Sein und Erkennen: Grundzüge einer zeitgemäßen Metaphysik. 2. Buch. Wirklichkeit als Sein und Seele [1 ed.] 9783428581054, 9783428181056

In »Sein und Erkennen 2« vollendet sich eine neue Metaphysik, indem der Seele (Psyche, Anima) völlig andere Züge als dem

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Sein und Erkennen: Grundzüge einer zeitgemäßen Metaphysik. 2. Buch. Wirklichkeit als Sein und Seele [1 ed.]
 9783428581054, 9783428181056

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Philosophische Schriften Band 101

Sein und Erkennen Grundzüge einer zeitgemäßen Metaphysik 2. Buch: Wirklichkeit als Sein und Seele Von Franz Förschner

Duncker & Humblot · Berlin

FRANZ FÖRSCHNER

Sein und Erkennen

Philosophische Schriften

Band 101

Sein und Erkennen Grundzüge einer zeitgemäßen Metaphysik 2. Buch: Wirklichkeit als Sein und Seele

Von

Franz Förschner

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 978-3-428-18105-6 (Print) ISBN 978-3-428-58105-4 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Es ist auch ein Vorwort im Nachhinein, denn es hätte wohl eher in „Sein und Erkennen. 1. Buch.“ erscheinen sollen. Mit „Sein und Erkennen. 2. Buch.“ beschließt der Autor einen metaphysischen Entwurf als Alternative zur neuscholastischen Philosophie, an der er seinen Denkweg begonnen hat. Diese Tradition hat die „anthropozentrische Wende“ der Neuzeit nicht mitgemacht und ist deshalb seit der großartigen Schöpfung der mittelalterlichen Philosophie keinen Schritt weitergekommen. Erst in dieser Einstellung öffnen sich der altehrwürdigen und unsterblichen Metaphysik neue Möglichkeiten zu dem dringend nötigen Fortschritt. In der „Metaphysik und der transzendentalen Reduktion“ (ersch. bei ­ uncker & Humblot, 2015) kommt es zu einem Vorschlag, wie dieser NeuD anfang aussehen könnte. Der naive Realismus der alten Metaphysik bedarf einer spekulativen Begründung, denn letztlich verharrt er in einem Zirkelschluss: Der Gott, den es zu beweisen gilt, muss im Voraus die logisch-ontologische Einheit von Sein und Erkennen zusichern. Es ist gerade Edmund Husserl, welcher dieser Metaphysik die Berechtigung des Daseins abgesprochen hat, der ihr einen Denkweg vorgezeichnet hat, der nun doch zu einer erkenntnistheoretischen Begründung des Realismus werden kann. Husserls Epoche muss nicht im geschlossenen Transzendentalismus als Endstation enden. Richtig vollzogen, Husserl hat Wichtiges übersehen, öffnet sich gerade aus ihr das Tor zum metaphysischem Realismus. * In der Fortentwicklung der Ousia-Psyche des Aristoteles kam es zu jenem Bewusstsbegriff, der den Rationalismus Descartes und den Transzendentalismus Kants noch geprägt hat. Schopenhauer hat ihn heftig abgelehnt, die Existenzphilosophie lässt sich als Reaktion gegen die Essenzphilosophie erklären: Die Vernunft als Wesensmerkmal, ja sogar als substantielle Wesensform des Menschen. Die Existentia (Dasein) ist in dieser Tradition völlig unterbelichtet geblieben. Die Existentia hat ihre ureigenen Züge, die sich nicht einfach als die Verwirklichung der Essentia erklären lassen. Vernunft und Freiheit lassen sich besser aus ihr begründen. Damit entsteht ein neuer Seinsbegriff, wie er in „Sein und Erkennen 1“ aufgezeigt ist (ersch. bei Duncker & Humblot, 2016).

6 Vorwort

* In „Sein und Erkennen 2“ vollendet sich diese neue Metaphysik, indem der Seele (Psyche, Anima) völlig andere Züge als dem Sein zugesprochen werden. Für die Metaphysik des Aristoteles und des Mittelalters ist die Psyche die Ousia, bzw. die Anima die Essentia und diese schließlich allein schon die Substantia. Es ist gerade dieser Einheitsblock, welcher die Möglichkeit eines Fortschritts in dieser Philosophie abblockt. Phänomene wie Kultur und Geschichte, Religionen und Offenbarungen, religiöse Mystik finden an der Ousia-Essentia keine Ansatzstelle, denn sie können nur an der Existentia ihre Eingründung und ihre Deutungsmöglichkeiten finden.

Inhaltsverzeichnis 1. Hauptteil

Metaphysis und Seele 

11

1. Kapitel

Schema einer Abgrenzung; Wirklichkeit als Metaphysis und Seele 

13

§ 1

Zum Begriff der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Skizze zu Seele, Geist, Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vom Ur-Grund und vom Ur-Sprung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sein und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Natur und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 13 14 16 18

§ 2

Wirklichkeit als Weg nach innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Wirkliche und das Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Materie und Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Betrachtungsweisen des Wirklichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20 20 21 22

§ 3

Sein und Möglichkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Sein und das Nichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das drei-feldige Sein und seine Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Wesen und die Möglichkeit; die Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Dasein und die Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Erkennen und die Möglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22 22 23 25 26 27

§ 4

Wirklichkeit und Möglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Erfahrung des Seelischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Kennzeichen des Seelischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Wortwahl Metaphysis und Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28 28 31 34

8 Inhaltsverzeichnis 2. Kapitel

Seele als Relation zwischen Geist und Materie 

36

§ 5

Wirklichkeit im Begriff als Metaphysis und Seele; zwei grundsätzliche Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

§ 6

Geist und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

§ 7

Metaphysis und Seele; Urgrund und Urbindung der Wirklichkeit . . . . . . . . 40 2. Hauptteil



Die Seele im Bereich der Natur; die Wildnis 

43

1. Kapitel

Seele und Organismus 

45

§ 8

Materie; Mythos und Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

§ 9

Relatio universalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Seele und die metaphysischen Ur-Teile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Seele und Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Seele als „innere“ und „äußere“ Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47 47 48 49

§ 10 Materie und Kreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Materie und Boden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Leben und der Kreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Seele und Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50 50 51 52

§ 11 Kultur und Wildnis; zur Abgrenzung der Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2. Kapitel

Die Kennzeichen des Seelischen im Bereich der Materie 

55

§ 12 Das Chaos und die Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 § 13 Sein und Seele; das Geheimnis des Werdens und das Mahl . . . . . . . . . . . . 55 § 14 Das Mahl als Sinn und Sinnbild des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 § 15 Der Stoffwechsel, das Wachstum und die Fortpflanzung . . . . . . . . . . . . . . . 59

Inhaltsverzeichnis9 3. Kapitel

Die Züchtung als Brücke zwischen Wildnis und Kultur 

61

§ 16 Die Seele und die geschlechtliche Anlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 § 17 Die Seele und die Geschlechtskraft; die Geschlechtsreife und das Alter  . 63 § 18 Das Geheimnis der Züchtung als Aufschluss zu Seele und Sein . . . . . . . . . 64 3. Hauptteil

Die Seele im Bereich der Gesellschaft; die Kultur 



Kultur als Züchtung 

69

1. Kapitel 71

§ 19 Ackerbau, Nomadentum und Jagd; Züchtung als Versorgung und ­Verpflegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 § 20 Boden, Heimat, Volk; Züchtung als Verwandtschaft und Rasse . . . . . . . . . 72 § 21 Geist, Seele, Leib; Züchtung als Erziehung zur Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2. Kapitel

Kultur als Pflege der Seele 

78

§ 22 Das Ideal der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 § 23 Züchtung und Versorgung; die Mitte als Pflege der Seele . . . . . . . . . . . . . . 80 § 24 Das seelische Gleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 § 25 Kultur als Pfeil und Pfeiler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 § 26 Die Leibwache des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 § 27 Der Hüter der Brücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3. Kapitel

Die Pflege der Seele. Ordnung oder Weg? 

89

§ 28 Eine Rückbesinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 § 29 Moral der Wildnis und Ethik des Schicksals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 § 30 Das Spiel der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 § 31 Anima est quoddammodo omnia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 § 32 Das weltliche Schauspiel der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

10 Inhaltsverzeichnis 4. Kapitel

Kultur als Gleichmaß der Seele 

98

§ 33 Spiel und Arbeit, Moral und Lust; das Viergespann der Seele . . . . . . . . . . 98 § 34 Der Frieden als Boden der Kultur; die letzte Brücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 § 35 Krieg und Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 § 36 Arbeit, der Gegenstandsbezug zwischen Bewusstsein und Gesellschaft . . . 105 5. Kapitel

Kultur als Reifung der Seele 

108

§ 37 Das Maß des Fortschritts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 § 38 Das Sein und das Schöne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 § 39 Kultur und Reifung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 § 40 Reifung als Seelenstärke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 § 41 Form und Materie im Bereich der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 6. Kapitel

Urformen seelischer Offenbarung 

118

§ 42 Die Seele und das Selbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 § 43 Der Schlüssel zur Kultur und das Schloss der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 § 44 Der Mythos als Form der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 § 45 Der Mythos als Wahrheit der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 § 46 Die Seele als Religio; Urbindung und Regelkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 § 47 Mythos und Religio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 7. Kapitel

Die Bindungen der Seele 

129

§ 48 Das metaphysische Selbe und der Gott der Seele; die drei Urbindungen  . 129 § 49 Die Gottesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 § 50 Die Seele und ihre Verwandten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 § 51 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

1. Hauptteil

Metaphysis und Seele

1. Kapitel

Schema einer Abgrenzung; Wirklichkeit als Metaphysis und Seele § 1  Zum Begriff der Wirklichkeit 1. Skizze zu Seele, Geist, Materie Die Vorstellung, dass die Seele eine Art Principium des Lebens ist, vermag selbst in unseren Tagen noch die Psychologie, die Biologie und die Philosophie zu einer Tagung zusammen zu führen. Für die Metaphysik bleibt aber diese Vorstellung geradezu verwachsen mit der Seinsanlage der Substantialitas. Die Gründe sind aufgezeigt worden. Substantialitas wird für unser ontologisches Begreifen der letzte Grund des Eindeutigen, wenngleich wir gesehen haben, dass Substantia bereits eine aus Zonen gefugte Wirklichkeit beansprucht. Es enthüllen sich neue Unterscheidungen, wenn wir abgehen von der Metaphysik bisher. Seele wird etwas durch und durch Zweideutiges, was in dieser Hinsicht die Substantia gerade ausschließt. Gewiss deutet auch die Substantia auf zwei Ursprünge hin, sie bedeutet indes das in sich Geballte und möchte so ihre Ursprünge zurücklassen. Bei der Vorstellung Substantia denken wir nicht an das Werden, sondern an den Bestand in sich. Mit diesem tragenden Grund haben wir die Seele verselbigt, weil wir Leben nur als solchen verstehen konnten und Leben und Seele am Grunde des Begriffes zusammenlaufen. Solange zwischen Seele und Geist nicht näherhin unterschieden wird, solange der Geist nur die Denkkraft der Seele ist, hält sich diese Einteilung im Richtigen. Die genauere Begründung von Geist und Seele zeigt aber, nach unserer Auffassung wenigstens, diese Ansicht als eine Verwechslung. Stellen wir das Ergebnis jetzt einmal klar: Seele ist nicht principium substantialitatis; Seele ist dennoch principium vitae. Seele leistet ihre Aufgabe als Beziehung, und deshalb bleibt Seele Zweideutigkeit schlichthin. Dann ergibt sich für uns der Grund der Substantia zweimal, nämlich als Materie und als Geist. Letztere Einheit bleibt eine Spekulation; ihre Gefahren sind bekannt; heute ist sie verachtet und geschmäht. Aber ohne Spekulation kommt man nirgendwo weiter. Leben ist die natürliche Offenbarung des Denkens; und das Denken muss eben so notwendig seinen Denkweg gehen wie das Leben seinen Weg der Entwicklung gehen muss. Die Spekulation wird nur dann zu

14

1. Hauptteil, 1. Kap.: Schema einer Abgrenzung

einem Irrweg, wenn sie in die Einseitigkeit des Denkens führt. Man sieht heute diese Einseitigkeit da gegeben, wo man sich auf metaphysische Vernunftgründe zurückzieht. Wo man riesige und sinnlose Teilchenbeschleuniger baut, soll diese Einseitigkeit ausgeschlossen sein, da man ja mit dem naturwissenschaftlichen Versuch arbeitet. Einseitigkeit muss indes anders gesehen werden: In dieser Hinsicht ist die Wissenschaft heute mehr Spekulation als die Philosophie Platons. Wenn Spekulation den Sinn des Lebens trifft, kann sie gar nicht abwegig werden. Dieser Sinn ist die Vollwirklichkeit des Geistes, und daran gemessen ist moderne Wissenschaft das Geistloseste. Der geleugnete Sinn geistert dann überall als Netz von Teilzwecken umher. Geist, Materie, Seele. Aufgabe der Metaphysik ist es, das Verhältnis zu bedenken. Es liegt also daran, dass jenes Meta-Physische als Einheit von Geist und Seele nur in einer Spekulation gegeben ist, wenn die Inhalte Geist und Seele je verschieden aufgefasst werden können. Wir halten uns aber an eine Richtlinie: Wenn die Seele nach allgemeinster Bestimmung als Medium sich zwischen Geist und Leib erstellt, so erfüllt sie danach unsere Spekulation. Sie wird zum Ursprung allen Lebens, jedoch als Beziehung nicht als ureigentlicher Seinsträger und Lebensgrund. Letztlich hält das Geistige als in sich bestehende Wirklichkeit stand. Andrerseits bietet sich uns die Materia als ein gewisser Selbstand an. Was uns aber in die Beobachtung fällt, zeigt doch, dass alles Leben aus dem Geistigen gehalten sein muss. Materie gewinnt aus dem Geist über die Vermittlung der Seele eine abgeleitete Selbständigkeit. Dagegen kann Seele als Medium überhaupt keine Selbständigkeit beanspruchen, sie kann es in keiner Hinsicht der Ontologie. Wesensgestalt, Dasein, Erkennen; Möglichkeit und Wirklichkeit; Substantia und Accidens; dies alles sind ursprünglich metaphysische Gründungen, die dem Sein vorab zukommen. Es versteht sich, dass wir in Bezug auf die Materie dennoch eine seelische Wirklichkeit annehmen müssen, die ein anderes Verhältnis zurzeit innehat als das Stoffliche. Dies lehrt uns die Tatsache, dass sich Leben immer nur als Entwicklung zeigt. Stoffliches Leben bedarf der allseitigen Vermittlung Seele. Geist an sich müsste also ohne Seele auskommen. 2. Vom Ur-Grund und vom Ur-Sprung Der so getroffenen Anordnung entnehmen wir eine Unterscheidung, die bisher noch ein einiger Grund war. Principium lässt sich als Ursache und Ursprung übersetzen. Die deutschen Wörter enthalten jedoch eine sehr feine Verschiedenheit, die noch gar nicht verwendet worden ist. Der Ursprung setzt immer noch eine Ursache voraus, welcher er entspringt. Auch der Origo und die Causa versuchen ein wenig, dieses Verhältnis wiederzugeben.



§ 1  Zum Begriff der Wirklichkeit15

Danach dürfen wir die Seele nur mit dem Ur-Sprung, den Geist nur mit der Ur-Sache in Verbindung bringen. Wir nennen den Geist besser Ur-Grund. Der Ur-Sprung verlangt aus seiner Bestimmung das andere Ufer, die Materia als zweiten Ur-Grund. Seele aber bekundet sich als die Übersetzung des Geistes in die Materie. Seele hat nur die Gleichung zum Inhalt, welche das Verhältnis angibt. Dies erklärt, warum Seele und Geist ineins gefasst worden sind. Aber Intelligentia, wie das Mittelalter den Geist nannte, ist dann weder eine Potentia der Seele noch ist es der Geist. Sie bedeutet nur ein Drittel des Geistes. Mit dem Ausdrucksvermögen von Ursprung und Urgrund können wir jetzt Metaphysis und Psyche auseinanderhalten. Geist und Materie ergeben die Metaphysis. Wirklichkeit, so wie wir sie erfahren, besteht aber aus Metaphysis und Psyche. Ohne Zweifel müssen wir die Seele im Verständnis der Metaphysik bisher als Seinsgrund ansetzen. Nach unserer Bestimmung hält sie aber dem nicht mehr stand. Sie gehört zur Wirklichkeit als abgeleitetes Sein. Mit der Unterscheidung nach Urgrund und Ursprung schlingt sich aber eine weitere Betrachtungsweise in den Begriff der Wirklichkeit, die bisher nach den vier Ursachen gesehen worden ist. Diese lassen sich nach wie vor der Metaphysik zuordnen. Aber auch die Unterscheidung nach Substantia und Accidentia, nach Actus und Potentia bleiben im Raum der Metaphysik stehen. Somit erhebt sich die Frage, ob denn Seele, so wie sie jetzt gefasst wird, den Namen Sein oder besser Seiendes überhaupt noch verdient. Was sich uns als Seele äußert, ist Entwicklung. Das sich nicht Entwickelnde ist das Leblose oder das Unbeseelte. Was wir dann Pflanzen-, Tierund Geistseele nennen, sind Stufen einer herablassenden Einwohnung des Geistigen in der Materie. Das Beseelte begründet sich deshalb immer als das Begeistete. Wenn wir nun das Beseelte oder besser die Beseelung des Beseelten in besonderer Weise mit der Entwicklung zusammengehen lassen, so scheint es, dass wir Platons Lehre von der Seele auf den Kopf gestellt hätten. Wird die Seele dann nicht zum Nichtsein, weil sie mit dem Wandel und Werden vermischt ist? Wir dürfen indes die Anima nicht mit der Existentia vermengen, denn letztere gehört zur Metaphysis. Die Existentia muss Entwicklung tragen, die Essentia darf es nicht. Damit ergibt sich also die Existentia als der metaphysische Ansatz für die Anima. Die Anima hat also viel mehr etwas mit der Existentia zu tun als mit der allgemeinen Essentia. Daraus entsteht ein beträchtlicher Unterschied zur anderen Metaphysik. Andrerseits müssen wir uns davor hüten, die Existentia einfach mit der Materia gleichzusetzen. Selbst bei der Pflanze enthält die Existentia mehr als die bloße Materie, denn die Existentia wird letztlich principium individuationis. Eine multiplicatio essentiae kann es nicht geben.

16

1. Hauptteil, 1. Kap.: Schema einer Abgrenzung

Wenn die Seele „gewissermaßen alles“ sein soll, so tut sie dies sicherlich nur als allseitige Beziehung, welche das principium vitae als Ableitung des Geistigen in sich trägt. Sie vermittelt zwischen Wesen und Dasein als Pflanzenseele, zwischen Erkennen, Dasein, Wesen als Tierseele, zwischen Geist und Materie als Geistseele. Aber auch das pflanzliche Leben kann nur als Zuordnung zu einer geistigen Wirklichkeit verstanden werden. Die Seelenteile, so wie sie die Metaphysik verstanden hat, erklären sich daher als Stufen einer Herablassung und zunehmenden Einwohnung des Geistes in der Materie. Menschsein bedeutet also Fleischwerdung des Geistes. Leben steht für uns als eine Tatsache da, die nicht weniger unmittelbar gegeben ist als das bloß Stoffliche. Nur dass Leben mit dem unmittelbaren Unterschied von Stoff und Leben gegeben ist. Anders gäbe es nämlich nur Leben. Leben versteht sich als sinnenhaft wahrnehmbare Wirklichkeit, Leben ist das Verwachsene schlechthin. Anders verhält es sich mit dem Geist. Dieser erschließt sich nur nach innen als Schluss des Verstandes; und aus dieser Tatsache wurde der Geist mit dem Verstand oder dem Vermögen des Schlussfolgerns gleichgesetzt. Aber schon die Materie hat ihre Grundgesetze, die sich nur über den Schluss mitteilen, und diese Tatsache trägt nicht dazu bei, uns die Wirklichkeit des Geistes an sich deutlicher und überzeugender vorzustellen. Geist, das allein sich selber Erschließende, enthüllt sich nun doch an der Materie, und der Vorgang geschieht als Umkehr(ung) des Geistes: Zuerst erscheint die Pflanze in der Entwicklung. Wirklichkeit ist zweigründig, aber dreigesetzlich. Metaphysik erhält daran ihre Aufgabe, das jeweils Eigengründige und Eigengesetzliche herauszustellen. Dabei zeigt sich aber mehr denn je, dass der Aufschluss nur gelingt, indem man den Zweckverband als Leitfaden annimmt. Der Zweck erweist sich immer wieder als ein Knoten in allen Ebenen und Feldern des Wirklichen. Er bildet einen Netzzusammenhang, der uns führt, dem wir aber auch gar nicht entkommen können. Es erweist sich also der Zweck als der Anfang und das Ende der Betrachtung des Wirklichen; der Zweck ist das zuerst und das zuletzt Bestehende; der Zweck allein befriedet das Denken und das Wollen. 3. Sein und Zweck Wir machen die Feststellung, dass unser Begriff Sein zu einer Abstraktion wird, die unserem Begreifen zu entgleiten droht. Könnte es denn nicht sein, dass geistiges Sein und stoffliches Sein trotz ihrer Abstände eher als Sein verstehbar sind als die Seele? Seele als eine weitere Verfassung des Seins; eine neue Relation, die vom Zweck-Selben herabgelassen ist, streng genommen aber nicht zum Sein gezählt werden darf. Denn Sein zeigt sich im Begriff immer als gegliedert, als urgeteilt und gefugt. Seele aber erschließt sich



§ 1  Zum Begriff der Wirklichkeit17

als die Verneinung dessen. In der Aussetzung ur-teilt sich das Sein, in der Seele erhält es eine Rückbindung, welche über das Sein hinausgeht. Sein ist Substantia, Seele nicht. Da wir den Geist an sich nicht als beseelt denken wollen, lassen sich Zweck und Seele auch nicht in einer endgültigen Zuordnung verstehen. Seele ist nicht letzte metaphysische Zweckfindung. Geist erfüllt sich in sich, Leben bedeutet immer etwas Stoffliches. Es ist vom Geist abgeleitet und dazu bedarf es der Seele. Sagen wir es einmal so: Seele ist eine Fassung der raumzeitlichen Wirklichkeit. Wo immer Geist mit Materie in Wechselwirkung tritt, benötigt er Seelisches als Vermittlung. Es ergibt sich so das ungewohnte Verhältnis, dass Seele nie in sich selber gesehen werden kann; sie weist zum Geist oder zum Leib. Seele ist keine zweckmäßige Einheit in sich, die Materie aber kann zunächst einmal als solche betrachtet werden. Unsere Wirklichkeit bedarf der Seele, um leben zu können. Etwas von der allseitigen Bindungsfähigkeit der Seele erfahren wir indes aus der Tatsache, dass die Biologen wie auch die Theologen von der Seele reden. Biologisch vermittelt die Seele zwischen Wesen und Dasein im Individuum. Der Theologe stellt sich die Seele als ein Gefäß vor, das in der einen Richtung die Gnade erhält, in der anderen Richtung als dieses selbe Gefäß durch das sittliche Verhalten des Trägers geformt, gereinigt oder unrein wird. Gefäß und Schicksal wird dabei die Seele, Zielstrebigkeit in der Entwicklung (Entelechie) ist sie in der anderen Betrachtung. Gibt es hier noch eine Zusammenschau, wenn die Dimensionen schon den Bereich der Metaphysik sprengen? Offensichtlich hat die allseitige Bindungsfähigkeit der Seele bewirkt, dass man sie daraufhin zu einem Allgrund in der Wirklichkeit gesetzt hat; und wie man auch sieht, hält die Lösung einigermaßen stand. Seele steht indes mehr mit der Existentia als mit der Essentia in Wechselwirkung, und aus diesem Zusammenhang entspringt jenes Daseinsmäßige, das wir Kultur und Geschichte nennen. Also wird jener Bereich nicht genügend in den Begriff gebracht, wenn die Seele mit der Essentia zusammenwächst. Also nimmt die Psyche die Metaphysis für sich in Anspruch, und die Existentia gibt alle jene Seinsbestände an das Wesen oder die Essentia ab, die ihr ursprünglich zukommen. Rein metaphysisch gesehen, schwindet die Existentia als ureigentlicher Tragegrund für das Gemüt und den Willen dahin. Damit ist freilich schon die Voraussetzung verkürzt, worauf sich das Kulturhafte dann abspielen soll. Alles was in diesem Spielraum von Freiheit, Entscheidung und Schicksal zu Hause ist, findet aus dem Wesen keinen Gestalt- oder gar Ereignisgrund. Nicht die Essentia, sondern die Existentia ist so veranlagt, dass sie mit der Seele geradezu verwachsen kann. Sie bezieht in jeweils eigenartiger Weise unmittelbar vom Wesen und unmittelbar vom Erkennen; für die Seele genügt dann eine unmittelbare Verbindung zur Existen-

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1. Hauptteil, 1. Kap.: Schema einer Abgrenzung

tia. Es könnte durchaus sein, dass eine Wesensbindung, wie sie der Existentia zukommt, für den Zweckverband von Wirklichkeit überhaupt wie für das Individuum insbesondere in Bezug auf die Seele ein Hindernis wäre. Dass nämlich ihre allseitige Bindungsfähigkeit aus einer inneren Formlosigkeit heraus verursacht wird, darf wohl angenommen werden. Andrerseits dürfte zwischen der Seele und dem Erkennen aber auch keine unmittelbare Verbindung bestehen, da Erkennen nur als allgemeine Zone im Wirklichen gedacht werden kann. Alles deutet deshalb auf das Dasein hin: Dort gründet die Seele in der Wirklichkeit; nur dort kommt sie ihrem eigentlichen Zweck nach, nämlich die Verbindung von Geist und Leib. Wenn wir uns die Zone des Artwesens, ein anderes Wesen kann es gar nicht geben, als eine allgemeine Form vorstellen müssen, die sich als solche gar nicht vermehren darf, so gibt es für uns auch nicht die zweifache Betrachtungsweise, wie Thomas in „De ente et de essentia“ sie lehrt. Dem Wesen kommt in keiner Hinsicht Stofflichkeit zu, und es kommt ihm auch in keiner Hinsicht Vereinzelung zu. Es bleibt deshalb gleichgültig, ob ich das Wesen als allgemeines betrachte oder ob ich es so verstehe, wie es im bestimmten Individuum anwest. Von daher findet die Seele keinen Ansatz am Wesen. Vom Zweck her gesehen, kommt aber die Seele ihrem Ziel nicht nahe genug: Die Aufnahme der Materia in die Existentia. Es ergibt sich für die Seele die Zweckbindung von Geist und Materie als ihre allgemeinste Bestimmung. Von daher gesehen, bietet sich wohl auch allein die Möglichkeit, die beiden so verschiedenen Anwendungen der Seele zu vereinen. Denn was haben diese beiden Richtungen noch gemeinsam: Einerseits die besonders innige Durchdringung des Daseins vom Wesen her, andrerseits die Ausführung dieser gesamten Natur in eine Fassung von Wirklichkeit, die wir Kultur nennen. Hier allein finden wir deshalb die Gründe zur Unterscheidung von Natur und Kultur, zu jener Unterscheidung, die das Begriffsvermögen der Metaphysik schon immer überfordert hat. Es bleibt für Natur und Kultur nur eines, was sie gemeinsam haben: Die Verbindung von Geist und Materie. 4. Natur und Kultur Bekanntlich widerfährt der von Aristoteles begründeten und von der Scholastik fortgeführten Metaphysik der Vorwurf, sie habe nicht das nötige begriffliche Rüstzeug, um die Sphäre von Kultur und Geschichte als einen Seinszug des Wirklichen zu bewältigen. Ein solcher Vorwurf bekundet indes schon immer die eigene Halbblindheit. Denn Gegenstand der Metaphysik ist die Natur des Seins, und dieser Begriff ist schwer genug. Natur meint nichts anderes als Wildnis. Wo aber hört Wildnis nach unten zu den Felsengründen der Materie hin, nach oben zu den Züchtungen der Artwesen hin auf? Hier



§ 1  Zum Begriff der Wirklichkeit19

gibt es nur ein Wahrzeichen: das Artwesen. Das Lebewesen bezeichnet für uns den Bereich der Wildnis schlichthin. Welche Schwierigkeiten beim Erkenntnisstand der Naturwissenschaft heute dabei auftreten, soll nicht übersehen werden. Man sollte sich aber von scheinbar gleitenden Übergängen nicht ratlos machen lassen. Die Unstimmigkeit ergibt sich überhaupt nicht von den Einwänden der Naturwissenschaft her. Auch die sogenannte Entwicklung der Arten bedeutet überhaupt keine Zerrüttung einer Metaphysik des Wesens im alten Verständnis. Ein völlig neuer Gesichtspunkt tritt jedoch an der Züchtung von Haustieren und Hauspflanzen auf, weil die äußeren Unterschiede bei den Hunderassen weit größer sind als die Artunterschiede in der Wildnis. Kultur greift hier so tief in die Gründe der Natur ein, dass die Unterschiede scheinbar aufgegeben werden müssen. Was hier zu Tage tritt, ist ein neuer Zusammenhang zwischen Wesen und Seele, den die alte Metaphysik gerade deshalb nicht erklären kann, weil sie die Ousia-Substantia zur Anima gemacht hat. Dasein hat aus sich heraus nicht die Möglichkeit, das Wesen zu ändern; die Wildnis bezeugt es trotz Artentwicklung. Wir haben es vom Wesen zum Dasein hin mit einer teilnahmslosen Mitteilung, vom Dasein zum Wesen hin mit einer mitteilungslosen Teilnahme zu tun. Dieses Verhältnis bedarf im stofflichen Bereich des Mittels, das wir Seele nennen, näherhin Vegetativa und Sensitiva. Es zeigt sich nun gerade im Bereich der Züchtung, dass zwischen der „Geistseele“, von der die Theologen reden, und der Tier- und Pflanzenseele, welche auch die Biologen noch annehmen, ein innerster Zusammenhang noch besteht. Über die Seele besteht nun offenbar die Möglichkeit, dass Dasein in das Wesen eingreift. Damit ist aber die Dimension der Natur endgültig überschritten, und wir befinden uns im Bereich der Kultur. Vernünftiges Dasein hat über die Seele die Möglichkeit, selbst das Wesen zu verändern; es hat die Möglichkeit, nicht nur zu züchten, sondern auch Arten abzuwandeln. Für die Kultur erhalten wir jetzt eine allgemeine Bestimmung: Sie ist die Gestaltungsmöglichkeit des vernünftigen Daseins, die ihm über die Seele und im Bereich des Seelischen zukommt. Kultur erklärt sich immer als etwas Seelisches, das im Daseinsmäßigen seiner metaphysischen Voraussetzung bedarf. Somit finden wir die Begründung dafür, dass Kultur nur da Gegenstand der Metaphysik sein kann, wo es um ihre Gründungszone in der Existentia geht. Wir stehen hier im Bereich von Vernunft, Freiheit und Sittlichkeit, die sich also nicht aus dem Wesen, sondern aus dem Dasein ergeben.

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1. Hauptteil, 1. Kap.: Schema einer Abgrenzung

§ 2  Wirklichkeit als Weg nach innen 1. Das Wirkliche und das Erkennen Wirklichkeit in Raum und Zeit enthüllt sich dem Begriff als zweckmäßiges Gefüge von Metaphysis und Psyche. Da sich die Metaphysis als Wesen, Dasein, Erkennen zum Erkennen begibt, bedeutet dies einmal, dass Ganzes im Ur-Teil, jedoch nicht als Ur-Teil gefasst ist. Erkennen bildet die allgemeine Vermittlung; und das Ur-Teil leistet diesen Zweck nur, indem es sich selber in der Reflexion noch als UrTeil, als Selbst-Erkennen einholt. Dieses Selbst-Erkennen ist nicht das Selbstbewusstsein, welches immer Dasein als Gemüt als Träger enthält. An der Selbstvorstellung von Erkennen wird allein schon die ganze Sinnlosigkeit der Transzendentalphilosophie offenbar. Erst im Selbst-Erkennen (besser im Selber-Erkennen) holt Erkennen seinen Zweck völlig ein. Verständnis ist Vertretung, Vorstandschaft. Aber streng genommen erfüllt sich darin das Seiende nicht, weil es in der Vertretung nicht in sich selber ruht und entscheidet. Es unterscheidet nur. Es erfüllt sich, indem es das zu Erfüllende von sich abscheidet, jedoch nicht als Sein. Denn es hat es noch nicht als Sein. Erkennen ist Bedürftigkeit. Sein gewahrt seine Magerkeit, dort muss angesetzt werden; wirken aber kann nur das Dasein. Was Seiendes also erkennt, ist nicht sein; es ist immer das andere. Und dieses andere wird irgendwie einverleibt. Aber Platon hat im „Sophistes“ schon deutlich gemacht, dass Erkennen das Nichtsein nur als Seiendes aufgreifen kann. Das Nichtsein erscheint als das Abgeschiedene. Alles Erkennen erklärt sich als ein Vergleichen, und Erkennen bekundet sich so als ein Gleichnis zum Sein. Also hält sich das Nichtsein im Unterschied zwischen Sein und Erkennen. Sein an sich hat kein Nichtsein, aber es hat an sich die Bedürftigkeit. Denn es ist nicht das Selbe von Sein und Erkennen. Die Bedürftigkeit gehört zur Verfassung des Seienden; sie ist gegeben mit der Möglichkeit, sich in sich selber am Selben zu vergleichen. Aber diese Möglichkeit besteht nur, weil Erkennen das Selbe im Sein selber ist. Erkennen steht dem Sein von innen als das Selb-Andere an. Es steht an als das ihm Äußerliche, jedoch von innen. Vom Selben dringt nichts, aber auch gar nichts nach außen. Denn alles was nach außen dringt, geschieht aus Bedürftigkeit. Das Selbe ruht in sich bar jeglichen Bedürfnisses, sich nach außen zu begeben. Denn dies bedeutete eine Teilnahme am Anderen, sei es im Erkennen, sei es im Gemüt. Erkennen steht als Vollkommenheit des Selben im Sein an; es gehört zum Sein, aber nicht weil es Sein ist, sondern weil das Selbe dem Sein näher sein kann als das Sein sich selber. Dies erklärt die Innenseite des Seins; sie ist Möglichkeit.



§ 2  Wirklichkeit als Weg nach innen21

In dem Maße, wie das Selbe sich dem Sein mitteilt, nimmt das Sein am Selben teil. Die Mitteilung des Selben wird zur Selbstmitteilung im Sein, das Sein erkennt sich im Selben. Es erkennt sich als Wirklichkeit, und es erkennt sich als Möglichkeit. Möglichkeit erklärt sich als die Spannweite, die es im Abstand am Selben hat. Sein hat eine Richtung nach innen und eine Richtung nach außen, einen Weg nach innen und einen Weg nach außen. Aber nur Dasein hat Beine, den Weg zu gehen. Im Allgemeinen ergibt sich also, dass der Weg nach innen zur zunehmenden Macht des Daseins führt, weil er die Angleichung an das Selbe zum Inhalt hat. Entwicklung ist der natürliche Weg nach innen; geistiges Dasein geht in sittlicher Entscheidung den Weg nach innen. Wirklichkeit strömt nach innen in ihrer allgemeinen Zweckbestimmung. Sie schließt sich zusammen, wobei Begriff, Ur-Teil, Schluss den Weg nach innen vorzeigen. Der Weg im einzelnen Dasein erstellt sich als die je einzelne zweckmäßige Möglichkeit. Dabei waltet Erkennen als die vermittelnde Anlage zwischen dem Allgemeinen und dem einzelnen Weg. Nur weil Erkennen nicht Sein an sich ist, vermag es über Haupt im Seienden das Allgemeine immer darzustellen. Wäre Erkennen Sein, würde das Sein zersplittern. Die Wirklichkeit wäre nicht bei sich, wenn Erkennen noch eine vermittelnde Zone zwischen dem Selben und dem Wirklichen einrichten würde. Das Selbe hält sich als Erkennen im Wirklichen aus. Auch so erklärt sich, warum Erkennen zwar im Sein wirkt und dennoch nicht Sein ist. Denn anders wäre das Wirkliche das Selbe oder das Selbe würde sich ins Wirkliche entlassen. Allein die Entwicklung macht uns deutlich, dass Wirklichkeit auf dem Weg nach innen besteht und das Selbe nur umkreist. 2. Materie und Seele Aus dieser Sicht erhalten wir eine vorläufige Erklärung für die Materie. Sie vermag an sich keine Möglichkeit aus zu halten, weil sie keine Entwicklung oder aus sich selber rollende Bewegung kennt. Materie bedeutet einen Ableger von Wirklichkeit, sie holt die letzte Möglichkeit des Weges nach außen ein. Offenbar liegt es im Plan der Wirklichkeit, dass sie sich in allen ihren Möglichkeiten außerhalb des Selben erfüllt. Die Materie bildet ein Factum; aber alles Geistige verneint aus sich eine Abhängigkeit vom Stofflichen, während Stoffliches geistige Wirklichkeit als Bestand wohl voraussetzt. In einer besonderen Verwandtschaft stehen aber deshalb Seele und Materie zueinander. Für die Seele ergibt sich nämlich aus der Blickweite der Metaphysik nur der Zweck einer zunehmenden Einwohnung des Geistigen im Stofflichen, bzw. einer zunehmenden Einholung des Stofflichen ins Geistige. Materie gewinnt im Geiste ihre Möglichkeit, die sie aus sich nicht hat.

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1. Hauptteil, 1. Kap.: Schema einer Abgrenzung

Vergleichen wir nun die Seele mit dem Erkennen, so erhalten wir einen Hinweis, warum die Metaphysik das Erkennen in das Seelische verlegt hat. Ursprünglich kann das Erkennen sicherlich nicht im Seelischen gründen. Da aber die Seele vermittelt, so geschieht die Vermittlung des Erkennens zwischen dem Selben und dem Wirklichen in Bezug auf die Sinne wohl auch über das Seelische. Die eigentliche Vermittlung des Seelischen ereignet sich indes zwischen Wesen und Dasein. Seele und Erkennen ergeben zwei völlig verschiedene Weisen der Vermittlung im Wirklichen, die noch genauer zu untersuchen sind. 3. Die Betrachtungsweisen des Wirklichen Somit nähern wir uns dem Wirklichen zumindest in zwei sich kreuzenden Betrachtungsweisen: Einmal tritt Wirklichkeit im letzten Ausmaß von Wirklichkeit und Möglichkeit hervor. Dieses Begriffspaar erschließt sich aber nur, wenn wir Wirklichkeit in sich zergliedern. Denn nur so teilt die Wirklichkeit ihre Möglichkeit mit, dass sie geurteilt ist. Wie erklärt sich dann Möglichkeit aus dem Gefugten, und in welchen Ur-Teilen hält sich die Möglichkeit. Dass wir es hier mit der Hauptsache der metaphysischen Ontologie zu tun haben, sieht man sofort ein. Wirklichkeit enthüllt sich uns aber auch als Metaphysis und Psyche, und wie man sieht, lässt sich dieser Hinblick hineinstellen in den anderen. Wir sehen aber auch, dass Psyche in jeder Hinsicht als dunkle Zone zurückbleibt, weil sie im Bereich der Kern-Metaphysis nicht angelegt wird und weil sie in der Spannweite von Möglichkeit und Wirklichkeit sich nicht näher mitteilen möchte. Eine Erschließung des Wirklichen setzt sich deshalb fort, indem wir beide Betrachtungsweisen in die Zusammenschau bringen. Die Möglichkeit hält sich als das umgreifende Schema, allein sie bleibt leer, wenn wir sie nicht von der Wirklichkeit der Metaphysis her mit Inhalt füllen. Erst auf der Grundlage dieser Gleichungen oder Seinssetzungen nähern wir uns der seinsverwandten Seele, an der so Verschiedenartiges zusammenkommt, dass bis jetzt noch alles offen bleibt.

§ 3  Sein und Möglichkeit 1. Das Sein und das Nichts Möglichkeit bildet die Spannweite des Seins zwischen dem Nichts und dem Selben. Da Erkennen am Selben nur dem Widerschein seiner Wirklichkeit begegnet, verneint sich die Möglichkeit am Selben und sie erhält so ihre erste Bestimmung: Möglichkeit ist schon etwas Wirkliches.



§ 3  Sein und Möglichkeit23

Das Nichts hat seine Möglichkeit am Selben und seine Unmöglichkeit im Selben. Also bedeutet das Nichts eine Relation im Sein, wie Platon schon lehrt. Die sich vorstellende Erwartung, dass es auch im Selben Bewegung und Möglichkeiten gibt, hilft uns hier überhaupt nicht weiter. Möglichkeit zeichnet sich als Bewegung und als Bahn innerhalb des Wirklichen ab, und das Nichts erklärt sich als die Möglichkeit, außerhalb des Selben in Ruhe zu sein. Aber dürfen wir diese Bestimmung ohne jeden Abstrich annehmen? Das Ur-Teil Wesen darf doch überhaupt keine Veränderung annehmen. Das UrTeil Wesen, für sich allein vorgestellt, bleibt ohne die Bewegung des Daseins in der Tat nur ein Nichts. Das Gefugte enthält unentwegt das Nichts in sich, aber Sein und Nichts sind weder das Selbe noch dasselbe. Sein und Nichts deuten also zwei Richtungen des Wirklichen an. Zurück ins Nichts, vorwärts zum Selben; aber zurück ins Nichts bekundet schon eine Unmöglichkeit, und vorwärts zum Selben bezeichnet die allgemeine Bestimmung. So ergibt sich also das Nichts aus der Bewegung des Wirklichen zum Selben; indem es unentwegt zum Selben strebt, hält es sich im Kreislauf in sich selber. So erklärt sich demnach das Grundgesetz des Lebens. Auch der Rückfall in das Nichts des Todes geschieht nur im Streben zum Wirklichen. Eine Umkehr dieses Gesetzes ist das Unmögliche im Wirklichen. Jetzt können wir folgende Bestimmung wagen: Im Kreislauf des Wirklichen halten sich die Möglichkeiten offen für das Streben des Wirklichen zum Selben. Wirklichkeit bleibt immer von der Möglichkeit des Kreislaufs durchsetzt, so dass zwei Bewegungen ineinander geschehen. Das Streben zum Mittelpunkt erschöpft die Möglichkeit, es vergibt sich Möglichkeiten, aber nur als Fülle an Wirklichkeit. Es verschenkt in einer höheren Ebene Freiheit, jedoch nur im Sinne höherer Machtvollkommenheit. Möglichkeit und Wirklichkeit stehen so als zwei Bewegungen ineinander, als Kreislauf und als Bewegung nach innen zum Mittelpunkt. Das Nichts befindet sich immer neben dem Sein und unter dem Sein. Sein hat das Nichts unter sich überwunden, die Breite der Möglichkeit neben sich holt es ein oder auch nicht, sie liegen außerhalb oder innerhalb seiner Spannweite. Das Nichts gewinnt seine Bestimmungen am Ding und seinem Umfeld; das Nichts wird sinnlos außerhalb der natürlichen Reichweite. Die Natur des Dinges also bestimmt das Schema. 2. Das drei-feldige Sein und seine Möglichkeiten Sein hat sich als drei-feldiges Ding erstellt: Wesen, Dasein, Erkennen. Wir nennen es Wirkliches. Sagen wir Sein, so fragt es sich: Welches Ur-Teil Sein. Wirkliches meint also immer drei-feldiges Sein oder den Dreiklang Sein. Um

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1. Hauptteil, 1. Kap.: Schema einer Abgrenzung

Wirklichkeit und Möglichkeit genauer zu bestimmen, ist also die Möglichkeit an den einzelnen Ur-Teilen zu vergleichen. Dies muss und kann zumindest in einem ersten Durchgang geschehen. Es zeigt sich, dass die Möglichkeit am Wesen ihre Aus- und Absonderung hat, dass dem entsprechend die Wirklichkeit ihre harte Form mit Ecken und Kanten hat, woran die Möglichkeit sich stößt. Natürlich gewinnt das Wesen diese Eigenschaften in sich und aus sich nur am Dasein. Dieses ergibt sich nun als die gleitende Möglichkeit oder Wirklichkeit und damit als die eigentliche Umkehr zum Wesen. Das Wesen kann niemals gleiten, das Dasein ist Gleiten schlechthin, es ist die Unmöglichkeit des Stillstands. Indem es an sich formlos bleibt, liegt seine Bestimmung in der Bahn, und das Wesen gibt die Vorlage der Bahn als innere Möglichkeit. Wir bemerken schon daraus, dass sich die Möglichkeiten in Gruppen einteilen lassen, die sich den Ur-Teilen der Metaphysis zuordnen. Die Wirklichkeit enthält dann die Summe der Möglichkeiten; Wirklichkeiten aber, die sich den Ur-Teilen zuordnen ließen, kann es niemals geben. Wirklichkeit steht immer da als die zum Sein geronnenen Möglichkeiten der Ur-Teile. Wirklichkeit hat immer Möglichkeit, dies gehört zu ihrer Verfassung. Es verhält sich auch nicht so, dass ihre Möglichkeit immer nur als die Möglichkeit eines der drei Ur-Teile bestimmt werden müsste. So wie sie Wirklichkeit bildet, so enthält sie Möglichkeit, die über die Möglichkeit eines Ur-Teils hinaus ist. Denn Wirklichkeit hat ja die Möglichkeit als Möglichkeit hin zum Selben. In ihrem Wirken verschmelzen die Möglichkeiten der Ur-Teile und ergeben so eine gesteigerte Wirklichkeit, nämlich das Bewusstsein. Bewusstsein bedeutet deshalb ein höheres Verschmelzen von Möglichkeiten der UrTeile, eine Erinnerung zum Selben, die nur als zunehmende Wirklichkeit zu verstehen ist. Dann ergibt sich aber auch, dass Wirklichkeit im Dasein ihren Schwerpunkt hat, weil nur hier die eigentliche Wirkmächtigkeit, die Verschmelzung von Wesen und Erkennen im Dasein, stattfinden kann. Gewiss bedarf das Bewusstsein einer Bestimmung aus dem Wesen, es bestimmt natürlich das Artbewusstsein. Und sicherlich geschieht alles Bewusste im Erkennen. Aber Vernunft und Freiheit sind ein Ereignis des Daseins und nicht des Wesens. Erkennen bleibt eine allgemeine Zone, eine Weise des Inneseins des Selben im Wirklichen. Die jeweiligen Möglichkeiten der Felder richten sich also nach dem Besonderen der Zone.



