 290) Der erste Schritt behandelt demensprechend eine Sinnerschließung, die mehr einer hiatischen Plötzlichkeit gleichkommt, weil man eben nicht »mit feiger Hand einem Faden nachtasten« soll, sondern sich auf das metaphorische Wesen des Rätsels einlassen muss. b) Die daraus resultierende ›Sprunghaftigkeit‹ ist aber paradoxerweise einerseits Folge eines sinnlich‐optischen Reizes – Zarathustra »sah« ja einst das »Räthsel« –, andererseits selbst sinnlich‐akustische ›Erzählung‹, der es zu folgen gilt. c) Die zweifache Folge kulminiert dann im »Gesicht des Einsamsten«. Man sollte jedoch nicht von einer abgeschlossenen Kulmination sprechen, da das Gesicht selbst wieder zur Folge des Rätsels als zu Erratenes wird. Diese scheinbare Uneinholbarkeit der Lösung des Rätsels macht den Kern der Fragestellung nach der Wiederkehr aus. 57 Vgl. zur Etymologie von ›Gesicht‹ und ›sehen‹: Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. S. 352; S. 837.

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Karl-Heinz Volkmann-Schluck schreibt hierzu: »Ein Rätsel birgt immer seine Lösung in sich selbst. Es ist immer eine Verrätselung seiner eigenen Lösung. Zarathustra hatte das Leben von seinen bösen Träumen erlösen wollen. Und es geschieht ihm, daß er dem Leben den Traum abnimmt, indem er ihn selbst träumt.«58 Auf der einen Seite ist Volkmann-Schluck im Recht, wenn er davon ausgeht, dass Nietzsche diese Nennung der Wiederkehr, wie darzulegen sein wird, im Rahmen einer ›Traumerzählung‹ vorbringt. Auf der anderen Seite missachtet diese Deutung den Charakter des Rätsels, welcher sich aus der Sukzession des Gesichts speist. Mit Heidegger: Aber das Rätsel und das Erraten des Rätsels wären hier gründlich mißverstanden, wollten wir meinen, es handle sich um das Treffen einer Lösung, mit der sich alles Fragwürdige auflöste. Das Erraten dieses Rätsels soll vielmehr erfahren, daß es als das Rätsel nicht auf die Seite gebracht werden kann[.] (N 1, S. 290) Der Text selbst spricht eher für die Auslegung Heideggers. Denn »das Gesicht des Einsamsten« wird von Nietzsche in eine Erzählung gebettet, die zwar für den Protagonisten somnambule Züge trägt, dies aber gerade den Hiatus der Erkenntnis um die Ewige Wiederkehr hervorhebt. Nietzsche illustriert dies anhand des steinigen Aufstiegs Zarathustras – wobei das Treffen mit einem Zwerg von zentraler Bedeutung ist: »Aufwärts: – dem Geiste zum Trotz, der ihn abwärts zog, dem Geist der Schwere, meinem Teufel und Erzfeinde.« (KSA 4, S. 198) Die Frage, welche Stellung der »Geist der Schwere« einnimmt, ist nur unter Berücksichtigung der aszendenten Bewegung Zarathustras zu beantworten: In der Bewegung zum Hinauf befindet sich der denkerische Trieb zum Hinab. Dieser Trieb ist das Andere Zarathustras und doch als AnderesEigenes negativer Begleiter in dieser Szene. »Aufwärts: – obwohl er auf mir sass, halb Zwerg, halb Maulwurf; lahm; lähmend; Blei durch mein Ohr, BleitropfenGedanken in mein Hirn träufelnd.« (KSA 4, S. 198) Der Zwerg kann als Allegorie für die Zarathustra gegenwendige Bewegung aufgefasst werden. Er stellt gleichsam einen Verführer der Schwere, die Zarathustra hinter sich lassen muss, dar, um Wissender zu werden. »Oh Zarathustra, raunte er höhnisch Silbʼ um Silbe, du Stein der Weisheit! Warfst du dich hoch, aber jeder geworfene Stein muss – fallen! Oh Zarathustra, du Stein der Weisheit, du Schleuderstein, du Stern-Zertrümmerer! Dich selber warfst du so hoch, – aber jeder geworfene Stein – muss fallen! Verurtheilt zu dir selber und zur eigenen Steinigung: oh Zarathustra, weit warfst du den Stein, – aber auf dich wird er zurückfallen!« (KSA 4, S. 198) 58 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz: Die Philosophie Nietzsches. S. 107.

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Die Metapher des Steins wird vom Zwerg gezielt als Drohung ins Spiel gebracht: Sie impliziert einerseits die Schwere des Gedankens an die Ewige Wiederkehr, die noch nicht explizit geworden ist. Andererseits ist dieser Gedanke aus Sicht des Zwerges Zarathustra selbst, welcher unter der Last an sich zu zerbrechen scheint. An dieser polaren Belastung muss sich der Protagonist messen – an ihr zeigt sich die innerfigürliche sowie innertextuelle Peripetie. Dass Zarathustra die Warnung des Zwergs durchaus für ernst erachtet, wenn nicht nehmen muss, wird insofern deutlich, als aus ihr die κρίσις als Entscheidung entspringt. »Ich stieg, ich stieg, ich träumte, ich dachte, – aber alles drückte mich. Einem Kranken glich ich, den seine schlimme Marter müde macht, und den wieder ein schlimmerer Traum aus dem Einschlafen weckt.« (KSA 4, S. 198) Interessanterweise bricht durch die Bedrohung des Zwergs kein fatalistisches ›Erweckungserlebnis‹ an, wie man es landläufig erwarten könnte. Vielmehr erweitert Nietzsche das Traumgeschehen Zarathustras paradoxal um den willentlichen Faktor »Muth« (KSA 4, S. 198), an welchem sich die Erkenntnis um die Ewige Wiederkehr misst: »Dieser Muth hiess mich endlich stille stehn und sprechen: ›Zwerg! Du! Oder ich!‹ – Muth nämlich ist der beste Todtschläger, – Muth, welcher angreift: denn in jedem Angriffe ist klingendes Spiel.« (KSA 4, S. 198-199) Jetzt findet eine Verkehrung Situation statt: War Zarathustra vormals dem Zwerg und dessen submissem Verhalten ausgesetzt, so übernimmt der Protagonist nunmehr das Zepter des (metaphorischen) Denkens – wobei hier die Ewige Wiederkehr eine erste Nennung erfährt: »Muth aber ist der beste Todtschläger, Muth, der angreift: der schlägt noch den Tod todt, denn er spricht: ›War das das Leben? Wohlan! Noch ein Mal!‹« (KSA 4, S. 199) Der angreifende »Muth« ermöglicht einen Einblick in den Gedanken an die Wiederkehr, indem er die Ermächtigung des Lebens über die teleologische Zeitstruktur stellt – wie es sich zu Beginn des zweiten Teils des Kapitels nachvollziehen lässt: »›Halt! Zwerg! sprach ich. Ich! Oder du! Ich aber bin der Stärkere von uns Beiden –: du kennst meinen abgründlichen Gedanken nicht! Den – könntest du nicht tragen!« (KSA 4, S. 199) Wie es Heidegger ausdrückt: »Sofern Zarathustra den Abgrund, den Gedanken der Gedanken, denkt, indem er die Tiefe ernst nimmt, kommt er in die Höhe und über den Zwerg hinweg.«59 (N 1, S. 293) Wieder könnte man davon ausgehen, dass Nietzsche im Folgenden aus diesem Hinweis die Bestimmungen der Wiederkehr induziert. Dies spricht jedoch zum einen gegen die dichterische Verfasstheit des Textes, die es Nietzsche erlaubt, 59 Hier tut sich eine erstaunliche Parallele zu Heraklit auf. Betrachtet man das Fragment DK 22 B 45 (»ψυχῇ πείρατα ἰὼν οὐκ ἂν ἐξεύροιο, πᾶσαν ἐπιπορευόμενος ὁδόν· οὕτω βαθὺν λόγον ἔχει«), in dem es um den Zusammenhang von ψυχῇ, Tiefe und λόγος geht, ließe sich eine motivische Analogie herstellen, die der Sinnerschließungstaktik Nietzsches retroperspektiv Rechnung trüge (vgl. S. 45-48 der vorliegenden Arbeit).

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einen offenen und zugleich tiefergehenden Diskurs um das Philosophem zu entfalten, zum anderen gegen die Philosophie Zarathustras, die eben nicht bei einer Festlegung auf ontologische Data verharrt, sondern das Ontologische auf jene Gestalt zurückführt, die ihm wesentlich ist: das metaphorische Denken, welches in der – zumal figural unausgesprochenen – Sprache der Erzählung Ausdruck findet. Wohl aus diesen Gründen präsentiert Nietzsches Zarathustra die Ewige Wiederkehr im Rahmen eines Gleichnisses, das vom angetroffenen »Thorweg« (KSA 4, S. 199) aus initiiert wird: »Siehe diesen Thorweg! Zwerg! sprach ich weiter: die gieng noch niemand zu Ende. Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit. Und jene lange Gasse hinaus – das ist eine andere Ewigkeit. Sie widersprechen sich, diese Wege; sie stossen sich gerade vor den Kopf: – und hier, an diesem Thorwege, ist es, wo sie zusammen kommen. Der Name des Thorwegs steht oben geschrieben: »Augenblick«. Aber wer Einen von ihnen weiter gienge – und immer weiter und immer ferner: glaubst du, Zwerg, dass diese Wege sich ewig widersprechen?« (KSA 4, S. 199-200) Um das Gleichnis kurz zu skizzieren: Vom für die Jetztigkeit stellvertretenden »Thorweg« aus nehmen zwei Bahnen, jede in die entgegengesetzte Richtung weisend, ihren Lauf – wobei sie vorerst unvereinbar erscheinen. Die Frage, die Zarathustra dem Zwerg wie dem Rezipienten zumutet, ist diesbezüglich, inwieweit das Vergangene (Bahn 1) und das Zukünftige (Bahn 2) im Standpunkt des Jetzt (»Thorweg«) zusammenfallen, sofern sie sich als ontisch inkompatibel erweisen. »Der Torweg ›Augenblick‹ mit seinen entgegengesetzten endlosen Gassen ist das Bild der vorwärts und rückwärts in die Ewigkeit verlaufenden Zeit.« (N 1, S. 293) Damit wird einer weiteren Qualität Rechnung getragen: die temporale Qualität der Ewigkeit. Im Grunde führt Nietzsche also jene ekstatische Trias aus60 , die Heidegger in Sein und Zeit an die zeitliche Struktur der »Sorge« (S.u.Z., S. 350) binden wird: Die ekstatische Einheit der Zeitlichkeit, das heißt die Einheit des »Außer‐sich« in den Entrückungen von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart, ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß ein Seiendes sein kann, das als »Da« existiert. […] Was dieses Seiende wesenhaft lichtet, das heißt es für es selbst sowohl »offen« als auch »hell« macht, wurde vor aller »zeitlichen« Interpretation als Sorge bestimmt. (S.u.Z., S. 350) 60 Im Übrigen findet sich am Ende von Platons Politeia die mythische SeelenwanderungsErzählung vom Er, in der die drei Moiren Lachesis, Klotho und Atropos als Allegorien der Trias der Zeitlichkeit vorstellig gemacht werden (vgl. Pol., 617 b–c). Man könnte dies als ›Parallelstelle‹ der platonischen Philosophie beschreiben.

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Die Sorge um den Sinn des Seienden, als dessen ›Lichtung‹ in Also sprach Zarathustra der Übermensch erscheint, welcher die Ewige Wiederkehr und dessen temporale Implikationen im Willen zur Macht ins »Da« ruft, kann aus dieser Perspektive als die zu erlangende Erkenntnis verstanden werden. Das substantielle Problem in Vom Gesicht und Räthsel ist dementsprechend, wie die »ekstatische Einheit der Zeitlichkeit« von Zarathustra im Widerstreit mit dem Zwerg ausgelegt wird. Letztgenannter prescht sogleich unbedacht vor: »Alles Gerade lügt, murmelte verächtlich der Zwerg. Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis.« (KSA 4, S. 200) Der Zwerg umgeht dadurch die eigentliche Schwierigkeit, indem er einfach folgert, »wenn beide Wege in die Ewigkeit verlaufen, laufen sie auf dasselbe zu, treffen sich also dort und schließen sich zu einer ununterbrochenen Bahn« (N 1, S. 284). Er nimmt demnach – scheinbar – die Essenz der Ewigen Wiederkehr vorweg. Somit hat der Zwerg allerdings genau das Gegenteil von dem erreicht, was Zarathustra im Sinn hatte, weil es ihm ja eben nicht um die direkte Entschlüsselung des »Räthsels« gelegen war, sondern um den metaphorischen Aufweis der denkerischen Frage an sich. »Du Geist der Schwere! sprach ich zürnend, mache es dir nicht zu leicht! Oder ich lasse dich hocken, wo du hockst, Lahmfuss, – und ich trug dich hoch!« (KSA 4, S. 200) Das Erstaunliche ist, dass der Leser nach dieser Stelle von Zarathustra zunächst enttäuscht wird, da der folgende Zugang zur Wiederkehr – sofern man sich das Gleichnis vor Augen hält – aus stringent hermeneutischer Warte – analog zum (Zirkel-)Schluss des Zwergs – auch für den Protagonisten die Kreisform der ›wahren‹ Zeit mit sich bringt. Man erwartet, daß nun statt der falschen Deutung die richtige Deutung gegeben wird. Stattdessen stellt nun Zarathustra selbst die Lehre von der Ewigen Wiederkehr, wie es auf den ersten Blick erscheint, genau so dar, wie sie nach der Antwort des Zwerges verstanden werden mußte.61 Zarathustra wiederholt also das Gleichnis. Betrachtet man indessen die Fokussierung dieser Wiederholung, ergibt sich eine Position, die sich von der des Zwergs radikal unterscheidet: Siehe, sprach ich weiter, diesen Augenblick! Von diesem Thorwege Augenblick läuft eine lange Gasse rückwärts: hinter uns liegt eine Ewigkeit. Muss nicht, was laufen kann, von allen Dingen, schon einmal diese Gasse gelaufen sein? Muss nicht, was geschehn, gethan, vorübergelaufen sein?« (KSA 4, S. 200) Die primäre Repetition intendiert eine diffizilere Wertung als die des vorschnellen Zwergs. Dasjenige, was sich der Zwerg vorhalten soll, ist der »Augenblick« sowie 61 Picht, Georg: Vorlesungen und Schriften. Teil: Nietzsche. S. 302.

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die Möglichkeit der Wiederkehr aller Dinge – nicht zufällig ist das »kann« hervorgehoben. »Von dem ›Augenblick‹ aus und mit Bezug auf den Augenblick soll erneut das ganze Gesicht bedacht werden.« (N 1, S. 295) Das Gesicht des »Räthsels« ist vom Zwerg insofern entstellt worden, als er auf etwas schloss, was er gar nicht bedenken konnte. Deshalb fordert ihn Zarathustra erneut auf: »Und wenn alles schon dagewesen ist: was hältst du Zwerg von diesem Augenblick? Muss auch dieser Thorweg nicht schon – dagewesen sein?« (KSA 4, S. 200) Das Dagewesene ist nichts anderes als der Zusammenfall von Vergangen-Temporalem (Bahn 1) und Topologischem im unifizierend‐ontischen Jetzt (»Thorweg«). Die sekundäre Repetition muss sich dann dem Zusammenfall von FuturischTemporalem (Bahn 2) und der Einheit des Topologischen Jetzt widmen. Somit wird der »Augenblick« in Möglichkeit mehrfach potenziert: Und sind nicht solchermaassen fest alle Dinge verknotet, dass dieser Augenblick alle kommenden Dinge nach sich zieht? Also – – sich selber noch? Denn, was laufen kann von allen Dingen: auch in dieser langen Gasse hinaus – muss es einmal noch laufen! – (KSA 4, S. 200) Die sich dem Zwerg entziehende Erkenntnis ist die Mündung von Bahn 1 und Bahn 2 im Augenblick des »Thorwegs«, der das Dagewesene mit dem Kommenden in Ewigkeit verbindet. Dies könnte als Philosophie der Teleologie-Nivellierung beschrieben werden, denn die Frage lautet: »[M]üssen wir nicht Alle schon dagewesen sein? – und wiederkommen und in jener anderen Gasse laufen, hinaus, vor uns, in dieser langen schaurigen Gasse – müssen wir nicht ewig wiederkommen?« (KSA 4, S. 200) Heidegger fasst diesbezüglich die Ewige Wiederkehr prägnant zusammen – was zwar den Anspruch auf philosophische Richtigkeit hat, in gewisser Weise aber seltsam anmutet, da er dadurch dem Text die dichterische Qualität nimmt: 1. Unendlichkeit der Zeit nach der Zukunfts- und der Vergangenheitsrichtung. 2. Die Wirklichkeit der Zeit, die keine »subjektive« Form des Anschauens ist. 3. Die Endlichkeit der Dinge und dinglichen Abläufe. Auf Grund dieser Voraussetzungen muß alles, was überhaupt sein kann, schon Seiendes gewesen sein; denn in einer unendlichen Zeit ist der Lauf der endlichen Welt notwendig schon vollendet. (N 1, S. 296) Vor dem Hintergrund dieser Designationen taucht natürlich die erste Antwort des Zwergs implizit erneut auf. Wie Heidegger ebenfalls vorgibt, ist nun indessen so gefragt worden, dass »eine eigene Stellung« (N 1, S. 297) und damit eine ontologisch‐personale Stellungnahme daraus hervorgeht. Diese besitzt der Zwerg nicht, da er ›wissenschaftlich‹ die Enträtselung des »Räthsels« von seinem Dasein loslöst und im Zuge dessen die Möglichkeitsstruktur des Seins, dass sein eigenes Dasein vom Jetzt aus futurisch da‐gewesen sein kann, vergisst.

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Es ist dieser Gedanke, welchen Zarathustra – vorerst – nicht akzeptieren darf, da mit dem Denken des Gedankens Assoziationen in Kraft treten, die destruktiv am Selbst des Protagonisten rütteln. »Also redete ich, und immer leiser: denn ich fürchtete mich vor meinen eignen Gedanken und Hintergedanken. Da, plötzlich, hörte ich einen Hund nahe heulen.« (KSA 4, S. 201) Übernimmt man Kierkegaards bekannte Unterscheidung von Furcht, welche sich auf Bestimmtes beziehe, und Angst, die eher nihilistischer Natur sei62 und demnach nur auf Unbestimmtes rekurriere, so findet sich dies in der affektiven Verstricktheit Zarathustras bestätigt: Zarathustra fürchtet sich, weil er den Gehalt seiner Furcht bereits kennt – er wird das, was er ist, indem er sein Wissen an-erkennt. Dass dieser Prozess von Nietzsche in Vom Gesicht und Räthsel nach der antithetischen Zwerg-Passage nicht abgeschlossen, sondern erneut durch ein Gleichnis überformt wird, korreliert mit der Narration, die das Bereitsein für die Wiederkunft an das metaphorische Auf und Ab der zentralen Figur koppelt. Es mag daher für den ungeübten Leser des Zarathustra Verwirrung stiften, wenn die Repetition der Wiederkehr abrupt abbricht und der Protagonist in einen liminalen Zustand zwischen Wachheit und Traum verfällt – doch ist es eben diese traumhafte Grenzsituation, das schon das erste Gleichnis einläutete: Wohin war jetzt Zwerg? und Thorweg? Und Spinne? Und alles Flüstern? Träumte ich denn? Wachte ich auf? Zwischen wilden Klippen stand ich mit Einem Male, allein, öde, im ödesten Mondscheine. Aber da lag ein Mensch! Und da! Der Hund, springend, gesträubt, winselnd, – jetzt sah er mich kommen – da heulte er wieder, da schrie er: – hörte ich je einen Hund so Hülfe schrein? Und, wahrlich, was ich sah, desgleichen sah ich nie. Einen jungen Hirten sah ich, sich windend, würgend, zuckend, verzerrten Antlitzes, dem eine schwarze schwere Schlange aus dem Munde hieng. (KSA 4, S. 201) Dass die Allegorie der Schlange eine substanzielle Funktion im Text zugesprochen bekommt – nicht ohne Grund wird sie neben dem Adler im Kapitel Der Genesende die Wiederkunft in eine finale und dennoch unzureichende Fassung bringen –, leuchtet an dieser Stelle insofern ein, als sie die Kreisgestalt der Zeit wiedergibt. Hier invertiert Nietzsche allerdings die Positivität der Allegorie, da die Schlange dem Hirten – ein allegorischer Wiedergänger Zarathustras – den Schmerz des Gedankens an die Wiederkehr einverleibt: »Sah ich je so viel Ekel und bleiches Grauen auf Einem Antlitze? Er hatte wohl geschlafen? Da kroch ihm die Schlange in den Schlund – da biss sie sich fest.« (KSA 4, S. 201) Der Biss der Schlange 62 Vgl. Kierkegaard, Søren: Der Begriff Angst. S. 50. Anm.: Auch Heidegger wird diese Differenzierung vorlegen (vgl. S. 235f.).

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nimmt dem Betroffenen nicht nur das Artikulationsorgan, sondern fordert eine direkte Handlung: Meine Hand riss die Schlange und riss: – umsonst! sie riss die Schlange nicht aus dem Schlunde. Da schrie es aus mir: »Beiss zu! Beiss zu! Den Kopf ab! Beiss zu!« – so schrie es aus mir, mein Grauen, mein Hass, mein Ekel, mein Erbarmen, all mein Gutes und Schlimmes schrie mit einem Schrei aus mir. – (KSA 4, S. 201-202) Im Akt des Reißens treten nicht nur die psychologisch‐menschlichen Muster Zarathustras in ihrer Gesamtheit hervor. Vielmehr findet eine figurale Unifizierung mit dem Hirten statt, dem die Wiederkehr in Form der Schlange zur überwindenden Hürde wird, welche Zarathustra selbst durchleben muss. Dies ist die eigentliche Aufgabe des »Räthsels«, wie es Zarathustra auf den Beginn des Kapitels zurückblickend spricht: »Wer ist der Hirt, dem also die Schlange in den Schlund kroch? Wer ist der Mensch, dem also alles Schwerste und Schwärzeste in den Schlund kriechen wird?« (KSA 4, S. 202) Der angefragte Mensch ist derjenige, dessen Wille zur Macht den Bereich des Menschlichen in einer bestimmten ontologischen Weise durch eine κρίσις übersteigt: die Form des schwersten Gedankens, die Art der Ewigen Wiederkehr des Gleichen. Das Bild des Hirten, der der Schlange den Kopf abbeißen muß (also ein Symbol der Kreisförmigkeit und des ewig in sich zurücklaufenden Rings) bindet auf mysteriöse Weise die Idee der Wiederkehr an eine Entscheidung, die vom Menschen getroffen werden muß und nur aufgrund derer er sich verändert.63 Die von Vattimo angesprochene Veränderung bezieht sich auf die Meisterung der Ewigen Wiederkehr. Doch ist diese Meisterung keine Überwindung und Auflösung des Gedankens. Weitaus eher wäre die These berechtigt, dass jene Schlange, die in dieser Passage eingeführt wurde, die Allegorie derjenigen Folgerungen der Wiederkehr ist, die negative Aspekte besitzen. Aus dieser Perspektive müsste das Tier als pervertierte Schlange der Wiederkehr gedacht und besiegt werden, um das Theorem im Licht der positiven Erkenntnis erscheinen zu lassen. – Der Hirt aber biss, wie mein Schrei ihm rieth; er biss mit gutem Bisse! Weit weg spie er den Kopf der Schlange – und sprang empor. – Nicht mehr Hirt, nicht mehr Mensch, – ein Verwandelter, ein Umleuchteter, welcher lachte! Niemals noch auf Erden lachte je ein Mensch, wie er lachte! (KSA 4, S. 202) Nietzsche eine Philosophie der Heiterkeit zu unterstellen, ginge vollends am Text vorbei, wollte man das Tun des Hirten als einfaches Weglachen der Wiederkehr 63 Vattimo, Gianni: Friedrich Nietzsche. S. 75.

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verstehen. Im Vordergrund steht nämlich die vom Willen zur Macht und Ewiger Wiederkehr ausgehende ontologische Metamorphose, welche das Menschsein transformiert. Das Lachen ist dann die äußerste und daher übermenschliche Bejahung der Ewigen Wiederkehr – eine Bejahung, die für Zarathustra in Vom Gesicht und Räthsel noch Wunsch bleibt: »Meine Sehnsucht nach diesem Lachen frisst an mir: oh wie ertrage ich es noch zu leben! Und wie ertrüge ich’s, jetzt zu sterben! – Also sprach Zarathustra.« (KSA 4, S. 202) Auch wenn Zarathustra die Wiederkehr anerkennt, auch wenn er sie gegen das Unwissen des Zwergs verteidigt, ist die Frage nicht geklärt, inwieweit er zur Integration dieses Gedankens fähig ist – erst das Kapitel Der Genesende wird Zeugenschaft über die Integrationfähigkeit der Wiederkehr geben.

4.5

Zarathustras Metaphysik II: Der Genesende

Auf den ersten Blick ähnelt dieses Kapitel der vorhergehenden Nennung des Theorems, da das Grundmuster der indirekten Preisgabe – allegorisiert durch Zarathustras Tiere – der Wiederkehr gleichbleibt. In diesem Stück sprechen Zarathustras Tiere zu ihm von dem, was sie selbst versinnbildlichen: von der ewigen Wiederkunft; sie sprechen zu Zarathustra, um den sie sind, und sie bleiben in seiner Einsamkeit bis zu einem bestimmten Augenblick, wo sie ihn allein lassen und sich behutsam davonmachen. (N 1, S. 302) Anders als in Vom Gesicht und Räthsel nehmen die Tiere allerdings eine begleitende, ja schützende Position ein, wenn Zarathustra in seiner Einsamkeit den Durchbruch zur Wiederkehr heraufbeschwört: »Herauf, abgründlicher Gedanke, aus meiner Tiefe! Ich bin dein Hahn und Morgen-Grauen, verschlafener Wurm: auf! auf! Meine Stimme soll dich schon wach krähen!« (KSA 4, S. 270) Noch hat der Gedanke an die Wiederkehr nicht seine volle Ausprägung erhalten. Erst muss Zarathustra seinen eigenen Willen überschreiten, bevor ihm seine Tiere äußerliche Erkenntnis spenden können. Diese Selbstüberwindung aus dem Geiste des Willens zur Macht zwingt den Protagonisten zur Einsicht: »Du regst dich, dehnst dich, röchelst? Auf! Nicht röcheln – reden sollst du mir! Zarathustra ruft dich, der Gottlose!« (KSA 4, S. 271) Dass sich Zarathustra hierbei in der subvertierten Form eines Gebets auf seine Gottlosigkeit beruft, zeugt von der Gewalt des Gedankens, der ihn zu übermannen droht. Dabei stehen Anziehung und Abstoßung in einem paradoxen Wechselspiel, das sich um Zarathustra entspinnt und nicht zuletzt den Affekt des Ekels nach sich ziehen wird. Ich, Zarathustra, der Fürsprecher des Lebens, der Fürsprecher des Leidens, der Fürsprecher des Kreises – dich rufe ich, meinen abgründlichsten Gedanken.

4 Nietzsche: Vom Antiplatonismus zum Nihilismus

Heil mir! Du kommst – ich höre dich! Mein Abgrund redet, meine letzte Tiefe hat sich an’s Licht gestülpt! Heil mir! Heran! Gieb die Hand – – ha! lass! Haha! – – Ekel, Ekel, Ekel – – – wehe mir! (KSA 4, S. 271) Indem Nietzsche den »abgründlichsten Gedanken« literarisch inszeniert, wird die innerfigurale Konstitution, die aufs Engste mit dem Gehalt des Gedankens verschlungen zu sein scheint, betont. Alles, was die Wiederkehr, sofern sie willentlich bejaht werden soll, mit sich führt, findet sich in Zarathustra: die Bejahung des »Lebens«, des »Leidens«, des »Kreises«. Dass dies in »Ekel« mündet, kongruiert mit Zarathustras schmerzlichen Versuchen, den Menschen zu bekehren sowie seiner Konfrontation mit dem Zwerg, der, obwohl er das »Räthsel« nicht vollends erraten, sondern induktiv Erkenntnis um die Wiederkehr gewonnen hatte, ebenfalls die Kreisform als Lösung angab. An diesen Widrigkeiten muss Zarathustra erkranken, sofern er den »abgründlichsten Gedanken« in Gänze zu sich kommen lassen will. »Sein Erscheinen – oder, was dasselbe ist, sein Reden – erfüllt aber Zarathustra so mit Ekel, daß er von dem Gedanken wieder abläßt und das Bewußtsein verliert.«64 Ob Zarathustra vom Gedanken schlicht »abläßt«, bleibt ob der Gewalt, mit der er den Gedanken heraufdrängt, zweifelhaft. Was indessen nicht von der Hand zu weisen ist, ist die fatale Lage, in die ihn das Denken des Gedankens bringt. »Kaum aber hatte Zarathustra diese Worte gesprochen, da stürzte er nieder gleich einem Todten und blieb lange wie ein Todter. Als er aber wieder zu sich kam, da war er bleich und zitterte und blieb liegen und wollte lange nicht essen noch trinken.« (KSA 4, S. 271) Versteht man das Krankheitsbild der Depression aus dem lateinischen Wort ›deprimere‹, was soviel wie ›herabdrücken‹ bedeutet, so trifft dies auf den Protagonisten zu, wenn er, vom Gedanken auf sein Lager gepresst, die Nahrungsaufnahme verweigert. »Solches Wesen dauerte an ihm sieben Tage; seine Thiere verliessen ihn aber nicht bei Tag und Nacht, es sei denn, dass der Adler ausflog, Speise zu holen.« (KSA 4, S. 271) Nietzsche spielt durch das siebentägige Ver-»Wesen« Zarathustras einerseits auf die biblische Genesis an, verkehrt diese jedoch andererseits, indem nicht der siebte Tag der Erholung vom Werke dient, sondern die volle Woche genutzt wird, den »Ekel« vor der Wiederkehr zu ›verdauen‹. Erst am achten Tag ereignet sich der Durchbruch zur Wiederkehr – wobei erneut beachtet werden sollte, dass dieser Durchbruch ein äußerer, ein von den Tieren provozierter ist: »Endlich, nach sieben Tagen, richtete sich Zarathustra auf seinem Lager auf, nahm einen Rosenapfel in die Hand, roch daran und fand seinen Geruch lieblich. Da glaubten seine Thiere, die Zeit sei gekommen, mit ihm zu reden.« (KSA 4, S. 271) 64 Bennholdt-Thomsen, Anke: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 61.

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Die Tiere sind also durch eine strukturelle Parallele zum Zwerg gekennzeichnet, die sich hier in der Gestalt des fragenden Fremden äußert: »Kam wohl eine neue Erkenntniss zu dir, eine saure, schwere? Gleich angesäuertem Teige lagst du, deine Seele gieng auf und schwoll über alle ihre Ränder. – » (KSA 4, S. 272) Auch wenn Adler und Schlange um Zarathustras Lage wissen, auch wenn sie ihm sein Denken erklären werden – sie sind nicht Zarathustra, der in Vom Gesicht und Räthsel schon gegen den Zwerg deutlich gemacht hatte, dass es gerade um die Notwendigkeit der eigenen ontologisch‐personalen Äußerung in der Wiederkehr geht. Wie Bernard Pautrat anmerkt: »L’éternel retour, s’il n’est pas ce que Zarathoustra réfute dans la bouche du nain et des animaux, doit être une pensée du point fixe, de sa nécessité absolute, et de son peu de réalité.«65 Deshalb wird dasjenige, von dem Tiere im Folgenden reden – trotz der Freude Zarathustras, dass geredet wird –, von vornherein als Geschwätz bezeichnet: »Oh meine Thiere, […] schwätzt also weiter und lasst mich zuhören! Es erquickt mich so, dass ihr schwätzt: wo geschwätzt wird, da liegt mir schon die Welt wie ein Garten.« (KSA 4, S. 272) Nietzsche legt den Fokus auf die Wahrheitsfähigkeit der Sprache; denn wo Sprache ist, ist auch die irreführende Wirkung des Geschwätzes. »Die Tiere reden zu Zarathustra von seiner neuen Erkenntnis in verlockenden Worten, die eine Versuchung für ihn sind, daß er sich daran nur berausche.« (N 1, S. 307) Es ist das Destrahierende der Sprache, was Zarathustra zum einen beruhigt, zum anderen befähigt, nicht auf die Lockrufe der Tiere vertrauen zu müssen. »Wie lieblich ist es, dass Worte und Töne da sind: sind nicht Worte und Töne Regenbogen und Schein-Brücken zwischen Ewig-Geschiedenem?« (KSA 4, S. 272) Die schon in Ueber Wahrheit und Lüge aufkommende Sprachkritik wird von Nietzsche nunmehr auf die Diffizilität übertragen, dass die Philosophierbarkeit der Wiederkehr natürlich mit der Sprechbarkeit eben dieser zusammenhängt. Dies ist es, was Zarathustra im Gespräch mit seinen Tieren, die ja als allernächste Partner fungieren, Vorsicht aufnötigt. »Zwischen dem Ähnlichsten gerade lügt der Schein am schönsten; denn die kleinste Kluft ist am schwersten zu überbrücken. Für mich – wie gäbe es ein Ausser‐mir? Es giebt kein Aussen! Aber das vergessen wir bei allen Tönen; wie lieblich ist es, dass wir vergessen!« (KSA 4, S. 272) Der eigene Abgrund des (Da-)Seins, in dessen Tiefe der Gedanke an die Wiederkehr geborgen liegt, wird scheinbar überbrückt durch das Gerede des Fremden. Vor diesem Hintergrund erhält eine in der vorliegenden Untersuchung noch nicht berücksichtigte Passage des Zarathustra eine entscheidende Wendung. Im ersten Buch des Textes heißt es: »Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde.« (KSA 4, S. 16) Man kann die »Kluft« zwischen Mensch und Übermensch ohne Weiteres kleinreden; die durch 65 Pautrat, Bernard: Versions du soleil. S. 355.

4 Nietzsche: Vom Antiplatonismus zum Nihilismus

Sprache gefassten Zusammenhänge bleiben in Also sprach Zarathustra uneinholbare »Schein-Brücken« zwischen der Ent- und Verdeckung der ontologischen Frage nach der Wiederkehr. »Sind nicht den Dingen Namen und Töne geschenkt, dass der Mensch sich an den Dingen erquicke? Es ist eine schöne Narrethei, das Sprechen: damit tanzt der Mensch über alle Dinge.« (KSA 4, S. 272) Es ist kein Zufall, dass der Seiltänzer im ersten Buch, abgelenkt von einem »Possenreisser« (KSA 4, S. 21), bei der Überquerung des Abgrunds in die Tiefe stürzt und sterbend zu Boden geht (vgl. KSA 4, S. 21-22). Die von Zarathustra eingeforderte Internalisierung hält seine Tiere allerdings nicht davon ab, die Grundsätze der Wiederkehr dem Genesenden in aller Ausführlichkeit zu präsentieren. »Solchen, die denken wie wir, tanzen alle Dinge selber« (KSA 4, S. 272), ist dabei als einleitende Warnung zu verstehen, bevor die eigentliche – wieder stark literarisierte und repetitive – Ausgestaltung beginnt: Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit. (KSA 4, S. 272-273) Hermeneutische Methodik müsste jetzt die ontologischen Punkte rekapitulieren, die des Meisters Tiere von sich geben. Sie sagen: a) Alles Sein bewegt sich kreisförmig, Tod ist ewig durch Leben determiniert und Leben durch Tod. b) Das Auseinanderstrebende fordert den Zusammenklang, das Gehende begegnet sich erneut im Sein. c) Die temporale Initiation des Seins ist der ewige Augenblick, das topologische Zentrum des Seins ist ubiquitär, die Bahn der Ewigkeit gleicht einer Krümmung. Zusammenfassend sprechen die Tiere demnach jene Bestimmungen des Seins aus, die schon für Teile der Vorsokratiker Gültigkeit beanspruchten. Sie sagen aber auch »gewandter und spielender, im Grunde jedoch dasselbe wie die Rede des Zwergs« (N 1, S. 309). Dass es Nietzsche also nicht an einer rein hermeneutischen Lösung gelegen sein kann, expliziert seine Figur Zarathustra sofort: – Oh ihr Schalks-Narren und Drehorgeln! antwortete Zarathustra und lächelte wieder, wie gut wisst ihr, was sich in sieben Tagen erfüllen musste: – und wie jenes Unthier mir in den Schlund kroch und mich würgte! Aber ich biss ihm den Kopf ab und spie ihn weg von mir. Und ihr, – ihr machtet schon ein Leier-Lied daraus? Nun aber liege ich da, müde noch von diesem Beissen und Wegspein, krank noch von meiner eigenen Erlösung. (KSA 4, S. 273)

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Zarathustra macht sich das Gleichnis des Hirten zu eigen, dem die Schlange der negativen Wiederkehr das Leben zu nehmen drohte. Er vermindert demgegenüber zugleich die Prägnanz der Erzählung seiner Tiere, indem er sie als »Schalks-Narren« und »Drehorgeln« und ihr Resümee der Wiederkehr als »LeierLied« bezeichnet. Die sich aufdrängende Frage muss nun lauten, ob die Tiere wirklich erfasst haben, was es heißt, den »abgründlichsten Gedanken« zu sich kommen zu lassen. Die Antwort auf diese Frage ist aus Zarathustras Perspektive nachvollziehbar: Die Tiere blicken auf ihn, sie sehen sich an, wie die Wiederkehr an ihm stattfindet; sie besitzen aber kein echtes Wissen um die Wiederkehr, weil sie den Abgrund des Seins nicht leibhaft denken, sondern bloß zur Sprache bringen, was erfahren werden muss. [S]ie hocken sich vor das Seiende hin und »schauen« seinen ewigen Wechsel »an« und beschreiben ihn in den schönsten Bildern. Sie ahnen nicht, was sich da begibt, was im wahrhaften Denken des Seienden im Ganzen gedacht werden muß: daß dieses Denken ein Aufschrei aus einer Not ist. (N 1, S. 310) Mit Heidegger ließe sich behaupten, die Tiere seien Prototypen des Theoretischen – was sich als zutreffend herausstellt, wenn man beachtet, dass Zarathustra zu keiner Zeit die Determinationen der Wiederkehr, so wie er sie verstanden haben will, offenlegt. Mit dieser paradoxen Strategie, die sich im Nicht-Sagen, im Auslassen des Eigentlichen vollzieht, steigert Nietzsche die hermeneutische Aufgabe des Rezipienten, da nichtsdestotrotz das Verstehen des Wesens der Wiederkehr eine essenzielle Rolle spielt. Es muß auffallen, daß über den Gehalt der Lehre außer dem Leier-Lied der Tiere nichts gesagt wird, daß Zarathustra dem nicht einen anderen Vortrag entgegenstellt, daß allein durch den Gang des Gesprächs immer nur mittelbar gesagt wird, wie diese Lehre zu verstehen sei und wie nicht. Gleichwohl ergibt sich aus diesem Wie für das Verstehen ein wesentlicher Hinweis auf das Was. (N 1, S. 310) Das Changieren zwischen der Unmittelbarkeit des Ausdrucks, wie ihn die Textgestalt selbst vorgibt, und der Mittelbarkeit der darin enthaltenen Botschaft nötigt dem hermeneutischen Prozess die Anforderung auf, nicht das Einfache wahr, sondern das Abgründige und Kryptische ernst zu nehmen. Das Leiden Zarathustras, welches sich aus dem Gedanken der Wiederkehr speist, konkretisiert sich im Zusammenhang von Lehre und demjenigen, der dieser Lehre diametral entgegensteht: der Mensch. »Und ihr schauet dem Allen zu?« (KSA 4, S. 273), rügt Zarathustra seine sprechenden Beisitzer. »Oh meine Thiere, seid ihr auch so grausam? Habt ihr meinem grossen Schmerze zuschaun wollen, wie Menschen thun? Der Mensch nämlich ist das grausamste Thier.« (KSA 4, S. 273)

4 Nietzsche: Vom Antiplatonismus zum Nihilismus

Die allegorische Menschwerdung der Tiere korrespondiert mit dem für Nietzsche menschlichen Merkmal des Mitleids. Wenn der grosse Mensch schreit –: flugs läuft der kleine hinzu; und die Zunge hängt ihm aus dem Halse vor Lüsternheit. Er aber heisst es sein »Mitleiden«. Der kleine Mensch, sonderlich der Dichter – wie eifrig klagt er das Leben in Worten an! Hört hin, aber überhört mir die Lust nicht, die in allem Anklagen ist! Solche Ankläger des Lebens: die überwindet das Leben mit einem Augenblinzeln. (KSA 4, S. 273) Nietzsches bissiger Abgesang auf den »kleine[n] Mensch[en]«, der Lustgewinn aus seinem ›Mitleidssyndrom‹ schöpfe, geriert sich als parallele Trennung von einem Dichtungsverständnis, welches die zarathustrische Bejahung des Seienden im Ganzen negiert. Der Dichter wird so zum Menschen par excellence. Um dessen Überwindung ist es Zarathustra gelegen, da dessen Seinsdenken im Spiegel des »abgründlichsten Gedankens« klein und allzuklein erscheint. »Der Überdruß am Kleinen, das in der ewigen Wiederkehr des Gleichen ewig wiederkommt und so alle Tendenz des Lebens nach Überhöhung, nach Größe zunichte macht, ist das, was Zarathustra würgte.«66 Der »Ekel« Zarathustras, von dem Nietzsche zu Beginn des Kapitels berichtete, nimmt demnach seine konkrete Form in der ›kleinlichen‹ Disposition des Menschen an. »Der grosse Überdruss am Menschen – der würgte mich und war mir in den Schlund gekrochen: und was der Wahrsager wahrsagte: ›Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, Wissen würgt.‹« (KSA 4, S. 274) »Wahrsager«, Dichter, Mensch: Sie alle können von dem, was Zarathustra als gelebtes »Wissen« offenbart, nichts in ihre Erfahrungswelt transponieren und kehren dennoch ewig wieder. Zarathustras Wissen um die Wiederkehr schützt vor der Kleinigkeit des Menschen also nicht im Entferntesten: »›Ewig kehrt er wieder, der Mensch, dess du müde bist, der kleine Mensch‹ – so gähnte meine Traurigkeit und schleppte den Fuss und konnte nicht einschlafen.« (KSA 4, S. 274) Nun wäre die Frage erlaubt, was sich Nietzsches Zarathustra unter einem ›großen‹ Menschen vorstellt, respektive ob dieser eine vom kleinen Menschen differierende Seinsstruktur aufweist: »Nackt hatte ich einst Beide gesehn, den grössten Menschen und den kleinsten Menschen: allzuähnlich einander, – allzumenschlich auch den Grössten noch!« (KSA 4, S. 274) Kleiner und großer Mensch sind in ihrem ontischen Geltungsrang äquivalent, weil sie wie Zwerg und Tier nicht den Gedanken der Wiederkehr für sich zulassen, und dies auch nicht können, weil ihnen in ihrer Menschlichkeit – auch die Tiere sind ja in gewissem Sinn durch ihr leichtfertiges Schönreden der Wiederkehr Menschen – der Status des 66 Bennholdt-Thomsen, Anke: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 61-62.

