Sein und Erkennen: Grundzüge einer zeitgemäßen Metaphysik. 1. Buch: Die Anfangsbegründung und die Seinserschließung [1 ed.] 9783428550074, 9783428150076

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Sein und Erkennen: Grundzüge einer zeitgemäßen Metaphysik. 1. Buch: Die Anfangsbegründung und die Seinserschließung [1 ed.]
 9783428550074, 9783428150076

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Philosophische Schriften Band 92

Sein und Erkennen Grundzüge einer zeitgemäßen Metaphysik 1. Buch: Die Anfangsbegründung und die Seinserschließung Von Franz Förschner

Duncker & Humblot · Berlin

FRANZ FÖRSCHNER

Sein und Erkennen

Philosophische Schriften

Band 92

Sein und Erkennen Grundzüge einer zeitgemäßen Metaphysik 1. Buch: Die Anfangsbegründung und die Seinserschließung

Von

Franz Förschner

Duncker & Humblot · Berlin

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© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 978-3-428-15007-6 (Print) ISBN 978-3-428-55007-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-85007-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis 1. Teil Einleitung 

13

§ 1

Was ist Metaphysik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1. Die naturale Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2. Die rationale Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

§ 2

Das Aufsuchen der Anfangsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die vermittelte Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Trägerschaft und die Eigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Artgleichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Gattung, der Verlust der Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

§ 3

Der Raum und die Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1. Der Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2. Die Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3. Die Gewissheit der Raumzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

§ 4

Die Überzeugung der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

§ 5

Die transzendentale Reduktion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1. Das Bewusstsein in der transzendentalen Reduktion . . . . . . . . . . . . . . 34 2. Schopenhauer und Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

§ 6

Die Metaphysik des Abendlandes und der rationalistische Bewusstseinsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

§ 7

Vorbereitung der transzendentalen Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1. Das Bewusstsein als Bizone von Erkennen und Gemüt; Intentionalitas und Identitas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2. Die Selbst- und die Fremdgegebenheiten des Bewusstseins  . . . . . . . . 41 3. Die Zeit und das Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 4. Das Grundschema der Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

22 22 23 24 25

6 Inhaltsverzeichnis 2. Teil

Das Bewusstsein als Geltungsbereich; die Einklammerung des Gemütes und die Enthaltung einer Seinssetzung 

47

1. Kapitel

Die Anschauung und ihre Gründe der Erfahrung 

49

§ 8

Die Vorstellung und das Zugleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

§ 9

Das Zugleich und der Vergleich  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Zugleich als Gleichnis des Zeitlosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Ansicht als Ur-Teilung und die Erinnerung als Ergän­zung . . . . . . 3. Anmerkung: Die Einheit des Einzeldings in Kants „empiri­schem Bewusstsein“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51 51 54

§ 10 Die drei Gründe der Anschauung in der Einheit des Din­ges . . . . . . . 1. Die Gestalt und ihre drei Gründe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Einblick und der Vergleich; das sinnliche Wissen um das Einzelding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Einblendung des Gleichartigen in das Einzelne; das Wissen als Allgemeines der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60 60

57

64 66

§ 11 Das anschauliche Wissen als Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Selbige als erste Form des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Ansichtsteile als Vergleich der Selbigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Unterschied als Verneinung des Vergleiches und Beja­hung des Widerspruchs. Hegels Dialektik der sinnlichen Ge­wissheit . . . . . .

70 70 71

§ 12 Die Grundlagen des anschaulichen Wissens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Artgleichnis und die Gleichartigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Substantia als Mittel und Einheitsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Wahrnehmung der Substantia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76 76 79 81

72

2. Kapitel

Das unanschauliche Wissen 

§ 13 Die Grundformen der Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die neue Form der Abstraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Zusammenschau aus der Zuordnung; die Relation . . . . . . . . . . . . 3. Die Notwendigkeit der Zuordnung, die innere Anschauung  . . . . . . . .

83 83 83 85 86

§ 14 Das Mittel der Gattung; Anschauung und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . 88 1. Das Wissen zwischen dem Vorausgesetzten und dem Gesetzmäßi­gen; das Spiel als Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2. Die Sprache als Spiel der Gattungsbegriffe; der Einblick durch die doppelte Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3. Die Gattung und die Substantia; die Freiheit der Sprache . . . . . . . . . . 94

Inhaltsverzeichnis7 § 15 Die Doppeldeutigkeit des „Körpers“ zwischen der Gattung und der Substantia  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 1. Die Mehrdeutigkeit des Körpers darf nicht zur Verwechslung von Gattung und Substantia führen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2. Der Körper als Gattung und Substantia bei Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3. Kapitel

Das Wissen als Selbstverständnis 

105

§ 16 Die neue „Erinnerung“; das Beisichsein als Reflexion . . . . . . . . . . . . . 105 1. Der Kreislauf des Erkennens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2. Die erste Grundeinsicht des Selbstbewusstseins als not-wen­diges Selbstverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 § 17 Die neue „Erinnerung“ als jäher Abbruch der alten und als unmittel­barer Eingriff des Verstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Von der Notwendigkeit und der Inwendigkeit; Materie und Form des Denkens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Husserls Kritik an Kants schroffer Trennung von Verstand und Sinnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das principium contradictionis als erste und allgemeinste ­Anwendung des Selbstverständnisses  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 18 Untersuchungen zum Selbstverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Umriss und Unklarheit der Abstraktion; die Substantia und das principium contradictionis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Substantia und das transzendentale Schema . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Reflexion und Substantia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Reflexion und Konklusion. Führt die Unschlüssigkeit des Selbst­ verständnisses zur Not-Wendigkeit, einen „Schluss zu ziehen“? . . . . .

111 111 112 114 115 115 118 119 120

§ 19 Zwischenbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 4. Kapitel

Das Leben aus der Reflexion; die Gleich­setzung von Seins- und Erkenntnisweise 

§ 20 Die Artselbigkeit und ihre Erscheinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Artselbigkeit als Selbstentdeckung der Reflexion . . . . . . . . . . . . . 3. Das Individuum als substantia composita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Einzelding und das Principium seiner Vereinzelung . . . . . . . . . b) Das Lebendige und das principium individuationis . . . . . . . . . . . . .

126 126 126 128 131 131 132

§ 21 Die Möglichkeiten zur Begründung einer Gleichsetzung von Sein und Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

8 Inhaltsverzeichnis 1. Die Artselbigkeit als Gestalt und Gesetz und das Ausweglo­se in der Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 2. Die Not-Wendigkeit der Reflexion, einen „Schluss zu ziehen“, als Selbstvollzug der Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 § 22 Weitere Untersuchungen zur Natur der Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1. Das Nachdenken der Reflexion; das principium c­ ontradictio­nis als principium identificationis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2. Raum, Zeit und das principium contradictionis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3. Das principium causalitatis als Rückschluss der Reflexion an der Erfahrung des Lebendigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 4. Das Leben kann nicht als Gattung verstanden werden . . . . . . . . . . . . . 143 3. Teil

Das Bewusstsein als Machtbereich und Bedürfnis; der Inbegriff des Gemütes und die neuen Gründe der Erfahrung 

145

§ 23 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1. Kapitel

Versuch einer ersten Abgrenzung zwischen dem Erkenntnismäßigen und dem Gemüthaften 

§ 24 Unterscheidung und Verselbigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eine Gleichung und zwei Unbekannte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Intentionalitas und Identitas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Perichoresis von Sein und Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149 149 149 151 153

§ 25 Das Bewusstsein als Drei-in-Einheit; die Wege der Mit­teilung . . . . . . 155 1. Unmittelbare Einsicht und unmittelbare Gewissheit; Wahrneh­mung und Innewerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 2. Das Bedürfnis, die Not-Wendigkeit und die Frage; der Zweck als Verselbigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 § 26 Allgemeines Grundbefinden des Gemütes; Sein als Dasein . . . . . . . . . 1. Dasein als Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Daseinserkenntnis und die rein logische Einheit der Reflexion . . 3. Dasein als Träger von Stimmung; die unmittelbare Gewissheit der Stimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Daseinserkenntnis und sensus communis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Zeit als Erlebnis und die Zeit als Maßstab; Daseinser­kenntnis und sinnliche Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161 161 164 166 167 171

Inhaltsverzeichnis9 2. Kapitel

Dasein und Erscheinung 

172

§ 27 Der Widerspruch und die Verselbigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 1. Das Bedürfnis und seine Not-Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 2. Das Dasein und sein Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 3. Die einzigartige Bedeutung des Mahles  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 § 28 Der Aufschluss des Werdens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 1. Der Rückschluss der Reflexion und der Rückbezug des Zweckes . . . 179 2. Das Mahl und das Werden; die Zeit als „Mahlzeit“ . . . . . . . . . . . . . . . 181 3. Die Bedeutung der Artselbigkeit in der Geltung des princi­pium causalitatis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 3. Kapitel

Die Vermittlung des Zweckes 

190

§ 29 Die Frage im Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 1. Das Bedürfnis und die Möglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 2. Die Frage und das Zweckdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 § 30 Dasein und Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die einzigartige Übereinkunft des Mahles mit der Artsel­bigkeit . . . . . 2. Die Schwierigkeiten des überlieferten Schemas von Dasein und Wesen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Individuum und das principium individuationis . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Sein und die Substantia  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

197 197

§ 31 Der Zweck als das Selbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dasein als Wille zum Wesen, Wesen als Ziel des Daseins . . . . . . . . . 2. Erkennen und die Suche nach dem Selben; der Plan des Wirk­lichen 3. Der Zweck als Bedürfnis und der Zweck als das Selbe; Con­tradictio und Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

209 209  . 212

§ 32 Die Ur-Teile und das Logische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wesen, Dasein, Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Vertretung des Selben im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Reflexion und das Logische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

219 219 223 225

§ 33 Die Reflexion im Lichte des Zweck-Selben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Selbe als das Logische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Selbe als Erkennen und die Offenbarung von Sein an sich . . . . . 3. Erkennen und der Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

228 228 229 233

201 204 206

216

10 Inhaltsverzeichnis 4. Teil

Welt und Bewusstsein. Entwurf zu einer geistigen Wirklichkeit 

237

1. Kapitel

Die Anlagen zum Geistigen 

239

§ 34 Erkennen im Zusammenhang des Wirklichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 1. Das Logische als Ausschluss einer Möglichkeit an sich . . . . . . . . . . . 239 2. Die Reflexion und die Einheit des Erkennens; das Ungenügen in der Ansicht bisher  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 § 35 Die Möglichkeiten des Daseins und die Denkgewohnheiten des „Wesentlichen“ als des „Wichtigen“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 § 36 Das Unauffällige menschlicher Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 1. Die Entwicklung als Kraft und Richtung; das Rätsel der Zeit  . . . . . . 252 2. Die Entwicklung als gesetzmäßiges Streben und das Fehlen einer menschlichen Besonderheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 2. Kapitel

Die Kultur als neue Wirklichkeit; Versuch einer Beschreibung nach den Bestimmungsstücken bisher 

259

§ 37 Die „vierte“ Zone des Wirklichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kultur als Betrachtungsgrund der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Kultur als Werkzeugnis; Metaphysik zwischen Materia­lismus und Idealismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Erscheinung Kultur bezeugt eine neue Natur im Bewusst­sein . . . 4. Die „vierte“ Zone als Befreiung von der Sorge der Entwick­lung . . . .

262 267 269

§ 38 Untersuchung zu einem Verhältnis von Kultur und Zweck . . . . . . . . 1. Der Zweck der Kultur als Wohlbefinden des Bewusstseins . . . . . . . . . 2. Die Kultur als Ereignis des Daseins und das Zeugnis des Mahles . . . 3. Die Kultur als Zeugnis eines neuen Daseins  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Kultur als Zweckbestimmung der menschlichen Natur . . . . . . . . .

271 271 274 278 282

259 259

3. Kapitel

Sein und Sittlichkeit; der Geist 

§ 39 Die Bestimmung des neuen Daseins; das Sollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Selbst als Gleichnis und Widerspruch zum Selben . . . . . . . . . . . . 2. Dasein und Reflexion; ein neues Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bildung als Abbildung des Zweckes; das Sollen . . . . . . . . . . . . . . . . .

286 286 286 289 292

Inhaltsverzeichnis11 § 40 Die Entbindung und die Einbindung des neuen Daseins . . . . . . . . . . . 1. Die Zuneigung und das Mahl  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sollen, Zuneigung und Freiheit; das sittliche Verhältnis . . . . . . . . . . . 3. Zweckfreiheit und Zweck der Freiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

294 294 296 299

§ 41 Kultur und Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 1. Die Wechselwirkung der Bildung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 2. Freiheit und Vernunft; das geistige Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 § 42 Freiheit und sittliche Ordnung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 1. Die Freiheit als Kraft zur Gelassenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 2. Die unmittelbare Gewissheit des Sittlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Personen- und Sachverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

1. Teil

Einleitung

§ 1  Was ist Metaphysik? 1. Die naturale Reduktion a) Er ist der letzte Nachtwächter, der noch mit einer Petrollampe durch die Großstadt geht, weil er dem gleißenden Lichtermeer der Glühbirnen nicht traut. Er misst noch die Zeit mit der Sanduhr, während die Gesellschaft mit ihren Atomuhren dem Lauf des Jahres und des Gestirnes das Gleichmaß vorschreibt. Es ist der Meta-Physiker, der heute noch die Welt aus Vernunftgründen verstehen will. Erinnert er nicht an eine Gestalt von Carl Spitzweg? Was ist ihm von seiner einstmals erhabenen Welt noch geblieben? Was der Urknall und die Evolution nicht hergeben, das zerstückeln ihm die Schöpfungen der Religionen, die Gebilde der Kulturen, die Geschichte des Wissens und das Wissen um die Geschichte. Was seine Vernunft betrifft, so ist sie ein Spielball in Systemen. Das Peinlichste von allem ist seine Überzeugung von einer unmittelbaren Gewissheit. Denn die Einholung der Gründe oder die Rationale Reduktion hatte glattweg die transzendentale Reduktion übergangen und so die letzte Denkmöglichkeit des Unmittelbaren vergessen. Und so ist der Meta-Physiker auch noch zum störrischen Alten geworden, unwillig sich mit seiner Pflichtaufgabe zu befassen. Man muss also nur noch auf Kant verweisen, um ihn endgültig der Vergangenheit anzuvertrauen. Was suchte er eigentlich? So muss man heute schon fragen. War es die Physis, die Natur der Griechen, oder eine Meta-Physis, eine Übernatur, die Seele der Religionen? Oder war es die Metaphysis als etwas hinter der Natur? So war er doch wirklich ein Hinterweltler. Schon Aristoteles hatte die Seele und die Natur ineins gesetzt, und so kann man es den Überdrüssigen nicht verdenken, wenn sie achtlos sich der Mystik und der Metaphysik in einer einzigen Abfuhr entledigen. Ein gleißendes Lichtermeer der Großstadt ist der Sternenhimmel an Ideen, die wir heute haben. Allein sie scheinen die Nacht nicht zu erhellen, sondern sie erst zu machen. Über dem Multi-Kulti unserer Weltgesellschaft wölbt sich ein Pluralismus von politischen Ideologien, von naturwissenschaftlichen Theorien, von sozialwissenschaftlichen Analysen, von vielen Theologien. So zerstritten sie unter sich sind, sie erhalten ihre Einheit auf

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1. Teil: Einleitung

dem Fundament des technischen Materialismus. Im Zuge dieser Einheitsbildung bauen sich die Kulturen in ihren einstmals verschiedenen Höhen von selber ab. Sie hatten einst je ihr eigenes, großes Glaubenslicht. Also auch hier war die Metaphysik nicht der Einheitsgrund. Was spricht gegen die Metaphysik, wenn wir sie als Suche nach dem Anfang verstehen wollen? „Jeder Anfang ist willkürlich“, sagt ein Philosoph. Ein anderer sagt: „Der Mensch lebt schon immer in einer verstandenen Welt, und es hat schlechterdings keinen Sinn, hinter dies Verständnis zurückgreifen zu wollen auf einen Anfangszustand, … Wir kommen zu keinem Anfang.“ So schließt sich denn unsere Ausschau nach Metaphysik in einer „schon immer verstandenen Welt“. Wir haben ein Überangebot von Leitsternen, unter denen sich der Einzelne etwas auswählen kann, um sich zurechtzufinden. Wenn er aber nach einem Anfang Ausschau halten will, sagen ihm die Philosophen: Der Anfang ist für immer verschüttet! b) Wir wissen, dass wir schon immer eingepflanzt sind in einer Verstehens-, Wissens- und Glaubensgemeinschaft. Aber was verstehen wir, was wissen wir und was glauben wir? Und warum sollten die Gruppen und Gemeinschaften nicht verschieden sein an Verstehen, Wissen und Glauben? Sind verschiedene Gottesreiche nicht so selbstverständlich wie verschiedene Weltreiche? Bilden Räume und Zeiten nicht schon die Grundlage für verschiedene Entwürfe an Kulturen auf verschiedenen Böden und unter wechselnden Belastungen. Welt enthüllt sich als ein Knäuel, in dem selbst Wissen, Verstehen und Glauben unbemerkt ineinander übergehen. Begrifflich etwas klarer gesprochen: Wir sind uns nie ganz bewusst, wo Theorie und Praxis sich gegenseitig vortäuschen. Aus diesem Knäuel Welt lösen sich aber zwei große Gleichungen heraus, die Welt aufteilen; und das Gute dabei ist, dass sie sich im alltäglichen Leben bilden, also auf der Ebene der gewöhnlichen Verständigung, nicht auf der Ebene der Wissenschaftswelt. Natur und Kultur im Allerweltsverstand. Natürlich stehen auch sie im Kreislauf von Wissen, Verstehen, Glauben. Was die Welt so anschaulich und unmittelbar trennbar macht in die beiden Zonen, liegt indes verhältnismäßig klar vor Augen. Das Werkzeugnis Kultur des menschlichen Schaffens hat sich durch die Geschichte hindurch nicht von der Wildnis Natur wie von einer Vergangenheit getrennt, so wie etwa die moderne Kultur sich von der sumerischen entfernt hat. Es erscheint uns doch offensichtlich, dass gerade Wildnis Natur der ruhende Boden bleibt, der erst den Wandel der Kulturen ermöglicht. Kultur ist nur Ge-



§ 1  Was ist Metaphysik?17

schichte in sich selber, sie ist niemals Geschichte an der Natur oder weg von der Natur. Kultur hat nur Bestehen, besser Geschehen, weil die anorganische und die organische Wildnis Natur ihr eigentlicher Bestand ist. Kultur ist nur die besondere Lebensweise eines bestimmten Artwesens Mensch. Kultur erklärt sich als das allgemeine Zeugnis eines besonderen, einzigartigen Artwesens. Dies wiederum besagt, dass Natur überall und jederzeit in aller wandelbaren Kultur unmittelbar ansteht, zu Grunde liegt. Wir haben uns zu berichtigen: Von zwei Zonen kann keine Rede sein. Natur steht als der eigentliche Tragegrund, Kultur umstrahlt sie wie eine Sphäre. Kultur ist also auch nicht das Eigenartige dieser Menschenart, wohl aber ihr Eigentümliches. Natur ist die Determinante, Kultur die Variable und auch Abhängige. Nur dass diese Sphäre Kultur nicht bestrebt ist, sich abzusondern oder zu verflüchtigen von Natur; sie kann es ja gar nicht. Es geht ihr nur darum, die Natur in sich selbst zu veredeln, so dass sie über ihre eigene innere Norm hinauswächst. Die menschliche Art lebt in einer Paradoxie zu ihrer Umwelt. Sie ist die einzige Tierart, die nicht in sich schließt, weil sie die Bestimmung zur Kultur in sich hat, die nicht Natur ist. Was ihr zur Verfügung steht, bleibt immer nur der Vergleich mit der Umwelt, der Wildnis Natur. Die menschliche Art lebt in einem Kreislauf von Erkennen, Nahrungsaufnahme und Zeugung, und dieser Kreislauf schließt sich im Organismus des Artwesens wie bei den anderen Tieren auch. Während diese ihren Kopf über diesen organischen Zirkel nicht hinausbekommen, bezeugt sich dieses Artwesen nebenbei in Werkzeugnissen, die wir Kultur nennen. Dies also ist die Paradoxie: Der Mensch ist das einzige Tier, dessen Natur nicht im Artwesen aufgeht. Der Vollzug dieses Unterschieds erzeugt die Kultur. Während wir beim Tier nur einen Wirkbereich feststellen, nämlich den des Artwesens, lebt die menschliche Wirklichkeit in drei Bereichen: Artwesen, Natur und Kultur. Damit hoffen wir, etwas Klarheit in den Knäuel Welt zu bekommen. Wir sehen jetzt aber auch, dass wir in der Natur die große Dunkelkammer des menschlichen Daseins haben und dass wir nur einerseits vom Organischen und Tierischen, andrerseits vom Kulturhaften her in diese Dunkelkammer uns hineintasten können. Kultur aber hat das Bestreben, sich mit allem zu befassen. Kultur wird immer bemüht sein, bis auf die Knochen des Organismus vorzudringen, sie zu verbessern, sie züchtend zu veredeln. Dies lehrt uns die Geschichte der Kultur. Es liegt ja in der Natur, dass sie ihren Organismus verwaltet, und diese Verwaltung ist also schon immer Kultur. Es hat durchaus Aussicht auf Erfolg, wenn wir scheiden zwischen Natur als Wildnis ohne den Menschen einerseits und Kultur als Werk- und Wirkzeugnis des Menschen andrerseits. Es hat Sinn, auch wenn uns die Wissenschaften von der Erde einerseits und die Wissenschaften von der Kulturge-

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1. Teil: Einleitung

schichte andrerseits mitteilen, dass sich alles erst entwickelt hat und die Anfänge auf beiden Seiten weithin im Dunkeln liegen. Dieses Wissen der Wissenschaften ist uns nicht so nahe wie unsere alltägliche Einsicht: Die Kulturpflanzen in unserem Garten sind zwar ein Erzeugnis langer Züchtung, als Organismus jedoch stellen sie nach wie vor eine Wildnis dar, und die hat menschliche Kultur nicht gemacht. Am Beispiel von Natur und Kultur geht uns jetzt einiges auf. Wissen und Verstehen sind nicht dasselbe. Wissen vermitteln uns die Wissenschaften und die Erfahrungen anderer. Was wir selber im Alltag unmittelbar einsehen, verstehen wir. Wissen kann sehr wohl sich zwischen unser Verstehen zwängen und es hindern an der Einsicht in den Grund. Wissen und Verstehen zielen immer auf einen gegenständigen Grund, und in seiner Erschließung, Erforschung und Enthüllung wird uns der Grund zum Quell einer Erkenntnis. Alles Erkennen zielt dahin, dass wir über die Mitteilung des Wissens zum Quell des Verstehens selber vordringen. Wissenswelt und Verstehenswelt sind in vielen Kreuz- und Querverbindungen, in Schichten und Zwischengründen in unserem Weltbild verwachsen. Darum lassen sie sich meist nicht trennscharf machen, und das Verstehen ist ein langsamer Vorgang. Dabei ist Gewissheit nicht dasselbe wie unmittelbare Einsicht. Auch wenn ich die Quelle des Nils nie selber gesehen habe, bin ich gewiss, dass sie dort entspringt. Ich verstehe nämlich, dass ich diesem Wissen ­trauen kann. Unser Bewusstsein erarbeitet sich im Verständnis des Alltäglichen einen sicheren Leitfaden zwischen der Wissenswelt und einer viel fester gegebenen Verstehenswelt. Wenn wir aber nach einem letzten Grund für diese Scheidung suchen, werden wir einsehen, dass es gerade diese Gegebenheit von Wildnis und Kultur ist, die uns in gleicher Unmittelbarkeit einschließt. Das Ausmaß des Geschichtlichen, nämlich die Kultur, kann in uns diesen Verstehensgrund doch nicht aufheben. Damit haben wir einen festen Grund, von dem aus wir jenen beiden Philosophen antworten können, die uns so Kluges über den dunklen Anfang in einer schon immer verstandenen Welt orakeln wollten. Solche Anfänge sind gar nicht gefragt, die uns in Wissensepochen jeweils anders vermittelt bzw. verdunkelt werden. Wir suchen die Anfänge der Verstehenswelt, die uns in Quellgründen überall und jederzeit offen stehen. Man muss nur die Augen offen halten. c) Wir benötigen zum Glück nicht die Anfänge der Menschheitsgeschichte, und wir scheren uns nicht um Urknall oder Sündenfall. Das Tier verharrt im Kreislauf eines Ur- oder Naturzustands „Wildnis“. Weil aber Kultur als Bestimmung in die menschliche Natur gegeben ist, vollzieht sich mensch-



§ 1  Was ist Metaphysik?19

liche Wirklichkeit im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur, und dies ist ihr allgegenwärtiger Urzustand. Wer dies nicht einsieht, dem ist nicht zu helfen. Der Mensch ist also das einzige Tier, dessen Artwesen mit seiner Natur nicht zusammenfällt; und damit beginnt nun doch das große Dunkel. Denn dieses Ausmaß der Natur ist weder der Wissenswelt noch der Verstehenswelt so gegeben wie Wildnis Natur und Menschenschöpfung Kultur. Wildnis ist erforschbar, Kultur ist machbar und erforschbar; das Besondere an der Menschennatur ist nur erschließbar, und zwar im Vergleich mit der Wildnis Natur und in ihrem Wirkzeugnis Kultur. Das Geheimnis um diese Natur vollendet sich jedoch erst richtig, indem die „Dritte Welt“, nämlich die Glaubenswelt hinzukommt. Sie gehört eindeutig zur Kultur, aber sie darf auch eine Sonderstellung beanspruchen. Denn sie behauptet nun nichts Geringeres als in dieser dunklen Natur auch noch eine Übernatur. Drei Welten walten als Kultur aus dieser Natur, jede hat ihre eigene Methode als Wissenschaft und als Anwendung. Keine aber hat dieses Ausmaß an Natur zum unmittelbaren Forschungsgegenstand, und doch kann dieser Urgrund und Urzustand für Kultur nicht unbeachtet bleiben. Ist er doch das Erhabenste, was in der Welt überhaupt ansteht. Es bedarf einer Wissenschaft, die weder Technik noch Kunst, weder Natur- noch Geschichtswissenschaft, weder Sozialwissenschaft noch Religionswissenschaft ist. Aus diesem Sachverhalt erstellt sich jedoch eine große Schwierigkeit: Der Gegenstand an sich, also dieses Ausmaß an Natur, muss als unbekanntes Gelände erklärt werden. Hinzu kommt eine Unklarheit in der Erschließung selber. Mit welcher Methode soll denn diese Wissenschaft arbeiten, wenn sie mit keiner der aufgezählten Systeme etwas gemein hat? Es ist eine Wissenschaft, die nur von Vergleichen und Schlussfolgerungen mit und an anderen Bereichen lebt, deren Methoden sie kaum verwenden kann und die ihren eigentlichen Forschungsgegenstand nie zu Gesicht bekommt. Damit steht sie in der Nähe der Theologie. Soll sie nicht gleich als Mystik oder Mythos sich bekennen? Damit ist die heikle Lage der Metaphysik an sich schon beschrieben. Ihr Stand wird jedoch erst richtig schlimm in der modernen Wissenswelt. Jede Wissenschaft geradezu versucht ihr heute den Gegenstand zu entziehen, indem sie ihn, gerade weil er nicht greifbar ist, in ihrem eigenen Forschungsgrund unter- oder aufgehen lassen möchte. Die Naturwissenschaften wollen vor dieser „meta-physischen“ Natur keineswegs Halt machen. Ihre Absicht geht immer mehr dahin, diese ganze Zone, die den Menschen ausmacht, in der normalen Evolution der Organismen unterzubringen. Dann gerät die Kulturgeschichte zu einer verlängerten Erd- und Naturgeschichte. Nun bleibt es ein Grundanliegen der Metaphysik, ihren Gegenstand mög-

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1. Teil: Einleitung

lichst klar von allem der Geschichte Verhafteten abzusondern. Auf dieser Seite hat die Religion mit ihrer Theologie nun allen Grund, die Metaphysik mit ihrem erhabenen Gegenstand zu retten. Ihre Übernatur setzt doch so etwas wie eine geistige Natur voraus, mag sie auch Seele oder sonst wie genannt werden. Schwierigkeiten gibt es indes auch hier, weil die Grenzziehung in den theologischen Systemen zwischen Natur und Übernatur sehr verschieden ausfällt. Wir sehen, dass die Aussicht, aus Voreingenommenheiten nach unten (Organismus) und nach oben (Kultur, Religion) sich herauszuhalten, sehr gering ist. Was der Metaphysik als Residuum und als unaufgebbares Daseinsrecht zurückbleibt, ist aber die unbestreitbare Tatsache, dass menschliche Wirklichkeit, gemessen an allen anderen Tieren, eine Sonderstellung beanspruchen muss und daraus eine Erklärung oder Abgrenzung verlangt. Fürs Erste lässt sich sagen: Metaphysik ist naturale Reduktion. Es geht nicht um eine Meta-Physis im Sinne einer Jenseits- oder Über-Natur, es geht um menschliche Natur, die nur im Zusammenhang mit einem Artwesen verstanden werden kann.

2. Die rationale Reduktion Zumindest darf sich die naturale Reduktion auf eine unmittelbare Gegebenheit berufen, die vor der Wissenswelt als Verstehenswelt bestehen kann. Durch ihre Dimension Kultur unterscheidet sich die Menschheit von allem Tierischen. Andrerseits liegt dieser Kultur in ihrem ungeheuren Wandel als Geschichte ein einheitliches Naturwesen Mensch zu Grunde, welches danach verlangt, in sich selber erschlossen zu werden. Unser Weltbild besteht aus Verklammerungen von Verstehenswelt, Wissenswelt und Glaubenswelt. Dieser Complexus aus verschiedenen Beziehungen des Bewusstseins wird gerade dort am dunkelsten, wo die Übergänge der Welten sind. Die Übergänge der Verstehenswelt zur Wissenswelt können durchaus unsicher sein, sowohl hinsichtlich der Grenze wie auch unsicher in Bezug auf richtige oder falsche Erkenntnisse. Unser Bewusstsein gleicht in seinem Wissen einer Kugel. Im Inneren behauptet sich die Verstehenswelt, im Äußersten die Glaubenswelt. Unser Bewusstsein macht sich jedoch nicht nur aus dem reinen Wissen fest, weil es im Gemüt noch ganz andere Bezüge hat. Mittels dieser Bezüge, die sich überall einmischen, kann wiederum Äußeres mit Innerem verklammert werden. Desungeachtet bleibt im Inneren der Verstehenswelt ein Kern der Gegebenheiten, die so klar zu Tage liegen, dass wir unmittelbar auf sie bauen. Es sind die alltäglichen Erfahrungen, mit denen wir leben. Sie gehen uns so unmittelbar an, dass auch Theorien der Naturwissenschaften uns nicht unsi-



§ 1  Was ist Metaphysik?21

cher machen, wenn sie uns weismachen wollen, dass hinter dem offenbaren Anschein eine Krümmung statt einer Geraden steht. Mag die Physik uns Raum, Zeit, Schwerkraft so oder so erklären, für unseren Alltag genügt weithin eine vorphysikalische Unmittelbarkeit. Überall in unserem Alltag gibt es Gewissheiten, an denen wissenschaftliche Theorien zu Hinterwelten für Sonderlinge werden, die den Alltagsmenschen mit seinem Alltagsverstehen nicht im Geringsten berühren. Fassen wir jetzt einmal die Gegebenheiten zusammen, um Klarheit zu gewinnen. 1. Gegebenheit: Die Natur- und Kulturwissenschaften arbeiten mit einem gewaltigen Aufwand an Instrumentar und haben in vielen Geschlechterfolgen theoretisches Material aufgeschichtet. 2. Gegebenheit: Für die Metaphysik erreicht aber die gesamte Kultur nur den Wert einer Bezeugung. Sie schließt aus diesem Zeugnis, dass die Natur des Menschen nicht einfach in einem tierischen Organismus aufgeht. 3. Gegebenheit: Mit diesem Schluss schließt sich aber die Metaphysik sowohl nach ihrem Gegenstand wie auch nach ihrer Weise des Forschens (Methode) von allen anderen Wissenschaften aus. Ihr Gegenstand ist nicht so greifbar wie die Materie der anderen Wissenschaften, und so kann sie auch deren Arbeitsweise nicht anwenden. Aus diesen Gegebenheiten schält sich nun das Verhältnis des metaphysischen Bewusstseins zu seinem Gegenstand heraus. Nur es selber bleibt als Gegenstand zurück. Es hat sein eigenes Erkennen zu prüfen, wie weit dieses unmittelbar seiner gewiss sein kann. Das Besondere der menschlichen Natur kann sich nur an der Natur des Erkennens erschließen. Wie kommt Verstehen zu Stande? Zumindest schließen sich jetzt Arbeitsweise und Gegenstand zusammen, bzw. sie erhellen sich gegenseitig: Die Frage nämlich, wie Gewissheit zu Stande kommt, sucht sich von selber die Anfangsgründe zum Gegenstand. Die Natur des Erkennens erweist sich im Erkennen der Natur. Die Natur als Begriff des Erkennens ist der Anfangsgrund; Erkennen aber kommt durch die verschiedenen Weisen des Gegebenseins des natürlichen Gegenstands in seinen Kammern zur unmittelbaren Einsicht seiner eigenen Natur. Erkennen und Natur sind unter Ausschluss jeder anderen wissenschaftlichen oder kulturhaften Vermittlung unmittelbar aufeinander angewiesen. Dann bleibt nur noch die nähere Bestimmung der gegenständlichen Seite von Natur. Genau dieser Inhalt aber soll sich doch ganz von selber erstellen, wenn Erkennen feststellt, was in seiner Verstehenswelt die sichersten Grundlagen für alle weiteren Erkenntnisse abgibt. Dies heißt also, dass die

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1. Teil: Einleitung

naturale und die rationale Reduktion sich gegenseitig erschließen und sich so wechselseitig zum Gegenstand eingrenzen. Außerdem ist noch zu sagen, dass wir diese Reflexion in einer vorläufigen Gleichgültigkeit gegenüber der transzendentalen Reflexion durchführen dürfen. Es versteht sich jedoch, dass die rationale Reduktion sich ganz von selber zur transzendentalen Reduktion ausweiten, bzw. dass sie diese mit einbeziehen muss.

§ 2  Das Aufsuchen der Anfangsgründe Metaphysik versteht sich schlichthin als die Zurückführung menschlicher Wirklichkeit auf das Verhältnis von Natur und Erkennen. Die beiden Seiten erhellen sich wechselseitig zu vermittelter Unmittelbarkeit „in einer schon immer verstandenen Welt“.

1. Die vermittelte Unmittelbarkeit Das Bewußtsein entdeckt sich als Erkennen, dessen Natur es ist, sich am Anderen zu ur-teilen. Erkennen erfährt sich nicht als die gesamte Wirklichkeit, aber indem es sich ur-teilt, schließt es sich mit ihr ein. Es hat das Wundersame, dass es sich selber ur-teilt, indem es das Andere ur-teilt. Erkennen ist Ur-Teilen. Es ur-teilt die Weltgegebenheit, indem es sich selber als in Kammern gegeben unterscheidet. Jede Entdeckung einer neuen Kammer oder Zone in sich führt zu einer Zone oder Kammer am Anderen und umgekehrt. Selbsterkennen veranstaltet sich als wechselseitige Ur-Teilung von Erkennen und Anderem. Es ist in sich geur-teilt oder bezogen, und das Andere ist in sich geur-teilt und bezogen, und irgendwie ist im Bewusstsein noch mehr gegeben als nur Erkennen. Allein Erkennen vermag dieses „Ich bin“ als Ganzes zu vertreten gegenüber dem Anderen der Weltgegebenheit oder des Gegenständigen. Erkennen, dessen Natur sich als Ur-Teilen erweist, vertritt das Ganze, weil es die Ur-Teile auch wieder in sich zusammenschließt. Dies geschieht, indem sich Erkennen als ein innerster oder „höchster Punkt“ (Kant) erfährt, der als Spitze eines Lichtkegels diese wechselseitigen Ur-Teilungen in die Vorstellung zwingt. An diesem letzten Punkt ist also alles aufgehängt, und doch erkennt dieser letzte Punkt, dass er nicht die gesamte Natur ausmacht. Er aber ist die letzte und unmittelbare Gegebenheit Selbstbewusstsein oder Selbsterkennen. Jede äußere oder innere Anschauung, jede weitere Erinnerung erweist sich an diesem Punkt als ausgeschieden. Er ist die reine Beziehung zu sich



§ 2  Das Aufsuchen der Anfangsgründe23

selbst, die sich aber als Gesetz am Anderen erfährt. Alles Weitere ruht auf diesem Gesetzesgrund der Unmittelbarkeit, und alle Vermittlung, die Verstehenswelt, die Wissenswelt und die Glaubenswelt, kann diese Unmittelbarkeit überhaupt nicht durchbrechen oder hintergehen: Die Unmittelbarkeit von Natur und Erkennen. Der Anfangsgrund steht als unmittelbare Gesetzgebung in der Ur-Teilung, die eben darin auch wieder Zusammenschluss ist. Das Äußerste am Anderen erhält aus Erkennen sein Gesetz, und das Innerste im Erkennen erschließt sich ur-teilend in seiner Natur. Wie zeigt sich das Gesetz in seiner Fassung? Erkennen durchschaut seine Vorstellung als Ur-Teilung der Sinne. Der in den Sinnen gehaltene und somit geur-teilte Gegenstand erhält hinter den Sinnen eine Ergänzung aus der Erinnerung. Seine Einheit ist zusammengesetzt aus Natur des Erkennens. Erkennen durchschaut das Gesetzmäßige als seine eigene Fassung, und diese Fassung ist nicht aufhebbar in den Sinnen; sie ist aber aufhebbar in einem ergänzenden Erkennen. Allein die Einheit des Gegenstands hält sich durch und ergänzt sich, sie entsteht keineswegs aus der Aufhebung der Unterschiede in den Ur-Teilen. Die Unterschiede sind wechselseitig, und sie sind nicht aufhebbar. Das Gehörte und das Gesehene heben sich nicht auf, sie tragen nur bei zur erhöhten Einheit des Gegenstands. Mit der Natur des Erkennens ist Gesetz gegeben. Um anfangen zu können muss sich Erkennen nicht an den Quell der Kultur oder den Ursprung von Geschichte begeben. Erkennen entdeckt Natur als vermittelte Unmittelbarkeit, wobei auch Kultur allerorten und zu jeder Zeit vermitteln kann zu den Anfangsgründen. Dazu gehört die wohl wichtigste Vermittlung durch die Sprache. Zuvor aber wollen wir eine Gesetzmäßigkeit aufzeigen, die allem Aufbau von Wissen und Verstehen zu Grunde liegt. Erst sie macht uns die Sprache richtig verstehbar.

2. Die Trägerschaft und die Eigenschaft Erkennen entzündet sein Lichtlein am Einzelding, und schon daran erscheint die vermittelte Unmittelbarkeit als die in den Nebensachen sich erstellende Hauptsache. Erkennen lernt im Fluge die Einzeldinge nach ihrer Hauptsache oder ihrem Tragegrund und nach den Nebensächlichen daran zu ur-teilen, und dies geschieht zugleich als Vergleich. Das Kleinkind lernt sehr schnell, dass an seinen Spielsachen nicht die Farben, sondern die Formen das Hauptsächliche sind. Entscheidend dabei wird, dass diese Hauptsache durch ihre Vermittlung aus Nebensächlichem nichts zu unmittelbarer Wirklichkeit im Erkennen verliert. Damit ist der Grundstein zu allem Verstehen und Wissen gelegt. Hauptsache ist immer, was die erscheinenden Nebensächlichen zusammenhält. Hauptsache ist, was die Einheit

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1. Teil: Einleitung

ergibt. In einer Front der Anschauung nimmt Erkennen die Hauptsächlichen mit ihrem Nebensächlichen auf, und in der bunten Vielfalt an Eindrücken ordnet es nach diesem Schema in Vergleichen. Der erste und Grund legende Halt und Zusammenhalt ist in der Wirklichkeit als Anschauung aufgetaucht. Es ist der erste Vergleich in den unterschiedenen Einzeldingen. Das Hauptsächliche und seine Nebensächlichen ergänzen sich zum Einzelding. Das erste Grundgesetz ist als Hintergrundwissen aufgekommen. Die Einheit ist das allgemeine Gleichnis, darin sind sich alle Einzeldinge gleich. In seiner Offenheit nach innen, in seiner Natur zum Absondern hält Erkennen die Einheit, jedoch in der Unmittelbarkeit der Anschauung, fest; und dieses unmittelbare Gerüst aus der Anschauung wird ihm zum Urverhältnis, wonach sich Verstehen und Wissen in ihm aufbauen. Alles Wissen, welches ihm anschauungslos über die Sprache mitgeteilt wird, versucht es auf die Verstehensform zu bringen. Wissen sucht Verstehen, dies aber heißt für Erkennen: anschaulich gleich wirklich zu machen. Erkennen hat an der Anschauung eine Grundform des Wissensaufbaus gewonnen. Es weiß Nebensächliches am Hauptsächlichen aufzuhängen, und wo immer dieses Grundschema nicht stimmt, da verliert es den Zusammenhalt, die Einheit mit der Anschauung und der Wirklichkeit. Das Hauptsächliche ist die Trägerschaft, das Nebensächliche die an ihm haftende Eigenschaft.

3. Die Artgleichnisse Der Aufbau des Verstehens und des Wissens käme nicht weit oder würde sich schnell verflüchtigen, käme nicht noch ein Grundgesetz hinzu. Die Einzeldinge sind gesellig. Sie verhalten sich aus Natur so und dem entsprechend aus Kultur so. Es sind die Artgleichen. Das Artgleiche in den Arteinzelnen ist nicht weniger unmittelbar gegeben als das Hauptsächliche in seinen Nebensächlichen. Artgleiche sind Einzeldinge, die sich in Hauptsache und Nebensächlichem gleichen. Erst mit den Artgleichen verbreitet sich das Wissen, denn das Einzelwissen kommt vom Einzelding nicht los. Solange Erkennen in seiner naiven Geradehin-Einstellung (Husserl) verharrt, darf es seine Anschauung (und parallel die übrige Sinnenerkenntnis) als Weltwirklichkeit an sich annehmen. Da es uns fürs Erste nur darum geht, die Natur des Erkennens auszuleuchten in Bezug auf Gewissheit, dürfen wir im Rahmen dieser Voruntersuchung noch in der Gleichgültigkeit zwischen rationaler und transzendentaler Reduktion bleiben. Die unmittelbare Anschauung hat noch kein Wissen; dieses kommt in der Erinnerung auf, die aber im Artgleichnis die Unmittelbarkeit der Anschauung halten kann. Die sinnliche Erinnerung erweist sich als der große



§ 2  Das Aufsuchen der Anfangsgründe25

Vermittler hin und zurück zwischen dem Äußersten der Anschauung und dem Innersten, welches sich als Erkennen selber noch zum Gegenstand setzt. Wissen entsteht aus der Übertragung vom Einzelding auf weitere Dinge, auf alle Dinge. Es hält seine Unmittelbarkeit zur Anschauung vor allem aus den beiden Grundsätzen von Trägerschaft und Eigenschaften und den Artgleichen. Darin wird es nie enttäuscht; es ist sein Grundwissen an der Natur. Damit setzt Erkennen im Grundwissen seine vermittelte Unmittelbarkeit fort: Die Natur des Erkennens weiß sich als das Erkennen der Natur. Das Wissen kommt in der Einkehr zur Erinnerung zu Stande, diese aber weiß sich (oder wähnt sich) als Gleichnis zur Natur gegenüber. So möchte man doch sagen: Indem Erkennen sich zurückzieht in seine Innerlichkeit und vielleicht seine Gesetzesnatur, wird das Wissen in seiner Unmittelbarkeit nicht unterbrochen und so zum Verstehen der Natur. Damit wären doch die Zweifel und Ängste um den Anfang und die Gewissheit seiner Unmittelbarkeit beseitigt. Mit Augustinus, dem sich hier auch Husserl anschließt (Cartesian. Meditation, Nr. 5, Schlusswort), könnten wir dann sagen: Noli foras ire, in te ipsum redi; in interiore homine veritas habitat. Allein dieses schöne Einvernehmen, welches uns das Wissen in seiner Allgemeinheit auch zur Unmittelbarkeit verklammern würde, wird jäh durchbrochen durch die Gattung, die als nächste Ebene hinter der Art auftaucht.

4. Die Gattung, der Verlust der Unmittelbarkeit Wir stoßen jetzt auf ein Paradoxon. Die Festigkeit unseres Wissens gründet zunächst an der eigenen Erfahrung an Ort und Stelle. Wissen aber entsteht erst, wenn wir daraus einen allgemeinen Gehalt als Brücke zum Vergleich in einem anderen Fall gewinnen. Und so baut sich unser Wissen zu immer allgemeineren Vergleichen auf. Damit aber entfernen wir uns immer weiter vom Boden der Erfahrung. Wird aber damit unser Wissen immer tragfähiger, überzeugender, oder wird es immer verschwommener und weniger vertrauenswürdig? Aus vielen beobachteten Einzelfällen haben wir uns das Gleichnis Haussperling gebildet. An diesem Pol der Erfahrung ist alles fest: Unsere eigene Erfahrung schließt sich einer Festlegung der Gesellschaft an und bestätigt sie. Das Gleichnis Sperling aber gibt es so in der Wirklichkeit schon nicht mehr, erst recht nicht das Gleichnis Vogel oder gar Wirbeltier. Dennoch haben wir ein festgefügtes Wissen, das keineswegs verschwommener wird, weil ich gar nicht erwarte, dass es die Familie, die Gattung, die Ordnung so in der Wirklichkeit gibt wie den Haussperling; und ich weiß auch, dass es auch für die anderen den Sperling und den Finken nicht gibt. Die Ord-

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1. Teil: Einleitung

nung des Wissens wird damit nicht baufällig; ich und andere können sie nachvollziehen! Bringe ich aber den Feldhasen und den Borkenkäfer auf eine Ebene und unter das Gleichnis Nagetier, so beginnt eine schiefe Sicht, weil ich falsche Vergleiche ziehe. Ähnlich verhält es sich auch in anderen Bereichen des Wissens. Mit den Vergleichen fügt unser Erkennen Stein auf Stein in die Höhe und in die Breite, und es baut feste Brücken des Verstehens. Die Festigkeit seines Wissensgebäudes ist der Zusammenhang, der aber entsteht aus den Gleichnissen oder Vergleichen, die das Erkennen herausholt aus der Vielfalt seiner Begegnungen. Nur so fügt sich das Wissensgebäude, dass eben Erkennen immer wieder das Gleiche herausholt aus den Eindrücken und das Zufällige absondert. Gewiss hat es Gleichnisse vom Zufälligen, z. B. den Farben. Aber das blaue Haus und der blaue Turm bilden nicht das Gleichnis, welches hier verbindet, sondern das blaue Haus und das grüne Haus bilden das Haus als das den Grund legende Wissen und so fort. Nur diese Fähigkeit des Erkennens, das jeweils Grundlegendere als Gleichnis herauszuholen, macht alles so fest. Erkennen vollzieht seine Natur; es kommt zu sich, und es ruht in sich. Wo es das blaue Haus und den blauen Turm unter dem Blau als dem Grundlegenden zusammenfasst, verliert und verwirrt es sich im äußeren Taumel. Es folgt nicht seiner inneren Natur. Das Wissen hinter den Artgleichnissen enthüllt sich als Gattungswissen; seine Allgemeinheit geht auf Kosten der unmittelbaren Sicherheit des Grundes. Was sich am Beispiel der biologischen Systematik wie ein Baum von den Zweiglein zum Stamm hin abzeichnet, verhält sich in Theorie und Praxis weitaus verwickelter. Das Gattungswissen tritt in ein vielseitiges Verhältnis von Bezügen zueinander, außerdem sind es verschiedene Ebenen des Allgemeinen, die ein festes Wissen zusammentragen sollen.

§ 3  Der Raum und die Zeit 1. Der Raum Erkennen hat in der Gattung seine eigene Ordnungshilfe eingesehen; es wendet sie unter Vorbehalt an die Wirklichkeit. Indem es sie durchschaut in ihrer einsamen Einkehr zu sich, gewinnt es zwar die Unmittelbarkeit nicht zurück, aber es fällt auch nicht in eine Täuschung. Die Anschauungswelt und die Wissenswelt dahinter brauchen weitere Verfugung und Verklammerung, die in ihrer Unmittelbarkeit von außen nach innen zu durchgehenden Trägern werden. Die Architektur des Wissens zeigt diese Welt als ein Verwachsenes aus wirklicher Sinnenwelt und unwirklicher Wissenswelt. Dabei entdeckt Erken-



§ 3  Der Raum und die Zeit27

nen, dass Raum und Zeit eine allumfassende Rolle in der Verfugung von Wissenswelt und Anschauungswelt haben. Die unwirklich gegebene Wissenswelt der Vergleiche und die wirklich gegebene Sinnenwelt der Erscheinung kommen dem Erkennen nur deshalb so verwachsen vor, weil Raum und Zeit sie innig zusammenschweißen. Der Raum ist das Grundlegendste in meiner Sinnenwelt. Das Gesicht, das Gehör und sogar das Getast haben eine Raumvorstellung, was nur seine allgemeine Zuständigkeit bezeugt. Aber ist der Raum deshalb der allgemeinste Vergleich? Ich kann vom Raum kein Gleichnis bilden wie von den Gegenständen. Alle meine Gleichnisse entstehen im Raum; er ist die Grundbefindlichkeit der wirklichen Sinnenwelt schlichthin, und gerade deshalb kann ich ihn nicht vergleichen. Er ist das, was immer übrig bleibt, wenn alles Sinnenfällige ins Gleichnis gebracht ist; er ist der Zusammenhang an sich. Alle Gleichnisbildung, alle Verklammerung und Überbrückung meiner Architektur des Wissens kann nur geschehen, weil der Raum selber die Vermittlung bleibt zwischen den sinnlichen Wirklichkeiten und ihren Wissensvergleichen. Gerade weil der Raum nicht in den Vergleich meines Wissens eingeht, sondern als Haftzone, als unvergleichlicher Zusammenhang zurückbleibt, kommen meine Wissensvergleiche und meine Sinnendinge zusammen in eine Welteinheit. Alle Vergleiche vom sinnlich Gegebenen halten nur stand, weil der Raum nicht auch noch in den Vergleich geht wie die anderen Dinge. Er kann in den Dingen nicht mehr weiter zurückgeführt werden, und gerade deshalb muss das Wissen der Vergleiche an ihm den Einheitsgrund und die Schnittstelle mit der sinnenhaften Wirklichkeit finden. Der Raum ist das Unvergleichliche und deshalb die unbedingte Übereinstimmung oder Wahrheit zwischen der sinnenhaften Wirklichkeit und der wissenhaften Unwirklichkeit. Erst der Raum überzeugt das Wissen in seiner Abgeschiedenheit vom Wirklichen, dass es auch dort angekommen ist; und es trifft endlos, grenzenlos zu, weil der Raum keine Grenzen hat. Es überzeugt sich nicht mehr an den Dingen, so würde es nie an ein Ende und an eine Wahrheit als Über-Zeugung kommen. Das wissende Erkennen macht den Raum zu seiner eigenen Anschauung und damit zu seiner eigenen Gesetzmäßigkeit. Dieses unwirkliche Wissen schreibt der Wirklichkeit den Raum als Gesetzeswahrheit vor. Das Allgemeine der Sinnenwirklichkeit erhält vom Wissen den Gesetzescharakter. Darin liegt die Verschweißung im Erkennen: Es ist gleichgültig, ob das Erkennen in seine Innerlichkeit blickt, wo es die unwirklichen Begriffe hortet, oder ob es auf die Szene der Wirklichen in der Anschauung seinen Blick richtet. Im Raum begründet sich beides zur Wirklichkeit an sich. Erkennen hat seine erste Reduktion vollzogen, Selbsterkennen in seiner Gleichgültigkeit nach innen und außen. Der Raum als Brücke und als un-

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1. Teil: Einleitung

endliche Tragweite. Erkennen würde mit seiner Beispielsammlung nie an ein Ende und damit auch nie zu einer Wahrheit über das Sinnliche hinauskommen. Denn dieses reicht nur für das Gleichnis. Damit aber ist ein neuer Zug in dieser Innerlichkeit des Erkennens zum Vorschein gekommen. Die Erinnerung sammelt nicht nur zum Vergleich einer Begriffsbildung. Die Vermittlung des Raumes in seiner Unvergleichlichkeit hat aus dieser Erinnerung ein Gesetz hervorgerufen. Der Raum hat es zum Eingreifen gebraucht, aber das Gesetz kam aus dem Inneren der Erinnerung. Es ist nicht aus der sinnenhaften Wirklichkeit und auch nicht aus den Vergleichen als letzter Vergleich aufgekommen. Darum ist es auch nicht der Raum an sich, es ist die Wahrheit des Raumes als absolutes Gesetz. Erkennen erweist sich als ein Durchgang von drei hintereinander gelagerten Räumen. Die letzte Kammer hat sich als die gesetzgebende enthüllt. Erkennen trägt in sich eine Gesetzgebung, die nicht einfach aus der Häufigkeit der Gleichnis- oder Begriffsbildung abgeleitet werden kann. Auch wenn dieses Gesetz nur den Raum als unbedingte Wahrheit vorschreibt. Es zwingt alle Dinge endlos. Darin ist es ohne Grenzen, also überall zuständig. Der Raum ist die allgemeine Wahrheit der Sinnendinge. Verfassung an sich oder Anschauung, dies ist wiederum gleichgültig in der rationalen Reduktion.

2. Die Zeit Parallel zum Raum als äußere Anschauung nennt Kant die Zeit eine innere Anschauung. Dieser Fehlgriff liegt jedoch im Gefolge des rationalen Bewusstseinsbegriffs, welcher die Emotio der Ratio von Aristoteles bis Husserl untergeordnet hat. Die Zeit ist nicht wie der Raum im Erkennen (Cognitio) gegeben, sondern im Gemüt (Emotio); und deshalb ist sie ganz anders gegeben. Alle meine Raumvorstellungen, alle meine Erkenntnisse werden vom Erlebnis der Zeit begleitet, aber nirgendwo kann ich die Zeit in einer Anschauung oder Vorstellung wahrnehmen. Der sogenannte Wandel der Zeit bleibt immer eine sinnenfällige Vorstellung. Nun hat aber die Zeit mit dem Raum eines gemein. So wie meine ganze sinnenhafte Erkenntnis den Raum als letzten und unvergleichlichen Grund voraussetzt, so erlebe ich im Gemüt die Zeit als letzten Grund, auf den mein Bewusstsein zurückgeführt wird. Und so hat man immer Raum und Zeit wie aus einer Kegelspitze des Bewusstseins entspringen lassen, nämlich in Missachtung, dass mir Bewusstsein in zwei von Grund auf verschiedenen Weisen gegeben ist. Da ich dies unmittelbar einsehe, gehört diese Erkenntnis vorab zur rationalen Reduktion.



§ 3  Der Raum und die Zeit29

Damit schließt sich erst mein Bewusstsein von der Welt als Raumzeit. Die Erinnerung in mir, welche die Vergleiche und ihre Gleichnisse (Begriffe) erstellt, erlebt die Zeit als unvermeidlich, so wie sie den Raum als unverzichtbar in ihrer Vorstellung hat. Die Raumvorstellung hat in meiner Erinnerung eine Gesetzmäßigkeit zum Eingreifen gebracht: Bei allem Wandel der Dinge ist der Raum ihre wandellose, endlose, unendliche Wahrheit; daran wird alles gemessen, er ist unermesslich, aber allgemein gültig. So wie ich aber in der Einheit meines Bewusstseins Erkennen und Gemüt, noch enger gefasst Verstand und Wille, gar nicht trennen kann, so erfahre ich Raum und Zeit als die Einheitsverfassung alles Wirklichen in seiner Gleichgültigkeit zwischen mir als Ich-Pol oder Bewusstsein und der Welt als an sich mit mir. Was mich in meiner rationalen Reduktion am allerwenigsten zu kümmern hat, sind die Theorien der modernen Physik über Raum und Zeit. Die Gesetzgebung sagt mir, dass Raum und Zeit gleichermaßen überall und jederzeit, ohne Lücken, ohne Verbiegungen und ohne Abänderung ihrer Verfassung zuständig sind. Auf diese gesetzgebende Überzeugung meines Bewusstseins baut sich meine Erwartung für die Zukunft, meine Bewahrung des Vergangenen. Die Einheit der Zeit, die Einheit des Raumes, die Einheit der Raumzeit, dies ist die erste Gewissheit des wachen Bewusstseins, die Grundlage für jede weitere Gewissheit. Hier leben unmittelbare Gewissheit und unmittelbare Einsicht noch aus einer unmittelbaren Einheit von Anschauung, Erlebnis und Denken. Ich bin mir gewiss, dass diese Gewissheit niemals und nirgendwo erschüttert wird; und diese Gewissheit hat jede andere Theorie über Raum und Zeit als weltfremd schon längst unterlaufen.

3. Die Gewissheit der Raumzeit Nur eine schlechte Philosophie kann sagen, dass jeder Anfang willkürlich sei, weil wir nicht zurück können zu den Quellen des Wissens. Die Gewissheit von Raum und Zeit verbindet mich mit allen Ereignissen der menschlichen Geschichte so, dass ich zumindest in Bezug auf diese dort sein kann wie am Quell des Ereignisses. Dies besagt nicht viel, die Ereignisse könnten völlig gefälscht zu mir kommen. Aber der Rahmen der Raumzeit lässt in mir eine Gewissheit entstehen, mit der ich mich an jeden Ort und an jede Zeit versetzen kann wie an den Quell selber; und sie schafft überdies eine Grundlage in mir, mittels derer ich das Gesicherte vom Ungesicherten abscheiden kann. Es ist die alltägliche Erfahrung der Raumzeit, auf Grund derer die Gesetzgebung in meiner Erinnerung der Weltwirklichkeit ein ehernes Schema vorschreibt. Wiederum ist es die Gleichgültigkeit der ratio­ nalen Reduktion: Ich kann nicht an den Ursprung des Raumes und der Zeit;

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1. Teil: Einleitung

ich muss auch dort nicht hin, um anfangen zu können. Ich habe ebenso den Quell in mir. Es ist also nicht nur meine Raumvorstellung und mein Zeit­ erleben, die sich zur Raumzeit an sich setzen oder schlagen. In diese sinnenhafte und gemüthafte Gewissheit drückt erst das Gesetz aus meiner Erinnerung sich als Allgegenwart, als Wahrheit der Raumzeit. Die Einheit der Anschauung und des Erlebens trifft sich mit dem Gesetz(mäßigen) der Erinnerung in der sinnlichen Erinnerung. In ihrer Einzigartigkeit werden Raum und Zeit das Einzige, welches eine unmittelbare Brücke zwischen der unsicheren Wissenswelt der Gattung und der Anschauung abgeben kann.

§ 4  Die Überzeugung der Sprache Ob wir in der Sphäre des Bewusstseins bleiben, oder ob wir als Realisten an einer Welt an sich nicht zweifeln, die Kultur hat in jedem Falle ihre gegenständliche Seite; und so ist sie immer als Gemächte des Bewusstseins entstanden. Sie mag mit der Anfertigung von Jagdwaffen, mit dem Grabmal, mit dem Mahl und mit der Züchtung von Tieren und Pflanzen begonnen haben. Im ersten Fall hat der Mensch Werkzeuge als Kunstwesen geschaffen, im anderen Fall hat er der Natur nachgeholfen; Kultur in unmittelbarster Nähe von Natur. Einzigartig jedoch bleibt immer das Zeugnis der Sprache, weil nichts im menschlichen Bereich die Unmittelbarkeit und Einheit von Natur und Kultur so sehr erreicht wie sie. Die Sprache ist ein Ereignis des Bewusstseins, darum hat der Transzendentalphilosoph keine Probleme, seine geschlossene Sphäre damit zu behaupten. Intersubjektivität lässt sich auf Grund der Sprache im Rahmen des Transzendentalismus erklären. In der Sprache äußert sich am Unmittelbarsten, dass sich die Natur des Menschen nur in der Kultur schließt. Und doch ist Sprache die Natur, aber in den Worten steckt schon die Kultur. Nicht genug damit, die Sprache hat sich in der Schrift ihre ebenbürtige oder gleichrangige Abbildung im Gegenständ­ lichen geschaffen. Schrift also ist längst Kultur. Eine bemerkenswerte Paradoxie waltet nun dennoch in der Unmittelbarkeit von Natur und Kultur der Sprache, und sie zieht sich wie ein gestörter Frieden durch die Kulturen: Die Unverständlichkeit der unzähligen Fremdsprachen. Sehen wir einmal ab von diesem Befremdenden an der Sprache, dann bemerken wir, dass die Sprache in ihrer inneren Form, nämlich dem Satzbau, sich als eine Abbildung des Denkens erweist. Was ihren Wortschatz betrifft, so bemerken wir, dass alle Kammern und Zonen des Bewusstseins insgesamt ihre je eigenen Ausdrücke oder Beziehungen zu den Wörtern haben. Die Sprache folgt in ihrer Ordnung dem Erkennen, welches nur eine Zone des Bewusstseins ausmacht. In ihren Worten aber versorgt sie



§ 4  Die Überzeugung der Sprache31

das ganze Bewusstsein, nämlich Erkennen und Gemüt mit Ausdrücken. Wir bemerken an der Sprache eine innere Ordnung, eine Form oder eine Natur und eine Wortwahl, eine Materie, eine zufällige Entsprechung zwischen dem Wort als Lautzeichen und dem gemeinten Gegenstand. Dieses Wenige, das sich leicht nachprüfen und bestätigen lässt in seiner Richtigkeit, soll uns nur aufmerksam machen auf die Tatsache, dass sich im Erkennen eine Natur und nicht Kultur wiederfindet. Was die Sprachen unverständlich macht, ist nicht ihre innere Gesetzmäßigkeit, darin stimmen sie alle überein. In ihrem Abbildungsgesetz folgen die Sprachen jener Zone im Erkennen, die wir Denken nennen. Gewiss verhält sich die Sprache zum Erkennen wie die flächige Abbildung eines Raumes, wie das Bild zu seiner abgebildeten Landschaft. Aber die Sprache hat die Fähigkeit durch viele Sätze, gleichsam durch viele Abbildungen den einen Sachverhalt dennoch wieder räumlich zu machen. Damit aber hält sich die Sprache in der innersten Einheit mit dem Erkennen. Was ich erkenne, kann ich auch mitteilen und umgekehrt. Alle Kultur kommt in der Sprache auf die menschliche Natur zurück. Mag sich Kultur entfalten, mag sie sich entfremden von der Natur, und mag sie verkommen. Sie entkommt niemals ihrer Natur, weil diese ihr im Erkennen in besonderer Unmittelbarkeit gegeben ist. Darum bleibt die Sprache ein unmittelbares Zeugnis der übereinstimmenden Gewissheit unter den Menschen, weil sie der Natur des Erkennens unmittelbar folgt. Die Philosophen und Gelehrten können irren, die Menschen sind zerstritten, weil sie selbstsüchtig sind; die Natur mag in jeder Wissenschaft und Ethik anders begriffen sein. Sie alle sind zerstritten auf der Grundlage der Sprache, und sie kann nur Abbild sein der wahren und objektiven Natur des Menschen. Die Überzeugung Sprache enthält weit mehr als die Übereinkunft am handgreiflichen Werkzeug. Sicherlich baut sich das Wissen von solchen Werkzeugnissen her auf, und die Uneinigkeit über das höhere Wissen und den Modus der Verklammerungen ist in der Erkenntnistheorie schon beispielhaft. Die Logik der Sprache ist das Gleichnis einer Ontologik der Natur, weil sie dem Erkennen, nicht dem Bewusstsein insgesamt in ihrer Ordnung folgt. Mehr als eine Gesetzmäßigkeit ist damit noch nicht ausgesprochen, es ist ein Formgehalt noch ohne Inhalt. Es wäre schön, wenn die Philosophen wenigstens darin übereinstimmen würden. Wenn sich die Sprache zum Erkennen wie die Fläche zum Raum verhält, so hätte doch Erkennen einen Vorbehalt, und die Sprache wäre doch eine Abflachung von Erkennen. Wir haben jedoch gesagt: Was erkennbar, ist aussprechbar, und umgekehrt. Wie also kann über Erkennen die Unmittelbarkeit der Natur in der Sprache mitgeteilt werden? Tatsächlich haben die

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1. Teil: Einleitung

Positivisten die Sprache geschmäht und verleumdet, indem sie diese Flachheit der Sprache gegenüber der Raumfülle des Erkennens und seiner Logik als Versagen und als Uneindeutigkeit hingestellt haben, womit Metaphysiker dann ihre haltlosen Spekulationen behalten dürften.1 An der Sprache kann dies nicht liegen. Der Satz: das Pferd hat Hunger, stimmt mit dem Erkennen überein und ist sprachlich richtig. Der Satz: der Hunger hat Pferd, ist formal richtig, erkenntnismäßig ein Unsinn. Allein Erkennen treibt den Unsinn selber an der Sprache und durchschaut ihn auch. Gerade dieser Formalismus der Sprache, die Abflachung gegenüber dem räumlichen Mehrgehalt im Erkennen, macht aber die Sprache erst wendig genug, um diesen Mehrgehalt doch noch in der Sprache mitzuteilen. Sie wendet sich damit nicht ab von ihrem logischen Ursprung, sie wendet sich vielmehr mit diesem Formalismus assymptotisch an die Unmittelbarkeit des Erkennens zurück. „Das Individuum ist so nicht aussagbar wie es erkennbar ist.“ So sagt die Erkenntnistheorie. Denn jedes Wort ist eine Abstraktion. Dieses Individuum steht als ein Ding (oder Seinsgrund) in meiner Anschauung und trägt Eigenschaften, also das alte Verhältnis von Substanz und Akzidenz. Dem entspricht in sprachlicher Ordnung Satzgegenstand (Substanz) und Satzaussage (Akzidenz). Der Formalismus der Sprache koppelt sich jedoch von der Anschauung ab und kann nun auch das zufälligste Merkmal am Dinggrund in der Anschauung als Satzgegenstand behandeln, so als sei eine zufällige Farbe vom selben Rang in der Anschauung wie das Ding überhaupt. Wer in einer solchen „logischen Analyse der Sprache“ ihr Versagen als Mehrdeutigkeit verwirft, hat nichts begriffen von ihrer Vorzüglichkeit. Denn die Sprache wendet sich von der Anschauung zurück zum Denken als ihrem natürlichen Gesetz und „überwindet“ gerade dadurch die Sprödigkeit ihrer sinnenhaften Materie. Der Logik der Sprache fehlt es keineswegs an Eindeutigkeit. Auch sie erweist sich noch als eine Ausführung jenes innersten Erkennens, dessen Natur es ist, alles andere, auch seine eigene sinnenhafte Anschauung zu ur-teilen. So wird die Sprache als Verlängerung dieser Ur-Teilung nach außen gerade wiederum zur rationalen Reduktion in einer Unmittelbarkeit zu ihrer eigentlichen Natur, so dass die Vermittlung über die Worte und alle sinnenhafte Erkenntnis darin sich wieder aufhebt. Auch an der Sprache vernehmen wir also ein Urverhältnis von Natur und Kultur, von Gesetz und Freiheit. Ihr Formalismus folgt dem Gesetz des Denkens, in ihrer Wortwahl gehorcht sie der Freiheit der Kultur. 1  So Rudolf Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. In: Metaphysik. Hrsg. von Georg Janoska. Wiss. Buchges. 1977. Hierzu vom Verf.: Anmerkungen zu Carnaps „Überwindung …“. In: Wissenschaft und Weisheit. 55 (1992) 1.



§ 4  Die Überzeugung der Sprache33

Es versteht sich nicht als eine Paradoxie, wie wir sie im Fortschritt von Kulturgeschichte entdecken können. Es zeigt sich wieder Aufschluss der Natur in Absonderung von Kultur, Gesetz als Voraussetzung von Freiheit: Die Sprache als das Äußerste am Bewusstsein folgt unmittelbar, sagen wir ruhig a priori, dem Innersten im Erkennen. Damit aber ist die erste Gewissheit in unserem Erkennen gegeben. Die äußerste Erfahrung im Bewusstsein führt in die tiefste Erinnerung. Die Überzeugung beginnt mit der Übereinkunft des Wortlauts zu dem gemeinten Gegenstand; so entstehen Wissen und Gewissheit von außen her. Aber Erkennen ist Natur oder folgt einer Natur. Was wir allgemein als Natur erfahren, ist nicht eine Ansammlung von Häufigkeit, sondern ein Formgesetz. So viel ist sicher: Der Streit um die Theorien könnte nicht stattfinden, gäbe es keine natürliche Übereinkunft a priori; sie ist so unmittelbar, dass keine Theorie dazwischenkommen kann. Es ist das Natürliche. Rationale Reduktion vollzieht sich im Auffinden des Natürlichen, im Selbst-Erkennen. Nach dem Mythos von Babel bauten die Menschen, übermütig geworden durch ihre technischen Fähigkeiten, einen Turm in den Himmel. Sie hatten offenbar ihre natürlichen Grenzen nicht mehr in Erinnerung, und Gott verhinderte ihren Fortschritt, indem er ihre „Verständigung“ zunichte machte. Aber er verwirrte nicht die innere Architektur der Sprache, sondern nur deren Bausteine; und also ging es mit dem Turmbau nicht mehr voran. Es war demnach die Kultur, die sich zerstritt; keineswegs ging der Verstand und die Logik der Sprache in die Brüche. Über der Zerstrittenheit der Kulturen trübte sich allmählich auch die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur. Die Menschen erinnerten sich in der Verschiedenheit ihrer Gesellschaften nicht mehr, dass sie von gemeinsamer Natur waren. Sie suchten den Verstand in der Verständigung, und so kam es zum Streit der Theorien, und so splitterte die Natur in den Kulturen. Aber die Sprache ist schon immer vor allen Theorien, weil sich in ihr trotz der Sprachverwirrung die Denknatur ausspricht. Es ist die Natur dieser Denknatur, dass ihre Unmittelbarkeit aus der Sprache vermittelt werden muss. Sie tut es, ob alle Welt eine Sprache hat, oder ob es viele Sprachwelten gibt. Was sich ausspricht, ist das Urverhältnis von Natur mit ihrer unmittelbaren Bestimmung zur Kultur, wandelloses Gesetz im wählerischen Spiel der Freiheit. Die Sprache als unumstößliches Denkmal von Unmittelbarkeit, allein in Notwendigkeit zur Erfahrung. Vor aller Philosophie ist uns Erkennen in einer gesetzmäßigen Rahmenbedingung gegeben; als eine Theorie der Natur in praxi und a priori, die in verschiedenen Weisen zu einer vermittelten Unmittelbarkeit führt. Das „transzendentale Schema“ (Kant) der Raumzeit vermittelt zunächst einmal zwischen Anschauung und Erinnerung, nicht so sehr zwischen Anschauung

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1. Teil: Einleitung

und Denken. Die Sprache dagegen würde sich selber abblocken, würde sie der Unmittelbarkeit der Anschauung folgen. Die Sprache löst in ihrem scheinbar willkürlichen Formalismus sogar die Grundsätze der Anschauung auf, nämlich die Trägerschaft mit ihren Eigenschaften und die Erscheinung in den Artgleichen. Die gesamte Architektur der Anschauung wird wieder aufgehoben. Allein darin gewinnt sie ihre höchste Mitteilungskraft. Sie überbietet die Vermittlung der Raumzeit, indem sie sich auf die Ordnung der innersten Gesetzmäßigkeit zurückführt. In einer Hinsicht löst sie die Grundsätze der Raumzeit oder der Anschauung auf. Sie tut es, weil ihr die Vermittlung der Raumzeit nicht weit genug einkehrt zu jenem „höchsten Punkt“, der alles in die Reflexion setzt. Sie bezeugt also in dieser Auflösung der Anschauung, dass sie einer anderen Ordnung gehorcht und dass diese Ordnung „hinter“ der Raumzeit steht, vielleicht erhaben ist. Damit bezeugt sich die Sprache gerade als unmittelbarer Ausdruck dieser innersten Ordnung, und sie vermag so durch ihre Umschreibung der Anschauung sich assymptotisch der inneren Ordnung zu nähern. Andrerseits lässt sich die Sprache in ihrem Freiheitsgrad leicht von beiden Seiten her berichtigen, wenn sie einen losen Formalismus treibt. Zu all dem verbindet die Sprache diese innerste Ordnung des Erkennens (Denken, Logik) mit allen Bereichen, Ebenen, Zonen des Bewusstseins überhaupt, indem sie zu jeder dieser Abteilungen Worte prägt, die jeweils den Bezug von dieser Erfahrung her verraten. Die Sprache in ihrem Satzbau einerseits, in den Einteilungsgründen ihrer Wörter nach den Bereichen des gesamten Bewusstseins andrerseits gibt den besten Aufschluss zur Natur des Bewusstseins. Das Äußerste unseres Bewusstseins, nämlich eine tierische Lautäußerung, spiegelt feinnervig seine Architektur wieder, weit besser als eine Sprachphilosophie, die bei aller Gelehrsamkeit keinen gesunden Menschenverstand mehr hat.

§ 5  Die transzendentale Reduktion 1. Das Bewusstsein in der transzendentalen Reduktion Die rationale Reduktion in ihrer Gleichgültigkeit zwischen Sein an sich und Bewusstsein für sich darf sich der Herausforderung seitens der transzendentalen Reduktion nicht verweigern. Denn diese liegt auf dem Weg ihres Fortschritts, und solange sie sich mit dieser nicht auseinandersetzt, wird sie nicht mehr weiterkommen. Der naive Realismus ist der natürliche, so lange der Widerspruch nicht erscheint. Noch immer ist Kant die unbewältigte Vergangenheit der Metaphysik, und darin ist die Metaphysik selber Vergangenheit. Aber Metaphysik ist



§ 5  Die transzendentale Reduktion35

unsterblich, und deshalb muss sie sich mit der Transzendentalphilosophie auseinandersetzen. Denn der Transzendentalismus ist eine Denkmöglichkeit, und deshalb kann er nur anregend für die Metaphysik sein. Er ist genau jene Möglichkeit, die sie noch nicht eingeholt hat, und eben deshalb kann sie nur Fortschritte machen, wenn sie ihn als Phase des Durchgangs annimmt. Bis jetzt hat die Metaphysik nur versucht, den Transzendentalismus wie eine Trutzburg zu beseitigen. Von außen geht das nicht, und daran ist sie selber rückständig geworden. Sie hat seine wertvollen Angebote nicht angenommen, derer sie zu ihrem Neubau, Weiterbau und ihrer Neubegründung bedarf. Der Aufschluss liegt in der transzendentalen Reduktion; die rationale Reduktion holt erst dann ihre letzte Denktiefe ein, wenn sie sich selber in diese Sphäre der Geschlossenheit des Bewusstseins einkerkert. Es ist eine unmittelbare Gegebenheit, dass alle meine Erlebnisse und Erkenntnisse eine Leistung meines Bewusstseins sind. Aus dem Denken lässt sich so wenig wie aus der Sprache ein Sein an sich ableiten. Die Auseinandersetzung mit dem Transzendentalismus ist eine methodische Notwendigkeit. Weil die transzendentale Reduktion aber die letzte Einholung der rationalen Reduktion bedeutet, muss der Metaphysiker sich in diese selber begeben. Dies ist der springende Punkt, vor dem man sich fürchtet; es hilft aber alles nichts. Der Metaphysiker muss sich dem methodischen Zweifel unterziehen. Wenn der Realismus die bessere Philosophie ist, wenn er die Natur des Erkennens und das Erkennen der Natur besser versteht, dann muss es auch einen Weg der Vermittlung aus dieser Selbsteinkerkerung heraus geben. Auf beiden Seiten bestehen Einwände und Vorurteile, die letztlich nicht Stand halten. Der Realist meint, er könne sich nicht der transzendentalen Reduktion unterziehen, ohne sich selber zu verlieren. Husserl dagegen behauptete, man könne sie nicht vollziehen, ohne die Hoffnung aufzugeben jemals wieder herauszukommen. Darin behauptet sich der Irrtum und der Stillstand der Metaphysik heute.

2. Schopenhauer und Husserl Ohne transzendentale Reduktion geht heute nichts mehr in der Metaphysik, weil erst mit ihr Erkennen die letzte Ur-Teilung, die letzte Möglichkeit von Selbst-Erkennen eingeholt hat. Descartes hat den methodischen Zweifel am Bewusstsein selbst vollzogen, nur dass sein „Cogito, ergo sum“ den Zweifel nicht ausräumen kann. Durch Descartes, Kant und Husserl wurde das Bewusstsein in seiner Bedeutung als Baugrund einer Metaphysik erst zum Gegenstand. Trotz dieser Wende verbindet sie aber mit den alten Me-

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1. Teil: Einleitung

taphysikern jene Einstellung zum Bewusstsein, die für die abendländische Philosophie so maßgeblich geworden ist. Wir reden vom rationalistischen Bewusstseinsbegriff, der bei Aristoteles seinen Anfang nimmt und in der Transzendentalphilosophie Husserls sein Ende findet. Kennzeichnend für dieses Modell von Bewusstsein ist das Monopol der Ratio, weiter gefasst der Cognitio, gegenüber einer untergeordneten Emotio als Gemütsgrund. Da wir zu diesem Thema in einer anderen Schrift ausführlich mitgeteilt haben, ersparen wir uns hier lange Wiederholungen.2 Dass jede Reduktion als Reflexion der innersten Anlage im Erkennen durchgeführt wird, bleibt mir als letztes Urteil zurück, hinter das ich nicht weiter zurückgehen kann. Es ist aber durchaus nicht so selbstverständlich, dass dieser innerste Punkt dann auch allein als Objekt und Monopol meines Bewusstseins zu setzen ist. Die abendländische Philosophie hat jedoch überwiegend diesem Rationalismus gehuldigt, und er hat schließlich zur Einseitigkeit der Transzendentalphilosophie geführt. So sehr die Transzendentalphilosophie auch jene letzte Folgerichtigkeit eingeholt hat, welcher der metaphysische Realismus sich nicht gestellt bzw. nicht ausgeliefert hat, es bleibt dennoch die naive Gewissheit zurück, dass diese Philosophie auf eine unerträgliche Verflachung an der Tiefe der Wirklichkeit hinausläuft. Nur darf auf dieser naiven Basis heute keine Metaphysik mehr entwickelt werden. Es ist wohltuend, dass wir bei dem Weg, den wir einschlagen, uns nach einem so berühmten Wegweiser wie Schopenhauer richten dürfen. Andrerseits pflegte Husserl zu sagen, dass die transzendentale Reduktion „mit einem Schlage“ vollzogen werden könne. Denn dies ist offensichtlich: Mein ganzes Bewusstsein in all seinen Erfahrungen und Erlebnissen ist als Selbstleistung erklärbar; ganz gleich, wie ich dazu stehe, als Realist oder Transzendentalist. Während Descartes sich durch seinen methodischen Zweifel selber mittellos gemacht hat, ist Husserl den umgekehrten Weg gegangen. Aber Husserl hat jenen Aufschluss im Bewusstsein nicht gesehen, der doch für Schopenhauer als unmittelbare Gegebenheit zum Denkansatz geworden ist. Hätte Husserls Phänomenologie Schopenhauers Auffassung vom Bewusstsein als unmittelbare Gegebenheit vorausgesetzt, so wäre vielleicht diese Metaphysik gar nicht mehr zu schreiben. Dies ist die befreiende und den Weg weisende Einsicht, wie nämlich die transzendentale Reduktion zu vollziehen ist. Man muss Husserls Methode mit dem Denkansatz, d. h. mit dem vollständigeren Bewusstseinsbegriff Schopenhauers ergänzen. Nimmt man von jedem das Bessere, vermeidet man von jedem das Einseitige. 2  Vom Verf.: Plato metaphysicus – Aristoteles und die Folgen. Kevelaer, Butzon u. Bercker 2004. (Veröffentl. d. Joh.-Duns-Scotus-Akad. f. franziskan. Geistesgesch. u. Spiritualität; 17). Im Folgenden mit „Plato metaphysicus“ angeführt.



§ 5  Die transzendentale Reduktion37

Der Transzendentalphilosoph verhält sich wie ein Mathematiker, der eine Gleichung mit zwei Unbekannten aufstellt, dabei nicht sehen will, dass ihm dazu eine zweite Gleichung angeboten ist. Die transzendentale Reduktion führt nur dann zur rechten Einstellung zur Wirklichkeit, wenn sie die volle Mitteilung des Bewusstseins annimmt, nämlich jene Mitteilung, die ihr der rationalistische Bewusstseinsbegriff vorenthält. Bewusstsein ist uns in zwei grundsätzlich verschiedenen Weisen gegeben. Husserl hat diese zweite Gegebenheit in ihrer völligen Verschiedenheit zur ersten auch völlig verkannt und übersehen: die gänzlich verschiedenen Elemente des Bewusstseins, nämlich Erkennen und Gemüt. Indem er immer wieder davon ausgeht, dass dem Willens- und Begehrvermögen eine „analoge“ „Intentionalität“ zukommt wie dem „Cogito“, ja dieser Sphäre eine eigene „Triebintentionalität“ zuerkennt, entgeht ihm der wertvolle Aufschluss, den diese Sphäre in ihrer völligen Andersartigkeit liefert.3 Dagegen verwendet gerade Schopenhauer die doppelte Gegebenheit des Bewusstseins wie ein zweiteiliges Eingangsportal zu seiner „Welt als Wille und Vorstellung“; und Schopenhauer trennt klar zwischen Vorstellung und Objekt in der einen Anlage und Identität und Subjekt im Willensbereich. Beides fasst Husserl als „Intentionalität“ zusammen. „Dies ist der Weg, den alle Philosophen vor mir gegangen sind.“4 Schopenhauer fügt diesem Vorgehen noch hinzu: „… dass man das Wesen des Menschen in eine Seele setzte, die ursprünglich ein erkennendes, ja eigentlich ein abstrakt denkendes Wesen wäre und erst in Folge hiervon auch ein wollendes, dass man also den Willen sekundärer Natur machte, statt dass, in Wahrheit, die Erkenntnis dies ist. Der Wille wurde sogar als ein Denkakt betrachtet …“5 Wir folgen Schopenhauer nicht, wenn er das Erkennen zur „sekundären Natur“ setzt. Es gilt, das Bewusstsein in seiner Ausgeglichenheit und Ergänzung aus Gemüt und Erkennen in den Begriff zu bekommen. Denn es darf erwartet werden, dass gerade darin der Schlüssel zu finden ist zu einem Bauplan des Wirklichen. Nach unserer Auffassung muss Schopenhauers transzendentale Reduktion vertieft und erweitert werden. Statt „Wille und Vorstellung“ fasst man den vollen Inhalt besser mit Gemüt und Erkennen. Wir haben es gewiss nicht mit dem Unterbewusstsein der Psychologen zu tun, und doch müssen wir darin die Tiefe des Gemütes vermuten, und der Wille zeigt nur die Oberfläche an. Außerdem dringt Schopenhauer nicht zur letzten Reflexion vor, wenn er die beiden von Grund aus geschiedenen 3  Darüber ausführlich in einer anderen Schrift: Vom Verf.: Prolegomena zu einer zeitgemäßen Metaphysik. Mönchengladbach, Kühlen 2005. (Veröffentl. d. Joh.Duns-Scotus-Akad. f. franziskan. Geistesgesch. u. Spiritualität; 19) 4  Welt als Wille u. Vorstellg. 1. § 17. 5  Ebda. § 55.

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1. Teil: Einleitung

Weisen des Bewusstseins zu sehr mit der Gegebenheit des Leibes als Wille und Vorstellung zur Deckung bringt. Mit der Leiberfahrung erreiche ich nicht die letzte Tiefe der Gegebenheiten. „Mein“ Leib ist mir über Erkennen als ein Körper im Verband mit einer Körperwelt gegeben. Eine Verselbigung dieses Körpers mit seiner Leiberfahrung im Gemüt kann jedoch so nicht unmittelbar und ohne weiteres vorgenommen werden. Denn es ist mir auch unmittelbar gegeben, dass mein Gemüt mehr in Anspruch nimmt als bloße Leiberfahrung. Letztlich erreicht die Leiberfahrung nur den Schwellenwert eines Index im Erleben meines Bewusstseins als Gemüt.

§ 6  Die Metaphysik des Abendlandes und der rationalistische Bewusstseinsbegriff Im Rahmen dieser Vorabklärung soll noch in aller Kürze auf die Zusammenhänge zwischen der Ratio und der abendländischen Wesensphilosophie eingegangen werden.6 Die großartige, ja einzigartige abendländische Metaphysik ist in ihrer Eigentümlichkeit nur zu verstehen aus dem griechischen Denkansatz der Ousia, Nous und Psyche zu einer höchstmöglichen Einheit zusammenfasst. Jede Kritik an dieser ehrwürdigen Geistesströmung liegt uns fern. Aber es gibt alternative Denkmöglichkeiten. Die Einheit von Psyche, Ousia und Nous ist bei Platon schon gegeben, aber Platon ist kein Metaphysiker. Alle Missverständnisse gehen darauf zurück, dass man diese mystische Dreiheit als eine metaphysische statt einer psychischen Ontologie ansieht. Aristoteles hat diese mystische Dreiheit in einer rationalen Reduktion aus dem organischen Sein herausgelesen; aber diesem Sein galt Platons Seelenschau nicht. Aristoteles hat jenen Seinsbegriff geprägt, der die Ratio, die Essentia und die Anima zum principium substantialitatis hat werden lassen. Kennzeichen für diese Linie ist dann auch das Fehlen einer distinctio realis zwischen der Essentia und der Existentia. Die Reflexion zur Existentia kam wohl erst nach Thomas von Aquin richtig in Gange. Die Kommentatoren (Capreolus, Silvester von Ferrara, Cajetan) Thomas von Aquins haben einige Anstrengung aufgeboten, um bei ihm eine wirkliche Unterscheidung zwischen der Essentia und der Existentia nachzuweisen. Allein hier hilft alles nichts; denn der Zusammenhang von Anima, Essentia und Ratio, dazu noch der Hylemorphismus, gibt diesem Seinsbegriff eine solche Prägung, dass ein Seinsbegriff mit zwei Zonen in actu essendi nicht mehr aufkommen kann. All diesen Befürwortern der distinctio realis ist nicht klar geworden, 6  Darüber

ausführlich in: Plato metaphysicus – Aristoteles und die Folgen.



§ 7  Vorbereitung der transzendentalen Reduktion39

dass eine solche Unterscheidung, wenn sie folgerichtig zu Ende gedacht wird, zu einer anderen Metaphysik führt. Es ist nun einmal so in dieser Wesens-Metaphysik, dass für die Existentia nichts mehr übrig bleibt, als die in der Essentia schon angelegte Individuatio zu verwirklichen. Damit im Zusammenhang steht dann auch eine Ratio als differentia specifica gegenüber dem höheren Säugetier und als Monopol im Bewusstsein, dem alles Gemüthafte nachgeordnet erscheint. Noch Husserl bezeichnet seine Psychologie als „Rationalismus durch und durch“,7 und Thomas sieht in der „anima intellectualis“ die „forma substantialis corporis“.8 Folglich kommt es dann auch zur ratio theoretica und zur ratio practica, weil man auch die sittliche Anlage nicht im Gemüt, sondern in der Vernunft zu Hause sein lässt. Auch dagegen wendet sich Schopenhauer mit aller Heftigkeit. Mit der Neuzeit, erst recht mit der Moderne kam aber das Bedürfnis nach einer Metaphysik auf, welche die Existentia mehr in Anspruch nimmt. Es ist alles andere als selbstverständlich, dass die Vernunft zum Wesen, die Seele zum Wesen, die Vernunft zur Seele gehören sollen. Auch eine individuatio essentiae kann durchaus ihre Alternative in einer individuatio existentiae haben. Die Existentia enthält reiche Möglichkeiten, um Seele, Vernunft und Gemüt anders zu erklären als in der Wesens-Metaphysik; und sie bietet Anlagen im Seinsbegriff zur Geschichts- und Kulturphilosophie, sowie zur Mystik, welche die Wesens-Metaphysik in ihrer Monade nicht vorzeigen kann. Es bleibt jetzt nur noch zu sagen, dass die Armut der Existenzphilosophie in keiner Weise ein Ersatz für die Wesens-Metaphysik sein kann.