§ 3  Sein und Möglichkeit25

3. Das Wesen und die Möglichkeit; die Gattung Wesen ist eine stehende Zone, deren Multiplicatio nicht möglich ist. Wesen ist oder ist nicht, es geschieht im Ur-Sprung aus dem Nichts und dem Selben. Es kennt keine Zunahme oder Abnahme; es hat aus sich weder Dasein noch Erkennen, also auch die Anlage des Willens und des Gemütes kann in ihm ursprünglich nicht gesucht werden. So gesehen erscheint Wesen in seiner wandellosen Formhaftigkeit geradezu als die Verneinung der Möglichkeit, so dass man meinen möchte, Möglichkeit steckt ausschließlich im Dasein und vielleicht in noch zu bestimmender Weise im Erkennen. Das Wesen hat zunächst einmal eine Möglichkeit darin, dass seine Species, also die bestimmte Artform, eine beachtliche Verzerrung durchhalten kann, ohne dass die Artform gesprengt würde. Besonders die Rassen der Haustiere beweisen eine unglaubliche Spannweite oder Dehnbarkeit der Form. Diese Tatsache erklärt sich als eine Möglichkeit des Wesens und nicht etwa des Daseins. Aus der inneren Dehnbarkeit des Wesens, welche in der Wildnis nur ein weniges von jener des Haustiers erreicht, erklärt sich dann auch die Entstehung neuer Arten. Wo das Artwesen in der Anpassung an eine Umwelt die Grenzen seiner Spannweite eingeholt hat, ohne dabei eine Kümmerform zu werden, da könnte die Möglichkeit eines Wesenssprungs gegeben sein. Aus der Spannung, die das Wesen in seiner daseinsmäßigen Aussetzung hat, entspringt eine neue Wesensform, welche sich den Umständen entsprechend angepasst hat. Damit zusammen hängt freilich, dass der gesamte Kosmos des Lebens auf der Erde wesentlich aufeinander abgestimmt ist. Die Wesen verstehen sich als unverrückbare Monaden in ihrer Zone, wobei jedes Wesen in sich verschlossen bleibt. Aber darin ist andrerseits der Plan der gegenseitigen Abstimmung schon zu Grunde gelegt. Die jeweils bestimmte Form des Wesens entspringt also auch äußeren Möglichkeiten. Am Dasein jedoch hat das Wesen keine Möglichkeiten mehr. Es bedeutet daher die Verwirklichung im Dasein das Ende aller Möglichkeit des Wesens. Es versteht sich auch, dass es aus der Sicht des Wesens zwischen dem ArtAllgemeinen und dem Art-Einzelnen keinen Unterschied geben kann. Die Möglichkeiten des Wesens ergeben sich aus dem Zusammenhang. Jedes Wesen entsteht als eine geronnene Form, in die sich allgemeinere und besondere Schichten des Kosmos einmischen. Dabei bilden Raum, Zeit, Organismus und eine zunehmende Absonderung nach geschlechtlichen Merkmalen die allgemeinen Ebenen. Vielleicht erhält der Gattungsbegriff, dem wir ja jede Entsprechung in der Wirklichkeit absprechen, eine vermittelnde Zuständigkeit. Die Gattung wäre dann schichtweise, jedoch nur in der Wesenszone und ohne Berührung mit dem Dasein, eingelagert. So bleibt es da-

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1. Hauptteil, 1. Kap.: Schema einer Abgrenzung

bei, dass der Gattung eben nichts Wirkliches zukommt. Die Gattung erklärte sich damit als der Plan der Wesensabstimmung. Kennzeichnend für eine solche Eingrenzung der Gattung wird dabei das Fehlen einer logischen Bestimmung. Die Gattungen erschließen sich aus den Gleichnissen der Wirklichkeit als die inneren oder äußeren Möglichkeiten des Wesens in seiner Umwelt. Dabei darf Umwelt natürlich nicht im engen, biologischen Raume verstanden werden. Während sich aber die Seinsweise des Wesens als ein logisches Gesetz an der Erfahrung erschließt, bleibt die Gattung lediglich ein vorbehaltenes Gleichnis des Erkennens ohne einen Anspruch auf Sein und damit auf Wirklichkeit. Betrachten wir die Gattung als ein Muster der Möglichkeiten einer Wesensverwandtschaft, so zielt sie auf ein gewisses Sein in den einzelnen Species. 4. Das Dasein und die Möglichkeiten Dasein tritt in der Tat als die Umkehrung des Wesens in die Wirklichkeit. Jenes steht als allgemeine Zone, dieses ist aus sich einzeln; jenes springt in die Wandellosigkeit, dieses hält sich als ständige Bewegung; jenes hat keine Möglichkeit am Dasein, dieses hat seine Möglichkeiten am Wesen. Dasein strebt nach dem Wesen; es nimmt zu und ab in der Wirklichkeit, es gleitet in seiner Mächtigkeit. Der Grad der Daseinsmacht bemisst sich in der Annäherung an die vollendete Wesensgestalt. Der Keim hat eine geringere Daseinsmacht als die Vollgestalt des Einzelnen. Zum Grundmerkmal dieser metaphysischen Seinsweise gehört die Vielfalt der Möglichkeiten. Darin behauptet sich wohl die eigentliche Vertretung des Wirklichen. Dasein besitzt in ureigentlicher Weise innere und äußere Möglichkeiten. Beim Wesen bleibt es uns unklar, wie Dasein auf die Entstehung neuer Formen Einfluss haben kann. Beim Dasein liegen die Möglichkeiten offen zu Tage. Es hat am Wesen die Einheit seiner inneren Möglichkeiten und darauf spielen sich nun die stufenhaft zunehmenden Freiheitsgrade seiner äußeren Möglichkeiten ab. Bei den äußeren Möglichkeiten des Daseins zeichnen sich wiederum zwei grundsätzlich verschiedene Gruppen ab. Dasein begegnet seinen Art-Genossen und hat hier ganz andere Möglichkeiten als im Umgang mit den Einzelnen anderer Arten. Wir haben es also hier mit den Möglichkeiten der Daseinsbildung (Nahrungsaufnahme, Wachstum), der Gemeinschafts- und Paarbildung und schließlich der Bewusstseinsbildung zu tun. Zum Daseinsgrund gehört es, dass diese Gruppen von Möglichkeiten unentwirrbar ineinander wirken, verschmelzen zur inneren Einheit des Daseins. Wir sehen, dass jene Belange, welche das Menschliche vom Tierischen absondern, nämlich Sittlichkeit und Kultur, im Dasein als Möglichkeiten



§ 3  Sein und Möglichkeit27

gründen. Dann zeichnet sich menschliches Dasein aber auch darin aus, dass die inneren und äußeren Möglichkeiten des Daseins ganz neu bedacht werden müssen gegenüber dem tierischen Dasein. Mit der geistigen Verfassung, die ja im Dasein, nicht im Wesen gründet, tritt ein neuer Grund auf, der den Möglichkeiten des Daseins einen neuen Pol gibt. 5. Das Erkennen und die Möglichkeit Hat Erkennen überhaupt Möglichkeit? Die Frage ist sehr berechtigt und zwar aus zwei Gründen: Die Pflanze hat nur Wesen und Dasein. Erkennen tritt im Sein als das andere hinzu. Was ihm an Wirklichkeit im Wirklichen fehlt, erklärt sich indes als die ungefugte Vollkommenheit des Selben, die sich am Wirklichen eben als Erkennen, als Richtmaß, mitteilt. So gesehen enthält dann Erkennen auch keine Möglichkeit. Man möchte sagen, dass es das nach Wirklichkeit und Möglichkeit Ununterschiedene ist, dass es auch hier das Selbe ist. Die Möglichkeiten, welche Dasein sich einverleibt, übertragen sich unmittelbar zur Wirklichkeit. So zeichnet sich Dasein aus; weder das Wesen noch das Erkennen vermögen es, sich unmittelbar ins Wirkliche zu übersetzen. Während das Wesen als Form und Richtmaß in seiner Besonderheit zurücktritt, begegnen sich Dasein und Erkennen in der Front. Dasein wird zum eigentlichen Wirklich-Sein; es tritt hinaus, es ist das einzige, welches aus sich geht. Erkennen dagegen erweist sich als der allgemeine Abstandnehmer, der aber gerade so das Wirkliche insgesamt, es selber in der Reflexion mit eingeschlossen, vertreten kann. Es gehört zur Verfassung des Wirklichen, dass es aus seiner ureigentlichen Verfugung eine solche Stellvertretung seiner selbst gar nicht aufbringen kann. Das Selbe selber tritt an seine Stelle, indem es sich als Erkennen mitteilt, ohne Teil zu nehmen. Denn eine Teilnahme des Selben wäre dessen Verwirklichung, und so wäre die Selbstfindung des Wirklichen misslungen. Das Wirkliche findet sein Selbstbewusstsein in einer Teilnahme am Selben. Erkennen ist im Selben und im Wirklichen ein und dasselbe. Ebenso wird aber deutlich, dass Erkennen niemals principium individualitatis sein kann. Einzig und allein Dasein vermag dies zu leisten. Dann stellt sich die Frage mit aller Eindringlichkeit erneut: Hat Erkennen überhaupt eine Möglichkeit? Kann das Selbe sich dem Wirklichen als Möglichkeit mitteilen? Alles, was Möglichkeit andeutet, steht doch auf Seiten des Wirklichen; und also bedeutet doch Möglichkeit die Spiegelung des Wirklichen am Erkennen. Eine solche Spiegelung kann aber nur gelingen, wenn am Erkennen selber jede Erweichung einer Möglichkeit ausgedrückt ist. Erkennen bleibt das nach Wirklichkeit und Möglichkeit ununterschiedene, und gerade in die-

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ser unfassbaren Zone wird das Noch-nicht-Wirkliche und das Nicht-Wirkliche als Möglichkeit oder Unmöglichkeit am Wirklichen vertretbar. Es ist aber der Verstand, welcher vertritt, indem er vorstellt. Was sich der Verstand nicht vorstellen kann, bleibt unmöglich. Gewiss gibt es die logische Unmöglichkeit und die Unmöglichkeit aus der Erfahrung; die Unmöglichkeit behauptet sich in verschiedenen Gründen der Erfahrung, der wir hier einzeln gar nicht nachgehen müssen. Besonders die logische Einsicht macht uns doch deutlich, dass Erkennen an sich keine Möglichkeit anführen kann. Denn im gesamten Bereich der Erfahrung bildet sich das Mögliche aus Gleichnissen und Vergleichen der Erfahrung. Freilich hätten wir den Bereich nicht erschöpfend ausgeleuchtet, wenn wir hier das Gemüt übergehen wollten. Gemüt ist der Kernbereich des Daseins, aber Dasein gehört als Gemüt zum Bewusstsein. Alles künstlerische Schaffen kommt auch oder vorwiegend aus dem Gemüt. Natürlich hat es seine Möglichkeiten im Bewusstsein. Wir sehen aber, dass hier das Gemüt in seiner unbewussten Erfahrung zunächst einmal den Grund der Verarbeitung von Wirklichkeit und Möglichkeit abgibt. Wenn dem Erkennen Möglichkeit zusteht, so wohl nicht als Vernunft, weil diese am wenigsten von der Erfahrung beeinflussbar ist. Eher ist eine Berührung in den Sinnen und vor allem aber da, wo Gemüt und Erkennen sich besonders berühren, gegeben. Es ist jener Bereich am Erkennen, wo wir die Eindrücke der verschiedenen Sinne zu einer Gesamtvorstellung verfugen. Jedenfalls muss die Möglichkeit dem Erkennen aus der Erinnerung kommen, wenn ihm überhaupt eine eignet in völlig unmittelbarer Weise.

§ 4  Wirklichkeit und Möglichkeit 1. Die Erfahrung des Seelischen Alles Sein verwirklicht sich im Dasein. Es bedeutet, dass Dasein die geballte Wirklichkeit ausmacht; es bedeutet auch, dass alles Wirkliche vereinzelt ist. Das Allgemeine an sich hat keine Wirklichkeit an sich, es trägt die Kennzeichen der Gattung. Geist bedeutet unserem Erkennen Bewusstsein. Er ist Wirklichkeit, die wir uns unmöglich ohne Bewusstsein vorstellen können. Pflanze hingegen bedeutet uns Wirklichkeit, die wir uns aus der Erfahrung nicht mit Bewusstsein vorstellen können. Das mythische Weltbild findet indes nichts Ungewöhnliches daran, dem Baum ein Bewusstsein zu geben. Allein dabei bleibt es offen, ob der Baum in einer höheren Wirklichkeit von einem Geist besessen ist oder ihm das Bewusstsein eigentümlich zukommt. Darum ist das mythische Weltbild eben kein metaphysisches Weltbild.



§ 4  Wirklichkeit und Möglichkeit29

Was uns das mythische Weltbild indes lehrt, und deshalb müssen wir es ernst nehmen, ist ein lebendiges, besser geistiges Allgemeines, welches aus metaphysischer Sicht keinen Bestand haben kann. Das Allgemeine als metaphysisches Dasein erstellt sich als Widerspruch in sich. Dagegen lebt das mythische Weltbild gerade von diesem Grund der Vorstellung. Man hat deshalb gerade nicht das Entscheidende begriffen, wenn man von der Metaphysik des Mythos spricht. Die Geisteswissenschaft hat sich hier in ihrer überbordenden Gelehrsamkeit ein Fehlurteil geleistet, welches sie mit dem Reichtum ihres gesammelten Wissens einfach zudeckt. Die Erklärung liegt auf der Hand: Da die Seele zur Substantia in der Metaphysis gesetzt worden ist, rückt auch noch der Mythos in den Bereich der Metaphysik. Denn nur die Seele, die aus anderen Gesetzen lebt als die Metaphysis, vermag sich als der geheimnisvolle Grund und Boden zu behaupten, auf dem der Mythos sein Haus baut. Wenn wir bis jetzt von Sein und Möglichkeit gesprochen haben, so zielte unsere Bemühung um den Begriff nach den Möglichkeiten im Bereich der Metaphysis. Dazu gehören alle Felder und Ebenen des Wirklichen, das wir in verschiedenen Weisen unseres Bewusstseins erfahren und erschließen. Es ließe sich also die Wirklichkeit insgesamt als die dreifeldige oder dreizonige Metaphysis auffassen, und Sein wäre dann immer als Wassein, Dasein und Bewusstsein zu verstehen. Allein diese Gleichung geht für uns nie ganz auf, weil in unserer Wirklichkeit immer jenes formlose Walten des Seelischen hineingeschlungen ist. Es bedeutet etwas Neues gegenüber den Ur-Teilen der Metaphysis, etwas Hinzukommendes, das immer Metaphysis voraussetzt, ohne diese nichts bedeuten kann. Sofort sehen wir auch die große Verlegenheit, in die wir geraten, wenn wir den gespenstischen Begriff Seele annehmen. Von der Metaphysis können wir behaupten, dass sie sich aus den verschiedenen Quellen der Erfahrung mit einer gesicherten Übereinstimmung und einer inneren Notwendigkeit im Bewusstsein so eingeprägt hat. Wenn wir die Seele einführen, überschreiten wir offensichtlich die begriffliche Reichweite jenes Wirklichen, welches der Metaphysiker vertreten darf. Eine Entscheidung zwingt sich hier auf: Entweder wir nehmen die Seele als Principium alles Geistigen, oder wir müssen eingestehen, dass wir am Begriff des Seelischen das Gebiet und die Reichweite der Metaphysik überschreiten. Die Entscheidung ist für uns schon gefallen. Wenn wir von der Seele abhandeln, beziehen wir aus Quellen, wovon der Metaphysiker nicht schöpfen darf. Um die Erfahrungsgründe der Metaphysik nicht um ihre Festigkeit zu bringen, müssen wir die seelischen Inhalte einer anderen Erfahrung zuweisen, deren Verbindlichkeit weit weniger allgemein sein dürfte, deren Einsicht daher auch nicht so zwingend sein dürfte. Metaphysik bedeutet für den klaren Menschenverstand eine Wissenschaft, deren Gründe an Einsichtigkeit jene der modernen Naturwissenschaft über-

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treffen und nur von den mathematischen übertroffen werden. Das Experiment lässt meist noch einen beträchtlichen Raum an Deutung übrig. Die Theorien der Kosmologie und der Teilchenphysik geraten mehr und mehr zu Zeugnissen einer Wissenschaft, die sich einer Willkür verschreibt. Es ist auch langweilig und müßig, sich mit Philosophen wie Carnap und Ayer auseinander zu setzen, welche an Hand der Sprache schon die Erkenntnis der Metaphysik entkräften wollen. Der Hass gegen alles Metaphysische lässt sich nur schlecht hinter ihrem scheinbar sachlichen Angriff verbergen, und man muss nicht weit gehen, um ihre Trugschlüsse aufzufinden. Die Metaphysik bedeutet von ihrem Verständnis her die härteste aller Wissenschaften, und sie wird nur von der Logik übertroffen. Dass auch sie verschiedene Auslegungen und Deutungen hinter den unmittelbaren Erfahrungsgründen kennt, widerspricht keinem Begriff einer Wissenschaft. Wenn die Metaphysik im Laufe ihrer Geschichte zu einem haltlosen philosophischen Sumpf geworden ist, so liegt es nur daran, dass man sie zum Niemandsland gemacht hat, wo alle Mutmaßungen über das Jenseits, das Hintergründige und Hintersinnliche sich versammeln. Metaphysik ist und bleibt die erste Philosophie und damit die erste Wissenschaft. Für uns steht Aristoteles als einzigartiges Zeugnis eines klaren und unvoreingenommenen Menschenverstands da. Die Philosophie der Neuzeit gibt sich geradezu als eine Beschwörung der Erfahrungsgründe aus, und sie gerät dennoch zu einem spitzfindigen Ausleuchten gedanklicher Möglichkeiten, die sich mehr und mehr dem Verstand entfremden. Unsere Unterscheidung nach Metaphysis und Psyche, nach Geist und Materie gegenüber Seele, wird zweifelsohne zu einer Spekulation, die gerade jene harten Einsichtsgründe vermissen lässt, die wir der Metaphysik zuerkennen. Allein damit erhärtet sich doch nur die Bedeutung des Begriffes, da wir doch das Unklare, nämlich das Seelische, ausscheiden wollen. Was zurückbleibt, ist mit größerer Sicherheit Metaphysis als bisher. Was auf alle Fälle aus der Metaphysik hinaus sollte, ist jene Vorstellung: Geist gleich Denkkraft der Seele. Es bietet sich noch eine Zwischenlösung an, indem man die Tier- und Pflanzenseele, die doch den Organismus begründet, zu der metaphysischen Wirklichkeit zählt, die Geistseele aber davon zurückhält. Im Grunde bringt uns eine solche Lösung nicht weiter. Sie reißt das Seelische auseinander und schafft innerhalb der Reichweite der Metaphysik die alten Unklarheiten. Um Metaphysis und Psyche klar zu unterscheiden, um sich also ihrem Verständnis zu nähern, müssen wir uns zu einer Voraussetzung bekennen. Sie steht indes als metaphysisches Ergebnis fest: Es gibt eine geistige Wirklichkeit. Ohne Geist bleibt Materie undenkbar. Dann haben wir Seele nur so zu verstehen, wie sie Platon im Timaios beschrieben hat, und die Philosophie des



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seelischen Seins gerät zu einer Psychologie im ursprünglichen Sinne; sie wird Religionsphilosophie. Aus dieser Religio zum Geist und letztlich vielleicht zum Selben ergehen die Unterscheidungsmerkmale: Metaphysik betrachtet das Sein in seinem ureigentlichen Bestand. Wenn an dem Urbestand des Seins ein Urbezug auftaucht, der sich als allgemeinste Verfassung oder Verfugung ausspricht, so kommt damit noch nicht das Seelische in den Begriff. Das Seelische drängt sich uns als eine Möglichkeit der Metaphysis auf. Indem wir aber die Seele als Verbindung zwischen Geist und Materie verstehen, erscheint in der Möglichkeit eine abgeleitete Wirklichkeit. Der Geist bedarf der Seele, um in den Stoff zu gehen. Die Materie braucht eine Seele, um ein Artwesen tragen zu können, aber auch, um von diesem verwaltet zu werden. Dies sind wohlgemerkt Annahmen, die wir nicht mit jener Denknotwendigkeit einsehen, mit der uns das Artwesen an den Arteinzelnen aufgeht. Also bedeutet uns Seele nicht nur etwas, das vom Inhalt her sich absetzt vom Organismus des Einzelnen. Seele bleibt auch nach der Weise der Erfahrung immer eine Quelle aus Ursprüngen, die dem Mystischen und Mythischen nicht entkommen. Was für die Metaphysik, genauer für ihre Ontologie, die Substantia, dies bedeutet in der Religion die Seele. Aber Religio deutet eine Relation an, die Substantia schon immer voraussetzt. Davon müssen wir ausgehen, um die verschiedenen Sichtweisen des Wirklichen und um die verschiedenen Erfahrungsgründe des Bewusstseins verstehen zu lernen, wenn von Metaphysis und Psyche, von Metaphysik und von Philosophie des Seelischen die Rede ist. Letztere meint nichts anderes als Religionsphilosophie im weitesten Sinne. Aus einer solchen Ergänzung kann nur dann eine Gegnerschaft werden, wenn man von der Metaphysik Platons redet und sie der anderen Metaphysik entgegenstellt. 2. Die Kennzeichen des Seelischen Mit dem Seelischen erfährt die Wirklichkeit eine Bereicherung: Es sind Möglichkeiten gegeben, welche sich aus dem Verbund der Metaphysis nicht ableiten lassen. Ohne Seele würde das Geistige nur wie in einem grobschlächtigen Rohbau in der Materie hausen. Jeder Selbstaufbau der Materie, wenn er als Metaphysik vertreten wird, widerspricht der inneren Ordnung des Lebens und der Ordnung des Denkens. Seele bietet sich indes in einer anderen Erfahrung an als die Metaphysis; sie drängt sich nicht auf, wie es die Metaphysis dem Denken im Verbund mit den Sinnen tut. Seele bleibt Mutmaßung, ein Vortasten in mystische Bereiche; und es ist auch nicht zu leugnen, dass uns die uralte und immer neue

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1. Hauptteil, 1. Kap.: Schema einer Abgrenzung

Erfahrung der Menschheit die Seele nahebringt. Wenn wir den Tod als den Abbruch des Seelischen in einem Lebewesen ansehen, so haben wir wenigstens eine Brücke, die uns die Tier- und Pflanzenseele zusammen mit der Geistseele bestehen lässt. Um uns dem Seelischen zu nähern, gehen wir deshalb von jener Arbeitsregel aus, die uns die Seele am Organismus als Einheit bewahrt, die uns aber auch umgekehrt den Organismus aus seelischer Einheit verwaltet sein lässt. Damit deutet sich auch schon die grenzenlose Spannweite und der unergründliche Tiefgang der Seele an, die uns mehr und mehr enthüllen wird, dass sie geradezu Träger von Gegensätzen ist. Auch die Schwierigkeiten gehen uns noch mehr auf, die am Wege stehen. Wir laufen ständig Gefahr, die Bereiche zu vermengen. Gerade die Einheit der Seele, die wir doch nicht aufgeben möchten, zeigt uns die allgegenwärtige Seele: Denn sie prägt die natürlichen Formen der Wildnis, also jenen Bereich, den wir als die Natur insgesamt, dazu gehört auch das Geistige, umreißen möchten. Und sie wird zur eigentlichen schöpferischen Macht, womit sich der Geist seine Kultur schmiedet. Also darf die Seele von sich sagen: Ich bin die Brücke, über die der Geist in die Materie einzieht. Ich bin aber auch das Haus, das sich der Geist aus der Materie baut. Ich bin die Einheit aller Ur-Teile des Seins, ich bin die Zusammenschau aller Gegensätze in Natur und Kultur. Denken wir jetzt an den Bereich der Züchtung, so sehen wir sofort, wie schwer es wird, Natur und Kultur zu trennen. Platon belehrt uns im „Timaios“, dass die Seele die Natur von innen und außen umgibt1 und der gesamte Kosmos in die Seele wie in eine Rahmenbedingung hineingestellt wird.2 Wir dürfen deshalb erwarten, dass in den tiefsten Gründungen der Seele die Formen der Metaphysis im Einzelnen seelisch vorbestimmt sind. Damit ist natürlich nicht das Sein in seiner letzten Verfugung nach Wesen und Dasein und Bewusstsein gemeint. Seelisch geformt sind aber sicherlich die Artwesen in ihrem Zusammenleben als Haushaltung der Natur, in ihrer Eigenart, so wie sie sich auf den Erdteilen herausgebildet haben. Geistseelisch bedingt sind dann die verschiedenen Hautfarben der Menschenrassen. Wenn in der Züchtung Natur und Kultur untrennbar ineinander geraten, so legt sich uns eine weitere Einsicht nahe. In einem geistigeren Bereich wird die Seele zum eigentlichen Träger eines Schicksals. Metaphysis an sich und in jeder Hinsicht kennt kein Schicksal, auch der Geist nicht. Allein im Zusammenleben mit dem Menschen erhält sogar das Haustier ein Schicksal. Was immer also mit Kultur und Geschichte zusammenhängt, ist seelisch, 1  Tim. 2  Tim.

34 b; 36 e. 36 e.



§ 4  Wirklichkeit und Möglichkeit33

nicht metaphysisch bedingt. Von diesen Voraussetzungen und Festsetzungen wollen wir einmal ausgehen, um uns dem Seelischen zu nähern. Wir sehen, dass die Metaphysik des Aristoteles hier nicht mehr weiter kommt, da sie die Seele als Ousia gesetzt hat. Von einem Wesen der Seele dürfen wir jetzt nicht mehr reden, Seele wirkt als wesenloses Medium. Es ist jedoch durchaus möglich von einer seelischen Form zu reden, die anders als das Wesen, sich wandeln kann. Dann führt es auch nur zu Missverständnissen, wenn wir von der Natur der Seele reden, weil die Natur zu sehr mit dem Wesen verbunden wird, so dass wir diese im ersten Begriff als Auswirkung des Wesens verstehen wollen. Wenn wir die Wirklichkeit als eine beseelte verstehen wollen, so denken wir dabei an die lebendige Materie; und die Seele enthüllt sich dann tatsächlich als der Weg ihrer inneren Möglichkeiten. Es sind die Möglichkeiten des Aufbaus und des Fortschritts, die nur in der Einheit einer Seele gegeben werden können. Der Fortschritt in der Kultur wächst dann geradezu als die Verlängerung des Weges aus der Natur heraus. Allein eine solche Schau einer Einheit von Natur und Kultur wird nur über die Seele möglich, und sie darf dabei die Inhalte Metaphysis und Seele nicht vermengen. Tatsächlich hält die Einheit der Seele oder der Einheitsbegriff Seele als principium vitae stand; Seele flößt dem natürlichen Organismus wie auch dem Zusammenhalt und dem Schöpferischen einer kulturhaften Zelle das Leben ein. Seele versteht sich als Ursprung Leben. Aber Seele ist weder Ursein noch Ursache des Lebens, sie kann nicht Ziel und Zweck des Lebens sein; und so betrachtet, hält sie als Entelecheia nicht stand. Hier trennen sich die Auffassungen in der Metaphysik; hier sondern wir uns ab von Aristoteles, so wie er in seiner Schrift die Seele bestimmt hat.3 Daran zeichnet sich erst die Notwendigkeit ab, zwischen Ur-Sprung und Ur-Sache zu scheiden. Seele bleibt immer UrSprung, Geist steht immer als Ur-Sache. Mit der Seele begreifen wir das allgemeine und das einzelne zweckförmige Mittel des Kosmos. Seele wird zur Bindung schlichthin, womit der Zweck des Alls seine Artformen und Artwesen einprägt. Seele wirkt als Allseele und als Einzelseele; in der Seele wird die Natur zur Kultur, und die Kultur greift tief zurück in die Natur. Also wird die Seele zur Verschmelzung metaphysischer Ur-Teile, allein dies soll nur im seelischen Bereich gelten. Also verwachsen auch in der Seele die so schroffen Gegen­sätze Geist und Materie miteinander. Es bedeutet aber auch, dass Seele als allseitige Bindung ihren Zweck erst in tiefgründiger Wechselwirkung erfüllt. Das Ausmaß der Seele wäre nicht voll erfasst, wollte man einseitig den Geist nur als väterli3  Über die Seele. 415 b 7-20. Die Psyche wird hier als Aitia, Arche, Telos, Ousia, Entelecheia, Logos und Seinszweck (ἀίτιον τοὖ ἐίναι) bestimmt.

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1. Hauptteil, 1. Kap.: Schema einer Abgrenzung

ches Element, der die Materie prägt, sehen. Auch die Materie formt den Geist über die Seele. Über die Seele erhält das Einzelne seine Stelle in der Gemeinschaft, und das Einzelne verändert über das Medium Seele die Gesellschaft. Die Seele ist das ständige Integral von Freiheit und Notwendigkeit im Einzelnen und im Allgemeinen. Der Geist fällt die ursprunghafte Entscheidung in seinen seelischen Raum der Möglichkeiten hinein; doch der Geist erfährt sich auch immer hineingestellt und beschränkt im Raum der Seele. Mit diesen Überlegungen kommen wir zu einem Ergebnis, von dem aus wir uns weitertasten wollen. Seele bleibt im Letzten immer ein allseitiges Geflecht oder auch Netz durch und durch. Als solches verlangt es immer nach einem Grundbestand; die Relation oder Religio ruft nach einer Substantia, und mindestens an zwei Enden. So rät uns das Denken. Indem der Begriff Seele aber auf jene Festsetzung verzichtet, behält er sich eine Spannweite vor, mit der allein menschliches Sinnen auf alles ausgerichtet sein kann. Die Metaphysik ist blind für Begriffe wie Offenbarung, Erlösung, Gnade, für das Allgemeingut der Religionen. Allein die Seele vermag alles einzuspannen. 3. Zur Wortwahl Metaphysis und Seele Die Metaphysis zielt auf Sein und Seiendes in seiner Vollgestalt und letzten Gründung. Weder die Ousia noch die Substantia erreichen den vollen Gehalt. Man könnte den Inhalt der Metaphysis noch am ehesten mit Sein wiedergeben. Wir wollen den Namen in Anlehnung an die Überlieferung beibehalten. Damit soll aber auch die Abgrenzung zum Begriff der Wirklichkeit besser zum Ausdruck kommen. Denn Wirklichkeit schließt für uns immer noch etwas ein, von dem wir nicht wissen, ob ihm der Name Sein noch zukommt. Metaphysis soll Züge des Wirklichen wie etwa Zufall und Schicksal nicht einschließen. Mit der Seele erfassen wir dann den Rest und den Rahmen des Wirklichen, so dass wir sagen können: Wirklichkeit besteht aus Metaphysis und Seele. So ergäbe sich denn aus Gründen der Gleichheit das Begriffspaar Metaphysis und Psyche als das passendere. Wir vermögen aber heute nicht mehr mit Psyche jenen Gehalt aufzurufen, den Platons Psyche und die mittelalterliche Anima ausspannen. Psyche hat sich für uns zu einem Restbestand an Seele eingeschränkt; Psyche meint nur jenes Ausmaß, das wir im Bewusstsein erfahren. Andrerseits aber bleibt dieser verstümmelte und verkümmerte Rest von Psyche dennoch im alten metaphysischen Ansatz haften. Es bedeutet innerhalb des Restbestands der Psychologie die Gesamtheit des erfahrbaren Bewusstseins einschließlich des Unterbewusstseins. Nach unserer Auffassung von Bewusstsein können wir dann unter Psyche nur noch die Ver-



§ 4  Wirklichkeit und Möglichkeit35

flechtung von Seele und Gemüt verstehen. Gemüt rechnen wir jedoch zur Zone des Daseins, also zur Metaphysis. Wir vermeiden die Bezeichnung Psyche, die einmal durch die Metaphysik des Aristoteles, dann aber auch in der neueren Psychologie für unseren Gehalt des Begriffes unbrauchbar geworden ist.

2. Kapitel

Seele als Relation zwischen Geist und Materie § 5  Wirklichkeit im Begriff als Metaphysis und Seele; zwei grundsätzliche Schwierigkeiten Verstehen wir die Seele als den Einheitsgrund von Geist und auch von Wesen, so wird sie zum Grundsatz des Dinghaften. Man kommt dann im Grunde mit einem principium substantialitatis aus. Daraus ergibt sich der kraftvolle Ansatz der „Ersten Philosophie“ des Aristoteles: Die Seele ist Ursache und Ursprung in einem, und sie hält so als letzter Begriff die Einheit von Physis und Ousia, von Physis und „Metaphysis“. Aus unserer anderen Sicht hat sich die Seele als die allgemeine Beziehung der Materie zum Geist zu bescheiden. So kann sie dem philosophischen Zugriff letztlich nicht als Substantia genügen; dennoch bleibt sie als geheimnisvolles Medium das principium vitae. Leben ist nur ein Gleichnis des Geistes. Dann wird die Seele zur Brücke. Allein die Vorstellung einer Brücke fordert eine in Stockwerken gegliederte Brücke. Es scheint aber so, als ob alle Schwierigkeiten mit der Seele, die wir zuvor ausgeräumt haben, jetzt in Form einer Brücke in Stockwerken wieder hereinkommen würden. Indem wir nämlich die verschiedenen Ebenen von Pflanzen-, Tier- und Geistseele dem Wesen doch weithin abgezogen haben, müssen wir sie jetzt der Relation eingliedern. Bleiben wir im Bilde, so müssen wir doch sagen, dass diese Schichten sich weit besser als Stockwerke im Hause des Wesens als an der Brücke der Seele unterbringen lassen. In dem Maße, wie wir die Seele als Essentia auffassen, wird sie zur Substantia, sie trägt als Haus und Brücke in einem und löst so die Schwierigkeiten. Seele, nur noch als Brücke zwischen Geist und Materie verstanden, scheint doch zu einer recht fragwürdigen Hilfsbrücke zu werden. Eine solche Gegendarstellung macht sich aus dem stark, was ihre Schwäche ist: Das Schema einer dreiteiligen Seele in Form von pflanzenhafter, tierischer und geistiger Seelenschicht. Der grundsätzliche Unterschied des Geistigen geht hier in einer „Metaphysik der Seele“ unter. Das Pflanzliche und das Tierische sind wesentliche Gegebenheiten, das Geistige dagegen lässt sich so gerade nicht mehr erklären. Das Erkennen bricht als neue metaphysische Zone im Organischen auf. Gewiss hält sich Erkennen am Wesen, aber Erkennen ruft in der Zone des Daseins auch Gemüt hervor, und dieses



§ 5  Wirklichkeit im Begriff als Metaphysis und Seele37

wird freilich aus dem Wesen geprägt. Die Natur des Erkennens bleibt indes formlos und allförmig; nur als dritte Zone wird sie richtig begriffen. Das Geistige dagegen erhebt erst eine biologisch hochentwickelte tierische Natur zu Freiheit, Vernunft und Sittlichkeit. Aus der Sicht des Biologen wird der Unterschied zwischen Mensch und Tier überhaupt nicht feststellbar, weil er nicht im Wesen gründet. Pflanzensein, Tiersein und Menschsein ergeben sich als metaphysische Voraussetzungen, und was wir als seelische Grundlegungen verstehen würden, sind nur deren Widerschein im Medium Seele. Jetzt kommen wir dem Verhältnis näher: Seele kann ähnlich wie Erkennen nur ein aus sich völlig formloses Medium darstellen. Während aber Erkennen als metaphysisches Ur-Teil sich einstellt, wird die Seele etwas Hinzukommendes, welches aus sich jede Zusammensetzung verneint. Seele verbindet Geist und Materie als Grundsätzlichkeiten. Dieses Verhältnis kann nicht zeitlich verstanden werden; und es fällt schwer, die richtige Verteilung nach Ursache, Ursprung und Voraussetzung zu finden. Platon kennt die Schwierigkeit, die sich für die Abfolge der Zwecke ergibt, wenn man die Seele als Mittel zum Zweck einsetzt.4 Aber Platon denkt aus dem Seelischen; er macht nicht den Versuch, zwischen Theologie und Metaphysik zu trennen. Darin bleibt er dem Grundzug des Seelischen nur treu. Für uns jedoch stellen sich Materie und Geist als Voraussetzungen dar, auch wenn wir in Erwägung ziehen müssen, dass vieles, was uns der Materialismus der Wissenschaft als Materie vorgibt, seelisch bedingt sein könnte. Nachdem so die Seele als tragender Grund für die wesentlichen Unterschiede, vor allem für den Unterschied zwischen Tier und Pflanze, nicht mehr standhält, stellt sich uns die Aufgabe, diese Merkmale neu zu begründen. Als bloßes Medium verstanden, stellt sich jetzt eine neue Schwierigkeit ein, die uns die Einheit des Mediums zu sprengen droht. Sie ergibt sich, wenn wir über die Grenze der Philosophie hinweg in den theologischen Bereich blicken. Da es die vornehme Aufgabe der Metaphysik ist, den Naturbestand des Seins von all jenen Bezügen abzugrenzen, die der Theologe als Übernatur zusammenfasst, kann sie nicht blind sein gegenüber diesem Ausmaß der Seele. Die Einheit der Seele in ihren völlig verschiedenen Bezügen, nämlich der biologischen und der theologischen Seite, darf nicht aufgegeben werden. Anders würde ihre begriffene Form am entscheidenden Punkt, an ihrem Lebensnerv versagen. Denn Seele wird nur als allseitige Vermittlung zwischen Geist und Materie, zwischen Natur und Übernatur zweckmäßig. Die Achse der Vermittlung muss allseitig bleiben; die Seele als Relation muss Gegensätze vereinen können, ohne in zwei Medien zu zerfallen. 4  Timaios,

34 c.

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1. Hauptteil, 2. Kap.: Seele als Relation zwischen Geist und Materie

§ 6  Geist und Leben Geist beansprucht volle Wirklichkeit als ein mit Freiheit und Vernunft begabtes Individuum. Leben bedeutet Teilnahme am Geist über die Seele. Leben und Seele enthalten also die Materie. Pflanze, Tier, Mensch sind Stufen einer Einwohnung des Geistes in der Materie. Dann enthält die Seele in sich nicht die Formhaftigkeit, sie wird zum Band, welches Geist und Materie zunehmend inniger zusammenschließt. Alles Formhafte eignet der Seele als Weise des Zusammenschlusses, die Seele ist ein Vertrag, ein pflanzlicher, tierischer, menschlicher Vertrag mit der Materie. Blicken wir einmal in den Bereich des Kulturhaften, so bemerken wir, dass jedes Werk den Geist des Schaffenden zum Ausdruck bringt. Dies ist allgemeine Bestimmung von Kulturzustand. Wir wissen auch, dass der Materie eine beträchtliche Sprödigkeit eignet. Der Künstler kann seine geistige Gestalt nicht unmittelbar zur Vorstellung bringen, Kultur ist ein Ausdruck in der Materie schlichthin. Die Eigenart der Materie liefert zu jedem Zeugnis ihre jeweilige Eigenform. Es fließt also eine Form mit ein, die auch dem Seelischen noch vorausliegen dürfte. Das Symphonieorchester prägt einen anderen Klangkörper als das Streichorchester; die Ölmalerei bildet andere Züge als die Aquarellmalerei am Gemälde aus. Der Eigenbeitrag des Materials ist nicht zu umgehen; er hat seinen eigenen Reiz, der gewollt zur Anwendung kommen soll. Ein solcher Grundzug des Kulturhaften kann nur vom Naturhaften kommen. Es gilt also, dass jede lebendige Form die geistige Urgestalt durchsichtig werden lässt, dass diese aber auch an die Eigenform der Materie gebunden bleibt. Nehmen wir hinzu, dass Seele ein Vertrag des Geistes mit der Materie ist, so erhalten wir eine weitere Erklärung: Je weiter der Geist von der Materie entfernt bleibt, desto mehr kommt die spröde Eigenform der Materie zum Vorschein. Auf der anderen Seite steht das menschliche Auge als vollkommenster und ursprünglichster Ausdruck des Geistes. Zwischen ihnen verbindet Seele, ein unbegreifliches Medium, allgegenwärtig, allgemein und einzeln, Träger von Gegensätzen, geradezu von Widersprüchen, Bindung schlichthin. Erst damit schließt sich unsere Wirklichkeit. Die Gebirge und die Unterwelt der Erdteile, aber auch das wissenschaftliche Weltbild der Jahrhunderte, dies alles entkommt nicht dem Netz einer Seele. Die Betrachtung nach Natur und Geschichte hat einen tiefen Sinn, Seele ist das, was die Unterscheidung in sich aufhebt. Was sich aufhebt, ist seelisch, was bleibt, ist Geist und Materie. Vielleicht erklärt sich Hegels dialektische Ontologie als durchgehende Verwechslung von Geist und Seele. Was die Seele so ungreifbar macht, liegt im Geist und in der Materie. Seele in ihrer Eigentümlichkeit, nicht was ihr allgemeines Walten als Medium, sondern ihre jeweilige Eigentümlichkeit betrifft, müsste demnach immer auf Ursprünglicheres zurückge-



§ 6  Geist und Leben39

führt werden. Seele in ihrer Eigentümlichkeit erklärt sich dann am ehesten als etwas Schicksalhaftes, das auf eine Entscheidung zurückzuführen ist. Im Schicksal wird die Unterscheidung nach Natur und Geschichte aufgehoben. Eine Entscheidung schließt alte Unterscheidungen ineins und schafft neue Voraussetzungen: das Formgesetz der Seele, das Unableitbare, das durch Wissenschaft nicht Begreifbare. Gehen wir also davon aus, dass Geist der Seele bedarf, um Leben in der Materie zu formen und zu erzeugen. Aus dem Zusammenhang darf somit die Seele als Quelle des Lebens, als principium vitae aufgefasst werden. Dennoch formt sie so nicht den Organismus, sie belebt ihn nur, der als wesentliche Gestalt eine leibgeistige, urwüchsige Selbständigkeit darstellt. Daraus erstehen uns die beiden „grundsätzlichen“ Schwierigkeiten, welche aber Geist und Seele betreffen. Denn Pflanze, Tier und Mensch werden zu Stufen einer Einwohnung des Geistes in der Materie. Das so gefasste Schema begünstigt anscheinend weniger eine Entwicklung der Wesen als die alte Einheit von Seele und Wesen. Denn am ehesten drückt sich so menschliche Wirklichkeit aus. Sie wird zum ausstrahlenden Pol im organischen Bereich; Tier und Pflanze umringen den Mittelpunkt: Menschliche Wirklichkeit erklärt sich als ein Bewusstsein, in dem der Geist selber Identitas geworden ist. Dieses Bewusstsein handelt nicht nur als Gleichnis einer geistigen Gestalt, wie es das Tier tut. Dieses Bewusstsein ist Tier und Geist in einem. Dass hier keine Verschmelzung der Ur-Teile vorliegt, wissen wir von den metaphysischen Anlagen her. An Hand eines solchen begrifflichen Schemas wird der Unterschied biologisch überhaupt nicht greifbar. Eine Tiergestalt könnte sich dem menschlichen Dasein über das Wesen täuschend annähern. Dennoch würde eben Geist nicht diese Innerlichkeit in ihm erreichen, dass dieses Bewusstsein mit den Insignien des Menschen ausgestattet wäre: Reflexion, Freiheit, sittliche Verantwortung. Diese Begabung obliegt dem geistigen Dasein, nicht erst der Seele. Aber geistiges Dasein verbindet sich erst über die Seele zur Identitas im leibhaftigen Bewusstsein. Dem zur Folge bietet sich erst tierisches Sein zur Erklärung an. Geist nähert sich ihm nicht so weit; der Abstand behauptet sich in der Seele. Von der Pflanze bleibt geistiges Dasein in dem Maße entfernt, dass sie nicht zum Bewusstsein vordringen kann. Darum „denkt“ die Pflanze in den Wurzeln, und sie bleibt an den Boden gebunden. Wir entnehmen dabei die maßgebliche Bestimmung für die Seele: Relation als Nähe bzw. Abstand in Form von Mensch, Tier, Pflanze. Alles Übrige leitet sich aus der Artgestalt des Wesens her. Zugegeben, dass sich, aus einer bloßen Nähe oder Ferne verstanden, die Unterschiede Pflanze, Tier, Mensch nicht mehr ausdrücken. Die Tatsache, dass jeweils die höhere Stufe die entferntere und bodenhaftigere voraussetzt,

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1. Hauptteil, 2. Kap.: Seele als Relation zwischen Geist und Materie

bekräftigt das Schema. Soweit also recht und gut. Doch stellt sich jetzt die andere „grundsätzliche“ Schwierigkeit in den Weg. Das Gebiet der Spekulation haben wir nun einmal mit der Philosophie des Seelischen betreten, die Felsengründe der Metaphysik tragen uns nicht mehr. Es gilt deshalb, das ganze Ausmaß des Seelischen anzunehmen. Es gehört in unseren Bereich nicht die mystische Ausstattung der Seele, die sie aus den Offenbarungen der Religionen erhält. Es gehört indes dazu, dass wir unser Modell Seele offen lassen für das Schicksal und die Begabungen (Gnadengaben) der Seelen aus dem Jenseits. Jetzt sehen wir die Hindernisse klar, die sich uns in den Weg stellen oder sich uns an der Grenze abzeichnen. Wie lässt sich diese letztere Sicht, nämlich Seele als geformtes Gefäß, mit der ersten Sicht, nämlich Seele als bloßer Abstand des Geistes zur Materie, noch vereinbaren? Bricht uns hier die Einheit der Seele nicht auseinander? Aber Seele, als Relation verstanden, vermag eben Gegensätze zu tragen, wie sie Seele, als Substantia verstanden, nicht mehr zusammenhalten kann. Denn die bekannten Gegensätze werden durch die Relation verteilt auf zwei Grundträger, nämlich auf Geist und Organismus. Menschenseele besagt dann, dass hier Geist und Organismus so innigst verbunden werden, dass sich Organisches geistig und Geistiges organisch ausdrückt. Platon hat es unübertrefflich gesagt: Die Seele durchdringt den Weltkörper – Kosmos und Organismus – von innen und außen.