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Übermenschen verwehrt bleibt. »Allzuklein der Grösste! – Das war mein Überdruss am Menschen! Und die Wiederkunft auch des Kleinsten! – Das war mein Überdruss an allem Dasein!« (KSA 4, S. 274) War in der Geburt der Tragödie »als aesthetisches Phänomen […] das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt« (KSA 1, S. 48), so erfährt diese Daseinsermächtigung in Also sprach Zarathustra einen metaphysischen Bruch, da die menschlich‐kleinliche Ästhetik mit ihrem jeweiligen Auktor wiederkehrt. Ob sich aus dieser Schleife der Unmöglichkeit fliehen lässt, kann anhand von Also sprach Zarathustra nicht definitiv geklärt werden. Paul S. Miklowitz folgert diesbezüglich, indem er das Ende des Texts zusammenfasst: »The rest of Thus Spoke Zarathustra is about this futility, about the impossibility of interpreting Zarathustra’s vision and the falseness of its truest meaning – eternal return – in the mouth of anyone but Zarathustra himself.«67 Diese Einstufung bedarf ob ihrer fatalistischen Ausprägung einer kritischen Notiz: Auch wenn es für den Menschen zwecklos erscheint, die Ewige Wiederkehr zu denken und richtig zu deuten, bleibt sie als zentrales Theorem persistent. Zwar mag die figurale Präsenz Zarathustras Aufschlüsse über das Wie – genauer: das Nicht-Wie – der Wiederkehr geben, der Reiz einer hermeneutischen Interpretation besteht jedoch in der Sachlage, dass Nietzsche durch den Kontext Wille zur Macht/Wiederkehr/Übermensch das Seiende im Ganzen zu fassen sucht und damit eben auch dasjenige findet, was als Kleines »Überdruss« bereitet. Allein auch die Kleinen sind, und als Seiende kehren auch sie immer wieder, sie sind nicht zu beseitigen, sie gehören auf die Seite jenes Widrigen und Schwarzen. Soll das Seiende im Ganzen gedacht sein, dann muß auch zu ihm noch Ja gesagt werden. Dies macht Zarathustra schaudern. (N 1, S. 312) Der Rezipient, welcher freilich nicht übermenschlicher Natur ist, kann Nietzsche durch den Gang Zarathustras nur folgen, wenn er das Wie der Wiederkehr bedenkt und das Was anhand des Leidens der Figur deutbar macht. Die Tiere nehmen gleichsam die Position eines partizipierenden Lesers – ohne diesen wäre die Wiederkehr nicht kommunizierbar – ein, der um eine Besänftigung des »abgründlichsten Gedanken« Zarathustras bemüht ist, wenn sie sein ausgesprochenes Leid, seinen Ekel intervenieren: »Da liessen ihn aber seine Thiere nicht weiter reden.« (KSA 4, S. 275) Auch wenn Zarathustra darauf erneut anzuheben versucht und die Tiere nochmals als »Schalks-Narren und Drehorgeln« bezeichnet, die ihm das »Leier-Lied« (beide KSA 4, S. 275) singen: analog zum Wesen der Wiederkehr wiederholen sie die Bestimmung Zarathustras, die mit den Designationen des Theorems verwoben sind. 67 Miklowitz, Paul S.: Metaphysics to metafictions: Hegel, Nietzsche and the End of Philosophy. S. 130.

4 Nietzsche: Vom Antiplatonismus zum Nihilismus

Denn deine Thiere wissen es wohl, oh Zarathustra, wer du bist und werden musst: siehe, du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft –, das ist nun dein Schicksal! Dass du als Erster diese Lehre lehren musst, – wie sollte dies grosse Schicksal nicht auch deine grösste Gefahr und Krankheit sein! Siehe, wir wissen, was du lehrst: dass alle Dinge ewig wiederkehren und wir selbst mit, und dass wir schon ewige Male dagewesen sind, und alle Dinge mit uns. Du lehrst, dass es ein grosses Jahr des Werdens giebt, ein Ungeheuer von grossem Jahre: das muss sich, einer Sanduhr gleich, immer wieder von Neuem umdrehn, damit es von Neuem ablaufe und auslaufe: – so dass alle diese Jahre sich selber gleich sind, im Grössten und im Kleinsten, – so dass wir selber in jedem grossen Jahre uns gleich sind, im Grössten und auch im Kleinsten. (KSA 4, S. 275-276) Es stellt sich in dieser Szene die Frage nach dem Sinn der Repetition. Ist doch im Grunde schon im ersten ›Lied‹ der Tiere das Wie der Wiederkunft gesagt worden. Das hier vorgebrachte Wie unterscheidet sich allerdings um figural‐geschichtliche Nuancen: Die Tiere präsentieren nun ein zweifaches Wissen, das sich einerseits an das Wesen Zarathus tras richtet (»du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft«), andererseits den Gehalt dieser Lehre (»dass alle Dinge ewig wiederkehren und wir selbst mit«) nochmals offenlegt. Der vormalige Einspruch Zarathustras scheint also für das Umfeld sowie für den Leser abgewiesen zu sein. Dies zeigt sich eindringlich im Mutismus Zarathustras: Sein Verstummen wird übertönt vom Gesang der Tiere, die ihrem Herrn sogar den letztmöglichen Eskapismus, den Tod, rauben. Sie setzen sich somit an die (Leer-)Stelle seines Sprachvermögens: »Nun sterbe und schwinde ich, würdest du sprechen, und im Nu bin ich ein Nichts. Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber.« (KSA 4, S. 276) Zarathustra schweigt dazu, aber Schlange und Adler präzisieren die Wiederkunft, indem sie den Tod ausspielen: »Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder, in dem ich verschlungen bin, – der wird mich wieder schaffen! Ich selber gehöre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft.« (KSA 4, S. 276) Das scheinbar metaphysisch unvergängliche Ich Zarathustras wird vollends externalisiert und der Wiederkunft anheimgegeben, denn »ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben, im Grössten und auch im Kleinsten, dass ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre« (KSA 4, S. 276) – wogegen Zarathustra kein Wort richtet, sondern stumm der Bezichtigung seiner Tiere lauscht. Die zweite Wiederholung des Theorems in Der Genesende kohäriert demnach mit der den Protagonisten ›befallenen‹ Aphasie. Anke Bennholdt-Thomsen versucht, Zarathustras Verstummen psychoanalytisch zu fassen: Der Widerstand gegen das wiederkehrende Kleine am Menschen und im Leben verhinderte das Annehmen des gesamten Wiederkunftsgedanken-Komplexes;

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daher sprach Zarathustra nicht davon. Dieser Sachverhalt läßt sich psychoanalytisch erklären, und zwar mit dem Phänomen der Verdrängung.68 Bennholdt-Thomsen stützt sich zur Definition der Verdrängung auf Freuds Text Der Wahn und die Träume in W. Jensens ›Gradiva‹.69 Für sie steht eingedenk dessen fest: »Zarathustra hat den ganzen Gedankenkomplex der Wiederkunft vergessen, weil er von einem gewissen Widerstand dagegen beherrscht ist.«70 Ob Zarathustra wirklich »vergessen« hat, was sich mit der Wiederkehr begibt, ist nicht nur zweifelhaft, sondern kaum haltbar, da das Verstummen nicht zwangsläufig Hand in Hand mit Gehörlosigkeit gehen muss – zumal die Tiere ihren Redefluss erst mit der Feststellung »Also endet Zarathustra’s Untergang« (KSA 4, S. 277) schließen. Auch wenn es einen Beleg dafür gibt, dass Zarathustra dem anschließenden Schweigen der Tiere kein Gehör schenkt – »aber Zarathustra hörte nicht, dass die schwiegen« (KSA 4, S. 277) –, ist dies kein Anzeichen dafür, dass er ihre Rede nicht vernahm. »Vielmehr lag er still, mit geschlossenen Augen, einem Schlafenden ähnlich, ob er schon nicht schlief: denn er unterredete sich mit seiner Seele.« (KSA 4, S. 277) Im platonischen Dialog Theaitetos findet sich eine Passage, obgleich Nietzsche mit einiger Sicherheit nicht auf diese anspielt, die der Verdrängungshypothese eine beachtliche Wendung gibt: Eine Rede, welche die Seele bei sich selbst durchgeht über dasjenige was sie erforschen will. Freilich nur als ein Nichtwissender kann ich es dir beschreiben. Denn so schwebt sie mir vor, daß, solange sie denkt, sie nichts anderes tut als sich unterreden, indem sie sich selbst antwortet, bejaht und verneint.71 Zarathustra mag einen Widerstand gegen dasjenige verspüren, was das Außen, sei es der Zwerg oder seien es die Tiere, über die Wiederkunft aussagt; er mag an der Wiederkehr des kleinen Menschen leiden. Das Ende des Kapitels deutet indessen auf ein Seelengespräch hin, das mit sich selbst die metaphysischen Aspekte der Wiederkehr »bejaht und verneint«. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass Zarathustras Denken ihn zwingt, »den Gedanken der Wiederkehr des 68 Bennholdt-Thomsen, Anke: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 63. 69 Bennholdt-Thomsen zitiert folgende Stelle: »Es gibt eine Art von Vergessen, welche sich durch die Schwierigkeit auszeichnet, mit welcher die Erinnerung auch durch starke äußere Anrufung erweckt wird, als ob ein innerer Widerstand sich gegen deren Wiederbelebung sträubte. Solches Vergessen hat den Namen ›Verdrängung‹ in der Psychopathologie erhalten[.]« (Freud, Sigmund: Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva. In: Ders.: Studienausgabe, Band X. S. 9-85, hier S. 35). 70 Bennholdt-Thomsen, Anke: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 63. 71 Platon: Theaitetos. 189 e – 190 a. Gr.: »Λόγον ὃν αὐτὴ πρὸς αὑτὴν ἡ ψυχὴ διεξέρχεται περὶ ὧν ἂν σκοπῇ. Ὥς γε μὴ εἰδώς σοι ἀποφαίνομαι. Τοῦτο γάρ μοι ἰνδάλλεται διανοουμένη οὐκ ἄλλο τι ἢ διαλέγεσθαι, αὐτὴ ἑαυτὴν ἐρωτῶσα καὶ ἀποκρινομένη, καὶ φάσκουσα καὶ οὐ φάσκουσα.«

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Gleichen in seinem ganzen Umfang ins Unbewußte zu verdrängen«72 . Vielmehr ist es die äußerste, willentliche Bewusstheit um die Notwendigkeit der Bejahung des Negativen, die Zarathustra ins Schweigen drängt. Wie es Heidegger konzise formuliert: Er schweigt, weil er sich einzig nur mit seiner Seele unterredet, weil er seine Bestimmung gefunden hat und der wurde, der er ist. Auch das Widrige und Böse hat er überwunden, indem er lernte, daß der Abgrund zur Höhe gehört. Die Überwindung des Bösen ist nicht dessen Beseitigung, sondern die Anerkennung seiner Notwendigkeit. […] Jetzt gehören der Stolz des Adlers und die Klugheit der Schlange zum Wesensbestand Zarathustras. (N 1, S. 315) Die Formelhaftigkeit der äußerlichen Antworten auf die ontologische Frage nach der Wiederkehr genügt Zarathustras Anspruch nicht. Aber gerade weil sie ungenügend sind, und Zarathustras schweigend lernt, dass dies Ungenügende wesentlicher Teil der Wiederkunft ist, kann Nietzsche eine Rekonfiguration der Hermeneutik literaturphilosophisch in den Fokus nehmen. Dies signalisiert aber zugleich, dass sich Nietzsches Vorhaben einer Destruktion der Metaphysik in Also sprach Zarathustra – vor allem, wenn man die Kapitel Vom Gesicht und Räthsel und Der Genesende berücksichtigt – widererwarten im Kontakt mit der Ontologie bricht. Nietzsches Seinsfiktionalisierung, wie sie in Also sprach Zarathustra unternommen wird, ist dann beides: Loslösung von seinem in Ueber Wahrheit und Lüge propagiertem Wahrheitsbegriff – soll die Lehre von der Ewigen Widerkehr, vom Willen zur Macht und vom Übermenschen ja eindeutig einer bestimmten, auch metaphysischen, Wahrheitsauffassung dienlich und sprachlich vermittelbar sein – und eine innerperspektivische Spielart der Sprachkritik – denn Zarathustra spricht ausschließlich mit seiner Seele, wenn es um eine definite Ausformulierung der Wiederkunft geht. Zusammenfassend ließe sich nun konstatieren: Tiere und Zwerg reden ebenso konventionell über das Theorem wie der Mensch über die geglaubte Wahrheit. Aber weil die Konvention, welche im Auge des Denkers kleinlich sein muss, mit der Wahrheit der Wiederkehr kohäriert, offenbart sich der anspruchsvollste und eindringlichste Weg, dieses Problem zu exponieren, dementsprechend jene Form, die beide Seiten ans Licht bringt: die metaphorische Form des Philosophierens. Der in Nietzsches Werk kritisch ins Zentrum gestellte Fiktionalisierungscharakter der metaphysischen Wahrheit scheint vor diesem Hintergrund uneinholbar. Also sprach Zarathustra kann diesbezüglich als Zenit Nietzsches eigener Philosophie gesehen werden. Denn: Wenn Sprache nur einen konventionellen Griff auf die Wahrheit des Seins hat, das Sein jedoch nichts anderes als das Konventionellste ist, markiert das literarisch formierte Denken nicht nur den Fluchtpunkt dieses 72 Bennholdt-Thomsen, Anke: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 63.

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ontologischen Sachverhalts, sondern die singuläre Verfügung der inhärenten und wiederkehrenden Möglichkeitsstruktur, die – oszillierend zwischen Wahrheit und Falschheit – das Sein in Gänze dem Vernehmen preisgibt. Inwiefern es Nietzsche gelingt, diesen Ansatz weiterzuführen und zu konkretisieren, soll im Folgenden anhand des Nachlasses diskutiert werden. In diesem Kontext erscheint es frappant, Nietzsches Verständnis des Nihilismus zu offenzulegen. Zudem steht es abschließend zur Diskussion, inwieweit Nietzsche in der Lage ist, den Bogen hinter Platon zu den Vorsokratikern zu schlagen

4.6

Nietzsche und der Nihilismus

Dass Nietzsche in Also sprach Zarathustra offensichtlich nicht bestrebt ist, eine direkte Zerstörung der Metaphysik voranzutreiben, sondern einen unverbrauchten – gewissermaßen zweiten – Einstieg in das Seinsdenken zu gewinnen, wurde aus seiner Konzeption der Ewigen Wiederkehr, des Willens zur Macht und des Übermenschen deutlich. Alle drei Theoreme sind indessen Spielarten einer ekstatischen Flucht aus dem temporalen Gefüge der Teleologie. Warum Nietzsche dies für notwendig erachtet, zeigt sich in der Lehre des Zarathustra: Nach Nietzsche vergisst die Geschichte der Metaphysik seit Platon, dass die Unmittelbarkeit des Seins einen anderen temporalen Charakter aufweist als das Futurische und das Vergangene. Diese Andersartigkeit ist es, die den Gehalt der in Also sprach Zarathustra offerierten Theoreme an das ganzheitliche Denken der Vorsokratiker – Anaximander, Heraklit und Parmenides – rückbindet. Wie Giorgio Colli treffend in seinem Nachwort zum Zarathustra bemerkt: Als Wurzel der Vision von der ewigen Wiederkunft suche man weniger das Nachklingen doxographischer Berichte über eine alte pythagoreische Lehre oder wissenschaftliche Hypothesen des 19. Jahrhunderts als vielmehr das Wiederauftauchen kulminierender Momente der vorsokratischen Spekulation, die auf eine Unmittelbarkeit hingewiesen haben, die in der Zeit wieder auffindbar ist, jedoch aus ihr hinausführt und so ihre nicht umkehrbare Eingleisigkeit aufhebt. Wenn man zurückgeht bis zu diesem nicht mehr Darstellbaren, so läßt sich nur sagen, daß das Unmittelbare außerhalb der Zeit – die »Gegenwart« des Parmenides und das »Aion« des Heraklit – in das Gewebe der Zeit eingeflochten ist, so daß in dem, was vorher oder nachher wirklich erscheint, jedes Vorher ein Nachher und jedes Nachher ein Vorher ist und jeder Augenblick ein Anfang.73 73 Colli, Giorgio: »Nachwort.« In: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, KSA 4. S. 409-416, hier S. 416.

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Colli macht auf das ungewordene Seiende des Parmenides (vgl. DK 28 B 8) aufmerksam, das durch die Exilierung des Nichtseienden in der totalen Jetztheit aufgeht. Auch wenn Nietzsche in Parmenides implizit einen Vorreiter der zu überwindenden Ideenlehre Platons sieht, darf diese Parallele in Bezug auf die Ewige Wiederkehr durchaus Gültigkeit beanspruchen – zumal Zarathustras Beharren auf den Augenblicksmoment in den Fokus zu rücken ist. Im Falle Heraklits ist die von Colli aufgemachte Analogie ebenfalls einleuchtend. In B 52 heißt es: »Das ewige Leben ist ein Kind, spielend wie ein Kind, die Brettsteine setzend; die Herrschaft gehört einem Kind.«74 (DK 22 B 52) Mansfeld übersetzt αἰὼν mit »Das ewige Leben«, wohingegen Diels schlicht »Die Lebenszeit« (ÜS. Diels) angibt. Was hieraus ersichtlich wird, sind die sich im Wort vermengenden Bedeutungsebenen von Ewigkeit, allgemeiner Zeitlichkeit und deren Relation zum Leben, was wiederum auf eine menschliche Komponente schließen lässt. Es ist diese (über-)menschliche Korrelation, die Nietzsches Zarathustra zu dem werden lässt, was er ist: der Lehrer und Verkünder der Ewigen Wiederkehr, der Suchende nach dem Übermenschen. Gerade weil in Also sprach Zarathustra die Notwendigkeit des Lebens- und Leibesbezugs herausgestellt wird, kehrt Nietzsche sowohl inhaltlich als auch formal hinter Platon zurück.75 Dies evoziert keine einfache Kopie der ontologischen Wahrheitsfrage der Vorsokratiker; vielmehr wird durch diese Nähe deutlich, dass die Geschichte der Philosophie am Scheitelpunkt ihres Umschlags ihrem eigenen Anfang begegnet. Nietzsches Denken nun markiert nichts weniger als jene Inversion; wobei sich an diesem Rücksturz Nietzsches Scheitern zu spiegeln scheint, den Zarathustra philosophisch sowie ästhetisch zu überbieten. Von dieser Warte aus muss nämlich die Frage gestellt werden, was nach dem umwertenden Lebens-Akt Zarathustras kommen soll, wenn zwar die erste Frage nach dem Sinn des Seins neu formuliert und damit der Moral eine Absage erteilt wurde, dies jedoch nicht in einem ›blinden‹ Nihilismus enden soll. Nachdem das Leben sich von der moralischen Metaphysik durch die Tat Zarathustras befreit und sich auf dieses Wissen seiner von sich selbst gegründet hat, erscheint es als der sich wissende Wille zu höheren Möglichkeiten seiner selbst, als 74 Gr.: »αἰὼν παῖς ἐστι παίζων, πεττεύων· παιδὸς ἡ βασιληίη.« 75 Natürlich spricht hier aus Nietzsche ein gewisser ›Zeitgeist‹, den er allerdings nicht unkommentiert lässt: »Wir nähern uns heute allen jenen grundsätzlichen Formen der Weltauslegung wieder, welche der griechische Geist in Anaximander, Heraklit, Parmenides, Empedokles, Demokrit und Anaxagoras, erfunden hat, – wir werden von Tag zu Tag griechischer, zuerst, wie billig, in Begriffen und Werthschätzungen, gleichsam als gräcisirende Gespenster: aber dereinst, hoffentlich auch mit unserem Leibe!« (Nietzsche, Friedrich: Nachlaß 1884-1885. In: Ders.: KSA, Band 11. S. 678)

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Wille zur Steigerung seiner selbst. Und diese Wesensart des Lebens prägt Nietzsche in Anschluß an den Zarathustra die bekannte Formel »Wille zur Macht«.76 Dass die Konzeption des Willens zur Macht nicht unmittelbar nach dem Zarathustra einsetzt, sondern unterschwellig schon den Lehrtext mitbestimmt, dürfte angesichts der vielschichtigen Verwobenheit von Wille zur Macht/Ewige Wiederkunft/Übermensch deutlich geworden sein. Dennoch ist Volkmann-Schluck zuzustimmen, da sich Nietzsche in seinen späten Schriften vornehmlich auf zwei konstatierte Sachverhalte konzentriert: den Willen zur Macht und den Nihilismus. Auch wenn dies nicht von der Hand zu weisen ist und im Folgenden untersucht werden muss, bedarf dieses Faktum einer wichtigen editorischen Notiz: Es existiert eine von Peter Gast und Elisabeth Förster-Nietzsche angestoßene Tradition, jene Fragmente, die sich um das Philosophem des Willens zu Macht ranken, als Nietzsches eigentliches Hauptwerk (Der Wille zur Macht) zu verstehen und als solches zusammenzufassen.77 Es ist Giorgio Colli und Mazzino Montinari zu verdanken, die Fragmente in ihrer Chronologie bestehen zu lassen und somit den Eindruck eines geschlossenen Werkes – für welches sich im Übrigen Heidegger, trotz seiner Ablehnung der Nietzsche-Förster’schen und Gast’schen Zusammenstellung, in seiner Nietzsche-Analyse ausspricht78 – zu vermeiden. Abseits dessen ist es eine beinahe ironische Wendung, dass Nietzsche gegen Ende seines Schaffens dort anlangt, wo Platon im Sophistes mit der Ideenlehre gebrochen hatte. Doch ist es Nietzsches Weitsicht, die es ihm ermöglicht – obgleich nicht sicher ist, in welchem Maße Nietzsche diesen Dialog überhaupt rezipierte – über diesen Punkt hinauszugehen. Aus dem Argumentationsgang der vorliegenden Arbeit könnte eine Ursache hierfür angegeben werden: Der ontologische Nihilismus, wie er sich aus Platons Vatermord an Parmenides ergibt, ist eine unweigerliche Folge der Metaphysik, die sich von den Vorsokratikern zu emanzipieren suchte. Nietzsche indessen geht es einerseits nicht um einen strikt ontologischen Aufweis eines seienden Nichtseienden, andererseits ist der faktische Nihilismus für ihn eine zu überwindende Hürde auf dem Weg des Willens 76 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz: Die Philosophie Nietzsches. S. 142. 77 Vgl. hierzu: Montinari, Mazzino: »Vorbemerkung.« In: Nietzsche, Friedrich: Nachlaß 1885-1887, KSA Band 12. S. 7-8, hier S. 7-8. 78 Vgl. Stegmaier, Werner: »Auseinandersetzung mit Nietzsche I. Metaphysische Interpretation eines Anti-Metaphysikers.« In: Heidegger-Handbuch. S. 174-181, hier S. 175.

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zur Macht.79 Im Herbst 1897 schreibt Nietzsche in einer Art Vorbemerkung zu einem geplanten Text prägnant: 1. Zur Geschichte des europäischen Nihilismus. Als nothwendige Consequenz der bisherigen Ideale: absolute Werthlosigkeit. 2. Die Lehre von der ewigen Wiederkunft: als seine Vollendung, als Krisis. 3. Diese ganze Entwicklung der Philosophie als Entwicklungsgeschichte des Willens zur Wahrheit. Dessen Selbst-In-Fragestellung. Die socialen Werthgefühle zu absoluten Werthprincipien aufgebauscht. (KSA 12, S. 339) Der Nihilismus ist für Nietzsche eine Konsequenz der idealistischen Seinsauslegung à la Platon. Auch wenn Nietzsche dies hier nicht eigens betont, so wurde diese »Consequenz« dennoch allein in den ideenkritischen Dialogen Platons selbst greifbar. Nietzsche philosophiert die Nihilismus-Debatte jedoch nicht aus, sondern überträgt den damit verbundenen Wertlosigkeits-Diskurs auf die Philosophiegeschichte im Allgemeinen: Wenn die Idee – sei es die Idee des ›guten Gottes‹ oder des Schönen an sich – nicht mehr eine umfassende Sicht auf das (Mensch-)Sein gewährleisten kann, ja willentlich abgeschafft werden musste, wie es in der Götzen-Dämmerung hieß (vgl. KSA 6, S. 81), da sie im Laufe der Evolution des Philosophierens schlicht an lebensweltlicher Tauglichkeit verlor, dann tritt mit ihrem Untergang jene Ent-Scheidung – nicht ohne Grund schreibt Nietzsche an dieser Stelle »Krisis« (κρίσις) – auf die Bühne des Denkens, vor der es kein teleologisches Zurück mehr gibt: die zarathustrische Entscheidung zur Ewigen Wiederkehr. Hat die Idee ihren Wert eingebüßt, so wäre es nichts anderes als nostalgisches Hinterherlaufen nach alten Göttern, um ihr erneute Sinnhaftigkeit zu verleihen. Eben dies verhindert der Gedanke der Ewigen Wiederkehr. An der Grenze des ehemaligen »Willens zur Wahrheit«, in welchem seine eigene »SelbstIn-Fragestellung« geborgen liegt, setzt jener Nihilismus ein, der als Vorstufe dem Willen zur Macht bahnbricht. Daher fährt Nietzsche im vierten Punkt fort: 4. Das Problem des Lebens: als Wille zur Macht. (Zeitweiliges Überwiegen der socialen Werthgefühle begreiflich und nützlich: es handelt sich um die Herstellung eines Unterbaus, auf dem endlich eine stärkere Gattung möglich wird.) Maaßstab der Stärke: unter den umgekehrten Werthschätzungen leben können und sie ewig 79 Es sei hervorgehoben, dass Heidegger diesen Bruch zwischen Nietzsche und Platon um keinen Preis wahrhaben will. Mehr noch: Heidegger stellt Nietzsche bewusst in die Tradition des strikt ontologischen Nihilismus, da sich aus dieser Perspektive seine eigene Philosophie als Überwindung dessen geriert. »Der Nihilismus, wie ihn Nietzsche verstand, erzwang so ein AndersDenken des Einzelnen im Verhältnis zu anderem Einzelnen ohne Bezug auf ein gemeinsames Drittes. Heidegger, als er begann, sich dem Problem des Nihilismus zu stellen, ging es stattdessen um ein Anders-Denken des Seins im Verhältnis zum Seienden.« (Stegmaier, Werner: »Auseinandersetzung mit Nietzsche I. Metaphysische Interpretation eines Anti-Metaphysikers.« S. 177)

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wieder wollen. Staat und Gesellschaft als Unterbau: weltwirtschaftlicher Gesichtspunkt, Erziehung als Züchtung. (KSA 12, S. 339) Nietzsches eugenischer Eskapade zu Trotz: Am Willen zur Macht, der mit dem »Problem des Lebens« konvergiert, misst sich nicht nur der Verlauf einer Metaphysik jenseits des wertenden Idealismus, sondern ein realpolitischer Umsturz, dessen revolutionärer Charakter eine Neuartigkeit des Mensch(-seins) fordert. Warum aber das Leben zur Diskussion steht, wird mit Blick auf ein weiteres Fragment offensichtlich: »Seele und Athem und Dasein esse gleich gesetzt. Das Lebende ist das Sein: weiter giebt es kein Sein.« (KSA 12, S. 16) Diese prägnante Notiz kann als Parallelstelle zur Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen gelesen werden.80 Dort hieß es abwertend gegen Parmenides gerichtet: Den Begriff des Seins! Als ob der nicht den ärmlichsten empirischen Ursprung bereits in der Etymologie des Wortes aufzeigte! Denn esse heißt ja im Grunde nur »athmen«: wenn es der Mensch von allen anderen Dingen gebraucht, so überträgt er die Überzeugung, daß er selbst athmet und lebt, durch eine Metapher, das heißt durch etwas Unlogisches, auf die anderen Dinge und begreift ihre Existenz als ein Athmen nach menschlicher Analogie. (KSA 1, S. 857) Nietzsches Einstellung zum Seinsdenken scheint sich im Laufe seines Schaffens in gewissem Sinn gewandelt, respektive erweitert zu haben. Galt ihm vormals der Seinsbegriff als rein anthropozentrische Übertragung eines mimetisierenden Wortes (»esse«) auf unterschiedliche Phänomene, so gewinnt im Nachlass vornehmlich die Intrinsik von Leben und Sein an Dominanz. Möglicherweise kann in Also sprach Zarathustra eine Ursache für diese Zäsur gesucht werden. Wurde im Prosagedicht ja die Suche nach dem Seinssinn an den Übermenschen gekoppelt: »Ich will die Menschen den Sinn des Seins lehren: welcher ist der Übermensch, der Blitz aus der dunklen Wolke Mensch.« (KSA 4, S. 23) Vor diesem Hintergrund drängt sich eine Schwierigkeit auf: Wenn der Übermensch der Sinn des Seins ist, insofern er die Ewige Wiederkehr auslebt, Leben aber dahingegen singulär Seinsstatus genießt, müsste dies bedeuten, dass nur der Übermensch am Leben teilhat, das Menschsein indessen kein solches besitzen kann. Volkmann-Schluck schreibt hierzu: Nachdem die Selbstüberwindung des Lebens, seine Selbstbefreiung in seinem eigenen Wesen stattgefunden hat und als vollzogen erscheint im Werk Zarathustras, ist es dem Denker Nietzsche jetzt möglich, das Wesen des Seienden aus diesem selbstbefreiten Leben als Willen zur Macht zu denken. Aus dieser bereits 80 Vgl. zum Kontext des Zitats in der Nietzsche’schen Parmenides-Auslegung S. 81 der vorliegenden Untersuchung.

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vollzogen dargestellten Selbstüberwindung des Lebens in das wissentliche Wollen des Willens zur Macht denkt Nietzsche erneut das Wesen und die Wesensgeschichte der europäischen Metaphysik.81 Das Leben, wie es nach Also sprach Zarathustra ins Blickfeld gerückt wird, ist die totale Emanzipation desjenigen, welcher den idealistischen Wert-Menschen nihilistisch zum Tode verurteilt. »Das ›Sein‹ – wir haben keine andere Vorstellung als ›leben‹. – Wie kann also etwas Todtes ›sein‹?« (KSA 12, S. 153) Wenn mit der Selbstermächtigung des Willens zur Macht das Leben über den gestorbenen Gott eingestuft wird, muss diejenige Implikation mitbegraben werden, die diesen Gott ausmachte: das starre, ideelle, glückbringende, wahre Sein.82 Das Glück kann nur im Seienden verbürgt sein: Wechsel und Glück schließen sich aus. Der höchste Wunsch hat demnach die Einswerdung mit dem Seienden im Auge. Das ist der sonderbare Weg zum höchsten Glück. In summa: die Welt, wie sie sein sollte, existirt; diese Welt, in der wir leben, ist nur Irrthum, – diese, unsere Welt sollte nicht existiren. Der Glaube an das Seiende erweist sich nur ›als‹ eine Folge. Das eigentliche primum mobile ist der Unglaube an das Werdende. Das Mißtrauen gegen das Werdende, die Geringschätzung alles Werdens … (KSA 12, S. 365) Nietzsche erkennt, dass der Zusammenfall der sich ausschließenden Wesensmerkmale des Seins – Bewegung und Ruhe –, immer den Charakter eines Bedürfnisses haben muss. Dass dieser »Wunsch« eine potenzielle Welt nach sich zieht, die eigentliche, belebte Welt jedoch unter dieser Prämisse das Wesen der Falschheit aufweisen muss, führt zu der eskapistischen Annahme, das Wünschenswerte sei das starre Seiende – zumal dann gegen das Werden generell Verdacht gehegt werden kann. Für die Art des in dieser Tradition denkenden Menschen hat Nietzsche natürlich nichts als Verachtung übrig: Was für eine Art Menschen reflectirt so? Eine unproduktive leidende Art; eine lebensmüde Art. Dächten wir uns die entgegengesetzte Art Mensch, so hätte sie den Glauben an das Seiende nicht nöthig: mehr noch, sie würde es verachten, als todt, langweilig, indifferent … Der Glaube, daß die Welt, die sein sollte, ist, wirklich existirt, ist ein Glaube der Unproduktiven, die nicht eine Welt schaffen wollen, wie sie sein soll. (KSA 12, S. 365) 81 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz: Die Philosophie Nietzsches. S. 144. 82 Aus dieser Perspektive macht Nietzsche die Divergenz von Schein und Lüge auf – um nochmals zu betonen, dass Lüge und Gott unifiziert zu denken sind: »Die scheinbare Welt und die erlogene Welt: ist der Gegensatz: letztere hieß bisher die ›wahre Welt‹, die ›Wahrheit‹, ›Gott‹. Diese haben wir abzuschaffen.« (KSA 13, S. 319)

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Nietzsche kontrastiert die ontologische Metaphysik mit seiner Vision vom neuen Menschen, welche sich in der Produktivität des Wollens/Werdens entäußert. Die scheinbare Einheit des Daseins muss eingedenk dessen dem willentlichen Werden weichen. »Wesentlich für den Ansatz Nietzsches affirmativer Philosophie ist es, gerade eine gegenüber der Seinsmetaphysik authentische Aktivität des Menschen zu skizzieren.«83 Die Metaphysik des Seins hat nach Nietzsche die Aufgabe verfehlt, sich selbst zu interpretieren, weil die ihr eigene Interpretation stets zum gleichen Schluss kommt – man erinnere sich an Parmenides: dass ist, dass es (Sein) ist. Demgegenüber stärkt Nietzsche die differierende Position, denkt das Werden also in einer Weise, die das tautologische Seinsargument übernehmen und übertreffen soll. In einem späteren Fragment kommt Nietzsche diesbezüglich zu dem Schluss: »Der Sinn des Werdens muß in jedem Augenblick erfüllt, erreicht, vollendet sein.« (KSA 13, S. 39) Freilich ist dies ein Paradoxon. Betrachtet man hingegen Nietzsches Fokussierung auf den »Augenblick«, wie er schon in Vom Gesicht und Räthsel im Zentrum stand (vgl. KSA 4, S. 200), so zeigt sich, dass in diesem beide Seinsqualitäten ihre aktuale Einheit finden. Den »Augenblick« zu denken und ihn im Zuge der Ewigen Wiederkehr zuzulassen, offenbart das Versagen der ideellen Seinsinterpretation, der es um die Bestätigung des unbewegten Seins ging und deshalb von ihrem immanenten Nihilismus gezeitigt werden musste. Auch wenn Nietzsche die Aufgabe des Seinsbegriffs zu fordern scheint, ist festzuhalten, dass sich die Konzeption des Werdens dennoch nur im Spiegel des Ontologischen als denkbar bekundet. Dies belegt Nietzsches Changieren zwischen den Polen Werden/Sein, was Fragment 7 [54] herausragen lässt: »Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen – das ist der höchste Wille zur Macht.« (KSA 12, S. 312) Dabei bleibt Nietzsche nicht stehen, sondern hebt die Bedeutung des Werdens kontrastiv hervor: Zweifache Fälschung, von den Sinnen her und vom Geiste her, um eine Welt des Seienden zu erhalten, des Verharrenden, Gleichwerthigen usw. Daß Alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die des Seins: Gipfel der Betrachtung. (KSA 12, S. 312) Nach Nietzsche kommt es einer doppelten Illusion gleich, das Seiende als unbewegt darzustellen. Das Problem an dieser Pauschalisierung folgert er unmittelbar anschließend, da realisiert wird, dass sein eigenes Konzept der Ewigen Wiederkehr, wie in Also sprach Zarathustra skizziert, die Sphäre des Seins durchaus streift – wenn nicht im Moment des jetzigen Augenblicks Sein und Werden sogar zusammenfallen, allerdings mit dem Verve, die tradierte Wert-Welt der angestammten 83 Busch, Thomas: Die Affirmation des Chaos: zur Überwindung des Nihilismus in der Metaphysik Friedrich Nietzsches. S. 206.

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Seinsauslegung im Nihilismus kollabieren zu lassen, um die Wiederkehr methodisch darüber zu erheben. »Vom Zarathustra an fügt sich alles weitere zwanglos ein in eine Philosophie der ewigen Wiederkehr als Selbstüberwindung des extremen Nihilismus.«84 Vollkommen »zwanglos« setzt sich Nietzsches post‐zarathustrisches Schaffen nicht unbedingt fort, sofern man bedenkt, dass der Zarathustra aus literaturphilosophischer Sicht mit einiger Sicherheit den ›Höhepunkt‹ seines Werkes markiert. Womit Löwith indessen zuzustimmen ist: Die Überwindung des Nihilismus, wie sie das Spätwerk Nietzsches ausmacht, ist systemisch mit der Ewigen Wiederkehr zu kontaktieren, weil ihr Wesen der äußersten Bejahung die Verneinung des Nihilismus überkommt. Deshalb schreibt Nietzsche in einer weiteren Konzeption zum Willen zur Macht: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe. Erstes Buch: Der Nihilismus als Schlußfolgerung der höchsten bisherigen Werthe. Zweites Buch: Kritik der höchsten bisherigen Werthe, Einsicht in das, was durch sie Ja und Nein sagte. Drittes Buch: Die Selbstüberwindung des Nihilismus, Versuch, Ja zu sagen zu Allem, was bisher verneint wurde. Viertes Buch: Die Überwinder und die Überwundenen. Eine Wahrsagung. (KSA 12, S. 432) Wenn im Willen zur Macht jegliche Werte überwunden werden sollen, dann ist der Nihilismus die finale Stufe des seit Platon inthronisierten Idealismus – der im Sophistes schon immanent dem Nihilismus wich. »Der ganze Idealismus der bisherigen Menschheit ist im Begriff, in Nihilismus umzuschlagen – in den Glauben an die absolute Werthlosigkeit das heißt Sinnlosigkeit« (KSA 12, S. 313), was Heidegger letztlich als Kehrtwende der Metaphysik im Ganzen identifiziert: »Dann beginnt das Zeitalter der vollendeten Sinnlosigkeit. In dieser Benennung gilt das ›Sinnlose‹ bereits als Begriff des seinsgeschichtlichen Denkens, das die Metaphysik im Ganzen (auch ihr Umkehren und Ausbiegen zu den Umwertungen) hinter sich lässt.« (N 2, S. 20) Der Unifizierung von Wert- und Sinnlosigkeit hält Nietzsche im zweiten Buch hingegen eine reformierte Kritik der Urteilskraft entgegen; es wird diesbezüglich bilanziert, in welcher Weise die Wert-Welt konven84 Löwith, Karl: »Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen.« In: Ders.: Sämtliche Schriften, Band 6. S. 101-384, hier S. 127.

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tionell Positivität und Negativität ansetzt(-e). Dieser Schritt hängt aufs Engste mit dem dritten Buch zusammen, in dem es eindeutig um die willentliche Revolution des tradiert‐negativen Urteils gehen soll. Was es bedeutet, dem vormaligen Nein ein willentliches Ja aufzuprägen, muss für Nietzsche dann – entgegen der postulierten »Sinnlosigkeit« – eine aus der Ewigen Wiederkehr zu denkende »Wahrsagung«85 bleiben, wie es im vierten Buch heißt. »Der Nihilismus ist die wahre, weil geschichtliche Vorausetzung für Nietzsches Wahrsagung der ewigen Wiederkehr des Gleichen, deren kosmisch‐natürliche Notwendigkeit die Not des Nihilismus wenden soll.«86 Weiter als dieses Ja zu gehen, ist im Angesicht der überwundenen Metaphysik nur im Rahmen der fiktionalen Prophetie möglich, weil sich die Überwindung aus demjenigen Seinsdenken speist, welches ihren eigenen Ursprung ausbedingt. Heidegger nun sieht in diesem Punkt – beinahe zwanghaft – eine Koalition zwischen Nietzsche und Platon. Denn Nietzsches Vollendung der Metaphysik ist zunächst Umkehrung des Platonismus (das Sinnliche wird zur wahren, das Übersinnliche zur scheinbaren Welt). Sofern aber zugleich die Platonische »Idee«, und zwar in ihrer neuzeitlichen Form, zum Vernunftsprinzip und dieses zum »Wert« geworden ist, wird die Umkehrung des Platonismus zur »Umwertung aller Werte«. In ihr kommt der umgekehrte Platonismus zur blinden Verhärtung und Verflachung. (N 2, S. 22-23) Was Heidegger verschweigt, ist der offensichtliche Versuch Nietzsches, in der Umkehrung des Platonismus – durch den Vollzug des Willens zur Macht und der Ewigen Wiederkehr – einen Zugang zur unmittelbaren Seinswelt, wie ihn die Vorsokratiker entdeckten, aufzumachen. Für Heidegger steht fest: »Im Gedanken des Willens zur Macht vollendet sich […] das metaphysische Denken selbst. Nietzsche, der Denker des Gedankens vom Willen zur Macht, ist der letzte Metaphysiker des Abendlandes.« (N 1, S. 480) Heideggers Zielsetzung sticht freilich sofort ins Auge: Wenn Nietzsche der letzte Metaphysiker des Abendlandes ist, dann darf Heidegger selbst kein Metaphysiker mehr sein, ja muss von vornherein qua Nachgeborenheit die Metaphysik hinter sich gelassen haben. Man wäre wider dieser beinahe überheblichen Attitüde gegenüber Nietzsche jedoch in der Lage zu behaupten: Nietzsche ist womöglich nicht der »letzte Metaphysiker des Abendlandes«, sondern vielmehr im Sinne der Ewigen Wiederkehr in einer Linie mit Anaximander, Heraklit und Parmenides einer der ersten, weil er in einer Weise nach dem und gegen das Sein fragt, die das Wesentliche gegen den Idealismus zum Thema nimmt: Zeit, Nihilismus, Mensch. Diese Ansicht würde 85 Kursivierung durch den Verfasser. 86 Löwith, Karl: »Nietzsche nach sechzig Jahren.« In: Ders.: Sämtliche Werke, Band 6. S. 447-466, hier S. 456.