§ 7  Vorbereitung der transzendentalen Reduktion 1. Das Bewusstsein als Bizone von Erkennen und Gemüt; Intentionalitas und Identitas Wir haben in der Zeit die allgemeinste Weise des Erlebens, im Raum die allgemeinste Weise der Vorstellung, in der Sprache die allgemeinste Weise der Mitteilung nach außen am Bewusstsein ausgemacht. Allein mit diesem Rahmen allgemeinster Vollzüge haben wir die ursprünglichste Grundbefindlichkeit der Anlage Bewusstsein noch nicht getroffen. Es sind die Weisen, in denen es sich selber inne wird. Was bleibt, lässt sich zusammenfassen als 7  Krisis 8  s.

§ 73. theol. 1. 76.

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1. Teil: Einleitung

Erleben und Begegnen, und noch allumfassender als Erfahrung. Aber Erfahrung ist immer Selbst-Erfahrung; das Selbst erlebt sich in der Begegnung, und sein Erleben ist auf Begegnung angelegt. Darin entdeckt das Bewusstsein seine Grundbefindlichkeit: es sind die beiden von Grund auf verschiedenen Elemente oder besser Zonen seiner Sich-selbst-Gegebenheit. So einfach, unteilbar und unterschiedslos in sich dieses Ich-Selbst auch dasteht, diese Einfachheit und diese Höchstselbigkeit wird keineswegs gespalten, indem es aus zwei Zonen quillt. Sie wird wohl gerade darin erreicht, dass diese Zonen sich in einer Gegensätzlichkeit ergänzen. Darin behauptet sich eben die Unvollständigkeit von Husserls transzendentaler Eingründung von Welt im Bewusstsein, dass er beide Zonen kurzerhand als „Intentionalität“ zusammengefasst hat. Erst wenn jede Zone in ihrer Eigentümlichkeit und Gegensätzlichkeit, nämlich als Intentionalitas und Identitas, verstanden wird, kommt es zu den wahren Erkenntnissen. Über die Zone Erkennen ist schon etwas gesagt worden. Es ist der Veranstalter jeder Reduktion, und die Veranstaltung ereignet sich als Vorstellung. Aber dieses allein veranstaltende Ich ist als Erkennen eben nicht auch der alleinige Gegenstand des Bewusstseins. Das Ich erfährt sich in einer Begegnungszone des Erkennens und in einer Erlebniszone des Gemütes, und es lässt sich nicht sagen, wo hier ein Vorrang, wo hier der Sitz im Leben ist. Die Tatsachen liegen auf der Hand. Das Ich hungert, es empfindet leiblichen und „seelischen“ Schmerz, aber es ist weder der erkannte Leib noch die unbekannte Seele noch die Anlage Erkennen letztlich zuständig. Das Bewusstsein erfährt über Erkennen, welches für sich teilnahmslos bleibt, im Gemüt Lust und Leid.9 Gewiss bleibt Gemüt ohne Erkennen bewusstlos, aber Erkennen ohne Gemüt ist selbstlos. Dieses Erkennen, wenngleich es die Kegelspitze jeder Bewusstseinserfahrung ausmacht, kann dennoch nicht zur Ich-Spitze meines Bewusstseins werden, und zwar so, dass alle meine Gemütserlebnisse letztlich zu einer „ichlichen Habe“ (Husserl) werden, oder so, dass ich letztlich nur noch Ratio, Mens, Animus, eine res cogitans bin (Descartes). Es ist immer wieder der rationalistische Bewusstseinsbegriff, welcher dazu führte, dass man das Erkennen, welches die transzendentale Reduktion veranstaltet (Subjekt) auch zum Monopol als Gegenstand gesetzt hat. Eine solche Reduktion des Bewusstseins auf eine Bizone lässt sich wohl mit einem Schlage auch noch vollziehen, und dazu gehört auch noch die Gewissheit oder Einsicht, dass Verstand und Wille nur die hervorragenden 9  Diese unmittelbare Gegebenheit der Zonen zeigt schon, welch verhängnisvolle Verwechslung Kant unterlaufen ist, wenn er sagt: „Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts …“ und darunter Spontaneität oder Denken und Rezeptivität oder Sinnlichkeit meint. Kritik d. reinen Vernunft. A50 / B74.



§ 7  Vorbereitung der transzendentalen Reduktion41

Vertreter der Zonen sind. Man muss nicht zuvor schon alle Ur-Teilungen des Erkennens und alle Regungen des Gemütes in einen Katalog bringen, um diese Einteilung vertreten zu können. Die Intentionalitas des Erkennens erweist sich durchgehend als Unterscheidung, als Absetzen eines Gegenständlichen. Im Gemüt hingegen findet nur Leben statt als Auflösung des Unterschieds, womit das Verhältnis sich als Identitas enthüllt. Gerade in dieser Gegensätzlichkeit schließen sich die Zonen ineinander; unvermischt, aber auch ungetrennt. Identitas aus der Intentionalitas und umgekehrt. Ein Drittes dazwischen ist nicht gegeben; ein Bewusstsein als übergeordnete Zone ist auch nicht zu ermitteln.

2. Die Selbst- und die Fremdgegebenheiten des Bewusstseins Es lässt sich nun ein gewisses Schema erstellen, wie das Bewusstsein seine Beziehungen eingehen kann. Auch im Rahmen des transzendentalen Bewusstseins – den Realismus müssen wir jetzt aufgeben – dürfen wir zwischen Selbstgegebenheiten und Fremdgegebenheiten unterscheiden. Dann kann jedoch alles Fremdgegebene nur über die Zone des Erkennens an das Bewusstsein dringen. Wir müssen uns bewusst werden, dass unser Leib als Körper und Erscheinung dann auch zum Fremdgegebenen gehört. Damit stehen wir freilich schon am Grundproblem dieser Reduktion überhaupt. Ich erfahre den Leib nur im Gemüt, nicht als Körper, als Selbstgegebenheit. Schlagartig gehen mir jetzt die Probleme der Transzendentalphilosophie auf: Es besteht eine tiefe, unüberbrückbare Kluft zwischen den Gegebenheiten meines Bewusstseins im Gemüt und den Vorstellungen und Urteilen meines Erkennens. Und dennoch ist es Erkennen, welches die Einheit im Bewusstsein der Zonen herstellt. Die Gefühle des Gemütes sind mir anders gegeben als die Vorstellungen des Erkennens. Meinen Hunger kann ich mir an sich nicht vorstellen; er drückt sich aus in einer Speise, die ich mir vorstelle. Das Gemüt erwacht erst am Erkennen zu den Vorstellungen; es hat keinen Sinn, dem Gemüt eine eigene „Triebintentionalität“ einzuräumen. Der Trieb hat seinen Sitz im Gemüt, seine Intentionalität im Erkennen. Aus seiner Grundbeziehung des Ur-Teilens oder Unterscheidens kann nun Erkennen zum Gemüt, zum Fremdgegebenen und schließlich zu sich selber in Beziehung treten. Dies lässt sich leicht einsehen am sinnenfälligen Gegenstand. Die Erinnerung fügt die Vorderansicht und die Rückseite eines Hauses zu einem Ganzen zusammen. Erkennen vergleicht dabei sich selber mit dem Begriff, der als Werkstück von einer Kammer in die andere gebracht wird. Die Ur-Teile der sinnlichen Augenblicke erfahren in der Erinnerung ihre Ergänzung, und so geht es fort auch in Zusammensetzungen der

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1. Teil: Einleitung

verschiedenen Sinneseindrücke. Aus all dem müssen wir nicht schließen, dass Erkennen in seinen Selbstbeziehungen und schließlich als Ratio die Mitte des Bewusstseins einnimmt. Erkennen ist nur befähigt, als Zone das Ganze, nämlich das Bewusstsein in all seinen Bezügen, zu verstehen und deshalb stellvertretend für das Ganze zu erscheinen. Es bleibt letztlich nur diese Selbstbeobachtung des Erkennens als ein Hoffnungsschimmer übrig, dass es uns gelingen könnte, diese so grundsätzlich verschiedenen Gegebenheiten und Bezüge im Bewusstsein in eine verständige und sinnvolle Ordnung zu bringen. Den Sitz im Leben hat das Bewusstsein nicht in einer reinen Schau des Erkennens, also in einer Theorie, sondern in den Verschränkungen der gemüthaften mit den erkenntnismäßigen Bezügen. Darin hält sich das große Rätsel. Erkennen hat ein Innewerden gegenüber den Bezügen vom Gemüt, und es hat seine Vorstellungen als Fremdgegebenes. Die Vorstellungen des Erkennens und die Regungen des Gemütes sind so verschieden zueinander, dass ein Abgrund zwischen ihnen klafft. Wenn das Bewusstsein aus zwei so verschiedenen Anlagen ineinander gefugt sein soll, wie kann es in der einen Zone dann zwei so verschiedene Bezüge oder Gegebenheiten erfahren? Kommen wir dem Geheimnis nicht doch näher, wenn wir uns dem rationalen Bewusstseinsbegriff anschließen? Das hieße in unserem Schema ausgedrückt: Die Ratio ist Sitz der Intentionalitas wie auch Sitz der Identitas. Nach unserer Auffassung steht die Ratio für die Intentionalitas und die Emotio für die Identitas. Der Intentionalitas als dem Vollzug des Erkennens entspricht eine in sich gegliederte Anlage nach Sinnen, Erinnerung und Verstand, die sich aus ihren Vorstellungsinhalten erfährt. Dem Gemüt (Emotio) als dem Träger der Identitas des Bewusstseins eignet diese Gliederung gerade nicht. Zur Identitas des Gemütes gehört es, dass es sich nur in Bezug auf seine verschiedenen Regungen wie Durst, Hunger, Liebe, Hass usw. festlegen kann. Also ist das Gemüt eine Anlage, die vom Unterbewusstsein über das Unbewusste zur Erfahrbarkeit als Gemüt geradezu eine gleitende Einheit bildet. Während Erkennen an seinen verschiedenen Vorstellungen auf verschiedene Kammern seiner Anlage rückschließen kann, eignet dem Gemüt nichts dergleichen. Es ist in sich ungegliederte Selbigkeit, in dem die Regungen miteinander kämpfen, sich versöhnen, wie in einer Strömung sich vermischen.

3. Die Zeit und das Bewusstsein Wenn Kant die Zeit als innere Anschauung in eine Parallele zum Raum gebracht hat, so liegt dies ganz im Rahmen des rationalen Begriffs. Wir behaupten, dass diese Auffassung zu einer Paradoxie im Zeitverständnis führen muss; der rationalistische Bewusstseinsbegriff kann das Rätsel der



§ 7  Vorbereitung der transzendentalen Reduktion43

Zeit grundsätzlich nicht lösen, weil das Bewusstsein in der einen Zone zeitliche und zeitlose Inhalte verselbigen muss. Solange die Metaphysik im naiven Realismus verharrt, darf sie die Zeit einfach als Gegebenheit der Materie stehen bzw. verstreichen lassen. In der transzendentalen Reduktion jedoch kommt alles darauf an, dass wir die Zeit in den richtigen Begriff des Bewusstseins eingründen. Die Transzendentalphilosophie ist daran durchgehend gescheitert. Keiner hat so Hellsichtiges über die Erfahrung der Zeit geschrieben wie Husserl in seiner „Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins“. Aber gerade deshalb muss Husserl auch am Ende die Aporie und die Paradoxie des „Zeitsinnes“ eingestehen. „So anstößig (wo nicht anfangs sogar widersinnig) es erscheint, dass der Bewusstseinsfluss seine eigene Einheit konstituiert, so ist es doch so.“10 „Es fragt sich nun aber, ob wir nicht sagen müssen, es walte über allem Bewusstsein im Fluss noch das letzte Bewusstsein … Es ist aber ernstlich zu überlegen, ob man solch ein letztes Bewusstsein annehmen muss, das ein notwendig „unbewusstes“ Bewusstsein wäre; nämlich als letzte Intentionalität kann sie (wenn Aufmerken schon immer vorgegebene Intentionalität voraussetzt) nicht Aufgemerktes sein, also wie in diesem besonderen Sinn zum Bewusstsein kommen.“11 Die Verlegenheit, die sich hier ausspricht, geht aber nur zu Lasten jenes Bewusstseins, das Husserl seinen Untersuchungen zu Grunde legt. Hier stoßen sich zwei Dimensionen in einem Punkt: Ein ewiger Zeitfluss, der dennoch zeitlos seine Zeiteinheiten misst und sie sogar in zeitloser Erinnerung mitträgt. Diese Paradoxie lässt sich jedoch auflösen im anderen Begriff von Bewusstsein: Der Zeitfluss ist ausschließlich im Gemüt als dessen unterstes Befinden gegeben. Dieser Fluss erhält in der zeitlosen Zone des Erkennens seinen abgesetzten Maßstab. Aus der Einheit von Identitas und Intentionalitas ist sich Bewusstsein dann zeitlich und zeitlos gegeben.12

4. Das Grundschema der Reduktion Alle Einsichten, die wir zum Anfangen benötigen, besser gesagt zur Grundlegung, müssen also im Geltungsbereich des Selbstbewusstseins als Grundeinsichten gegeben sein. 10  Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins. Hrsg. von Martin Heidegger. 2. Aufl. Tübingen, Niemeyer 1980. § 39. S. 434. 11  Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, 1893–1917‘. Text n. Husserliana; 10. Hrsg. v. Rudolf Bernet. Hamburg, Meiner 1985. (Philos. Bibliothek; 362). Nr. 54. S. 248. 12  Darüber ausführlich in einer anderen Schrift: Die Metaphysik und die transzendentale Reduktion. Duncker & Humblot, 2015.

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1. Teil: Einleitung

1. Jede Erfahrung meines Bewusstseins kann nur als eigens erzeugter Inhalt in mir aufkommen. 2. Ohne mit dieser Einsicht in Widerspruch zu geraten, gilt die Tatsache des Bewusstseins, dass es sich in zwei von Grund auf verschiedenen Weisen oder Inhalten gegeben ist. 3. In diesem Rahmen einer vorläufigen Gleichgültigkeit zwischen realistischer und transzendentalistischer Reduktion vollendet sich die Verfassung des Bewusstseins in einem dritten Bestimmungsstück. Indem diese Zonen sich nicht analog oder parallel ergänzen – dies wäre wohl eine sinn- und zwecklose Verdoppelung –, sondern dialektisch gegensätzlich, entsteht im Bewusstsein das vorgegebene Schema von Frage und Antwort, von Bedürfnis und Notwende, welches sich anteilmäßig immer in gleicher Weise auf Gemüt und Erkennen zurückführen lässt. Im Gemüt hat der Hunger seinen Ursprung, im Unterschied des Erkennens, welches an sich keinen Hunger hat, kommt er zu Bewusstsein. Erkennen macht sich auf die Suche nach Nahrung. Der Zweck aber, das ist die Einheit von Gemüt und Erkennen als Stillung des Bedürfnisses. Was sich an diesem urgegebensten oder ursprünglichsten aller Verhalten abspielt, wird sich auch immer wieder als Grundschema des natürlichen Bewusstseins ereignen. Jedes Bedürfnis ist ein Erlebnis im Gemüt, welches das Gemüt als Zwietracht im Erkennen erfährt, und es erhofft im Erkennen eine Begegnung, welche die Einheit als Frieden oder Ruhe wieder herstellt. Die Regungen des Gemütes werden am Erkennen zu Erlebnissen; die Unterscheidungen oder Vorstellungen des Erkennens werden im Bewusstsein zu Begegnungen. Dies alles zusammen sind die Erfahrungen des Bewusstseins. Wir können also dafürhalten, dass uns das Bewusstsein in all seinen Verwicklungen dennoch in einem gewissen Grundschema einsichtig wird. Aus dem dialektisch gegensätzlichen Verhältnis der beiden Gegebenheiten behauptet sich die Einheit des Bewusstseins als Vollzug der Anlage. Das Gemüt ist ein strebendes oder getriebenes; es steht unter dem allgemeinen Drang, seine inneren Leeren zu erfüllen. Wir können den Drang auch Zweck nennen. Die Vorstellungen des Erkennens dagegen bedeuten die Möglichkeiten, damit die innere Leere des Gemütes zu erfüllen. Das Gemüt findet in den Vorstellungen des Erkennens seine An- und Notwende. Bewusstsein ist ständig damit beschäftigt, den Unterschied zwischen Gemüt und Erkennen zu schließen. Es findet seine Ruhe darin in dem Maße, wie es ihm gelingt, die Ur-Teile in Einklang zu bringen. Es kommt deshalb alles darauf an, dass unsere transzendentale Reduktion dieses Grundschema als Voraussetzung in ihren Ansatz aufnimmt. Nur im Verbund mit dieser inneren Auseinandersetzung im Bewusstsein ist die letzte Stellungnahme einer Reduktion erreicht. „Als Ausgang nehmen wir das



§ 7  Vorbereitung der transzendentalen Reduktion45

Bewusstsein“ eben nicht so, wie Husserl es getan hat: „Ich nehme wahr, Ich erinnere mich, Ich phantasiere, Ich urteile, fühle, begehre, will“.13 Die Unbedachtsamkeit, die Husserl hier unterlaufen ist, wird sich immer wieder, und besonders im Aufweis von „Intersubjektivität“, als maßgeblich für seine „Intentionalität“ herausstellen. Es kommt darauf an, dass wir nicht mit dem Bewusstsein als Complexus beginnen: 1. weil ein solcher Anfang die Verschiedenheit der Zonen verwischt bzw. vermengt und damit Intentionalitas und Identitas nicht unterscheidet. 2. weil ein solcher Anfang im Complexus auch viel zu unübersichtlich und schwierig wäre, um den Leitfaden im Auge zu behalten. Damit hat sich unser Anfang letztendlich bestimmt. Die Methode ist durch die Anlage vorgegeben. Es ist uns erlaubt, dass wir zunächst einmal die Gegebenheit des Gemütes so weit wie nötig und so lange wie möglich ausblenden. Denn gerade sie macht den Anfang so schwer, weil sie nicht so klar gegliedert ist wie die Zone des Erkennens. Ungemein leichter wird es, wenn wir Erkennen beschreiben, weil wir seine Vorstellungskammern an seinen Vorstellungsinhalten und umgekehrt vergleichen können. Die bewusste Ausblendung oder Einklammerung der gemüthaften Bezüge an ­ unserer Vorstellungswelt ist so lange möglich und erlaubt, wie wir keine falschen Ergebnisse daraus ableiten. Es kommt darauf an, dass wir die Gegebenheit und die Bezüge der gemüthaften Zone an der richtigen Stelle unseres Erkundungswegs einholen. Damit sind wir endlich bei der letzten Folgemaßnahme unseres methodischen Ansatzes angekommen. Er betrifft die Zeit! Wenn nämlich unsere Erlebniszone Gemüt die Zeit als ihre letzte Einfühlung oder Schicht oder als ihr Flussbett hat, dann bleibt gerade die Zeit unberücksichtigt, so lange wir die Gemütszone ausblenden. Die Zeit „erscheint“ nicht, und sie ist keine „Vorstellung“; sie begleitet unser Erkennen, und dieses holt sich aus seiner eigenen Vorstellungswelt gegenständliche Maßstäbe, um diese sich anzugleichen. Dass die Zeit zur Welt gehört, weil das Gemüt zum Bewusstsein versteht sich. Ein Beispiel der Physik kann uns in unserem Vorhaben bestärken; wir verwenden es hier ja nur als Verständnishilfe. Die Bahnkurve eines Massenpunktes lässt sich darstellen im Koordinatensystem, indem man aus den Gleichungen die Zeit ausscheidet. In ähnlicher Weise dürfen wir vorgehen, wenn wir uns zunächst nur auf die Beschreibung des reinen Schauens beschränken. 13  Vgl.

Husserl, Ideen 1. § 34 S. 75, 9 ff. Nijhoff 1950.

2. Teil

Das Bewusstsein als Geltungsbereich; die Einklammerung des Gemütes und die Enthaltung einer Seinssetzung

1. Kapitel

Die Anschauung und ihre Gründe der Erfahrung § 8  Die Vorstellung und das Zugleich Das Bewusstsein erwacht am Draußen zu sich selber, und darum beginnt das Erkennen im Augenblick des Draußens. Dieses Drau­ßen begegnet nicht als Getümmel und Geflimmer, sondern als ei­ne im ganzen in sich ruhende Raumvorstellung, worin die Ge­genstände ruhig zusammenstehen. Wir nehmen kein kreisendes Weltbild der Astronomie oder der Mikrophysik zur Kenntnis, wir sehen auch nicht die Bausteine der Gegenstände. Unser Er­ kennen und das Leben des Bewusstseins ereignet sich im Bereich eines mittleren Abstands, wo die Dinge, in sich abgeschlossen in eigentümlichen Formen, ruhig zueinander stehen. Alles, was hier in Bewegung ist, gleicht nur dem Aufleuchten eines Fun­kens, der bald wieder in die Ruhe des Raumes untergeht. In diesen Raum gehört das Bewusstsein durch seinen Körper, der dem Erkennen von daher als Draußen begegnet. Das Draußen wei­ tet sich als unermesslicher, ruhiger Behälter, worin die Dinge als Einheit in sich, jedoch in drei Gründen der Anschauung gegeben sind. Aber mit diesen drei Gründen der Anschauung hat sich im Erkennen schon Bedeutsames ereignet in Bezug zu den Gegenständen und daher auch in Bezug zu dem Erkennen selber. Die Neuheiten sind so vielseitig und verschlungen, dass wir nur in verschiedenen Abschnitten der Betrachtung beschreiben können, was nur im Zugleich die Begegnungen des Draußens er­stellen kann. Es wird also nötig, dass wir den Augenblick des Bewusstseins auseinandernehmen in verschiedene Teile des Er­ kennens. Dass dieses Vorgehen erlaubt ist und unsere Erwartun­gen nicht verfälscht, gehört zu jenen Einsichten, die wir nur als Gegebenheit annehmen können. Es liegt doch schon in der Form der Darstellung, dass wir nicht fünf Dinge gleichzeitig beschreiben können. Es gehört aber doch zum Erleben des Bewusstseins, dass wir mit fünf Sinnen zugleich wahrnehmen kön­nen. Haben wir aber damit das Zauberwort schon angesprochen? Wenn wir den Augenblick des Bewusstseins auseinandernehmen wollen, nicht nur die Tätigkeit der Sinne, auch die Arbeit des Ge­dächtnisses und des Denkens

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2. Teil, 1. Kap.: Die Anschauung und ihre Gründe der Erfahrung

dahinter, dann müssen wir zu­nächst die geheimnisvolle Zeit einklammern. Sie erweist sich deshalb so rätselhaft, weil sie als allgemeinste Begleiter­ scheinung des Bewusstseins dennoch nie gegenständlich wird. Wir meinen, ihre Spuren an den Dingen außen zu sehen, aber es ist nur ein Wandel der Dinge. Sie werden nicht jünger, son­dern älter. Wir meinen, dass sie in uns verstreicht, aber das „Ich bin“ hält sich zugleich im ewigen Jetzt. Es ist also das ge­müthafte Selbst, was als einzig wandelloses in uns erst mög­lich macht, dass wir ein Zeit-Erleben haben. Aber gibt es eine Zeit-Begegnung in uns und haben wir überhaupt ein Zeit-Erken­nen wie eine Raum-Vorstellung in uns? Damit stoßen wir schon auf eine grundlegende Unterscheidung. Während nämlich das Raum-Draußen sich wie ein Behälter vor uns ausdehnt und mit seinen Dingen vorstellig, gegenständlich, Begegnung wird, ha­ben wir keine Zeit-Vorstellung sondern nur ein inneres Zeit-Erleben. Die Zeit ist jenes Bedürfnis im Gemüt, welches alle anderen umgreift. Alles, was im Gemüt vorgeht, ist zwi­schen die Zeit und das „Ich bin“ eingespannt. Das ewig unver­änder­liche Ich erfährt sich an der ewig streichenden Zeit, es ist die zuunterst liegende Begebenheit des Bewusstseins. Unser Anfang gewinnt einen wichtigen Einblick. Diese unterste Verfassung des Bewusstseins müssen wir jetzt ausklam­ mern, denn sie ist das Geheimnisvollste in uns, und wer woll­te damit be­ginnen. Indem diese Verfassung aber auch niemals richtig vor­stellig wird im Erkennen, ordnet sie sich weithin dem Gemüt­haften ein. Zwar deutet sie sich nicht als besondere Gemüts­bewegung an, sie zeigt sich ja als die allgemeinste. Wenn wir aber das Gemüthafte abschirmen wollen, wenigstens so, wie es sich uns enthüllt, dann tun wir es in einem Zuge, indem wir die Zeit nicht beachten. Tatsächlich bleibt uns gar nichts an­ deres übrig, als so vorzugehen. Aber unser Anfang hat den Sachverhalt in sein Selbstverständnis aufgenommen, und damit bestätigt sich die Schau aus der Tatsache. Mit der Einklammerung des Zeitlichen müssen wir uns noch et­was beschäftigen. Dass uns damit vielleicht das wichtigste Ausmaß von Welt-Bewusstsein in Form von Welt-Erleben und Welt-Begegnen entgehen wird, ist nicht von der Hand zu weisen. Wir müssen damit rechnen, dass die ZeitVerfassung und das Frage-Bedürfnis vielleicht den umgreifenden Zusammenhang im Bewusstsein ergeben. Denn unser Denken und Schauen hängen doch zu­ sammen; das Woher und Wohin in seiner räumlichen Richtung enthält doch eine Ursache und eine Wirkung und damit haben wir schon unbesehen das Principium Causalitatis im Spiel. Dieses wiederum läuft doch ab in der Zeit wie der Fluss in seinem Flussbett. Wenn wir also das Gemüthafte vermeiden wol­len, dann erstellt sich uns eine Welt von Gegenständen, die wir einmal beschreiben ohne Frage und ohne Zeit, ohne Begrün­den und ohne bezwecken. Was aber soll das für einen Philoso­phen? Soll die Erscheinung selber Grund und Zweck herausstel­len, oder soll unser



§ 9  Das Zugleich und der Vergleich51

Erkennen ohne Gemüt seine eigenen Gründe und Zwecke hineinsäen? Oder wollen wir jenen Punkt auf dem Denkweg aufspüren, wo wir feststellen, dass nur im Gemüt die Gründe und Zwecke zu finden sind? Wir können hier nur in den Anfang zurückkreisen. Leben und Bewusstsein vollziehen sich zur Wirklichkeit des Daseins. Dazu gehört, dass unser Erkennen sich mitvollzieht. Wenn es uns also darum geht, das Erkennen zunächst einmal in seinem ureigenen Wirken besehen zu wollen, so beabsichtigen wir nicht etwas, welches man vorweg als undurchführbar be­zeichnen müsste. Wie der Organismus des Leibes uns in ver­schiedenen Organen erklärt wird, die sich gegenseitig bedin­gen, aber realiter voneinander geschieden sind, so könnten doch auch Gemüt und Erkennen, vielleicht sogar noch weitere Quellen, das Bewusstsein bedingen. Dabei ergibt sich die Zeit als jene unterste Verfassung, die wie das Blut im Organismus alles zusammenhält. Die Zeit verbindet zwischen Gemüt und Er­kennen, und daraus erklärt sich das Grundbefinden des Ich-Selbst, welches immer sich als vorgestelltes erfährt, darin ein bleibendes Jetzt im ständigen Verfließen ist. Was wir aber so als Zeitloses erfahren möchten, ist nur das Zugleich im Zeitstrom. Wir können das Bewusstsein nicht vom Zeitempfin­ den entkleiden, so wie wir, die Augen schließend, einstweilen mit dem Sehen aufhören. Im Zugleich der Vorstellung haben wir die Möglichkeit, das Erkennen als die Tätigkeit des vorstel­ lenden Ich zu ermitteln, und dieses erfährt sich im Gemüt wieder eingebettet in die Zeit. Es ist Erkennen in Bezug auf seine Vorstellungen, welches das Zugleich erfährt, und es ist Erkennen in Bezug auf sein Gemüt, welches sich daran als zeitliches Bewusstsein erfährt.

§ 9  Das Zugleich und der Vergleich 1. Das Zugleich als Gleichnis des Zeitlosen In der Anschauung erstellt sich das Raum-Draußen als ein in sich geschlossener Behälter, und das Bewusstsein hat in der Ruhe des Raumes seine ihm entsprechende Umgebung. Das Auge erträgt kein Flimmern, das Ohr kein Getöse. Ruhe und Stille erfüllen den Raum, und das Bewusstsein findet darin zu sich selber. Aber das Gesamt des Raumes zeigt sich als ein Zusam­ menstehen von Dingen, welche ebenso Einzelträger sind. Daran macht sich das Erkennen fest, wenn es handelt. Allein das Handeln gehört zu unserer inneren Entscheidung, die wir noch brach liegen lassen. Was wir jetzt festhalten wollen, ist das Zugleich des Anschauens; es sind viele Dinge als Einzelträ­ger, die das Draußen ergeben. Es ist vor allem der Boden, welcher wie unser Unterbewusstsein alles trägt und unserem Nachforschen

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2. Teil, 1. Kap.: Die Anschauung und ihre Gründe der Erfahrung

Einhalt gebietet. Der Boden wird zur unermessli­ chen Einheit, aus ihm wachsen die Einzeleinheiten heraus. Und wie das Ich in seinen inneren Unterschieden sich nicht als ein wirres und gespaltenes erfährt, so sind auch die Vorstel­lungen des Raumdraußens Einheiten, mit denen das Ich in Be­ ziehung tritt. Das natürliche Bewusstsein steht also in einer Einheit, so als wäre das Raum-Draußen die anschauliche Aus­strahlung seines inneren Zustands. Es sind viele Einzeleinheiten, welche das Bewusstsein mit der Anschauung auf einmal wahrnimmt. Das bedeutet aber, dass im Zugleich, also im Unterschiedslosen in Bezug auf das Zeitli­ che, ein Auseinanderstehen in Bezug auf das Raum-Draußen ein­ gefasst ist. In Bezug auf das Zeitliche können die Dinge zu­gleich sein, aber in Bezug auf das Räumliche können sie nicht zugleich sein; nur die Zeit kennt das Zugleich, nicht der Raum. Wann ein Ding ist, sind noch viele andere; wo ein Ding ist, sind keine anderen mehr. Man möchte metaphysische Über­legungen darüber anstellen, doch das ist uns hier untersagt. Wir haben nur festzustellen, weder zu fragen noch zu be­gründen. Was wir aber immer tun müssen, ist vergleichen, denn darin vollzieht sich Erkennen schlichthin. Wir können nicht sagen, dass die Zeit den Raum umgreift. Wir erfahren nur unser Raum-Draußen am zeitlichen Gemüt, und so könnten wir das Zeiterleben als unbedingte Begleiterscheinung des Erkennens bestimmen. Allein hier meldet sich schon der Einwand. Die Zeit begleitet zwar, aber sie erscheint eben nicht, sie ist das einzige, welches nicht erscheint. Denn alles, was er­scheint, geht in die Vorstellung des Erkennens, die Zeit wird nicht vorstellig, so wenig wie das Unterbewusstsein vorstellig wird. Das Zugleich enthält schon den Vergleich, denn dieser bekun­det sich als die Zusammenschau des Unterschiedenen. Wir sehen die unzähligen Blätter des Baumes im Zugleich oder Vergleich. Aber der Vergleich enthält schon etwas an Inhalt, während doch das Zugleich sich auf das Sehen verschiedener Einzel­dinge wie auch auf das Sehen und Hören zugleich bezieht. Doch da meldet sich nun sofort ein Bedenken an. Haben wir denn mit dem Zugleich nicht das Ausmaß der Zeit in unser Vorgehen ein­geschlossen, und wollten wir denn nicht alles Zeitliche aus­klammern? Hier geraten wir in eine Verlegenheit. Wir bemerken nämlich, dass die Verarbeitung des Gegenstands in Stufen der Erfassung des Gegenstands vor sich geht, was ohne Abfolge nicht möglich ist. Natürlich wissen wir, dass alle Erfahrung in der Zeit geschieht. Lässt sich dann unser Vorhaben noch als sinnvoll und vernünftig durchhalten, oder fallen wir hier schon in einen Widerspruch, der alles vereitelt? Was uns be­ rechtigt weiterzumachen, ist die Beobachtung, dass sich auch das Zugleich in rein erkenntnismäßigen Absätzen, Stufen oder Ur-Teilen ausdrücken lässt. Wir entnehmen dem Zugleich Inhal­te, die sich rein im Verhältnis unseres vorgefassten Anfangs ausdrücken und die



§ 9  Das Zugleich und der Vergleich53

sich so nicht auf Zeitliches zurückführen lassen. Das Verhältnis des Zugleich drückt sich als Verhält­nis der fassenden Vorstellung zu dem gefassten Vorgestellten aus, und es erhält noch eine weitere Bestimmung, wenn wir den ersten Begriff des Erkennens, nämlich das sinnliche Ur-Teil, mit einem anderen Begriff, z. B. der ergänzenden Erinnerung vergleichen. Dies alles wird ohne Zeit nicht vorstellbar, dennoch erscheint die Zeit nicht im Vergleich. Das Zugleich zeigt sich als nebeneinander, hintereinander und übereinander der Einzeldinge im Raum-Draußen, und damit haben wir die Ausmaße des Raumes als Richtungen angegeben. Das Den­ken macht sich an Einzeldingen fest, die es in der Anordnung des Räumlichen als Grundgerüst des Sehens erfährt. Dinge und Raum lassen sich nicht trennen; hier vermögen wir nicht eine Einklammerung durchzuführen, Dinge und Raum gehören unab­dingbar notwendig zusammen. Wir dürfen diese Beobachtung als einen Hinweis dafür annehmen, dass wir die Zeit nicht sinnlos ausklammern. Das Zugleich verhält sich nun zum Vergleich wie die Grundflä­che zur Tiefe des Raumes, worin sich manches erschließt, was sich als Fläche nur ankündigt. Es sind jetzt zwei Möglichkei­ ten, die sich uns anbieten, um weiterzukommen. Wenn wir sie auf unser Grundgerüst des Raum-Draußens hinfluchten, so spre­chen sich die beiden Möglichkeiten so aus: Wollen wir zuerst in die Tiefe des Raumes oder wollen wir zuerst nach der Flä­che hin weitergehen? Fassen wir die Einzeldinge rein in ihrem erscheinenden An sich, also nur als Gegenstände, nicht als Vorstellungen, so scheint es gleichgültig zu sein, ob wir zu­erst das Nebeneinander vieler Blätter eines Baumes oder die Vorder- und Rückseite dieses Baumes vergleichen. Fassen wir indes die sinnenfälligen Dinge aus ihrem Quellort, nämlich den verschiedenen Weisen der Vorstellung im Erkennen, so fin­den wir Gründe, die dafür sprechen, dass wir zuerst in die Tiefe des Raumes gehen. Denn einmal bleiben wir am Einzelding haften, was ganz im Sinne des Erkenntnisvorgangs ist; zum anderen bemerken wir, dass sich dabei das Vermögen der sinnli­chen Erinnerung an die Ansichtsseite des Gegenstands schließt, indem es diesen so im Erkennen zum räumlich Ganzen erstellt. Betrachten wir dagegen die unzähligen Raumdinge als ein Nebeneinander, so haben wir es mit gleichen und unglei­chen Ansichtsteilen zu tun. Um hier weiterzukommen, wird aber nicht so sehr die sinnliche Erinnerung beschäftigt, die sich naturgemäß an den Augenblick anschließt, sondern es greift schon eine andere Weise des Erkennens ein, die sich als Gleichnis in Form eines Sammelbegriffs oder einer Ab­straktion auszeichnet. Von ihr lässt sich aber nicht ohne wei­teres sagen, ob sie nun noch der sinnlichen Erinnerung oder dem Denken angehört. Also tun wir auch hier wieder gut daran, vom Sicheren und dem Offensichtlicheren zum Ungewissen voranzugehen.

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2. Teil, 1. Kap.: Die Anschauung und ihre Gründe der Erfahrung

2. Die Ansicht als Ur-Teilung und die Erinnerung als Ergän­zung Das Einzelding ändert ständig seine Ansichtsseite, indem das Bewusstsein um es herumgeht. Dies geschieht durch einen Ent­schluss des Gemütes, der jedoch in unserem Vorgang wiederum nicht vorkommt und deshalb nicht zu beschreiben ist. Die An­sicht erklärt sich als Ur-Teil, das Einzelding weitet sich in den Raum hinein, wobei Erkennen neue Ansichten folgen lässt. Die Einheit des Dinges vermag sich in einer Ansicht nicht zu halten, und Erkennen bemerkt, dass es zur Form oder zum Fas­sungsvermögen der Ansicht gehört, dass die Einheit des Dinges diese überfordert. Die äußere, räumliche Einheit des Dinges ruft ein neues Zugleich auf den Plan: Ich sehe nun die Rück­seite und habe zugleich die Vorderansicht in der Erinnerung. Die Einheit des Dinges hält sich aus einer Ergänzung von Ur-Teilen, das Raumbild füllt sich aus der Bewegung des Bewusstseins. Es ist dasselbe Ding, aber die Einheit, die äußerlich sich im Gleiten des Augenblicks gehalten hat, ist aus der Er­innerung zu einer inneren Einheit geworden. Ich kann mir den Gegenstand bei geschlossenen Augen gleichmäßiger als ganzen vorstellen. Die Einheit des Dinges entfaltet sich als Ganzheit; es ist in sich geschlossen und abgegrenzt von anderen Dingen. Die Ganz­heit drückt seine äußere Einheit aus, wobei diese sich als das Zugleich der Ansichtsteile vorstellt. Aber das Zugleich benötigt schon die Erinnerung, es ist nicht nur eine bloße Spiegelung der Ansichtsteile; das Ganze eines Dinges enthält schon mehr als die bloße Ansicht, und diese wird nun als blo­ßes Ur-Teil durchschaut. Fragen wir, auf wessen Seite dieses Erzeugnis steht, so ergibt sich ein ausgewogenes Verhältnis: Erkennen wird sich in dem Maße inne, wie es den Gegenstand wahrnimmt. Es gelangt zu einem erscheinenden An sich des Din­ges, indem es zu sich selber kommt, der Unterschied am Vorge­stellten entspringt einem Unterschied in der Vorstellung. Dies bedeutet aber, dass sich die Vorstellung des Ganzen (Dinges) in Grenzen hält, und man möchte nun sagen, dass es die natürlichen Grenzen der Vorstellung sind, weniger die Grenzen des Vorgestellten. Allein diese Einseitigkeit lässt sich ge­ wissermaßen auch wieder aufheben, indem ich den ganzen Ge­gen­stand ganz in die Erinnerung aufnehme. Die Seiten sind gleichmäßig, sich entsprechend beteiligt, indem der Ausblick zum Gegenstand nur als Einblick zu sich am Erkennen vor sich geht. Betrachten wir das Verhältnis in Bezug auf die Einheit des Gegenstands, so bemerken wir, dass diese nur sinnvoll wird an der Ganzheit des Dinges. Schon das Ganze entsteht nur in ei­ ner gewissen Innerlichkeit; es genügt nicht einfach das Her­umgehen um das Ding, weil die Ansicht ständig Teile verlieren muss, um neue Teile aufnehmen zu können. Wir müssen feststel­ len, dass der Ganzheit des Dinges eine Ergänzung des Sinnes entspricht,



§ 9  Das Zugleich und der Vergleich55

welche dieser aus sich nicht leisten kann. Wir bemerken das Zugleich nicht so, wie der eine Blick viele gleiche Dinge nebeneinander vergleicht. So fehlen nämlich die Bestimmungen der Ganzheit, folglich haben wir es auch nicht mit einer sinnvollen Einheit zu tun. Das Zugleich enthüllt sich vielmehr als eine Fügung. Es werden Ur-Teile zusammenge­setzt, die aus verschiedenen Kammern des Erkennens kommen und dennoch eine geradezu nahtlose Ganzheit des Dinges erstellen. Nun bemerken wir, dass sich das Zugleich näher zum Vergleich bestimmt. Die Erinnerung wiederholt, und sie hält das Zu­gleich nur über ihren Vergleich an den Augenblick. So gesehen müsste man sagen, dass sich der Vergleich am Übergang ein­stellt, wo das Zugleich des Augenblicks nicht mehr genügt. Erkennen entfaltet das ganze Ding, indem es zu sich einkehrt. Es verläuft sich nicht in der Länge und Breite des Raumes, weil es an dem unentwegt neuen Zugleich immer außen bleibt und nie zum Ganzen kommt. Das Ganze aber ist die erste Form des Vergleiches, und das Zugleich erweist sich nur als der Zuträger des Vergleiches. Das Zugleich verhält sich zum Ver­ gleich auf seiten des Gegenstands wie die Fläche zum Raume, auf seiten der Vorstellung wie der Augenblick zur Erinnerung. Wir haben aber auch in einer anderen Hinsicht eine wich­tige Entdeckung gemacht. Denn das Verhältnis auf seiten der Vor­stellung klärt uns auf, dass die Erinnerung als eine Weise der Vorstellung, näherhin ja der sinnlichen Vorstellung, nicht der Quellort des Zeiterlebens sein kann. Mag der Ver­ gleich erfahrungsgemäß auch fast immer das Zeiterleben als Begleit­ erscheinung mit sich führen, es wird jetzt dennoch of­ fenbar, dass der Übergang vom Zugleich in den Vergleich nicht in der Zeit seinen innersten Grund findet, sondern in der Verschie­denheit der Kammern des Erkennens. Darum kommt auch der Ver­gleich bis jetzt mit dem rein Räumlichen aus. Diese Bestä­ti­gung wird aber auch nötig, da unsere Betrachtung die Zeit als Gegebenheit des Gemütes nur soweit ausschließen darf, wie diese keine innere Formbestimmung für das Verhält­nis von Vor­stellung und Vorgestelltem wird.1 Der Zeitstrahl, wenn wir es einmal ungenau so nennen wollen, beleuchtet zwar immer das Erkennen, aber wir nehmen ihn als das Unvermeidliche. Die Form und die Verfugung des Dinges, überhaupt dessen ganze Erscheinung hat mit der Zeit in meinem Bewusstsein so wenig zu tun, wie diese Erscheinung des Dinges mit meinem Hungergefühl etwas zu tun hat. Die Zeit hat keine innere Zuordnung zur Anschauung, und darin unterscheidet sie sich grundsätzlich vom Raum. Es gibt keine innere Anschauung in Form eines 1  Franz Brentano sucht den Ursprung des Zeitsinnes in der Erinnerung. Bereits Husserl hat die Unrichtigkeit der Annahme angezeigt.

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2. Teil, 1. Kap.: Die Anschauung und ihre Gründe der Erfahrung

Zeitstrahls, der auf die Dinge gerichtet wäre; es lässt sich noch nicht einmal sagen, dass die Erscheinung oder das Raum-Draußen in einen allgemeinen Rahmen Zeit einge­bettet wäre. Demnach möchte man sagen, dass die Einheit des Dinges gar nicht als Einheit in der Zeit aufkommt, dass aber die erste Form der Einheit, nämlich die Ganzheit, bereits als eine Zusammensetzung sich hält. Darf ich nun auf Grund unse­rer erkenntnismäßigen Voraussetzung nicht von einem Raum an sich oder von Dingen an sich jenseits meines Bewusstseins re­den, so kann ich freilich die Zusammensetzung des Raumes auch nicht in dieser Beziehung vertreten; für unser Verhältnis muss jedoch gelten, dass Raum und Raumdinge gefugt sind. Diese Be­stimmung ergibt sich aus der Zuordnung von Raum und sinnli­chem Erkennen. In mehrfacher Hinsicht hat uns nun das Einzelding zu beschäf­tigen. Fragen wir, ob es als Individuum haltbar ist, so sehen wir, dass dies schon zu weit hergeholt ist. Unteilbar in sich selber ist das Einzelding weder in Bezug auf das Vorstel­lungsvermögen noch in Bezug auf sich als Erscheinung. Die Er­ scheinung für sich genommen gibt uns keine klare Auskunft und spielt für unser Augenmerk auch noch keine Rolle. Der Wagen z. B. zerfällt in Räder, diese in Speichen, diese in Schrau­ben; alles aber lässt sich noch in Stücke zerlegen. Das Indi­viduum ließe sich hier, wenn man überhaupt davon reden möch­te, auf die zweckmäßige Einheit des Ganzen beschränken. Aber das Einzelding vermag sich als ganzes bereits im sinnlichen Bewusstsein und näherhin sogar in einem Sinne allein zu hal­ten, und es ist gerade diese Einsicht, die für uns bedeutsam wird. Indem der einzelne Sinn, das Gesicht vornehmlich, seine äußere Ansicht schon nach innen in die Erinnerung überschrei­tet, legt Erkennen einen allgemeinen Grundzug offen, der es auch vom Gemüt grundsätzlich unterscheidet. Das Einzelding ist zwar zusammengesetzt, aber die Zusammensetzung sprengt durchaus nicht den Rahmen des sinnlichen Bewusstseins. Dieses hat durch den Vergleich der Erinnerung, genau genommen müssen wir es als ein Angleichen bezeichnen, die Mittel, ein in sich geschlossenes Raumding dem Bewusstsein zur weiteren Verarbei­tung zu liefern. Die Ansicht hält sich als bloße Fassade, so dass Worte wie Ganzes, Einiges, Selbiges gar keinen Sinn ergeben wollen. An­sichtsgründe erklären sich als Oberflächen, und ihr Vergleich ist von anderer Art, wie noch gezeigt werden soll. Das Ein­zelding dagegen erweist sich darin aus einem inneren Zusam­menhang, dass es von anderen Dingen im Zugleich und im Ver­gleich ausgeschlossen ist. Es erstellt sich aus der Einkehr zu sich, diese geschieht aber in der Erinnerung. Es ist das Eine und Selbe und dies nicht nur wegen seiner Stelle im Raume, es erschließt sich und schließt sich in einem. Damit ist eine weitere Feststellung gemacht: Wir haben das Bewusstsein jenseits der Erinnerung oder besser hinter der sinnli­ chen Anschauung noch nicht näher besehen. Dennoch soll jetzt die Behauptung gewagt werden, dass die



§ 9  Das Zugleich und der Vergleich57

räumliche Einheit eines Einzeldings durchaus im Vermögen des sinnlichen Bewusstseins liegt, so dass dieses zumindest aus sich und seinem ureigenen Vorstellungsvermögen die Ganzheit des Dinges und seine Abson­derung von anderen Dingen erstellen kann.

3. Anmerkung: Die Einheit des Einzeldings in Kants „empiri­schem Bewusstsein“ Die Feststellung, welche eben getroffen worden ist, ruft den Vergleich mit Kants Synthesis des Verstandes auf den Plan. Um der Übersichtlichkeit der Darstellung willen soll deshalb hier schon diese Anmerkung durchgeführt werden, zumal ja auch unsrerseits der Verstand nicht für die bildliche und räumli­che Einheitsvorstellung vonnöten ist. „Die Synthesis überhaupt“ ist nach Kant zunächst einmal „die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, …“2 „Allein, diese Synthesis auf Begriffe zu bringen, das ist eine Funktion, die dem Verstande zukommt, …“ Wir wollen aber die Einheits­vorstellung des Dinges noch nicht als „auf den Begriff ge­bracht“ ansehen und daher keinen Widerspruch herauslesen. So dürfte denn auch mit der „reinen Synthesis, allgemein vorge­stellt“, die den „reinen Verstandesbegriff“ ergibt, freilich die „synthesis intellectualis“ im Unterschied zur „synthesis speciosa“ gemeint sein.3 Die Einbildungskraft leistet die Synthesis des Mannigfaltigen der reinen Einbildungskraft. Es steht außer Frage, dass ohne Dabeisein des Selbstbewusstseins dann trotzdem keine Erkenntnis zusammenkommt.4 Darin dürften alle Kant zustimmen. Allein hier beginnt schon eine Ausle­gung, weil Kants „reine Apperzeption“ geradezu einseitig als „Ich denke“ und nicht als „Ich bin“ anzugehen ist.5 Natür­lich ist dieses „Ich bin“ immer auch ein „Ich denke“, aber dieses „Ich denke“ nimmt nicht die Reichweite ein, dass es auch dem sinnlichen Bewusstsein die Einheit der Vorstellung geben müsste. 2  In Kants Handexemplar der „Kritik der reinen Vernunft“ soll statt „Seele“ noch „Verstand“ stehen. A 78 u. B 103. Wir verwenden d. Ausg. Meiner. (Philos. Bibliothek; 37 a). Unveränd. Neudr. d. von Raymund Schmidt bes. Ausg. (nach d. 2., durchges. Aufl. von 1930). Kant ver­wendet die Bezeichnung „Seele“ sehr zurückhaltend. Aber auch sonst geht aus dem Aufbau des Bewusstseins hervor, dass er der alten metaphy­sischen Überlieferung folgt, wonach die anima intellectiva die gesam­te Mitte des Bewusstseins als Monopol ausfüllt. Dies gilt für Kant mehr als für Thomas v. Aquin, so dass man ihn in dieser Hinsicht mit Descartes gleichstellen kann. 3  Ebda. u. § 24 (B 150). 4  A 79, B 104. 5  Vgl. § 16 und § 25 (Ausg. B).

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2. Teil, 1. Kap.: Die Anschauung und ihre Gründe der Erfahrung

Die Entscheidung in unserer Frage dürfte bei Kant durch die „innere Anschauung“ und durch die „reine Apperzeption“ schon dahin gehen, dass letztlich die Einheit des Einzeldings auch als Synthesis des Verstandes begründbar wird. Wir wollen aber dennoch nicht voreilig sein, weil trotz der schroffen Tren­ nung zwischen Verstand und Sinnlichkeit bei Kant die Einbil­ dungskraft nun doch eine stark vermittelnde Rolle spielt. Da die Sinnlichkeit ihre reinen Formen a priori hat, gehört dazu auch eine Synthesis unabhängig von aller Erfahrung, „und die Synthesis in denselben hat objektive Gültigkeit … . mithin können uns allerdings Gegenstände erscheinen, ohne dass sie sich notwendig auf Funktionen des Verstandes beziehen müssen, …“6 Damit ist indes noch keine eindeutige Antwort für un­seren Sachverhalt gegeben. Wenn das „empirische Bewusstsein“, welches als bloße Ansammlung von sinnlicher Materie „an sich zerstreut und ohne Beziehung auf die Identität des Subjekts ist“, die Ansichtsteile des Gegenstands zusammen­fügt, so be­ nötigt es doch die Einsicht des Selben.7 Dazu finden wir nun eine Aussage Kants: „Nämlich diese durchgän­gige Identität der Apperzeption eines in der Anschauung gege­benen Mannigfal­ti­gen, enthält eine Synthesis der Vorstellun­ gen, und ist nur durch das Bewusstsein dieser Synthesis mög­lich … . Diese Beziehung geschieht also dadurch noch nicht, dass ich jede Vorstellung mit Bewusstsein begleite, son­dern dass ich eine zu der anderen hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewusst bin.“8 Wie aus dem folgenden Satz noch klar wird, handelt es sich hier sogar um eine Abhängig­keit der „analytischen Ein­heit der Apperzeption“ von einer synthetischen Vorstellung. Es ist ein wechselseitiges Ver­hältnis, das ja für Kants Auf­bau des Bewusstseins gerade kenn­zeichnend wird: „Ich bin mir also des identischen Selbst bewusst, in Ansehung des Mannig­faltigen der mir in einer An­schauung gegebenen Vorstellungen, weil ich sie insgesamt meine Vorstellungen nenne, die eine ausmachen.“9 Es ist nach dem bisher Angeführten anzunehmen, dass die sinnliche Vor­stellung einer Einheit im sinnlichen Apriori der Formen zwar gegeben sein kann. Allein dieses Schema reicht nicht hin, da­mit das empirische Bewusstsein sie aus sich halten kann. Denn: „Verbindung liegt aber nicht in den Gegenständen, und kann von ihnen nicht etwa durch Wahr­ nehmung entlehnt und in den Verstand dadurch allererst auf­ge­nommen werden, sondern ist allein eine Verrichtung des Ver­standes, …“10 Es mag wohl sein, dass Kant hier vor allem an ontologische Verhältnisse denkt, etwa eine Verbindung nach dem Verhältnis von Ursache und Wir6  A

89–A 90, B 122. § 16, B 133. 8  Ebda. 9  § 16, B 135. 10  B 134–135. 7  Vgl.



§ 9  Das Zugleich und der Vergleich59

kung. Allein damit ist Kants Verstand eben nicht ausgeschöpft in seiner grundlegenden Zuständigkeit für das Bewusstsein überhaupt. So kann denn Kant auch sagen: „Verstand ist allgemein zu reden, das Vermögen der Erkennt­nisse.“11 Dieses Bewusstsein versammelt sich völlig im Ver­stande wie in einer Kegelspitze, der aber andrerseits nur eingebettet in „innerer Anschauung“, die sich lediglich in der Zeit erschöpft oder erfüllt, sich zu regen vermag. Aus der völligen Einbindung des Verstandes an das transzen­dentale Schema folgt schließlich die entscheidende Auskunft auf unsere Frage. Die Erkenntnis des Verstandes führt zur zeitlichen Bindung in einer Weise, die unser Vorgehen über­ haupt in Abrede stellen muss. Wir haben die Zeit eingeklam­mert. Kants Erkenntnis des mannigfaltigen Sinnlichen ist formhaft schon mit der Zeit verbunden, so dass allen Ernstes die Frage einen Sinn bekommt, ob das Haus, das ich zu ver­ schiedenen Zeiten wahrnehme, in Bezug auf seine sinnliche Ge­gebenheit überhaupt eine einheitliche Selbigkeit ausweisen kann. Was hier gegenständlich zum Ausdruck kommt, spricht sich in Kants Bestimmung der Einbildungskraft und auch an der synthesis speciosa aus. Sie lassen sich nicht klar einordnen. Die Grundsätze des Verstandes sind als reines Apriori auch unbedingt zeitlos.12 Jede Regung des Verstandes geschieht je­doch nicht nur angelegt in der Zeit, sie hat ihren Zielgrund und ihren Inhalt ausschließlich in der Zeit.13 Diese Philoso­phie müsste sich mit geometrischen Axiomen der Anschauung schon so schwer tun, dass sie die Linie nicht nur als Ausrich­tung des Punktes im Raume, sondern auch als Ausziehen dersel­ben in der Zeit erklären müsste. Es bleibt eine unaufgeklärte Spannung zwischen dem reinen Verstandesbegriff und dem transzendentalen Schema bzw. der synthesis speciosa, die man jedoch auf keinen Fall als Wider­spruch abwerten sollte.14 Sie ergibt sich nun daraus, dass Zeit für Kants Bewusstseinsbegriff ein Modus des Erkennens, nicht wie für uns eine Gegebenheit des Gemütes ist. Darum muss diese Auffassung zu dem Ergebnis kommen, dass Bewusstsein im Verstande nicht nur seinen „höchsten Punkt“ (bzw. tiefsten Punkt) hat15, sondern zudem Mitte und Schwerpunkt darin fin­det. Wir kommen zu dem Ergebnis, dass sinnliches Bewusstsein nach Kant die Selbigkeit des Einzeldings dem Verstande nicht als eine vorbereitete Einheit unterlegen kann. 11  § 17,

B 137. reine Vernunft, als ein bloß intelligibles Vermögen, ist der Zeitform, und mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge, nicht unter­worfen.“ A 551, B 579. 13  Vgl. A 182, B 225. 14  A 138, B 177; § 24, B 151–152. 15  B 134. 12  „Die

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2. Teil, 1. Kap.: Die Anschauung und ihre Gründe der Erfahrung

§ 10  Die drei Gründe der Anschauung in der Einheit des Din­ges 1. Die Gestalt und ihre drei Gründe Das erkennende Bewusstsein macht sich am Einzelding fest, darum erschließt es sich zunächst, indem wir in die Tiefe des Raumes einkehren. Es ist nicht das Farbband einer Land­schaftsoberfläche und nicht die Geräuschhalle um uns, welche sich als geeigneter Anfang erweisen.16 Allein dieses Umfeld ist nicht weniger Urgegebenheit des sinnlichen Bewusstseins, was sich sofort darin erweist, dass sich das Einzelding nur in den Gründen dieses Umfelds erschließt. Wir bemerken nun einen ähnlichen Zusammenhang: Wie das Bewusstsein sich als eine Drei-in-Einheit gibt, so gewahren wir, dass sich die Anschau­ung in einer Drei-Gründigkeit völlig beschreiben lässt. Doch dürfte sich die Bestimmung der Drei-Gründigkeit als eine et­ was schwierigere Aufgabe erweisen. Eine zweite Ergänzung ist noch vorzunehmen. Die Wahrnehmung des Einzeldings vollendet sich erst, indem dieses wiederum als ein Bestandteil des räumlichen Umfelds angenommen wird. Parallel zur ersten Sicht gibt sich unabtrennbar diese Be­schauung, die eine ganz andere Art von Einheit ans Licht stellt. Die Einheit des Einzeldings wäre gar nicht wahrnehm­bar, wenn sie nicht erst in den drei Gründen der Anschauung gegeben wäre. Wir haben eine Einheit in drei Gründen, die un­ter sich verschieden und dennoch einig, ja sogar selbig mit der Einheit des Dinges sind. Es gibt nichts an der Einheit des Dinges, welches nicht auch ganz und gar in den drei Grün­den wäre. Die Einheit kann nur in den drei Gründen erschei­ nen; so wie der Raum drei Ausmaße hat, ohne die er nicht Raum sein kann, so kann das Einzelding ohne die drei Gründe nicht sein. Doch jetzt gilt es, das Verhältnis der drei Gründe am Erkennen zu bestimmen. Die Gesamtheit des Raum-Draußens mit seinen Einzeldingen im Verband lässt sich auf drei Gründe zurückführen. Daran ist nicht zu zweifeln, dass meine Ansicht mit Farben, Fernen (Abstände) und Figuren ausgefüllt ist. Es findet sich keine Lücke in der Ansicht, und es gibt keinen weiteren Grund in derselben, der sich nicht in diese drei Elemente auflösen ließe. Außerdem sind diese drei Gründe immer zugleich und un­trennbar gegeben. Hat sich aber die Einheit des Dinges nur aus Ur-Teilen ergeben, die sich im Vergleich zusammenfügen, und nur im Vergleich von Ansicht und Erinnerungsansicht 16  Ein gemüthafter Anfang müsste ganz anders, nämlich mit dem Du der Mutterbindung, beginnen. Es gehört aber keineswegs zum philosophi­schen Anfangen, dass man geistig das Bewusstsein in dieser Weise mit­verfolgt.



§ 10  Die drei Gründe der Anschauung in der Einheit des Din­ges 61

ein­gestellt, so bemerken wir auch in dieser Hinsicht eine Ab­wandlung. Das Zugleich des Einzeldings, dass also alle An­sichtsseiten zugleich in meinem Erkennen die Ganzheit zusam­menstellen, kann sich nur halten, indem die Erinnerung den Vergleich aneinanderfügt. Die Ansichtsteile gleichen sich ei­ gentlich nicht, aber sie stehen zugleich, und der Vergleich führt zum Ganzen. Das Selbige hält sich als Ganzes aus seinen gefügten Unterschieden. Dieses Verhältnis soll scharf umris­sen werden, damit sich das Eigentümliche in Bezug auf die drei Gründe desto besser abzeichnet. Die drei Ausmaße des Raumes, die uns ja ebenso in der An­ schauung gegeben sind, füllen sich sozusagen mit den drei Gründen der Anschauung, die sich natürlich auch als die drei Gründe des Angeschauten noch unmittelbarer bezeichnen lassen. Zunächst einmal müssen wir einfügen, dass wir mit den drei Gründen der Anschauung eine Abstraktion aufgenommen haben, die wir vielleicht hier noch gar nicht vertreten dürfen. Um die Gründe zu beschreiben, müssen wir indes hier diesen Vorgriff (wenn es einer sein sollte) einführen. Was immer ich wahr­ nehme, ist eingefärbt. Unter diese Ebene des Vergleiches kann ich jetzt in meiner Sprache nicht gehen. Wenn ich sage, die­ses Rot, dieses Blau ist wie dieses dort, komme ich dem Ver­ hältnis in der Sprache nicht näher. Aber dieses Rot und die­ ses Blau ist immer auch diese Entfernung und jener Abstand, und dieser grüne Abstand kann nicht erscheinen, ohne dass er einen solchen Umriss hätte. Damit füllt sich meine Anschauung: Dieser Farbfleck hat einen bestimmten Abstand, und die Gren­zen der Farbe ergeben einen Umriss. Wir sagen jetzt Umriss und nicht Gestalt, weil wir die drei Gründe nur unter sich, nicht in Bezug auf das Einzelding betrachten. Jeder Grund erscheint in den beiden anderen und scheint in die beiden anderen, und dennoch ist jeder Grund völlig verschieden von jedem anderen. Denn dieses Rot kann die verschiedensten Abstände zu mir an­nehmen, und dieses Blau kann in verschiedenen Umrissen mir erscheinen, und so lässt sich alles durchspielen. Die Verschiedenheit der Gründe unter sich verlangt noch eine kurze Beschreibung. Jeder Grund scheint in die anderen, er­scheint an den anderen, aber nur deshalb, weil sie völlig an­dersartig unter sich sind. Es sind in der Tat Elemente, die nicht ineinander überführbar und nicht auseinander herleitbar sind. Hier gibt es keine Übergänge, keine Brücken, hier endet jeder Vergleich. Innerhalb der Gründe bemerken wir das Gegen­teil: Abwandlung führt zu beliebig kleinen Schritten des Übergangs. Wir mischen die Farben, wir ändern gleichmäßig die Abstände, und die Umrisse nähern sich und entfernen sich. Mit diesem Grundverhalten ist die unerschöpfliche Vielfalt der Anschauung beschrieben. Farben, Fernen und Figuren wandeln sich beständig, gleiten ineinander über, aber dies ist nur ein Augenschein, weil die Dreiheit unzertrennlich allgegen­ wärtig ist. Die Farbe wird nie Ferne usf.

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2. Teil, 1. Kap.: Die Anschauung und ihre Gründe der Erfahrung

Wir haben das erscheinende An sich in seinem äußersten Ver­gleich bestimmt, das Verhältnis zum Erkennen bedarf indes ei­ ner genaueren Beschauung. Denn dieses erscheinende An sich wird an der Abstraktion der sprachlichen Mitteilung nun doch vielleicht zu etwas Scheinbarem. Zunächst einmal darf ich feststellen, dass alles, was ich als Gesamtheit des RaumDrau­ ßens mir vorstelle, im Zugleich gegeben ist. Ich benötige nicht den Vergleich zwischen der Ansicht und der Erinnerung, denn alles, was sich hier an Geheimnissen entfaltet, ist im Zugleich einer einzigen Anschauung schon enthalten. Ich habe es im Grunde mit der Oberfläche des Raumes zu tun. Aber wie schon bemerkt, wie jedes Einzelding in seiner räumlichen Tiefe auch immer in den drei Gründen der Anschauung sich zei­gen muss, so ist die Oberfläche auch immer Tiefe des Raumes. Dies bemerke ich alles in einem einzigen Zugleich, in einem einzigen Hinblick: Das Achsenkreuz des Raumes und die drei Gründe der Anschauung. Dabei muss ich freilich feststellen, dass mir die drei Ausmaße des Raumes als meine Richtungen ge­geben sind; es sind Blickrichtungen, die sich sonst in nichts unterscheiden, weil sie gar kein erscheinendes An sich wie die Gründe haben. Es sind keine Gründe. Den Vergleich im Zugleich des Augenblicks finde ich nun nur innerhalb der Gründe. Ich bemerke dieses bestimmte Grün und entdecke es in verschiedenen Abständen und Umrissen wieder. Für die anderen Gründe lässt sich der Vergleich ebenso durch­führen. Auch hier führt nun der Vergleich zu einer Einheit, wenngleich sich zu der ersten Beschauung das Verhältnis von Zugleich und Vergleich in einer eigenartigen Umkehrung zeigt. Der Vergleich springt von hier nach da, so dass in Bezug auf ein Ganzes überhaupt keine Einheit zustande kommen kann. Fra­ gen wir jetzt nach dem Selbigen, so machen wir folgende Ent­ deckung: Es bedarf keiner langen Überlegung, um festzustel­len, dass nur unser Auge die Gleichheit der Farbflecken be­greifen kann, und dass es zugleich im Blick geschieht. Die verschiedenen Farbflecken desselben Grüns sind das Selbige. Allein hier bestätigt sich nun in geradezu erleichternder Feststellung, dass sich Erkennen am Einheitsding festmacht. Gewiss ist es dasselbe Grün, aber unter dem Selbigen erwarte ich eben doch mehr als nur Oberfläche, die räumlich auseinan­ der liegt. Damit aber kündigt sich ein erster Abstand an im Vergleich der Anschauung. Dies muss jetzt als ein grundlegendes Ergebnis festgehalten werden: Wenngleich die Einheit des Einzeldings sich aus dem Zusammenfügen verschiedener Kammern des Erkennens ergeben hat, wenngleich die Ansichtsteile dazu noch nach den drei Gründen unter sich stark verschieden sind, so kommt dennoch hier im sinnlichen Bewusstsein die Vorstellung des selbigen Dinges zustande. Wenngleich die Farbflecken sich völlig glei­chen, wenngleich die Blätter eines Baumes im Zugleich eines Blickes, in der Form



§ 10  Die drei Gründe der Anschauung in der Einheit des Din­ges 63

völlig sich gleichen, kommt dennoch nicht die Vorstellung des selbigen, ganzen Dinges zustande. Die Vorstellung des Selbigen, des Dinges spricht das Bewusstsein mehr an; es kommt aus der Tiefe und es führt in die Tiefe; es enthält einfach eine mächtigere Erscheinung. Die Farben werden an den Rand gedrängt, das Ding ist auch in ver­schiedenen Farben ein und dasselbe. Das Ding steht in sich da, die Farben gehören zum Wechselspiel. Das Ding ist das Bleibende; auch wenn an ihm noch so Verschiedenartiges zum Vorschein kommt, so sprengt dies nicht seine Einheit im Bewusstsein. Die Farbflecken mögen sich überdies im Abstand na­hekommen und im Umriss völlig gleichen, sie bringen keine Ein­heit zustande. Wir bemerken deshalb, dass sich unser Erkennen durchaus nicht abweisen lässt durch verschiedenartige Gründe der Anschauung. Es verliert deshalb nicht die innere Einheit des Dinges aus dem Sinn, weil es in seiner Natur liegt, einzudringen in den angefüllten Raum und die Einheit nicht in einer oberflächigen Gleichheit zu suchen. Es sind demnach zwei Beschauungen, in denen sich die sinnli­che Anschauung ergänzt. Wenngleich sie unabdingbar zusammen­gehören, so erfüllen sie sich in gegensätzlicher Weise zur Dingbetrachtung. Bereits die Anschauung benötigt ein Grundge­rüst, welches die tragende Form ist, und an diesem sind die drei Gründe aufgehängt. Zum Einheitsbegriff der sinnlichen Anschauung gehören beide, das Ding erscheint nur in den An­sichtsgründen, diese benötigen die tragende Gestalt. Das zu Grunde Liegende hat nicht etwa die Gründe als etwas Hinzukom­mendes, es ist unvorstellbar ohne diese. Die Anschauung wie­derholt immer dies Verhältnis, und sie vermag unmittelbar die Einsicht zu vollziehen. Es ist immer ein ganzes Ding und es sind immer solche Gründe, die sie vor Augen hat. Das Erkennen bleibt an den Dingen selbst, es muss nicht unanschaulich wer­den, denn die Vorstellung ist das Vorgestellte, auch wenn dies Vorgestellte sich ständig abwandelt. Es ist aber der Wandel in der Vorstellung, welcher Erkennen schon angeregt hat, die Innerlichkeit des Dinges zu erfahren. Der Wandel treibt Erkennen an, das Bleibende zu finden, weil es sich aus seinem eigenen Bewusstsein heraus gehalten erfährt, sich am Ruhenden und Bleibenden festzumachen. Wir bemerken, dass Er­ kennen ein gewisses Vorgehen hat, dieses Feste und Bleibende aufzuspüren in allem Wechsel. Es schält nach einer ihm ei­ genen Natur das Zufällige, nicht das Hinzukommende vom Blei­benden oder Tragenden ab. Was wir aber hierzu sagen können, ist nur die Vermutung, dass Erkennen an dem tragenden Ganzen in seinen Vorstellungen letztlich die Entsprechung zu seinem eigenen Bewusstsein sucht. So wie es sich in allem Wechsel seiner Vorstellungen als den wandellosen Pol „Ich bin“ weiß, worum sich alles dreht, so vollzieht es seine Natur, indem es die Dinge selbst aufspürt, um in ihnen das Gleichnis seines Bewusstseins wieder zu finden. Blicken wir einmal auf das Ge­müt, so finden wir jetzt

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eine Erklärung. Wie das Gemüt nach der Ruhe hinzielt, so sucht Erkennen seine Entsprechung dazu in einem festen Grund, und offenbar liegt dieser Grund unter oder hinter den drei Gründen der Anschauung. Damit klärt sich der Fortgang der Beschauung heraus. Wie fin­det Erkennen seine festen Gründe, die der Ruhe und dem Frie­den des Gemütes entsprechen und die deshalb die Ruhe und den Frieden des Gemütes sichern? Denn dass Bewusstsein nicht nach Schmerz und innerer Zerissenheit strebt, sondern nach Über­einstimmung mit sich, ist uns eine unmittelbare Gegebenheit. Ebenso geht aber auch Erkennen nach festen Gründen und nicht nach Täuschung, so dass die Wahrheit des Erkennens und der Frieden des Gemütes sich im Bewusstsein gegenseitig suchen und bedingen und dieses Bewusstsein zu einem zufriedenen machen können.

2. Der Einblick und der Vergleich; das sinnliche Wissen um das Einzelding Die Einheit des Dinges, genau genommen dürfen wir nur „dieses Ding da als ein ganzes“ sagen, ist durchweg in der Anschauung gegeben, nur dass eben die Erinnerung ihren Anteil beitragen muss. Allein dieser Beitrag überschreitet nicht unsere, an das bestimmte Einzelding geheftete Anschauung. Unter Hereinnahme der Erinnerung lässt sich das Zugleich durchhalten, so dass die Erinnerung der Raumtiefe und nicht der Zeit zu entsprechen hat. Ich kann nun von einem Einzelding zum anderen gehen und dieses jeweils als etwas völlig Neues aufnehmen. Damit kommt indes Erkennen nicht weiter. Es zeigt sich, dass unsere drei Gründe der Anschauung bereits Gleichnisse sind, die wir nun näher prüfen müssen. Waren sie zunächst die oberflächlichen Dinge, woran das Erkennen nicht seinen inneren Halt gefunden hat, so benötigen wir sie jetzt, um die Raumdinge unter sich vergleichen zu können. Die Grüntöne kann ich mit einem einzigen Blick einfangen, auch ohne Erinnerung. Mit den Farben aber habe ich eine Sam­melbezeichnung, der keine Entsprechung gilt wie bisher. Auf „dieses Grün“ kann ich deuten, es ist unmittelbar gegeben. Gleichwohl setzt dieses Grün als Bezeichnung einen Vergleich voraus, der sich zwar ganz in der erinnernden Anschauung ein­ gestellt hat, so aber nur eine Abstraktion vom bestimmten Ein­ zelding beinhaltet. Mit „dieser Farbe“ aber ändert sich al­les, denn es gibt sie nicht so, wie es „dieses Grün“ gibt. Dieses Grün als dieses Quadrat von diesem Ausmaß kann ich mir vorstellen losgelöst vom Einzelding, und dennoch ist es eine anschauliche Vorstellung. Aber farbige Figuren lassen sich nicht unmittelbar vorstellen, sie setzen unmittelbare Vor­ stellungen voraus, aber sie finden keine Entsprechung. Etwas ganz Neues ist aufgekommen im



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Erkennen, und seine Bestimmung lautet nun: Ihm fehlt das erscheinende An sich, welches alle Erkenntnisinhalte bis jetzt ausgezeichnet hat. Die Farben, die Figuren sind Sammelbezeichnungen, die dem Erkennen als Gedächtnisstützen dienen. Um nicht alles einzeln aufzählen zu müssen, verwendet Erkennen ein völlig eigentümliches Überein­ kommen, dem wir den Inhalt Gleichnis gar nicht zubilligen können. Wir müssen nochmals am Einzelding und seiner besonderen Be­schaffenheit in den drei Gründen beginnen, um die nächste Ebene, jene der bereits genannten Abstraktionen besser ein­ordnen zu können. Erkennen gelangt am Einzelding als ganzes nur zu einem Einblick, weil es die Vorstellung als räumliche hat. Es ist dieses Ding da, mehr als nur eine Ansicht, ein Grundstein, von dem aus das Bewusstsein sich entfalten kann. Allein diese Einsicht im Bereich des sinnlichen Bewusstseins ist eben noch kein Wissen. Denn dieses stellt sich erst im Vergleich ein, das Zugleich reicht also nur zum Einblick. Ha­ben sich die Ansichtsgründe zunächst nur als flüchtige, ober­flächige und haltlose Schemen gezeigt, so zeigt sich jetzt, dass diese Abzugsbilder gerade nötig sind, um das Wissen am Einzelding sich einfinden zu lassen. Denn das Einzelding ruht in sich, man kann nicht von ihm absehen, es ist Tragegrund im letzten Einblick. Wenngleich es nichts ist ohne die An­sichtsgründe, so halten diese sich in einem anderen Hinblick. Dieses Grün kann ich lösen von seinem Umriss und seinem Ab­stand, so dass es sich als sinnliche Vorstellung in meiner Er­innerung freischwebend hält. Meine Einbildungskraft ersetzt das unmittelbare Raum-Draußen. Wir haben es also mit einer Abstraktion bereits im sinnlichen Bereich zu tun, und demgemäß stellt sich in eben diesem Bewusstsein auch ein sinnliches Wissen ein. Es sind die flüchtigen, losgelösten Ansichtsgrün­de, die in grenzenlosen Möglichkeiten der Zuordnungen ein Wissen als Vergleich aufkommen lassen. Das Wissen in seiner allereinfachsten Form hat sich eingestellt. Jedes Ding müsste so einen Namen erhalten. Es besteht ganz für sich und schließt darin jeden Vergleich aus. Aber im Erkanntsein ist es auch schon zugleich im Vergleich mit anderen Einzeldingen. So wie dieses Einzelding nur in den Gründen erscheinen kann, so wird auch das Wissen an ihm so aufgehängt. Prüfen wir die Entstehung dieses Wissens, welches noch mit der Anschauung verwachsen ist. Es benötigt den Grund als sel­bigen, einmaligen; es benötigt den Wechsel im Vergleich. Also entsteht das Wissen am oberflächigen Vergleich. Aber Erkennen ist naturgemäß, wie es sich gezeigt hat, auf Erinnerung aus. Dies haben wir einfach hinzunehmen, ohne nach Gründen zu suchen. In Bezug auf das Wissen erhalten wir dann eine erste allgemeinere Grundform: Es ist der Gang in die Erinnerung, wobei immer versucht wird, das Einmalige im Grunde des Ein­zeldings mehr und mehr an die Oberfläche des Vergleiches zu bringen. Jedes neue Wissen fördert somit

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weiteres Tieferlie­gendes und Einmaliges an die Oberfläche des Vergleiches. Aber verliert es damit seine Einmaligkeit, und ist Wissen dazu verurteilt, flüchtig und oberflächig im Bewusstsein zu haften? Die innere Einheit und der Aufbau des Einzeldings wird durch das Wissen nicht erschüttert, wie leicht festzustellen ist. Wenngleich das Wissen so beschrieben ist, so leistet es doch vielmehr einen festen Zusammenschluss zwischen dem Ding und dem Bewusstsein, die gegenseitig im Erkennen ineinander ein­kehren. Denn der Vergleich entleert nicht die Innerlichkeit des Dinges, er holt von anderen Oberflächiges her. Was vom Grund heraufgeholt wird, verliert sich keineswegs in seiner Selbigkeit, und dies ist also das Entscheidende: Der Ver­gleich führt nur zur Selbigkeit. Was an die Oberfläche des Wissens gelangt, kommt zur Unterscheidung, aber die Unter­scheidung ist nichts ohne Vergleich. Die Einzeldinge geraten in den Zusammenhang, und sie entfalten sich im Vergleich in ihrer Selbigkeit. Wissen wirkt demnach nicht als eine Auflö­sung des Einmaligen in eine Rückflut zu den Ansichtsteilen, als ein Verschwimmen des Grundes in eine Einheitsvorstellung von Tragegrund und Ansichtsflächen. Wissen erklärt sich viel­mehr als eine Einkehr des Erkennens zu sich selber, und dar­aus hält sich ja bereits die Selbigkeit des Dinges.

3. Die Einblendung des Gleichartigen in das Einzelne; das Wissen als Allgemeines der Erinnerung Das Wissen erschließt sich nun in einem neuen Hinblick, wo­bei sich jedoch die Merkmale der Bestimmung durchaus noch im Anschaulichen halten. Es lässt sich daher auch nicht von einer neuen Ebene reden. Außerdem haben wir auch die Bestimmungs­gründe als Abstraktionen wie Farbe, Figur und Abstand noch immer nicht erreicht. Zu Beginn haben wir festgestellt, dass wir am Einheitsding an­setzen, um dann seine Eigentümlichkeiten im Vergleich mit an­deren Dingen zu bestimmen. Damit ist dieses Ding da wirklich einmalig, und was sich wiederholt, sind nur dieses Grün, die­ser Abstand und ähnliches. Jedes Ding steht nur einzeln da, es gibt noch keine Gleichartigen, und so haben wir auch noch keine Farben, Figuren und Abstände; es ist noch einzelner als in der Jägersprache, es gibt überhaupt noch keine Gattungen. Aber nun setzt Erkennen zu einem erneuten Vergleich an. Das Einzelding lässt sich nicht nur in seinen Ansichtsteilen mit anderen Dingen vergleichen. Es gibt die gleichartigen Dinge, die sich nur noch im Abstand unterscheiden. Eine Ansicht ge­nügt, um das Wissen vom ganzen Ding hervorzurufen; und nun bildet Erkennen ein Gleichnis vom Einzelding selber. Damit aber ist doch die Selbigkeit aufgelöst. Denn in der Erinne­ rung schmilzt alles zu einem Gleichnis, so dass auch kein Ab­stand mehr da ist, um das Einzelne festzu-



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halten. Indes hält sich dieses Gleichnis noch immer in der Anschauung und sein Wissen in der vergleichenden Erinnerung. Es ist das Art­gleichnis oder das Gleichartige. Prüfen wir jetzt, ob die Selbigkeit des Einzeldings sich hier aufgelöst hat, so müssen wir nun eine weitere Unterscheidung vornehmen. Dieses eine Ding verliert seine Selbigkeit keines­wegs, wenn es ein gleiches Grün trägt wie ein sonst völlig anderes Ding. Das Grün, welches ich als gemeinsames Merkmal zurückhalte, lässt die Verschiedenartigen nicht zusammengehen. Die Gleichartigen behalten dagegen nichts mehr zurück, sie gehen völlig ein in das Gleichnis, womit sich doch die Sel­bigkeit aufzulösen droht. Tatsächlich bringt der Vergleich in seinem Inhalt den Verlust der Selbigkeit; setze ich das ganze Ding in den Vergleich, schwindet auch die ganze Selbig­keit. Damit enthüllt sich ein weiterer Grundzug des Wissens: Es ist allgemein. Die Anschauung für sich genommen kann kein Wissen enthalten oder behalten, denn dieses tut sich als ein Hintergrundwissen auf, wobei sich die Erinnerung in die An­sicht einblendet. Darin wird schon eine Lösung unserer Frage sichtbar. Wenn nämlich das Gleichnis der Erinnerung sich in die Ansicht einblendet, so wird auch hier nichts aufgelöst oder verflüchtigt. Mithin bleibt denn auch die Selbigkeit im Anblick und damit wohl im Bewusstsein erhalten. Nach zwei Richtungen muss unser neues Wissen geprüft werden, um den vollständigen Aufschluss darüber zu erhalten. In Rich­tung auf das gesamte Bewusstsein dürfen wir wenigstens soviel sagen, ohne aus unserer Klammer herauszutreten. Das Hinter­grundwissen vom Gleichartigen verflüchtigt bei seiner Ein­ blendung das Bewusstsein keineswegs, dieses bleibt in seinem Schwerpunkt am Einzelnen, am Selbigen, wo es sich festgemacht hat. Wissen wirkt trotz seiner allgemeinen Zuständigkeit nicht gegen das Einzelne, es wird nur zu einer neuen Anwesen­heit im Bewusstsein, die das Verhältnis von „Ich bin“ und Ein­zelding ungemein bereichert. Das Einzelding steht nicht mehr einsam da, es erhält einen Hof des Wissens; und erst das Wis­sen um die Gleichartigen erweist sich als die eigentliche Einkehr und die Innerlichkeit des Wissens. Es verleiht so dem Einzelding erst sein Gewicht im Bewusstsein. Noch ein neues Merkmal können wir feststellen. Das Einzelding hatte sich in seinen Ansichtsgründen erstellt, ohne sie konn­te es nicht erscheinen. Darum konnten wir also auch noch nicht von einem Wissen reden, denn der Einblick war ohne die Gründe gar nicht gegeben. Also konnte auch noch kein Wissen hinzukommen. Erst die Vergleiche mit den anderen Dingen brachten eine Andeutung von Wissen. Dagegen zeigt sich aber nun das Gleichnis schon deshalb als eine Bereicherung, weil es am Anblick und am ganzen Ding ja gar nicht zu dessen un­mittelbarer Ausstattung ge-

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hört. Dieses steht für sich allein da gleich dem „Ich bin“, und das allgemeine Gleichnis wird zu et­was, das hinzukommt. Wissen ist etwas, das im Bewusstsein hin­zukommt; es ist bis jetzt ein zufälliges. So hat sich schon das Wissen in seiner ersten Form als eine Bereicherung am Einzelding eingestellt. Dieses Ding trägt an dieser Stelle das gleiche Grün wie jenes andere Ding an einer anderen Stel­le. Das Einzelding zeigt sich notwendig so, es kann gar nicht anders sein. Das Wissen kommt zufällig im Bewusstsein hinzu, es geht das Einzelding gar nichts an. Doch hier muss genauer hin­gesehen werden. Das eingeblendete Gleichnis gehört nicht zum Angeschauten, doch das Gleichnis kommt aus der Vorstel­ lung notwendig auf, weil sich Wissen nicht unterdrücken lässt. Das Verhältnis dreht sich jetzt aber geradezu um, je nachdem, wie ich es betrachte. In Bezug auf das Einzelne kommt das ver­gleichende und allgemeine Wissen hinzu; in Bezug auf das all­ gemeine Wissen, welches bedingt notwendig so aufkommen muss, wird freilich das Einzelne zu etwas Zufälligem und Hin­ zukom­ mendem. Tatsächlich haben wir es mit einem ausgewogenen Wech­selspiel zu tun, wobei es wohl nicht besonders klug wäre, die Weisen des Beschauens gegeneinander auszuspielen. Das merkwürdige Verhältnis, welches so aufgekommen ist, muss uns das Wissen näher bestimmen, denn als solches hat es sich ja ergeben. Das Einzelding lässt sich auch als einzelnes ganz in die Erinnerung nehmen, womit es sich nach wie vor vom Art­gleichnis unterscheidet. Die Natur der Erinnerung tut sich nun auf als das Vermögen der Gleichnisbildung. Nicht nur das Einzelne gleitet ins Gleichnis über, jeder Anblick verwischt sich hinter der Anschauung. Indem aber jeder Anblick auch ei­ne Raumstelle miterfasst, so bildet die Erinnerung auch hier die Grundeinheit. Das Einzelne kann deshalb nur ins Gleichnis gleiten, indem die Erinnerung auch die Raumstelle in einen allgemein vorgestellten Raum setzt. Damit haben wir einen wichtigen Grundzug der Gleichnisbildung aufgespürt, der als ihre unterste Schicht alles weitere prägt. Wie sich nämlich der Raum als Grundanschauung erweist, so liefert er nun in der Erinnerung den Boden für jeden gleitenden Übergang vom Einzelnen ins Gleichnis. Diese Fähigkeit des Gleitens zeich­net sich natürlich als die neue Kraft der Erinnerung aus. Der frische Eindruck gleitet hinunter in das Halbdunkel, wo sich alles auflöst in das Unterbewusstsein, um hier mit dem Gemüt zu verschmelzen in eine Tatoder Erlebniseinheit. Diese las­sen wir gerne hier unbedacht. Aber die Fähigkeit der Erinne­rung benötigt auch eine gegenständliche Grundanschauung für das Gleiten, und diese liefert ihr natürlicherweise der idea­ le Raum, welcher nämlich in der Anschauung schon so ist wie in der Erinnerung. Der Raum vermittelt in jeder Hinsicht des Erkennens bis jetzt. Es fällt uns nicht schwer, die ungeheure Bedeutung der Erin­nerung für das Bewusstsein zu ahnen; es bleibt verborgen, in welche Tiefen und Höhen



§ 10  Die drei Gründe der Anschauung in der Einheit des Din­ges 69

sie hinreicht. Nichts in unserem Bewusstsein trägt so ausgeprägt die Züge einer vielseitigen Ver­mittlungsstelle wie die Erinnerung. Denn die Fähigkeit, die wir im sinnlichen Bewusstsein wahrnehmen, nämlich das Einzel­ding ins Gleichnis gleiten zu lassen, deutet doch zugleich über die Grenzen des sinnlichen „Gedächtnisses“ hinaus. Dür­fen wir denn nicht annehmen, dass die Gleichnisse, welche in der Werkstatt Erinnerung hergestellt werden, gerade eine Vor­bereitung sind, um in die Begriffe des Verstandes einzumün­ den? Diese Vermittlung vom Einzelnen zum Allgemeinen, vom Sinnlichen zum Verstandlichen überragt jedoch keineswegs die anderen Richtungen. Denn das Gleichnis, welches sich ein­ stellt, wäre ein kümmerliches und nicht lebensfähiges im Bewusstsein, wenn in der Erinnerung nicht auf geheimnisvolle Weise auch die Vermittlung der Sinne unter sich stattfinden würde. Diese Vermutung darf hier ausgesprochen werden. Denn die Vorstellung des Einzeldings wie auch seines Artgleichnis­ ses hält sich aus einer Zusammenschau, die nur die Sinne als Zuträger hat. Schließlich wollen wir auch hier die Brücke zwischen Erkennen und Gemüt überhaupt vermuten, so dass sich an dieser Aufgabe die allseitige Vermittlung der Erinnerung innerhalb des Bewusstseins erfüllt. Dank der umfangreichen Zuständigkeit und Tätigkeit der Erin­nerung lässt sich soviel vorwegnehmen. Es muss keineswegs der Verstand mit seinen wenigen Regeln und Begriffen sein, wel­cher die Hauptwurzel des Selbstbewusstseins ausmachen soll. Dies schon deshalb nicht, weil wir das Gemüt überhaupt nicht als Verstand auffassen können und dieses doch wohl eher als der Sitz des Befindens gelten kann. Dann dürfen wir vermuten, dass selbst in der Zone des erkennenden Bewusstseins der Ver­ stand zwar die eherne Trägerschaft der Regeln erstellt, der Schwerpunkt des Erkennens jedoch in der Masse der Erinnerung sich hält. Da wir die Zeit als Gegebenheit des Gemütes, nicht als Vorstellung des Erkennens wissen, klärt sich so auch ihre Nähe zur Erinnerung. Denn hier muss diese Zeit ans Tageslicht des Bewusstseins treten, weil die Erinnerung als Anlage des Erkennens zum Gemüt hin geöffnet ist.17

17  Als erkenntnismäßige Anlage leistet die Erinnerung die Vermittlung zwischen Verstand und Sinnlichkeit, so dass die Zeit als unabdingbare Anwesenheit mit dem Gemüt schlichthin gegeben ist. Kant knüpft jedoch in dieses rein erkenntnismäßige Verhältnis die Zeit schon causaliter und formaliter mit hinein und verzeitigt hier etwas, welches auch zeitlos betrachtet werden kann. Vgl. Kritik d. r. Vern. A 199, B 244–A 201, B 246.