§ 7  Metaphysis und Seele; Urgrund und Urbindung der Wirklichkeit Seele als Vermittlung von Gegensätzen schließt den Gedanken einer allseitigen Vermittlung ein. Enthalten ist in dieser Absicht dann auch der erhöhte Zusammenschluss des Wirklichen mit dem Selben. Indem das Gefugte in sich selber inniger schließt, nähert es sich gerade damit dem Selben. Bisher wurde dieses Verhältnis nur metaphysisch gesehen. Allein die Metaphysis bleibt ein Rohbau, ein geformter Lehm, wenn der Odem des Lebens, eben die Seele, nicht hinzukommt. Gerade dieser Gesichtspunkt weitet den Ausblick in den theologischen Bereich, vor allem aber wird er zum Grundgedanken alles Mythischen. So wäre denn auch eine klare Grenzziehung zwischen Metaphysik und Mythologie gegeben. Eine „Metaphysik des Mythos“ redet vom Inneren eines Hauses, zu dem ihr der Schlüssel fehlt. Eine andere Betrachtungsweise des Seelischen, zu jener von Mensch, Tier, Pflanze hinzukommend, durchkreuzt das dreistufige Schema. Letzteres hinterlässt uns die Naturseele als Wildnis des Organischen. Der Mythos aber zeigt uns die Spannweite der Seele von der Wildnis über die Kultur zur Mystik. Es wurde in der Metaphysik angedeutet, dass Kultur im Bereich des Daseins, nicht im Ur-Teil Wesen anzusiedeln ist. Aber so wie die Wesensgestalt ohne Seele nicht lebendig wird, so kann in einer menschlichen Gesell-



§ 7  Metaphysis und Seele; Urgrund und Urbindung der Wirklichkeit 41

schaft ohne Seele keine Kultur aufkommen. Die Seele ist gewissermaßen alles. Diesen Gedanken, den Platon und Aristoteles jeweils in verschiedenem Seinsbegriff vertraten, wollen auch wir befürworten. Sie umschließt alles als ein Netz, und sie belebt alles wie ein Strom von innen her. Die Seele steht im Zeichen und im Feld des Daseins, der Existentia. Hier nur kann der Lande- und Anlegeplatz der Seele gegeben sein. Weder das Wesen, noch weniger das Erkennen haben besondere Anlagen, um sich mit dem Seelischen zu verzahnen. Dasein jedoch wird aus seiner ursprünglichsten Verfassung her zum Empfängnisgrund der Seele. Indem es als principium identitatis dasteht, verbindet sich dort die Seele mit dem Herzen der Persönlichkeit, und gerade deshalb übersetzt von hier aus die Seele zur Allgemeinheit. Dies muss richtig verstanden werden. Natürlich geht es nicht mehr um das wesensmäßige oder erkenntnismäßige Allgemeine. Solche Züge sind metaphysisch schon zu Grunde gelegt, vorausgesetzt. Also geht es hier, im Seelischen, um das kulturhafte Allgemeine, um persönliches Schicksal, soweit dieses wiederum mit dem gesellschaftlichen Allgemeinen in eine Wechselwirkung tritt. So klärt sich denn die Seele als Bindung heraus, soweit diese Bindung Individuum und Individuum, Individuum und Allgemeines und umgekehrt miteinander verknüpft. Seele klärt sich noch etwas mehr heraus, wenn wir feststellen, wo sie nicht ist. Es ist der Bereich der Reflexion, die zwecklose Logik, der ihr verschlossen bleibt. Seelenferne können wir wohl auch zwischen Wesen und Erkennen annehmen. Das Sachliche sowohl im Stoff wie im Bewusstsein verrät uns die Abwesenheit seelischer Bindung. Bindungen deuten auf Seelisches hin. Welche Wechselwirkung aber entspricht dann in der Metaphysis der Bindung? Teilen wir das Metaphysische in die Ebenen mechanisch, physikalisch, chemisch, dann organisch und schließlich Bewusstsein, so blicken wir auf das Feld der eigentlichen Natur. Hier stellt sich uns die Aufgabe in erster Hinsicht zur Seele: Wie beteiligt sich die Seele im Bereich der Wildnis und an deren starrer Voraussetzung unter dem Organischen?

2. Hauptteil

Die Seele im Bereich der Natur; die Wildnis

1. Kapitel

Seele und Organismus § 8  Materie; Mythos und Physik Für die moderne Physik bedeutet Materie im engen Sinne die Einheit von Masse, Raum, Zeit und Wechselwirkung. Wer die Bemühungen um die GUT5 mitverfolgt, der kommt zu der Feststellung, dass die Spekulationen der alten Metaphysik sachlich sind gegenüber den Mythen der Teilchenphysik. Es wäre daher abwegig für unsere Philosophie, mit dem Weltbild der modernen Physik ein Bündnis zu schließen. Zwiespältig wird aber der Begriff der Mater Terra, der dreifachen Mutter, weil im alten Mythos-Denken der gesamte irdische Stoff im Zeichen des Mutterschoßes steht. Damit zeichnet sich schon eine Kluft zwischen metaphysischem und mythischem Denken ab, und eindeutig enthüllt sich der Mythos als seelisches Denken: Materie und Materie ist nicht dasselbe, je nachdem, ob ich sie seelisch oder metaphysisch verstehe. Metaphysisch gesehen, zielt Materie auf den Stoff des Weltalls. Mythisch gesehen, gibt es eine irdische und eine himmlische Materie. Wir sehen dann, dass die antike und die mittelalterliche Metaphysik einen mythischen Materie-Begriff verwendet hat. Materie enthält die Mutterbindung der Erde zur himmlischen Mutter-Erde-Gottheit. Dagegen bedeuten die Elemente der Antike den Versuch, Stofflichkeit in einem rein physikalischen Verhältnis, also möglichst seelenlos, zu begreifen. Ist es nicht gerade Platon in der Sphäre seines seelischen Denkens, der immer erneut versucht, Mythos und Geometrie in ein Geflecht zu bringen. Ein Bedürfnis, hinter dem Mythos auf sachlichere, auf metaphysische Gründe zu kommen, wird dann durchscheinend, wenn er auf die Elemente und die dreieckigen Urbausteine zurückgreift. Für unsere Betrachtungsweise ausgelegt, stellt sich die Materie einmal als Substantia zum anderen als Relation dar. Es wäre freilich eine platte Lösung, wollten wir die Substantia einfach der Metaphysis, die Relation dann der Seele zuweisen. Metaphysis, soweit wir sie uns als geistige Urwirklichkeit denken müssen, enthält natürlich alle ontologischen Verhältnisse. Aus dieser Überlegung entnehmen wir nur die Schwierigkeit unseres Zugriffs: Seele 5  Grand

unified theory.

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2. Hauptteil, 1. Kap.: Seele und Organismus

gibt es nur im Zueinander von Geist und Materie. Letztlich aber wird uns Materie nur als Begleiterscheinung zu geistiger Wirklichkeit denkbar. Dennoch darf wohl erwartet werden, dass der Materie Relationen zukommen, die ihre Eigenverfassung ausmachen: Das Gebiet der Physik und Chemie. Materie als Raum, Zeit und Eigenform, als Bau ihrer kleinsten Einheiten beansprucht ihre Gesetzmäßigkeit als ein Seiendes, dem man nicht das Wesen zuerkennen kann. Materie wird zum Sein, das unerklärlich unentschieden zwischen Wesen und Dasein „anwesend“ ist. Wenn aber die Pythagoreer und Platon der Geometrie als letzter Brücke zwischen Geist und Materie eine solche Bedeutung zugemessen haben, so verrät dies auch die Andersartigkeit des Raumes gegenüber der Zeit. Nur der Raum überbrückt die Todeskluft der Zeit zwischen Geist und Materie. Weder die Vorstellung des Behälters (Substantia) noch jene der stofflichen Ausstrahlung oder Ausdehnung (Relation) werden dem Raum letztlich gerecht. Im Letzten können jedenfalls Raum und Zeit nicht als ein Continuum begriffen werden. Es darf in unserer Untersuchung offen bleiben, wie weit im Bereich der starren und formlosen Materie eine seelische Bindung schon zulangen könnte. (Natürlich haben die Kunstgebilde der Materie eine seelische Bindung.) Die Materie hat ihre Eigenverfassung; dazu gehört der Raum, auch wenn er in der geistigen Wirklichkeit ebenso zu Hause sein könnte. Die Griechen haben mit der Geometrie Sehen, Denken und Raum in eine vornehme Trias gebracht; man könnte dann Hören und Zeit in eine ähnliche Entsprechung setzen. Jedenfalls dürften die Grundkräfte der Materie, Schwerkraft, elektrische und magnetische Kraft zur allgemeinen Verfassung ge­ hören.6 Aus dem Mythos entnehmen wir indes, dass dem Erdkörper insgesamt eine besondere Mutterbindung zukommt. Aber auch die übrigen Planeten, Mond und Sonne haben unbeschadet ihrer kosmischen Materie eine besondere Bindung im Mythos der Sterndeutung. Platon setzt sie in vorgezeichnete seelische Bahnen hinein. Worauf es hier ankommt, ist einfach zu verstehen: Solche seelische Bindungen dürfen in ihrer Wirksamkeit oder ihrer Ursächlichkeit nicht in das Schema einer zeitlichen Abfolge gebracht werden.

6  Es ist völlig unwahrscheinlich, dass es die einzige Urkraft gibt. Eher lassen sich wohl die starke und die schwache Wechselwirkung auf die alten Kräfte der klassischen Physik zurückführen.



§ 9  Relatio universalis47

§ 9  Relatio universalis 1. Die Seele und die metaphysischen Ur-Teile Duns Scotus erkennt der Materie in ihrem grundlegenden Bestand noch ein Wesen zu. Für ihn, der in entschiedenster Weise unter den Mittelalterlichen alles am Wesen aufhängt, bleibt Sein ohne Wesen eine contradictio in se. Letztlich wird man ihm darin nicht widersprechen können. Andrerseits verwischt aber eine solche Weite im Begriff des Wesens die scharf umrissene Artgestalt und ihren Organismus. Man sieht sich daher zu einem Vergleich genötigt: Materie hat kein echtes Wesen. Ein solches Sein kann freilich nur bestehen, indem es aus einer geistigen Urwirklichkeit gehalten wird. Dann geschieht eine solche Aussetzung als Dasein im Voraus in Bezug auf die Wesen hin, und wir sehen, dass der Mythos von der Mutter Erde eine tiefgründige Aussage enthält: Die Erscheinung der Materie verlangt nach einer seelischen Bindung. Was hier zeitlich am Ende aufleuchtet, kann ursächlich durchaus das Maßgebliche sein. Es bedeutet nicht weniger als die Vermittlung zwischen Wesen und Dasein. Die Sprödheit der Materie verlangt nicht nur die Seele für die Bindung zum Geist. Da die Materie zum Wesen der Lebendigen gehört, kommt der Seele auch innerhalb der Metaphysis noch die Vermittlung zu. Denn das Wesen als metaphysisches Ur-Teil an sich darf nicht stofflich sein, und dennoch muss es ihm zukommen aus sich selber, dass es stofflich wird. Wir sehen, welche Schwierigkeiten entstehen, wenn die Seele selber zur Essentia werden soll. Wo die Seele zur Essentia in den Begriff geht, da wird die distinctio realis verdrängt. Dies hat nicht nur zur Folge, dass die Essentia in ein und derselben Hinsicht allgemein und einzeln sein muss.7 Auch die „Intelligentiae“ der mittelalterlichen Metaphysik machen hier keine Ausnahme. Doch kommt bei den stofflichen Arteinzelnen hinzu, dass auch die Essentia in der Wirklichkeit stofflich und unstofflich in gleicher Hinsicht sein muss. Wir haben aber in unserer Metaphysik zwei grundlegende Unterscheidungen, welche die Spannungen im Begriff erheblich mildern: Die distinctio realis zwischen Wesen und Dasein, dazu die Trennung von Essentia und Anima. Damit löst sich eine weitere Schwierigkeit, nämlich jene Vorstellung des Duns Scotus, wonach die Materie ein eigenes Wesen haben soll. Wir wollen Scotus darin zustimmen, dass Sein ohne Wesen ein Ungedanke ist. Aber Wesen ist Lebewesen. Dann erhält die Materie aus der Weltseele ihre Rahmenbedingung, so dass sie auch ohne Wesen sein oder dasein kann.

7  Vgl. vom Verf.: Plato metaphysicus – Aristoteles und die Folgen. Butzen & Bercker. 2004. §§ 24–26.

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2. Hauptteil, 1. Kap.: Seele und Organismus

Die eingangs erwähnte, widersinnige Vorstellung einer einfachen Brücke in Stockwerken mildert sich. Dort ging es darum, die Seele sich als Relation zwischen Geist und Materie vorzustellen. Damit soll aber auch die herkömmliche Ansicht einer Pflanzen-, Tier- und Menschenseele in Einklang gebracht werden. Seele als Relation zwingt uns indes, diese Annahme zur letzten Einfachheit vorzutreiben. Gerade weil die Seele ein so einfaches Medium darstellt, vermag sie überall zu binden, und aller Unterschied geht zu Lasten der Metaphysis. Was wir also unter Pflanzen- und Menschenseele verstehen können, wenn es letztlich der Begriff der Seele aushalten soll, drückt sich nur noch als Abstand zwischen Geist und Materie aus. Die Relation Seele hält die Unterschiede und die Gegensätze aus, getragen werden sie von der Metaphysis. Haben wir zunächst die Seele allgemein als Bindemittel zwischen Geist und Materie erschlossen, so erweitert und vertieft sich diese Fassungskraft der Seele jetzt auch noch. Denn es gehört zur Brücke zwischen Geist und Materie, dass sie ihrer Aufgabe nur so gerecht wird, indem sie zwischen Wesen und Dasein im Organischen vermittelt. Gerade weil die Materie für sich kein Wesen hat, muss die Seele am Organismus in das metaphysische Verhältnis eindringen. Materie bedeutet demnach eine wesenlose Metaphysis, die aber auch in ihrem An sich schon in einer seelischen Verfassung begriffen werden muss. Wir halten deshalb dafür, dass die potentia obiectiva der Natur der Materia näher kommt. Betrachtet man das Dasein der Materia nach der potentia subiectiva, so erhöht sich die Materia im Sein als eine mehr selbständige Metaphysis. Damit vereinbar wird dann die Lehre von der Mehrheit der Formen, die Duns Scotus lehrt. Wir erhalten dann einen Concursus von Geist und Materia, zwei Metaphysen werden durch die Seele weniger innig zusammengeschlossen. Der Abbildungsgedanke, Materia als Gleichnis des Geistes wird etwas abgeschwächt. Der antiken Auffassung von Materie kommt indes ein solches Schema näher. Indem Duns Scotus die distinctio realis ablehnt, schließt sich jedoch das Verhältnis von Geist und Materie wieder fester zusammen. Bedenkt man aber, dass in der mittelalterlichen Metaphysik die Seele die Substantia wird, so muss Duns Scotus eine Mehrheit der Formen vertreten, da ihm sonst die distinctio realis zwischen Seele und Leib zu einer metaphysischen würde. 2. Seele und Materie Wenn die Seele also bei den Organismen diese erst lebensfähig macht, indem sie die spröde Materie einerseits mit der geistigen Wirklichkeit überhaupt, andrerseits mit ihrem ureigenen Wesensbestandteil verbindet, so liegt hier nur die Auswirkung ein und desselben Gedankens vor. Das Bündnis zwischen Geist und Materie führt zu einem seelischen Zusammenschluss bei



§ 9  Relatio universalis49

Wesen und Dasein. Nur über die Seele wird es möglich, dass Materie, das formlose Etwas, in einem unstofflichen Wesen veranlagt werden kann. Zu den Folgen, die sich aus der Überlegung einstellen, wagen wir kaum zu stehen. Zeichnen wir sie aber dennoch im Umriss hin: Wenn Materie nur über Seele in das metaphysische Ur-Teil Wesen eingelegt ist, so kommt die Materie dem leibhaftigen Wesen mittelbar zu. Es gibt also auch im leibhaftigen Wesen einen Gestaltgrund, der unabhängig vom Stoff irgendwie tragen könnte. Es würde bedeuten, dass kosmische, stoffliche Wirklichkeit irgendwie wiederholbar wäre auch ohne Materie. Nicht als bloße Idee, sondern als geistige Wirklichkeit. Wir wollen uns aber hier nicht auf dieses gedankliche Abenteuer einlassen. 3. Seele als „innere“ und „äußere“ Bindung Nochmals wollen wir Platons Bild heranziehen, wonach die Seele den Weltkörper von „innen“ und von „außen“ umgibt. Wir entnehmen ihm ein sehr sinnvolles Gleichnis, das wir mit einiger Deutlichkeit am Naturhaushalt ablesen können. Was bedeutet es, wenn die Seele den Kosmos von innen und außen durchdringt? Die Monade der Artgestalt formt sich schon aus dem Zusammenhang der anderen Arten in der Umwelt. Diese Formung darf als seelisches Geschehen verstanden werden, auch wenn das Organische ein metaphysischer Vorgang bleiben muss. Metaphysisch bleibt das Leben auf der Erde gleich; dennoch tragen die Arten der Erdteile eine bestimmte Prägung. Letztere verrät die Seele. Es stimmt damit überein, dass die „erste Philosophie“ bei Aristoteles keine Anhaltspunkte aufweist, um die Zusammenfügung des Naturhaushalts zu begründen. Dagegen beschreibt doch Platons Ontologie im Timaios gerade die Concordia in der Schöpfung. Dort metaphysische, hier psychologische Ontologie.8 Zu dem so gefügten Entgegenkommen der Artgestalten unter sich müssen wir nun die allgemeine seelische Vermittlung hinzudenken, ohne die Organismus nicht möglich wird. Alles Leben ist Gleichnis des Geistes, und die Seele trägt als Brücke des Vergleiches. Ein keineswegs einseitiges Verhältnis liegt hier vor; es handelt sich um einen Vergleich innerhalb vom Gefugten; zwischen Geist und Materie kann eine wechselseitige Abhängigkeit in gewisser Hinsicht bestehen. Wir bemerken also zwei allgemeine seelische Bindungen: Jene, welche die Organismen zueinander angleicht gemäß dem Naturhaushalt. Sie richtet sich nach den Voraussetzungen der Materie als Bindung „von außen“. Die andere 8  Vom

Verf.: Plato Metaphysicus. §§ 29 u. 30,2.

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2. Hauptteil, 1. Kap.: Seele und Organismus

Bindung wird zum eigentlichen Lebensnerv, sie treibt die drei Kreisläufe des Lebens; die Bindung „von innen“. Unser Augenmerk soll nun der inneren Bindung zukommen. Indem diese die drei allgemeinen Kreisläufe des Lebens trägt, nämlich Stoffwechsel, Wachstum und Fortpflanzung, erklärt sich das Leben als Ausstrahlung der inneren Bindung. Sie bleibt darin dem einzelnen Organismus verhaftet und wirkt nicht unmittelbar seelisch zwischen den Arten, wie es die andere eher tun kann.

§ 10  Materie und Kreislauf 1. Materie und Boden Das Leblose ist das Wesenlose; Materie ist gestaltlos. Betrachten wir die Materie als seelenlose, so entnehmen wir ihr den Kreislauf als die Form ihres Bestehens. Darin bewahrt sie ihre Ruhe; es bleibt die einzige Möglichkeit, Ordnung zu halten. Sie tut es mikro- und makrokosmisch. Wo sie dieser Urform entgleitet, entsteht Chaos. Das Chaos vermag sich nicht zu halten und fällt zurück in die Ruhe des Kreislaufs. Materie und Kreislauf fügen sich zusammen wie Dasein und Wesen, so dass wir den Stoff als Dasein im Voraus bezeichnen können. Materie und Kreislauf gehören zum eigentlichen Bestand der Metaphysis und sind in der Naturphilosophie zu behandeln. Die Materie bewahrt die Ruhe, indem ihre Form zugleich auch ihre Eigenbewegung darstellt. Einfach hält sich die Materie nach Wesen und Dasein, nach Gestalt und Bewegung. An der Materie gemessen, kommt das Lebendige im Bereich des mittleren Abstands auf. Es führt sich in jenem Bereich aus, wo die ungeordnete, unberechenbare Selbstbewegung weder mikro- noch makrokosmisch ins Gewicht fällt. Leben erweist sich als Bewegungsfreiheit im Spielraum zwischen dem Chaos. Dort liegt der „Boden“, Chaos ist bodenlos; und hier kommt der Gleichnisgedanke zum Tragen. Materie für sich gesehen hat noch nicht den Boden, der als Rahmenbedingung für das Gleichnis aufkommt. Boden enthält also schon Seelisches, indem er die Richtung zum Organismus, ja sogar zum höheren Boden, nämlich zum Heimatboden hat. Materie kennt keine Unterscheidung nach innen und außen, sie hat keinen Boden, es fehlt ihr die Richtung. Sie hat jedoch eine Anordnung in sich, die wir noch nicht als Richtung bezeichnen wollen. Als Vorbereitung und Tragegrund vermittelt der Boden zwischen Materie und Leben, und er kennt nun die Richtung: Nach innen und außen, was jetzt aber auch oben und unten bedeutet. Nach unten zu den Mineralien, nach oben zu den Organismen, zur Unterwelt und zur Umwelt. Mit dem Boden entstehen die Weltbedingungen. Boden bedeutet fester Halt als Entlassung aus dem Kreislauf der Materie;



§ 10  Materie und Kreislauf51

Boden wird zum festen Grund für die Grade der Freiheit. Boden trägt die Richtungen und Ebenen der Freiheit. Die Wirksamkeit der Seele beginnt am Boden als Verinnerlichung der Materie, als Zunahme der Unterscheidungen. Innen wird immer auch zu oben. Aber Boden bleibt auch Materie, und der verwickeltste Organismus bleibt im Innenleben Materie. Seele als völlig formlose Macht lässt im ersten Ansatz den Boden als Vergleich zwischen Geist und Materie entstehen. 2. Das Leben und der Kreislauf Im Spielraum der Bewegung bilden sich die Organismen, so dass ihre Unberechenbarkeit für die Materie zu einem gleichgültigen Zu- oder Abfall wird. Aber jede Betrachtung hat eine Richtung, danach stellt sich ein Ergebnis ein. Mit der Unterscheidung nach innen und außen, Leben ist Innenleben, bricht der Unterschied zwischen Selbstbewegung und Eigengestalt auf, während die Einfalt der Materie dahin geht, Bahn und Gestalt zu vereinigen. Aber der Organismus bleibt durch und durch Materie und damit an deren Kreislauf gebunden. Der Organismus regelt sich in einem Getriebe von drei Kreisläufen. Warum sind es gerade drei? Wir sind der Dreiheit im Bereich der Metaphysis an allen Eckpunkten begegnet. Entsprechen die drei Kreisläufe drei Wechselwirkungen auf der Ebene der Materie? Eine weitere Beobachtung fällt sofort ins Auge. Die Lebendigen erscheinen in abgeschlossenen Artkreisen. Es ist nicht so, dass zwischen den Artgestalten Spielformen eines gleitenden Übergangs auftauchten. Wir bemerken keine Bahnen einer Artentwicklung, so wie die Biologen etwa die Entstehung der Arten im Schema einer Phylogenese darstellen. Die Arten müssen also in Sprüngen, nicht in Bahnen entstehen. Aus der Sicht des Materialismus kann zwischen solchen Sprüngen ein Stück Chaos liegen; aus metaphysischer Sicht ereignet sich dieser Sprung im Netz der Seele, und er wird in ihren Maschen aufgefangen. Während die Wechselwirkungen der Materie zusammen einen Kreislauf bilden, sie kennen deshalb nicht innen und außen, bedeutet Innenleben eine Aufteilung des allgemeinen Zwecks in Bereiche. Darum legt der Organismus seine Kreisläufe in abgesonderten Kammern und gegliederten Zusammenhängen aus. Es bleibt dabei, dass der Organismus nur in der Zusammenarbeit der dreien leben kann. Nur in der Vorbereitung des Organischen ließ sich am Boden eine Richtung entnehmen. Jetzt werden die Richtungen offenbar. Der Stoffwechsel stellt den Zusammenhang mit dem Boden her. Die Fortpflanzung lässt Um-

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2. Hauptteil, 1. Kap.: Seele und Organismus

welt entstehen. Am Wachstum entdecken wir eindeutig die Richtung nach oben gleich innen, da nur dieser Kreislauf in zunehmender Vollkommenheit das Wesen im Dasein herausprägt. Dem Verhältnis von Artgestalt und Organismus entnehmen wir einen allgemeinen Zusammenhang, der zwischen Wesen und Materie wirksam wird. Es fällt doch auf, dass in Bezug zur Eigenart die Wesen sich in Genossenschaften absondern, während die Lebendigen in Bezug auf den Organismus selbst über ganze Tierstämme hinweg immer wieder dieselbe Verfassung vorzeigen. Was also am Organismus immer wiederkehrt bei allen Lebendigen, deutet auf die Materie und führt zu Rückschlüssen auf ihre Verfassung. Die drei großen Kreisläufe erinnern an die Materie, weniger an das Innenleben der Wirklichkeit, das wohl mit der Vielfalt der Arten, Gattungen usw. angedeutet wird. In seiner allgemeinen wie auch in seiner besonderen Form bekundet sich der Organismus (oder das Lebendige) als Metaphysis. Was ihn lebendig macht, ist Seele. Darum hat das Lebensgesetz nur eine Richtung, nämlich nach innen. Auch im Vorgang des Absterbens bleibt das Leben zum Wesen hin ausgerichtet. Die Verwesung zum Boden hin ist mit der Beseelung nicht vereinbar. Seele bleibt das an sich Formlose, welches Form als Metaphysis voraussetzt. Der Kreislauf als Grundform der Materie bekundet das Beharren in sich. Seele wirkt in Materie ein, ohne diese in ihrem Sein zu verwandeln. 3. Seele und Organismus Mit dem Organismus weist die Materie über sich hinaus in Gestalt, Bewegung und Zweck. Er ist unteilbar nach außen und streng geteilt nach innen; jetzt erst wird die Höhe des Individuums erreicht. Was gerade die Dreiheit der Kreisläufe betrifft, so ist man versucht, sie auch mit den Ur-Teilen der Metaphysis in Entsprechung zu setzen. Denn offensichtlich strebt das Wachstum immer näher zum Wesen hin, und zwischen Dasein und Stoffwechsel verbindet ja das Mahl.9 Ein Zusammenhang zwischen Erkennen und Fortpflanzung lässt sich jedoch nicht einsehen.10 An den Kreisläufen der Materie begegnet uns die gesicherte Erfahrung, und dennoch sehen wir darin ein grundlegendes, metaphysisches Ereignis. Materie schließt sich in Kreisen zusammen. Auf den Ebenen wiederholt sich das Vorgebildete in zunehmender innerer Unterscheidung. Materie erschließt sich als Sein, an dem die Unterschiede in der Metaphysis ihre äußerste Geringfügigkeit erreicht haben. 9  Vgl.

1. Bch. §§ 27.3; 28.2; 30.1; 38.2; 40.1. biblischen Bücher nennen die Zeugung zwar Erkennen, metaphysisch wird für uns aber keine Erklärung durchsichtig. 10  Die



§ 11  Kultur und Wildnis; zur Abgrenzung der Begriffe53

An der Höhe des Individuums tritt eine neue Trias auf den Weltplan, die wir später als den Bodensatz der Kultur des Menschen einsehen können: Boden, Heimat, Volk. Ist es ein Zufall, dass „Materia“ aus „Mater Terra“ den dreifachen Mutterschoß bedeutet, so dass sich der Kreislauf in der Fortpflanzung vollendet? Aber die Metaphysis mit ihren bleibenden Formen ist in der Bezeichnung Materia auch schon immer umschlungen und durchdrungen von der Anima, jenem formlosen Medium, welches nulliformis ist und deshalb omniformis sein kann. Man mag ein solches Verhältnis in der Wirklichkeit dialektisch begreifen. Es wird aber letztlich eine oberflächliche Metaphysik mit trügerischen Untiefen an entscheidenden Stellen ergeben. Es ist gerade das Seelische, welches uns in seiner formlosen Allförmigkeit lehrt, dass es ein Wahrnehmen gibt, welches ungelehrt alles metaphysische Erkennen übersteigt. Metaphysisches Erkennen bleibt Stückwerk. In der Seele liegt es beschlossen, dass wir uns in der Tateinheit des Daseins dem Weltzweck nähern. In der Seele erst entkommt das Bewusstsein den Ur-Teilen der Metaphysis, um sich grenzenlos dem Selben anzugleichen. Wo die Seele verkümmert, wird die Materie zur Wüste und die metaphysische Unterscheidung zur Zersetzung, das Wissen zum unfruchtbaren Sand.

§ 11  Kultur und Wildnis; zur Abgrenzung der Begriffe Wildnis hält sich als Regelkreis des Wesens im Dasein. Kultur bleibt ein Ereignis im Dasein. Wildnis hat nichts an Kultur; diese Unterscheidung lässt sich zumindest scharf ziehen. Es gibt keine Ameisenkultur. Wenn nun Seele bereits den Organismus am Leben hält, so bleibt auch die Kultur als metaphysisches Ereignis im Dasein ganz im seelischen Walten hängen. Damit wird die Bedeutung der Seele auf einmal in den Begriff gebracht: Sie bringt Wesen und Dasein in die Einheit des Lebens als Wildnis. Sie lässt aus dem Wirken des Geistes in der Materie eine Kultur entstehen. Kultur gehört schon zur Metaphysis, sie ist mit der leibhaftigen Verfassung menschlichen Geistes gegeben. Kultur lässt sich als das freie Spiel des Daseins über den Bedingungen der wesentlichen Wildnis umreißen. Aber Kultur, so wie wir sie aus der Geschichte der Völker erfahren, zeichnet sich als ein Schicksal aus, und dieses führt sich nur in einer seelischen Bestimmung aus. Kultur als Schicksal zählt nicht mehr zur Metaphysis. Alles Schicksalhafte gehört nicht mehr in den Bereich dieser Untersuchung, die sich einerseits gegen eine Kultur- und Geschichtsphilosophie andrerseits gegen eine herkömmliche Naturphilosophie abgrenzt. Dagegen rechnen wir die sittliche Verfassung menschlichen Daseins zum Grundverhältnis von Seele, Geist und Materie. Sittlichkeit hat sich als Bestimmung des Geistigen überhaupt ergeben, und sie liegt so der Kultur als metaphysische Anlage schon voraus. Um

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2. Hauptteil, 1. Kap.: Seele und Organismus

das Ereignis Kultur, soweit wir es für das Verhältnis Geist, Seele, Materie benötigen, in seinen Wurzeln und in seiner Fülle abzutasten, lassen wir Kultur der leibhaftigen Anlage entspringen. Sittliche Bestimmung beansprucht dann, nur eine Wurzel der Kultur zu sein. Deren andere ruht in der Materie. Sittlichkeit als eine Seinsverfassung reicht weiter als Kultur und erweist sich tiefgründiger mit Sein verflochten. Es fällt schwer, das Augenmerk dieser Untersuchung einzuschränken. Im ersten Buch ging es um die Metaphysis: Sein in einer allgemeinen Verfassung, so dass wir sogar von Seele noch absehen konnten. Allein diese Metaphysis als Substantia der Wildnis schließt sich eben nur, wenn Seele hinzukommt. Das so Bestehende, diese Wirklichkeit soll ausgeleuchtet werden. Wildnis erklärt sich so als Wirklichkeit nach Abzug von dem, was als entfaltete Kultur hinzugekommen ist. Wildnis schließt mehr ein als den Gegenstand einer Naturphilosophie, für den dann die Materie und der Organismus übrig bleibt. Wildnis führt die gesamte menschliche Anlage von Geist, Leib und Seele noch mit. Sie hat dann auch noch die metaphysische Veranlagung zur Kultur in ihrem Gehalt.

2. Kapitel

Die Kennzeichen des Seelischen im Bereich der Materie § 12  Das Chaos und die Materie Wir begegnen im Bereich des mittleren Abstands dem Reich des Organischen. Oberhalb und unterhalb würde das Spiel der regellosen Bewegung zum Chaos. Chaos also bedeutet Seelenferne der Materie; Zufall und Abfall, der sich so nicht halten kann, nicht einmal in der seelenfernen Materie. Das Chaos droht ständig einzudringen in das Reich der Mitte. Allein dort wird das Chaos nur zum Rückfall in den geregelten Kreislauf der Materie. Wir sehen, dass auch das Chaos seinen tiefen Sinn im Bereich von Kultur und Wildnis haben kann. Chaos gehört irgendwie zur Materie als Zufall und Ur-Sprung. Platons Auffassung von der Entstehung der Zeit mit den seelischen Umlaufbahnen der Planeten kann sich weder physikalisch noch metaphysisch halten. Aber darum geht es in der Philosophie des „seelischen Seins“ auch nicht. Es geht um die seelische Einrahmung der Materie. Die starre Materie in ihrer Seelenferne steht dennoch schon in der Ausstrahlung des Seelischen. Chaos wäre dann ein Zustand, worin selbst die Grundkräfte und Grundgesetze der Materie aus ihrem Lager fallen. Chaos geradezu als zeitloser Augenblick, dies lässt sich aus Platons Lehre entnehmen. Das Chaos stände so in einem besonderen Verhältnis zum Zeitlosen. Aber auch das Wesen weilt zeitlos im Organismus. Nehmen wir hinzu, dass alles Leben auch im Altern und Sterben immer nur eine Richtung nach innen zum Wesen haben kann, so ergibt sich vielleicht für das Chaos dennoch eine Zuständigkeit im Organischen. Zeugung und Tod, Ur-Sprung und Zufall, aber auch die Entstehung einer neuen Art; sie fordern einen zeitlosen Augenblick, wo die Hoheit des Wesens im Chaos zur Materie tritt.

§ 13  Sein und Seele; das Geheimnis des Werdens und das Mahl Erkennen bedarf des Inhalts der Substantia, um sich festzumachen. Hera­ klits Lehre vom Fließen trifft nur die Existentia, Parmenides setzte im Gegenzug die Essentia an. Aber Materie kommt nur der von den Sinnen abge-

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2. Hauptteil, 2. Kap.: Die Kennzeichen des Seelischen

leiteten Vorstellung der Substantia entgegen; und Materie belehrt uns, dass Substantia auch ohne Essentia stehen kann. Letztlich müssen wir es der Vermittlung einer Seele, einer Weltseele zuschreiben, dass es Substantia als Nicht-Wesen gibt. Folgerichtig nennt dann die Antike den Gedanken einer Materie ohne seelischen Verband das Chaos. Chaos ist also nur ein Gedanke, ein Ungedanke eben deshalb. Der Gedanke ruft sich in seine Herkunft zurück. Wenn daher die antike und mittelalterliche Ontologie die Essentia und die Substantia geradezu verschmelzen, unter Ausschluss einer distinctio realis, so bekundet sich darin ein stofflastiges Denken. Der Hang zur Materie wird darin noch stärker, dass das Medium (Psyche, Anima) selber zum eigentlichen Tragegrund als Essentia-Substantia wird. Uns geht es darum, das Walten der Seele aus dem begriffenen Geflecht herauszulösen. Wir dürfen nur noch vom Walten, Wirken, Weben der Seele reden, weil sie kein Wesen, mithin kein Dasein ausbilden kann. So bietet sich Seele tatsächlich als Einheit metaphysischer Gegensätze an, und es hebt sich in ihr das Widersprüchliche dialektisch auf. Jedoch stimmt es nicht für die Wirklichkeit, wenn man nicht nach Sein und Seele unterscheidet. Wenn Sein und Nichts im Werden dasselbe sind und werden, so gilt es, weil Wesen und Dasein im Organismus schon immer seelisch vermittelt werden. Hegels Lehre von der dialektischen Vermittlung entkommt darin dem herkömmlichen Seinsbegriff nicht, dass auch sie Sein und Seele gleichsetzt.11 Wir verstehen unter Wildnis das organische Wachstum unabhängig von jedem menschlichen Einwirken. Dass hier eine Dunkelzone besteht zwischen Organismus und starrer Unterwelt Materie, macht uns den Zugriff noch nicht hinfällig. Zwischen den Wurzeln eines Baumes und dem starren Felsen vermittelt schon wieder der Boden. Die Übergänge zerkrümeln sich im Grenzbereich, sie zeigen sich in den Ebenen offensichtlich. Es ist also das Werden, welches uns in besonderer Weise an das Geheimnis Seele erinnert. Geistige Wirklichkeit haben wir dann so zu verstehen, dass ihre Entwicklung nicht nötig ist. Geist bedeutet Mitteilungsfähigkeit schlechthin, so dass geistiges Dasein durch und durch aus Bewusstsein besteht. Entwicklung, dies besagt noch nicht Reifung, hat nur der Organismus. Materie erklärt sich als eine Daseinsweise, mit der zum Wesen hin eine solche Kluft ausgespannt wird, dass eine besondere Vermittlung hinzukommen muss, um das Wesen noch mit dieser Daseinsweise verbinden zu können. Das gefugte Sein wird durch den Einbau von Erkennen zu einem erhöhten Zusammenschluss und damit zum Gleichnis des Selben. Erkennen steht als Brücke zwischen dem Selben und dem Sein, jedoch bleibt Erkennen im Sein das Selbe. Gerade darin teilt sich das Selbe nicht mit. Auf der Unterlage dieses begrifflichen Schemas verstanden, ergeht Seele als eine erneute, er11  Vgl.

Enzyklopädie d. Wissenschaften. §§ 388–389.



§ 14  Das Mahl als Sinn und Sinnbild des Lebens57

höhte Mitteilung an das Gefugte. Die erhöhte Selbstmitteilung des Selben wird zu einer tieferen Herablassung. Seele hat nichts Daseinsmäßiges, nichts Wesenhaftes, keinen Modus des Erkennens in sich. In der Seele haucht sich das Selbe in die Materie. Jenes Dasein, welches an sich keine Selbständigkeit hat, weil ihm Wesen fehlt, erhält aus der Seele die Macht der Stellvertretung des Selben. Es bedeutet: Geistige Wirklichkeit, welche so gleich geistiges Sein, erhält eine völlig neue Möglichkeit, nämlich einen neuen Bezugspunkt der Begegnung mit dem Selben. Geistige Wirklichkeit hat im Dasein die Möglichkeit der Abkehr vom Selben: Dasein als Gemüt verneint die seinshaft angelegte Gleichnisbildung; es vollzieht nicht den Vergleich. Die Materie wird zum Netz nach außen. Das Selbe haucht ihr den Odem des Lebens ein, das ist die Seele. Alles Werden kehrt erneut um in die Gleichnisbildung. Materie, welche als die endlose Zerstreuung gegenüber dem Vergleich aufkommt, sammelt sich im Werden. Seele eine neue Möglichkeit des Seins, die Wirklichkeit des Werdens. In der Seele werden die Materie und das Selbe geradezu eins, aber in der Seele, nicht im Sein. Also bedeutet das Mahl die Einswerdung von Materie und Selbem, und überall, wo ein Mahl, da wohnt eine Seele inne. Was Seele hat, ist mit dem Selben vermählt. Darum die Ehrfurcht vor dem Leben. Man wirft es nicht weg wie einen Stein. Es gibt nur einen Zweck, Leben zu töten: Das Mahl selber. Erneut geht uns eine Bedeutung des Mahles auf, und sie festigt in uns endgültig die Überzeugung, dass dem Mahle etwas Besonderes in allen wichtigen Bereichen der Wirklichkeit zukommt. Überall wird es zu einer Brücke, an der sich das Leben, sei es das natürliche, sei es das kulturhafte und schließlich das religiöse, abspielt. Brücke zwischen Gemüt und Erkennen, Dasein und Wesen, Geist und Materie, Leib und Seele. Diese ungeheure Bedeutung des Mahles enthüllt uns noch einen weiteren Gesichtspunkt; es ist Brücke und Grundstein in einem: Wenn das Mahl Leib und Seele zusammen hält, indem es das zweckmäßige Mittel wird zur Seele und schließlich zum Selben, so eignet es sich geradezu als Grundstein für ein Naturrecht. Auch hier ist es Ansatz zu einer phänomenologischen Begründung.

§ 14  Das Mahl als Sinn und Sinnbild des Lebens Ohne Seele wird der Körper zu Materie, mit Seele nennen wir ihn Leib. Auch wenn der Leib vom Wesen her seine Form erhält, was uns als das Eigentümliche an ihm und auf dem Untergrund der Eigenart erscheint, das ist seelisch bedingt. Was sich als leibgeistige Einheit offenbart, ist Seele, denn nirgendwo wird Verschmelzung über Ur-Teile, Bruchteile und Stückwerk hinweg so möglich wie in der Seele.

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2. Hauptteil, 2. Kap.: Die Kennzeichen des Seelischen

Wir haben bis jetzt vom Kreislauf in der Materie und im Organismus gesprochen. Da sich der Organismus nur als beseelter lebendig halten kann, so wird die Seele mit in den Kreislauf gezogen. Es wird nötig, dass wir uns das Sinnbild „Kreislauf“ näher anschauen. Anscheinend hält Materie nur im Kreislauf ihren ruhigen Bestand. Sie wendet sich zum Kreis, durch Kräfte gesammelt. Aus dem Gesetz hat Materie Ordnung, jedoch keine Richtung. Die Kräfte (besser Wechselwirkungen) haben eine Anordnung, mag es links und rechts geben, sie haben keine Richtung. Ähnlich dem Wesen kennt auch das Starre kein Werden; es ist Gesetz und Gesetztes. Raum, Zeit, Masse werden nicht; Materie kennt keinen Selbstaufbau. Darum bleibt der Kreislauf der Materie eine Bewegung, jedoch kein Werden. Gemessen an den Organismen, erscheint die Materie als völlig bedürfnislos, und sie lässt uns keinerlei Zweck wahrnehmen. Materie verfällt auch nicht, sie wechselt nur den Zustand. Kreislauf als Bewegung ohne ein Werden, aber Wechsel und Wandel. Streng genommen erfüllt sich darin der Kreislauf. Sein als Beharrung. Wenn wir vom Kreislauf des Organismus reden, so hat sich darin schon ein Ziel und ein Zweck eingeflochten, der über die Einheit des Kreises hinausgeht. Aufbau und Verfall, Arbeitsteilung nach Organen, dies alles kommt der Materie zu, es gehört ihr ureigen an; Materie ist Organismus. Aber sie ist es nur über die Einwirkung der Seele. Wir haben es mit einem Kreislauf zu tun, der sich zugleich als Treppe hinauf- und hinabbewegt, dennoch nur eine zweckmäßige Richtung kennt. Es liegt an der Einwirkung der Seele, dass hier keine Änderung der Richtung vor sich gehen kann. Die Materie stirbt nur weg unter der Einwirkung. Nicht der Kreislauf, das Mahl wird zum eigentlichen Sinnbild des Organischen, und alles, was darüber in Richtung zur Geistseele deutet, geschieht immer erneut, von Ebene zu Ebene im Zeichen der Vermählung. Das Mahl wird zum eigentlichen Sinn des Lebens: Es ist Sinn und Sinnbild in einem, und es deutet eben darin über sich hinaus. Wie das Sein in seiner letzten Seinstiefe dennoch auch Gleichnis des Selben bleibt, so wird das Mahl als Materie immer auch Sinnbild des Geistigen bleiben. In der Einheit und Einfachheit der Seele liegt es bemessen, dass dieses Mahl von der untersten bis zur höchsten Stufe des Lebens immer Sinn und Sinnbild für das Höchste bleibt. In den letzten Höhen des Daseins greift der Mensch auf das Mahl zurück: Alles geschieht im Leibe und hat dennoch einen höheren Sinn als die Materie. Aber die Materie ist einbezogen in den Strom zum Geistigen im Flussbett der Seele, und ohne Materie geht es nicht. Wir können sie nicht weltflüchtig abtun. Mahl als Lebensbestand, Lebensentfaltung und Lebensvollendung; Mahl als Werden. Werden weist den Verfall von sich. Aller Abfall ist ein Zurück-



§ 15  Der Stoffwechsel, das Wachstum und die Fortpflanzung 59

bleiben am Mahl. In seiner Sinnbildhaftigkeit reißt das Mahl die Materie immer erneut in den Strom der Verzehrung hinein, und die Materie verzehrt sich im Sinn des Daseins selber in einem Aufwärts ohne Ende.