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dem Gesamtwerk und vor allem dem starken Bezug zur Dichtung eher Rechnung tragen als eine strenge Fokussierung auf den Willen zur Macht, der zwar als Theorem seine Wichtigkeit besitzt, aber im Kontext seiner Einbettung gelesen werden sollte – wie es Heidegger vorgibt zu tun87 , allerdings in seiner Analyse den Eindruck nicht verhindern kann, das Denken Nietzsches kulminiere vollends im Willen zur Macht. Das Tragische an Nietzsches Schaffen ist aus dieser Perspektive, den Nihilismus einerseits ins Blickfeld gerückt und mit der Konzeption der Ewigen Wiederkehr kontrastiert zu haben, andererseits philosophisch nicht darüber hinausgegangen zu sein – was auch insofern nicht möglich erscheint, weil jede AntiOntologie auch Ontologie bleiben muss. Wenn der Nihilismus nach Nietzsche die völlige Wertlosigkeit der bisherigen Kategorien der Philosophie fordert88 , so bedeutet dies unausweichlich auch, dass mit der Selbsttilgung des Nihilismus eine Seinsauslegung beginnt, die paradoxerweise als solche keinen Anspruch auf monistische, kausale und schließlich ontologische Wahrheit beanspruchen kann. Dass die Kunst nun eine ausgezeichnete Rolle zugesprochen bekommt, muss angesichts dessen nicht verwundern: Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens. Die Kunst als einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence. (KSA 13, S. 521) Dem Nihilismus, der sich aus der metaphysischen Tradition ergab, setzt Nietzsche einen affirmativ‐emphatischen Kunstbegriff entgegen, welcher die Kraft der Bejahung vitalistisch erfahrbar macht. Damit ist Nietzsche am Ende seines Werks in gewissem Sinn bei der Fragestellung der Geburt der Tragödie angelangt – wobei festgehalten werden muss, dass diese Fragestellung metaphysisch so erweitert wurde, dass die Metaphysik in ihren dichterischen Anfang zurückfällt. Dass dies in mehreren Wendungen und mit großen Ambivalenzen vonstattengeht, muss dabei kein Hinderungsgrund sein, Nietzsches Denk-Wege in ihrer Komplexität nachzuvollziehen und zu konzentrieren. Dies soll im Folgenden durch eine kurze Bündelung des vorgelegten Argumentationsgangs gewährleistet werden. Flankierend hierzu erscheint es angebracht, auf die divergente Situation einer hermeneutischen Auslegung der Nietzsche’schen Texte hinzuweisen – ist 87 »Wir unterscheiden stets scharf zwischen dem nachträglich hergestelltem Buch des Titels ›Der Wille zur Macht‹ und zwischen dem verborgenen Gedanken-Gang zum Willen zur Macht, dessen innerstes Gesetz und Gefüge wir nachzudenken versuchen.« (N 1, S. 487) 88 »Kurz: die Kategorien ›Zweck‹, ›Einheit‹, ›Sein‹, mit denen wir der Welt einen Werth eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen – und nun sieht die Welt werthlos aus …« (KSA 13, S. 48)

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es ja nicht zu leugnen, dass Nietzsches Ausbruch aus der Sinnhaftigkeitsstruktur hermeneutisches Vorgehen unweigerlich vor Probleme stellt.

4.7

Von (Seins-)Wahrheit und/zur Kunst Ein Fälscher ist, wer Nietzsche interpretiert, indem er Zitate aus ihm benutzt; denn er kann ihn all das sagen lassen, worauf er selber aus ist, indem er authentische Worte und Sätze nach freiem Belieben geschickt arrangiert. Im Bergwerk dieses Denkers ist jedes Metall zu finden: Nietzsche hat alles gesagt und das Gegenteil von allem.89

Giorgio Collis beinahe gegen‐wissenschaftliche Bemerkung mag der hier präsentierten Methodik des Zitierens, Arrangierens und hermeneutischen Interpretierens aufs Erste widersprechen; doch muss angesichts dessen die Frage erlaubt sein, in welcher Weise man mit Nietzsche anders verfahren soll, als Referenzen aus seinem Werk zu entnehmen und diese dem Thema gemäß anzuordnen. In gewissem Sinn ist Colli einerseits dennoch zuzustimmen: Nietzsches Einstellung zu den fundamentalen Themen der Philosophie ist gespalten, inkonsistent, divergent, ja kontradiktorisch – was eine Extraktion von Textstücken zum Aufweis einer bestimmten These prekär werden lässt. Andererseits sind auch offensichtliche Zusammenhänge und Themenfelder nicht zu leugnen. Dies darf nicht dazu führen, alle Widersprüche in Nietzsches Werk im Stile einer strikt ›logischen‹ Philosophie lösen zu wollen, weil es im Falle Nietzsches zumeist eben nicht um die Lösung der Kontradiktion geht, sondern um den Widerspruch an sich, der in seiner wechselseitigen Polarität für eine Analyse beider Seiten spricht: des Widers und des Spruchs. Vielmehr erscheint der Hinweis auf die Ontologie-Lastigkeit der Untersuchung vonnöten: Das Sein stellt die Herausforderung, ausgelegt zu werden. Nietzsches Auslegung indessen will sich nicht an die klassisch‐platonische halten, sondern diese invertieren – was notwendigerweise dazu führt, den angestammten Seinsbegriff auf der einen Seite ablehnen zu müssen und auf der anderen Seite ihn radikal ursprünglich zu denken. Will man sich auf diese Dualität einlassen, so bleibt schlicht nichts anderes übrig, als Nietzsches Texte als das zu nehmen – also auch Stellen herauszunehmen –, was sie sind: Zeugnisse eines Denkers, der den Fiktionalisierungscharakter der Philosophiegeschichte für sich erkannt hat und 89 Colli, Giorgo: Nach Nietzsche. S. 209.

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diesen von Anfang an – man denke an die anti‐sokratische Philologie in der Geburt der Tragödie, die Sprachkritik in Ueber Wahrheit und Lüge oder den Abgesang auf den Wahrheitsanspruch der Welt in der Götzen-Dämmerung – in einen Entwicklungsprozess einbettet, der in Also sprach Zarathustra seine metaphysische Peripetie erreicht. Der in den Fragmenten des Nachlasses verhandelte Nihilismus markiert dann jene letzte Volte, die den moralischen Boden des abendländischen Denkens gänzlich ent‐werten soll, um einem anti‐nihilistischen, dementsprechend anti‐christlichen und anti‐platonischen Denken der Bejahung Bahn zu brechen. Wie Löwith anmerkt: Mit der kritischen Negation aller christlich‐moralischen Unterscheidungen und im Blick auf ein unbedingtes Ja ohne Nein zu dem sich selber wollenden Leben vollzog Nietzsche der Tendenz nach die »Gegenbewegung« zu dem bloßen »Rückschlag« des Glaubens an Gott in den an das Nichts und eine Neubewertung von zunächst bloß wertlos gewordenen Werten. Damit versuchte er die »Überwindung« des Nihilismus.90 Dies gestaltet sich als letzte Stufe des Nietzsche’schen Schaffens – wobei er eine Finalisierung dessen schuldig bleibt, was potentiellen Spekulationen natürlich Tür und Tor öffnet. Nietzsche zu zitieren und damit in einen Gesamtkontext einzugliedern, mag diesbezüglich zu Schwierigkeiten führen. Doch anstatt auf eine Referenzialität gänzlich zu verzichten – wie es Colli vorschlägt –, gestaltet es sich aus literaturwissenschaftlicher Perspektive sinnvoller, Nietzsches sprachliche Offenheit mit ihren eigenen Mitteln zu interpretieren, um so Bezugspunkte herauszuarbeiten, die eine bestimmte Sicht auf den Gehalt seiner ›Lehre‹ ermöglichen. Nietzsches unausgesprochene, jedoch verwirklichte Allianz mit Dichtung offeriert demnach ein Angebot: Wenn es nach Platon die Aufgabe der Philosophie ist, Aussagen über etwas – über Dichtung, über das Sein, über die Position des Menschen darin – zu treffen, so birgt das Werk Nietzsches die Subversion dessen, indem das Denken sowohl poetisch als auch philosophisch selbst zur Sprache kommt. Nietzsches Sprachkritik, Zarathustras Auslassung einer Konkretion der Ewigen Wiederkehr oder die nicht mehr vollzogene Präsentation einer post‐nihilistischen Welt werden somit Leerstellen, die der Hermeneutik die Anforderung auflasten, aus dem vorhandenen Textmaterial Wissensbestände zu deduzieren. Nietzsche zu deuten, wird dadurch stets etwas, was ihm auch widersprechen muss, weil man im tradierten ›wissenschaftlichen‹ Stil über etwas spricht, worin man ferner nicht ist. Dies darf als die große, nicht lösbare Paradoxie bezeichnet werden, welche insofern nicht zu hintergehen ist, als die Schriften Nietzsches als solche natürlich 90 Löwith, Karl: »Kirkegaard und Nietzsche oder philosophische und theologische Überwindung des Nihilismus.« In: Ders.: Sämtliche Werke, Band 6. S. 53-74, hier S. 68.

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einer Auslegung bedürfen. »Was kann allein Erkenntniß sein? – ›Auslegung‹, nicht ›Erklärung‹.« (KSA 12, S. 104) Folglich gibt Nietzsche selbst eine Herangehensweise vor, die auf sein Werk übertragbar scheint. Zentral war diesbezüglich der Nachvollzug einer gewissen Entwicklung bezüglich seines ›Umgangs‹ mit der Metaphysik – sofern man bedenkt, dass in Nietzsches ›Umgang‹ auch eine Form des ›Umgehens‹ mitschwingt: Wenn in der Geburt der Tragödie Sokrates zum Mörder des Tragischen stilisiert wird, dann folgt diese Stilisierung dem für Nietzsche kennzeichnenden Muster, die in den Modi Wahrheit/Falschheit operierende dialektische Metaphysik dafür verantwortlich zu machen. Dies ist es auch, was seine Kritik des Wahrheitsbegriffs in Ueber Wahrheit und Lüge statuiert, da hier der tautologisch‐konventionelle Charakter der Sprache so exponiert wird, dass die ›klassische‹ Art des Philosophierens, welche nach Kongruenz von Denken und Sprache strebt, unterwandert wird. Aus diesem sprachkritischen Bestreben folgt Nietzsches Aufweis des fingierenden Wesens der ideellen Metaphysik: Wenn die Übereinstimmung von Sein und Wahrheit in Sprache sich durch die Abschaffung des Ideellen selbst zeitigt, weil die Erkenntnis durchgebrochen ist, dass dieses Arrangement nichts als eine Verallgemeinerung auf dem Boden einer beliebigen Übereinkunft ist, überkommt sich zugleich das Scheinbare, da Schein und Wahrheit sich insofern komplementär verhalten, als an den Verwerfungen der Wahrheit die Notwendigkeit des Scheins hervortritt – vice versa. Das Problem dieser Polarität zeigt sich dann eindringlich an der dichterischen Verfasstheit von Also sprach Zarathustra: Wenn mit dem Weg der Wahrheit auch die Bahn der Falschheit aufgegeben wird, dennoch aber philosophiert werden soll, was es mit der Seinsbezüglichkeit des (Über-)Menschen, der Zeitstruktur der Ewigen Wiederkehr und der Willenskonfiguration auf sich hat, birgt die Form des Lehrgedichts den wesentlichen Vorteil, metaphorisch ausdrücken zu können, wie es sich mit der ›Lehre‹ begibt – ohne sich dabei festlegen zu müssen, was die jeweilige Deutung des Philosophems letztgültig charakterisiert. An dieser Stelle sei allerdings die Frage erlaubt, inwiefern Nietzsche der platonischen Wahrheitsfiktion nicht selbst eine Fiktion zweiten Grades entgegenhält. Kann doch konstatiert werden, dass in Also sprach Zarathustra und im Nachlass jedenfalls metaphysische Konzeptionen diskutiert werden, die einen Anspruch auf dasjenige erheben, was Nietzsche der ›abendländischen‹ Philosophie negativ unterstellt: den Anspruch auf Wahrheit. Es ist ein nicht bestreitbares Dilemma, dass Nietzsche bei der Beantwortung dieser Frage hinter den Erwartungen – zumindest philosophisch – zurückbleibt. Statt einer deutlichen Aus-Sprache offeriert Nietzsche gleichwohl ein In-Dichtung-Schweigen, das nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass durch die Theoreme natürlich Wissensbestände aufgetan werden, die in ihrer Wahrheitsgestalt zwischen literarischer Qualität und philosophischer Aussage zu oszillieren scheinen. Heidegger schreibt bezüglich des

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Nietzsche’schen Wahrheitsverständnisses – man beachte das Dialogische an seiner Bemerkung: Es gilt eingehender zu fragen, was Nietzsche unter Wahrheit versteht. Wir antworten: das Wahre. Doch was ist das Wahre? Was ist hier dasjenige, was den Wesen der Wahrheit genügt, und worin ist dieses Wesen selbst bestimmt? Das Wahre ist das wahrhaft Seiende, das in Wahrheit Wirkliche. Was meint hier »in Wahrheit«? Antwort: das in Wahrheit Erkannte; denn das Erkennen ist jenes, was von Hause aus wahr oder falsch sein kann. Die Wahrheit ist Wahrheit der Erkenntnis. Das Erkennen ist so eigens die Heimat der Wahrheit, daß ein unwahres Erkennen nicht als Erkennen gelten kann. (N 1, S. 176) Nietzsche formuliert natürlich nicht apodiktisch, dass »das wahrhaft Seiende das in Wahrheit Wirkliche« sei, welches dann eine Form von »Erkenntnis« nach sich ziehe. Vielmehr positioniert Heidegger Nietzsche – durch den so gefassten Wahrheitsbegriff – im Lichte Platons, respektive in dessen Verkehrung (vgl. N 1, S. 177-189), welche in Nietzsches Werk hingegen offensichtlich angelegt ist. Heideggers Zuschreibung ist allerdings insofern beachtlich, als sie auf dasjenige abzielt, was Nietzsche nicht überholen konnte: die Divergenz von Kunst und Wahrheit. Jetzt erst wird deutlich, inwiefern Kunst und Wahrheit, deren Verhältnis für Nietzsche ein Entsetzen erregender Zwiespalt ist, überhaupt in ein Verhältnis treten können und müssen, das mehr als die Vergleichsbeziehung ist, die sich bei der kulturphilosophischen Deutung beider ergibt. Kunst und Wahrheit, Schaffen und Erkennen treffen sich in der einen leitenden Hinsicht auf die Rettung und Gestaltung des Sinnlichen. (N 1, S. 189) Heidegger unifiziert Wahrheit, Sinnlichkeit und Kunst91 im Namen Nietzsches, um diese Trias in einem längeren Exkurs (vgl. N1, S. 191-231) mit Platons KunstVerständnis zu kontrastieren. So wird der Nietzsche’sche »Zwiespalt« von Kunst und Wahrheit zum negativen Spiegel des Platon’schen92 (vgl. N 1, S. 230-231) – was insofern einleuchtet, als Nietzsche die platonische Separation von Dichtung und Philosophie zu revidieren versucht und letztlich einem philologischen Zugang anheimgibt. So kann Nietzsche 1888 zu dem prominenten Satz kommen: »An einem Philosophen ist es eine Nichtswürdigkeit zu sagen: das Gute und das Schöne sind Eins: fügt er gar noch hinzu ›auch das Wahre‹, so soll man ihn 91 »Wenn jedoch Nietzsches Philosophie die Umkehrung des Platonismus ist, das Wahre somit die Bejahung des Sinnlichen, dann ist die Wahrheit dasselbe, was die Kunst bejaht: das Sinnliche.« (N 1, S. 189-190) 92 Hier sei nochmals auf die platonische Paradoxie hingewiesen, Dichtung aus philosophischen Gründen aus dem Staat verbannen zu müssen (vgl. Pol., 595 a – 601 b) und andererseits selbst im Medium des literarischen Dialogs zu operieren.

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prügeln. Die Wahrheit ist häßlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehn.« (KSA 13, S. 500) Die Kunst erscheint als letztes Refugium vor der unerbittlichen Bürde der Wahrheit, der sich Nietzsche selbst nicht entziehen konnte. Vor diesem Hintergrund bleibt zu eruieren, inwieweit es Heidegger, dessen Zugang zur Seinsfrage sich neben Aristoteles vor allem aus den Fragmenten der Vorsokratiker und eben Nietzsche speist, gelingt, die Metaphysik in den und aus dem Fokus zu rücken, um somit eine Wiederentdeckung auf dem Fundament der (Seins-)Philosophie zu gewährleisten. Dies soll im nächsten Schritt vor allem anhand der Texte Was ist Metaphysik? und Über den Humanismus anschaulich gemacht werden. Ziel dessen ist es, Heideggers durchaus problematische und ›nihilistische‹ Orientierung auf die Seinsfrage in den Kontext Vorsokratik/Platon/Nietzsche einzuordnen und auszulegen.

5 Heidegger – die Wiederentdeckung der Seinsfrage? Das Dasein entwirft als Verstehen sein Sein auf Möglichkeiten. Dieses verstehende Sein zu Möglichkeiten ist selbst durch den Rückschlag dieser als erschlossener in das Dasein des Seinkönnen. Das Entwerfen des Verstehens hat die eigene Möglichkeit, sich auszubilden. Die Ausbildung des Verstehens nennen wir Auslegung. In ihr eignet sich das Verstehen sein Verstandenes verstehend zu. In der Auslegung wird das Verstehen nicht etwas anderes, sondern es selbst. (S.u.Z., S. 148)

Heideggers Begriff der Auslegung, wie er noch in Sein und Zeit präsentiert wird, erscheint zur Erläuterung seines Wahrheits-Verständnisses von Bedeutung: Die Möglichkeit der Seinsinterpretation, von den Vorsokratikern über Platon bis zu Nietzsche, kann als Ausformung einer verstehenden Auslegung bezeichnet werden, die das ihr Eigene »in das Dasein des Seinkönnen« rückführt. Auch wenn der hier angestrebte Wahrheitsbegriff durchaus Bruchstellen erfährt – man denke an die von Platon im Sophistes ins Spiel gebrachte Nichtübereinstimmung von Wahrheit und Phänomen in der Verschiedenheit des Nichtseienden oder an Nietzsches aphatische Flucht vor der Aussprache einer bestimmten Seinswahrheit in Also sprach Zarathustra –, ist festzuhalten, dass der Verstehensentwurf für eine Auslegung des (Da-)Seins vorgeblich nicht zu hintergehen ist – wobei die Daseinsphilosophie im Laufe des Heidegger’schen Schaffens nach Sein und Zeit zugunsten der Seinsphilosophie an Relevanz verlieren wird. Es ist gerade dieser Versuch Heideggers, in Sein und Zeit, 1927 als Fragment erschienen, im Rahmen einer Daseinsanalyse »die Fundamentalontologie des Seins durchzuführen«1 . Dass dieses hochambitionierte Vorhaben für Heidegger letztlich 1 Jahraus, Oliver: Martin Heidegger. S. 81.

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scheiterte2 , zeigt die problematische Grundsätzlichkeit seines gesamten Schaffens, das nach einem Seinszugang sucht, welcher als solcher hinter die Geschichte der Metaphysik zurückgehen soll. In Sein und Zeit wird ebenfalls nach diesem Fundament des Seins gesucht; allerdings noch in einer Form, die den Seinssinn in den Fokus nimmt: »Die konkrete Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von ›Sein‹ ist die Absicht der folgenden Abhandlung.« (S.u.Z., S. 1) Die Vorlage für diese Sinnerschließung bilden nach Heidegger drei Seinsbestimmungen: »1. Das ›Sein‹ ist der ›allgemeinste‹ Begriff« sowie »2. Der Begriff des ›Seins‹ ist undefinierbar« und schließlich »3. Das ›Sein‹ ist der selbstverständliche Begriff« (S.u.Z., S. 3-4). Mit der Feststellung: »Die ›Allgemeinheit‹ des Seins ›übersteigt‹ alle gattungsmäßige Allgemeinheit« (S.u.Z., S. 3) deutet Heidegger darauf hin, dass gerade die Geschichte der Metaphysik – namentlich Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin und Hegel (vgl. S.u.Z., S. 3) – dies Allgemeine nicht zu klären imstande war, sondern: »Wenn man demnach sagt: ›Sein‹ ist der allgemeinste Begriff, so kann das nicht heißen, er ist der klarste und aller weiteren Erörterung unbedürftig. Der Begriff des ›Seins‹ ist vielmehr der dunkelste.« (S.u.Z., S. 3) Heideggers Anspruch ist es dementsprechend, diese ›Dunkelheit‹ vorerst fundamentalontologisch zu lichten – was zum zweiten Punkt überleitet. Denn: »›Sein‹ kann nicht als Seiendes begriffen werden« (S.u.Z., S. 4), was nicht nur die ontisch‐ontologische Differenz evoziert, sondern – rückwirkend auf den ersten Punkt – bewirkt, dass die definitorischen Bemühungen der Metaphysik insofern am Sein vorbeigehen, als sie Seiendes für und vor Sein nehmen. Warum sich Sein dann zugleich, wie im dritten Punkt angekündigt, in seiner Selbstverständlichkeitsstruktur unbedacht durch Sprache zieht, ja offenkundig das leitende Band derselben darstellt, scheint auf den ersten Blick verwunderlich. Auf den zweiten leuchtet Heideggers Rekurs auf die Üblichkeit der Seinsverwendung unmittelbar ein: In allem Erkennen, Aussagen, in jedem Verhalten zu Seiendem, in jedem Sich‐zusich‐selbst-verhalten wird von »Sein« Gebrauch gemacht, und der Ausdruck ist dabei »ohne weiteres« verständlich. […] Allein diese durchschnittliche Verständlichkeit demonstriert nur die Unverständlichkeit. […] Daß wir je schon in einem Seinsverständnis leben und der Sinn von Sein zugleich in Dunkel gehüllt ist, beweist die 2 An Max Kommerell schreibt Heidegger 1942, changierend in seiner Selbstdarstellung: »Auch ›Sein und Zeit‹ war eine Verunglückung. Und jede unmittelbare Darstellung meines Denkens wäre heute das größte Unglück. Vielleicht liegt darin ein erstes Zeugnis dafür, daß meine Versuche zuweilen in die Nähe eines echten Denkens kommen. Alles aufrichtige Denken ist zum Unterschied der Dichter in seinem unmittelbaren Wirken eine Verunglückung.« (Heidegger, Martin: »Brief an Max Kommerell.« In: Kommerell, Max: Briefe und Aufzeichnungen: 1919-1944. S. 404-405, hier S. 405)

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grundsätzliche Notwendigkeit, die Frage nach dem Sinn von »Sein« zu wiederholen. (S.u.Z., S. 4) Damit ist die Programmatik von Sein und Zeit verdeutlicht: Heidegger geht es um die rückwirkende Besinnung auf die basalste aller Fragen, also um die Aufdeckung eines verdeckten Seinsverständnisses, das als solches in seiner (metaphysischen) Verdeckung einerseits zu einer Selbstverständlichkeit degradiert wurde, andererseits gegen diese Banalisierung in einer Weise neu befragt werden muss, die den Sinn desjenigen zu Tage bringt, was für Heidegger trotz seiner Selbstverständlichkeit das – nicht: ein – Thema ohne Antwort geblieben ist: das Seinsthema. Deshalb folgert er, »daß nicht nur die Antwort fehlt auf die Frage nach dem Sein, sondern daß sogar die Frage selbst dunkel und richtungslos ist« (S.u.Z., S. 4). Das Schaffen Heideggers formiert sich um diese Frage – natürlich aus verschiedenen Perspektiven und oszillierend in ihren Ansätzen. Wie Oliver Jahraus anmerkt: »Heideggers gesamte Philosophie dreht sich also um das Sein und gleichursprünglich um das Denken (bzw. die Denkmöglichkeiten) des Seins. Seine Philosophie ist Philosophie des Seins.«3 So ist Heidegger nicht nur wieder bei Parmenides, insbesondere Fragment B 3 (τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι) angelangt, sondern holt gleichsam durch das Fragen nach dem Sein das Wesen des Seinsdenkens gegen eine Vereinnahmung der ›klassischen‹ Metaphysik ins Philosophieren zurück – wobei bedacht werden sollte, dass Heideggers Interpretation der Vorsokratiker durchaus Inkonsistenzen aufweist4 und sich sein Begriff der ›Philosophie‹ wechselhaft ausbedingt. Vor diesem Hintergrund lassen sich mit Thomas Rentsch5 Heideggers Zielsetzungen in Sein und Zeit prägnant in sieben Punkten zusammenfassen: »1. Die Grundfrage nach dem Sinn von Sein«, welche auf die Rolle des Menschen respektive des Daseins hindeutet. Daher: »2. Die Klärung der Frage nach dem Sinn von Sein kann nur erfolgen im Rückgang auf das einzige Seiende, das Sein überhaupt ›verstehen‹ kann – im Rückgang auf den Menschen, das Dasein in Heideggers Terminologie […].« Ist in dieser Art nach dem Konnex von Sein und Dasein gefragt, muss eine genauere Bestimmung des Da-Seins erfolgen. Deshalb: »3. Das Wesen des Daseins ist das In‐der-Welt‐sein«, was darauf schließen lässt, dass Heidegger nichts weniger als eine »Weltanalyse« im Sinn hat, die an die ›Praxis‹ des Daseins rückgebunden werden soll. Die Frage nach dem Leitsatz dieses Zusammenhanges lautet dann für Heidegger: »4. Das Wesen des In‐der-Welt‐seins ist 3 Jahraus, Oliver: Martin Heidegger. S. 86. 4 Vgl. hierzu: Pöggeler, Otto: Neue Wege mit Heidegger. S. 181; sowie: Seidl, Horst: Heideggers Fehlinterpretation antiker Texte. S. 19-21; S. 95-155. 5 Alle weiteren Zitate in diesem Absatz: Rentsch, Thomas: »›Sein und Zeit.‹ Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit.« In: Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. S. 48-74, hier S. 53-55.

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die Sorge. In diesem Rahmen entwickelt Heidegger eine elementare Konzeption des menschlichen Handelns.« Die Sorge entspricht derjenigen Form des ›Verhaltens‹ zum Sein, welche den Zusammenfall von Dasein und Zeitlichkeit markiert. Thomas Rentsch fasst sie zusammen: »5. Das Wesen der Sorge ist die Zeitlichkeit, wie sie sich insbesondere in der Sterblichkeit und Endlichkeit – Sein‐zum-Tode – manifestiert […].« Nur unter dieser Prämisse lässt sich nachvollziehen, dass Heideggers Begriff der Zeitlichkeit im ekstatischen Sinne mit dem sorgenden Dasein konvergiert: »6. Von dieser ekstatischen Zeit her wird auch die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins allererst verstehbar […].« Die so verstandene Zeitlichkeit ist allerdings nicht eine beliebige, sondern eine bestimmte Zeitlichkeit, aus der sich erst die verschiedenen Zeitformen ableiten: »7. Diese Zeit ist die ursprüngliche Zeit, von der her alle andere Zeit – die Geschichtszeit, die Uhrzeit, die physikalische Zeit – überhaupt erst möglich wird […].« Dies ist gewissermaßen die Struktur, an der sich Sein und Zeit entlang entwickelt. Wobei es Rentsch nicht entgeht, dass »vier Fundamentaldifferenzen« diesem Aufbau immanent Halt geben: »ontisch‐ontologische Differenz«, »Differenz von Kategorien und Existentenzialien« sowie die Differenzierung »der existenziellen von der existenzialen Rede-Ebene« und die »vertikal strukturierende Fundamentalunterscheidung […] von Eigentlichkeit und Uneingentlichkeit«. Man könnte unter diesen Umständen die Verschränkung dieser für Sein und Zeit kardinalen Merkmale ins Auge fassen und sie – ebenfalls fundamentalontologisch – zwanghaft in das Gesamtbild der vorliegenden Arbeit einpassen. Gerade dies soll aus zweierlei Gründen nicht geschehen: I) Sein und Zeit stellt einen gewissen Marker im Schaffen Heideggers dar, der – nicht ohne auf dessen wesentliche Seinskonfigurationen und Relevanz hingewiesen zu haben – ein Wahrheitsverständnis von Dasein und Sinn offenbart, von dem sich Heidegger selbst ab-kehrt. Wie es Byeong-Yeol Yun in seiner Dissertation zum Wandel des Wahrheitsverständnisses im Denken Heideggers formuliert: Tatsächlich gelangte Heidegger nach dem Erscheinen von SuZ mehr und mehr zu der Überzeugung, daß der Mensch den Weg zum Sein, auf den er zu gelangen angewiesen war, nur schwer erreichen könne. Es ergab sich also die umgekehrte Aufgabe: das Sein durfte nicht mehr vom Menschen und dessen Seinsverständnis her gedacht werden, sondern der Mensch und das Seiende mußten vom Sein her gedeutet werden […].6 II) Diese Kehre Heideggers geht mit Re-Fokussierung auf Themenfelder des Seins einher, welche die Argumentation der Untersuchung durchzog: Vorsokratik, (Anti-) Platonik, Nietzsche. So verwundert es nicht, dass Heidegger als Leser des hier eingeführten Textkorpus eine konstitutive Funktion einnimmt. Wie er selbst hingegen – durch Auslegungen dieser Texte – nach Sein und Zeit eine Fragestel6 Yun, Byeong-Yeol: Der Wandel des Wahrheitsverständnisses im Denken Heideggers. S. 74-75.

5 Heidegger – die Wiederentdeckung der Seinsfrage?

lung entwickelt, die vom Sein ausgehend dasselbe denkt, steht diesbezüglich zur Debatte. Dies scheint rückwirkend auf I) von Belang: »Heidegger beantwortet die Frage nach dem Sein nicht mehr mit dem Dasein, sondern mit dem Sein selbst.«7 Wenn von nun an in Heideggers Denken das Seinsprimat vor dem Dasein herrscht, so muss auch darauf eingegangen werden, inwieweit dies einerseits seinen Wahrheitsbegriff betrifft und andererseits die menschlichen Relationen tangiert. Hinsichtlich dieser Prämissen ist es zuvorderst von Relevanz, im Rahmen einer Untersuchung der 1929 gehaltenen Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? Heideggers Seins- und Metaphysikverständnis nach Sein und Zeit Schritt für Schritt ins Blickfeld zu rücken. Es soll in diesem Kontext auch deutlich gemacht werden, dass Heidegger ein zentrales Thema der Philosophiegeschichte neu zu bedenken versucht: das Nichts.

5.1

»Das Nichts ist zugegeben« – Seinsvergessenheit/Nichtsvergessenheit Was ist im Grunde überhaupt Metaphysik? Sie denkt das Seiende als das Seiende. Überall, wo gefragt wird, was das Seiende sei, steht Seiendes als solches in der Sicht. Das metaphysische Vorstellen verdankt diese Sicht dem Licht des Seins. (W.M., S. 7)

Heideggers Prätention sticht gleich zu Anfang hervor: Es handelt sich um einen Vorwurf, um ein konstatiertes Problem – im griechischen Sinne des Wortes προβάλλειν –, den/das Heidegger der Metaphysik anlastet: Wenn die Metaphysik dasjenige zum Gegenstand ihrer Bemühungen hat, das Seiende, was nur durch die Ermöglichung des Seins ihr Wesen erhält, vergisst sie gleichermaßen, dass das »Licht des Seins« den Ursprung dieses Seienden aufmacht. Sie vergeht bei genauerer Betrachtung in der ›Dunkelheit‹ ihres eigenen Wesens, weil nicht mehr die Frage nach der Wahrheit des Seins als Triebfeder des Denkens fungiert, sondern Seiendes durch Seiendes erklärt wird, was nur zur Folge haben kann, dass das ›Resultat‹ der Metaphysik Seiendes ist. »Das Licht, d.h. dasjenige, was solches Denken als Licht erfährt, kommt selbst nicht mehr in die Sicht dieses Denkens; denn es stellt das Seiende stets und nur in der Hinsicht als das Seiende vor.« (W.M., S. 7) Dies expliziert Heidegger folgend anhand der Geschichte der Metaphysik: 7 Jahraus, Oliver: Martin Heidegger. S. 146.

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[…] ob als Geist im Sinne des Spiritualismus, ob als Stoff und Kraft im Sinne des Materialismus, ob als Vorstellung, ob als Wille, ob als Substanz, ob als Subjekt, ob als Energeia, ob als ewige Wiederkehr des Gleichen, jedesmal erscheint das Seiende im Lichte des Seins.8 (W.M., S. 7-8) Er kommt dabei zu einem Schluss, in dessen Aussage eine Divergenz geborgen liegt: Indem die Metaphysik das Seiende denkt, scheint notwendig Sein in diesem Denken durch. »Überall hat sich, wenn die Metaphysik das Seiende vorstellt, Sein gelichtet […]« (W.M., S. 8) – was die Metaphysik allerdings nicht zum Anlass nimmt, der eigentlichen Frage nach der Wahrheit des Seins nachzugehen. Hierin liegt die entscheidende Wende in Heideggers Denken begründet; sie speist sich aus einem griechischen Wort: Ἀλήθεια. »Sein ist in einer Unverborgenheit (Ἀλήθεια) angekommen.« (W.M., S. 8) Heidegger versteht Ἀλήθεια primär durch eine Interpretation des Kompositums, welches sich aus dem Alpha privativum ἀ- (›Un-›) und dem Substantiv λήθη (›Verborgenheit‹/›Vergessenheit‹) zusammensetzt.9 Die ›klassische‹ Übertragung des Wortes mit ›Wahrheit‹ erhält bei Heidegger nun eine elementare Erweiterung: Wahrheit ist für Heidegger im deutsch‐griechischen Sinne dasjenige, was sich aus der Unverborgenheit entbirgt. Wie Ernst Tugendhat anmerkt: »Die Wahrheit – als Unverborgenheit verstanden – wird zum philosophischen Grundbegriff.«10 Wahrheit ist demnach nicht per se gegeben, sondern ihrem Wesen nach Er-Scheinen aus der Verborgenheit.11 Dies ist der Zugang zur Wahrheit des Seins, den die Metaphysik nach Heidegger zu denken nicht imstande war. »Das Sein wird in seinem entbergenden Wesen, d.h. in seiner Wahrheit nicht gedacht.« (W.M., S. 8) Das Verhältnis von Metaphysik zur Wahrheit des Seins ist also insofern divergent, als erstgenannte ihr eigentliches Herkommen/Erscheinen nicht reflektiert. »Die Wahrheit des Seins kann deshalb der Grund heißen, in dem die Metaphysik als die Wurzel des Baumes der Philosophie gehalten, aus dem sie genährt wird.« (M.W., S. 8) Die trophologische Metapher des Baumes beinhaltet die Momente des Ursprungs sowie des LebenLassens. Es ist dieses Leben-Lassen, dessen die Metaphysik nicht eingedenk zu sein scheint. »Weil die Metaphysik das Seiende als das Seiende befragt, bleibt sie beim Seienden und kehrt sich nicht an das Sein als Sein. Als die Wurzel des Baumes schickt sie alle Säfte und Kräfte in den Stamm und seine Äste.« (W.M., S. 8) 8 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Heidegger als Kulminationspunkt der Metaphysik Nietzsches Philosophie der Ewigen Wiederkehr ansetzt. War es doch jener Denker, dessen anti‐platonisches Bestreben ihn erst in die Lage brachte, die Zeitlichkeit in einer Weise radikal neu, bzw. ursprünglich zu fassen, um somit der Teleologie zu fliehen. 9 Vgl. hierzu auch: GA II, 54, S. 14-30. 10 Tugendhat, Ernst: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger. S. 378. 11 Die Parallele zu Anaximanders ›Philosophie‹ des Auftauchens und Untergehens der seienden Dinge aus und in das Ungewordene ist nicht von der Hand zu weisen (vgl. S. 20f. der vorliegenden Arbeit).

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Gerade weil dem so ist, und die metaphysische Auslegung des menschlichen Daseins sich eher auf den »Stamm« bezieht denn auf das ursprüngliche Sein, rückt Heidegger in unmittelbare Nähe zu einer Seinsphilosophie, die den Menschen nicht unbedingt ausklammert, aber jedenfalls an den Randbezirk drängt. Denn: »Die Metaphysik denkt, insofern sie stets nur das Seiende als Seiendes vorstellt, nicht das Sein selbst.« (W.M., S. 9) Heideggers Aufgabe besteht nach Sein und Zeit darin, dem Sein Rechnung zu tragen – entgegen einer fundamentalontologischen Hermeneutik des Daseins.12 Natürlich offenbart sich an der Kritik der Metaphysik ein konstitutives Problem: Wenn die Metaphysik ihren eigenen Boden vergessen hat, ja sich bis Nietzsche immer weiter von diesem fortentwickelt, indem sich die Frage nach dem Seienden scheinbar uneinholbar in der Vordergrund schiebt, dann ist diese Fortentwicklung keine wirkliche, sondern eine Oszillation auf der Basis des eigentlichen Seins. »Sie [die Metaphysik] verläßt ihn [den Seinsgrund] stets, und zwar durch die Metaphysik. Aber sie entgeht ihm gleichwohl nie.« (W.M., S. 9) Heidegger ist es nunmehr daran gelegen, nicht ohne dabei auf den ›Irrweg‹ der Metaphysik hingewiesen zu haben, an jenen Ort zurückzukehren, aus dem die Metaphysik einst entsprang. Sein Unterfangen ähnelt auf paradigmatischer Ebene ergo demjenigen Nietzsches. Handelt es sich in dessen Philosophie ja ebenfalls eindeutig um eine emphatische Reversion in die Anfänge des Denkens – freilich ohne philosophisch vollends ausmachen zu können, woran das ›Projekt‹ Metaphysik schlussendlich krankte, da das Seinsdenken von Nietzsche zumeist in unmittelbare Nähe zum Idealismus gerückt wird.13 Heideggers Denken hingegen kreist in seinsspezifischer Art um die Möglichkeit, die Bahn der Metaphysik 12 Im vollen Bewusstsein, dass Heideggers Verstrickungen in den Nationalsozialismus sowie sein Antisemitismus, wie er in den Schwarzen Heften offenkundig wird, präzise untersucht und aufgearbeitet werden müssen, kann die vorliegende Untersuchung diese Leistung aufgrund der Themensetzung nicht erbringen. Es sei an dieser Stelle dennoch eine Anmerkung erlaubt: Die von Jahraus vertretene, aus Sein und Zeit abgeleitete These, die »Erschlossenheit des Daseins für sich selbst« führe zur Fehlannahme einer »[g]esellschaftlichen Erschlossenenheit« (beide Jahraus, Oliver: Martin Heidegger. S. 43), ist nicht von der Hand zu weisen. Zudem, und dies wäre ein Anknüpfungspunkt für weitere Forschung, ergibt sich aus der Kehre, die nun dem Sein entgegen dem Dasein einen Vorrang einräumt, eine erneut prekäre Situation: Wenn das Sein die einzig zu achtende Instanz darstellt, der der Mensch unterworfen zu sein scheint, verliert das Menschliche selbst in letzter Konsequenz den Status des Achtbaren. 13 Natürlich arbeitet sich Nietzsche auch an den Epigonen der Philosophiegeschichte ab. Jedoch sind die unterschiedlichen Provenienzen durchaus zu erkennen: Während Nietzsche als Philologe sein Programm zur ›Destruktion‹ der Metaphysik vornehmlich gegen Platon wendet, um diesem in Also sprach Zarathustra paradoxerweise eine ästhetisierende ›Metaphysik‹ entgegenzuhalten, operiert Heidegger als Philosoph in gewissem Sinn aus der Metaphysik gegen dieselbe.