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2. Teil, 1. Kap.: Die Anschauung und ihre Gründe der Erfahrung

§ 11  Das anschauliche Wissen als Vergleich 1. Das Selbige als erste Form des Wissens Wir haben von einem erscheinenden An sich, von einem Ein­blick, welcher noch kein Wissen ist, und vom Wissen geredet. Dies alles spielt sich noch im Bereich des Anschaulichen ab, und es muss eingehend geprüft werden. Im Grunde hat das er­scheinende An sich keine Berechtigung, weil es lediglich als Ur-Teil eines Einzeldings haltbar ist. Bereits der Einblick in das ganze Ding benötigt eine Wiederholung der Ansichts­teile in der einbildenden Erinnerung. Das Selbige als solches kann sich nicht durchgehend auf ein erscheinendes An sich stützen, und so erklärt sich Wissen immer schon als eine ver­mittelte Anschauung. Das erscheinende An sich bestimmt sich als unmittelbare Ansicht, die zwar zum ehernen Grundstein des Wissens notwendig, jedoch noch nicht einmal zum Einblick in das selbe Ding hinreichend ist. Fragen wir jetzt nach der un­mittelbaren Einsicht, so tun wir gut daran, zwischen Einblick und unmittelbar einsichtigem Wissen zu unterscheiden. Zwi­schen Einblick und Wissen steht die Einsichtnahme, es hat keinen „Sinn“, wenn wir die Unmittelbarkeit auf das Ansichts­teil eingrenzen, weil sonst alles dem Zweifel verfällt. Die hintere bzw. vordere Hauswand, die ich im Augenblick nicht erblicke, die ich aber noch frisch in meiner Einbildung habe, gehört zu meiner unmittelbaren Einsichtnahme. Dieses einzelne Haus steht zwar durch die Weisen meines Erkennens vermittelt in mir; was es selber als gegenständliches betrifft, so hält es sich in reinster Unmittelbarkeit „an sich“. Zum erschei­nenden An sich gehört deshalb durchaus noch die Zusammenfü­gung aus Ansichtsteil und Erinnerungsteil, aus durchgehenden Erinnerungsteilen. Wenn ich der frischen Erinnerung nicht trauen darf, bin ich vor Sinnestäuschung des Augenblicks auch nicht sicherer. Wir kommen deshalb zu dem Ergebnis, dass wir die so gefasste Anschauung mit ihrem erscheinenden An sich zur unmittelbaren Einsichtnahme zählen dürfen. Denn anders wäre buchstäblich alles „sinnlos“. Der Brief, den ich lese, behält sich zwar in meinem Denken, allein dieser Inhalt würde sich ständig beim Lesen verlieren, und von einer unmittelbaren Einsichtnahme könnte so keine Rede sein. Diese Bestimmung darf nur für das Einzelding gelten. Solange also im Bereiche der Anschauung keine Inhalte hinzukommen, die nicht aus diesem Selben genommen sind, wird die unmittel­ bare Einsichtnahme durch den vermittelnden Übergang vom An­blick zum Erinnerungsbild nicht unterbrochen. Denn nichts kommt hinzu, was dem Einzelding in seiner unmittelbaren Er­scheinung nicht ureigen wäre. Was daher dessen Unmittelbar­keit betrifft in der Weise der Vorstellung, so leitet sich diese nur inhaltlich vom Vorgestellten ab, nicht jedoch von einer Vermittlung innerhalb der Anschau-



§ 11  Das anschauliche Wissen als Vergleich71

ung.18 Aber welches echte Wissen ist durch die Vorstellung des Einzeldings gege­ben, und wie weit lässt sich Wissen als unmittelbares begrün­den? Dies gilt es nun zu prüfen. Die unmittelbare Einsicht­nahme erbildet mir jetzt das Einheitsding, und Wissen ist mir in einer ersten Form als Einheit in Abstraktion gegeben. Diese Form des Wissens liegt eingefleischt in sinnlicher Materie immer vor, Selbiges ist Einiges. Selbiges und Einiges fallen im Anschaulichen zusammen, sie sind weder zufällig noch hin­zukommend; das Einzelding schließt in seinem anschaulichen Begriff die Selbigkeit unmittelbar ein. Wissen aber entsteht nur im Vergleich, ohne Vergleich kein Wissen. Der Vergleich schließt indes neue Inhalte ein, und somit müsste wohl alles Wissen um die Unmittelbarkeit gebracht sein. In der Tat zeigt sich sofort, dass Selbiges schon im Vergleich steht, denn anders ließe es sich nicht als solches einsehen. Es zeigt sich aber auch, dass wir es hier mit einem Übergang zu tun haben, der beides erfüllt. Es ist unmittelba­res Wissen; unmittelbar, weil das Ding an sich selbig ist; Wissen, weil es im Umfeld steht. Das Selbige ist ein Ver­gleich und darin die erste Form des Wissens. Das Andere be­stimmt sich am Selbigen auch wieder zum Selbigen, aber dies bleibt eine unmittelbare Wahrnehmung. Betrachten wir das Ver­hältnis genau, so bemerken wir auch, dass sich alles im Ver­gleich hält und das Selbige keineswegs in Widerspruch fällt. Denn die Vielheit der Einzeldinge geht dem Erkennen mit dem Einblick in Selbiges auf, und die vielen sind nicht Selbige, indem sie sich gegenseitig verneinen, sondern vergleichen, jedoch nur in Bezug auf ihre Selbigkeit. Die Selbigkeit ver­ schließt sich nicht dem Vergleich, sie steht ihn durch, denn das Selbige ist zwar das Einige, jedoch nicht das Einzige. Grundsätzlich muss deshalb anschauliches Wissen nicht um seine Unmittelbarkeit gebracht sein.

2. Die Ansichtsteile als Vergleich der Selbigen Die Ansichtsteile erstellen noch nicht die Wahrnehmung des Selbigen, weil jedes für sich gesehen noch nicht einmal für die Tiefe des RaumDraußens hinreicht. Wie aber der Begriff des Einzeldings ohne seine Ansichtsseiten gar nicht erschei­nen könnte, so verhält es sich mit dem Wissen um das Selbige und seinen Eigentümlichkeiten. Denn die Ansichtsgründe an den Selbigen wiederholen sich in mannigfaltigen Zuordnungen und Ab18  Gebrauchen wir den Wortschatz Husserls, so lässt sich sagen, dass unmittelbare Einsichtnahme im Anschaulichen nur noematische, nicht jedoch noetische Unmittelbarkeit verlangt.

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2. Teil, 1. Kap.: Die Anschauung und ihre Gründe der Erfahrung

wandlungen, und nun zeigt sich, dass unser Wissen als Ver­gleich eine beträchtliche Erweiterung durchhält, ohne die un­ mittelbare Einsichtnahme preiszugeben. Damit hat sich das anschauliche Wissen in seiner allgemeinen Verfassung begrün­det. Gemäß seiner Entstehung dürfen wir von ihm sagen, dass es sich unmittelbar im Vergleich hält. Wir haben es mit dem be­ stimmenden Merkmal des anschaulichen Wissens oder der Wahr­nehmung zu tun. Der Begriff des Selbigen, der jedem Einzel­ding zu Grunde liegt, trägt die Ansichten. Das Selbige wie­derholt sich in jeder Vorstellung eines Einzeldings, die An­sichtsteile dagegen können sich nie so wiederholen, dass sie bis in alle Einzelheiten die selben wären; zumindest im Ab­stand müssen sich zwei völlig gleiche Dinge unterscheiden. Der Vergleich findet vor der Verselbigung seine Grenze, die er nie überschreitet. Wären zwei gleiche Einzeldinge auch im Abstand völlig gleich, so fiele erst das Selbige in den Wi­derspruch mit sich selber. Es sind also die Ansichtsgründe, welche das jeweils andere Selbe erstellen. Das Selbige ist in allen Dingen das Selbige, die Vorstellung des Selbigen ist in allen Dingen dieselbe. Aber die Ansichts­gründe können nie ganz dieselben sein. Das Selbige wiederholt sich in den Ansichtsgründen, erscheint jedoch in ihnen unmit­telbar als das Selbe. In Bezug auf das Selbe sind alle Dinge gleich selbig, in Bezug auf die Ansichtsgründe ist kein Ding dem anderen gleich. Durch die Ansichtsgründe sind alle Dinge im Netz des Vergleichs. Das Selbe zielt auf etwas, das in den Dingen nicht als Vergleich sein kann. Es erscheint in allen Dingen aus sich, und doch steht es unmittelbar im Vergleich. Die Anschauung hat ihre Grenze, woran sie nicht weiterkommt. Aber wir haben dafürgehalten, dass die Ansichtsgründe aus sich das Selbige nicht verfassen können, wenigstens nicht je ein­zeln für sich. Damit hat sich der Vergleich in der Anschau­ung schlichthin als Verfassung auch grundgelegt. Die Selbigen im Vergleich, der Vergleich an den Selbigen.

3. Der Unterschied als Verneinung des Vergleiches und Beja­hung des Widerspruchs. Hegels Dialektik der sinnlichen Ge­wissheit Da das Selbige in allen Dingen auf das Selbe zielt, nämlich dessen innere Geschlossenheit in der Vorstellung, müssten doch alle Dinge das Selbe sein oder aber das Selbe ist als dassel­be auch wieder das Andere und trägt so die Verneinung schon in sich. Muss das sinnliche Bewusstsein, indem es Einblick neh­mend von einem Selbigen zum anderen Selbigen wandert, „die­ ses“ Selbige nicht immer fallen lassen, um ein neues „Dieses“ auf­nehmen zu können? Wir haben die gewagte Behauptung aufge­stellt, dass anschauliches Wissen im Vergleich seine Unmittel­barkeit noch nicht verlieren muss.



§ 11  Das anschauliche Wissen als Vergleich73

Einzige Bedingung war, dass kein Inhalt hinzukommen darf, der nicht aus der Anschauung entnommen ist. Die Vermittlung zwischen Anblicken und Erin­nern desselben Inhalts eines Vorgestellten betrachten wir als unmittelbaren Zusammenhang, welcher ja durch keine Abstraktion unterbrochen wird. Innerhalb dieser Rahmenbedingung sind dann auch Ansichtsteile der vielen Einzeldinge unmittelbar in den Vergleich gestellt. Gewiss lässt sich die Entstehung dieses anschaulichen Wissens so hinstellen, dass ich „dieses Selbige“ „jetzt“ als Haus und „dieses Selbige“ „jetzt“ als Baum gegeneinander ausspiele. Gewiss ist es unbezweifelbar, dass die Sprache schon immer auf der Ebene des Denkens verläuft, somit ein sinnbildliches Er­eignis des Denkens wird und für dieses anschauliche „Ding da“ ohne den besonderen Fingerzeig gar kein Fassungsvermögen hat. Der Fingerzeig ist nur ein äußeres Mittel, welcher so den Schnittpunkt zwischen der dem Allgemeinen verpflichteten Sprache und dem je einmaligen „Ding da“ herstellt. Allein da­mit bestimmt sich das Verhältnis zwischen der Ebene des All­gemeinen im Wortbegriff und der Ebene des Einzelnen in der Anschauung noch nicht genügend, und jetzt wird es von großer, äußerst wichtiger Bedeutsamkeit sein, wie man das Verhältnis fasst. Der Vergleich enthält immer eine Verneinung, weil sonst ein Vergleich nicht möglich und nicht nötig wäre. Jede Be­stimmung ist eine Unterscheidung und damit eine Verneinung. Aber jeder Vergleich zielt auf das, was in Verschiedenen den gleichen Zug an den Tag legt. Es bedarf nur einer sehr feinen Verkantung in der Sichtweise des Unterschieds, der jedenfalls gegeben ist, um den Abstand im Verhältnis als Verneinung oder als Vergleich aufzufassen. Denn der Unterschied als Ver­gleich enthält freilich immer auch eine Verneinung in Bezug auf das Selbige, aber der Unterschied als Verneinung kann auch noch den Vergleich ausschließen. Hegels „Dialektik der sinnlichen Gewissheit“ muss nun genau ge­ prüft werden, da es sich doch hier um die gleiche Stelle han­delt. Wir haben indes nicht den Eindruck, dass die Dialektik zu dem gleichen Ergebnis kommt. „…; das Aufgezeigte, Festgehaltene und Bleibende ist ein negatives Dieses, das nur so ist, in dem die Hier, wie sie sollen, genommen werden, aber darin sich aufheben.“19 „Diese reine Unmittelbarkeit geht also das Anderssein des Hier als Baums, welches in ein Hier, das Nichtbaum ist, das Anderssein des Jetzt als Tages, das in ein Jetzt, das Nacht ist, übergeht, oder ein anderes Ich, dem etwas anderes Gegenstand ist, nichts mehr an.“20 Niemand wird Hegel widersprechen, wenn er anführt: „Sage ich: ein einzel19  Phänomenol. d. Geistes. N. d. Text d. Orig.ausg. hrsg. v. Joh. Hoffmeister. 6. Aufl. Hamburg, Meiner 1952. (Philos. Bibliothek; 114). S. 86 (A I). 20  Ebda. S. 84.

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nes Ding, so sage ich es vielmehr ebenso als ganz Allgemeines, denn Alle sind ein einzelnes Ding; …“21. Das einzelne Ding ist für das Sagen „der Sprache, die dem Bewusstsein, dem an sich Allgemeinen angehört, unerreichbar …“22 So kommt denn diese Art von „Phänomenologie“ zu ihrem Ergeb­nis: „Die unmittelbare Gewissheit nimmt sich nicht das Wahre, denn ihre Wahrheit ist das Allgemeine; sie aber will das Diese nehmen.“23 Das Bestechende an diesem Ergebnis liegt darin, dass die Spra­che auf der Ebene des Allgemeinen sich ereignet. Allein diese Tatsache darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hegel hier ein grober Fehler unterlaufen ist, der im einzelnen noch zu entfalten ist. Indem Hegel das Bewusstsein als das Allge­meine auftreten lässt, wird der Unterschied zwischen der Ebene der Sprache und der Ebene der Anschauung, die ja tiefer liegt, nicht von der Anschauung aus, sondern von der Sprache aus angegangen. Die Phänomenologie des Erkennens hat indes hier nur mittels der Sprache die Ebene der Anschauung zu be­ schreiben, und sie kann so nicht vorschnell zu jenem besagten Ergebnis kommen. Die Sprache weiß sich mitzuteilen, und sie vermag von ihrer allgemeinen Ebene aus die ihr unterlegte ebene des Sinnlichen „sinngemäß“ verständig zu machen. In ei­ nem Vorurteil wird aber dann das sinnenfällige „Dieses“ so­gleich als „Negation“ zum Allgemeinen angezeigt. Da Hegels Phänomenologie von dem überkommenen Bewusstseinsbe­griff ausgeht, der nicht mit genügender Schärfe das Gemüt vom Erkennen zurückhält, so wird die „unmittelbare Gewissheit“ hier dem entsprechen, was wir treffender mit unmittelbarer Anschauung bezeichnen. Freilich wird dabei auch bemerkt, dass die „unmittelbare Gewissheit“ als eine reichlich verschwommene Angabe besonders geeignet ist, jene Zuständigkeit des Bewusstseins, nämlich einmal die sprachliche, einmal die sinnenfäl­lige, zu vermengen. Die „Gewissheit“ enthält für uns einen Ge­mütsanteil, den es zu unterdrücken gilt. Wir haben die Zeit als eine Gegebenheit des Gemütes bestimmt und müssen von die­ ser Unterscheidung her die Dialektik mit „diesem Jetzt“ schon als eine abwegige Vorgehensweise ansehen, wo es gilt, „dieses Jetzt“ gegen das nächste „dieses Jetzt“ als dessen Verneinung auszugeben. Unabhängig der von uns vertretenen Unterschei­dung möchten wir dennoch feststellen, dass dieses Jetzt als fließender Zeitpunkt nun gar nichts an sich vorweisen kann, das geeignet wäre, um Hegels Feststellung zu unterstützen. Indem die Zeit nichts an Vorstelligem in Anspruch zu nehmen vermag, lediglich unabdingbare Begleiterscheinung bei der Be­obachtung der Gegenstände wird, lässt sich aus ihr zu Hegels Absichten gar nichts entneh21  S. 88. 22  Ebda. 23  S. 89

(A II).



§ 11  Das anschauliche Wissen als Vergleich75

men. Denn es ist gerade die flie­ßende Natur des Jetzt, dass es formlos auch jedes andere Jetzt verneint. Sage ich „das Jetzt ist Tag, das Jetzt ist Nacht“, so kann ich sehr wohl den Tag als die Verneinung der Nacht ansetzen. Es ist jedoch falsch, dabei das Jetzt des Tages dem Jetzt der Nacht entgegenzusetzen, weil das Jetzt gemäß sei­ner formlos fließenden Natur und seiner völligen Leere an Vorgestelltem gerade jenes bezeichnet, was dabei völlig gleich bleibt, sich völlig ebenmäßig verhält. Alles andere ändert sich. Kommen wir nun zum Kern der Angelegenheit, weil die Einwände bisher wohl das fragwürdige Unternehmen Hegels noch nicht richtig getroffen haben. Wir halten dafür, dass das Einzelding bereits im Begriffsfeld der Anschauung die spätere Einheit als logische vorbereitet, so dass wir es als das Selbige der sinnlichen Wahrnehmung wohl festhalten können. Dieses Einzel­ne erscheint nur in seinen Ansichtsgründen in der Weise, dass es in jedem ganz enthalten ist. Denn es fällt nichts heraus, und es steht nichts über; das Ding ist ganz in Farben, ganz in Formen, ganz in Fernen (Abständen). Dennoch lassen sich aber die Farben unter sich und von den Formen unterscheiden, wenngleich sie nie unabhängig voneinander erscheinen können. Es ist eben eine Drei-in-Einheit im Feld des Sinnlichen. Gleichwohl reicht es dem Roten oder dem Scharfkantigen für sich allein am Einzelding nicht zum Selbigen. Dieses Ding da als Selbiges verneint sich im anderen Ding da als dem erneut Selbigem. Aber eine Unterscheidung ist in der Anschauung schon getroffen, wie wir bemerkt haben, nämlich jene zwischen dem Ding und seinen Ansichtsgründen. Hätte diese Unterschei­dung noch nicht einmal eine Vorbereitung im Hinblick, so wäre das eine Ding als die restlose Verneinung des anderen Dinges von Grund auf zu begreifen. Allein das Selbige zielt doch hier auf jene Vorstellung, welche in allen Einzeldingen eben das Selbe ist und sich nicht unterscheidet auf Grund der grenzenlosen Möglichkeiten der Anordnung der Ansichtsgründe, wonach sich derselbe Fall niemals wiederholen kann. Dies gilt es zu sehen: Die Unterscheidung wird hier zu einer Entscheidung in der Auslegung. Liegt es im Sinne der Anschau­ung, die Einzeldinge als Verneinung aneinander aufzufassen, so dass ich sagen sollte: „Die unmittelbare Gewissheit nimmt sich nicht das Wahre“. Das „Ding“ als Baum geht das „Dieses“ als Haus nichts mehr an, so dass sich die Wahrheit lediglich in der Vorstellung (nicht im Vorgestellten) hält, die als Bewusstsein allein das Allgemeine vertritt. Was sich hier durch­hält, den Vergleich besteht und deshalb nicht in eine einsei­ tige Verneinung fällt, erweist sich doch gerade als Zielgrund des jeweiligen Dieses, welches so zum eigentlichen Bodensatz des Vergleiches und nicht zum Anlass des Widerspruchs dient. Die Kluft, die Hegel zwischen der sinnlichen Gewissheit und der Wahrnehmung wissen will, macht die erste zu einer Vernei­nung der letzteren. Wir dürfen uns hier aber wohl der Zustim­mung Husserls erfreuen, wenn wir die

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2. Teil, 1. Kap.: Die Anschauung und ihre Gründe der Erfahrung

unmittelbare Einsicht des Sinnenfälligen, also das „reell Immanente“, im ursprüng­lichsten Sinne des Wortes als „Wahrnehmungserlebnis“ bezeich­nen. Es ist vor allem wichtig zu sehen, welche Entscheidungen für den Verlauf der Beobachtung an dieser Grundsteinlegung fallen. Für Hegel bestimmt sich hier die allgemeine Form ei­ner Dialektik, woraus sich dann ein eindrucksvolles Lehrge­bäude erstellt.

§ 12  Die Grundlagen des anschaulichen Wissens 1. Das Artgleichnis und die Gleichartigen Wir haben uns mit der Überlegung zu beschäftigen, wie weit sich das Artgleichnis der Gleichartigen im Bereich des sin­ nenfälligen Erkennens noch vertreten lässt. Was verstehen wir unter einer Abstraktion und wie weit reicht die Erinnerung in ihrem Vermögen zu einer solchen? Dass der unmittelbare Anblick keine Abstraktion in sich enthalten kann, ist eine Abmachung, wovon wir ausgehen müssen. Über die Bedeutung der Erinnerung für das Bewusstsein überhaupt haben wir bereits gesprochen. Deshalb dürfte es nicht darum gehen, ob die Erinnerung zu ei­ner Abstraktion fähig ist oder nicht, sondern wie sich eine anschauliche Abstraktion von einer höheren Abstraktion unter­scheidet. Das bestimmte Grün an einer bestimmten Stelle dieses Dinges mag sich anderswo, aber im Zugleich eines Hinblicks wiederho­ len; es ist deshalb noch keine Abstraktion, weil der Anblick diese nicht kennt. Stelle ich mir nun ein Türkisfarbenes vor, so löse ich die Vorstellung von Umriss und Abstand, und ich habe die erste Form einer Abstraktion. Das Türkisfarbene tref­fe ich so in einem unmittelbaren Anblick nie an. Solcherlei Abstraktionen bilden indes einen zusammenhängenden Verständi­gungsgrund in unserem Erkennen, wenngleich die Sprache nie zur Ebene des Einzeldings sich herablassen kann. Die Sprache erreicht ihr Ziel, weil die Bezeichnungen Vorstellungen er­wecken, denen solche Abstraktionen unterlegt sind. Erkennen bewegt sich auf einem Boden von sinnlichen Abstraktionen fort, die als Schnittpunktstellen das Einzelding ergeben. Die Ansichtsgründe wirken als Brückenbauer zwischen den Dingen, und Erkennen ist nur deshalb so beweglich und gewandt in der Sprache, weil es diese Gründe in ihrer Vielfalt ständig in Abstraktion bereithält. Hätte die Anschauung in der Erinnerung nicht die Ansichtsgründe ständig losgelöst von bestimmten Vorstellungen in Gewahrsam, so würde die Sprache sich schwer­tun, um auch nur einen Grashalm zu beschreiben. So aber be­steht ein einfaches Verhältnis der Übersetzung zwischen den Ebenen, weil das sinnenfällige Einzelding schon vorbereitet ist, um das Allgemeine aus sich zu gebären.



§ 12  Die Grundlagen des anschaulichen Wissens77

Mit dem Artgleichnis der Gleichartigen begegnet uns eine Abstraktion, die als geschlossene Ganzheit in sich vorstellbar wird, sich aber vom Arteinzelnen dennoch erheblich unter­scheidet. Um uns klar auszudrücken, damit ist nicht das Artwesen gemeint, welches als eine metaphysische Zone aufge­ fasst die schwierigsten verstandlichen Begriffe einschließt. Das Artgleichnis erstellt sich bereits an technischem Gerät, erweist sich jedoch hier sogleich in einer bestimmten Schwie­rigkeit: Die Formen bilden gleitende Übergänge, und sie schließen eine unübersehbare Zweckvorrichtung in ihren an­ schaulichen Begriff mit ein. Was wir unter Artgleichnis ver­ stehen möchten, ist eine anschauliche Einheitsform, die auf viele Einzelne so zutrifft, dass wir sie ganz und gar in den Anblick eines Einzelnen anschaulich einblenden können. Ent­ scheidend daran wird das Anschauliche, welches sich grund­sätzlich vom Gattungsmäßigen abhebt. Dieses Artgleichnis ver­ weilt noch so sehr im Anschaulichen, dass es geradezu ein be­ stimmtes Arteinzelnes sein könnte. Dennoch ist es nichts Ein­zelnes, weil es aus der Wahrnehmung vieler Einzelner zu einem Gleichnis geronnen ist. Es stellt einen Durchschnittswert dar. In einer solchen Vorstellung lässt sich eine ungeheure Menge an anschaulichem Wissen unterbringen, ohne dass ein ei­gentlicher Verstandesbegriff oder Denkakt in Anspruch genom­men werden müsste. Sehen wir uns das Verhältnis des Gleichnisses zum Einzelnen genau an, so bemerken wir, dass im Einzelnen schon weithin die Wahrnehmung des Allgemeinen gegeben wird, und alles, was sich abwandeln kann, tut dem Allgemeinen keinen Abbruch. Dennoch ist es mit der Unmittelbarkeit des Artgleichnisses vorbei, weil es als solches nicht in der Vorstellung sein kann. Es steht nicht als „Dieses da“ und damit fehlt ihm auch die Sel­ bigkeit. Es ist kein Selbiges, und dennoch stelle ich es mir als ein ganzes Einzelding vor, aber als Gleichnis; es gleicht allen Einzelnen als Sammelbegriff. Es hält sich gerade des­halb als Gleichnis des Selbigen, weil alle Arteinzelnen in eines gehen können, ohne etwas zu verlieren, was zu dem Sel­bigen gehört. Allein der Grund zu dieser Vorstellung kann nicht im Einzelnen als Selbigem liegen, weil sonst alle Sel­bigen in dieses anschauliche Gleichnis eingehen könnten. Form und Färbung machen das Gleichnis. Es sind alle Sinne, welche beitragen, um das Artgleichnis in seiner vielseitigen Anschaulichkeit im sinnlichen Bewusstsein zu erstellen. Diese Einsicht liegt zutage ungeachtet dessen, dass es im Bewusstsein eine Vermittlung der Sinne geben muss, welche sich unserem Zugriff noch geheimnisvoll verschließt. Das Mannigfaltige, eigentlich das Fünffaltige des Bewusstseins, erfährt sich aus einer quellhaften Einheit gehalten, die wir bis jetzt nur im engsten Zusammenhang mit der Erin­nerung ver­muten können. Bilden die beiden vornehmsten Sinne nur eine Grundeinheit, so etwa wie zwei Töne einen Akkord bilden, ohne sich aufzulösen, oder gibt es tatsäch-

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lich noch einen sensus communis, der ein eigenständiges Erkennen dar­ stellt? Diese Frage beeinträchtigt indes nicht mehr unsere Einsicht, dass dieses sinnliche Bewusstsein sich aus eigener Vorstellung ein Gleichnis einbildet, worin der bestimmte Raum und natürlich auch die bestimmte Zeit der Anschauung ver­schwunden sind. Da­zu bedarf es nicht einer forma abstracta, wenn diese durch einen intellectus agens verfasst sein sollte. Denn alle Züge, welche die Artgleichnisse, die Phantasmata tragen, sind aus den wiederholten Vorstellungen der Sinne zu­sammengekommen. Offensichtlich verfügt die Memoria auch über eine Fähigkeit der Abstraktion, die schlichthin darin sich be­kundet, dass sie aus vielen Gleichartigen das Gemeinsame als Artgleichnis festhält. Wir haben es also keineswegs mit eingeborenen Ideen zu tun, sondern mit erworbenen, welche nun im Hintergrund gelagert sind, um bei jeder entsprechenden Ansehung herangezogen zu werden. Erst mittels der Gleichnisse füllt sich die einsei­tige Ansicht mit der anwesenden Räumlichkeit der Memoria. Nichts kann uns aber darüber hinwegtäuschen, dass dem Art­ gleichnis, so wichtig es ist, um die Erscheinung zu ergänzen, die eigentliche, erscheinende Gegenwart im Bewusstsein fehlt. Seine Anschaulichkeit ersetzt mir nicht die unmittelbare An­schauung, die ich als Anwesenheit erlebe, und sie ersetzt mir noch nicht einmal das bestimmte Arteinzelne, das ich mir ohne dessen erscheinende Anwesenheit ins Gedächtnis hole. Aber dieser Übergang, der sich hier auftut, das erscheinende, an­wesende, greifbare Einzelne, das dagewesene, ins Gedächtnis zurückgeholte Einzelne und schließlich nur das Gleichnis der Arteinzelnen, gibt mir auch Einblick, wie das Gleichnis ent­steht. Denn die Übergänge lassen sich gleitend einrichten, und demgemäß arbeitet das Bewusstsein selbsttätig wie auch schon der Organismus. Also erfüllt das Artgleichnis nicht den Wert einer anwesenden Erscheinung; es ist nicht außen, Erinnerung macht noch nicht die anschauliche Erscheinung. (Dies gilt natürlich im Rahmen unserer transzendentalen Sphäre.) Ich mache die Feststellung, dass dieses Art­gleichnis kein Selbiges sein kann, weil darin der eigentliche Grund für die anwesende Erscheinung liegt. Ihm fehlt dennoch das erscheinende An sich, es ist „unwirklich“ und nur in mei­ nem inneren Bewusstsein. Eine bemerkenswerte Kluft ist in mei­ nem Bewusstsein aufgebrochen, die ich in ihrem vollen Ausmaß annehmen muss. Da wir das Gemüt als erlebendes Bewusstsein zu­ rückhalten müssen, beschreibt sich jetzt das Erkennen als ei­ne die Wirklichkeit unmittelbar erzeugende Anlage und eine die Wirklichkeit nur nachbildende Anlage. Wirklichkeit er­ scheint außerhalb als An sich. Erkennen erzeugt Wirklichkeit als Vorstellung, und es ruft sie als schwächlichen Schimmer ins Gedächtnis zurück. Der Unterschied kann nicht einfach in der Zeit liegen. Die Verhältnisse wechseln ständig, während die Zeit grundlos abläuft. Wir bemerken



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keinen bildenden Zu­ sammenhang in der formlosen Zeit, alles hat seine Bildung aus dem Erscheinenden, und nichts, aber auch gar nichts leitet seine Beschaffenheit von der Zeit her. Sie ist lediglich die allgemeinste Befindlichkeit, mit der ich als Gemüt an meinem Erkennen anwesend bin. Also ist alle Wirklichkeit und alle Unwirklichkeit in gleicher Weise in der Zeit.

2. Die Substantia als Mittel und Einheitsgrund Das Artgleichnis kann mir nicht als solches von außen er­scheinen, und damit kündigt sich Wissen als Vorbehalt am Er­scheinenden an. Das Allgemeine lagert nur innen in meinem Bewusstsein, und das „Ich bin“ macht sich nur fest in den Selbi­ gen, die es als seine Vorstellungen von außen umgeben. Das Selbige muss zumindest eine Erscheinung als Einzelding haben, und wenn es kein Wissen darstellt, dann nur deshalb, weil es auf dieses Schattendasein nicht herabsinken kann. Darum ist das Artgleichnis kein Selbiges. Aber das Artgleichnis behält sich, wenngleich Allgemeines, als Einzelding. Damit ist noch keineswegs eine „innere Anschauung“ gemeint, die dem Einzel­ding eine rein logische Einheit gibt. Es liegt in der Abstraktion der Erinnerung, dass sie das Artgleichnis als Einzel­ding ausbildet und damit eine logische Einheit vorbereitet. Diese Vorbereitung trägt erst zur Einheit des Wissens bei und verhindert dessen Zerstreuung. Die vielen Artgleichnisse wachsen in der Erinnerung wie le­bende Organismen heran und führen dennoch ein hintergründi­ges, unauffälliges Schattendasein. Aber es sind Einzeldinge, welche so verhindern, dass Wissen in seiner Allgemeinheit zu einer formlosen Urflut anschwillt. Der Grundzug des sinnli­ chen Bewusstseins, dass es sich am Einzelding festmacht, soll offenbar auch im Reich der Gleichnisse nicht aufgegeben wer­den. Denn nun bemerken wir eine wundersame Vorstellung, von der wir nicht wissen, ob sie als Gleichnis der Gleichnisse schon die Züge einer Gattung trägt, oder ob sich ihre An­ schaulichkeit vom Selbigen bis hin zum Gleichnis der Gleich­nisse mit gleicher Unmittelbarkeit durchhält. Wir nennen diese Vorstellung Substantia, und das einzigartige Schicksal, welches dieser Begriff in der Geschichte der Philosophie be­anspruchen darf, bezeugt seine Bedeutsamkeit. In der Tat lässt sich diese Vorstellung nun scheinbar nach zwei Betrachtungsweisen herleiten, doch wird dabei eine be­sondere Vorsicht geboten sein, indem sich nämlich die Sub­stantia in besonderer Weise als vermittelnder Übergang be­reits hier ankündigt. An der Ganzheit des Selbigen lässt sich wegen der Unmittelbarkeit des Eindrucks nicht zweifeln, und hier hält sich der enge Zusammenhang zwischen dem Einblick und der Wahrnehmung, so

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dass wir jenen Anlass nicht finden, den Hegel sehen möchte. Dieser Eindruck wiederholt sich, ohne ins Gleichnis gehen zu müssen; das Selbige steht als Urbegegnung. Es ist für das Erkennen das schlichthin Andere und gerade deshalb das Selbige. Darin liegt also das Geheimnis des Sel­bigen. Indem es das einzig Andere ist, bedarf es keines ver­gleichenden Zutuns seitens des Erkennens; es ist jeweils er­neut die Urbegegnung. Damit steht das Selbige als Grundstein des Vergleiches aber dennoch, es ist nämlich als das schlichthin Andere das ursprüngliche Gegenüber für das „Ich bin“. Die ursprüngliche Vielheit gehört zum unmittelbar Gege­benen des „Ich bin“. Das schlichthin Andere steht schon immer im Vergleich, und das Fremdgegebene ist das Anheimgegebene. In dieser Unmittelbarkeit des Eindrucks sind die Einheitsvor­ stellung und das schlichthin Andere so verwachsen, dass von Form gar nicht die Rede sein kann. Die Substantia liegt im Selbstvollzug des Erkennens, das Andere ist als Anderes Ver­gleich und Selbiges; ursprünglicher lässt sich das Verhältnis nicht mehr ansprechen. Davon müssen wir ausgehen, wo es gilt, den Gleichnisgedanken dieser Selbstständigkeit in den Griff zu bekommen. Denn das schlichthin Andere hat unter sich keine tragenden Schichten mehr, es ist Grund. Doch ist dieser Grund in der Vielheit ge­geben, und in ihm kreuzt sich nun sogar der Vergleich. Denn als letzter Grund steht er dem „Ich bin“ in einer Entspre­chung als Absolutum gegenüber; in der Vielheit des Selbigen wiederholt er sich als Grundgleichnis, so dass die gesamte äu­ßere Erscheinung in einem Vergleichsgrund liegt. Dann dürfen wir hier hinzunehmen, dass wir es auch mit einem Echo im Bewusstsein zu tun haben, weil Gemüt und Erkennen nur in diesem Zeichen ihre Zusammenarbeit angeben können. Die Substantia steht als Erlebnis der innersten Einheit des „Ich bin“. Forscht man ausgehend von einer solchen Ursprünglichkeit nach einer Einheitsvorstellung in abstracto, so wird die Suche im­mer wieder von der Ursprünglichkeit eines Eindrucks durch­ kreuzt, der ja ebenso Erlebnis wie Begegnung ist. Die Stelle des Übergangs muss indes gegeben sein, da dem Artgleichnis die Selbigkeit abzusprechen ist. Wir dürfen deshalb von einem parallelen Verhältnis ausgehen: So wie das Artgleichnis nur aus dem Zutun eines hintergründigen Wissens die Gleichartigen in eine allgemeine, d. h. innere Vorstellung bringt, so wiederholt auch die Substantia die Selbigkeit der Einzelnen. Liegt nun eine doppelte Abstraktion vor, eine von den Gleich­artigen zu dem Artgleichnis und eine von den Selbigen zur Substantia? Oder handelt es sich bei der Letzteren um eine abgeleitete? Betrachten wir die Substantia als Einheitsform, so ist sofort klar, dass sie als Gattung so nicht mehr in den Bereich unserer Anschauung gehört. Die Substantia als Einzel­ding erweist sich also ursprünglich mit dem Artgleichnis ver­flochten, und sie erlaubt unter diesem Hinblick keine weitere Abstraktion mehr. Das Einzelding, so weit es Artgleichnis ist, lässt sich nicht auseinandernehmen nach einer



§ 12  Die Grundlagen des anschaulichen Wissens81

Gestalt und ei­ner substantia abstracta, es ist Substantia, indem es Gestalt ist, und es ist Gestalt indem es Substantia ist. Diese Fest­stellung besagt aber für uns nicht mehr und nicht weniger als die begrifflich unauflösbare Einheit von Materie und Form im Bereich des anschaulichen Wissens. Wenngleich die Substantia in diesem Bereich wohl kaum anders begegnet denn als Körper und Materieklotz, so bleibt es dabei, dass hier noch keine Un­terscheidung nach zwei verschiedenen Ausgangsgründen an das Einzelding, sei es ein Selbiges, sei es ein Artgleichnis, herantreten darf. Das aus den Erscheinungen entstandene oder eingebildete Einzelding bewahrt sich die Unauflösbarkeit der Selbigen, darum führt auch hier die Substantia nicht zu einer forma abstracta einerseits oder zu einer materia communis, materia prima andrerseits. Dies gilt es zu beachten: Substan­tia zielt auf eine res concreta, aber so, dass Form und Stoff als dasselbe begriffen werden.

3. Die Wahrnehmung der Substantia Anschauliches Wissen wird von zwei Grundsätzen getragen, die sich inzwischen als dessen innerer Halt herausgestellt haben. Die Unzahl der Selbigen wird in Artgleichnissen zusammenge­fasst, das Allgemeine steht in Bildern da. Ohne die ordnende Kraft der Erinnerung würde Erkennen am Boden in Einzelheiten sich verlieren, es würde dabei vordergründig die Verneinung erblicken und so nicht zu einem Allgemeinen kommen. Erkennen macht sich an Einzeldingen fest, es sucht aus seiner Anlage heraus das Selbige als Gegenüber. Der Vergleich im Ge­genüber wiederholt sich, die Untereinander sind auch Gegen­über. Die Substantia ist der Schlüsselbegriff, allseitige Vermittlung und unmittelbarer Grund. Es liegt an der Ein­heitskraft der Substantia, dass sich das Gleichnis nicht über­hebt in einer inwendigen Allgemeinheit, so dass sich die Sel­ bigen wieder aus dem Gleichnis lösen. Da die Substantia in den Artgleichnissen nicht als forma abstracta wirkt, so dass wir es nur mit Ideen zu tun hätten, sondern das Gleichnis als Einzelding festhält, so nimmt Erkennen im Arteinzelnen das Artgleichnis wahr. Denn auch darin ist ja die Substantia un­auflösbare Einheit in dem erscheinenden Einzelnen. In diesem Hinblick leistet die Substantia eine zweifache Verschmelzung, jene nach Forma und Materia und jene nach Einzelnem und All­gemeinem. Wie immer wir die Substantia in einer später hinzu­kommenden Reflexion oder Abstraktion auch fassen sollen, hier erweist sie sich als die große Einheit stiftende Kraft im Er­kennen, und sie erweist sich darin, dass sie sich jeder Abstraktion widersetzen möchte. Wir haben es also mit einem innigen Ineinander von Einzelnem und Allgemeinem zu tun, die sich eigentlich erst durch den Unterschied von Anse-

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2. Teil, 1. Kap.: Die Anschauung und ihre Gründe der Erfahrung

hung und Einbildung einstellen und auch wieder entflechten. Doch das Allgemeine ist und bleibt eine Einbildung, um das Anstehende wissend zu verwalten. Denn noch dürfen wir nicht von eigentlichem Tätigsein reden, da wir das tatkräf­tige Gemüt nicht herankommen lassen. Was uns Wirklichkeit bietet, um es einmal so zu nennen, ist nur eine Zone zunächst einmal. Darin liegt keine Verfälschung, weil alle Wirklich­keit nur im Erkennen aufkommen kann und weil wir zudem den Vorbehalt in Bezug auf die Zone nicht als Ganzes ausgeben. Allein in dieser Zone fällt auch noch der Unterschied zwi­ schen gewusster und angeschauter Vorstellung auf, den es zu be­ stim­ men gilt. Wissen und Sinnliches. Das Sinnliche kann ich greifen (Tastsinn), und es fällt ohne Betätigung meiner Ein­bildung in mein Gesicht und Gehör, es hat das unverkennbare Merkmal des erscheinenden An sich. Alle Sinne sind nach außen gewendet, dem Greifbaren nahe. Was aber heißt dies anders als auf die Substantia ausgerichtet. Die Substantia bürgt für das Sinnliche schlichthin, das Wirkliche ist Substantia. Der allgemeine Zusammenhalt bekräftigt sich jetzt an der Sub­stantia in der Verklammerung von „Wirklichem“ und Gewusstem. Das Selbige, dieses Gerät in meiner Hand, ist umgeben von einem Hof des Hintergrundwissens, welches so nicht Wirkliches sein kann. Die Arbeit des Handwerkers weiß ich in ihm, seine Ent­stehung und Bezweckung. Es ist lediglich ein Wissen, und den­noch weiß sich das Wissen als etwas Gewirktes, auch wenn ihm das erscheinende An sich fehlt. Es ist die Kraft der Substan­tia, die Wissen und Wirklichkeit so zusammenschweißt, dass Wissen wirkmächtig und wirklichkeitsmächtig wird. Das Ver­gleichswissen gießt sich bei jedem Anblick in die Form des Selbigen ein, so dass Wissen und greifbarer Stoff zu einer Ge­stalt werden, die unauflösbar vor mir steht. Das „An sich“ wird zum Gewussten und das Gewusste wird zum An sich. Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu. Wir haben es mit der Grundsteinlegung des Erkennens und wohl des Bewusstseins über­haupt zu tun. Die Wahrheit der sinnlichen Erkenntnis ruht in der Wahrnehmung der Substantia, weil in ihr die Einheit von Selbigem und Artgleichnis in einer (noetisch) vermittelten (noematischen) Unmittelbarkeit erscheint. An der Substantia verknüpfen sich das Selbige und das Gleichnis zu einer naht­losen Einheit.

2. Kapitel

Das unanschauliche Wissen § 13  Die Grundformen der Gattung 1. Die neue Form der Abstraktion Nur in einem Vorgriff, der Bequemlichkeit wegen, durften wir bisher von Farben, Figuren und Abständen reden. Denn diese Grüntöne bedeuten mir etwas ganz anderes als diese Farbtöne; eine neue Beziehung ist aufgekommen, weil ein grundsätzlich anderes Wissen nun verbindlich wird. Dem Gattungsbegriff fehlt offensichtlich die Anschaulichkeit und damit das er­ scheinende An sich. Auch in der letzten Abstraktion der Erin­nerung kann ich mir „diese Farbe“ nicht einbilden, und mit dem An sich hat sich auch der Vergleich geflüchtet. Also hält der Vergleich zur Wirklichkeit,24 denn die Gattung ist offen­sichtlich unwirklich; also zeigt sich der Schwerpunkt der Wirklichkeit in der Erinnerung. Wir müssen aber diese Bestä­ tigung unserer früheren Vermutung etwas genauer bestimmen, weil damit eine Abschwächung der unmittelbaren Anschauung ge­ geben sein könnte. Die „Anschauung“ hat es mit fünf Ansichts­welten im Zugleich zu tun, es liegt jedoch jenseits der ein­zelnen Sinne, die „sinnvolle“ Einheit selber einzurichten. Damit liegt freilich notgedrungen das Schwergewicht des Wirk­ lichen bereits in der Erinnerung, weil erst hier ein Treff­punkt gegeben ist, der ein gemeinsames Bewusstsein leistet. Anders als die Gebilde bisher lässt die Gattung eine Unter­scheidung nach Vorgestelltem und Vorstellung vermissen, wir haben es mit einer Gedächtnisstütze oder mit einer Hilfs­ brücke des Erkennens zu tun, wobei offensichtlich nur der ei­nen Seite im Erkennen gedient ist. Die Gattung waltet als Ordnungshilfe, indem sie in der Wirklichkeit, so wie diese sich bis jetzt bestimmt hat, keine Entsprechung findet. Es bleibt entweder der Eindruck so bestehen, oder Wirklichkeit enthüllt noch Züge, die sich bisher zurückgehalten haben. Zu­nächst einmal wäre zu prüfen, ob denn nicht etwa die Gattung als Zuordnung für den gesuchten sensus communis in Frage kä­me. Denn ein gemeinsames Anschauliches der Sinne überschrei­tet die Kraft der 24  Wirklichkeit

als Sinnendinge.

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2. Teil, 2. Kap.: Das unanschauliche Wissen

Vorstellung, desungeachtet kommt es in der Erinnerung zu einer fast nahtlosen Verfugung der Ansichtswel­ten des Selbigen. Nun gewahren wir, dass sich die Selbigkeit in einem umgreifen­deren Verhältnis erneut zur Betrachtung anbietet. Wir haben bisher das Selbige aus dem Übergang des Sehsinns in die Erin­nerung abgeleitet, und so gesehen hält sich das Selbige nur in einer einzigen Weltansicht, die sich oft durch den Tast­sinn untermauern lässt. Die Wirklichkeit findet erst durch die Zusammenschau des Selbigen zur Sinnfülle. Allein das hervor­stehende Merkmal dieser zunehmenden Selbigkeit erweist sich gerade als eine schroffe Verneinung gegenüber der Gattung, indem die Zusammenschau der Sinneswelten in keiner Weise aus den Merkmalen einer Abstraktion lebt. Dies leuchtet uns jetzt sofort ein. Eine Abstraktion als Zugriff des sensus communis wäre ja das Ende des Selbigen als Gegenstand, jeder Sinn hät­te sein Selbiges für sich bis zur Erinnerung, um es dann im tieferen Bewusstsein zu verlieren. Wo wir den Schwerpunkt des Bewußtseins bis jetzt vermuten dürfen, da hätten wir es mit einer Verflüchtigung des Gehaltes an Wirklichkeit zu tun. Tatsächlich aber hat sich doch jetzt eine grundsätzliche Be­stimmung des Verhältnisses von Bewusstsein und Wirklichkeit vorgestellt, die gar nicht anders zu erwarten war. Da Wirk­lichkeit aus ihrer letzten Eingründung bis jetzt nur Vorstel­ lung sein kann, fällt deren gegenständlicher Schwerpunkt ei­gentlich immer mit dem erscheinenden Bewusstsein zusammen. Wenn sich der Sitz des „Ich bin“ im Leben des Bewußtseins verlagern sollte, so müsste sich wohl naturgemäß diese Verän­derung auch als gegenständliche widerspiegeln. Dieser Überle­gung kann indes hier gar nicht nachgegangen werden, da sich eine solche Abwandlung in erster Linie aus Gemütsgründen ab­spielen wird. Die angeführten Betrachtungsgründe stimmen dem nicht zu, will man den Gattungsbegriff der Bewusstseinsmitte zuordnen, wo die Sinne ihre Materie zusammentragen. Denn hier hausen die Con­creta und nicht die Abstracta. Soweit ein sensus communis sich mittels seiner Inhalte entdecken lässt, kommt bei ihm al­les auf die innige Zuordnung an, wobei jeder Vergleich unter­bleibt. Die Weltteile müssen erhalten bleiben. Andrerseits könnte er freilich maßgeblich an der Gleichnisbildung der Er­innerung beteiligt sein. Ein Vergleich kann auch so aufgefasst werden, dass ich mir beim Klang einer Stimme eine bestimmte Gestalt vorstelle. Allein diese Associatio, die aus Gleich­nissen gespeist wird, trägt wiederum andere Züge. Vielleicht dürfen wir gerade in ihr die hauptsächliche Begriffsform des sensus communis entdecken, mit dem Gattungsbegriff hat aber auch sie wenig gemein. Die Associatio nimmt Gleichnisse in Anspruch, sie geht jedoch auf ein Concretum, indem sie Wissen verschiedenen Grades in eine bestimmte Angelegenheit anwen­det. Mit der Bezeichnung „Farbe“ deute ich etwas Gemeinsames an, welches so nur bestehen kann, indem es alles Anschauliche fallen lässt. Man beach-



§ 13  Die Grundformen der Gattung85

te dies wohl gegenüber allem Begriffs­ realismus oder Idealrealismus. Ich hebe den Inhalt nur auf, indem ich das „wirklich“ Eigentümliche fallen lasse. Was be­sagt hier aufgehoben? Bereits dieses bestimmte Grün dort war weder ein Einzelding noch eine Substantia, geschweige denn ein Selbiges. Das Gleichnis „Tisch“ bewahrt die Substantia, mit dem „Werkzeug“ geht es mir wie mit der „Farbe“. Die Gat­tung kann sich auf Ansichtsteile und auf Einzeldinge bezie­hen, ihr Bezug ist ein grundsätzlich anderer. Das Verhältnis zur Erfahrung oder Wirklichkeit in ihrer Erscheinung von au­ßen ist nicht mehr gegeben wie bisher, denn die Gattung be­gnügt sich auch nicht mit einem Restbestand an Gemeinsamem der Anschauung. Mit dem Gattungsbegriff ist die Anschauung endgültig überschritten, Erkennen wird überfliegend, weil es sich einen Inhalt zurechtmacht, den es in der Erfahrung nicht antrifft. Doch kann dieser Inhalt auch nicht als Einbildung bestehen, so etwa wie man sich ein Phantasiegebilde erstellt. Die Gattung versteht sich als eine völlig eigenartige Abstraktion, welche an der Erfahrung ihren Anlass findet, deren Gleichnisse jedoch in einer neuen Ebene vergleicht. Ist die Entbildlichung eine Entwirklichung, da doch Wirklichkeit er­fahren wird? Sage ich „Werkzeug“ und meine ich damit Hammer, Zange, Säge und Nägel, so lässt sich daraus nichts als gemein­sam abbilden, ins Gleichnis bringen. Die Bezeichnung Werkzeug beabsichtigt gar nicht eine Vorstellung, die ich mit der Sub­stantia in Verbindung bringe. Die Gattung bemüht sich hier um eine Anwendung, und in den Verhältnissen bisher ausgedrückt, führt dies zu folgender Beschreibung: Die Einzeldinge und ih­re Gleichnisse dazu stehen ja nicht nur da, sie treten ja auch in Beziehung zueinander. Mit den „Werkzeugen“ bezeichne ich eine Zweckeinheit, die auf eine andere Substantia ausge­richtet ist. Ebenso verhält es sich mit den „Gebäuden“, auch hier liegt eine Ansammlung des Zwecks vor, so dass ich sagen kann, die Dinge kommen im gemeinsamen Zweck überein, aber der Vergleich hält sich nicht an den Gestalten, mithin auch nicht in der Substantia.

2. Die Zusammenschau aus der Zuordnung; die Relation Im anschaulichen Bereich äußerten die Abstraktion und das Gleichnis keine bemerkenswerten Unterschiede; die Abstraktion als Gattung muss noch geprüft werden, wie weit von einem Ver­gleich noch geredet werden darf. Nun ist eine neue Zuordnung aufgetaucht, die wir Zweckeinheit nennen. Auch hier müssen wir aber Abstand nehmen, weil es sich wieder um einen Vor­griff handelt, den wir ungeprüft übernehmen müssten. Es geht uns um das „reine Schauen“, welches seinen Gegenstand im Ver­hältnis der Fassung zum Gefassten findet. Um nicht gleich in eine verwickelte und unübersichtliche, tiefe Erfahrung von Wirklichkeit im Bewusstsein uns zu verlieren, sprechen wir nur von einer Zuordnung, die auch noch keine Entsprechung

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2. Teil, 2. Kap.: Das unanschauliche Wissen

ent­hält. Am Beispiel der „Werkzeuge“ und der „Gebäude“ bemerken wir, dass ein Vergleich, wenn er überhaupt vorliegt, aus den Einzeldingen selber sich gar nicht herleiten lässt. Nur im Hinblick auf eine Zuordnung, sagen wir auf eine erneute, an­schauliche Substantia, lässt sich dann wieder von einem Ver­gleich reden. Der Gattungsbegriff beabsichtigt etwas anderes, er ist ein Vorgriff, dem es gar nicht um die Angleichung sei­ner Einzeldinge geht, er fasst diese nur lose zusammen, weil er sie mit einem Bezugspunkt zusammenbringt. Dort lassen sie sich als gleich zusammenschauen. Statt des Gleichnisses in sich, darin behauptet sich ja die Substantia, entdecken wir nun die Zusammenschau aus einer Zuordnung. Die Substantia erweist sich als Träger von Relationen. Die Selbigen stehen nicht einsam da, sie sind notwendig aufeinan­der hingeordnet, und die Notwendigkeit behauptet sich im Gat­tungsbegriff. Denn der Vergleich verbirgt sich jetzt in der Relation mehr, als er sichtbar wird; für diese Zuordnungen dürfte die anschauliche Erinnerung, die doch alles Wissen an der Substantia aufhängen muss, überfordert sein. Die Notwen­ digkeit kündigt den Eingriff einer neuen, unanschaulichen Vorstellung an, und damit stellt sich die Frage, ob hier noch ein Gleichnis wie bisher vorliegt.

3. Die Notwendigkeit der Zuordnung, die innere Anschauung Der Gattungsbegriff in Bezug auf „Gebäude“ und „Werkzeuge“ macht sich immerhin an Einzeldingen fest, dem entspricht dar­um auch die Zuordnung. Die Farben und die Umrisse haften in­des der Substantia noch unmittelbarer an, und jetzt dürfen wir sagen, dass die Erscheinung in den drei Gründen der An­schauung notwendig so ist. Von einem Gattungsbegriff reden wir hier in einem anderen Zusammenhang. Auch hier haben wir es mit Rela­tionen, mit Beziehungen und Übertragungen zu tun. Dieses Ein­zelding bezieht von einem bestimmten Blau, von ei­ner solchen Form; diese Farbe und diese Form übertragen sich von Einzel­ ding zu Einzelding. Warum wir auch die drei Gründe der An­schauung als Gattungsbegriffe bezeichnen, klärt sich jetzt auf. Auch sie tragen die Gründe des Vergleiches nicht unmit­telbar in ihrer Anschaulichkeit. Sie sind gleich im Hin­blick auf die Substantia, nicht in sich selber. Denn das Grün ent­spricht dem Rot und dem Blau und nicht dem Runden oder Ecki­gen, nicht dem Nahen oder Fernen, weil diese Zuordnungen im Hinblick auf die erscheinende Substantia zusammenkommen und sich entsprechen. In dieser Hinsicht dürfen wir von „Far­ben“ reden. Da wir gehalten sind, „Wirklichkeit“ als eine Erfahrung in­ nerhalb der „transzendentalen Reduktion“ anzunehmen, müssen wir „Unwirklichkeit“ in den Grenzen dieses Geltungsbereichs verständig machen. Dass Kants Unter-



§ 13  Die Grundformen der Gattung87

scheidung nach „Rezepti­vi­tät“ und „Spontaneität“ unbrauchbar ist in diesem Belange, lässt sich jetzt besonders deutlich einsehen. Denn „Wirklich­keit“ erklärt sich bis jetzt gerade als das Angebot der „Re­ zeptivität“, die sich freilich bei Kant darauf stützt, dass er das Ding an sich als unbekanntes Gelände sein Unwesen treiben lässt. Auch die „Spontaneität“ führt zu einer irrigen Vor­ stellung. Denn die Bedeutung der „Ursprünglichkeit“ und der „Unmittelbarkeit“ wäre dann gerade der „Rezeptivität“, näm­lich der tatsächlich gegebenen Anschauung anzuhängen. So geht jedoch gerade die Bezeichnung „spontan“ auch in anderer Hinsicht fehl, weil doch diese so gegebene Anschauung als ei­ ne unwillkürliche im Bewusstsein aufleuchtet, während die Ge­ bilde der Einbildungskraft und die Ordnungshilfen der Gat­tung dann oder bis jetzt die Kennzeichen des Willkürlichen anneh­men. Dies gilt es also besonders zu beachten, wenn wir den Inhalt der Gattung am Begriffe der Wirklichkeit bisher bestimmen müssen. Wir können von einer Vorstellung reden, sie zu leug­nen wäre ein Widerspruch in sich, da wir von ihr reden und sie anwenden. Den Vorstellungsinhalt müssen wir als eine Un­wirklichkeit bezeichnen, und sein hoher Wert behauptet sich darin, dass wir tiefere Einblicke in die den Inhalt zeugende Seite des Bewußtseins gewinnen.25 Erkennen hat in sich eine neue Möglichkeit des Vorbehalts, und es blendet Zusammenhänge in die Zusammenschau hinein, indem es Sachen sieht, die keine sind. Eine Notwendigkeit ist aufgetaucht, die keine ist, gemessen an der erfahrenen Wirklichkeit. Was geht die Wirklichkeit diese Gattung an, und doch enthält sie Notwendigkeit. Aber es ist Notwendigkeit der vorstellenden 25  Wir meinen, dass Husserls Phänomenologie des Erkenntnisvorgangs bei aller Ausführlichkeit gerade das Phänomen der Gattung viel zu wenig beachtet und deshalb ungemein Wichtiges zwischen Noesis und Noema übersehen hat. Man beachte, dass in „Ideen 1.“ 3. Abschn. 3. Kap. u. ff. von der Gattung überhaupt nicht die Rede ist. Statt dessen lässt sich hier ein Leitsatz herausziehen: „Denn kein noetisches Moment oh­ne ein ihm spezifisches zugehöriges noematisches Moment, so lautet das sich überall bewährende Wesensgesetz“, ebda. § 93, S. 232. Natür­lich ist dieser Satz völlig richtig. Man sieht indes auch hier wieder ein, dass Husserls überschwänglicher und unterschiedsloser Umgang mit dem „Wesensgesetz“ ihm den Zugang zu den wichtigsten ontologischen Unterscheidungen (im Rahmen der Reduktion) verbaut hat. Dann aber wird die noetisch-noematische Parallele zu „analogen Unterscheidungen in der Gemüts- und Willenssphäre“ angesetzt. § 95. An Stelle von sorgfältigen Beobachtungen findet man hier nur pure Behauptungen, die meinen, es sich leisten zu können, weil diese Parallele schon allge­mein als selbstverständlich gilt. Aber Husserl steht hier nur im Banne jenes Bewusstseinsbegriffs, dessen Monopol einseitig im Erkennen liegt. Unser besonderes und schwerstes Anliegen in dieser Untersu­chung ist es aufzuzeigen, dass im Gemüt und Willen die Parallele von Noesis und Noema gerade nicht gegeben ist. Behaupten wir aber nun, dass darin gerade der Wesensunterschied zwischen Gemüt und Erkennen liegt, so hätten wir eben damit den Wesensbegriff für unsere Untersu­chung unbrauchbar gemacht.

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2. Teil, 2. Kap.: Das unanschauliche Wissen

Seite und Nicht-Notwendigkeit der vorgestellten Seite. Also hat sich die inhaltliche Seite selber entzweit, wobei nun das Vorgestellte zum Anlass für den Gattungsbegriff geworden ist, für diesen jedoch keinen ei­ gentlichen Vergleichsgrund abgibt. Ein Unterschied hat sich hinzugesellt, der ein ganz anders Merkmal trägt als jener zwischen Ansicht und Erinnerung. Mit der Vereinfachung, dass es sich hier um ein Gleichnis des Gleichnisses handelt, wird anscheinend etwas Entscheidendes gar nicht getroffen. Die Er­innerung zeigt sich als Vermögen der Ergänzung und in enger Anlehnung daran noch als die Gleichnisbildung. Der Gattungs­begriff kommt aus einer völlig eigenständigen Betrachtungs­weise hinzu, und er kann nur von daher seine innere Notwen­ digkeit begründen. So haben wir es denn mit einer inneren An­ schauung zu tun, die sich von der äußeren Abteilung abson­dert. Mit der inneren Anschauung treffen wir den Kern der Sa­che, dennoch erweist sich auch die Abstraktion als zutreffend. Wegen des doppelten Unterschieds, der am Gattungsmäßigen auf­ gebrochen ist, müssen wir die Relation nach zwei Weisen be­trachten. Die Gattung ist nicht einfach „sinnlos“, auch wenn ihr Wissen sich als unanschaulich erweist. Fasse ich „Häu­ser“, „Türme“ und „Brücken“ als „Gebäude“ zusammen, so finde ich einen Zusammenhang, der ins Anschauliche hinzielt. Die Gattung versucht, eine Brücke zu bauen. In ihrer eigenen, in­ neren Begrifflichkeit bildet indes die Gattung selber eine Ordnung von Ebenen übereinander, die in ihrer zunehmenden in­haltlichen Weite immer weiter sich vom Wirklichen oder An­schaulichen entfernen. Das Reich der Gattungsbegriffe erweist sich als mannigfaltiges Geflecht, das einerseits aus einer inneren Zuordnung heraus Notwendigkeit ausstrahlt, andrer­seits aber auch in verschiedenen Hinsichten angewendet werden kann und so jeweils andere Zuordnungen sichtbar machen kann. Der Unterschied zum Artgleichnis auf den Grundzug gebracht erklärt sich daher als Fehlen der Substantia. Die Gattung wird so zum Sammelbegriff, der mancherlei zusammenfassen kann, weil er nicht die Gestalt in sich, sondern je verschie­dene Zuordnungen von Einzeldingen und Ansichtsteilen angeben möchte.

§ 14  Das Mittel der Gattung; Anschauung und Sprache 1. Das Wissen zwischen dem Vorausgesetzten und dem Gesetzmäßi­gen; das Spiel als Mittel An der schwer durchschaubaren Gattung macht sich immerhin be­merkbar, dass sie die Aufgabe einer Überleitung innehat, wo­nach Inhalte übertragen werden. Indem diese Vermittlung je­ doch unanschauliches Wissen hinzubringt, muss mit neuem Quell­grund gerechnet werden. An der Abstraktion,



§ 14  Das Mittel der Gattung; Anschauung und Sprache89

ein Grundzug, wel­cher ihr ja nicht ganz abgeht, ließe sich dieses Wissen viel­ leicht noch als letztes Angebot der Erinnerung festhalten. Allein die Merkmale der Absonderung überwiegen doch. Denn die Gattung hat sich aus ihrer Absage gegenüber allem Anschauli­chen losgelöst vom festen Gefüge des Artgleichnisses, welches trotz Verlust des Selbigen am Einzelding festhält. Damit bleibt Erkennen offenbar zu sehr festgenagelt am RaumDrau­ßen, und auch der sensus communis, mit dem wir in Anlehnung an die Überlieferung immer noch rechnen wollen, befreit es nicht davon. Dagegen erscheint nun die Gattung wie ein Brückenschlag aus einer neuen Erinnerung, die wir jetzt inne­re Anschauung nennen, und sie bildet in gewisser Hinsicht auch eine neue „Ergänzung“. Das Anschauliche bedarf keiner weiteren Ergänzung mehr, es steht in sich geschlossen da, und auf der anderen Seite ruht an diesem Einzelding an sich das Bewusstsein in sich. (Natürlich dürfen wir nur in eben dieser Anschauung das er­scheinende An sich vertreten.) Bewusstsein findet seinen er­sten Schwerpunkt im Festgemachten der Sinnlichkeit, es benö­tigt ihn offenbar als ehernen Baugrund. Andrerseits fehlt ihm aber so wiederum die Weite der freien Beweglichkeit, die es umherschweifen lässt. Das Wandern von einem Einzelding zum an­deren führt zu einem endlosen Vielwissen. Bereits an der Er­innerung hat sich indes ein Zugang in eine andere Richtung geöffnet. Mit dem Gattungsbegriff greift also die neue Zone in die alte Erinnerung ein, sie erweist sich als ein Brücken­schlag vom vorstellenden, nicht vom vorgestellten Bewusstsein her, sie steht als ein Vorbehalt. Die freie Beweglichkeit er­ klärt sich als eine neue Sicht von einer höheren Warte aus. Erkennen bewegt nicht die Dinge, es vermag nur besser dabei zu sein, indem es die Dinge im Raum-Draußen mit einem selber aufgespannten Netzwerk von Gattungsbegriffen überzieht. Es richtet sich eine Zuordnung ein, ähnlich einem Koordinatensy­ stem, worin es verschiedene Ursprungspunkte und verschiedene Ebenen einnehmen kann. Es bleibt jetzt dabei, dass Erkennen nichts mehr aus der Er­fahrung von außen liefert oder bezieht, es trägt nur noch seine innere Ordnung in das Feld der Erfahrung hinein, und von einer „Spontaneität“ dieses Vorgehens gegenüber dem Man­ nigfaltigen und „Ursprünglichen“ auf dem Felde der Erfahrung lässt sich schwerlich reden. Denn die neue Zone in ihrer frei­en Beweglichkeit bedarf der alten Erinnerung, weil es doch in ihr nur darum geht, dass Erkennen durch seine Zuordnung besser dabei sein kann. Damit entdecken wir das bezeichnende Merkmal der Gattung: Sie darf keinen neuen Schwerpunkt im Bewusstsein einnehmen, denn ihre schweifende Freibeweglichkeit würde nur Zerstreuung für das festgemachte Bewusstsein bringen. Alles an diesen gattungsmäßigen Zugriffen offenbart die Anwendung zum „Vorausgesetzten“, und die Gattung kann hier nicht das Ge­ringste ersetzen. Es bedeutet also, dass die Weite des Wissens mittels der Gattung

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2. Teil, 2. Kap.: Das unanschauliche Wissen

nur im Verzicht auf eine Schwerpunktbil­ dung im Bewusstsein eingeführt werden kann. Wir haben es so mit einem Medium zu tun, welches wie ein endloses Meer andere Gründe miteinander verbindet, beleuchtet und beliefert, und es tauchen immer neue, unerschöpfliche Möglichkeiten der Zu­ ordnungen herauf. Aber es hält sich als ein weithin frei­schwebendes Wissen aus Gründen, deren Eigentümlichkeit dem Wasser gleicht, es bleibt durchsichtig für andere Gründe. Nehmen wir nur die „Farben“ als Beispiel. Ohne die gegebenen Blau-, Grün- und Gelbtöne bleibt das Wort eine Hülse; ohne eine innere Anschauung, die sich noch nicht erklärt, fehlt der Grund der Zuordnung. Es haftet der Gattung daher etwas Zwielichtiges an, dennoch müssen wir wohl annehmen, dass sie aus der neuen Zone ergeht und nicht etwa als Mittelzone zwischen beiden steht. Denn diesen Gattungsbegriffen fehlt alles Ursprüngliche und Be­ gründende, und daran liegt es, dass sie zwielichtig erschei­ nen. In ihrer unendlichen Vielfalt lassen sie keine innere Einheit sichtbar werden, und in ihren endlosen Begriffsbil­dungen zeigen sie sich aus den Anwendungen der äußeren Erfah­rung bedingt. Wir machen so die bemerkenswerte Feststellung, dass die ordnende Macht der Gattung aus einem zurückbehaltenen Ursprung hervorkommt, um die sich auslegende Erfahrung mit den Gesetzen dieses Ursprungs zu verknüpfen. Der Gattungsbe­ griff wirkt als Übergangsbegriff, und damit erklärt er noch­ mals seine Merkmale. Nicht in ihm liegt seine Notwendigkeit, bis jetzt erscheint diese immer noch im Anschaulichen als dem durchscheinenden Grund. Indem der Begriff immer das Vorausge­setzte benötigt, fehlt seinerseits das Gesetzmäßige, was ja nur seine Rolle als Vermittler begünstigt. Aus diesem Ver­hältnis entsteht die Offenheit zur Vereinbarung. Das Gleich­nis als Einzelding soll in die neue Zone übersetzt werden, und in der Unanschaulichkeit soll das Anschauliche so weit wie nur möglich erhalten bleiben. Da aber die Notwendigkeit in der Gattung an sich nicht zum Ausdruck kommen kann, so muss die Notwendigkeit der inneren Anschauung etwas völlig Neues hinzubringen, ansonsten bleibt es bei der Gattung weithin im Bereich der Vereinbarung. Sollte es tatsächlich Denkgesetze oder Grundsätze des Ver­standes geben und diese nicht aus gewohnter Erfahrung allein sich einstellen, so bestimmt sich der Gattungsbegriff als der Spielraum zwischen zwei Notwendigkeiten, nämlich der äußeren Anschauung und der innersten, gesetzmäßigen Anschauung. Sein freies Spiel darf nicht als eine Willkür angesehen werden, weil Erkennen bis jetzt keinerlei Anlass geboten hat. Aber das Bewusstsein bedarf wohl einer solchen Zone, um frei dem Wissen nachzugehen und der anderen Zone, dem Gemüt, die Möglich­keiten der Verbindung und der Einwirkung einzuräumen. Denn wo das Gesetzmäßige ansteht, kann dem Gemüt nur der Zwang, nicht das Spiel offenstehen. Die Möglichkeiten der



§ 14  Das Mittel der Gattung; Anschauung und Sprache91

Zuordnun­gen weiten den Bereich des Wissens zu immer neuen Erfahrun­gen, und indem das Wissen so nach außen und innen in einem Zuge wandert, waltet die Gattung als allseitige Vermittlung, ohne dass sie eigentlich im Bewusstsein einen Schwerpunkt bean­spruchen würde. Sie gleicht dem lichten Medium, welches über­all Zusammenhänge herstellt, ordnet und verwaltet, ohne sel­ber gegenständlich zu ordnen. Aber damit nicht genug; anders als die Erinnerung beansprucht die Gattung auch nicht eine Anlage oder Werkstätte im Bereich des Erkennens, die Zone des Gattungs-Wissens strömt zusammen aus Quell-Wissen. Auch an dieser Sicht werden wir gewahr, dass es nicht die ungegen­ ständliche Gattung sein kann, die einen Grund für den sensus communis liefern könnte.

2. Die Sprache als Spiel der Gattungsbegriffe; der Einblick durch die doppelte Unterscheidung Mit dem spielerischen Mittel der Gattung gewinnt Erkennen ei­ne gewisse Freibeweglichkeit, die dem entgegenkommt, dass es nicht an einen Standort gebunden ist. Denn der Standortwech­sel erweist sich als Anlass zu neuen Erfahrungen, aber die Loslösung vom Boden als solche darf freilich nicht hier zum Inhalt unserer Untersuchung werden. Sie kann als Äußerlich­keit im Bewegungsablauf des Erkennens noch nicht vorstellig werden. An dem Spiel des Wissens, den Zuordnungen nach Erfahrungs­gründen, nach Gutdünken und Vereinbarungen, bleibt jetzt die Gleichnisbildung wie ein notwendiges Gesetz im Rückstand. Das Notwendige entzieht sich in dem Maße, wie das Wissen sich weitet, es entfernt sich weiterhin, wobei es freilich auch das Bewusstsein nicht belastet. Die Verknüpfungen werden immer unverbindlicher, indem sich zu jeder Zuordnung die Möglich­keiten anderer Zuordnungen gesellen. Nennen wir diese Form der Verbindung „Assoziation“, so erhalten wir im Erkennen eine Offenheit oder einen Brückenschlag zu einer Entsprechung im Gemüt. Erkennen gewahrt eine gewisse gegenständliche Zuord­nung, und nun regt sich unwillkürlich (spontan) im Gemüt ein Bedürfnis, welches mit der reinen Schau als solcher gar nichts zu tun hat. Die Gewohnheit im Gemüt sagt sich der As­soziation im Erkennen zu, und was sie beide verbindet, ist eben das Fehlen des Notwendigen. Entsprechungen begegnen al­lenthalben, im Erkennen wie auch im Bewusstsein insgesamt, je­ doch fehlt ihnen der unmittelbare Zusammenhang des Gleichnis­ses und des Vergleiches. Das Gleichnis blendet sich unmittel­bar ein in die Ansicht des Selbigen, so dass sich Erkennen darüber erst in einer späteren Reflektion bewusst wird. Das Wissen der Gattung erreicht über die Macht der Gewohnheit auch die Unmittelbarkeit, aber die unmittelbare Einsicht kann mit dem Fehlen des Anschaulichen gar nicht gegeben sein, die Gleichnisbildung des sinnlichen „Gedächtnisses“ steht hier nicht zur

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2. Teil, 2. Kap.: Das unanschauliche Wissen

Verfügung. Wenn wir die Entsprechung als einen Ver­gleich annehmen wollen, so müssen wir davon ausgehen, dass hier andere Voraussetzungen als bisher zu Grunde liegen. Wir finden nicht mehr das Zwingende der Einsichtnahme. Es gehört nicht in den engen Bereich unserer Untersuchung, dass wir das Ereignis Sprache auch noch prüfen. Doch gibt es kein beredteres Zeugnis für die Eigenart und die Anwendung der Gattung als die Sprache selber. Denn sie schöpft vor al­lem anderen Tun aus dem Gattungswissen, indem sie Entspre­chungen zwischen einem Bezeichneten und ihrem eigenen Feld der Zeichen vereinbart, deren Zuordnung nicht im Bereich des Gleichnisses eingeschlossen ist. Die ursprüngliche Sprache geht zwar nahe am Abbildhaften, aber die unzähligen Sprachen zeigen schon an, dass hier keine notwendige Entsprechung am Wirken sein kann. Dennoch wäre es eine blinde Torheit, wollte man leugnen, dass hinter der jeweils verschiedenen Wortwahl für ein Ding ein allgemeines Sprachgesetz durchsichtig wird, welches wie ein inneres Rückgrat das Gattungswissen und den Satzbau der Sprache ordnet. An der Sprache treten alle Besonderheiten der Gattung auf einmal hervor, und deshalb wollen wir hier nicht versäumen, auf dieses größte Naturwun­der und Kunstwerk im Bereich der Gattung hinzuweisen. Mag sich später das Rückgrat der Sprache als eine Abbildung des Denkgesetzes enthüllen, der eigentliche Sprachleib steht im Feld der Gattung. Lassen wir einmal das Zweckdenken heran, denn anders begreifen wir ja die Sprache hier nicht genügend, so dürfen wir sie als eine mittelbare Äußerung des Bewußt­ seins, näherhin des Erkennens, letztlich des Denkens eingren­zen. Dies geschieht natürlich in einem Vorgriff, den wir uns aber leisten dürfen, weil die Sprache nicht unmittelbar an unserem Aufzeigen als Überzeugungsgrund beteiligt ist. Der Einwand, dass ein Philosoph, der die Seinsgeltung an sich der Vorstellungen in Frage stellt, sich auch einem Gegenüber nicht mitteilen könnte, muss hier nicht zum Tragen kommen. Denn die Sprache darf wenigstens als eine Äußerung verstanden werden, die von Bewusstsein zu Bewusstsein nur mittels einer Vereinbarung geht, die keine fremden Gegenstände aufgenommen hat. Die Sprache darf deshalb als das einzige erkenntnismäßi­ge Mittel angenommen werden, welches die Vorstellung Sein an sich unterlaufen könnte. Das Du-Gegenüber muss an Hand der Sprache die transzendentale Sphäre noch nicht aufsprengen.26 26  Wir gehen also davon aus, dass die Sprache noch keine Widerlegung der Trans­ zendentalphilosophie mit sich bringt. Das Verhältnis dürfte in­des nicht mehr ganz so gegeben sein, wenn die Sprache auf Tonband und über Elektromagnetismus vermittelt dennoch im Bereich der transzen­dentalen Sphäre bleibt. Es liegt aber unter der philosophischen Ebene, mit solchen Beweisstücken gegen den Transzendentalismus und für den Realismus anzutreten.



§ 14  Das Mittel der Gattung; Anschauung und Sprache93

Darum wird die Sprache als Äußerung und als Mittel dennoch die unmittelbarste Mitteilung im Bereich des Gehöres, und sie steht in besonderer Weise als Vertretung jenes Erkennens, welches seine hauptsächlichen Inhalte aus dem Bereich der Gattungsbegriffe schöpft. Was die Sprache eben so sehr an die Begriffsform der Gattung bindet, ist jener gemeinsame Grund­ zug, den wir an der Gattung besonders herausstellen müssen: Sie erweist sich als Ordnungshilfe des Begreifens an sich und erhebt deshalb keinen ontologischen, sondern nur logischen Anspruch. Mit Hilfe der Gattung lässt sich deshalb eine dop­pelte Unterscheidung am Erkenntnisvorgang ausdrücken. Die doppelte Unterscheidung mittels der Gattung macht sich kreuzförmig bemerkbar. Einmal als Abgrenzung der vorstellen­ den (noetischen) Seite gegenüber der (noematischen) Seite. Hier kann sich die Gattung nur als Ankündigung eines anderen Begreifens behaupten; als logischer Begriff wird sie zum on­tologischen Vorbehalt, sie verneint sich am Vorgestellten. Gerade an der Gattung bricht aber so die Kluft im Bewusstsein zwischen dem setzenden Vermögen und dem gesetzten Gehalt auf. Der Vorbehalt, den Erkennen in seiner rückwärts gerichteten Einstellung macht, es setzt dem gefassten Inhalt von der fas­senden Vorstellung ab, schließt nun die senkrechte Richtung als andere Sicht der Unterscheidung ein. Denn die Gegenüber­stellung von Wahrnehmung und Wahrgenommenem ist nur möglich durch eine Wahrnehmung der Wahrnehmung, und diese innere An­ schauung lässt sich nicht einfach als Verlängerung der ersten Richtung darstellen. Es würde ja sonst die Wahrnehmung der Wahrnehmung zu einem regressus ad infinitum führen. Also er­ klärt sich diese einsehende Unterscheidung als eine neue Ebe­ne im Erkennen, welche die Kluft zwischen der Wahrnehmung und dem Wahrgenommenen nun zu ihrem Gegenstand macht. Es lässt sich nicht sagen, dass es die Gattung ist, welche die­ses Spiel der Erkenntniskräfte und Erkenntnisinhalte veran­staltet. Es wurde bereits Einblick genommen, dass dieses unan­ schauliche Gattungswissen frei herumschwebt zwischen den Zo­nen und dass wir es so noch nicht einer bestimmten Kammer oder Werkstatt im Erkennen zuordnen können. Es liegt daher das Merkwürdige vor, dass Bewusstsein mit den Gattungsbegriffen vielseitig Zuordnungen herstellt, dass aber herkunftsmäßig die Zuordnung der Gattungsbegriffe noch weithin verborgen bleibt. So müssen wir sagen, dass die Unterscheidung mit ihren zwei Richtungen mittels der Gattungsbegriffe deutlich zum Ausdruck kommt, dass diese jedoch den Quellort nicht so andeuten wie das Gehörte das Gehör, das Erinnerte die Erinnerung. All diese Merkmale entdecken wir an der Sprache wieder, die sich als das freie Spiel von Gattungsbegriffen erweist und gerade wegen ihrer scheinbaren Gesetzlosigkeit allen Verhält­ nissen sich fast grenzenlos nähern kann.

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Die Sprache setzt sich über das Vorausgesetzte hinweg, denn sie erreicht gar nicht das wahrgenommene Selbe.27 Die Annäherung der Sprache an das Selbige geschieht durch zahllose Satzgleichnisse, die sich zusammen mit der Wahrnehmung alle am Schnittpunkt des Selbigen begegnen. So erreicht die Sprache in der Tat eine grenzenlose Annäherung an das Selbige, um dennoch grundsätz­lich eine Umschreibung zu bleiben, denn sie bleibt ein Mittel zum Allgemeinen, ein Gleichnis zum Artgleichnis. Die Sprache und die Gattung deuten in gleicher Weise die gleiche Herkunft an; am Sprachleib und an der inneren Gestalt der Sprache drückt sich die Ordnung des Gattungswissens und der Gattungs­begriffe aus. Wir dürfen sagen, die Logik der Sprache ist die Logik der Gattungsbegriffe, wenn wir unter Logik zunächst nur den „Ordnungssinn“ der inneren Anschauung verstehen.

3. Die Gattung und die Substantia; die Freiheit der Sprache In Begriffen wie „Bauwerke“, „Werkzeuge“ oder „Gebrauchs­ge­genstände“ ist sicherlich das Einzeldingliche und damit die Substantia unbestimmt mit hereingenommen. Wir dür­fen indes nicht übersehen, dass sich der Gattungsbegriff ge­genüber dem Inhalt der Substantia völlig gleichgültig ver­hält, weil er, wie in der Sprache, die „Farben“ wie die „Gebäude“ auffasst. Der Unterschied zwischen dem Ding und sei­nen Erscheinungs­wei­sen ist im Gattungsbegriff bereits unter­gegangen. Es ist wichtig, dies zu sehen: Man kann die Gattung nicht einfach als eine Abstraktion der nächst allgemeineren Ordnung ansehen, so wie wir es am Stammbaum des Tierreichs und Pflanzenreichs gewohnt sind.28 Hier macht sich eine Son­ derform der Gattung bemerkbar, worin senkrecht aufsteigend jeweils das Allgemeine vom Allgemeinen als Abstraktion in der nächst höheren Ebene zurückbleibt. Diese strenge Richtung ist der Gattung nicht vorgeschrieben und nicht etwa die Grundform ihrer Ordnung. Gattungsbegriffe können auch Querverbindungen sein, und weil dem so ist, entleert die Gattung den Gehalt der Substantia. 27  Vgl. hierzu § 11.3. Hegels Dialektik der sinnlichen Gewissheit setzt die Wahrnehmung mit der sprachlogischen Ebene gleich, so dass die Wahrnehmung sich das Allgemeine nimmt und die sinnliche Gewissheit daran gemessen in „diesem Ding da“ das Wahre gar nicht fassen kann. Das Verhältnis klärt sich aber dahingehend auf: Die Sprache erreicht nie „dieses Ding da“ in seiner einmaligen sinnlichen Gegebenheit. Aber die Sprache drückt auch nicht die Wahrnehmung und das anschauli­ che Wissen aus, weil sie als Abstraktion Erzeugnis einer anderen Ebene ist. Die Wahrnehmung enthält aber das Allgemeine im Selbigen bereits, weil sich das Selbige erst in der Erinnerung bilden kann, wo im sel­ben Zuge auch das Artgleichnis als das Allgemeine erzeugt wird. Aber die Wahrnehmung ist freilich im Augenblick des Ausspruchs um das Sel­bige gebracht. 28  Z. B. Haussperling, Sperlinge, Finken, Singvögel, Sperlingsvögel, Vögel, Wirbeltiere, Tiere.



§ 14  Das Mittel der Gattung; Anschauung und Sprache95

Denn die Zuordnungen der Gattungsbegriffe zielen nicht in erster Linie auf das Dingliche an den Gegen­ ständen, sondern auf Einzelzüge und nebensächliche Gemeinsam­ keiten. Selbst bei den Tier- und Pflanzengattungen schwindet aber die An­schau­lichkeit nach dem Artgleichnis dahin. Wir können die Merkmale des Huftiers aufzählen, aber wir können uns noch nicht einmal den Paarhufer vorstellen. Wegen der Merkmale der Gattung kommen wir deshalb zum Ergeb­nis, dass die Gattung, mag sie auch bisher an Körperdingen veranlasst worden sein, eigentlich nur nebensächlich den Ge­halt der Substantia enthalten sein lässt. Sie schließt ihn nicht aus. Sage ich aber „Töne, Gerüche, Farben“, so ist die Dingvorstellung ganz gewichen. Prüfen wir nun die Umkehrung unserer Festlegung, so müsste sich ergeben, dass sich die Sub­ stantia als Gattungsbegriff nicht aussagen lässt. Denn wir ha­ ben die Substantia am Einzelding als dem Selbigen und am Art­gleichnis als dem Einzelding gewonnen, sie haftet deshalb an der Anschaulichkeit. Nach dem Stand unserer Untersuchung bietet sich jetzt das Verhältnis von Substantia und Gattung zur Prüfung an. Da wir gesehen haben, dass die Ordnung der Sprache reichlich aus dem Ordnungssinn des Gattungsbegriffs schöpft, bemerken wir bei dieser Gelegenheit, dass der ins Auge gefasste Gegenstand sich zu einem Ausmaß weitet, welches uns zu sehr von unserem ei­gentlichen Ziele ablenken würde. Den Zusammenhang zwischen der Sprache und dem Gattungsbegriff können wir hier nicht be­handeln. Die Sprache erfreut sich einer besonderen Freiheit, indem sie tatsächlich jeden nur möglichen Gehalt des Erken­nens als Satzgegenstand aufgreift und ihm in ihrer eigentüm­lichen Ordnung einen Rang einräumt, der in der Ordnung des Erkennens eben nur noch von der Substantia vertreten werden kann. Dies bedeutet also, dass die Sprache nach ihrem Ord­nungssinn nicht nur die Substantia in ihrem einmaligen An­spruch der selbstständigen Trägerschaft völlig verflüchtigen darf. Die Sprache tut ja so, als sei jeder Satzgegenstand ei­ne Substantia: „Das Blau ist eine Farbe.“ Die Sprache ist da­mit auch über jeden Gattungsbegriff schon hinausgegangen, in­dem sie auch diesen, der ja in der Ordnung des Erkennens die Sub­stantia nicht halten kann, auch noch verflüchtigt. Solche Be­hauptungen sind nun zum Anlass geworden, dass man der Sprache ein ontologisches Versagen unterlegen wollte, was jedoch nur in völliger Verkennung der Absicht der Sprache geschehen kann. Was hier als ein Zurückbleiben und als Ohnmacht des Ausdrucks der Sprache zur Last gelegt wird, muss in Wahrheit als ein Höchstmaß an Abstraktion angesehen werden, womit eine möglichst vollkommene „Verständigung“ erreicht wird.29 29  Vgl. hierzu vom Verf.: Anmerkungen zur Carnaps „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“. In: Wissenschaft und Weisheit. 55 (1992). H. 1. S. 48–61.