§ 15  Der Stoffwechsel, das Wachstum und die Fortpflanzung Wenn wir dennoch von den drei Kreisläufen des Lebens geredet haben, so scheint es auch noch eine willkürliche Auswahl gewesen zu sein. Ist denn der Blutkreislauf und der Atemkreislauf nicht lebensnotwendiger im einzelnen Organismus als die Zeugung, die doch sogar ausfallen kann? Wenn wir der Ansicht sind, dass diese Dreiheit mehr die Ebene des organischen Ganzen vertieft, so kommt darin freilich schon eine Zusammenschau zum Begreifen, die sich aus unserer metaphysischen Sichtweise ergibt. Aus der Lebensnotwendigkeit im Einzelnen lässt sich die Dreiheit nicht begründen. Was sie auszeichnet, ist ihre Bedeutung für das Seelische. Sie weist über die rein organische Wirkeinheit in sich selber mehr hinaus als Blut und Atem, die als Grundform zum Organismus gehören. Es ist offensichtlich, dass das Seelenleben und das Kulturleben der menschlichen Gesellschaft von Fortpflanzung, Mahlzeit und körperlichem Heranreifen und Altern mehr geprägt sind als vom Kreislauf des Blutes und des Atems. Betrachten wir das Umfeld, welches die Zeugung bei Mensch und Tier in Anspruch nimmt, sodann das Streben des Bewusstseins nach körperlicher Vollendung, so stellt sich doch gerade das Mahl als jenes Ereignis dar, welches dem Boden am meisten verhaftet bleibt. Und dennoch erhebt sich von den Dreien das Mahl zum vornehmsten Sinnbild für die wichtigsten Ereignisse des Menschseins. Es steigt zu jenen Höhen mit, die am überragendsten den Menschen vom bloßen Tier abheben. Es fasst die Sinnfülle des Menschseins, und dies muss uns zu denken geben. Erinnert also das Werden an die Einwirkung der Seele, so deutet das Mahl immer den Zusammenhalt von Leib und Seele an. Die Aufwärtsbewegung ist das Zeichen des Mahles. Der Boden strömt nach oben, der Organismus löst sich vom Boden, erhebt sich sogar in die Luft. Es geht darum, die Seele fest zu halten, die ständig in ihre himmlische Heimat des Geistes zurück möchte. So würde der alte Mythos sagen. Es hat sich so jenes Sinnbild als Grundstein des Kulturhaften eingestellt, welches nicht zuerst die Seele und den Geist selber, sondern den Zusammenhalt von Geist und Leib angibt. Tatsächlich trifft das Mahl genau den Zweck der Kultur. Denn die Erfahrung belehrt uns: Eine innere Kultur des Geistes wird notwendig an die Verleiblichung verwiesen. An diesem Prüfstein muss letztlich alles ankommen, und jede Verflüchtigung fällt hart und zerbricht am Boden. Die Schwerkraft stellt sich so als die Gegenbewegung zum Mahle dar, die Starrheit des Kreislaufs gegenüber dem Spielraum des mittleren Abstands.

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2. Hauptteil, 2. Kap.: Die Kennzeichen des Seelischen

Mag auch das Wachstum sich nach Höhe und Breite vollziehen, es bleibt in besonderer Weise eine Erinnerung. Das Mahl ordnet sich dem Dasein zu, das Wachstum dem Wesen. Dasein strebt im Mahl nach innen, und im Wachsen drückt es in zunehmender Macht das Wesen aus. Jeder Eindruck wird zum Ausdruck. Wachstum erinnert also an Seele und Geist an sich. Wir sind es gewohnt, die innere Reifung mit dem organischen Wachstum außen zu vergleichen. Soweit Wachstum und Reifung miteinander laufen, bleibt das Mahl auch hier in seiner bildhaften Bedeutung. Innere Reifung kann sich indes völlig abgelöst vollziehen, sogar dann, wenn der Organismus altert; gerade dabei wird das Wachstum zur Brücke des Vergleiches. So ergibt sich denn die Fortpflanzung ganz von selber als die Breitenwirkung und die nach außen gerichtete Triebkraft. Wir sehen, dass diese Kraft dann zum Zuge kommt, wenn das Wachstum nach innen die Vollmacht erreicht hat, die ihm aus der Hoheit des Wesens entgegenkommt. Zeugung setzt Reife voraus. Der Zeugung eignet das Besondere, dass sie als Äußerung die Individuen in zwei Gruppen unterscheidet. Mit der nach außen gerichteten Kraft des Triebes wird es schon angedeutet: Die geschlechtliche Unterscheidung liegt nicht so sehr im Wesen, schon gar nicht im Erkennen. Sie bekundet sich als Ereignis im Dasein, sie gehört wohl zur Leibhaftigkeit des Geistigen, zur Verwirklichung stofflichen Lebens. Die geschlechtliche Abteilung geschieht im metaphysischen Feld des Daseins, also in der Existentia. Wie weit damit die Seele betroffen wird, wie weit sie mit der geschlechtlichen Anlage in Wechselwirkung tritt, wie weit sie vielleicht selber geschlechtlich ausgeprägt wird, dies bedarf einer Untersuchung, zu der wir Schritt für Schritt erst befähigt werden. Während also das Wachstum und die Ernährung vollständig im Einzelnen geschlossene „Kreisläufe“ ausbilden, erscheint die Fortpflanzung als eine Ergänzung: Es ist nicht ein Individuum, und es sind nicht drei Geschlechter; es sind nur zwei geschlechtlich verschiedene Individuen, die nur reif wirksam werden können. Bedeutet die Materie dann den mütterlichen, der Geist den väterlichen Ursprung? Wenn wir den Mythos befragen: Ja! Aber der Mythos verrät uns nur seelische Beziehungen. Metaphysisch dürfen wir das Verhältnis nicht einfach mit dem Seelischen gleichsetzen.

3. Kapitel

Die Züchtung als Brücke zwischen Wildnis und Kultur § 16  Die Seele und die geschlechtliche Anlage Halten wir es nochmals fest: Das Mahl, welches alle Organismen an ihre Herkunft vom Boden erinnert, löst sich in seiner sinnbildlichen Bedeutung los von dem Erdreich und schwebt empor in alle Bereiche der Kultur. Indem es so eindringt in die innersten Angelegenheiten des Geistes, enthüllt es uns den Zusammenhalt von Geist und Leib. Damit spricht es seine letzte Botschaft für die Kultur aus. Für das Geheimnis des Seelischen endet indes hier die Aussagekraft des Mahles. Dagegen stellen wir fest, dass uns die Belange im Feld der Zeugung mehr mitteilen über das Seelische. Die Belange der Zeugung verästeln sich wie ein Wurzelstock überall im menschlichen Leben; sie steigen aus der Tiefe des Unterbewusstseins an die Oberfläche und Außenseite des Bewusstseins. So prägen sie auch noch das nebensächlichste Kleidungsstück zu einem Lockmittel. Der eigentliche Herd strahlt sich aus in engen und weiten Kreisen, und er formt Verhaltensweisen, die den gesamten Bereich von Kultur und Ethik betreffen. Wir bemerken jedoch etwas recht Eigentümliches an diesem Kraftfeld, worin es sich gerade vom Mahl unterscheidet. Das Mahl steht in seiner Wirklichkeit offen ausgesprochen als Sinnbild da. Seine Ereignisfülle ist im Menschen immer zweischichtig: Ursprünglich erscheint es als die Not-Wende zum Boden. Leben hält sich aus der Materie. Die inneren Abteilungen, welche als höhere Unterscheidungen im Leben aufgebrochen sind, bedürfen der Versorgung aus der einfachen Materie. Aber die Natur des Menschen als Wildnis bleibt auch im Letzten ein Verweis als Kultur des Geistes, und darin bedeutet das Mahl immer auch Kultur. Auch in der Wildnis frisst der Mensch nicht einfach. Not-Wende und Sinnbild bleiben untrennbar verflochten. Dagegen bemerken wir im Triebfeld der Zeugung eine merkwürdige Spannung von Offenbarung und Verleugnung. Der geschlechtliche Bereich deutet weniger auf etwas anderes hin, er ist gerade deshalb in alle Bereiche von Kultur und Ethik verästelt, weil er sich selber sucht und dennoch verleugnet. Das Schamgefühl betrifft nicht das Mahl. Das Mahl hat vielseitige Bedeutung; die Zeugung hat einen Hof von Zeichen, die alle zu ihr als dem gehei-

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2. Hauptteil, 3. Kap.: Züchtung als Brücke zwischen Wildnis und Kultur

men Pol hinweisen. Darum wird die Zeugung nie als Zeichen wie das Mahl verwendet, sie ist selber der Zweck aller zeichenhaften Verhüllung. Darum aber machen Kultur und Ethik einen solchen Aufwand, einen solchen moralischen Vorhof um die Belange der Zeugung. Liegt es daran, dass uns das Mahl in seiner spannungslosen Bedeutung weniger Auskunft gibt über das Seelische als der Bereich der geschlechtlichen Anlage. Dieses Feld, welches alle Bedeutungen für sich selber in Anspruch nehmen möchte, welches überall sich selber erleben möchte, erscheint uns dennoch wie die Schwelle zum Seelischen. Darin hält sich also das Geheimnis: Im Bereich der geschlechtlichen Anlage tritt das Seelische so unmittelbar ins Bewusstsein, dass alles Zeichenhafte zum Vorhof wird. Ethik ist niemals nur Sinnbild oder Bedeutung. Sittlichkeit bedeutet uns immer ein Absolutum, letzter Zweck. Damit hängt es wohl zusammen, dass alle Angelegenheiten der Geschlechtskraft in einer unmittelbaren Nähe zum Sittlichen stehen. Die Geschlechtskraft lässt uns das Walten der Seele im Leibe offenbar werden, und die Ordnungsgesetze, welche die Kultur um sie legt, sind nichts anderes als der Zweck der Seele im Leibe. Bezeichnet das Mahl den Zusammenhang von Geist und Leib, so erfahren wir an der Zeugung das Kraftfeld, an der Geschlechtsethik die Ordnung der Seele. Das Geschlechtliche ordnet sich in besonderer Weise der Seele zu, und die Spannung im Bewusstsein entsteht daraus, dass es diese Zuordnung nicht zeichenhaft wie das Mahl, sondern unmittelbar in sich hat. Die Seele tritt über die Schwelle des Leibes ins Dasein; nirgendwo tut sie es so unmittelbar wie im Vollzug der geschlechtlichen Vereinigung. Die tief Verschleierte im Leibe lässt ihre Schleier fallen. Darum der Vorhof der Moral, darum das Schamgefühl im Bewusstsein, darum das Heimliche des Liebesspiels. Wo diese Erscheinungsweisen des Seelischen abgebaut werden, da ereignet sich der tiefste Verfall von Leib, Seele und Geist. Mit Geist bezeichnen wir im Begriff immer ein Abstractum, auch wenn wir es so nie erfahren. Freilich nicht eine bloße Denkkraft, vielmehr ein Bewusstsein ohne Materie. Seele bezeichnet ein Concretum, auch wenn es sich nur als Medium zwischen Geist und Materie verstehen lässt. An Hand dieses Schemas bekommt es einen Sinn, von geistiger und seelischer Ethik zu reden. Mag auch menschliches Bewusstsein diese innere Unterscheidung so nicht erfahren, wir können demnach in der Psychologie, der Pädagogik, im gesamten Bereich der Kultur Zuordnungen feststellen, die jeweils auf Geist oder Seele gerichtet sind. Nehmen wir also die Bedeutung der geschlechtlichen Anlage für das menschliche Bewusstsein zur Kenntnis. Es ist der Lebensnerv des Seelischen, den wir im Bewusstsein aus der geschlechtlichen Anlage erfahren. Dies muss noch genauer ausgedrückt werden: Es ist der Lebensnerv des Seelischen,



§ 17  Die Seele und die Geschlechtskraft63

soweit wir es als Nähe zum Leibe erfahren. In keinem Augenblick ist also die Seele dem Leibe so nahe wie in der Zeugung. Also wird in keinem Augenblick die Seele so wandlungsfähig, so empfänglich, so wirkmächtig wie in der Zeugung.

§ 17  Die Seele und die Geschlechtskraft; die Geschlechtsreife und das Alter Es geht uns um die natürlichen Anlagen. Kultur und Ethik lassen sich von daher begründen. Nehmen wir den Gedanken ernst, so dürfen wir in der Geschlechtskraft ein allgemeinstes Bindemittel der Seele an den Leib annehmen. Das Zurückbleiben der Geschlechtskraft beim Kinde und beim Greis deutet dann eine gewisse Seelenferne an. Da wir aber die Seele selber als Vermittlung zwischen Geist und Materie ansehen wollen, ist diese Weise von Nähe und Ferne von jener grundsätzlicheren genauer zu unterscheiden. Es wurde festgestellt, dass Pflanze, Tier, Mensch Stufen einer Annäherung des Geistes an die Materie bedeuten. Gewiss drückt sich die Einwohnung des Geistigen in den Organismen auch wesentlich aus. Aber die zunehmende Nähe und schließlich die Erscheinung oder „Anwesenheit“ des Geistes im Organismus wird letztlich doch als das Dasein des Geistes verstanden. So kommen wir zu der Aussage: Geist erklärt sich weniger als Wesensmerkmal denn als Daseinsweise. Das so begriffene Verhältnis beansprucht freilich die Seele insgesamt für die Erklärung der Stufen Pflanze, Tier und Mensch. Es handelt sich um Stufen einer Geistferne, die in der Existentia und in der Essentia so gegründet sind, dass sie unabhängig vom jeweiligen Zustand der Reife bestehen. Auch der hilflose menschliche Säugling hat anlagenmäßig ein anderes Verhältnis zum Geist als das hilflose Schimpansenjunge. Es besteht aber in Bezug auf die Geschlechtsreife dieser Unterschied zwischen einem Kinde und einem jungen Säugetier überhaupt nicht. Wir müssen zwischen verschiedenen Weisen von seelischer und geistiger Ferne unterscheiden. Die Seele hat die Möglichkeit, in verschiedenen Weisen zur Metaphysis in Beziehung zu treten. Die Geschlechtsreife bedeutet deshalb ein Gleiten der Seele, welches die Anlage des Organismus nicht ändert. Es liegt gerade an ihrer allseitigen Bindungsfähigkeit, dass die Seele zum Dasein, zum Wesen und zum Erkennen in eine je eigene Beziehung treten kann. Dies gilt unbeschadet davon, dass die Seele am Dasein ihre ureigentliche Zone des Ansatzes an der Metaphysis bekommt. Wir kommen zum Ergebnis, dass sich geschlechtliche Anlage und Geschlechtskraft in ursprünglichster Weise aus Seele und Dasein herleiten. Das eigentlich Geistige der Wirklichkeit bleibt an sich davon unberührt.

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2. Hauptteil, 3. Kap.: Züchtung als Brücke zwischen Wildnis und Kultur

Näherhin erklärt sich dann die geschlechtliche Anlage als die naturhafte Zuordnung von Seele und Dasein (Anima und Existentia). Es handelt sich um eine Anlage, welche in einer die Wesen übergreifenden Weise dem Organismus zukommt. Die Seele verfugt sich über die geschlechtliche Anlage an die metaphysische Zone des Daseins. Für die Geschlechtsreife erhalten wir dann eine umgekehrte Sichtweise, wenn auch dies nicht gerade zu einer Begründung führt: Sie ist jener Zustand, in dem die Seele vom Dasein her ihre größte Prägungsfähigkeit erhält. Wie sich das Eisen nur im heißen Zustand schmieden lässt, so wird die Seele formbar, wenn sie die Vollkraft des Geschlechtes besitzt, wenn sie dem Leibe besonders nahe ist. Dies ist beim Kind und im Greisenalter sicher nicht der Fall.

§ 18  Das Geheimnis der Züchtung als Aufschluss zu Seele und Sein Ein Ereignis wie die Kultur bietet sich in verschiedenen Ansichtsflächen an. Versehen wir sie mit dem nötigen Tiefgang, so nimmt sie die ganze Fülle menschlicher Wirksamkeit in Anspruch, und wir schließen dann leicht Kultur und Wesen ineins. Damit verwirren wir indes alle klärenden Unterscheidungen. Kultur erscheint als Technik, als Religion und als Ethik, und Kultur erklärt sich uns als ein seelisches, organisches Collectivum. Wissenschaft beginnt am besten an der unmittelbar greifbaren Erfahrung. Sie ordnet den Sachverhalt dann so zusammen, dass die vernünftige Erklärung wie von selber herausspringt. Also beginnt Kultur mit der Züchtung. Um die Züchtung in den Begriff zu bekommen, haben wir die Überlegungen zum Bereich des Geschlechtlichen angestellt. An der Züchtung beobachten wir einen geradezu unsichtbaren Übergang zwischen Wildnis und Kultur. Denn alles ist Natur an der Züchtung, und dennoch ist es Kultur; die Kultur hat sich als Natur angesetzt. Dennoch: Die Kultur ist nicht wesentlich geworden. Alle Merkmale der Kultur entdecken wir schon an der Züchtung. Wer die Merkmale der Züchtung richtig zu deuten weiß, nimmt Abstand von Darwins Ansichten von der Entwicklung der Arten. Es gibt eine unglaubliche Tatsache: Die Artenunterschiede in der Wildnis werden oft kaum sichtbar, so dass den Biologen lange Zeit nicht bekannt geworden ist, dass es sich um verschiedene Arten handelt. Dennoch kommt in der Wildnis auch hier keine Kreuzung vor; nicht bei Tieren. In einer unglaublich kurzen Zeitspanne im Vergleich zur sogenannten Evolution haben sich aber beim Haushund die Rassen herausgebildet. Welch ein Unterschied zwischen dem Bernhardiner und dem Dackel. Dennoch ein Wesen. Im Bereich der Züchtung, sei es Tier oder Pflanze, enthüllt das Artwesen eine unerklärliche



§ 18  Das Geheimnis der Züchtung als Aufschluss zu Seele und Sein 65

Spannweite, während es in der Wildnis beim geringfügigsten Unterschied schon in ein anderes Wesen überspringt. Nach Darwin müsste die Wildnis aus gleitenden Artunterschieden bestehen. Im Grunde ändert sich daran nichts, ob wir die Möglichkeit haben, die Phylogenesis in Jahrmillionen oder nur einen Augenblick zu beschauen. Die Erklärung Darwins reicht nur hin für die Rinde des Stammes. Äußere Anlässe bringen das Artwesen in eine Spannung mit der Umwelt; es stirbt aus oder es springt. Vielleicht zerspringt es und stirbt aus. Dies geschieht in der Einheit einer Naturseele, die den Naturhaushalt regelt. Züchtung ereignet sich im Kraftfeld einer Kulturseele, und diese stiftet selbst noch eine Einheit zwischen Wildnis und Gesellschaft. Mag die Genforschung auch die Züchtung in atomare Teilchen zerkrümeln. Die Kultur des Materialismus entkommt nicht der Einheit einer Seele. Was in der Züchtung zum Tragen kommt, ist die Macht des Seelischen, welches Wirklichkeit eben „von innen und außen“ umgibt. Die Kulturseele kommt dem Artwesen so nahe, dass sie ihm eine neue Spannweite verleiht. Dem zu Folge werden in der Kultur die Rassenunterschiede weit größer als die Artunterschiede in der Wildnis. Das Geheimnis der Züchtung hält sich im Seelischen. Das an sich Formlose formt sich aus dem Dasein, und es dringt im Augenblick der Zeugung auch in das Artwesen ein. Es prägt eine Kulturgestalt dem Artwesen ein, nämlich die Rasse; die Rasse, ohne das Wesen zu zerstören. Seelisches prägt und wird geprägt. Es wird von einer geistigen Urentscheidung geprägt, und es formt Materie. Aber das so Gesetzte wird auch wieder Voraussetzung und prägt Geistiges. Es belastet oder es beflügelt. In der Züchtung erreicht das Schicksal seine innigste Einheit mit der Wildnis. Eine Gesellschaft kann überleben, aussterben oder abwandern; es hängt damit zusammen, ob sie es versteht, sich durch geglückte Züchtungen durchzusetzen. Am Ursprung einer Kultur liegt alles in der Einheit einer Seele: Technik, Religion, Wissenschaft und Züchtung. Die Zeugungskraft, ihre richtige Anwendung, spielt die große Rolle des Zusammenhalts. Züchtung beginnt in der Familie. Bei der Vereinigung der Geschlechtszellen stellt sich der doppelte Satz an Chromosomen wieder ein, der allen anderen Zellen eigen ist. Wir übernehmen dieses Schema der Biologie einmal ausnahmsweise, entgegen unserem Vorsatz, nur das offensichtlich Erfahrbare anzunehmen. Es sei hier erlaubt, weil es uns nur darum geht, etwas beispielhaft klar zu machen. Wenn sich die einfachen Chromosomensätze paaren, geschieht dies aus naturwissenschaftlicher Sicht nach den Gesetzen des Zufalls. Es mag auch völlig richtig sein, weil das Walten der Seele, jedenfalls der menschlichen Seele, so nicht greifbar werden kann. Und doch spielt sich hier eine ganze Welt an Zusammenhängen ab, für die auch die Metaphysik keinen Begriff mehr hat. Es ist

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2. Hauptteil, 3. Kap.: Züchtung als Brücke zwischen Wildnis und Kultur

die Welt der Geschichte, der Kultur und des Unableitbaren und dennoch Gesetzmäßigen: des Schicksals. Gewiss kommen wir jetzt tief ins Ausmaß des Mystischen, und sicherlich darf Metaphysik nicht den Fuß über die Schwelle setzen. Wenn die Metaphysik selber schon als mystischer Nebel eingeschätzt wird, bleibt von jenen Gründen jenseits der Metaphysik nichts übrig. Man sollte indes jene, welche das Mystische und Schicksalsmäßige für Kultur und Geschichte abstreiten, nur belächeln. Wir stehen an der Schwelle zur Kultur. Eine Kulturmystik wollen wir hier nicht vortragen. Wir wollen das Kulturhafte aufspüren, soweit es nicht durch unergründlich Schicksalhaftes bedingt ist. Unsere Absichten gehen aber auch nicht in erster Linie um eine Philosophie der Kultur. Es geht um die Seele, um eine Ontologie der Seele, so möchte man sagen. Jedoch bleibt jeder Begriff vom Seienden noch zu sehr metaphysisch vorbelastet, so dass wir nur vom Walten und Wirken des Seelischen sprechen können. Indem sich aber die Seele als Plan, Gestaltgrund und Beweggrund einer Kulturgemeinschaft herausstellt, rückt unser Gegenstand geradezu zur Mitte einer Kulturphilosophie vor. Denn letztlich bleibt sie als der letzte Zweck von Kultur übrig. Kultur ist Pflege der Seele, so wie sie Platon schon verstanden hat. So wie das Wesen nicht den Zweck der Wirklichkeit ausfüllen kann, so kann auch geistige Wirklichkeit nicht den Zweck allein in Anspruch nehmen, wenn eine Wirklichkeit ihre Bestimmung auch in der Materie vorfindet. Das Ereignis Kultur erscheint uns besonders geeignet, um die Seele in ihrer allgemeinsten Verfassung und in ihrer innersten Verflechtung mit dem Seienden aufzudecken. Was die Tiefenpsychologie auf ihrem Weg nach innen ans Licht fördern möchte, dies suchen wir außen zu entnehmen. Es soll damit kein Widerspruch vorgetragen werden, und unser Anfang wird von der Hoffnung geleitet, dass wir so auch in die Tiefe der Einzelseele vordringen können. Dass Tiefenpsychologie sich als Kehrseite der Soziologie einstellen wird, bleibt wohl eine gemeinsame Überzeugung. Kultur steht als Brücke zwischen Seele und Gesellschaft vor uns, gleichsam als waagrechte Achse, so wie die Zeugung als Senkrechte die Wildnis in der Züchtung zur Kultur werden lässt: Züchtung als Kulturschwelle und Züchtung als Kulturwall gegen die Verwilderung. Mit diesen Auffassungen wollen wir uns also vortasten in dem Stollen zur Seele: Sie offenbart sich in der Geschlechtskraft im Bereich der Wildnis. Da die Kultur sich als Züchtung ankündigt, erhalten wir von der Materie und dem Organischen her gesehen in der Geschlechtskraft den besonderen Zugang zur Kultur. Diesen Ausgang gilt es in der Zusammenschau mit dem metaphysischen Ergebnis zu verknüpfen: Seele schließt Geist und Materie ineinander, und Kultur wird zum Dasein der Seele. Kultur ist Lebensvollzug



§ 18  Das Geheimnis der Züchtung als Aufschluss zu Seele und Sein 67

des leibgeistigen Daseins als Seele. Damit klären sich Weg und Ziel unserer Untersuchung. Wir entnehmen der Kultur die Seele als letzte Zweckmäßigkeit und als tragenden Gestaltgrund. Allein dieser letzte Zweck Seele enthüllt sich aus metaphysischer Sicht als Relation zwischen Geist und Materie. Damit bleiben weder Kultur noch Seele als Selbstzweck bestehen. Kultur als Offenbarung seelischer Wirklichkeit. Seele als Ergänzung, so dass metaphysisches Sein zur Vollwirklichkeit wird. Auf diesem Wege wollen wir das Seelische vom Seienden abgrenzen. Sein und Seele sollen sich gegenseitig beleuchten.

3. Hauptteil

Die Seele im Bereich der Gesellschaft; die Kultur

1. Kapitel

Kultur als Züchtung § 19 Ackerbau, Nomadentum und Jagd; Züchtung als Versorgung und Verpflegung Kultur beginnt mit der Züchtung. Die Wahrheit des Satzes bestätigt sich daran: Kultur beginnt am Ackerbau. Es ist unerheblich, ob es die Haus- oder Kulturtiere oder die Haus- oder Kulturpflanzen zuerst gegeben hat. Man könnte die Herden des Nomaden als einen Zustand ansehen, welcher der Wildnis näher steht. Wir wollen an der Sesshaftigkeit des Ackerbauers das äußerste Merkmal der Kultur ablesen; andrerseits wäre es unvernünftig, dem Nomaden Kultur abzusprechen. Im Grunde bemerkt man hier schon etwas, das für die Kultur zum allgemeinen Merkmal wird: Der unruhig umherziehende Geist, immer auf Neuland aus, und der sesshafte Geist, immer auf Vertiefung und Bewahrung aus. Gerade darin unterscheidet sich die Kultur vom Kreislauf der Wildnis, dass sie dieses Gesetz zuallererst durchbricht. Der neue Zustand behauptet sich in der Zweideutigkeit von Ackerbau und nomadischer Viehzucht. Das Schweifende enthüllt sich dann gerade als seelisches Merkmal, als „Seelenwanderung“. Aber beide Elemente verbindet nun doch die Züchtung als Grundbestand, denn die Seele berührt in der Zeugung den Boden, sei er tierisch oder pflanzlich. Dann wird die Züchtung auch zur Brücke für das dritte Element, nämlich die Jagd mit dem Jagdhund. Immer bleibt die Züchtung die innerste Berührzone von Wildnis und Kultur, so dass sich sagen lässt: Kultur beginnt als Kultur der Geschlechtskraft. Seele und Geschlechtskraft treten also in der Züchtung in ein neues Verhältnis: in cultura. Es bedeutet, dass Seelisches aus sich herausgeht, um an der Materie offenbar zu werden. Kultur beginnt nicht nur mit der Züchtung. Nur dass dieses Merkmal von Ebene zu Ebene in geistigeren Anzeichen auftritt. Damit bestimmt sich Kultur im Ersten und im Letzten. Es ist nicht das Erkennen und das Wesen, welches Pfahlwurzel oder Wurzelstock der Kultur ausmacht. Dasein wird als Gemüt zur Kraft und zur Form der Kultur. Kultur versteht sich als Wille, weniger als Wissenschaft. Letztere richtet sich am Wesentlichen aus und wird so zur Brücke zwischen Wildnis und Kultur, zwischen Kultur und Kultur.

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3. Hauptteil, 1. Kap.: Kultur als Züchtung

Was Seele hat, pflanzt sich fort. Allein darin bestimmt sich erst die Naturseele. Was Kultur hat, züchtet. Erst die Zucht hat die nötige Weite, um alle anderen Merkmale einer Überlegenheit des Geistes einzuholen. An der Zucht erscheint zum ersten Mal in vollendeter Form der Zweck der Kultur. Auf Grund seines Einblicks in die Zusammenhänge der Wildnis stellt der Menschengeist besonders günstige Umstände zur Züchtung zusammen, wie sie in der Wildnis so nicht zu gleicher Zeit und am gleichen Ort vorkommen. Damit ist die Armut des Kreislaufs durchbrochen. Der Geist hat seine erste Freiheit. Was in der Wildnis viel Sonne und wenig Wasser hat, erhält in der Kultur viel Wasser und viel Sonne. Wissenschaft als Mittel zur Züchtung. Dies gilt für die Jagd, für den wandernden Hirten und den sesshaften Ackerbauer.

§ 20  Boden, Heimat, Volk; Züchtung als Verwandtschaft und Rasse Kultur entfaltet sich als zweckmäßiges Netz der Seele. Was wir an der Seele feststellen wollen – sie ist nicht Sein wie die Metaphysis – bemerken wir doch gerade auch am Kulturhaften: Es setzt die Natur als Sein voraus und verleiht diesem eine gewisse Prägung aus dem Zweckzusammenhang, der irgendwie einen neuen Plan in die Wildnis hineinschlingt. Bis jetzt zeigt sich Kultur als Züchtung; sie findet darin ihre Sinnmitte und zweckmäßigste Einrichtung. Auch die Züchtung bringt gemessen an der Zeugung kein neues Sein, und dennoch strömt der seelische Zusammenhang in der Züchtung in die Zeugung ein und gewinnt hier seine größte Ballung. Die Züchtung von Pflanzen und Tieren weist deshalb schon immer über den Naturzweck hinaus, da dieser auch in der Wildnis schon gegeben ist. Züchtung zum Zwecke der Versorgung erhält ihren tieferen Sinn in der Befreiung des Geistes für sein eigentliches Bewusstsein. Züchtung erschöpft sich indes nicht in diesem Zwecke, sie erscheint in einem noch näheren Zwecke als die Züchtung des Kulturträgers selber. Erst jetzt erreichen die Seelen ihren Selbstzweck. Wenn jede Artgemeinschaft in der Zeugung die Quelle ihres Daseins findet, dann wird damit auch klargestellt, dass es sich nicht um ein Ereignis am Rande der Gemeinschaft handelt. Die Erfahrung bestätigt, dass sich jede Gesetzgebung und Verfassung bei Mensch und Tierarten von diesem Ursprung und dieser Versammlungsmitte herleiten. Daraus entsteht eine Relation, die sich im Bereich der Metaphysis überhaupt nicht unterbringen lässt: Nämlich seelische Bindung als Verwandtschaft und Rasse. Es handelt sich um Formen der Gemeinschaft, welche sogar aller Kultur vorausliegen. Ob Jäger, Nomade oder Ackerbauer, hier legen sich Naturbin-



§ 20  Boden, Heimat, Volk; Züchtung als Verwandtschaft und Rasse 73

dungen des Seelischen aus, in die sich jede Kulturgemeinschaft desto unmittelbarer rückschließt. Die stärksten Bindungen in der Gesellschaft entstehen nicht aus irgendwelchen geistigen Vereinigungen, sie kommen aus der Paarung; dies gilt es zu bedenken. Worin enthüllt sich das Erstaunliche dabei? Während die Zeugung bei Insekten zu einem bloßen Mechanismus der Vermehrung wird, entstehen aus dem organischen Geschehen beim Menschengeschlecht Bindungen in Form höchster moralischer Verpflichtung. Wir finden daraus die Bedeutung der Paarung für Seele und Kultur. Im Vorgriff dürfen wir deshalb annehmen, dass alles Geschehen im Feld und Umfeld der Paarung auch für die Moral und das Sittliche nur von hoher Bedeutung sein kann. Die Beobachtung, dass aus der Paarung die stärksten Verpflichtungen zur Fürsorge innerhalb der Gesellschaft hervorgehen, schließt sich also zusammen mit unseren beiden Ansetzungen: 1. Leib und Seele erreichen in der Zeugung ihre innerste Vereinigung. Dies gilt dann auch insgesamt für Metaphysis und Seele; es gilt auch für die Leiber und Seelen der Paare. Aus der leibseelischen Vereinigung quillt deshalb unmittelbar die leibseelische Fürsorgepflicht der Verwandtenbindung hervor. 2. Kultur verstehen wir als Pflege der Seele und Sorge um die Seele, jedoch in der Einheit mit dem Leibe. Der Leib vertritt die Seele. So steht denn die Paarung mehr als jedes andere Geschehen im Brennpunkt der Kultur. Züchtung erklärt sich als Sorge und Pflege, die am unmittelbarsten dem Leib und am unmittelbarsten der Seele und damit am unmittelbarsten der Einheit von Leib und Seele zukommt. Die Macht der Seele in Bezug auf das Leibliche wird nirgendwo so deutbar wie bei den Hunderassen. Man bedenke, dass hier innerhalb des Artwesens die leibseelische Einheit Spielformen ausprägt, die weit mehr sich unterscheiden als Arten unter sich. Die Biologen nehmen diese Tatsache einfach hin. Was sich hier zwischen Leib, Seele und Artwesen abzeichnet, ist ein Geheimnis, das die Artentwicklung weit besser erklärt als jede Evolution. Aber das Ausmaß der Seele ist für die Naturwissenschaft nicht greifbar. Wir entnehmen dem Verhältnis, dass die Regeln der Gesellschaft mit den Regeln der Paarung in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen, so wie die Paarung selber zur Keimzelle der Gesellschaft wird. Unschwer lässt sich auch einsehen, dass Kulturformen wie Jäger, Nomade, Ackerbauer aus dem metaphysischen Wesen nicht ableitbar sind. Bei Tieren würden solche Abweichungen zu verschiedenen Arten führen; vielleicht ist es die Einheit der Seele, welche die Menschen zusammenhält. Sie erlaubt gewaltige Unterschiede innerhalb der Art, und sie umspannt gerade deshalb die Art in einer unglaublichen Einheit. Die seelische Trias bleibt indes noch ganz am Äuße-

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3. Hauptteil, 1. Kap.: Kultur als Züchtung

ren hängen oder dem Boden entnommen. Mag die Paarung auch jeweils verschiedene Formen der Werbung und des Zusammenlebens ausprägen, letztlich bleibt sie in Bezug auf Verwandtschaft, Sippe, Rasse oder Volk ziemlich gleich. Dabei stellt sich die Bindung zur Scholle als das Abstractum heraus, wenngleich sie in anderer Hinsicht gerade das Concretum ausmacht. Auch dies ist wiederum das Eigentümliche der Seele. Da ihr die Seinsweise der Substantia nicht eignet, sie bedarf ihrer ja als Voraussetzung, werden ihr jeweils in verschiedener Hinsicht Widersprüche zuteil, welche die Substantia im Sein zerreißen würden. In Bezug auf die Paarung bemerken wir aber eine Bindung in der Seele, die sich ringförmig nach außen hin abstuft: Verwandtschaft, Sippe, Volk, Rasse. Bindung erweist sich dabei als etwas durch und durch Seelisches, so dass wir jetzt jenes Merkmal erkennen, welches Seele und Geist, Seele und Metaphysis unterscheidet. Der Geist ist ungebunden, ein unruhig umherschweifender Jäger, ein Heimatloser; der Ackerbauer sucht die Heimat, den Besitz, die Familie; der Nomade vermittelt.

§ 21  Geist, Seele, Leib; Züchtung als Erziehung zur Kultur Betrachten wir jetzt die beiden Triaden zusammen: Jäger, Nomade, Ackerbauer; Boden, Heimat, Volk. Wir bemerken sicherlich am wenigsten Ansatz beim Jäger für die Kulturseele. Dagegen scheint sich im Ackerbauer über das Handwerk die Gesellschaft und die Kultur einzurichten. Aber vergessen wir nicht, dass Kultur immer Wildnis voraussetzt, die aufgebrochen werden muss, die hereindrängt als Feind, aber auch als fruchtbares Neuland. Das Element des geistigen Jägers muss immer wieder aufbrechen in der Seele und in der Kultur, damit diese nicht aufgeschwemmt wird von master und behäbiger Bürgerlichkeit. Umgekehrt läuft das Jägerhafte ständig Gefahr, zu verwildern und unterzugehen in der Wildnis des Geistes. Die Entdeckungen des Geistes finden nicht die Ruhe der Seele und zerstreuen sich wieder. Der Jäger kommt nie zu den Früchten seiner Entdeckungen. Er vergisst die Wege des Wissens sogleich wieder. Es muss der seelische Ackerbauer folgen, um die Wege des Wissens anzulegen und das Wissen am Wege zu nutzen, indem er es anbaut, hortet und vermehrt. Jäger und Ackerbauer, Geist und Seele, Beuteschlager und Pflanzenfresser, Natur und Kultur. Kultur bedarf des Naturgeistes, aber Kultur ist das Haus, die Stadt, der Wall der Seele. Aus metaphysischer Sicht wird der Geist zur Substantia, die Seele bleibt eine Relation, eine Bindung. Aus kulturhafter Sicht sammelt sich aber der Besitz als Substantia in der Seele, und der Jäger bedeutet das Unstete. Letztlich bildet aber die Metaphysis den harten Kern des Geistes und den Kern der Persönlichkeit.



§ 21  Geist, Seele, Leib; Züchtung als Erziehung zur Kultur 75

Grundsätzlich bleibt im Dasein (Existentia) der leibgeistigen Metaphysis der Baugrund für die Kultur gegeben.12 Allein damit bietet sich nur der Baugrund an; das Haus der Kultur kann sich nur in der Seele errichten, wenn es Bestand haben will. Eine so verstandene, allgemeine Verfassung, das Collectivum als gesellschaftlicher Organismus oder Kulturkörper, geht auf den Einzelnen als Keimzelle zurück. Wir unterscheiden zu ihm den geistigen Kern der Person, der weitgehend von geschlechtlicher Ausformung abgesondert, die Person bestimmt. Diesem geistigen Kern kommt indes schon Wirklichkeit zu. Es ist nicht so, dass er sich erst in der Seele verwirklichen würde, so wie etwa das Wesen ohne Dasein kein Seiendes wäre. Zu diesem Kern kommt das Seelische hinzu, welches sich in der Naturseele als männlich oder weiblich und dann innerhalb einer Gesellschaft als je einmaliges, unableitbares Schicksal ausgibt. Mit der Unterscheidung nach einer geistigen Uranlage und einer seelischen Einpflanzung des Menschen an einer bestimmten Stelle in Raum und Zeit, in Heimatboden und Volk, in Geschichtszeit entwerfen wir ein Schema, wovon wir uns viel Neues versprechen. Denn die Philosophen, Psychologen und Pädagogen sind weitgehend von jener anderen Vorstellung abhängig und geleitet, wonach die Seele zum tragenden Urgrund der Person wird. Für den Geist bleibt dann eine seltsam zwiespältige Doppelrolle übrig. Einerseits verengt er sich zur bloßen Denkkraft der Seele, andrerseits verflüchtigt er sich als Zusammenhalt einer Gemeinschaft, als der „Geist des Ganzen“. Geist bezeichnet so das Antlitz einer Gemeinschaft.13 Als Fehlentwicklung darf dieses andere Schema sicherlich nicht angesehen werden. Es hat indes seine Schwäche im Bereich von Kultur und Geschichte einerseits, von Psyche und Erziehung andrerseits. Wir entnehmen also unserem Denkmodell den Geist als Skelett der Persönlichkeit, als den Wurzelgrund seiner freien Entscheidung und auch als das Gemächte seiner freien Entscheidungen. Die Seele entspricht dann eher dem Fleisch, womit die Person eingebunden wird in ein Geflecht von Verwandtschaft und Erbanlagen. Nur die Seele trägt die Bindungen, und die Seele erklärt sich als Urbindung schlichthin. So sind wir gehalten, die Person immer als ein Compositum von Geistigem und Seelischem zu sehen; es kommt darauf an, dass wir die Zuordnungen richtiger treffen und das jeweils Eigentümliche von Geistigem und Seelischem herausfinden. Wir entnehmen dem Schema also die Kultur als Pflege der Seele; darin erfüllt sich letztlich ihre Sinnmitte und in dieser innersten Zweckbindung 12  Vgl.

1. Bch., § 38. deutlich ausgesprochen findet man diese Ansicht bei Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. 13  Besonders

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3. Hauptteil, 1. Kap.: Kultur als Züchtung

wird sie überall Pulsschlag und Lebensnerv. Von der Seele hat sich indes ergeben, dass sie selber nur ein zweckmäßiges Medium bleibt: Der an sich selbständige Geist wird in ihr befähigt, die an sich unselbständige Materie zu beleben in Form von Gleichnissen des Geistes. Seele als Leiter der Herablassung des Geistes. Kultur als Pflege der Seele, aber dennoch zur Vergeistigung des Leibes. Wenn wir nun sagen, Kultur erfüllt sich in der Vergeistigung des menschlichen Daseins, kommt das Leibliche zu kurz und wir bestimmen einen weltflüchtigen Zweck. Und doch bleibt die Seele nur Mittel für den an sich entscheidenden Geist. Geist, Seele, Leib. Haben wir es denn nicht mit einer Rangordnung und damit auch mit einer Rangfolge von Zweckmäßigkeit zu tun? Und lehrt uns nicht die Ethik als ersten Grundsatz die Rangfolge der Zwecke? Ein spannendes Verhältnis schält sich dabei heraus. Sollten Kultur und Ethik letztlich in einem Riss zueinanderstehen? Wir haben den Geist als volle Wirklichkeit bestimmt, für den die Materie nur ein Gebrechen ist. Darin hält sich ja das tiefe Dunkel in der Metaphysik. Denn metaphysisches Denken ist aus seiner inneren Logik genötigt, die höhere Wirklichkeit so zu bestimmen, dass die im Sein weniger vollständige Wirklichkeit sich nach ihr ausrichtet. Im Zusammenhang mit der Materie ergibt sich aber geradezu durchgehend, dass nicht der Geist, sondern der Geist in seiner Verbindung mit der Materie das Maß aller Dinge bleibt. Nicht die Vollkommenheit, nicht der Ordo des Seins bestimmt den Zweck, sondern der Verband; und der Verband führt zu einer Erniedrigung des Geistes. Diese Spannung müssen wir sehen, weil sich hier der Aufschluss birgt, der uns zum Verständnis der Kulturseele führt. Am Ende bleibt die Seele als einziges umfassendes Gleichnis, welches weit genug ist, um den allgemeinen Zweck menschlichen Daseins einzufangen. Sowohl der Geist als auch die Seele erstellen nur eine Teilwirklichkeit im Weltgefüge; der Geist aber bleibt Substantia, die Seele muss sich als bloßes Band bekennen. Und dennoch kommt der Zweck unseres Daseins in der Pflege der Seele zur Ruhe. Denn die Seele steht hier offenbar nicht als bloßes Band, sie verkörpert die Einheit von Geist und Materie. Auf sie kommt es an, auf die innige Vereinigung von Geist und Materie. Nicht der Geist schlägt daher die Brücken über die Gegensätze von Einzelnem und Gemeinschaft; es ist die an sich formlose Seele, welche gerade deshalb über UrTeile, Gegensätze und Widersprüche hinwegsetzen kann. Es ist die PsychoLogik, welche noch Wege findet, wo die Logik und die Metaphysik nur noch Abgründe sehen. Der Mythos ist unlogisch und dennoch eine machtvolle Wirklichkeit. Sobald menschliches Dasein seine Anlage oder Begabung zur Kultur verwirklicht, begibt es sich in den seelischen Raum, und es baut diesen Bereich aus: Wildnis wandelt sich zum Ackerland; die Natur veredelt sich in sich



§ 21  Geist, Seele, Leib; Züchtung als Erziehung zur Kultur 77

selber. Denn Kultur ist kein Überbau, weil Seele nur Geist und Materie zusammenführt. Das spannungsvolle Verhältnis von Geist und Materie findet in der Seele seinen beständigen Richtungssinn. Er ist immer auf das beste Maß ausgerichtet, und darin liegt letztlich aller Sinn des Daseins. All das drückt Seele aus: Sie verkörpert als Kulturseele die Einheit von Einzelnem und Gesellschaft. Sie ist immer unterwegs wie der Jäger und der Nomade; sie braucht aber auch Wohnstätten wie der Bauer und der Handwerker; und sie fasst Weg und Wohnstätten wieder in neuer Einheit zusammen im Künstler und Forscher.