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bis zu ihrem Ursprung, an dem die Frage nach der Wahrheit des Seins steht, zurückzuverfolgen, um diese Frage radikal neu zu positionieren. Insofern ein Denken sich auf den Weg begibt, den Grund der Metaphysik zu erfahren, insofern dieses Denken versucht, an die Wahrheit des Seins selbst zu denken, statt nur das Seiende als das Seiende vorzustellen, hat das Denken die Metaphysik in gewisser Weise verlassen. (W.M., S. 9) Dieser Duktus der Revision konvergiert indessen nicht mit einer absoluten Destruktion der Metaphysik. Vielmehr öffnet Heidegger das Tor zu einer grundsätzlichen ›Andersartigkeit‹ des Seinsdenkens, die aus dem Geiste der Metaphysik nicht zugänglich zu sein scheint. »Allein das, was so noch als Grund erscheint, ist vermutlich, wenn es aus ihm selbst erfahren wird, ein Anderes und noch Ungesagtes, demgemäß auch das Wesen der Metaphysik etwas anderes ist als die Metaphysik.« (W.M., S. 9) Die Frage, auf welchem Fundament diese ›Andersartigkeit‹ steht, beantwortet Heidegger repetitiv mit dem Aufweis der Seinsfrage an sich. Daher kommt er zu dem vorläufigen Schluss: »Wenn somit bei der Entfaltung der Frage nach der Wahrheit des Seins von einer Überwindung der Metaphysik gesprochen wird, dann bedeutet dies: Andenken an das Sein selbst.« (W.M., S. 10) Heideggers »Überwindung der Metaphysik« kann demzufolge als revolutionärer Gestus verstanden werden, der auf den ersten Blick konservativ anmutet, auf den zweiten dies gerade insofern nicht ist, als das angestammte Philosophieren im weitesten Sinne nicht ›bewahrt‹ und verteidigt, sondern auf dem (Seins-)Fundament neu bedacht werden soll. Angesichts dieser Volte stellt sich die Aufgabe, eruieren zu müssen, inwieweit nicht schon vor dem Aufkommen der Metaphysik die Wahrheit des Seins als Unverborgenheit Thema war. Wäre die Vermutung ja durchaus gegeben, dass bei den Vorsokratikern – also denjenigen Denkern, die im strengen Sinn keine Metaphysik betrieben, sondern dieser einerseits den Weg ebneten, andererseits nicht Seiendes durch Seiendes fassten, sondern das Sein im Ganzen dachten – die Frage nach der Wahrheit des Seins in einer Form prominent verhandelt wurde, die Heideggers eigenem Anspruch Genüge täte. Eben diesen historisierenden Schritt will Heidegger um keinen Preis angehen – was insofern diffiziler Natur ist, als besonders den Vorsokratikern Anaximander, Heraklit und Parmenides in Heideggers späterem Schaffen eine tragende Rolle zukommt. Indem er die Maximen seines Metaphysik-Verständnisses wiederholt, erteilt Heidegger einem so gearteten Vorgehen in Was ist Metaphysik? eine klare Absage: Die Metaphysik hat in ihren Antworten auf ihre Frage nach dem Seienden als solchen vor diesem schon das Sein vorgestellt. Aber die Metaphysik bringt das Sein selbst nicht zur Sprache, weil sie das Sein nicht in seiner Wahrheit und die Wahr-

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heit nicht als die Unverborgenheit und diese nicht in ihrem Wesen bedenkt. (W.M., S. 11) In der »Frage nach dem Seienden als solchen« vergisst die Metaphysik ihren eigentlichen Ursprung. Dieser ist nach Heidegger: das entbergende Wesen der Ἀ-λήθεια. Die Sprache der Metaphysik versagt im Angesicht dieser Verdeckung. Mehr noch: Die Metaphysik ist nicht in der Lage, der Unverborgenheit Tribut zu zollen, weil sie Erkenntnis über das Seiende perpetuiert – was der Frage nach der Wahrheit des Seins entgegensteht, da diese Frage nicht irgendeine Erkenntnis »im Sinne der veritas« (W.M., S. 11) zu Tage fördert, sondern das Sein per se aus der Unverborgenheit denken muss. Ἀλήθεια könnte das Wort sein, das einen noch nicht erfahrenen Wink in das ungedachte Wesen des esse gibt. Stünde es so, dann könnte freilich das vorstellende Denken der Metaphysik dieses Wesen der Wahrheit nie erreichen, mag es sich auch noch so eifrig um die vorsokratische Philosophie historisch bemühen; denn es handelt sich nicht um irgendeine Renaissance des vorsokratischen Denkens – solches Vorhaben wäre eitel und widersinnig – sondern um das Achten auf die Ankunft des noch ungesagten Wesens der Unverborgenheit, als welche das Sein sich angekündigt hat. Inzwischen bleibt der Metaphysik während ihrer Geschichte von Anaximander bis zu Nietzsche die Wahrheit des Seins verborgen.14 (W.M., S. 11) Heidegger geht es »um das Achten auf die Ankunft des noch ungesagten Wesens der Unverborgenheit«. Diese Erwartungshaltung nimmt Züge einer Parusie (παρουσία) an, welche die οὐσία im Lichte der Ἀλήθεια erscheinen lassen will. Mehr noch: die οὐσία tritt hinter Ἀλήθεια zurück, da das Sein erst aus der Unverborgenheit, welche Heidegger zufolge in ihrem Wesen noch nicht gehört wurde, zu verstehen ist. So wird die Unverborgenheit zur eigentlichen Wahrheit. Wie Ernst Tugendhat kritisch anmerkt: Die Un-Verborgenheit bedeutet gegenüber der Offenbarkeit eine Vertiefung, als vermeintlicher Wahrheitsbegriff aber muß sie die Möglichkeit der Wahrheitsfrage endgültig verschütten: sie bestätigt noch einmal die Auffassung, daß das Wahre das Unverborgene sei und nimmt zugleich durch die Umdeutung des »Un«- die Verborgenheit, von der aus diese Auffassung in Zweifel gezogen werden könnte, in die Unverborgenheit selbst mit auf.15 14 Es sei angemerkt, dass aus dieser Perspektive der in der vorliegenden Arbeit aufgemachte Seinsdiskurs – von Anaximander bis Nietzsche – nach Heidegger nicht unbedingt zielführend wäre, da natürlich metaphysische Implikationen angesprochen werden, die nicht unbedingt mit dem Wesen der Unverborgenheit korrelieren. Doch wäre es auf der anderen Seite ebenso wenig zielführend, die Unverborgenheit als ausschließliches Kriterium einer Untersuchung der Vorsokratiker oder Platons anzuführen. 15 Tugendhat, Ernst: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger. S. 398.

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Tugendhat verweist auf einen Punkt, der im Zuge des Heidegger’schen Wahrheitsverständnisses stets mitbedacht werden sollte: Wenn die Unverborgenheit die Verborgenheit gleichsam in sich subsummiert und damit über letztgenannte erhebt, muss dies die Ausschaltung der korrektiven Möglichkeit aus dem Geiste der Verborgenheit zur Folge haben. Ist diese Möglichkeit des In-Zweifel-Ziehens erodiert, offenbart sich die Unverborgenheit als einzig begriffliche Instanz, von der aus Aussagen über das Seiende getroffen werden dürfen. Auf dieser Basis ist Heideggers Rekurs auf das Mensch-Sein in Was ist Metaphysik? kritisch zu deuten. Die leitende Funktion des Daseins in Sein und Zeit wird nämlich jetzt an die Vorgabe der Unverborgenheit rückgebunden. »Vielmehr ist mit ›Dasein‹ solches genannt, was erst einmal als Stelle, nämlich als Ortschaft der Wahrheit des Seins erfahren und dann entsprechend gedacht werden soll.« (W.M., S. 15) Der Mensch ist dasjenige privilegierte Seiende, welches – wie schon in Sein und Zeit – »Existenz« für sich beanspruchen kann und »in dessen Offenheit das Sein selbst sich bekundet und verbirgt« (beide W.M., S. 15). Natürlich evoziert dies eine Primärstellung des Menschen, da nur dieser, in seinem ekstatischen Wesen, der ihm eigenen Position als Ort des Seins andächtig werden kann. Zugleich allerdings münzt Heidegger dies insofern um, als nur das als Unverborgenheit verstandene Sein diesen Menschen in seiner Prominenz gelten lässt. Heidegger fasst zusammen: »der Mensch ist dasjenige Seiende, dessen Sein durch das offenstehende Innestehen in der Unverborgenheit des Seins, vom Sein her, im Sein ausgezeichnet ist.« (W.M., S. 17) Wie sich indessen die Beschaffenheit des Seins, das die Existenz erstgültig vorgibt, gestaltet, wird Heidegger zufolge vor allem unter Rücksicht auf das griechische εἶναι deutlich. Im Rückgriff auf die Anfänge des abendländischen Denkens ist für Heidegger εἶναι primär nicht eine einfache Sprachformel des ›Seins‹, wie es in der Übersetzungspraxis gängig ist. Vielmehr versteht Heidegger εἶναι im ›eigentlich‹ griechischen Sinne und verdeutscht es mit ›Anwesen(-heit)‹: »Das Andenken an den Anfang der Geschichte, in der sich das Sein im Denken der Griechen enthüllt, kann zeigen, daß die Griechen von früh an das Sein des Seienden als die Anwesenheit des Anwesenden erfuhren.« (W.M., S. 18) Wei-Ding Tsai schreibt in seiner Dissertation verallgemeinernd zum Zusammenhang von Heideggers MetaphysikVerständnis und Anwesenheits-Begriff: Heidegger definiert die Metaphysik als eine bestimmte Denkweise der abendländischen Tradition, welche die Seiendheit des Seienden bloß als Anwesenheit – die bleibende Gegenwart – versteht und daher das Sein nicht mehr von der Zeit her denken [kann]. Die Metaphysik vergisst die Zeitlichkeit des Seins und stellt es durch mannigfache Weisen als ein unverändertes Vorhandensein dar.16 16 Tsai, Wei-Ding: Die ontologische Wende der Hermeneutik. S. 150.

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Dies ist insofern als richtige Beurteilung einzustufen, als es Heidegger darauf ankommt, die Unverborgenheit an die Struktur eines anti‐metaphysischen Zeitverständnisses rückzubinden (vgl. W.M., S. 18-19). Auf der anderen Seite ist WeiDing Tsais Bemerkung abzumildern, wenn man die Relationen εἶναι/Sein/Zeit in Was ist Metaphysik? genauer betrachtet: »Das Wesen dieses Anwesens ist tief geborgen in den anfänglichen Namen des Seins. Für uns aber sagt εἶναι und οὐσία als παρ- und ἀπουσία zuvor dies: im Anwesen waltet ungedacht und verborgen Gegenwart und Andauern, west Zeit.« (W.M., S. 18) Anwesen und Zeit sind daher notwendig untrennbar miteinander verbunden. Dies hat zur Konsequenz, dass die vorgängige Unverborgenheit erst ins Anwesen und somit in die Zeit bringt. »Sein ist demnach unverborgen aus Zeit. So verweist Zeit auf Unverborgenheit.« (W.M., S. 18) Das Ergebnis dessen ist freilich weitreichend: Wenn Zeit im Sinne der Unverborgenheit zu verstehen ist, muss dies heißen, dass die Metaphysik den wahren Sinn von Zeit nicht fassen kann, weil sie immer nur Seiendes als Seiendes vorstellt.17 »Aber die jetzt zu denkende Zeit ist nicht erfahren am veränderlichen Ablauf des Seienden. Zeit ist offenbar noch ganz anderen Wesens, das durch den Zeitbegriff der Metaphysik nicht nur noch nicht gedacht, sondern niemals zu denken ist.« (W.M., S. 18-19) Die Frage, welche Zeitlichkeits-Konzeption Heidegger hier stark machen will, ist dann unter Beachtung der zentralen Unverborgenheit zu beantworten: »So wird Zeit der erst zu bedenkende Vorname für die allererst zu erfahrene Wahrheit des Seins.« (W.M., S. 19) Die Wahrheit des Seins aus dem Ursprung der Unverborgenheit offenbart einen verschütteten Zugang zu Zeit, den die Metaphysik zwar nicht öffnen konnte, an dessen Pforte sie jedoch gleichsam ebenfalls, die ›wahre‹ Zeit verbergend, steht. Wenn am Anfang des metaphysischen Denkens diese Verdeckung Raum greift, so befindet sie sich auch an deren Ende – welches Heidegger wieder mit Nietzsches Ewiger Wiederkunft identifiziert: Wie in den ersten metaphysischen Namen des Seins ein verborgenes Wesen von Zeit anspricht, so in seinem letzten Namen: in der »ewigen Wiederkunft des Gleichen«. Die Geschichte des Seins ist in der Epoche der Metaphysik von einem ungedachten Wesen der Zeit durchwaltet. (W.M., S. 19) 17 Man denke an dieser Stelle an das parmenideische Lehrgedicht, in dem ebenfalls ein Zeitbegriff aufgeworfen wird, der nicht mit irgendeiner Form von ›Linearität‹ zu vereinbaren ist: Wenn nur denk- und aussagbar ist, dass Sein ist, Nichtsein hingegen vollkommen zu exilieren ist, weil es nicht Sein ist, was nicht denk- und aussagbar ist, muss dies bedeuten, dass Verschwinden und Auftauchen suspendiert werden. Ohne Verschwinden und Auftauchen ist ausschließlich temporale Permanenz – was der irregeleitete Mensch nicht für gültig erachten mag.

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Dass Nietzsche offensichtlich dem teleologischen Zeitlichkeitsentwurf durch die Ewige Wiederkehr ein Korrektiv an die Seite stellt, bleibt außer Zweifel. Heidegger hingegen sieht in diesem kardinalen Theorem Nietzsches den Abschluss der metaphysischen Zeit-Interpretation – was insofern zweifelhaft zu sein scheint, als es Nietzsche gerade darum geht, hinter dem Platonismus/Aristotelismus zurückzuwirken. Auch in diesem Schritt legt Heidegger dar, dass die Metaphysik – sei es durch ihre Auslegung der Zeit, sei es durch das wesentliche Vergessen ihres eigenen Grundes – in ihrer wörtlich onto‐logischen Ausprägung immer das Seiende als Seiendes präsentiert (vgl. W.M., S. 20). Dies führt zur inhärenten Dopplung der Metaphysik: »In solcher Weise stellt die Metaphysik überall das Seiende als solches im Ganzen, die Seiendheit des Seienden vor (die οὐσία des ὄν).« (W.M., S. 20) In diesem Vorgehen spiegelt sich eine Verallgemeinerungstendenz, welche die konstatierte Generalisierung zum Prinzip »des höchsten und darum göttlichen Seienden« (W.M., S. 20) erhebt. In dieser zweifachen Ausprägung ist der »theologische Charakter der Ontologie« (W.M., S. 21) geborgen, der, nicht die Unverborgenheit denkend, die Geschichte des abendländischen Denkens durchwaltet. Aus jener »Zwiegestalt« (W.M., S. 21) kann sich die Metaphysik nicht befreien, da diese Dualität ihr Wesen als Philosophie des Seienden bestimmt. Doch auch hinsichtlich dieser einführenden Bemerkungen ist eines noch nicht geklärt: das Motto, unter dem Heideggers Antrittsvorlesung firmiert. Dies Motto ist: Was ist Metaphysik? Deshalb kehrt sich Heidegger diesem zu, indem er »die Grundfrage der Metaphysik« (W.M., S. 23) stellt: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?« (W.M., S. 23) Das Motiv des Aufwurfs dieser Warum-Frage leuchtet unmittelbar ein: Wenn die Metaphysik ihren eigenen Boden – die Unverborgenheit als Wahrheit des Seins – verlassen und vergessen hat, ist es zwingend nötig, zum Ursprung dieser Frage zurückzureichen, da hier dasjenige durchscheint, wonach Heidegger auf der Suche ist: das Sein. Es handelt sich also um jene Problemstellung, mit der sich schon Parmenides konfrontiert sah. Heidegger wiederholt gewissermaßen diese Frage mit dem Fokus, das Sein gegen die Geschichte der Metaphysik, welche die Geschichte des Seienden ist, zu regenerieren. Am Fuße jener Unterscheidung erwächst die ›Andersartigkeit‹ des Heidegger’schen Bestrebens: Oder wird die Frage in einem ganz anderen Sinne gefragt? Wenn sie nicht beim Seienden anfragt und für dieses die erste seiende Ursache erkundet, dann muß die Frage bei dem ansetzen, was nicht das Seiende ist. Solches nennt die Frage und schreibt es groß: Das Nichts, das die Vorlesung als ihr einziges Thema bedacht hat. (W.M., S. 24)

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Mit dieser Notiz macht Heidegger nicht nur das leitende Thema seines Vortrags auf; vielmehr schlägt er den Bogen zu seinen einleitenden Worten, wenn er betont, dass vom Sein ausgehend das Seiende neu bedacht werden muss: Hier kann auch, gesetzt daß wir nicht mehr innerhalb der Metaphysik in der gewohnten Weise metaphysisch, sondern aus dem Wesen und der Wahrheit der Metaphysik an die Wahrheit des Seins denken, dies gefragt werden: Woher kommt es, daß überall Seiendes den Vorrang hat und jegliches »ist« für sich beansprucht, während das, was nicht Seiendes ist, das so verstandene Nichts als das Sein selbst, vergessen bleibt? (W.M., S. 24) Seinsvergessenheit wird dann (quasi-)äquivalent zu Nichtsvergessenheit – was nicht unbedingt implizieren muss, dass Sein und Nichts absolut gleichzusetzen wären, da Heidegger primär aus der Unterscheidung, der ontisch‐ontologischen Differenz von Sein und Seiendem denkt.18 »Mit der ›ontologischen Differenz‹ zwischen Sein und Seiendem, deren Verdeckung den Irrweg der Metaphysik begründet, steht nicht nur eine logische Distinktion, sondern eine grundlegende thematische Option in Frage.«19 Diese In-Frage-Stellung mündet in der für das Denken konstitutiven Überlegung, warum Seiendes ist, respektive warum das Sein dieses Seienden ist. »Was bleibt rätselhafter, dies, daß Seiendes ist, oder dies, daß Sein ›ist‹? Oder gelangen wir auch durch diese Besinnung noch nicht in die Nähe des Rätsels, das sich mit dem Sein des Seienden ereignet hat?« (W.M., S. 25) Konnte für Nietzsche ausgemacht werden, dass das Rätsel um die Ewige Wiederkehr dieselbe erst gegen das Sprachvermögen der Figur Zarathustra zur Sprache brachte, so steht Heidegger in gewissem Sinn an einem ähnlichen, jedoch 18 An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, inwieweit Hegels Begriff des Nichts von Heidegger in die Diskussion einbezogen wird. Hieß es ja in der Wissenschaft der Logik: »Nichts ist in unserem Anschauen oder Denken; oder vielmehr [ist] es das leere Anschauen und Denken selbst; und dasselbe leere Anschauen oder Denken als das reine Sein. – Nichts ist somit dieselbe Bestimmung oder vielmehr Bestimmungslosigkeit und damit überhaupt dasselbe, was das reine Sein ist.« (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik. Das Sein. S. 48) Heidegger hingegen geht es nicht um eine absolute Gleichsetzung von Sein und Nichts – wobei eine bestimmte Äquivalenz jedenfalls durchscheint –, sondern um eine Re-Etablierung der basalen Frage, aus welchem Grund Seiendes ›west‹ und nicht Nichts. Hegel schreibt: »Das reine Sein und das reine Nichts sind dasselbe. Was die Wahrheit ist, ist weder das Sein noch das Nichts, sondern daß das Sein in Nichts und das Nichts in Sein – nicht übergeht –, sondern übergegangen ist.« (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik. Das Sein. S. 48) Hegel offeriert hier einen Wahrheitsbegriff, der sich aus der Gewordenheit der Äquivalenz von Sein und Nichts speist. Heidegger indessen strebt einen Wahrheitsbegriff an, der die Unverborgenheit des Seins insofern zum Leitthema hat, als diese das Seiende – metaphysisch gesprochen – werden lässt (vgl. hierzu: Philipse, Herman: Heidegger’s Philosophy of Being. S. 9). 19 Angehrn, Emil: »Kritik der Metaphysik. Heideggers Auseinandersetzung mit der abendländischen Tradition.« In: Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. S. 226-239, hier S. 231.

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tiefergehenden Punkt: Nietzsches Ewige Wiederkehr ist der Versuch, das Seiende temporal so zu bejahen, dass die Linearität der Zeit aufgebrochen wird; Heideggers Herangehen in Was ist Metaphysik? ist es hingegen, das Sein als solches in den Vordergrund zu rücken und im Spiegel des Nichts zu diskutieren – also nicht ein Seiendes in concreto zu untersuchen, sondern die (Seins-)Basis dieses Seienden auszuspüren. Dass er dabei zuvorderst die Wissenschaft kritisch in den Fokus nimmt, ist insofern nicht überraschend, als dieser Diskurs nach Heidegger vor allem dadurch ausgezeichnet ist, sich dem Seienden in einer gewissen Ausschließlichkeit zu widmen. »Und doch – in allen Wissenschaften verhalten wir uns, ihrem eigensten Absehen folgend, zum Seienden selbst.« (W.M., S. 27) Die Wissenschaften folgen seit Aristoteles der Zielsetzung: das Seiende zu untersuchen, zu kategorisieren und zu definieren. Im Allgemeinen spielt es für die Wissenschaft keinerlei Rolle, was untersucht wird, weil die ihr eigene Methodik stets dasjenige zum End-›Produkt‹20 haben wird, was einst ihre Wurzel war: das Seiende. Durch dieses Vorgehen ergibt sich das wesentliche Vexierbild, man könne sich durch die Anhäufung des Seienden einer wie auch immer gearteten ›Wesenshaftigkeit‹ annähern.21 »In den Wissenschaften vollzieht sich – der Idee nach – ein In‐die-Nähe‐kommen zum Wesentlichen aller Dinge.« (W.M., S. 27) Was Heidegger unterschwellig damit natürlich offenlegt: Die Wissenschaften mögen »ein In‐die-Nähe‐kommen zum Wesentlichen« anstreben – das ihr Wesentliche ist indessen nicht die Wahrheit als Unverborgenheit, die Heidegger revitalisieren will. Die Wissenschaft, verstanden als ontisch gerichtetes Verhandeln des Seienden, ist jedoch nichts anderes als menschliches Tun: »Der Mensch – ein Seiendes unter anderem – ›treibt Wissenschaft‹.« (W.M., S. 28) Der Mensch hat in diesem Gefüge eine ausgezeichnete Rolle inne: Indem er Wissenschaft ›treibt‹, verhält er sich in einer Weise als Seiender zum Seienden, die nur Seiendes sein lässt. In diesem »Treiben« geschieht nichts Geringeres als der Einbruch eines Seienden, genannt Mensch, in das Ganze des Seienden, so zwar, daß in und durch diesen 20 ›Produkt‹ ist ein durchaus passendes Wort, da der Wissenschaft – neben der Fixierung auf das Seiende – zudem ein zutiefst nihilistischer Impetus innewohnt (vgl. hierzu im weiteren Sinne: Severino, Emanuele: Vom Wesen des Nihilismus. S. 11-48). Dieser besagt in seiner simpelsten Ausformung, man könne Seiendes aus Nichts ›erschaffen‹ – was Heidegger im Übrigen anders sieht (vgl. W.M., S. 29). Hieraus erwächst womöglich der die Wissenschaften durchziehende kuriose ›Optimismus‹, immer neue, künstliche – im Sinne der τέχνη – Gegenstandsfelder untersuchen zu können und zu müssen. 21 Ein paradigmatisches Beispiel für ›Wissenschaftlichkeit‹ liefert Karl Popper, wenn er in seinem Text Die Welt des Parmenides herauszufinden gedenkt, die Vorsokratiker seien die Begründer der ›Wissenschaft‹. Überspitzt formuliert: Popper negiert unwissentlich den (griechischen) Wahrheitsbegriff, um im selben Moment zu postulieren, man könne sich einer wissenschaftlich verstandenen ›Wahrheit‹ Schritt für Schritt nähern (vgl. Popper, Karl R.: Die Welt des Parmenides).

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Einbruch das Seiende in dem, was und wie es ist, aufbricht. Der aufbrechende Einbruch verhilft in seiner Weise dem Seienden allererst zu ihm selbst. (W.M., S. 28) Heidegger inszeniert das wissenschaftliche Treiben des Menschen als Eindringen in »das Ganze des Seienden«. Angesichts dieser Emphase bleibt die Frage offen, inwieweit durch jenes Einbrechen des Menschen das Seiende verändert wird. Unter Berücksichtigung der letztzitierten Referenz ließe sich nämlich folgern: Das Seiende ist gleichursprünglich Seiendes für sich. Das menschliche Zu-Tun müsste dann jedoch eine ontisch‐ontische Differenz evozieren, da der wissenschaftliche Mensch nun als Teil des Seienden im Ganzen von dieser Zugehörigkeit separiert zu sein scheint – ist das von Heidegger genutzte Wort ›Aufbrechen‹ ja zwiespältig zu verstehen. An diese Doppeldeutigkeit knüpft Heidegger jedoch nicht direkt an, wenn das Eindringen des Menschen »dem Seienden allererst zu ihm selbst« »verhilft«. Wäre aber das Seiende im Ganzen – jetzt muss von einer Totalität ausgegangen werden – im eigentlichen Sinn ganz, wäre auch das menschliche Treiben nicht in der Lage, diesem Seienden ein Mehr oder Weniger abzutrotzen. Heidegger übergeht diesen Punkt, indem sein Verständnis der Selbstreferenzialität des Menschen als Seiender changiert: Aber merkwürdig – gerade in dem, wie der wissenschaftliche Mensch sich seines Eigensten versichert, spricht er, ob ausdrücklich oder nicht, von einem Anderen. Erforscht werden soll nur das Seiende und sonst – nichts; das Seiende allein und weiter – nichts; das Seiende einzig und darüber hinaus – nichts. (W.M., S. 28) Die Frage, welchen ontologischen Status dieses ›Andere‹ haben soll, ist schwerlich zu beantworten. Mit einiger Sicherheit ist aber festzuhalten: Heidegger postuliert für die Wissenschaft eine strenge Fokussierung auf das Seiende. Der Mensch, in seiner Art, Seiender zu sein, bleibt diesem Seienden in der und durch die Wissenschaft verhaftet. Sein hermeneutischer Horizont steht auf dasjenige gerichtet, was er selbst ist und was zugleich anderes Seiendes ist. Es ist dasjenige Denken, wodurch er vergisst, worauf sich sein Blick nicht richtet: (das) Nichts. Mit diesem Schritt ist Heidegger an jenem Ort angekommen, den Parmenides exkludierte, den Platon im Sophistes etablierte und den Nietzsche in der Spätphase seines Schaffens zu überwinden suchte: der Frage nach der Relevanz des Nichts, dessen Zugang sich im Sprechen darüber entzieht. Es handelt sich also um eine bestimmte Rückbesinnung auf ein tragendes Thema der abendländischen Philosophie – wobei Heidegger in seiner Betrachtung kurioserweise im Fluchtpunkt des Nihilismus die Wahrheit des Seins aus dem Geiste der Unverborgenheit konsolidiert. Wie Markus Wirtz in seinen Geschichten des Nichts konzise festhält: »Maßgebend ist hier also erneut die schroffe Absetzung von einer negationslogischen Deduktion des Ausdrucks ›das Nichts‹, der Heidegger zufolge in Wahrheit auf einer existenziellen Erfahrung beruht, die ihrerseits die gedankliche Verneinung

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des Seienden fundiert.«22 Erstreckt sich Platons Kritik am ›Vater‹ des Seinsdenkens, Parmenides, auf eine Revision der eigenen Ideenlehre – zum Zwecke einer Dokumentation der Gleichsetzung von Verschiedenheit und Nichtseiendem – und übt sich Nietzsche darin, den nihilistischen Gestus der platonischen Philosophie herauszuarbeiten, so kehrt Heidegger die Vorzeichen beider Anstrengungen um: Wenn die Wissenschaft, die sich philosophisch aus der Metaphysik, deren erster Protagonist Heidegger zufolge Platon und deren letzter Nietzsche ist, ergibt, daran scheiterte und scheitert, das eigene Fundament – die Wahrheit des Seins als Unverborgenheit – zu ent‐decken, so kaschiert sie zu gleichen Teilen die Frage nach dem Nichts. Wie steht es um dieses Nichts? Ist es Zufall, daß wir ganz von selbst so sprechen? Ist es nur eine Art zu reden – und sonst nichts? Allein was kümmern wir uns um dieses Nichts? Das Nichts wird ja gerade von der Wissenschaft abgelehnt und preisgegeben als das Nichtige. (W.M., S. 28-29) Heideggers Insistieren auf der Nichtsvergessenheit der Wissenschaft – »Die Wissenschaft will vom Nichts nichts wissen« (W.M., S. 29) – mutet auf den ersten Blick seltsam an. Ist doch Wissenschaft jenes Konglomerat aus Fakultäten, Disziplinen und Institutionen, welches das Nichtseiende entweder platonisch als noetologisch‐inkongruente Verschiedenheit zur Wahrheitsnäherung fasst oder aber im Namen einer wörtlich genommenen ›Kreativität‹ unwissentlich aufwertet.23 Auf den zweiten Blick bemerkt Heidegger indessen die nihilistische Komponente der Wissenschaft: »Aber ebenso gewiß bleibt bestehen: dort, wo sie ihr eigenes Wesen auszusprechen versucht, ruft sie das Nichts zu Hilfe. Was sie verwirft, nimmt sie in Anspruch. Welch zwiespältiges Wesen enthüllt sich da?« (W.M., S. 29) Indem die Wissenschaft vom Nichts nichts wissen will – gewissermaßen ein ›proaktiver‹ Akt des Vergessen-Wollens –, gesteht sie dem Nichts zu, etwas zu sein. Wie es Heidegger im nächsten Schritt, der »Ausarbeitung der Frage« (W.M., S. 29), formuliert: »Das Nichts ist zugegeben. Die Wissenschaft gibt es, mit einer überlegenen Gleichgültigkeit gegen es, preis als das, was ›es nicht gibt‹.« (W.M., S. 29-30) Dass Heidegger ontologisch unreflektierte Axiome wie ›(nicht) geben‹ verwirft, muss nicht weiter kommentiert werden. Was wichtiger anmutet, ist seine eigene Zielsetzung: die Frage nach demjenigen, was man mit ›Nichts‹ anspricht – sofern das Nichts ein solches Ansprechen erlaubt. 22 Wirtz, Markus: Geschichten des Nichts. S. 331. 23 Im deutschen Sprachraum hat sich die beinahe zynische Selbstverständlichkeit eingebürgert, die akademische Beschäftigung mit Literatur, zu der freilich auch philosophische Texte gehören, als ›Wissenschaft‹ zu bezeichnen. Ist es ja gerade jenes Feld, das sich mit der sprachlichen Verschiedenheit beschäftigt – ohne jedoch, auch wenn es immer wieder versucht wurde und wird, den wissenschaftlichen ›Wahrheitswert‹ des Literarischen betonen zu müssen.

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Auf Grundlage dessen muss zuerst die Fragfähigkeit des Nichts herausgestellt werden. »Was ist das Nichts? Schon der erste Anlauf zu dieser Frage zeigt etwas Ungewöhnliches. In diesem Fragen setzen wir im vorhinein das Nichts als etwas an, das so und so ›ist‹ – als ein Seiendes. Davon ist es aber doch gerade schlechthin unterschieden.« (W.M., S. 30) Das Nichts entzieht sich dem Status des Ontischen – eine Ursache für die Unmöglichkeit der Wissenschaft, über das Nichts zu richten, da diese stets eine Untersuchung des Seienden im Auge hat, ja das Nichts schlechterdings für Seiendes halten muss, das es nicht ›gibt‹. Nichts und Seiendes verhalten sich dementsprechend insofern konträr, als Seiendes auf Seiendes hinweist und Nichts eher auf (Nicht-)Sein. Das Fragen nach dem Nichts suspendiert sich also selbst – sofern nach der ontischen Beschaffenheit dieses Nichts gefragt wird: »Das Fragen nach dem Nichts – was und wie es, das Nichts, sei – verkehrt das Befragte in sein Gegenteil. Die Frage beraubt sich selbst ihres eigenen Gegenstandes.« (W.M., S. 30) Das Nichts ontisch festmachen zu wollen, führt stets zur gleichen logischen Paradoxie, die schon Parmenides am Fuße der Metaphysik offenlegte: Nichts ist nicht, weil es erstens nicht gedacht werden kann und zweitens deshalb nicht ausgesprochen werden ›darf‹. Ohne Parmenides konkret zu zitieren, fährt Heidegger deshalb fort: Die gemeinhin beigezogene Grundregel des Denkens überhaupt, der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch, die allgemeine »Logik«, schlägt diese Frage nieder. Denn das Denken, das wesenhaft immer Denken von etwas ist, müßte als Denken des Nichts seinem eigenen Wesen entgegenhandeln. (W.M., S. 30) Nun ist deutlich zu ersehen, dass Heidegger die konventionellen Regeln der Logik im Spiegel des Nichts schlicht für untauglich hält – wenn nicht generell eine gewisse Abneigung gegen die Disziplin der Logik gehegt wird. Wirtz schreibt zu diesem für Was ist Metaphysik? essenziellen Punkt: »Der Suche nach der Grunderfahrung des ›eigentlichen Nichts‹ sollen keine Bedenken von Seiten einer ›uneigentlichen Logik‹, die das Nichts aus der formalen Negation alles Seienden ableiten will, im Wege stehen.«24 So folgert Heidegger im Namen der Logik: »Denn das Nichts ist die Verneinung der Allheit des Seienden, das schlechthin NichtSeiende.« (W.M., S. 30-31) Heidegger koppelt mit diesem Schritt die Bestimmung des Nichtseienden an die Verstandesleistung des Verneinens25 – wohingegen die 24 Wirtz, Markus: Geschichten des Nichts. S. 331. 25 Man könnte an dieser Stelle durchaus eine (negative) Bezugnahme zum psychoanalytischen Verneinungsbegriff konstatieren. Freud schreibt in seinem kurzen Text Die Verneinung 1925, also vier Jahre vor Heideggers Antrittsvorlesung: »Ein verdrängter Vorstellungs- oder Gedankeninhalt kann also zum Bewußtsein durchdringen, unter der Bedingung, daß er sich verneinen läßt. Die Verneinung ist eine Art, das Verdrängte zur Kenntnis zu nehmen, eigentlich schon eine Aufhebung der Verdrängung, aber freilich keine Annahme des Verdrängten. […] Es resultiert daraus eine Art von intellektueller Annahme des Verdrängten bei Fortbestand des Wesentlichen

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aktuale Nichtsfrage vorerst nicht mit den Mitteln des Verstandes vereinbar zu sein scheint. Verneinung ist aber nach der herrschenden und nie angetasteten Lehre der »Logik« eine spezifische Verstandeshandlung. Wie können wir also in der Frage nach dem Nichts und gar in der Frage seiner Befragbarkeit den Verstand verabschieden wollen? Stellt das Nicht, die Verneintheit und damit die Verneinung die höhere Bestimmung dar, unter die das Nichts als eine besondere Art des Verneinten fällt? […] Wir behaupten: das Nichts ist ursprünglicher als das Nicht und die Verneinung. (W.M., S. 31) Heideggers Strategie ist vierteilig und nicht zuletzt sprunghaft: a) Die Verneinung ist der Logik gemäß ein Akt des Verstandes, welcher polar die Urteile beziehungsweise die Entscheidungen Ja/Nein fällt. b) Wenn die Frage nach dem Nichts aber eine des Verstandes sich entziehende ist, so müsste in der Rückfrage an den Verstand derselbe nivelliert werden. c) Zudem muss sich zeigen, inwieweit eine kategoriale Unterscheidung von Nicht und Nichts getroffen werden kann. Diese Unterscheidung will Heidegger allerdings nicht treffen. Mehr noch: d) Es wird kurzerhand postuliert, das Nichts sei dem Nicht und so der Verneinung vorgängig. Ergo verkehrt sich die Ausgangslage ins Gegenteil: »Wenn diese These zu Recht besteht, dann hängt die Möglichkeit der Verneinung als Verstandeshandlung und damit der Verstand selbst in irgendeiner Weise vom Nichts ab.« (W.M., S. 31) Dass es diffiziler Natur ist, das Nichts hierarchisch über den Verstand einzustufen, liegt auf der Hand. Daher schließt Heidegger unmittelbar die gegenteilige Frage an: »Beruht am Ende die scheinbare Widersinnigkeit von Frage und Antwort hinsichtlich des Nichts lediglich auf einer blinden Eigensinnigkeit des schweifenden Verstandes?« (W.M., S. 31) Aus dieser ambivalenten Frage-Antwort-Konstellation zu entrinnen, erscheint vor dem Hintergrund der nihilistischen Themensetzung ausweglos. So bleibt Heidegger nur ein möglicher Zugang zur Nichts-Frage: Das Nichts muss an jenem Platz gesucht werden, an dem sich dessen verstandesmäßige Widerlegbarkeit bricht: der Erfahrungswelt. Wo suchen wir das Nichts? Wie finden wir das Nichts? Müssen wir, um etwas zu finden, nicht überhaupt schon wissen, daß es da ist? In der Tat! Zunächst und zumeist vermag der Mensch nur dann zu suchen, wenn er das Vorhandensein des Gesuchten vorweggenommen hat. (W.M., S. 31-32) an der Verdrängung […].« (Freud, Sigmund: Die Verneinung. In: Ders.: Studienausgabe, Band III. S. 371-377, hier S. 373-374) Die Verneinung nimmt somit eine Position in der Urteilskraft ein, die Verdrängtes zwar ins Bewusstsein bringt, jedoch den transportierten Inhalt negiert. Nach Heidegger wäre dies ein typisches Beispiel der ›Logik‹, die der eigentlichen Frage nach dem Nichts kaum Rechnung trüge.

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Die Ermittlung des Nichts erfordert demnach eine bestimmte Basis des Vorwissens beziehungsweise der Vorerfahrung. Wenn also das Nichts der ›normalen‹ Verneinung vorangeht, dann muss ein erweiterter Negationsbegriff gefunden werden, der die Relation von Nichts und Gesamtheit des Seienden aufmacht. Deshalb heißt es: »Das Nichts ist die vollständige Verneinung der Allheit des Seienden.« (W.M., S. 32) Blickt man aus dieser Perspektive auf die Vorbedingungen einer solch totalen Verneinung durch das Nichts, so wird deutlich: »Die Allheit des Seienden muß zuvor gegeben sein, um als solche schlechthin der Verneinung verfallen zu können, in der sich dann das Nichts selbst zu bekunden hätte.« (W.M., S. 32) Heidegger scheint sich dem kontradiktorischen Gehalt dieser nihilistischen Lehre einerseits bewusst zu sein – denn es wirkt unentschlossen, welchen Status die Allheit des Seienden an dieser Stelle einnehmen soll –, andererseits geht er über mögliche ›logische‹ Einwände harsch hinweg, indem nun die Gesamtheit des Seienden ausphilosophiert wird, sodass die »Grunderfahrung des Nichts in seiner Rechtmäßigkeit erwiesen werden kann« (W.M., S. 32). Das Problem der Allheit des Seienden fällt indessen ins Auge: Die Gesamtheit des Seienden ist vom Standpunkt des Vereinzelten aus nicht zu greifen, obgleich der Einzeln-Seiende sich zur Allheit verhält und in dieser befindlich ist. »So sicher wir nie das Ganze des Seienden an sich absolut erfassen, so gewiß finden wir uns doch inmitten des irgendwie im Ganzen enthüllten Seienden gestellt.« (W.M., S. 33) Das Seiende im Ganzen zu erfahren, differiert von der topologisch‐temporalen Tatsache, sich in diesem natürlich als Seiender aufzuhalten. Heidegger behauptet trotz dieser Uneinholbarkeit jedoch, das Ganze des Seienden »überkommt [den Einzelnen] […] in der eigentlichen Langeweile« (W.M., S. 33).26 Man könnte von dieser Warte aus psychologische/-analytische Spekulationen anstellen. Dass Heidegger dies um jeden Preis vermeiden will, liegt in seinem tiefen Misstrauen gegen die bewusstseinsphilosophische Fokussierung in großen Teilen dieser Disziplinen begründet27 – ein Misstrauen, das Heidegger allerdings vor die Schwierigkeit führt, aus seiner metaphysik‐kritischen Position zusätzlich ein begriffliches Instrumentarium entwerfen zu müssen, das den Erfahrungswerten Ganzheit des Seienden/Nichts beikommt. Wenn somit die Stimmung der Langeweile das Ganze des Seienden dem Einzelnen vorstellt, verbirgt sie im selben Moment das eigentlich gesuchte Nichts. Daher changiert Heideggers Frage auf dem Fundament des Gestimmtseins: »Geschieht im Dasein des Menschen ein solches Gestimmtsein, in dem er vor das Nichts selbst gebracht wird?« (W.M., S. 34) 26 Zu Heideggers Begriff der Langeweile auch: G.M., S. 117-245. 27 Dass Heideggers Denken natürlich nicht wirkungslos auf Psychologie/-analyse blieb, davon zeugen die fruchtbaren Rezeptionen Bossʼ oder Lacans (vgl. zum Verhältnis Heidegger/Psychologie: Emrich, Hinderk M./Schlimme, Jann E.: »Psychiatrie, Psychoanalyse, Psychotherapie. Wider das ›Gestell‹ des Psychologischen.« In: Heidegger-Handbuch. S. 502-509).

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Heideggers hier aufgeworfene Frage macht die essenzielle Peripetie von Was ist Metaphysik? aus. Denn wenn zugegeben wird, dass das Nichts ist – woran es Heidegger offensichtlich gelegen ist –, muss dieses Nichts in seinem Sein das Dasein des Menschen in einer be- und gestimmten Weise anlangen und zugleich, trotz der vorgeblichen Erfahrbarkeit des Nichts, vom Daseins aus den Horizont desselben übersteigen. Oliver Jahraus führt diesbezüglich an: Dieses Sein lässt sich nicht mehr über ein Dasein verstehen, obschon das Sein im Dasein erfahren ist, und zwar als Erfahrung des Nichts. In Momenten der Angst, die als totale Infragestellung der erfahrenen und erfahrbaren Welt gedeutet werden kann, wird die Erfahrbarkeit als solche in Frage gestellt. Damit wird aber eben dasjenige, was Erfahrbarkeit transzendiert, erfahrbar. Die Unerfahrbarkeit wird erfahrbar. Das ist das Nichts als Sein. Und insofern kann man die »Transzendenz« auch mit »Nichts« übersetzen.28 Durch sein Angst-Nichts-Denken fügt sich Heidegger implizit in die Tradition Kierkekaards ein – er schließt sich der prominenten Unterscheidung von Angst und Furcht an, der schon für Nietzsches Figur Zarathustra eine tragende Rolle zukam.29 Beachtenswert erscheint in diesem Kontext Heideggers Begründungsweg – sofern von einem solchen ›logischen Begründen‹ zu sprechen ist: Dieses Geschehen [des Gestimmtseins zum Nichts] ist möglich und auch wirklich – wenngleich selten genug – nur für Augenblicke in der Grundstimmung der Angst. Mit dieser Angst meinen wir nicht die recht häufige Ängstlichkeit, die im Grunde der nur allzu leicht sich einstellenden Furchtsamkeit zugehört. Angst ist grundverschieden von Furcht. (W.M., S. 34) Heidegger postuliert schlicht, die Erfahrung des Nichts spiegle sich in der »Grundstimmung der Angst«. Es wird deutlich, dass Angst damit eine bevorzugte und nivellierende Stellung innerhalb der Kategorie ›Stimmung‹ erhält. Auch verrät Heideggers Wortwahl eine gewisse Renitenz, wenn darauf beharrt wird, Angst sei nicht nur »möglich«, sondern überdies »wirklich«. Welchen Wirklichkeitsbegriff Heidegger hier anlegt, bleibt indessen dunkel. Womöglich soll auch gar kein präziser Wirklichkeitsbegriff angewandt werden, weil es sich beim ›Phänomen‹ Angst um die Suspension desjenigen handelt, was die alltäglich zugängliche ›Wirklichkeit‹ als Seiendes fasst. Dementsprechend gebe es Angst für Heidegger zwar »wirklich«, doch offenbart die »wesenhafte Unmöglichkeit der Bestimmbarkeit« (W.M., S. 34) nichts als den Entzug des Wirklichen. »Dieses Wegrücken des Seienden im Ganzen, das uns in der Angst umdrängt, bedrängt 28 Jahraus, Oliver: Martin Heidegger. S. 190-191. 29 Vgl. S. 188 der vorliegenden Arbeit, sowie: Kierkegaard, Søren: Der Begriff Angst. S. 50.