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2. Teil, 2. Kap.: Das unanschauliche Wissen

Wir sehen daraus, dass die Ordnung der Sprache auf eine völli­ge Abflachung der erkenntnismäßigen Unterschiede hinausläuft, die man etwa mit der flächigen Abbildung einer räumlichen Wirklichkeit vergleichen kann. Mit dieser gewonnenen Einsicht müssen wir deshalb an unser Verhältnis von Substantia und Gattung herangehen, damit wir die Aussagbarkeit nicht mit der Erkennbarkeit unserer Inhalte vermengen, was ja bei der Ver­ wandtschaft der Sprache mit dem Gattungsbegriff nur zu leicht geschieht. Die Gattung verliert mit der Anschaulichkeit die Substantia. Damit ist bestimmt, dass die Substantia nur noch, wenn nicht unmittelbar anschaulich, als Abstraktion des sinnlichen Vermö­ gens in der Erinnerung haltbar ist. Wenn nun im Erkenntnisge­halt der Gattung die Substantia nicht geradewegs ausgeschie­den ist, sondern nebenbei oder unbestimmt mitschwingen kann, so wird damit ein neues Erkenntnisvermögen gefordert, welches hier zum Eingriff kommt. Denn das Gleichnis der Erinnerung vermag Unbestimmtes nur als Anschauliches zu behalten, die Abstraktion der Gattung kann indes die Substantia nicht aufbe­wahren, weil diese nicht das hauptsächliche Merkmal oder das Allgemeine ihres Gehaltes ausmacht. Die Gattung vertritt ein neues Vorstellungsvermögen, dessen Vorgestelltes an der An­schauung veranlasst, jedoch keineswegs bildhaft (formal) ver­ ursacht ist. Die Gattung behält daher auch ihr Allgemeines nur, indem sie die Substantia zerteilt und damit auflöst. Denn eine andere Substantia als die der Anschauung vermag sich in unserem Erkennen wenigstens bis jetzt noch nicht zu behaupten. So zeigt sich denn auch das „Unwirkliche“ des Gat­tungsinhalts daran, dass die Vorstellung „Substantia“ ja un­tergegangen ist, unwirklich ist der Inhalt, weil er so für sich in der Anschauung noch nicht einmal durch die Phantasie vorstellbar ist.30 So wird denn für uns aber auch die Sub­stan­tia zum ehernen Bürgen und greifbaren Grundstein von Wirk­lichkeit. Betrachten wir nun das Verhältnis umgekehrt, so sehen wir, dass die Substantia, so wie wir sie bis jetzt einsehen, den Inhalt der Gattung geradezu ausschließen will. Denn das unbe­stimmte Enthaltensein fügt sich hier nicht ein. Sagen wir: „Der Schneehase ist nicht weiß; der Schneehase ist kein Säu­getier“, so wird uns jeder widerlegen. Damit erscheint aber auch der Unterschied der Aussagbarkeit. Erkenntnismäßig müs­sen wir sagen: Der Schneehase ist im Säugetier unbestimmt enthalten. Aber das Säugetier ist im Schneehasen weder be­ stimmt noch unbestimmt enthalten. In der anschaulichen Vor­stellung „Schneehase“ vermag ich die Vorstellung Säugetier nicht unterzubringen, selbst die Vorstellung „Bein“ lässt sich nicht anbrin30  Streng genommen gibt es so noch nicht einmal den „Hund“, weil die Rassen des Haushundes so weit verschieden sind, dass verschiedene Ar­ten in der Wildnis sich weit näherkommen als hier die Rassen. Die Einheit des Artgleichnisses wird also lediglich durch die Fortpflan­zung bezeugt.



§ 15  Doppeldeutigkeit des „Körpers“ zwischen Gattung und Substantia97

gen, wenn ich nicht „Schneehasenbein“ mir vorstelle. Das Ungewohnte dieser Ergebnisse führt sich darauf zurück, dass die Sprache dem Denken und nicht der Anschauung folgt.

§ 15  Die Doppeldeutigkeit des „Körpers“ zwischen der Gattung und der Substantia 1. Die Mehrdeutigkeit des Körpers darf nicht zur Verwechslung von Gattung und Substantia führen Mit dem Abstand zwischen der Erkennbarkeit und der Aussagbar­keit der Dinge taucht nun eine Schwierigkeit oder Wunderlich­keit herauf, der wir eine eigene Überlegung widmen müssen. Anschauend nehme ich dieses einzelne Ding in seiner unwie­der­holbaren Selbigkeit im Bewusstsein auf. Allein die Ausspra­che erfolgt auf einer Ebene, welche das Einzelne gar nicht wahr­nehmen kann. Wollten wir die Sprache von der Dingwahrneh­mung her aufbauen, kämen wir nie an ein Ende, um „dieses Blatt Pa­pier da“ auszusagen.31 Die Unerreichbarkeit des „Gemeinten“ in der Begriffsform der Sprache ist aber mit dem Artgleichnis bereits überholt: „Wir behandeln heute im Unter­ richt den Schneehasen.“ Hier erreicht die Sprache völlig das „Gemein­te“, weil ihr Gehalt das Allgemeine des Erkennens ist, das Gleichnis „Schneehase“; Aussagbarkeit und Erkennbarkeit stim­men überein. Die Sprache kann nicht nur von Gattungsbe­ griffen leben, wir bemerken, dass ohne die Vermittlung des Artgleich­nisses zwischen der Anschauung und der dem Denken folgenden Sprache eine unüberbrückbare Kluft vorhanden wäre. So aber stehen die Artgleichnisse als die eigentlichen Träger da, welche Anschauung und Denken verknüpfen, indem sie die An­schauung verständlich und das Denken anschaulich werden las­sen. Die so gewonnene, vertrauensvolle Einheit droht uns aber doch schon wieder auseinanderzubrechen, wenn wir nun die Sub­ stantia ansprechen. Denn diese Substantia führt das Wunderli­che an, dass sie die Gattung von sich weist und nur als Gat­tung aussagbar wird. Ist damit nicht eine Schnittstelle gege­ben, die sich als Hohlraum erweist, weil der anschauliche In­halt „Substantia“ mit dem Aussagegehalt „Substantia“ nichts mehr gemein hat? Die Substantia der Anschauung ist das je einzelne Körperding oder das 31  Damit ist jedoch Hegels „Dialektik der sinnlichen Gewißheit“ keines­ wegs bestätigt. Die Wahrnehmung nimmt das Allgemeine schon am Einzel­nen, und sie fällt auch nicht in die Verneinung am anderen Einzelnen, weil sie in den Selb-Anderen immer auf das Gleiche zielt.

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einzelne Artgleichnis. Fahre ich nun fort, so löst sich die Substantia auf wie das Säugetier und das Wirbeltier; und da wir die Substantia auch als Kör­ perding auffassen können, so stellt sich am Ende die Substan­ tia als der oberste und allgemeinste aller Gattungsbegriffe ein. Zunächst kann man diesem Einwand entgegenhalten, dass sich die Gattung als vielseitiger Begriff der Vermittlung erwiesen hat. Nach Art einer arbor porphyriana lässt sie sich nicht nur in einer Richtung ausführen. Die biologische Gattungsbildung, welche schließlich im Körperding und im Sein endet, stellt ja nur eine Sonderform der Gattung dar, und wir möchten deshalb eine Rangfolge in verschiedenen Richtungen (ordo polyhierar­chicus) gerade als ihren wichtigsten Grundzug anzeigen. Des­halb wäre die Absicht sofort eine schiefe, wollte man die Substantia als letzten und obersten Treffpunkt aller Gat­tungsbegriffe stehen lassen. Allein dieser Hinweis reicht nicht hin, um uns aus der Verlegenheit zu befreien, in die wir geraten sind. Es bleibt in der Tat bestehen, dass mit dem „Körper“ die Einstufungen von Gattungsbegriffen doch meist ihr Ende finden, womit aber die Substantia dann eindrucksvoll die Abfolge von Gattungsbegriffen abschließen würde. Es blie­be also bei dem Unvereinbaren: Die Substantia einerseits als letzte Abstraktion des anschaulichen Wissens, welches sich im selbstständigen Einzelding festhalten möchte, um nicht ins Zer­fließen zu geraten. Die Substantia als Gattungsbegriff Körper andrerseits, der aber als Körperform die typischen Kennzei­chen der Gattung enthalten muss, denn anders vermag der Körper als gattungsmäßiger Sammelbegriff seine Aufgabe nicht zu hal­ten. Die Spannung liegt im Begriff „Körper“, so viel klärt sich daran heraus. Betrachte ich Kugeln, Pyramiden, Quader, Schei­ben und so fort als Körper, so kann ich sie unmöglich in ei­ner anschaulichen Form zusammenbringen. Es wird einsichtig, dass nur ein Gattungsbegriff „Körper“ sie zusammenhalten kann. Es klärt sich dabei aber auch, dass dieser Gattungsbegriff „Körper“ in Wahrheit ein geometrisches Ideal beabsichtigt, das ich besser mit „Figur“ und „Form“ wiedergebe. Der geome­trische Gehalt verwendet „Körper“ als forma abstracta, und nun bemerke ich, dass „Körper“ eine physische oder physikali­sche Bedeutung enthält, von der aus ein ganz anderer Begriff für das Erkennen abgeleitet werden kann. Ich bemerke, dass „Körper“ eine vielversprechende und tiefgründige Doppeldeu­tigkeit enthält, von der aus die Geometrie und die Physik völlig auseinandergehen. Zwei Welten der Erfahrung stoßen hier zusammen. Einmal Körper als reines Raumideal, woran wir überhaupt nichts Zeitliches entdecken können.32 Wir reden aber sogar noch von einem „Gesellschaftskörper“ und bemerken da­bei, dass hier Körper zu einer völligen Abstraktion geworden ist, die sich zu einer geistigen Einheit verflüchtigen kann. 32  Dies

gilt natürlich nur für die bisher entfaltete Beziehung.



§ 15  Doppeldeutigkeit des „Körpers“ zwischen Gattung und Substantia99

Die Prüfung der Bezeichnung „Körper“ ergibt, dass hier ein Knäuel von Bedeutungen sich zusammenballt, so dass selbst in der Physik der Körper als Massenpunkt verstanden mit dem Kör­per in der physikalischen Chemie und erst recht in der Chemie fast nichts mehr zu tun hat. Wir tun also gut daran, den Kör­per mit der „Substantia“, so wie sie sich als reine Beziehung im Erkennen entfaltet hat, gar nicht in Verbindung zu brin­gen.33 Nehmen wir aber dennoch den „Körper“ in der Bedeutung von Substantia, so bleibt ein Gehalt zurück, der eben jenen Abstand zum Gattungsbegriff bewahrt, worauf schon hingewiesen worden ist. Die Substantia zielt auf das „In-sich-selber-Bestehen“, wel­ches Erscheinungsträger ist und die Eigenschaften des Er­scheinenden, seien es notwendige Relationen oder gelegentli­ che Züge als notwendiger Grund in sich aufnimmt. Aus unserer Sicht bisher steht so die Substantia als letzte Unbedingt­heit. Dieser Kerngehalt aber ist ein Gleichnis des je Einma­ligen und nie und nimmer die Abstraktion eines Gattungsbe­griffs. Die Substantia meint das Innerste in jedem Ding, je­doch nicht als dessen Eigenartigkeit, sondern als dessen Selbstständigkeit, und sie zielt so auf den Nerv der Selbig­keit. Die Substantia ist das innerste Gleichnis der Selbig­keit. Damit aber enthüllt die Substantia einen neuen, wunder­baren Grundzug. Sie ist ein wahrhaft einmaliger Gehalt und der einzige auch, welcher den Übergang vom anschaulichen zum unanschaulichen Wissen besteht. Die Substantia gleicht Trä­gern, welche im Gebäude des Erkennens vom Baugrund der An­ schauung ihren Ausgang nehmend durch mehrere Stockwerke hin­durchgehen, um diese immer erneut von ihrem Ausgang her zu stützen. An all dem hat der Gattungsbegriff in seiner flüch­ tigen und vielseitigen Weise nichts zu bieten und keinen An­teil.

2. Der Körper als Gattung und Substantia bei Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus Unsere eben getroffene Entscheidung soll noch im Lichte der mittelalterlichen Metaphysik kurz beleuchtet werden. Die ein­zigartige Bedeutung der Substantia im scholastischen Denken oder die Bedeutung der scholastischen Philosophie für das Verständnis der Substantia hat uns natürlich besonders stark zu beschäftigen, weil hier der Begriff Substantia weithin mit dem Gehalt der Essentia vorbelastet ist. Es kommt hinzu, dass die Essentia dann 33  Man bedenke, dass diese Substantia auch nicht der chemischen Substanz nahekommt. Man bedenke, dass die Physik des Massenpunkts eine ideale Vorstellung ist, die jedoch das Ausmaß Zeit als elementares Constitu­ ens benötigt. Aber die Bahnkurve dieses Massenpunkts in der analyti­schen Geometrie führt wiederum zur völligen Elimination der Zeit.

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in einem weiten Sinne auch noch der Gattung zugeteilt wird.34 Thomas spricht von der „essentia generis“ und von der „essentia speciei“.35 Um dem Wirrwarr, der sich am Begriff der Essentia oder des Wesens eingefunden hat, so früh wie nur möglich entgegen zu steuern, ist es nötig, dass wir unsere Substantia auch im Hinblick auf den Inhalt und den Zusammenhang von Corpus, Substantia und Genus in der mittel­alterlichen Metaphysik abklären. Denn eine klare Sicht in Bezug auf Essentia und Substantia setzt voraus, dass wir die Substantia zuvor klar abgegrenzt haben, wo eine solche Mög­lichkeit wenigstens gegeben ist. „Die Bestimmung der natürlichen Substanzen enthält nicht nur die Form, sondern auch die Materie, denn anders würden sich die natürlichen und die mathematischen Bestimmungen nicht un­terscheiden.“36 Damit ist zunächst einmal eine Scheidewand eingerichtet. Der phänomenologische Aufschluss bleibt dem an­ tiken und mittelalterlichen Philosophen fremd, der Begriff „Substantia“ enthält daher bereits metaphysische Urteile oder auch Ur-Teile, wenn man die Aussage auf ihren rein ontologi­schen Gehalt einengen will. Unser Anliegen geht nun dahin, die Substantia noch ganz im anschaulichen Wissen zu entwic­keln, so dass die geometrische Bestimmung noch gar nicht her­ ankommt, aber auch eine innere Auseinandersetzung nach Form und Stoff unsere Substantia nicht uneins in sich machen darf. Darum spielt die bestimmte Form gar keine Rolle, und indem wir nur auf das Selbstständige achten, erhält die Form als gat­tungsmäßige Abstraktion gar keinen Zugriff. Substantia meint eine ebenso allgemeine wie auch anschauliche Ratio, um es mittelalterlich zu sagen, und darin liegt ihre Mächtigkeit. Und in diesem Sinne wollen wir auch das ursprünglichste Ver­ ständnis der „Ousia“ des Aristoteles suchen. Freilich fällt natürlich aus besagtem Grund die Ousia sofort in die Ausein­andersetzung von Hyle und Morphe.37 Gehen wir also von diesem Verständnis aus, so wird hier schon eine Unterscheidung zwischen Essentia und Substantia vorge­ zeichnet, die viel Unklares vermeiden kann, die jedoch von den anderen Voraussetzungen des metaphysischen Realismus her sich nicht so leicht anbietet. Ousia bedeutet uns dann eben nicht Essentia, sondern Substantia. Denn die Essentia ist un­serem Hinblick noch gar nicht gegenständig, und die Substan­ tia allein vermag sich auf der Ebene der Essentia als Einheit durchzuhalten, wie noch zu zeigen ist. Für die andere Meta­physik zeichnet sich indes eine Verfloch34  Näheres in: Förschner, F.: Plato metaphysicus – Aristoteles und die Folgen. Kevelaer, Butzon u. Bercker 2004. 35  De ente et de essentia, cap. 3. Wir verwenden die dt.-lat. Ausg. von Rudolf Allers in der Fischer-Bücherei Nr. 293. Hier S. 22. 36  De ente et ess., cap. 2. S. 18. 37  Vgl. Plato metaphysic.



§ 15  Doppeldeutigkeit des „Körpers“ zwischen Gattung und Substantia101

tenheit in Form einer gewissen begrifflichen Unschärfe ab, die Anlass zu harten Aus­einandersetzungen im Mittelalter gegeben hat. „Ousia ist näm­lich bei den Griechen dasselbe, was wir Essentia nennen“, sagt Thomas.38 Aufschlussreich wird auch Augustinus’ Bemerkung: Die Ousia entspricht unserer Essentia, wenngleich uns die Substantia gebräuchlicher ist.39 Die Bodenhaftigkeit der Sub­stantia kommt dagegen in der Vulgata zum Ausdruck, wo das ir­dische Vermögen als Reichtum mit Substantia übersetzt wird.40 Mit dieser Vorgeschichte schon stark belastet, tritt die Sub­ stantia nun auch in engen Zusammenhang mit dem Körperlichen und dem Körperding, wobei die Bestimmungen noch verwickelter werden. Körper kann als Teil eines Lebewesens oder als Gat­tung aufgegriffen werden. Jedenfalls fällt aber der Körper nicht in den Gattungsbegriff, wenn er als Teil des Lebewesens verstanden wird.41 Dabei stellt sich heraus, dass Thomas Aquinas den Körper in der Weise der Substantia versteht, so­weit dieser als Teil eines Lebewesens gegeben ist. Damit ist in unserem Sinne eine Absage an die Gattung gegeben, soweit der Körper unter ihrem Zugriff steht. Aber die Unterscheidung des Körpers als Substantia und des Körpers als Gattung genügt für unser Anliegen nicht ganz, und es kommt hinzu, dass Thomas vom „genus substantiae“ spricht, wo er den Körper in der „Weise der Substantia“ bezeichnet. Denn in der Weise der Sub­stantia wird der Körper als Teil des Lebewesens bezeichnet, soweit nur die drei Dimensiones gemeint sind; dies bedeutet Körper lediglich „in genere quantitatis“. In der Weise der Gattung (man könnte nun sagen in genere generis) wird aber der Körper auch unter den drei Dimensiones verstanden, jedoch so, dass in ihm jede weitere Vollkommenheit, den der Körper als Substantia allein begriffen überschreitet, unbestimmt enthalten ist.42 Da hier „genus“ nicht streng als 38  Ebda.,

cap. 2, S. 19. Trinitate 5.8.9. „Essentiam nenne ich, was griechisch mit Ousia bezeichnet wird, wenngleich wir sie gebräuchlicher Substantia nen­nen.“ 40  Psalm 108. 11 (109. 11). Thomas vermeidet in der Theologie zur Dreifaltigkeit die „Substantia“, weil in ihrer dreifachen Bedeutung gerade der Unter­schied zwischen der göttlichen Essentia und den göttlichen Personen nicht scharf genug herauskommt. S. theol. 1. 29. 1. 2; ebda. ad 2; 1. 29. 2 resp.; bes. 1. 29. 2 ad 2; 1. 30. 1 ad 1. Dagegen verhält sich das La­te­ranense IV (1214) nicht gerade geschickt, wenn es nun in sei­nem Urteil gegen Joachim von Fiore ausdrücklich in der Gottheit Na­ tura, Essentia und Substantia gleichsetzt. Enchiridion symbol., nr. 800 [428]. „… tres personae … sed una essentia, substantia seu natura …“. 41  Thomas, De ente et ess., cap. 3. „Non enim potest eo modo esse genus, quo est pars integralis. Hoc igitur nomen quod est corpus multiplici­ter accipi potest.“ 42  Cap. 3. S. 23 ff. „Potest ergo hoc nomen corpus significare rem quamdam, quae habet talem formam, ex qua sequitur in ipsa designabi­litas trium dimensionum cum praecisione, ut … nulla ulterior per­fectio sequatur, … Et hoc modo corpus erit in39  De

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Gattung verwendet wird, sondern offenbar auch im Sinne von „modus“, so wird auch genus zu einem Allerweltswort wie die Essentia. Dies trägt nur dazu bei, die wünschenswerte Klarheit in den Abgrenzungen noch mehr zu schwächen. Wir sehen, dass für Thomas der Körper zu einem Mittelbegriff zwischen Substantia und Gattung dient. Wir sehen aber auch, dass die Unterschiede zwischen Substantia und Gattung über­ haupt nahe zusammenrücken, weil beide Begriffsformen hier ei­gentlich nur unter dem Hauptmerkmal der drei Dimensiones, sub genere quantitatis verstanden werden. Sodann trennt sich die Gattung von der Substantia ab, weil sie unbestimmt enthalten kann, was in deren engerem Begriff ausgeschlossen ist. Für die Metaphysik des Aquinaten ist diese Sichtweise von großer Bedeutung. Einmal bleibt damit immer eine Annäherung an Pla­tons Ideenlehre offen, wonach ja die Gattung eine ontologi­sche Verdichtung der Substantia sein soll. Thomas nähert sich immer wieder Platon, wo es gilt, die Anima als forma substan­tialis corporis zu untermauern. Anders als bei Aristoteles erhält hier also die Gattung einen gewissen ontologischen Wert. Dem entspricht aber auch, dass Thomas, wahrscheinlich abweichend von Aristoteles, in der Materia nur eine potentia obiectiva sehen möchte. Denn die Substantia, so wie wir sie im 3. Capitulum von „De ente et essentia“ kennengelernt ha­ben, wird nun sub genere quantitatis gesehen, was aber vor allem die drei Dimensiones meint. Mit dieser geometrisch idealen Sicht der Substantia nähert sich Thomas aber wiederum Platon, der im Timaios die Materie nach rein geometrischen Anordnungen bestimmt.43 Vergleichen wir nun unser Anliegen an die Substantia, so kom­men wir zu diesem Ergebnis: Der eigentliche Nerv, um den es uns geht, wird bei der Sicht sub genere quantitatis nicht ge­troffen, weil sich darin die Ansichtsgründe, die wir ja ein­deutig als Gattungsbegriffe bestimmen, von den Körpern nicht absondern. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns immer noch im Anschaulichen befinden und somit noch gar keine ontologi­sche Aussage verantworten können.44 Allein in dem anschauli­chen Bereich zeichnet sich nun das Ding als Selbststand von dem Ding als Erscheinungsweisen so ab, dass wir die Quantitas ein­mal zurückstellen können, weil sie hier mehr das Gemeinsame als das Trennende andeutet. Freilich offenbart sich dabei, wie tegralis et materia­lis pars animalis, … Potest etiam hoc nomen corpus hoc modo acci­pi, ut significet rem quamdam, quae habet talem formam, ex qua tres dimeniones possint in ea designari quaecumque sit forma illa, sive ex ea possit provenire aliqua ulterior perfectio sive non. Et hoc modo corpus erit genus animalis, … 43  Näheres s. Plato metaphysic., § 10. 44  Deshalb enthält unsere Sicht auch keinen Widerspruch zu der von Thomas umrissenen Definitio und Designatio.



§ 15  Doppeldeutigkeit des „Körpers“ zwischen Gattung und Substantia103

sehr die Substantia als „Selbststand“ sich aus allem An­schaulichen zurückziehen und sich im Mittel- und Schwerpunkt des Körpers zu einem Gedanken verdichten möchte. Diese Kraft der Substantia ist schon bemerkt worden, sie drängt zum Über­gang, weil sie sich durchzuhalten vermag. Es bedeutet aber auch, dass wir vielleicht Körper und Substantia nicht einfach im Anschaulichen verselbigen sollten. Denn unsere Ermittlung besagt bereits, dass jeder einzelne Körper in der Anschauung als Substantia und als Gattungsmäßiges erscheint. Keines ver­ mag ohne das Andere zu erscheinen, dennoch ist die Unter­scheidung gegeben. Wir erhalten eine Unterstützung zu unserem Anliegen an der Substantia durch Johannes Duns Scotus, und hier tritt nun ei­ne gewisse Gegensätzlichkeit zu Thomas ans Licht. Denn beide Positiones gehen von gleichen Voraussetzungen aus, was ihre Betrachtungsweise betrifft. Wenngleich Corpus und Substantia nicht einfach gleichgesetzt werden sollen, so haben wir es mit der Materia mit einem Schnittpunkt erneut zu tun, wo bei­de fast dasselbe bezeichnen möchten. Während nun Thomas die Materia ebenfalls sub genere quantitatis sieht, gehört die Quantitas bei Duns Scotus nicht zum ersten begrifflichen Be­stand. Für die Individuatio, die ja hier als individuatio corporis zu nehmen ist, stehen nach Thomas folgende Rahmenbe­ dingungen an: Einerseits bleibt die Materia nur eine potentia obiectiva, und dies führt natürlich dazu, dass das Sein der Substantia, der actus substantialis weit hinein in der Forma gesehen wird. Andrerseits muss desto mehr die materia corporis deshalb sub genere quantitatis betrachtet werden. Wenn sodann die materia quantitate signata zum eigentlichen principium individuationis wird, so bestätigt sich darin nur das Form­hafte der Substantia.45 Duns Scotus beruft sich auf Aristoteles, wenn er nun der Ma­teria eine potentia subiectiva zuerkennt.46 Dies schließt in­des ein, dass der Materia bereits eine gewisse Substantialitas aus sich zukommt.47 Während nun Thomas die Materia sub genere quantitatis sieht, sagt Scotus: „In genere substantiae mate­ria est ens infimum.“48 Nach ihm eignet der Materia sogar aliqua essentia49, und so kann er sagen: „Das esse formale, mag es auch der Materia von der Forma herkommen, wird der Ma­teria dennoch als esse proprium zugeteilt …“50 Für die Quantitas in Bezug auf das Verhältnis von 45  „… individuationis principium est quantitas dimensiva … . Divisio autem accidit substantiae ratione quantitatis, …“ S. theol. 3. 77. 2; De ente et ess. cap. 5. 46  Vgl. Plato metaphysic., § 24.3. 47  Opera omnia. Civitas Vaticana. Bd. 18. 1982. Lect. 2 dist. 3 p. 1 q. 6. „Utrum substantia materialis sit individua per unitatem positi­vam determinantem naturam ad essendum hanc substantiam individualem.“ Die Quaestio wird bejaht. S. 280 ff. 48  Opus Oxoniense 2 dist. 12 q. 1 n. 12. 49  Ebda. n. 16. 50  Ebda. n. 7.

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2. Teil, 2. Kap.: Das unanschauliche Wissen

Materia, Corpus, Substantia, worum es hier ausschließlich geht, ergeben sich jetzt entscheidende, von Thomas’ Auffassung abweichende Fol­gen. Es ist ein Irrtum, zu meinen die Quantitas teile die Ma­teria auf. Wir müssen nach Scotus die Quantitas als eine Be­ziehung, als ein Modus oder Genus, auffassen, welche eine substantia materialis oder eine materia substantialis schon voraussetzt.51 Vergleichen wir nun diese Positio mit unserer, von der An­schauung her entwickelten Substantia, so finden wir jedenfalls in ihr unser hauptsächliches Merkmal eher enthalten. Indem hier eine substantia materialis bereits zum Träger der Quan­titas wird und nicht erst an ihr ihren actus essendi gewinnt, zielt diese Auffassung ganz auf den Selbststand der materia substantialis. Dann ist es nur noch eine andere Ansichtssei­te, wenn dieser Materia auch ein gewisses Sein ohne die Forma zukommt. Jedenfalls rücken hier die Gesichtspunkte Substan­tia, Materia und Corpus beträchtlich enger zusammen als bei Thomas, wo die Quantitas immer etwas sperrig dazwischen steht und sich so in den Vordergrund drängt. Duns Scotus gibt uns einen geeigneteren Anhaltspunkt; indem er die Quantitas im ersten Begriff unterdrückt, bleibt der nötige Unterschied zwischen der Substantia und der Gattung gewahrt.

51  Op. Ox. 2 dist. 3 q. 1 n. 7; Opera omnia. 18. Lect. 2 dist. 3 p. 1 q. 4. S. 246; ebda. S. 254. „Praeterea, si substantia quaelibet est prior quantitate in essendo et ‚esse in actu‘, non est nisi alicuius signati, ergo signatio substantiae materialis est prior signatione quantitatis, et per consequens non est individuum signatum per quan­titatem.“

3. Kapitel

Das Wissen als Selbstverständnis § 16  Die neue „Erinnerung“; das Beisichsein als Reflexion 1. Der Kreislauf des Erkennens Mit der Gattung kündigt sich eine grundsätzlich neue Zone im Erkennen an, und es ist so, als ob die Gattung selber auch nur ein Vorbote oder eine Vorzone dieser neuen Erinnerung sei. Wiederholt sich hier die Zweiteilung des anschaulichen Wissens, nämlich äußere Wahrnehmung und innere Wiedergabe als ergänzende Erinnerung, in einer unanschaulichen Abfolge? Wir können nun einmal diese erste Zone insgesamt als die des er­scheinenden Gegenstandes an sich bezeichnen. Mag auch die sinnliche Erinnerung wie eine Einkehr nach innen erscheinen, wenn sie an der äußeren Wahrnehmung folgt, insgesamt bleibt es beim Geradehin zum Gegenständlichen. Denn Erkennen, wenn es selbstvergessen am Gegenstand haftet, fügt die Teile der Erinnerung geradewegs der Ansicht hinzu; es ist mit jedem Be­reich ganz am Gegenstand. Erst die Wiederholung des Gegen­stands ohne dessen „Gegenwärtigsein“ in der äußeren Wahrneh­mung bereitet eine Wende und Einkehr nach „innen“ vor. Es ist aber gerade das Zurückgebeugtsein im sinnlichen „Ge­ dächtnis“, welches uns erst aufmerksam macht, dass hier wie­derum scharf zu scheiden ist zwischen Vorstellung und Vor­ ge­ stelltem einerseits und einer erneuten Vorstellung andrer­seits, welche sich das andre Verhältnis bewusst macht. An die­sem inneren Aufbruch nämlich bemerken wir, dass die Vorstel­lung der sinnlichen Erinnerung gar nicht die Züge einer ei­gentlichen Reflexion vorweisen kann. Denn das Vorgestellte der Erinnerung erscheint aus dieser in einer traumhaften Ur­sprünglichkeit geradehinaus auf einen Gegenstand. Es ist der Einbruch der neuen Zone, welcher erst das eigentliche Vermö­gen einer Reflexion bloßstellt, indem er das vorausgesetzte Verhältnis zum Gegenstand macht. Das Geheimnis der neuen Zone erklärt sich mit innerer Notwen­digkeit: Dieses Wissen oder Verhältnis muss unanschaulich sein. Denn anders wäre es eine erneute Wiederholung des Al­ten, des alten Wissens oder Verhältnis-

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2. Teil, 3. Kap.: Das Wissen als Selbstverständnis

ses; es läge ein re­ gressus oder progressus ad infinitum vor. Bewusstsein würde niemals zu sich selber kommen, es würde endlos von Gegenstand zu Gegenstand wandern; dem entspräche seitens des Gemütes ein tierisches Triebleben von Fang und Fraß, von Begattung und Fortpflanzung. Erlauben wir uns hier eine kurze Zwischenbe­trachtung auf tierisches Leben, so wie es dem „Ich bin“ er­scheint. (Wir sind uns bewusst, dass sie eigentlich hier noch nicht erfolgen düfte.) Erscheint uns tierisches Leben nicht so, als ob ihm der Einbruch der inneren Zone weithin fehlt? Entsprechend dieses neuen Vermögens scheint ihm dann auch das höhere Gemütsleben zu fehlen. Vergleichen wir dieses so ver­mutete Bewusstsein mit dem eigenen, so erscheint es uns merk­würdig zwecklos, da pflanzliches Leben ohne Bewusstsein zum selben Ergebnis kommt. Gemäß unserem Vorsatz haben indes sol­che Überlegungen im Abseits zu bleiben. Das alte Wissen ist ein gegenständliches, es verhält sich ge­radehin zum Vorgestellten. Sein und Erkennen sind in einfa­cher Unmittelbarkeit gegeben, so dass ein Verhältnis anderswo im Bewusstsein untergebracht werden muss. Das neue Wissen ist ein Verhältnis, und es hat das Verhältnis in sich. Das „In sich“ ist ein doppelt verdoppeltes. Denn es sieht das Ver­hältnis von Ansicht und Erinnerung in dessen An sich. So scheint die Erinnerung schon die Reflexion zu haben, aber es scheint nur so; sie hat in Wahrheit die neue Zone als Ein­griff in sich. Damit hat sich aber die neue Zone in sich sel­ber auch schon urgeteilt. Denn diese Zone betrachtet das Ver­hältnis der alten Zone zu sich, und sie setzt damit ihr Ver­ hältnis zur anderen Zone zum Verhältnis in sich. Wir bemerken nun, dass das erscheinende An sich erst jetzt im In sich ver­mittelt ist und dass das In sich am vermittelten An sich er­scheint und somit auch vermittelt ist. Wäre die neue Zone auch wieder eine anschauliche, so käme das merkwürdige Verhältnis einer bildhaften Übertragung zustande. Ein solches Verhältnis ist uns nicht völlig fremd. Wir kennen das Abbild-Denken, wir wissen um die Auslegung der Träume und um die verschlüsselte Botschaft der Mythen. Durch äußere Bil­der und Ereignisse werden hier gemüthafte Erlebnisse und Be­ ziehungen wiedergegeben, die wir eben nur in dieser Weise mitgeteilt bekommen. Damit ist indes das Entscheidende schon gesagt: Es handelt sich um Mitteilungen aus einem Bereich des Menschlichen, der sich dem Erkennen als Erlebnisgehalt zwar mitteilt, mit dessen innerer Anlage und Begriffsformen jedoch unmittelbar nichts zu tun hat. Denn das Erlebnis als sol­ ches, sei es nun ein im Wachsein erfahrenes oder ein erträum­tes hat uns hier noch gar nicht zu beschäftigen. Hätten wir es also mit einer bildhaften Übertragung zu tun, so könnten wir keine allgemeinen Gesetzmäßigkeiten entnehmen. Aber nicht nur das; wir hätten wohl kaum in diesem Verhältnis die Mög­lichkeit ei­ner Reflexion, die ja darin besteht, dass Erkennen sich als Er­kennen zum Gegenstand setzt.



§ 16  Die neue „Erinnerung“; das Beisichsein als Reflexion107

Mit der Reflexion ist auch in dem inneren Aufbruch ein regres­ sus ad infinitum jäh unterbrochen. Erkennen setzt sein vorge­lagertes Verhältnis als Gegenstand zu sich ins Verhältnis. Aber dieses vorgelagerte Verhältnis ist doch schon Erkennen selber. Muss hier nicht eine Spiegelung in der Spiegelung nach dem bekannten Bild in Bild in Bild usf. entstehen? Dem ist nicht so, weil die Unanschaulichkeit der neuen Zone sich als jähes, unmittelbares Beisichsein erweist. Die neue Erinnerung in der neuen Zone ist unmittelbar in der alten Zone, und un­mittelbar bedeutet hier doch nichts anderes als nicht mit den Mitteln bisher. Das neue Bewusstsein lässt sich bis jetzt nur als Verneinung am alten ausdrücken. Indem das bis jetzt vor­ stellende Vermögen nun als weiteres Vorgestelltes nach außen gestellt wird, erfährt sich das neue Vermögen bei sich. Wir bemerken jetzt ein Grundverhältnis: Reflexion ist aus dem Bei­sichsein begründet, aber Beisichsein ist auch nur aus Reflexion erfahrbar. Darum endet dieses Verhältnis nun so jäh und unmittelbar in einer unmittelbaren Einsicht, die nicht weni­ger eindeutig ist als jene erste unmittelbare Einsichtnahme des Sinnes. Das Verhältnis des Verhältnisses kreist in sich selber, und es kann mit einem Schlage eingeholt werden; es steht bei allem Erkennen immer als Anlage an, auch wenn es nicht ausdrücklich gesetzt wird. Beisichsein zeigt sich daher so, dass jenes innerste Erkennen nicht nur seine anderen Zonen zum Gegenstand einer inneren Betrachtung setzt, Beisichsein bedeutet, dass dieses innerste Bewusstsein an diesen Zonen zu sich kommt und bei sich ist. Aber dies bedeutet freilich nicht, dass Beisichsein nur die Summe aller Zonen wäre. Denn damit wäre noch nicht einmal der sensus communis als Summe der fünf Sinne erklärbar. Beisich­sein ist ein Mittelpunkt, zu dem alle Wege der Sinne führen, und es blickt auf die Wege und auf das, was auf ihnen an­kommt. Aber Beisichsein kommt im Hinblick darauf zu sich. Dieses Verhältnis bleibt unüberholbar, weil grundsätzlich mit einem Schlage einholbar. Das Beisichsein als letztes einhol­ bares Ich zieht sich zuinnerst zurück, indem es sich insge­ samt in die Vorstellung setzt. Aber damit geraten ihm schon wieder die Erlebnisse, die Verhältnisse der Gemütszone in die Vorstellung, und diese müssen hier verdrängt, unterdrückt werden. Dieses Beisichsein mag sich ruhig unentwegt als ein von Stimmungen beherrschtes erleben, dies ändert nichts daran, dass es sich als ein erkennendes herauslösen lässt. Wäh­rend nämlich das Beisichsein als Gemüt von Stimmungen formlos hin- und hergerissen wird, in denen es auch bei sich ist, er­fährt es sich als erkennendes Beisichsein in einer gesetzmä­ßigen Unveränderlichkeit. Das Beisichsein ist sich in zwei grundverschiedenen Weisen gegeben, und wir können hier gar nicht sagen, dass die eine den Vorrang hätte, indem sie noch mehr bei sich ist und damit letztlich Beisichsein begründet. Was sich hier herauslösen lässt, ist jene Anlage des Bewusst­

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2. Teil, 3. Kap.: Das Wissen als Selbstverständnis

seins, die in allem Wandel wandellos als Begriffsform bleibt, die uns Gegenständlichkeit in einer „sachlichen“ Sicht er­scheinen lässt. Wir sehen, dass die Vorstellung eines Gegenstands an sich au­ßerhalb des Gegenstands für das Beisichsein oder die Vorstel­lung eines Gegenstands als zweiseitiges Verhältnis nur aus dem endgültigen Dabeisein des Beisichseins möglich wird. Es ist kein regressus ad infinitum, sondern ein Kreislauf des Erkennens. Das An sich des Gegenstands erklärt sich als Ver­mittlung im Beisichsein, aber das Beisichsein erfährt sich an der Erscheinung des Gegenstands. Dies müssen wir als das Grundlegende des Verhältnisses sehen: Das Beisichsein kann nur so weit bei sich sein, wie es sich in der Reflexion setzen kann. Es kann nur so weit zu sich einkehren, wie es sich nach außen setzen kann.

2. Die erste Grundeinsicht des Selbstbewusstseins als not-wen­diges Selbstverständnis Die erste Grundeinsicht des Selbstbewusstseins hat sich damit erklärt. Beisichsein und Reflexion sind rein erkenntnismäßig ein und dasselbe, und darum kann diese Einsicht nur eine un­mittelbare sein. Ich nehme mit den Augen nicht die Klänge und mit den Ohren nicht die Farben wahr. Indem ich solche Bezie­ hungen zum Gegenstand setze, bemerke ich Folgendes: Einmal kann ich diese Beziehungen nicht in ein gattungsmäßiges, all­ gemeineres Verhältnis setzen, ohne dass ich den entscheidenden Inhalt verlieren und in eine „sinnlose“ Aussage geraten würde. Dies bedeutet indes, dass ich völlig angewiesen bin auf meine sinnliche Wahrnehmung. Das Allgemeine lässt sich nicht von der unmittelbaren Erfahrung lösen. Denn das Allgemeine wäre sonst die Gattung, nämlich „Eindrücke der Sinne“, womit die Unterschiede der Sinne in der Abstraktion untergegangen wären. Mit dieser Reflexion aus der Unmittelbarkeit erfahre ich aber auch mein Bewusstsein als den Erzeuger aller Vorstel­ lungen schlichthin, womit die erste Grundeinsicht des Selbst­ bewusstseins wegen ihrer Unmittelbarkeit geklärt wäre. Die Frage, ob damit nicht auch das Beisichsein als unbeding­tes Absolutum ausgewiesen wäre, muss wohl jetzt aufkommen. Die Antwort ist jedoch im Grunde schon gegeben, da wir die zweite Grundeinsicht des Selbstbewusstseins52 wegen ihrer Unmittelbar­keit heranziehen dürfen. Ich kann sehr wohl das Beisichsein als ein Absolutum setzen. Aber welchen Nutzen habe ich davon? Ich bin mir bewusst, dass ich die Gemütszone eingeklammert 52  Die zweite Grundeinsicht des Selbstbewusstseins ist in § 7.1 „Das Bewusstsein als Bizone von Erkennen und Gemüt …“ angezeigt. Ausführlich darüber ab § 24, 1.2.



§ 16  Die neue „Erinnerung“; das Beisichsein als Reflexion109

ha­be und dass eine Aussage nur das Erkennen betreffen kann. Mag also mein vorstellendes Ich ein ego absolutum sein. Die Aus­sage ist nichtssagend; sie kann aber falsch werden viel­ leicht, wenn ich pars pro toto ad absolutum setze und nun schließe, dass Bewusstsein „nihil indiget ad existendum“. Es gehört aber durchaus nicht zur unmittelbaren Einsicht des Selbstbewusstseins, dass ein Gegenstand in einem Jenseits des Bewusstseins nicht vergleichsweise bestehen könnte, und eine solche Möglichkeit leuchtet auch nicht unmittelbar als „sach­licher Widersinn“ ein. Wir möchten nicht dafür eintreten, dass Selbstbewusstsein erst mit dem Bewusstsein als Begriff seiner selbst, also der Reflexion, aufkommt. Darum enthält Bewusstsein als Beisichsein in der Reflexion mehr als bloßes Selbstbewusstsein. Im Bewusstsein als Begriff seiner selbst oder als Selbstvorstellung spricht das Beisichsein seine allgemeine Verfassung in Form des Selbstverständnisses aus. Die erste Grundeinsicht des Selbst­bewusstseins ist in der Tat Selbst-Erkennen und selbstver­ständlich, es ist die Selbsterscheinung des Verstandes an und für sich. Allein der Verstand vermag das Ganze zu veranstal­ten, und nur er ist das Vermögen, welches alles und sich dazu in die Vorstellung setzt. Aber ist er das Bewusstsein im letz­ ten schlichthin? Ist Bewusstsein und Selbst als Reflexion völ­lig eingeholt und ausgeschöpft? Hier ist doch in aller Be­scheidenheit zunächst einmal festzustellen, dass dieses un­bedingte Selbstverständnis bereits im „reinen Schauen“ eine Selbstbeschränkung in die Vorstellung setzt. Die Selbstvor­stellung des Selbstverständnisses zeigt sich auch als eine Zurücknahme am Bewusstsein. Indem der Verstand sich absetzt von seinen Zuträgern, erkennt er die Not-Wende des Kreis­laufs. Das Beisichsein des Verstandes weiß sich als letzte Unbedingtheit notwendig angewiesen auf die vorgelagerten Zo­ nen, und Beisichsein erhält sich notwendig als Dabeisein am Anderen. Das Beisichsein erklärt sich jetzt als dessen allei­nige Fähigkeit, beim anderen dabei sein zu können. Das Andere kann das nicht. Aber das Beisichsein gewahrt sich dabei als bedingtes oder vermitteltes Absolutum, weil es selbst sich in den Kreislauf gezwungen erfährt. Es ist notwendig auf den Kreislauf angewiesen. Damit wäre genug gesagt über das Selbstverständnis als ein Absolutum. Zwar mag es als oberster Gesetzgeber bestehen, aber es ist nichts ohne seine Untergebenen. Es bleibt indes, dass ein so erfahrbares Selbstverständnis sich zwar Selbstbewusstsein zum Gegenstand machen kann, dass es sich jedoch nicht überzeugend genug als Selbstbewusstsein überhaupt ausgeben kann. Das Beisichsein als Selbstbewusstsein enthält noch einen Abgrund an Geheimnissen, und dennoch stehen sie auch irgend­wie in der Reflexion. Wir müssen uns dessen bewusst bleiben, dass Beisichsein und Reflexion nur in rein erkenntnismäßiger Hinsicht bis jetzt gleichgesetzt werden dürfen. Die Beziehun­gen deuten jetzt ihre Verwicklungen an: Selbstbewusstsein ist nicht

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2. Teil, 3. Kap.: Das Wissen als Selbstverständnis

gleich Selbstverständnis. Unsere Reflexion hat bis jetzt nur das Selbstverständnis zum Gegenstand, die Reflexion ist das Selbstverständnis. Aber die Reflexion kann sich auch auf das Selbstbewusstsein richten, indem sie dieses als Gemüt be­wusst macht, und so tritt ein neues Verhältnis ins SelbstVer­ständnis. Wir haben es mit einem Selbstverständnis zu tun, worin die Reflexion sich als Reflexion zu Begriff bringt, und es kann ein SelbstVerständnis hinzukommen, worin die Reflexion das Selbstbewusstsein insgesamt ausleuchtet. Das Selbstverständnis bestimmt sich daher in einer doppelten Abgrenzung. Die Selbstvorstellung des Verstandes führt eine Absonderung von den Zuträgern mit sich, der Verstand ist not­wendig auf die anderen Erkenntnisvermögen angewiesen. Begrif­fe ohne äußere Wahrnehmung sind blind. Das Selbstverständnis erfährt sich aber unmittelbar als Selbstbewusstsein, und es ist gerade die Unmittelbarkeit der Erfahrung, welche das Selbstverständnis in Bezug auf das Selbst-Verständnis so hilflos macht. Denn es ist eine unmittelbare Erfahrung, dass der Verstand eben nicht das Selbstbewusstsein allein ausfüllen kann. Dennoch ist es aber nicht unmittelbar einsichtig wie bisher, wie dieses unmittelbare Dabeisein sich vollzieht. Es ist eine Erfahrung, die wir nur als unmittelbare Gewissheit bezeichnen können, weil wir in ihr die Mittel der unmittelba­ren Einsicht nicht finden können. Es ist uns nicht möglich, die Gewissheit als ein gegenständlicher Inhalt zu fassen, so wie wir bisher die Gleichnisse, die Abstraktionen und die daraus sich ergebenden Verhältnisse als begriffliche Glei­chungen ausdrücken konnten. Erkennen hat den Unterschied schlichthin als seine Natur. Die Gewissheit aber hat es mit einem Unterschied zu tun, der doch nicht in die Unterschei­dung geht. Für die unmittelbare Einsicht erhalten wir jetzt die notwen­digen Merkmale. Der Sinn hat zwar seine unmittelbare An- oder Einsicht, er kann gar nicht anders als an- und einsehen, doch daran bemerken wir die nötige Vermittlung am Selbstverständ­ nis. Der bewusste Ausschluss des Zweifels und damit die Mög­ lichkeit des Zweifels als Fähigkeit bedingen erst die unmit­telbare Einsicht. So setzt denn diese Einsicht bereits einen zweistufigen Vorgang im Erkennen voraus, und sie enthält da­mit auch einen zweigestuften Inhalt. Denn nur das Selbstver­ständnis vermag unmittelbare Einsicht des Sinnes zu beurtei­len, womit jedoch das Urteil des Selbstverständnisses eben­falls als unmittelbar einsichtig gegeben wird. So gesehen ist die unmittelbare Einsicht natürlich vermittelt, die Unmittel­barkeit hält sich indes im Kreislauf. Der Gegenstand vor mir ist unmittelbar als Unterschied, und das Selbstverständnis weiß ihn mittelbar als Vorstellung des Sinnes; die Unmittel­barkeit des Wissens wird dabei in nichts unterbrochen. Die Reflexion ist unmittelbar Beisichsein oder umgekehrt.



§ 17  Die neue „Erinnerung“ als jäher Abbruch der alten111

§ 17  Die neue „Erinnerung“ als jäher Abbruch der alten und als unmittelbarer Eingriff des Verstandes 1. Von der Notwendigkeit und der Inwendigkeit; Materie und Form des Denkens Die unmittelbare Einsicht weiß sich also als jäher Unter­schied, darin liegt die Klarheit und die Trennschärfe. Was sich am Gegenständlichen als erscheinendes An sich ausdrückt, das bekundet sich so schon als eine innere Fassung. Dann er­klärt sich aber unmittelbare Einsicht schon immer als eine Reflexion. Das Wissen um die Wahrnehmung der Sinne ist bereits eine im Erkennen schroff geschiedene Erinnerung als Abbruch nach außen und als Aufbruch nach innen. Nur so kann sich der Eingriff des Neuen in das Alte erklären. „Unmittelbar“ be­stimmt sich daher als Verneinung eines gleitenden Übergangs und dies als Inhalt (noematisch) und als Vorstellung (noe­ tisch). Überhaupt bemerken wir jetzt die Natur des Erken­nens als Unterscheidung aus der Vereinigung; es wirkt, indem es seine Verfassung zum Verfassten als Gegenstand setzt. Un­ mit­ telbare Einsicht wäre deshalb als gleitender Übergang gar nicht möglich, weder am Gegenstand als Inhalt noch an der vergegenständlichenden Vorstellung. Nur am schroffen Abbruch alles Anschaulichen vermag ja Reflexion nach außen dem An­schaulichen völlig inne zu sein, denn wäre sie auch noch an­schaulich, würde sich Bild an Bild stoßen, und sie könnte nie­mals ein Gerüst von Gesetzeszwängen im Anschaulichen auf­kom­men lassen. Der Abbruch ermöglicht den Aufbruch, oder sagen wir besser, der Abbruch zeigt sich als Stufe des Aufbruchs nach innen. Und nun bemerken wir, dass Notwendigkeit zwei Richtungen of­fenbart, denn sie enthält Inwendigkeit. Not-wendig muss die Reflexion oder das Denken nach außen, um bei sich sein zu kön­nen. Es wäre eine leere Anlage ohne seine Materie, worauf es angewiesen ist. Erst an dieser Notwende erfährt es sich als inwendiges und dabei prägt es der Materie die Eigenform des Verstandes. Die Reflexion untersteht der Notwendigkeit als Be­dingung, darin wird ihre Inwendigkeit vermittelt. Sie bezieht aber aus der Inwendigkeit ihre Gesetzesform, und darin be­wahrt sie ihre Unmittelbarkeit gegenüber der Materie. Unmit­ telbarkeit behauptet sich als alleinige Auszeichnung der Reflexion, die sich so jedoch als eine bedingte Unmittelbarkeit bekundet. Die Unmittelbarkeit erklärt sich wegen solcher Beziehungen, nämlich der Notwendigkeit und der Inwendigkeit, als eine an­schauliche und selbstverständliche. Es kann und darf keine weitere Vermittlung mehr dazwischen sein. Ziehen wir die bei­ den Abteilungen der Anschauung in Be-

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2. Teil, 3. Kap.: Das Wissen als Selbstverständnis

tracht, so ergibt sich, dass diese, was jene Unmittelbarkeit betrifft, in eines gehen müssen. Denn die Gesetzesform in ihrer Inwendigkeit begnügt sich nicht mit dem Gleichnis der Erinnerung. Bis jetzt kann sich aber diese Aussage nur als eine leere Forderung halten, und sie ist als Verhältnis von Gesetz und Gleichnis noch zu prüfen. Was sich abzeichnet, ist die Unmittelbarkeit als in­nerer Aufbau im Erkennen selber. Die neue Erinnerung in ihrer Inwendigkeit lässt sich nicht bestreiten; welche Gesetzesfor­ men sie ihrer Materie aufzwingt, sei dahingestellt zunächst. Aber ihre Andersartigkeit gegenüber den Sinnen und der Erin­nerung wird so eindrucksvoll als Selbstverständnis, dass jede Leugnung einer des Unterschieds von Kopf und Fuß gleichkäme. Indem die Reflexion jene gesamte Welt der Sinne als eine fünf­fache Welt durchschaut, die sie als Einheit in der Vorstel­lung Erkennen annimmt und die sie als Gebilde ihrer Sinne weiß, wird die Unmittelbarkeit selbstverständlich. Mag ich nun alle Denkgesetze als Formen einer Denkgewohnheit oder als Gleichnisse der Erfahrung leugnen, eines bleibt unumstößlich: Meine Reflexion zu dem eben ausgesprochenen Sachverhalt. Ich bin mir bewusst, dass ich diese Einsicht habe, sie ist unmit­telbar gegeben und sie ist unmittelbar abgesetzt von meinen sinnenhaften Erzeugnissen. Wir haben es mit einem Grundsatz zu tun, an dem Realismus, Transzendentalismus, Positivismus und Skeptizismus sich am ursprünglichsten Quell des Wissens einfinden müssen. Denken spricht sich hier in seiner allge­meinsten Form und Fassung aus, Reflexion als inwendiger Selbstausdruck, Neosis Noeseos, wie Aristoteles es nennt. Aber diese Inwendigkeit erweist sich darin auch als eine Be­dürftigkeit, denn Denken ist alles andere als Selbstherrlich­keit in seiner Angewiesenheit zu den Sinnen. Seine Form ge­genüber der Materie erweist sich bis jetzt nur als Einfassung und damit als Andersheit. Die Gründe stehen als zwei Fronten sich unmittelbar gegenüber, aber die Reflexion hat damit in der Kluft auch die Brücke geschlagen, und sie ist angewiesen auf das Andere.

2. Husserls Kritik an Kants schroffer Trennung von Verstand und Sinnlichkeit Es soll hier nur kurz aufgezeigt werden, wie unangebracht Husserls Einwand sein kann, wenn man ihn als Gegensatz zu dem zuvor Aufgezeigten auffasst. Um ihn jedoch nicht in ein fal­sches Licht zu stellen, müssen wir sein Anliegen sehen, wel­ches auch nur das unsere sein kann. Husserls Wesensschau, der wir aber so nicht folgen können, benötigt eine enge Verklam­ merung des Einzeldings mit seinem Artgleichnis, denn letzte­res kann in der „Abschattung“ der Dingseite nicht „reell im­manent“ sein. Die Wesensschau wird nun darin gewährleistet, dass Husserl in jeder Evidenz schon eine



§ 17  Die neue „Erinnerung“ als jäher Abbruch der alten113

Vernunftregung sieht und Evidenz in der unmittelbaren Dingwahrnehmung schon gege­ben ist. In diesem Sinne enthält „Evidenz“ die Merkmale unse­rer unmittelbaren Einsicht. Wesensschau als Inhalt fasst frei­lich so nicht mehr als das Artgleichnis der Erinnerung, wobei auch jeder Farbton sein Wesen hat. Es geht Husserl um die An­schaulichkeit des Eigentümlichen in seiner Allgemeinheit, je­der Wahrnehmungskern enthält sein Wesentliches „originär ge­geben“.53 Dem kann man nur zustimmen, und wir meinen, dass hier eine Gleichnisbildung das Feld beherrscht, wo der Verstand noch gar nichts zu suchen hat, bzw. wo der Verstand gar nicht hingelangen darf. Es wäre aber verheerend für unser Erkennen, wenn jedwede Art einer Verklammerung von Tatsache und Wesen irgendwie durch einen gleitenden Übergang von Sinnlichkeit zu Verstand hin zu leisten wäre. Aus der Natur des Erkennens wissen wir bereits, dass dies sowohl für die vorgestellte wie auch für die vorstellende Seite zu gelten hat. Was immer im Bewusstsein so nahtlos zum Ausdruck kommt, das ist vielmehr durch eine schroffe Trennung so bedingt. Denn nur so ist un­mittelbare Einsicht auch die unmittelbare Einsicht des Ver­standes in die Sinne, nämlich unvermittelte, jähe Anwesen­heit, Innesein des Letzteren. Husserls Wesensschau soll einer Urschicht von Erkennen entge­ genkommen, worin Sinnlichkeit und Vernunft gemeinsam ent­springen. Hier wäre freilich der gegebene Ort, um den sensus communis anzusiedeln. Die Merkmale sind jedoch so verschie­ den, dass eine solche Festlegung hier nicht verantwortet wer­den kann. Husserls Vorstellungen über Vernunft und Sinnlich­keit, die in diesem Verständnis einen sensus communis zu Grunde legen möchten, entsprechen dem überkommenen Bewusst­seinsbegriff, der ja wegen seiner begrifflich zu schwach be­leuchteten Unterscheidung von Gemüt und Erkennen in eine Ver­engung des Bewusstseins im Verstandlichen hineingerät. Indem so die Vernunft Züge des Gemüthaften übernehmen muss,54 kommt man leicht in den Sog dieser Auffassung, die dem Erkennen et­was zuschreibt, was gerade den Grundzug des Gemütes ausmacht. Es ist ein Denken in Entsprechungen zwischen Cognitio und Emotio, das wegen der Gegensätzlichkeit der Anteile am Bewusstsein zu einer falschen Sicht kommt müsste.55

53  Ideen

1. §§ 2, 3, 4, 68–70. denke hier auch an die ratio practica bei Thomas und Kant, die Schopenhauer und Franz Brentano ablehnen. 55  Husserls „analoge Unterscheidungen“ in der Gemüts- und Willenssphäre sind deshalb sehr wenig einleuchtend. Vgl. Ideen 1. §§ 94 u. 95. 54  Man

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2. Teil, 3. Kap.: Das Wissen als Selbstverständnis

3. Das principium contradictionis als erste und allgemeinste Anwendung des Selbstverständnisses Die erste unmittelbare Einsicht des Selbstbewusstseins fasst Bewusstsein insgesamt, und sie ist darin ebenso Selbstbewusstsein wie Selbstverständnis oder Selbst-Verständnis. Der Un­terschied nach Gemüt und Erkennen braucht hier nicht in die Vorstellung zu kommen. Der Verstand vertritt hier tatsächlich das Selbst insgesamt, wie es auch sonst seine Aufgabe sein wird: Verstehen heißt vertreten. Diese hervorragende Rolle, welche gar nicht zu übersehen ist, hat deshalb auch zu dem Vorrang des Denkens im begriffenen Bewusstsein geführt, so dass sich jene einseitige Ansicht herausgestellt hat, die da sagt: „Der Verstand ist das geistige Bewusstsein selbst.“ Den Satz zu berichtigen, die Anteile des Bewusstseins richtig zu ver­ tei­ len, soll das hauptsächliche Ziel des noch Folgenden sein. Da nun die Natur des Erkennens sich im Unterscheiden, jedoch nicht unbedingt im Entscheiden vollzieht, vertritt der Ver­stand auch jede Entscheidung in der Unterscheidung. Denn jede Entscheidung führt zu einer Unterscheidung, allein letztere ist nicht der Nerv des ersteren. Die Entscheidung gründet im eigenen Pol, und die Unterscheidung gibt nur Zeugnis davon. Der Verstand holt indes an dieser Stelle seine Vertretung mit einem Schlage überhaupt ein. Ich denke über mich nach, und dies führt nicht zu einem „Cogito, ergo sum“, weil ich hier untergründig schon die verschiedenen Inhalte von Sein und Denken heraufgeholt habe, so wie ich sie im Verhältnis noch gar nicht verantworten kann. Ich bedenke meine sinnenhaften Eindrücke, daran ist nicht zu zweifeln. Damit aber habe ich ein principium ultimum fundamentale, das eigentliche Trans­cenden­tale oder Universale. Mag dieses Verhältnis auch nur bei Phi­losophen als solches in den Begriff kommen, sonst un­terge­taucht sein, es bildet die Grundschicht des Selbst­ver­ständ­nisses (welches sich von einem tierischen Selbst­bewusstsein abhebt). Der Grundsatz ist der Vollzug des Verstandes schlichthin. Den alten scholastischen Grundsatz „Aggere sequitur esse“ möchten wir hier so verstehen: Das Bestehen des Verstandes ist sein Unterschiedensein von den Sinnen; jede Regung wird zur Anwen­ dung, jeder Inhalt enthält den Unterschied, gleichgültig wo­her sein Eindruck, wohin seine Richtung. Es ist deshalb völ­ lig abwegig, diese innerste Form des Denkens als letztes und allgemeinstes Gleichnis aus der Erfahrung herleiten zu wollen oder den Denkzwang mit einer Assoziation, wobei das Gemüt noch maßgeblich beteiligt sein sollte, in Zusammenhang zu bringen. Die völlige Skepsis führt sich hier ad absurdum, und sie wird daran zu einem credo quia absurdum est. Indem also das prin­cipium contradictionis so das innerste Siegel des Verstandes ist, vermag auch nicht der geringfügigste Denkinhalt außer­ halb seiner Reichweite zu



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liegen; indem der Verstand aber das Selbstbewusstsein insgesamt vertritt, wird es zum Licht des Bewusstseins. Es wird nun klar, dass die unmittelbaren Einsichten des Selbstbewusstseins nichts anderes sein können als die allge­meinste Anwendung des principium contradictionis. Die Voraus­setzung hat sich damit eingeholt in der Reflexion, und sie durfte zu Beginn schon bestehen, weil sie unmittelbar in der allgemeinen Anwendung der Reflexion liegt. Das principium con­ tradictionis und die Einsicht des Selbstbewusstseins gehen in­eins. Die Reflexion, das Ich denke, setzt sich von ihren Vor­stellungen (Sinne, Erinnern) ab. Sie ist nicht diese (Ver­bo­tener Widerspruch). Aber die Reflexion weiß diese als Erzeug­ nisse des Bewusstseins (Unmittelbare Einsicht). In der Anwen­dung weiß die Reflexion um die Erscheinung des Unter­schieds; sie weiß aber auch das Bewusstsein als Erzeuger des Unter­schieds. Das principium contradictionis hält sich im Er­schei­nen, aber alles liegt im Erscheinen. Es zeigt sich alles im Kreislauf, und verboten ist, die Unterschiede fallen zu las­sen.

§ 18  Untersuchungen zum Selbstverständnis 1. Umriss und Unklarheit der Abstraktion; die Substantia und das principium contradictionis Nachdem sich ein gewisser Sockel des Selbstverständnisses herausgeschält hat, wollen wir versuchen, weiteres Licht her­einzubringen, indem wir die Grundformen des Begreifens wechselseitig aneinander beleuchten. Nehmen wir die Abstraktion in einem weiten Sinne, so dürfen wir sie sogar bildhaft verstehen. Was durch die Sehschwäche sich einstellt, überträgt sich wie eine natürliche Abstraktion, wovon der Landschaftsmaler regen Gebrauch macht. Gewiss liegt hier eine künstlerische Tätigkeit vor, ihr Nie­derschlag zeigt sich indes rein in der Ansicht, womit man auch dieser eine Abstraktion im Vergleich zum Gegenstand zuer­kennen könnte.56 Streng genommen finden wir jedoch in der sinnenhaften Erinne­rung die Werkstatt für die Gleichnisse des Anschaulichen. Denn Abstraktion will als Gleichnis verstanden sein, und sie hat nichts zu tun mit einer verschlüsselten Übertragung; sie ist weder Typus noch Allegorie noch Symbol. Die Natur der Abstraktion ergibt sich zunächst einmal daraus, dass alles Zufäl­ lige untergeht, sie ist so nicht mehr als das Mittelmaß, dem nichts Wichtiges fehlt. Demnach wäre man versucht, die Abstraktion ganz der Werkstät56  Man denke an die Blätter eines Baumes, welche in verschiedenen Graden einer Abstraktion wiedergegeben werden können.

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te des Anschaulichen zu übergeben, da doch die Erinnerung in ihren letzten Tiefen unauslotbar ist und hier die Schemen des Gegenständlichen verblassen und verschwimmen wie die Umrisse in der Dämmerung. Eine solche Annahme wäre nicht ungewöhnlich, da namhafte Philosophen die Abstraktion für den Verstand ablehnen und statt dessen eine Illuminatio oder eine Ideatio setzen.57 Die Abstraktion gewinnt jedoch völlig neue Inhalte durch die unanschaulichen Gattungsbegriffe wie „Farben“, „Figuren“ und „Essgeschirr“. Dennoch lehnen sich diese unmittelbar an das Anschauliche, so dass Denken keine verschlüsselte oder verein­barte Zuordnung benötigt. Andrerseits sind hier Abstraktionen der Erinnerung ausgeschlossen. Eine Hilfsbrücke bietet sich hier an, mit der sich der neue Inhalt als Abstraktion bestrei­ten lässt. Der Verstand führt überhaupt keinen Denkinhalt da­bei, es handelt sich lediglich um eine „Bezeichnung“, wobei die Anschauung sich mehrere Inhalte bereithält, die das Den­ken mit einem einfachen Wort verknüpft. Bekennt man sich zu dieser Lösung, so taucht eine Begriffsform auf, welche wir bisher noch nicht untersucht haben, weil sie offenbar nicht zu den ursprünglichsten Äußerungen der Anlagen gehört. Wir meinen die Assoziation. Damit ließe sich die Abstraktion, so­weit wir sie der unanschaulichen Gattung zuordnen müssen, er­setzen durch eine bloße Bezeichnung seitens des Verstandes, wobei sich sofort eine Mannigfaltigkeit der einbildenden Er­ innerung58 einstellen müsste. Mit der Assoziation taucht indes noch der Bereich des Gemüthaften wieder auf. Denn Gewohnheit enthält eine Kraft des Gemütes, die hier nicht zur Untersu­chung anstehen kann, und Assoziation in rein erkenntnismäßiger Beziehung darf natürlich nichts an Sehnsucht und Triebhaftig­keit enthalten. Dies wäre der Verlust des „reinen Schauens“, und es besteht kein Grund, dass wir dieses Ideal unserer Un­ tersuchung aufzugeben haben. Es wird uns aber mehr und mehr bewusst, dass wir die Frage mit den Mitteln, welche bisher zur Verfügung stehen, kaum beant­ worten können. Eines dürfte aber geklärt sein: Eine Abstraktion des Anschaulichen als solchen kann Denken nicht fas­sen und hat es auch nicht nötig. Denn einen Übergang, wie er sich von der Ansicht zu der Erinnerung vollzieht, wohl 57  Husserls Wesensschau muss jedoch von der bekannten Verflechtung von Vernunft und Sinnlichkeit her verstanden werden. So gesehen enthält natürlich die Ideatio der Vernunft schon eine Abstraktion der Erinne­rung zugelassen. Die Ansicht, dass manche Philosophen wegen einer Ill­uminatio keine Abstraktion benötigen, kann so einfach wohl kaum ver­treten werden. So wird Husserls Wesensschau mit Platons Ideenschau verglichen, und dabei liegt es doch offen zutage, dass Husserls Aus­gang vom „originären Sehen“ nichts zu tun haben kann mit Platons my­stisch begründeter Erkenntnis. Husserl lehnt eine solche Quelle schroff ab. Ideen 1. § 3. S. 16. 58  Nach Kant wohl die synthesis speciosa. Vgl. Kritik d. r. Vern. § 24. B 150.



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auch eine gewisse anschauliche Übersetzung zwischen Sehen und Hö­ren, kann es in ähnlicher Weise und Fortsetzung zwischen dem mundus sensibilis und dem mundus intelligibilis nicht geben. Denken, Reflexion und innere Anschauung entspringen nicht nur einer Anlage, sie sind ein einziger Vollzug, mag es hier auch verschiedene Blickrichtungen geben. Was immer an Abstraktion im Verstande vor sich gehen sollte, wenn es eine Übersetzung geben sollte, so muss sie alles Anschauliche am Übergang ver­lieren, und der Verstand findet dann sein Gegenständliches als ein entsprechendes Wissen. Dann entbrennt die uralte Streitfrage zwischen Platon und Aristoteles: Kann hier über­haupt noch von einer Abstraktion geredet werden, oder muss man sich die Abstraktion letztlich als anschauliches Gleichnis vorstellen, wodurch Denken „von außen“ angeregt wird, seine innere Vorstellung als Gesetz zu geben?59 Mit dem Begriff der Gattung, damit ist ihr Zugriff gemeint, wird uns freilich klargestellt, dass sie nur Unanschauliches enthalten kann, und hier deutet sich eine Erweiterung ihres Bereiches an, die uns vielleicht eine annehmbare Lösung an­bietet. Einerseits möchten wir festhalten, dass eine anschau­liche Abstraktion als Brücke zum Denken inhaltlich nicht be­stehen kann. Andrerseits jedoch lassen sich Gattung und Abstraktion nicht trennen. Demnach kann man dafürhalten, dass es innerhalb des Denkens eine Abstraktion durchaus geben kann. Wir hätten es so mit einer ständigen Parallele zwischen sinn­ licher Abstraktion einerseits und Abstraktion im Denken andrer­seits zu tun. Fragen wir aber, ob es zwischen diesen Paralle­len, die gleich brückenlosen Ufern dennoch einander zugeord­ net sein sollen, nun doch einen Anhaltspunkt geben könnte. Gibt es eine Stelle, wo diese Kluft wenigstens die Möglich­keit einer Furt haben könnte? Was bleibt, wäre nur die Sub­ stantia, die als Einheit und Selbststand im mundus sensibilis der Einheit im mundus intelligibilis noch am nächsten kommt. Die Einheit auf der Seite des Denkens vollzieht sich im prin­cipium contradictionis, welches ja als Anwendung jede Regung zuinnerst prägt. Das Insichgehen der Substantia im Anschauli­chen erreicht deshalb gleichnishaft die größte Nähe zum all­ gemeinen Denkgesetz, welches rein logisch als Einheit ein An­ derssein ausschließt. Damit kündigt sich das Nichtsein an, welches anschaulich nur im Vergleich bestehen kann.

59  Wir können hier nur in einem Vorgriff Stellung nehmen. Die Frage ist nach unserer Auffassung von hier aus nicht lösbar. Bestandsstücke zu ihrer Lösung, die aber auch wieder eine Entscheidung enthalten dürf­ten, stellen sich erst ein, wenn man die Einwohnung des Wesens im In­dividuum in Angriff nimmt. Dabei wird sich zeigen, dass der Abstraktion, so wie sie Thomas v. Aq. im Anschluss an Aristoteles lehrt, die individuatio essentiae entsprechen muss, die weiter unten noch eingehend zu behandeln ist.

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2. Die Substantia und das transzendentale Schema Das Ergebnis bleibt in einer gewissen Unklarheit in Bezug auf die Abstraktion. Wir können auch schon deshalb nicht Stellung nehmen, weil eine Abstraktion auf dem Boden des Realismus für uns nicht nachvollziehbar ist, ohne dass wir ihn in einer überzeugenden Weise aufgezeigt hätten. Wir möchten aber die­ses vorläufige Ergebnis nicht ohne Hinblick auf Kant ab­ schließen. Als „reine Form der sinnlichen Anschauung“60, als „Selbst­ anschauung des Gemüts“61 wird für Kant die Zeit zum Mittel zwischen Anschauung und Denken.62 Wir wollen hier nicht auf unsere Einwände gegen Kants „Zeit­ vor­stel­lung“ einge­hen. Indem die Zeit als Gemütserleb­nis dem Bewusstsein zu Grunde liegt, ist sie freilich „in je­der empirischen Vorstel­lung des Mannigfaltigen enthalten.“ Dennoch muss an dem trans­ zendentalen Schema schärfer unter­schieden werden. Was Kant mit folgendem Satz meint, lässt sich schwerlich einsehen: „Die Zeit, als die formale Bedingung des Mannigfaltigen des inne­ren Sinnes, mithin der Verknüpfung al­ler Vorstellungen, ent­hält ein Mannigfaltiges a priori in der reinen Anschauung.“ Wenn dies tatsächlich der Fall sein soll­te, so gilt es weit eher vom Räumlichen als vom Zeitlichen, da hier die Bedingung einer reinen Anschauung a priori tat­ sächlich gegeben ist, während die Zeit als das Formlose schlechthin zum unvermeid­ lichen Erlebnis des Bewusstseins wird. Ihr entspringt keiner­ lei Formgebung. Von dieser Einschätzung des Zeitlichen dürfte Kant zu einer verfehlten Bestimmung der Substantialitas kommen. Auch hier gilt uns die Raumvorstellung weit eher geeignet, ein Apriori der Anschauung zu begründen, wenngleich wir bereits festge­ stellt haben, dass die Eigentümlichkeit der Substantia im Räumlichen allein nicht zum Ausdruck gebracht werden kann. Denn die Raumvorstellung trennt in ihrer Oberflächlichkeit zu wenig den Selbststand von seinen Ansichtsgründen. Desto weniger erweist sich daher die Zeit als jenes Mittel, an dem die „Beharrlichkeit der Substanz“ gemessen wird, wie auch die Be­harrlichkeit der Substanz nichts Besonderes ausmacht, um die Zeit vorstellig werden zu lassen.63

60  Kr.

d. r. V. § 4, A  31 / B  47, 4. III. 62  Vgl. A  138–139 / B  177–178. 63  B 225 „Nun kann die Zeit für sich nicht wahrgenommen werden. Folglich muss in den Gegenständen … das Substrat anzutreffen sein, welches die Zeit überhaupt vorstellt, … Folglich ist das Beharrliche, wo­mit in Verhältnis alle Zeitverhältnisse der Erscheinungen allein be­stimmt werden können, die Substanz …“ 61  B 69,



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3. Reflexion und Substantia Mit der Reflexion bezeichnen wir die Selbstanschauung des Bewusstseins, wobei aber ausschließlich der Verstand als Veran­stalter wirken kann. Damit wird Reflexion vom Ursprung her eindeutig zugeordnet. Nur Erkennen, näherhin nur das Denken als Strahl des Verstandes vermag sich zurückzubeugen. Ver­ ständnis steht als Vertretung, als Gegenstand tritt ein ver­ schiedenartiger Inhalt hervor: Bewusstsein, Gemüt, Erkennen, schließlich die eigentliche Selbstanschauung, das Denken des Denkens. Allein dieses Verhältnis zeigt sich als nichts weni­ger als den Inbegriff an Wirklichkeit. Reflexion bedeutet In­newerden, und für die Natur des Erkennens heißt es Ur-Teilen. Innewerden am Gegenstand strahlt als Beisichsein zurück; Den­ ken kommt am Anderen zu sich selber oder an sich zum Anderen. Aber dieses Verhältnis muss noch genauer bestimmt werden. Den­ken allein vermag als das feinflüssigste Medium überall einzudringen und erscheint so als das Innerste im Bewusstsein. Also müsste es doch Mittelpunkt, Schwerpunkt, Ruhepunkt schlichthin im Bewusstsein bedeuten. Beinhaltet Reflexion nicht die Wiederholung des Anderen in sich, wenn es des Anderen in­ne wird? Doch bedenken wir: Reflexion des Erinnerns geschieht nicht, indem Denken das Erinnern in sich wiederholt. Damit wäre in der Tat die Anschaulichkeit ins Denken gedrungen, und es bedeutete für unser Verhältnis den Untergang des Denkens im Bildhaften. Reflexion des Gemütes bedeutet auch nicht die Erzeugung des Gemütes im Denken; das Gemüt würde als Willkür über das Denken herrschen, oder Denken würde ohne allen Wi­der­stand die Welt nach seinem Gesetze ordnen. Das Innewerden der Reflexion versteht sich anders. Denken versetzt sich an die Stelle des Anderen, und es vermag die Vertretung, weil es un­mittelbar dort nicht wirken kann. Das Innewerden ist auch Ohnmacht am Bewusstsein. Es wiederholt nur sich selber, und darin versetzt es sich selber, und darum bleibt Denken des Denkens ohne Anwendung ein leeres Spiel. Ansonsten wiederholt es nichts, es spiegelt sich nur am Anderen, indem es sich dorthin setzt. Es vertritt alles ohne Vollmacht, aber in die­ser Aufgabe liegt es auch, den Weg zur Macht zu suchen, zu sehen. Reflexion zeigt sich also als unmittelbares Innewerden und ohnmächtiges Sich-Spiegeln am Anderen. Aber die Reflexion als Selbstanschauung des Denkens und des Erkennens des Anderen entdeckt sich darin als die Absonderung und die Verneinung der bis jetzt üblichen Begriffsformen. Denn darin kann sie sich ja auch nicht wiederholen, weil sich sonst wiederum eine Verdoppelung und damit ein regressus ad infinitum einstellen müsste. So muss sich das Innewerden der Reflexion als die Ent­blößung von allen Zugriffs­ formen vorstellen, das unmittelbare Dabeisein behauptet sich in völliger Mittellosigkeit. Also kann sich Reflexion nicht anwenden in Formen der ­ Gleichnisbil­dung, der Abstraktionen und Gattungen. Denn dies alles schlägt

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sich jetzt zum Inhalt des Anderen, und es würde sich nur dazwischenstellen. Reflexion wird daher zu einer völligen Bloßstellung, und das Innewerden zeigt sich darin auch als ein Abstandnehmen von allen Mitteln bisher. Damit taucht die Frage von selber herauf, der wir uns nicht entziehen können. Begegnet der Reflexion in der Substantia ih­re Selbstentdeckung? Ist die Substantia ihr einziger Gegen­pol, der sich ihr mit letzter Härte verschließt? Verneint sich die Reflexion auch an der Substantia? Oder fallen alle diese Ansichten ineins? Es scheint sich hier kein Verhältnis als vorrangig vorzudrängen. Aber bedenken wir: Reflexion als Vorstellung des Verhältnisses von Vorstellendem und Vorge­stellten muss gerade hier die letzte Einheit und den letzten Selbststand bilden. In der Tat hält sich auch hier die Substan­tia in ihrer einzigartigen Bedeutung, Denken lässt die Sub­stantia an sich herankommen. Reflexion und Substantia vereini­gen sich als endgültiger Schnittpunkt, worin das Vorgestellte und das Vorstellen ihren Scheitel finden. Aber damit haftet der Substantia die unaufhebbare Doppeldeutigkeit der Reflexion an. Wenn die Reflexion sich selber als Substantia setzen muss, urteilt sie damit nicht auch die Substantia? Gerät sie damit in den Widerspruch mit sich selber? Das principium contradictionis hat sich als Selbstvollzug des Denkens angewendet. Indem Denken allein als Reflexion sich von allem anderen absetzt, entsteht ihm seine Haltung als princi­pium contradictionis. Es muss die Ur-Teile hinnehmen, oder es muss das Principium am Ende wieder aufheben. Ist die Reflexion die große All-Substantia, worin sich alles aufhebt, auch das Principium, oder bleibt alles beim Stückwerk, so dass nichts im Letzten standhält? Aber die Reflexion weiß um ihre Absonde­rung. Die erste Grundeinsicht in das Selbstbewusstsein ver­steht zwar dieses als letzten Einheitsgrund aller Vorstellun­gen, doch dieser Einheitsgrund bleibt in sich gegliedert zu einer Ergänzung. Die Reflexion erzeugt nicht die anderen Ver­ mögen. Indem sie also diese anderen Vermögen nicht in sich aufheben kann64, erreicht sie auch niemals jenen inneren Grund, wo sie sich des principium contradictionis entschrän­ken könnte.

4. Reflexion und Konklusion. Führt die Unschlüssigkeit des Selbstverständnisses zur Not-Wendigkeit, einen „Schluss zu ziehen“? Die Reflexion hat sich selber als Substantia eingeholt, und damit ist ein Widerspruch aufgetaucht in ihr selber. Die Sub­stantia war das Unteilbare, in der Reflexion aber ur-teilt sich die Substantia, um in letzter Einheit zu 64  Es

gäbe weder Blinde noch Taube, wenn sie es könnte.



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verharren. Bis jetzt war alles ein Zusehen, ein reines Schauen. Das Ur-Teil der Sinne fügte sich in der Erinnerung als Ganzes, und der Kern Substantia hielt sich durch. Das „Ich denke“ muss alle meine Vorstellungen begleiten können (Kant), und es ist darin letzte Substantia. Aber das „Ich denke“ ist schon immer ein Ur-Teil. Ist die Substantia also ur-geteilt schlichthin, oder handelt es sich gar nicht um die Substantia bei der Reflexion? Indem die Reflexion sich selber einholt, hört das Zusehen auf; indem sie bei sich selber an­gekommen ist, kommt sie so wie bisher nicht mehr weiter. Die Anwendung des principium contradictionis hilft nicht weiter. Einerseits Substantia – andrerseits Ur-Teilung als Reflexion. So wie sich das Verhältnis jetzt zeigt, deutet es eher darauf hin, dass die Reflexion von anderer Art Substantia ist als ihre innerste Vorstellung, nämlich die andere Substantia. Es ist eine Drei-inEinheit zurückgeblieben, weil die Reflexion ihr Selbstverständnis nur unter der Bedingung der anderen Sub­stantia vornehmen kann. An diesem Zusammenhang, der aber im­mer noch im Schauen sich eingestellt hat, kann eine Unter­ scheidung nach Bedingung und Verursachung gar nicht zugelas­ sen werden. Wir haben es schlichthin mit einer „Erscheinung Drei-in-Einheit“ zu tun. Am Ende bei sich angelangt, stellt sich dem Veranstalter Reflexion eine Unschlüssigkeit ein; es gibt keinen Fortgang mehr, die Dinge entwickeln sich nicht mehr wie bisher. Jene letzte Eingründung aber, die Husserl als transzendentales Bewusstsein bestimmt hat, welches „nulla re indiget ad existen­ dum“, liegt uns fern in mehrfacher Richtung. Denn wir sehen einen voreiligen Schluss darin, bei dem sich die Reflexion in sich selber abkapselt. Die Reflexion schließt sich dabei in der Tat selber ein, jedoch nicht so, dass sie sich in das Ver­hältnis weltoffen hineinschließt. Sie wiederholt alles in sich selber aus eigener Machtvollkommenheit. Unsere Beobach­tung musste jedoch feststellen, und dies ist doch der ent­scheidende Punkt, dass die Reflexion die vorgelagerten Zonen nicht in sich neu gebiert oder erzeugt, sondern sich diesen anschließt. Ihr Innewerden ist eine Anwendung. Alles dreht sich jetzt um das „Schließen“, und das „Unschlüssige“ ist wieder in eine NotWende gedrängt, wobei „Einschluss“ oder „Ausschluss“ zur Entscheidung ansteht. Allein die Entscheidung findet nicht die Schau der Unterscheidung, und der „Ein­schluss“ legt sich nicht not-wendig und einbahnig vor. Der „Einschluss“ wäre eine voreilige Entscheidung. Besteht also die Möglichkeit, dass wir uns den „Schluss“ noch gar nicht auf­drängen lassen? Da ist die zweite unmittelbare Einsicht des Selbstbewusstseins, die immer am Rande unseres Inhalts ansteht und die wir wegen ihrer Unmittelbarkeit wenigstens als Grenz­zeichen annehmen dürfen. Sie steht hier als bloße Verneinung, indem sie uns Einhalt gebietet: Der „Einschluss“ führt zu ih­rem „Ausschluss“. Aber auch ohne sie wäre der „Einschluss“ nicht zwingend not-wendig.

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Versuchen wir, unsere Aussage genauer zu bestimmen. Die Reflexion entdeckt an ihrem innersten Leitfaden, der ihr Selbst­verständnis schlichthin ist, nämlich dem principium contra­dictionis, keinen not-wendigen Zwang, den „Einschluss“ zu vollziehen. Umgekehrt kann man sich des Eindrucks nicht er­wehren, dass der „Einschluss“ angesichts des Sachverhalts Ge­fahr läuft, sich der eigentlichen Tiefe von Weltlichkeit, so wie sie sich dem Bewusstsein stellt, bzw. wie sie in ihm er­stellt wird, verschließt.65 Dennoch muss das grundlegend Neue des Verhältnisses mit aller Deutlichkeit auf Eindeutigkeit geprüft werden. Das principium contradictionis hält sich in der Reflexion, aber es hält sich an die Erscheinung; gerade darin geht es mit der unmittelbaren Einsicht des Selbstbewusstseins ineins. Die neue Einstellung entsteht daran, dass die Reflexion an sich herangekommen ist und sich in die Vor­stellung gebracht hat. Denn nun stellt sich in der Tat ein neuer Sachverhalt ein: Die Erscheinung hat aufgehört. Hört damit auch die Geltung des principium contradictionis auf, so dass dieses sich nur in der Erscheinung behauptet, und bleibt dann die unmittelbare Einsicht des Selbstbewusstseins zurück, aber in einer neuen Fassung? Bisher war die Erscheinung auch die Begründung, und aus die­sem Grunde blieb alles beim Unterscheiden, welches ein Ur-Teilen war. Erkennen brauchte nicht zu schließen. Am Ende der Erscheinung wird die Reflexion in die Selbstbegründung ge­drängt, sie schließt in sich selber. Dieser Schluss bedeutete aber nichts weniger als die Wiederaufhebung des principium contradictionis. Dieses würde also nur in der Anwendung an die Erscheinung gelten. Indem aber die Reflexion die eigene Vorstellung wieder einholt, das Andere als sich selber durch­schaut, hebt sie den Widerspruch des Anderen im Selbst auf. Man kann es dann auch so sehen: Der „Einschluss“ in die Selbstbegründung erklärt sich nicht als Abkapselung am Welt­reichtum, sondern als notwendige Selbstentfaltung. Aber prüfen wir auch noch, wie es sich mit der zweiten Grund­einsicht des Selbstbewusstseins an dieser Stelle verhält. Habe ich mit der ursprünglichen Andersartigkeit des Gemütes nicht eine letzte Grenzziehung, woran die Reflexion immer ein ande­res Ur-Teil findet, das sie so niemals einholen und worüber sie sich niemals hinwegsetzen kann? Für die Reflexion bieten sich aber die beiden Grundeinsichten in gleicher Nähe an, und darum lässt sich freilich Folgendes angeben: Wenn sich die Reflexion über den Unter65  Husserls Phänomenologie versteht sich nur als Eingangspforte zur Welterschließung, und damit soll ein Weg zum Reichtum des Bewusstseins in seiner Welt gezeigt werden. Wenn Husserls Gedanken bis zum Über­druss um diese Methode kreisen und der eigentliche Reichtum und Zweck­gehalt menschlichen Bewusstseins gar nicht zum Angriff kommt, so liegt das angeblich am Umfang der Arbeit. Aber liegt es wirklich nur daran? Oder liegt es, ohne auf weitere Ausführungen einzugehen, einfach an der Selbstabkapselung dieser Methode?



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schied zwischen sich und ihrem Vorgela­ gerten hinwegsetzt, so findet sie auch Gründe, jenen anderen Unterschied in sich aufzuheben. Denn dieser ergänzt nun den Schluss ihrer Selbstbegründung dahin, dass doch gerade dieser geheimnisvolle Abgrund des Gemütes der eigentliche Pol aller Verselbigung sein müsste. Es ergibt sich so der Schluss in zwei Ausrichtungen oder Zonen des Bewusstseins wie in eins. Indem die Reflexion sich aus der Vorstellung selber rückschließt, holt sie sich in das Gemüt als den Pol aller Verselbigung ein, und dann hat Kant in der Tat recht, wenn er das Bewusstsein insgesamt als Gemüt umschreibt und in ihm die Werkstätte aller Vorstellungen sieht.66 Allein der Schluss ist nicht notwendig, und daran scheitert alle Begründung. Damit aber bleibt es bei der Geltung der Grundsätze. Die eben in Erwägung gezogene Selbstbegründung müsste not-wendig zwingend nach innen gerichtet sein, und sie müsste vor allem jede andere Möglichkeit verbieten. Dieses Verbot, also das neue Principium, wird man indes vergebens suchen, und die Not-Wende bietet sich als Umkehr nach außen an. Denn mehr als eine Skizze des Umrisses war es nicht, was wir bisher angegeben haben. Die Erscheinung aber enthält ei­nen Inhalt, den wir noch gar nicht befragt haben: Die Leben­digen. Um der Einfachheit des Anfangens willen haben wir auf die Erscheinung Leben verzichtet. Erkennen muss wieder nach außen. Denn Lebendiges müsste uns doch auch Aufschlüsse geben, die uns eindeutig in ihrer Erscheinung weiterhelfen, um jener Unschlüssigkeit abzuhelfen, von der wir uns durch einen willkürlichen Schluss nicht befreien konnten.