2. Kapitel

Kultur als Pflege der Seele § 22  Das Ideal der Kultur In einem unentrinnbaren Netz holt der kulturseelische Zusammenhang alles ein; was wir Freiheit und Zufall nennen, entrinnt nicht weit den engeren oder weiteren Maschen dieses Netzes. Gerade weil die Seele allseitig bindet, vermeidet sie mehr als andere Zusammenhänge jede Einseitigkeit. Die Bindung zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft wirkt sich nur aus, indem sie die Reifung des Einzelnen zutiefst formt. Dies geht soweit, dass die eine Seite nur die Kehrseite der anderen ist. Es bedeutet aber dann das Verhältnis des Einzelnen zu seiner Gesellschaft nur die Kehrseite seiner leib­ geistigen Erscheinung. Hier zeigt sich also alles verknotet: Der leibgeistige Zusammenschluss in der Einzelseele übersetzt sich als solcher unmittelbar in das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft. Denn jede Ansicht findet in der Seele die andere wieder; jede Seite findet über die Seele nur in der anderen zu sich selber. Nur so lässt sich Kultur verstehen. Schwerlich können wir sie als äußere Form halten, wenn sie nicht über die Seele als Innerlichkeit im Einzelnen einen Wurzelgrund beansprucht. Kultur als Pflege der Seele bleibt einer ständigen Zerreißprobe ausgesetzt; auch darin halten sich die Seiten die Waage: Der Einzelne, der seine Reifung pflegt, bleibt an seine Gesellschaft verwiesen. Er ist es, weil echte Reifung Pflege der Seele ist. Die Kultur, die ihre Werkzeugnisse feiert, kann sich nicht zum Selbstzweck setzen. Sie kann es deshalb nicht, weil sie die Pflege der Seele vernachlässigt; sie wird zur hohlen Form. Indem Kultur mit einem solchen Anspruch in menschlicher Wirklichkeit auftritt, drängt sie sich unübersehbar mit dem Grundzug menschlichen Daseins zur Zweckmitte vor. Aus der Metaphysik hat sich der Zusammenschluss der Ur-Teile im Sein als die Annäherung an das Zweck-Selbe ergeben. Diese Annäherung als Gleichnisbildung zum Selben geschieht über das Bewusstsein hin zum geistigen Bewusstsein. In ihm hält sich aus Freiheit und Vernunft das sittliche Bewusstsein als der Weltzweck. Im sittlichen Bewusstsein nähert sich das Gefugte als vollkommenes Gleichnis dem ungefugten Selben. Darin erreicht die Metaphysik ihre höchste Aussage. Allein dies ist eine metaphysische Aussage; und dennoch erhebt sie allgemeingültigen Anspruch. Aber gilt sie dann nur für geistiges Sein und muss sie im Bereich der Kultur



§ 22  Das Ideal der Kultur79

seelisch vermittelt werden? Das Verhältnis von Geist und Seele, so wie wir es zuvor gesehen haben, drückt sich jetzt auch als Verhältnis von Kultur und Moral aus. Aber wie ist es zu verstehen? Die Aufhellung der Verflechtung bestimmt den Verlauf der Untersuchung. Wie verhalten sich Kultur und Sittlichkeit? Das Verhältnis müsste sich aus den Festsetzungen bisher bereits bestimmt haben wie eine Gleichung. Maßgeblich wird jetzt die Zwecksetzung für die menschliche Wirklichkeit, die in der Seele, nicht im Geist ihren vollendeten Bestand erreicht. Seele allein verkörpert das Gesamt, allein die Seele bleibt ein unsichtbares Band dabei; und wir haben sie zudem aus der Überlieferung der Menschheitsgeschichte übernommen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, wir müssen sie annehmen. Kultur als Pflege der Seele behält beides im Auge: Geist als Herr der Wildnis; Leib als Gefährte des Geistes. Der eine bedingt den anderen, und es bleibt unbestimmt, wie sich die wechselseitige Stellvertretung genau vollzieht. Sagen wir es einmal so: Sittlichkeit als Kultur des Geistes; Kultur als Sittlichkeit des Leibes. Jedenfalls bilden beide eine Verschränkung, die in einem Pol sich verknoten sollte. Geist hat sich als eine an sich selbständige Wirklichkeit eingestellt; so lehrt uns die Metaphysik. Wenn er dennoch eine Verbindung mit der Materie eingeht, kann es schwerlich ein Zufall sein. Wir rechnen mit einem umgreifenden Zweck. Aber die Metaphysik schweigt; vielleicht teilt uns die Philosophie der Seele etwas mit. Wir sehen, dass beide zusammen die Philosophie erstellen. Am Anfang der abendländischen Philosophie stehen so als Gleichnis Platon und Aristoteles: Seelen-Mythos und Verstandes-Metaphysik. Das Verhältnis drückt sich so aus: Sittlichkeit des Geistes geschieht in der Kultur des Leibes; anders kann sie nicht erscheinen, anders kann sie nicht wirksam werden. Die Kultur des Leibes aber erhält ihr inneres Maß von einem Bestand, der die Materie verneint. Er sagt: Nur im Verbund mit mir hat die Materie einen Sinn und Zweck. Aber darin liegt der metaphysische Anspruch. Die Materie dagegen sagt: Wenn der Zweck im Verbund liegt, kann ich nicht weniger wichtig sein als der Geist. Und Härtefälle gibt es ständig. Wir erleben doch kaum die Eintracht von Geist und Leib im Pol der Seele. Menschliche Wirklichkeit findet sich zwischen Kultur und Sittlichkeit wie zwischen zwei Pole gespannt. Die Durchführung dieses Schicksals steht nur als eine allgemeine Richtlinie, die wir jetzt aus dem philosophischen Gesamtbegriff von Wirklichkeit ableiten können: Wirklichkeit als zweckmäßiges Gefugtes. Der Zweck ist das Selbe, nämlich die Ur-Teile als das Selbe. Dieses Schema deutet auch schon ein Ideal an: Die beiden Pole sollten aus dem einen Zweck entspringen: Zwischen der Pflege der Seele und dem sittlichen Verhalten des Geistes dürfte es eigentlich keine Zweckwidrigkeit geben. Allein beide Richtlinien zeichnen sich nur als Umrisse ab; und wir

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3. Hauptteil, 2. Kap.: Kultur als Pflege der Seele

wissen aus Erfahrung und Überlieferung, dass das eine nicht einfach Kehrseite des anderen ist, dass die Schere weit auseinander laufen kann. Züchtung weist über die Wildnis des Organischen hinaus; sie reckt den Kopf über den Kreislauf empor und entdeckt das Getriebe in ihrem Untergrund. Sie entkommt ihm nicht, aber sie überlistet es und blickt auf es herab. Indem sie sich von dem Kreislauf treiben lässt, setzt sie als Steuermann Geist die Segel. Das Tier kennt keine Zucht, es hat den Instinkt als etwas Geistiges. Dies ist seine Kultur der Wildnis. Allein Geist und Organismus bleiben sich im Tier fremd, denn es fehlt die Reflexion. Also behauptet sich die Zucht der Wildnis in der einseitigen Pflege des Leibes. Sie geschieht auch in der Wildnis in der Einheit und Eintracht einer Seele. Weder ein prachtvoller Leib in einem verkümmernden Geist noch ein überlegener Geist in einem verkrüppelten Leib. So haben wir zunächst einmal den Sinn der Kultur und den Pol des Zusammenwirkens von Geist und Leib zu sehen.

§ 23  Züchtung und Versorgung; die Mitte als Pflege der Seele Mit der Züchtung haben wir jenes Zauberwort getroffen, welches den organischen Zusammenhang von Wildnis und Kultur wiedergibt. Es ist also das Rassige, welches, noch ganz aus der Zucht kommend, die besten Anlagen zur Kultur mitbringt. Allein dieses Rassige, auch wenn es Tier und Mensch verbindet, hat beim Menschen eine neue Bedeutung. Gewiss stehen hier einmal Verwandtschaft, Sippe und Volk zusammen. So haben wir es vom Ansatz her zu sehen. Züchtung betrifft das Haustier und die Nachkommenschaft des Hauses und der Familie. Züchtung ist der Boden der Kultur, die Vereinigung von Geist und Leib im Sinn-Bild der Vereinigung des Väterlichen mit dem Mütterlichen. Züchtung betrachtet Kultur ganz im Sinne des Seelischen; also im Vollsinne, weil der Nerv in der Einheit von Geist und Leib liegt. Aber wir empfinden das Wort dennoch zu leibhaftig. Vergleichen wir jetzt diese Schau der Kultur mit jener in der metaphysischen Erschließung des menschlichen Daseins14, so erhalten wir dort eine andere Sichtweise. Jene betont doch gerade das Andersartige an der Kultur, nämlich das Künstliche im Gegensatz zur Wildnis. Dort haben wir die Kultur als „vierte Wirklichkeit“ bezeichnet, hier wissen wir inzwischen, dass nur Geist, Leib und Seele zusammen eine Wirklichkeit bilden. Vor allem aber zeichnete sich dort die Kultur als die Versorgung des menschlichen Daseins aus. Hier die Kultur als Züchtung des Leibes, 14  Vgl.

1. Bch., § 37 ff.



§ 23  Züchtung und Versorgung; die Mitte als Pflege der Seele 81

dort die Kultur als Entledigung des Geistes von den Zwängen des Kreislaufs. Allein diese verschiedenen Sichtweisen widersprechen sich keineswegs. Dort haben wir die Seele nicht beachtet, darum erschien uns der Geist als Fremdling in der Wildnis. Also begriffen wir die Kultur als Versorgung dieses Fremdlings, damit er nicht verwildere, eher aber unterginge. Vom Zweck der Seele aus gesehen, gelangen wir am Beginn zu einer eher leibhaftigen Sicht. Tatsächlich ergänzen sich beide Sichtweisen zu Züchtung und Versorgung, indem die eine vom Leib, die andere vom Geist herkommt. Jede indes bleibt Ausgang, sie schneiden sich im Pol der Seele als Pflege der Seele. Pflege der Seele behält beides im Auge; und sie tut es in der Überzeugung, dass hier das natürliche Ziel der Wirklichkeit liegt. Es bedeutet: Gesundheit der Seele ist die Einheit von Geist und Leib. Aller Sinn liegt in der Mitte, und dort finden Geist und Leib auch je für sich ihr Bestes. Denn jede Verlagerung fällt in die Einseitigkeit und schadet letztlich auch Geist und Leib je für sich. Denn die einseitige Züchtung misslingt an der Seele und die anderseitige Vergeistigung entfremdet an der Seele dem Leibe. Platons erster Ansatz zur Staatsgründung geht anscheinend nur vom geistigen Bedürfnis aus: Die Menschen sitzen am Boden, essen wie die Schweine und pflegen dabei philosophische Gespräche. Es ist der Geist, der sich seiner Herkunft erinnert und sich pflegen möchte, indem er alles Leibliche vernachlässigt. Nicht die Seele weilt hier in einer Fremde, vielmehr ist es der Geist.15 Dem wird aber schon entgegengehalten: „Und wenn du eine Stadt von Schweinen angelegt hättest, o Sokrates, könntest du sie wohl anders als so abfüttern?“ Die Zugeständnisse, die Sokrates nun macht, weisen zwar den Weg zum aufgeschwemmten Staat; aber Glaukons Einwand bemerkt nur zu gut das Spannungsverhältnis, dem nicht zu entkommen ist. Zur Pflege der Seele gehört auch eine gepflegte Wohnkultur, und der rein geistige Ansatz läuft doch Gefahr, dass gerade der Geist nicht zu sich findet, sondern verwahrlost in der Wildnis: Er wird zum umherschweifenden Jäger, der nichts hortet und alles wieder vergisst. Beide Seiten zusammen bilden das Mittelmaß des Weges und das vorschwebende Ideal der Kultur, die wir aus diesem Anfang als Staatskultur wohl sehen dürfen. Aber das Ideal hält sich so auch nur als leeres Schema, ebenso blutarm wie geistarm; ihm fehlt noch weitgehend jeder Inhalt. Um das Ideal zu erfüllen, bedarf es einer Rückbesinnung auf die Elemente der Kultur, auf ihre Eigenart und auf das Allgemeine des Zusammenhalts.

15  Vgl.

Politeia. 372 c ff.

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3. Hauptteil, 2. Kap.: Kultur als Pflege der Seele

§ 24  Das seelische Gleichgewicht Geist verstehen wir als Bewusstsein durch und durch, so dass für geistiges Dasein nur Gemüt übrigbleibt. In diesem Bewusstsein wird dann Materie das Sperrige und Abständige; ein Jenseits, zu dem er keinen Begriff hat. Materie ist Geistferne. Indem Materie immer im Netz der Seele weilt, wird sie zunehmend Gleichnis des Geistes. Die Stufen des Lebens erklären sich als die Grade geistiger Einwohnung. Metaphysisch setzt sich so das Verhältnis von Seiendem und Selbem fort, so dass man sagen möchte: Leben und Geist bilden im Organismus nur eine äußere Schale um das Verhältnis. Nur in diese Richtung gefluchtet, hieße es also: Leben verhält sich zum Geist wie Geist zum Selben. Allein dies liefe wirklich auf eine weltflüchtige Sicht hinaus, und Materie würde zur Kruste der Wirklichkeit, zu einem Anhängsel. Damit kann sich nur ein schiefes Bild von Kultur einstellen. Es ist die Allgegenwart des Selben, welches unserer Wirklichkeit das Gleichgewicht wieder herstellt. Es geschieht nicht als bloße Verinnerlichung und Erinnerung des Geistigen. Dies ist ja dessen Seinsweise. Kultur muss sich doch deshalb als Auskehr des Geistes herstellen. Die Seele, die das Seiende von innen und außen durchdringt, hilft uns weiter, indem sie uns diese schiefe Sicht durchkreuzt. Das Selbe wird eben in der Seele innen und außen, und darin behauptet sich der neue und dennoch der alte metaphysische Zweck: Der Zusammenschluss von Geist und Materie, um darin seelisch das Gleichnis zum Selben zu erstellen. Geist und Leib haben jetzt ein seelisches Gleichgewicht zu halten. Damit bestimmt sich auch Kultur: Sie wird aus der Seele zu einer Fortführung der Entwicklung, die nicht mehr im Wesen angelegt ist. Auch in ihr läuft es „organisch“ weiter. Allein der Kreislauf der Wildnis kann es nicht sein. Das Gleichgewicht und die neuen Richtlinien der Entfaltung müssen aus der Seele gefunden werden. Als neues geistiges Ideal taucht die Seele auf; in ihr ist die Materie ursprünglich eingeplant. Das Selbe liegt in der Seele, und die Seele führt als Weg und Ziel. Alles dreht sich um die Seele in der Kultur; darin behauptet sich der neue Kreislauf. Andrerseits aber bleibt uns die Seele doch nur eine Relation, wie sich immer wieder gezeigt hat; und so entzieht sich uns die Seele wieder als ein Mysticum, das uns zwingt, auf die Elemente der Kultur, auf Geist und Materie zurückzugreifen. Wir werden immer erneut an die Metaphysik als Aufschluss verwiesen, und diese gibt uns im Schweigen dennoch einen heimlichen Wink, der sich aus der religiösen Überlieferung der Völker erhellt. Seele stellt sich als eine Gegenbewegung ein. Was die innere Form der Lebewesen betrifft, so sind diese durch die Eigenart der Materie im Allgemei-



§ 25  Kultur als Pfeil und Pfeiler83

nen, besonders aber als Gleichnis einer geistigen Seinsgestalt geprägt. Zeitlich erscheint das Stufenwerk als Aufbau der starren Materie zum menschlichen Bewusstsein hin. Um den Vorgang annehmbar zu machen für das Denken, bedarf es einer seelischen Umkehr. Allein diese Gegenbewegung veranlasst sich nicht jeweils von Stufe zu Stufe zwischen dem Geistigen und dem Stofflichen. Die Weltseele und alles Seelische werden vom Selben selber als eine Herablassung, als Äußerung in anderer Weise veranlasst. Die Metaphysis erfassen wir am besten als eine Aussetzung: zeitlos beim Selben, metaphysisch nur an der Materie zeitlich. Denn Zeit ist nur die Urverfassung der Materie. Dann enthüllt sich die Seele als Gegenbewegung, die nicht vom Geist, sondern nur vom Selben ausgelegt ist. Geist bedarf der Form als Wesen und erzeugt irgendwie Stufen. Seele hält als formloses Band den Bestand und setzt als Brücke die Metaphysis voraus. Brücke aber bedeutet auch den wechselseitigen Übergang. Geist prägt nicht nur Materie, auch die Materie prägt den Geist. Leben und Tod gehen über diese Brücke, und was an ihr erscheint, dies wollen wir als Kultur verstehen. Unsterbliches wird sterblich, Sterbliches wird unsterblich; Kultur als Brückenbau. Kein Bauwerk sinnbildet besser das seelische Gleichgewicht als die Brücke über den Fluss der Zeit.

§ 25  Kultur als Pfeil und Pfeiler Wildnis regelt sich selber; sie tut es in der Seele. Menschliches Dasein aber erlebt sich aus der Reflexion. Es sieht sich als Urbrücke mit drei Pfeilern: Mahl, Vermählung, Grabmal. Jeder Pfeiler wurzelt völlig in der Wildnis: Nahrungsaufnahme, Fortpflanzung, Verwesung. Aber jeder Pfeiler strebt auch als Pfeil der Kultur ins Jenseits einer Seele. Vergleichen wir diese Pfeiler mit dem Jäger, dem Nomaden und dem Ackerbauer, so bemerken wir, dass sie sich in Bezug auf dieses Fundament der Kultur nicht mehr unterscheiden. Auf dieser grundlegenden Ebene der Kultur werden wir weder Stufen noch Absonderungen finden.16 Also beginnt hier die Pflege der Seele im Allgemeinen, und mit den drei Pfeilern begegnen wir den drei Türschwellen zur Seele. Hier haben wir es mit drei Polen zu tun, deren offene und unterschwellige Ausstrahlung menschliches Dasein weithin und zuinnerst prägten. Drei Denkmäler im Leben der Materie ragen weit hinaus über ihr stoffliches Dasein und tragen im Jenseits das Gewölbe der Kultur. 16  Auch hier bemerken wir, dass der Silbe MA eine urtümliche Bedeutung des Menschlichen zukommt; vgl. a. im Lateinischen mandare, manducare; matrimonium; manere, monumentum.

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3. Hauptteil, 2. Kap.: Kultur als Pflege der Seele

Haben wir zunächst die Züchtung als die Brücke zwischen Kultur und Wildnis angesehen, so erhält die Züchtung in der Vermählung gerade ihre eigentliche Würde, die sie über die Züchtung des Haustiers hinaushebt. Die bloße Züchtung bleibt an diesen dreien nun doch zurück, bzw. sie wird in der Vermählung zum Mittelpfeiler, zur hohen Zeit der Seele. Gewiss stehen das Mahl und das Grabmal als Überhöhung von Entwicklung und Verwesung wie die Vermählung als Überhöhung der Züchtung. Dennoch ragt die Vermählung hervor, weil in ihr Leib und Seele ihr innerstes Zueinander finden. Von daher ist zu erwarten, dass die Pflege der Seele hier geradezu einen Schwerpunkt hat. Am Grabmal begegnen wir nur der Grenzscheide von Leib und Seele, daher entfaltet sich an ihm kein Leben mehr. Im Mahle hingegen zieht menschliches Dasein einen beständigen Trennungsstrich zum Tierischen, und also wird dieses Mahl zum neuen Boden der Kultur, so wie das Fressen den Boden tierischer Wildnis ausmacht. Das Mahl trägt die Geisteshaltung, indem es allgemeinste und beständige Einübung und Erinnerung des neuen Daseins ist. Jeder Bissen sagt dem Menschengeist: Es gibt kein Zurück mehr ins tierische Dasein. Die Vermählung bietet sich dann als das Herdfeuer der Kultur an, und sie wird so zur Esse, an der ihre Werkzeuge geschmiedet werden. Wir haben es also nicht nur mit der Vermählung von Mann und Frau zu tun; so wie sich der Lebensgefährte mit dem anderen vermählt, so vereinigt er seinen Leib mit der Seele. Denn die Zeugung ist jener Augenblick, wo Leib und Seele verschmelzen. So steht doch die Vermählung als Kultur der Zeugung in der Mitte menschlicher Wirklichkeit, gleichsam als die vornehmste Form der Pflege der Seele. Die Zeugung ist ein zeitloser Augenblick, wo der Leib hinaufgehoben wird zur Ebene der Seele, wo die Seele herabsteigt in das Lager der Materie. Also deutet die Bezeichnung Materie schon an, worin sie, die Materie, den Höhepunkt ihres Daseins hat und letztlich ihre Zweckbestimmung findet. Kultur bedeutet Vermählung der Materie mit dem Geist, und die Seele wird zum Band der Ehe.

§ 26  Die Leibwache des Geistes Um fortfahren zu können, müssen wir wieder das andere Element der Verbindung Kultur heranziehen. Geist hat sich in der Metaphysik als Urwirklichkeit erschlossen, die aber für uns kulturlos bleibt. Was wir von Geist an sich erfahren, ist zunächst Reflexion; sein Zeugnis bleibt totes Gerät am anderen Element. Weder Erkennen an sich noch das Gerät an sich sind seinsmächtig. Nur das Leben zeugt unmittelbar, dies aber geschieht im Zeichen der Seele; darum wird uns die Seele zur eigentlichen Macht der Wirklichkeit. Dennoch haben wir im Geist den wahren Urheber der Kultur zu sehen. Das Gerät, welches er aus der Materie schmiedet, bringt es nur zum Gleichnis des



§ 26  Die Leibwache des Geistes85

Lebens. Im Grunde der Materie erfährt der Geist eine gewaltige Erniedrigung. Nicht einen Funken Leben vermag er aus der Materie zu schlagen. Jedes Insekt aber zeugt aus seinem Gemüt-Dasein neues Leben weiter. So gesehen pflegt Kultur nur einen toten Überbau, unter dem der Strom des Lebens unbekümmert weitertreibt. Ist das Grabmal nicht das wahre Ende aller Kultur, und bleibt es letztlich nicht bei einer bloßen Bekleidung, die den Körper unverrichteter Dinge nackt der Verwesung zurückgibt? In einer bloßen Reflexion einerseits und totem Gerät andrerseits kann sich der Sinn nicht erfüllen. Auch wenn das tote Gerät nur ein Sinnbild geistiger Fortdauer sein soll. Warum lässt sich der Geist herab? Wenn alles immer wieder auseinanderbricht und am Ende immer wieder der Rückfall in die tierische Zeugung Zusammenhalt und Fortbestand leisten muss, so bleibt doch Kultur ein geistiges Armutszeugnis. Geist kann nicht zeugen, für sich aber benötigt er sie nicht, oder aber wir erkennen sie nicht und sie geht uns nichts an. Bricht damit Kultur als Pflege der Seele nicht im Innersten wieder auseinander, weil ihr ein Lebensnerv fehlt? Unsere Gleichung bisher erfüllt sich nur, wenn wir uns auf den metaphysischen Zweck des Geistes rückbesinnen: Bewusste Angleichung an das Selbe in der Entscheidung des Daseins. Darin vollzieht er seine seinsmäßige Anlage: Aggere sequitur esse. Dies nennen alle sittliches Verhalten. In der Tateinheit sittlicher Entscheidung geschieht eine neue Weise von Zeugung als seelische Formung, und jetzt erst enthüllt sich Sinn, Zweck und Größe menschlicher Seele. Der Geist schmiedet sich in seinen sittlichen Entscheidungen eine unvergängliche, leibgeistige Wirklichkeit in der Seele, weil einzig und allein sittliches Verhalten fähig ist zum allseitigen Bindemittel. Darum nähert sich nur aus diesem Verhalten der Geist dem Selben. Die Seele wird zum Niederschlag dieser Entscheidungen. Der Geist an sich ist bindungslos. In der Seele formt er sich eine Weltwirklichkeit seiner sittlichen Entscheidungen, und Kultur als Pflege der Seele wurzelt nun auch in einer Wechselwirkung. Der Geist schafft Bindungen, und er erfährt sich gebunden; jeder Einzelne formt und wird geformt. Kultur als Überlieferung wird zum Zeugnis eines inneren, unsterblichen Geflechtes seelischer Bindungen, in die wir hineingeboren werden. Was zeugt, ist jene Tat, welche über die Schwelle zur Seele geht; und alles, was sich dort niederschlägt, tut es in Form eines sittlichen Nährwerts. An dieser Pfahlwurzel der Unsterblichkeit allein wird alles Übrige aufgehängt. Seele als Brücke zwischen Geist und Leib nährt sich, formt sich, verzerrt sich nach ihrem Lebenszweck: (An)Näherung; dies ist ihre Nahrung. Sie lebt also aus ihrem sittlichen Handeln, oder sittliches Handeln wird ihre richtige Ernährung. Wir müssen es so sehen: In der Seele schafft sich der Geist eine Umwelt, die ihm an sich nicht zukommt, deren er vielleicht gar nicht be-

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3. Hauptteil, 2. Kap.: Kultur als Pflege der Seele

dürfte. Dennoch liegt seine Bestimmung in einer Eingeburt in die Materie, und daraus ergibt sich das eigenartige Wechselverhältnis von Geist und Materie als Moral und Kultur, welches über die Brücke der Seele hinüber- und herüberwirkt. In Folge seiner Eingeburt in die Materie findet sich Geist in einem engmaschigen Netz vor, das ihn zwingt, diese Verfassung anzunehmen. Er, der an sich einsichtige und freie Jäger, der das Umherschweifen liebt, ist durch und durch zur Annäherung an das Selbe bestimmt; er ist es aus Dasein und Wesen und Erkennen. Allein ihm fehlen die Bedingungen der Seele. Seine Entscheidungen sind nichts als Bewusstseinshaltungen, die keine Folgen nach sich formen. Er kennt Zuneigung, Hass und Freundschaft, Herrschaft, Knechtschaft, Versklavung, Befreiung. All diese Haltungen aber werden in der Seele zu Entscheidungen aus der Geburt in die Materie, aus dem Mutterschoß der Erde. Der Geist an sich verharrt in sich, die Materie zwingt ihn aus sich heraus. Ein mächtiges Gesetz treibt ihn in die Materie, wo er sich entscheiden muss. Er, der sich weigert, aus sich herauszugehen, wird durch dieses unerbittliche Gesetz an die Grenze seines Daseins gedriftet; es ist das Chaos der Materie. Sein eigener, trotziger Widerspruch, die Weigerung zur Offenheit im Geiste, drängt ihn an die Grenzscheide, wo alles umschlägt ins Gegenteil: Dort findet er sich in die Entscheidung geworfen, ausgesetzt in die starre, tödliche Materie; und seine Freiheit findet er nur, indem er sich diese geschmeidig macht. Er hat also die Verfassung anzunehmen. Die Möglichkeit des Geistes, sich nicht zu entscheiden, ist ihm genommen. Damit schält sich eine Bestimmung der Materie heraus, die freilich nur im Bezug zum Geiste erscheint. Materie ist Entscheidungszwang für den Geist, darin aber eingeschränkte Möglichkeit der Entscheidung: Umkehr oder Abkehr, kein Ausweichen mehr. Der Trotz des Geistes kann seine Fortsetzung in einer Flucht in die Welt der Materie finden: Es ist die Leugnung des Entscheidungszwangs, die Lüge des Materialismus. Der Geist lügt sich die Materie als das Selbe vor, die Brücke der Seele wird gesperrt. Die Unterscheidungen des Geistes verästeln sich mehr und mehr, aber es sind schon geheime Entscheidungen, um die vorgegebenen Entscheidungen zu umgehen. Die Annahme der Entscheidung führt zur Leibwache des Geistes. Es gibt nicht die Rückkehr als Flucht. Die richtige Einstellung zur Materie wird zur Pflege der Seele.



§ 27  Der Hüter der Brücke87

§ 27  Der Hüter der Brücke Menschliches Dasein findet sich zur Brückenwache bestellt, und jede Brücke bezweckt den Herüber- und Hinübergang. Was den Geist berührt, kann nichts Stoffliches sein. Erkennen allein aber bleibt wirkungslos und ohnmächtig; denn es ist das Selbe, darin bleibt es allein unentschieden. Das Selbe spricht sich als eine einzige Über-Wirklichkeit aus, die sich nicht zu entscheiden hat, die alles zur Entscheidung zwingt. Erkennen teilt sich als sein anwesendes Wesen allen mit. Also ist es die Entscheidung in Bezug auf seine Verfassung, die den Geist allein berührt. Darin erfüllt sich seine Wirklichkeit als eine Brücke. Seine Entscheidung wird zur Auskehr an die Materie, diese gelangt nur über die Seele dorthin. Jeder Ausdruck zieht einen Eindruck nach sich. Je mehr also der Geist in seinen Äußerungen die gesamte Wirklichkeit bewegt, desto mehr geht über die Brücke. Der Geist kennt reine Äußerlichkeiten und reine Erinnerungen, beide also werden ihn weniger bewegen und beeindrucken. Alles was über die Brücke wechselt, führt zu einem Niederschlag, das ihn bindet, also seelisch formt. Die Seele, nicht der Geist, enthält den gesamten Plan der Wirklichkeit in der Anlage, wenngleich sie nur als Band die Elemente zusammenschweißt. In diesem Band liegt der Schwerpunkt menschlichen Daseins, und von dieser Mitte her flacht die Bedeutung zu den Randzonen hin ins Belanglose und Gleichgültige ab. Wir haben es mit einem Zweckgefälle zu tun, in dessen Schnittpunkt von Höhe und Breite menschliches Dasein eine einzigartige Sonderstellung einnimmt. Die Seele wird im Menschen und der Mensch wird in der Seele zum Mittelpunkt der Wirklichkeit; in ihm bemerken wir die Seele als Umschlagplatz. Wenn die alte Metaphysik die Seele als das Wesen des Menschen begriffen hat, so war es wohl vom metaphysischen Bestandsaufbau her wohl nicht zutreffend; von der Zweckbestimmung her lässt sich diese Ansicht immer noch rechtfertigen. In der menschlichen Seele laufen alle Fäden der Wirklichkeit zusammen, so dass menschliches Dasein an dieser Brücke wie der Verwalter des Wirklichen erscheint. Es ist der Hüter der Brücke; seine Entscheidungen regeln, was hinüber- und herübergeht, und aus seinen Entscheidungen erstellt sich wie von selber die Kultur als der sichtbare Brückenbau. Menschliches Dasein als Versammlungsstätte aller Wirklichkeit und Kultur als die große Zusammenkunft von Räumen und Zeiten, von Bereichen und Ebenen, von Zonen und Sphären. Die menschliche Seele baut sich eine Brücke als Wohnstätte, und sie drückt damit ihre Sonderstellung im seelischen Bereich aus. Die Kultur ist diese Wohnstätte, die menschliches Dasein baut. Aber kann diese Wohnstätte

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3. Hauptteil, 2. Kap.: Kultur als Pflege der Seele

der Zweck selber sein? Kultur entsteht, indem menschliches Dasein die Seele pflegt; so bildet sie sich wie von selber als Niederschlag. Sie bekennt sich im Keim schon als Mittel zum Zweck; Seele ist Vermittlung schlichthin, der Niederschlag ist Brückenschlag nach allen Richtungen des Wirklichen. Indem menschliches Dasein die Seele pflegt, nähert es sich dem Zweck-Selben am trefflichsten. Die Erkenntnis des Zweckes bestimmt also alles, die Entscheidung danach bewirkt alles. Weder die Pflege noch die Seele selber halten am Ende als Zweck stand. Was als Zweck begegnet, ist als Sein das Selbe, als Tun für uns die Annäherung an das Selbe. So hat sich denn die Ontologie der Kultur im groben Umriss und im innersten Gehalt als Zweckmäßigkeit bestimmt. Darin weist sie aber über sich hinaus, indem der Pfeiler als Pfeil über sich hinausschnellt. Wir müssen also dem Pfeil folgen, Kultur lassen wir als Niederschlag zurück. Wenn wir diese richtig begreifen wollen, so haben wir zuerst ihren Gründungen in der Seele nachzugehen. Diese finden wir an deren innersten Zweckmäßigkeiten. Indem wir schon wissen, dass diese Zweckmäßigkeiten nicht einfach aus geistigen Gründen sich formen, werden wir, sei es unvermittelt oder unerwartet, wieder an die Wildnis verwiesen. Denn als Wildnis stellt sich uns die Nahtstelle von Geist und Leib dar, und aus ihr wächst Kultur oder bildet sie sich wie die Ackerkrume auf Felsenboden. Weder Vergeistigung noch Versorgung, der Nerv der Kultur muss sich in einer eigenen Ordnung erschließen. Pflege der Seele ist nicht nur Fortsetzung der Züchtung; sie erklärt sich als der Weg der Mitte, auf dem das richtige Verhältnis von Geist und Leib gefunden wird. Pflege der Seele als Ordnung und Weg. Dies erinnert nun doch an das Verhältnis von Wesen und Dasein: Die Ordnung als ein Plan, wonach in freier Entscheidung zu handeln ist. So gesehen wäre er zeitlos und allgegenwärtig wie das Wesen. Der Weg als die Entfaltung des Daseins, wobei jedes Einzelne an der Ordnung sich ausrichtet, jedoch seinen einmaligen Weg zu gehen hat. Pflege der Seele erklärt sich als die Wache an der Brücke: Das richtige Zusammenwachsen von Geist und Leib. Darin hält sich die Sinnmitte von Kultur, ihr Plan und ihr Weg, und daran gemessen wird auch sie zum Gleichnis.

3. Kapitel

Die Pflege der Seele. Ordnung oder Weg? § 28  Eine Rückbesinnung In unserer Betrachtung haben zuletzt Kultur und Sittlichkeit eine zwielichtige Doppelrolle gespielt. Während wir einerseits nach dem Sinn der Kultur suchten und ihren Weg näherhin noch gar nicht kennen, haben wir andrerseits den sittlichen Weltzweck ihr einfach als oberstes Gesetz vorangestellt. Dabei verhält es sich doch mit der sittlichen Zweckmäßigkeit kaum anders als mit dem Kulturzweck. Haben wir es nicht mit einer Gleichung und zwei Unbekannten zu tun, und müssen wir nicht den sittlichen Weltzweck hier als ein Apriori einführen, der eben auch apriori über der Kultur steht? Es ist nötig, dass wir eine kurze Rückbesinnung anstellen. Zwei Gründe haben zu dem Verhältnis geführt, in dem sich die zwei Pole so verschränken, dass wir sie wie einen einzigen Motor ansehen, wenngleich uns die Geschichte irgendwie belehrt, dass hier eher Zwietracht als Eintracht am Wirken war. Einmal hat sich das metaphysische Ergebnis, nämlich die Angleichung des Gefugten an das Selbe, mit solcher Allgemeingültigkeit ausgesprochen, dass auch die Seele dem wohl nicht widersprechen kann. Zum anderen aber haben wir die Seele aus der Überlieferung übernommen. Ihre Wirksamkeit und ihr Vorhandensein drängt sich unserem Erkennen nicht mit der Kraft eines metaphysischen Grundes (Wesen, Dasein) auf. Die Seele ist kein metaphysisches Ur-Teil und deshalb ist ihre Aussage kein metaphysisches Urteil. Es bleibt dabei, dass wir Kultur und Moral als ein untrennbares Geflecht annehmen, und die Untersuchung hat zu klären, wie die Zusammenhänge und Zweckmäßigkeiten sich ordnen. Versuchen wir, uns die menschliche Gesellschaft von zwei entgegengesetzten Seiten her zu denken. Einmal als eine Gemeinschaft, die ihr Ziel in einem friedvollen und genussvollen Zusammenleben findet. Moral und Jenseitsglauben enthüllen sich dann für den Einsichtigen als Stufen einer List der Natur. Diese List erweist sich indes als notwendig und zweckmäßig, solange die wahre Einsicht noch nicht erreicht ist: In ihr wird moralisches Verhalten zur Natur. Einsicht als Überwindung tierischer Unreife. Alles Triebhafte reißt etwas an sich, das dem Anderen auch gehört, und es soll in der Einsicht seine Ausrichtung finden. Kultur erklärt sich als die machtvolle Bewegung dieser Ausrichtung. Wenn erst die vollendete Einsicht auch die Ausrichtung in sich

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3. Hauptteil, 3. Kap.: Die Pflege der Seele. Ordnung oder Weg?

aufgenommen hat, so steckt die List der Natur in der Einsicht. Die moralische Ausrichtung ändert sich im Grunde nicht, so dass nicht das Triebhafte, sondern die Einsicht zu überwinden ist. Mit der Einsicht wandelt sich die triebhafte Wirklichkeit dieser Gesellschaft; was aber bleibt, ist eine rätselhafte und ungeklärte Welt. Ein Bewusstsein sieht sich ausgesetzt in einem Kreislauf oder in einem Zickzack, wo Einsicht und Treiben einen unbekannten Weg gehen. Eine andere Gesellschaft steht ganz unter dem Druck eines Jenseitsglaubens und erlebt sich als Fremdling in der Welt. Sie sieht ihre Leibhaftigkeit als ein verworfenes Geschick an; ansonsten bilden nur der Freitod und die Selbstverstümmelung das Gitter des Gefängnisses, worin sie ihre Strafe absitzen muss. Alles Kulturschaffen, wenn man es so nennen darf, steht im Zeichen von Verzicht und Entsagung, denn es verstrickt nur mit der Materie. In der Fortpflanzung sieht diese Gesellschaft nur noch ein erlaubtes Übel für jene, denen es nicht zur Ehelosigkeit reicht. Im Bewusstsein beider Gesellschaften fehlt die Anerkennung des Seelischen. Während die eine das Jenseits bestreitet, vernachlässigt die andere das Diesseits und seine Bestimmung für die Seele. Aber die geistige Gesellschaft hat die Moral völlig richtig begriffen; sie versucht freilich, nach einer rein geistigen Ethik zu leben. Diese bildet im menschlichen Dasein gleichsam den harten Felsengrund, der für alle derselbe ist. Ohne den Ackerboden einer seelischen Ethik kann jedoch niemand leben. Auf ihm verlaufen die Wege für jede einzelne Seele anders. Echte Kultur wird es für beide Gesellschaften nicht geben. Während die geistige Gesellschaft an inneren Spannungen in seelischen Widerspruch gerät, verfällt die andere der Lüge des Materialismus. Kultur ergeht im Bereich der Seele, demgemäß entsteht sie aus der richtigen Einstellung zum Geheimnis der Seele. Kultur ist der mittlere Weg zwischen Weltflucht und Weltverfallenheit.

§ 29  Moral der Wildnis und Ethik des Schicksals Geistiges Dasein erlebt sich aus seiner metaphysischen Zweckmäßigkeit in einer sittlichen Verfassung; und menschliches Dasein versteht sich auch als geistiges Dasein. Die Seele kann weder Freiheit noch Vernunft noch sittliches Empfinden begründen. Allein das menschliche Dasein erhält aus seiner seelischen Verflechtung von Leib und Geist eine Sonderstellung: Seine allgemeine geistige Moral erfährt sich schon immer eingepflanzt in eine seelische Landschaft. Jedes Menschenleben legt sich deshalb als ein äußerst verwickeltes System, das wir Schicksal nennen wollen, aus. Aber Philosophie hat es nicht mit Schicksal zu tun; und die Psychologie muss theologisch denken,



§ 29  Moral der Wildnis und Ethik des Schicksals91

wenn sie die Wege einer Seele verstehen will. Andrerseits kann es für uns eine geistige Ethik in „Reinkultur“ – das Wort ist natürlich hier falsch verwendet – auch nicht geben. Das Geistige wird immer nur in seelischer Einfleischung sichtbar. Aber auch diese erklärt sich als Geschichte der Menschheit gerade als eine „Geschichte“ von seelischen Gründen, Ebenen und Feldern, so dass nicht das verborgene Geistige, sondern das Seelische den unergründlichen Tiefgang eines Menschengemüts ausmacht. Sein Erkennen spielt hier sicherlich die geringste Rolle, weil diese allgemeine Zone von Einstellungen in der Tiefe des Gemütes ausgerichtet wird. Hat es noch einen Sinn, von einer geistigen und einer seelischen Ethik zu reden? Nach dem Aufbau der menschlichen Person, so wie wir sie nun einmal verstehen wollen, trägt diese Unterscheidung dazu bei, menschliche Wirklichkeit in ihrem Ausmaß von Kultur, Wildnis und in den vielen Religionen besser zu verstehen. Die Unterscheidung könnte zum Tragen kommen, wo es gilt, das Verhältnis von Kultur und Ethik näher zu bestimmen. So wie der Geist Träger des Personkerns ist, so wird er auch zum Pol des sittlichen Bewusstseins. Auch wenn die allgemeinen Inhalte immer schon in der leibhaftigen Verfassung durchscheinen, wir dürfen annehmen auf Grund der Metaphysik des Seins, dass es allgemeine sittliche Grundgesetze gibt nach einer Übereinstimmung von Sein und Sollen. In der Angleichung des Seienden an das Selbe ist die Einheit von Sein und Sollen im Grundsatz gegeben. Dann bedeutet „Vernunft“ das Vernehmen dieser allgemeinsten Aufforderung. Der Verstand erfährt schon immer die Vorstellung dieser Aufforderung in seiner leibseelischen Verfassung. Das Apriori einer „reinen Vernunft“ erklärt sich als das Geistige, und es enthält ein erkenntnismäßiges und ein sittliches Apriori. Die Erfahrung von unmittelbarer Einsicht und unmittelbarer Gewissheit bleibt indes beträchtlich verschieden, weil letztere aus der Vermittlung erst erweckt werden muss. Die Zone des Erkennens hat in der Ansicht der Sinne und in der Einsicht des Denkens ihr Unmittelbares. Das Apriori des sittlichen Bewusstseins ist indes ein bloßer Anstoß, der aus dem Gemüt kommen muss, aber aus der Vernunft bedingt ist. Gerade weil das Seelische in der Geschichte sich als zutiefst verschlungen und verworren erschließt, bekommt es einen Sinn, nach einem Naturrecht bzw. einer Moral der Wildnis zu suchen. Der geistige Anstoß des Sittlichen dürfte doch hier in seiner allerersten Ausformung an der leibseelischen Umwelt des Menschen gegeben sein. Es hat schon seinen Sinn, von einer geistigen und seelischen Ethik zu reden, weil alles Seelische im Menschen schon immer in höheren Schichten des Personseins zur Auswirkung kommt. Da gibt es nichts rein Körperliches, das nicht zugleich sich aus einem je einmaligen Schicksal geformt hätte und das nicht durch ein unableitbares Geflecht von Bindungen der Umwelt verpflichtet wäre. Die völlig verschiedenen

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3. Hauptteil, 3. Kap.: Die Pflege der Seele. Ordnung oder Weg?

Pflichten und Rechte, die ein Verwandter und ein Fremder zu einer Gruppe von Menschen haben, zeigen mit einem Schlage, welch beträchtliche Unterschiede hier selbstverständlich geworden sind. Es ist schlichthin der Abstand von geistigem Urkern der Person und seelischer Einbindung in eine Umwelt, der jeweils ein anderes sittliches Verhalten verlangt. Eine rein geistige Ethik an sich hat keinen Sinn für menschliches Dasein, wenngleich alles Ethische aus dem Geist herrührt. Unsere geistige Ethik ist leibhaftig. Allein damit stehen wir noch nicht im seelischen Bereich. Es gibt doch für uns alltägliche Begebenheiten, wo wir den Vorteil eines allernächsten Verwandten zurückstellen, um nicht einen Fremden ungerecht zu behandeln. Umgekehrt aber geht uns ein Fremder nichts an, wo wir einem Verwandten gegenüber uns nicht einer Pflicht entledigen können. Ein so gestaltetes sittliches Pflichtenheft ist uns selbstverständlich; dass es auf den Unterschied von Geist und Seele zurückgeht, wird uns kaum bewusst. Aber Seele behält sich beim Menschen vor, immer mehr als bloße Belebung des Organischen zu sein. Seele formt von den leibhaftigen Entscheidungen her selber zurück in den Geist.

§ 30  Das Spiel der Seele Was vom Geist kommt, ist Reflexion und sittliche Anwendung. Den Niederschlag nennen wir Kultur. Reflexion enthält die sich abscheidende Auseinandersetzung; sittliche Anwendung als Entscheidung des Gemüt-Daseins wird zur Tateinheit. Am sittlichen Verhalten des Geistes hat sich gezeigt, dass es die Einheit stiftende Macht ist, die von keinem anderen Wirken erreicht wird. Es ist die große und allgemeine Zweckmäßigkeit, die das geistige Sein durchwaltet. Denn Geist bedarf nicht der drei Kreis- und Lebensläufe; was ihn erreicht, ist Kultur als Rückflut seelischer Wirkung. Kultur und Sittlichkeit verwachsen im seelischen Bereich, jedoch sicherlich nicht so, als wäre sittliches Verhalten nur Anwendung und Kultur nur Rückflut. Die Anwendung der Reflexion hat sich in der Wildnis auch als Überlistung der Natur und als eine technische gezeigt. Erkennen schließt noch nicht sittliche Anwendung ein. Aber Seele erweist sich als ein Umschlagplatz in jeder Hinsicht: Geist wirkt in Materie, Materie prägt Geist; Sittlichkeit ernährt Kulturschaffen, Kultur befruchtet sittliches Reifen. Seele wirkt von innen und außen, nicht nur an der Materie, sondern auch am Geist. Wir können deshalb Kultur und Sittlichkeit als einen Organismus im seelischen Bereich ansehen. Kultur bedeutet uns einen seelischen Niederschlag, an dem die Verleiblichung des Geistes und die Vergeistigung des Leibes eine ausgeglichene Zweckbestimmung haben. Seinsmäßig gesehen drückt sich hier ein aufgehobenes Rangverhältnis aus: Geist und Leib stehen ebenbürtig zusammen; die Materie beansprucht im Sein die gleiche Mitwirkung wie der Geist. Mit der Kultur erhält die Wirklichkeit in der Seele eine weitere Richtung, ein viertes



§ 31  Anima est quoddammodo omnia93

Ausmaß. Kultur erscheint als Spielzeug menschlichen Daseins: Sie errichtet eine neue Metaphysis, in der im Spiele die Einheit der Ur-Teile gelungen ist. Spielend nähert sich der Mensch dem Selben. In der Kultur schafft menschliches Dasein, was ihm im Sein nicht gelingt; es spielt das Selbe. Allein dieses Spiel geht nicht auf Abwegen, es ergeht aus der Seele, losgelöst von den zwangsmäßigen Kreisläufen des Organischen. Spiel bedeutet eben auch eine Freiheit, worin die Rangordnung von Leib und Geist aufgehoben ist. Also zeigt sich die Freiheit zunächst einmal beim spielenden Kind, und sie ist schon immer mehr als das Herumtollen der Jungen beim Säugetier. Im Spiel findet das Kind die Wege seiner Seele. Spiel verrät uns aber auch die Freiheit der Wege angesichts einer Entscheidung vor dem Anspruch des Sittlichen. Im Spiel findet das Dasein Unterscheidungen, mit denen es im Tanze am Spannungsverhältnis des Sittlichen vorbeikommt. Es entspannt sich. Kultur enthält die spielerische Wegfindung als Zweckbestimmung. Zumindest bleibt dieser Zweck neben dem großen und allgemeinen metaphysischen bestehen, geduldet. Menschliches Dasein spielt das Selbe; es setzt sich über die Fugen des Seins hinweg, über Raum und Zeit, über den Tod. Es spielt eine Tateinheit neben dem sittlichen Verhältnis; es hält sich zusammen mit dem Technischen an einen Kunstgegenstand, in dem ebenfalls eine Einheit geschaffen wird, die über das Organische hinausgeht.