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uns. Es bleibt kein Halt. Es bleibt nur und kommt über uns – im Entgleiten des Seienden – dieses ›kein‹.« (W.M., S. 35) Als Folge dessen ist das Bleibende dasjenige, was kein Seiendes ist, sondern Nichts: »Die Angst offenbart das Nichts.« (W.M., S. 35) Während in der Stimmung der Langeweile das Seiende im Ganzen ›spürbar‹ wird, entrückt die Angst diese Allheit in die Sphäre des Nichts. Zur Veranschaulichung dessen nutzt Heidegger eine metaphorische Wendung: »Wir ›schweben‹ in Angst. Deutlicher: die Angst lässt uns schweben, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt. […] Daher ist im Grunde nicht ›dir‹ und ›mir‹ unheimlich, sondern ›einem‹ ist es so.« (W.M., S. 35) Im SchwebenLassen des da‐seienden Menschen entbirgt Angst eine Form der Unheimlichkeit, da sie dasjenige nimmt, worin der Mensch heim‐lich ist: das Seiende im Ganzen.30 Heidegger scheint es nicht zu stören, dass das Dasein ebenfalls eine Form des Seienden ist und somit keine Nichts-Erfahrung machen kann, da es zu demjenigen Nichts würde, was ihm diese Erfahrung auflastete. Vielmehr insistiert er auf der Vereinbarkeit beider Pole: »Nur das reine Da‐sein in der Durchschütterung dieses Schwebens, darin es sich an nichts halten kann, ist noch da.« (W.M., S. 35) Aus logischer Sicht ist das Dasein jetzt zu Nichts geworden. Für Heidegger allerdings steht das Dasein in der Erfahrung der eigenen Aufhebung. »In der Angst ist das Dasein in seinem geworfenen Zuhause gerade Unzuhause.«31 Weil diese Selbst-Annullierung das Dasein in jedem Bereich trifft, versagt die Sprache im Betroffensein der Angst, da jedes Wort Seiendes anlangt. »Weil das Seiende im Ganzen entgleitet und so gerade das Nichts andrängt, schweigt im Angesicht seiner jedes ›Ist‹-Sagen.« (W.M., 35) Zielloses Gerede unter dem Joch der Angst führt nach Heidegger dann stets zum nichtigen Ursprung der Stimmung (vgl. W.M., S. 35), zum Nichts. Angst ist unter dieser Rücksicht eine Art nihilistisches Befallensein, das nur a posteriori begriffen werden kann. Wie es Heidegger blumig formuliert: »In der Helle des Blickes, den die frische Erinnerung trägt, müssen wir sagen: wovor und worum wir uns ängsteten, war ›eigentlich‹ – nichts. In der Tat: das Nichts selbst – als solches – war da.« (W.M., S. 35) Hinsichtlich dessen, und in Anbetracht der Unheimlichkeit des Nichts, bekommt eine Aufschrift Nietzsches aus dem Nachlass eine denkwürdige Note: »Der Nihilismus steht vor der Thür: woher kommt dieser unheimlichste aller Gäste?« (KSA 12, S. 125) Ohne die Allegorie des Gastes direkt zu nennen, bemüht Heidegger ein analoges Verhältnis zum Nichts – freilich nicht, um dem Gast wie Nietzsche 30 Wieder macht Heidegger eine Parallelstelle zur Psychoanalyse auf. Während es Freud in seinem 1919 – also zehn Jahre vor Heideggers Antrittsvorlesung – erschienenen Essay »Das Unheimliche« darum ging, aus der Etymologie des Wortes darauf zu schließen, Verdrängtes komme im Affekt des Unheimlichen erneut als Angst zum Vorschein, dient Heidegger der Begriff dazu, seinen philosophischen Nihilismus metaphorisch greifbar zu machen (vgl. Freud, Sigmund: Das Unheimliche. In: Ders: Studienausgabe, Band IV. S. 241-274). 31 Karimi, Ahmad Milad: Identität – Differenz – Widerspruch: Hegel und Heidegger. S. 66.

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die Tür zu weisen, sondern ihn ins Heim zu bitten, weil nunmehr »das Nichts offenbar ist« (W.M., S. 35). Gewissermaßen schließt sich im Motiv des Gastes auch der Kreis zwischen Platon und Heidegger – ohne Heidegger einen wie auch immer gearteten ›Platonismus‹ unterstellen zu wollen. War es im Sophistes ja ein ξένος, was als Fremder oder Gast übersetzt werden kann, der das Nichtseiende als Verschiedenheit durch den Mord an seinem ›Vater‹ Parmenides im Sein fixierte. Für Heidegger ist es diese changierende Ambiguität von Heimisch-Sein und Unheimlichkeit, welche die Angst zu derjenigen Grundstimmung werden lässt, in welcher der Griff auf Seiendes in die Leere des Nichts geht. »Das Nichts enthüllt sich in der Angst – aber nicht als Seiendes.« (W.M., S. 36) Am Nichts bricht die metaphysische Welt ein, da sie Seiendes als Seiendes vorstellt. Es ist evident, dass Heidegger das so verstandene Nichts nicht im destruktiven Sinne – wie es wohl die Metaphysik in ihrem Teleologie-Verständnis täte – nimmt, sondern im seinsbezüglichen: »In der Angst geschieht keine Vernichtung des ganzen Seienden an sich, aber ebensowenig vollziehen wir eine Verneinung des Seienden im Ganzen, um das Nichts allererst zu gewinnen.« (W.M., S. 36) Das Seiende muss weder zerstört noch verneint werden, um einen positiven Begriff des Nichts aus der Erfahrung der Angst zu gewinnen. So distanziert sich Heidegger vom augenscheinlichen Vorwurf, den schon die Vorsokratiker als Unmöglichkeit entlarvten, das Nichts sei die Ver-Nichtung des Seienden. Ebendarum muss Heidegger einen künstlichen Begriff, der der Angst Rechnung tragen soll, konstruieren: die Nichtung. Diese im Ganzen abweisende Verweisung auf das entgleitende Seiende im Ganzen, als welche das Nichts in der Angst das Dasein umdrängt, ist das Wesen des Nichts: die Nichtung. Sie ist weder eine Vernichtung des Seienden, noch entspringt sie einer Verneinung. Die Nichtung läßt sich auch nicht in Vernichtung und Verneinung aufrechnen. Das Nichts selbst nichtet. (W.M., S. 37) Die tautologische anmutende Formel des nichtenden Nichts entspringt dem Zwang, das Nichts nicht der Vernichtung preisgeben zu dürfen. Wäre jene Vernichtung ja nichts als eine Bestätigung der nachparmenideischen Metaphysik, die dem kreativ‐destruktiven Nichtseienden durch eine Art ›Nullstellen-Philosophie‹ beizukommen sucht – was in sich zweifelhaft ist, weil das auf Seiendem basierte Reden über das Nichts immer theoretisch und deshalb passivisch ist. Heidegger hingegen rekonfiguriert das Nichts in einer Art, die auf eine Aktivität verweist. Wie Markus Wirtz bemerkt: »Indem das Nichts alles Seiende abweist und gerade so auf das Seiende als solches hinweist, geschieht etwas, das Heidegger mit dem Paradoxon einer Aktivität des Nichts beschreibt: das Nichten des Nichts.«32 Da das Nichts eben nicht Seiendes ist, sondern die Seiendes entzie32 Wirtz, Markus: Geschichten des Nichts. S. 336.

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hende Erfahrung der Angst, bringt das so gefasste Nichts das Seiende erst in die Lage, Seiendes zu sein. Trotz der eindeutigen Kontradiktion beharrt Heidegger auf diesem generativen Nichts-Begriff: In der hellen Nacht des Nichts der Angst ersteht erst die ursprüngliche Offenheit des Seienden als eines solchen: daß es Seiendes ist – und nicht Nichts. […] Das Wesen des ursprünglich nichtenden Nichts liegt in dem: es bringt das Da‐sein allererst vor das Seiende als ein solches. (W.M., S. 37) In der Subversion der ›klassischen‹ Metapher von Tag und Nacht33 spiegelt sich Heideggers zwiespältige Inanspruchnahme des Nichts: Wenn die Dunkelheit der Nacht seit alters her die nihilistische Unwissenheit repräsentierte und die Helle des Tags ontologische Erkenntnis, dann bleibt Heidegger zur Illustration seines Aufweises des Nichts kaum etwas anderes übrig, als Helligkeit und Nacht konvergieren zu lassen. Ähnlich verhält es sich mit dem Verhältnis Seiendes/Dasein: Ersteres ist nicht mehr primär gegeben, demnach Seiendes für sich selbst, sondern bedarf der öffnenden Funktion des Nichts, das jetzt, gleichursprünglich mit sich selbst, als erster Auktor das Dasein »vor das Seiende als ein solches« bringt. Man könnte daher von einer ›Kybernetik‹ des Nichts sprechen: Zum Knotenpunkt von Dasein und Seiendem ist die Herrschaft des Nichts geworden, die das Dasein insofern steuert – im griechischen Sinn der leitenden κυβέρνησις –, als sie den Kontakt zum umgebenden Seienden schafft. »Da‐sein heißt: Hineingehaltenheit in das Nichts.« (W.M., S. 38) Zugleich aber stellt sich diese Begegnung von Dasein und Seiendem auf dem Fundament des Nichts als eine transzendierende dar, da die Offenheit des Nichts, welches in seinem Wesen nie Seiendes sein kann, das Dasein über das Seiende erhebt. Dieses Hinaussein über das Seiende nennen wir die Transzendenz. Würde das Dasein im Grunde seines Wesens nicht transzendieren, d.h. jetzt, würde es sich nicht im vornhinein in das Nichts hineinhalten, dann könnte es sich nie zu Seiendem verhalten, also auch nicht zu sich selbst. Ohne ursprüngliche Offenbarkeit des Nichts kein Selbstsein und keine Freiheit. (W.M., S. 38) So fungiert das Nichts als befreiender Mittler zwischen Dasein und Seiendem – wobei Heideggers Begriff der Freiheit insofern problematischer Natur ist, als dieser aus Angst geboren wird. Es ist offensichtlich, dass das Nichts aus dieser Perspektive vollends in Doppeldeutigkeit aufgeht: 33 Man denke exemplarisch an DK 28 B 1.

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Heideggers Konzeption des Nichts weist eine für WM insgesamt entscheidende Ambivalenz auf: Einerseits wird das Nichts als eine Entität, die das Entgleiten des Seienden bewirkt, angesetzt, andererseits und zugleich als die reine Tätigkeit des Entgleitenlassens verstanden.34 Heideggers Nichts ›bewegt‹ sich in der Polarität, nicht Etwas zu sein und dennoch als dieses Nicht-Etwas Aktivität zu bewirken. Im Besonderen wird dies deutlich, wenn der Ermöglichungscharakter des Nichts betont wird: »Das Nichts ist die Ermöglichung der Offenbarkeit des Seienden als eines solchen für das menschliche Dasein.« (W.M., S. 38) Den Satz unter verkehrten Vorzeichen gelesen, hieße: Ohne das Nichts wäre die Möglichkeit eines Zugangs zum Seienden für das menschliche Dasein verschlossen. Aufgrund dessen ist nicht gesagt, das Seiende sei nicht ohne das Nichts. Vielmehr ergibt sich eine nur scheinbar polare Struktur von Nichts und Seiendem mit jener Primärstellung des Nichts, welche dasselbe an das Sein rückbindet. »Das Nichts gibt nicht erst den Gegenbegriff zum Seienden her, sondern gehört ursprünglich zum Wesen selbst. Im Sein des Seienden geschieht das Nichten des Nichts.« (W.M., S. 38) Welchem »Wesen« das Nichts zukommt, wird mit Blick auf die fünfte Auflage von Was ist Metaphysik? aus dem Jahre 1949 ersichtlich. Dort findet sich die auch in der referierten Ausgabe aufgenommene Notiz: »Wesen: verbal; Wesen des Seins.« (W.M., S. 38) Die eigentliche Intrinsik ist dann nicht die zwischen Nichts und Seiendem, sondern zwischen »Sein des Seienden« und »Nichten des Nichts«. Durch diesen Kunstgriff kehrt Heidegger an den Anfang seiner Vorlesung zurück. Wurde dort nach einem Ausweg aus der notwendigen Allianz Metaphysik/Seiendes gesucht, stehen sich nunmehr Sein und Nichts so entgegen, dass auf deren Kombinationsfähigkeit geschlossen werden kann. Auch wenn diese Zusammengehörigkeit weder dialektisch noch ›logisch‹ gewonnen wurde sowie die Wahrheitsbegriffe beider aufs Stärkste differieren, fügt sich Heidegger durch dieses Vorgehen in die Tradition Hegels ein. Ahmad Milad Karimi schreibt resümierend: Was Hegel bereits in der Seinslogik aufzeigte, dass das Sein in das Nichts umschlägt und vice versa, gewinnt in den Angstanalysen Heideggers eine existenzielle Wendung, sodass einerseits die Bewegung nicht vom Sein zum Nichts, sondern von dem Gestimmtsein der Angst zum Nichts verläuft, und andererseits wird die Frage, was das Nichts als Nichts sei, daseinsmäßig aufgefasst; es offenbart sich in der Angst des Daseins, d.h.: Das Nichts bricht erst aus dem Grunde des Daseins aus, jedoch unmittelbar und unbestimmt, denn das liegt in der Natur der Angst: plötzlich, unvorhersehbar und unbestimmt hervorzukommen.35 34 Pocai, Romano: Heideggers Theorie der Befindlichkeit. S. 113. 35 Karimi, Ahmad Milad: Identität – Differenz – Widerspruch: Hegel und Heidegger. S. 68.

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Dieses Gestimmtsein durch Angst ›durchzieht‹ das Dasein. Allerdings nicht in permanenter Offenbarkeit, sondern – man denke an Heideggers Bestimmung der Wahrheit als Unverborgenheit – gleichsam verborgen: »Die Durchdrungenheit des Daseins vom nichtenden Verhalten bezeugt die ständige und freilich verdunkelte Offenbarkeit des Nichts, das ursprünglich nur die Angst enthüllt.« (W.M., S. 40) Analog zur Unverborgenheit des Seins ließe sich von diesem Punkt aus festhalten, dass das Nichts zwar stets anwest, dieses Anwesen indessen erst durch Angst ins Licht des Daseins gerückt wird. Um diese Konzeption auszudrücken, metaphorisiert Heidegger erneut das Theorem: »Die Angst ist da. Sie schläft nur. Ihr Atem zittert ständig durch das Dasein[.]« (W.M., S. 40) Mit dieser Angstanalyse enthebt Heidegger die Mechanismen des wissenschaftlich‐philosophischen Urteils, das unter dem Joch der Angst zu verschwinden droht. Der da‐seiende Mensch, der sich durch die – zumal im abendländischen Denken zur Ge-Wohnheit gewordene – Versicherung, wie es um das Seiende steht, vor der Anfechtung des Nichts schützen konnte, versinkt ob der sprunghaften Übermacht der Angst in der scheinbaren Dunkelheit der Nichtung. »Die Hineingehaltenheit des Daseins in das Nichts auf dem Grunde der verborgenen Angst macht den Menschen zum Platzhalter des Nichts.« (W.M., S. 41) Der Mensch scheint so zur Allegorie degradiert, wohingegen das Nichts die Rolle der Eigentlichkeit einnimmt. In dieser Redeweise scheinen ›die Angst‹ und das in ihr offenbare ›Nichts‹ anthropologische Grundbestimmungen darzustellen – und in diesem Sinne, der Heideggers ›Intention‹ freilich nicht entsprechen konnte, ist Heideggers Vortrag Was ist Metaphysik? in der unmittelbar folgenden Rezeption, nicht zuletzt während des Nationalsozialismus, auch aufgefasst worden.36 Auch wenn sich Heidegger im Nachwort von etwaigen Vorwürfen zu distanzieren versucht37 , muss konzediert werden, dass Dasein und Nichts in Was ist Metaphysik? eine Wechselwirkung eingehen, die genauerer Betrachtung bedarf. Dieser Korrelation soll im Folgenden die Aufmerksamkeit gewidmet werden, um so Heideggers Verständnis der Sprache, des Seins und nicht zuletzt des Menschen zu beleuchten. Daran anknüpfend gilt es, anhand von Über den Humanismus zu untersuchen, inwieweit dies mit Heideggers vorgenommenen Metaphorisierungen korreliert. 36 Wirtz, Markus: Geschichten des Nichts. S. 337-338. 37 Vgl. Wirtz, Markus: Geschichten des Nichts. S. 338-340.

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5.2

Vom Nichts zur Sprache als »Haus des Seins«

Wenn Heidegger 1943 im Nachwort zu Was ist Metaphysik? bestrebt ist, Unklarheiten – ob es sich um solche handelt oder letztlich seine Positionen 14 Jahre später aus einer differenzierteren Warte rekapituliert werden, bleibt zu eruieren – aus der Welt zu schaffen, so signalisiert dies vor allem, dass mit seiner Antritts-Vorlesung Divergenzen auftreten, die eine klare Stellungnahme a posteriori scheinbar erfordern. Das hermeneutische ›Spiel‹ der Rezeption, welches Heidegger auch hätte offen lassen können, ja vielleicht müssen, um nicht den Eindruck einer Revision zu erwecken, soll durch das angefügte Nachwort eine bestimmte Richtung erhalten. Dadurch antwortet Heidegger auf drei mehr oder minder originelle Einwände, die er als solche identifiziert: »1. Die Vorlesung macht das ›Nichts‹ zum alleinigen Gegenstand der Metaphysik« (W.M., S. 48), was einen totalen Nihilismus nach sich zöge. »2. Die Vorlesung erhebt eine vereinzelte und dazu noch gedrückte Stimmung, die Angst, zu der einzigen Grundstimmung« (W.M., S. 48), was eine Philosophie der ängstlichen Ent-Mutigung gleichkäme. »3. Die Vorlesung entscheidet sich gegen die ›Logik‹« (W.M., S. 48) und entspräche darum einem Denken, welches nicht mehr dem Anspruch auf Exaktheit nachkäme. Dass alle drei Beanstandungen zum Teil am Kern von Was ist Metaphysik? vorbeigehen, ist insofern ersichtlich, als: 1. Das Nichts nicht im Rahmen einer metaphysischen Untersuchung ins Blickfeld gerückt wird, sondern »sich entschleiert als das von allem Seienden Sichunterscheidende, das wir das Sein nennen« (W.M., S. 48). Heidegger versucht paradoxerweise, einen positiven Gegenbegriff zum Seienden aus dem Geiste des Nichts zu gewinnen, der das Sein durchscheinen lassen soll. 2. Auch wenn die Angst zur Grundstimmung aufgewertet wird, so bedeutet dies nicht, dass Heidegger eine Philosophie der Ängstlichkeit oder Furchtsamkeit entwickelt, die sich dann psychologistisch geriere – wie er deutlich betont (vgl. W.M., S. 34). 3. Die kritische Einstellung gegenüber der Logik in Was ist Metaphysik? ist zwar unübersehbar, allerdings speist sich diese Anti-Haltung aus seinem Wahrheitsverständnis der Unverborgenheit. Die Angst ist aus dieser Perspektive dasjenige, was das Seiende im Ganzen entgleiten lässt und sich aus diesem Grund nicht ›logisch‹ – im Sinne einer Aufrechnung des Seienden – erklären lässt, sondern analog zur Wahrheit des Seins Unverborgenheit offenlegt. Demzufolge »kann zuweilen das Wesen des Menschen in ein Denken stimmen, dessen Wahrheit keine ›Logik‹ zu fassen vermag« (W.M., S. 52). Trotz der vorgeblichen Entkräftung dieser Einwände bleibt bestehen: Heidegger macht eine radikale Form des Nihilismus auf – obgleich er sein Unterfangen, wohl in Abgrenzung zu Nietzsche, nicht danach benennen will –, die sich im Lichte der Angst gegen die Metaphysik und deren Logik wendet. Dass gerade durch dieses Vorgehen das Sein als solches in den Fokus genommen werden soll,

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ist nicht nur ambivalent, sondern eine notwendige Preisgabe der eigenen Tradition – die der Metaphysik, aus welcher Heidegger einerseits seine akademische Provenienz bezieht, andererseits beinahe zwanghaft zu fliehen sucht. Im Zusammenklang dieser Faktoren changiert die nihilistische Vorgabe aus Was ist Metaphysik? im Nachwort zugunsten einer Aufwertung des Seins. Diesem zu gedenken, kommt Heidegger zufolge einem »Opfer« (W.M., S. 53) gleich. Im Opfer ereignet sich der verborgene Dank, der einzig die Huld würdigt, als welche das Sein sich dem Wesen des Menschen im Denken übereignet hat, damit dieser in dem Bezug zum Sein die Wächterschaft des Seins übernehme. Das anfängliche Denken ist der Widerhall der Gunst des Seins, in der sich das Einzige lichtet und sich ereignen läßt: daß Seiendes ist. Dieser Widerhall ist die menschliche Antwort auf das Wort der lautlosen Stimme des Seins. Die Antwort des Denkens ist der Ursprung des menschlichen Wortes, welches Wort erst die Sprache als Verlautung des Wortes der Wörter entstehen läßt. (W.M., S. 53) Kurioserweise zitiert Heidegger implizit Parmenides (vgl. DK 28 B 2), wenn er an die Singularität der Formel, »daß Seiendes ist«, erinnert. Das aufgewertete Nichts im 14 Jahre zuvor erschienenen Vortragstext weicht somit im Nachwort einer offensiven Befürwortung des Seins. Es ist dieses Sein, das Heidegger durch Metaphysik und Wissenschaft bedroht sieht – zumal er dem (dichtenden und denkenden) Menschen die bewahrende Funktion der »Wächterschaft« zuspricht. Bei dem zu begehenden »Opfer« kann es sich dann nur um die Auf-Gabe handeln, durch die Aussprache des Seienden den »Widerhall« des ursprünglichen Seins zu vernehmen. Dass sich diese Wendungen augenscheinlich emphatisch – wenn nicht gar pathetisch – ausbedingen, liegt womöglich an den Angriffen, denen Heidegger sich ausgesetzt sah: In einer Philosophie der Angst schwingt immer das Moment des Schwachen mit. Diesen Eindruck muss Heidegger jedenfalls vermeiden, wenn sein konstatiertes Nichts im Spiegel eines Seins, das gleichsam den Menschen die zu bewältigende Auf-Gabe des denkenden Empfangs auflastet, dargestellt werden soll. Unter diesen Gesichtspunkten ist jedoch auch festzuhalten, dass Seiendes zwar durch das Wort des Menschen zur Sprache kommt, das Sein indessen den Charakter des Uneinholbaren erhält. Wie Oliver Jahraus anmerkt: Nur über Seiendes ist Sein überhaupt zugänglich, sofern dieser Zugang selbst seiend sein soll und muss, aber eben doch nur so, dass Seiendes auch zugleich diesen Zugang versperrt. Sein und Seiendes gehören untrennbar zusammen und sind gleichermaßen durch eine unüberwindliche Differenz voneinander getrennt. Mit

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der Abkehr vom Dasein, also mit der Abkehr von einem besonderen Seienden, das nämlich Sein versteht, fällt diese Vermittlungsinstanz weg.38 Der Mensch offenbart seine Verquickung mit dem Sein in Sprache. Zugleich ist »das Wort der lautlosen Stimme des Seins« immer ein Wort, das eine gleichwertige Kommunikationssituation zwischen Sein und Mensch suspendiert. In dieser Ambivalenz baut sich ein hierarchisches Gefälle auf, das der Mensch als Seiender, obgleich Heidegger ihm bewilligt, »anfänglich die Wahrheit des Seins« im Wechselspiel von »Denken« und »Danken« (alle W.M., S. 53) mit sich zu führen, nicht zu überkommen im Stande ist. »Das Opfer ist der Abschied vom Seienden auf dem Gang zur Wahrung des Seins. Das Opfer kann durch das Werken und Leisten im Seienden zwar vorbereitet und bedient, aber durch solches nie erfüllt werden.« (W.M., S. 53) Die von Jahraus konzedierte Verschärfung der ontisch‐ontologischen Differenz ist somit auf ihrer Klimax angelangt: Wenn das Denken sich nicht auf Seiendes richtet, wie es die Metaphysik in ihrer Geschichte des Ontischen vorgibt, sondern auf dasjenige Sein, dessen Status nicht durch Seiendes verstehbar gemacht werden kann, dann bleibt einzig die (Erwartungs-)Haltung, Sein parousisch – wenn nicht para‐noisch, also neben dem Seienden – vernehmen zu wollen. »Das Denken des Seins sucht im Seienden keinen Anhalt. Das wesentliche Denken achtet auf die langsamen Zeichen des Unberechenbaren und erkennt in diesem die unvordenkliche Ankunft des Unabwendbaren.« (W.M., S. 54) Was Heidegger gemäß (zu sich) kommen soll, ist offensichtlich: das Sein. Welche Beschaffenheit dieses Sein jedoch hat, soll und muss insofern dunkel bleiben, als aus der Position des Seienden nur auf die Wahrheit des Seins als Unverborgenheit geachtet werden kann. »Das Denken, gehorsam der Stimme des Seins, sucht diesem das Wort, aus dem die Wahrheit des Seins zur Sprache kommt. Erst wenn die Sprache des geschichtlichen Menschen aus dem Wort entspringt, ist sie im Lot.« (W.M., S. 54) Natürlich strebt Heidegger dabei keinen ›linguistic turn‹ an, der wissenschaftlich‐semantisierend den zeichenhaften Charakter des Wortgebrauchs illustrieren soll. Vielmehr liegt in der Sprache das erstursprüngliche Denken begründet, welches an das singuläre Sein mahnt. »Das Denken des Seins hütet das Wort und erfüllt in solcher Behutsamkeit seine Bestimmung. Es ist die Sorge für den Sprachgebrauch.« (W.M., S. 54) Wort und Sein gehen jetzt eine intrinsische Verbindung ein, obgleich zuvor behauptet wurde, Sein sei lautlos. Galt in Sein und Zeit die Sorge noch zum Aufweis einer bestimmten Qualität des Daseins (vgl. S.u.Z., § 41-42), so deutet sich eine abkehrende Bewegung hiervon an, wenn in der »Sorge für den Sprachgebrauch« die verwahrende Sorge für die Unverborgenheit als Wahrheit des Seins durchklingt. 38 Jahraus, Oliver: Martin Heidegger. S. 193.

5 Heidegger – die Wiederentdeckung der Seinsfrage?

Dass Heidegger an diesem Punkt auf Dichtung zu sprechen kommt, muss nicht verwundern. Ist es ja vornehmlich sie, die – analog zum Denken – in ihrem Sprachgebrauch Aphatisches zu bergen imstande ist. Dies mag dennoch insofern befremdlich wirken, als es Literatur und Dichtung nicht um etwas geht, wie es Heidegger ihr unterstellt, sondern sie vielmehr die vom ὄν vorgegebene Möglichkeit der Offenheit des auslegenden λόγος überantwortet und somit einen privilegierten Status innerhalb dessen genießt, was man langläufig als ›Freiheit‹ bezeichnen würde. Trotz dieser Freiheitlichkeit der Dichtung sieht sich Heidegger gezwungen, eine Parallelstruktur zum Denken zu konstruieren – um sogleich eine Differenz zwischen beiden Disziplinen aufzumachen: »Aus der langbehüteten Sprachlosigkeit und aus der sorgfältigen Klärung des in ihr gelichteten Bereichs kommt das Sagen des Denkers. Von gleicher Herkunft ist das Nennen des Dichters.« (W.M., S. 54-55) Denker und Dichter befinden sich am gleichen Ausgangsort, welcher sich in beidseitiger Sorge um die Sprache ausdrückt. Weil jedoch das Gleiche nur gleich ist als das Verschiedene, das Dichten und das Denken aber am reinsten sich gleichen in der Sorgsamkeit des Wortes, sind beide zugleich am weitesten in ihrem Wesen getrennt. Der Denker sagt das Sein. Der Dichter nennt das Heilige. (W.M., S. 55) An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, welchen Begriff der Heiligkeit Heidegger impliziert39 , respektive inwieweit der Denker das Sein zu sagen in der Lage ist, sofern Sein und Seiendes im Sinne des Seinsprimats unverbrüderlich zu sein scheinen. Auf diese wesentlichen Bereiche geht Heidegger indessen nicht ein. Entstünde ja aus ihnen eine Art ontologisch fundierte ›Literaturtheorie‹ oder poetologische ›Ontologie‹, was eher einer Segregation beider gleichkäme und nicht einer Unifizierung aus dem Geiste des Seins. Daher kann Heidegger nur im verkürzten Rekurs auf Hölderlins Patmos40 aporetisch festhalten: »Wir wissen aber nichts von der Zwiesprache der Dichter und Denker, die ›nahe wohnen auf getrenntesten Bergen‹.« (W.M., S. 55) Bei diesem nichtwissenden »wir« könnte es sich durchaus um eine Form der captatio benevolentiae handeln, da Heidegger natürlich durch die Hölderlin-Referenz die »Zwiesprache« zwischen Dichter und Denker ins Spiel bringt – auch wenn der Philosoph Heidegger, im Gegensatz zu seinem philologisch geschulten Ansprechpartner Nietzsche, vermutlich wirklich wenig um 39 Vgl. zum Zusammenhang von Heiligem und Dichtung: Appelhans, Jörg: Heideggers ungeschriebene Poetologie. S. 401-404. 40 »Drum, da gehäuft sind rings/Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten/Nah wohnen, ermattend auf/Getrenntesten Bergen,/So gib unschuldig Wasser,/O Fittiche gib uns, treuesten Sinns/Hinüberzugehn und wiederzukehren.« (Hölderlin, Friedrich: Patmos. In: Ders.: Gesammelte Werke. S. 197-203, hier S. 197)

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die Beschaffenheit dieser in der Einheit des Seins verwurzelten Dualität wusste. Vor dem Hintergrund dieser unbewussten Selbstbezichtigung kehrt dann der gemeinsame Boden von Denken und Dichtung wieder: die Aphasie im Angesicht des Seins und des Nichts. Eine der Werkstätten der Sprachlosigkeit ist die Angst im Sinne des Schreckens, in den der Abgrund des Nichts den Menschen stimmt. Das Nichts als das Andere zum Seienden ist der Schleier des Seins. Im Sein hat sich anfänglich jedes Geschick des Seienden schon vollendet. (W.M., S. 55) Die Metapher des »Schleier[s] des Seins«, unter der hier das Nichts firmiert, weist eine motivische Analogie zur enthebenden Funktion der Angst auf. Am Fuße dieser sprachbrechenden Angst stehen sowohl Dichter als auch Denker, deren seinsmahnender Sprachgebrauch für Heidegger in den Ursprung der ersten Frage nach der Wahrheit des Seins zurückreicht und so die schicksalshafte Auflösung der metaphysischen Zeit(-geschichte) wiederholt: dass Seiendes ist, und indem es ist, sich seine eigene Vollendung zeitlos bahnbricht. Dies allein ist es, was Dichter und Denker in Sprache eint und was der Mensch zu hören imstande ist. Zeichen für das Hören der Sprache wird sein, daß unser Denken sich von Grund auf der metaphysischen Erwartung an die Sprache entledigt. Die Sprache soll auf keine Weise nutzbar gemacht werden: das Denken führt zu keinem Wissen wie in den Wissenschaften; es gibt keinerlei verwertbare Lebensweisheit; es löst keine Welträtsel; und es verleiht unmittelbar keine Kräfte zum Handeln.41 Wenn die Sprache des Dichters sowie des Denkers jedweder Praxis enthoben ist, entzieht sich die Erwartung an das metaphysische Versprechen, die Wahrheit des Seins (als Sein des Seienden) durch Seiendes erklärbar zu machen. So wird die Sprache der Metaphysik ein Ver-Sprechen im Sinne eines Redens, das an der Wahrheit des Seins vorbeigeht. Jedenfalls aber bleibt eine Erwartungshaltung zweiten Grades: Das noetische Hören auf die (sprachlichen) Zeichen, welche die Unverborgenheit preisgibt, deutet dann immer auf dieselbe hin – ohne ontisches Maß, ontische Kritik, ontisches Urteil zulassen zu dürfen, da der primäre und finale Entscheid bereits durch das atemporale Sein gefällt ist. Wenn Heidegger aus dieser Position zum Abschluss seines Nachworts Sophoklesʼ Oedipus auf Kolonos zitiert und selbst übersetzt, gilt sein Augenmerk diesem Zusammenhang: ἀλλ᾽ ἀποπαύετε μηδ᾽ ἐπὶ πλείω θρῆνον ἐγείρετε· πάντως γὰρ ἔχει τάδε κῦρος. Doch laßt nun ab, und nie mehr fürderhin 41 Schweidler, Walter: Die Überwindung der Metaphysik. S. 177.

5 Heidegger – die Wiederentdeckung der Seinsfrage?

Die Klage wecket auf; Überallhin nämlich hält bei sich das Ereignete verwahrt ein Entscheid der Vollendung. (W.M., S. 55) Heideggers Übertragung fokussiert sich auf den »Entscheid der Vollendung«. Es ist jene tragisch‐griechische Vollendung, die das »Ereignete« als solches der Unverborgenheit überantwortet und so »die ungekannte Wahrheit des Seins aufbewahrt« (W.M., S. 55). Wie es Seubold und Schmaus bezüglich des Ereignisses formulieren: Und wie das Ereignis, so ist auch die Sprache kein bloß menschliches Geschehen; der Mensch ist nicht Herr der Sprache, weil er die Sprache nicht beherrschen kann, sondern immer schon in das Lichtungs- und Offenbarungs-, d.h. AufzeigeGeschehen der Sprache eingelassen ist.42 Dieses Eingebettet-Sein des Menschen in Sprache bedarf präziser Deutung. Aus diesem Grund sollen im Folgenden Heideggers Vorstellungen eines ›Seinsbaus‹ anhand von Über den Humanismus genauer erläutert werden. Es muss in diesem Zusammenhang auch auf die topologische Position des Menschen sowie dessen Aufgabe innerhalb des Seins eingegangen werden. Durch dieses Vorgehen dürfte es gelingen, die hierarchische Umkehr der Daseinsphilosophie zugunsten einer Seinsphilosophie herauszuarbeiten.

5.3

Sprache und Mensch im »Haus des Seins« Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung. Ihr Wachen ist das Vollbringen der Offenbarkeit des Seins, insofern sie diese durch ihr Sagen zur Sprache bringen und in der Sprache aufbewahren. Das Denken wird nicht erst dadurch zur Aktion, daß von ihm eine Wirkung ausgeht oder daß es angewendet wird. Das Denken handelt, indem es denkt.43

42 Seubold, Günter/Schmaus, Thomas: »Ereignis. Was immer schon geschehen ist, bevor wir etwas tun.« In: Heidegger-Handbuch. S. 335-340, hier S. 339. 43 Heidegger, Martin: Über den Humanismus. S. 5. Weitere Zitation nach dieser Ausgabe durch Angabe der Sigle (Ü.H.) und Seitenzahl.

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Heidegger schlägt in seinem an Jean Beaufret gerichteten Brief Über den Humanismus von 1946, erstmals 1947 zusammen mit Platons Lehre von der Wahrheit ediert, in mehreren Punkten Brücken zu Was ist Metaphysik?: a) Sprache und Sein besitzen ein privilegiertes Verhältnis, das Rückschlüsse auf den Kontext von Sein und Mensch zulässt. b) Der prominenteste Zugang zum Sein, welches in Sprache die Offenbarkeit der Unverborgenheit darbringt, vollzieht sich im Tun der Dichter und Denker. c) Dies »Vollbringen« ist nicht im ontischen Sinne einer cratio ex nihilo zu verstehen, sondern ein ›Akt‹ – ob es sich um einen tatsächlichen Akt als bewegte actio handelt, muss offen bleiben –, der dem Sein sein Eigenstes im Denken zurückgibt und so dasjenige öffnet, was die Verdeckung durch Seiendes nivelliert. Wenn das Nichts in Was ist Metaphysik? nichtete, dann muss nunmehr das »Denken handel[n], indem es denkt«. Denken/Dichtung fallen durch diese Bestimmungen in gewisser Weise mit wahrem Sein (/Nichts)/Unverborgenheit zusammen. Jeder dieser Schritte, sofern davon ausgegangen wird, dass die Metapher des »Haus[es] des Seins« den – dichtenden und denkenden – Menschen in diesem Bereich ›hausen‹ lässt, deutet allerdings auf eine wesentlich topologische Innerlichkeit hin. Man befindet sich offensichtlich innerhalb dieses Hauses, hält sich also in einem Intérieur auf. […] Die Schwäche dieser Konzeption einer Welt als Innenraum besteht darin, dass mit ihr ein Gegensatz nur zur Hälfte herangezogen wird: Heidegger lässt sich nämlich mit der Bestimmung der Sprache von einem ›Inneren‹ inspirieren, dem jedoch das Gegenstück abhandengekommen ist, auf das es um seiner eigenen Definition willen doch angewiesen ist.44 Was bei dieser kaum zu überschätzenden Kritik nicht explizit wird: Heidegger fasst das Sein hier wohl unausgesprochen parmenideisch45 auf. Dies hat weitreichende Folgen bezüglich der Position des sprachlich determinierten Menschen. Denn die Ausschließlichkeit der Innerlichkeit darf vor diesem Hintergrund keine Äußerlichkeit zulassen. Käme ja ein Außerhalb des Hauses einem exterritorialen Bezug zum Sein gleich, der gewissermaßen dialektisch wäre. So wird das Haus des Seins bei Heidegger ex negativo – nicht blind bezeichnet er die Dichter und Denker als »Wächter dieser Behausung« – zum Gefängnis des Menschen, der sich notwendig sprachlich in Relation zum Seienden, welches sich freilich ebenfalls innerhalb des Hauses befindet, setzen muss. Diese ontologische Gefangennahme sagt implizit schon der Satz des Parmenides: »denn es ist ausgeschlossen, daß du etwas erkennst, was nicht ist, oder etwas darüber aussagst: denn solches läßt 44 Thomä, Dieter: »Sprache. Von der ›Bewandtnisganzheit‹ zum ›Haus des Seins‹.« In: HeideggerHandbuch. S. 295-304, hier S. 300. 45 Es sei hierbei angemerkt, dass für Parmenides Sein und Seiendes natürlich identisch sind.