§ 19  Zwischenbetrachtung Nach diesem ersten Durchgang erscheint uns eine „Neubesin­nung“ aus verschiedenen Gründen angebracht zu sein. Wir haben die Wirklichkeit des Bewusstseins als einen Auszug aufge­grif­fen, indem wir uns auf ein Teilverhältnis ein­schränkten. Dies mahnt uns zur Ansicht immer erneut zurück. Der Teil darf nicht für das Ganze ausgegeben werden, das Ver­hältnis wäre sonst falsch dargestellt. Schon deshalb müssen wir dem Kreis­lauf des Erkennens folgen und immer wieder nach außen gehen. Die Dinge sind so in das Verhältnis gespannt, dass Erkennen keineswegs in der Reflexion des Denkens sich ein­spinnen kann, um von hier aus die gesamte Wirklichkeit zu er­schließen. Die Reflexion wiederholt nicht in sich selber, dies muss noch ein­drucksvoller gezeigt werden. 66  Kr. d. r. V. § 1; B  69; A  50 / B  74; A  141 / B  181. Kant spricht hier von Seele statt von Gemüt.

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2. Teil, 3. Kap.: Das Wissen als Selbstverständnis

Wir haben gesehen, dass die Ansicht (insbesondere das Sehen) nicht hinreicht für das Selbige, dieses muss in der Erinnerung ergänzt werden. Auch das Artgleichnis hält sich als Gebilde der Erinnerung, und schließlich zeigte sich, dass diese Wirk­lichkeit erst jenseits oder hinter den fünf Weltteilen der Sinne zu einer einheitlichen Welt verwächst. So könnte frei­ lich der Eindruck entstehen, als ob Weltwirklichkeit, soweit sie als Gegenpol zum Bewusstsein in Erscheinung tritt, mehr und mehr in Richtung zur Reflexion ihren Schwerpunkt gewinnt und dort ihren echten Ursprung und Mittelpunkt der Ausstrah­lung erhält. Die Frische der Sinne, welche alles im Bewusstsein nach außen ziehen möchte, wäre dann ein oberflächlicher Schein, notwendig zwar als Bedingung, aber dennoch nur Ein­gangstor zur Tiefe des Denkens. Dass wir diesem Denkweg so nicht folgen können, sagt uns aber schon die Einklammerung der Gemütszone, weil ja diese ebenfalls eine Entsprechung in der Welt als Gegenpol haben dürfte. Natürlich könnte auch das Umgekehrte eintreten. Dass Erkennen erst am Gemüt als Inbe­griff zum Bewusstsein nun tatsächlich die Wirklichkeit in sich selber, mehr und mehr als Einkehr und als Wirkmacht in sich entdeckt. Bis jetzt haben wir das Verhältnis als eine frei schwebende Beziehung von Erkennen und Erkanntem darzustellen. Die Tat­ sache, dass sich die Dinge erst hinter der Bühne der Ansichts­fläche zur vollen Anschauung erstellen, dass noch nicht einmal die jeweiligen Ansichtsflächen der fünf Sinne zusammen die volle Anschauung ergeben, zeigt uns, dass Bewusstsein hier nicht allein leben kann. Sie beweist jedoch überhaupt nicht, dass sich hier nicht die Hauptmasse der Bewusstseinswirklich­keit abspielt. Demnach könnte also Denken sehr wohl eine Rah­ menbedingung sein, um diesem bunten Treiben eine Ordnung zu geben. Dem entspricht dann sehr wohl der Kreislauf im Erken­ nen. Bewusstsein holt sich immer erneut Rat aus der Reflexion, aber es stürzt sich dann zurück ins volle Leben, und es voll­zieht hier seine Wirklichkeit, wie doch leicht zu sehen ist. Es deutet also nichts darauf hin, dass Bewusstseinswirklichkeit kopflastig aus einer Reflexion sprudelt, nur weil „Ich bin“ in ihr eine blutleere und unsichere Vertretung des Ganzen festzustellen vermag. Auch die Substantia, dieser eherne Einheitsblock, vermag die Wirklichkeit erkenntnismäßiger Vorstellung noch nicht nach­haltig genug zur Reflexion hin zu verlagern. Denn auch sie zieht zur Sinnenwelt hin, so dass sich das Verhältnis bis jetzt immer noch so darstellt: Die Wirklichkeit als vorge­ stellte liegt in den Sinnen. Hier erfüllt der Tastsinn, der sich am allerwenigsten zum Anfangen als geeignet erweist, nun doch eine besondere Rolle des Prüfsteins. Der mittlere Sinn zeigt sich als der am wenigsten ausgebildete. Alle fünf Sinne rechnen wir eindeutig zum Erkennen, aber sie vertreten so auch das gesamte Bewusstsein. Sehen ist in besonderer Weise dem Verstand, Hören der Vernunft zugeordnet. Riechen und Schmecken aber



§ 19  Zwischenbetrachtung125

vertreten das Gemüt. Der mittlere Sinn kann deshalb auch als der äußere Sinn bezeichnet werden, weil er dem Bewusstsein gegenüber als der ärmste, lebloseste und un­entfaltete wirkt. Gerade darin kommt ihm aber die eigenartige Rolle zu. Wenn ich meinen hochentwickelten Augen nicht traue, so möchte ich die Dinge anfassen, um so an dem pflanzenhaft einfachen Tastsinn die letzte Sicherheit zu gewinnen. Wir wollen festhalten, dass wir uns mit dieser Beobachtung nicht in die Einstellung des Realismus begeben, wir verharren dabei immer noch in der beschriebenen Einklammerung gegenüber einem Jenseits des Bewusstseins. Der Tastsinn soll hier nur hinwei­sen, wie sehr das erkennende Bewusstsein die Fülle seines Le­ bens aus den Sinnen zieht. Wie weit sich eine Verlagerung des Bewusstseins vollzieht, wenn wir das Gemüt hereinnehmen, hat uns an dieser Bahn nicht zu beirren. Das Erkennen hängt am Reichtum und am „Mannig­fal­tigen“ der Sinneswelt(en), und es ruht wohl kaum in seinen logischen Spielregeln. Wir bleiben uns bewusst, dass wir das Bestehen des Bewusstseins nur zum Teil beschreiben. Es können sich dabei Verhältnisse bilden, die aufs Ganze gesehen ge­ra­dezu eine falsche Sicht heraufführen können. Dies ändert aber nichts daran, dass wir den Auszug im Bewusstsein als sol­chen verstanden immer richtig beschreiben. Dies bleibt die Voraus­setzung, um endlich die Wahrheit als das Ganze zu er­fahren.

4. Kapitel

Das Leben aus der Reflexion; die Gleich­setzung von Seins- und Erkenntnisweise § 20  Die Artselbigkeit und ihre Erscheinungen 1. Das Individuum Das Einzelding oder das Selbige erfüllt die Anschauungsform der Substantia; es steht in sich selber und erscheint darin divisum ab alio. Aber dieses Selbige ist keineswegs unteilbar in sich, es kann aufgeteilt werden und zersplittert in neue Selbige. Also ist auch die Substantia nicht unteilbar in sich, und jeder neue Stoffbrocken genügt dem Merkmal der Sub­stantia. Dem Erkennen bietet sich jedoch ein neues Verhältnis mit dem Lebendigen an. Es leuchtet sofort ein, dass wir es mit einer Verdichtung der Substantia zu tun haben, und der Selbststand erweist sich jetzt im Merkmal des Selbstbewegers. Entsprach dem Selbststand das Divisum ab alio, so kommt mit dem Selbstbeweger das Indivisum in se hinzu. Mit dem Lebendigen ist die Höhe des Individuum erreicht, denn dieses bleibt nicht erhalten, wenn das Lebendige zerteilt wird. Das Leben­dige ist eine Gesamtheit, die wir Organismus nennen. Damit grenzt sich das Individuum als Selbstbeweger auch ab von sei­nen Früchten und von seinen Organen, die alle nicht als Indi­ viduum bestehen können. Zwar haben sie mit dem Individuum ge­meinsam, dass auch sie in Staub zerfallen, wenn sie getrennt und geteilt werden, offenbar liegt aber darin nicht das den Ausschlag gebende Merkmal. Denn auch das Individuum zerfällt, aber es bewegt sich selber. Indes haben wir uns zu hüten, in die Betrachtungsweise des Realismus zu verfallen, und wir bemerken, dass es mit den Le­bendigen geradezu unvermeidlich wird, in die „natürliche Ge­radehin-Einstellung“ zu geraten. Mit dem Lebendigen brechen nun Fragen auf, weil neue Ur-Teile an ihm offenbar werden, welche wir bisher gar nicht beachtet haben, um überhaupt eine gewisse Ordnung hereinzubringen. Das Lebendige ist eine in sich unteilbare Substantia. Nicht als ob die Substantia nicht dennoch zerteilt werden könnte, aber die Substantia löst sich als Sinneinheit dann auf. Damit tritt dem Erkennen gegenüber etwas völlig Neues zu Tage. Bisher haben wir die Substantia verfolgt, wie sie vom Erkennen im Durchgang seiner Werkstät­ten verarbeitet



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worden ist, und das Werkzeugnis Substantia lieferte uns Aufschluss für die Werkstätte selber. Die leben­dige Substantia lenkt machtvoll die Aufmerksamkeit auf sich als Inhalt der Vorstellung, und es scheint, dass wir unsere Zurückhaltung aufgeben müssten, um weiterkommen zu können. Ei­ne Bestimmung müssen wir jedoch aussprechen jetzt, und sie bringt uns die Stunde der Wahrheit: Waren die Ausführungen bisher nur wie eine Umrissskizze und ein Grundlageplan, so muss sich das jetzt Folgende dennoch hineinfügen. In der Anschauung des Selbigen, soweit wir es bisher als Ar­teinzelnes (Tisch, Stuhl, Hammer) verstanden haben, ist das Artgleichnis unmittelbar, also anschaulich gegeben. Das Art­gleichnis muss jedoch auch lösbar bleiben von diesen Selbigen oder Arteinzelnen, indem ich die zufälligen Merkmale, die dem Selbigen notwendig in der Erfahrung zukommen, von ihm ablöse. Dabei zeigt sich die Notwendigkeit des Zufälligen als die Verfassung der an die Sinne gehefteten Anschauung. Als Bei­trag der Erinnerung vermag das Artgleichnis dann selbstständig zu werden, weil die Erinnerung nicht nur empfangend, sondern als Einbildungskraft auch erzeugend wirkt. So besteht das Artgleichnis als Substantia weiter, auch wenn ihr verloren gegangen ist, was sie als Selbiges ausmacht. Denn Substantia ist das Artgleichnis nicht wegen seiner bestimmten Gestalt, sondern weil es in sich ruht und Träger der Erscheinungsgrün­de ist. Darin sind sie alle in gleicher Weise Substantia, und so gesehen darf die Substantia niemals als Gattungsbegriff verflüchtigt werden, wie es sich gezeigt hat.67 Mit der neuen Bestimmung von Individuum erhalten wir auch eine neue Stufe von Substantia, und nun wird es nötig, dass wir eine klärende Bestandserhebung vornehmen. Das Artgleichnis besteht gerade noch als Substantia, das Ar­teinzelne war als Selbiges Substantia, mit dem Lebendigen aber steigert sich das Selbige zum Individuum. Demnach wird uns die Substantia in einem gestuften Gefälle von Wirklich­keit, von außen nach innen, von den Sinnen in Richtung zur Reflexion gegeben. Individuum, Selbiges, Artgleichnis; und wie schon bemerkt, liegt auch hier die Wirklichkeit in den Sin­nen. Aber verhält es sich mit dem Artgleichnis der Lebendigen so, dass wir es einfach einreihen dürfen in das Gefälle toter Werkzeuge? Treten hier nicht Inhalte zu Tage, die unsere Skizze völlig umwerfen? Dann brächte uns der Kreislauf des Erkennens tatsächlich nichts Neues mehr, und unsere erneute Auskehr könnte nur etwas ausführlicher wiederholen, was schon vorausgesetzt worden ist. 67  Vgl. § 15. Es sei hier noch bemerkt, dass zu den notwendigen Zufällig­ keiten des Selbigen auch die Zeiteinheit gehört, die wir ja im reinen Schauen gar nicht fassen können. Wir sind aber der Meinung, dass die­ses Fehlen unsere Betrachtungsweise deshalb nicht zum Scheitern ver­ur­teilt. Solange das Selbige nur in der bisher beschriebenen Be­zie­hung unser Bewusstsein angeht, dürfen die Bestimmungen auch genügen.

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Im wahrsten Sinne des Wortes genommen, bildet dieser Tisch vor mir keine Sinneinheit, sondern schon eine Zweckeinheit, die mich aber so noch nichts anzugehen hat. Ich kann den Tisch in Tischplatte und Tischbeine zerlegen, und dann habe ich im­mer noch Sinneinheiten, Selbige, die als je einzelne Substan­tia gelten dürfen. Am lebendigen Arteinzelnen aber drängt sich mir eine Gestalt ins Bewusstsein, die ich als Sinneinheit nicht mehr in den Begriff bekomme. Diese Gestalt beansprucht in sich selber einen neuen Inhalt, der sich ab­setzen will vom bloßen Verhältnis von Vorstellung und Vor­ge­stelltem. Lebendi­ges sondert sich ab vom Erkennen; es will in einem An sich verharren, welches nicht nur Selbstständigkeit in der Erschei­nung verlangt, sondern Unabhängigkeit, Unbedingt­heit über­haupt vom Bewusstsein abverlangt. Kurz, es möchte an­erkannt werden. Wir aber müssen uns nach wie vor an unsere Richtlinie halten, auch das Lebendige muss sich doch als Verhältnis zum Erkennen ausdrücken lassen.

2. Die Artselbigkeit als Selbstentdeckung der Reflexion Das Individuum erlaubt keine Aufteilung, weil die Gestalt sich nur im Ganzen halten kann. Aber nun kommt das Überra­ schende: Diese Gestalt erfüllt zunächst alle Merkmale von Ar­teinzelnen, worin ich das Artgleichnis unmittelbar anschaue. So wie sich das Gleichnis „Ohrensessel“ in mir erstellt, so bilde ich auch das Artgleichnis „Feldsperling“ aus. Allein mit der bloßen Abstraktion in der Erinnerung ist es hier nicht getan, eine neue Beziehung tritt auf im Erkennen. Um dieses „Neuartige“ im wahrsten Sinne zu fassen, sehen wir uns mit den Mitteln bisher außer Stande. Um dem Inhalt, der sich doch uns als Beziehung ausdrücken muss, überhaupt näher zu kommen, haben wir zunächst einmal vorweg eine Reflexion zu üben, die uns nochmals das Feld abgrenzt, an das wir uns halten müssen. Der gesamte sinnliche Stoff, so wie er sich bisher als Natur vorgestellt hat, lässt sich als Gemächte unserer Sinne bestim­men, und der Transzendentalismus findet hier seine einträgli­chen Gründe und Plätze. Dann ist es natürlich noch leichter, auch das technische Gemächte des Bewusstseins daraus entsprin­gen zu lassen. Das lebendige Artgleichnis aber drängt mit un­widerstehlicher Macht nach Entfesselung aus dem Begriff als gesetzter Begriff, und man versteht es gut, dass der Transzen­dentalismus so wenig Zeit hat, sich um den Mittelpunkt des Seienden zu kümmern, und diesen Stein des Anstoßes geschickt umgeht.68 68  Da Kant die phänomenologische Methode überhaupt nicht anwendet, stellt sich ihm die Einwohnung des Artwesens (diesen Ausdruck dürfen wir oben nicht verwenden) gar nicht in den Weg. In seiner Naturteleo­logie werden zwar die Lebendigen in ihrer Besonderheit als Selbst­zweck erfasst, allein die teleologische Betrachtungs-



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Es sind zwei Richtlinien, an die wir uns zu halten haben. Das lebendige Artgleichnis in seiner Besonderheit gegenüber dem technischen Artgleichnis soll seine Besonderheit als Bezie­hung im Erkennen angeben. Unser Bestreben sei also: nec pro nec contra realismo. Die andere Richtlinie übersieht man sehr leicht, sie kommt jedoch hier besonders zum Tragen. Es wurde schon erwähnt, dass die Sprache nicht anschaulich ist und darin ausschließlich dem Denken folgt. Da mit dem Begriff des lebendigen Artgleichnisses neue Verwicklungen im Erkennen auftreten, ist nun besondere Sorgfalt zu wahren, damit wir Aussageweise und Erkenntnisweise am Individuum nicht vermen­gen. Denn die Erkenntnisweise hat es mit der Reflexion und den Sinnen zu tun, und sie erhält so je einen anderen Inhalt, der jedoch sprachlich unter der Ebene der Unterscheidung liegt. Gemessen am Artgleichnis der lebendigen Arteinzelnen er­scheint das alte Artgleichnis als pure Äußerlichkeit. Das Denken liefert im Grunde nur einen Sammelbegriff für die Abstraktion der Erinnerung, und anscheinend folgt hier nur die Sprache dem Denken. Betrachte ich aber das Artgleichnis „Feldsperling“, so drückt sich darin etwas sehr Merkwürdiges aus: Dieses Gleichnis beinhaltet mehr als nur die Abstraktion, es will als Artselbigkeit verstanden werden; und wir haben doch festgestellt, dass dem Artgleichnis bisher die Selbigkeit des Einzeldings abgegangen ist. Liegt hier ein Widerspruch vor, der den vorausgesetzten Rahmen sprengt? Der Widerspruch erhält aber eine Möglichkeit des Ausweichens, weil die Reflexion sich selber in der Artselbigkeit entdeckt. Die Artselbig­keit erklärt sich als Beitrag der Reflexion, weil sie nur als zwingendes Gesetz des Denkens verstanden werden kann oder vorstellbar ist. Damit folgt aber auch schon die zweite Merk­würdigkeit, die uns wieder den Rahmen sprengen will: Diese Artselbigkeit ist doch lebendige Selbigkeit, aber sie ver­steht sich nun dennoch nicht als Individuum. Denn diese Art­ selbigkeit „Feldsperling“ muss laut Reflexion in allen Feld­sperlingen ein und dasselbe sein, laut Anschauung aber habe ich es mit unzähligen Arteinzelnen oder Individuen zu tun. weise Kants muss als eine merkwürdige Bewusstseinsspaltung vollzogen werden, und sie kann keineswegs die gnoseologisch-ontologische Verflechtung des We­sens im Transzendentalismus ersetzen. Auf die Lösung dieser Gleichung kommt es aber letztlich an. Vgl. Plato metaphysicus … § 33.1. Husserls umfangreiches Schrifttum müsste eigentlich Raum genug aufwei­sen, um sich dieser Gegenständlichkeit zu widmen. Er liebt es aber, hier auf die Inhalte „regionaler Ontologien“ hinzuweisen, die zu­nächst einmal gegenüber grundlegenderen Themen zurückzustellen sind. Husserls feindseliges Verhalten gegenüber der „historisch entarteten Metaphysik“, Kants hochmütige Herablassung gegenüber diesem Realismus machen deutlich, dass man sich nicht mit innerer Gelassenheit der An­sprache des Seins gestellt hat. Die Einzigartigkeit der philosophia perennis drückt sich aber allein schon darin aus, mit welcher Sorg­falt sie diese Nahtstelle der Wirklichkeit ausgeleuchtet hat.

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Überraschend schnell sind wir wieder an jene Stelle gelangt, wo die Reflexion sich selber einholt, und nun scheint es so, als ob wir uns dort falsch entschieden hätten. Die Reflexion, die sich in den Unterschied setzt, sich aber als sich selber setzende durchschaut, hätte dort ihr Grundgesetz, nämlich das principium contradictionis aufheben müssen. Nun scheint sich der Fehler desto deutlicher klar zu machen. Diese Artselbig­keit ist nicht Individuum und dennoch unzählige Male Indivi­duum. Entfaltet sich hier nicht die Reflexion in ihrer Gesetz­mäßigkeit? Im Hinblick auf die Anwendung, in ihrem not-wendi­gen Blick nach außen zählt ausschließlich ihr Grundgesetz. Die Aufhebung ihres Grundgesetzes fällt jedoch damit zusam­men, dass sie sich als Bewusstsein für alle Wirklichkeit als allein verantwortlich erklärt. Dies hätte aber Folgendes zum Inhalt: Die Reflexion hebt nicht nur für sich ihr Grundgesetz auf. Die Reflexion erklärt sich auch im Letzten als Quell al­ ler Wirklichkeit, indem Gemüt und Anschauung aus diesem Al­ leinpol entspringen. Die Reflexion hebt damit auch ihre Anwen­dung und ihre eigene Not-Wendigkeit als transzendentalen Schein auf. Bewusstsein erfährt sich indes immer als mehr als nur Reflexion und die Reflexion erfährt diese Entscheidung nicht als zwingende Notwendigkeit. Es legt sich daher eine einsichtigere Weise der Erklärung na­he. Das Individuum entspricht der gesamten Vorstellung Erken­ nen, oder Erkennen findet sich am Individuum in seinen Weisen der Vorstellung vollendet. Dies bedeutete aber, und wir wagen es nur probehalber auszusprechen, dass wir die Erkenntnis­weisen als die Seinsweisen des Individuum annehmen müssen. Was die Reflexion als Selbsterkennen am Gegenständlichen zu­nächst ausgemacht hat, findet sie nun als eine Bewährung am Individuum. Damit bestätigt sich aber nun doch unsere erste Entscheidung, weil sich dieses Individuum und diese unzähli­gen Individuen einer Art als Artselbigkeit allein nicht er­klären lassen, wie jetzt immer deutlicher wird. Die Artsel­bigkeit ergibt sich als Gesetz der Reflexion, die Vielzahl ih­rer Individuen kann aber nur von der Anschauung herrühren, und damit ist das Individuum, dieses angebliche Unteilbare, in sich unversehens zu einem Compositum geworden. Ein Wider­spruch im Individuum muss aber hier nicht vorliegen, weil es nicht in der Weise indivisum in se ist, wie es ein Compositum ist. Betrachten wir das Individuum als Compositum. Weder die Art­selbigkeit als Begriff der Reflexion noch das Einzelding als Vorstellung der Anschauung reichen je für sich hin. Die Art­selbigkeit muss notwendig am zufälligen Einzelnen erscheinen, und das Einzelding ist ohne Artselbigkeit kein Individuum. Rückwirkend ergibt sich, dass die Reflexion not-wendig auf die Anschauung angewiesen bleibt, dass sie deshalb ihr principium contradictionis niemals aufheben kann und dass sie deshalb auch nicht allein den Quell allen Selbstbewusstseins erstellen kann. Wir erhalten jetzt ein Verhältnis, das wir in mehreren Betrachtungen erfassen müssen, weil wir nun,



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durch die Gleichsetzung veranlasst und berechtigt, das Zueinander einmal als Individuum in sich, ein andermal als Erkennen an sich be­ schreiben können.

3. Das Individuum als substantia composita a) Das Einzelding und das Principium seiner Vereinzelung Das Individuum, aus seinem Bezugsquell Erkennen begründet, soll uns nicht hindern, dass wir es im Rahmen seines Geltungs­be­reichs in sich verstehen wollen, so wie wir im Folgenden auch die Gegenseite an sich beschauen wollen. Denn jede Seite er­gibt ganz von selber wichtige Rückblicke für die andere, so dass wir uns von dieser wechselseitigen Beleuchtung den Fort­schritt versprechen dürfen. Als unteilbar in sich ist das Individuum aufgetaucht, weil es als klar umrissene Gestalt unauflösbar bleibt. Dabei stellt sich jedoch auch hier das Merkwürdige ein, dass dieses Indivi­duum seine unteilbare Gestalt gerade daraus erhält, dass die Substantia sich als eine Zusammensetzung erweist. Also stimmt es doch auch hier nicht mehr mit der alten Bestimmung. Denn es war doch die Substantia, die sich als eherner und einziger Einheitsgrund von den Sinnen geradezu bis zur Reflexion durch­gehalten hat, weil an ihr die Abstraktion nichts zu fassen be­kommt. Die Unterschiede, welche sich jetzt zeigen, müssen sich aus der Verschiedenheit des selbigen Einzeldings und seines Art­gleichnisses einerseits und des Individuum und sei­ner Artsel­ bigkeit andrerseits ergeben. Das Einzelding erklärt sich im Grunde nach Gestalt und Inhalt als ein Ereignis der Sinne, gerade daraus erfließt ihm seine innere Einheit. Die Substan­tia ist nicht nach Zonen aufgeteilt. Diese innere Ein­heit, die ja an der Reflexion gemessen zu einer äußeren wird, behält die Substantia auch beim Übergang vom Selbigen als dem Art­ einzelnen zum Artgleichnis. Denn das Artgleichnis löst sich vom Arteinzelnen nur ab, indem es dessen zufällige oder sin­nenfällige Einzelheiten abstreift. Ansonsten besteht das Art­gleichnis in der Erinnerung genau in der gleichen Weise wie das Arteinzelne in den Sinnen, es kennt keine anderen Ur­sprünge als die Sinne. Man möchte fast von einem gleitenden Hinübergang des Selbigen zum Gleichnis reden, denn es zeigt sich doch, dass auch die Erinnerung das Einzelne noch fassen kann. Ebenso lässt sich auch nicht behaupten, dass die Abstraktion zum Artgleichnis nur in der abgesonderten Erinnerung vor sich gehen müsste. Indes wird aber eines deutlich. Was Be­ wusstsein als tatsächliche Wirklichkeit empfindet, muss nicht nur die notwendigen Zufälligkeiten besitzen. Ich kann mir in der Erinnerung ein solches Einzelnes vorstellen, damit ist es aber noch nicht „anwesend“ oder „gegenwärtig“. Es zeigt sich also immer erneut, dass „Wirklichkeit“ sich

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meinem Bewusstsein als sinnenfällige Verwachsenheit erklärt. Wirklichkeit hält sich in den Sinnen auf. Für mein Bewusstsein ergibt sich so der bemerkenswerte Satz, dass feste Gegenstände, seien es natürliche oder technische69, nur in den Sinnen Wirklichkeit haben, und dass alle anderen Erkenntnisweisen nur eine Bearbeitung dieser Weise bedeuten. Denn alles Hinzukommende wird vom Material der Sinne getragen und hat diesem gegenüber auch keine bedingte Selbstständigkeit. Dass die Substantia im Wandel eines Wirklichkeitsgefälles steht, haben wir bereits bemerkt. Würden wir hier Wirklich­keit nach Form und Inhalt fassen wollen, so müssten wir zu dem Ergebnis kommen: Form ist Inhalt. Indem aber so die Sinne zum alleinigen Quell des Wirklichen als Gegenständlichen so einmal hinreichen, werden also die Sinne auch zum Principium der Vereinzelung; der Stoff der Sinne erstellt mir allein die Einzelnen. Gewiss ergibt sich hier eine gewisse Unklarheit, weil wir festgestellt haben, dass sich das Einzelding erst in der Erinnerung zur Wirklich­keit ergänzt. Es ändert jedoch nichts daran, dass Wirklichkeit als notwendiger Gegenpol zum „Ich bin“ im Bewusstsein aus dem Stoff der Sinne gemacht ist. Dies gilt wenigstens, solange das Lebendige nicht auf den Plan kommt. Für uns klärt sich damit eine alte Streitfrage, freilich nur im Rahmen eines Auszugs von Wirklichkeit; und wir setzen ja Seinsweise und Erkenntnisweise gleich. Fragen wir aber unter diesem Vorbe­halt nach einem principium individua­ tionis, so müssen wir erst eine Vorstufe einrichten, denn das Individuum ist ja noch nicht gegeben. Wir können also nur von einem principium singularitatis oder in Anlehnung an Scotus von einem princi­pium haecceitatis reden. In dieser Betrachtungsweise liefern also die Sinne allein den Stoff der Vereinzelung, und wir dürfen deshalb sagen, dass hier die materia quantitate signata in vollendeter Weise zur Ursache der Vereinzelung wird. b) Das Lebendige und das principium individuationis In ihrer Unentwickeltheit erweist sich die Einfachheit der stofflichen Substantia als arme Wirklichkeit. Mit der leben­digen Substantia ändert sich alles, weil die Artselbigkeit, die dennoch nicht Individuum sein kann, aus den Sinnen nicht mehr herleitbar ist. Damit ist Wirklichkeit aus der Reflexion bereichert worden. Eine substantia composita erfüllt nun aber auch die herkömmlichen Bedingungen, die sich an ihr herausge­stellt haben, und sie bedeutet durchaus nicht einen Wider­spruch zu unserem Rahmen. Da wir die Reflexion nicht als Abso­lutum setzen konnten, fügt sich jetzt das Individu69  Natur

bedeutet hier einfach leblos und nicht vom Bewusstsein bearbei­tet.



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um aus zwei Zonen zu einem Ganzen. Es scheint wie ein Widerspruch: Das Individuum fügt sich aus Ur-Teilen (Sinne und Reflexion), aber es erweist sich von daher als Substantia nicht zerlegbar, nicht teilbar. Es ist also nicht indistinctum in se, aber in­divisibilis in se. Die Artselbigkeit, was ihre Seins- oder Erkenntnisweise be­trifft, fordert sich als Gesetz, darum ist sie weder einzeln noch mehrfach. Das Lebendige erlaubt aber, dass wir es als einzelnes Selbiges wie die übrigen Sinnendinge betrachten. Dann wäre doch auch hier der Stoff der Sinne und damit die materia quantitate signata das principium singularitatis und individuationis. Die Artselbigkeit ist nicht Individuum, lebt aber in den Individuen. Ist damit die Verfugung im Individuum nicht einwandfrei gelöst? Aber so bliebe dennoch ein über­ständiger Rest. Ohne Artselbigkeit kann es grundsätzlich kein Individuum geben, folglich muss sie auch principium individua­tionis sein. Artselbigkeit und sinnenfällige Einzelerschei­ nung bedingen sich gegenseitig, beide sind notwendig zu ein­ander am Individuum. Erkennen hat sich eingeholt am Lebendi­gen, die Entsprechung erfüllt sich, nichts wird aufgehoben, das principium contradictionis bleibt in Geltung. Als Einzelding betrachtet, verhält sich also alles wie vor­her, und auch das Lebendige zeigt sich an den Sinnen, so dass man doch auch die Sinne als Quell des Lebens setzen müsste. Allein hier vollzieht sich eine Abkehr seitens der Reflexion, die noch näher zu untersuchen ist. Denn die Reflexion erkennt die Sinne nur als Zone der Äußerung des Lebens an; es ist die neue Erinnerung, ihre eigene Zone, woraus das Leben entsprin­ gen muss. Ohne dass die Reflexion hier eine Zone unabhängig vom Bewusstsein in Anspruch nehmen müsste, darf sie diesmal sich selber als Urquell des Lebens annehmen. Denn zu mystischen Gründen kann sie wohl keine Zuflucht nehmen. Es bedeutet, dass Wirklichkeit auf der Höhe „Individuum“, welche die Höhe des Lebendigen ist, sich als eine urgeteilte erweist. Denn sie vermag nur als eine äußere Fassade und eine innere Fassung zu bestehen. Das Individuum ist immer zusammengesetzt aus seiner Erscheinung und seiner Artselbigkeit, und es begründet sich so aus seinen notwendigen Bedingungen. Die Ur-Teile benötigen sich wechselseitig: Die Artselbigkeit findet an den Sinnen ihre Wirklichkeit und ihre Erscheinungen, die Erscheinungen leben aus der verborgenen Artselbigkeit, die nicht aus sich herausgeht. Bleiben wir bei den Zonen des Erkennens, so er­gibt sich für das Individuum das vorläufige Verhältnis: Es ist nicht so, dass die Artselbigkeit in den Sinnen wirklich und vielfach würde, denn so würde sie sich ja nur selber ent­ leeren. Vielmehr verhält es sich so. Indem die Artselbigkeit in ihrer Zone verharrt, bedingt und verwirklicht sie die Er­ scheinungen in ihrer Andersgründigkeit. Wirklichkeit er­ schöpft sich aber deshalb nicht in den Erscheinungen, sie kann nur aus Artselbigkeit und Erscheinungen ent- und beste­hen.

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2. Teil, 4. Kap.: Das Leben aus der Reflexion

§ 21  Die Möglichkeiten zur Begründung einer Gleichsetzung von Sein und Erkennen 1. Die Artselbigkeit als Gestalt und Gesetz und das Ausweglo­se in der Reflexion Wir machen die Feststellung, dass sich das Verhältnis des In­dividuum aus der vorhergehenden Beschreibung von Erkennen wie von selber bestimmt. Es ist das Zueinander und die gegensei­tige Not-Wende von Reflexion und Anschauung, welches sich als die verfugte Wirklichkeit im Individuum erklärt. Es gibt kei­ ne Multiplicatio und damit auch keine Individuatio der Art­ selbigkeit, nur die Erscheinungen erleiden diese Rolle. Denn anders würde die Artselbigkeit ja in die Zone der Erscheinung überwechseln und sich selber aufgeben. Wirklichkeit findet ihren Bestand (im Erkennen), indem die Artselbigkeit unbewegt in ihrer Zone verharrt und darin ihre Erscheinungen trägt und bewegt. Wir sehen daran auch, dass Individuatio nicht einfach als Vervielfältigung aufgefasst werden darf, weil sie nur aus der Rückbindung an die Urzone der Artselbigkeit Bestand hat. Individuum bedeutet eine bestimmte Verfassung von Wirklich­keit, so dass nur die gesamte Verfassung als principium indi­viduationis in Frage kommen kann. Einen wichtigen Hinweis haben wir noch nicht ausgewertet. Die Artselbigkeit besteht zwar in unzähligen Vertretern, aber der Artselbigkeiten gibt es nun auch unzählige. Was aber aus der Reflexion bis jetzt zur Vorstellung kam, war Gesetz, nicht Ge­stalt, denn diese kam allein von der Anschauung. Bleiben wir dabei, so erhalten wir in der Artselbigkeit eine Betrach­ tungsweise nach den Unterschieden von Gestalt und Gesetz, die uns nicht wenig ratlos macht. Denn als Erzeugnis der Reflexion erhalten wir nur eine allgemeine Zone, nämlich das Gesetz des Lebens; was aber an der Artselbigkeit als Gestalt erscheint, müsste dennoch im Bereich des Anschaulichen liegen. Das Gesetz ist an sich gestaltlos, und es kommt nur an der Gestalt zur Vorstellung; so haben wir die Reflexion bis jetzt erfahren. Sie wiederholt nicht die Anschauung in sich, sie wendet sie an, indem sie sich an sie wendet. Nun aber müsste die Reflexion eine innere Vielfalt an Ideen haben, woraus die Fülle der Formen entspränge, und dies gälte dann nicht nur für die Le­bendigen, sondern auch für die toten Gegenstände. Es ist eine arge Verlegenheit, in die wir geraten sind. Müs­sen wir nicht auf der Höhe des Lebendigen entdecken, dass die Reflexion alle Formen des Sinnenfälligen aus sich erzeugen könnte? Hieße dies nicht, dass die Schranke zwischen Sinn und Verstand, die wir bezüglich der Abstraktion gesetzt haben, wieder hinfällig wird? Sind wir nicht unversehens an jene Schwelle gestellt, wo wir demütig bei Platon und dem Tempel seiner Ideen



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anklopfen müssen? Denn nun scheint ja die ehr­würdige Vernunft als Verstand, Denken oder Reflexion allen Reichtum der Sinne idealiter schon in sich zu enthalten. Eine so verstandene Wirklichkeit führt uns unversehens zu einer inneren, vollkommeneren Wirklichkeit, die nur mit dem Stoff der Sinne umkleidet wäre, und Leben müsste wohl als das Durch­scheinen dieser Seinsweise verstanden werden. Damit müsste sich eine Wende vollziehen: Die Reflexion kündigt nun doch ei­ ne Wirklichkeit an. Zunächst einmal hätten wir nur die Versi­cherung, dass wir unsere Gleichsetzung von Sein als Vorstel­lung nicht berichtigen müssen und dass sich nun unsere Ein­sichten auf dem Weg nach innen einstellen. Das Sinnenfällige müsste so als ein Stadium, welches zu überwinden wäre, seinen Bestand halten. Es ist nötig, dass wir die Möglichkeiten mit aller Umsicht ausleuchten, jedoch im Bewusstsein, dass wir beim jetzigen Stand keine endgültige Einsicht gewinnen können. Der unvor­hergesehenen Wende, die sich mit dem Leben aus der Reflexion eingestellt hat, stellen sich aber mancherlei Hindernisse entgegen. Wir müssen nicht nach verborgenen Gründen suchen, es ist jedenfalls offensichtlich, dass wir die innere Erleuch­tung, die sich in der Reflexion verborgen halten könnte, in­haltlich nicht entdecken können. Alles, was wir entnehmen, liefern uns dennoch die Sinne, und auch jenes Eigentümliche, worin wir das Lebendige wahrnehmen wollen, zeigt sich doch letztlich als Mitteilung der Sinne. Leben ist nur das, was wir bisher den Sinnen nicht zugetraut haben. Also versuchen wir es mit der anderen Erklärung. Was immer an Gestalthaftem im Lebendigen begegnet, gehört in den Bereich des Sinnenfäl­ligen. Es entsteht, entfaltet sich und vergeht im Sinnenfäl­ligen. Wir sehen die Individuen einer Art in verschiedenen Stadien. (Zwar kommen wir hier nicht ohne die Zeit aus, aber es erscheint uns hier so, dass sich das Rätsel des Lebendigen als Zone der Reflexion auch mit Hinzunahme des Zeitlichen nicht löst.) Demnach könnten wir annehmen, dass die Sinne al­lein für die Verschiedenheiten der Arten verantwortlich sind. Alle Wirklichkeit liegt in den Sinnen, wie schon mehrmals be­ merkt. Dann passen sich das Gesetz des Lebens und die an sich selber gestaltlose Reflexion doch bestens einander an, und al­ les fugt sich widerspruchsfrei hinzu. Die Parallele zwischen Denken und Leben könnte so gar nicht besser stimmen. Denn auf beiden Seiten haben wir das an sich selber gestaltlose Gesetz, welches notwendig nur in der An­wendung erscheinen kann. Denken und Leben entspringen einer Zone des Bewusstseins, die trägt und begründet in der Weise des Gesetzeszwangs, die aber für sich und an sich nicht er­scheinen kann. So bleibt alles auf beiden Seiten bei einer notwendigen Ergänzung. Die Ur-Teile bedingen sich wechselsei­ tig. Damit werden die Sinne zum Principium der Arten, Leben­diges ist Individuum, welches aus einer allgemeinen Zone ge­halten ist. Es ist ein völlig gestaltloses, ungeteil-

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tes, all­gegenwärtiges Gesetz, dieses Leben. Aber es ist weder all­mächtig, noch unbedingt; es ist nichts ohne das Sinnenfälli­ge, so wie das Denken nichts ist ohne die Sinne. Darum dürfen wir uns diese Zone des Gesetzes in keiner Weise als Keimgrund für die Verschiedenheiten der Arten vorstellen, was uns aber auch keineswegs unbequem ist. Denn diese Vorstellung bekräf­tigt nur unsere Ansicht von der Abstraktion, wonach ja der Verstand keine Möglichkeit besitzt und benötigt, irgendetwas Gestalthaftes aus den Sinnen zu gewinnen. Wir sind mit dieser Annahme auch nicht in einen transzenden­talen Materialismus geraten, weil ein solcher von unserer einseitigen Bewusstseinsschau noch gar nicht möglich wäre. Auch die Vorbereitung dazu ist nicht gelegt, da Denken bzw. Leben sich nicht als zunehmende Verinnerlichung der Sinne und des Sinnenfälligen einstellen kann. Die neue Zone enthält in ihrer Andersheit die notwendige Bedingung zur vorgestellten Wirklichkeit. Was uns stört, ist wohl das am Idealismus ge­schulte Denken, welches aus Vernunftgründen sich gedrängt fühlt, Leben als eine höhere Zone zu verstehen, welche die Vollkommenheiten der Sinneszonen schon in sich birgt. Eine solch inhaltsschwere Einsicht legt sich aber uns nicht nahe, und einen offenen Verstoß gegen das principium contradictio­nis können wir noch nicht ausfindig machen. Es ist die völli­ge Übereinstimmung mit dem bisher Vorausgesetzten und Ange­legten, was uns also dieses Schema der Erklärung so bequem macht. Wir wollen aber auch nicht das Unzureichende daran übersehen. Denn es war doch gerade die Artselbigkeit, welche uns als Ursache und Ursprung des Lebens glaubwürdig aufgekom­men war. Leben als Entwicklung und Leben als Weitergabe, die­selbe Form in allen Individuen einer Art, dieses geheimnis­volle Walten haben wir unwillkürlich als eine Artselbigkeit bestimmt, worin Gestalt und Gesetz ineins gegangen sein müs­sen. Verlangt die unveränderliche Artform, die sich doch ge­rade in der Entwicklung des Einzelnen so eindrucksvoll be­hauptet, nicht eine Form, die dennoch dem sinnlichen Wandel gegenüber abgesetzt ist? Denn alles Sinnenfällige ist entwe­ der der Form nach haltlos und hinfällig oder aber leblose Spröde, also Form als Verneinung alles Lebendigen. Es kann hier nicht darum gehen, die endgültige Erklärung zu finden. Aber am Lebendigen drängt sich zum erstenmal mit Macht der metaphysische Realismus als die wahre Gleichung auf. Eine Wirklichkeit jenseits des Bewusstseins erlaubt uns nicht einfach, die Seinsweisen als Vorstellungsweisen zu er­klären. Wie man sieht, bleibt aber die vorgestellte Seite, das Rätsel um die Artselbigkeit, eine nicht durchschaubare Angelegenheit, auch wenn wir sie in eine unabhängig gesetzte Wirklichkeit übertragen würden. Die Entsprechung zwischen der Mate­ rie und der Lebensform einerseits und der Anschauung und der Reflexion andrerseits bleibt aber als eine gemeinsame Grund­lage in jedem Falle bestehen.



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2. Die Not-Wendigkeit der Reflexion, einen „Schluss zu ziehen“, als Selbstvollzug der Reflexion Unser Weg des reinen Schauens begrenzte sich zunächst in der Ausschaltung des Gemütes. Aber dieser Weg hat an der Einho­lung der Reflexion an sich selbst schon eine Unsicherheit er­fahren. Die Reflexion war „unschlüssig“ geworden, weil die Dinge sich nicht mehr so eindeutig gezeigt haben, um sie ein­fach an Hand des principium contradictionis zu lösen. Es zeigt sich, dass die Vorstellungswelt(en) sehr verwickelt sind und dass die Verhältnisse sich kaum so fassen lassen, um sie schlichtweg in das Schema Ja oder Nein hineinzupressen. Am Begriff des Lebendigen scheint nun die Reflexion selber noch in eine Vielzahl von Formen zu zersplittern, die ihr gar nicht liegen. Man kann es fassen, wie man will. Nimmt man die Möglichkeiten der Erklärung, die Seite der Selbstergründung der Reflexion, ergibt sich eine vielfältige Lösung; betrachtet man die Fülle des Lebendigen, und sie soll die Selbstent­deckung der Reflexion sein, so zersplittert in der Tat alles. Was bleibt, ist sicher die Hoffnung, dass im Gemüt weit eher der Ursprung für den Formenreichtum der Natur zu suchen wäre. Das Entmutigende der mehrfachen Weggabeln hat indes sein Gu­tes, indem es uns veranlasst, den Fortgang anders zu suchen als in der Auswahl. Denn so hätten wir pro und contra abzuwägen und doch keine Sicherheit, nicht einen wichtigen Hin­weis übersehen zu haben. Was uns aber jetzt wieder in eindeu­ tiger Weise aufgeht, ist die Not-Wendigkeit der Reflexion überhaupt, „Schlüsse zu ziehen“. Was für den Sinn das Schau­en, das entspricht anscheinend bei der Reflexion dem Schlie­ßen. Damit klärt sich nun doch einiges auf. Warum sollte sich an der Reflexion nicht das Gebrechen des Schauens zeigen? Der zu weit entfernte Gegenstand wird unscharf, der zu tief ver­borgene Grund auch. Kein Schluss ohne das Material, welches uns die Anschauung liefert. Die Reflexion muss also notwendig schließen, weil es ihre Anwendung zu den Sinnen ist, und sie kann sich nicht überall enthalten, nur um nicht falsch zu schließen. Ist nicht zu erwarten, dass die Anwendung ganz von selber zur Bewährung wird, dies aber mit Sicherheit, wenn die Gesamtheit des Bewusstseins zur Anwendung kommt? Die Natur des Schließens muss uns deshalb am Unterschied zum Sinnenfälligen zuerst aufgehen. Das Mannigfaltige der Sinne legt sich zerstreut und endlos auseinander. Indem es nach außen keine Grenzen ausweist, schließt es nichts aus; indem es nach innen aber divisum ab alio ist, abgesondert voneinander, schließt es nichts ein. Der Schluss der Reflexion lässt die bekannte Doppeldeutigkeit sichtbar werden. Er schließt die Zerstreuten in Gruppen und Verbänden zusammen nach den Gesetzesformen, die ihm zur Ver­fügung stehen. Das Selbstverständliche des Schlusses an der vorgestellten Seite erklärt sich aber

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2. Teil, 4. Kap.: Das Leben aus der Reflexion

nur als Anschluss der Sinneszone an die Reflexions-Zone. Die Reflexion vermag ineins zu schließen, weil sie den Unterschied zum Gegenstand hat. Wir können jetzt bemerken, dass auch der Sinn sein Schließen hat, allein es ist doch kein Schließen, weil er sich des Un­terschieds nicht bewusst sein kann. Damit aber schließt die Reflexion ihre eigene Gesetzesweise in die Sinnesweise, es waltet ein und dieselbe Ordnung. Auch so stellen wir fest, dass Schließen kein Vergleichen zum Inhalt hat und die Reflexion nicht in sich wiederholt. Es verhält sich also nicht so, dass die Reflexion parallele Urbilder in sich hätte, woran sie das Sinnenfällige vergliche.70 „Schließen“ müssen wir vielmehr so verstehen, dass die Reflexion den Raum der Sinne auf ihre Gesetzesebene hebt, bzw. mit ihrem Gesetz das Sinnliche völ­lig durchdringt, so dass sich das Mannigfaltige der Erfahrung aus den Gesetzen der Reflexion bestimmt erweist. Schließen er­klärt sich so als der IneinsSchluss zweier Zonen. Schließen enthüllt noch tiefer das Verhältnis. Das Erkennende schließt sich in das Erkannte ein, ohne sich darin zu verlie­ren; also durchdringt die Reflexion die Sinne. Den umgekehrten Vorgang können wir nicht feststellen, die Sinne vermögen die Reflexion nicht zu fassen. Damit ergibt sich natürlich jene Rangfolge in den Erkenntnisweisen nach ihrer Erhabenheit, welche uns die Philosophie seit altersher gelehrt hat. Be­trachtet man so den „Aufstieg“ des Erkennens und entsprechend auch des Seienden, so wie ihn die Metaphysik und Platons Phi­losophie lehren, dann bleibt der Gedanke nicht fern, dass es eine göttliche Reflexion oder Vernunft geben könne, die das anschauliche Vermögen der Sinne aus Vollkommenheit auch noch in sich haben könne.71 Die Not-Wendigkeit des Schließens dür­fen wir deshalb als die innere Leere unserer Reflexion auffas­sen, die nur in der Anwendung an die Anschauung „sinnvoll“ wird. Aus dieser Sicht, die alles an sich hat, um Vertrauen zu wecken, dürfen wir erwarten, dass sich nach dem gegebe70  Hier soll nochmals auf Platons Philosophie des seelischen Seins hingewiesen werden. Unsere Feststellung sollte nicht als Absage an Platons Ideenlehre aufgefasst werden, weil Platon nicht das Sein des Metaphysikers im Begriffe hat. Erst die Verkennung der seelischen Ideen mit dem metaphysischen Seinsbegriff führte zu jener falschen Auffassung von Ideen in der Vernunft. Platons Ideen sind als mysti­ sche Erleuchtungen zu verstehen, denen die metaphysische Erkenntnis­weise weder zu- noch abgeneigt sein muss. „Mystisch“ besagt aber bei Platon nicht, dass es sich um eine Auserwählung handelt, mystisch be­sagt eine seelische Erkenntnis, die uns ja auch in Träumen zuteil wird. Platons ehrwürdige Erkenntnislehre ist nur zu verstehen aus ei­ner Einheit von Gemüt und Erkennen, die für den seelischen Bereich zu vertreten ist. Es wird dann zur Eigentümlichkeit der Metaphysik bei Aristoteles, dass er diese Einheit in die Metaphysis, also ins meta­physische Bewusstsein übernommen hat, wo sie eigentlich nicht hinge­hört. Vgl. Plato metaphysicus §§ 14–16. 71  Kant weist an vielen Stelle i. d. Kr. d. r. Vern. darauf hin, ver­neint diese Kraft für unseren Verstand.



§ 22  Weitere Untersuchungen zur Natur der Reflexion139

nen Verhältnis des Erkannten zum Erkennenden auch wichtige Schlüsse für das Verhältnis der Seinsweisen im Erkennen erge­ben. Das Verhältnis der Reflexion zu den Sinnen und zu sich hat sich für uns wenigstens so weit bestimmt, dass wir die bis jetzt getroffenen Bestimmungen nicht zu ändern haben.

§ 22  Weitere Untersuchungen zur Natur der Reflexion 1. Das Nachdenken der Reflexion; das principium ­contradictio­nis als principium identificationis Der Standort, an dem wir uns befinden, befähigt uns nicht, um geradewegs das Geheimnis des Lebendigen in den Begriff zu nehmen; wir versprechen uns mehr Erfolg, wenn wir uns einst­weilen um die Gesetzesweise der Reflexion bemühen. Mit dem principium contradictionis sind wir so weit ins Reine gekommen, dass es sich schlichthin aus der not-wendigen Anlage zur Anschauung ergibt. Die Sinne und die Reflexion können nicht dasselbe und dennoch dasselbe sein. Die Sinne und die Reflexion können nicht dasselbe und dennoch dasselbe erkennen. Dieser Satz müsste wohl weitgehend oder völlig dieselbe Bedeutung haben. Es bedeutet dann, dass sich das Grundverhältnis von Reflexion und Sinnen in jedem Gehalt des Erkennens zur Vorstellung schlägt, damit also in gleicher Weise auch gegenständlich wird. Ob in einem Verstande, der zugleich auch anschauen könnte, das principium zur Aufhebung käme, haben wir hier nicht zu bedenken, und wir sind nicht so naseweis, um es wissen zu wollen. Es scheint ein Widerspruch in unserer Ansicht zu sein. Denn es wurde gesagt, dass der Schluss als Ineins-Schluss doch gerade die Gesetzesweise der Reflexion in den Raum der Sinne über­trägt. Zwischen der Reflexion und den Sinnen gibt es keine Verschiedenheit. Allein bei näherem Zusehen erweist sich das principium contradictionis auch als das principium identita­ tis: Es kann etwas nicht dasselbe und auch dasselbe sein. Die Anwendung überträgt das Gesetz auf die Sinne, worin es also selbig bleibt. Aber der vorausgesetzte Unterschied wird nicht aufgehoben in der Reflexion. Was hier zum Vorschein kommt, ist die Weise des Durchdrungenseins des Erkannten vom Erkennen­den. Das Erkennende verselbigt sich am Erkannten, indem es sich als dessen Bestimmung erklärt. Das Erkannte ist nichts außer dem Erkennenden. Nur das Erkennende weiß auch um den Unterschied, der unerklärlich, undurchschaubar in ihm ansteht und nicht aufhebbar ist. So ist es nicht befähigt, von einem Unterschied, der keiner ist, zu reden. Erkennen erweist sich als Vereinigung aus der Unterscheidung, was

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2. Teil, 4. Kap.: Das Leben aus der Reflexion

dasselbe ist wie die Unterscheidung aus der Vereinigung. Dieses Verhältnis muss so stehen bleiben, da es nicht weiter begründbar oder durch­schaubar ist bis jetzt. Die Verselbigung erklärt sich als be­wusste Gleichsetzung aus der Reflexion, die aber so als „Ich denke“ den Unterschied niemals verliert. Die Identificatio enthält deshalb den Unterschied, jedoch als Verbot einer Con­tradictio. Die Reflexion zeigt sich in vermittelter Weise dennoch als der eigentliche Kern des Selbstbewusstseins. Sie allein ist befä­higt, sich die anderen vorstellenden Vermögen als Vorstellung zu setzen. Sie setzt diese in die Vorstellung, indem sie da­bei über sich selbst nachdenkt. Man sagt zwar, die Reflexion urteilt sich selber, aber sie vermag es nur an den anderen Vermögen. Was erscheint, ist nur ihr Gesetz an den anderen Weisen des Bewusstseins, und darin gleicht sie nun auch wieder den anderen Erkenntnisvermögen. Der Sinn erfährt sich auch nur am Sinngehalt, die Erinnerung gewahrt sich nur am Erin­nerten, und die Reflexion denkt nur an dem übrigen Bewusstsein über sich nach. Erkennen steht daher durchweg vermittelt als ein Kreislauf da, es muss durch ein Anderes aus sich herausge­hen, Bewusstsein benötigt einen Aufschluss. Die Fähigkeit und der einzigartige Vorzug der Reflexion, alles in die Vorstellung zu zwingen, ist die Fähigkeit, sich selber am Anderen zu denken, dies ist ihr Nachdenken, und sie er­fährt sich so nur im Nachdenken am Anderen. Am Anderen er­fährt sie ihre eigenen Gesetze, so hat die Reflexion auch kei­ne unmittelbare innere Vorstellung oder innere Erleuchtung, es sei denn das Andere. Indem sie so am Anderen sich selber als dessen Innesein erfährt, wird ihr das principium identi­ficationis zum verbotenen Widerspruch am Anderen. Zur Not lässt sich so ein Hinweis wegen der Verschlossenheit der Lebenszone im Lebendigen ableiten. Die Reflexion entdeckt in sich keine näheren Formen oder Keimgründe für die innere Gestalt der Lebendigen. Sie findet im Sinnenfälligen selber nicht die Brutstätte der Artselbigkeiten, aber sie enthüllt auch nicht in einer inneren Schau ihre gestaltgebende Vor­ stellung. Aus dieser Selbstverschlossenheit ergibt sich für die Reflexion das Nachdenken als „den Weg zu sich selbst am Anderen finden“. Sie ist, wenngleich sie ein Monopol im Be­wusstsein beanspruchen darf, immer angewiesen, d. h. angewen­det auf das Andere. Ohne Zweifel aber begegnet ihr in den Le­bendigen ein Ereignis, welches sie in besonderer Weise an­spricht. Indem nämlich die Reflexion über das Leben nachdenkt, bringt sie das ihr Eigentümliche zum Vorschein.



§ 22  Weitere Untersuchungen zur Natur der Reflexion141

2. Raum, Zeit und das principium contradictionis Die Tatsache, dass die Zeit nicht im Erkennen entspringt, son­dern aus dem Gemüt gegeben ist, erfahren wir aus einer inne­ren Wahrnehmung. Sie lässt sich nun an dem Aufgezeigten ver­ ständlich machen. Die Zeit kann nicht zwischen die Reflexion und ihre Anwendung gespannt sein, denn sonst fiele jede An­wendung in den Zeitsinn. Die Zeit müsste aus der Reflexion sel­ber kommen als deren innerstes Gesetz. Tatsächlich hat sie mit ihr das Merkmal, dass sie ja nur am Anderen erfahrbar wird. Das principium contradictionis verneint indes jede zeitliche Bestimmung in sich. Wie ist es aber zu erklären, dass Gegensätze in der Gleichzeitigkeit im Nacheinander nun dennoch auflösbar sind. Wird damit nicht die Zeit zum letzten allumfassenden Urgrund des Bewusstseins, an dem selbst die Geltung dieses ehernen Gesetzes erst geboren und dann wieder hinfällig wird? Die Beobachtung spricht zunächst einmal nur dafür, dass die Zeit nicht aus der Reflexion rührt. Es ist nur ein räumlich zeitlicher Wandel, welcher dem principium seine Zuständigkeit nimmt. Es gehört ja gerade zu ihrem Nachdenken, dass sie Raum und Zeit durchschaut, um die unumstößliche Gel­tung ihres Gesetzes gewahrt zu wissen. Die Zeit reicht nicht hin, um ihr etwas zu begründen, was nicht sein kann. Im ande­ren Falle aber vermag gerade die Abfolge der Zeit etwas zu ändern, was nicht gegen die Geltung des Gesetzes verstößt. Es ist aber gerade das Gesetz der Lebendigen, welches uns zeigt, dass die Zeit nicht hinreicht, um das Leben aus den Sinnen zu erklären, weil die Reflexion ihr Gesetz in zeitloser Geltung wissen möchte. Wir sehen also, dass an der Begegnung mit der Artselbigkeit die Zeit lediglich ein inneres Erlebnis des Be­ wusstseins bleibt, welche zwischen der Vorstellung des Leben­digen und dem verbotenen Widerspruch der Reflexion überhaupt nicht vermitteln kann, wenngleich doch die Entwicklung der lebendigen Gestalt ausschließlich im Ablauf der Zeit wahr­nehmbar wird. Die Reflexion fordert hier ihr eigenes Gesetz in zeitloser Weise als tragende Artselbigkeit. Dagegen fällt der Raum in die sinnliche Vorstellung als deren Grundform im Sehen, Tasten und Hören. Die Geometrie enthält keine zeitliche Bestimmung in ihren Figuren. Das principium contradictionis kommt daher unabhängig von aller Zeit zur An­wendung. Die geometrische Vorstellung beweist aber nur, dass Erkennen an sich nicht zeitlich geformt ist. Dagegen enthält Bewusstsein die Zeit als eine innerste Bestimmung. Die Anwen­ dung der Reflexion geschieht so in die Zeit, aber nicht aus der Zeit und mit der Zeit. Damit hat aber Erkennen innerhalb der Zeit eine zeitlose Verfassung.

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2. Teil, 4. Kap.: Das Leben aus der Reflexion

3. Das principium causalitatis als Rückschluss der Reflexion an der Erfahrung des Lebendigen In der Begegnung mit dem Lebendigen gelangt die Reflexion zur Rückkehr zu sich selber, der Kreislauf schließt sich somit. Aber es ist eine besondere Erfahrung, eben das Lebendige; das principium contradictionis aber haben wir so beschrieben, dass es die allgemeine Erfahrung überhaupt erstellt. Die Contra­dictio richtet sich gegen das Sinnenfällige, soweit in ihm der Sinn selber gegeben ist. Denn die Reflexion entdeckt ja das Leben in dem ihr untergebenen Sinn, und der ist unmöglich befugt, in seiner äußeren Erscheinung Artselbigkeit zu ent­halten. Auch die Zeit und der Wandel der Gestalt in ihr wird als machtlos erklärt. Dies ist bemerkenswert, denn weder die Zeit noch die lebendige Artselbigkeit soll hier in einem Jen­ seits des Bewusstseins gesetzt werden. Wir haben es mit einer Parallelen zu tun: Die Artselbigkeit durchsetzt das Sinnen­fällige wie die Reflexion die Sinne. Es ist der Gleichschluss, womit die Reflexion sich hier zur Anwendung bringt. Das Beson­ dere der Erfahrung erklärt sich aber doch dann in der Rück­ bindung einer Ursache des Lebens aus dem Ursprung der Reflexion. Die Reflexion muss entdecken: Das ist Geist von meinem Geist oder dies ist lebendiges Fleisch von meinem lebendigen Fleisch. Wir haben zu beachten, dass an diesem Rückschluss keiner der üblichen Begriffe zur Anwendung kommt. Es ist kein Gleichnis, keine Abstraktion, weder eine Gattung noch eine Associatio, die hier passen würde. Die Reflexion, die not-wendig an die Sinne muss, um ihr eigenes Leben vollziehen zu können, wird nun durch das Lebendige, welches am Sinnenfälligen erscheint, auf sich not-wendig zurückgeworfen. Der Rückschluss ist die Einlösung, und dabei geht etwas anderes vor als beim princi­pium contradictionis. Letzteres fällt ja mit der Anwendung schlichthin zusammen, jede Regung seitens der Reflexion und jede Erfahrung seitens des Sinnes schlagen dieses Principium an: Dieses Blau ist nicht jenes Rot, das Runde hier ist nicht spitzig usf. Aber das Lebendige erfährt nur seine Verneinung aus dem Gehalt des Sinnenfälligen, und mit der Verneinung al­lein ist es nun einmal nicht getan. Das Blaue ist nicht grün, hier ist nicht dort; wir haben es mit einer unmittelbaren Einsicht zu tun, die eben aus sich selber so ist und sich nicht mehr aus einem tieferen Zusammenhang begründen lässt. Am Lebendigen aber, so wie es an der Oberfläche der Sinne er­scheint, kommt die Reflexion zu sich. Notwendig muss sie nun eine Zone als Ursache des Lebendigen fordern, die zumindest von ihrer eigenen Weise des Bestehens ist. Jedenfalls muss sie den Sinnen enthoben sein, und sie kann gerade deshalb völlig anders geartet sein. Die Bestimmung der Artselbigkeit ergibt sich aus der Zusam­menarbeit des principium contradictionis und des principium causalitatis an der Erfah-



§ 22  Weitere Untersuchungen zur Natur der Reflexion143

rung. Die Ursache des Lebens er­schließt sich als die Verneinung der sinnenfälligen Substan­tia und als Gesetz einer zeit- und raumlosen Anwesenheit. Wä­ re die Artselbigkeit nur von der Weise eines ihrer Arteinzel­ nen, wie könnte sie in allen dieselbe sein? Wäre sie Entwick­lung wie das Arteinzelne, wie könnte sie das Küken aus dem Ei zur Henne selber werden lassen? Die Reflexion muss also notwen­dig etwas schon immer Fertiges, die Entwicklung leitendes er­schließen, welches das Sinnliche so durchdringt wie sie sel­ber die Sinne. Sie entdeckt jedoch am Rückschluss auch die ei­gene Bedürftigkeit wieder, die wir als wechselseitig bedingte Not-Wendigkeit wissen. Auch die Artselbigkeit bedarf der Art­ ein­ zelnen, denn als Ur-Teil vermag sie nicht allein zu er­schei­nen, so wie auch die Reflexion ohne Anschauung nicht vor­stell­bar wird. Wir bemerken, dass nicht jede Erfahrung eigens das principium causalitatis in Anschlag bringt, dass dieses aber beim Nach­ denken des Lebens unweigerlich zum Zuge kommen muss. Aber das Leben, wie es in den Arten erscheint, und das Gesetz vom hin­ reichenden Grund, wie wir das principium causalitatis auch nennen, haben sich damit nur angedeutet. Fragen wir an Hand der Wirkursache erneut nach der Artgestalt in der Artselbig­ keit, so kommen auch jetzt die Gründe zum Zuge, die nicht für eine Individuatio der Artselbigkeit sprechen. Denn diese be­ stimmte Form, welche gemäß der Reflexion raumlos im Raume, zeitlos in der Zeit im Sinnenfälligen wirken soll, erschließt sich dann doch so, dass sie sich gerade nicht in der Weise wie das Sinnenfällige vermehrt. Nennen wir nun die Artselbigkeit ein Ur-Teil, welches zusammen mit der sinnlichen Erscheinung das ganze Individuum erstellt, so haben wir ihren Bestand nur ungenau erfaßt. Denn als Ur-Teil müsste sie zahlenmäßig so oft vorhanden sein wie die Individuen ihrer Art. Bleiben wir aber im Verhältnis der Reflexion, so genügt es, wenn wir die Art­selbigkeit als eine Zone auffassen, die von den Individuen zahlenmäßig nicht berührt wird, andrerseits aber ohne diese keinerlei Bestand hat. Es verhält sich nicht so, dass sich diese Zone in ihrer Erhabenheit auch als unbedürftig des Sin­nenfälligen erschließen müsste.

4. Das Leben kann nicht als Gattung verstanden werden Wenngleich sich die Substantia als durchgehender Tragegrund herausgestellt hat, der zum Anhaltspunkt für die Reflexion ge­worden ist und sich so zuletzt durchhält, so machen wir nun die Feststellung, dass die Artselbigkeit bei ihrer Erhabenheit nun doch nicht dem Anspruch der Substantia genügt. Zwar hat sich das Individuum als eine Aufgipfelung der Substantia er­ wiesen, aber am Individuum ist uns unversehens die Substantia in Teile zerfallen. Offenbar widerspricht es nicht dem Be­ griff, dass der aus der Anschauung gewonnene Einheitsklotz sich nun aus verschiedenen Zonen

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2. Teil, 4. Kap.: Das Leben aus der Reflexion

gefugt erweist. Darum er­füllt das Artgleichnis, wenngleich nicht Individuum, weil nicht aus der Wirklichkeit des Sinnes unmittelbar herge­ stellt, dennoch die Anspruchsfülle der Substantia. Denn ich denke mir dabei nicht die Artselbigkeit als Zone, wie sie in vielen Erscheinungen die Entwicklung leitet, sondern ich bil­ de mir durch Abstraktion vieler Arteinzelner deren allgemeines Gleichnis. Aber nun bemerken wir aus der Verschiedenheit der Zonen, dass sich die Reflexion von der Artselbigkeit nicht eine Abstraktion erarbeiten kann wie von ihren Erscheinungen. Gehen wir näm­lich von einer Zone aus, so erfassen wir sie in der Reflexion nur als Gesetz. Da wir aber dann die Artgestalt aus den Sin­ nen herleiten müssen, geraten wir in die alte Verlegenheit.72 Gehen wir indes von einer Individuatio auch an der Artselbig­keit aus, so erhalten wir tatsächlich auch diese durch Abstraktion. Wir bemerken aber auch, dass sich dann bereits die Artselbigkeit der Substantia nähert und dass die einzelne Er­scheinung in ihrer Wirklichkeit anders erklärt werden muss. Die beiden Betrachtungsweisen, die sich nun ankündigen, haben Folgen, wonach sich letzten Endes zwei verschiedene metaphy­sische Seinsverständnisse ergeben. Dass die andere Betrach­ tungsweise, jene der individuatio essentiae mit allen ihren Folgen, im allgemeinen von der mittelalterlichen Metaphysik in der Nachfolge zu Aristoteles vertreten wird, ist genugsam aufgezeigt worden.73 Abgesehen davon, dass wir im Stadium einer „transzendentalen Reduktion“ uns mit dieser Ausformung eines metaphysischen Realismus gar nicht auseinandersetzen können, dürfen wir uns hier einen umfangreichen Vergleich ersparen. Unabhängig davon wird ein Vergleich der beiden Auffassungen über die Essentia, die wir hier nur als Artselbigkeit verste­hen dürfen, natürlich von grundlegender Bedeutung sich erwei­sen. Es geht nicht nur darum, dass hier die vom Transzendenta­lismus nie geleistete Arbeit eines Wesensbegriffs versucht wird. Man muss auch sehen, dass die Auffassung einer Essentia, die sich nicht vereinzelt in ihren Artangehörigen, eine neue Möglichkeit auf dem Boden des Realismus eröffnet, ohne dass man in das Mißverständnis einer „Metaphysik Platons“ gerät, die freilich weder Platon noch einer Metaphysik gerecht wird. Sprechen wir von Leben „im Sinne“ der Lebendigen, so trifft die Begriffsform Substantia, wie man sieht, noch am ehesten zu. Denn sie zielt entweder auf die Individuen oder auf die Artgleichnisse jeweils in ihrem selbstständigen Bestehen. Für die Artgleichnisse dürfen wir jedoch den Gattungsbegriff nicht verwenden, weil Leben immer im Sinne von Lebendigen zu verstehen ist. Denken wir aber bei Leben nur an die Artsel­bigkeiten, so trifft weder die Substantia noch der Gattungs­begriff zu. 72  Vgl.

73  Plato

§ 21. 1. metaphysic.

3. Teil

Das Bewusstsein als Machtbereich und Bedürfnis; der Inbegriff des Gemütes und die neuen Gründe der Erfahrung

§ 23  Vorbemerkung Der Versuch bisher, alles Erlebnismäßige abzuschirmen, mag wohl den Einspruch herausfordern, dass doch Erkennen niemals aus diesem zu trennen sei. Husserls Ideal des reinen Schau­ens ist als „Erlebnis“ abgehandelt. Wir können dem nur entge­gen­halten, dass darin die große Schwäche des phänomenologi­schen Ansatzes liegt, in dem Husserl das Angebot, welches vom Be­wusstsein her offensteht, gar nicht wahrgenommen hat. Wir sind uns auch wohl bewusst, dass unsere ideale Vorstellung einer fein säuberlichen Trennung nach Gemüt und Erkennen selbst am Ende einer ausgeführten Metaphysik immer nur eine mögliche Denkweise neben der gewaltigen Überlieferung des abendlän­di­schen Bewusstseinsbegriffs bleibt. Der Realismus und der Transzendentalismus haben trotz der bedauerlichen Ent­zweiung im Laufe der Neuzeit darin zusammengewirkt, dass sich im Be­ griff der „Psyche“ ein merkwürdiges Monopol erhalten hat, das in seiner widerspruchsvollen Verflechtung den Tie­fenpsycho­lo­gen zum Abgrund eines dunklen Schicksals, den Er­kenntnis­phi­losophen zu einem sich selbst denkenden Einheits­grund gewor­den ist. So haben wir denn heute in der Tat die Psyche als Gegenstand einer Tatsachenwissenschaft, die schon längst alle metaphysischen Seinsgründe der Wissenschaftsge­ schichte über­ lassen hat. Auf der anderen Seite der zerbroche­nen Synthesis steht eine Philosophie, die haltlos geworden an ihren uner­ setzlichen Gründen immer weiter in Flachgründe ab­driftet. Allein die Tatsache des heutigen Wissenschaftsbilds in den Geisteswissenschaften rechtfertigt den Versuch schon, den wir unternehmen. Das Anliegen von Husserls „phänomenologischer Psychologie“ muss unvergesslich bleiben. Aber Husserls Vorstoß konnte gar nicht die gewünschte Wirkung und die eindrucksvol­ le Überzeugung finden, weil diese Psychologie, aus dem Mono­ pol des Verstandes hergeleitet, im Bewusstseinsbegriff hängen bleiben musste. Eine Metaphysik des Gemütes soll nicht in die Einseitigkeit der Willenszone fallen. Es geht vor allem darum, diese Zone nicht in der Verengung des Willens zu se­ hen, sondern sie in ihrer ganzen Tiefe und Reichweite als Ge­müt anzugehen. Dann muss man feststellen, dass es hier keine Parallelen und Analogien zu dem Verstande gibt, der ja auch nur als ein herausragender Vertreter einer Zone bestehen kann. Die Erkenntnis, dass diese Zone sich gerade als Gegen­sätzlichkeit, um nicht zu sagen als Widerspruch, mit der an­deren zur Ergänzung fügt, öffnet ein weites Neuland für den scheinbar ausgelaugten metaphysischen Boden. Wir haben gese­ hen,

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3. Teil: Das Bewusstsein als Machtbereich und Bedürfnis

dass sich das alte Verständnis der Psyche seit Aristote­les so breitgemacht hat, dass die fruchtbaren Anlagen, die im Gemüt enthalten sind, in der Ontologie nie zum Zuge gekommen sind. Daraufhin ist es zurückzuführen, dass die Metaphysik auch auf ihrem Höhepunkt im Mittelalter keine begriffliche Abgrenzung zwischen Essentia und Substantia angeben konnte. Denn die Essentia beanspruchte schon das Vollgewicht einer forma substantialis, und es liegt ganz im Zuge dieses Den­kens, wenn Duns Scotus die Existentia nur noch als die Actua­ litas zu dieser bereits angelegten Vereinzelung auffasst. Er­staunlich daran bleibt nur, dass Duns Scotus doch den Vorrang des Willens gelehrt haben soll. Es ist ein neues Gebiet, das es zu erschließen gilt, ein Bergwerk, welches große Schätze erwarten lässt, weil bisher immer anderswo gesucht worden ist. Es muss tastend ein Pfad gefunden werden. Denn mit der Psyche der Psychologen haben wir nichts zu tun. Aber auch Platons Philosophie des seeli­schen Seins darf uns hier überhaupt nicht als leitender Inhalt vorschweben.1 Auf Schopenhauer dürfen wir uns als großen Richtungsweiser berufen; seine Willensmetaphysik, die Ver­ flüchtigung beim Individuum und damit auch hier das Bedeu­tungslose der Existentia bieten uns aber keine näheren Inhal­te. Es ist bekannt, dass die Metaphysik wenig Anlagen zeigt, um das Ausmaß des Geschichtlichen, Kulturhaften, kurz alles Schicksalshaften irgendwie einzugründen. Dies lässt sich mit dem Einwand, dass sich die Metaphysik um ihres Zieles willen damit gar nicht zu beschäftigen hat, dass ihr Anliegen ja ein schroffer Grenzstrich zu dem sein muss, auch weithin rechtfer­ tigen. Dass sie aber so wenig an Fundament vorweist, um diese Gebiete einzuholen, liegt nach unserer Auffassung auch daran, dass die Essentia überbelastet, die Existentia dement­sprechend unterbelastet worden ist. Wenn wir bereits von der Existentia reden, so deshalb, weil sich herausstellen wird, dass wir mit dem Gemüt nicht nur das Eingangstor, sondern den anstehenden Bereich der Existentia getroffen haben.

1  Es ist in Plato metaphysicus eine Abgrenzung dieses Seinsbegriffs zum Metaphysi­schen skizzenhaft versucht worden. Natürlich gehört die Abgrenzung dieser Philosophie von der Metaphysik zur Mitte ihres Inhalts. Mehr als ein Hinweis und ein Vorschlag zur Forschung kann dort nicht gege­ben werden. Es dürfte aber deutlich geworden sein, dass hier ein neues großes und dankbares Forschungsgebiet sich auftut.

1. Kapitel

Versuch einer ersten Abgrenzung zwischen dem Erkenntnismäßigen und dem Gemüthaften § 24  Unterscheidung und Verselbigung 1. Eine Gleichung und zwei Unbekannte Unsere Untersuchung bisher tastete sich am Leitfaden der Ein­sicht voran, wobei sich herausgestellt hat, dass „unmittelbar“ das unerlässliche Merkmal der vorgestellten, nicht unbedingt der vorstellenden Seite sein muss. Denn anders wäre „Einsicht“ natürlich eine Plattheit, die jeder in Anspruch nehmen kann. Ein gesicherter Aufbau der Bezüge im Erkennen kann sich des­ halb einstellen, weil ich nicht nur dieses Grün hier unmit­ telbar vor mir sehe, sondern auch das Sehen des Grüns unmit­telbar vor mir denke. Die Unmittelbarkeit hält sich darin, dass der Inhalt in den Sinnen beginnt und im unmittelbaren Übergang immer neue Unterschiede aufkommen lässt, ohne dass neue Inhalte als ungesicherte Bezugsquellen sich einmischen. Jeder Sinn hat seine unmittelbare Einsicht, die dazugehörige Erinnerung besitzt sie auch. Die Reflexion verfügt aber zumin­dest darin darüber, dass sie sich sagen kann: Mein Denken ist nicht das Sehen oder Hören, auch nicht mein Einbilden von Ge­genständen. Ich habe es mit einem wohlgeordneten und ver­zweigten Gefüge zu tun, worin der Inhalt durchaus nicht seine Unmittelbarkeit verlieren muss, wenn er nur möglichst dinghaft einfach bleibt. Bleiben wir in dieser engen Bahn einer Verar­beitung und der offensichtlich gegebenen Werkstätten, so darf man doch wenigstens sagen, dass jede dieser Anlagen ihre un­mittelbare Einsicht hat. Das Denken hat nicht dieses Grün als unmittelbare Einsicht, aber das Sehen dieses Grüns ist seine unmittelbare Einsicht. Offenbar hat aber diese Unmittelbarkeit keine unmittelbaren Querverbindungen, und dies gibt uns zu denken auf. Denn es liegt in der Tat eine verzweigte Mitteilung vor; das Sehen kann nicht unmittelbar zum Hören hinüber, es muss über Denken oder den geheimnisvollen sensus communis sich mitteilen. Den­noch meinen wir jetzt feststellen zu können, wobei uns aber die unmittelbare Einsicht verlässt, dass Denken nicht den In­halt des Sehens in sich aufnimmt, um ihn dann weiter zu ge­ben. Wir müssen uns

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3. Teil, 1. Kap.: Versuch einer ersten Abgrenzung

wohl die Mitteilung anders erklären. Den­ken stellt sie her, indem es beide Sinne von innen her durch­dringt. Indem es den Sinnen näher ist als diese sich selber, die ja keine Reflexion in sich haben, entsteht jenes Geheim­nis, was wir Bewusstsein nennen. Die Communicatio des Erken­nens, nur diese ist hier gemeint, geschieht also nicht in Form einer Reproductio zwischen Anschauung und Reflexion. Den­ken ist anwesend in den Sinnen, so müssen wir einmal sagen, ohne dass wir an ein „Wesen“ denken, und bewirkt eine Associa­tio der Sinne. Aber die Associatio hält sich natürlich nicht in den Sinnen; indem Denken in allen Sinnen anwesend ist, sind alle Sinne im Denken. Denken fordert sich so als ein Pol im Bewusstsein, der nicht als Erträgnis und Sammelstätte der Sinne sich erst einstellen kann. Denken erweist sich gegen­ über den Sinnen als erhöhte Fähigkeit der Mitteilung, wobei es freilich not-wendig auf die Sinne angewiesen bleibt. An diesem Verhältnis lässt sich dann entnehmen, dass Denken keine unbedingte Machtvollkommenheit für sich beanspruchen darf. Seine hervorragende Rolle enthüllt sich zunächst einmal in der Vermittlung, und seine Unmittelbarkeit erklärt sich daraus, dass es die anderen Vermögen durchdringt. In der Wild­nis gilt, wer das Andere frisst, ist das Überlegene. Im Erken­ nen gilt, wer das Andre in den Unterschied zwingt, macht es zum Untergebenen. In keinem Fall bedeutet es, dass das Überle­gene unabhängig vom Unterlegenen wäre. Es zeigt sich aber ein gestuftes Vermögen des Unterscheidens, wobei die obere Stufe die anderen voraussetzt. Erhöhte Fähigkeit zur Mitteilung übersetzt sich in der Natur des Erkennens als eine weitere Fähigkeit des Unterscheidens. Aus der Reflexion erfahren wir die Auseinandersetzung des Wissens von der Anlage her einge­ grenzt. Indem sich aber nun der Inhalt, die vorgestellte Seite selber als in sich unterschieden erweist, so ergeben sich von daher immer erneut die Möglichkeiten einer zunehmen­den Mitteilung als sich vertiefende Unterscheidung. Erkennen zeigt sich schlichthin als das Vermögen der Unterscheidung, und Selbsterkennen ist nur möglich, indem Erkennen von sich Abstand nimmt. Es schlägt sich zum Anderen. Damit ist eine Gleichung gegeben, um Bewusstsein und Wirklichkeit näher zu bestimmen. Widersprüche aber lassen sich durch neue Unter­scheidungen einlösen. Eine Unterscheidung, welche in dem Maße absondert, wie sie das Andere durchdringt. Es fehlen uns die Worte, um das Wi­ derspruchsvolle des Verhältnisses auszudrücken, denn man möchte es immer als ein seiendes Verhältnis bestimmen. Aber wir haben bis jetzt nur zwei Elemente dazu, und diese gilt es aneinander zu bestimmen. Hier wird uns aber auch in ein­ drucksvoller Weise klar, dass etwas fehlt, ein Bestimmungs­ stück mit neuem Inhalt. Denn eine Gleichung und zwei Unbe­kannte ergeben keine Lösung für uns. Da es in der Mathematik um einschichtige Verhältnisse geht, kann man diese einfache Tatsache wenigstens in unsere philosophische



§ 24  Unterscheidung und Verselbigung151

Ausgangslage übertragen, wo die anfänglichen Elemente aber verschiedene Grundinhalte aufweisen. Was wir damit zeigen möchten, ist doch Folgendes: Es ist gerade jener Bewusstseinsbegriff, der in der Reflexion sich in letzter Unmittelbarkeit einholen möchte, welcher sich in die Ausweglosigkeit einer Gleichung mit zwei Unbekannten setzt. Denn er nutzt den neuen Inhalt, der von der anderen Zone angeboten wird, nicht aus. Um näm­lich den festen Punkt des Archimedes zu finden, wird das Ei­gentümliche der anderen Zone unterdrückt und mit hineinge­zwängt in die scheinbare Klarheit der Selbstvorstellung der Reflexion. Das so gewaltsam Verselbigte macht sich dann als vorgelagerte Willenszone wieder frei und lässt sich dann in Analogie oder parallel in die Gesamtvorstellung des Bewusst­seins einbauen. Der ganze Irrtum des Transzendentalismus wird hier aufgedeckt; die unsägliche Verarmung seines Seins- und Bewusstseinsbegriffs ist daraufhin zurückzufüh­ren. Hier liegt die unbewältigte Vergangenheit der Philo­­ sophie.

2. Intentionalitas und Identitas Um es noch einmal zu sagen: In der Wildnis gilt, wer das An­dere frisst, ist das Überlegene. Im Erkennen gilt, wer das An­dere in den Unterschied zwingt, macht es zum Unterlegenen. Es ist klar, dass wir diesen Vergleich nur in sprachlicher Aus­schmückung annehmen dürfen, denn anders würden wir in uner­ laubter Weise unseren Kreis verlassen und eine Seinssetzung hätte sich eingeschlichen. Es ist aber gerade die Nahrungs­ aufnahme, die zum Eingang in das schwer zugängliche, unterir­ dische Gemüt wird, und hier dürfen wir dennoch anfangen, weil es die unmittelbare Erfahrung meines Selbst angeht. Die Ver­ schiedenheiten zwischen Gemüt und Erkennen springen nirgendwo so unverdeckt ins Auge wie hier; anscheinend liegt es aber unter der Ebene der Philosophen hier anzusetzen. Unser Unternehmen findet hier schon seine vollendete Recht­ fertigung. Der Versuch, Erkennen insgesamt als reines Schauen abzugrenzen, lässt sich hier begründen; und daher ist die zweite Einsicht des Selbstbewusstseins nicht weniger unmittel­bar als die erste. Ich habe deshalb zum Nahrungsmittel eine neue Beziehung, die rein erkenntnismäßig gar nicht ablesbar ist. Während nun die unterschiedene Beziehung in Ecken und Kanten, in festen, unverrückbaren Fugen in den Plan des Er­kennens eingebaut ist, erweist sich derselbe Gegenstand als Genussmittel in höchstem Maße wankelmütig. Es ist aber gerade­zu gleichgültig, wer hier der Wankelmütige ist, ich oder der Gegenstand. Denn der Unterschied hält sich ausschließlich im Erkennen, was uns aber kaum bewusst wird. Ich habe ein Bedürf­nis nach der Speise vor mir. Allein der Wandel bin ich selbst. Auch diese Verfassung und alle ihre Wankelmütigkeiten kann ich nun zum Gegenstand meiner Reflexion

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3. Teil, 1. Kap.: Versuch einer ersten Abgrenzung

machen, um gleich festzustellen, dass mir alle Mittel fehlen zur Beschreibung, die mir bis hierher zur Verfügung standen. So hilflos ich auch dastehe, um die neue Gegebenheit darzustellen, ich se­he jedenfalls, dass sie von völlig anderer Art oder Gründung ist. Wenn ich diese Gegebenheit als anderen Richtungsstrahl in die Reflexion einfüge, sie dann als „Willensinten­ tio­na­li­tät“ oder als „Triebintentionalität“ be­zeichne, habe ich vielleicht die Gelegenheit schon vertan, diese Zone in ihrem Ureigentlichen aufzuspüren. Dennoch bleibt uns nichts anderes übrig, als das neue Ver­hältnis mit den allgemeinsten Bestimmungen des alten Verhält­ nisses irgendwie auszudrücken. Was mich irre macht, ist die Feststellung, dass ich mir meines Innenlebens in der Reflexion bewusst bin. Was ich in die Unterscheidung zwinge, ist unter­legen; also bleibt die Reflexion das letzte Absolutum meines Selbstbewusstseins. Aber wo bleibt der Unterschied? Ich zwinge es gar nicht in die Vorstellung, das Andere aber habe ich nur in der Vorstellung. Nun ließe sich sa­gen: Dieses Selbst ist das eigentliche Absolutum, aber es ist doch ein und selbig mit der Reflexion. Dann stehen wir wieder in der einen Gleichung mit den zwei Unbekannten. Es hilft da­her alles nichts, wir müssen die Einheit des Selbstbewusst­seins als Einheit aus zwei Gründen annehmen, und sie begrün­ det die Einheit. Die Verfassung, die sich immer erneut ins Unfassbare entzieht, wollen wir an der Nahrungsaufnahme greif­bar werden lassen. Es ist offensichtlich nicht Erkennen, welches die Nahrung aufnimmt, auch wenn das Erlebnis in ihm vorstellig werden muss. Ich habe den Genuss im Geschmack, und darin ist er Unter­schied irgendwie. Aber so wäre er dennoch nur Unterscheidung. Die Nahrungsaufnahme geschieht im Gemüt, und hier gibt es keinen Unterschied. Die Nahrung, der Genuss, das Gemüt, dies alles ist Selbst, also Verselbigung. Was immer hier sich ent­falten möchte, ist bereits um seine Unmittelbarkeit gebracht. Aber Bewusstsein ist nun einmal wechselseitige Bedingung, be­dingte Unmittelbarkeit. Wir haben ein Erzeuger-Ich, das nur unterscheiden kann, und so kommen wir zu der Einsicht, mit der wir arbeiten müssen: Das Gemüt hat nur Verselbigung und keinen Unterschied an sich; das Erkennen hat nur Unterschei­dung und kein Selbst an sich. Damit haben wir immerhin eine Formel gefunden, die uns Einblick verschafft, dass Gemüt und Erkennen sich gerade in ihrer Gegensätzlichkeit zur Einheit des Selbstbewusstseins zusammenstücken. Erkennen durchdringt auch das Gemüt, anders ist es sich des­sen nicht bewusst. Aber Erkennen ist auch vom Gemüt getragen, und dies entspricht dem Durchdrungensein. Darin schirmt sich das Gemüt von allem rein Vorstellungsmäßigen ab, denn letzte­ res bleibt eine bloße Vorstellung ohne Tragegrund. Damit ist im Selbstbewusstsein eine grundsätzliche Scheidewand gegeben. Mit dieser Aufteilung des Bewusstseins müssen wir nun auch In­tentionalitas einengen. Es ist eben nicht so, dass Bewusstsein und



§ 24  Unterscheidung und Verselbigung153

Intentionalitas inhaltlich völlig ineins gehen. Damit sind wir aber keineswegs genötigt, jenen Anteil, der nicht Intentionalitas ist, als Unterbewusstsein abzudrängen. Dies wäre freilich nur ein Rückfall in das Monopol der Intentiona­litas. Gewiss gehört das Unterbewusstsein nach allen Anzeichen in die Gemütszone, aber so einfach dürfen wir es uns auch nicht machen, dass wir nun das Gemüt mit dem Unbewussten oder dem Unterbewusstsein verselbigen. Gemüt liegt offen zutage, weil es ja im Erkennen gegeben ist, während das Unbewusste so gesehen zwar zum Bewusstsein als Gegenstand der Philosophie gehört, jedoch nicht zur ursprünglichen Erfahrung des Bewusst­ seins. Die Unterscheidung liegt deshalb nicht nur im Inhalt, der verschiedene Inhalt wird zur grundsätzlich verschiedenen Weise des Gegebenseins. Für den anderen Bewusstseinsbegriff muss Gemüt auch irgendwie Intentionalitas haben, wie die Be­zeichnung „Triebintentionalität“ und „Willensintentionalität“ verrät. Den Nerv des Gemütes treffen wir aber nur, wenn wir ihm in seiner Ursprünglichkeit zwar Identitas, nicht aber In­ tentionalitas zuerkennen. Wir haben es also mit einem principium intentionalitatis und einem principium identitatis zu tun, und das Gemüt ist dann in die Intentionalitas in einer eigenartigen Weise „gegeben“. Denn gegeben ist etwas nur im Erkennen, dem Gemüt ist alles selbig, ihm kann Intentionalitas ursprünglich nicht zukommen. Wir scheuen uns dann auch nicht, die folgerichtige Bestimmung weiter zu ziehen. Es ist eben auch nicht so, dass die Reflexion zum principium identitatis gesetzt werden müsste, wie jener Bewusstseinsbegriff meint vertreten zu müssen. Wir dürfen des­halb ruhig dafürhalten, dass der Verstand zum Kern des Selbst­bewusstseins nicht mehr beizutragen hat als die Erin­nerung. Die Einseitigkeit des Bewusstseins in der Intentiona­litas kommt in Husserls „Ego“ selbst in eine unerträgliche Spannung, wo die Wahrnehmung als reines Schauen die Beziehung auf das Ich unterlassen soll.2 Unserer Auffassung kommt aber dieses Ideal nur gelegen und entgegen, und sie ist nur vorbe­reitet, um die Spannung zu lösen. Setze ich aber Intentiona­ litas und Identitas gleich, so entziehe ich dem phänomenolo­gischen Ideal auch wieder den Boden.