§ 31 Anima est quoddammodo omnia Seele versteht sich als Einheit von Gegensätzen. Schon an der Züchtung kommt zusammen, was in der Wildnis nicht zusammentrifft und nicht zusammenkommen kann. Seele ist der Brückenschlag zwischen dem Unvereinbaren, zwischen Geist und Materie. Was die Metaphysis nicht bewältigt, leimt die Seele, schweißt die Seele dennoch zusammen. Also erklärt sich Seele nur als eine neue Äußerung des Selben, ihr Entstehen geschieht irgendwie anders als die Metaphysis, und sie setzt Metaphysis immer schon voraus. Was bedeutet es, dass sich Seele als Metaphysis verneint? Metaphysis lässt sich aus ihren Gründen einmal als erste Voraussetzung beschreiben: Grund und Voraussetzung fallen zusammen, Sein in sich. Die Zweckmäßigkeit, in der das Bewusstsein ausgesetzt ist, darf hier einmal abgeblendet werden. Seele aber ist kein esse in se; sie erklärt sich im ersten Begriff als eine Zweckmäßigkeit, sie ist also Relation durch und durch, aber auch über die Metaphysis hinaus. Als Relation über die Metaphysis hinaus verleiht Seele dieser eine Wirkweise, welche die Ur-Teile nicht verschmelzen lässt im Sein, aber aufgehen lässt in einer neuen Wirkweise, die wir Feld oder Sphäre nennen wollen. Seele ist Sphäre oder Kraftfeld, also alles andere als Substantia. Allein damit ist nicht mehr gegeben als ein principium vitae, dem weder Kultur noch

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3. Hauptteil, 3. Kap.: Die Pflege der Seele. Ordnung oder Weg?

Technik zustehen. Seele bedeutet zunächst Lebensform, Prägung der Materie vom Geist her. Geistseele schließt eine Umkehr mit ein: Auch der Geist wird von der Materie her geformt; so innig geht er in die Materie, dass er ihr nicht mehr entkommt. Indem Eindruck und Ausdruck die Seiten wechseln, wenngleich diese von Grund auf verschieden sind, geschieht eine einzigartige Verschweißung in der Wirklichkeit. Weil hier die Rangordnung der Wirkmächtigkeit geradezu auf den Kopf gestellt werden kann, lässt sich die Seele irgendwie als das Ganze und schließlich auch als Substantia ansehen. Ein neuer Zweck, aus der Sicht der Metaphysis ein abgeleiteter, besorgt eine neue Einheit, indem er an der Metaphysis wie ein Spiegel die Vollkommenheit des Selben aufleuchten lässt. Seele gründet nicht in sich wie Sein, und darin erinnert die Sphäre Seele an die Zone Erkennen, welches ebenfalls eine Einheit schafft, weil es nicht seinsmächtig ist. Während aber Erkennen an sich nichts verändert, weil es nichts bindet, bewirkt Seele eine tiefgreifende Änderung von allem, weil alles Sein von ihr gebunden wird. So wird denn Seele tatsächlich zu einem Behälter, in den die Entscheidungen des leibhaftigen Daseins hineinfließen und sich niederschlagen. Es ist ein künstliches Sein, und es hat dennoch die Macht der Züchtung: Es wird zur Natur, indem es diese von innen heraus formt. Indem Seele von innen und außen formt und indem innen und außen sich ständig umkehren können, wird jede Erinnerung zum äußeren Niederschlag und jeder äußere Niederschlag setzt in der Erinnerung an. Dies aber wird im Begriff Kultur umspannt, der vom technischen Gerät über das Kunstwerk bis hin zum sittlichen Nährwert reicht: Es ist die Tateinheit des kulturschaffenden Daseins. Wir begegnen in der Kultur dem Selbstverständnis und dem Selbstausdruck der Seele als Gussform. Sie ist eine Tateinheit, worin sich dennoch alle Unterschiede des Seins und der Wirklichkeit gläsern widerspiegeln. Nichts geht unter in dieser Einheit und dennoch bleibt es ein seelischer Guss. Es ist der Schweiß der sittlichen Anstrengung, der diese kunstvolle Einheit leistet, worin dennoch jedes Ur-Teil seine Eigenart behält und zum allgemeinen Zweck beiträgt. Jetzt verstehen wir Platons Geheimnis vom Erkennen der Seele, welches nur über eine Katharsis, nicht über eine Aphairesis (Abstraktion) gewonnen werden kann. Damit ist nicht die wissenschaftliche Sachlichkeit gemeint; es ist die Weisheit einer sittlichen Reinigung der Seele, die letzten Endes allein den weiten Raum auch für wissenschaftliche Sachlichkeit bereiten kann. Jede Wissenschaft bildet sich als ein Fach in einer Kulturschmiede aus. Wenn sie vor lauter Bestreben nach Sachlichkeit den seelischen Zusammenhang nicht mehr anerkennt, gerät sie in die Unsachlichkeit des Materialismus. Ein weiterer einzigartiger Grundzug zeichnet sich an der Seele ab: Es gibt im seelischen Wirken nicht die Auseinandersetzung zwischen Bewusstsein



§ 31  Anima est quoddammodo omnia95

und Bewusstsein im Verhältnis von subiective und obiective. Seele lebt gerade drin, dass jene Intersubiectivitas, die für die Zone des Erkennens zur allgemeinen Bestimmung wird, in ihr aufgehoben ist. Was Erkennen leistet, muss sich in der Seele nicht wiederholen: Die Vereinigung aus der Unterscheidung, welche eine Unterscheidung aus der Vereinigung ist. Gerade dieser Zug der Seele enthüllt ihre Absichten am treffendsten; sie hat mit Erkennen wenig zu tun, und sie ist es, die das an sich sachliche Erkennen von den Gefühlen her einfärbt. Da die Seele über das Gemüt mit der Metaphysis zusammenwirkt, trägt sie das Kennzeichen der Identitas. Entscheidung und Identitas bilden eine Seite der Wirklichkeit, die durch Gemüt und Seele vertreten wird; Erkennen und Wesen ergänzen diese Wirklichkeit als Unterscheidung und Vergleich. Immer ist es das Träger-Ich, welches so die Züge des indivisum in se auf sich nimmt. Wo immer ein Collectivum als Macht der Entscheidung auftritt und sich dabei ein Antlitz prägt, da schafft Seele. Das Gemüt trägt zwar die letzte und ursprüngliche Entscheidung im Kern der Person. Dem Gemüt allein reicht es aber nicht, eine Gemeinschaft zu verschweißen, einen Gesellschaftskörper zu bilden und zu formen. Seele legt sich als Geflecht und Netz über die Gesellschaft, und sie bindet so auch wieder weithin die Entscheidungen des Einzelnen. In der tiefsten Tiefe des Gemütes erfährt der Einzelne einen Bezug zum Collectivum, den er aber gerade als seine ureigene seelische Verfassung erlebt. So wirkt Seele. Aber gerade diese Einheit, welche sich niemals in die Vorstellung zwingen lässt, macht seelische Gestalt so formlos wandelbar. Nichts vermag so gewaltig zu wirken als die Allmacht sittlicher Entscheidungen. Denn allein dieses Verhalten vermag den Allzweck der Wirklichkeit im begrifflosen Begriff zu behalten und es schafft so in der Angleichung an das Selbe, es formt über die Seele Wirklichkeit in unbegreiflicher Weise. Anima est quoddammodo omnia. In der Gemütstiefe, wo Seelisches und Gemüthaftes verwachsen, lebt die Gesellschaft aus einer Einheit, die den Wurzelgrund der Kultur ausmacht. Dort keimen und entwickeln sich die Archetypen nach einem eigenen Gesetz, fernab und verborgen dem organischen Wachstum. Es sind die Ur- und Leitbilder, an denen sich ein Collectivum in ein Einzelschicksal übersetzt und dieses wiederum in geheimer Weise stellvertretend für das Collectivum wirkt. Der Schweiß moralischer Anstrengung allein bringt die Härte und den Glanz der Metalle, den Nährwert, der den Verschleiß der aufgeschwemmten, den Kalk der alternden Kultur immer wieder austreibt. Dort lagern auch die Bindungen wechselseitiger Verantwortung. Dennoch, auch wenn seelische Entwicklung sich als organische niemals erklären lässt, greift die Seele tief in die organische ein. Nur so wird der beträchtliche Unterschied der Gestalt bei den Rassen der Haustiere erklärbar.

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3. Hauptteil, 3. Kap.: Die Pflege der Seele. Ordnung oder Weg?

Also sind auch die Menschenrassen über die Seele, keineswegs über ihr eigenes und einziges Artwesen verschieden. Also liegen auch Züchtung, Entwicklung und Reifung in der inneren Einheit einer Kultur. Die Völker selber entstehen als Schicksale; sie entstehen nach dem Mythos sogar als Einzelschicksale.

§ 32  Das weltliche Schauspiel der Seele Reifung und Entwicklung; beide sind seelisch bedingt, in der modernen „Psyche“ tauschen sich die Bezeichnungen geradezu aus. Es zeigt, wie sehr wir im Organismus, im Materialismus stecken. Ohne Seele wächst nichts in der Wildnis. Allein in der menschlichen Seele liegt ein Abgrund, der Wildnis und Kultur, der Reifung von der Entwicklung abscheidet. Es ist der Abgrund der Freiheit und der Verantwortung. Auch das hochentwickelte Haustier kennt eine seelische Reifung, die sich von seiner Entwicklung absondert; aber nur die Kulturseele ist dafür verantwortlich. Zwischen Reifung und Entwicklung liegt die Ebene der Entscheidung, und sie macht die Reifung zu einer weithin eigenläufigen Bahn. Schicksal hat nichts zu tun mit Entwicklung. Reifung verläuft im Spannungsverhältnis von Schicksal und Entwicklung. Reifung bleibt einmal an die Entwicklung des Artwesens gebunden, andrerseits richtet sie sich nach dem verborgenen Grund der Seele. Dort bildet sich das Schicksal aus dem Geflecht in der Gesellschaft, aus den seelischen Bindungen und den geistigen Verpflichtungen. Wenn die Seele als Relation weder Vernunft noch Willensfreiheit begründen kann, so ruht natürlich Verantwortung im Geistgemüt. Wir haben jedoch festgestellt, dass der geistige Kern der Moral immer eingefleischt ist in der Seele. Besonders an der Verwandtenethik zeigt sich, dass diese Ebene geradezu in Widerstreit mit der allgemeinen geistigen Moral geraten kann. Die Liebe der Mutter zu ihrem Sohn ist so stark, dass sie sich über moralische Verpflichtung hinwegsetzen kann. Sie gehorcht der Bindung und wird sogar unmoralisch. Wir bemerken also, dass seelische Sittlichkeit aus zwei Wurzeln sich herleitet: aus der geistigen Moral und aus der Verwandtenethik, die sich aus dem Schicksal bezieht. Aus der Verflochtenheit menschlicher Verfassung erhalten wir einen Einblick in den Kulturplan: Reifung ist Pflege der Seele. Aber Pflege geschieht als Wegfindung, und jede Seele hat ihren ureigenen Weg zu finden. Wie das Wesen in allen Daseinsgenossen ein und dasselbe ist, jedes Dasein aber ein Einzelnes ausmacht, ähnlich gebietet geistige Moral allen dasselbe, aber dieses Gesetz offenbart sich immer in einer Seele in die Kultur hinein. Haben wir das volle Ausmaß von Kultur eingefasst, wenn wir sie als das Geflecht bestimmen, das sich aus seelischen und geistigen Zusammenhängen einrichtet? Bedenken wir, dass für uns das Seelische die Materie eingeholt hat, so



§ 32  Das weltliche Schauspiel der Seele97

könnte die Bestimmung weit genug sein. Jedoch sagt uns der unmittelbare Eindruck, dass Kultur mehr zum Inhalt und Gehalt beansprucht als den sittlichen Grundstock. Wir können allerdings nicht mehr behaupten, dass Kultur und Moral zwei Pole bezeichnen, die im Ursprung je ihr eigenes Gesetz hätten. Denn es obliegt ja der Seele, dass in ihr diese Sphären verwachsen. Das Geheimnis der Kultur erschließt sich uns nur als die Seele selber, als deren Ausstrahlung sie alles durchwirkt. Auch darin zeigt sie sich als das Gebinde und Gemächte der Seele, dass sie Wirklichkeit von innen und außen durchwaltet, nur um Wildnis in ihrem ureigentlichen Sein zu veredeln. Alles, was Kultur erschafft, bleibt bloßes Spielzeug, wenn nicht die leibhaftige geistige Wildnis im Geschaffenen zum Durchscheinen kommt. Und so gesehen, sprechen wir von der vierten Zone des Seins, vom vierten Seienden oder von der vierten Wirklichkeit. In der Kultur schafft sich menschliches Dasein sein Gleichnis als Seelengebilde. Es genügt ihm nicht, ein Nest zu bauen, einen Ameisenstaat zu gründen und Vorräte für den Winter zu sammeln. Wie die Seele selber Wildnis voraussetzt, so bedarf Kultur des Seienden; und wie das Sein ein Gleichnis des Selben, so schafft menschliches Dasein sich im Spiel ein Gleichnis, und es gleicht sich darin dem Selben an. In einem spielenden Ernst und in ernstem Spiel übt es sich ein in den Raum der Seele. Diese aber beansprucht, alles zu sein; darum weitet sie sich aus, um alles einzuholen in das weltliche Schauspiel der Seele. Die Metaphysik bezeichnet das Seiende als esse in se, und nach unserer Auffassung wollen wir damit die Metaphysis, also Nicht-Seele verstehen. Sie erstellt sich aber als esse in se auch als Gleichnis durch und durch, dies nicht erst über die Seele. Dann durchdringt Kulturseele das Sein mit einem neuen Lichtglanz, der die Fugen der Metaphysis in den Schatten einer Unterwelt stellt. Die Seele möchte sie geradezu verschweißen, und alles, was gefugt ist, möchte sie zur Unterwelt hinabsetzen. Aber ohne Seele gibt es auch dort, in der Wildnis der Unterwelt, kein Leben, und so muss auch die Seele in der Unterwelt noch sein. Das esse in se schließt eine Relation nicht aus; die Ur-Sache weist wohl auf ihren Ur-Sprung hin, und sie zeigt sich deshalb gefugt. Seele, als Umkehrung des Seienden verstanden, enthüllt dann noch ein wenig mehr an Einblick in die Wirklichkeit. Sie ergeht als eine neuartige Äußerung des Selben, die aber so eine Erinnerung an das Selbe im Grunde des Seienden aufleuchten lässt. Das Sein steht als Aussetzung zwischen dem Nichts und dem Selben, so dass „aus dem Nichts und aus dem Selben“ dasselbe bedeutet. Von der Seele gilt dies nicht. Sie setzt das Ausgesetzte voraus, und sie schlägt eine Brücke vom Selben zum Sein. Damit wird eine neue Weise der Angleichung ausgespannt, und die Spannkraft bemisst sich nach der Überbrückung von Gegensätzen.

4. Kapitel

Kultur als Gleichmaß der Seele § 33  Spiel und Arbeit, Moral und Lust; das Viergespann der Seele Bereits am Spielzeug des Kindes bemerken wir die Grundzüge des Kulturhaften. Die kunstvolle Einheit des Gegenstands verschmilzt Wesen und Dasein; dem Spielzeug eignet kein Artwesen. Auch kennt das Jungtier kein Spielzeug, das ihm verfertigt wird von den Alten. Das Spielzeug hat den Zweck, die Seele des Kindes zu befrieden, und die Ablenkung von seinen Ängsten der Einsamkeit zeichnet sich so als Wegfindung nach innen schon aus. Darum bleibt dem Spielzeug das Artwesen fern. Im Spielzeug verkörpert sich der tiefere Sinn menschlichen Daseins: Je mehr die Seele den Geist auf die Wege lenkt, welche in ihr vorgezeichnet sind, desto spielerischer geht es zu im Leben. Das Kind geht aus dem Unbewussten in das Unbekannte, und es haftet noch ganz am Äußeren in dem Maße, wie es schwach im Inneren ist. Dem sorglosen Spiel steht die harte Arbeit um das tägliche Brot als Fremde gegenüber; das Kind schreit nach der abwesenden Mutter. Also begegnet ihm die Arbeit zunächst einmal als innere Einsamkeit; und doch gehört die Arbeit ganz hinein in die Kultur. Nur das Haustier arbeitet, und es arbeitet im Dienst des Menschen. Am Spannungsfeld von Spiel und Arbeit zeichnet es sich ab, worum es geht. Weg und Ziel der Seele zeigen es uns: Die Arbeit soll zum Spiel, das Spiel soll zur Arbeit werden. Dann sehen wir auch sofort den Kulturverfall in seiner ganzen Breite im Gegensatz von öder Hilfsarbeit und Kunsthandwerk, von sogenannter „Industriekultur“ und Kunst. Wir können diese Kluft gar nicht ernst genug nehmen, und jeder Fortschritt, der sie nötig macht, erweist sich als gewaltige Lüge eines Irrwegs, einer Verführung der Seele. Nicht auf einseitige Höchstleistungen kommt es also an in der Seele, sondern auf deren Gleichgewicht, und alles Große soll aus dem Gleichgewicht kommen. Wo dies nicht der Fall ist, züchtet einseitige Größe auf der anderen Seite ein Heer von Hilfsarbeitern. Das Verhältnis von Spiel und Arbeit enthüllt sich uns als Mutterboden einer Kultur. In der „Industriekultur“ wird die Mutter dem Säugling schon entzogen, und er erlebt die Härte der Arbeit als die Ferne der Mutter. Statt des Mutterbodens der Kultur haben wir den Materialismus der Seele.



§ 33  Spiel und Arbeit, Moral und Lust; das Viergespann der Seele 99

Wir können es jetzt auch so sehen: Arbeit als Außenseite der Seele, Spiel als deren Innenseite. Dann wird die Überbrückung zur Verschränkung, in welcher sich Klüfte schließen. Das Spielzeug des Kindes gerät unter seinen Händen allmählich zum Werkzeug, und am Ende steht das Kunstwerk als Einheit von Spiel und Arbeit, von Kind und Erwachsenem. Anders verhält es sich, wo der Schritt ins Berufsleben die Kluft zwischen Spiel und Arbeit aufbrechen lässt. Bereits die Schule, welche Spiel und Arbeit vermitteln soll, steht einseitig im Dienste der Arbeit und eines technischen Fortschritts. Die Kluft zwischen Spiel und Arbeit zieht weitere Risse der Seele nach sich, und nun erscheinen Spiel und Arbeit auf einmal als die Vorboten eines Spannungsfelds, welches nicht weniger machtvoll unser Leben der Seele bestimmt: Lust und Moral. Das Spiel als Kind der Lust und die Arbeit als saurer Schweiß der Moral. Lust als Weg der Neigung, Moral als Weg des Verzichtes. Die selbe Kluft, die an der Weggabel von Spiel und Arbeit steht, wartet auch am anderen Bereich. Kommen wir damit nicht auf die Spur des Geheimnisses: Kultur soll Lust und Moral, Spiel und Arbeit, aber auch Lust und Arbeit, Spiel und Moral vereinen; Kultur soll Gegensätze binden. Moral und Lust, Spiel und Arbeit; zwei Sphären mit je zwei Polen, die für Spannung sorgen. Aber sie durchdringen sich wechselseitig, und wir haben schon gesehen, dass schroffe Gegensätze eher als ein Missverhältnis anzusehen sind. Andrerseits möchte uns die Erfahrung lehren, dass alle Fruchtbarkeit aus der Spannung kommt. Bedarf es nicht des herben Verzichtes und der harten Arbeit, um der Kultur ihre Macht zu geben? Und doch wollen wir das Ideal der Kultur in der Eintracht von Moral und Lust, von Arbeit und Spiel sehen. Die Dinge sind jetzt so verwickelt geworden, dass uns kein rechter Durchblick mehr gelingt und wir uns einfach auf allgemeine Erfahrung berufen; diese freilich weist sich auch in sich zerstritten auf. Glücklich und zufrieden wollen alle Menschen sein; darin finden wir noch am ehesten eine Übereinstimmung. Aber wie macht sich das wahre Glück bemerkbar? Es ist die Einheit von Arbeit, Lust, Spiel, Moral; es antwortet als die erstrebte Stimmung der Einzelseele dem allgemeinen Kulturideal der Gesellschaft. Wir sehen, dass wir uns im Kreise bewegen. Eines hat uns dieser Kreislauf gezeigt: Glück ist ein abgeleiteter Begriff, mit dem wir in der Philosophie überhaupt nichts anfangen können. Was uns weiterhilft, ist die Unterscheidung nach Metaphysis und Seele. Denn Arbeit und Spiel liegen schon im Bereich der Kulturseele, Moral und Lust aber erweisen sich als grundlegender; es sind geistige Haltungen. Nach Lust strebt jedes Gemüt, jedes Insekt, Bewusstsein als Gemüt und Erkennen. Moral hat nur der Geist. Treiben und Sollen bestimmen das Bewusstsein gründlicher, umfassender, allgemeiner als Spiel und Arbeit.

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3. Hauptteil, 4. Kap.: Kultur als Gleichmaß der Seele

Damit erhalten wir eine eherne Richtlinie: Lust und Moral liegen der Kultursphäre schon zum Grunde vorab. Auch im Kulturschaffen ist Bewusstsein von Lust getrieben und von Moral geleitet. Lust und Moral, Spiel und Arbeit deuten sich einmal als Sphären in der Kultur, die sich durchdringen als wären sie gleichrangig; es ändert aber nicht, dass Lust und Moral die tragende Ebene ausmachen. In Lust und Moral stoßen wir geradezu auf die letzten Grundlagen eines geistigen Bewusstseins, so dass jede Stimmung im Gemüt sich als Verhältnis, als Fehlverhalten und Abwesenheit oder als Eintracht der beiden Pole sich ausdrücken lässt. Das Verhältnis von Kultur und Seele, das sich in die Mitte gedrängt hat, erweist sich jetzt von vier Richtlinien, Kräften oder Zwecken bestimmt. Es fehlt uns an einem Oberbegriff; so grundlegend diese Forderungen oder Machthaber auch sind, jedes ist von ganz anderer Art. Lust, Spiel und Arbeit; so unabdingbar sie sind, sie wechseln und sie wandeln sich; sie sind auf die Dauer nötig, sie lassen sich jedoch im Augenblick jeweils nur anordnen, verdrängen. An der Moral müssen sie zurücktreten. Ihr ist es doch eigen, dass sie im Augenblick oder gar nicht zum Zuge kommt; die anderen lassen sich für gewisse Zeit verlegen. Alles entscheidet sich an der Moral, es muss aus sich herausgehen, nur sie ruht in sich als Gesetzgeber. Darin gleicht sie dem zeitlosen Wesen, aber sie ist kein ehernes Seinsgesetz, sie bleibt eine Forderung im Bewusstsein als Sollen. Sollen ist Urhaltung geistigen Bewusstseins, Plan des Seienden als Brücke zwischen Sein und dem Selben. Kultur als Pflege der Seele wird zu einer Bewegung nach innen, und sie bekundet sich im Werkzeugnis als Bau nach außen. Bei all dem erweist sich die Moral als die Allgegenwart des Selben, sie ist letztlich dessen ständiger Vertreter. Der Widerstreit zwischen Lust und Moral ist ein Factum, von dem wir einmal ausgehen. Wir wissen nicht, warum es ihn gibt. Es gibt das Leiden und den Schmerz im Bewusstsein und im Leibe; und es gibt das zwischen Lust und Moral zerrissene Bewusstsein. Die Lust lässt sich verdrängen, zeitweilig verlegen. Die Moral gilt immer. Daraus leiten wir das Weitere ab. Folgen wir der Lust gegen die Moral, entsteht ein Riss im Bewusstsein, der bleibt, bis wir umkehren. Folgen wir der Moral gegen die Lust, so erhalten wir auch einen Riss im Bewusstsein. Allein dieser Riss schließt sich in der Anstrengung des Bewusstseins, denn die Lust kann vertagt werden, die Moral nicht. Das Grundverhältnis für Wildnis und Kultur des Geistes, die Richtung seines Lebens haben sich bestimmt. Dabei müssen wir keineswegs von ewig wandellosen Normen der Moral ausgehen. Die alltägliche Erfahrung bestätigt uns die Gesetze als solche, die im Gegensatz zu anderen Dingen nicht aufschiebbar sind. Lust und Moral prägen am meisten das Bewusstsein, weil dessen Stimmungen sich im Allgemeinen auf das Grundverhältnis von Lust und Moral zurückführen lassen. Aber Lust erfährt Bewusstsein als trieb-



§ 34  Der Frieden als Boden der Kultur; die letzte Brücke101

haftes Urbedürfnis, das mit seiner Wirklichkeit gegeben ist. Das Treiben der Lust sieht sich indes im Erkennen auf einen Weg gestellt, der im Netz der Moral verläuft, die es mehr oder weniger von innen oder außen hemmt oder hindert. Gewiss bleibt dieses Urverhältnis oft sehr verwickelt, und manches, das sich als Pflichteifer der Moral ausgibt, entdeckt die Reflexion als getarnte Lust. Dies ändert jedoch nichts im Grunde. Zeigt es uns nicht umso besser, dass Lust und Moral sehr verträglich sein können? Nun lassen sich aber Arbeit und Spiel nicht einfach aus dem so beschriebenen Urverhältnis ableiten, weil die Kultursphäre wirklich neue Züge auf den Plan bringt. Wie die Seele die Metaphysis von innen und außen durchdringt, so erscheinen auch Arbeit und Spiel innig und ebenbürtig mit Lust und Moral verflochten. Es ist das Verhältnis von Bewusstsein in Kultur als Individuum und Gesellschaft. Kultur ist das Walten der Seele, ihre Lebensäußerung, aber auch ihre Gesundheitspflege. Auf dieser Weltbühne versammelt sich die Wirklichkeit, um sich zu erleben; sie spielt sich, sie spiegelt sich, sie wandelt sich, sie rechtfertigt ihren Wandel. Gesellschaftskörper erfahren ihren Lebenslauf als den Gang der Kultur. Es ist nicht ein leerer Rahmen von Weltgeschichte, der ihre Zeit bestimmt; es ist vielmehr ihre Seele, die sie, äußerlich zeitgleich mit anderen Gesellschaftskörpern, in eine völlig andere Wirklichkeit versetzt. Oswald Spengler hat dieses Gesetzmäßige der Kulturen herausgearbeitet. Aus seiner Sicht erklärt sich das fehlerhafte Schema von Antike, Mittelalter und Neuzeit, wenn es übergreifend verstanden wird. Seelisch, besser kulturseelisch verstanden, können Antike und Neuzeit nebeneinander bestehen. Aber Spenglers Schema verirrt sich darin, dass es für ihn keine Metaphysis mehr gibt und sich jeder Zusammenhang auflöst.

§ 34  Der Frieden als Boden der Kultur; die letzte Brücke Menschliches Bewusstsein erlebt Moral als das knochenharte Rückgrat seiner Wirklichkeit. Es hat diese Moral immer unsichtbar im Rücken wie ein Scheinwerfer, der ihm dennoch alles vor Angesicht beleuchtet. Weil die Moral nicht in der Seele, vielmehr im Geist gründet, deshalb nur reicht sie als Pfahlwurzel in die Gründe der Metaphysis hinab, und sie überbrückt so zwischen Kultur und Wildnis. Moral allein vermag das Ganze zu verwalten. Wenn Lust als die ursprünglichste Lebenskraft in der Zone des Daseins aufsprießt, so wird ihr in der Moral das Gesetz gegeben, worin sie sich zu bewegen hat. Dann erscheint auf dieser Ebene das Lebensgesetz als Zweck der Seele: Die Verschränkung von Lust und Moral. Ohne Kraft müsste das Bewusstsein am moralischen Gesetz im Widerstreit der Lust zerbrechen. Erst die Vergeistigung der Lust in der Moral bereitet einen fruchtbaren Boden im

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3. Hauptteil, 4. Kap.: Kultur als Gleichmaß der Seele

Bewusstsein, den Frieden, aus dem der unscheinbare Keim der Freude hervorgeht. Das befriedete Bewusstsein hat in sich den Weltzweck stark werden lassen: Das Reich der Lust, dieses allmächtige Reich, hat seine Grenzen und seine Verfassung aus der Moral. Am Verhältnis von Lust und Moral erhalten wir einen Aufschluss, der uns in gleicher Weise in die Seele des Einzelnen wie in die Seele der Gesellschaft blicken lässt. Kindsein bedeutet ein Stadium der Lust, in dem diese noch nicht die Grenzen der Moral verspürt, und es bedeutet auch ein loser Zusammenhang zwischen Geist, Leib und Seele. Die Schwäche und das Unentwickelte des Leibes bezeichnet nur das allgemeinere Verhältnis. Im Kinde sind Lust und Freude noch weithin eins, darin hält sich die Unschuld des Kindes; seine Selbstsucht bleibt natürlich, denn es ist noch weit von seinem Selbst, welches letztlich ein moralisches sein wird, entfernt. Dann erklärt sich Reifung zunächst einmal als das Verhalten von Lust und Moral, soweit sie in der einzelnen Seele ihr Ziel erreichen. Wir müssen den Grund des Widerstreits zwischen Lust und Moral hier nicht unbedingt erklären; wir können es auch nicht. Wir erklären ihn einmal aus der Sprödigkeit der Materie, wenngleich uns diese Wurzel als nicht hinreichend erscheint. Das Böse erscheint uns dann als gemüthaftes Stehenbleiben im Tierischen, während die Vernunft ihre menschliche Einsicht hat. Das Verhältnis von Moral und Lust erstellt sich uns als Factum in der Gesellschaft, aus dem sich ihre allgemeinste Zweckbestimmung ableiten lässt. Wir sehen dabei unsere metaphysische Untersuchung des Bewusstseins auch an diesem Verhältnis ganz bestätigt: Je schärfer Erkennen zwischen Moral und Lust unterscheidet, desto kräftiger können sie sich im Gemüt verselbigen. Wo aber Erkennen seine Lust am Bewusstsein als Moral vorgibt, entsteht das schwächliche Bewusstsein, das im Gemüt zwiespältig wird. Diese beständige Anstrengung der einzelnen Seele und der allgemeinen Seele bereitet den Frieden als den Boden der Fruchtbarkeit eines Zusammenlebens und des Kulturschaffens. Freude kann nur aus befriedeter Lust kommen, die befriedigte Lust teilt nichts mit; die unmoralische Lust kann niemals echte Freude erzeugen. Friede und Freude bilden also die Voraussetzung für Reifung nach innen und Kulturschaffen nach außen. Da aber Friede und Freude aus dem rechten Verhältnis von Moral und Lust quellen, sind sie nicht erst in der Kultursphäre zu Hause, so wie etwa Arbeit und Spiel. Friede und Freude als Boden für Reifung und fruchtbares Schaffen sind Geisteshaltungen. Der moralische Geist erfährt sich an sich als der fried- und freudvolle, was ihn leidend und zerrissen macht, sind die Kämpfe, die er in seiner Seele erlebt. Damit meinen wir, das Seelenleben in seiner allgemeinsten Verfassung gedeutet zu haben. Dann spricht sich darin auch das verbindliche Gesetz der



§ 35  Krieg und Frieden103

Seele aus: Der Einzelne und die Gesellschaft werden in der Seele zu einer metaphysisch nicht ausdrückbaren Einheit verschweißt; erst jetzt kann es den Typus, den Archetypus und das Collectivum geben. Deshalb lehrt uns die Kultur, sie ganz und gar als Offenbarung der Seele zu verstehen; dies ist ihre Geschichte. Alles, was aus der Moral kommt, trägt zunächst einmal zur Verinnerlichung bei, indem es die Einzelseele mitteilungsfähig macht. Nur sie vermag letztlich als die Aufbereitungsarbeit am Kulturboden zu gelten; sie trägt das Allgemeine und ist deshalb selber noch nicht die unmittelbare Kulturarbeit. Ihr unmittelbarer Ausfluss führt zum Frieden nach innen und außen, und darin dürfen wir die fruchtbare Feinerde für die Gewächse und Früchte der Kultur sehen. Indem Moral als der allumgreifende Plan der Seele und ihre Grundnahrung überall tragend und wirkend ist, erscheint sie gerade nicht unmittelbar als Werkzeugnis. Denn was so erscheint, verliert sich nach außen; was aus sich herausgeht, hört auf, innerer Maßstab zu sein; es stellt sich dem Vergleich. Der Moral allein ist es deshalb eigen, alles andere in seinem ursprünglichen Eigensein erscheinen zu lassen; es bedeutet aber deshalb, dass alles andere sich nach ihr ausrichten kann, ohne sich selbst zu verlieren. Einzig und allein die Moral vermag sich als die letzte tragende Brücke zum metaphysisch Selben zu halten, und dieses nennen wir jetzt seelisch das Göttliche. Verstehen wir es wieder aus dem Grundgesetz des Seelischen, nämlich der Verschweißung von Subiectum und Obiectum. Dann wird die Seele gerade in der Moral zu einem besonderen Mittel der Vereinigung mit dem Göttlichen. Vielleicht rühren wir damit an ihr letztes Geheimnis, dass sie dem Geist eine Verbindung mit dem Göttlichen schafft, die dieser aus sich allein nicht haben kann. Allein dieses kann wiederum nur seelisch, nicht metaphysisch verstanden werden.

§ 35  Krieg und Frieden Ausgehend vom Frieden der Seele und der Seelen als dem tragenden Boden von Kultur und Gesellschaft, erhalten wir einen Hinweis zur Bedeutung des Krieges. Krieg erklärt sich als völliger Widerspruch von Kultur, indem er den Boden zerbrechen lässt und Aussaat und Frucht vernichtet. Er ist das Übel schlechthin, und er erscheint nicht nur als äußeres Übel, sondern auch als moralisches: Die Menschen bringen sich gegenseitig um. So einfach verhält es sich indes nicht mit dem Krieg, wie eine einfache Überlegung schon zeigt. Die Möglichkeit, dass Kriege nach der Form homo homini lupus geführt würden, ist jedenfalls denkbar: Von Zeit zu Zeit überkäme eine Art Wahnsinn und Raserei die Menschen, dabei würden Sippen und Familien sich wechselseitig bekämpfen, bis der Taumel wieder vorbei

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3. Hauptteil, 4. Kap.: Kultur als Gleichmaß der Seele

wäre. Diese Form von Bürgerkrieg ist in der Geschichte der Menschen jedoch nicht bekannt. Wir müssen deshalb auch die andere Seite des Krieges sehen: Der Krieg schließt das Volk fest zusammen; die Unmoral kehrt sich wie ein Abfall innerhalb der Gemeinschaft nach außen. Es verhält sich so, als ob der Verschleiß, welcher sich im Zusammenleben angesammelt hat, von Zeit zu Zeit hinausgefegt werden müsste. Der Krieg hat ein eigenartiges Verhältnis zur Moral, weil er gewisse Tugenden, die im bürgerlichen Leben zu entarten drohen, wieder schärft. Gewiss bleibt der Krieg das schlimme Übel, aber er lehrt uns etwas, das zu verstehen schwer ist: Solange die Unmoral so verbreitet ist, wäre das Ausbleiben von Kriegen das schlimmere Übel. Solange die Unmoral eine geschlossene Gemeinschaft verhindert, hält sich der Weltzweck nur in Gruppen. Indem die Unmoral innerhalb der Gruppe sich im Krieg nach außen kehrt, wird im Grunde jeder Krieg ungerecht. Aber das Übel wird innerhalb der Gruppe beseitigt, und die Luft ist wieder reiner geworden. Es ist also eine moralische und eine kulturhafte Unterwelt, welche zwischen den Fronten des Krieges aufbricht. Indem die Unmoral in diese Kluft hineinfällt, wird sie für die Welt der Kultur begraben, und die Trümmer des Krieges ergeben die Plattform für einen neuen Kulturboden. Ob notwendiges Übel oder unvermeidliches Übel, kein Krieg lässt sich so rechtfertigen. Aber es ist besser, die tierische Unterwelt bricht zwischen den Fronten auf als innerhalb einer völkischen Gemeinschaft. Der Bürgerkrieg steht eine Ebene tiefer als der Krieg. Wenn also Frieden die innere und äußere Voraussetzung der Kultur bedeutet, so stellt sich der Krieg als die äußere Grenze der Kultur dar, er ist das völlige Außen und die völlige Entblößung von Kultur als Zustand menschlichen Daseins. Wir wollen nicht übersehen, dass auch dieser äußerste Zustand für uns einen Einblick in die menschliche Verfassung bereithält. Betrachten wir den Krieg von der moralischen Seite, so lässt er sich als Bloßstellung der Moral bis auf ihre rein geistigen Grundlagen verstehen. Die Ethik der Seele ist außer Kraft gesetzt; was zurückbleibt, ist eine Moral der Wildnis, das Naturrecht vielleicht, die auch dem Feind gegenüber noch eine Verpflichtung anerkennt. Es ist also eine Moral, die sich über das Grab der Tötung, der Trennung von Leib und Geist, hinweg durchhält und so den geistigen Zusammenhalt offenbar werden lässt. Geist ist einsam, jedoch moralisch. Wo diese Verpflichtung nicht mehr am Walten ist, da ist Hölle, die Verkehrung des freien Geistes. Einen anderen Einblick erhalten wir in das Verhältnis von Kultur und Technik. Am Beispiel des Krieges, den wir als den stärksten Gegensatz zur Kultur annehmen, bemerken wir auch die Möglichkeit einer Trennung von Kultur und Technik. Ohne Zweifel hat doch der Krieg die Technik begeistet,

§ 36  Arbeit, der Gegenstandsbezug zwischen Bewusstsein und Gesellschaft 105

und ohne Technik keine Kultur. Technik beweist sich so als eine Brücke, die auch Kultur und Krieg noch vermittelt; sie tut es jedoch nur, weil sie keinerlei Bindung an die Moral anerkennt. Auch die Technik gibt sich so als eine Bloßstellung des Geistigen zu erkennen, es ist die andere Seite, das reine Erkennen ohne Bindung an den allgemeinen Weltzweck, Größe und Abgrund der Vernunft.

§ 36 Arbeit, der Gegenstandsbezug zwischen Bewusstsein und Gesellschaft Als eine Schöpfung der Seele dürfen wir Kultur ansehen, und die Seele erfüllt darin ihren ursprünglichen Sinn. Kultur ist aber Gemeinschaft, und als solche behauptet sie sich geradezu in erster Linie im Gegenständlichen; sie überschreitet notwendig das bloß Bewusstseinsmäßige. Alle Kräfte und alle Ausmaße der menschlichen Wirklichkeit werden von ihr eingespannt. Anima est quoddammodo omnia. Kultur ist Verwirklichung des menschlichen Daseins in der Gesellschaft als Pflege der Seele. Seele gibt es auch in der Wildnis, weil sie zum Bestand der Wirklichkeit gehört. Menschliches Dasein hat deshalb die Fähigkeit, Züge seiner Wirklichkeit auch kulturlos anzuwenden. Dies ergibt nicht das Unmoralische, weil kulturhaft auch nicht einfach mit ethisch zusammengeht. Moral und Ethik bestimmen sich lediglich als Rückgrat der Kultur. Mit Moral, Arbeit, Lust und Spiel haben wir aber bis jetzt nur die bewusstseinsmäßige Seite der Kultur betrachtet. Dass damit das Gesamt der Kultur noch nicht umrissen worden ist, hat uns die Bestimmung eben erst besonders deutlich gemacht. Auch haben wir am Beispiel des Krieges gesehen, dass Technik ohne Kultur anwendbar ist. Moral liegt der Kultur schon voraus, Technik kann sich wieder ausgliedern. Nehmen wir Technik in ihrer ursprünglichen und griechischen Bedeutung, so gibt sie uns eine tiefsinnige Kunde: Als Kunst, Wissenschaft und Kulturarbeit stellt sie die vergegenständlichte Seite der Kultur dar. Kultur bezweckt so die Einheit von Arbeit und Technik als Kulturarbeit im Haushaltsplan der Seele. Dann enthält Arbeit immer mehr als Nahrungserwerb und Lebensunterhalt, denn sie will Beitrag zur Kultur und Mittel zur Pflege der Seele sein. Es zeigt sich sogar, dass Arbeit die große Brücke nach allen Seiten wird: Arbeit bestimmt maßgeblich den Weg des Einzelnen in die Gesellschaft, sie führt also Bewusstsein und Gemeinschaft, Technik und Lebensunterhalt, Moral und Lust zusammen. Arbeit an der Gemeinschaft wird so zur Arbeit an sich selber, und die Arbeit an der Seele fördert als Moral und Ethik wiederum die Gesellschaft. Die Brücke erstellt sich aber so an der Arbeit als gegenständlicher Einrichtung. Arbeit, die wir so als geistige und leibliche An-

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3. Hauptteil, 4. Kap.: Kultur als Gleichmaß der Seele

strengung nehmen, enthält bereits das Gegenständliche und den Formbezug. So gesehen bedeutet Arbeit eine Einheit, welche durch die Gleichsetzung von Arbeit und Energie in der Physik völlig verarmt ist. Wie kein anderer Begriff spannt Arbeit gerade Bewusstsein und Gegenstand, Form und Materie zusammen. Wir sehen, wie wichtig es ist, dass ein Mensch in der Gesellschaft die richtige Arbeit findet. Die Arbeit wird zum Maßstab, nachdem er in der Gemeinschaft gemessen wird; die Arbeit wird zur Quelle seiner Lust und seiner Unlust; die Arbeit ist das Feld seiner Moral. Nicht die Zufriedenheit des Wohlstands geht einer Gesellschaft so nahe, dass sie friedlich bleibt; die Zufriedenheit einer sinnvollen Beschäftigung kommt dem Gemüt näher. Es kommt nicht so sehr darauf an, dass wir in einer hochentwickelten Technik mitarbeiten. Diese Arbeit kann zu einer körperlichen und geistigen Fließbandarbeit werden. Es kommt darauf an, dass unsere Arbeit möglichst viel vom ursprünglichen Zweck Kulturarbeit ausdrückt: Die kleine Arbeitszelle enthält in ihrem Bereich etwas vom Ganzen. Welche Bedeutung der Arbeit in der Tiefe des Gemütes und in der Formgebung der Gesellschaft zukommt, ermisst man erst, wenn man ihren Einfluss auf Moral und Ethik durchschaut. Ethik und Moral auf dem Feld der Gesellschaft ereignen sich nicht am Zaun des Bürgerlichen. Das Verbrechen spielt nur als Randläufer eine Rolle. Die Masse der Unmoral ereignet sich mitten im Leben der Gesellschaft, gerade dort, wo das Ansehen und die Ehre des Bürgerlichen seinen Schwerpunkt haben. Wir bemerken das Fehlen der Moral gewöhnlich erst an Bruchstellen des Vergehens; wir sind uns zu wenig bewusst, dass sie sich im Untergrund ständig ansammelt wie ein Grundwasser, das dann irgendwie als Quell zu Tage kommt. Jenen Untergrund können wir nur im Kulturboden der Arbeit finden. Wo unterschwellig die Unlust zur Arbeit kommt, kann nur die Moral die Unlust überwinden. Wo diese fehlt, wirkt überall der sich stets verleugnende Ehrgeiz und überzieht alles mit seiner unsichtbaren Sphäre der Unfruchtbarkeit zum Allgemeinen. Arbeit beansprucht nicht nur die meiste Zeit im Gemüt des Bürgers, sie hat auch den größten Tiefgang darin, weil sich der Standort des Bürgers an seiner Arbeit für das Allgemeine bemisst. Hier also werden unmerklich abweichend die entscheidenden Weichen im Lebenslauf einer Gesellschaft gestellt. Wenn nämlich statt Lust und echter Neigung der Ehrgeiz sich mit der Arbeit verzahnt, entsteht jene Wechselwirkung zwischen dem Bewusstsein als Arbeitszelle und dem Organismus der Gesellschaft, die zu einem schleichenden Verlust des sittlichen Nährwerts führt. Die Hingabe des Bewusstseins an den Richtwert einer allgemeinen Aufgabe wird unterschwellig unterlaufen durch eine Streberei, die der Hingabe zuwider ist. Denn der Richtwert in seinem öffentlichen Nutzen wird mehr und mehr zum Vorwand für die Geltung des Bewusstseins in der Gesellschaft.