5 Heidegger – die Wiederentdeckung der Seinsfrage?

sich nicht durchführen[.]«46 (DK 28 B 2) Es ist offenbar, dass das Nichts nicht gesagt werden kann – auch wenn Heidegger in Was ist Metaphysik? eindeutig den Versuch unternimmt, dies zu tun. Heidegger kommt es aber nicht darauf an, die Unsagbarkeit des Nichtseienden zu exponieren; vielmehr expliziert die Metapher des Wohnens ein Gebaut-Sein, das auf Örtlich- und Zeitlichkeit in Sprache verweist. Auch drängt sich eine weitere Analogie auf: Das Sein muss in seiner Totalität begrenzt sein, wenn davon ausgegangen werden soll, dass das Nichts – Heidegger verortet es vielleicht auch deshalb innerhalb des Seins, respektive als eine Form, die Sein erfahrbar macht – nicht ist. »Denn die mächtige Unentrinnbarkeit hält es in den Fesseln der Grenze, die es ringsum einschließt; weshalb es nicht erlaubt ist, daß das Seiende unvollendet wäre.«47 (DK 28 B 8) Die Sprache hat das Haus des Seins immer schon gebaut, sie »hält es in Fesseln der Grenze«. Die Wächter bewachen aus diesem Grund nicht den Aus- oder Eingang des Hauses, da ein solcher die Pforte zur Nicht-Sprache wäre. Sie wachen auch nicht über das Haus im Sinne einer metaphysischen Auslegung. Vielmehr öffnet ihr Wachen, und dies Wachen ist durchaus als Anti-Hypnotikum aufzufassen, dasjenige, worauf der Mensch als Seiender sein Vernehmen konventionell nicht richtet: das Sein. Wenn es bei Parmenides heißt, die Menschen »treiben dahin, gleichermaßen taub wie blind, verblüfft«48 (DK 28 B 6), so ist es für Heidegger an den Dichtern und Denkern, aus der Verborgenheit dieser Deprivation die Wahrheit des Seins zu lichten. »Das Denken dagegen läßt sich vom Sein in den Anspruch nehmen, um die Wahrheit des Seins zu sagen. Das Denken vollbringt dieses Lassen. Denken ist l’engagement par l’Être pour l’Être.« (Ü.H., S. 5) Denken ist somit keine Handlung, die willentlich das Sein quasi‐magisch heraufbeschwören könnte. Weitaus eher liegt die Vermutung nahe, dass Denken Sache des Seins ist. »Das Denken […] ist das Denken des Seins. Der Genitiv sagt ein Zweifaches. Das Denken ist des Seins, insofern das Denken vom Sein ereignet, dem Sein gehört. Das Denken ist zugleich Denken des Seins, insofern das Denken, dem Sein gehörend, auf das Sein hört.« (Ü.H., S. 8) Das Sein weist in seiner Einheit eine doppelte Struktur auf: Indem es das Denken ermöglicht, erlaubt es ein sprachlich fundiertes An-Denken an sich selbst – ob dies einer tautologischen Formel entspricht, sei dahingestellt. Dass Heidegger hierbei keine wissenschaftliche Untersuchung des Sprachgebrauchs im Sinn hat, kommt im Spiegel seiner seinsbasierten Bemühungen einer Selbstverständlichkeit gleich. Denn wenn im Zuge dieser Seinsfokussierung eine Überwindung der verschleiernden Metaphysik gewährleistet werden soll, müssen 46 Gr.: »οὔτε γὰρ ἂν γνοίης τό γε μὴ ἐὸν (οὐ γὰρ ἀνυστόν)/οὔτε φράσαις.« 47 Gr.: »κρατερὴ γὰρ Ἀνάγκη/πείρατος ἐν δεσμοῖσιν ἔχει, τό μιν ἀμφὶς ἐέργει,/οὕνεκεν οὐκ ἀτελεύτητον τὸ ἐὸν θέμις εἶναι · « 48 Gr.: »οἱ δὲ φοροῦνται/κωφοὶ ὁμῶς τυφλοί τε, τεθηπότες […].«

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auch diejenigen Ausprägungen derer überkommen werden, die den ursprünglichen Bau des Hauses verdecken. »Dabei sind ›Subjekt‹ und ›Objekt‹ ungemäße Titel der Metaphysik, die sich in der Gestalt der abendländischen ›Logik‹ und ›Grammatik‹ frühzeitig der Interpretation der Sprache bemächtigt hat.« (Ü.H., S. 6) Schon die Setzung der Anführungszeichen bei der Benutzung der Worte »Subjekt«, »Objekt«, »Logik« und »Grammatik« lässt erahnen, dass diese zur Konvention gewordenen Begriffe abgelehnt werden. Heidegger zufolge ist es nämlich dieses Instrumentarium, das die – man könnte sarkastisch sagen: nostalgische – Suche nach dem Zusammenhang von Sprache und Sein kaschiert. »Die Befreiung der Sprache aus der Grammatik in ein ursprünglicheres Wesensgefüge ist dem Denken und Dichten aufbehalten.« (Ü.H., S. 6) Die Leistungen der Grammatik, die ins Narrativ der Metaphysik eingebettet zu sein scheinen, sind für Heidegger rein technische Abarten eines Denkens, das nicht um des Seinsdenkens willen denkt, sondern der Sicherung eines Bereichs dient, der im Laufe der disziplinären Ausdifferenzierung zum ontischen Ver-Denken geworden ist. Aus diesem Grund »müssen wir uns frei machen von der technischen Interpretation des Denkens« (Ü.H., S. 6). Die Urheber dessen sind dann freilich Platon und Aristoteles, denen die τέχνη als »Verfahren des Überlegens im Dienste des Tun und Machens« galt und die so das Denken »aus dem Hinblick auf πρᾶξις und ποίησις« (beide Ü.H., S. 6) reduzierten. An diese Inanspruchnahme des ›Praktischen‹ und ›Schaffenden‹ für das Denken schließt sich aber keine Unifikation beider Pole an. Vielmehr folgt hieraus die basale Unterscheidung von Philosophie und technischer Interpretation des Seienden – welcher im Übrigen auch die gleichursprüngliche Gemeinsamkeit von Dichtung und Denken zum Opfer fällt –, die in der kaum einholbaren Spaltung der Fakultäten mündet. Deshalb ist das Denken, wenn es für sich genommen wird, nicht »praktisch«. Die Kennzeichnung des Denkens als θεωρία und die Bestimmung des Erkennens als des »theoretischen« Verhaltens geschieht schon innerhalb der »technischen« Auslegung des Denkens. Sie ist ein reaktiver Versuch, auch das Denken noch in eine Eigenständigkeit gegenüber dem Handeln und Tun zu retten. Seitdem ist die »Philosophie« in der ständigen Notlage, vor den »Wissenschaften« ihre Existenz zu rechtfertigen. Sie meint, dies geschehe am sichersten dadurch, daß sie sich selbst zum Range einer Wissenschaft erhebt. Dieses Bemühen aber ist die Preisgabe des Wesens des Denkens. Die Philosophie wird von der Furcht gejagt, an Ansehen und Geltung zu verlieren, wenn sie nicht Wissenschaft sei. (Ü.H., S. 6-7) Diese kühne Diagnose Heideggers ist an Präzision kaum zu übertreffen: Seit Platon, aber vor allem seit Aristoteles, vollzieht sich die Auslegung des Seins auf dem Boden der ›Technik‹ – was einerseits die eigene Seinsbasis entrückt und erodiert, andererseits stets Seiendes als vermeintliche Seinserkenntnis sprachlich zu Tage fördert. Dies mutet insofern befremdlich an, als die daraus resultierende ›Theo-

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rie‹, welche eigentlich die Position des Denkens im Kontakt des ›Machens‹ und ›Tuns‹ stärken sollte, die Divergenz von Denken und Praxis nur verschärft. Die Institutionalisierung von ›Philosophie‹ und ›Wissenschaft‹ kann unter diesen Prämissen nur zur Subsumtion erstgenannter führen, da zweitgenannte die technische Auslegung des ›Machens‹ und ›Tuns‹ a priori für sich beanspruchen muss.49 Heideggers Bestreben, einen Aus-/Rückweg aus dieser festgefahrenen Konfiguration zu suchen, muss sich dann im Besonderen gegen den Leitsatz der ›technisierten‹ Philosophie richten: gegen die Logik. »Das Sein als das Element des Denkens ist in der technischen Auslegung des Denkens preisgegeben. Die ›Logik‹ ist die seit der Sophistik und Plato beginnende Sanktion dieser Auslegung.«50 (Ü.H., S. 7) Die im Haus des Seins Befindlichen sind demnach in ihrem Sprachgebrauch dieser Technisierung durch Logik unterworfen. Natürlich ändert dies nichts an der Stabilität des Hauses an sich, doch verdeckt die Logik die sprachliche Disposition zur Wesenhaftigkeit des Baus. Wenn die »Griechen […] in ihrer großen Zeit ohne solche Titel [wie ›Logik‹] gedacht« (Ü.H., S. 8) haben, dann geht es Heidegger – analog zu Nietzsche, jedoch unter veränderten Vorzeichen – genau um diese Rückkehr in eine vor‐titulare Zeit, in der die Wahrheit des Seins vernehmend noch zur Sprache gebracht werden konnte. Dieses Können korrespondiert nach Heidegger dann mit einer Art des Ver-Mögens, welches auf die Möglichkeitsstruktur des Seins selbst verweist. »Dieses Vermögen ist das eigentlich ›Mögliche‹, jenes, dessen Wesen im Mögen beruht. Aus diesem Mögen vermag das Sein das Denken. Jenes ermöglicht dieses. Das Sein als das Vermögend-Mögende ist das ›Mögliche‹.« (Ü.H., S. 8) Das Sein vermag die Möglichkeit aufzutun, gehört und gesagt zu werden. Peter Sloterdijk schreibt in seinem skurril betiteltem Text Regeln für den Menschenpark, der Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus sein soll: »Das Heideggersche an sich haltende Wohnen im Haus der Sprache ist bestimmt als ein abwartendes Lauschen auf das, was vom Sein selbst her zu sagen aufgegeben worden ist.«51 Wieder zeigt sich: Das Haus des Seins ist an sich unbeweglich‐unbewegt; das Seins-Sprechen ist immer schon zu demjenigen (Dichter oder Denker) gekommen, der es zu hören imstande war, ist und sein wird.52 Dies offenbart 49 Im Grunde spiegelt sich in dieser Polarität die Problematik einer jeden Geistes-›Wissenschaft‹. Indem versucht wird, mit verschiedenen Methoden Akkuratesse zu erzeugen, ordnet sich das Denken dem wissenschaftlichen Diskurs unter. Eine Ausnahme dürfte wohl die – richtig verstandene – Hermeneutik sein, da bei dieser auf den Zusammenklang von Sein/Vernehmen/Auslegung geachtet werden kann. 50 Heideggers vermehrte Beschäftigung mit den Vorsokratikern und Nietzsche ist auch unter diesem Gesichtspunkt zu verstehen. 51 Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. S. 28. 52 Aus dieser Perspektive leuchtet es ein, dass sich Heidegger in seiner Heraklit-Interpretation auf das Fragment B 50 fokussiert (vgl. S. 41-43 der vorliegenden Arbeit). Hieß es dort: »οὐκ

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einen Duktus, der quasi‐theologisch anmutet. Natürlich vermeidet es Heidegger penibel, diesen Eindruck philosophisch zu untermauern, doch hat Sloterdijk nicht Unrecht, wenn er Heidegger als »Pastoralphilosoph«53 bezeichnet. Ist die Sprache der Wahrheit des Seins in diesem Gefüge ja nur demjenigen zugänglich, der schon um die Verfasstheit des eigenen, elitären Status weiß. Dieses Wissen korrespondiert dann mit der Paradoxie, die sprachliche Bewegung des Zum-Sprecher-Kommens aus der Verdecktheit des Seins parallel mit der Unbeweglichkeit des Hauses zu kontrastieren. Dieter Thomä folgert daher richtigerweise: »Die Sprache ist bei Heidegger etwas Stationäres. Selbst wenn man der Vergessenheit entrissen wird, bleibt man, wo man ist; man soll nur erfahren, was es heißt, dass man ›ist‹ oder ›west‹. Eine Veränderung tritt ein, ohne dass man sich zu bewegen scheint.«54 Heidegger kehrt dementsprechend zur Ausgangslage des abendländischen Denkens zurück: zur Frage nach Bewegung und Ruhe, die sich die Vorsokratiker stellten. Nur formuliert Heidegger dies nicht dezidiert. Vielmehr tun sich durch die Metapher des Hauses Implikationen auf, die gewisse Deduktionen hinsichtlich der Verfasstheit dieses Baus ermöglichen – was einen Blick auf den literarischen Charakter der Heidegger’schen Philosophie erlaubt. »Man kann also das ›Haus des Seins‹ plausibel rekonstruieren unter der Maßgabe, dass man es fiktionalisiert – was jedoch genau nicht in Heideggers Sinne ist.«55 An eben jener ›Fiktionalisierung‹ kommt man indessen nicht vorbei, wenn Aussagen über das zu vernehmende Sein getroffen werden sollen. So befindet man sich gleichsam in der metaphysischen ›Falle‹, die Heidegger eigentlich zu entlarven bestrebt ist. Auf diese Komplikation geht Heidegger allerdings nicht ein; schlüge er durch eine Analyse dieses Problemfelds gerade den Bogen zu einer (Literatur-/Sprach-) Wissenschaftlichkeit, welche für ihn eine neuere Spielart der das Denken verschüttenden τέχνη wäre. »Wenn das Denken zu Ende geht, indem es aus seinem Element weicht, ersetzt es diesen Verlust dadurch, daß es sich als τέχνη, als Instrument der Ausbildung und darum als Schulbetrieb und später als Kulturbetrieb eine Geltung verschafft.« (Ü.H., S. 9) Es ist nicht ganz offensichtlich, welche Rolle ἐμοῦ, ἀλλὰ τοῦ λόγου ἀκούσαντας ὁμολογεῖν σοφόν ἐστιν ἓν πάντα εἶναί«, was Heidegger folgendermaßen verdeutscht: »Habt ihr nicht bloß mich angehört, sondern habt ihr (ihm gehorsam, horchsam) auf den Logos gehört, dann ist Wissen (das darin besteht), mit dem Logos das Gleiche sagend zu sagen: Eins ist alles.« (GA II, 55, S. 243) Der »Logos«, von dem Heidegger hier spricht, hat nichts mehr mit der ›Logik‹ eines Aristoteles zu schaffen. Vielmehr wird Heraklit zum Medium des Seins stilisiert: Das Sein gibt Heraklit dann einen Satz zu sprechen auf, welchen er zu sagen vermag – hat er ja auf das Sein gehört – und der in seiner Aussage dasjenige spricht, was das Sein selbst ist: »Eins ist alles«. 53 Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark. S. 26. 54 Thomä, Dieter: »Sprache. Von der ›Bewandtnisganzheit‹ zum ›Haus des Seins‹.« S. 300. 55 Thomä, Dieter: »Sprache. Von der ›Bewandtnisganzheit‹ zum ›Haus des Seins‹.« S. 301.

5 Heidegger – die Wiederentdeckung der Seinsfrage?

die τέχνη hier einnimmt. Einerseits hält sie einen aktiven Part inne, zeitigt das Denken also von sich aus, andererseits schreibt sie sich an jener Stelle selbst ein, die sie ehedem der Verdeckung preisgab. Dies muss nicht bedeuten, dass das Denken Nichts geworden ist – auch wenn sich interessanterweise das metaphysische Denken des Nichts mit dem Ende der Vorsokratik vollzieht. Vielmehr wird die Verdeckung der Seinsfrage zu einer Art Vergessenheit (λήθη), der Heidegger ein emphatisches Erinnern aus dem Geiste der Unverborgenheit (ἀ-λήθεια) entgegensetzt. Dass der Philosophie, zumindest wie Heidegger sie verstanden haben will, dann ihres eigensten Gegenstandes, des Denkens, beraubt wird, ist vor dem Hintergrund der konstatierten Technisierung nicht zu leugnen. Dies führt nach Heidegger zu einer »Diktatur der Öffentlichkeit«, welche durch die Suspension des Seinsdenkens dessen Verhältnis zur Sprache spiegelt: »So kommt die Sprache unter die Diktatur der Öffentlichkeit« (beide Ü.H., S. 9) – was schon in Sein und Zeit kritisch angedeutet wird (vgl. S.u.Z., § 34). Da es in Über den Humanismus natürlich darum geht, diesem Zusammenhang auf der Basis des Seins revisibel Rechnung zu tragen, muss der zerrüttete Kontext von Mensch, Sprache und Sein neu bedacht werden. Der Mensch muß, bevor er spricht, erst vom Sein sich wieder ansprechen lassen auf die Gefahr, daß er unter diesem Anspruch wenig oder selten etwas zu sagen hat. Nur so wird dem Wort die Kostbarkeit seines Wesens, dem Menschen aber die Behausung für das Wohnen in der Wahrheit des Seins wiedergeschenkt. (Ü.H., S. 11) In dieser Passage tut sich eine triadische Struktur auf: a) Der Spruch des Seins muss dem Sprechen des Menschen vorgängig sein. b) In dieser Hinsicht verschiebt sich die orale Aufgabe des Menschen zugunsten einer auditiven – muss ja gehört werden, bevor das Sein zur (menschlich vernommenen) Sprache kommt. »Das Wesen des Denkens […] besteht hingegen nach Heidegger nicht mehr in einer Weise der Verwendung, sondern des Hörens der Sprache.«56 c) Das Gehörte entzieht sich jedoch dem hermeneutischen Verstehen insofern, als die Sprache des Seins verschieden ist von der des Menschen. Was Heidegger damit wohl ausdrücken will: Dem Menschen scheint es in seiner technisierten (Ab)Art abhandengekommen, die sprachlichen Zeichen des Seins so an- und vernehmend zu deuten, dass sie rückwirkend auf das Sein Sinn ergeben. Es handelt sich dabei aber nicht um einen Sinn, der durch abgleichende Methoden oder wissenschaftliche Urteile zustande kommt, sondern allein um Seinssinn, der von sich aus Wahrheit lichtet. »Als ob es denn ausgemacht sei, daß die Wahrheit des Seins sich überhaupt auf Ursachen und Erklärungsgründe oder, was dasselbe ist, auf deren Unfaßlichkeit 56 Schweidler, Walter: Die Überwindung der Metaphysik. S. 177.

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stellen lasse.« (Ü.H., S. 11) Heidegger befindet sich hier vor jener Schwierigkeit, vor der schon Nietzsche stand: Es soll mit nachvollziehbar sprachlichen Mitteln, die in sich eine nicht zu unterschätzende ›Logik‹ haben, herausgearbeitet werden, dass der Gegenstand der Bemühungen nicht logischen Gesetzen gehorcht. Der Mensch soll »lernen, im Namenlosen zu existieren« (Ü.H., S. 11). Die Sprache des Seins wird so zu einer Sprache, welche eine Stimme der verschwommenen Exklusivität aufweist. Es ist nach Heidegger die Aufgabe des Menschen, sich dieser Paralyse einerseits gewahr zu werden, andererseits das eigene Mensch-Sein hinsichtlich der sprachlich‐ontologischen Wohnungslosigkeit neu zu befragen. Auf diesem Fundament kann sich die eigentliche Fragestellung entwickeln, welche die Humanität des Menschen kritisch in den Blick nimmt. Genauer: Ist der Mensch wohnungslos geworden, so vergisst er zu gleichen Teilen sein Wesen, das auf der Verbindung von Sprache und Sein gründet. Dass Heidegger in diesem Kontext keine Stärkung des Humanismus-Begriffs im Sinne der Aufklärung vorhat, erscheint ob seiner Ablehnung der Metaphysik nicht erstaunlich. Auch wenn Sloterdijks Bemerkung nicht ohne Polemik auskommt, gibt sie doch einen Indikator diesbezüglich: Das Wort Humanismus muß aufgegeben werden, wenn die wirkliche Denkaufgabe, die in der humanistischen oder metaphysischen Tradition bereits als gelöste erscheinen wollte, in ihrer anfänglichen Einfachheit und Unausweichlichkeit wiederfahren werden soll. Zuspitzend gesprochen: Wozu erneut den Menschen und seine maßgebliche philosophische Selbstdarstellung im Humanismus als Lösung anpreisen, wenn sich gerade in der Katastrophe der Gegenwart gezeigt hat, daß der Mensch selbst mitsamt seinen Systemen metaphysischer Selbstüberhöhung und Selbsterklärung das Problem ist?57 Natürlich meint die »Katastrophe der Gegenwart« die nationalsozialistische Diktatur und den von ihr brutal provozierten Kollaps des Menschenbildes an sich. Dass nach diesen Schrecklichkeiten gerade der Humanismus verworfen werden soll, mutet aus dieser Perspektive sarkastisch, wenn nicht gar infam an. Heidegger jedoch, nach Durchdeklination der Begriffsgeschichte des Humanismus (vgl. Ü.H., S. 12-13), sieht in diesem eine erodierende Wegentwicklung des Menschen von seinem eigenen Wesen. Damit subvertiert Heidegger die Vorstellungen des Humanismus. Er suggeriert nämlich jetzt, die vergessene Frage nach der Wahrheit des Seins hätte in ihrer Wiederentdeckung dazu beitragen können, die Kehrseite des Humanismus samt demselben verhindern zu können. Jeder Humanismus gründet entweder in einer Metaphysik oder macht sich selbst zum Grund einer solchen. Jede Bestimmung des Wesens des Menschen, die schon 57 Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark. S. 23.

5 Heidegger – die Wiederentdeckung der Seinsfrage?

die Auslegung des Seienden ohne die Frage der Wahrheit des Seins voraussetzt, sei es mit Wissen, sei es ohne Wissen, ist metaphysisch. (Ü.H., S. 13) So wird der Humanismus zu einer Spielart der Metaphysik degradiert. Nicht nur das: Wenn »das Eigentümliche aller Metaphysik darin [liegt], daß sie ›humanistisch‹ ist« (Ü.H., S. 13), muss dies auch zur Folge haben, dass jede Metaphysik im Kern humanistischer Prägung ist. Heideggers in Was ist Metaphysik? angedeutete Kehre verschärft sich eingedenk dessen. Denn das Dasein des Menschen, gerade wenn nach dessen Wesen aus dem Geiste der Unverborgenheit gefragt werden soll, unterliegt dem Machtanspruch des aufzudeckenden Seins. Der Humanismus fragt bei der Bestimmung der Menschlichkeit des Menschen nicht nur nicht nach dem Bezug des Seins zum Menschenwesen. Der Humanismus verhindert sogar diese Frage, da er sie auf Grund seiner Herkunft aus der Metaphysik weder kennt noch versteht. (Ü.H., S. 13) Lässt man sich auf Heideggers Argumentation ein, darf diagnostiziert werden: Weil Humanismus und Metaphysik ursprünglich zusammengehören, ist erstgenannter unter Rücksicht der Wahrheit des Seins nicht in der Lage, nach dem Wesen des Menschen zu fragen. Jede humanistische Frage nach diesem Wesen muss an sich selbst scheitern, da die potentielle Antwort immer auf dessen metaphysische Gestalt zurückweist. Damit ist ein Zirkelschluss konstruiert, der eine völlig andersartige Beschäftigung mit dem Menschsein fordert. In diesem Kontext ist es Heidegger darum bestellt, die traditionelle Auslegung des Menschen als »animal rationale« oder als »ζῷον λόγον ἔχον« (beide Ü.H., S. 14) zu überwinden. Dieser Entwurf ist insofern konsistent, als er die einfachste Bestimmung des Menschen zum Ausgang nimmt: Der Mensch ist Mensch. Auf die Frage nach dem Gehalt dieses Satzes kann natürlich eingewendet werden, es handle sich um eine Tautologie. Hält man sich indessen Heideggers entschieden ontologisches Programm vor Augen, erfährt das Menschsein des Menschen einen Gesichtspunkt, den die Metaphysik schlicht nicht beachtet: Der Mensch ist dasjenige Ist, das nicht nur weiß, dass es ist, sondern das den Zuspruch des Seins im Ist zu vernehmen vermag. Während in der metaphysischen Definition des Menschen der Abgleich mit dem Anderen – »ein Lebewesen unter anderen gegen Pflanze, Tier und Gott« (Ü.H., S. 15) – im Vordergrund steht, muss aus der Position des zu‐sprechenden Seins eine Neuverortung unternommen werden. Die Metaphysik denkt den Menschen von der animalitas her und denkt nicht zu seiner humanitas hin. Die Metaphysik verschließt sich dem einfachen Wesensbestand, daß der Mensch nur in seinem Wesen west, indem er vom Sein angesprochen wird. Nur aus diesem

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Wohnen »hat« er Sprache als die Behausung, die seinem Wesen das Ekstatische wahrt. (Ü.H., S. 15) Das Erstaunliche an dieser Referenz: Der Mensch ist Mensch, weil das Sein sich in Sprache an ihn richtet. Im Umkehrschluss müsste dies heißen, dass ohne die Ansprache des Seins dem Menschen der ihm eigene ontologischer Status entzogen würde.58 Die eksistente Ermöglichung des Wohnens speist sich dementsprechend allein aus der Zusprache des Seins. Was Heidegger hier, in Abgrenzung zu seinem in Sein und Zeit 59 unternommenen Versuch, den existenzialen Vorrang des Daseins zu exponieren, unter der Eksistenz des Menschen versteht, kann also nur aus Perspektive des Seins beleuchtet werden: »Das Stehen in der Lichtung des Seins nenne ich die Ek‐sistenz des Menschen.« (Ü.H., S. 15-16) Das Sein übt durch das Lichten eine vermeintliche Tätigkeit aus, die den Menschen in die Lage versetzt, zu ek‐sistieren. Die Frage, welches Motiv das Sein hat, den Menschen in diese Position – von einer solchen ist allemal auszugehen, da das »Stehen« sowohl eine temporale als auch eine topologische Komponente impliziert – zu stellen, ist einerseits naiv, andererseits kaum zu vernachlässigen. Freilich darf das Sein kein ›Motiv‹ im anthropomorphen Sinn haben, weil es eben nicht vom Seienden her gedacht werden soll. Dahingegen ist es nicht von der Hand zu weisen, dass das aktive Sein dann gewissen Prinzipien gehorchen beziehungsweise von sich aus das Mensch-Sein antreiben muss, um ihn in die Lichtung zu bringen. Auch wenn eine strukturelle Parallele zu Aristotelesʼ unbewegtem Beweger (vgl. Met., 1071 b) anklingt, liegt es nicht in Heideggers Vorhaben, eine ähnlich metaphysisch fundierte Göttlichkeit zu postulieren, geschweige denn Christlichkeit in sein Bestreben zu integrieren (vgl. Ü.H., S. 19). Vielmehr wagt Heidegger eine These – auch wenn das Wort ›These‹ im Spiegel der Gegen-Wissenschaftlichkeit Heideggers mehr als diskutabel erscheint –, die sich insofern selbst beweist, als sie ausschließlich die Begründung aus der Wahrheit des Seins nimmt. Deshalb muss das Dasein kontrastiv zur Geschichte der Metaphysik an diese Wahrheit rückgebunden werden: Dieses »Sein« des Da, und nur dieses, hat den Grundzug der Ek‐sistenz, das heißt des ekstatischen Innestehens in der Wahrheit des Seins. Das ekstatische Wesen des Menschen beruht in der Ek‐sistenz, die von der metaphysischen existentia verschieden bleibt. Diese begreift die mittelalterliche Philosophie als actualitas. 58 Heidegger verkehrt hier die Prämissen des deutschen Idealismus. Dessen Leistung bestand gerade darin, das Sein aus menschlicher Warte zu denken, also jene Leerstelle zu füllen, die sich ergibt, wenn man das Sein ohne die Wahrnehmung des Menschen nimmt. Beispielhaft könnte man sagen: Die Wahrnehmung des Menschen kann nicht separiert vom Sein gedacht werden. Das Sein ist, weil es vom Subjekt wahrgenommen wird. Heideggers Auflösung der Kategorien Subjekt/Objekt verleitet dann natürlich dazu, die konträre Auffassung stark zu machen. 59 »Das ›Wesen‹ des Daseins liegt in seiner Existenz.« (S.u.Z., S. 42)

5 Heidegger – die Wiederentdeckung der Seinsfrage?

Kant stellt die existentia als die Wirklichkeit vor im Sinne der Objektivität der Erfahrung. Hegel bestimmt die existentia als die sich selbst wissende Idee der absoluten Subjektivität. Nietzsche erfasst die existentia als die ewige Wiederkehr des Gleichen. (Ü.H., S. 17) Heideggers »Ek‐sistenz« soll um keinen Preis mit der metaphysischen Auslegung der existentia verwechselt werden. Vielmehr liegt die Aufmerksamkeit auf der lateinischen Grundbedeutung: Das Präfix ex- bezeichnet das Heraus aus einem bestimmten Gefüge, wohingegen -sistere verdeutlicht, dass es sich um eine kommende, gehende, er‐scheinende Bewegung handelt. Das Begriffsfeld der Wahrheit des Seins, verstanden als Un-Verborgenheit, geht so eine gewisse Allianz mit der Ek‐sistenz ein – wobei nun eine Dopplung des Problemfelds vorliegt, wie Unverborgenheit als positiver Seinsbegriff gelten kann, respektive aus welcher Art der Verborgenheit der Mensch in die Lichtung des Seins tritt und inwiefern dabei die Möglichkeit der Wahl mitzudenken ist. Ernst Tugendhat schreibt bezüglich der sich hieraus ergebenden Verschiebung: Während in SuZ die höchste Instanz der Existenz – der Tod – das Dasein gerade in die Entscheidung seiner jeweiligen Möglichkeiten zurückverwies, dann aber kein formales Regulativ gegeben war, woraufhin die Wahl in concreto vollzogen werden konnte […], tritt jetzt, da die höchste Instanz aus der Erschlossenheit selbst als Lichtung des Seins gedacht wird, diese Instanz, da sie wiederum kein Regulativ für die Wahl enthält, selbst an die Stelle der Wahl. Damit bestätigt sich […], daß die Kehre insofern keine echte ist, als sie nicht denselben Phänomenbereich neu interpretiert, sondern die neue Interpretation zum Entschwinden dieses Phänomenbereichs führt.60 Die Lichtung des Seins im Sinne der Unverborgenheit setzt sich an jener Stelle ein, die, philosophisch gefasst, der Wahl als Regulatorium vorbehalten sein müsste. Die Ek‐sistenz muss unter diesen Prämissen allein dem Menschen ohne Wahlmöglichkeit vom Sein her zu‐gesprochen werden. Das Seiende um den Menschen wird dann freilich nicht Nichts, sondern weltloses Seiendes zweiten Grades. »Weil Gewächs und Getier zwar je in ihre Umgebung verspannt, aber niemals in die Lichtung des Seins, und nur sie ist ›Welt‹, frei gestellt sind, deshalb fehlt ihnen die Sprache.« (Ü.H., S. 18) Schon in seiner zum Wintersemester 1929/30 gehaltenen Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik bezieht sich Heidegger auf die Weltlosigkeit/-armut des Tieres (vgl. G.M., § 45-63). Nun aber, ganz das zentrale Thema in Über den Humanismus forcierend, soll der Bezug Mensch/Sein/Sprache exponiert werden. 60 Tugendhat, Ernst: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger. S. 399.

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Die Sprache ist in ihrem Wesen nicht Äußerung eines Organismus, auch nicht Ausdruck eines Lebewesens. Sie läßt sich daher auch nie vom Zeichencharakter her, vielleicht nicht einmal aus dem Bedeutungscharakter wesensgerecht denken. Sprache ist lichtend‐verbergende Ankunft des Seins selbst. (Ü.H., S. 18) Außergewöhnlich ist diese Referenz nicht ob der offensichtlichen Ablehnung der strukturalen Linguistik. Ist diese Wissenschaft ja nichts anderes als der Versuch, methodisch dem Phänomen Sprache nachzugehen. Gerade deshalb kann sie für Heidegger natürlich in keiner Weise das Wesen des Phänomens Sprache klären – weder von Seiten des Signifikanten noch von Seiten des Signifikats. Als kardinal erweist sich die kryptische Formel: »Sprache ist lichtend‐verbergende Ankunft des Seins selbst.« Aus diesem Postulat lassen sich mehrere Schwierigkeiten ableiten: a) Wenn Sprache zugleich lichtet und verbirgt, muss dies bedeuten, dass Lichtung und Verbergung in ihrem An-Kommen eins sind. Sprache hat dementsprechend sowohl die Möglichkeit der Lichtung als auch der Verbergung. b) Sprache ist hier naturgemäß »Ankunft«, was darauf schließen lässt, dass ein bestimmter Weg, eine bestimmte Bewegung zurückgelegt wurde, bevor das Sein sich lichtend und verbergend entäußert. Die Frage, was ankommt, mutet auf dem Fundament des Seinsprimats leicht beantwortbar an. Diese Simplizität sollte jedoch nicht unterschätzt werden. Denn: c) Wenn das Sein in Sprache lichtend‐verbergend ankommt, muss dies unter propositionalen Aspekten die Folge haben, dass das Sein auch die durch Bewegung induzierte Possibilität hätte, nicht anzukommen. Eine Nicht-Ankunft des Seins deckt sich dann mit einer Suspension des ontologischen Fundaments. Dieser Seinsentzug kann allerdings keine Verbergung sein, weil die Verbergung schon – analog zur Lichtung – in Sprache aufgeht. d) Lichtung und Verbergung dürfen somit nicht mehr als Gegensatzpaar gedacht werden; vielmehr wäre nun, gegen Heidegger, aus dem unausgesprochenen Nicht-Ankommen ein Nicht-Sein zu deduzieren, das kaum auf das ek‐sistente Dasein übertragbar erscheint. Wieder ist Heidegger an jenem Punkt angelangt, ohne diesen explizit zu nennen, der schon für Was ist Metaphysik? ausschlaggebend war: Im Bestreben, die Unverborgenheit als Statthalterin der Wahrheit des Sein zu etablieren und damit Lichtung/Verbergung als ›Instrumente‹ dieses Wahrheitsbegriffs festzulegen, verschwimmt einerseits die abwägende Aussagekraft dieser Unverborgenheit, andererseits rückt das Nichts in die so entstandenen Leerstellen ein, die in Sein und Zeit noch vom Dasein gedeckt wurden. Hans-Jürgen Gawoll bemerkt zu dieser Problematik, indem er ein Zitat aus Heideggers zweitem Nietzsche-Buch anfügt: Gemäß der in der Unverborgenheit angelegten Bewegung des Sichverbergens bedeutet das Ausbleiben des veritativen Seins, daß es nun dem ganz Anderen des unverborgenen Etwas, nämlich dem Nichts innewohnt: »Dieser zu sich selbst

5 Heidegger – die Wiederentdeckung der Seinsfrage?

entschwindende Schleier, als welcher das Sein selbst im Ausbleiben west, ist das Nichts als das Sein selbst.« [N II, S. 353-354].61 Was Gawoll nicht anspricht: Das Sichverbergen korrespondiert, zumindest in Über den Humanismus, nicht mit dem Nichts, da Verbergung und Lichtung unifiziert in der Sprache ihre Ankunft finden. Das Nichts erweist sich dahingegen dennoch insofern als persistent, als, wie in c) und d) offengelegt, das Nicht-Eintreten der Ankunft des Seins eine Möglichkeit innerhalb des Seins sein muss – was eine solch eklatante Inkonsequenz ist, dass man durchaus Fahrlässigkeit unterstellen könnte. All diese Einwände muss Heidegger natürlich verwerfen, um sein Bild eines seinsfundierten ›Humanismus‹ im kontrastiven Dialog mit Sein und Zeit aufrecht zu erhalten. Deshalb ist darauf zu insistieren: »Das Da‐sein selbst aber west als das ›geworfene‹. Es west im Wurf des Seins als des schickend Geschicklichen.« (Ü.H., S. 19) Der Aktor – erneut wird ontologische Aktivität ersichtlich – des »Wurf[s]« ist dann natürlich das umfassende Sein, welches den Menschen an den Ort des Da schickt. Dies vergisst der Existenzialismus Sartre’scher Prägung dadurch, dass er die alte Vormachtstellung der essentia vor der existentia in neuem Gewand fraglos untermauert (vgl. Ü.H., S. 20-21). Nach Heidegger verharrt die für ihn zeitgenössische Philosophie in der Tradition der Metaphysik, welche die Ek‐sistenz des Menschen eben nicht aus seiner vom Sein aufgetragenen Substanz (vgl. Ü.H., S. 21-22) versteht, sondern als seienden Organismus unter vielen. So kaschiert sie die ontologische Tatsache, dass »die Weise, wie der Mensch in seinem eigenen Wesen zum Sein anwest, […] das ekstatische Innestehen in der Wahrheit des Seins« (Ü.H., S. 22) ist. Hat die ›klassische‹ Metaphysik diese Bestimmung des Menschen nicht im Blick, so ist sie zu gleichen Teilen nicht imstande, die Humanität als solche an die Vorgaben des Seins rückzukoppeln. Bliebe sie ja diesbezüglich stets bei der »Auslegung des Menschen als animal rationale, als ›Person‹, als geistig‐seelisch-leibliches Wesen« (Ü.H., S. 22), was Heidegger metaphysisch für folgerichtig hält, jedoch für inkompatibel mit der Wahrheit des Seins. Für Heidegger gestaltet sich schon Sein und Zeit als Bollwerk gegen diese metaphysischen Interpretationen des Menschen. »Insofern ist das Denken in ›Sein und Zeit‹ gegen den Humanismus« (Ü.H., S. 22), was ihn nicht dazu veranlasst, einen wie auch immer gearteten metaphysischen Anti-Humanismus ins Werk zu setzten. Vielmehr geht es ihm um den Aufweis der Doppelköpfigkeit des ›klassischen‹ Humanismus, welcher im Versuch, das Wesen des Menschen zu erklären, denselben gerade nicht ins Zentrum rückt, sondern stets das Andere: Tierisches, 61 Gawoll, Hans-Jürgen: Nihilismus und Metaphysik. S. 266.

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Seelisches, Körperliches, Mechanisches. »Gegen den Humanismus wird gedacht, weil er die Humanitas des Menschen nicht hoch genug ansetzt.« (Ü.H., S. 22) Diese Note mag ironisch wirken, sofern man sich vor Augen hält, dass eben nicht mehr der Vorrang des menschlichen Daseins – von welchem aus in Sein und Zeit sinnigerweise das Sein ausgelegt wurde – in den Fokus seines Denkens gerückt wird, sondern die Unverborgenheit des Seins, welche dem Menschen das Anwesen gestattet. Ist aber diese Unverborgenheit einmal zugegeben, muss sich alles nach den Direktiven dieser Seinsbevorzugung richten. Der Mensch ist vielmehr vom Sein selbst in die Wahrheit des Seins ›geworfen‹, daß er, dergestalt ek‐sistierend, die Wahrheit des Seins hüte, damit im Lichte des Seins das Seiende als das Seiende, das es ist, erscheine. […] Die Ankunft des Seienden beruht im Geschick des Seins. (Ü.H., S. 22) Wenn zuvor die Metapher des Wachens über die Wahrheit des Seins den Dichtern und Denkern galt (vgl. Ü.H., S. 5), so verschiebt sie sich nun auf den Menschen im Allgemeinen, um letztlich mit der Metapher des Hütens zu verschmelzen. Dabei tritt ein Paradox zu Tage, das für den gesamten Text bezeichnend ist: Der Mensch wird geworfen, befindet sich demnach in einer Position der Passivität. Die Antwort auf die Frage, wer den Menschen wohin wirft, ist dann doppelt vom Sein besetzt: Das Sein wirft den Menschen in die Wahrheit ihrer selbst. Dadurch ek‐sistiert der Mensch einerseits, andererseits bezieht er die Aufgabe, dasjenige, was ihm die Möglichkeit des Ek‐sistierens erlaubt, zu behüten, weil es sein Eigenstes ist. Gewiß, der Mensch hütet nicht das Sein wie der Kranke das Bett, eher wie ein Hirt seine Herde auf der Lichtung, mit dem gewichtigen Unterschied, daß hier statt einer Herde Viehs die Welt als offener Umstand gelassen zu gewahren ist – und weiter noch, daß dieses Hüten keine frei gewählte Bewachungsaufgabe im eigenen Interesse darstellt, sondern daß die Menschen vom Sein selbst als Hüter angestellt sind.62 Die Idylle dieser Metaphern-Kombination wirkt nicht zuletzt deshalb befremdlich, weil Heideggers ›Humanität‹ nicht in der Freiheit besteht, Hüter des Seins sein zu dürfen oder nicht, sondern in der seinsgezwungenen Notwendigkeit – im Sinne der vorsokratischen Ἀνάγκη – diesem Anspruch Genüge zu leisten. Wenn der Mensch vernimmt, wie das Sein das Seiende um ihn lichtet und er‐scheinen lässt, belegt er gleichsam der die Warte eines Beisitzers, der im Hören, Sehen und Sagen der Wahrheit des Seins in der Demut dieser Erfahrung zu versinken droht – oder aber befriedet in dieser Wahrheit des Seins seine Erfüllung findet. In dieses Bild passt die Arbeitsbeschreibung des Menschen: »Doch das Sein – was ist das Sein? Es ›ist‹ es selbst. Dies zu erfahren und zu sagen, muß das 62 Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark. S. 27.

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künftige Denken lernen.« (Ü.H., S. 23) Heidegger wiederholt also nochmals Parmenides – ohne dessen Verbannung des Nichts mitzumachen: χρὴ τὸ λέγειν τε νοεῖν τ’ ἐὸν ἔμμεναι· ἔστι γὰρ εἶναι,/μηδὲν δ’ οὐκ ἔστιν – »es ist nötig das Seiende zu sagen und zu vernehmen; denn es ist, dass es ist, es ist nicht [dagegen] nicht.« (DK 28 B 6; Übers. P. K.) Lässt man die bei Parmenides freilich nicht gegebene Unterscheidung von Sein und Seiendem – im Grunde spricht er von nur letzterem, welches hingegen den Status des von Heidegger propagierten Seins innehat – beiseite, ergeben sich kardinale Indizien auf Heideggers Sichtweise des ›Ist‹ des Seins. So schreibt er, für seine Philosophie notwendig das Ist des Seins von der alltäglichen Verwendung des Ist des Seienden abgrenzend, indem er Fragment B 6 aufgreift: Gleichwohl sagt schon Parmenides in der Frühzeit des Denkens: ἔστι γὰρ εἶναι »Es ist nämlich Sein«. In diesem Wort verbirgt sich das anfängliche Geheimnis für alles Denken. Vielleicht kann das »ist« in der gemäßen Weise nur vom Sein gesagt werden, so daß alles Seiende nicht und nie eigentlich »ist«. Aber weil das Denken dahin erst gelangen soll, das Sein in seiner Wahrheit zu sagen, statt es wie ein Seiendes aus Seiendem zu erklären, muß für die Sorgfalt des Denkens offenbleiben, ob und wie das Sein ist. (Ü.H., S. 26-27) Die Metaphysik, welche die Seiendheit des Seienden durch Seiendes zu beweisen sucht, muss durch ein Befragen des Anderen, nämlich des Seins, hinter sich gelassen werden. Dies führt Heidegger einerseits in den Ursprung der Philosophie bei den Vorsokratikern zurück, andererseits eröffnet sich durch diesen revolutionären Rückschritt ein nicht zu vernachlässigendes Problemfeld: Wenn das Sein aus und in dessen Wahrheit gesprochen werden soll, gleichzeitig jedoch nicht einmal festgehalten werden kann, »ob und wie das Sein ist«, bewegt sich ein Fragen nach diesem Sein, was aus philosophischer Perspektive dem Sagen des Seins in gewisser Hinsicht vorgängig sein muss, in der Kalamität, den eigenen Grund nicht zu wissen. So wird aus der metaphysischen Wissenschaft eine Philosophie der geheimnisvollen Ahnung, die zwar – auch wenn sie vorgibt, sich auf Parmenides zu stützen – keine Seinsgesetze im Sinne der Vorsokratiker mehr hervorbringt, aber in die Nähe zu demjenigen rückt, was den anderen Anfang des Denkens ausmachte: die Seins-Dichtung. Wenn Heidegger in seiner Einführung in die Metaphysik den Ursprung der Sprache erkundet, mag dies Aufschluss über diesen Komplex geben: Der Geheimnischarakter gehört zum Wesen des Ursprungs der Sprache. Darin liegt aber: Die Sprache kann nur aus dem Überwältigenden und Unheimlichen angefangen haben, im Aufbruch des Menschen in das Sein. In diesem Aufbruch war

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die Sprache als Wortwerden des Seins: Dichtung. Die Sprache ist die Urdichtung, in der ein Volk das Sein dichtet.63 Die Erhabenheit des Unheimlichen – nicht umsonst diente sie in Was ist Metaphysik? zur Untermalung des Verhältnisses Angst/Sein64 –, welche sich aus dem Geheimnis um das Was des Seins speist, initiierte nach Heidegger das anfängliche Sprechen des Seins in der Form der Sprachdichtung. Wenn die Vorsokratiker noch in diesem Zusammenhang dachten, beziehungsweise sich an der Grenze des Umschlags dessen befanden, dann muss dies einerseits bedeuten, dass – sofern der Konnex von Sein und Sprache wiederentdeckt werden soll – ›eigentliches‹ Seinsdenken nur auf diesem Fundament wieder zur Sprache kommen kann, und andererseits, dass alle metaphysischen Bemühungen, die sich von diesem Ursprungspunkt fortbewegten und bewegen, a priori die Seinsbasis vergaßen und vergessen. Das ἔστι γὰρ εἶναι des Parmenides ist heute noch ungedacht. Daran lässt sich ermessen, wie es mit dem Fortschritt der Philosophie steht. Sie schreitet, wenn sie ihr Wesen achtet, überhaupt nicht fort. Sie tritt auf der Stelle, um stets dasselbe zu denken. Das Fortschreiten, nämlich fort von dieser Stelle, ist ein Irrtum, der dem Denken folgt als ein Schatten, den es selbst wirft. (Ü.H., S. 27) In seiner Wirkung mag dies ›konservativ‹ anmuten; die inhärente ›Logik‹ dessen, auch wenn Heidegger seinen Rekurs auf Parmenides natürlich nicht unter dem Banner einer solchen verstanden haben will, liegt in jedem Fall auf der Hand: Es ist nur sag- und denkbar, dass Sein ist. Ausschließlich dem Sein ist dieses Ist zuzuschreiben, weil es die Zeit samt der kinetischen Veränderung in sich trägt. All die seienden Dinge hingegen – bis auf den Menschen, welcher in der Lage ist, sein Ist zu denken – sind nie im Verständnis der Unverborgenheit des Seins ›wirklich‹, da sie dieses Ist nicht von sich beanspruchen können. Daher muss für Heidegger ein »Andenken dieser Geschichte« (Ü.H., S. 27), der verlorengegangenen Geschichte des Ist des Seins, stattfinden, um so jener Seinslichtung nachzugedenken, die dem Menschen – entgegen dem metaphysischen Humanismus – die Offenheit des Seins als Ek‐sistenz zuspricht. Dass dies natürlich nicht im Rahmen einer technischen Seinsauslegung zu gewährleisten ist, muss angesichts der offensichtlichen Verstrickung von Metaphysik und τέχνη nicht verwundern (vgl. Ü.H., S. 32-33). Vielmehr liegt es in Heideggers Ansinnen, die Relation zwischen Mensch und Sein zu exponieren – ein Zusammenhang, welchen die metaphysische Prägung der Technik und technische Prägung der Metaphysik nicht verstehen kann, weil ihr Wesen eben nicht zum 63 Heidegger, Martin: Einführung in die Metaphysik. S. 131. Zitation im Folgenden durch Sigle (E.M.) und Seitenzahl. 64 Vgl. zur Analyse von Angst/Sein/Unverborgenheit Kapitel 5.1 der vorliegenden Untersuchung.