3. Die Perichoresis von Sein und Erkennen Wir haben nun zwei Bestimmungsstücke an der Hand, die zu ei­ner vertieften Sicht des Bewusstseins führen. Gemüt und Erken­nen ergänzen sich in einer Perichoresis, wobei die Anteile unvermischt und ungetrennt inein2  Vgl. „Idee d. Phänomenol.“ S. 75, 33 u. S. 44, 35. Vgl. a. „Ideen 2“. Sinnliche Lust und Schmerz gehören nicht in den Bereich des eigent­lich Ichlichen. S. 212, 15. Aber das Ich der Intentionalität muss den­noch das Ich der Identität sein. S. 215, 16.

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3. Teil, 1. Kap.: Versuch einer ersten Abgrenzung

ander sind. Dieses Verhältnis wird aber noch darin inniger, dass sich hier gegensätzliche Elemente verweben; denn anders hätten wir eine Verdoppelung von Wirklichkeiten, oder wie immer man es nennen soll, im Be­ wusstsein, und die Einheit wäre wohl so gar nicht geleistet. Es ist nötig, dass man sich von einem bewussten oder unbewussten Eindruck freimacht, wonach eben das Gemüt seine den Gegen­ständen entsprechende „Gegebenheit“ zusätzlich zum rein Ver­ standesmäßigen habe. Dabei verlagert sich dann das Sinnliche noch beträchtlich ins Gemüthafte, so als sei die innere Aus­einandersetzung erst eine Angelegenheit der höheren geistigen Vermögen. Als Zeugen für dieses Modell von Bewusstsein darf man des Aristoteles’ Schrift „Über die Seele“ angeben.3 Auch Kant fördert diese Vorstellung in der „Kritik der Urteils­kraft“.4 Das Verhältnis des Bewusstseins erklärt sich also dahin: Das „Ich denke“ hat zwar das „Ich bin“ als Vorstellung, aber es kann nur von einem „Ich bin“ getragen sein. Das „Ich bin“ er­fährt sich im „Ich denke“ als ein Selbst, aber nur im „Ich bin“ ist die prima causa des Selbst. Damit taucht jetzt ein fester Seinsgrund auf, jedoch gerade nicht, weil ich denke, wie Descartes meint, sondern eher umgekehrt: Weil mir dieses Sein als Gemüt eben anders „gegeben“ ist als die Vorstellun­gen, worin sich sofort das Sein verflüchtigt. Mein Gemüt ist das Sein. Aber ist dieses Gemüt nun die geheime Werkstatt meiner Vorstellungen? Wenn Gemüt und Erkennen sich in ihrer Gegensätzlichkeit zur Einheit des Ich verfügen, und wenn Ge­müt nicht einfach das Unterbewusstsein ausfüllen soll, dann haben wir uns an dieser Frage nicht mehr länger aufzuhal­ten. Aus unserem Kreis oder aus unserer Epoché sind wir nicht im geringsten hinausgekommen, aber das Bewusstsein setzt sich in sich selber auseinander. Darüber hinaus können wir nichts erwarten, darin nun aber können wir doch alles erwarten. „Ich“, diese nahtlose Einheit, kann mich nun in meinem Be­wusstsein wie in einem Gehäuse umherbewegen, und ich erfahre mich ständig in zwei allgemeine Bezüge hineingespannt, die in sich je verschieden sind. Was mir im Erkennen gegeben ist, unterscheidet sich auch im Gegebensein. Was mir im Gemüt ge­ geben ist, das bin Ich, und es unterscheidet sich überhaupt nicht von mir. Sinnliche Lust, sinnlicher Schmerz, geistige Freude und Lust, geistiger Schmerz, dies alles erfahre ich in einem Gemüt, das in sich nicht ausgefächert ist wie Erkennen. Das Gemüt ist ein einziger Ich-Strang der Erfahrung, und al­les, was sich unterscheidet, erhalte ich aus der Vorstellung. Allein das „Ich bin“, welches auch im „Ich erkenne“ gegeben ist, wird mir zur Grenzscheide für zwei grundverschiedene Er­fahrungen. Das Ich kann 3  Vgl. Plato metaphysicus § 15; s. Aristoteles, Über die Seele. 413 b 20; 414 a 30 ff.; 429 a 29 ff.; 432 a 20. 4  § 31, v. a. aber: Grundlegung z. Metaph. d. Sitten, 3. Abschn., [451–455].



§ 25  Das Bewusstsein als Drei-in-Einheit; die Wege der Mit­teilung155

sich wie ein Punkt im Raume umherbe­wegen, indem es seine Gegenwart verlagert. Erkennen ist neu­gierig, denn es vermag sich in alle seine Beziehungen einzeln hineinzuversetzen. Aber dieses Ich macht noch mehr die be­drückende Erfahrung, dass es umhergetrieben wird und dass es sich in die Tiefen des Gemütes geworfen vorfindet, wo es gar nicht hin möchte, und das Erkennen erweist sich als Ohnmacht, um es emporzuheben. Unter der Schwelle des Erkennens entdeckt das Ich das Seien­de. Aber das Ich verfügt nicht über das Seiende, das Seiende verfügt über das „Ich denke“; darum ist das Ich verfugt. Er­kennen ist dabei das zeitlos Unbewegte, das geradezu Leblose, welches nur am Gemüt sein Leben erhält. Es ist aber auch nicht der Wille, welcher sich als Principium des Ich-Seins erfährt; dieser Wille scheint doch auch nur an der Oberfläche des Gemütes zu schwimmen. So erfährt denn das Bewusstsein am Gemüt sein bedingtes, aber gewisses Sein, welches jedoch mehr bedürftig als überquellend, mehr getrieben als gebietend sich umherbewegt.

§ 25  Das Bewusstsein als Drei-in-Einheit; die Wege der Mit­teilung 1. Unmittelbare Einsicht und unmittelbare Gewissheit; Wahrneh­mung und Innewerden Mit dem Gemüt liegt die eigentliche Seinserfahrung vor. Die­ses Seiende ist zwar das große Unbekannte, weil es noch völ­lig inhaltlos bleibt, aber es erscheint nicht, es hat die Er­scheinungen. Indem es die unmittelbaren Einsichten miterlebt, indem es aber auch den Zweifel und die Ungewissheit miterlebt, ist es sich über die vermittelte Erkenntnis dennoch in einer unmittelbaren Gewissheit gegeben. Es wird daher nötig, dass wir die unmittelbare Gewissheit von der unmittelbaren Einsicht ab­setzen, denn sie unterscheiden sich doch in verschiedenen Kennzeichen. Die Einsicht hält sich rein in der Beziehung von Vorstellung und Vorgestelltem, alles Erlebnismäßige hat hier keinen Zutritt, so dass eine rein erkenntnismäßige Begegnung vor sich gehen kann. Diese unmittelbare Einsicht erfährt im Erkennen eine notwendige Erweiterung, da die Vermittlung des Vorgestellten in der Anlage Erkennen zur Natur der Erkenntnis gehört. Eine solche Erweiterung darf sich freilich nicht sei­tens des Vorgestellten einschleichen, da sonst am Ende allen Mutmaßungen und Überlegungen wieder die Hintertüren geöffnet würden. Der Inhalt des Gegenstands muss zu Beginn scharf um­rissen und gegeben sein, sei es ein angeschauter, erinnerter oder nur gedachter. Natürlich muss auch bei der notwendigen Vermittlung des Gegenstands die Tätigkeit des übernehmenden Erkenntnisvermögens eindeutig bestimmt sein.

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3. Teil, 1. Kap.: Versuch einer ersten Abgrenzung

Dass hier bereits der Streit beginnt, ist leider eine Tatsache. Grundsätzlich sollte man jedoch der Unmittelbarkeit nicht jeden Übergang absprechen, da sonst die alltägliche Erkenntnis schon ad ab­surdum geführt werden kann. Die unmittelbare Einsicht kann ja nicht dadurch unterbrochen werden, dass beim Begriff des Art­gleichnisses am Arteinzelnen zahllose Begegnungen im Erkennen als Beispiele dienen. Auch Gattungsbegriffe können sich so auf unmittelbare Einsicht berufen: Ich sehe Häuser, Türme, Brücken, Mauern. Diese sind Gebäude, aber keine Fahrzeuge. Die unmittelbare Einsicht kann nicht bezweifelt werden. Von dieser Mitteilung muss die unmittelbare Gewissheit völlig getrennt werden, wie sie in Bezug auf unmittelbare Einsicht überhaupt nicht ernst genommen werden könnte. Hier kann ein Dickicht von Erfahrungen dazu beitragen, dass sie allen Er­scheinungen zum Trotz immer fester wird. Mag sie so mehr für die Mystik als für die Erkenntnislehre von Wert sein, wir müssen sie als eine Grundgegebenheit des Bewusstseins nach ih­ren Erfahrungsquellen untersuchen. Für unser philosophisches Bewusstsein in der Epoché ergibt sich also, dass mir Sein in der unmittelbaren Gewissheit ansteht, und zwar so, dass ich je­ne Unterscheidung oder Entscheidung, die ich in der „trans­zendentalen Reduktion“ nicht leisten kann, unterlaufen habe. Damit habe ich freilich kein Land unabhängig von meinem Be­wusstsein gewonnen. Aber innerhalb des Bewusstseins beginnt ei­ne Auseinandersetzung, und mehr dürfen wir auch nicht er­war­ten. Mit dem Bezug „Gemüt“ habe ich also etwas, das ich „Sein“ nenne oder „Ich bin“, und ich darf es von meinem Denken, so­gar von der Reflexion, die ja auch nicht erscheint, noch ab­setzen. Mit dieser Scheidewand, die ich natürlich auch im Er­kennen erfahre, stellt sich meinem Ich das Bewusstsein als Drei-in-Einheit vor. Ein Dreiecksverhältnis liegt vor, die Untersuchung der Wege und Weisen der Mitteilungen verheißen mir aufschlussreiche Einsichten. Denn Einsichten müssen sich ergeben, weil ich mit Gewissheiten nichts anfangen und nichts beginnen kann. Die Dreiheit ist damit gegeben, dass Erkennen sich als Zweiheit von Erkennen und Erkanntem vorgestellt hat, und nur deshalb war überhaupt ein Anfangen möglich gewesen. Während nun Erkennen in einer Zwiesprache mit seiner eigenen Vorstellung sich erschließen konnte, zeigt sich jetzt das Neuartige, dass Erkennen am Gemüt überhaupt keine Rückschlüsse mehr in Form von Inhalten erhält. Hiermit ergibt sich eine einzigartige Bestimmung: Erkennen ist nicht Gemüt. Der Hun­ ger, die Lust, der Schmerz usw. haben im Erkennen nicht ihren Ursprung und Sitz. Aber Erkennen erfährt nur eine Verneinung; irgendwelche Rückschlüsse auf sich, so wie aus seinen Vor­ stellungen, lassen sich hier anscheinend gar nicht ableiten. Es ist so, als ob Erkennen sein Gemüt immer im Rücken anwe­send habe und es niemals in die Vorstellung zwingt. Es er­scheint nicht.



§ 25  Das Bewusstsein als Drei-in-Einheit; die Wege der Mit­teilung157

Wie kommt es aber dann zu den Unterschieden im Gemütsleben, die doch offensichtlich ans Licht treten und mir unmittelbar gewiss sind? Die Verneinung, welche Erkennen am Gemüt in Bezug auf Rückschlüsse auf seine eigene Gestalt oder Natur erfährt, zeigt sich jetzt als Umkehrung in einer neuen Bestimmung: Das Gemüt erlebt sich im Erkennen als in sich ununterschiedenes Selbst: Es ist indistinctum in se. Darin unterscheidet es sich grundsätzlich vom Erkennen, welches in sich reich ge­gliedert ist. Dieses hat allein fünf Sinne! Wir sprechen von einem reichen und hochentwickelten Gemütsleben, und hier scheint doch ein Widerspruch vorzuliegen, so dass sich das Gemüt als eine weit mehr gefächerte Anlage zu erkennen gibt. Wir dürfen uns indes nicht täuschen lassen. Dieses Gemüt er­lebt alles aus einer Herzmitte, und was sich unterscheidet, findet sich im Erkennen. Darin aber liegt nun das Rätsel. Die Erlebnisse des Gemütes müssen ihm irgendwie aus dem Erkennen vermittelt widerfahren, denn ohne Erkennen kann nichts bewusst sein. Ziehen wir die Anlagen des Erkennens heran, so wie wir es bisher bestimmt haben, so machen wir eine merkwürdige Feststellung. Es bleibt völlig im Dunkeln, wie die Gemütsin­halte in ihrer Eigenart im Erkennen zur Vorstellung kommen sollen. Bisher lernte sich Erkennen an seinen Vorstellungen selber kennen; am Gemüt erfährt es nichts über sich, so haben wir es festgestellt. Was Kant die „Selbstanschauung des Gemü­ tes“ nennt, kann für uns nur die Selbsterfahrung des Gemütes am Erkennen sein. Das Gemüt verfügt auch nicht über eine Selbstanschauung in Bezug auf seine ursprünglichsten Regun­gen. Es müsste demnach eine Gemütserkenntnis geben, und was wir am Gemüt als Besonderheit festgestellt haben, dies müsste eben die Gemütserkenntnis in Allgemeinheit betreffen. Die Gemüts­erkenntnis kann gar keine innere Unterscheidung haben, wenn in ihr die in sich ununterschiedene Einheit des gemüthaften Selbst sich bewusst wird. Die Verneinung, welche Erkennen am Gemüt erfährt, ist zumindest eine Unterscheidung, und nur diese Unterscheidung ist Voraussetzung für das Selbsterleben des Gemütes. Es hat keine Gegenstände, es erlebt immer nur sich in völliger Selbstbezogenheit am Erkennen, und darin bleibt nun auch es ein vermitteltes. Ihm erscheint nichts, es erlebt nur sich. Während dem Erkennen eine Weltvorstellung als Fremdheit erscheint, erlebt das Gemüt nur sich selber am Erkennen. Wir können es auch so vertreten: Erkennen begegnet dieser Vorstellung als einer Fremde, weil das Gemüt über Er­ kennen sich von ihr abgesondert erlebt. Wenigstens lässt sich dieses Verhältnis dahin bestimmen: Es ergibt sich ein Drei­ eck, worin jedes Ur-Teil dem anderen UrSprung und Ur-Sache ist. Dem Gemüt eignet besonders die verborgene Tiefe, weil es nicht erscheint; der Weltvorstellung ist es eigen im hellen Licht zu erscheinen; Erkennen aber steht als allseitiger Ver­mittler auf dem Plan.

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3. Teil, 1. Kap.: Versuch einer ersten Abgrenzung

Wenn wir das Gemüt als den Quellpunkt des Seins festlegen möchten, so liegt dieses Sein in einer unmittelbaren Gewissheit dessen, was wir Gemütserkenntnis nannten. Dieses Ver­hältnis ist ein Innewerden, weil es ohne die vorgestellten Erscheinungen dem Erkennen angeschlossen ist. Das Gemüt er­ lebt sich am Erkennen in sich selber, und es erfährt dieses Erkennen als völlig gestaltlose Vermittlung. Nichts deutet hier auf einen Vergleich, und daher gibt es hier weder eine Gleichnisbildung noch eine Abstraktion, auch keinen Gattungs­begriff. Ich bin mir meines Gemüt-Seins im Innewerden am Er­ kennen unmittelbar gewiss, weil das Selbst überhaupt nicht aus sich hinausgeht und alles Erscheinende nur als Umwelt äußere Bedingung bleibt. Im Unterschied zu dem Innewerden erfährt die Wahrnehmung ein erscheinendes An sich, welches sich in seiner Gestalt als Entsprechung der in sich gegliederten Vor­stellung ausgibt. Hier liegen die Dinge also umgekehrt. Er­kennen enthüllt sich selber erst am Fremderscheinenden, wäh­ rend es dabei sein Selbst auch erst am Gemüt entdeckt. Indem es so erst an der Wahr-Nehmung des Fremden zum Vergleich, al­so zum Selbsterkennen (nicht Selbst-Erkennen) kommt, hat es die Erscheinung des An sich naturhaft wie einen Instinkt in sich. Allein dieses Verhältnis wird aus der ersten Grundein­sicht des Selbstbewusstseins auch wieder umgekehrt gesehen. Das erscheinende An sich der Fremdvorstellung ist Erkennen an sich selbst. Was aber bleibt, ist die Fremdvorstellung als ursprüngliche Bedingung des Selbstvergleichs von Erkennen, weil es eben am Gemüt, dies ist das Sein, nichts über sich erfährt. Aus dieser Skizze des Verhältnisses entnehmen wir den Grund des Zweifels, das Dafürhalten zum „transzendentalen Schein“. Wenn dieses Fremdgegebene in seinem unausrottbaren Anspruch zum An sich wirklich unabhängig von Bewusstsein gesetzt sein sollte, so hat es doch überhaupt nichts gemein, nichts zu tun mit dem mir selbst gewissen Sein, das ich aus meinem Gemüt erlebe. Hier ist jeder „transzendentale Schein“ ausgeschlos­sen, weil das An sich doch völlig im Selbstanspruch bleibt. Es wird mir jetzt klar, dass ich im Vergleich des Erkennens zwischen Noesis und Noema, zwischen Vorstellung und Vorge­stelltem, grundsätzlich niemals herauskommen kann, es sei denn in der Vertrauenshaltung, weil kein logischer Wider­spruch vorliegt und die Erfahrung immer nur beglaubigt. Im Zuge die­ses Einblicks bemerke ich die tiefe, unüberbrückbare Kluft zwischen Gemüt und Fremdgegebenheit und die zu lei­stende Auf­gabe, vor die sich das Bewusstsein gestellt sieht. Die dritte Einsicht des Bewusstseins kommt nun zum Zuge. Be­wusstsein ist immer offen in der Frage, und es will den Fragenkreis schlie­ßen im Kreislauf des Dreiecksverhältnisses. Denn die Frage selber enthüllt sich als die Grundverfassung des Dreiecksver­hältnisses von Bewusstsein. Die Aufgabe gibt unserer Untersuchung nun Ziel und Richtung. Die Kluft zwischen Gemüt und Fremdgegebenem muss durch nähere Angaben irgendwie überbrückt werden.



§ 25  Das Bewusstsein als Drei-in-Einheit; die Wege der Mit­teilung159

2. Das Bedürfnis, die Not-Wendigkeit und die Frage; der Zweck als Verselbigung Das „Ich bin“, welches das Sein ist, erlebt sich als eine Fülle von Bedürfnissen, die es absondern von den fremden Er­scheinungen. Diese sind verschlossene Gestalten ohne Bedürf­ nisse, es ist Bedürfnis ohne Gestalt. Aus dem wandellosen Pol des Ich erlebt es sich unruhig ständig umhergetrieben. Am Bei sich erfährt es sich not-wendig nach außen angewiesen. Es wä­re vielleicht schön, wenn dieses Selbstbewusstsein nur „zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt“ wäre, doch hier ist jede Täuschung ausgeschlossen; dies genügt nicht. Die Frage stellt sich also mit dem Bedürfnis ganz von selber, und jetzt bedarf es keines längeren Hinterfragens in Form ei­nes umständlichen Drumherum-Redens. Die Frage entspringt dem Gemüt aus Bedürfnis, inne wird sie sich im Erkennen, not-wen­dig muss aber dieses nach außen zur Erscheinung. Aber Erkennen hat an sich kein Bedürfnis, daher keine Not. Notwendig ist es also nur in seiner allgemeinen Rolle der Vertretung des Gemütes. Erkennen vermittelt erst dem Gemüt sein Bedürfnis in der Gemütserkenntnis, und Erkennen hat darin keinen Eigenbe­darf. So erfährt es auch nichts über sich am Gemüt, und letz­teres erlebt sich nur als Pol von Bedürfnissen, die aber nun merkwürdigerweise am Mannigfaltigen der Erscheinungen sich selber entdecken. Das Gemüt entdeckt sich an den Erscheinun­ gen in seinen Bedürfnissen, jedoch nur über das an sich be­ dürfnislose, ja selbstlose Erkennen. Erkennen als Vertretung und Vermittlung, deutlicher kann sich seine Rolle nicht mehr abzeichnen. Fragen wir nun, wem Erkennen zusteht, dem Gemüt oder der Erscheinung, so ist die Antwort schon gegeben: Wir befinden uns im urgegebenen Dreiecksverhältnis Bewusstsein. Das Bedürfnis kann den Zweifel an der Erscheinung für sich nicht aufrechthalten, es muss not-wendig die Erscheinung an­nehmen. Die Frage ergeht an die Reflexion, und zweifelsohne liegt hier die Mitte aller Vermittlung. Nur die Reflexion ver­mag Selbsterkenntnis einzuholen, weil sie allein die ande­ren Weisen befragen kann. Befragen aber kann die Reflexion, weil sie die Gemütserkenntnis ebenfalls trägt. Hier also ruht der Kern aller Vertretungen in einer teilnahmslosen Mittei­lung, so dass ein geradezu widersprüchliches Verhältnis offen­bar wird. Die Reflexion wird allgemein als der Kern des Selbstbewusstsein aufgefasst, und sie ist es in der Tat als Mitte des „Ich bin“. Aber dieser Mittelpunkt ist eine Verfu­gung, weil die Reflexion selbstlos den Nerv des gemüthaften Selbst in sich bewusst macht. Dieses „in sich“ bezieht sich begrifflich auf die Reflexion wie auf das Gemüt, dennoch dür­fen sie begrifflich und functionaliter nicht verselbigt wer­den. Die Reflexion erfährt am Gemüt ihr selbst, darin erfährt sie freilich nichts

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3. Teil, 1. Kap.: Versuch einer ersten Abgrenzung

aus sich. Das Gemüt erlebt aus der Reflexion sich selbst. Selbstbewusstsein ist ein aus Ur-Teilen ver­fugtes Absolutum, es ist als bedürftiges auch kein Absolutum. Eine Skizze liegt nun vor, mehr ist es nicht, wonach sich Be­wusstsein in Form einer Dreieinigkeit auftut. Es lässt sich Er­kennen auch als Achsenpunkt angeben, indem es nach dem Gemüt und nach der Erscheinung hindeutend vermittelt. Dazu gehört dann auch das Vergleichen in der Form, dass sich die Seiten ineinandersetzen. Das Gemüt erlebt sich in der Erscheinung, es sucht Gleichnisse von übertragener Bedeutung, die nicht in den Rahmen der Arbeitsformen des Erkennens gehören. Ein Hin­übersetzen und Herübersetzen spielt sich ständig ab. Wir ha­ben diese verwickelten Vorgänge hier im einzelnen nicht zu untersuchen, da wir noch viel zu sehr in grundlegenderen Ver­hältnissen aufgehalten sind. Tatsächlich „dreht sich alles“ um Erkennen, weil von ihm immer wieder der Aufschluss ausgeht, und wir können uns nicht einfach der Erscheinung an sich wid­men, weil wir dann unseren Leitfaden verlieren würden. Am Er­ kennen sind wir indes unsicher geworden, indem wir eine Ge­mütserkenntnis annehmen müssen, die sich dem Gemüt anpasst, so wie sich die andere Seite der Erscheinung anpasst. Der Gedanke legt sich nahe, Erkennen als das völlig Gestaltlose aufzufassen, welches gerade so jeder Seite alles werden kann, weil es aus sich nichts hinzufügt. So bestechend dieser Gedanke sich auch anbietet, so zerstörend droht er aber auch unserer Werkform, die wir am Erkennen abgelesen haben. Denn die Un­terscheidung zwischen der Reflexion und ihrer vorgelagerten, verzweigten Anschauung trägt gleichsam als Fundament die Un­tersuchung. Es gehört zum Stand der Dinge, dass wir das Ver­hältnis so stehen lassen müssen. Wir dürfen die Erscheinung als die Vorstellung des Erkennens auffassen, dann spiegelt sich an ihr dessen innere Gliederung. Wir dürfen aber auch Erkennen als Angleichung ansehen, dann geht die Gliederung von der Erscheinung aus. Das Dreiecksverhältnis bringt es mit sich, dass wir keinen vorrangigen Angriffspunkt setzen können. Allein an diesem schauenden, abgesonderten und ausgeglichenen Verhalten meldet sich das Bedürfnis an, und es fällt doch ir­gendwie heraus, indem es Bewegung hineinbringt. Auch hier verlangt es der Einheitspol „Ich bin“, dass wir Frage und Be­dürfnis noch gar nicht auseinandergesetzt verstehen dürfen. Frage ist Bedürfnis, Not-Wende aus Erkennen, erst im Erkennen treten also Frage und Bedürfnis auseinander. Da sich als Um­riss des Gemütes bisher nur die Verselbigung abgezeichnet hat, so muss diese mit der Bewegung, welche aus dem Bedürfnis auf­getaucht ist, in Betracht kommen. Der vornehmen Gelassenheit des Erkennens, die nichts zu verändern trachtet, läuft aber auch hier das Gemüt in seiner Gegensätzlichkeit schroff zuwi­ der. Denn Bedürfnis strebt, an sich zu reißen und spürt nur Verselbigung. Bedürfnis will Stillung, und diese geschieht in der Vernichtung des Gegen-



§ 26 Allgemeines Grundbefinden des Gemütes; Sein als Dasein161

stands, des Unterschieds am Selbst. Dem gelassenen, zweckfreien Schauen steht also ein zweckmäßi­ ges, räuberisches Beuteschlagen entgegen, und darin haben wir das Seiende entdeckt. Am Gemüt offenbart sich ein völlig neuer Zug, der aber mit hinein in die Dreieinigkeit gehört, nicht weniger urgegeben als das reine Schauen. Das Bedürfnis und die Verselbigung er­ geben einen ganz anderen Schluss als jenen, den wir an der Reflexion festgestellt haben. Diese versetzt sich in die Vor­stellung, um den Unterschied gerade in sich oder an sich er­scheinen zu lassen. Der Zusammenschluss der Reflexion lässt die Erscheinung als vertieften Unterschied bestehen. Der Schluss erkennt nur die Einheit der Ordnung in beiden. Das Gesetz der Reflexion ist das Gesetz des Unterschiedenen. Es ist zwar das­selbe Gesetz, aber die Verselbigung zwischen der Reflexion und dem Erschlossenen taucht nie auf. Betrachten wir das Verhält­nis rein in sich, so tun wir gut daran, den Zweck noch gar nicht zu sehen, es sei denn, wir bezeichnen das reine Schauen schon als Zweck. Die Eigenart des Zweckes geht am Gemüt auf, indem dessen „Zu­sammenSchluss“ die Verselbigung erstrebt. Der Zweck ent­hüllt sich als „Zuweg“ in der Ausführung. Schon die Bewegung des Raumes will die Verselbigung des Ortes.5 Das Gemüt bewegt sich aus seiner Not heraus, es fragt Erkennen um den Weg, wenn es ihn nicht gewohnheitsmäßig geht. Aber was für die Reflexion der Schluss, ist für das Gemüt der Zweck. Was für Er­kennen der Unterschied, ist für das Gemüt die Verselbigung. Das Bedürfnis erlebt sich am Schauen, das Schauen erfährt sich als Bedürfnis. Allein das bedürftige Gemüt ist seiend.

§ 26  Allgemeines Grundbefinden des Gemütes; Sein als Dasein 1. Dasein als Zeit Es besteht die Möglichkeit, die Eigentümlichkeit des Gemütes noch ein wenig weiter auszuleuchten, ehe wir fortfahren, den Zusammenhang zu erschließen. Also wollen wir nicht ver­säumen, dies hier zu tun. Dem Gemüt eignet eine Grundverfassung, die nun als ein zweck­ freies Bett alle Bedürfnisse erst entspringen lässt. Es ist das Flussbett der Zeit. Flussbett und Fluss zugleich. Allein dieser seltsame Widerspruch ist hier nicht aufzuklären, da ihn das Gemüt nicht auf sich zu nehmen hat. Wir 5  Diese Aussage ist hier allerdings ein unerlaubter Schluss vom Gemüt auf die Erscheinung. Sie ist also übergreifend.

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3. Teil, 1. Kap.: Versuch einer ersten Abgrenzung

haben aufge­zeigt, dass die Ratlosigkeit in Bezug auf die Zeiterkenntnis, das Widersprüchliche eines zeitlosen Zeitsinnes, auf Kosten des anderen Bewusstseinsbegriffs geht, indem dieser nicht sorgfältig genug zwischen Gemüt und Erkennen unterscheidet.6 Die Zeit dringt aus den Poren des Gemütes, es ist die unter­ ste und allgemeinste Schicht seines Erlebens. Das Zeitbefin­den wird daher zum Dasein des Gemütes schlichthin; was dabei auffällt, ist nur das Inhaltlose der Zeit, die als ständig gleichmäßiger Strom darin ihre ewig wandellose Form zu haben scheint. Doch hier gilt es, genau zu trennen zwischen der Zeit des Gemütes und der Zeit am Erkennen, und die Unter­scheidung zwischen Gemüt und Erkennen findet kaum anderswo eine dankbarere Bewährung als hier. Man hält für gewöhnlich die Zeit als in einem Ausmaß oder in einer Richtung gegeben, der man die drei Richtungen des Rau­mes gegenüber zu stellen pflegt.7 Allein dieser Vergleich fällt in den Graben, weil er die Maßstäbe des Raumes und da­mit der Anschauung in ein Befinden des Gemütes überträgt. Ein solches Vorgehen kommt nur zu sehr Kants Fehlbegriff einer „inneren“ und einer „äußeren Anschauung“ entgegen, es ver­ fehlt damit gerade das grundsätzlich andere des Zeiterlebnis­ses gegenüber der Raumwahrnehmung. Wenn wir von unserem Standort aus keinerlei Aussagen über eine Weltzeit in natur­wissenschaftlicher Hinsicht machen dürfen, so legt sich ein Vergleich des Zeitlichen mit einer Lichtquelle vielleicht eher nahe. Damit wäre nämlich das Zusammenwirken von Gemüt und Erkennen in der Erfahrung der Zeit viel besser in Anse­hung gebracht. Es ist gerade das Jetzt, welches in seiner ständigen Gegenwart den Zeitstrom des Vergehens und das Hin­absinken des Gegenständlichen in uns aufkommen lässt. Aber das Zurückliegende und das Hinabsinken, beide hängen ja zusammen, weiten in diesem Verströmen zugleich die Erwartung nach vorne und oben.8 So lässt sich der Zeitquell in seinem ständigen Aufsprudeln mit dem Lichtquell vergleichen, der sich allsei­ tig in die Tiefe des Raumes strahlt. Jedes neue Jetzt setzt aber so die anderen Jetzt in weiter zurückliegende, ebenfalls allseitig sich weitende Tiefen. Betrachten wir es so, können wir weder das Vergangene noch das Zukünftige einholen, und die Richtung des Jetzt enthüllt sich als ein Weg nach innen.

6  Es ist wohl Husserls alleiniges Verdienst, dass er im Rahmen jenes Bewusstseinsbegriffs mit letzter Ge­nauigkeit das „Phänomen“ Zeitlichkeit und das Ausweglose des Begrif­fes ausgeleuchtet hat. 7  So auch Kant in der „Kritik d. r. Vern.“ B 47. Anders jedoch Husserl mit seiner „Längs- und Querintentionalität.“ Vgl. Phänomenologie d. inneren Zeitbewusstseins. 8  Husserl hat es sehr schön als Retention und Protention in seiner „Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins“ zum Ausdruck gebracht. Das Hinabsinken veranschaulicht sich nach ihm an der Skizze in den „Vorlesungen …“ und im Bilde des „Kometenschweifs“.



§ 26 Allgemeines Grundbefinden des Gemütes; Sein als Dasein163

Indes hat auch dieses Bild seine große Schwäche, denn wir se­hen zwar die Halbkugel des Vergangenen, während die Halbkugel des Zukünftigen noch gar nicht dasein kann. Um das Unverein­ bare von ständigem „Jetztpunkt“9 und ständigem Fließen im Be­ wusstsein etwas aufzuhellen, steht nur das Angebot der Auf­teilung des Zeiterlebens im Bewusstsein zur Verfügung. Es kommt nur Erkennen in Frage, welches weder an den Erscheinun­gen noch an allen seinen Weisen des Vorstellens den Inhalt Zeit finden kann, wenn wir den „Jetztpunkt“ richtig einorten wollen. Erkennen kennt für sich keine Zeit, daher ein Jetzt im Bewusstsein, woran wir den Strom der Zeit erfahren. Damit klärt sich der Anspruch der Reflexion auf zeitlose Wahrheiten und Grundsätze, die der Zeit inne sein sollen. Demgegenüber erlebt sich aber das Gemüt als reines Strömen, und es liegt völlig außerhalb des Gemütes, dieses Jetzt festzuhalten. Das Selbst des Bewusstseins oder das „Ich bin“ erlebt sich ge­rade als Gemüt in der Zeit, in keiner Weise erfährt es sich so allgemein als Gemüt wie in der Zeit. So müssen wir denn sagen, das „Erlebnis“ der Zeit ist ausschließlich auf das Ge­müt zurückzuführen. Diese Grundbefindlichkeit liegt allem zu Grunde, was darüber als die „Stimmungen“ des Gemütes zu verstehen ist. Wäre Erkennen nicht zeitlos, so hätte das Bewusstsein über­haupt keinen Begriff, besser kein Verständnis, für das Zeit­strömen. Es setzt ein Vermögen voraus, welches dem Zeitstrom inne ist; es wird weitergetragen vom Strom, dessen Form das Form- und Inhaltlose ist, und es ist inmitten des Strömens ein Floß des Jetztpunkts. So erfährt sich der Jetztpunkt des Floßes Gegenwart unentrinnbar mitgetrieben, und dennoch nimmt er im Rückblick das Vorbeistreichen des Gemütstroms wahr. Nicht als „Ich bin“, sondern als „Ich denke“ geschieht dies, aber es ist die Einheit des Ich-Pols. Wiederum ist es also die geheimnisvolle Gemütserkenntnis, die hier natürlich ihre erste und allgemeinste Anwendung hat. Denn irgendwie muss Er­ kennen eine Erfahrung für das Zeitliche haben, so wie sich denn auch die Stimmungen als eine Weise des Verhaltens des Gemütes gegenüber dem Erkennen bekunden müssen. Was sich also hartnäckig unserem Begreifen verschließt, ist das Verhältnis des Ineinander von Gemüt und Erkennen, welches wir nur als nahtlose Einheit des Ich-Pols annehmen können. Nun heißt es aber auch, die Folgen unserer Auffassung anzunehmen: Sein ist Zeit, Zeit ist Sein. Allein dieses Ergebnis hat uns nicht weiter zu erschrecken, denn Seiendes über­schreitet nach unserem Stand der Dinge nicht die Reichweite meines Gemütes. Erkennen mit seinen Vorstellungen ist an sich nicht Sein, weil es sich bis jetzt noch nicht so begründet hat. Also steht Erkennen auch nicht für die Zeit. Die Reich­weite des Bewusstseins überschreiten wir jedoch auch, wenn wir dem Erscheinenden die Möglichkeit 9  Der

Ausdruck stammt von Husserl.

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3. Teil, 1. Kap.: Versuch einer ersten Abgrenzung

eines Seins geradewegs ab­sprechen. Denn Gründe dafür liegen so weit nicht vor. Mit dem Grundbefinden als Zeit zerrinnt aber uns das Sein förmlich in den Händen, so dass sich für uns doch abschreckende Folgen einstellen müssen. Denn Sein wird als Zeit formlos und in­haltlos, so dass wir es lediglich als Dasein annehmen können. Ich bin also da, und alles, was Form und Inhalt hat, bleibt an meinem Erkennen aufgehängt, das als Reich der Vorstellung zu gelten hat. Es hilft indes alles nichts. Was ich wirklich habe, das bin ich kraft der Verselbigung des Gemütes, was ich mir aber vorstelle, das habe ich nicht mittels des Gemütes. Aber die Vorstellung gehört zur Welt meines Bewusstseins, also habe ich auch Sein mittels der Vorstellung. Somit lässt sich aber auch sagen: Ohne Vorstellung kein Seiendes.

2. Die Daseinserkenntnis und die rein logische Einheit der Reflexion Was ich als Gemüt erlebe, das „Ich bin“, möchte ich als Da­sein umschreiben. Aber dieses Dasein zerfließt nicht in der Zeit, es hält sich auch nicht bloß an seinen Vorstellungen, denn sonst wäre es wirklich nur eine zwischen Zeit und Vor­stellungen gespannte Maschine. „Ich bin“ enthält mehr als nur Zeit und Bedürfnisse, es erlebt sich unentwegt in einer Stim­mung verfasst, aber die Stimmungen wechseln, was gleich bleibt, scheint Zeit zu sein. Dürfen wir Dasein, so nenne ich jetzt das Seiende in mir, einfach mit Zeit gleichsetzen, wenn diese die Grundverfassung meines Daseins ausmacht? Ich erlebe die Zeit als einziges Gleichmaß in mir, während die Stimmun­gen sich abwandeln. Ich sehe den Raum als Grundmaß aller An­ sehung, und alle Erscheinungen erstellen sich auch als Raum in dieser Hinsicht. Hier dürfen wir eine Parallele ziehen: So wie die Erscheinungen alle Raum beanspruchen, so ist mein Da­sein Zeit. Wir haben es mit grundlegenden Medien zu tun; je­ des ist in seiner Zone als unterste, allgemeinste Schicht vorhanden, alles Besondere darin vermag nicht ohne dieses je­weilige Medium gesondert zu sein. So komme ich dann zu fol­gendem Ergebnis: Was die Zeit in mir so fremd, sachlich und inhaltlos macht, ist nur ihre allgemeine Zuständigkeit in mir. Sie bleibt desungeachtet Quell meines Bewusstseins, Ent­wurf meines Dasein, Wohnstätte oder Gefängnis meines Gemütes. Das große Rätsel bleibt nach wie vor die Daseinserkenntnis, so nenne ich jetzt das Innewerden des Gemütes. Daseinser­kenntnis trägt andere Züge als Erkennen, so wie es sich ge­zeigt hat, und jetzt droht uns tatsächlich die Einheit des Erkennens auseinanderzubrechen. Allein dieses Rätsel ändert oder löst sich auch damit nicht besser, dass wir zum anderen Bewusstseinsbegriff zurückkehren. Was als Achse zurückbleibt, dürfen wir ruhig als Reflexion annehmen, und kein anderes Ver­mögen könnte den Unterschied der Zonen auch aufdecken. Nun lässt sich nicht bestreiten, dass ich mit der



§ 26 Allgemeines Grundbefinden des Gemütes; Sein als Dasein165

Reflexion eine Brücke festhalte, die ihre Grundgesetze in die Erscheinung wie auch in das Gemüt hineinstrahlt. Werde ich damit nicht zurückgedrängt in die Auffassung vom Monopol des Verstandes in meinem Bewusstsein? Wenn nun die Grundgesetze der Reflexion für die Erscheinung wie auch für das Gemüt-Dasein gelten, wird dann das Gemüt nicht auch zur Erscheinung oder wird dann die Erscheinung nicht auch zum Seienden? Wäre dann Descartes Schluss vielleicht gar nicht so unbrauchbar? Wir müssen uns aber auch hüten, zu viel aus der Achse Reflexion herauszuholen. Da Erkennen zweifellos die Vertretung des Ganzen leistet, kann schlecht anderes zu Tage treten als seine allgemeine Tragweite; Bewusstsein reicht so weit wie Er­ kennen. Damit ist in der Dreieinigkeit freilich eine „selbstverständliche“ Einheit gegeben, die Einheit des Logi­schen. Was aber hat es mit der Einheit des Logischen auf sich? Dieser Begriff muss nun genau bestimmt werden, sonst be­wegen wir uns im Kreise und beweisen, was wir vorausgesetzt haben. Logische Einheit des Selbstbewusstseins kann nur in der Geltung des principium contradictionis gründen, indem dieses für die Erscheinung wie für das Dasein, für die Wahrnehmung wie für das Innewerden verbindlich wirkt. Prüfen wir aber, was besagte Einheit zum Inhalt hat, so bleibt nur jene grund­legende Unterscheidung zurück, mit der sich die Reflexion von den Erscheinungsweisen des Vorgestellten wie auch von den entsprechenden Weisen des Vorstellens absondert. In Bezug auf die Daseinserkenntnis insgesamt, also Zeit inbegriffen, macht die Reflexion keine Ausnahme. Nur in dieser Anwendung dürfen wir die Reflexion als ein Absolutum anerkennen. Wir können jetzt Einblick nehmen, dass wir kein Stückchen Land gewonnen haben. Inhaltlich lässt sich ein Unterschied zwischen Dasein und Erscheinung innerhalb der logischen Einheit ver­treten. Gemüt kann ich der Reflexion nicht mehr und nicht we­ niger entnehmen als eine innere Anschauung in Form von Ideen. Eine solche ist indes nicht zu ermitteln. Hat sich die Reflexion nun not-wendig zur Anschauung erwiesen, damit ist die An­schauung aber mehr als nur conditio sine qua non, so bedarf sie auch not-wendig des Gemütes. Es bleibt also dabei. Aus der logischen Einheit des Bewusstseins lässt sich kein Seiendes außerhalb der Reichweite des Bewusstseins ziehen. Für die Mög­ lichkeit des Aufweisens von Seiendem außerhalb desselben, wenn es eine solche gibt, zeichnen sich aber jetzt wenigstens Rahmenbedingungen ab: Es bedarf einer besonderen Erfahrung, denn aus der logischen Einheit kann ich keine ontologische Einheit erschließen, weil letztere neue Inhalte mitführt. Als Inhalte stehen mir nur die Verschiedenheiten der Zonen zur Verfügung. Diese verschiedenen Gehalte sind auf der Grundlage der logischen Einheit so zu verknüpfen, dass eine neue Not-Wendigkeit offenbar wird. Ihr Inhalt muss die not-wendige Ver­ einbarung von Dasein und Erscheinung zum Ausdruck bringen. Es müsste

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3. Teil, 1. Kap.: Versuch einer ersten Abgrenzung

sich Bewusstseinswirklichkeit so erweisen, dass not-wen­dig Daseinsmäßiges auch in den Erscheinungen steckt, weil an­ders dieses Bewusstsein in sich unschlüssig wäre, so dass wohl sogar die logische Einheit in sich selber zerbrochen wäre. Die Begriffsformen des reinen Schauens reichen offensichtlich nicht hin, um eine solche Verbindung herzustellen. Auch der Schluss der Reflexion hat sich als nicht hinreichend erwiesen, andrerseits jedoch wird es sicherlich ohne dessen Tragweite nicht gehen. Der Schluss der Reflexion setzt den Inhalt von sich ab, anerkennt ihn als Anderes, schließt aber eine Gel­tung auf beiden Seiten ein. Den Inhalt Seiendes kann aber die Reflexion nicht unterschieben, dieser muss sich als neuer In­halt einstellen, der irgendwie aus dem Zueinander der Ur-Tei­le sich als allgemeine Bestimmung ergibt. Um erfolgreich zu sein, gilt es also, die Unterschiede der Reflexion, die sie in Bezug auf die Erscheinungen und in Bezug auf die Stimmungen entdecken kann, scharf in den Begriff zu bekommen. Vielleicht könnte sich ein Schnittpunkt so ergeben, dass unmittelbare Einsicht und unmittelbare Gewissheit an einer Stelle im Be­wusstsein oder stufenhaft zusammenfallen.

3. Dasein als Träger von Stimmung; die unmittelbare Gewissheit der Stimmungen Als „Ich denke“ erfahre ich mein Dasein der Zeit unterworfen, als „Ich bin“ ist mein Denken in Stimmungen des Gemütes hin­ eingeflochten. Es sind aber gerade die Stimmungen, welche den Unterschied zwischen der Reflexion und dem Dasein des Bewusst­seins so schroff aufleuchten lassen, und es wäre ein verzerr­ tes Verhältnis, wollten wir die Reflexion als die Substantia angeben, welche nun bald diese, bald jene Stimmung an sich trägt. Wir entdecken doch gerade hier, dass die Reflexion völ­lig machtlos bleibt gegenüber der Unterwerfung und dass sie nach Mitteln und Wegen sucht, die in einer unmittelbaren Ver­knüpfung von Dasein und Erscheinung liegen. Wir machen aber auch die Feststellung, dass Dasein den Wechsel und Wandel der Stimmungen grundlos, ohne Veranlassung aus den Erscheinungen, den Begegnungen des Erkennens, in sich erlebt. Völlig unbe­teiligt bleibt dann aber auch die Reflexion. Die logische Ein­ heit der Reflexion zieht sich an diesem Zusammenspiel zur In­ haltlosigkeit zurück; was vor sich geht, spielt sich also zwischen Begegnen und Erleben ab. Noch eine Unbeteiligte dürfen wir indes hier nicht übersehen, wenngleich die Zeit doch wie als Grundstimmung alles trägt. Allein hier wird ihre Andersartigkeit offenbar, die Grundver­ fassung des Gemütes darf nicht als Grundstimmung verwechselt werden. Der logischen Einheit der Reflexion antwortet am Da­sein die allmächtige Einheit der Zeit, und die Begegnungen



§ 26 Allgemeines Grundbefinden des Gemütes; Sein als Dasein167

fallen in die Zeit, weil jeder Begegnung ein Erlebnis ent­spricht. Dass Bewusstsein seinen Schwerpunkt in Bezug auf Be­ gegnen und Erleben in Maßen verlagern kann, haben wir schon bemerkt, und dies gehört wohl zur Natur des Stimmungswandels. Desungeachtet ergibt sich aber die Erlebniseinheit der Zeit als andere Rahmenbedingung. Fassen wir nun diese bemerkenswerten Ergebnisse zusammen. Der Zeit als Grundverfassung einerseits stehen Stimmungen andrer­seits entgegen, die sich vollständig abwandeln. Was die Stim­mung als Besonderheit betrifft, so lässt ein Wandel nichts mehr übrig als das Gleichmaß der Zeit. Aus einem bloßen Zu­einander von Zeitlichkeit und Stimmungswandel lässt sich aber sicherlich kein Gemütskern herleiten, und dieser wird nach unserer Auffassung auch nicht durch die Reflexion ersetzt. Ih­rer logischen Starrheit dürfte es nicht obliegen, den Stim­mungswandel zu verursachen. Dasein hat einen eigenen Lebens­nerv, den wir nicht mit der Reflexion verselbigen dürfen. Denn nicht nur die einzigartigen Kennzeichen der Reflexion, die Merkmale von Erkennen überhaupt stoßen sich an der Natur des Gemütes. Dasein als solches steht deshalb als Subiectum für seine Stimmungen, die ihm im Verhalten einer unmittelbaren Gewissheit gegeben sind.

4. Daseinserkenntnis und sensus communis Die Frage, wie das für sich genommen zeitlose Erkennen der Zeit inne wird, stellt sich mit hinein in die Frage der Ver­mittlung einer Daseinserkenntnis. Tatsächlich erscheint es so, als ob Gemüt und Erkennen hier verschmelzen, um dennoch immer in zwei Ansichtsseiten gegeben zu bleiben. Mag es als bewusstseinsmäßige Gegebenheit auch nicht anders zu sich zu kommen, man sollte dann zumindest den Vorrang des Denkens nicht befürworten. Die Zonen bleiben für uns aber als eine unmittelbar erfahrbare Gegebenheit und eine mittelbare Forde­ rung im Bereich des Selbstbewusstseins übrig. Dass diese Da­seinserkenntnis den Kern des Bewusstseins ausmacht, also die­ sem näher steht als die Erkenntnis der Sinne, ist eine leicht einsehbare Tatsache. Ein Bewusstsein, in dem alle fünf Sinne bis zur Wirkungslosigkeit beschädigt sind, dürfte wohl kaum noch am Leben sein, und es wäre unsäglich grausam, wenn es so leben müsste. Das Beispiel der Helen Keller zeigt indes, wie weit menschliches Bewusstsein sich entfalten kann, wenn ihm von Geburt an die beiden vornehmsten Sinne ausfallen. Da­seinserkenntnis ist freilich auf alle Zuträger der Sinne an­gewiesen, aber hier gibt es nicht die Verzweigung, denn dies würde zu einer unnützen Verdoppelung im Bewusstsein führen. Daseinserkenntnis ist als punkthaftes Ich-Erleben nur in Gra­den einer Wachheit oder Empfindsamkeit am Wirken. Nur so wird die innigste Einheit von Denken und Ich-Erleben erklärbar. Was Husserl mit seiner Urzone im Bewusstsein suchte, worin Vernunft und

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3. Teil, 1. Kap.: Versuch einer ersten Abgrenzung

Sinnlichkeit noch wie verwachsen sein sollen, muss als jene Einheit von Daseinserkenntnis und Reflexion ange­nommen werden. In dieser innersten Verfugung haben die Sinne aber dann noch gar keinen Zutritt, sie umlagern nur die Kam­mer.10 Wir dürfen annehmen, dass hier die Hauptwurzel menschlichen Selbstbewusstseins zum Tragen kommt. Daseinserkenntnis bleibt dem Erkennen zugeordnet. Es ist verständlich, dass der andere Bewusstseinsbegriff diese Daseinserkenntnis gar nicht benö­tigt, weil er die Anlage ganz in die Reflexion verlegt, was ja nur zur Kopflastigkeit beiträgt. Dazu gehört dann auch die bekannte Ausformung der Reflexion in eine ratio theoretica und eine ratio practica, die jedoch innerhalb dieser Auffassung von Bewusstsein schon stark umstritten ist. Die ganze Mühe einer Enträtselung der Daseinserkenntnis bleibt dieser Über­lieferung einerseits erspart; verschlossen bleiben dann frei­ lich auch die reichen Möglichkeiten einer erweiterten Seins­erschließung. Wenn nun an dem Mittelpunkt des Bewusstseins Wahrnehmung und Innewerden geradezu in eins zerrinnen, so bleibt dieses Erkennen zumindest nach seinem Unterschiedenen doch deutlich abgrenzbar. Denken zeigt sich in seiner ur­sprünglichen Natur doch in einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber dem Innewerden meines Gemütes, so dass wir von der „Sachlichkeit“ des Denkens gar nicht absehen können. Was sollte denn mit „reinem Schauen“ anderes gemeint sein? Daran bemerken wir, dass die Reflexion am Ende auch dem Innewerden noch inne ist. Allein diese Erhabenheit darf nicht als Vor­rang gewertet werden, ich erfahre sie weder als Bedürfnis noch als Macht. Es liegt aber darin, dass Wahrnehmen und Inne­werden sich hier so kreuzen, dass es dasselbe wird, ob das Ge­müt sich im Erkennen als das Selbst erfährt oder das Erkennen sich als Gemüt erlebt. Dennoch wollen wir dafürhalten, dass die Verfugung bis ins Letzte unvermischt und ungetrennt bleibt. Damit rückt eine alte Frage, die wir schon mehrmals unbeant­wortet zurückstellen mussten, in einen neuen Verstehensgrund, nämlich die Suche nach dem sensus communis. Stellen wir die beiden Auffassungen von Bewusstsein einander gegenüber, dann erst verstehen wir, warum der sensus communis eine so uner­setzliche Rolle im psychischen Bewusstseinsbegriff spielen muss. Es wird hier aber schon deutlich, wie schwer es fällt, ihn zu fassen. Denn jedem sensus externus fehlt sowohl eine Reflexion wie auch eine Abstraktion. Dies bedeutet aber, dass auch nach innen ein Sinn nicht vorstellbar wird, der etwa ei­ne Zusammenfassung der Teilansichten eines Gegenstands lei­sten würde. Eine Art Gattungsbegriff im sinnlichen Bereich des Erkennens lässt sich in keiner Weise ausmachen. Darum wird der sensus 10  Vgl.

Krisis § 20.



§ 26 Allgemeines Grundbefinden des Gemütes; Sein als Dasein169

communis in der scholastischen Philosophie zu­nächst einmal als „potentia sensitiva“ bestimmt, „qua homo (et animal brutum) sentit se sentire“. Die Teilansichten der äußeren Sinne werden zu einer inneren Totalitas versammelt. Der Sensus erfasst die Gegenstände der einzelnen äußeren Sinne nur, indem er sie unter sich unterscheidet. Das obiectum for­ male des sensus communis sind lediglich die Sensationes der äußeren Sinne, soweit sie affectiones subiectivae sind. Wie etwa das Gesicht verschiedene Farben wahrnimmt, so erfasst der sensus communis die Verschiedenartigkeit der einzelnen Sinne. Es findet also in ihm keine weitere Verarbeitung des im äuße­ren Sinn unmittelbar vorgestellten Gegenstands statt.11 Ist damit jede Abstraktion und jede gegenständliche Eigenform dem sensus communis abgesprochen, so dürfte ihm jedoch eine Art Reflexion nach der Scholastik zukommen.12 Wenn also das Tier die Ohren aufrichtet, um zu lauschen, und mit der Nase die Witterung aufnimmt, so ist damit bewiesen, dass es sich dessen bewusst ist, dass es mit den einzelnen Sinnen dieses und jenes tut.13 Für diese Auffassung bleibt also nichts übrig als der sensus communis, um diese Äußerung des Bewusstseins einzuorten. Indem ich dieses instinkthafte Verhalten der Tiere dem sensus communis zuschreibe, dazu in Form einer Art Reflexion, gerate ich aber in die Nähe Husserls. Der sensus communis bildet dann einen Baustein, der die schroffe Kluft zwischen Sinnlichkeit und Reflexion überbrückt. Sehen wir hier einmal davon ab, dass wir für unsere Erkundung natürlich das Beispiel der Tiere nicht heranziehen dürfen, da wir damit einen uner­laubten Schluss in eine lebendige Erscheinung an sich ausfüh­ ren. Es ergibt sich indes aus dem Verständnis dieses Bewusst­seins, dass hier dem Sinn eine Innenseite eingeräumt wird, die schon mehr einschließt an Bewusstsein als das, was man eigent­lich unter Sinn verstehen darf. Denn das Bewusstsein, dass ich mit den Augen sehe, mit den Ohren höre, wenn ich es als „re­flectere“ des inneren Sinnes und nicht als Instinkt auf­fasse, deutet doch stark zur Reflexion 11  Vgl. Gredt, Josephus: Elementa philosophiae aristotelico-thomisticae. 13. ed. Vol. 1. Herder 1951. S. 415 Nr. 492. 12  Ebda. Nr. 493. „Ex eo quod homo et animal brutum sentit se sentire: Ipse sensus externus non potest … reflectere … Iamvero constat homines et animalia bruta sentire sensationes suas easque earumque obiecta inter se discernere. Ergo in homine et in animalibus brutis admittendus est sensus aliquis internus percipiens sensuum externorum sensationes easque earumque obiecta inter se discernens, … Experi­mur nos clare et expresse cognoscere diversas sensationes sensuum ex­ternorum. Et experimur hanc cognitionem tamquam sensitivam, tamquam sensationem, quae immediate et directe fertur in sensationes sensuum externorum …; quae cognitio non potest esse intellectus, qui semper fertur in res sub respectu quidditatis universalis. … Hoc autem es­se nequit sine sensu superiore, i. e. sine sensu communi, qui obiecta diversorum sensuum externorum cognoscit et distinguit.“ 13  Ebda. S. 416.

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3. Teil, 1. Kap.: Versuch einer ersten Abgrenzung

hin, und nach unserem Dafür­halten liegt hier die eigentliche, schroffe Stufe im Er­ken­nen. Am Beispiel des sensus communis wollen wir aufzeigen, dass Da­ seinserkenntnis etwas ganz Eigenartiges ist, weil sie weder der sinnlichen Erkenntnis noch der Reflexion zugeordnet werden kann. Natürlich setzt sie unsere Auffassung von Bewusstsein voraus. Dann klärt sich dabei heraus, dass wir einen sensus communis gar nicht benötigen. Daseinserkenntnis drückt sich als Gemütsanschauung des Bewusstseins aus, als Innewerden des Gemütes oder als Selbstanschauung des Gemütes; dabei geraten die beiden Zonen so ineinander, dass die Reflexion und das Ge­müt in der Tat wie ein Absolutum erfahren werden. Dennoch kann ein solches Innewerden nur als ein Erkennen verstanden werden, welches sich jedoch nicht in einer zwielichtigen Wei­se zwischen Sinnlichkeit und Reflexion zwängt. Daseins­ erkennt­nis wirkt aus dem Dreiecksverhältnis heraus, und sie enthält aus sich keine innere Gliederung wie das übrige Erkennen. Von einer solchen Einordnung her verstanden, ließe sich dann das Innewerden durchaus dem tierischen Bewusstsein entnehmen, und Daseinserkenntnis könnte dann als Träger für logisches Han­deln angenommen werden, ohne dass man ihr das Einzigartige ei­ner inneren Reflexion zutrauen müsste. Eingebettet in die Daseinserkenntnis, die so verstanden tie­ risches Bewusstsein beschließen könnte, lässt sich dann das Vermögen der Reflexion als ein grundsätzlich neuer Aufbruch im Erkennen annehmen. Nur aus ihr kann Selbstanschauung des Be­wusstseins so hervorgehen, dass sie zu einer Selbstuntergliede­rung wird, die sich in eine Weltwirklichkeit, wie immer sie vertreten wird, nach einem Weltzweck einfügt. Soviel zur Da­seinserkenntnis an diesem Standort, mehr lässt sich über das Verhältnis von Reflexion und Innewerden am Bewusstsein noch nicht angeben. Wir möchten hier nur noch zum Bedenken geben, dass eine Gegebenheit wie Träume an der anderen Auffassung von Bewusstsein schwer zu erklären ist. Aus dem Innewerden der Da­ seinserkenntnis lassen sich jedoch solche Phaenomena mensch­lichen Bewusstseins in das Gemüt als Quell eingründen, sie können schwerlich ihren Wurzelgrund in dem hier bloß vermit­ telnden Erkennen haben.14 14  Es bleibt noch zu erwähnen, dass die scholastische Philosophie den sensus communis als einen sensus internus bezeichnet, ihn aber den­noch von einem anderen sensus internus unterscheidet. „Sensus commu­nis est sensus internus, qui percipit sensationes singulorum sensuum externorum, prout sub una ratione formali affectionis sensitivae sub­iectivae hic et nunc afficientis subiectum sentiens conveniunt.“ Gredt, S. 414 Nr. 492. Als sensus internus wird aber auch die Phan­ tasia bezeichnet. S. 419 Nr. 498. „Phantasia est sensus internus seu potentia sensitiva interna“, die aber sehr wohl vom sensus communis zu unterscheiden ist: „Phantasia est realiter distincta a sensu com­muni“, ebda.



§ 26 Allgemeines Grundbefinden des Gemütes; Sein als Dasein171

5. Die Zeit als Erlebnis und die Zeit als Maßstab; Daseinser­kenntnis und sinnliche Erinnerung Eine Überlegung zur Zeit im Zueinander von Gemüt und Erkennen gilt es noch durchzuführen. Wenn Zeitlichkeit nur dem Gemüt allein entspringen kann, so muss sie im Vorgang des Innewer­dens eine besondere, besser eine grundlegende Rolle inneha­ben. Rätselhaft mag es dann sein, wie zeitloses Erkennen zu einem Begriff des Zeitlichen kommen soll. Allein diese Frage weitet sich zu einer allgemeineren: Wie kann gemütloses Er­kennen zwischen gegenständiger Erscheinung und andersgründi­gem Dasein vermitteln? Hier wird entweder alles zur Frage, oder wir haben die Gegebenheit einer letzten Verfugung nun einmal hinzunehmen bis auf Weiteres. Desungeachtet dürfen wir uns indessen mit der Frage befassen, ob Zeitströmung nun schlichthin am Erkennen ansteht, oder ob hier eine besondere Stelle der Verzahnung entgegenkommt. Nach der Anlage dürfen wir jetzt annehmen, dass weder die äußeren Sinne noch die Reflexion besonders geeignet sind, um im Be­ wusstsein die Einheit der Zeit herzustellen. Es bleiben die sinnliche Erinnerung und die Daseinserkenntnis zurück. Beide Anlagen des Erkennens lassen sich einigermaßen klar auseinan­ derhalten, indem das Innewerden nach Richtung und Inhalt sich abscheidet von der Aufbewahrung der erscheinenden Gegenstän­de. Die Zeitlosigkeit des Erkennens bestätigt sich ja gerade daran, dass wir im sinnlichen Erinnern das sich Wandelnde der Zeit entreißen.15 Andrerseits erfährt Innewerden das Gemüt in seiner allgemeinsten Verfassung als Zeitstrom, was zu zwei gegensätzlichen Erfahrungsweisen im Erkennen führt. Daraus legt sich eine Erklärung zum Zeiterleben nahe. Die Selbstan­schauung des Bewusstseins in der Daseinserkenntnis und die Fremderscheinung der Dinge im sinnlichen Erinnern führen hier geradezu zum Schwerpunkt des Bewusstseins. So muss es denn auch zu dem Eindruck kommen, dass wir meinen, die Zeit der Erschei­ nungswelt entnehmen zu müssen. Es sind also die zurückbehaltenen und eindrucksvollen Bilder einerseits, das Innewerden eines strömenden Gemütes andrer­seits, welche sich wechselseitig bedingen und so jenes Ereig­nis im Bewusstsein ergeben, das Husserl immer wieder als „sub­ jektive und objektive Zeit“ herausgestellt hat. Betrach­ten wir dieses Ereignis nach seiner gegenständlichen und er­in­nernden Seite, so erhalten wir den Maßstab des Zeitlichen nach Einheit und Abfolge, die Zeitmessung. Sehen wir auf das Innewerden, so erhalten wir das jeweils nur für mich gelten­de, unableitbare Zeiterleben. 15  Husserl weist zu Recht darauf hin, dass die Erinnerung nicht die Geburtsstätte der Zeit sein kann, wie Franz Brentano, sein Lehrer, angenommen hat. Husserl, Vorlesungen z. Phänomenol. d. inneren Zeit­bewusstseins. Niemeyer 1980. S. 375–376.

2. Kapitel

Dasein und Erscheinung § 27  Der Widerspruch und die Verselbigung 1. Das Bedürfnis und seine Not-Wende Im Erkennen erfahre ich die Stimmungen meines Gemütes, im Ge­ müt erlebe ich mich selbst und zwar als ein wankelmütiges und wandelbares Selbst. Ich bin mir in einem wandellosen und un­selbsthaften Erkennen vorgestellt als ein bedürftiges, hoch­ fahrendes und niedergedrücktes Ich. Ein Widerspruch in sich? Gemüt ist Verselbigung, Erkennen Unterscheidung; davon ist auszugehen. Das Leben des Gemütes erweist sich ungleich verwickelter und vielseitiger als das Erkenntnismäßige, und dennoch zeichnet sich an ihm das Bemerkenswerte ab, dass die vielschichtige Mannigfaltigkeit im Innewerden in eins ver­schmilzt. Gewiss habe ich Schmerzempfindungen an bestimmten Stellen des Körpers, ich erlebe meine Hunger- und Durstge­fühle, meine Bedürfnisse meist an bestimmten Vorstellungen, meine geistige Sehnsucht richtet sich nach bestimmten Men­schen aus; mein Gemütsleben steht mir nicht an sich zur Ver­fügung, ich erlebe es in Beziehung zu entsprechenden Erschei­nungen. Wir sollten aber nicht darüber hinwegsehen, dass die Erscheinungen in Bezug auf ihre Einflechtung im Gemüt eigen­artig punkthaft, eben selbsthaft erlebt werden. Wenn ich in der Reflexion dieses zur Kenntnis nehme, so bemerke ich dage­gen, dass die Sinne ausgelagert, abgesondert im Bewusstsein an­stehen. Kurz, Erkennen erscheint mir in sich aufgegliederter als das Gemüt. Den Erscheinungen und Vorstellungen in ihren verschiedenen Anlagen oder Vermögen fügt sich ein in sich völlig geschlossenes, aber gestimmtes Selbst ein. Dem Erken­nen gegenüber wird sich das Selbst als ein Knäuel inne, und seine Stimmungswandlungen haben nichts zu tun mit den Anlagen des Erkennens. Den Erscheinungen entsprechen die Stimmungen. „Ich bin“ ist immer irgendwie gestimmt, und es erlebt sich durchwachsen von dieser Stimmung, Dasein ist immer eingefärbt in einer Stimmung. Stimmungen sind nicht grundlos, sie stellen sich ein aus Be­dürfnis und Erfüllung, Ohnmacht und Kraft des Gemütes. Stim­mungen quellen im Ich auf je nach dessen Not und Stillung der Not. In einem ganz eigenartigen



§ 27  Der Widerspruch und die Verselbigung173

Verständnis entdecken wir jetzt Not-Wendigkeit und Widerspruch auch am Gemüt, eben nach Gemütsart, nicht nach Art des Erkennens. Das Bewusstsein er­ lebt sein Bedürfnis mehr oder weniger als die Not eines inne­ ren Zwiespalts, ihm fehlt etwas, das dem Erkennen nicht fehlt, wenngleich es sich an ihm als bedürftiges erfährt. Das Gemüt ist nicht genügsam wie Erkennen. Das Selbst strebt aus innerer Entzweiung im Bedürfnis nach Stillung in der Versel­bigung. Während das Erkennen unterscheiden muss, um zu sich und dem Wissen zu gelangen, gibt es für das Gemüt nur die Verselbigung, um zur Stillung zu finden. Die Wahrheit liegt in der Unterscheidung, die Ruhe in der Einheit des Gemütes. Für das Selbst wird also die Unterscheidung zu einer inneren Spannung, die eine ganz andere Wirkung im Bewusstsein entste­ hen lässt als am Erkennen. Während in der Reflexion ein Wider­ spruch des Denkgesetzes als unmöglich erklärt wird, strebt das Gemüt nach Auflösung des Widerspruchs, den es als Not des Ich erlebt. Das „Ich bin“ erträgt keine Unterscheidung, denn jeder innere Abstand ist Zerrissenheit in sich, gespaltenes, schmerzerfülltes Ich. Je mehr im Erkennen die Dinge sich aus­einandersetzen, desto besser ist es bei seinen Erscheinungen; je mehr im Gemüt die Dinge auseinanderstehen, desto weniger ist es Herr in seinem Gehäuse. Erkennen und Gemüt zeichnen sich als Gegensätze aneinander ab und spiegeln sich jeweils in ihrer Eigenart ineinander. Die Not-Wendigkeit geht aber jetzt vom Gemüt zum Erkennen, vom Dasein zu den Erscheinungen hin, und aus der Einheit des Be­wusstseins sucht Erkennen einen Weg in die Erscheinung. Dies gilt es zu beachten: Das vorstellende Erkennen ist nur ein Mittel, die Reflexion stillt nicht im geringsten, es sind die Erscheinungen, die äußeren Dinge, die Bewusstsein als Gemüt benötigt und die es auf seine Art benötigt. Die Not-Wende liegt in den Erscheinungen, die doch Dasein als Schein gemes­sen an seinem Sein auffassen müsste, da sie über Erkennen ver­mittelt sind. Von woher kommt die Not des Daseins? Liegt es daran, dass die Erscheinungen als Schein-Sein eine Kluft in ihm aufreißen, oder ist dieses Dasein durch Erkennen aufge­ brochen, so dass es in sich nicht schließen kann? Die Frage findet keine Antwort, wenn wir nicht die Drei-in-Einheit des Gegebenen annehmen; nur das, was sich abspielt in der Dreiei­nigkeit des Bewusstseins, kann uns weiteren Aufschluss bringen. Ich stehe nicht wie Robinson allein in der Insel meiner Welt­vorstellung, ich erfahre die anderen Bewusstseinsträger, aber ich darf den Erscheinungen nicht trauen. Und doch muss ich zur Kenntnis nehmen, dass diese Erscheinung insgesamt, die doch mit unbedingter Sicherheit meine Weltvorstellung ist, von mir, dem sie erzeugenden, scheinbar gar nicht begründet ist. Es ist gleichgültig, ob ich sage, sie tut als ob sie völlig unabhängig wäre von meinem Ich oder sie scheint völlig unbe­gründet von mir zu sein. Ich bin der Quellpunkt und der Mit­telpunkt des Lichtkegels Weltvorstellung, aber

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3. Teil, 2. Kap.: Dasein und Erscheinung

diese beachtet mich überhaupt nicht, und ich erscheine selbst als in sie hineingestellt. Diese wunderliche Begebenheit wird indes noch wunderlicher in der Gemütsgegebenheit. Ich erlebe mich nicht nur mit Tausend Fäden abhängig von der Weltvorstellung; diese Welt, die doch meine Vorstellung ist, scheint keine Gemütsge­gebenheit zu mir zu haben. Sie erscheint unabhängig, und sie scheint meiner nicht zu bedürfen. Im Kreis oder in der Sphäre meines Bewusstseins heißt dies aber: Ich bin als Dasein völlig abhängig von Erkennen, allein aber von den Erzeugnissen mei­nes Erkennens. Damit wäre also der Kreislauf in sich ge­schlossen: Ein dreifeldiges, in sich genügsames Gefüge, wel­ches zum Schein an die Erscheinung muss, um in sich bestehen zu können. Aber darf ich denn „zum Schein“ überhaupt sagen, wenn es die Natur dieser Drei-Felder-Ordnung ist? Dasein geht mittels der Vorstellung an die Erscheinung, um bestehen zu können. Dasein muss aus sich herausgehen, um in sich bleiben zu können. Das „reine Schauen“ reicht überhaupt nicht hin, um das Bewusstsein wirklich zu erschauen, ich erkläre es damit als Halbkreis, indes offensichtlich die Bewusstseinswelt oder das Weltbewusstsein als vollendeter Kreis dasteht.

2. Das Dasein und sein Zweck Nun gut, ich nehme also mein Bewusstsein als in sich geord­nete, sich selber genügende Drei-Felder-Einheit an; und dabei wird mir klar, dass dieses Ordnungsgefüge eigentlich nur be­stehen kann, wenn es sich wirklich um drei grundverschiedene Felder handelt. Also wird sich doch Welt- oder Bewusstseinser­ klärung als beschreibende Unterscheidung der drei Felder ein­stellen müssen. Da es außerhalb dieser Bewusstseinswelt nichts geben kann, wird sich letztlich Welterklärung nur als Ver­gleich und als Verhältnis der drei Welt- oder Bewusstseins­gründe zueinander einstellen können. Jetzt schon darf ich mich aber fragen, ob diese Lösung am Ende annehmbar sein wird, dass nämlich die drei Gründe als ein und derselbe her­ ausspringen werden. Habe ich dann eine Scheinlösung gefunden, oder ist alles nur Schein bis in den innersten Kern meines Bewusstseins, oder ist eine solche Monade von Weltbewusstsein ein von Grund auf falscher Begriff? Meine Reflexion stellt mir aber im Augenblick jene Lösung des endgültigen Einheitsgrunds als wenig einleuchtend vor. Denn immer noch sehe ich das principium contradictionis als ihr Selbstverständnis und ih­ren Selbstvollzug an. Wenn ich also die Dreiheit annehme, und es bleibt mir nichts anderes übrig, so stellt sich im Zuge der Gemütsgegebenheit ein neues Verhältnis ein, welches beim reinen Schauen bisher noch nicht in Betracht und deshalb auch nicht in Bedacht ge­kommen ist. Wir haben die not-wendige Bedingung am Erkennen aufgespürt: Die eine Anlage vermag ohne die andere nicht zu



§ 27  Der Widerspruch und die Verselbigung175

wirken, und wie beim Werkstück beginnt der Vorgang der Verar­ beitung beim Rohstoff der Sinne. Doch dieser Vergleich geht schon etwas zu weit, weil der Schwerpunkt der Erkenntnis in den Sinnen fast liegen bleibt und die hinzukommenden Begriffe ihm nur eine innere Ordnung geben. Die sinnlichen Erscheinun­gen müssen in sich bestehen bleiben, indem sie vom Verstand ihre innere Fassung als Begründung erhalten. Dies alles ist so, weil es so ist. Mit der Gemütsgegebenheit aber kommt Be­wegung in die Not-Wende. Die Not im Dasein treibt es auf den Weg an die Erscheinung, um den inneren Zwiespalt, den Wider­spruch in seiner Art, einzulösen. Dasein macht sich selbst zuweg. Darin zeigt sich der Grundunterschied des Daseins, und darin kann nur der große Aufschluss für uns liegen. Dieser „Begriff“ des Daseins zeigt sich völlig anders als jener Be­griff des Erkennens, so dass wir ihn keineswegs als Parallele oder Analogie zum „Erlebnis“ Erkennen auffassen dürfen. Es wäre ein grundsätzlicher Fehler, und wir würden den Kreis des Bewusstseins als Halbkreis missverstehen, würden wir es so tun. Die Not-Wende des Erkennens bleibt dennoch beim gelassenen Schauen stehen, sie muss den Unterschied wahren, um begreifen zu können. Es geht darum, den Gegenstand in seinem „An sich“ zu schauen. Die Not-Wende des Daseins setzt dieses Verhältnis voraus, sie nimmt es so an, aber sie kann sich damit nicht begnügen. Die Not-Wende des Daseins muss den Gegenstand im Ge­ müt erleben, sie muss ihn an sich selber spüren. Die NotWende des Daseins kommt aus dem Bedürfnis und sie sucht die innere Einheit, den inneren Frieden in der Verselbigung. Was also im Erkennen unterschieden bleibt, wird im Gemüt verselbigt. Mit­tels des Erkennens wird Dasein „zuweg“ getrieben, es ergreift den Gegenstand und drückt ihn an sich, reißt ihn an sich in der Verselbigung. Diesen „Zuweg“ des Daseins nennen wir Zweck, die Begriffsformen des Daseins sind seine Zwecke, das Dasein ist von Zwecken getrieben. Es mag nun sein, dass wir in den Begriffsformen des Daseins eine Entsprechung zu den Be­ griffsformen des Erkennens entdecken, indem wir auch hier vielleicht einen Aufbau finden, der sich nach Sinnlichkeit, Erinnerung und Reflexion vergleichen lässt. In unserer Betrach­tung ist es aber allein wichtig, dass wir das grundsätzlich andere Verhältnis sehen: Das Erstrebte ist im Strebenden nicht wie das Erkannte im Erkennenden. Mit dem reinen Schauen ist es dem Zweck nicht getan. Während Erkennen als „zweckfreie Wissenschaft“ dasteht, wird das Ge­ müt zum Widerspruch schlichthin gegenüber einer solchen Zweckfreiheit. Während das Erkennen die immer bessere Unter­scheidung als sein Grundgesetz verkündet, verwirft das Gemüt für seine Beziehung die gelassene Unterscheidung und verlangt das Aus-sich-Herausgehen in der Entscheidung. Dies muss ent­nommen werden aus dem Plan der Gründe: Dasein lebt aus einem Ge-

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flecht von Zweckbestimmungen, denen es nicht entkommen kann. Betrachten wir aber das Verhältnis genau, so ergibt sich, dass der erscheinende Unterschied gar nicht der eigent­liche Zweck ist. Er ist und bleibt Mittel, so wie Erkennen insgesamt hier Mittel zum Zweck ist. Indem das Gemüt von sei­nen Bedürfnissen getrieben den zweckmäßigen Gegenstand er­strebt, um ihn an sich zu nehmen, erkennt es nur sich selber als Zweck an; es ist Selbstzweck. Es dreht sich also alles um das Dasein, so dass Erkennen für sich den Zweck gar nicht be­anspruchen kann. Der Zweck ist die Vereinigung des Daseins mit seinem Mittel, jedoch nicht Vereinigung zur Unterschei­dung, sondern Vereinigung zur Verselbigung. Denn die Gegeben­ heit des Erkennens, die Erscheinung in der Vorstellung, be­deutet dem Gemüt ein Nichtsein, wenn es diese nicht an sich selber erlebt. Alles, was ich aus Not und Bedürfnis heraus tue, verlangt nach dem Selbsterleben des Mittels, indem das in der Unter­scheidung gegebene Mittel mein Dasein bereichert. Es wird darin mein Dasein. Die Merkwürdigkeit liegt nun darin, dass dieses Mittel ein doppeltes Anstehen oder Vorhandensein hat. Aber nicht alles, was Weltvorstellung ist, spricht mich in gleicher doppelter Weise an, vieles bleibt rein im Erkennen als Gegenstand bestehen. Die Zweckbestimmungen meines Gemütes treffen also eine Auswahl, die Entscheidungen des Daseins tragen jedoch damit eine andersgeartete Unterscheidung, je nach dem Bedarf an mich heran. Dasein überzieht die Erschei­ nungen mit einem unsichtbaren Netz an selbstsüchtigen Zwec­ken, und diese Zwecke lassen sich auch nicht dem reinen Schauen entnehmen. Darum nennen wir sie unsichtbar, weil das Erlebnis des Gemütes nicht in die Vorstellung gezwungen wer­den kann, es ist als solches niemals Mittel, immer Selbst­zweck.

3. Die einzigartige Bedeutung des Mahles Mit den Zweckbestimmungen haben wir eine Zusammenfassung vor­ genommen, die vielleicht zu vieles ungeprüft in eines ge­bracht hat. Vielleicht hat sich schon eine Abstraktion bei uns eingeschlichen, die so nicht beweiskräftig wird. Also müssen wir ein eindeutiges Beispiel bilden. Beginnen wir also mit dem Allernotwendigsten, um gleich festzustellen, welch ei­nen Schlüssel dieses Erlebnis uns an die Hand gibt. Welches Bedürfnis käme dem Verlangen nach Nahrung gleich. Was über den Zweck gesagt worden ist, trifft natürlich zu. Ein Teil der Erscheinungen steht unter der Zweckmäßigkeit des Nah­ rungsmittels. Warum gerade diese Dinge, jene nicht, geht uns jetzt nichts an, denn es geht nur um die Beziehung Dasein und Nahrungsmittel. Mein Zuweg zum Mittel und das Mittel sind nicht Zweck. Der Hunger erzeugt eine Zerrissenheit meines Ge­mütes, das Selbst widerspricht sich, das Gemüt erlebt die Verselbigung mit dem Nahrungsmit-



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tel und findet darin wieder seinen Frieden. Niemand kann behaupten, dass hier das Nah­rungsmittel Zweck sei, denn sonst müsste ich ja zum Nahrungs­ mittel werden. Alles dreht sich um die Stillung meines Hun­gers. Was wir nun über Gemüt, Verselbigung und Zweck gesagt haben, trifft bei der Nahrungsaufnahme in unübertroffener Deutbar­keit zu, und so dürfte denn der Einwand herausgefordert wer­den, dass wir einen Sonderfall zum Allgemeinen gemacht haben. Gewiss gibt es nichts dergleichen mehr, dass ein Mittel zum Selbstzweck sich in jeder Hinsicht so mit mir verselbigt wie Speise und Trank. Aber auch in den anderen Erlebnissen, die ich suche, um meine Bedürfnisse zu stillen, wird das Mittel nur wirksam, wenn ich es als Selbst, als Stimmung in mir er­fahre. Mag das Mittel auch als solches weiterbestehen. Ich friere und ziehe einen Mantel an. Ich erlebe den Mantel nicht in seinem Schmucke, sondern als zufriedenes Gemüt. Denken wir an die Heil- und Genussmittel, die ähnlich wirken wie Nah­rungsmittel. Alle Spiele erfreuen mich nur im Gemüt, nicht im Erkennen. Jede Freude und jede Lust, mag sie auch die der reinen Wissenschaft sein, lebt aus der Gemütbeteiligung. Das Gemüt erfährt Freud und Leid nur aus Verselbigung, und das Bewusstsein wird durch Gemüt-Dasein zweckbestimmt. Es flieht die innere Zerrissenheit, es sucht den inneren Frieden, sei es Lust, Genuss, Freude und Stillung der Bedürfnisse. Was wir am Gemüt schon früher bemerkt haben gegenüber dem Erkennen, dies schält sich wie ein einziger innerer Grund heraus. Ich erlebe die Gemütsbeteiligung zwar auch als Ausstrahlung des Gemütskerns und dabei mehr oder weniger tief im Kern ansäs­sig. In der Erfahrung der gemüthaften Stimmung ist mir aber das „Ich bin“ als ein Einheitsknäuel gegeben, den ich erst am Erkennen in eine Ordnung oder Gliederung bringen kann. Wenn bis jetzt alle höheren Gemütsbewegungen zurückgehalten werden, so führt es nicht dahin, dass wir zu einem falschen Ergebnis kommen müssten. Wir benötigen klare Gegebenheiten für die Grundsteinlegung, und daher wurden auch in der ersten Un­tersuchung, die Erkennen in seiner Einseitigkeit festhalten möchte, nur die grundsätzlichsten Dinge herausgestellt. Wie weit eine Zweckbestimmung im sittlichen Handeln mit den be­ dürftigen Zwecken bis hierher noch übereinstimmen kann, ver­ mag dieser Anfang noch nicht aufzuzeigen. Wenn wir uns aber beim Erkennen an die sinnlichen Gegebenheiten gehalten haben, so müssen wir uns hier an die Bedürfnisse des leibhaftigen Gemütes halten, denn alles andere bleibt ja umstritten, so wie Sein insgesamt hier die allgemeine Streitsache ist. In der einfachen Zone der leibhaftigen Bedürfnisse dürfen wir also unserer Bestimmung des Zweckes einmal trauen, wenigstens soweit hier wie auch im Erkennen das Ich als Mittelpunkt der Welt dasteht. Dann bemerken wir aber die Nahrungsaufnahme auch nicht als einen Sonderfall, vielmehr

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3. Teil, 2. Kap.: Dasein und Erscheinung

bildet auch sie den Kern unserer Zweckbestimmung. Wenn sich die anderen Bedürf­nisse dann mehr und mehr nach außen verlagern, dann deshalb weil sie als dringliche und unmittelbare Not-Wende sich nicht mehr so scharf abzeichnen. In diesem Maße dürfte dann aber auch die Zweckbestimmung nicht mehr so unmittelbar in ihrer ursprünglichsten Verflechtung offenbar werden. Vor allem ist hier damit zu rechnen, dass immer neue Zweckbestimmungen zu­sammenkommen. Es gehört aber zum Erlebnis des Gemütes, so wie es sich bis jetzt gezeigt hat, dass wir uns um eine weite­re Rangfolge in den Bedürfnissen, also um eine Abfolge der Not­wendigkeiten noch gar nicht bemühen. Dass ich das Es­ sen und Trinken am nötigsten habe, bleibt meine unmittelbar­ste Erfah­rung. Sie ist mit dem „Ich bin“, also mit dem Dasein, un­trennbar gegeben und darum ist sie auch nicht durch die Er­scheinungen vermittelt. Die Erscheinungen bleiben im Erkennen hängen und unterliegen so der Einklammerung, den Hunger erle­be ich im Dasein ohne jeden Schein. Das Mittel, um meinen Ge­mütsfrieden zu halten, gehört als Erscheinung dem fragwürdi­gen Schein. Es folgt das Wunderliche daraus, dass mir der Zweck als Sein gegeben ist; Sein als Dasein ohne nähere Be­ stimmung. Das Mittel bleibt außerhalb der Zone, denn Sein steht mir nur als Dasein zu. Wir bemerken nun einen einzigartigen Schnittpunkt im Verhält­ nis der Zonen des dreieinigen Bewusstseins und darin die wun­derbare und unvergleichliche Bedeutung des Mahles. Es gibt den Augenblick des Zeitlichen, wo Gemüt und Erkennen, wo Da­sein und Erscheinung, wo das Unterschiedene und das „Ich bin“, wo Sein und Schein das Selbst werden. Es gibt in den drei Zonen eine Stelle der Verselbigung, nämlich das Werden aus dem Mahle. Es ist also ein Festmahl des Werdens, ein Sym­posion, worin wir einen ersten, gewaltigen Aufschluss erhal­ten. Dasein und Erscheinung vermitteln sich im Werden. Können wir nun sagen, Dasein ist Werden, Erscheinung ist Werden? Können wir auch sagen, Dasein ist Erscheinung, Erscheinung ist Dasein? Dies lässt sich ohne Weiteres nicht überblicken. Am Mahle habe ich den Aufschluss erhalten. Nicht alle greif­bare Erscheinung kann ich essen. Allein am Mahle habe ich ei­ne Verselbigung erlebt: Das Mittel, welches durch und durch Erscheinung ist, wird zu meinem nahtlosen „Ich bin“. Das Mit­tel im Erkennen gegeben löst den Widerspruch im Gemüt auf, das Selbst wird wieder eins mit sich. Wir müssen beachten, dass ich hier nicht in erster Linie an das Wohlbefinden meines Körpers denke, der mir ja auch als Erscheinung gegeben ist. Ich erlebe den Leib nur über das Ge­ müt, und auch hier zeigt sich das ­Eigentümliche der nach Zo­nen bestimmten Erfahrung. Ich nehme den Körper als einen ge­gliederten wahr, ich werde den Leib als Gemüt inne. Ich er­fasse die Speise als Ereignis der Sinne und damit als Er­scheinung mit allen Merkmalen, ich erlebe das Mahl im Inne­werden. Indem wir aber nun



§ 28  Der Aufschluss des Werdens179

das Mahl zum Festmahl einrichten, kehren wir die Erlebnisseite nach außen zur Begegnung mit den Anderen. Es ist also die unmittelbare Gewissheit des Mahles, die wir erwählen, um die Erscheinung der anderen „Ich bin“ aus dem Schein der Täuschung heraus und in das Erlebnis des eigenen Ich hereinzunehmen.