§ 36  Arbeit, der Gegenstandsbezug zwischen Bewusstsein und Gesellschaft 107

Diese Spannung im Organismus – der oberflächigen Hingabe des Bewusstseins an den Richtwert des Allgemeinwohls läuft untergründig die Selbstsucht entgegen – wandelt aber die Kultur stetig ab, und der Wandel geschieht unter dem Vorwand der nötigen Anpassung an neue Verhältnisse. Tatsächlich werden die neuen Verhältnisse erst aus der Spannung geschaffen, und es entstehen Formen in der Gemeinschaft und der Kulturgestalt, welche seelisch das neue Verhältnis zum Ausdruck bringen. Arbeit also enthüllt sich als das weite und tiefgründige Feld, wo sich Lust und Moral kreuzen, und was auf diesem Boden emporwächst, sind die Früchte des Mischungsverhältnisses, und sie haben ihre inneren Möglichkeiten in der Seele dieser Kultur, die als solche ein Collectivum und ein „Individuum“ ist. Arbeit bewirkt die allseitige Vermittlung zwischen Individuum und Gemeinschaft, aber auch zwischen Gemüt und Erkennen in Form von Reifung und Selbsterkenntnis. Arbeit erklärt sich als der eigentlich vielschichtige Begriff, weil er auf jeder Ebene und auf jedem Feld der Kultur seine Früchte hervorbringt oder seine Erzeugnisse ablagert. Arbeit hält Geist, Leib und Seele zusammen. Während die Lust ursprünglich in allem als Ichquell sich selber sucht, übersetzt sich das Ich in der Moral in das andere Ich, in den Gegenstand und damit in eine allgemeine Ordnung. Auch an diesem Wechselverhältnis von Lust und Moral stellt sich die Arbeit als die große Vermittlung ein. Arbeit sorgt für das seelische Gleichgewicht, wie wir sehen; jede Störung des Gleichgewichts macht sich bemerkbar als Ausbleiben einer Vermittlung.

5. Kapitel

Kultur als Reifung der Seele § 37  Das Maß des Fortschritts Arbeit findet ihren gegenständlichen Niederschlag in der Technik. Um dieses Ergebnis so zu halten, müssen wir die Technik im weitesten Sinne verstehen, dann meint sie die ursprüngliche Einheit von Kunst und Umweltgestaltung. Die Ebenen und Felder der Arbeit eignen sich alle auch als die Bereiche der Technik. Wenn sich in der Kultur der Plan der Seele auslegt und verwirklicht, so möchten wir die Technik geradezu als die Baukunst und ihre Gebäude erklären. Technik muss nicht dem Materialismus huldigen, wie es heute geschieht. Technik hat ihren Richtungssinn nun schon bekommen: Kultur als Fortschritt, was auch Reifung der Seele beinhaltet. Fortschritt oder Reifung, je nach Gegenstand oder Bewusstsein gesehen, müssen immer wieder ins Gleichgewicht rücken. Die Geschichte zeigt uns deutlich genug, dass Reifung und Fortschritt keineswegs aus der Seele kommen, wenn sie sich im Gleichgewicht befindet. Meist ist es ja die Notlage, welche die Not-Wende als Reifung und Fortschritt hervorbringt. Dann bedeutet Fortschritt das Wiederfinden des Gleichgewichts auf neuer Kulturstufe. Was heißt es? Die Ausdruckskraft der Seele hat sich an der Welt gesteigert. Die Seele schafft sich die Welt nach ihrem Plan gefügig und die Materie geschmeidig; ihre Macht nimmt zu. Reifung enthält aber auch, dass die Seele ihre Grenzen und ihre Bestimmung mehr und mehr erkennt. Nur dürfen wir den Plan der Seele nicht mit der Entfaltung des Wesens vergleichen. Gewiss liegt der Seele das Wesen voraus, allein die Freiheitsgrade der Seele sind gewaltig gegenüber den Grenzen des Wesens. Wir sprechen von technischem Fortschritt, jedoch nicht von einer Reifung der Technik. Reifung bezieht sich auf das organisch Ganze, und sie zielt sogar auf die Einheit von leiblicher und geistig-seelischer Entwicklung. Technischer Fortschritt birgt mehrfach die Gefahr der Einseitigkeit. Es wäre nicht richtig, wollte man einfach die Sprödigkeit und die Erblast der Materie als Ursache dafür nehmen. Die Bestimmung des Menschseins ist in seine Seele gelegt: Es gilt das Beste für die leibgeistige Einheit herauszufinden. Es ist ein Weg, eine Gratwanderung; das sich Zurechtfinden wird wohl mehr oder weniger im Zickzack gehen, weil eine knöcherne Bestimmung für Geist,



§ 37  Das Maß des Fortschritts109

Leib und Seele zwar gegeben ist, diese aber aus der Erfahrung erst Fleisch annehmen muss. Der Geist hat die Möglichkeit, sein Wissen losgelöst von der moralischen Bestimmung an zu wenden. Es ist daher nicht das Wissen entscheidend für die Reifung; es kommt vielmehr auf den Willen an, das rechte Wissen zu finden. Dies ist der Weg; und wir sehen den Unterschied zwischen seelischer Reifung und technischem Fortschritt. Der Fortschritt kann zur Verfehlung der Bestimmung werden. Reifung des Wesens nennen wir Entwicklung, Reifung der Seele vollzieht sich als Wegfindung; dabei bedeutet Weg die Einheit von Bewusstsein und gegebenen Umständen gemäß dem Grundsatz der Seele. Mit Entwicklung, Reifung und Fortschritt bezeichnen wir Bewegungsabläufe, die jeweils anderen Gesetzmäßigkeiten gehorchen; wir haben es aber dann auch mit einer abnehmenden Gesetzmäßigkeit zu tun. Dennoch sehen wir, dass wir von daher nicht einfach ein Kulturgefälle ableiten können. Welch ein unentwirrbares Netz von Verflechtungen tut sich hier in der Geschichte auf! Denn Kultur als seelische Entfaltung versteht sich als Wegfindung immer als etwas je Einmaliges; als Reifung bewertet sie sich aber auch nach Normen, von denen wir bis jetzt nur die Moral in abstracto als eisernes Rückgrat anerkennen. Jede Gesetzmäßigkeit regelt wieder von einer anderen Zone oder Sphäre aus, und dies macht doch das Zusammenspiel von Kultur, Moral und Technik zu einem Dickicht, an dem bald das eine, dann das andere den Schwerpunkt ausmachen will. Wenn sich Seele als Naturseele wie auch als Geistseele erschließt, so erklärt sich Kultur als Ausdruck einer innigeren Einwohnung des Geistigen in der Materie. Dies ist Kunst, Techne. Technik und Kultur gehen hier zusammen. Der Geist hat sich in einen Tiefschlaf der Materie gesenkt und kämpft sich in der Kultur zu seinem Selbstbewusstsein zurück. Aber solches Selbstbewusstsein ist nur eine Reifung, denn die Reflexion und die Moral sind ursprünglichste Geistesblitze, Begabung vorab aller Kultur. Während aber die Reflexion sich zurückhält, niemals aus sich herausgeht, das Selbe im Gleichnis als das Selbe, spannt sich die Moral in das Seelische und bis in alle Winkel der Kultur. So aber reift die Moral im Seelischen zusammen mit der Kultur, und sie zerfällt auch mit ihr. Die Reflexion bleibt all dem entzogen als unmittelbare Einsicht. Reifung aber wächst in der Wegfindung zu unmittelbarer Gewissheit. Es ist der ausgeglichene Fortschritt, die innere seelische Einheit der Kultur. Letztlich kann nur Moral den Anspruch des Ganzen aufrecht halten. Gewiss kommt Moral nicht ohne Reflexion aus, sie gehört als Erkennen zum Sein als dessen dritte Zone. Aber Erkennen kann sich auf seinen Teilbereich zurückziehen, dies besagt ja Reflexion. Moral ist schlichthin das, was sich auf das Gesamt bezieht und alles umgreift, oder es ist Chaos, Widerspruch. Die einzig tragfähige Brücke zwischen dem Selben und dem Wirklichen ur-teilt

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3. Hauptteil, 5. Kap.: Kultur als Reifung der Seele

sich und verzweigt sich in immer feinere Äderchen, sie durchzieht den gesamten Organismus des Wirklichen, und sie bewahrt in aller Verästelung das Ursprüngliche der unmittelbaren Brücke. Moral aber ist das einzige, was die Kultur vor dem gefürchteten Verschleiß bewahrt, der ihr Herz verkalken lässt. Fortschritt trägt die Gefahr mit sich, dass vieles auf der Strecke bleibt. Der Geist geht zu weit in die Materie, er verliert seine unmittelbare Gewissheit auf den langen Wegen; er verliert sich in einem Wissen, das nur noch kopflastig ist. Das Wissen schlägt sich als Technik nieder wie auch als leeres Geschwätz des Geistes. Ein Scheinerfolg, der Fortschritt, täuscht über die Untüchtigkeit an der Wirklichkeit hinweg; die Tugenden des Geistes und der Seele gehen zu Grunde.

§ 38  Das Sein und das Schöne Vernunft und Moral suchen einander im Charakter; er ist eine Ursprünglichkeit, den keine Wissenschaft verleihen kann. So versteht sich denn Charakter als Geisteshaltung, und wie bei allem Ursprünglichen spielt hier die Reifung eine untergeordnete Rolle. Entwicklung bricht im Wesen auf, Reifung ereignet sich im Raum des Seelischen, Anlagen sind Naturbegabungen des Geistes, Charakter ist Ureinstellung des Geistes zur Welt. Charakter sucht immer erneut die innerste Vermittlung zwischen Vernunft und Moral, und darin behauptet sich seine Ursprünglichkeit vorab aller Kultur. Im bildlichen Verständnis sprechen wir deshalb sogar bei der Landschaft von ihrem Charakter; es ist ein Naturgeist, der sie prägt. Charakter meint daher immer das Durchscheinen einer naturhaften Urhaltung, wenngleich der Volkscharakter sicherlich aus einem seelischen Schicksal zu entstehen scheint. Eine letzte Ursprünglichkeit bleibt jedoch auch so noch gewahrt, dass sich etwas Seelisches am Geist selber niederschlagen kann. In unserer Betrachtung zu Wildnis und Kultur, zu Geist und Seele haben wir bis jetzt einen wichtigen Grundzug völlig ausgeblendet. Was wäre die Kultur ohne das Schöne, was wäre aber das Schöne, wenn es kein Urerlebnis wäre? Wie wäre es mit dem Schönen bestellt, wenn es nicht im Grunde des geistigen Seins schon aufleuchten würde? Es wäre um seine Unwillkürlichkeit gebracht, und wir müssten einer verlogenen und verkommenen Kunst glauben, die unser ursprüngliches Erlebnis des Schönen verderben möchte. Indem wir aber gerade so dem Charakterlosen begegnen, klärt sich auch, dass eben das Schöne und Charakter aus einer Ursprünglichkeit im Geiste nah beieinander sind. Wir sehen also, charakterlos wird eine Kultur, wenn sie ihre Wurzeln zur Moral und zum Schönen nicht mehr pflegt. Damit ist auch gesagt, dass Kulturschönes aus dem Naturschönen reift, dass es zur Mode wird, wenn es den Zusammenhang verliert.



§ 38  Das Sein und das Schöne111

Vernunft, Moral, Schönheit. Wir wissen, dass unmittelbare Einsicht anders sich herleitet als unmittelbare Gewissheit. Bei der Letzteren schlägt sich die Vermittlung immer erneut zur Ursprünglichkeit. Wir haben es mit drei jeweils eigentümlichen Ursprüngen (Apriori) in der Wahrnehmung zu tun. Das Ursprüngliche des Schönen zeichnet sich darin aus, dass es mehr als die beiden anderen in das Sinnenfällige eingeboren ist. Gewiss bleibt alles Schöne ein Durchscheinen des Geistigen; seine Ursprünglichkeit ist eben das Durchscheinen. Wenn wir die Vernunft dem Erkennen, die Moral dem geistigen Dasein in besonderer Weise zuordnen wollen, so wäre es doch nahe liegend, das Wesen mit der Schönheit in Verbindung zu bringen. Sowohl das Dasein wie auch die in ihm eingelegte Kultur treten uns aber anspruchsvoll entgegen. Das Kulturschöne setzt zwar das Naturschöne des Wesens voraus, aber das Schöne enthüllt uns seine Ursprünglichkeit nicht weniger aus dem Dasein. Zumindest das Naturschöne behauptet sich doch darin, dass die Existentia die Essentia vollendet zum Ausdruck bringt. Bei den Rassen der Haustiere sehen wir aber, dass die Essentia durch Züchtung hässlich und entstellt erscheinen kann. Nicht jedes Tier empfinden wir als schön. Besonders deutlich wird es beim Kulturschönen, dass es sich vom Dasein herleitet. Auch gründen Vernunft und Moral nicht im Wesen. Das Schöne gibt so einfach sein Geheimnis nicht preis. Vor allem führt doch das Schöne sein Eigenleben; es will unabhängig von Moral und Vernunft gelten. Ist es nicht die Anziehung der Geschlechter, die es uns mit starken Gründen beweist? Mehr als alle Vernunft bezieht doch das Schöne aus der Anordnung des Gesamten der Materie zu ihren einzelnen Teilen. Das Schöne ist eine Verhältnisgleichung, die sich nicht in eine Formel bringen lässt; und doch muss es wohl einer Gesetzmäßigkeit gehorchen. Die Moral erklären wir als die letzte große und allgemeine Zweckmäßigkeit der Wirklichkeit. Auch wenn wir es nicht immer verstehen, es bleibt bei dem metaphysischen Anspruch, so wie er sich aus dem Seinsbegriff herleitet. Das Schöne will nicht als Nebenwirkung des Zweckmäßigen dastehen, es lebt aus einer zwecklosen Verschwendung. Es lenkt ab vom Wichtigeren, es verführt. Dies alles sind ursprüngliche Züge. Nennen wir das Schöne die strahlende Kraft, womit sich das Geistige im Sinnenfälligen durchsetzt, so werden wir dem Dasein und der Kultur gerecht. Das Schöne wirkt als Leuchtkraft. Aber wir haben einen neuen Zug in der Wirklichkeit, jenen der Stärke oder der Kraft. Kraft und Schönheit sind nicht dasselbe, auch dieses Paar lässt sich in der Wirklichkeit trennen. Wir können Schönheit nicht erklären, und doch ist sie ein Element in Natur und Kultur. Angefangen bei der Züchtung, enthüllt das Schöne schon die Züge eines Selbstzwecks in der Kultur. Es gehört zunehmend dann zu dieser, dass sie das Schöne um seiner selbst willen sucht. Es darf sogar neben der Zweckmäßigkeit des Guten als ebenbürtig stehen. Sehen wir an diesem Verhältnis je-

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3. Hauptteil, 5. Kap.: Kultur als Reifung der Seele

nes Merkmal, welches das Schöne am treffendsten kennzeichnet: Es darf um seiner selbst willen erstrebt werden, solange es das Gute nicht beeinträchtigt. Indem sich also das Schöne seltsam unbezogen aufdrängt, fehlt ihm jede Zweckmäßigkeit, oder es lebt aus einer dem Bewusstsein unbekannten Zweck­mäßigkeit. Kulturschaffen sucht somit das Schöne, und von jeder Kultur erwarten wir, dass sie aus geistigem Drang sich dem Schönen verschreibt. Allein das Schöne ordnet sich nicht hin zu einem anderen; es steht in sich, es ruht in sich, und so strahlt es aus. Eigenartig zusammenhangslos bildet es ein Absolutum ganz anders als das Gute. Wir pflegen zu sagen: Das Gute ist um seiner selbst willen zu tun. Damit bezeichnen wir nur ein leeres Abstractum, tatsächlich verhält es sich eher mit dem Schönen so. Das Gute hat seinen Grund in einem anderen, das Schöne nicht. In seiner allgemeinsten Bestimmung erklärt sich das Gute als die Ausrichtung des Wirklichen zum Selben; darin erfüllt es sich, weil es so alle seine Möglichkeiten einholt. Das Schöne hingegen lässt gerade eine Ausrichtung vermissen, indem die Verhältnisse an ihm wie in einem Lichtquell sich ballen. Vielleicht kommen wir jetzt hinter das Geheimnis. Im Schönen leuchtet die Gegenwart des Selben im Wirklichen auf, ohne dass dabei im Wirklichen eine Hinordnung zum Tragen kommt. Das Schöne nimmt teil, aber es teilt sich nicht mit; das Gute teilt sich mit, nimmt aber nicht teil. Das Schöne steht für sich selbst; das Gute steht nicht in sich selbst, es findet im Vergleich sein Selbst. Aus solcher Verspannung erstellt sich Kultur. Wirklichkeit handelt auch im Selbstgefallen, und das Schöne verrät sich als die Lust des Erkennens. Erkennen aber ist das Selbe selber im Ur-Teil des Seins. Das Selbe ist im Wirklichen so gegenwärtig, so innig, dass sich das Wirkliche selber gefällt, auch ohne Zuneigung zum Selben. Der Stil des Schönen! Aber dies ist geduldetes Ebenbürtiges, neben der Zuneigung und neben der Andacht. Wo das geduldete Ebenbürtige von der Zuneigung zehrt, da schmälert sich Wirklichkeit. Darin bemerken wir das einzigartige Absolutum der Zuneigung, dass sie nichts neben sich schmälert, sondern alles Wirkliche erfüllen kann, letztlich auch das Schöne.

§ 39  Kultur und Reifung Wir wissen es aus der Erfahrung, und unsere Betrachtung hat es auch aufgezeigt: Reifung kann nur als vielschichtiger Begriff gefasst werden. Nicht nur weil sie sich auf Leib, Seele, Wesen und Kultur beziehen kann, ist das so. Sie kann innerhalb dieser Bereiche noch gründlich oder oberflächlich zutreffend sein. Ein ausgereifter Stil kann eine bloße Technik meinen, und vieles und wichtiges andere daneben kann der Verkommenheit anheim gege-



§ 40  Reifung als Seelenstärke113

ben werden. Aus der Untersuchung zum Schönen und Guten wollen wir dennoch einen Aufschluss gefunden haben. Gemäß unserem Grundsatz, dass im seelischen Bereich die Einheit von Bewusstsein und Gegenständlichem herrscht, kommen wir zur Überzeugung, dass die Richtlinien für den Gesellschaftskörper auch die Richtlinien für die einzelne Seele sein müssen; dies meint Kultur als Einheit einer Kulturseele. Reifung im tiefgründigsten Verständnis muss also auf einen Begriff zielen, der in der einzelnen Seele und in einem Jahrhunderte alten Kulturgebilde ziemlich dasselbe festhalten möchte. Es geht um den Lebensnerv der Kultur, um die Einheit von Gesetz und Zweck; und dies soll auf eine kürzeste Formel gebracht werden. Gesucht ist das Entfaltungsgesetz einer Kulturgemeinschaft. Kulturhaltung ist immer ergriffen vom Zauber des Schönen, von der Lust des Erkennens. Ihre Erzeugnisse, die Kunstgebilde der vierten Zone, sind immer davon betroffen. Aber die richtige und deshalb zweckmäßige Einstellung ist auch immer beseelt von dem Wissen um den jeweils tieferen und wichtigeren Gehalt des Guten in der Kultur. Wo das Schöne das Gute verdrängt, da entstehen die Risse der Seele; das Schöne wird einsam, es höhlt sich aus, die Kultur verfällt. Es bedarf der Rückbesinnung, neuer Anfänge, um das Lebens- und Entfaltungsgesetz der Kulturseele wieder zu fassen. Reifung im eigentlichen Sinne zielt auf den Fortschritt im seelischen Bereich; er hat Geist und Leib zu seinen naturhaften Voraussetzungen.

§ 40  Reifung als Seelenstärke Wir erhalten jetzt eine abgeleitete Größe, nämlich die Seelenstärke. Moral steht als Forderung im Geist, der frei und stark seinen Weg gehen möchte. Allein dieser Geist schweift als begabter, jedoch kulturloser Jäger und Abenteurer umher; er findet keine bleibende Stätte, und er bringt es deshalb auch nicht zu einer Werkstätte seiner Ausbildung. Alles an ihm ist von quellender Kraft und Frische, aber ebenso roh und einsam. Ihm fehlt die Einfühlung, jene Brücke zwischen der reinen Moral und den bürgerlichen Tugenden. Seele umgibt den Geist mit einem Geflecht von Einbindungen in Zeit, Raum, Heimat, Verwandtschaft. Wir haben diese Verhältnisse hier nicht näher zu untersuchen, da sie das persönliche Schicksal bestimmen. Aber die Seele wird so zum Schutz wie auch zur Last; Schutzwall und Erblast liegen im Walten der Seele. Von daher rühren die verschiedenartigen Verfassungen der Menschen, Ausgeglichenheit, Zwiespalt, Selbstfindung. Die Unterschiede zwischen dem Geist und seiner Seele können sehr groß sein, so dass ein

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3. Hauptteil, 5. Kap.: Kultur als Reifung der Seele

Geist zwei Seelen oder eine fremde Seele haben könnte. Fremde Einflüsse dringen nicht nur herein, sie gestalten sich geradezu zu einer anderen Seele, an der die Kraft des Geistes zur lähmenden Schwäche wird. Reifung bedeutet auch hier Weg zur Ausgeglichenheit und damit zur Seelenstärke. Wenn die Seele den Geist von innen und außen durchdringt, sie bindet sich an die Materie, so führt vor allem sie ihn zur Materie, und sie „verwendet“ ihn in die Verwandtschaft: Sein Inneres wird außen, sein Äußeres wird innen. Hier berühren sich aber dann auch geistige Moral und seelische Ethik, und es ist die Aufgabe des Heranreifenden, diese Pole ins richtige Verhältnis zu bringen. Seelische Ethik ist die Wiege der geistigen Moral, in sie wird der Geist geboren. Sie trägt ihn, solange ihm die Kraft zur Freiheit fehlt; sie lähmt ihn, soweit er die Bindungen nicht ins richtige Verhältnis bringt. Wo die geistige Moral die seelische Ethik nicht an ihre richtige Stufe setzt, da bestimmt das „gefühlvolle Denken“; Vorurteile und Völkerhass sind die schlechten Seiten, das nicht bewältigte Verhältnis. Seelenstärke zeigt sich deshalb dennoch als die leitende und gefragte Grundtugend des Einzelnen und der Gesellschaft. Denn wie immer auch Geist und Seele in der Geburt oder im bestimmten Zeitpunkt der Lebensbahn zusammenstehen: Die letzte Zweckmäßigkeit kann nicht im Geist liegen, sie behauptet sich als seelische, und das ausgeglichene Maß ergibt die beste Seelenstärke und damit die beste Voraussetzung wie auch das beste Ziel. Seelenstärke erklärt sich somit beträchtlich anders als Kraft und Charakter des Geistes. Geist ist kerngesund, Seele kann todkrank sein; und dennoch bleibt es die unableitbare Entscheidung einer persönlichen Einheit von Geist, Seele, Leib, was sie daraus macht. Auch Entwicklung und Reifung gehen so auseinander. Gewiss hält die Seele auf dem Höhepunkt der Leibeskraft ihre größte Nähe zum Leib, und mithin erhält das Bewusstsein seine größte Spannkraft. Die Nerven, die innigste Bindung zwischen Leib und Seele halten zu dieser Zeit am meisten aus. Aber diese Spannkraft bedingt sich vom Leiblichen her; Seelenstärke jedoch meint die moralische Reifung zu einem Habitus. Seelenstärke bleibt deshalb unableitbar von der organischen Entfaltung; sie stellt sich als Ertrag einer dauernden moralischen Anstrengung ein. Der Geist schmiedet seine Seele, er reinigt sie, er heilt sie von Gebrechen; und während die Spannkraft wieder zurückgeht, kann die Seelenstärke immer noch weiter zunehmen als eine reifende Frucht der Geduld und der moralischen Ausdauer des Geistes. Seelenstärke meint die Verfassung der Seele an sich in einer gewissen Selbständigkeit gegenüber Geist und Leib. Seelenstärke kann als gutes Erbe auch einem an sich schwachen Geist mitgegeben werden. Es gehört zur Natur des Medium(s), dass es nach allen Seiten offen ist; ein gutes Erbe aus der Verwandtschaft wird so zum Vorschuss für den Geist, der „es erwirbt, um es



§ 40  Reifung als Seelenstärke115

zu besitzen“. Wie sollte es auch anders sein? Der Geist teilt mit über die Seele und er empfängt über die Seele, denn ihr eignet doch insbesonders, Fremdes und Eigenes zu verschmelzen. Es ergeben sich aus einem solchen Aufbau der Person verschiedene Weisen des Besitzens. Der Unterschied von Begabung, Berufung und Entfaltung erklärt sich als ein Verhältnis nach Geist, Seele und deren Schicksal in einer Gesellschaft. Was der eine Geist sich mühsam erwerben musste, wird dem anderen aus Erbe und Schicksal wie geschenkt zuteil. Aber jener, der es hart erwerben musste, wird es so fest besitzen, dass es sich zum Geist schlägt; der andere kann es durch ungünstige Umstände verlieren, so dass der Geist mittellos wird. Toynbee sieht im richtigen Maß der Belastung den entscheidenden Antrieb zur Entfaltung einer Kulturgemeinschaft, also zum Übergang einer einfachen Gesellschaft in eine hochentwickelte. Damit wird indes nur die äußere Szene dargestellt, welche sich im Laufe der Entfaltung ganz von selber einfindet. Der schweifende Jäger und der wandernde Nomade geraten immer wieder in dieses Maß der Belastung hinein, und dennoch ereignet sich bei ihnen nicht der Übergang zum sesshaften Kulturbauer. Entscheidend sind die Wege der Seele; Kultur als Städtebau ist eine seelische Berufung, und auch die Entfaltung bedarf einer solchen. Viele großartige Ansätze werden auf halbem Wege wieder zerschlagen. Dies alles hat seinen geheimnisvollen Sinn in der Geschichte, weil der Geist in die Materie eingegangen ist, um eine innerste Zweckmäßigkeit zu verwirklichen. Wir wollen damit sagen, dass die Bestimmung zur sesshaften und städtischen Kultur auch aus einer Seelenstärke geschieht, die der begabte Jäger und Nomade dennoch nicht auf seinen Wegen der Seele findet. Seelenstärke wird daher zum festen Boden und zu den Burg- und Stadtmauern einer Kultur. Der Jäger hat sie trotz der urwüchsigen Kraft seines Geistes nicht, seine Ethik ist eine andere als die des Städters. Seelenstärke äußert sich beim Kulturbauer als die Fähigkeit, Erfahrungen so aufzuarbeiten, dass Stein um Stein zu einem Lehrgebäude sich errichten. Der Jäger und der Nomade machen immer und immer wieder die gleichen Erfahrungen auch, aber sie sammeln nur, was sie in der Wagenburg mitnehmen können. Sie sind umhergetrieben, die Seelenstärke der Sesshaftigkeit stellt sich noch nicht ein; sie wäre sogar ein Hindernis, denn das Ziel ist fern und muss erreicht werden. In dieser bürgerlichen Sicherheit kann Seelenstärke Züge eines moralischen Neutrums annehmen. Auch dies gehört eben zur Seelenstärke, sie gleitet zwischen „psychischer“ Selbstbeherrschung und geistiger Gelassenheit. Ihr Beweggrund kann so bürgerlicher Ehrgeiz oder verinnerlichte Moral sein. Der Erfolg lässt auch den Wilderer zu einem guten Förster werden. Der Jäger steht noch abseits von einer solchen Ethik.

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3. Hauptteil, 5. Kap.: Kultur als Reifung der Seele

§ 41  Form und Materie im Bereich der Kultur Einem Viergespann hatten wir die Sphäre Kultur verglichen, nämlich Moral, Arbeit, Spiel und Lust. Zum Beschluss kam noch ergänzend ein Sternbild im Zeichen des Dreigespanns hinzu: Moral, Schönheit, Seelenstärke. Hüten wir uns, diese beiden Schemata noch weiter zurückzuführen; sie scheinen verschiedenartige Gründe anzusprechen und vielleicht etwas willkürlich zu sein. Es fällt uns nichts Besseres ein. Jedenfalls steht die Moral als Mittelpunkt und als Achse da; allgegenwärtig und alles bezwingend behauptet sie, letzter Hoheitsanspruch des Selben zu sein. Selbst das Schöne muss an ihr in die Schranken einer Teilansicht zurück. In letzter Ursprünglichkeit quillt aber auf dem Grunde des Seins die Lust hervor. In der Lust und im Schönen erfahren wir das Sein in seiner Zwei-Poligkeit von Bewusstsein und Seiendem. Die Lust hängt am Schönen, und daran bewahrt sie auch ihr gutes Maß. Denn wo sie sich von diesem Gegenstand löst, waltet die Sucht, die einsame Perversio der Lust. Moral, Schönheit und Lust bilden sich aber in der Kulturseele bereits als Dreigestirn des Geistes ab, und Arbeit, Spiel und Seelenstärke bedeuten dann eigentlich seelische Zuständigkeiten. Es geht darum, die geistig-seelische Sphäre Kultur in einer gewissen Reinheit gegenüber dem Organischen und Wesentlichen zu fassen. Nicht etwa, weil die Materie damit abgewertet sein soll. Vielmehr wollen wir einmal Kultur in dem alten Begriffspaar von Materie und Form sehen, wobei diese Causae aber nicht metaphysisch verstanden werden dürfen. Denn, wie man sieht, zählt hier die Essentia zur Materia. Unsere Form ist eine seelische Zweckform und hat mit der metaphysischen Forma nichts mehr zu tun. Es geht darum, dass wir die Kulturform von der organischen Wildnis absondern. Wenn die Form an sich schon mit Materie im Begriff vermengt ist, wird ihr Fassungsvermögen gerade dort brüchig. Letztlich geht es in der Kultur doch darum, die Materie der organischen und anorganischen Wildnis in Form zu bringen. Wir haben gesehen, dass bei der Züchtung der Haustiere und Hauspflanzen die Rassen innerhalb eines Artwesens eine größere Spannweite erreichen als die Artwesen in der freien Wildbahn unter sich. Gemäß dem Grundzug des Seelischen verstehen wir es so, dass Form und Materie ein anderes Verhältnis bilden als im Metaphysischen; es bedeutet, dass Form und Materie sogar mehr verschmelzen können als in der Metaphysis. Damit wird jeder Abwertung der Materie widersprochen. Wenn wir also von Kulturform reden, so enthält sie als seelische auch wieder die Materie. Einerseits versteht sie sich als eine Abstraktion, was die metaphysische Essentia nicht ist; andrerseits kann man sie auch als Konkretion ansehen. Denn letztlich verschmelzen in



§ 41  Form und Materie im Bereich der Kultur117

den Kunstgebilden oder Kunstwerken der Kultur Materie und Form ganz. Jedes Kunstwerk wird daran zum „Individuum“, dass es aus der Verschmelzung lebt, es bleibt indes ein künstliches. Dann erhalten wir an Materie und Form in der Kultur geradezu ein letztes Maß für Reifung und Seelenstärke. Denn sie lassen sich nach dem Grad bemessen, in dem Materie und Form zusammenhalten.

6. Kapitel

Urformen seelischer Offenbarung § 42  Die Seele und das Selbe Als Seelenstärke gesehen, äußert sich in der Kultur schon ein Formzwang. Ihre Einheitskraft als innere und äußere Tragfähigkeit macht, dass Moral und Schönheit im Kunstwerk verschmelzen. Als Kunst, Wissenschaft und Technik bindet sie dann im Alltag das Kunstwerk mit Arbeit, Spiel und Lust zusammen. Seelenstärke hält als heranreifende Kraft den Kulturkörper über Jahrhunderte und Jahrtausende zusammen; sie legt ihm eine gesetzesharte Verpflichtung auf, die sich nicht einfach aus Moral und Ethik ergibt. Aus der zu Materie und Form erstarrten Vergangenheit verjüngt sich ein Weg in die Zukunft. Aus der zur Materie geronnenen Geschichtszeit hält sich eine Einengung von Möglichkeiten. Aber die Freiheit der Wildnis besitzt wenig Inhalt, denn auch die Freiheit ersteht als Reich der Seele; das Ledigsein von der stabilitas loci bedeutet der Seele nichts. Seelische Vollkommenheit als Ausreifung schließt Einengung mit ein, darin behauptet sich das Erbteil der Materie. Der umherschweifende Geist bleibt immer in der Fremde der Bindungslosigkeit; seine Begabungen kommen nicht zur Reife, seine urwüchsigen Kräfte werden nicht in einer Seelenburg ihre Erträge horten. Der Geist hat keine Geschichte, weil ihm die Bindung aus der Vergangenheit fehlt. Der an die Seele gebundene Geist aber hat schon immer ein Schicksal. Sein moralischer Kern steckt im Fleische einer Schicksalsethik. Kultur erstellt sich als geschichtlicher Gesellschaftskörper, wir aber richten unser Augenmerk nicht nach einer Geschichtsphilosophie. Wir müssen zurückblicken und erneut Rechenschaft ablegen. Es wurde schon zugegeben, dass Seele als Menschenseele einen Gehalt in Anspruch nimmt, den wir aus dem religiösen Bereich – aus einer Urüberlieferung – übernommen und aus philosophischen Überlegungen angefüllt haben. Unsere philosophische Betrachtung hat den Bereich der Kernphilosophie, den der Metaphysik zurückgelassen, findet aber andrerseits an der heilsgeschichtlichen Schwelle ihre endgültige Schranke. Verfolgen wir Kultur als Seelengebilde weiter, so begegnen wir doch Einzelschicksalen, die jeweils an bestimmte religiöse Offenbarungen geknüpft sind. Bewegen wir uns in einem Niemandsland zwischen Grenzen?



§ 43  Der Schlüssel zur Kultur und das Schloss der Seele 119

Mit Seele als Geist- oder Menschenseele räumen wir eine neue Möglichkeit ein: Das Wirkliche erhält über das Sein hinaus eine Offenheit zum Selben. Das Selbe tritt in Form einer Offenbarung zum Wirklichen. Nicht wie beim Erkennen, wo das Selbe in eine Zone des Seins eingeht und so seine Seinsmacht als selbige zurückbehält. Die Seele steht als eine Brücke zwischen dem Sein und dem Selben; sie gehört zum Wirklichen, weil Sein sich erst im Wirklichen erstellt. Der Bestand des Seins gewährleistet sich nur über Seele, und ohne sie bleibt Sein Chaos, wie Platon uns lehrt. Dann aber bedeutet Seele in jeder Hinsicht etwas Ganzes, und die Einteilungen Pflanzen-, Tier- und Geistseele versagen, weil sie aus der Metaphysik kommen. Nur als Stufen der Nähe des Geistes zur Materie lässt sich Seele verstehen, darum erhält sie am Dasein, nicht am Wesen ihre Eingründung. Seele hat die ganzheitliche Vereinzelung zum Inhalt und bedeutet dennoch nur eine Relation. Sie sollte mit jeglichem Artwesen nicht vermengt werden. Unter Kulturseele verstehen wir dann eine Schicksalsgemeinschaft als Rahmenbedingung, die mit der Innigkeit des Seelischen miteinander verschweißt wird. Damit aber stehen wir doch schon auf dem Boden der Geschichte, wo jede Moral schon als Offenbarungsethik erscheint. Moralisch können wir noch nicht einmal das Verbot einer geschlechtlichen Beziehung zwischen nahen Verwandten begründen. Dies alles sind Geheimnisse im Seelischen, an dem das Selbe und die Vielheit sich kreuzen in ganz anderer Weise als im Artwesen.

§ 43  Der Schlüssel zur Kultur und das Schloss der Seele Zwischen der Metaphysik einerseits und der Kulturgeschichte andrerseits erstreckt sich ein beträchtliches Gebiet, in dem uns die Formen einer allgemeinen Uroffenbarung des Seelischen begegnen. Wir wollen also nicht jene einzigartigen Ereignisse einer religiösen Urstiftung befragen; es geht um alltägliche Vorfälle, die uns selbstverständlich geworden sind, so selbstverständlich, dass wir das Außerordentliche kaum bemerken. Der Aufschluss führt da entlang, wo das verborgen Seelische eine Brücke schlägt in ein Sinnbild im Gesellschaftlichen. Und dann ist auch zu erwarten, dass es Entsprechungen der Sinnbildlichkeit in verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Feldern gibt. Die Brücke selbst mit ihren Pfeilern enthüllt sich als eine Urform des Daseins, und jene Sinnbilder, die wir entschlüsseln möchten, haben deshalb alle etwas Brückenhaftes; sie setzen hinüber, sie tragen aber auch etwas hinüber. Der Schlüssel zur Seele ist auch der Schlüssel zur Kultur. Jene Bezugsformen oder Gestaltbezüge und Urgestalten sind gesucht, die dem Kunstwerk schon zu Grunde liegen, zu denen es selber nur Beiwerk und

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3. Hauptteil, 6. Kap.: Urformen seelischer Offenbarung

Beispiel wird. Im Ursprünglichsten der Kultur ur-teilen sich Schloss und Schlüssel aus der Seele, die beides ist. Jener Quellort, wo Seele und Kultur noch eins sind, ist der Cultus, wie uns die Sprache als tiefgründiger Schlüssel belehrt. Cultus und Cultura, Schlüssel und Schloss, Seelenkultur und kultische Seele. Dann haben wir den Quell aller Kultur und sie selber zieht sich in engeren und weiteren Kreisen um ihn als Kleinod, dem sie die Fassung windet. Aus der überhöhten Mitte erhält alles seine Rangordnung und sein Kulturgefälle nach außen. Wo diese Verhältnisse nicht mehr stimmen, erwachsen äußere Spannungen, die den eigentlichen Herd in der Tiefe der Seele verbergen. Nichts anderes als die Pfahlwurzel einer Kultur kommt hier ans Licht; dann erhält alles andere, was sich als bedeutsam abzeichnet, von hier seinen Stellenwert. Es scheint so, als ob dieser innerste Pol nur in der Frühzeit eine solche Bedeutung halten könnte. Danach ließe ihn die Länge des Abstands in der Zeit verblassen; die Breite der Ereignisse macht ihn immer unscheinbarer. Aber die Überlagerung des Seelischen durch die Macht und das Gewicht des Oberflächigen und des Alltäglichen gehört nun einmal zum Dasein, an den Grundformen des Seelischen lässt sich nichts ändern. Denn seine Macht bestimmt immer das Oberflächige. Wenn dem so ist, haben wir von folgender Überlegung auszugehen: Nur scheinbar lässt sich Seelisches verdrängen. Es zieht sich keineswegs bescheiden und selbstgenügsam zurück und überlässt das Oberflächige in zunehmendem Maße dem Eigenleben und selbständigen neuen Formen. Das Seelische drängt nach wie vor nach außen. Allein die Formen, die jetzt als scheinbar Selbständiges erscheinen, sind nur Sinnbilder eines verkehrten und verzerrten seelischen Verhältnisses. Die Kultur entkommt also nicht ihrem Ursprung, das Oberflächige wird niemals gleichgültig; es wird zur Maske und zum Trugbild einer verdrängten Seele, wenn es sich gleichgültig gibt. Gewiss hält sich die Materie aus einer eigengesetzlich festen Form; aber je mehr sie sich mit Leben füllt, desto inniger greift Seelisches in den Zusammenhang. Wo das seelische Gleichgewicht nur wenig gestört, da sinkt schon die Wildnis zur Steppe herab, und sie wird zur Wüste, wo es weitergeht. Selbst die Landschaften sind Sinnbilder der Seele, um wie viel mehr müssen es Gesellschaften sein. Niemals also entkommt eine Kultur ihrem seelischen Abbildungsgesetz. Wo die Seele ganz verdrängt scheint, da erscheint sie als Anti-Materie. Es gehört nicht nur zur Kunst, dass sie wegen ihres unmittelbaren Bezuges zum Gemüt eine seelische Schmiede darstellt. Auch die viel „sachlichere“, erkennende Wissenschaft erstellt sich ihr Gebäude im Gehäuse einer Seele. Wir haben deshalb auszugehen von Urformen des Seelischen, die immer im Alltag anstehen. Es heißt, dass sie auch immer ihre getarnten Formen vorschieben, wo sie zurückgedrängt werden sollen. An den Träumen bemer-



§ 44  Der Mythos als Form der Seele121

ken wir dann, dass es Bereiche im Bewusstsein gibt, wo das Seelische mittellos unmittelbar zu uns spricht. Doch bemerken wir gerade hier das Seltsame, dass die Seele, wo sie ohne unser Verfügen sich mitteilt, mehr denn je in einer fremden, nämlich oberflächigen Weise verschlüsselt zu uns spricht. Gerade die so ursprünglich verschlüsselte Mitteilung der Träume legt ein Zeugnis ab, dass wir Seele nie an sich erfahren, sondern immer am anderen. Diese neue Einsicht stellt sich aber in einen starken Gegensatz zu dem ersten Grundsatz, dass nämlich schon die Landschaft eine Abbildung des Seelischen sein soll. Wir haben zwei Gesetzesmaße, die sich zu widersprechen scheinen und die wir etwas klarer herausstellen wollen. Die Seele waltet als Vermittlung nach zwei Ursprüngen: nach Geist und Materie. Sie wird zur prägenden Macht, indem sie das Abbildungsschema in sich führt. Dennoch trägt sie an sich keine eigenständige Gestalt. Wenn wir deshalb von den Urformen des Seelischen sprechen, so haben wir eine entsprechende Deutung vor- zunehmen: Die Gestalt steht für Bezug, der Grund erklärt sich als Vermittlung. Das Schloss wird zum Schlüssel. Wenn sich die Landschaft als eine seelische Form gestaltet, so nicht, indem die Seele als Urgrund der Form in sich steht. So soll die Seele nicht gedacht werden. Vielmehr wird die Seele zum formenden Grund, indem sie sich als eine Macht mehr verhüllt als enthüllt, die ein Schicksal spinnt und darin vermittelt. Eben weil Geist nicht nur Materie prägt, sondern Geist aus Materie Bindungen erhält, verhält es sich so. Seele lebt aus dem Plan des Zueinander von Geist und Materie; ihr Eigenleben wurzelt in der wechselseitigen Zuordnung der geistigen Welt und der Materiewelt. Auch wenn die Materie ohne Seele und Geist nur Chaos sein kann, besitzt sie dennoch eine Eigenständigkeit, welche der Seele nicht zukommt.

§ 44  Der Mythos als Form der Seele Die Selbständigkeit der Welt erstellt sich daraus, dass sie durch und durch seelisch ist, die Seele aber an sich nichts ist. Die christliche Metaphysik lehrt, dass Gott die Welt aus dem Nichts erschaffen habe. Platons „Timaios“ ergänzt den Satz: Er hat sie in einer Seele geschaffen. Schicksal bedeutet eine Hinordnung von Geist und Materie, eine Beziehung, welche Metaphysik nicht fassen kann. Schicksal führt sich auf einen Grund zurück, der dem metaphysischen nichts mehr sagt: Schicksal ist Mythos, eine seelische Begebenheit. Die Freiheit einer Entscheidung erklärt sich als letzter Ereignisgrund. Zwischen Mythos und Metaphysik ist scharf zu trennen. Seit Aristoteles hat der Mythos seine Einordnung als Vorstufe zur Metaphysik erhalten. In der Moderne werden Metaphysik und Mythos wieder

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3. Hauptteil, 6. Kap.: Urformen seelischer Offenbarung

gleich geringschätzig geachtet. Man sieht im Mythos eine Denkweise, die zwischen Natur und Geschichte, sagen wir zwischen Wildnis und Kultur, noch nicht zu trennen vermag. Gerade die Einschätzung des „noch nicht“ der frühen Stufe zeigt aber auch die Halbblindheit des aufgeklärten Zeitalters. Die Trennung nach Natur und Geschichte, nach Kultur und Wildnis kann im seelischen Bereich gar nicht anstehen, weil alles, auch Wildnis, Schicksal ist. Die mittelalterlichen Legenden über Entstehung von Pflanzen und Tieren sind Mythen, die überall ihre Nischen verlangen; und sie zeigen, dass auch jene Offenbarungen, die den Mythos abgetan haben, ihn als seelische Form weiterpflegen. Jeder Traum ist ein Mythos der einzelnen Seele. Drei Gesetzesformen erklären sich bis jetzt aus der Seele. Das allförmige Gesetz umspannt die Weite des Kosmos und prägt das Oberflächige zu einer Gleichung des Seelischen. Das nullförmige Gesetz aber verneint in seiner Aussage gerade die Seele als Urgestalt der Abbildung. Das vielförmige Gesetz erklärt den Mythos als den eigentlichen Gestaltgrund, der aber so als Ereignis- und Entscheidungsgrund zu verstehen ist. Als frühestes Principium wird hier eine leibgeistige Tateinheit greifbar, und die Seele wirkt als ständiges Integral die Form. Haben wir es an der Metaphysis mit Ur-Teilen eines Gesetzten zu tun, so bindet der Mythos Ereignisse zu Urformen einer Begegnung zusammen, die sich ständig wiederholen. Wir sehen, dass der Mythos der Seele der Wesensform an der Metaphysis entspricht. Es bleibt also dabei: Wirklichkeit wird letztlich nur aus einer Ergänzung von Seele und Sein deutbar; wir verstehen sie als Zusammenschau dieser letzten Gegebenheiten. Gehen wir davon aus, dass der Mythos auch die Wildnis zu einer Naturgeschichte macht; er betrachtet sie auch als ein Schicksal. Naturgeschichte also gerade nicht als Entwicklungsgeschichte. Platons „Timaios“ steht als Muster einer solchen Betrachtung, der es überhaupt nicht um das Aufzeigen metaphysischer Aussagen geht. Dann müssen wir noch etwas genauer die Begriffe Wildnis, Geschichte und Mythos ins Auge fassen. Denn einerseits wird in der Sphäre des Mythischen die Natur zu einem Schicksal wie die Geschichte, andrerseits betrachten wir heute den Mythos als Vorstufe zur Geschichtszeit. Freilich beziehen wir jeweils einen ganz anderen Standpunkt, so dass ein übergeordneter Begriff sich nur noch verirren kann. Allein darin finden wir schon den Hinweis: In einer sich ergänzenden Zusammenschau – ein philosophisches principium complementaritatis – gibt es keine Oberbegriffe, anders wäre sie nicht an den Ursprung gelangt. Hat es seine Richtigkeit, dass man die Mythenzeit als den Frühnebel des geschichtlichen Tages ansieht? Blicken wir einmal in die Religionsgeschichte; wir dürfen es hier tun, weil wir die Religionen als geschichtliche Ereignisse annehmen. Danach hätte es seine Richtigkeit, weil sich die Offenbarung im Gegensatz zum Mythos als Geschichte versteht. Entscheidend wird an dieser



§ 45  Der Mythos als Wahrheit der Seele123

Sicht, dass die Mythenreligion nicht die Macht hatte, aus der Sphäre der Seele heraus in den Raum und die Zeit der Geschichte hineinzutreten. So gesehen, also im Blickwinkel der Religionsgeschichte, wird der Mythos zur Vorstufe der Offenbarung. Man kann es aber auch anders sehen: Das entscheidende Kennzeichen bleibt doch am Mythos gerade, dass er sich als vielförmiges Gesetz im Seelischen behauptet und nicht die Schwelle überschreitet. Dann bestätigt die Religionsgeschichte ihn in einem Umkehrschluss: Wo der Mythos über die Schwelle tritt und in die Geschichte geht, entleert er sich in der Seele. Er stirbt; die Geschichte ist das Grab des Mythos. Also behauptet der Mythos seine Unsterblichkeit darin, dass er nie sein Haus der Seele verlässt. Es sind die Träume, welche so als Mythen immer zusammen mit der Geschichte des Alltags bestehen.