5 Heidegger – die Wiederentdeckung der Seinsfrage?

Sein hin und aus diesem heraus den Menschen denkt, sondern gerade in diametraler Weise. So kommt dem Menschen eine eigentümliche Stellung zu: Als einzig Seiender kann und darf er das Sein vernehmen, ist deshalb mehr als Seiender. Das »mehr« bedeutet: ursprünglicher und darum im Wesen wesentlicher. Aber hier zeigt sich das Rätselhafte: der Mensch ist in der Geworfenheit. Das sagt: der Mensch ist als der ek‐sistierende Gegenwurf des Seins insofern mehr denn das animal rationale, als er gerade weniger ist im Verhältnis zum Menschen, der sich aus der Subjektivität begreift. Der Mensch ist nicht der Herr des Seienden. Der Mensch ist der Hirt des Seins. (Ü.H., S. 34) Die metaphysisch‐konventionelle Unterscheidung von Subjekt und Objekt, die in ihrer neuzeitlichen Geschichte den Menschen als Herrscher des Seienden etablierte, muss im direkten Gegenlicht des Bezugs Sein/Mensch/Geworfenheit wegfallen. Die Subjektivität, welche landläufig dem Menschen ein Mehr gegenüber dem Objektiven zubilligt, erscheint in Heideggers Interpretation zum Weniger subvertiert. Ein Weniger an Subjektivität kommt dann einem Mehr an Wesensursprünglichkeit gleich: »In diesem ›weniger‹ büßt der Mensch nichts ein, sondern er gewinnt, indem er in die Wahrheit des Seins gelangt.« (Ü.H., S. 34) Der Verlust der Subjektivität korreliert mit einem bestimmten Zuwachs an Seinszugänglichkeit. Der folgende Versuch, dem Menschen die Allegorie des Hirten zur Seite zu stellen – im Übrigen eine seltsame motivische Parallele zu einer der zentralen Passagen des Zarathustra65 –, bedarf aus dieser Perspektive einer kritischen Notiz: »Er [der Mensch] gewinnt die wesenhafte Armut des Hirten, dessen Würde darin beruht, vom Sein selbst in die Wahrnis seiner Wahrheit gerufen zu sein. Dieser Ruf kommt als der Wurf, dem die Geworfenheit des Daseins entstammt.« (Ü.H., S. 34) Heidegger versperrt sich demnach der neuzeitlichen Maxime des Gewinnstrebens im Sinne einer Vermehrung des Seienden zum Zwecke der Vermehrung desselben. Wenn Heideggers Mensch gerufen wird, indem er vom Sein ins Dasein geworfen wird, dann drängt sich die Frage auf, welchen Status die Sprachlichkeit der Stimme des Seins innehat. Dies führt Heidegger jedoch nicht aus – wurde ja in Was ist Metaphysik? von »der lautlosen Stimme des Seins« (W.M., S. 53) gesprochen, was darauf hindeutet, dass die Verfasstheit des Rufs sich weiterer Präzision entzieht –, sondern setzt eine weitere Allegorie ins Werk, welche erneut die Stellung des Menschen illustrieren soll: »Der Mensch 65 Man denke an das Kapitel Vom Gesicht und Räthsel (KSA 4, S. 197-202), in welchem dem Protagonisten die Vision eines Hirten erscheint. Diesem Hirten nun, gepeinigt von der allegorischen Schlange der Ewigen Wiederkehr, obliegt die narrative Aufgabe, das Wissen um diese Wiederkehr für Zarathustra erlebbar und quasi‐kathartisch sublimierbar zu machen. Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Nietzsche darf die metaphysische Ausgestaltung seiner ›Lehre‹ für Zarathustra nur bis zu einem gewissen Grad formulieren, um selbst dem Verdacht des ›Ontologisierens‹ zu entgehen.

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ist in seinem seinsgeschichtlichen Wesen das Seiende, dessen Sein als Ek‐sistenz darin besteht, daß es in der Nähe des Seins wohnt. Der Mensch ist der Nachbar des Seins.« (Ü.H., S. 34) Die nochmals bemühte Idylle des nachbarschaftlichen Hirten, der sich seinem Wesen gemäß um das Sein sorgt, weckt aufs Erste Assoziationen des bäuerlich‐friedfertigen Landlebens. Auf den zweiten Blick ergibt sich hieraus eine handfeste Komplikation: Wenn der Mensch vom Sein ins Dasein gerufen wird, zugleich aber, wie es schon die Allegorie des Nachbarn implizierte, nur »in der Nähe des Seins wohnt«, ist nicht geklärt, was es mit diesem Entfernungsverhältnis auf sich hat. Genauer: Wohnt der Mensch nur mehr in der Nähe des Seins, ist eine Im-Sein-Befindlichkeit partiell fragwürdig. Diese muss allerdings notwendig der Fall sein, sofern der ontologische Status des Menschen nicht nivelliert werden soll. All diese Einwände forciert Heidegger nicht weiter. Vielmehr sieht er sich in mehreren Fragen selbst bestätigt: »[…] [D]enkt solches Denken nicht gerade die Humanitas des homo humanus? Denkt es diese Humanitas nicht in einer so entscheidenden Bedeutung, wie sie keine Metaphysik gedacht hat und je denken kann? Ist das nicht ›Humanismus‹ im äußersten Sinn? Gewiß.« (Ü.H., S. 34) Die Begründung für diesen Humanismus ist einerseits einleuchtend, weil sie das metaphysische Abrücken des Menschen von seinem Wesen benennt. Andererseits ist sie ebenso zweifelhaft, da sie den Menschen gerade durch seine Nähe zum Sein in eine Entfernungsposition bringt. Es ist der Humanismus, der die Menschheit des Menschen aus der Nähe zum Sein denkt. Aber es ist zugleich der Humanismus, bei dem nicht der Mensch, sondern das geschichtliche Wesen des Menschen in seiner Herkunft aus der Wahrheit des Seins auf dem Spiel steht. Aber steht und fällt in diesem Spiel nicht zugleich die Ek‐sistenz des Menschen? So ist es. (Ü.H., S. 34-35) Der die Nähe des Seins denkende Humanismus darf unter keinen Umständen als wissenschaftliche ›Disziplin‹ verstanden werden. Eher ist der so entworfene Humanismus in letzter Konsequenz wesentlicher Teil des Seinsdenkens, welches das Entfernungsverhältnis des Menschen zum Sein ontologisch fassbar machen soll, und zwar indem die Wahrheit des Seins zum Leitziel erhoben wird – was, wie Heidegger festhält, durchaus problematischer Natur zu sein scheint, da der Mensch nun vom Sein her in seinem Mensch-Sein gedacht werden muss: »Man könnte etwas paradox sagen, dass für das Wesen des Menschen das Sein wichtiger ist als der Mensch selber.«66 Dass es im Rahmen dieses Seinsprimats nicht daran liegen kann, die Wahrheit des Seins durch blindes Gerede anzustrengen, ja dass ein solches Geschwätz 66 Mende, Dirk: »Brief über den ›Humanismus‹«. Zu den Metaphern der späten Seinsphilosophie.« In: Heidegger-Handbuch. S. 216-226, hier S. 220.

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den Zugang zur Seinsfrage weitaus eher verbaut, wird insofern deutlich, als die Bestimmung, »das Wesen des Menschen anfänglicher zu denken« (Ü.H., S. 37), nicht unbedingt mit konventionellem Sprachgebrauch korreliert, sondern mit einer Sprache, welche in ihrer Qualität als das Haus des Seins eine Kommunikationssituation fordert, die ausschließlich der Wahrheit des Seins dienlich ist: »Alles liegt jetzt daran, daß die Wahrheit des Seins zur Sprache komme und daß das Denken in diese Sprache gelange. Vielleicht verlangt dann die Sprache weit weniger das überstürzte Aussprechen als vielmehr das rechte Schweigen.« (Ü.H., S. 36) Wenn die abendländische Metaphysik das Seiende zer‐redet, indem sie begrifflich ihr eigenes Definitionsinstrumentarium ontisch ausdifferenziert, spricht sie zwar etwas, diese Rede bleibt aber gleichsam ziellos, weil ihr inhärenter Gehalt nicht das Eigentliche (Sein) nennt, sondern das Uneigentliche (Seiende). Heidegger benötigt dementsprechend eine von der Metaphysik sich abgrenzende metaphorische Disposition, die es ihm ermöglicht, das Sein irgendwie im Sinne seiner Wahrheit als Unverborgenheit auszudrücken. Aus gutem Grund stellt Dirk Mende die Verbindung zu Blumenbergs absoluten Metaphern her: Sie [absolute Metaphern] sind Entwürfe des unsagbaren Seins. Absolute Metaphern sind sie auch, weil sich nicht fragen lässt, ob sie ›richtig‹ oder ›angemessen‹ sind. Diese Metaphern konstituieren den weder in der Anschauung noch begrifflich zugänglichen Gegenstand, indem von ihm durch sie gesprochen wird.67 Auch wenn Mende in weiten Teilen zuzustimmen ist, offenbart sich hier die fundamentale Komplikation des Heidegger’schen Versuchs, dem Sein sprachlich ›habhaft‹ zu werden: Das Sein ist kein, wie Mende schreibt, »Gegenstand«, den man mit Mitteln des alltäglichen Sprachgebrauchs umgrenzen könnte. Eben deshalb bedingen sich Heideggers ›Charakteristika‹ des Seins metaphorisch aus. Das Stehen in der Lichtung des Seins muss so die singuläre Bestimmung des Menschen sein, da nur die Metapher des Lichts mit dem Erscheinen als Unverborgenheit konvergiert. »Die Lichtmetaphorik legt nahe, dass ein in seinem Sein gehülltes Seiendes […] vom Sein selbst in eine ›Lichtung‹ gestellt, erleuchtet, zum Erscheinen gebracht wird.«68 Wie nun dieses In‐der-Seinslichtung-Stehen auf das Sprach-Denken rückwirkt, zeigt sich erneut in Heideggers teils unterschwellig vorgenommener Interpretation der Vorsokratiker. »Aber wie steht es mit der Besinnung auf das Sein selbst und das heißt mit dem Denken, das die Wahrheit des Seins denkt?« (Ü.H., S. 40) Diese Frage impliziert eine Rekapitulation des Argumentationsgangs: Wenn die abendländische 67 Mende, Dirk: »Brief über den ›Humanismus‹«. Zu den Metaphern der späten Seinsphilosophie.« S. 219. 68 Mende, Dirk: »Brief über den ›Humanismus‹«. Zu den Metaphern der späten Seinsphilosophie.« S. 220.

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Metaphysik im Rahmen der disziplinären Logik die Bahn der Wahrheit des Seins zugunsten eines Denkens des Seienden verlassen hat, kann nur eine Rückwendung zu den für Heidegger ersten und einzigen Denkern – Anaximander, Parmenides und im Folgenden vor allem Heraklit – die Seinsfrage abermals fruchtbar machen. Die Ursache dafür liegt auf der Hand: In der Sprache der Vorsokratiker bildet der ursprüngliche λόγος eine untrennbare Einheit mit der Seinsfrage an sich – was dazu führt, dass der λόγος selbst zur Seinsmetapher wird und so in gewissem Sinne die Wahrheit des Seins sprachlich versammelt. Dieses Denken [der Wahrheit des Seins] trifft erst das anfängliche Wesen des λόγος, das bei Plato und Aristoteles, dem Begründer der »Logik«, schon verschüttet und verlorengegangen ist. Gegen »die Logik« denken, das bedeutet nicht, für das Unlogische eine Lanze brechen, sondern heißt nur: dem λόγος und seinem in der Frühzeit des Denkens erschienenen Wesen nachdenken, heißt: sich erst einmal um die Vorbereitung eines solchen Nachdenkens bemühen. (Ü.H., S. 40) Jetzt ist nicht nur die Programmatik eines Humanismus demonstriert, der sich der wertenden Einschätzung durch objektivierende Urteile entzieht (vgl. Ü.H., S. 41). Vielmehr folgt hieraus ein gedoppelter denkerischer Auftrag: Mit der Reversion in den Anfang des Denkens, an welchem die ursprünglichen Fragen nach dem λόγος und der φύσις bezüglich der ἀλήθεια Hinweise auf das Seins selbst geben, öffnet sich für Heidegger das Themenfeld Vorsokratik zum zweiten Mal, und zwar auf anti‐metaphysische Weise. Dies führt in letzter Konsequenz dazu, die metaphorische Qualität der Seinsfrage neu denken und dadurch sprachlich ›eigentlicher‹ fassen zu müssen. Durch diese Aufgabe wird der Anfang des (Seins)Denkens einerseits wiederentdeckt, andererseits läuft diese Wiederentdeckung unter dem Banner eines ankünftig‐unverborgenenen Seinsbegriffs, welcher seine eigenen Bestimmungen von sich aus lichtet oder verbirgt. Dies heißt: Die Suche nach dem Zugang zur Seinsfrage ist zwar bei den Vorsokratikern gefunden. Allerdings birgt dieser Fund eine innere Wiederholung, weil die Antwort auf die Frage nach dem Sein für den Menschen schon geschichtlich gelichtet und angekommen, also für das Denken dieselbe Frage bleiben muss. Das Denken ist auf das Sein als das Ankommende (l’avenant) bezogen. Das Denken ist als Denken in die Ankunft des Seins, in das Sein als die Ankunft gebunden. Das Sein hat sich dem Denken schon zugeschickt. Das Sein ist als das Geschick des Denkens. Das Geschick aber ist geschichtlich. Seine Geschichte ist schon im Sagen der Denker zur Sprache gekommen. Diese bleibende und in ihrem Bleiben auf den Menschen wartende Ankunft des Seins je und je zur Sprache bringen, ist einzige Sachen des Denkens. Darum sagen alle wesentlichen Denker stets das Selbe. (Ü.H., S. 55)

5 Heidegger – die Wiederentdeckung der Seinsfrage?

Auch wenn es Heidegger in Was ist Metaphysik? noch vermeiden wollte, eine »Renaissance des vorsokratischen Denkens« (W.M., S. 11) ins Werk zu setzen, respektive wohl um die formale sowie historische Problematik eines solchen Vorhabens wusste, so bleiben im Rahmen der Destruktion der Metaphysik dennoch nur diejenigen Denker als Orientierung, welche nach Heidegger die »Ankunft des Seins« einst empfingen und zur (Seins-)Sprache brachten: die Vorsokratiker. Dass die frühgriechische Philosophie für Heidegger nicht nur als Anknüpfungspunkt dient, sondern unter dem Banner seiner eigenen Philosophie gedeutet wird, soll im Folgenden flankierend zu einer prägnanten Zusammenstellung der in Über den Humanismus zentralen Themen herausgearbeitet werden. So gilt es, einen Brückenschlag zum Beginn zu gewährleisten, der einem finalen Ausblick über die Seinsfrage von den Vorsokratikern über Platon bis Nietzsche und Heidegger Vorschub leistet.

5.4

Die Rückkehr in den Anfang als differenzielle Wiederholung

Über den Humanismus markiert eine erstaunliche Wende im Denken Heideggers: Während einerseits das Verhältnis Sprache/Sein/Mensch von den Definitionen der Metaphysik freigemacht werden soll, rücken andererseits an die Position dieser metaphysischen Determinationen Metaphern, die rekursiv die Dominanz der Seinsphilosophie bestätigen. Die Sprache als das Haus des Seins, die Wächterschaft der Denker und Dichter über das Sein, die daraus resultierende Positionierung des Menschen als Nachbar und Hirt des Seins, die Lichtung des Menschen durch das Sein in die Eksistenz – sie alle ›beschreiben‹ Versuche, die Wahrheit als Unverborgenheit des Seins sprachlich in einer Weise auszudrücken, welche das Seinsgeschehen wesenhaft werden lassen soll. Heidegger ist indessen kein Metaphorologe, dessen Ansinnen es wohl wäre, die Leistungen dieser Übertragungen zu exponieren. Als Philosoph, dessen Denken die Weichenstellungen der Ontologie zum Ausgang nimmt, geht es ihm vielmehr darum, dass in Sprache, in Denken, in der Eksistenz des Daseins privilegiert Sein hervortritt. Auf dieses Sein zu hören, die Wahrheit dieses Seins (anzu-)erkennen, ist nach Heidegger der vom Sein überantwortete Auftrag des Menschen. Die ausschlaggebende Erschwernis hieran besteht in der dennoch eindeutig metaphorischen Ausrichtung der Seinsphilosophie, die auf der einen Seite nicht metaphorisch sein will, auf der anderen Seite – sofern nicht im Sinne der Metaphysik argumentiert werden soll – nicht ohne Seinsmetaphern auskommt. Die Metaphern des Seienden müssen aus diesem Grund getilgt werden, weil »Heideggers Sein, das durch ständiges Eliminationsverfahren der Merkmale von Seien-

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dem gefunden wird«69 , nicht irgendein Sein unter Seiendem sein kann, sondern das Sein, welches in Wort und Denken – gewissermaßen geschicklich – seine Ankunft kündigt. Wenn aber Heideggers These zuzustimmen ist, dass die Ankunft des Seins als Wahrheit desselben bei den Vorsokratikern schon einmal zur Sprache gekommen ist, dann bleibt nur ein Weg, dem Sein philosophisch Genüge zu tun: die Horizontwende zurück zu denjenigen Anfängen, an welchen Philosophie noch Seinsdichtung und Seinsdenken war. Zielte die vorliegende Untersuchung auch darauf ab, den Zusammenhang von Seinsdichtung und Philosophie anhand der philosophischen Implikationen philologisch zu eruieren, dann ist nunmehr im Lichte des bisherigen Beweisgangs ein finales Schlaglicht im Schaffen Heideggers eruiert: Während Platon von der ersten Seinsfrage abweicht, indem er zum einen die Wahrheit des Seins als ἰδέα gestaltlich und metaphorisch denkt, zum anderen von dieser Konfiguration abkommt, um das von den Vorsokratikern verbannte Nichtseiende im Sein zu etablieren, bindet Nietzsche im Frühwerk die ontologische Fundierung des Daseins anti‐platonisch an dessen ästhetische Qualitäten. Diese werden später in Also sprach Zarathustra einerseits literarisch realisiert, andererseits verschwimmt mit dieser ›Verwirklichung‹ die Wahrheitsfähigkeit der Sprachlichkeit im Spiegel der sich einschleichenden metaphysischen Komponenten. Heidegger scheint diese Bruchstellen für sich fruchtbar zu machen. Es zeigt sich in Was ist Metaphysik? und mehr noch in Über den Humanismus, dass der Weg hinter Platon – als erstem ›Metaphysiker‹ – und gegen Nietzsche – als letztem ›Metaphysiker‹ – zum Anfang des Denkens radikal zurückführen muss. »Die vitalisierende Aneignung des ersten Anfangs legt in ihm ein Potenzial frei, das zur Verwindung der Metaphysik erforderlich ist. Der erste Anfang muss also noch anfänglicher gedacht werden.«70 Der Grund für die Verursprünglichung des Ursprungs mag oberflächlich an der Liminalität der Vorsokratik, verortet zwischen Seinsdichtung und Metaphysik, liegen. Unter Heidegger’schen Vorzeichen betrachtet erschließt sich eine tieferliegende Ursache: Wenn die Vorsokratiker der Ankunft des Seins Rechnung tragen, indem sie den Zuspruch des Seins sagen, denken sie für Heidegger dasselbe wie Heidegger, dessen Geschichtlichkeit jedoch freilich nicht mit der Geschichtlichkeit der Vorsokratiker übereinstimmt. Die Radikalisierung des Ursprungs ist also insofern notwendig, als mit der Wiederholung der Seinsfrage keine Repetition der Geschichtlichkeit einhergehen kann. So kommt die konstatierte Radikalisierung einer differenziellen Wiederholung gleich, welche die Prätention verfolgt, dasselbe im Zuge der Verwindung der Metaphysik anders zu formulieren – was in sich ein logischer Widerspruch bleiben muss, 69 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. S. 249. 70 Iber, Christian: »Interpretationen zur Vorsokratik. Frühgriechisches Denken und Heideggers Projektionen.« In: Heidegger-Handbuch. S. 200-209, hier S. 201.

5 Heidegger – die Wiederentdeckung der Seinsfrage?

allerdings insofern für Heidegger von Nutzen ist, als nun seine Ontologie die der Vorsokratiker für sich beanspruchen kann. »Die Verwindung der Metaphysik entpuppt sich als Verwandlung der Metaphysik in das Seinsdenken, das die Philosophie von Anfang an gewesen sein soll.«71 Sein Vorhaben, das frühgriechische Seinsdenken gegen Metaphysik und Moderne in Szene zu setzten – in diesem Punkt scheint Heidegger Nietzsches emphatische Kritik an der Moderne, der er eine Wiederbelebung der tragischen Philosophie entgegenhält, weiterzuführen72 –, wird dabei wesentlich von einer Parallelisierung des Griechischen zum Deutschen getragen: Die von den Vorsokratikern gedachten und zur Sprache gebrachten Seinsmetaphern unterliegen in Heideggers Übersetzungstätigkeit einer Verschiebung73 , die vom Griechischen ausgehend eine deutsche Wesensursprünglichkeit suggeriert. Dies ist ein essentieller Vorteil für die These einer differenziellen Wiederholung: Im Unterschied von Griechischem und Deutschem entfaltet sich die Möglichkeit, dasselbe wie die Vorsokratiker ursprünglicher in den Fokus zu nehmen. Wenn Christian Iber kritisch festhält, dass sich daraus eine »auf die Antike zurückprojizierte Eschatologie«74 entfaltet, so steht am Fuße dessen auch der Anspruch, das Deutsche in diese Verursprünglichung zu integrieren. Diese Projektion der Eschatologie des Seins auf das frühantike Denken tangiert auch das Deutsche. Auch hier kommt es darauf an, deutscher als deutsch zu denken. Die Auszeichnung des Deutschen liegt darin, dass es am besten geeignet ist, das Anfängliche des griechischen Anfangs freizulegen. So wächst das Griechische am Deutschen und das Deutsche am Griechischen.75 Im Sinne Ibers folgt hieraus Heideggers durchaus prekäres Unterfangen, dem Deutschen in Allianz mit dem Griechischen einen Rang ontologischen wie geschichtlichen Vorzugs einzuräumen.76 Abseits dieser nicht zu unterschätzenden Problematik ist der Reiz eines solchen Herangehens an die Fragmente der Vorsokratiker nicht zu leugnen. Diese Wirkung, darauf abzielend die Seinsfrage aus ihrer metaphysischen Verschüttung zu bergen, entspringt jedoch auch der strengen Notwendigkeit, sich nach der Kehre denjenigen frühgriechischen Protagonisten zuzuwenden, die weder einer Philosophie der Stofflichkeit bahnbrachen noch ihr Denken in den Dienst eines wie auch immer gearteten ›Idealismus‹ stellten. Daher bedingt Heideggers 71 Iber, Christian: »Interpretationen zur Vorsokratik.« S. 208. 72 Vgl. Iber, Christian: »Interpretationen zur Vorsokratik.« S. 202. 73 Die Untersuchung konnte darauf im Falle Anaximanders, Heraklits und Parmenidesʼ hinweisen (vgl. Kapitel 2.1 bis 2.4.4). 74 Iber, Christian: »Interpretationen zur Vorsokratik.« S. 208. 75 Iber, Christian: »Interpretationen zur Vorsokratik.« S. 208. 76 Vgl. Iber, Christian: »Interpretationen zur Vorsokratik.« S. 208-209.

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Lesart eine strenge Selektion des literarisch‐philosophischen Materials, was dazu führt, dass – analog zur in der vorliegenden Arbeit unternommenen Textauswahl – nur drei vorplatonische Denker zur Explikation der Seinsfrage übrig bleiben: Anaximander, Heraklit und Parmenides.77 Man mag sich sowohl aus philosophischer als auch aus philologischer Perspektive an dieser Engführung stören – sie ist schlicht kaum zu hintergehen, da sich im Denken der genannten Vorsokratiker seinsbezüglich Unerreichtes und Un-Erhörtes vollzieht. Gerade daran knüpft Heidegger an, indem er an die Un-Erhörtheit mahnt. Damit stilisiert er sich einerseits zum Hüter der Seinsfrage per se, andererseits macht er tatsächlich ein Gebiet fruchtbar, das vormals rein metaphysischer Spekulation galt. So bildet der Anfang der Philosophie das ambivalente Zentrum des Heidegger’schen Bestrebens, der Philosophie als Metaphysik fliehen zu wollen. Natürlich teilen auch die Vorsokratiker das Schicksal als Geschick der Philosophie, aber in seiner Interpretation arbeitet Heidegger das Bemühen heraus, die Differenzierung zwischen dem, was Gegenstand der Philosophie ist, und dem, was nicht ihr Gegenstand ist, als Instrument (und Anfang) der Philosophie zu nutzen, um ihr dennoch zu entgehen.78 Für Heidegger ist der »Gegenstand der Philosophie« dann natürlich singulär die Frage nach dem Sein – ein Sein, das Wahrheit ausschließlich als Unverborgenheit preisgibt. Blickt man unter diesen Prämissen erneut auf Über den Humanismus, so wird klar, dass dieser radikale Rückgang in den differenziellen Anfang gemäß Heidegger nur gewährleistet werden kann, indem das Griechische von metaphysischen Konnotationen befreit wird. Beispielhaft ist hierfür Heideggers Umgang mit dem herakliteischen Fragment B 119. Im Griechischen heißt es: ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμων. Mansfeld übersetzt das Textstück mit: »Des Menschen Verhalten [oder: Charakter] ist sein Schicksal.« (DK 22 B 119) Dass sich Worte wie »Verhalten« oder »Charakter« für Heideggers 77 Michael Theunissen schreibt hierzu kritisch: »Nur ist auch am Lob für Heideggers Umgang mit dem frühen Griechentum eine Einschränkung anzubringen. Bereits darin meldet sich die in seiner Traditionsaneignung herrschende Nivellierungstendenz. Systematisch ebnet er Unterschiede zwischen Anaximander, Heraklit und Parmenides ein. Einen Hinweis auf Sein entnimmt ja der Welt durchdringende Zeitlichkeit allein Anaximander. Heraklit folgt seinem Vorbild nur mit Abstrichen, und Parmenides steuert das Gegenteil an, eine Deduktion des einen, umfassenden Seins aus der Verneinung der Zeitverfallenheit des Einzelnen. Heidegger ordnet Parmenides in den Gang des Denkens von Anaximander zu Heraklit aber nicht nur ein. Er ordnet die beiden anderen der Zentralgestalt unter. Er tut dies, indem er schon Anaximander, bei dem er seine Auflösung des Anwesenden in einen Prozeß vorgebildet findet, mit der rein gegenwärtigen Gegenwart des parmenideischen Seins überzieht.« (Theunissen, Michael: Pindar. S. 936) 78 Jahraus, Oliver: Martin Heidegger. S. 178.

5 Heidegger – die Wiederentdeckung der Seinsfrage?

Zielsetzungen ob ihres modernistischen Beiklangs schlicht als untauglich erweisen würden, leuchtet unmittelbar ein. Die ältere Übertragung von Diels käme diesbezüglich Heidegger insofern entgegen, als sie δαίμων eine interessante Notiz nachstellt: »Seine Eigenart ist dem Menschen sein Dämon (d.h. sein Geschick).« (ÜS. Diels) Heidegger selbst unterschlägt aber die nachgeschobene Erläuterung – womöglich, um seine eigene Inanspruchnahme des Geschicks von der Diels’schen Verdeutschung fernzuhalten. Mehr noch: Für Heidegger ist diese Übersetzung »modern, aber nicht griechisch« (Ü.H., S. 46), weil sie nicht jener Seinsspezifikation gehorcht, die er selbst zum alleinigen Kriterium der Auslegung erhebt. Die Sprache als das Haus des Seins, in welchem dem Menschen seine Stätte gelichtet wird, muss als Fixpunkt der Heideggger’schen Interpretation dienen, da anderweitig das fragile Konstrukt der unausgesprochenen Seinsmetaphorisierung negiert würde. ἦθος darf dann nicht mehr »Eigenart« oder »Verhalten« bedeuten, sondern muss allein auf den – sicherlich auch berechtigten – Bereich des Wohnens reduziert werden: ἦθος bedeutet Aufenthalt, Ort des Wohnens. Das Wort nennt den offenen Bezirk, worin der Mensch wohnt. Das Offene seines Aufenthaltes läßt das erscheinen, was auf das Wesen des Menschen zukommt und also ankommend in seiner Nähe sich aufhält. Der Aufenthalt des Menschen enthält und bewahrt die Ankunft dessen, dem der Mensch in seinem Wesen gehört. Das ist nach dem Wort des Heraklit δαίμων, der Gott. (Ü.H., S. 46) Dass Heidegger die theistischen Attribute von »Gott« in dieser Weise nicht stehen lassen darf – entginge ja somit der Rekurs auf das Sein im Zuge einer Stärkung des anthropomorphen Seienden –, ist ebenso stringent wie das repetitive Beharren auf der Metapher des Wohnens, welche rückwirkend auf das Haus des Seins ein Nähe-/Entfernungsverhältnis zwischen Mensch, Sein und Sprache zum Leitthema erhebt. Daher schiebt Heidegger eine Divergenz zwischen ἦθος und δαίμων ein, welche die ontisch‐ontologische Differenz metaphorisiert und metonymisiert: »ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμων, sagt Heraklit selbst: ›Der (geheure) Aufenthalt ist dem Menschen das Offene für die Anwesung des Gottes (des Un‐geheuren).‹« (Ü.H., S. 48) Aus philologischer Sicht mag Heideggers Übersetzung äußerst ›kreativ‹, wenn nicht abwegig wirken. Betrachtet man indessen ein zentrales Moment von Über den Humanismus, nämlich den Aufweis der gelichteten Ek‐sistenz des Menschen in die Sprache des Hauses des Seins, so wird deutlich, dass Heideggers Verdeutschung einer Übertragung zweiter Potenz gleichkommt. Diese wiederholt dann einerseits die Aussage Heraklits, andererseits evoziert sie eine Differenz, welche einer disziplinären Vereinnahmung des ἦθος standhalten soll. Soll nun gemäß der Grundbedeutung des Wortes ἦθος der Name Ethik dies sagen, daß sie den Aufenthalt des Menschen bedenkt, dann ist dasjenige Denken, das die

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Wahrheit des Seins als das anfängliche Element des Menschen als eines eksistierenden denkt, in sich schon ursprüngliche Ethik. (Ü.H., S. 48) Analog zum Humanismus hat Heidegger einen Begriff der Ethik gewonnen, der von metaphysischen ›Belastungen‹ freigemacht zu sein scheint. Auch wenn die Positionierung gegen die Wissenschaft und deren Methodenfixierung mehr oder weniger subkutan Heideggers Werk durchzieht, ist nun festzustellen: Heidegger nutzt selbstverständlich eine gewisse ›Methode‹. Das Wesen dieser besteht darin, im Rückgang auf die Vorsokratiker den Ursprung der Seinsfrage hermeneutisch in seine Vorstellungen zu integrieren – respektive im Lichte seiner Überlegungen umzudeuten. Man könnte diesbezüglich kritisch einwenden, die Vorsokratiker selbst seien dadurch zu einem Medium degradiert, das keine eigene Sprache mehr innehätte. Heidegger unterstützend wäre man andererseits in der Lage, die positiven Aspekte dessen in den Vordergrund zu rücken: Gerade weil Heidegger Anaximander, Heraklit und Parmenides als erste Ansprechpartner wählt, erhalten die Vorsokratiker ihre Stimme zurück – eine Stimme, die sie nicht mehr gegen die Anfechtungen der Metaphysik verteidigen konnten. Im Falle Heraklits geht es Heidegger freilich nicht nur um die Verursprünglichung des ἦθος. Vielmehr rekurriert er auf diejenigen Fragmente, die φύσις (vgl. DK 22 B 123) sowie den Zusammenhang von λόγος und Seinseinheit (vgl. DK 22 B 50) betonen.79 In den Worten Heraklits kündigt sich für Heidegger dabei das Sein in einer spezifischen Art an, nämlich in derjenigen, die er selbst gegen die abendländische Metaphysik aufbaut. Vor allem in Bezug auf den λόγος ist dann erneut die ›Methodisierung‹ der Vorsokratiker zu erkennen. »Heidegger will den Vernunftsinn von Logos unterlaufen, indem er den ursprünglichen Wortsinn von λέγειν zu dessen eigentlicher Bedeutung macht.«80 Die einzelnen Schritte dieser Rückführung auf die Eigentlichkeit des Wortes konnten im den betreffenden λόγος Abschnitt der vorliegenden Arbeit dokumentiert werden.81 An dieser Stelle scheint es zielführender, einen allgemeineren Hinweis anzubringen: Heraklit, der mit seiner Logostheorie als erster Rationalist der Philosophiegeschichte bezeichnet werden kann, wird in den Augen Heideggers zum ersten Kritiker des europä-ischen Logozentrismus. Auch Heraklit, bei dem der Ausdruck ›Sein‹ gar nicht vorkommt, verpflichtet Heidegger auf Ontologie.82 Iber ist in mehreren Punkten nicht zuzustimmen – obgleich der Grundton seine Richtigkeit hat: a) Heraklit verfolgt keine bestimmte ›Theorie‹, die im Sinne der Wissenschaft systematisch prüfbare Ergebnisse zu Tage fördern soll. b) Deshalb 79 80 81 82

Vgl. zur genaueren Analyse von B 50 Kapitel 2.3.2 der Arbeit. Iber, Christian: »Interpretationen zur Vorsokratik.« S. 204. Vgl. Kapitel 2.3.2 der Untersuchung. Iber, Christian: »Interpretationen zur Vorsokratik.« S. 205.

5 Heidegger – die Wiederentdeckung der Seinsfrage?

kann der Epheser auch nicht als »Rationalist« – trotz der bei Heraklit zu findenden Erkenntniskritik (vgl. DK 22 B 1) – bezeichnet werden, da diese Zuschreibung einem Begriff der Ratio folgen würde, der in seinem Gestus den Impetus der Aufklärung in sich trüge. c) Heidegger selbst schlägt alle Bezüge zu einer Vereinnahmung des herakliteischen Denkens durch die disziplinäre Ontologie in Über den Humanismus aus: Dieses Denken [das der Wahrheit des Seins] ist aber dann auch nicht erst Ethik, weil es Ontologie ist. Denn die Ontologie denkt immer nur das Seiende (ὄν) in seinem Sein. Solange jedoch die Wahrheit des Seins nicht gedacht ist, bleibt alle Ontologie ohne ihr Fundament. (Ü.H., S. 48-49) Es ist allein die Wahrheit des Seins, die für Heidegger aus den Fragmenten Heraklits spricht – eine Wahrheit, die als Unverborgenheit Heideggers Gesetzen zu gehorchen hat. Auch wenn Heraklit nicht unbedingt dezidiert Sein diskutiert, so tut er dies für Heidegger dennoch, und zwar insofern, als spezielle Signalworte auf Seinsbezüglichkeit hindeuten, respektive das Haus des Seins in seine Wahrheit stellen. Der sprachlich fundierte ›Wink‹ des Seins geht dann mit jener Metaphorik einher, der sich Heidegger selbst nicht entziehen kann, und vermutlich will, da diese Begriffe – wie λόγος, φύσις oder ἦθος – rekursiv in ihrer Verdeutschung erneut als Seinsreferenzen fungieren, wenn nicht gar erst dadurch ihre letztbegründete Seinszugehörigkeit im Sinne Heideggers erhalten. Dass dies mit den Fragmenten Heraklits weitaus unproblematischer funktioniert als mit dem Gedicht des Parmenides, liegt auf der Textebene wohl daran, dass Heraklit vordergründig kryptisierend auf die Merkmale des Seins rekurriert. Die Heraklit zugesprochene ›Dunkelheit‹ mag in diesem Zusammenhang einer Art Blaupause für Heideggers Deutungsmuster dienen, gerade weil die Allianz von Verbergung und Sein in das Schema seiner Interpretation passt: »[…] Heraklit ist ›der Dunkle‹, weil er das Sein als das Sichverbergen denkt und gemäß diesem Gedachten das Wort sagen muss.« (GA II, 55, S. 32) Wo bei Heraklit hingegen Verbergung und Sein für Heidegger kongruieren, wäre eine solche Auslegung im Falle des Parmenides diffiziler zu fundieren. Daher muss Heidegger in seiner Vorlesung zu Parmenides auf einer Äquivalenz von göttlicher Erzählerstimme und Wahrheit (des Seins) insistieren (vgl. GA II, 54, S. 6-7), obgleich im Gedicht selbst hauptsächlich Δίκη und nicht Ἀλήθεια das Sagen hat – was Heidegger im Übrigen in der Einführung in die Metaphysik gegenteilig akzentuiert (vgl. E.M., S. 127). Besondere Bedeutung erlangt aus dieser Perspektive dann natürlich das dritte parmenideische Fragment83 , da es den Zusammenhang von (wahrem) Sein und Vernehmen thematisiert. Diesen Konnex von Sein und Vernehmen interpretiert 83 Gr.: »… τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι.« (DK 28 B 3)

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Heidegger gegen die tradierte Übersetzung, welche sagt: »denn dasselbe ist Denken und Sein.« (DK 28 B 3; Übers. D.) Heideggers Übertragung lautet hingegen an einer Stelle in seiner Einführung in die Metaphysik: »Der Spruch sagt nicht: ›Denken und Sein ist dasselbe‹, sondern er sagt: ›Zusammengehörig sind Vernehmung wechselweise und Sein.‹«84 (E.M., S. 111) Wie schon in Was ist Metaphysik? oder Über den Humanismus deutlich wurde, findet eine Verschiebung der Gemengelage zwischen Mensch, Vernehmen, Sprache und Sein zugunsten des letztgenannten statt. »Sein besagt: im Licht stehen, erscheinen, in die Unverborgenheit treten. Wo solches geschieht, d.h. wo Sein waltet, da waltet mit und geschieht mit als ihm zugehörig: Vernehmung, aufnehmendes Zum‐stehen-bringen des sich zeigenden in sich Ständigen.« (E.M., S. 106) Heideggers Deutung von B 3 ist insofern konsequent gegen die metaphysische Vereinnahmung des Fragments gedacht, als sie eine zweite Interpretationsebene – analog zu Heraklit – aufmacht, welche die scheinbare Unterschiedslosigkeit von Sein und Vernehmen annulliert. Damit erscheint die These der differenziellen Wiederholung erneut bestätigt. Heideggers Interpretation [von B 3] schafft […] den philosophiegeschichtlichen Spannungsbogen, in dem er sich selbst am anderen Ende eines Anfangs verortet, den er mit Parmenides setzt. Was damit als Philosophiegeschichte erscheint, ist in Wirklichkeit Selbstvollzug Heideggers Philosophie.85 Dieser »Selbstvollzug« ist einerseits zu kritisieren, da mit ihm die Errungenschaften der Metaphysik abgetragen werden. Andererseits gründet sich dieser Prozess auf eben jenen Texten – Heidegger würde wohl sagen: ›Sprüchen‹ –, die alles weitere Fragen in sich bergen und somit den Ausgangspunkt für das Denken an sich bilden. Dieses Denken basiert auf dem stets gleichbleibenden, durch das Sein vorgegebenen, von Parmenides entdeckten, jedoch durch die von Platon initiierte Metaphysik verschütteten, Zusammenhang von Sein und demjenigen, was der Mensch, sofern er die Wahrheit des Seins als lichtendes Geschehen begreift, als dieses vernimmt und zur Sprache bringt. Man könnte also von einer kreisläufigen Bewegung sprechen, deren geschichtliche Initiation bei den Vorsokratikern liegt, die in der Folgezeit den ›Umweg‹ über die verstellende Metaphysik nehmen musste und schließlich in der Wiederentdeckung der Seinsfrage bei Heidegger kulminiert. Auch wenn sich Heidegger in der nachstehenden Referenz auf die Geschichte im Allgemeinen bezieht, so gibt er doch einen Hinweis, welcher auf die Vorsokratiker übertragbar erscheint: 84 Michael Theunissen akzentuiert Heideggers Auslegung von B 3 auf das Anwesen: »Denken gehört zum Sein selbst, weil es eine notwendige Bedingung dafür ist, daß Anwesendes anwesen kann.« (Theunissen, Michael: Pindar. S. 929) 85 Jahraus, Oliver: Martin Heidegger. S. 178.