§ 28  Der Aufschluss des Werdens 1. Der Rückschluss der Reflexion und der Rückbezug des Zweckes Es ist ein Curiosum, aber es ist so: Hätte Descartes gesagt – edo ergo sum -, so hätte er Brauchbareres geliefert zu seinem Anliegen. Mit dem Mahle habe ich einen Grundstein der Verein­barung zwischen Gemüt und Erkennen, zwischen Dasein und Er­scheinung, der in seiner Ebene unwiderlegbar und unüberbiet­bar ist. Die Erscheinung ist Dasein von meinem Dasein, sie ist Sein von meinem Sein. Hätte ich aber ein Bedürfnis, wenn sie es als meine Erscheinung schon wäre? Warum müsste ich die­ses Mittel erst dem Schein der Erscheinung überliefern, wenn es schon in meinem Bewusstsein irgendwie im Untergrund seiend wäre. Wäre dieses Ziel der Verselbigung in einer pflanzenhaf­ten Unmittelbarkeit dann nicht viel besser erreicht? Diese Frage setzt freilich schon eine höhere Zweckmäßigkeit voraus, woran wir erneut unsicher werden. Denn was ich als Zweck an­nehmen kann, ist mein Bewusstsein in der unmittelbaren Gewiss­heit des Bedürfnisses und die unmittelbare Gewissheit seiner Stillung mit Hilfe des Mittels. Was ich aber im Anschluss an diese Erfahrung tue, ist ein Schluss der Reflexion, und damit ist eine Vermittlung eingetreten, die zu prüfen ist. Ich erlebe das Werden in der Verselbigung des Erscheinenden in meinem Gemüt, aber mein Anliegen ist ein philosophisches, es geht nicht um das Bedürfnis, es geht um seine Botschaft für die Reflexion. Diesmal ist der Schluss ein anderer. Die Reflexion vertritt wieder das gesamte Bewusstsein, denn das ist ihre Aufgabe. Aber der Einschluss, den sie jetzt leistet, wird auch zum Ausschluss, indem sie das Mittel ins Jenseits des Be­wusstseins setzt. Gerade weil sie Dasein und Erscheinung gleichsetzt, sie ist für die Wahrnehmung und das Innewerden als unbestechlicher Richter zuständig, sie verfügt über die Sinneserkenntnis und über die Daseinserkenntnis, wird die Er­scheinung ausgesetzt in ein Jenseits. Denn bisher hat sie das Gemüt in seiner Andersartigkeit gegenüber den Erscheinungen erlebt. Im Mahle aber kommen die Daseinserkenntnis und die Reflexion völlig zusammen. Diese Erscheinung ist nicht das ewig Fremde, dessen Eigengründe an sich ich nie erfahren kann. Sie bleibt aber auch nicht ewig meine pure Vorstel-

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lung, so dass jede Überlegung nach einem Jenseits hinter den Er­scheinungen schon überflüssig, zwecklos und abwegig wäre. Ich habe es mit einem Denkakt zu tun, der in Seiendes an sich setzt. Das Gesetz der Reflexion fordert nun Seiendes an sich in der Erscheinung, weil es anders an der unmittelbaren Gewissheit in seinen ureigenen Widerspruch fällt, der nicht auf­hebbar ist wie die Entzweiung im Gemüt. Bedenken wir nochmals den Zweck, so ergibt sich dabei, dass wir diesen in seiner Reichweite als Gleichnis oder Abstraktion gar nicht benötigen. Wir haben unsere Begründung allein auf das Bedürfnis des Mahles festgemacht, denn die anderen Bei­spiele würden am Mahle gemessen nur zu einer Verflüchtigung dieser einzigartigen Aussage werden. Mit diesem unmittelbaren Bedürfnis als Concretum ist aber nun ein Ereignis in die Er­ fahrung des Bewusstseins gekommen, welches sich leicht in mehr oder weniger abgeschwächter Form dort als ein Sammelbegriff nachweisen lässt. Als Sammelpunkt dieser zweckmäßigen Bedürf­nisse bleibt mir immer die Mitte meines Bewusstseins, dieses als Selbstzweck. Das Selbst ist also der Zweck. Vergleichen wir diesen Rückbezug mit jenem Rückschluss der Reflexion, so beleuchtet sich nochmals der Unterschied der Zonen. Die Vor­stellung des Erkennens, die wir jetzt als Empfängnis wie auch als Erzeugnis ansetzen können, ereignet sich in einer „zufäl­ligen“ Bedürfnislosigkeit. Die Erscheinung steht in schweben­der Zwecklosigkeit da, Zweck ist mir am Bedürfnis des Gemütes aufgegangen, Zweck erklärt sich mir so als Selbstver­fassung. Der Schluss der Reflexion setzt nur gleich, ohne etwas zu än­dern; indem er dem An sich Raum gibt, erzeugt er dennoch die Einheit. Aber diese Einheit lässt doch Sein und Erkennen auch auseinanderbrechen. Denn die Reflexion anerkennt die Ei­gen­tüm­lichkeit eines erscheinenden Seienden für sich, für dieses Sein an sich. Dennoch schließt sie aber die Einheit mit ein. Setzt sie denn damit nicht wieder alles als ihre Vorstellung? Wir können es aber auch noch so sehen: Die Reflexion hat sich nach ihrem Selbstverständnis vom Erzeugnis der Sinne ab­ge­setzt, ihre eigene Verfassung indes als innere Fassung und Grundgesetz der Erscheinungen ausgegeben. Über­tragen wir die­ ses Verhältnis nun in den neuen Plan, so erhal­ten wir tat­sächlich eine Fuge auch im erscheinenden Sein. Wir müssen nicht zurück in die Wiederholung der Erscheinung le­ diglich als mein Erzeugnis. Eine andere Möglichkeit öffnet sich: Er­kennen entdeckt seine eigene Ordnung als Vergleich zur Er­ scheinung, diese ist inneres Gesetz und äußere Erschei­nung. Wir hätten uns nur im Kreise bewegt, wenn uns die Bedürftig­keit des Selbstzwecks nicht aus der Selbstgenügsamkeit des Transzendentalismus von selber hinausgetrieben hätte. Hier haben wir die offene Stelle, wo die Klammer nicht schließen kann. Das Bedürfnis ist ein offener Zwiespalt, und Zweck be­sagt schon die Zweiheit. Die Befriedung des Gemütes wäre nur die Auflösung einer vorgetäuschten Unterscheidung, oder aber die Einheit



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des Bewusstseins wäre eine einzige Selbsttäu­ schung. Alle Bedürfnisse, wenn ich sie nun dem Sammelbegriff unterordne, schneiden sich aber am Selbstzweck meines ego concretum. Kann ich Seiendes wieder einholen, was ich im Er­kennen erst habe entspringen lassen. Was ich im Erkennen er­zeuge, besitze ich im Gemüt noch nicht; ich erzeuge es in ei­ner anderen Weise als ich es empfange. Wenn ich der Reflexion traue, muss ich die Erscheinung als dritten Unterschied außer­ halb des Machtbereichs meines Bewusstseins annehmen. In diesem Zusammenhang müssen wir eine Beobachtung wieder aufgreifen, die sofort am Erkennen auffällt. Dieses gelangt nur an der Erscheinung zu sich selbst. Indem das Andere in ihm zu Stande kommt, vollzieht es seine Anlage; es wird aber dabei, was es an sich immer schon ist.

2. Das Mahl und das Werden; die Zeit als „Mahlzeit“ Erkennen hat kein Werden an sich, es wird nur am Anderen, in­dem es dieses nachvollzieht. Aber wird das Andere auch nicht? Die Verneinung ergibt sich als unmittelbare Einsicht: Die Er­scheinung ist eine schlichthin werdende. Selbst der Himmel über mir wird beständig anders an seiner Oberfläche. Entste­hen und Vergehen, Wachsen und Verwesen, Werden ist ein Kreis­lauf der Veränderung. Aber auch hier liegt ein anderer Kreis­lauf als der des Erkennens vor. Betrachten wir das Wachstum rein von seiner Erscheinung her, so sehen wir ein, dass dieser Kreislauf nicht in sich selber schließt. Er entsteht immer neu, aber nur mittels der Zeugung wiederholt er sich in Ande­ren des Artgleichnisses. Dasein und Erscheinung sind sich aber im Mahle begegnet, so dass ein Erlebnis der Verselbigung stattgefunden hat. Die Bot­schaft des Werdens ist also jetzt zu vernehmen. In welcher Weise ergeben sich hier Hinweise für das Werden im Bewusstsein und das Werden an der Erscheinung? Die Begegnung von Dasein und Erscheinung wird doch zum Erlebnis, und sie wird zur Ver­ selbigung. Haben wir zwischen Dasein und Erscheinung die Ver­ einigung entdeckt, so zeigt sich die Vereinbarung gerade im Werden. Dieses ist es, was Dasein und Erscheinung gemeinsam haben, Sein als Werden. Die Veränderung erfahre ich beidsei­tig, und auf Grund der beidseitigen Erfahrung je für sich lässt sich keine Einigung ermitteln. Denn ich nehme die Ent­ wicklung, den Wandel an der Erscheinung wahr, und ich werde den Wandel als Stimmung inne. Es ist die alte Kluft, die so keine Brücke zeigt: Der Wandel der Erscheinung an sich, der Wechsel der Stimmung in mir. Im Mahle jedoch wird ein Stück Erscheinung zu meinem Werden, aber mein Werden im Gemüt wird nicht zur Erscheinung. Die Erscheinung wird zum Dasein. Da ich mir im Erkennen aber auch als Erscheinung gegeben bin,

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3. Teil, 2. Kap.: Dasein und Erscheinung

nehme ich mich in ähnlicher Weise als Erscheinung wahr. Im Mahle finde ich also den Schnittpunkt für die beiden Zonen, Begegnung und Erlebnis; im Werden aber rühre ich irgendwie an tiefere Zusammenhänge, die ich noch erschließen muss. Nicht alles Werden lässt sich mit dem Mahl in Zusammenhang bringen. Aber nun melden sich schon wieder Bedenken an. Ich darf Wer­den und Wandel nicht gleichsetzen. Nur jener Wandel, der im Übergang steht, wo Erlebnis und Begegnung verschmelzen, darf mir als Werden gelten. Diese Schnittstelle aber darf ich Sein als Vereinbarung von Dasein und Erscheinung nennen, und somit ist mir Sein als die Einheit des Werdens gegeben. Sage ich Werden, so ziele ich auf die Stelle der Vereinigung, sage ich Sein, so meine ich die Gleichheit der Seiten. Ich verlagere also mit Sein schon den Inhalt ins Erkennen, indem ich die Einheit der Zonen aus der Botschaft des Werdens erschließe. Aber ist diese Einheit von Sein und Werden nun im ganzen In­halt in Übereinstimmung? Stimmen die Zonen nur an den Schnittstellen des Mahles zusammen, so dass sich die Einheit von Sein und Werden wieder verflüchtigt, wo sich die Zonen wieder vom Mittelpunkt entfernen? Oder steht dieser Schnitt­punkt in Vertretung für die Gesamtheit beider Zonen? Wenn mir im Gemüt alles in geballter Weise gegeben ist, nicht so aus­gefächert wie im reinen Erkennen, so müsste doch wenigstens von der Seite des Gemütes her die Zone geschlossen in dieses Mahl des Werdens hineingehen. Zwei Überlegungen wollen wir noch heranziehen, um die Frage zu beleuchten. Die anderen Bedürfnisse erreichen nicht die innige Verbindung des Mahles. Eine Vereinbarung ließe sich nur in der Ausstrahlung des Mahles herleiten. Dasein und Er­scheinung rückten dann wieder voneinander ab. Eine andere Be­obachtung bringt mich aber wieder näher: Das Ereignis des Mahles ist mir ja auch in der Begegnung mit den anderen Men­schen gegeben, rein von der Erscheinung her, erleben kann ich es nicht an mir. Wenn aber das Mahl grundsätzlich für mich zur Brücke für die Erscheinung wird, so dürfte doch gerade das erscheinende Mahl der Anderen Rückschlüsse erlauben auf das gleiche Bewusstsein hinter der gleichen Erscheinung. Über­all wo ich den mir gleichen Erscheinungen begegne, entdecke ich auch diesen Schnittpunkt des Mahles, so als müssten diese Ereignisse wie die Knotenpunkte eines Netzes alles in der Einheit einer Wirklichkeit zusammenhalten, so als wären sie die Bürgen für die Vereinbarung von Welt und Bewusstsein. Ist es aber dann nicht so, dass dieses Ereignis allenthalben er­ neut die Einheit in ihrer ganzen Oberfläche und Raumtiefe der Zonen rückversichert, wo sie sich zu verflüchtigen droht? Bis jetzt konnte sich die Bewegung nur von der Erlebniszone her als eine Bewegung in der Zeit vorstellen. Räumliche Ver­ änderung hat keine



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erscheinende Zeit. Vergegenständliche ich aber nun die Zeit als „Mahlzeit“, so müsste ich damit die Ein­heit von Dasein und Erscheinung schlichthin und durch und durch annehmen, da doch die Zeit als allgemeine, inhalt- und stimmungslose Grundverfassung sich entdecken lässt. Das Merk­würdige des Zeitstroms ließe sich so passend aufklären. Mein Gemüt ist gar nicht der sprudelnde Urquell der Zeit. Soweit die Erscheinung aus Dasein gehalten ist, waltet die Zeit als letzte und allgemeine Einheit, ich aber werde ihrer als Ge­müt-Dasein nur inne. Es ist nun sicher ein inhaltsschwerer Aufschluss, den wir an der Bedeutungsfülle des Mahles erahnen können. Zweck, Zeit und Werden, dies alles strömt anscheinend in die Einheit des Mahles, und hier stehen wir am Eingang in geheime Wege zur Weltwirklichkeit im Bewusstsein. Aber es ist auch ein gewalti­ger Sog, der uns hier erfasst, nämlich die altvertraute, all­ tägliche und natürliche Einstellung zur Welt. Wir haben uns also zu hüten, dass wir nicht unversehens in die „Geradehin-Einstellung“ fallen. Der Gedanke, dass die Zeit in meinem Ge­müt so zu Hause ist, so die Grundschicht bildet wie in der Materie, besticht mich. Damit wäre doch aller Realismus wie­der hergestellt. Aber dieses „Fleisch“ meines Gemütes und der Körper meiner eigenen Erscheinung, sind sie wirklich so ein­fach zu vereinbaren? Erkennen habe ich als das zeitlose Ele­ment im Bewusstsein bestimmt. Soweit das Auge, das Ohr, das Gehirn Körper sind, gehören sie der Erscheinung an. Die Vor­stellung, die ich mit dem Auge erzeuge, entspricht dem Gegen­stand, den ich anfasse. Gemeinhin sage ich nun: Was ich in der Hand halte, das ist Materie und Form des wirklichen Ge­genstands; was ich aber sehe, ist nur ein Abbild des Gegen­stands auf meiner Netzhaut. Es fehlt dem Bild also das Aller­wichtigste, der Stoff. Bricht aber damit nicht die Einheit der Sinne als Erkennen auseinander? Oder urteilen meine Sinne die Wirklichkeit nur deshalb, weil jeder Sinn nur eine Teil-Weise von Wirklichkeit wiedergeben kann. Eine solche Teil-Weise ist aber für sich eben nicht Wirklichkeit, sondern nur im Verbund. Dann würden sich die fünf Sinne auch keine will­kürlichen Ausschnitte nehmen, weil es sonst zu Überschneidun­gen käme. Dann hätte die Einheit der Materie fünf Weisen der Aussetzung oder der Existentia. Aber diese Überlegung wird schon wieder durchkreuzt von der Tatsache, dass es zwischen dem Geruch und dem Geschmack eine Überschneidung dennoch gibt. Dies deutet nun auf das Innewerden des Gemütes hin. Da­ mit wird Erkennen stärker in den Zeitstrom des Gemütes einge­ flochten. Die fünf Sinne zeigen ein Gefälle von Erkennen hin zum Gemüt, von der Vorstellung hin zur Empfindung. Die Dinge sind so verschlossen, dass wir nicht einfach dem Realismus huldigen können. Andrerseits aber hat sich deutlich genug gezeigt, dass wir mit dem verschlossenen Bewusstsein ei­ ner „transzendentalen Reduktion“ auch nicht auskommen können. Mit dem Mahle aber haben sich die Grund-

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mauern einer Vereinba­ rung von Bewusstsein und einer jenseitigen Welt abgezeichnet. Eine Bestandsaufnahme muss hier als Zwischenergebnis festge­ halten werden. Eine Welt unabhängig von meinem setzenden Be­ wusstsein kann mir grundsätzlich nicht als logischer Wider­spruch erscheinen oder aufgehen.16 Aus der Natur und der Aus­sage des Mahles aber erschließe ich ein Seiendes unabhängig von meinem Bewusstsein; und es wird mir zum logischen Wider­spruch, wenn ich es nicht tue. Es ist die Selbsterfahrung des Gemütes, welche die Selbstgenügsamkeit des transzendentalen Bewusstseins aufsprengt. Damit wird aber auch der Stand der Dinge gekennzeichnet. Es ist eine ganz alltägliche Erfahrung, die mir die Augen öffnet, und die nachträgliche Reflexion sagt mir daraufhin, dass Land jenseits meines Bewusstseins vorhanden sein muss, Sein von meinem Sein, Fleisch von meinem Fleisch. Allein darin liegt das Unzureichende für das philosophische Bewusstsein. Fest steht, dass ich durch logische Überlegungen allein nicht dahinterkomme. Descartes hat zu wenig die Mit­teilungen der sinnlichen Erfahrung sprechen lassen. Es genügt dem philosophischen Bewusstsein indes auch nicht, dass ich nach Befragen der sinnlichen Erfahrung die Reflexion nur zur Be­glaubigung heranziehe. Damit habe ich nur eine Brücke in un­erforschtes Gelände, die Erforschung beginnt erst.

3. Die Bedeutung der Artselbigkeit in der Geltung des princi­pium causalitatis Die Abfolge einer Bewegung im Raume kann ich mir angeblich unmöglich ohne Zeitfluss vorstellen. Aber die Sprache verrät mir hier eine falsche Vorstellung. Das scheinbar Unmögliche besteht darin, dass der Wandel an einer Erscheinung mich be­sonders auf mein Zeiterleben aufmerksam macht. Natürlich müs­sen wir jetzt damit rechnen, dass die Zeit wirklich den Er­ scheinungen zu Grunde liegt, aber dies ist es nicht, was mich der Zeit inne werden lässt, denn es gibt keine Wahrnehmung der Zeit. Auch Kant hat bemerkt, dass die Zeit durch keinen Kunst­ griff der Anschauung aus den Erscheinungen gezogen werden kann. Wenn er nun aber die Zeit als innere, den Raum als äu­ßere Anschauung bestimmt hat, so liegt hier ein doppelter Fehler vor. Auch der Raum ist keine besondere Anschauung, er ist vielmehr die allgemeine Erscheinung des Gesichtes, des Getastes und etwas abgeschwächter auch des Gehöres. Wir ent­decken also am Raume das Einzigartige, dass eine Erscheinung zur gemeinsamen Grundlage für drei verschiedene Sinne wird. Daraus wird die gewaltige Bedeutung des Raumes offenbar, denn andere Sinneseindrücke sind in der Regel nur in einer Sinnes­weise gegeben, und wir übertragen sie nur gleichnishaft in andere Sinne oder in 16  Husserl,

Ideen 1. § 48.



§ 28  Der Aufschluss des Werdens185

unser höheres Gemütsleben.17 Indem Kant aber der Zeit eine eigene Intentionalitas eingeräumt hat, ward die Zeit als ein Organ des Erkennens angesetzt, was sie aber ebenso wenig ist wie eine Stimmung des Gemütes. Was die Zeit so allgegenwärtig macht, dass sie gemeinhin wie ein sechster Sinn, nämlich als Zeitsinn angenommen wird, ließe sich als die Tatsache angeben, dass eben sie als er­ ste, allgemeinste und deshalb inhaltslose Grundlage einer Ver­ein­barung von Dasein und Erscheinung auftaucht. Was die Bewegung der Lebendigen betrifft, so können wir deshalb auch nicht sa­ gen, dass diese den Inhalt Zeit beim Erkennen be­ sonders in An­ spruch nehmen müsste. Zunächst muss hier eine ver­schiedene Wei­se von Bewegungen festgehalten werden. Die Orts­bewegung eines Lebendigen unterscheidet sich nach Raum und Zeit überhaupt nicht von einer mechanischen Bewegung. An der Oberfläche ei­ner solchen Gleichheit wird aber das Lebendige gerade deshalb als eine Innenseite und als Innenleben mit der Reflexion in besonderen Bezug gebracht. Denn die Materie er­weist sich als durch und durch Oberfläche oder außen, so dass ich mir Leben nur als Innenleben denken kann. Die Erscheinung deutet auf ein Innenleben. Gewiss zeigt sich das Leben nicht nur innen, sondern auch in der gegliederten Erscheinung. Aber all dies, was sich hier äußert, schließe ich zurück in eine Innenzone, so wie ich auch die Reflexion nicht aus den Sinnen ableiten kann. Was ich aber in dieser Hinsicht aus dem Individuum nicht ab­leiten kann, ist die Artselbigkeit, die nicht nur den Ver­gleich der Arteinzelnen, sondern auch das Verfolgen der Ent­wicklung erfordert. Gewiss bringt diese Entwicklung ein inni­geres Verhältnis zur Zeit zum Ausdruck, indem ich nämlich die Arteinzelnen als solche ausfindig mache, wenngleich sie in äußerst verschiedenen Stadien der Entwicklung sich befinden. Dennoch ereignet sich an der Begegnung mit den Arteinzelnen in ihren verschiedenen Lebensaltern etwas geradezu Wider­sprüchliches. Die Artselbigkeit, welche die Reflexion er­schließen muss, ist die einzige zeitlose Vorstellung, die sie sich notwendig denken muss. Was nun das Gesetz der Artselbig­keit betrifft, also ihre Weise als Zone, worin sich alle Art­selbigkeiten gleich sind, so ließe sich dieses leicht als das Gesetz der Reflexion begründen. Weiter geht aber die Gleichung nicht auf, weil die Reflexion keine formhafte innere Anschau­ung in sich hat, wonach sie Ursache für die Vielfalt der For­men werden könnte. Verfolgen wir also den Formenreichtum der Arten und den Formenwandel der Entwicklung vom Vergleich der Sinne einfach zurück in die Reflexion und bleiben wir in un­se­rem geschlossenen Bewusstsein, so müssen wir das Gesetz der Artselbigkeit in der Reflexion, die Formen der Artselbigkeiten (nicht die der Entwicklung) dennoch in den Sinnen suchen. Ich erschließe aus den Sinnen das Formgesetz. 17  Wir

reden von schreienden Farben und von bitterem Leiden.

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3. Teil, 2. Kap.: Dasein und Erscheinung

Eine Vereinbarung in diesem Rahmen stößt auf einen Wider­spruch, mit dem sich die Reflexion schwerlich abfinden kann. Am Individuum entdecke ich das parallele Schema nach Artsel­bigkeit und Erscheinung, welches der Reflexion und der An­schauung entspricht. Allein die Formgebung stellt sich nun völlig quer in dieser Gleichsetzung. Zwar lässt sich auch hier auf beiden Seiten die bekannte, wechselseitige Bedingung ent­nehmen: Keine Zone vermag sich ohne die andere zu halten; da­her ergibt es auch keinen Sinn, die Artselbigkeit zeitlich oder sonst wie vorrangig sich vorzustellen. Doch gelingt es nicht mehr wie bei den früheren Gegenständen, die Form von den Sinnen abzuleiten. An der Artselbigkeit lässt sich eine Aufteilung von Form und Gesetzesweise nicht durchführen, und die Reflexion fordert im Rückschluss eine Form, die sie selber nicht haben kann. Ich setze eine Formursache in die Artsel­bigkeit, die das Vermögen der Sinne und der Materie allein übersteigt, weil Letzteres doch nur Außenseite sein kann. Die Entwicklung oder Entfaltung als Wandelung einer Substantia in sich selber und aus sich selber ohne ein technisches Zutun von außen lässt mich notwendig ein inneres Principium er­schließen. Was sich dabei als Setzung einer Formursache ein­stellt, erweist sich von besonders reichem Aufschluss. Die Formursache erklärt sich nämlich als das innigste Zusammen­wirken des principium contradictionis mit dem principium cau­salitatis. Ich erschließe eine innere Zone, die mit der Er­scheinung nicht einfach zusammenfallen kann. Allein dieser Schluss ist auch bedingt durch das Denkgesetz, dass zwischen Erscheinung und Artselbigkeit ein Wirkzusammenhang bestehen muss. Etwas kann nicht einfach werden ohne eine Ursache; etwas kann nicht einfach in gleicher Hinsicht so sein und auch nicht so sein. Es bedarf zweier Hinsichten oder zweier Zonen, um die Entwicklung am Individuum zu verstehen. Die Begegnung mit der Artselbigkeit bringt das Bewusstsein erst auf den Gedanken eines Innenlebens. Die Daseinserkennt­nis hat Innenleben in anderer Beziehung, und sie kann ur­sprünglich noch nicht als Gedanken gelten, weil sie nur die Leiberfahrung hat und erst über Denken und Sinne sich als Körper bewusst wird. Es ist aber gerade diese andere Beziehung des Innenlebens, die uns den zweiten mächtigen Baugrund lie­fert, der sich absetzt vom verschlossenen Bewusstsein. Die Er­ fahrung von Lebenskörpern, die sich nach jeweils verschiede­nen, aber einheitlichen Artselbigkeiten entwickeln, muss sich notwendig mit den Gesetzen der Reflexion verbinden. Es wäre ein Akt der Willkür, des Sträubens weiterzudenken, wollte ich mich des Denkzwangs entledigen.18 Indem aber jedesmal das Innenleben Anstoß gibt, hinüberzusetzen in anderes Festland als Bewusstsein, wollen wir nun dieses nach den Gründen ver­schiedene Innenleben noch vergleichen. 18  Es liegt eine große Verschwiegenheit über dem Transzendentalismus, dass er sich diesem Gebiet nicht stellt.



§ 28  Der Aufschluss des Werdens187

Die erste Vereinbarung gründet in der Daseinserkenntnis, in ihrer unmittelbaren Gewissheit des Innenlebens. Ich erlebe nun die Erscheinung in dieser Verselbigung am Mahle, und die Reflexion, welche ihre unmittelbare Einsicht nach dem Zwang ei­nes Denkgesetzes nicht finden kann, schließt aber in der not­ wendigen Anwendung an die mitgeteilte Erfahrung. Die Beweis­kraft ruht in der vorausgesetzten Übereinstimmung des Grun­des. Die unmittelbare Einsicht der Sinne verschmilzt hier mit der unmittelbaren Gewissheit des Gemütes. Ich bin Gemüt, und ich trenne dabei natürlich nicht nach Leib und Gemüt, denn alles strömt in mir in der Einheit des „Ich bin“ zusammen. Aber ohne Anwendung der Reflexion bleibt es bei einer alltäg­ lichen Gewissheit, welche der philosophischen Reflexion nicht genügt. Der erste Grundstein benötigt die Artselbigkeit nicht aus­drücklich. Die Tatsache, dass ich nur Lebendiges esse, keine Erze usw., reicht nicht hin, auf das Besondere an der Materie kommt es hier gar nicht so sehr an. Umgekehrt spielt aber am zweiten Grundstein das Mahl nicht die entscheidende Rolle in der Beweiskraft. Ich sehe zwar, dass die lebendigen Körper Nahrung zu sich nehmen, und dies paßt zu dem Ereignis meines Mahles, das ich innen und außen, im Gemüt und in der Erschei­nung erfahre. Allein diese Entsprechung bemerke ich in unzäh­ ligen anderen Vorgängen auch, und so reichen sie mir eben nicht hin, um eine Vereinbarung einzurichten. Was hier zum Tragen kommt, ist eine Verbindung, die ihrerseits unabhängig von einer Gemütserkenntnis sich hält. Erkennen versucht da­ bei, rein aus seiner eigenen Zone eine Hinübersetzung zu fin­den. Während aber am ersten Ereignis ein Stück Materie, ein Positivum schlichthin zu Grunde liegt, kehrt sich jetzt auch in dieser Hinsicht alles um: Die Vereinbarung erfolgt über die Denkgesetze, genau genommen über die Verneinung meines Bewusstseins als zureichenden Grund. Ich setze das principium contradictionis voraus, welches sich aus dem Unterschied der Reflexion zu den Sinnen herleiten lässt. Darauf entdeckt die Reflexion an der Erfahrung, dass sie nicht hinreichender Grund für das Walten der Artselbigkeit sein kann. Sie entdeckt da­ bei aber auch das principium causalitatis in seiner ursprüng­ lichsten Anwendung: Die Erscheinung ist sich selber nicht hinreichender Grund. Beide Gesetze ergeben sich als Denkregel, und somit kann ich mit ihnen allein nichts beweisen, wenn es darum geht, Seins­gründe jenseits meines Bewusstseins zu bestimmen. Es hängt al­so vom Inhalt der Erfahrung ab, und es hängt davon ab, dass ich die eherne Geltung der Denkgesetze innerhalb meines Be­wusstseins anerkenne. Betrachte ich dann die beiden Erfah­ rungsinhalte Mahl und Artselbigkeit, so komme ich zu dem Er­gebnis, dass sie sich gerade wegen ihrer Verschiedenheit nach Gründen bestens ergänzen, um eine beweiskräftige Aussage zu machen. Denn einerseits steht da eine Not-Wendigkeit des Be­dürfnisses im Gemüt, sie bedarf der Erscheinung zu

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3. Teil, 2. Kap.: Dasein und Erscheinung

ihrem Da­sein. Andrerseits bemerke ich an der Reflexion eine doppelte Notwendigkeit; einmal die Anwendung an die Sinne mit ihrer Erscheinung, dann die innere Nötigung eines logischen Denk­zwangs. Was aber die Erscheinung betrifft, die nun im Mittel­punkt steht, so gewahre ich an ihr eine Doppeldeutigkeit. Die Erscheinung stellt sich aus der Reflexion betrachtet notwendig als meine Vorstellung ein, aber die Reflexion erfährt sich da­bei nicht unmittelbar beteiligt. Eine Bedürftigkeit seitens der Erscheinung an das Gemüt liegt überhaupt nicht vor. Die Erscheinung behält sich eine Selbstständigkeit in doppelter Hinsicht vor, während jedes der anderen Elemente auf eine doppelte Not-Wende angewiesen ist. Indem das principium contradictionis grundsätzlich und unmit­telbar als Selbstverständnis der Reflexion zur Anwendung kommt, begründet es jede Erkenntnis, letztlich auch das prin­ cipium causalitatis. Es liegt vor jeder Erfahrung schon in der Anwendung. Dem principium causalitatis hingegen eignet nicht der Vorrang, dass es sich aus dem Unterschied oder dem Verhältnis von Reflexion und Anschauung herleiten ließe. Zwar wird an der Erfahrung einsehbar, dass eines für das andere notwendig ist, jedoch macht eine solche wechselseitige Be­dingtheit nicht das eine zur prägenden Ursache des anderen. Darin taucht der Unterschied auf zum Verhältnis der Artsel­ bigkeit zur Erscheinung, die sich auch wechselseitig bedin­ gen. An diesem Abstand aber geht mir erst richtig die Ver­bindlichkeit des principium causalitatis auf. Der Abstand drängt sich mir als Selbststand der Erscheinung auf. Natürlich wird hier die hinübersetzende Kraft des principium deutlich, allein damit kann nichts bewiesen werden. Vielmehr werde ich an diesem Verhältnis mir des Denkzwangs bewusst, der freilich aus sich nicht Seiendes an sich begründen kann. Aber das principium causalitatis kommt durch eine bestimmte Erfahrung in mir zur Anwendung, und weil es nicht jede Erfahrung ist, nicht eine beliebige Assoziation von Gegenständen, deshalb wird gerade seine Anwendung unter bestimmten Voraussetzungen zum Rückschluss der Reflexion. Die besondere Zusammenstellung ist gegeben im Durchscheinen einer Artselbigkeit in ihren Arteinzelnen, weil sich hier der Rückschluss der Reflexion im principium causalitatis und die Selbstständigkeit der Erscheinung auf Grund einer inneren Art­selbigkeit kreuzen. Darin liegt die tragende und auch einzig­artige Bedeutung dieses Ereignisses, dass ich die beiden Prin­ cipia in ihrem ursprünglichsten und innigsten Zusammenwirken entdecke. Es sind nicht die Vorgänge in der toten Mechanik, die das principium causalitatis im Bewusstsein verbindlich werden lassen. Es kann nur die Erfahrung des Lebendigen sel­ber sein, die das Bewusstsein in der Reflexion zu sich selber führt. Dann darf auch erwartet werden, dass sich an dieser Stelle die beiden Principia in ihrer Eigentümlichkeit beson­ders deutlich zu erkennen geben. Wie schon bemerkt, benötigt das Widerspruchsverbot über-



§ 28  Der Aufschluss des Werdens189

haupt keinen Inhalt der Erfahrung, weil das Selbstverständnis der Reflexion in jeder Anwendung in den Unterschied kommt. Das „Ich denke“ weiß sich zurückbehal­ten an seinem vorgestellten Gehalt, denn anders wäre kein Er­ kennen. Die Geltung ist in der Reflexion an sich schon gege­ben, sie wird indes in der Not-Wendigkeit zu den Sinnen zur Vorstellung gebracht. Das principium causalitatis geht mir demgemäß nicht auf, in­dem ich als unbeteiligter Beobachter einen Wirkzusammenhang im mechanischen Bereich verfolge, um dabei angeregt durch ei­ne Wirkung auf einen treibenden Grund zu schließen. Indem mir nämlich die Naturgesetze erst durch Erfahrung und Forschung, durch Überlegung bekannt werden und manchmal auch ein Rätsel bleiben, sind diese Inhalte gar nicht sonderlich geeignet, meine Denkform nach Ursache und Wirkung wachzurufen. Was mich anregt, sind die Vorgänge um mich herum, die geschehen, ohne dass sich in meinem Bewusstsein etwas tut. Wiederum ent­ decke ich mich als Mittelpunkt der Welt, um den sich alles dreht. Als lebendiges Bewusstsein aber bin ich nicht der An­stoß für das, was um mich sich ereignet. Es ist zunächst eine Verneinung: Ich bin nicht beteiligt an dem, was dort und jetzt vor sich geht. Der Schluss oder die Feststellung ist un­mittelbar ohne die Inanspruchnahme der Zeit, sie vermittelt nicht. An der Begegnung mit dem Lebendigen aber erfüllt sich das Gesetz als eine lebende Gegenursache. Das principium cau­salitatis erschließt nämlich einen Willen, der einfach da ist und so aus sich handelt wie das Ich selber. Damit wird jedoch offenbar, dass erst mit dem principium causalitatis die tra­gende Bedeutung eines bejahenden Hinübersetzens aufgeht. Es ist ein Vergleich, welcher hier zum Gegenstand wird, es han­delt sich nicht bloß um eine schroffe Verneinung.

3. Kapitel

Die Vermittlung des Zweckes § 29  Die Frage im Bewusstsein 1. Das Bedürfnis und die Möglichkeit Wir werden uns viel zu wenig bewusst, welche tragende Rolle das Erlebnis des Mahles und die Begegnung mit der Artselbig­keit in der Vertrauenshaltung des Bewusstseins zur Erscheinung spielen. Schließlich begegnet uns ja die Artselbigkeit in Form eines Sonderfalls, nämlich des menschlichen Gegenüber, und das Mahl nimmt hier die Lebensmitte ein. Das Kind erlebt also mütterliches Gegenüber und Mahl noch ganz in der unmit­telbaren Gewissheit der Daseinserkenntnis, und es nimmt buch­stäblich mit der Muttermilch die Seinsgläubigkeit in sich an, die ihm zeitlebens im Alltag nicht mehr verloren geht. Mag diese Sicherheit auch durchgehend eine Gemütshaltung bleiben, ihre Vermittlung geschieht durch die ständige Umgebung mit den Lebendigen, die wir nur in geschlossenen Artkreisen wahr­nehmen. Der philosophische Zweifel beweist die Möglichkeit einer Verlagerung des Bewusstseins in die Reflexion, die Ergeb­ nisse und ihre Gegensätze sind eine geschichtliche Tatsache. Liegt hier ein Missverständnis vor, weil der Rückzug in die Reflexion grundsätzlich zu einer Fehlhaltung wird, so dass nur eine halbe und einseitige Welt ins Gleichnis erhoben werden kann? Liegt die Wahrheit allein in der Tatverselbigung, und erfahre ich die Wahrheit auch nur in der Tateinheit? Zeichnet sich darin nicht schon die gleichmäßige Reifung vom Ursprung des kindlichen Ansatzes her ab? Allein die Frage und der Zweifel, die sich von selber stel­len, zeigen mir, dass Rückzug in die Reflexion zum Daseinsvoll­zug meines Bewusstseins gehören. Die Natur meines Erkennens ist Unterscheiden, die Natur meines Gemütes erlebe ich als Dasein zum Entscheiden, die Bedürfnisse treiben mich in die Entscheidung. Zwei unmittelbare Grundeinsichten des Selbstbe­ wusstseins sind damit gegeben, und damit stehe ich schon in der Reflexion. Fasse ich diese Reflexion schon als ratio theo­retica und als ratio practica, als Vernunft in doppelter Hin­wendung auf, so tue ich mich etwas schwerer, die Dinge einmal zum besseren Verständnis auseinander zu halten. Wir dürfen davon ausgehen, dass die Reflexion allein das Ganze im Über­blick



§ 29  Die Frage im Bewusstsein191

vertreten kann, doch den Nerv der Entscheidungsge­walt können wir dem Gemüt nicht absprechen. Die Frage aber richtet sich an die Reflexion, und hier zeigt sich wieder eine Dop­pel­natur. Die Frage gleitet in einer Spannweite vom Dasein zur Reflexion. Was ist zu tun? Es kann eine bange Frage sein. Warum verschwanden die Saurier so plötzlich? Die Frage ergeht aus dem Bedürfnis, und dieses entsteht im Gemüt. Aber mit der Verlagerung des „Ich bin“ in das „Ich denke“ ist die Einheit des Wissen-Wollens schon hergestellt. Die Frage ergeht aus der Abständigkeit von Gemüt und Erkennen. Das Gemüt hat für sich nicht die Erkenntnis, aber es hat Bedürfnisse; das Er­kennen ist nicht Träger von Bedürfnissen, weil es nur unter­scheidet. Die Frage kann zwar nur aufkommen, weil die Reflexion schon inne ist, aber die Frage äußert Willen. Es ist der Wille zum Zusammenschluss von Gemüt und Erkennen, das Urbe­dürfnis des Gemütes nach Verselbigung: Die Reflexion soll zum Dasein werden, aber auch, die Reflexion soll es so vorstellen, wie Dasein es haben möchte. Es geht uns hier nicht um das Verhältnis von Sein und Sollen. Die dritte Grundeinsicht des Selbstbewusstseins spricht aber nur eine Grundverfassung des Bewusstseins aus: Das bedürftige Gemüt erwartet Antwort im Erkennen. Natürlich können wir es auch so sagen: Erkennen erfährt sich als bedürftig am Gemüt und sucht sich die Antwort. Es versucht, den Zwiespalt, der im Gemüt gegeben ist, zu überbrücken. Die Frage soll in der Regel einen gegenständlichen Zusammenhang an der Erscheinung klären. Aber diese Frage geht uns hier gar nicht an, es geht uns darum, was mir das Vermögen der Frage über die Verfassung des Bewusstseins mitteilt. Die offene Stelle ergibt sich aus dem Bedürfnis des Gemütes, hier schließt sich das Bewusstsein nicht. Das Gemüt ist an die Erscheinung gedrängt, um ein Stück davon aufzunehmen, damit sich Bewusstsein wieder schließt. Das Gemüt ist Fragestellung schlichthin an das Er­kennen. Auch das tierische Beuteschlagen erfragt den Weg über die Sinne. Frage ergeht also aus Bedürfnis, und sie hat die Möglichkeit der Befriedung im Erkennen. Was wir aber in die­ser Reflexion entnehmen, ist doch die Rückkehr aus einer ein­seitigen Reflexion. Ziel ist nicht das Wissen des Erkennens, sondern die Anwendung, und damit vollendet sich die Not-Wen­digkeit des Bewusstseins. Dieses Bewusstsein ist immer unter­ wegs aus Bedürfnis, und es hat immer das Ziel der Befriedung. Es kreist beständig um sich selber, und es ist genötigt, ständig aus sich zu gehen, um sich zu schließen, und es kann sich schließlich auch noch fragen, ob es sich nicht auf einer sinnlosen Kreisbahn bewegt. Die Frage lässt uns einen tieferen Zusammenhang entdecken: Es geht nicht um das Wissen an sich, Wissen ist auch nur Ver­mittlung, welches nur in der Anwendung zum Ziel wirksam wird. Wissen ist Einlösung der Grundfrage meines Daseins: Wie soll ich streben, denn ich entkomme nicht dem Streben.

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3. Teil, 3. Kap.: Die Vermittlung des Zweckes

Die Frage steigt aus der Kluft meines Daseins, die Frage klafft in mei­nem Bewusstsein. In meinem Bewusstsein findet sich eine ge­spannte Erwartung vor, und sie verrät, dass Bedürfnis eine Möglichkeit hat. Die Frage steht daher nicht als das Endgül­tige da, sie ist vorläufig, und ihr folgt Entscheidung, Tat­einheit. Weil ich dem strebenden Bedürfnis nicht entkomme, muss ich mich entscheiden, und die Frage offenbart mir den Entscheidungszwang, dem ich unterworfen bin. Indem die Frage also zwischen Gemüt und Erkennen ausgespannt ist als etwas Vorläufiges, erklärt sie sich demgemäß auch nach jeder Seite. Nach der Seite des Gemütes ist sie Bedürftigkeit, nach der Seite des Erkennens Möglichkeit. Das Vorläufige ergibt sich daraus, dass die Möglichkeit sich erst an der Erscheinung, nicht in der Reflexion erfüllt. In der Reflexion enthüllt mir die Frage den Entscheidungszwang, dem ich ausgesetzt bin. Ich bin bei der Geburt nicht gefragt worden. Aber die Frage als Möglichkeit enthüllt nicht nur Zwang, sondern auch Plan. Ich bin zur Entscheidung ausgesetzt, und die Entscheidung ist keine ziellose, es gibt einen Plan. Mag der Plan auch nur aus der augenblicklichen Einlösung des Bedürfnisses sein, ich bin der lebendige Plan durch meine Bedürfnisse. Die dritte Grund­einsicht des Selbstbewusstseins eröffnet sich mir so: Meine Bedürfnisse sind ein ständiges Ziel, und darum muss ich mich entscheiden. Der Entscheidungszwang steht unter dem Selbst­zweck, dem ich nicht entkomme. Alles dreht sich um mich, die Frage sucht den Plan der Selbstverwirklichung. Darum steht das Bewusstsein im Zwange des Zweckdenkens, und die Frage hat den Zweck im Vorgriff.

2. Die Frage und das Zweckdenken Ein drittes Denkgesetz ist aufgetaucht, aber seine Verbind­lichkeit zeigt sich von so verschiedener Art zu den anderen, dass wir erst prüfen müssen, wie weit es wirklich als Denkge­setz gelten darf. Denn dieses Denkgesetz gesteht das Bedürf­nis des Gemütes als seine innere Ursache ein, und daraus er­gibt sich die erste Abweichung. Die Reflexion entdeckt diese Form überhaupt nicht in sich, ihre eigenen Gesetze sind selt­sam zwecklos. Zweckmäßig muss die Reflexion nur ihre Anwendung zum Dasein denken, ihr ist der Zweck gleichgültig. Dann aber ergibt sich für sie auch keine bestimmte Form, denn zweckmä­ßig ist einmal dieses und dann jenes, zu einer Zeit ja, zu einer Zeit nein. Indem das jeweilige Bedürfnis des Daseins die innere Form des Zweckmäßigen bestimmt, wird das Zweckmä­ßige zu einem Äußerlichen an der Reflexion. Damit ist der Ent­stehungsbereich, die Spannweite und die Anwendung der Frage ausgeleuchtet. Es ist ein Gesetz des Bewusstseins. Was für die Reflexion der Schluss, ist für das Bewusstsein der Zweck. Aber Zweck steht so nur als Kurzformel



§ 29  Die Frage im Bewusstsein193

für Entscheidungszwang als Bedürfnis, und Zwecke gibt es dann nach den Bedürfnissen, diese sind der Ur- und Selbstzweck als Selbstbewusstsein. Der grundlegende Rah­ menplan des Bewusstseins schließt sich hier, aber hier vollen­ det sich nur die unterste Ebene als Kreislauf. Das Bedürfnis meines Bewusstseins als Ziel meines Handelns. Das Bewusstsein hat viele Bedürfnisse, und damit zerstreut sich der Zweck wieder. Gibt es einen Zweck der Zwecke? Meine fünf Sinne er­gänzen sich in einer einträchtigen Weise zu einer Gesamtan­sicht, und sie tun es aus Natur. Also müssten doch die unüber­ schaubar vielen Zwecke in ähnlicher Weise zusammenstehen. Dass die Dinge hier ungleich verwickelter sind, kann sofort einge­ sehen werden. Dem Zweck ist es immer eigen, alles in Anspruch zu nehmen, und das Wissen an sich hat sich für uns nicht so vorgestellt, dass es zum Inbegriff des Zweckes sich über alles setzen könnte. Das klar geordnete Erkennen wäre also nur Mit­tel zum Zweck, der seinen augenblicklichen Bedürfnissen folgt, die unberechenbar scheinen, weil die Stimmungen und Launen des Selbstbewusstseins nun doch wieder von äußeren Wechselfällen erschüttert werden. Sind denn die Bedürfnisse die Zwecke der Zwecke, oder haben die Bedürfnisse einen letz­ten Zweck in sich? Eine weitere Überlegung dürfen wir schon jetzt hier in Be­tracht ziehen. Die Gründe für eine seiende Umgebung jenseits meines Bewusstseins sind jetzt nicht mehr von der Hand zu wei­sen, auch wenn uns das Band, das alle Gründe fest ineinander­fügt und mein Bewusstsein damit hineinschlingt, noch nicht aufgetaucht ist. Ungeachtet dieser Unsicherheit bedeutet mir aber menschliches Gegenüber immer etwas Besonderes, das mir irgendwie in der Daseinserkenntnis in unmittelbarer Gewissheit dem Zweifel an der Erscheinung enthoben ist. Wegen dieser un­mittelbaren Gewissheit ist mir aber das erscheinende Du und die Gemeinschaft der anderen Ich auch in der Weise der Ver­bundenheit in mein zweckmäßiges Bewusstsein hineingegeben. Es dreht sich zwar alles um meinen Selbstzweck, jedoch ist er mit den anderen wie verwachsen. Die Sprache erscheint mir nun als weiteres Ereignis, an dem Dasein und Erscheinung ver­schmelzen. Weil dem so ist wird in der unergründlichen Tiefe und an der unüberschaubaren Weite meines Selbstzwecks alles noch viel verwickelter. Das Wirrwarr steigert sich noch, weil jedes erscheinende Ich wieder seinen eigenwilligen Selbst­zweck verfolgt. Wir können jetzt nur feststellen, dass sich Weltbewusstsein oder Bewusstseinswelt gründlich geändert hat, was den Stand­punkt auf unserer Plattform betrifft. Die Dinge sind so ver­wickelt geworden, dass wir nicht mehr sehen, wo es weitergeht. Auch hat sich unser Anliegen anscheinend in ein anderes auf­gelöst. Wir wollten das Verhältnis von Bewusstsein und Welt­vorstellung in den Begriff bekommen, nun aber ist diese Ange­ legenheit durch den Zweck ganz verdrängt worden. Darin liegt aber gerade unsere Ratlosigkeit. Denn einmal kümmert sich der Zweck überhaupt nicht um unser Anliegen,

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3. Teil, 3. Kap.: Die Vermittlung des Zweckes

jedenfalls ver­spricht er uns vordergründig keine Aufklärung. Zum anderen sehen wir den Zweck überhaupt nicht, wir sehen eine Wildnis von Bedürfnissen oder ein Dickicht von Eigenzwecken. Gehen wir da hinein, um eine Ordnung und eine Abstufung von Rechten und Vorrechten zu finden, so verlieren wir uns nur in den Ab­gründen der Daseinserkenntnis. Wir benötigen aber die Er­scheinungen, weil wir nur an ihnen zu Unterscheidungen kom­men. Also wollen wir erkennen, und demnach wäre doch Erkennen der Zweck aller Zwecke. Also müsste das Verhältnis von Vor­stellung und Vorgestelltem der letzte Zielgrund unseres Da­seins sein, und aller Weltzweck wäre ein gepflegtes Erkennen. Aristoteles hat in der „Nikomachischen Ethik“ dieses Ideal vertreten.19 Aber Aristoteles entwickelt dieses Ideal auf der vorausgesetzten Einheit von Sein und Erkennen, und diesem fertigen Standpunkt dürfen wir uns nicht anschließen. Die Ratlosigkeit entspricht indes nur den Möglichkeiten des Weitermachens, die nun mit der Frage und dem Zweck aufge­ taucht sind. Bisher hatten wir den Zweck und die Frage inner­halb der Betrachtung gar nicht zugelassen. Wir haben sie als äußeren Anlass zurückgehalten, so dass sie auf der Schaubühne gar nicht mitspielen konnten. Nun haben sich die Frage und der Zweck ganz von selber als Gegenstand der Reflexion einge­stellt, und die Auseinandersetzung ist damit unvermeidlich geworden. Die Frage sieht sich vor mehrere Möglichkeiten ge­stellt, aber sie erwartet auch, dass es ein zweckmäßiges Wei­termachen gibt. Indem wir von unserem ursprünglichen Anliegen durch das Auftauchen des Zweckes aber abgedrängt worden sind, bietet sich uns noch eine neue Möglichkeit. Wenn das Zweck­denken sich so in die Mitte drängt, so deshalb weil die Teil­betrachtung uns einfach nicht mehr weiterbringt. Dann ent­springt dem aber eine neue Erwartung: Unser Augenmerk bisher bedeutet nur einen Teilzug der Wirklichkeit, und so kann sich gar keine Lösung einstellen. Die Verhältnisgleichung ist durch ein bloßes Gegenüberstellen und Vergleichen gar nicht lösbar. Der Zweck als Zusammenschluss, wenn es einen solchen allgemeinen Zweck gäbe, könnte aber unsere offene Frage ganz von selber lösen, wenn er sich offenbarte. Es hieße dann, dass unsere Frage überhaupt nur eine Lösung fin­det, wenn wir das Anliegen aus einem umgreifenden Zusammen­hang sehen, der uns begründend erklärt, dass es sich zweckmä­ßigerweise gerade so mit Sein und Erkennen verhalten muss. 19  Wenn Aristoteles andrerseits das Wesen in der „Physik“ als Telos der Wirklichkeit herausstellt, so ergibt sich daraus für seine Metaphysik durchaus keine Spannung. Denn das Eidos, hier ist dann die Ousia we­ nigstens klar so zu verstehen, entspricht in ontologischer Sicht dem Eidenai in ethischer Sicht. Damit wird wiederum deutlich, dass sich dann Eidos und Eidenai teleologisch im nous theoretikos treffen, wo­mit sich der von Aristoteles geprägte Bewusstseinsbegriff vollendet.



§ 29  Die Frage im Bewusstsein195

Die Frage, die aus meinem Bewusstsein ergeht, ist also Erwar­tungshaltung, und sie steht irgendwie an einem Zweck, der das Bewusstsein schließt und damit die Frage erledigt. Dass hier ein endloser Kreislauf vorliegt, eine Schraube ohne Ende, wi­derspricht meiner Erwartungshaltung. Bedenken wir, dass Bewusstsein von einem Netz des Zweckdenkens erfasst wird, dem es niemals entkommen kann, so haben wir doch allen Grund, den beiden anderen Denkgesetzen noch ein princi­ pium finalitatis anzureihen. Was die beiden Denkgesetze auszeichnet, ist ihre völlige „Zwecklosigkeit“, wenigstens in dem Verständnis, dass es lediglich Feststellungen sind, die jeder Erkenntnis als Rückgrat dienen und keinen Zweck über sich haben. Darin behauptet sich jedoch nur ihre Unbedingt­heit, denn wären sie im Zweck vermittelt, so gäbe es einen allmächtigen Zweck apriori, sie selber aber wären um ihre Un­mittelbarkeit gebracht. So aber bemerken wir gerade an der Erfahrung, dass der Zweck alles andere als ein Apriori ist. Diese Nötigung zwingt mir die Erfahrung auf, und ich bin mir der Not unmittelbar gewiss. Allein hier liegt eine Not-Wende des Gemütes vor, die mit einem Denkgesetz überhaupt nichts zu tun hat. Völlig verschieden bemerken wir deshalb den Zweck von den Denkgesetzen. Den Zweck gibt es nicht, wir haben es mit einem Vergleich an Zweckbestimmungen zu tun, in die Bewusstsein eingefangen ist. Gerade daran fällt der Zweck von den Denkgesetzen völlig ab. Wären diese Gleichnisse in der letzten Ebene, so wären es Denkgewohnheiten, die sich aus der Erfahrung eingestellt hätten. Am principium contradictio­ nis lässt sich indes unschwer feststellen, dass es mit meiner Vorstellung Sein schlechthin zusammenfällt und so deren in­nerste Anschauungsform ausmacht. Diese Anschauung gilt aber sogar als Selbstverständnis der Reflexion gegenüber den Sin­nen. Von ganz anderer Art zeigt sich das sogenannte Zweckdenken. Die reine Erkenntnis vermag den Zweck in sich gar nicht zu lichten. Auch an Hand des principium causalitatis kommt Er­kennen nicht hinter den Zweck. Was immer zweckmäßig im Natur­geschehen handelt, tut es aus einer Daseinsnot, aus einem Da­seinstrieb oder sonst einem Daseinszug. Allein diese Erfah­ rung kann ich zunächst nur am eigenen Leibe machen, und sie liegt nicht im Vermögen des Denkens. „Zweckdenken“ entsteht also erst, wenn ich meine innewerdende Gemütsbewegung im Er­ kennen auf Erscheinungen übertrage. Während so die Denkge­setze jeden Vergleich erst begründen, aus dem Vergleich je­doch nicht mehr begründbar sind, wird der Zweck aus der Er­fahrung meines Bewusstseins im Vergleich erst begründet. Und dennoch wird mir der Zweck als Vergleich gerade zur Brücke aus unmittelbarer Gewissheit. Habe ich im Mahle das Eingehen der Erscheinung in mein Bewusstsein erlebt, so fächert sich jetzt von daher strahlenartig ein zweckmäßiges Vergleichen in meine Umwelt aus, das mir mehr unbewusst als bewusst die Ver­einbarung gewährleistet.

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3. Teil, 3. Kap.: Die Vermittlung des Zweckes

Es gehört auch zu der so gesichteten Natur des Zweckes, dass Bewusstsein umzogen ist von abgestuften Notwendigkeiten, denen gemäß die Zwecke ihre Macht erhalten. So wie wir das Zweck­denken begriffen haben, ist das natürlich nicht verwunder­ lich. Bemerkenswert wird indes, dass nach dem Maße der Notwen­digkeit der Zweck auch einsichtig ist. Ich erfahre mich nicht gezwungen von Zwecken, die nicht verständlich sind. Auch darin bemerke ich nun den ganz anders gearteten Zweck, so dass ich von einem Daseinszweck reden kann, dem ich eine Erschei­nungsursache gegenüberstellen möchte. Die Feststellungen des Erkennens sind mir meist nach dem Grunde hin unbekannt. Etwas verhält sich so, die Ursache des Verhaltens finde ich nicht. In Bezug auf mein Dasein jedoch ist es anders. Warum ich so bin, weiß ich nicht; warum ich jedoch so handle, ist mir klar. Die Erklärung für eine fremde Erscheinung hole ich nun in einer Umkehrung aus meinem Dasein. Was ich alltäglich tue, ist ein wundersamer Kreislauf von Vergleichen und Schließen. Vom eigenen Dasein schließe ich in eine fremde Erscheinung, aber vom eigenen Zweck schließe ich auch auf eine fremde Ur­sache. Ursache und Zweck stehen in einem Zusammenhang. Der Zweck ist so, weil die Ursache so ist. Dies bringt mich also auf den Gedanken, dass hier eine Aufklärung zu erwarten ist. Damit stoße ich auf eine Entdeckung: Nichts ist mir einsich­tiger als mein Zweckhandeln. Denn die unmittelbare Gewissheit im Innewerden zeigt sich hier unmittelbar verknüpft mit un­mittelbarer Einsicht. Ist es nicht so, dass im Verbund von Zweckdenken und Zweckhandeln das Bewusstsein die machtvollste Einheit erreicht. Ich sehe nicht einfach, dass sich etwas so verhält; ich weiß, warum etwas so handelt. Setze ich aber dieses als Erscheinung, so erhalte ich eine tiefere Begrün­ dung. Die Verbindung muss zwischen dem Daseinszweck und der Erscheinungsursache liegen. Der Zweck ergibt sich aus einer Verfassung der Ursache oder die Ursache prägt sich als Zweck aus. Es sieht also ganz so aus, dass Ursache und Zweck sich irgendwie bedingen. Habe ich eine Kette von Ursachen, so sehe ich noch keine Kette von Zwecken. Habe ich aber eine Kette von Zwecken, so könnte ich zwar jeweils die Bedürfnisse als Ursache angeben, doch muss ich feststellen, dass diese Bedürf­nisse nur die Not erzeugen, jedoch keinerlei Mittel, um sie zu wenden. Das Bedürfnis erzeugt eine Kette von Zwecken, in denen einsichtiges Denken sich zum Handeln umsetzt. Das Be­ dürfnis „erzeugt“ zwar Handlungen, man sieht aber sofort ein, dass es nicht aus eigener Kraft diese als Wirkung hervorgehen lässt. Was nebenher läuft, erklärt sich als eine Kette von Mitteln. Wenn es mir gelingt, den Zweck aus der Ursache zu erklären oder die Ursache auf den Zweck hin zu bestimmen, so müsste doch mein Fragen in immer tiefere Gründe vordringen, die sich zu Zusammenhängen schließen.



§ 30  Dasein und Wesen197

§ 30  Dasein und Wesen 1. Die einzigartige Übereinkunft des Mahles mit der Artsel­bigkeit Das Zweckdenken übt nun einen solchen Sog aus, dass wir uns einen Fortgang der Untersuchung außerhalb seiner Reichweite nicht mehr denken können. Jedes Weitermachen in der Vermei­dung des Zwecknetzes erscheint uns als Suche im Nebensächli­chen, die nichts mehr bringt für unsere Sache; und da wir uns als Suchende gar nicht verleugnen können, entkommen wir nicht mehr dem Zweck, denn die Suche ist die Frage. Es kann deshalb nur darum gehen, dass wir nach der zweckmäßigen Richtung des Weges Ausschau halten. Auf Seiten des Daseins hat sich das Mahl als einzigartiger Mittelpunkt herausgestellt: Einmal erfahre ich hier den Treffpunkt von Dasein und Erscheinung. Ist es ein Zufall, dass sich diese Mitte auch als alles überragender Zweck im Dasein einstellt? Jeder andere Zweck steht in der Unterordnung, wenn die Not des Hungers gebietet. Wer wollte hier zweifeln? Es gibt keine Beziehung in meinem Dasein, worin ich mich als Selbst so bewahre und meiner Daseinsnot so deutlich innewerde wie im Mahle. Ausgerechnet damit versel­bige ich mich mit der Erscheinung. Also gehöre ich doch zur Erscheinung, denn der oberste aller Zwecke verselbigt mich notwendig mit der Er­scheinung; nur im Einswerden mit der Er­scheinung bekräftigt Dasein seinen Fortbestand. Der not-wendige Hingang zur Erscheinung seitens des Daseins erhält aber nun von der Erscheinung her ein Entgegenkommen, das wir auch schon als einzigartigen Sonderfall auf dieser Seite kennen. Die Artselbigkeit, die uns rein aus der Beob­achtung der Reflexion her als ein Ereignis jenseits meines Be­wusstseins vorkommt, wird nun zu einer tragenden Brücke, indem sie sich von ihrer Seite her mit dem Hauptzweck des Mahles trifft. Das größte aller Ereignisse im Dasein schneidet sich mit dem größten aller Ereignisse an der Erscheinung. Ich kann das Mahl meines Leibes mit der Speisung der lebendigen Körper gleichsetzen. Alle Lebendigen gehören einer der unzähligen Artselbigkeiten an, und ich begegne keinem Lebendigen, wel­ches für sich allein Artselbigkeit wäre. Wenn ich nun über diese Brücke gehe, so sind diese Lebendigen auch Dasein wie ich und ich gehöre einer Artselbigkeit an wie sie. Mein Mahl ist eine Speisung, und ihre Speisung ist ein Mahl; mein Leib ist ein Körper, und sie erleben ihren Körper als den Leib. Die einzigartige Übereinkunft ist deshalb so aufschlussreich, weil sie mir nun den Weg weist, wie ich den Zweck weiter zu verfolgen habe. Nur in dieser Mitte hindurch kann es sinnvoll und zweckmäßig sein, weiterzusu-

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3. Teil, 3. Kap.: Die Vermittlung des Zweckes

chen. Alle Lebendigen sind Mitglied oder Dasein einer Artselbigkeit, und alles, was die Artselbigkeit an sich herumträgt, bedarf der Nahrungsaufnah­ me. Dies ist eine Tatsache der Erscheinung, die sich mir nie­mals widerlegt, die ich aber auch mit Sicherheit nicht als ein Denkgesetz ausgeben kann. Denn aus der Reflexion lässt sie sich nicht ableiten, die Reflexion entdeckt in sich selber grundsätzlich nicht den Zweck, aus sich allein ist sie zweck­los. Die ersten allgemeinen Bedingungen oder Richtlinien des Zweckes schälen sich jetzt heraus. Der Zweck vermag sich nur in der Dreieinigkeit des Bewusstseins zu halten. Für das Be­wusstsein ergibt sich so, Zweck ist immer Selbst-Zweck und nicht Teilzweck. Immer steht das Selbst als ganzes dahinter, auch wenn Bewusstsein scheinbar einem Teilzweck nachgeht. Der Zweck ist kein Ur-Teil. Dies wäre ein falscher Weg, eine Zweckentfremdung. Wenn wir das Bewusstsein in seinem Dickicht von Bedürfnissen als das Allgemeine ansehen, so verfolgt der Zweck als Selbst-Zweck auch das Allgemeine. Dieses lässt sich jetzt so erklä­ren, dass die Not des Bewusstseins so gewendet wird, dass es möglichst in seiner ganzen Tiefe und Weite des Hauses mit sich im Einklang gestimmt ist. Die innerste Not lässt den all­ gemeinsten Zweck entspringen, die äußerste Not ordnet sich entsprechend unter. Nehmen wir aber die Bedürfnisse nach ih­ren erscheinenden Gegenständen, so erhalten wir ganz von sel­ber die Ordnung der Werte. Damit aber hat sich schlagartig etwas Neues ereignet. Die Erscheinungswelt, die wir im Erken­nen bisher rein aus dessen gelassener Zwecklosigkeit geschaut haben, ist uns nun in Bezug auf das Dasein gegeben. Die ge­samte Erscheinung ist vom Zwecknetz überzogen und mir in der Gemütsbeziehung anheimgestellt, ins Haus gegeben. In der Tat hat sich mir eine Werteordnung erstellt, in deren Mitte unmissverständlich das leibliche Wohl steht. Damit ist der Kampf ums Dasein gebilligt, und wir müssen das abschrec­ kende Ergebnis des Gesetzes der Wildnis in Kauf nehmen. Mit dieser Feststellung können wir aber leben, indem wir die Be­wusstseinsträger in einem Weltrahmen erfassen, worin sie als ziemlich dicht gesäte Monaden leben. Ich habe eine Gleichung gefunden, danach kann ich aus der Erscheinung der Anderen in mir eine Artselbigkeit ermitteln, und dies bringt mir den Zweck selber ins Gleichnis. Aber ich muss mir klar darüber sein, dass der Vergleich des Zweckes nichts begründen kann in Richtung einer Gemeinschaft des Zusammenlebens. Im Erkennen stelle ich jeden als Selbstzweck fest, notwendig bin nur ich in meinem Dasein. Ich vergleiche aber den Anderen so weit, dass er auch so denkt. Denn dies ergibt sich aus der Vereini­gung von Dasein und Erscheinung, die ich vorgenommen habe. Den Kampf ums Dasein betrachte ich aber deshalb nicht, weil er mich einseitig an die Erscheinung führt. Hier geriete ich nur in den Bereich einer Fachwissenschaft, die ihren Teil­zweck verfolgt. In dem eingeschlagenen Vergleich, der mir den Zweck erhält, ent-



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decke ich im Selbstzweck den allgemeinen Weltzweck und umgekehrt. Auf dieser Ebene des Vergleiches kann ich sagen, was im Verhältnis meines Daseins zu meiner Artselbigkeit gilt, dies darf ich auch für das Verhältnis ei­ nes anderen Daseins zu dessen Artselbigkeit annehmen. Indem ich nur dieses Verhältnis betrachte, lasse ich das Zusammen­leben einmal ganz außer Acht. Damit stellt sich mir freilich schon die Fortpflanzung in den Weg und erinnert mich, wie kurzsichtig ich bin und wie kurzfristig mein Vorhaben ist. Allein im Augenblick stehe ich an dieser Stelle, und ich kann nur erwarten, dass im Sog des Zweckdenkens diese Dinge sich alle noch anschließen werden. Ich muss zugeben, dass hier schon eine Spaltung des Zweckes sich ankündigt: Indem ich nämlich anderes Dasein einräume, kündigt die Artselbigkeit bereits einen neuen Weltzweck an, nämlich ihren Fortbestand in der Zeugung. Darin vermag ich aber bis jetzt immer noch einen Teilzweck zu erkennen, weil die Artselbigkeit doch im Ver­gleich niemals das Selbst hinreichend begründen kann. Ich müsste also einem Lebendigen begegnen, welches sich ausweisen kann, dass es die Artselbigkeit selbst oder das Selbst als Artselbigkeit ist. Ich habe nun eine Kreuzung vorgenommen, die noch näher zu prüfen ist, wie weit sich die Inhalte zur Deckung bringen lassen. Dasein als Innenleben hat sich noch nicht in den Ge­danken begeben, denn Daseinserkenntnis versteht sich nicht einfach als Reflexion, mag sie in meinem Bewusstsein auch ohne Reflexion nie gegeben sein. Mittels der Daseinserkenntnis möchten wir den sensus communis als überflüssig und als un­brauchbare Vorstellung abtun. Aber wir dürfen dennoch nicht in den Fehler fallen und die Daseinserkenntnis dem Gemüt zu­ rechnen oder sie als Mittelding verstehen. Daseinserkenntnis könnte einfach aus dem Zueinander eines gegliederten Erken­nens zum Gemüt gegeben sein. Jedenfalls ermöglicht sie das Innewerden und das Zeiterleben, welches die Reflexion nur als Schließen mittelbar erfahren kann. Mit der Begegnung an der Artselbigkeit hat sich dagegen das Bewusstsein ganz in die Denkvorstellung begeben. Ich übertrage nun das innere Erlebnis Dasein in die fremde Erscheinung, wo­bei mir aber als Vermittlung meine eigene Erscheinung dient. Ich darf dabei den umgekehrten Vorgang nicht übersehen. So­ lange die Gleichsetzung nicht geschieht, ist auch die eigene Erscheinung als Erscheinung meine eigene Setzung im Erkennen. Die Kluft betrifft nicht nur das Fremdgegebene, sie schließt meinen Körper mit ein. Dies bedeutet aber, dass er an sich zeitlos ist wie jede Erscheinung. In der Kreuzung setze ich nicht nur mein Dasein in einer fremden Erscheinung gleich, ich erschließe an meiner Erscheinung hier nun dort ein frem­des Dasein; es erfolgt eine Wiederholung meines Bewusstseins als fremdes Ich und fremder Leib. Was hier offen und unge­klärt bleibt, ist das Erlebnis der Zeit.

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Gemüt ist mir als geballte Ich-Einheit gegeben, auch wenn das Gemütsleben in seinem Reichtum alles andere übertrifft. Ich zergliedere zwar im Erkennen meine Stimmungen nach Schichten und ursächlichen Wurzeln, es gehört jedoch zu meinem Daseins­erlebnis, dass ich Leibhaftiges eben nie ganz nach Leib und „Seele“ trennen kann. Ich erfahre Gemüt als verwachsene Ein­heit. Was ich am wenigsten zu trennen weiß, ist aber das Er­lebnis Zeit, so dass ich überhaupt nicht abschätzen kann, ob sie als Leib oder Gemütsleben in mir aufsteigt. Es bleibt al­so zumindest die Zeit ein unsicherer Bestand im Inhalt meiner Gleichsetzung. Jenes fremde Ich erlebt in sich die Zeit, dies schließt die Gleichsetzung, wenn sie überhaupt berechtigt ist, mit ein. Aber das Dazwischenliegende, nämlich die Mate­ rie, ist für die Zuständigkeit des Zeitlichen noch nicht ge­ sichert. Mein Dasein hat eine Erscheinung als Außenseite, je­ne Erscheinung dort hat ein Dasein als Innenseite. Wenn es sich hier um kein räumliches Innen und Außen handelt, macht es dann für die Zeit keinen Unterschied? Am Mahle bemerke ich eine Stellvertretung nach zwei Richtun­gen hin. Dieses winzige Stück Nahrung, das ich aufnehme, ge­nügt mir, um die Erscheinung, soweit meine Sinne sie errei­chen, in ihr zu versammeln. Denn ich gliedere dieses Stück nicht auf Grund seiner Essbarkeit in den Zusammenhang, sondern wegen seiner Erscheinung. Allein dieses Stück Erscheinung geht in mein Dasein über. Dieses Stück Erscheinung steht aber nicht nur als Bürge dafür, dass mir der übrige Zusammenhang auch so gegeben ist, auch wenn er weithin unbrauchbar als Nahrungsmittel sein mag. Ich bemerke nun auch eine Mahlge­meinschaft, welche die Glaubwürdigkeit einer selbstständigen Erscheinung erst vollendet, indem sie hinter der Erscheinung das Bewusstsein als Gegenüber andeutet. Die Gemeinschaft aller Lebendigen trifft sich am Mahl in der Erscheinung. Ich bemer­ke eine endlose Verkettung von Erscheinung, die zu Dasein übergeht, und von Dasein, welches zu lebloser Materie zer­fällt. Es ist die Mahlgemeinschaft der Lebendigen, an der ich erst eine Brücke und einen Weg in die Erscheinung gewinne. Indem ich am Mahl die Wirklichkeit durchdringe als fremden Gegenstand, gelange ich zum anderen Bewusstsein, weil ich ihm am Mahl begegne und weil ich meine Wirklichkeit über die des Mahles in ihn übertrage. Dies geschieht nun mit allen Anlagen des Erkennens. Die Bedeutung des Mahles zeigt sich darin, dass sich das In­nenleben nach außen kehrt und dass Äußeres fähig ist, Innenle­ben zu werden. Wir haben es mit einem durchgehenden Wandel zu tun, wobei Bewusstsein nicht geschlossen in sich an der Er­scheinung kreist, sondern in ihr auf- und untergeht. Ich er­schließe das andere Bewusstsein nicht daraus, dass es sich au­ßen genau so verhält, wie ich es außen auch tue. Ich beob­achte und erlebe eine durchgehende Kreuzung von Dasein und Erscheinung. Was hier vor sich geht, ist keine unendliche An­näherung, meine Verfassung ist selber die Kreuzung.



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2. Die Schwierigkeiten des überlieferten Schemas von Dasein und Wesen An der Not-Wende meines Bewusstseins zum Mahle hat sich unmiss­ verständlich der Zweck gezeigt, nämlich als Zwang des Daseins an das Erkennen: Ich muss einsehen, dass es sich so verhält; ohne Essen widerspreche ich meinem Dasein. Von unserer Unter­suchung erwarten wir aber eine ähnliche Einsicht aus der Not-Wende: Es liegt im Zweck meiner Weltwirklichkeit, dass sie nicht nur meine Setzung ist. Erkennen aber liefert mir nur den Hinweis, dass eine Welt an sich für mich kein logischer Widersinn ist. Damit bin ich nicht zufrieden, ich verlange mehr. Ich weiß aber inzwischen, dass mir eine Aufklärung nur über einen Weltzweck zuteil werden kann. Indem ich also den Weltzweck noch gar nicht kenne, sogar zweifle, ob es ihn gibt, sehe ich auch nicht mit jener Sicherheit ein, wie es sich notwendig verhalten muss, die ich gerne hätte. Solange ich hier keinen Einblick habe, kann jeder Transzendentalist, auch wenn er mit nichts anderem aufwarten kann als der ersten Grundeinsicht des Selbstbewusstseins, mir gegenüber hochmütig tun. Aber das geschlossene Bewusstsein lässt sich nach dem Stand der Dinge nicht mehr halten. Ich nehme die Erscheinung in ihrem Schein des An sich an, jedoch nicht scheinbar, son­dern mit aller Wahrscheinlichkeit. Jenseits des Mahles setze ich nun die Artselbigkeit als nicht von mir gesetzt, da ich sie aus der Reflexion nicht herleiten kann. Fortan nenne ich sie Wesen oder Essentia, um sie in ih­rem Inhalt vom Artgleichnis genügend abzusetzen. Letzteres kann sich als Ergebnis eines Vergleiches der Sinne nur als Vorbereitung zum Wesen ausweisen. An ihm hat sich der Begriff der Substantia, der zunächst vom Arteinzelnen abgeleitet wor­den ist, aber dennoch halten können. Wie es sich mit der Sub­stantia und dem Wesen oder auch der Essentia verhält, muss noch geprüft werden. Mit der Freigabe des einzelnen Lebendi­ gen zu einer Wirklichkeit, die ohne mein Bewusstsein stehen soll, zu der ich aber meinerseits auch gehören soll, öffnet sich mir ein mehrschichtiges Verhältnis, weil ich in ver­ schiedenen Bezügen zur Wirklichkeit gehöre, diese aber auch in verschränkter Verbindung in mir ansteht oder gegeben ist. Betrachten wir zunächst einmal den Parallelismus von Essentia und Existentia, von Wesen und Dasein einerseits, von Reflexion und Sinnlichkeit andrerseits, so dreht sich nun diese auffal­ lende Entsprechung um. Zuvor wollte man sagen, dieses Gebilde als Arteinzelnes spiegelt nur die Verfassung meines Erkennens wider, jetzt müsste ich doch sagen, mein Erkennen gleicht sich dem Aufbau des Wirklichen an. Wird denn nicht in dieser Nach­bildung von Erkennen schon offenkundig, dass es zum Vergleich mit der Wirklichkeit auf den Plan gekommen ist, und tritt da­mit der Zweck,

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den ich suche, nicht schon zu Tage? Es mag nun sein, dass hier eine Fußspur des Zweckes schon wahrzunehmen ist, die Zusammenhänge fügen sich indes auch so nicht zu ei­nem Weltbild. Denn die Gleichung geht keineswegs auf, weil Erkennen der Wirklichkeit nicht gegenübersteht, vielmehr in die Zusammensetzung mit hineingehört. Mit einem völlig neuen Angesicht der Wirklichkeit müssen wir aber dann auch rechnen, wenn wir die Welt der Pflanzen annehmen. Denn was das Mahl und die Artselbigkeit betrifft, so unterscheiden sie sich we­ nigstens in Bezug auf Nahrungsmittel überhaupt nicht von den Tieren. Indem ich nun Stufen einer Wirklichkeit annehme, Pflanzen, Tiere, Mensch, wird alles noch viel verwickelter. Wäre es nicht viel einfacher, wenn alles nur Bewusstsein wäre oder wenn nur Bewusstsein einerseits, Pflanzen andrerseits ge­geben wären? Wozu überhaupt diese Mittelstellung eines tieri­schen Erkennens? Auch geht es keineswegs an, dass man die Reflexion einfach dem Wesen, die Sinneserkenntnis einfach dem Dasein einordnet; mit einem solch hölzernen Schema würde überhaupt nichts mehr stimmen. Rechne ich nämlich die Er­kenntnis zum Wesen, so muss sie doch mit ihrer ganzen Anlage in ihm gründen; dann wird Dasein nur die Verwirklichung des Wesens im Individuum. Also gehört alles zum Dasein, was im Wesen angelegt ist, denn anders wäre es nichts. Wie unter­scheiden sich aber dann Reflexion und Sinnlichkeit, überhaupt Erkennen und Gemüt im Wesen. Denn Gemüt haben wir ja bereits mit Dasein gleichgesetzt, und so müsste man doch bereits in der Anlage des Wesens ein Dasein annehmen. Dasein aber ist doch das einzige, was im Wesen nicht gegeben sein darf und deshalb von außen kommen muss. Fassen wir einmal die Gesichts­ punkte Dasein, Gemüt und Erscheinung als Existentia zusammen, dann könnte man die Erscheinung als die Außenseite, das Ge­müt-Dasein als das Innenleben der Existentia bezeichnen. Ha­ben wir hier einen Fehler gemacht, als wir Dasein und Er­scheinung gleichgesetzt haben? Nichts ist klarer geworden mit der Annahme einer Welt jen­seits meines Bewusstseins, aber die Bedürfnisse stoßen mich aus der Selbstzufriedenheit des Transzendentalismus hinaus, und ich nehme lieber alles in Kauf als ein verschlossenes Be­ wusstsein, welches an allen Ecken und Enden nicht stimmt. Noch ein Grundzug trägt aber dazu bei, um mein Schema zu sprengen. Mit meiner Annahme einer Wirklichkeit an sich teilt sich diese erst auf in Sein und Erkennen, in Sein an sich, Sein im Begriff und Begreifen für sich. Welche Unlösbarkeit erhalte ich aber, wenn Erkennen, Wesen und Dasein so aufgefasst wer­den, wie wir es von Aristoteles und von der Metaphysik her gewohnt sind. Die Vernunft wird zur differentia spezifica beim Menschen, also zum Wesensmerkmal. Homo est animal ratio­ nale. Mehr noch: Anima intellectiva est forma substantialis corporis (Thomas v. Aq.). Die Vernunft wird zum Mittelgrund des Wesens, und dieses genügt als For-



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ma bereits dem Anspruch der Substantia.20 Alles ist in der Essentia als Substantia schon angelegt und bedarf nur der Verwirklichung, der Exi­stentia. Aber ein so aufgefasstes Wesen benötigt schon für sich betrachtet mehrere Zonen in sich. Wenn nämlich Dasein einfach die Übersetzung, besser die Umsetzung, zur gefugten Wirklichkeit ist, so benötigt man entweder im Wesen verschie­ dene Zonen des Wesensseins oder es muss verschiedene Überset­zungen des Daseins geben. Denn Erkennen als Anlage, auch seine Verschiedenheit in sich selber, kann sich nicht einfach so übersetzen wie die Gestalt des Wesens, weil es sonst nicht Erkennen, sondern Sein wäre. Auch die Existentia, soweit sie das Individuum in seiner Einmaligkeit begründet, müsste schon in der Essentia angelegt sein.21 Es ist vor allem Erkennen, das sich in die Einheit von Wesen und Dasein nicht einfügt, welches sich aber auch als eine Art Super-Wesen nicht aufset­zen lässt, weil ihm sonst noch erhöhte Wirklichkeit zukommen müsste. Mit den dargestellten Schwierigkeiten wollen wir uns nur rü­sten, um die Dinge nicht gewaltsam in einen Begriff zu brin­gen. Erkennen will sich nicht einfügen. Der Parallelismus Sein und Erkennen führt zu einer Gegenüberstellung, die an der Wirklichkeit abgleitet. Die Aufteilung in das alte Schema Wesen und Dasein sprengt dessen Einheit und verlangt weitere Zonen hinzu. Indem wir also dem nicht zustimmen können, be­ hält für uns das Schema seine Dunkelheit, was den Inhalt von Wesen und Dasein betrifft. Seine Klarheit und innere Wahrheit ist aber bestechend und unübersehbar, wenn wir in das Reich der Pflanzen schauen und ihnen Bewusstsein absprechen. Alle Bestandsstücke drohen uns aber davonzuschwimmen, wenn wir den Sonderfall Mensch danach erklären wollen. Trotz der Schwierigkeiten bietet sich aber kein anderes Schema als so un­verzichtbar an, wenn wir in Betracht nehmen, dass Leben nur in Vertretern eines bestimmten Artwesens vorkommt. Ohne die­ses Schema sehen wir überhaupt keinen Weg, der weiteren Auf­schluss verspricht; also müssen wir uns dennoch im Rahmen die­ ser Auf­teilung vorantasten, indem wir das, was uns daran klar er­scheint, auswerten.

20  Daraus leitet sich die Tatsache ab, dass auch die mittelalterliche Metaphysik wie schon Aristoteles mit der Ousia zu einer klaren Unter­scheidung nach Essentia und Substantia gar nicht kommen kann. Indem diese enge Verbindung dann zu einer individuatio essentiae führen muss, beantwortet sich die in der Überlieferung ungelöste Streitfrage nach unserer Auffassung von selber: Eine distinctio realis zwischen Essentia und esse, zwischen Essentia und Existentia findet hier kei­nen Anhalt mehr. Näheres in Plato metaphysicus. 21  Duns Scotus hat dies folgerichtig auch mit seiner Entitas positiva ausgeführt. Vgl. ebda. § 25.1.

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3. Das Individuum und das principium individuationis Das Individuum, da es immer als Mitglied einer Artgemein­schaft und als Vertreter eines Artwesens erscheint, lässt sich schwerlich anders begreifen denn als ein Compositum von Es­sentia und Existentia. Dennoch werden wir jetzt schon vor ei­ne unlösbar schwere Entscheidung gestellt. Wie müsste das Ver­hältnis von Wesen und Dasein nun verstanden werden? Erfolgt hier eine Vervielfältigung des Wesens, so dass sich tatsäch­lich das Wesen als Individuum verwirklicht? Dann bedeutet die Existentia nur das Wirklichsein des Wesens, und die essentia individualis erfüllt die Substantia. Zu den besprochenen Schwachstellen des ontologischen Schemas tritt aber nun noch eine weitere hinzu. Dieses Wesen, sobald es sich als erste Substantia verwirklicht hat, geht ein in eine stoffliche Wirklichkeit, die Forma, Materia und Existentia sein muss. Tatsächlich muss die Essentia auch stofflich aufgefasst werden. Es genügt nicht, dass die Essentia der zusammengesetzten Sub­ stantia die Anlage in sich trägt, in der Materie anzuwesen; die Wirklichkeit der ersten Substantia wird zu einer Ver­schmelzung von Essentia und esse im Akt des Seins.22 Letztlich legt sich an dieser Stelle eine so feine Unter22  Wenn auch die erste Ousia schon bei Aristoteles ein schillernder Begriff bleibt, so findet sich doch auch in der „Metaphysik“ ein Textzusammenhang, der diese Auslegung bestätigt, nämlich die erste Ousia als die aus Morphe und Hyle einsgewordene Symphysis. Vgl. Plato metaph. § 19.1. Wenn eine andere Textschicht der „Metaphysik“ aber tat­ sächlich auch das Eidos als erste Ousia begreifen sollte, so bestätigt es nur unse­re Auffassung, wie schwer es ist, hier die Entscheidung zu treffen. Sie wird jedoch im Rah­men des Hylemorphismus dahin gehen müssen, dass die Symphy­sis die Bedeutung der ersten Ousia ganz in Anspruch nimmt. Es bleibt indes immer ein ungeklärter Rest, so dass man sich nicht ganz zufrieden geben kann mit dieser Lösung. Wir finden deshalb bei Aristoteles wie auch bei Thomas v. Aq. eine gewisse Offenheit zum Eidos im Sinne Platons, das aber in dem metaphysischen Ansatz seine Folgen nicht aus­tragen darf. Das Verhältnis von Essentia und Substantia ist bei Thomas wohl auch nicht abgeklärt. Leider ist uns keine eingehende Studie hierzu be­kannt. Näheres ebda. §§ 21–24. Wie vielseitig und weitreichend dieser Fragenkreis wird, zei­gen schon die Streitigkeiten um Essentia und Substantia im Bereich der theologischen Durchdringung der Trinitas. Vgl. Thomas Aq., S. theol. 1, die Quaestiones 29, 30 u. 39. Hier führt Thomas an, dass die Substantia nach Möglichkeit nicht ver­wendet werden sollte, da sie den Unterschied zwi­schen Essentia und Hyposta­sis verwischt. S. theol. 1. 29. 2 ad 2. Wenn nach Thomas die anima intellectiva zur forma substan­ tialis hominis wird, so sind damit freilich die Vorausset­ zungen gelegt für eine Essentia, die aus sich schon den Gehalt der Substantia bean­sprucht. Vgl. S. theol. 1. 76. 4 resp.: „… nulla alia forma sub­stantialis est in homine, nisi sola anima intellectiva …“. Dennoch muss man hier in Bezug auf die Essentia den Sonderfall der menschli­chen Seele berücksichtigen, die ja nach allgemeiner Überliefe­rung ei­ne stofflose, selbstständige Form ist. Vgl. a. S. theol. 1. 76. 1 resp. Die Frage, auf die es uns hier ankommt, ob Thomas die Es­sentia nun tatsächlich auch als stofflich verstanden hat, lässt sich so leicht nicht klären, da sich eine



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scheidung vor, dass man sie vielleicht gar nicht als zwei verschiedene Lösun­gen auffassen sollte. Betrachtet man aber die Folgen, so er­gibt sich doch eine Schere, die immer weiter auseinandergeht. Dass es sich so verhält, macht aber die nach dem Hochmittelal­ter aufkommende Streitfrage um die distinctio realis deut­lich.23 Wir stehen in einer zwielichtigen Haltung, weil wir dem Rea­lismus unter dem Vorbehalt seiner endgültigen Erhärtung im Zweckdenken zustimmen. Dennoch möchten wir hier schon eine Stellung beziehen zu der eben aufgegangenen Doppeldeutigkeit. Betrachten wir die Wirklichkeit als eine Ergänzung in sich und als eine wechselseitige Bedingung von Ur-Teilen, so leh­ nen wir uns an die Selbsterfahrung des Bewusstseins, ohne dass wir ­einen platten Parallelismus von Sein und Erkennen heran­ ziehen müssten. Demnach möchten wir aber die Verwirklichung des Wesens im Dasein nicht als eine Vervielfältigung (Plurificatio, Multiplicatio) auffassen. Die Gründe dafür sind folgende: Man muss sich das Wesen als vielfaches und den­noch als allgemeines vorstellen. Die Auflösung dieser Span­nung in eine erste und zweite Substantia ist eine unglückli­ che Lösung, die nur Unklarheit und Streit hervorgebracht hat. Fasst man die Verwirklichung des Wesens dann aber auch als ei­ ne Stoffannahme auf (1. Ousia), so wird die Einheit der Art gefährdet; das Wesen verströmt sich ins Dasein. Andrer­seits wäre es aber offensichtlich falsch, wollte man sich das Wesen als ein selbstständiges Ideal, als eine Subsistentia vor­stellen, weil sich dann im Dasein lauter UnEntschei­dung wieder in die Unentschieden­heit einer ersten und zweiten Substantia zurückzieht. Vgl. ebda. § 19.4. Wie weit eine Multiplicatio und eine Plurificatio der Essen­tia auch eine Individuatio derselben zur Folge hat, lässt sich hier vielleicht auch mit größter Sorgfalt nicht abklären. Bei Avicenna darf die Frage so schon gar nicht gestellt werden. Ebda. § 24 u. 21. M. Glossner sieht nach Thomas die individuatio essentiae als Gegeben­ heit an. Vgl. ebda. Literaturverz. u. § 24.4. Aber wie weit sind solche Auslegungen von dem Son­derfall Mensch beeinflusst? Nach unserer Auffassung lässt sich die Frage aus „De ente et essentia“ nicht eindeutig beantworten: „… nomen es­sentiae in substantiis com­positis significat id quod ex materia et forma compositum est.“ Cap. 2. Gilt dies für die Essentia als Anlage oder actu essendi? „Avicenna etiam dicit quod quiditas substantiarum compositarum est ipsa compositio formae et materia.“ Ebda. Aber: „Unde oportet quod essentia, qua res denominatur ens, non tantum sit forma neque tantum materia, sed utrum­que, quamvis huiusmodi esse suo modo sola forma sit causa.“ Ebda. Versteht man hier die „causa“ im Sinne von Anlage, so verlagert sich die Essentia in ihrem Sein auch ins Stoffliche. Andrerseits heißt es im 3. Kap.: „Unde dicit Avicenna quod quiditas compositi non est ipsum compositum, cuius est quiditas, quamvis etiam ipsa quiditas sit composita, sicut humanitas, licet sit composita, non tamen est homo, imo oportet quod sit recepta in aliquo quod est materia desi­gnata.“ Hier kommt der Unterschied zwischen der ersten und zweiten Substantia zum Tragen. 23  Plato metaph. §§ 21, 24–26.