§ 45  Der Mythos als Wahrheit der Seele Wenn wir die so gewonnene Zusammenschau von Wirklichkeit als Sein und Seele zu Ende denken, dann müssten wir doch zu dem bemerkenswerten Ergebnis kommen, dass es zweierlei Wahrheiten geben könnte. Dies auch deshalb, weil wir doch einen Überbegriff kaum finden können, Wahrheit aber sich kaum anders als ein Begriff für uns sich einstellt. Haben wir damit nicht verheerende Folgen in Kauf zu nehmen? Wir wollen aber daraus kein größeres Geheimnis machen als nötig. Der Mythos hat seine eigene Wahrheit, und sie ist in ihrer Weise nicht weniger richtig als das geschichtliche Factum. Allein diese Wahrheit hält sich als Gleichnis der Seele, und sie wird erst dann falsch, wenn wir sie als metaphysische oder geschichtliche Wahrheit auslegen würden. Wenn wir unser Leben nach der Traum- oder Sterndeutung ausrichten würden, so würden wir einem Afterwissen auf den Leim gehen. Wir täten es gerade deshalb, weil wir verschiedene Sphären von Wahrheit vermengten. Gewiss sind Träume und Mythen Gegenstand einer philosophischen Überlegung; sind sie doch die Sprache der Seele. Einen Fehler machen wir aber grundsätzlich immer, wenn wir in einer Geheimniskrämerei dieses Wissen als Ersatz für eine moralische Anstrengung anwenden wollen. Hier also ereignet sich eine falsche Übersetzung in den Alltag. Die Wahrheit der Seele wird in dieser Anwendung falsch. Seelische Wahrheiten in Form des Mythischen unterliegen dem nullförmigen Gesetz. Es sind Botschaften aus einer Tiefe, die jedem Kulturhaften vorausliegen und keine tragende oder führende Bedeutung in ihr haben können. Sie verführen in einen falschen Spiritualismus. Wo sie gezielt im einzelnen Leben angewendet werden, sei es auch durch einen erfahrenen „Seelenführer“, da entfremdet sich das Bewusstsein an der Wirklichkeit. Es flüchtet sich in eine Geheimlehre, in eine abwegige Subcultura, also in eine Unterwelt.

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3. Hauptteil, 6. Kap.: Urformen seelischer Offenbarung

Der Mythos als Wahrheit der Seele zieht sich als eine Gratwanderung zwischen Wahrsagerei und moralisch unbeteiligter Tiefenpsychologie dahin. Es gibt nur einen Oberbegriff für verschiedene Wahrheiten: Die moralische Einstellung, weil sie auf das Ganze schlichthin ausgerichtet ist. Nicht das Wissen, nur das Gemüt ist fähig, das Ganze zweckmäßig im Bewusstsein zu halten. Erkennen schafft sich aus dieser Einstellung das Gleichnis seiner Wahrheit. Der Mythos hat seine eigene Wahrheit; kein Denkweg, nur ein Lebensweg entbirgt die Übersetzung. Dann wird aus dieser Einsicht die Tiefenpsychologie beschämt, weil ihr Versagen offenbar wird, den Inhalt des Mythos zu fassen und zu übersetzen.

§ 46  Die Seele als Religio; Urbindung und Regelkreis Wenn wir zu Sein und Seele keinen Überbegriff mehr angeben können, wird auch die Relation zu einem fragwürdigen Fassungsvermögen. Bisher genügte es uns, das Vorhandensein der Seele mit Relation zu bezeichnen, um sie gegenüber der metaphysischen Substantia in gehörigen Abstand zu bringen. Da die Relation im Bereich des Metaphysischen so mancherlei einschließt, droht sie im Seelischen zu einer Abstraktion zu werden. Welche Spannweite die Relation im Metaphysischen und Physischen, letzteres gehört ja auch zum ersteren, beanspruchen muss, ergibt sich aus den Ur-Teilen Wesen, Dasein, Erkennen. Über die Kreuz- und Querverbindungen im Sein wollen wir hier nicht nachdenken, jedenfalls lassen sie sich vielfältig mit Relation angeben. Aber wie weit bezieht das Wesen vom Dasein und umgekehrt? Wie bezieht Erkennen vom Gemüt, vom Dasein überhaupt und so fort? Wenige Vergleiche genügen schon, um zu zeigen, welch ein Sammeltopf von Bezügen, Verhaltensweisen und Verflechtungen mit Relation gegeben ist. Es gibt unveränderliche und veränderliche Relationen, und dieser Vergleichsgrund stimmt nicht einfach überein mit wesentlichen und zufälligen Relationen. Zu den metaphysischen Relationen flicht sich dann das Seelische hinein. Dies mag genügen, um die entwickelte und verwickelte Wirklichkeit vor zu stellen. Seele verstehen wir als Relation durch und durch; wir bezeichnen sie besser als Urbindung, um sie von der Relation abzusetzen. Dann ergäbe sich das alte Wort Religio dafür. Es droht dabei eine unerträgliche Kluft in das Wort Religio einzubrechen, weil wir doch unter ihm einen Daseinsvollzug verstehen, der sich gerade durch die Seele als Brücke verwirklicht. Es gibt eine Unzahl an Religionen in der Geschichte, und eine Seele kann die Religion wechseln. Müsste sich mit der Seele nicht auch die Religion ändern. Allein diese Sperre in der Vorstellung ergibt sich wohl daraus, dass wir an der Seele immer noch zu sehr geleitet sind vom Modell der Substantia, der die Religio



§ 46  Die Seele als Religio; Urbindung und Regelkreis125

als eine Relation hinzukommt. Gehen wir aber von den bisher gemachten Annahmen aus, dann können wir die Seele selber als die Urbindung erklären. Diese Annahme bedarf einer Abgrenzung. Wir sträuben uns, die Tier- und Pflanzenseele als eine Religio zu bezeichnen, weil wir unter Seele jenes altehrwürdige Denkgefäß und Denkvermögen ansehen, das den Menschen zum Menschen macht. Aber vergessen wir nicht, dass die Insignien des Menschlichen im geistigen Grund liegen; die Seele wird in dieser Hinsicht zur reinen Durchsichtigkeit für die Anlagen. Andrerseits müssen wir in der Seele das Medium sehen, worin sich die Entscheidungen des Geistes von den geistigen bis zu körperlichen Erbanlagen niederschlagen. Aber dies alles macht die Seele zu einem Medium, das wir durchaus als religio universalis auffassen können. Wenn es wahr sein sollte, dass „kein Sperling ohne den Willen“ Gottes „vom Dache fällt“, dann ließe sich dieser Glaube nur durch eine so verstandene Seele aufrechthalten. Seele versteht sich so gesehen nicht als Sein; sehen wir sie als Annäherung des Selben an das zum Leben und zum Bewusstsein erwachende Sein an. Seele ist der „Odem des Lebens“, den das Selbe dem Sein einhaucht. Seele als Bindung, Gewebe, Netz; aber Seele als besondere Bindung, als Religio des in Materie gesetzten Seienden. Das in Materie gesetzte Sein bleibt ohne Seele Chaos, „Ochlos“, wie Platon es nennt. Das in Seele gefasste Sein trägt dennoch seine Gestalt in sich; es trägt Gesetz, Feld und Kraft in sich. Aber die Seele bleibt der Regelkreis als Religio. „Von innen und außen“, Platons seelische Fassung im „Timaios“ erhält jetzt diese Deutung: Nach innen zum Selben und im selben Zug nach außen, d. h. nach unten zur Materie und seitwärts zu den Artgenossen. Damit wird über den Regelkreis der Seele der Naturhaushalt der Wildnis geordnet. Dann baut sich die gesunde Kultur auf der Wildnis auf, und wenn sie das rechte Verhältnis „nach innen“ hat, setzt sich dieses von selber „nach außen“ fort; das heißt der Haushalt der Gesellschaft und der Haushalt der Wildnis werden nicht gestört. Mit der Seele als Religio und Regelkreis kommen wir wieder zur Kultur und zu ihrem Quellpunkt, wo Cultus und Cultura noch eins sind. Es ist die Einheit des Mythischen, wo Wildnis und Kultur, Cultus und Cultura sich noch nicht auseinandergesetzt haben. Aber es wird zu einem verhängnisvollen Fehler, wenn wir dieses Stadium einfach als die frühgeschichtliche Knospe eines Kulturkörpers annehmen. Vielmehr haben wir in dem so verstandenen Mythos die Brunnenstube eines gesellschaftlichen Organismus zu sehen, die in zeitloser Nähe den Ursprung mit dem entfalteten Stadium verknüpft. In dieser Tiefe sind Individuum und Collectivum in einer seelischen Einheit, welche die Metaphysis in ihrer Abgesondertheit übersteigt; es ist die Tiefe einer mythischen Alleinheit, wo Traum und Wirklichkeit ineinander weben.

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3. Hauptteil, 6. Kap.: Urformen seelischer Offenbarung

§ 47  Mythos und Religio Wir verknüpfen mit dem Begriff „Mythos“ ein besonderes Anliegen; dies dürfte inzwischen klar geworden sein. Was wir aber in der Mythenforschung erfahren, ist nicht Mythos, vielmehr sammeln wir die Mythen in verschiedenen Religionen und in verschiedenen Böden von Entstehung und Überlieferung. Wir kennen Göttermythen, Heldenmythen, aber auch Schöpfungsmythen und Naturmythen. In dem späteren Stadium einer Kultur erscheinen geradezu gleitende Übergänge zwischen Mythos und Sage. Aber die Sage hat einen geschichtlichen Kern, und der Mythos dürfte nach der von uns vorgenommenen Bestimmung gerade nicht den Kern der Wirklichkeit haben. Der Mythos hält sich doch im Seelischen zurück und findet in der Geschichte nur sein Grab. Aber Sage lässt sich durchaus so verstehen, dass eben der Mythos um den Sagenkern etwas webt, das nie so stattgefunden hat in der Geschichte, sondern nur in der Seele. Desungeachtet geht es uns bei dieser Überlegung nicht um den Mythos als einzelnen Inhalt, auch nicht um allgemeine Kennzeichen der Mythen; es geht nicht um die geschmiedete Form, sondern um die seelische Formenschmiede. Dann wird damit das Vermögen der Seele gemeint, Formen zu zeugen, und als solches liegt es allen Inhalten, den Mythen und den Religionen voraus. Die Fähigkeit der Seele zu träumen ist etwas vom Kunstvollsten in uns. Hier haben wir einen Schacht zu jener Tiefe der Seele, wo sie ihre Mythen schmiedet. Denn jeder Traum muss als Mythos verstanden werden. Aber wie schmiedet denn die Seele ihre mythischen Formen, wenn doch alle Fähigkeiten des Bewusstseins gar nicht in ihr gründen und sie nur Leib und Geist am Leben hält? Das gestaltlose Medium spiegelt die leibgeistige Einheit in sich, und in dieser Spiegelung wird die Trennung von Leib und Geist aufgehoben. Träume sind ein Ausfluss dieses Geschehens, und sie sind darin unwirklich. Wir haben es also mit der Schmiedekunst der Seele zu tun; was sie so von sich gibt, ist unwirklich und dennoch wahr. Es ist weder eine logische noch eine ontologische Wahrheit. Träume sind Beispiele für die Wahrheit der Seele. Die Seele spinnt sich ihre Wahrheiten, die wir überhaupt nicht zu beachten haben; und dennoch gehören sie zu uns. Es sind Teilwahrheiten, sie werden falsch, wenn wir sie für das ganze Wirkliche nehmen. Seele erweist sich jetzt als die Fähigkeit, das leibgeistige Zueinander in einer nahtlosen Einheit zu spiegeln. Zwar erinnert eine Spiegelung an Erkennen, solch seelische Spiegelung darf nicht mit dem metaphysischen Bestand vermengt werden. Seelische Spiegelung besagt, dass diese sich des metaphysischen Seinsbestands in einer Nähe bedienen kann, die dessen Selbsterkennen noch überbietet. Indem so die Seele sämtliche Anlagen von Leib und Geist ins Ich spiegelt, geschieht in ihr eine Verschmelzung von Erkennen, Handeln und Entscheiden. Als Verselbigung bleibt diese Weise unwirklich,



§ 47  Mythos und Religio127

und dennoch wird sie in ihrer Äußerung wirkmächtig. Wir wollen damit eine Brücke bauen zum Verständnis des Mythischen. Jene unwirkliche Wahrheit der Seele hat im Mythischen ihre Ursprache einer Übereinstimmung. Grammatik und Wortschatz der seelischen Urschmiede liegen also Träumen und Mythen zu Grunde. Der letzte Begriff als letzter Bezug des Seelischen steht dann an: Seele als Religio zum Selben. Während die Metaphysis als eine Aussetzung geradezu einem Hinauswurf gleicht, die als Verneinung des Selben aus dem Nichts wie aus dem Selben ersteht, wird das Seelische wie eine Strickleiter herabgelassen. Als Religio waltet die Seele wie eine nahtlose Spiegelung der Ur-Teile der Metaphysis. Unser verstandliches Erkennen bleibt Stückwerk, darum bleibt uns der Mythos unverständlich. Gleichwohl liefern uns der Mythos als Bild und die Metaphysis als Begriff nur zusammen die beste Annäherung an das Geheimnis Seele. Es hält sich wohl mehr im Bilde als im Begriff, was wir von der Seele erfahren. Wir versuchen, uns das Selbe als die Entschränkung der Ur-Teile Wesen, Dasein, Erkennen zu denken. Da dieses Denken nur einen Teil von Erkennen ausmacht, der aber immer im Anspruch der gesamten Wirklichkeit steht, muss es seine Wirklichkeit stets aus anderer Quelle beziehen. Sein Bezug bleibt Verweis. Es ist nicht das Selbe. Selbst innerhalb der Vertretung beugt es sich über den Abgrund, die Entscheidung steht ihm nicht zu. Aus seinen Gründen wächst nichts. Es hat mit seiner Fähigkeit zu urteilen die pflanzenhafte Einheit eingebüßt. Erkennen musste den Boden des Seins verlassen. Aber es spiegelt die Wirklichkeit so in deren Selbstverlassenheit und in seiner eigenen Selbstvergessenheit. Seele dagegen bleibt unerfahrbar; sie steht im Jenseits von Wesen, Dasein, Erkennen, und sie hält sich in einer Innerlichkeit, die selbst dem Geist nicht zukommt. Nur als Religio aus dem Selben kann sich diese pflanzenhafte Einheit noch halten. Sie hat ihren Boden im Selben, und sie steht deshalb im Jenseits, jenseits der Metaphysis, jenseits des Geistes. Auch für den Geist wird die Seele Brücke zum Selben. Seele teilt etwas mit vom Selben, und deshalb bleibt sie unerfahrbar. Sie hat immer ihre Wirklichkeit am SeinsAnderen, und das Seins-Andere hält sich selber an der Seele im Bestand. So aber wird Seele auch zu einer Religio des Selben an den Kosmos; es ergeht von dort eine Zuneigung, die der geistigen Metaphysis nicht zukommt. Seele spannt sich als Über-Erkennen und als Über-Ich zwischen das Sein und das Selbe. Was sich darin mitteilt, ist nicht Sein, weil dies schon immer geurteilt ist. Aber die Mitteilung gerinnt im Sein geradezu zur Seinsmacht, weil Seele dem Sein von innen so nahe kommt wie dieses sich selber. Die Spiegelung im Selben wird zum Sein in der Metaphysis. Damit wird aber Seelisches zu einer bleibenden Brücke zwischen Kosmos und Jenseits, und sie,

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3. Hauptteil, 6. Kap.: Urformen seelischer Offenbarung

die an sich nur als Brücke dient, trägt in sich die Gestalt des Kosmos als wäre sie ihre eigene. Damit nähern wir uns wieder ein Stückchen dem Mythos. Was wir von der Unerfahrbaren erfahren, ist verrücktes Zeug: Es ist nicht gebunden an das Ur-Teil des Wesens; denn es vermag wie ein Zauberer, das Wesen zu wandeln. Aber es muss sich wegen der Mitteilung durch das Erkennen der Wesensbilder bedienen. Was herauskommt, ist Unfug im Sinne von Ohn-Fug. Denn die Wesensbilder der Mythen und Träume wandeln sich nahtlos ineinander. Sie überwinden die Gesetze der Schwerkraft und überfliegen die Schwellen der Zeiten. Das Geur-Teilte und Gefugte steht nur noch als Verweis in eine Welt im Jenseits der Seele, und es wird sowohl weder dort noch hier heimisch sein. Der Mythos bleibt immer zweigründig als Sprache, und er verhält sich deshalb ganz anders als die Wortsprache. Jene kreist im Wirklichen als Gefolge im Erkennen und als Gefüge von vereinbarten Zeichen, und sie wird zu einer Annäherung an das Denken, so gut sie es eben kann. Was ein einzelner Satz nicht auszudrücken vermag, dies tut eine unbegrenzte Zahl von Sätzen, die als ein Bündel von Verweisen sich an einem Schnittpunkt treffen. Aber die Logik des Mythos ist nicht die Logik des Denkens und deshalb nicht die der Sprache. Eher möchte man sie als eine „Logik“ der Materie und der sinnlichen Bilder bezeichnen. Die Sprache kreist im Wirklichen, und ihre Logik schließt sich als Gleichnis. Gerade dieser Schluss bleibt offen im Mythos. Er schließt nicht an der Erfahrung; er hat Brücken, die an der Erfahrung nur Abgründe sind. Und dennoch spricht uns der Mythos als eine Erfahrung an: Er schließt dort in dem unbekannten Reich der Seele. Er kann zu uns kommen, wir können nicht zu ihm kommen; denn der Seele eignet nicht die Substantia. Ihre Forma kennt sie nur als Religio, ihre Gestalt bleibt immer Bezug. Die Seele kann nicht als esse in se begriffen werden. Sagen wir es deshalb so: Unsere Sprache nähert sich als Gleichnis dem esse in se. Der Mythos kennt nicht dieses esse in se.

7. Kapitel

Die Bindungen der Seele § 48  Das metaphysische Selbe und der Gott der Seele; die drei Urbindungen Gehen wir davon aus, dass Geist eine seinshafte Einheit darstellt, der Freiheit und Vernunft als innerster Selbstbesitz zukommt. Geist bedeutet Selbstbesitz im Rahmen einer Abhängigkeit, allein Selbständigkeit in höchst möglicher Weise. Eine solche Verwirklichung kann daher nur über das Gemüt zu Stande kommen, wenn dieses mit Dasein in vollem Umfang und voll eingeholter Tiefe übereinkommt. Der Geist kennt keine Tiefenpsychologie, er hat keine Mythen und keine Träume. Versuchen wir von daher, das Geheimnis Materie ein wenig zu beleuchten. Materie als bloßes Dasein in reiner Gemütlosigkeit, nur noch als verschiedene Stoffmuster, bedeutet dann die völlige Verwandlung des Geistigen in die Selbstvergessenheit. Materie als Zerfall und Abfall eines geistigen Gemütes. Dann ersteht Materie als Schlussstrich des Geistigen, der Geist verliert sein Bewusstsein; Materie als Bewusstseinsfalle. Der Geist kennt nicht den Unterschied zwischen Ohnmacht und Tod, für ihn läuft es auf dasselbe hinaus. Durchschaut man den Schwachsinn eines Selbstaufbaus der Materie, soweit er sich als Philosophie ausgibt und nicht als bloß mikroskopisches Feld, dann erklärt sich der Aufstieg des Lebens als eine Weise seelischen Recyclings, welches durch die neuen Techniken unterbrochen wird. Allein das Geistige macht sich dann als ursächliches und ursprüngliches Sein für die Seele wenig wahrscheinlich. Wir stehen an einer Schwelle, wo wir das Seelische als eine Äußerung des Selben ansehen und annehmen wollen. Das Selbe von Wesen, Dasein, Erkennen – so können wir es metaphysisch nur ansetzen – steht uns schon immer auch als Gott der Seele an. Natürlich hat nicht erst Aristoteles die begriffliche Einheit von Gott und Selbem vollzogen. Wir haben wohl davon auszugehen, dass erst Aristoteles das sachlichere metaphysische Denken entwickelt hat. Indem aber Aristoteles Platons Seele zur Substantia der Metaphysik setzte, schuf er ein philosophisches Principium, welches eine Denkvoraussetzung für jene Religionen wurde, welche keine anderen Götter neben sich dulden.

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3. Hauptteil, 7. Kap.: Die Bindungen der Seele

Seele steht als Religio an, und dies gilt nicht nur für die Geistseele; denn Seele lässt sich jetzt als Ausfluss, sagen wir ruhig Emanation des Göttlichen, als dessen Einheitsplan verstehen. Wenn wir zwischen Sein und Seele unterscheiden, ergibt sich vielleicht eine neue Brücke zwischen Theismus, Pantheismus und Emanatianismus. Seele spricht sich als eine neue Bindung aus, die das geistige Sein trotz seiner mächtigeren Wirklichkeit nicht hat. Wir kommen in der Folge an einer Deutung der Bezeichnungen Mater Terra, Natura, Materia nicht vorbei. Es ist klar, dass hier mythisches und nicht metaphysisches Denken sich Ausdrücke gemacht hat. Wie aber hängen Seele als Religio und Materia = Mater Terra zusammen? Die Natura der Seele ergibt sich als Religio aus Gott, Vater und Mutter, aus drei Polen in Dreiecksform. Sie steht so auf Seiten der Materie, ihre Naturbindungen möchten wir als mutterhafte ansehen. Dann ließen sie sich von drei Ursprüngen herleiten: Gott, Geist, Materie. Gott und Materia-Mutter ergeben das tragende Principium, während der bindungslose Geist für das Männliche einsteht. Wie man sieht, kommt diesen drei Eck- und Bezugspunkten das Ursprüngliche in jeweils verschiedener Bedeutung zu. Doch stehen Gott und Mutter einander näher, so dass man von einer Mutter-Gottheit reden möchte. Der Geist tritt in dem jagenden Männlichen zu Tage, welches aber so Leib und Seele, Geist und Seele nicht innig genug zusammenbindet. Die Religio ruht also im Mutterhaften, welches nach innen, zum Göttlichen weist. Das Männliche erscheint als das aus sich Hinausgehende; es wird im Weiblichen rückgebunden. Dennoch trägt dann die Gottesbindung als die in der Mitte über beiden stehende Pfahlwurzel. An diesem Verhältnis könnte vielleicht noch eine Verschränkung verborgen sein, woraus sich Animus und Anima herleiten. Einsichtig wird eine solche Verbindung aber hier nicht.

§ 49  Die Gottesbindung Rein metaphysisch gesehen, wird das seinshafte Gottesverhältnis im Bewusstsein zu einer logischen Religio. Wir wollen aber die Religio oder die Bindung nur dem Seelischen zuerkennen. Das Geistige entkommt nicht dem moralischen Anspruch; logische Einsicht oder Reflexion ist aber noch nicht Moral, wenngleich sie untrennbar mit ihr verknüpft erscheint. Aus dem bis jetzt Festgesetzten geht hervor, dass menschliches Bewusstsein sich immer in einem verflochtenen Verhältnis wahrnimmt. Die Einsichtnahme in eine metaphysische Abhängigkeit vom Selben (ontologischer oder logischer Gottesbeweis) bleibt immer eingebunden in eine seelische Einstellung zum Göttlichen. Erkennen hat aus seiner Natur heraus die Möglichkeit, alles „sachlich“ zu sehen: Es so zu sehen, als wäre sein Selbstbewusstsein als Gemüt nicht beteiligt. Das Selbstbewusstsein hat aber im Gemüt auch die



§ 49  Die Gottesbindung131

Möglichkeit, sich zu belügen: Das Gemüt schleicht sich in Erkennen, verleugnet sich aber dort. Erkennen wird „unsachlich“. Das beseelte Bewusstsein hat also im Grunde zwei Verhältnisse zu Gott, sagen wir ruhig ein unpersönliches und ein persönliches. Dann haben wir die Gottesbindung als das seelische Verhältnis zu verstehen, welches aber so gleichgültig über der Vater- und Mutterbindung steht. So gesehen, tritt aber die Gottesbindung für das Geistige ein, welches vom Geschlecht immer Abstand nimmt. Damit wird ein grundlegender Zug in der Religio gewährleistet: Die Gleichberechtigung und die Gleichverpflichtung von Mann und Frau ergibt sich nicht erst auf einem metaphysischen Grund und so aus der Moral, sie wird auch in der seelischen Ethik angelegt. Damit hat sich dieses Verhältnis auch ein für alle Male für das Kulturhafte befestigt. Wir haben vielleicht jetzt eine Möglichkeit, dem Geheimnis von Animus und Anima uns zu nähern: Angesichts der Gottesbindung gibt es auch schon in der innersten Sphäre der Seele einen Bereich, das scintilla animae, wo die Seele geradezu geschlechtslos in die Religio eingeht. Dort steht das Göttliche im Zeichen des Geistigen, weil es kein vollkommeneres Begreifen gibt. Dort begegnen wir dem Treffpunkt, wo das metaphysische Selbe und die hohe Gottesbindung der Seele zusammenkommen. Es liegt keineswegs in der Klarheit des Denkens, wenn ein Volk zur metaphysischen Gottesvorstellung kommt, ein anderes dagegen bei den mythischen Götterbildern bleibt. Es bleibt ein seelisches Schicksal, wie die Völker zu ihren Religionsstiftungen kommen. Am Beispiel von Griechen und Hebräern haben wir den überzeugenden Beweis: Jenes Volk, welches die metaphysische Gottesvorstellung mehr als alle anderen Völker entwickelt hat, blieb in seiner Religion auf der Stufe der Göttermythen stehen wie die Germanen. Die Hebräer dagegen kannten keine Philosophie und waren scheinbar zur metaphysischen Gottesvorstellung vorgedrungen. Die Erklärung dafür muss also anderswo gefunden werden; nicht im Denken, sondern in der Seele. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs war nie ein Gott der Philosophen. Er ist jener Gott, der wie auch Allah die hohe Gottesbindung in der Seele besetzt hält. Sein Anspruch auf Ausschluss anderer Götter war nie ein metaphysischer, wie es die Theologen später deuteten. Dieser Anspruch leitet sich von daher, dass die hohe Gottesbindung auf eine geschlechtslose, geistige Alleingottheit zurückgeht. Somit erklären sich denn auch die Götter und Göttinnen der Völker. Die mythischen Gottheiten der Völker erreichen nicht die Macht in der Seele, um jene hohe und innerste Bindung zu besetzen. Es sind also Vater- und Muttergottheiten, die nur im Zeichen der Verwandtenbindungen stehen können. So wird denn auch verständlich, dass diese Gottheiten nie den Anspruch auf Einzigkeit erheben konnten; und andrerseits konnte es keinem Volk einfallen, die Götter anderer

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3. Hauptteil, 7. Kap.: Die Bindungen der Seele

Völker in Abrede zu stellen. Die Göttergeschlechter der Völker stehen in einer tieferen Ebene, wo sie sich nur aus der Vater- und Mutterbindung herleiten können. Die Schicksale der griechischen Philosophen zeigen den schmerzlichen und abgründigen Zwiespalt, in den eine gelehrte Minderheit gerät, wenn ihre mythische Religion dem aufgeklärten Gottesverständnis nicht mehr standhalten kann. Dennoch belehrt uns die Religion der Veden, dass Mythen und eine beachtenswerte Philosophie durchaus vereinbar sind in einem aufgeklärten Gemüt.

§ 50  Die Seele und ihre Verwandten Alles, was sich im geschlechtlichen Bereich bildet und entfaltet, ist seelisch bedingt. Zeigt sich doch das Eigentümliche des Geschlechtlichen auch darin, dass ihm das esse in se fehlt; denn nur in Bezug auf das andere Geschlecht hält sich seine Wirklichkeit. Keineswegs verhalten sich aber so das Wachstum und die Nahrungsaufnahme. Wir gehen deshalb aber auch von einem ungeschlechtlichen menschlichen Personkern aus. Es gibt eine seelische Ethik, welche in der Ethik der Geschlechtskraft ihren Herd hat, und es gibt eine geistige Moral, welche sich auf den Personkern zurückführt. Begriffe wie Vererbung, Begabung, Berufung, Anlagen und vieles andere lasen sich nur richtig deuten, wenn man zwischen Geist und Seele besser unterscheidet als bisher. Begabungen und Anlagen sitzen tief im Geistigen; ob sie zur Entfaltung kommen, steht in die Seele geschrieben. Nur in der Seele erstellt sich das Geflecht der Verwandtenbindung, also werden die Erbanlagen über die Seele weitergegeben. Aber gerade über die Seele wird manches möglich, was der Biologe für nicht möglich erklärt; es wird aber auch manches unwahrscheinlich, was der Biologe für gegeben annimmt. Dass die Muskeln eines Sportlers sich nicht vererben, weiß jeder. Mit diesem dämlichen Beispiel ist indes gar nichts gesagt über die Vererbung erworbener Fähigkeiten. Die gesamte Wirklichkeit steht und fällt in der seelischen Sphäre, und diese wird ständig bewegt und bewegt wiederum nach außen. Je mehr eine erworbene Tüchtigkeit ins Seelische eingeht, desto mehr hat sie Aussichten, in den Bestand der Erbanlagen einzugehen. Völkische Eigenarten sind nur so zu erklären; sie haben sich nicht vererbt, das Erbe hat sich in einem seelischen Bündnis erst erstellt. Seelisches Verhalten schlägt sich zu den Erbanlagen. Am Beispiel der Haustiere sehen wir, in welch ungeheurem Ausmaß die Artgestalt sich in der Sphäre der Seele verändern kann. Anima und Materia leben aus organischer Verflechtung; gegenüber dieser gestaltenden Kraft „von innen“ wird die Auswahl Darwins „von außen“ eine Größe, die man vernachlässigen kann.



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§ 51  Schlusswort Wenn von den Bindungen der Seele die Rede ist, so bleibt immer vorausgesagt, dass dieser Seele nichts zukommt, das einem selbständigen Gerüst gleicht. Die Bindungen der Seele ergeben die Seele selber, und alles, was sich in der Wirklichkeit an Seelischem niederschlägt, sei es in Natur, Kultur und sittlichem Verhalten, behauptet sich wiederum im Geist und in der Materie. Seele lässt sich weder als Geist noch als Materie darstellen. Seele offenbart sich immer als Gemächte aus dem Zusammenwirken von Geist und Seele. Will man dieses Gemächte aber an sich greifen, so zerfällt es in Geist und Materie. Daraus leitet sich ab, dass wir Seele nicht dem Sein zurechnen. Relation in besonderer Weise als Religio wird darin allgemein, dass die Religio immer in drei Ursachen und Ur-Sprüngen rückgebunden und unselbständig bleibt: Nach dem Selben, nach dem Geist und nach der Materia. Dann führt Wirklichkeit in Natur und Geschichte, auf dem hintergründigen Licht von Geist, Materie, Seele betrachtet, zu einem Weltbild, das der Philosophie Platons näher steht als dem Weltbild moderner Naturwissenschaft, welches wachsender Selbstauflösung anheimfällt. Das Verständnis der Bindung weitet sich aus zu einer religio universalis; Religion und Psychologie nehmen weitere Inhalte auf. Felder wie Erziehung, Moral, Kultur erhalten neue Gründe zur Unterscheidung. Intelligenz erklärt sich als etwas rein Geistiges, welches durch die seelische Verfassung eines Menschen, mithin durch die Erbanlagen, mehr oder weniger stark zum „Durchblick“ behindert wird. Solche seelischen Behinderungen können aber durch moralisches Verhalten grundsätzlich abgebaut werden. Genie dagegen ist eine seelische Berufung, die nicht erworben werden kann. Das Verhältnis von geistigen Anlagen und seelischen Errungenschaften, von Begabung und Berufung, von angeborenen und erworbenen Tüchtigkeiten verbirgt sich hinter einer begrifflichen Unschärfe zwischen Geist und Seele. Reifung und Selbstentfaltung, jene großen Modewörter unserer Gesellschaft heute, kommen nicht dem Geiste, sondern der Seele zu, und dieser Einblick führt zu einer ganz anderen Psychologie als zu unserer Ratgeberin dieser Tage. Gewiss hat die Psychologie die große Bedeutung der Bindungen erkannt. Wenn sie aber nicht genügend beachtet, dass jede Bindung der Seele eine Religio zum Zwecke hat, also immer ethisch gesehen werden muss, dann bringt ihre Heilkunst nur scheinbare Erfolge hervor. Ihre Erfolge lassen sich vielleicht mit der neuesten Technik vergleichen. Sie bestätigen sich an dem Gesellschaftskörper; sie tun es jedoch nur, weil dieser insgesamt falsche Richtlinien und Maßstäbe gesetzt hat. Ihre Falschheit wird indes an der allgemeinen Entfremdung zu Natur und Kultur deutlich. Damit kreist unsere Betrachtung in den Anfang zurück: Seele ist nichts an sich, wenn wir sie als Sein ergreifen wollen. Aber die Seele ist gewissermaßen alles, wenn wir sie

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als Ziel und Zweck unseres sittlichen Handelns ansehen. Seele ist Allmacht dann. Alles regelt sich so wie von selber, denn sittliches Handeln wird über die Seele allein zu einer göttlichen Seinsmacht (oder zu einem ontologischen Nährwert), woran alles gesundet und woraus die richtigen Wege, die NotWende von selber gefunden werden. Was uns fehlt, ist eine seelische Ethik, ohne die eine Ethik von Technik, Umwelt und Fortschritt zur Selbstbeschäftigung eines gelehrten Klüngels wird. Unser Verhalten entlarvt sich als die geistige Moral eines Großstädters, und sie bleibt gerade da unverbindlich, wo die seelische Ethik zulangt. Das Seelische aber billigt man Kirchen, Sekten, Gruppen und Vereinen zu. Die Sexualethik zeigt einen Verfall wie noch niemals, seit es Menschen gibt. Sie bildet ein Fundament seelischer Ethik. Aber Religion und Sexus haben wir ausgeklammert aus unserem moralischen Denken. Wir sind einerseits Geist (Wissenschaft und Fortschritt), andrerseits Materie (Technik und Umwelt). Wir laufen Gefahr, alles zu verlieren, weil wir die Seele vergessen haben. Was sich jetzt anbietet, sind Bereiche, die eine Psychologie neuen Ausmaßes ausspannen: Die Seele als Pflegegarten der Sittlichkeit, welche in einer geistigen Moral ihr Gesetz, aber keineswegs ihren ausreichenden Grund findet. Die Seele als Organ der Erziehung, Reifung und Bildung in ihrem Unterschied zu der unmittelbar gar nicht ansprechbaren geistigen Uranlage der Persönlichkeit. Aber auch die Seele als Stätte, wo die Cultura im Cultus ihr innerstes Gesetz findet. Seele als das Geheimnis, wo die Geschichte als Schicksalsbildung an einem göttlichen Heilshandeln sich abzeichnet. Die Seele allein bietet sich als Ort an, wo der Gegenstand der Religionen und ihrer inneren theologischen Selbstverständnisse auch zum Gegenstand der Philosophie werden kann. Alle diese Bereiche nehmen für sich in Anspruch, dass sie in einzelnen Betrachtungen dargestellt werden.

Sachverzeichnis Die Begriffe – Kultur, Metaphysis, Relation, Seele, Sein, Wirklichkeit – sind hier nicht erfasst, da sie den Grundinhalt des Textes ausmachen. Die Seitenzahlen beziehen sich auf Textstellen, die nicht durch Paragraphen erfasst sind. Abbildungsgesetz  48, 76, 120, 122 Accidens  15 Ackerbau  72–74; § 19 Akt  15 Allah  131 Alter  63 Anima  6, 15, 30; § 31 Animus  130 Anthropozentrische Wende  5 Arbeit  108 ff.; §§ 33; 36 Archetypus  93, 103 Aristoteles  5, 18, 30, 49, 79, 121, 129 Artentwicklung  73 Artwesen  19, 25, 31, 64–65, 73, 96, 116, 119 Begabung  115, 132 Berufung  115, 132, 133 Bewusstsein  34, 99 ff.,115, 131–132; § 36 Bindung  41, 63, 73–75, 91, 121; §§ 9, 3, 46; 48–50 Boden  53, 56, 74; §§ 10, 1; 20; 34 Bürgerkrieg  104 Chaos  50, 86, 119, 121, 125; § 12 Charakter  110, 114 Cultus  120, 125, 134 Darwin, Charles  64, 65, 132 Dasein  17, 18, 21 ff.,56, 60, 64, 66, 71, 75, 124, 127; §§ 3; 4 Dasein, siehe Existentia

Dasein im Voraus  47 Daseinsmacht  26 Descartes, René  5 Distinctio realis  47, 56 Dreigespann  116 Emanation  130 Entwicklung  109 Erbanlagen  113–114, 125, 132–133 Erkennen  124, 127; §§ 2, 1; 3, 5 Esse in se  93, 97, 128 Essentia  5, 6, 15, 17, 56 Essentia, siehe Wesen Existentia  5, 15, 17, 19, 55 ff. Existentia, siehe Dasein Ethik  61, 62, 76, 96, 105, 114, 118, 119, 131–134 Ethik des Schicksals  § 29 Form und Materie  118, 120; §§ 41; 44 Fortpflanzung  51, 72; § 15 Fortschritt  § 37 Freiheit  5, 19, 72, 90, 93, 96, 118 Freiheitsgrad  26, 28 Freude  102 Frieden  §§ 33–35 Gattung  28; § 3, 3 Geist  56, 62, 76, 81–82, 121, 129; §§ 1; 4–7; 11; 21; 24; 26; 27; 29; 30 Gemüt  28, 35, 71, 92, 95, 99, 120, 124 Geschlechtliche Sphäre, siehe Fortpflanzung, siehe Sexus

136 Sachverzeichnis Geschlechtsreife  63 Gesellschaft  119; § 36 Glück  99 Göttliches  103; §§ 48; 49 Gottesbeweis  5, 130 Gottesbindung  129; § 49 Grabmal  83, 84, 85 Gutes  111 ff., 113 Haustier  32, 64, 71, 80, 84, 95, 96, 132 Hegel, Georg F.  38 Heimat  50, 53, 113; § 20 Heraklit  55 Hölle  104 Husserl, Edmund  6 Individuationsprinzip  15, 27–28, 95 Individuum  17, 18, 52, 95 Industriekultur  98 Intelligenz  15, 133 Intersubjektivität  95 Jagd  72–74, 81, 115 Jahwe  131 Johannes Duns Scotus  47, 48 Kant, Immanuel  5 Kind  5 Komplementaritätsprinzip  122 Kreislauf  23, 50, 52, 58–59, 71, 81–83, 92; §§ 10; 15 Krieg  § 35 Kultus., siehe Cultus Kunst  105, 109 Kunstwerk  117–119 Leben  §§ 6; 10, 2; 14 Leib  62, 63, 73, 79; §§ 21; 26; 27 Leiden  100 Lust  105, 116; § 33; 34 Mahl  52, 83–84; §§ 13–14; 16 Mater Terra  130 Materialismus  90, 94, 98

Metaphysik  14–16, 19, 21, 29, 65, 118; §§ 4; 5 Metaphysische Urteile  § 9 Mittlerer Abstand  50, 55, 59 Möglichkeit  22, 118; §§ 3; 4 Monade  25 Moral  73, 79, 95, 96, 98 ff.,101, 105, 109, 114, 116, 132, 134; §§ 33–35 Moral, siehe Sittlichkeit Moral der Wildnis  104; § 29 Mutterbindung  129 ff. Mystik  6, 40 Mythenreligion  123 Mythisches Weltbild  28–2 Mythos  28, 29, 32, 96; §§ 7–8; 44–45; 47 Natur 37; §§ 1, 1; 8–11 Naturrecht  57, 91, 104 Naturseele  40, 72 Nerven  114 Nichts  § 3, 1 Nomade  71–74, 115; § 19 Offenbarung  6, 40; §§ 43–44 Ontologie  31, 49 Organismus  40; §§ 8–11 Ousia  5, 19, 33 Paarung  73–74 Pantheismus  130 Parmenides  55 Person  132, 134 Pflanzenseele  15–16, 19, 30, 32, 36, 48 Platon  14, 20, 23, 30, 34, 37, 40, 45, 49, 55, 66, 79, 81, 94, 119, 121, 125, 129 Potentia objectiva  48 Potenz  15 Psyche  § 4, 3 Rasse  64, 65, 95, 116; § 20 Realismus  5 Reflexion, siehe Vernunft Regelkreis  § 46

Sachverzeichnis137 Reifung  96, 108 ff.; §§ 39–40 Religio  133; §§ 46–47 Religion  6, 40, 124 Sage  126 Schamgefühl  61, 62 Schicksal  32, 66, 91, 96, 118, 121 Schicksal, siehe Ethik des Schicksals Schönes  113, 116 Scholastik  5, 18 Seelenstärke  118; § 40 Seelisches Gesetz  121 ff. Selbes  16, 20–24, 40, 53, 56, 78, 79, 94, 97, 103, 109, 113 ff., 127; §§ 42; 48 Selbes, siehe Zweckselbes Selbstbewusstsein  20 Selbsterkennen  20 Selbstsucht  107 Sexus  55, 60; §§ 16–17; 25 Sittlicher Nährwert  94, 106 Sittlichkeit  19, 26, 53, 62, 78, 79, 83, 85, 89 ff., 96 Sokrates  81 Sollen, siehe Moral; siehe Sittlichkeit Spengler, Oswald  101 Spiel  105; §§ 30; 32; 33 Sprache  128 Städtebau  115 Sterndeutung  123 Stoffwechsel  51; § 15 Sustantia  6, 13, 15, 17, 29, 54 ff., 129 Technik  65, 104 ff., 108 ff. Theismus  130 Thomas von Aquin  18 Tierseele  15, 19, 30, 32, 36, 48 Tod  55 Toynbee, Arnold, J  115 Transzendentalismus  5, 20 Traum  120–129 Uebel  104

Übernatur  34 Unmittelbare Einsicht  91, 109, 111 Unmittelbare Gewissheit  91, 109–111 Unmögliches  23 Unterbewusstsein  34, 61 Unterwelt  97, 104, 123 Urbindung  75; §§ 7; 46; 48 Urgrund  §§ 1, 2; 7 Ursache  13, 33, 37, 97; § 1, 2 Ursprung  33, 37, 97; § 1, 2 Vaterbindung  130 ff. Veden  132 Vererbung, siehe Erbanlagen Vermählung  83, 84 Vernunft  5, 19, 90 ff. Versorgung  §§ 19; 23 Verwandte  74, 92, 113, 114, 131; §§ 20; 50 Verwilderung  66 Viergespann  116, 132; § 33 Vierte Zone  92, 97, 113 Volk  53; § 20 Wachstum  52; § 15 Wahrheit  § 45 Weltflucht  90 Weltverfallenheit  90 Weltzweck  89, 104, 105 Werden  §§ 13; 14 Wesen  18, 66, 82, 124, 127; § 3, 3 Wesen, siehe u. Essentia Wildnis  18, 19, 71, 83, 88; §§ 7; 16–18; 29 112, 127 Wissenschaft  105 Zeit  55, 83 Zeugung, siehe Sexus Züchtung  32, 88, 93, 96; §§ 16–21; 23; 24 Zuneigung  112, 127 Zweck  79, 89, 95, 101; § 1, 3 Zweckselbes  16, 78, 79