5 Heidegger – die Wiederentdeckung der Seinsfrage?

Der Grundirrtum, der solchen [anthropologisch‐kulturwissenschaftlichen] Denkweisen zugrundeliegt, besteht in der Meinung, der Anfang der Geschichte sei das Primitive und noch Zurückgebliebene, Unbeholfene und Schwache. In Wahrheit ist es umgekehrt. Der Anfang ist das Unheimlichste und Gewaltigste. Was nachkommt ist nicht Entwicklung, sondern Verflachung als bloße Verbreiterung […]. (E.M., S. 119) Die Worte der Vorsokratiker liegen an der Schnittstelle von Abstraktion und jener ›Urgewalt‹, die Heidegger impliziert. Der aufklärerische Versuch, den Vorsokratikern die Emphase ihres Ausdrucks abzusprechen und disziplinär in die metaphysische Philosophie zu integrieren, scheitert daher insofern, als ein solches Bestreben das Unheimliche scheinbar sublimiert und der τέχνη anheimgibt. Durch diese Stärkung des Unheimlichen schlägt Heidegger zum einen die Brücke zu Was ist Metaphysik?, zum anderen stellt er den direkten Kontakt zu Dichtung her, welche später mit dem »nüchternen Spruch« (E.M., S. 128) des Parmenides kontrastiert wird. Der Andrang der τέχνη gegen die δίκη ist für den Dichter jenes Geschehen, durch das der Mensch unheimisch wird. In solcher Heraussetzung aus dem Heimischen erschließt sich das Heimische erst als ein solches. In einem damit und nur so erschließt sich aber auch erst das Befremdliche, das Überwältigende als ein solches. Im Geschehnis der Unheimlichkeit eröffnet sich somit das Seiende im Ganzen. Diese Eröffnung ist das Geschehen der Unverborgenheit. Diese ist nichts anderes als das Geschehnis der Unheimlichkeit. (E.M., S. 127) Die Kunstfertigkeit der Dichtung, die natürlich gewissen ›technischen‹ Regeln Folge zu leisten hat, baut Heidegger metaphorisch als Aggressor auf. Dieser ist allerdings für die strukturelle Explikation des Heidegger’schen Wahrheitsbegriffs vonnöten – zumal nur so Unverborgenheit und Unheimlichkeit konvergieren. Wie diese Konfiguration nun auf Parmenides zu projizieren ist, wirft jedoch Schwierigkeiten auf, denn: »Dieser spricht nirgends von der Unheimlichkeit.« (E.M., S. 126) Geht man mit Heidegger, und bedenkt das Wesen der Unverborgenheit erneut, so lässt sich diese Parallele natürlich trotz der fehlenden Nennung des Unheimlichen ziehen: Die Unverborgenheit kommt dann zum Vorschein, wenn Seiendes in die Wahrheit des Seins gebracht wird. In gewissem Sinn darf also von einem lichtenden ›Tun‹ gesprochen werden, welches Seiendes anwesen lässt. Genau hier offenbart sich für Heidegger der Werkcharakter des vorsokratischen Schaffens – ein Wesenszug des frühgriechischen Denkens, welcher aufs Engste mit Dichtung verwoben zu sein scheint und offensichtlich beide Pole, Dichtung und Denken, als einander bedingend voraussetzt: Wir wissen aus Heraklit und Parmenides, daß die Unverborgenheit des Seienden nicht einfach vorhanden ist. Die Unverborgenheit geschieht nur, indem sie erwirkt

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wird durch das Werk: das Werk des Wortes als Dichtung, […] das Werk des Wortes als Denken […]. (»Werk« ist nach dem früher Gesagten hier stets im griechischen Sinne als ἔργον, als das in die Unverborgenheit her‐gestellte Anwesen zu verstehen.) Die Erstreitung der Unverborgenheit des Seienden und damit des Seins selbst im Werk, diese Erstreitung der Unverborgenheit des Seienden, die schon in sich nur als ständiger Widerstreit geschieht, ist immer zugleich Streit gegen die Verdeckung, gegen den Schein.86 (E.M., S. 146) Parmenides und Heraklit werden somit auf dem Boden der zu erstreitenden Unverborgenheit figural unifiziert. Die Aufgabe der parmenideischen κρίσις, also des Geschehens der kritischen Entscheidung zwischen den Bahnen der Wahrheit und des Scheins (vgl. DK 28 B 1, B 7), welche für Heidegger vorgibt, dass Vernehmen und Sein ihrem Wesen nach wechselseitig sind (vgl. DK 28 B 3), fällt in dieser Lesart der Vorsokratiker mit dem Auftrag des herakliteischen λόγος, der das Ausgelegte in sich versammelt (vgl. DK 22 B 1, B 50) und so die Einheit der Gegensätze im πόλεμος aufzeigt (vgl. DK 22 B 53), zusammen. Beide frühgriechischen Denker stellen von dieser Warte aus ein gemeinsames Fundament, gewissermaßen eine ›Bastion‹ gegen die metaphysisch‐triadische Umdeutung von Seiendheit als totale Anwesenheit, gegen λόγος als Aussage und gegen δόξα als nicht der Unverborgenheit anteilig (vgl. E.M., S. 146-147), dar. Das ›Werk‹ der Vorsokratiker wird so zu einem durch die Metaphysik gebrochenen Korpus stilisiert, das anfänglich identisch ist – diese Identität wird auch explizit in der Spekulation um die ἀρχή verhandelt –, diese Selbigkeit jedoch geschichtlich verliert und schließlich durch Heidegger wiedergewinnt. Dichtung und Denken müssen daher – trotz ihrer vorgeblichen Verschiedenheit – insofern parallelisiert werden, als sie die ursprüngliche Identität ins Werk der Unverborgenheit setzen. Daraus entsteht das Bild jener Unverborgenheit, die ihrem Wesen nach in der Oszillation von Verbergung und Entbergung das Unheimliche in sich tragen muss, da diese strukturell der Ganzheit der Wahrheit des Seins angehört. Auf das Kunst-Werk übertragen, schreibt Natalie Knapp deshalb: »Eine Auslegung, der nicht der metaphysische Wahrheitsbegriff zugrunde liegt, muß also den Geheimnischarakter des Kunstwerkes wahren, da Wahrheit niemals unabhängig von Bergung gedacht werden und nur im und als bergendes Be‐wahren aufscheinen kann.«87 Auslegung, Kunstwerk und Wahrheit formen demnach eine Allianz, die dem Rezipienten wiederum 86 Der in runden Klammern stehende Nachsatz, welcher den Werk-Begriff präzisieren soll, ist im Original in eckige gesetzt. Zur Vermeidung von Missverständnissen, die sich aus der standardisierten Nutzung von eckigen Klammern als Anmerkungen des Verfassers ergeben könnten, wurden hier runde Klammern genutzt, um deutlich zu machen, dass es sich um eine Notiz Heideggers handelt. 87 Knapp, Natalie: Herz-Raum-Geschehen im Augenblick. S. 82.

5 Heidegger – die Wiederentdeckung der Seinsfrage?

die Anforderung anheimgibt, hermeneutisch die dem Schein entborgenen Seinsgeheimnisse zu eruieren. Dass es hierbei um einen Wahrheitsbegriff geht, der im weitesten Sinn Prozesse des Anwesens im Lichte der Unverborgenheit deutet, wird mit Blick auf den Vorgänger Heraklits und Parmenidesʼ, Anaximander, augenfällig. Für Michael Theunissen basiert Heideggers Interpretation der Vorsokratiker nämlich auf dem intrinsischen Charakter des Anwesens des Anwesenden – nicht der Anwesenheit –, welcher auf der Auslegung des anaximandrinischen ›Spruches‹ beruht. Wahrheit kongruiere somit stets nicht nur mit Unverborgenheit, sondern mit dieser speziell anwesenden Bestimmung des Seins: Daß Sein Wahrheit meint, wird evident, wenn man es als Anwesen des Anwesenden formuliert. Dies ist für Heidegger der Fall, sofern Anwesen für sich schon bedeutet: Anwesen in die Unverborgenheit. Legt er [Heidegger] doch Wahrheit als Unverborgenheit aus. Das, wohinein Anwesen ist, muß er sogar mit diesem selbst identifizieren.88 Man mag Theunissen vorwerfen, den Fokus zu stark auf das Anwesen zu richten – zieht man indessen Der Spruch des Anaximander zu Rate, erweist sich diese Engführung jedenfalls als zutreffend. Ist es ja Heideggers Rekurs auf die Zeitlichkeit von τὰ ὄντα im Satz Anaximanders (vgl. DK 12 B 1), von dem aus sich die Fassung seines Begriffs des Seienden, welcher dann für Heraklit und Parmenides von Relevanz zu sein scheint, ableitet: »Aber wenn τὰ ὄντα schlechthin gesagt ist, ohne Einschränkung, dann kann nur alles Anwesende gemeint sein.« (GA III, 78, S. 142) Ruft man sich Fragment B 1 nochmals in Erinnerung, so eröffnet sich allerdings eine Divergenz: Anaximander spricht von einer Differenz. Der Differenz der Seienden (Dinge), die gemäß der φύσις aufgehen und vergehen, zu demjenigen, was diese ›Bewegung‹ ermöglicht, nämlich dem ἄπειρον, welches seinem Wesen nach unbegrenzt und unvergänglich zu sein hat.89 Dies alles konföderiert mit der φύσις, welche Heidegger in direkte Nähe zum Erhabenheitsdiskurs der Unverborgenheit und damit der (Un-)Heimlichkeit, wie es auch für Parmenides und Heraklit gilt, rückt. φύσις bedeutet das Von‐sich-aus-Aufgehen; als dieses ist es das jeweils nicht Geheure und (Ge-)Waltige: das Entstehen in das An‐wesen, das An‐wesen selber. […] Das Wort meint nicht einen Bereich des Seienden, auch nicht das Seiende in seiner nominalen Bedeutung, sondern das Seiendsein des Seienden, das Anwesen des Anwesenden als des aufgehend Erscheinenden.90 (GA III, 78, S. 145-146) 88 Theunissen, Michael: Pindar. S. 928. 89 Vgl. zur genaueren Explikation dessen Kapitel 2.1 und 2.2 der vorliegenden Arbeit. 90 Erneute Ersetzung der eckigen Klammer durch runde im Zitat durch den Verfasser.

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Die Frage, aus welchen Gründen das »Von‐sich-aus-Aufgehen« nicht ›geheuer‹ sein sollte, wird hinsichtlich der Position des Menschen greifbarer: Wurde schon in Was ist Metaphysik? und Über den Humanismus die Rolle des Daseins für das Sein relativiert, wenn nicht im Kontrast zu Sein und Zeit subvertiert, so wird nun die φύσις in die Vormachtstellung des Seins eingepasst. Wenn etwas von sich aus aufgeht, dementsprechend ohne das Zutun des Menschen ins Anwesen, welches gleichsam eine Gegenwärtigkeit suggeriert, tritt, widerspricht dies dem ›technischen‹ Bedürfnis des (neuzeitlichen) Menschen, die Kontrolle über dies Erscheinen innezuhaben. Daher wird φύσις das »(Ge-)Waltige«, weil es qua Sein im Anwesen der Unverborgenheit waltet. Betrachtet man die Etymologie des Wortes ›Gewalt‹, ein Verbalabstraktum zu ›walten‹91 , wird deutlich: In Heideggers Auslegung der φύσις geht es durch Nutzung des Gewalt-Begriffs um den Aufweis eines Herrschaftsbereichs, dem der Mensch durchaus zugehört, jedoch nicht alleiniger Machthaber über diesen Seinsbezirk zu sein scheint. Parallel hierzu verhält sich der Gebrauch der substantivierten Negativierung des Wortes ›geheuer‹, das noch im Althochdeutschen als Adjektiv »unhiuri ›unheimlich‹«92 geführt wurde. Die Gewalt des Anwesens der φύσις ist deshalb un‐geheuer, weil sie auf etwas dem Menschen (Un-)Heimliches hindeutet: auf das Sein, das dem Menschen die Eksistenz ermöglicht. Nicht ohne Grund hält Heidegger deshalb für B 1 fest, dass die temporale Komponente (κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν) des Entstehens und Vergehens (γένεσις, φθορά) nicht als Notwendigkeit (im Griechischen: κατὰ τὸ χρεών) zu verstehen ist, sondern im Sinne des »Brauch[s]« (GA III, 78, S. 135). Dass ›Brauch‹ nicht unbedingt in der Bedeutung von ›Sitte‹ oder gar ›ritueller Konvention‹ aufzufassen ist, dürfte angesichts der Heidegger’schen Verursprünglichungstendenz nicht verwundern. Vielmehr wird in Rücksicht auf die ontisch‐ontologische Differenz, beziehungsweise ihrer Verkehrung zugunsten des Anwesens des Anwesenden, auf das seinsbasierte Brauchen, also auf die Notwendigkeit der Seinslichtung des Menschen, rekurriert. Christian Iber resümiert: »Das, was gebraucht, ist das Sein selbst, das das Anwesende in sein Anwesen aushändigt und gehören lässt. Wir sollen unsere Selbstmächtigkeit fahren lassen, uns dem Sein, das uns gebraucht, fügen.«93 Einerseits wird somit Parmenides, der vorgab, Abwesendes als Anwesend zu denken (vgl. DK 28 B 4), zum legitimen Nachfolger Anaximanders. Andererseits könnte dies partiell im Widerspruch zum mehrfach betonten Werkcharakter vorsokratischer Prägung stehen. Wird ja durch die Fügung des Menschen in das Anwesen eine mediale Funktion desselben angezeigt, die konträr zur schaffenden Ins-Werk-Setzen des den91 Vgl. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. S. 354. 92 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. S. 339. 93 Iber, Christian: »Interpretationen zu Vorsokratik.« S. 204.

5 Heidegger – die Wiederentdeckung der Seinsfrage?

kenden oder dichtenden Menschen aufgefasst werden könnte. Die Frage, wer nun ins Werk setzt – Mensch oder Sein –, führt daher in die Tiefen der ontisch‐ontologischen Differenz. Wollte man an dieser Stelle einen Kritikpunkt an Heideggers Vorsokratiker-Auslegung, die unter dem Banner der Seinslichtung/Unverborgenheit firmiert, anbringen, könnte man festhalten: Aus Heideggers Perspektive entwerfen die Vorsokratiker ein Bild des Menschen, der für das Sein nur insofern von Belang ist, als durch sein Werk der Streit von Ent- und Verbergung durchscheint. Doch gilt auch für das in dieser Weise verstandene Tun der Grundsatz des ermöglichenden Seins, das dem Menschen seine Rolle als Werktätiger zubilligt. Unverborgenheit wird dadurch zum singulären Kriterium des Anwesens des Anwesenden. Die Seinsmetaphorik, welche Heidegger im Übrigen als solche schon für Anaximander nicht für zulässig erklären kann (vgl. GA III, 78, S. 156f.), erhält trotz dieser Ablehnung den Rang eines Rückübertragungssystems in diejenige Eigentlichkeit, aus der der Mensch sein Dasein erlangt. φύσις und λόγος tangieren den Menschen dann nur insofern, als durch ihn jenes Vernehmen offengelegt wird, welches reaktiv das Sein selbst bestätigt. Die Suche nach dem Sinn oder der Veranlassung der Seinslichtung langt immer an jenen Worten an, die das Primat des Anwesens des Anwesenden für das Sein, in welchem der Mensch anwest, hervorheben. Damit ›schafft‹ der Mensch mit dieser Suche zwar etwas, dieses ›Etwas‹ unterliegt aber der strengen Regentschaft der Unverborgenheit, die stets dasselbe, nämlich »das Wort der lautlosen Stimme des Seins« (W.M., 53), sagt. Die Macht des menschlichen Seinsdenkens, das mit den Vorsokratikern beginnt, ist hiermit am Ende der Metaphysik bei Heidegger zur Ohnmacht verwandelt. Inwieweit Heideggers problematische Wiederentdeckungstendenz der Seinsfrage in den Gesamtkontext der Arbeit einzupassen ist, soll im an- und abschließenden Punkt prägnant erläutert werden. Dabei steht auch die die Untersuchung durchziehende Korrespondenz zwischen Philologie und Philosophie zur Diskussion – was letztlich die Relevanz einer erneuten literaturphilosophischen Beschäftigung mit der Seinsfrage zu Tage treten lässt.

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6 Philologie der Seinsfrage Seiend ist das Gemenge und Gedränge der Menschen auf einer belebten Straße. Seiend sind wir selbst. Seiend sind die Japaner. Seiend sind Bachsche Fugen. Seiend ist das Straßburger Münster. Seiend sind Hölderlins Hymnen. Seiend sind die Verbrecher. Seiend sind die Irren eines Irrenhauses. (E.M., S. 58)

Wenn Heidegger in jener grotesk anmutenden Kompilation ontischer Gegebenheiten an die scheinbare Wahllosigkeit der Vielheit des Seienden mahnt, geht es ihm vor allem um eine kontrastive Exponierung der Sonderstellung des Seins. Dieses sich in Metaphern offenbarende Sein aber will ent‐deckt werden, da es für den sprachlich determinierten Menschen ist. Heideggers Beschäftigung mit Sein will eingedenk dessen die chronologisch letzte Stufe philosophischer Seinsentdeckungstendenzen darstellen. In ihrer Letztposition fallen im Zuge einer aneignenden Überformung die Ent- und Verdeckungsnarrative der Vorsokratiker, Platons, Nietzsches zusammen. Dies ist die primäre Ursache für die in der vorliegenden Arbeit unternommenen Orientierung auf Heidegger, die einerseits sinnfällige Merkmale seines Denkens einbezog, andererseits ebenso die Problematiken herausstellte, dementsprechend den Blick auf jene Kontradiktionen und Nihilismen richtete, die seine Philosophie der Unverborgenheit in sich trägt. Nicht bedeuten darf dies, dass die Vorsokratiker, Platon oder Nietzsche keine eigene Stimme bezüglich der Seinsfrage hätten. Vielmehr wurde versucht, deren Eigenheiten im Gegenlicht der Heidegger’schen Interpretationen philologisch herauszustellen. Durch dieses Vorgehen konnte ein hermeneutisches Band gewährleistet werden, das heterogen erscheinende Zugänge zur Seinsfrage im Sinne eines ontologisch tragfähigen Denkmoments festhielt.1 1 Dies mag in gewisser Weise nach ›Motivgeschichtsforschung‹ klingen. Doch ist das Seinsthema kein ›Motiv‹, verstanden als archetypische Symbolik oder ähnlichem. Eher dürfte man festhalten: Die Seinsfrage subsummiert alle Motivik, da sie sich nicht auf ein spezifisches Seiendes, also auch nicht auf ein Motiv konzentriert, sondern sich auf sich selbst.

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Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen

Kohäriert Heideggers (Wieder-)Entdeckung des Seinsprimats mit seiner schon in Sein und Zeit aufgeworfenen These von dessen Verdeckung (vgl. S.u.Z., S. 35), darf unter Berücksichtigung des hier präsentierten Argumentationsgangs nun behauptet werden: Ja, die Seinsfrage wird einmalig von den Vorsokratikern entdeckt. Ja, sie wird schon bei Platon wiederentdeckt und gleichsam in ihrer Wiederentdeckung verdeckt. Doch sie bleibt unter der Oberfläche der Metaphysik, die sich nur aus Platon entwickeln konnte, vital und bricht im Zuge der Umwertung des platonischen Idealismus bei Nietzsche wieder hervor. Der Grund für die bei Nietzsche durchscheinende, destruktiv inszenierte Wiederkehr der Seinsfrage ist dann mehr als erstaunlich: Gerade weil Nietzsche bestrebt ist, den Weg der Metaphysik zu verlassen – was ihm nur in mancher Hinsicht zu gelingen scheint2 –, öffnet sich ihm aus der philologischen Erfahrung ein zweiter Zugang zum Fundament des abendländischen Denkens aus dem Geiste des Ästhetischen.3 Dies ist es, was Heidegger mit seinen vereigentlichenden Übersetzungen der vorsokratischen Fragmente, aber auch mit seiner Stilisierung Nietzsches unter dem Banner der Philosophie ebenfalls intendiert. Allerdings kollabiert dieser Versuch partiell gerade darin, dass Heidegger alles unter dem Signum der Seinsfrage zu deuten sucht – was den philologischen Anspruch des Metaphorischen einerseits manifest macht, andererseits diesen insofern verwischt, als nunmehr das Sein nicht für sich steht, sondern für etwas: für die philosophisch gedeutete Wahrheit als Unverborgenheit. Das wahre Sein ist aus dieser Perspektive ein immer Anderes. Für die Vorsokratiker jedoch, die aus der unmittelbaren Seinserfahrung dachten, ist die sich andeutende Andersartigkeit nur aus dem Wesen der metaphorischen Einheit zu begreifen.4 Heidegger sieht dies natürlich. Er versucht aber diese Einheitlichkeit in seine Seinsphilosophie zu integrieren, indem er das Denken der Vorsokratiker differenziell wieder‐holt. Dadurch entsteht zwischen Griechischem und Deutschem eine Fraktur, die den philologischen Zugriff auf Seinstexte, sofern diese im Spiegel der Heidegger’schen Überlegungen gelesen werden sollen, sinnvoll, wenn nicht unabdingbar macht. Auch wird ersichtlich, aus welch unausgesprochenen Gründen Heidegger Platons ideelle Dialektik ablehnen muss: Platon wiederholt ebenfalls vorsokratisches 2 Man halte sich die eindeutig metaphysische Form der Ewigen Wiederkehr, des Willens zur Macht und des Übermenschen vor Augen. 3 Neben der in der Geburt der Tragödie vorgebrachten Unterscheidung von Apollinischem und Dionysischem bleibt Nietzsches Bestimmung der eigenen Ästhetik vage. Ein Grund hierfür könnte in der metaphysischen Konnotation des Ästhetischen liegen. Doch gerade weil Nietzsche keine Präzision seiner Begrifflichkeit vornimmt, sondern emphatisch die Fiktionalisierungstendenzen der metaphysischen Wahrheit literarisch realisiert, bleibt eine philologisch akkurate Analyse des Zarathustra relevant. 4 Dies gilt auch für Parmenidesʼ Abstraktion der Seinsfrage. Kommt er ja nicht umhin, die Merkmale des Seins zu deduzieren, die in der holistischen Metapher der Kugel kulminieren.

6 Philologie der Seinsfrage

Gedankengut differenziell. Allerdings mit dem Unterschied, das Sein an die Wahrheit der Idee rückzukoppeln. Auf analoger Ebene, hingegen unter abweichenden Prämissen, ähnelt Heideggers Vorgehen daher demjenigen Platons. Auch wenn sich im Spiegel der Vorsokratiker zwei heterogene Seinskonzeptionen abzeichnen, ja Platon mit seiner eigenen Lehre im Sophistes zu brechen scheint, bilden die frühgriechischen Denker jenes Fundament, aus dem nach Platon die Metaphysik erwachsen sollte. Es handelt sich um jene metaphysische Grundstruktur des okzidentalen Denkens, das Heidegger in der Nachfolge Nietzsches zu überwinden bestrebt ist, indem er ihr die ›Eigentlichkeit‹ ihres eigenen Anfangs, jenes Anfangs, der mit Parmenides seine totale Ausformung fand, entgegenhält. Dass dies ein fraglos heikles Unternehmen darstellt, kann möglicherweise mit Emanuele Severinos Bemerkung veranschaulicht werden: Dennoch verbirgt sich gerade in den wenigen Versen des Parmenideischen Gedichtes das wesentlichste und meistvergessene Wort unseres gesamten Wissens. Um es aufzufinden, bedarf es nicht jener Erschütterung der philologischen Disziplinen, die die Heideggersche Lektüre erfordert, sondern einer sehr viel tiefgreifenderen und mühsamen Erschütterung, nämlich jener, die zum Verständnis der unbesiegbaren Kraft der Rede führt, die seit Jahrtausenden gewußt und ausgesprochen, aber eben nicht mehr verstanden wurde. Es handelt sich also nicht darum, den Wörtern neue Bedeutungen zu geben (gleichsam als ob mit der Rückführung des Seins zur Anwesenheit etwas Evidenteres als das Sein gegeben wäre), sondern darum, die alten zu überdenken, wiederzuerwecken und sie in diesem Sinne bis hin zu den letzten Quellen zu erneuern.5 Severino nimmt hier eine radikalisierende Warte ein, die parallel zu Heidegger eine Rückkehr zu Parmenides vorschlägt. Doch ist es ihm nicht daran gelegen, die Bewegung von der Philosophie zur Philologie, mit dem Ziel einer philologischen Aneignung des philosophischen ›Materials‹, nachzuvollziehen, sondern an einer der Philosophie inhärenten Anamnesis. Sicherlich ist dies mehr als eine Überlegung wert – vor allem in Anbetracht des seit Platon installierten Nihilismus, dem Heidegger nichts entgegensetzt, ja ihm sogar im Zuge seines Angstbegriffs eine affektive Fundierung verleiht. Allerdings sind es eben Heideggers philosophisch motivierte Philologisierungen der eigentlich griechischen Seinsfrage, die aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Seinssprache zugänglich machen. Es stellt sich rückblickend weiterhin die Frage, inwieweit es in der Untersuchung gewährleistet werden konnte, das thematisch Gemeinsame, die Seinsfrage, die als solche das Gemeinsame an sich ist, in der Vielheit der Ansätze ihrem Wesen gemäß vorstellig zu machen. Könnte ja ein möglicher Einwand lauten, das Gemeinsame sei durch den vierteiligen Arbeitsgang zersplittert. Darauf sei 5 Severino, Emanuele: Vom Wesen des Nihilismus. S. 52.

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geantwortet: Sofern die Frage nach dem Sein immer den unlösbaren Zusammenhang von Denken/Vernehmen und Sprache, der auch die destruktiven und kontradiktorischen Ansätze der Beantwortung in sich fasst, zum Ausgang hat, kehrt eine Auslegung verschiedener, nach demselben fragender Texte hermeneutisch in sich zurück. Wenn also die Vorsokratiker in einer bestimmten Weise das Sein dem Vernehmen nach notwendig in Sprache präsentieren, erfolgt auf Basis dessen das Fragen Platons, Nietzsches und Heideggers. Die Arbeit an der Geschichte der Seinsfrage mag differieren, sie mag sogar bestrebt sein, die Frage als solche dem metaphysischen (Platon) oder erfahrungsgemäßen (Heidegger) Nihilismus anheimzugeben – indem sie die Frage stellt, demnach die Frage wieder‐holt, bringt sie in unmittelbare Anwesenheit, was für die Wissenschaft frag‐los geworden zu sein scheint. Diese Konstellation nachzuzeichnen war Ziel des vorliegenden Textes, der dadurch auch als Extension des disziplinären Kanons zu verstehen ist. Soll nämlich eine weiterführende Perspektive an diese Überlegungen angeschlossen werden, sei nochmals an Nietzsches destruktives Herangehen an die Seinsfrage erinnert: Es mag erstaunen, dass Nietzsche, obgleich er nicht im Sinne Heideggers für einen strengen ›Ontologen‹ gehalten werden sollte, eine für die Untersuchung ausgezeichnete Rolle zugesprochen bekam. Doch dürfte deutlich geworden sein, dass in seiner Wiederholung des frühgriechischen Gedankenguts nicht nur die Frage nach dem Sein negativ wiederkehrt, sondern vielmehr eine bestimmte Art, eine bestimmte Kunst des Denkens, welche emphatisch zur Schau gestellt wird: Die dichterische Leistung, der Kunst jenen durch Platon abgesprochenen Rang einzuräumen, der für die kritische Entbergung von (Seins-)Wissen notwendig erscheint. Auch wenn Nietzsches Versuch, die abendländische Philosophie auf dem Fundament der ersten Fragen unverbraucht zu denken, an seiner problematischen und scheinbar unvermeidbaren Verstrickung in die Metaphysik scheitern mag – sein Vorgehen, das selbst philologisch untersucht werden musste, weist einen Weg, den Heidegger nicht zu gehen imstande war, der aber für eine philosophische Literaturwissenschaft von unschätzbarem Wert ist: Den Weg einer Philologie, die sich nicht im Kleinteiligen verliert, sondern eine Öffnung für das Denken, und sei es für das Seinsdenken, bietet. Wie es Werner Hamacher treffend darlegt: Denn Philologie, so akademisch wohlinstalliert sie auch sein mag, ist keine Disziplin. Sie ist erst recht keine Tätigkeit in den verstaubten Archiven von Fliegenbeinzählern und keine in den neonbeleuchteten Laboratorien von Fliegenbeinzupfern. […] Zum Besonderen wie zum Allgemeinsten findet die Philologie etwas Weiteres hinzuzufügen. Sie ist vor allem, was sie außerdem noch ist, die Erweiterin, Zusetzerin, Hinzufügerin, der nichts Gesagtes oder Geschehenes genügt; sie geht über

6 Philologie der Seinsfrage

alles, was als Aussage oder Text vorliegt, hinaus und geht dahinter zurück, um es in seiner Bewegung aus Herkunft und Zukunft zu zeigen[.]6 Diese Anmerkungen können nicht nur als Passbild für Nietzsches Werk dienen. Mehr noch sind sie eine unmittelbare Legitimation für die Aktualität der Arbeit an der Seinsfrage: Man mag Seinstexte für antiquiert und unzugänglich halten; man mag ihnen tautologische Züge zuschreiben oder ihnen den Bezug zu sozio‐politischen Problemen absprechen. All diese Einwände haben ihr Recht. Und dennoch verkennen sie die Leistungen der auf philosophische Lehrtexte angewandten Philologie, die sich hermeneutisch mit dem grenzhaften Status der Seinsworte befasst und dadurch das Seinsthema fortschreibt. »Philologie ist in dem Maß, in dem sie Fortsetzung und Entfaltung ist, Wiederholung.«7 Diese Repetition ist dann gleichsam »die Wiederholung der Entfernung, die ihr das Wort von jedem früheren und dieses von seinen Vorgängern trennt«8 . Dass die Seinsfrage vor allem durch die auch von Hamacher stark gemachte Dekonstruktion französischer Prägung, die im Übrigen nicht ohne die Bezugnahme auf Heidegger zu denken wäre9 , aus dem Blickfeld der Philologie gerückt ist, liegt möglicherweise an einem Gestus der Verdrängung der Anwesenheit dieser »Entfernung«. Denn die Sprache des Seins suggeriert durch ihre metaphorische Verfasstheit von Anaximander bis Heraklit zu Parmenides, von Platon bis Nietzsche zu Heidegger eine bestimmte Form der Nähe. Es ist die philologische Untersuchung dieser Nähe, welche zu einer Entfernung geworden zu sein scheint, die wieder in den Fokus einer sich um die Anfänge der Philosophie bemühenden Literaturwissenschaft zu rücken ist.

6 7 8 9

Hamacher, Werner: Für – die Philologie. S. 2-5. Hamacher, Werner: Für – die Philologie. S. 77. Hamacher, Werner: Für – die Philologie. S. 79. Vgl. Bernasconi, Robert: »Dekonstruktion. Strategien im Umgang mit der Metaphysik: Derrida, Nancy, Lacoue-Labarthe und Irigaray.« In: Heidegger-Handbuch. S. 454-464.

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7 Literatur, Siglen, Internetquellen

Textausgaben Anaxagoras: Fragmente. In: Die Vorsokratiker II. Zenon, Empedokles, Anaxagoras, Leukipp, Demokrit. Griechisch/Deutsch. Übers. von J. Mansfeld. Stuttgart: Reclam, 1999 (= RUB 7966). S. 170-229. Demokrit: Fragmente. In: Die Vorsokratiker II. Zenon, Empedokles, Anaxagoras, Leukipp, Demokrit. Griechisch/Deutsch. Übers. von J. Mansfeld. Stuttgart: Reclam, 1999 (= RUB 7966). S. 254-345. Empedokles: Fragmente. In: Die Vorsokratiker II. Zenon, Empedokles, Anaxagoras, Leukipp, Demokrit. Griechisch/Deutsch. Übers. von J. Mansfeld. Stuttgart: Reclam, 1999 (= RUB 7966). S. 68-155. Heidegger, Martin: Der Anfang der abendländischen Philosophie. Auslegung des Anaximander und Parmenides. In: Ders.: GA II. Abteilung, Band 35. Freiburger Vorlesung Sommersemester 1932. Hg. von P. Trawny. Frankfurt a.M.: Klostermann, 2012. Heidegger, Martin: Der Spruch des Anaximander. In: Ders.: GA III. Abteilung, Band 78. Manuskript einer nicht vorgetragenen Vorlesung Sommer/Herbst 1942. Hg. von I. Schüßler. Frankfurt a.M.: Klostermann, 2010. Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit. Freiburger Vorlesung Wintersemester 1929/30. Hg. von F.-W. v. Herrmann. Frankfurt a.M.: Klostermann, 2010 (= Klostermann Rote Reihe, 6). Heidegger, Martin: Einführung in die Metaphysik. 6. Auflage. Tübingen: Niemeyer, 1998. Heidegger, Martin: Heraklit. 1. Der Anfang des abendländischen Denkens. 2. Logik. Heraklits Lehre vom Logos. In: Ders.: GA II. Abteilung, Band 55. Freiburger Vorlesungen Sommersemester 1943/44. Hg. von M. S. Frings. 3. Auflage. Frankfurt a.M.: Klostermann, 1994. Heidegger, Martin: Nietzsche. Erster Band. 4. Auflage. Pfullingen: Neske, 1961. Heidegger, Martin: Nietzsche. Zweiter Band. 4. Auflage. Pfullingen: Neske, 1961. Heidegger, Martin: Parmenides. In: Ders.: GA II. Abteilung, Band 54. Freiburger Vorlesung Wintersemester 1942/43. Hg. von M. S. Frings. 2. Auflage. Frankfurt a.M.: Klostermann, 1992.

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Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen

Heidegger, Martin: Platons Lehre von der Wahrheit. 4. Auflage. Frankfurt: Klostermann, 1997. Heidegger, Martin: Platon: Sophistes. In: Ders.: GA II. Abteilung, Band 19. Marburger Vorlesung Wintersemester 1924/25. Hg. von I. Schüßler. Frankfurt a.M.: Klostermann, 1992. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. 19. Auflage. Tübingen: Niemeyer, 2006. Heidegger, Martin: Über den Humanismus. 10. Auflage. Frankfurt: Klostermann, 2000. Heidegger, Martin: Was ist das – die Philosophie? 11. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta, 2003. Heidegger, Martin: Was ist Metaphysik? 16. Auflage. Frankfurt: Klostermann, 2007. Heraklit: Fragmente. In: Die Vorsokratiker I. Milesier, Pythagoreer, Xenophanes, Heraklit, Parmenides. Griechisch/Deutsch. Übers. von J. Mansfeld. Stuttgart: Reclam, 1999 (= RUB 7965) S. 244-283. Kranz, Walther (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Erster Band. Griechisch/Deutsch von H. Diels. Unveränd. Nachdruck der 6. Auflage 1951. Hildesheim/Zürich/New York: Weidmann, 2004. Kranz, Walther (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Zweiter Band. Griechisch/Deutsch von H. Diels. Unveränd. Nachdruck der 6. Auflage 1952. Hildesheim/Zürich/New York: Weidmann, 2014. Kranz, Walther (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Dritter Band. Griechisch/Deutsch von H. Diels. Unveränd. Nachdruck der 6. Auflage 1952. Hildesheim/Zürich/New York: Weidmann, 2005. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. In: Ders.: Kritische Studienausgabe, Band 4. Hg. von G. Colli und M. Montinari. 11. Auflage. München: DTV, 2007; Berlin/New York: de Gruyter, 1988. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. (»la gaya scienza«). In: Ders.: Kritische Studienausgabe, Band 3. Hg. von G. Colli und M. Montinari. München: DTV, 1999; Berlin/New York: de Gruyter, 1988. S. 343-651. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. In: Ders.: Kritische Studienausgabe, Band 1. Hg. von G. Colli und M. Montinari. 6. Auflage. München: DTV, 2003; Berlin/New York: de Gruyter, 1988. S. 9-156. Nietzsche, Friedrich: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. In: Ders.: Kritische Studienausgabe, Band 1. Hg. von G. Colli und M. Montinari. 6. Auflage. München: DTV, 2003; Berlin/New York: de Gruyter, 1988. S. 799-872. Nietzsche, Friedrich: Ecce Homo. Wie man wird, was man ist. In: Ders.: Kritische Studienausgabe, Band 6. Hg. von G. Colli und M. Montinari. 7. Auflage. München: DTV, 2004; Berlin/New York: de Gruyter, 1988. S. 255-374. Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. In: Ders.: Kritische Studienausgabe, Band 6. Hg. von G. Colli und M. Montinari. 7. Auflage. München: DTV, 2004; Berlin/New York: de Gruyter, 1988. S. 55-161.

7 Literatur, Siglen, Internetquellen

Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. In: Ders.: Kritische Studienausgabe, Band 2. Hg. von G. Colli und M. Montinari. 3. Auflage. München: DTV, 2005; Berlin/New York: de Gruyter, 1988. Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1869 – 1874. In: Ders.: Kritische Studienausgabe, Band 7. Hg. von C. Colli und M. Montinari. 2. Auflage. München: DTV, 1988; Berlin/New York: de Gruyter, 1988. Nietzsche, Friedrich: Nachlaß 1884-1885. In: Ders.: Kritische Studienausgabe, Band 11. Hg. von C. Colli und M. Montinari. München: DTV, 1988; Berlin/New York: de Gruyter, 1988. Nietzsche, Friedrich: Nachlaß 1885-1887. In: Ders.: Kritische Studienausgabe, Band 12. Hg. von G. Colli und M. Montinari. München: DTV, 1980; Berlin/New York: de Gruyter, 1977. Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1887-1889. In: Ders.: Kritische Studienausgabe, Band 13. Hg. von G. Colli und M. Montinari. München: DTV, 1999; Berlin/New York: de Gruyter, 1988. Nietzsche, Friedrich: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In: Ders.: Kritische Studienausgabe, Band 1. Hg. von G. Colli und M. Montinari. 6. Auflage. München: DTV, 2003; Berlin/New York: de Gruyter, 1988. S. 873-890. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: Ders.: Kritische Studienausgabe, Band 1. Hg. von G. Colli und M. Montinari. 6. Auflage. München: DTV, 2003; Berlin/New York: de Gruyter, 1988. S. 243-334. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemässe Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher. In: Ders.: Kritische Studienausgabe, Band 1. Hg. von G. Colli und M. Montinari. 6. Auflage. München: DTV, 2003; Berlin/New York: de Gruyter, 1988. S. 335-427. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. In: Ders.: Kritische Studienausgabe, Band 5. Hg. von G. Colli und M. Montinari. 12. Auflage. München: DTV, 2012; Berlin/New York: de Gruyter, 1988. S. 245-412. Parmenides: Über das Sein. Griechisch/Deutsch. Übers. von J. Mansfeld. Hg. von H. v. Steuben. Stuttgart: Reclam, 1995 (= RUB 7739). Platon: Kratylos. In: Ders.: Werke in acht Bänden, Band 3. Phaidon, Symposion (Das Gastmahl), Kratylos. Griechisch/Deutsch. Übers. von F. Schleiermacher. Hg. von G. Eigler. 6. Auflage. Darmstadt: WGB, 2011. S. 395-575; 383 a – 440 e. Platon: Parmenides. In: Ders.: Werke in acht Bänden, Band 5. Phaidros, Parmenides, Epistolai (Briefe). Griechisch/Deutsch. Übers. von F. Schleiermacher. Hg. von G. Eigler. 6. Auflage. Darmstadt: WBG, 2011. S. 195-319; 126 a – 166 c. Platon: Phaidon. In: Ders.: Werke in acht Bänden, Band 3. Phaidon, Symposion (Das Gastmahl), Kratylos. Griechisch/Deutsch. Übers. von F. Schleiermacher. Hg. von G. Eigler. 6. Auflage. Darmstadt: WGB, 2011. S. 1-207; 57 a – 118 a.

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Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen

Platon: Phaidros. In: Ders.: Werke in acht Bänden, Band 5. Phaidros, Parmenides, Epistolai (Briefe). Griechisch/Deutsch. Übers. von F. Schleiermacher. Hg. von G. Eigler. 6. Auflage. Darmstadt: WBG, 2011. S. 1-193; 227 a – 279 c. Platon: Politeia. In: Ders.: Werke in acht Bänden, Band 4. Politeia (Der Staat). Griechisch/Deutsch. Übers. von F. Schleiermacher. Hg. von G. Eigler. 6. Auflage. Darmstadt: WBG, 2011. 327 a – 621 c. Platon: Sophistes. In: Ders.: Werke in acht Bänden, Band 6. Theaitetos, Sophistes (Der Sophist), Politikos (Der Staatsmann). Hg. von G. Eigler. 6. Auflage. Darmstadt: WBG, 2011. S. 219-401; 216 a – 268 d. Thales: Fragmente. In: Die Vorsokratiker I. Milesier, Pythagoreer, Xenophanes, Heraklit, Parmenides. Griechisch/Deutsch. Übers. von. J. Mansfeld. Stuttgart: Reclam, 1999 (= RUB 7965). S. 44-55.

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Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen

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Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen

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Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen

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Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen

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Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen

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7 Literatur, Siglen, Internetquellen

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Sigeln Vorsokratik DK 11 = Thales DK 12 = Anaximander DK 13 = Anaximenes DK 21 = Xenophanes DK 22 = Heraklit DK 28 = Parmenides DK 31 = Empedokles DK 44 = Pythagoras/Pythagoreer DK 59 = Anaxagoras DK 68 = Demokrit

Platon Parm. = Parmenides. Phdr. = Phaidros. Pol. = Politeia. Soph. = Sophistes.

Nietzsche KSA 1 = Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik./(S. 9-156) Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen./(S. 799-872)

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Seinsentdeckungen, Seinsverdeckungen

Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne./(S. 873-890) Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben./(S. 243-334) KSA 2 = Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. KSA 4 = Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. KSA 6 = Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. KSA 7 = Nachgelassene Fragmente 1869-1874. KSA 12 = Nachgelassene Fragmente 1885-1887. KSA 13 = Nachgelassene Fragmente 1887-1889.

Heidegger E.M. = Einführung in die Metaphysik. GA II, 19 = Platon: Sophistes. GA II, 35 = Der Anfang der abendländischen Philosophie. Auslegung des Anaximander und Parmenides. GA II, 54 = Parmenides. GA II, 55 = Heraklit. 1. Der Anfang des abendländischen Denkens. 2. Logik. Heraklits Lehre vom Logos. GA III, 78 = Der Spruch des Anaximander. G.M. = Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit. N 1 = Nietzsche. Erster Band. N 2 = Nietzsche. Zweiter Band. P.L.W. = Platons Lehre von der Wahrheit. S.u.Z. = Sein und Zeit. Ü.H. = Über den Humanismus. W.d.P. = Was ist das – die Philosophie? W.M. = Was ist Metaphysik?

Aristoteles Met. = Metaphysik, Bücher I–VI. Metaphysik, Bücher VII–XIV.

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Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart., Klebebindung 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Sascha Pöhlmann

Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3

Michael Basseler

An Organon of Life Knowledge Genres and Functions of the Short Story in North America February 2019, 276 p., pb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4642-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4642-3

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Literaturwissenschaft Rebecca Haar

Simulation und virtuelle Welten Theorie, Technik und mediale Darstellung von Virtualität in der Postmoderne Februar 2019, 388 S., kart., Klebebindung 44,99 € (DE), 978-3-8376-4555-2 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4555-6

Laura Bieger

Belonging and Narrative A Theory of the American Novel 2018, 182 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4600-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4600-3

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9. Jahrgang, 2018, Heft 2: Interkulturelle Mediävistik Januar 2019, 240 S., kart., Klebebindung 12,80 € (DE), 978-3-8376-4458-6 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4458-0

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