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gereimtheiten er­geben.24 Soweit das Schema von Wesen und Dasein nun hinreicht, um Wirklichkeit in eine Gleichung zu bringen, fassen wir da­her das Wesen als eine Teilzone auf, die grundsätzlich keine Vervielfältigung, schon gar nicht eine Individuatio erlaubt. Indem das Wesen unberührt und wandellos in seiner raum- und zeitlosen Zone verharrt, verwirklicht sich das Individuum im Dasein. Dennoch wäre es falsch, wollte man daraus das Indivi­duum als bloßes Dasein ableiten. Es macht der Wirklichkeit der Artmitglieder überhaupt keinen Abstrich und es beein­trächtigt auch nicht ihre aus dem Dasein hinreichend be­stimmte Einmaligkeit, wenn nur eine allgemeine Zone Wesen sie zu dem macht, was sie als Artgemeinschaft sind. Dasein ist eine Übersetzung des Wesens, aber sie hat ihren Halt und Bestand darin, dass das Wesen als Wesen aus seiner Zone gar nicht herausgeht. Damit wird das Individuum nur als eine Zusammensetzung wirklich, wobei eine Nahtstelle der Zo­nen in jedem Arteinzelnen gegeben ist. Für den Begriff der Substantia ergibt sich dann eine klare Lösung. Nur die Ur-Teile zusammen vermögen eine solche zu erstellen. Es hat kei­ nen Sinn und Grund, von einer Wesenszone als Substantia zu reden, da diese für sich keine Wirklichkeit sein kann. Ein Wesen ohne Dasein müssen wir als Gedankending verstehen. Wenn nun dieses Wesen in seiner Zone nicht stofflich sein kann, so folgt daraus keineswegs, dass Dasein nur aus Materia bestände. Es folgt auch nicht, dass die Materia allein das principium individuationis erstellt. Einen hinreichenden Grund für die Vereinzelung können wir nur im Dasein finden, und dieses Dasein ist als Leben immer mehr als bloße Materie. Gewiss ist das Wesen zunächst einmal Grund für das Mehrsein des Daseins als nur Materie. Allein diese Ausstrahlung des Wesens ins Materie-Dasein lässt Lebendiges entstehen, welches dennoch nicht als eine Verleiblichung des Wesens erklärt wer­den muss. Die Tiefe des Daseins lässt sich mit Materie allein jedoch nicht ergründen. Materia ist Außenseite durch und durch, Dasein aber hat immer auch eine Innenseite und ist deshalb Leben für uns.

4. Das Sein und die Substantia Die selbstständige Wirklichkeit setzt ihren Begriff im Erkennen zu einem Gleichnis herab, denn anders wäre sie doch nur eine Vorstellung im Bewusstsein. Was die Sinne erfassen, sind fünf Ansichten, die zusammen nur das Gleichnis des Daseins erge­ben. Auch der Tastsinn hält diese Wirklichkeit nicht mehr für sich allein als das Gehör oder das Gesicht. Erkennen 24  Dies geschieht, wenn man Platons Philosophie als „Metaphysik“ aus­ legt, was seit Aristoteles zweifelsohne üblich geworden ist.



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kommt grundsätzlich über das Gleichnis nicht hinaus, nur das Gemüt hat die Wirklichkeit des Daseins. Damit gerät die jetzt frei­gesetzte Wirklichkeit in einen neuen Zweifelstaumel. Denn was nennt sich hier wirklich und was genügt dem Anspruch Sein? Wenn das Wesen sich jetzt in seiner Tiefgründigkeit ver­schließt, trifft dann die Bezeichnung Wirklichkeit noch zu und was bleibt dann im Erkennen als Gleichnis noch zurück? Lebendige Wirklichkeit erweist sich als zumindest zweigrün­dig. Was sie auch begrifflich zusammenhält, ist ihre wechsel­seitige Bedingung; was sie darüber hinaus noch zusammen­ bringt, sind im Begriff des Erkennens die Gesetze vom verbo­tenen Widerspruch und des zureichenden Grundes. Wäre eine Zo­ne so aufgefasst, dass eines der Gesetze hier nicht zulangen könnte, wäre Wirklichkeit zum Unding geworden. Die Bedingun­ gen genügen aber, um der verschieden gegründeten Wirklichkeit ihre innere Einheit im Erkennen zu bewahren. Was bis jetzt die Einheit des Wirklichen erfahrbar macht, ist jedoch kaum mehr als bloße Verneinung. Was alles noch offen lässt, ist aber der Ausstand von Erkennen selber, welches wir ja nicht als der Wirklichkeit gegenüber – oder darüberge­stellt auffassen können. Erkennen ist hineingeflochten, und dies macht den Begriff Wirklichkeit so unergründlich. Was al­so den Einheitsbegriff von Wirklichkeit betrifft, so müssen wir weiterhin mit Verneinungen uns vortasten. Mit Sicherheit scheidet die Gattung als Zugriff aus, auch wenn der Gattungs­begriff sich gerade als jene Form der Zuordnung erwiesen hat, die keinen anschaulichen Gehalt mehr festhalten kann. Die Gattung hat sich aber als eine Einheit eingestellt, welche die verschiedenen Gründe der Erfahrung nicht mehr berücksich­tigt. Mehr noch, die Gattung vermag den Anspruch, dass sie als Begriff auf eine Wirklichkeit an sich zielt, gar nicht zu halten; sie bekennt sich am Gesamtbild des Erkennens ledig­lich als eine Ordnungshilfe. Wirklichkeit darf andrerseits auch nicht als das Selbe begriffen werden, und darin kommt nun das Begreifende mit dem Begriffenen überein. Denn die Er­fahrung der Sinne vermittelt den Begriff, den die Reflexion von der Wirklichkeit gewinnt, und diese Erfahrung oder Ver­mittlung ist mehr als nur conditio sine qua non. Also er­reicht der Begriff als Begriff schon die Selbigkeit nicht. Es wäre ein Sein, das den Zahlen gleichkäme, wollten wir Wirk­lichkeit lediglich nach der Reflexion fassen. Denn schon das principium causalitatis, welches doch eine gewisse Einheit für unseren Begriff Sein oder Wirklichkeit leistet, enthält mehr Inhalt als die Zahlen in Anbetracht des Wirklichen. Wie es sich mit der anderen Seite des Begriffes, nämlich mit sei­ner Ursache in Bezug auf das Selbe verhält, ist bereits be­antwortet. Man müsste Wirklichkeit auf die tote, starre Mate­ria einengen, um vielleicht einen Begriff vom Selben bewahren zu können. Wir finden zunächst einmal nichts Besseres als das Fassungs­vermögen der Substantia, weil wir an ihr ein ausgezeichnetes Durchhaltevermögen

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3. Teil, 3. Kap.: Die Vermittlung des Zweckes

festgestellt haben. Indem diese nicht so sehr auf das räumliche Ausmaß in einem idealen Sinne, sondern mehr auf das In-sich-Bestehen zielt, erweist sie sich zustän­ dig vom bloßen Materieklotz zum Artgleichnis der Sinne, vom technischen Gerät bis zum lebenden Individuum. Sie widersetzt sich nicht grundsätzlich einer Abstraktion wie das Einzelding, aber sie löst sich auch nicht von dessen anschaulicher Ein­heit. Stellen wir in den Mittelgrund der Bedeutung das Indi­ viduum, so ergibt sich, dass auch nicht in erster Linie ihre Unzerbrechlichkeit den härtesten Gehalt an ihr ausmacht. Das Seiende erweist sich mehr und mehr als etwas Gefugtes, und es waren die Artselbigkeit und das Mahl, die uns genötigt haben, eine Wirklichkeit an sich anzunehmen. Für unseren Aufschluss haben sich die Länge einer Zeit und die Unendlichkeit des Raumes als völlige Randzonen erwiesen, die sich durch eine eintönige Zweckleere um das Lebendige lagern, so als benö­tigte dieses winzige, aber unbegreiflich verwickelte Innenle­ ben soviel an bloß äußerer Ausdehnung, um darin einen Ver­gleich für seine ungleich andere Größe zu bekommen. Indem sich also die Substantia so herausschält, erwarten wir, dass sie auch geeignet ist, uns in Richtung eines Zweckes voranzubringen. Da wir aber Erkennen nicht dem Sein gegen­über- oder darüberstellen können, haben wir das leibhaftige Bewusstsein zumindest als eine Substantia anzunehmen. So ge­sehen erscheint Wirklichkeit in einer zunehmenden Seins­dichte, aber wir bemerken auch, dass die Substantia doch immer zerbrechlicher und dem Verfall zugänglicher wird. Nicht das Individuum erhärtet den Bestand, sondern das Fortleben der Art. Am Individuum gemessen, hält sich das Wirkliche als ein Vergleich am Unvergleichlichen; dies lässt sich ebenso umge­kehrt sehen. Indem alles Lebendige nur im Artwesen auftritt, hält sich das je einmalige Dasein nur am Vergleich mit dem Wesen. Anders bemerken wir kein Lebendiges. Leben gibt es nur im Vergleich; nur so kann das Einmalige einmalig sein, dass es sich dennoch angleicht. Dass ihm daraus eine innere Bestimmung und eine äußere Zuordnung zukommt, bleibt unübersehbar. Un­wahrscheinlich bleibt es daher auch, dass hier keine allge­ meine Zweckmäßigkeit des Wirklichen vorläge. Lässt sich daraus schon entnehmen, dass es der Wirklichkeit gar nicht auf ein Ausmaß an Raum und Zeit ankommt? Unzerstörbarkeit bemerken wir am Ausmaß des Raumes und darin die Entleerung des Gehaltes an Substantia. Es ist für unsere Seinserschließung klar, dass wir uns von keinem Weltbild einer Naturwissenschaft ablenken lassen dürfen. Wenn wir unserem unbewaffneten Erkenntnisvermögen nicht trauen können, müssen wir ohnehin alles technische Gerät und alle wissenschaftli­chen Weltbilder einpacken. Jedenfalls erscheint aber dann un­ ser leibhaftiges Bewusstsein in einem mittleren Abstand des Raumes, worin sich eine besondere Bewegungsfreiheit einge­richtet hat. Das Regelmaß an



§ 31  Der Zweck als das Selbe209

Bewegung zeigt sich im Größeren und im Kleineren, und die nach außen ungeordnete Bewegung im Bereich des mittleren Abstands erschüttert so keine umgebende Ordnung. Würden die Berge Bewusstsein tragen, so hätten wir ständig Erdbeben, und das Individuum müsste dementsprechend einen anderen mittleren Abstand haben. Die Einmaligkeit des Daseins bewahrheitet sich schon außen an seinen regellosen Be­ wegungen. Es folgt nicht einfach seinem Gewicht wie ein Stein, es ist Gegenbewegung. Aber darin zeigt sich doch auch das Wundersame, dass diese regellose, unableitbare Bewegung aus einer Substantia kommt, die doch ihrer Gestalt nach im Vergleich, und nur im Vergleich, leben kann. Während doch die Substantia als Materie nach außen nur eine Regelbewegung, nach innen keinen Vergleich der Gestalt kennt.

§ 31  Der Zweck als das Selbe 1. Dasein als Wille zum Wesen, Wesen als Ziel des Daseins Der Vergleich im Wesen könnte auch als das Selbe im Ur-Teil angesehen werden. Aber dieses Selbe in Bezug auf die Vertre­ter der Art zersplittert schon in eine Vielzahl von Formen, und es mag zwar ein Mosaik entstehen, den Zweck können wir so schwerlich finden. Dass die Daseienden über ihre Wesenszone zur Gemeinschaft versammelt sind, kann nicht übersehen wer­den. Man kann es so sehen: Das Lebendige in seiner unregelmä­ßigen Bewegung und in seinem Innenleben bringt sich nach au­ßen hin in eine gesuchte Gemeinschaft. Wir bemerken, dass auch hier eine Kreuzung der Zwecke sichtbar wird. Das Innenleben bedingt die Gemeinschaft, und die Gemeinschaft soll offenbar das Innenleben fördern, so wie sich auch Nahrungsaufnahme und Fortpflanzung bedingen. Damit ist der Kreislauf der Lebendi­gen noch nicht vollendet, es kommt auch hier ein Drittes hin­zu, das Wachstum. Nahrungsaufnahme, Wachstum und Fortpflan­zung; das Dasein erscheint in einer Dreiheit, die wir Ent­wicklung nennen. Lässt sich hier ein allgemeiner Zweck able­sen, oder ist es mehr als nur ein einzelner Zweck, so wie auch das Individuum sich nicht in einer Zone fassen lässt? Liegt der Zweck mehr im Innenleben oder mehr in der Gemein­schaft? Wir können die Ernährung, das Wachstum und die Fortpflanzung als die drei Gründe der Entwicklung bezeichnen, dann hätten wir wieder eine neue Dreieinigkeit. Allein das Bewusstsein spielt dann eine auffallend untergeordnete Rolle, und in der Entwicklung hätten wir dann den Schnittpunkt von drei beherr­schenden Zwecken. Haben wir damit die letzte, endgültige Be­stimmung der Substantia erreicht? Entwicklung als gewaltiger Strom, der

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nicht erst am Individuum zur Entfaltung kommt, sondern vorausgeht und die Materie insgesamt mitreißt, hin zum Kreislauf von Entstehen und Verwesen, wobei der Raum und wohl auch die Zeit allgemeine Grundlagen bilden. Denn mit der Entwicklung öffnet sich ja Dasein dem Innenleben, und damit wäre die Zeit nun veranlagt und gebunden. Aber sind Raum und Zeit bloße Voraussetzungen und Ablaufbedingungen, oder wirkt auch schon in ihnen keimhaft unerforschlich geringfügig Ent­wicklung? Aber löst sich dann nicht unser letzter Halt, die Substantia, wieder auf in gleitende Materie, und sind wir dann nicht wieder so weit, dass sich die Substantia nur im Er­kennen hält wie die Gattung? Wir könnten nun das Wesen doch als Substantia annehmen, aber dann geben wir den metaphysischen Boden auf und begehen eine Weltflucht in ein Ideal, wovon wir nichts erfahren können. Für den Idealismus bietet sich kein Raum, und als fremdes Ge­dankengut dürfen wir ihn ohnehin uns nicht aneignen. Das We­ sen kann für sich nicht stehen. Doch erweist sich das Wesen als der Träger jener Vorgänge an den Lebendigen, die einen doppelten Zweck andeuten. Das Wesen betreut die Gemeinschaft, indem es Arteinzelne einrichtet, deren Bedürfnisse dieselben sind. Man kann indes die Gemeinschaft der Lebewesen auch als eine Ergänzung in ihren Gestalten ansehen, so dass die Arten in ihrer Verschiedenheit sich zu einem Mosaik einstellen. Nichts aber ist für uns schwerer zu durchschauen als eine Zweckmäßigkeit dieser Art, so dass sich uns hier kein Anhalts­punkt bieten wird. Versuchen wir aber das Verhalten der Lebe­wesen in ein allgemeines Gleichnis zu bringen, so dürfen wir einsehen, dass Zusammenleben und Innenleben in immer verwic­kelteren Formen einander suchen und einander bedingen. Zwar wird hier ein letzter und allgemeinster Zweck nicht sofort einsehbar, andrerseits sage ich mir, wenn im Zusammenhang der Entwicklung mit ihren drei Kreisen, der Ernährung, der Fort­pflanzung und dem Wachstum kein Zusammenhang von Ursachen und Zwecken auffindbar wird, wo soll ich denn dann überhaupt noch weitermachen. Es müsste also möglich werden, dass sich hier Ur­sachen und Zwecke so zusammentun, dass sich eine Erklärung als tiefere Begründung einstellt. Dies käme unserer Erwartung entgegen.25 Aufschluss kann mir nur die allgemeine Beobachtung geben, dass die (lebendigen) Individuen Daseiende eines Artwesens sind. Es gibt kein Wesen, das seine eigene Wirklichkeit wäre, denn es hätte wohl keine Entwicklung nötig. Alles Dasein strebt danach, sein Wesen auszudrücken, darin liegt Entwicklung. Wäre Dasein selber Wesen, wäre es wandellos. Entwicklung am Einzelnen setzt ein inneres Wesen voraus. Dasein ist Wille zum Wesen, aber Wesen wird erst am Dasein wirklich. Wirklich­keit steht als Ergänzung: 25  Vgl.

§ 29.2.



§ 31  Der Zweck als das Selbe211

Kein Dasein ohne innere Form, aber keine innere Form, die sich erst am Dasein entwickeln müsste. Auch hier gibt es nicht den Parallelismus; Wirklichkeit kann nur aus zwei grundverschiedenen Zonen bestehen, die sich aus ihrer Gegensätzlichkeit ergänzen. Es genügt dabei keineswegs, dass wir Dasein als die Materie verstehen, die ihre Eigenar­ tigkeit ganz aus dem Wesen allein herleiten müsste, so dass grundsätzlich alles, was am Lebendigen Leben ist, ausschließ­lich vom Wesen herrühren müsste. Gewiss vermag Leben nur aus einer Form heraus zu leben. Aber Leben ist Wille zum Wesen, und wenn der Wille nicht das Ureigentliche des Daseins ist, so gibt es überhaupt kein Dasein. Dasein ist Wille aus sich, auch wenn dieser Wille von innen her vom Wesen geprägt wird. Denn der Wille kann nicht vom We­sen herkommen, was seine Kraft und Wirksamkeit besitzt, weil es nur eine Wesenszone gibt, die willenlos und wandellos in sich ruht. Wirklichkeit kann nur bestehen, indem die Wesens­zone dem Willen als Ziel der Form ansteht. Niemals kann die Wesenszone selber Wille sein, so wäre sie Wirklichkeit aus sich selber. Wesen ist Form ohne Wille, Dasein ist Wille ohne Form. Wirklichkeit ist Wille zur Form und Weg nach innen zum Wesen. Während also das Wesen unberührt in seiner Zone ruht, wird Dasein zu einer gleitenden Mächtigkeit in der Entwick­lung des Wesens. Jedoch ist es nicht das Wesen, das herausge­ schält würde aus der Entwicklung; vielmehr entfaltet sich das Dasein zur Vollkraft, indem es sich am Wesen hält. Das Indi­ viduum ist Wesen und Dasein, und nicht etwa Dasein als voll­endetes Gleichnis des Wesens, denn so wäre Dasein nur Acci­dens eines selbstmächtigen Wesens. Doch gibt es nur ein Ur-Teil Wesen in allen Individuen einer Art, weil die Zone des Wesens nicht vervielfältigt wird wie die Daseienden. Die Entwicklung betrifft daher nur das Dasein, und die Wirk­lichkeit ist so am Individuum eine zu- und abnehmende. Auf dem Höhepunkt der Daseinsmacht drückt das Individuum das We­sen in seiner Urgestalt aus, und Dasein erreicht seine innig­ste Nähe zu diesem, seine höchste Seinsdichte. Damit zeichnet sich eine Richtung ab, die dem Zweckdenken einen Weg weist. Entwicklung kann schwerlich mehr ankündigen als ein Mittel zum Zweck, denn was sollte sie denn anderes sein als die all­gemeine Hinbewegung zum Ziel der größten Nähe der Ur-Teile, zum Ziel der Vereinigung. Ziel und Zweck scheinen dabei das­selbe zu bedeuten, doch dies muss noch näher geprüft werden. Die Entwicklung bedarf eines Zieles, und hier dürfen wir ru­hig von einer Entelecheia reden. Nur wollen wir die Entele­cheia als Zielstrebigkeit des Daseins zunächst einmal über­setzen. Aber dies bedeutet „im Ziele haben“, wobei Ziel „Telos“ meint. Telos meint aber vor allem Zweck, und darum geht es ja, ob Ziel und Zweck dasselbe sind. Dasein enthält das Telos in sich; die Wesenszone lässt sich nur so verstehen, dass sie die Innerlichkeit des Daseins ausmacht. Allein diese Innerlichkeit darf

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nur nach den grundverschiedenen Zonen der Ur-Teile verstanden werden. Es wäre falsch, wollten wir sa­gen, das Wesen sei die eigentliche Wirklichkeit des Daseins oder das Wesen sei dem Dasein wirklicher als dieses sich selbst. Auf diesem Verstehensgrund darf das Wesen dem Dasein Ziel sein. Indem uns nun die Erfahrung belehrt, dass die Entwicklung auf dem Höhepunkt nicht stehen bleibt, sondern der „Verwesung“ entgegeneilt, erhalten wir einen noch tieferen Einblick. Das Ziel des Wesens wird nicht so erreicht, dass Wesen und Dasein ineins verschmelzend sich verselbigten. Es gelingt der Ent­wicklung nicht, die Fugen der Wirklichkeit zu überspringen, denn dann hätten wir Wesen und Dasein als das Selbe schlicht­ hin. Die Überlegung kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass die We­senszone unentwegt Ziel des Daseins bleiben muss. Dies bedeu­tet, dass Dasein, auch wenn es kurz vor dem Verfall am Wesen steht, immer nur den Richtungssinn zum Wesen hin haben kann. Es gibt im Lebendigen keinen Richtungssinn zum Verfall hin. Dasein vermag den Höhepunkt nicht zu halten, die Richtung zum Wesen behält es, solange Leben oder Entwicklung Wesen und Da­sein zusammenhält. Auch die Vielheit der Wesensformen belehrt uns nun, dass im jeweiligen Wesen der endgültige Zweck der Symphonie Wirklichkeit sich nicht verbergen kann. Was die ständige Nahrungsaufnahme im Einzelnen nicht zu halten ver­mag, nämlich die vollendete Vereinigung von Wesen und Dasein als Dauerform, dies leistet anscheinend die Fortpflanzung durch beständige Wiederholung. Der Kreislauf von Fortpflan­zung und Verwesung (Tod) gibt uns ein machtvolles Zeugnis: Das Wesen steht als zeitloses Ziel in einer Bewegung, aber den Zweck vermag es für sich allein nicht zu halten.

2. Erkennen und die Suche nach dem Selben; der Plan des Wirk­lichen Die Vereinigung von Wesen und Dasein fände ihre Vollendung in der Verselbigung, allein dies liegt nicht in der Macht der Ur-Teile und daher nicht in der Kraft der Wirklichkeit. Den­noch steht dieser Leitstern unentwegt über dem Gefugten wie eine Idee, die unerreichbar und dennoch Ziel sein muss. Einen solchen Idealismus können wir nicht annehmen, weil er uns keine endgültige Antwort gibt; die Fragen würden sich erneut wiederholen.26 Wir machen aber nun die merkwürdige Feststel­ lung, dass der Zweck zwar die Wirklichkeit nur als das Zuein­ander der Teile sein kann, aber als Zweck gar nicht verwirk­licht sein kann. Der Zweck wäre das Sel26  Wir wollen auch hier wieder jedes Missverständnis von Platons Philoso­ phie des seelischen Seins zurückhalten. Platon bietet eine echte Lö­ sung, jedoch keine metaphysische.



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be. Aber dann gäbe es doch dieses Selbe für jedes Artwesen, und so wären wir doch in den Idealismus geraten. Der Zweck ist das Selbe in allen Arten und in allen sich entwickelnden Individuen; als gehei­mer Pol hält er die Wirklichkeit in ihren Fugen zusammen. Denn die Ur-Teile selber vermögen den Zweck nicht aus zu drücken, sie setzen den Zweck als das Selbe schon voraus. Dieses Selbe kann nicht Gestalt sein, weil es Kraft des Da­seins als Urform aller Wesen sein muss. Was uns aufgeht, ist nur eine Forderung der Reflexion: Das Selbe als die Verneinung der Ur-Teile. Wenn das principium contradictionis und das principium causa­litatis auch an der Wirklichkeit zulangen, dann dürfen wir jetzt dem Zweckdenken dahin folgen, dass es einen Einheits­zweck in der Wirklichkeit verlangt, der selbst nicht gefugt ist. Denn die Fugen des Wirklichen können den Zweck nicht halten, weil sie zusammen den Zweck nicht zu erstellen vermö­gen. Das Wirkliche besteht, indem es nach dem Selben strebt. Nur so fällt es nicht auseinander, nur so vermag das Wesen Ziel, vermag das Dasein Kraft zu sein. Wenn weder das Wesen noch das Ziel Zweck sein können, so vermögen sie keinen Zweck als das Selbe zu erstellen, weil sich das Selbe nicht in den Ur-Teilen aufhalten kann. Nur als das Selbe kann der Zweck im Wesen und Dasein dasselbe sein und nur so lässt sich Entwick­lung erklären. Dasein strebt durch Vermittlung des Wesens zum Selben, es strebt nach Verselbigung, und das Wesen ist der Ausschnitt, worin der Kraft des Daseins ihre Bahn gewiesen ist. So gesehen steht das Wesen als Teilzweck in Vertretung des Selben. Die Sicht wird aber sofort verzerrt und welt­ flüchtig, will man dem Wesen einen zweckmäßigen Vorrang ge­genüber dem Dasein einräumen. Denn das Wesen bleibt kraftlose Form. Indem Dasein nach Verselbigung mit dem Wesen strebt, handelt es nach Plan, und dieser ist der Zweck. Mit der Verselbigung sind wir aber auf der richtigen Spur, und darin erhalten wir eine erste Aufklärung über Bewusstsein und seine Verselbigung im Gemüt. Die Verselbigung hat sich ja als das natürliche Merkmal des Gemütes ausgezeichnet, worin es dem Erkennen ge­genüber in den Gegensatz gegangen ist. In der Ausweitung der Gemütszone, die als solche den Leib nicht als Gegenstand hat, sondern „Leib und Seele“ in einem Erlebnis ist, haben wir aber das Gemüt als Dasein bestimmt. In der Verselbigung des Gemütes, die ja sein Innewerden ausmacht, dürfen wir daher den Grundzug des Daseins zum Wesen hin entdecken. Auch bemer­ken wir jetzt die Stimmungen als das gespannte Verhältnis des Daseins zum Wesen. Dasein wird so zum Zeugen eines ruhelosen Strebens nach innen zur Verselbigung, die es jedoch nie er­ reichen wird. Dennoch erfüllt sich Wirklichkeit nur so. Im ständigen Streben wird der ruhige Bestand gehalten. Die Wirk­lichkeit ergänzt sich in diesem Schema zu einem erfüllten Ausdruck des Zweck-Selben, und sie wird darin zweckmäßig. Letztlich wird ihr aus dem Selben alles zum Teil: Maß, Ziel und Form.

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3. Teil, 3. Kap.: Die Vermittlung des Zweckes

Das Zweck-Selbe enthüllt sich damit auch als Selb-Zweck. An­ders als die Reflexion, die zwar Bewusstsein zusammenfasst, für sich allein jedoch noch nicht einmal als ein Rumpf-Erkennen bestehen kann, entzieht sich das Zweck-Selbe jeder Einsicht, jeder Ergänzung und damit jeder Bedürftigkeit für uns. Wir mögen es als Substantia ohne Naht und Fugen bezeichnen, aber an der Innen- oder Überwirklichkeit gleiten alle unsere Glei­ chungen ab. Wenden wir uns also wieder dem Wirklichen zu, und sehen wir uns die Vorläufigkeit unseres Denkens an. Unser Schema von Wesen und Dasein bewährt sich mit einer ge­wissen Güte, weil es die Entwicklung der Individuen in ein annehmbares Gleichnis bringt. Wir haben indes nicht verges­sen, dass Bewusstsein damit noch gar nicht untergebracht ist, auch wenn dabei Dasein als der Schnittpunkt von Gemüt und Er­scheinung festgehalten werden kann. Bewusstsein bleibt das große Rätsel. Man möchte Erkennen dem Wesen zuteilen, da sich doch am Gemüt der Daseinsgrund herausgestellt hat. Dass diese Gleichung nicht aufgeht, wurde schon bemerkt. Daseinserkennt­nis, Reflexion und sinnliches Erkennen sträuben sich gegen ei­ne Aufteilung wie auch gegen eine Wesenszuordnung. Es bleibt unübersehbar, dass die Einheit der Wesenszone aufgesprengt wird durch Erkennen. Wäre Erkennen im Wesensplan eingelegt, so müsste es sich im Dasein wiederfinden wie die Gestalt sel­ber. Diese mag nun lange Ohren haben wie ein Esel, aber das Langohrige ist deshalb noch nicht das Gehör selber. Nach solchen Überlegungen erscheint der Gedanke, im Erkennen selber den Zweck zu suchen, einmal nicht abwegig. In der Tat ist es doch Erkennen, welches in sachlicher Gelassenheit Da­sein zum Wesen führt, und es geschieht so, weil in ihm die Verselbigung schon gegeben ist. Allein Erkennen vermag die Wirklichkeit als Ur-Teil und als Ganzheit in sich zu fassen, sie erhält ein neues Sein im Erkennen. Finden wir denn nicht in ihm die Wiederholung der Ur-Teile in das Selbe von Erken­nen, so dass man sagen möchte, die Wirklichkeit findet im Er­kennen zu sich selber, weil sie dessen Vorstellung ist? Die Wirklichkeit erhält im Erkennen eine Einheit, welche sie aus sich nicht hat. Nach diesem bestechenden Gedanken ist überra­schend und mit einem Schlage der Transzendentalismus zurück­ gekehrt: Esse est percipi. Das Sein ist da, um zurückgeholt zu werden. Mit diesem Kurzschluss brechen jedoch an allen Ecken und Enden die alten Widersprüche erneut auf. Zunächst einmal hat die Gliederung von Erkennen in sich selber als offenbare Tatsache zu gelten, so dass wir eher den umgekehrten Schluss ziehen kön­nen: Erkennen richtet sich nach den Ur-Teilen, um diese ins Gleichnis zu setzen. Es unterstützt also nur den Zweck der Verselbigung, aber es vermag für sich den Zweck auch nicht zu halten. Es gehört also mit hinein in den Plan des Wirklichen. An der Be-



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dürftigkeit des Daseins musste das in sich geschlos­sene Bewusstsein aufbrechen. Indem Erkennen die Wirklichkeit in sich selber vertritt, führt es zu einer Verdoppelung der­ selben in sich, die dennoch keine ist. Tatsächlich bemerken wir seine Aufgabe darin, die Wirklichkeit in sich wieder herzustellen, und diese vollendet sich, indem es in der Reflexion sich selber auch noch mit auf den Plan setzt. Damit glie­dert es sich selber als Ur-Teil auch noch mit ein in das Ge­samt. Als Ur-Teil vertritt es das Ur-Teilsgefüge, und die Vertretung des Ganzen, die ihm sicherlich obliegt, erzeugt eine Verdoppelung, jedoch nur im Ur-Teil. Ein Gleichnis zum Wirklichen und im Wirklichen, das wir nicht auszudrücken wissen, weil uns nun die Vergleichsgründe oder Möglichkeiten fehlen. Die Bedürfnisse ergehen nicht aus dem Erkennen, und Erkennen findet den Weg zur Not-Wende. Damit wird Erkennen selber not­wendig. Wissen ist Zusammenhalt von Wesen und Dasein. Gewiss; aber es vergleicht, es verselbigt nicht. Darin finden wir ei­ne Erklärung: Wissen zeichnet den Weg vor, aber Dasein muss ihn in die Tat umsetzen. Mag im Erkennen eine Verselbigung oder ein Vergleich stattfinden, dies ist hier sogar gleich­gültig, weil es keiner Verwirklichung gleichkommt. Erkennen erklärt sich also zur Zone, in der Verselbigung, Verwirkli­chung und Vergleich in der Tat dasselbe sind, aber sie sind es im Ur-Teil und damit doch nicht das Selbe. Denn dieses Er­kennen, wenngleich nicht bedürftig wie Dasein, kann die Not-Wende an sich auch nicht verbergen: Die Reflexion in ihrer allgemeinen und allseitigen Stellvertretung bedarf der Sinne schon als Zuträger, anders ist sie ohnmächtig. Nur Wissen allein schafft dem Wirklichen keine Abhilfe, und Erkennen leistet seinen Beitrag an der Not-Wende. Die Verfassung indes wird erzeugt durch das Wesen, welches in sich ruht, nur im Dasein erscheint. Wäre das Wesen nicht, wäre keine Not und keine Not-Wende. Aber man kann auch sagen, wäre nichts da, bräuchte es keine Wesen zu geben. Am Ende des Überblicks bleibt uns nichts anderes übrig, als Erkennen zum Dritten im Bunde der Wirklichkeit zu bestimmen. Allein diese Dreieinigkeit ergibt nicht das Selbe. Was Be­wusstsein vom Selben nicht loskommen lässt, ist Reflexion. Wäre sie nicht Ausschnitt im Ausschnitt, wir müssten sie als das Selbe erklären. Bewusstsein ist durch und durch Wissen, und doch gibt es keinen letzten und tiefsten oder „höchsten Punkt“ (Kant) in uns, der nicht unentrinnbar Stimmung wäre, und dies ist nicht Reflexion. Die Hauptvertretung des Bewusst­seins in uns bleibt immer auch getragen von einer Gemütszone, und damit ist sie eingelegt in die Bedürftigkeit des Daseins und in die Not und Uneinigkeit des Gemütes, dessen schwere Last sie feststellen, jedoch nicht übernehmen kann. Am Anfang war das Bewusstsein als Dreieinigkeit, und dieses erklärt sich als Gemüt und Erkennen. Gemüt und Erscheinung vermittelten sich als Dasein. Gemüt ist Aufbruch des Daseins zum Erkennen hin. Da sich Dasein als Weg nach innen zum

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3. Teil, 3. Kap.: Die Vermittlung des Zweckes

Wesen hin heraus­gestellt hat, so liegt auf diesem Weg der Aufbruch des Gemü­tes. Offenbar bedarf Erkennen am Dasein einer besonderen Fas­sung, nämlich des Gemütes. Ein neuer Gesichtspunkt tritt auf den Plan: Dasein hat zwei Bezüge, einen vom Wesen, einen vom Erkennen. Wir können es aber auch so sehen: Dasein hat zwei Ziele, das Wesen und das Erkennen. Indem wir aber so bemer­ken, dass Erkennen wieder in seiner unwirklichen Weise vermit­telt, werden wir doch wieder auf das Wesen hin gelenkt. Hat Erkennen denn keine andere Aufgabe, als Dasein auf den Weg nach innen, hin zum Wesen zu geleiten? Sehen wir es so, dann schwindet auch alles, was uns zunächst nahelegte, Erkennen einmal als den Zweck zu begünstigen. Mit dem Ausblick auf die beiden Richtungen des Daseins öffnen sich neue Zusammenhänge, die nun unseren Weg bestimmen.

3. Der Zweck als Bedürfnis und der Zweck als das Selbe; Con­tradictio und Vergleich Unser Anfang im Selbstbewusstsein brachte es mit sich, dass wir das Ereignis des Pflanzenhaften und auch tierisches Erkennen gar nicht für unsere Beobachtung auswerten konnten. Da diese eine sogar grundlegendere Rolle als die Mitmenschlichkeit in unserem Leben spielen, dürfen wir sie nicht übersehen und zu­dem die Erwartung hegen, dass sie nicht ohne Aufschluss für uns sein werden. Wenn wir es wagen, einmal Vergleiche zu ziehen in Bezug auf Bewusstsein, so geschieht es in Vorläufigkeit, da sich das Wirkliche immer noch nicht genügend erschlossen hat, um das Verhältnis von Sein und Bewusstsein mit einiger Sicher­heit zu bestimmen. Da sich die Tiere in Bezug auf die Kreisläufe der Entwicklung nicht anders verhalten als die Menschen, wollen wir auf ähn­liches Bewusstsein schließen. Wo immer Organe eines Erkennens am tierischen Körper ausgebildet sind, da hätten wir es dem­entsprechend auch mit einem tierischen Gemüt zu tun. Denn nach unserem Vergleich wäre Erkennen ohne Gemütsleben nicht einzurichten. Erkennen verlangt eine neue Aufbereitung im Dasein. Nun bemerken wir etwas sehr Wichtiges: Hand in Hand mit dem Aufkommen der Werkzeuge des Erkennens geht also eine Losbindung der Lebendigen vom Boden, und diese Tatsache kann in ihrer Bedeutsamkeit gar nicht übersehen werden. Offenbar gibt es kein Bewusstsein, welches an den Boden festgemacht wä­re. Offenbar haben die Pflanzen kein Bewusstsein, da sie keine eingerichteten Erkenntniswerkzeuge tragen. Bewusstsein und Speiseaufnahme hängen eng zusammen, da sich der Mund im Kopf befindet. Die Pflanzen haben kein Bewusstsein, die Wurzeln entsprechen dem Kopf. Bewusstsein erscheint nun gleichbedeutend mit Befreiung vom Boden, und es gibt für dieses darum keine größere Zerrissen­heit im Gemüt als am



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Boden angekettet zu sein. Es ist Dasein, welches darunter leidet, nicht Erkennen. Indem nun das Tier nicht mehr im Stande ist, seine Nahrung mit Wurzeln aus dem Boden zu ziehen, hat es Bewusstsein als Freiheit und Einsicht, um sich seine Speise zu erjagen. Dieser Sachverhalt wider­spricht natürlich nicht im Geringsten dem Schema von Wesen und Dasein, aber wir bemerken nun den grundsätzlichen Unter­schied zwischen Tieren und Pflanzen: Tierisches Dasein hat zwei Bezüge, es läuft auf dem Umweg über Erkennen zum Wesen. Die Pflanze hat nur einen unmittelbaren Bezug zum Wesen. Im Streben des Daseins nach Verselbigung mit dem Wesen sind je­doch alle Lebendigen gleich in der Entwicklung, so dass selbst an der Pflanze die drei Kreisläufe gegeben sind. In eine seltsame Widersprüchlichkeit fallen wir jetzt, wenn wir den großen, allgemeinen Zweck aller Lebendigen im Auge behalten und ihn mit dem tierischen Erkennen in Betracht bringen. Ist es denn nicht so, als ob tierisches Erkennen als Ersatz aufgekommen wäre für den Verlust der Fähigkeit, mit Wurzeln seine Nahrung aus der Erde zu holen? Wenn unsere Feststellung vom Zweck richtig ist, so erreicht die Pflanze auf geradem Weg besser und zielstrebiger ihr Wesen als der Bewusstseinsträger auf seinem Umweg. Da die drei Kreisläufe der Entwicklung im Pflanzlichen ebenfalls gegeben sind, er­scheint das Tierische und damit auch das Menschliche als eine abseitige Entwicklung. Wir müssen unser Schema in Frage stellen. Geht es um die Ver­selbigung von Wesen und Dasein schlichthin, oder hat die Ver­selbigung von Wesen und Dasein nur eine Vorbedeutung für ei­nen größeren Zweck? Gibt es überhaupt einen Zweck in der Na­tur, oder verhält es sich mit dem Zweck erst so, wie der Transzendentalismus lehrt. Dann würde allein das zweckbe­ stimmte Bewusstsein seine Zweckform in die Wirklichkeit tra­gen. Haben wir denn gerade am Zweck eine Übersetzung vorge­nommen, welche verschiedene Bedeutungen und Inhalte hinter demselben Wort versteckt? Tatsächlich bemerken wir eine vor­schnelle Gleichsetzung, die uns anscheinend zu falschen Er­gebnissen geführt hat. Denn der Zweck als das Selbe trägt ei­nen völlig anderen Inhalt als der Selbstzweck des Bewusst­seins, woran uns zunächst einmal der Zweck als Bedürfnis auf­gegangen ist. Die Unstimmigkeit ergibt sich einzig und allein daraus, dass wir diesen erneuten Sprung in die Überwirklich­ keit, die uns nur als Verneinung aufgegangen ist, zu wenig beachtet haben. Über das Erlebnis des Mahles hat Selbstbe­wusstsein das zweckmäßige Bedürfnis mit dem allgemeinen Zweck, nämlich dem Streben des Daseins nach Ausprägung des Wesens, gleichgesetzt. Daraus entdeckt Bewusstsein aber auch, dass die­ser Zweck in jedem Individuum Selbstzweck ist. Auch die be­wusstseinslose Pflanze hat den Zweck für sich. Indem Selbstbe­ wusstsein sich als Dasein den erscheinenden Lebendigen ein­reiht, setzt es auch den Zweck zum Gleichnis. Der Zweck steht mit dem

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3. Teil, 3. Kap.: Die Vermittlung des Zweckes

Schema von Wesen und Dasein, und jedes Individuum, soweit es aus Wesen und Dasein besteht, erstrebt aus Bedürf­nis die Vereinigung des Daseins mit dem Wesen oder der We­ senszone. Als unerreichbares Ziel dient ihm die Verselbigung, die es aber nur als Gleichnis in der Vereinigung erreichen kann. Damit wird die beschriebene Wirklichkeit insgesamt zum Gleichnis der Verselbigung, und jedes Lebendige erstrebt die­ses Gleichnis seiner Art gemäß aus dem Ur-Teil seiner Wesens­zone. Es gilt also, den Zweck als Vergleichsform in allgemeinster Bedeutung vom Zweck als dem Selben in der nötigen Klarheit abzusetzen. Was wir im Streben das Daseins zum Wesen hin zu­sammenfassen, gleicht dem Strome vor seiner Mündung, der aus zahllosen Nebenzwecken zusammenfließt. Alle Bewegungen, Re­gungen und Verhaltensweisen der Daseienden im Einzelnen ver­folgen letztlich diesen endgültigen Zweck, und dieses große, allgemeine Gleichnis gesteht sich auch als Bedürfnis ein. Be­wusstsein hat nun jedem Individuum den Selbstzweck aus Bedürf­nis einzuräumen; es ist der Selbsterhaltungstrieb des Da­ seins, den Pflanzen, Tiere, Menschen vergleichsweise zum Aus­ druck bringen. Damit sind die Fronten abgegrenzt, und jetzt lässt sich das ganze Ausmaß der Verschiedenheit angeben: Der Selbstzweck als Bedürfnis vermag nur ein Gleichnis des Zweck-Selben in seiner Bedürfnislosigkeit zu sein. Besteht aber hier überhaupt noch ein Vergleichsgrund, oder ist das Zweck-Selbe das principium contradictionis in völliger Abweisung jeden Vergleiches? Was zurückbleibt, ist Streben nach Verselbigung; dies muss als Ziel bestehen, da es die Fugen des Wirklichen zusammenhält. Denn der bedürftige Zweck entsteht erst am Zweck-Selben, weil Wesen und Dasein das unerreichbare Ziel als Ur-Teile gar nicht tragen können, denn anders wären sie nicht Ur-Teile. Also bleibt aus der Sicht des Gefugten wenigstens die Geltung des ersten Denkgesetzes bestehen. Indem dieses Selbe zum schärfsten Widerspruch am Gleichnis wird, zwingt es ihm aber die Contradictio als Vergleichsgrund auf: Es ist Contradictio im Vergleich. Alle Zwecke auf seiten des Gefugten vereinigen sich als Be­dürfnis, womit aber auch das Selbe letztlich zum Bedürfnis wird. Die Not-Wende ist die Hinwende zum Selben, worin sich Wirklichkeit maßvoll zusammenschließt. Jedes Individuum strebt auf seiner Bahn aus Selbsterhaltungstrieb zum Selben, und das Gefugte umgibt wie ein Kugelmantel das Selbe.



§ 32  Die Ur-Teile und das Logische219

§ 32  Die Ur-Teile und das Logische 1. Wesen, Dasein, Erkennen Bewusstsein hat seine Bedürfnisse über Erkennen in den Ver­gleich gesetzt. Dieser Vergleich ist Gleichnis. Das Selbe je­ doch ist dem nicht als Abstraktion entsprungen, sondern als innerste Intuitio der Reflexion. Das principium contradictio­ nis zeigt nun noch eine grundlegende Anwendung der Reflexion aus ihrem Selbstverständnis. Diese steht als Hauptvertretung des Wirklichen auch am Selben. Ein Ur-Teil kann nicht das an­dere sein, darin hat sich ihre innerste Anschauung gezeigt. Dass diese sich aus einer Abstraktion der Erfahrung nicht ein­stellen kann, leuchtet ein, denn die Abstraktion lässt die Un­terschiede untergehen. Zur Reflexion gehört indes die Selbst­erfahrung als Ur-Teil, und nun lautet die Kehrseite des Ge­setzes: Die Ur-Teile können zusammen nicht das Selbe erstel­ len. Das Wirkliche ist nicht das Zweck-Selbe. Indem die con­ tradictio ein Ur-Teil als nicht das andere setzt, setzt sie sich selber mit. Indem sie aber die Ur-Teile als nicht das­selbe und nicht das Selbe setzt, setzt sie die Ur-Teile am Selben unter sich in Vergleich und gegenüber dem Selben in die Verneinung. Die Contradictio hält sich im Vergleich. Diese Reflexion, und damit im Zusammenhang das Erkennen insge­samt, haben wir aber dem Wirklichen eingefügt. Dasein erhält zwei Bezüge zum Wesen hin, aber im Grundsatz ändert sich das Streben des Daseins nach Vereinigung mit dem Wesen nicht. Welche Rolle spielt nun Erkennen im Wirklichen, wenn es über die Verfassung des Ur-Teiles nicht hinauskommt und Bewusstsein den Plan von Wesen und Dasein nicht ändern kann? Das Bewusst­ sein erfährt sich als Bedürfnis. Indem es seinen eigenen Selbstzweck den anderen Lebendigen auch zuerkennt, bleibt es bei dem allgemeinen Verhältnis der Wirklichkeit zum Selben. Mit dem Aufkommen des Erkennens findet also im Schema keine Ablenkung des Zweckes statt, bzw. Erkennen ist schon immer in diesem Schema untergebracht. Wirklichkeit strebt als Drei-Ei­ nigkeit zum Selben hin. Dann bringt uns jedoch das Pflanzli­ che als Unterschied zum Erkennen gerade auf die Frage. Ist die Zwei-Einigkeit der Pflanze oder die Drei-Einigkeit des Bewusstseins das Normale? Liegt hier eine stufenweise Einho­lung des Zweckes vor, oder ist das Tierische ein Umweg, auf den auch verzichtet werden kann? Wenn wir vom Selben als dem eigentlichen Zweck ausgehen, so kommen wir zu dem Ergebnis, dass doch die Materie kaum eine innere Ur-Teilung nach Wesen und Dasein aufweist, deshalb dem Selben am nächsten kommt oder das Selbe ist. Entspricht die Materie in ihrer inneren Formlosigkeit dem Streben der Lebendigen nach dem Streben von Wesen und Dasein, so zielt alle Entwick-

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lung zur Materie hin. Allein die Materie als bloße Außenseite zeigt sich darin auch wieder als ein form- und wesenloses Dasein im voraus oder im Hinblick auf die Wesen. Denn nun müssen wir zweifeln, ob Materie ohne We­sen nicht auch zeitlos ist. Das Streben hin zum Selben hat eine Richtung, entweder zur Materie hin oder umgekehrt, wo das Erkennen erscheint. Was die Entwicklung der Einzelnen be­ trifft, so zeigt sich die Bewegung des Daseins als die andere Richtung an. Was die „Entwicklung“ der Arten betrifft, so be­merken wir keine gleitenden Übergänge, sondern nur Artge­setze; eine zunehmende Entfaltung weg von der Materie, hin zum Menschen lässt sich nicht übersehen. Wie immer die Richtung gehen mag, das geheimnisvolle Selbe steht als Zweck im gefugten Wirklichen, und der Zusammen­schluss am Wesen und am Dasein lässt uns nun gar keine andere Möglichkeit mehr sehen: Erkennen kann sich gar nicht ausglie­dern an diesem Schema. Es trägt bei zur Verselbigung. Zweck wäre indes völlig verfehlt, wenn Erkennen jene Einheit, die im Pflanzlichen zwischen Wesen und Dasein gegeben ist, so entstellen und verfremden würde, wie sie Kant am Sein an sich aufgefasst hat. Eine Verheimlichung oder Verbergung eines Zu­ ges Wirklichkeit an sich gegenüber dem Bewusstsein, sei es nun tierisch oder menschlich, kann zwar nicht als contradictio in se erklärt werden. Man müsste aber das Zweckdenken im mensch­lichen Bewusstsein als einen listigen Selbstbetrug der Wirk­ lichkeit am Bewusstsein verstehen. Damit wäre das in die Reflexion gehende Bewusstsein der Sinn- und Zwecklosigkeit ausge­setzt. Die Bastionen des Transzendentalismus sind an der Wahrhaftigkeit eines Zweckes schon immer ein Kartenhaus. Erkennen kann nur beitragen zur Vereinigung, und die Reflexion ist außerstande, Ur-Teile des Wirklichen fallen zu lassen. Sie hat die Aufgabe, die letzten Winkel des Wirklichen, die den Sinnen entgehen, aufzuspüren. So viel ist geklärt, dass es sich einfügt in das Schema, ein Nebenzweck oder unterge­ordneter Zweck kann nur beitragen zu diesem. Es bringt keine Entzweiung, und zwar in jeder Hinsicht keine Entzweiung. Was noch unklar bleibt, ist die Eigenart des Ur-Teiles, die Weise des Vergleiches oder das Geheimnis der Gleichnisbildung. Die­ser doppelte Bezug des Daseins nimmt nun alles in Anspruch. Bedeutet er eine Zunahme in Bezug zum Selben; dann gewährlei­ stet Erkennen eine größere Annäherung an das Selbe. Es wäre gleichbedeutend mit einem innigeren Zusammenschluss des Gefug­ten in sich selber: Demnach hätten wir darin die Erklärung des Selbstbewusstseins. Das Gleichnis wäre dem unvergleichli­ chen Ziel der Verselbigung ungemein näher gekommen. Auch wenn die Materia dem Monopol des Selben näher stünde, so müssten wir das Bewusstsein zwar als ein Rückstand oder größeren Ab­stand hinnehmen, allein am Zweck der Einsammlung zum Selben hin würde sich nichts ändern. Das Selbe als die Eintönigkeit



§ 32  Die Ur-Teile und das Logische221

der Materie oder das Selbe als Wesen, Dasein, Erkennen in ei­nem, ohne Fugen. Das hieße, das Vermögen des einen Ur-Teiles wäre unmittelbar, unbedingt, ungebrochen im anderen. Dasein wäre nicht nur Wille, sondern auch Einsicht; Erkennen wäre nicht nur Vergleich und Unterschied im Gleichnis, sondern ge­setztes Sein; Wesen wäre nicht nur Ur-Teil, sondern wirkliche Gesamtheit. Das Selbe als Verneinung aller Bedürfnisse nach außen, zum Gefugten hin und so als Freisein vom Zweck und Selbstzweck allein. Das Dasein der Lebendigen erscheint, dies ist seine Grund­ weise; das Wesen wird erschlossen, es erscheint nicht unmit­telbar. Erkennen zeigt sich aber genau genommen in drei Bezü­gen: Zum Wesen hin, zur Erscheinung hin und als Innewerden zum Gemüt hin. Das bewusste Dasein hält sich unmittelbar zum Wesen hin und vermittelt über das Erkennen. Bewusstsein ist al­so wesensbewusstes Dasein, indem es die Richtlinien seines We­sens als Bedürfnisse im Gemüt und im Erkennen an fremdem Da­ sein vergleicht. Dieser Vergleich aus dem Bedürfnis des Ge­mü­tes geschieht nie ohne Wesenserkenntnis. Darum ist Erkennen immer auf Dasein und Wesen ausgerichtet. Der Vergleich hat den Zusammenschluss als sein innerstes Ziel. Alle Hervorgänge trägt aber das Wesen, welches unberührt in seiner Zone ver­harrt, ohne aus sich herauszugehen. Was dem Bewusstsein an erscheinendem Dasein begegnet, ist durch und durch Materie. Dennoch erfüllt sich Dasein nicht in der Materie, weil es mittels seiner zwei Bezüge noch ein In­nenleben hat. Dasein als Gemüt geht in der Materie nicht auf. Aber auch Dasein als bloße Erscheinung in der Wahrnehmung geht nicht auf an der Materie, weil es als Entwicklung und als willkürliche Bewegung sich nicht einordnet in die bloße Außenseite einer Materie. Dennoch dürfen wir den Überstand, den Dasein an der Materie gemessen aufweist, nicht einfach mit dem Wesen auffüllen. Denn das Wesen wird nicht einzeln, Dasein ist nur einzeln. Dasein ist immer mehr als bloße Mate­rie, und doch hat dieses Mehr noch nichts zu tun mit der raum-, zeit-, stofflosen Weise des Wesens. Erklärbar wird dieses Mehr als bloße Materie, nämlich das Lebendige, nur an der Ausstrahlung des Wesens. Denn dem Individuum eignet das Wesen nicht weniger als das Dasein, und wenn dieses Wesen in ihm nicht einzeln wird wie das Dasein, so ist es dem Indivi­ duum nur noch näher als das Dasein. So erklärt sich denn die Materie nur als Grundschicht des Da­seins, und die Artgesetze haben ihre gemeinsame Anlage, dass sie sich in der Materie verwirklichen. Alles spielt sich in der Materie ab, aber nicht alles lässt sich aus den Bestim­mungs- oder Erscheinungsgründen der bloßen Materie ableiten. Betrachten wir das sich vom Boden lösende Bewusstsein, so ver­mehrt sich in seinem Dasein das Unableitbare. Das Tier löst die innige Verbun-

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3. Teil, 3. Kap.: Die Vermittlung des Zweckes

denheit mit dem Boden, es folgt seinem Wesen auf eine neue Weise, und es zeigt eine doppelte Bindung zum Wesen. Aber ist damit eindeutig aufgezeigt, dass die Annähe­rung an das Selbe einen höheren Grad erreicht hat als in der Pflanze? Erweist sich der Zusammenschluss von Wesen und Dasein in der Urkraft einer tausendjährigen Eiche nicht weit mächti­ ger als das gebrechliche Leben eines Menschen? Haben wir den Zweck nicht so bestimmt, dass wir dem zustimmen müssen? Legen wir diesen Maßstab an, so übertrifft der tote Felsblock auch die Eiche. Dabei haben wir freilich auch die Zeit nun vom Ge­müt in die Erscheinung übertragen. Da unser Dasein aber immer mehr sein soll als bloße Materie, wäre doch mit der Möglich­ keit zu rechnen, dass Zeit nur im Bewusstsein entspringt. Alle Ur-Teile stimmen darin überein, dass sie der Ergänzung bedürftig sind, und selbst die Reflexion in ihrer zweckfreien Gelassenheit hat notwendig die Sinne zu ihrer Anwendung. Eine bemerkenswerte Tatsache haben wir bis jetzt viel zu wenig ausgewertet. Wenn dieser allgemeine Zweck nach Zusammenschluss der Ur-Teile zum Selben hin nun doch in Richtung Bewusstsein und weg von der Materie gehen soll, so erfolgt die Vermitt­lung aber offensichtlich in Richtung zur Materie. Wenn also die Ernährung allgemein in Richtung Boden geht, so zeigt sich darin auch die Richtung zur Verselbigung. Die Materie kommt doch darin dem Selben nahe, dass sie gerade nicht der Tiere und Pflanzen bedarf. In einer rätselhaften Verschlossenheit stellt sich die Materie zwischen Bewusstsein und das Selbe, und dennoch können wir uns die Materie nicht als das Selbe vorstellen. Das Selbe soll ein Überbewusstsein sein, Innen­seite, so dass alles eins ist, Materie bleibt ewiges Außen, Einfachheit im Sinne von Armut. Könnte es aber nicht so sein, dass das Zweck-Selbe das Lebendige von innen und außen umgibt, so dass es in der einen Richtung Materie wird, in der anderen eben jenes Selbe, das die Reflexion erschließt. Aber dann müssten wir die Materie als Dasein eines Super-Wesens annehmen, und das Selbe wäre eben doch nicht das Selbe. Die Materie trägt alle Kennzeichen einer Teilzone des Da­seins, und die Daseienden halten sich in der ständigen Er­neuerung der Zone am Wesen fest. Ist es denn nicht die Her­kunft der Materie, welche die Einzelnen immer wieder zurück­sterben lässt ins Erdreich? Tatsächlich lässt sich die Verbin­dung mit der Erde auch umgekehrt deuten. Dann erweist sich nämlich die Herkunft von der Erde als Grund dafür, dass die Lebendigen immer wieder auseinanderfallen, womit sie zwecklos werden. Der Tod der Lebewesen ist die Unfähigkeit, den Zweck zu fassen; in der Tat ein Rückfall zur Erde. Also darf man es auch so betrachten: Die Erde ist der äußere Mantel, der als solcher auch noch dem Zweck-Selben zugewendet bleibt, und er bedeutet die größte Zweckferne. Also ist das Selbe nicht in äußerster Einfalt der Materie, sondern in höchster gegensei­tiger Durchdringung und Austauschbarkeit die einfache



§ 32  Die Ur-Teile und das Logische223

Ein­heit. Indem dieses Selbe nicht die Grenzen seiner Ur-Teile in sich erleiden muss, wird es zur unbegrenzten Fähigkeit, sich selber mitzuteilen. Aber teilt es denn sich selber in sich selber mit? Dies wäre nur eine Sicht des Gefugten. Es teilt sich nicht in sich, aber es ist teilnahmslose Mitteilung nach außen, zum Wirklichen. Das Wirkliche erklärt sich daraufhin als Umkehr: Es ist mitteilungslose Teilnahme am Selben. Das Selbe hält sich in grenzenloser Mitteilungsfähigkeit sei­ner Gründe, so dass der Zone des Wesens die Macht des Daseins nicht abgeht, so dass dem Gemüt die Erkenntnis eignet, so dass dem Erkennen die Selbstmacht von Dasein und Wesen ineins zu­kommt. Die Umkehr des Wirklichen zum Selben hin erlaubt uns den Umkehrschluss. Wir erschließen das Selbe aus den Ur-Teilen des Wirklichen, wir erschließen aber auch das Wirkliche aus den unerfahrbaren Gründen des Selben. Darin öffnet sich auch ein Aufschluss über die Zweckmäßigkeiten. Die mitteilungslose Teilnahme findet in der teilnahmslosen Mitteilung ihre Erfül­lung. Die teilnahmslose Mitteilung erhält in der mitteilungs­losen Teilnahme ihre Nebenwirkung. Das Streben der Teilnahme vollendet sich in der Mitteilung des Selben. Die Mitteilung strahlt ohne Zweck an der Teilnahme, und ihre Ausstrahlung wird zum Gehalt des Wirklichen.

2. Die Vertretung des Selben im Vergleich Wir bemerken also, dass sich Erkennen in einem Gegenzug zur Loslösung des Lebendigen vom Boden einstellt. Bewusstsein kommt am Erkennen auf, indem Dasein als Gemüt seiner Bedürf­ nisse inne wird und im Erkennen der Nahrung nachsetzt. Es ist die neue Form der Bewegung. Damit ist Erkennen rein nach dem äußeren Zusammenhang beschrieben: Wahrnehmung des Zieles und freie Beweglichkeit. Wahrnehmung aber wird nun zu einer Ver­selbigung aus der Ferne. Dasein spürt nicht mehr unmittelbar den Reiz in bewusstloser Weise, Erkennen kommt auf als Wieder­holung in der Unterscheidung. Das Geheimnis des Erkennens verhüllt sich in der Art und Weise, wie es wiederholt. Für das beobachtende Bewusstsein bleibt eine solche Erklärung unbefriedigend, weil sie nur eine Nebenerscheinung abgibt. Wozu solch ein Aufwand, wenn es auch pflanzenhaft geht? Aber es geht nicht ausschließlich um die Nahrungsaufnahme. Erken­nen führt im Rahmen der drei Kreisläufe der Entwicklung zu einer neuen Gemeinschaftsbildung. Bewusstsein zeigt sich nicht nur als Fernverselbigung mit der Beute, es kommt eine Artfür­ sorge auf, in der nun das neue Vermögen auch umgekehrt wirkt. Bewusstsein ist grundsätzlich Anerkennen des anderen Bewusst­ seins, der Selbstzweck am Individuum erfährt sich schon immer als Mitteilung in der Teil-

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nahme. Erkennen zeigt sich so als bewusste und gewollte Gegenbewegung zur Entwicklung von Wesen und Dasein. Nach wie vor hält sich der Zweck der Verselbigung von Wesen und Dasein in der Entwicklung. Aber nun erweitert sich das Schema in einer Vergemeinschaftung, die dem einfa­cheren Ziel überhaupt nicht zuwider ist. Die Selbstbildung hat als Kehrseite die Mitteilung zum Anderen, und ohne Ande­res kein Selbst. Wir haben es weder mit einem Nebenzweck zu tun noch mit einer Fehlentwicklung, vielmehr wird jetzt offenbar, dass der einge­schlagene Weg des Zweckes gar nicht anders gehen kann. Was hier überwunden wird, ist eine erneute Ur-Teilsbildung, die nur in die Zerstreuung führen würde. Demnach haben wir das Ereignis so aufzufassen: Das dritte Ur-Teil bringt keine Zersplitterung gegenüber der ebenso einfachen wie einsamen Materie; Dasein und Wesen treten inniger zusammen, die Durch­dringung in Richtung zum Zweck-Selben wird vertieft. Es fin­det eine Annäherung zum Zweck-Selben statt. Letzteres hat sich als Mitteilung ohne Teilnahme angekündigt, das Gefugte steht als bloße Teilnahme da. Indem aber Bewusstsein nun auch Mitteilung kennt, wiederholt es in der Ebene des Gefugten et­was von der Verfassung des Selben. Die Annäherung nach innen geschieht in der Mitteilung im Nebeneinander und nach außen. Der Gleichnisgedanke vollendet sich, indem der Weg nach innen zu einer Ausstrahlung nach außen wird. In sich bedeutet Wirk­ lichkeit Teil-Nahme, die nur in Bezug auf Mitteilung bestehen kann, der Bestand enthält den Verweis. Am Schema des Wirklichen hat sich Erkennen bis hierher einge­ordnet, und man möchte jetzt sagen, dass es keinen Sinn hat, nach einem Vorrang in dem Bauplan zu suchen. Jedes Ur-Teil trägt seine eigenen Züge und damit zur Ergänzung des Wirkli­chen bei. Das Ganze erstellt sich als Angleichung zum Selben, und da es auf die Annäherung ankommt, besteht das Ganze im Verweis zum Selben. Aus diesem Grunde der Ergänzung ist aber schon jede Verdoppelung in den Ur-Teilen vermieden. Denn jede Verdoppelung eines Zuges in den Ur-Teilen wäre im Grunde ein Versagen an der Mitteilung, das Wirkliche würde so schlechter schließen. Annäherung an das Selbe und Zusammenschluss in sich läuft also auf das Selbe hinaus, und alles kommt nun auf den Zusammenschluss an. Dass Erkennen im Zuge einer Lösung des Le­bendigen vom Boden aufgekommen ist, bringt uns jetzt nicht weiter; dies steht als Anzeichen; was wir benötigen, sind aber Kennzeichen. Nun eignet dem Erkennen in besonderer Weise die Vertretung der Ur-Teile unter sich, und darin muss es wohl einen Aufschluss für uns geben. Vertretung bei Gleichartigen setzt voraus, dass der Vertreter alle Fähigkeiten des Vertretenen an sich selber hat. Am Wirk­lichen, so wie es in sich besteht, muss dies nun im Schema verstanden werden. Erkennen hat die Natur von Wesen und Da­sein nicht in sich. Es wäre das Selbe sonst schlicht-



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hin. Oder es wäre nur eine bloße Verdoppelung der Zonen, die grundsätz­lich nichts Neues brächte. Die Vertretung muss daher anders erfolgen: Vertretung in der Weise des Verstehens kann nur so geschehen, dass Erkennen sich in seiner ureigenen Weise an die Stelle der anderen Teile setzt, ohne deren ureigene Natur in sich zu verdoppeln. Es liegt aber so im Plan des Erkennens, dass es nicht nur Wesen und Dasein, sondern auch sich selber vertritt. Was wir an der Reflexion bemerken, dass sie nicht nur Wesen und Dasein, sondern letztlich sich als Reflexion in die Vorstellung bringt, ist kein ÜberErkennen, sondern innerste Natur, so dass die Sinne nur als Ausläufer der Erkenntnis zum Tragen kommen. Vertretung im Individuum bedeutet in die Vor­stellung setzen, es versetzt sich an die Stelle des Anderen und wiederholt es. Aber die Wiederholung ist keine Verdoppe­lung, nur das Gleichnis. Indem Erkennen Wesen und Dasein in sich wiederholt, versel­bigt es die Ur-Teile in sich, aber es verselbigt sie nur im Gleichnis. Die Annäherung zum Selben geschieht, indem Erken­nen eine Verselbigung im Wirklichen vergleichsweise voll­zieht. Das Wirkliche hat damit seine inneren Grenzen erreicht und seine Möglichkeiten ausgeschöpft. In dem Vergleich ist auch das Selbe in den Vergleich gesetzt, aber als das Unver­gleichliche, an dem alles zum Gleichnis wird. Die Reflexion versetzt sich also auch in das Selbe, denn anders könnte sie es nicht erschließen, aber in der Verneinung der Ur-Teile. Damit bestimmt sich die Vertretung des Erkennens auf eigen­ tümliche Weise. Allein das Gleichnis vermag Verbindung aufzunehmen mit dem Selben, und jede andere Vertretung müsste auf sich selber zurückfallen. Im Gleichnis gelingt die Verselbi­gung der Ur-Teile, und darum gelingt im Gleichnis die Brücke zum Selben. Indem die Reflexion Dasein, Wesen und sich in die Vorstellung bringt, gleicht sie sich dem Selben (von Dasein, Wesen, Erkennen) an. Nur in der Zone des Erkennens überwindet das Wirkliche seine Ur-Teile, jedoch nicht als Sein, nur als Erkennen. Ein Vorrang oder ein Vorteil des Erkennens zeichnet sich aber darin nicht aus, man kann es nämlich auch so sehen: Nur in der Seinsentleerung vermag das Wirkliche das Selbe zu bezeichnen; gerade weil Erkennen das Sein nicht wirklich setzt, vermag es das Ungesetzte in sich zu erfahren. Das Un­gesetzte erklärt sich aber als das Wirkliche und als das Selbe, wenngleich sie sich doch als schroffe Gegensätze her­ausgestellt haben. In der Tat vertritt Erkennen das Wirkliche und das Selbe.

3. Die Reflexion und das Logische Mehr und mehr bestätigt sich unsere Sicht am Plan des Wirkli­chen, dass nämlich Erkennen niemals als eine Übersetzung aus der Wesenszone erklärbar wird. Denn als wesentliche Anlage müsste Erkennen ins Dasein gehen, im Wesen sich zurückbehalten oder sich in eine neue Zone übersetzen. Das

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3. Teil, 3. Kap.: Die Vermittlung des Zweckes

Wesen müsste zwei verschiedene Vorgänge haben, womit freilich das Eigentümliche an Erkennen nicht begründet werden könnte; oder aber die Ein­heit des Wesens wäre doch in zwei verschiedenen Zonen. Die alte Lösung, die Vernunft als differentia specifica und damit als Wesensmerkmal zu erklären, ist für uns kein gangbarer Weg mehr. Denn damit wird freilich die anima intellectiva zur inner­sten Wesensform bestimmt, und das rein biologische Artwesen des Menschen zu einer äußeren Gestalt herabgesetzt, die meta­ physisch gar keine Rolle mehr spielt. Fasst man Erkennen, nä­herhin Vernunft, als etwas Gestaltloses, so ist man sicher­lich auf dem richtigen Weg, aber das menschliche Artwesen lässt sich dann im Vergleich mit den Säugetieren nicht mehr bestimmen, weil hier eine ganz andere Zone die Form bestimmt. Dann könnten aber auch der Elefant oder der Löwe die Vernunft bekommen. Es wird daher unumgänglich, dass wir zwischen Erken­nen und dem Artwesen Mensch unterscheiden, dann aber auch die Folgen annehmen, die sich daraus ergeben. Mit der Wesensformel „anima intellectiva“ entsteht der Ein­druck, dass die menschliche Gestalt im Unterschied zum Pferd oder zum Affen irgendwie die Verleiblichung der Vernunft zum Ausdruck bringe. Nun entspricht dies gerade nicht der Zone des Erkennens, die wir uns nur als etwas Gestaltloses denken können, damit sie eben darum alles Gestaltete zu fassen ver­mag. Einzig und allein die Wesenszone erklärt sich als Ge­staltgrund, womit sie sich gerade als Erkenntnisgrund ver­neint. Erkennen ist nichts Wesentliches. Diesem Gedanken müs­sen wir nun folgen. Was die Augen, die Ohren, die Nase der Tiere betrifft, so gehören sie ihrer körperlichen Form nach zum Wesen. Was das Sehen, Hören, Riechen betrifft, so gehören diese zum Erkennen, und hier gilt es, alles Wesensmäßige abzuhalten. Nur so wird Erkennen seiner Rolle gerecht. Denn es vertritt nicht nur das Individuum, es vertritt das Wirkliche insgesamt schlichthin. Was für das Wesen in Bezug auf das Da­sein gilt, lässt sich vergleichsweise verwenden, um Erkennen am Wirklichen einzuordnen. Alles Wesentliche verhaftet Er­kennen an eine bestimmte Art, eine Vermengung der Zonen kann es jedoch im Wirklichen nicht geben. Also ist reines Erkennen eine Zone, die in sich ruht wie die Ur-Teile als Wesen, und wenn diese schon sich nicht im Individuum vereinzeln wie das Dasein, so bleibt Erkennen im Wirklichen insgesamt eine all­ gemeine Zone, unabhängig von den Wesensurteilen, die je nach Maßgabe an ihr hängen. Die Wesen im einzelnen gleichen nur der Augenhöhle, in der Erkennen gefasst ist. So vollendet sich Erkennen als allgemeiner Vergleich des Wirklichen unter sich und damit am Selben. In ihm schließt sich die Kluft des Wirk­lichen, die auf Grund seiner Fugen entsteht, zu einem Zusam­ menschluss aller, und dies ist kein Beitrag der Einzelnen mit­tels ihres einzelnen Erkennens. Dies ergäbe eine Welt von In­sekten, aber selbst diese enthalten mehr als eine solch zer­ stückelte Wirklichkeit. Erkennen ist das



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allgemeine Licht der Welt, in dem alles sich bewegt und das dennoch nicht ist. Es ist nicht Sein, sonst wäre es zersplittert. Würde jedes Bewusstsein von sich her seinen Beitrag zum Erken­ nen leisten, so käme das Bewusstsein über seine wesentliche Beschränkung gar nicht hinaus. Die Wesen sind beschränkt, weil die Seinszonen des Wirklichen als Ur-Teile an sich be­schränkt sind. In der Vereinzelung des Daseins erfüllen sich ihre Möglichkeiten. Ein solches Erkennen, wenn es überhaupt ergehen könnte ohne Widerspruch in sich, würde nur Bewusstsein in sich selber schließen. Es gäbe nur Monaden ohne Gemein­ schaft. Bereits die Kreisläufe der Entwicklung sind indes auf Gemeinschaft angelegt. Dies alles belehrt uns deshalb, dass pflanzenhaftes Dasein, so gesehen, vollendeter wäre. Also müs­sen wir Erkennen anders fassen, nämlich als Aufbruch in­ ner­halb der Entwicklung, die aber nicht aus ihr kommen kann. Er­kennen ist Licht nach innen und von innen. Der Zusam­ men­ schluss von Wesen und Dasein hat sich noch nicht vollendet. Jeder weitere Zusammenschluss nach innen wird aber auch ein Zusam­menschluss der Gemeinschaft der Artgenossen, und wiederum ein weiterer müsste auch ein artübergreifender Zusammenschluss wer­den. Dies wird nur möglich in einer inneren Voraussetzung für Sein, und dies trifft nur zu für eine allgemeine Zone Er­ken­nen. Der Weg nach innen als Gleichnis der Verselbigung und das Licht von innen als allgemeine Zone des Vergleiches vollenden sich in der Reflexion; diese hat also keine Wesensmerkmale, ihre Bestimmung muss anderswoher kommen. Die Vollendung in der Reflexion erscheint darin, dass sie nicht nur Wirkliches, son­dern sich selber als Reflexion erkennt. Dennoch setzt die Reflexion sich selber als Ur-Teil, indem sie sich als der Ergän­zung an den Sinnen bedürftig erkennt. Allein die Reflexion entschränkt sich aber in ihrem Vollzug auch wieder von ihren Sinnen, indem sie allgemeine Gesetze für alles Wirkliche aus sich entnimmt. Die Erfahrung gewöhnt sie nicht einfach daran, sie entdeckt ihr Gesetz an der Erfahrung. Nur darin vertritt sie das Wirkliche, dass dieses sie nicht zur Gewohnheit bringt, sondern sie aus sich selber dessen Gesetze entnimmt. Es sind die Gesetze ihres Selbstvollzugs, das rein Logische, welches nicht mit den metaphysischen Urteilen der Erfahrung vermengt werden darf. Dieses rein Logische gilt es nun, in seinem Unterschied zum Metaphysischen zu betrachten. Es ist völlig zwecklos, so wie es zur Anwendung kommt. Es ist deshalb zwecklos, weil es al­ler metaphysischer Ur-Teile und allem metaphysischen Urteilen spottet. Es kennt nicht den Unterschied von Wesen, Dasein und Erkennen, für sein Gesetz ist alles gleich; es macht keinen Unterschied zwischen Sein und Bewusstsein, sein Gesetz ist dasselbe. Darin findet jedoch eine völlige Entschränkung statt, indem die Reflexion so ihr Selbstverständnis als innere Anschauung gewinnt. Denn die

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3. Teil, 3. Kap.: Die Vermittlung des Zweckes

Erfahrung führt nur zum Metaphy­sischen als ihrer allgemeinsten Anwendung, und dieses steht nur im Eingriff des Logischen, welches nur deshalb zwecklos erscheint, weil es alles Unterschiedene aus sich hinausge­drückt hat. Es vermag aber auch nur so zu tragen, dass es die metaphysischen Ur-Teile außen hat. Das Logische ist also gar kein Gleichnis oder Vergleich, es ist das Selbe.

§ 33  Die Reflexion im Lichte des Zweck-Selben 1. Das Selbe als das Logische In einem auffallenden Widerspruch zeichnet sich jetzt die Reflexion ab: Sie versteht sich als ein Ur-Teil im Erkennen, und dennoch soll dieses UrTeil im Ur-Teil fassungsfähig des Sel­ ben sein. Aber bedenken wir: Das Selbe bedarf zur Erkenntnis der metaphysischen Anwendung der Reflexion, und darin enthält es den Zweck. Doch erklärt sich bereits das Selbe als Vernei­nung der Ur-Teile. In dieser Einsicht schließt sich die Reflexion mit ein, sie vertritt das Wirkliche, und ihre Erkennt­nis versteht sich als Erfahrung des Wirklichen im Gleichnis und im Vergleich. Die Reflexion vergleicht alles. Aber diese Leistung geschieht nur aus innerer Anschauung des Logischen. Nur weil dieses Logische alle erfahrenen Unter­schiede in sich ausscheidet, führt die innere Anschauung des Logischen zur Erfahrung des Selben am Wirklichen. Die meta­physischen Urteile der Reflexion, die sie über die UrTeile des Wirklichen ausspricht, richten sich auf das Zweck-Selbe aus. Die Reflexion kommt zum Ergebnis, dass die Ur-Teile sich im Gleichnis zum Selben ergänzen. In dieser Einsicht voll­zieht sich indes eine Parallele im Sein und im Erkennen. Nur so wird der Bestand des Wirklichen gehalten, indem das Zweck-Selbe es von innen her zusammenhält. Damit erreicht die Reflexion ihre metaphysische Abschlussbestimmung an der Erfah­rung. Die Parallele in Bezug auf die innere Anschauung dürfen wir jetzt im Logischen einsehen. Wie nämlich das Selbe als Zweck das Wirkliche begründet und trägt, so wird nun das Lo­gische erst zur Ermöglichung aller metaphysischen Urteile. Die Vollendung der Reflexion geschieht, indem sie aus der An­ wendung in der Erfahrung einen Rückschluss in das Logische vornimmt, den sie aus innerer Anschauung allein so nicht ver­antworten könnte. Wir haben es deshalb nicht mit einer Ein­sicht a priori zu tun. Die Reflexion kommt zur Einsicht, dass ihr im Logischen das Selbe im Ausschnitt des Denkens er­scheint. Das Logische ist gar nicht zwecklos, es erscheint nur der Reflexion a priori als zwecklos. Zunächst ist damit Metaphysik begründet. Transzenden-



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talismus läuft dem ureigentlichen Zweck schlichthin zuwider. Verständlich wird jetzt auch, dass die Reflexion das Logische als das Selbe gemäß ihrer inneren An­schauung nicht einsehen kann. Sie müsste ja jene unmittelbare Einsicht haben, die wir ihr sogleich abgesprochen haben. Es wäre ein Verstand, der auch die Anschauung in sich hätte, den Kant als vielleicht möglich einräumt.27 Es wäre vielleicht ei­ne Art Ideenschau, worin der Reflexion auch die Vermögen aller anderen Erkenntnisweisen ureigentlich angehören müssten. Aber die Reflexion wächst darin über ihre innere, rein logische An­ schauung hinaus, indem sie Logik und Metaphysik verbindet, um die letzten Rückschlüsse ins Selbe zu ziehen.28 Jetzt erst werden wir uns der Tragweite und des Tiefgangs ei­nes Schlusses der Reflexion bewusst. In jedem Akt des Schlie­ ßens wiederholt die Reflexion ein Verhältnis des Selben im Wirkli­chen, sie wiederholt es aber nur in ihrer eigentüm­li­chen Wei­se, denn anders wäre es ein selbstmächtiges Verdop­peln. Indem das Logische auch das Selbe ist, nimmt die Reflexion ihr Denk­gesetz als das Seinsgesetz wahr. Aber ist das Denkgesetz nun ein Gleichnis zum Seinsgesetz gemäß dem Er­kennen, oder ist das Denkgesetz nun dasselbe Gesetz wie das Seinsgesetz? Ist es ein und dasselbe Gesetz im Sein und Er­kennen? Stellen wir uns aber damit nicht eine Frage, die schon längst beantwortet ist?

2. Das Selbe als Erkennen und die Offenbarung von Sein an sich Erkennen vertritt das Wirkliche, es vertritt als Ur-Teil das Ganze, und darin liegt zunächst ein Widerspruch. Nehme ich das Teil für das Ganze, fälle ich ein falsches Urteil. Der Widerspruch kann jedoch entkräftet werden, indem man die Wei­se der Vertretung näher bestimmt. Es wurde gezeigt, dass Er­kennen nicht als Individuum eine Gruppe vertritt, sondern nur im Vergleich das Wirkliche wiederholt. Es versteht in seiner Weise das Seiende. Es versetzt sich in jedes Teil, und es setzt so Wesen und Dasein in eines, aber nur im Erkennen, nicht als Sein. Im Gleichnis wird etwas selbig, was 27  Kant weist in der „Kritik der reinen Vernunft“ immer wieder darauf hin, dass nur ein solcher Verstand das Seiende so erschauen könnte, wie es an sich ist. Darin äußert sich zunächst einmal ein tiefes Miss­trauen gegenüber den Sinnen, welches für Descartes zum Anlass seiner Zweifelsbetrachtung geworden ist. Kants Philosophie wird aber daran auch widersprüchlich in sich selber. Denn ein solcher Verstand wäre kein Verstand mehr für uns, er wäre das Sein selber. Denn zum Vollbe­ griff der Transzendentalphilosophie gehört auch, dass die Denkgesetze keinerlei Übergang in Seinsgesetze an sich enthalten. 28  In diesem Sinne ist Hegels Logik zu verstehen.

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3. Teil, 3. Kap.: Die Vermittlung des Zweckes

es im Sein nicht ist. Aber der Vergleich gehört mit zum Wirklichen und bringt dieses dem Selben näher. Die Eigentümlichkeit der Zone drückt sich darin aus, dass Erkennen in seiner Allgemein­heit auch noch die Stufe des Wesens überschreitet. Erkennen als Zone lässt sich nicht in Teilnahmen der Wesen aufteilen, vielmehr sind die Wesen so geformt, dass sie mehr oder weniger die Zone in sich aufnehmen, die als formlose allein eine all­förmige, als völlige Seinsentleerung deshalb das Seiende er­füllen kann. Man würde Erkennen nun doch als etwas Seinshaf­tiges auffassen, wenn man sich diese Zone als jeweils verein­ zeltes Vermögen vorstellen würde. Gewiss besitzt jedes Indivi­ duum das Fassungsvermögen, allein dieses Vermögen erklärt nicht das Denken, sondern nur die Fassung. In welcher Form lässt sich aber dann noch von der Reflexion als Ur-Teil im In­dividuum reden? Es wird nun völlig gleichgültig, ob wir Den­ken als Ur-Teil im wirklichen Individuum oder im Wirklichen insgesamt auffassen, das Wirkliche berührt sein Ur-Teil nicht, so wie Dasein das Wesen nicht berühren kann. Die Fas­sung ist im Dasein einzeln, das Gefasste lässt sich auch nicht in die Allgemeinheit der Wesenszone ein, das Gefasste ist nur Anstehendes. Ur-Teil nennen es wir nur deshalb, weil es nicht Sein, sondern bloßes Gleichnis ist. Was ich so als Logisches einsehe, kann gar nicht der Inhalt sein, zu dem Erkennen als Reflexion die Fassung wäre. Es ist das Logische selber, welches in meinem Bewusstsein einsieht. Reflexion wird es an meinem Gemüt, Logisches ist es für sich oder an sich. Das Logische aber ist das Selbe nach unserer Bestimmung. Also wäre doch das Logische das Selbe und auch Ur-Teil, womit der Widerspruch offen zu Tage liegt. Wäre da­mit das Wirkliche letztlich in seiner Gesamtheit nicht den­noch das Selbe? Es wäre es nur, wenn wir Erkennen als Sein verstehen würden, Erkennen wird jedoch nur zur Brücke zwi­schen dem Selben und dem Wirklichen, weil es seitens des Sel­ben auch seinsmächtig ist, seitens des Wirklichen aber nur Dasein und Wesen dem Selben näher bringt. Es steht ein und dasselbe Erkennen im Selben und im Wirklichen, aber das Wirk­liche kann wegen seiner Ur-Teilhaftigkeit das Erkennen nur als Ur-Teil verwenden, im Selben hat Erkennen Sein in sich. Für das Wirkliche steht Erkennen nur als Vergleich zur Verfü­ gung, für das Selbe wird die Vorstellung zur Seinssetzung. Erkennen ist das Selbe, allein dem Wirklichen kommt am Erken­ nen nicht die Macht des Selben zu. Das Logische ist nie Ur­teil, es begründet alle Urteile, doch das Wirkliche kommt am Logischen nicht aus seiner Ur-Teilhaftigkeit heraus. Weil aber das Logische nicht Urteil ist im Erkennen, wird es auch nicht Ur-Teil im Sein, und es kann auch nie als Vergleich oder Gleichnis erfasst werden. Darum ist das Logische im Er­ kennen auch nicht Gleichnis zum Gesetz im Sein. Tatsächlich erscheint am Erkennen das Selbe im Wirklichen, und darin scheint doch ein klaffender Widerspruch zu liegen. Denn dieses Erkennen



§ 33  Die Reflexion im Lichte des Zweck-Selben231

ist als vergleichende Annäherung zum Selben nur in der Seinsentleerung aufgetaucht. In einer Nach­ahmung des Seienden soll nun das Selbe selber ins Wirkliche ragen. Allein darin behauptet sich die einzige Möglichkeit des Wirklichen, das Selbe im Bereich der Ur-Teile und Fugen in sich zu tragen und zu bergen. Eben in der Seinsentleerung kann solches nur geschehen, dass beide Seiten in einem über­ einkommen. Darum wird Erkennen am Wirklichen zum Ur-Teil, wenngleich es an sich das Selbe ist als Sein und Erkennen. Dennoch nähert sich das Wirkliche gewaltig dem Selben, es vollzieht in der Vorstellung etwas vom Selben. Letzteres teilt ihm, dem Wirklichen, mit, was überhaupt noch übergeben werden kann und was das Wirkliche am Selben zu fassen vermag. Darum vollendet sich am Logischen der Bauplan des Wirklichen. Denn das Logische bedeutet keine Annäherung seitens des Wirk­lichen mehr, es bedeutet vielmehr die Selbsterscheinung des Selben, welches als Reflexion am Wirklichen gebrochen wird. Erkennen als Vertretung des Wirklichen wird in der Reflexion zur Selbstverantwortung im Selben. Darin ist das Gleichnis also auch überschritten. Doch bleibt eine solche Selbstver­antwortung in ihrer Zone, ihr fehlt in der Seinsentleerung das Entscheidende, welches sich nur im Gleichnis vollenden wird, weil es seinsmächtig werden soll. Das Selbe wird zum Wirklichen, so dürfen wir sagen. Doch hat es nichts zu tun mit dem Wesen und dem Dasein. Nur im Erken­nen, nur im Ausschnitt begibt es sich zum Wirklichen, welches ja immer mehr ist als ein bloßer Plan. Darum bezeichnet Er­ kennen in besonderer Weise den Plan, dem in seiner Teilzone weder Gebrechen noch Fehler zukommen. Die Verfehlung bleibt am Erkennen ausgeschlossen; so weit wie es einsieht, kann es nur Richtiges einsehen. In seiner Sonderrolle kann es nicht zurückbleiben, weil es vom Selben herkommt, was zurückbleibt, muss Dasein, vielleicht auch Wesen sein. Das Planmäßige ver­langt indes, dass wir es mit dem Wesen in Bezug setzen, weil doch das Wesen den eigentlichen Bauplan für den Vollzug des Daseins abgibt. Es zeigt sich aber gerade an der Vermittlung zwischen Wesen und Dasein, dass hier ein sinnliches Erkennen genügt und Erkennen als Reflexion in seiner Reichweite nicht ausgeschöpft ist. Wesensvollendung allein reicht nicht hin für einen Aufbruch nach innen, und dieser wird nicht nötig für Wesensvollendung. Es liegt im Erkennen, dass es wesens­ übergreifend in den Individuen waltet, und Wesensvollendung allein angesichts einer Reflexion, so wie wir sie gefasst ha­ben, liefe doch wohl auf eine Abkapselung des Einzelnen ge­genüber dem Wirklichen insgesamt und damit auch gegenüber dem Selben hinaus. Es liegt im Plan des Wirklichen, dass es nicht in einsamer und selbstsüchtiger Wesensvollendung an der gemeinschaftlichen Wirklichkeit sich mästet. Erkennen offenbart uns, dass ein sinnenhaftes Erkennen nur etwas Vorläufiges und Vorausge­schicktes sein kann, weil es in der innersten Absicht des

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3. Teil, 3. Kap.: Die Vermittlung des Zweckes

Er­ kennens liegt, Wirklichkeit in der Wesensüberschreitung zu­ sammen zu führen. Der Zusammenschluss führt zum Selben, und der Weg ist im Erkennen schon vorausgelegt. Angesichts dieses Sachverhalts stellt sich erneut die Frage, und sie verlangt geradezu gebietend ein Ja. Erfüllt sich der Zweck des Wirklichen nicht im Erkennen? Müssen wir jetzt nicht zustimmen, wenn im Erkennen das Zweck-Selbe angeblich im Wirklichen erscheint? Für die Reflexion ergibt sich doch jetzt ein erweitertes oder vollendetes Selbstverständnis. In ihrer reinen Anschauung nach innen vernimmt sie das Logische als ihr Denkgesetz und ihr Selbstverständnis, dem aber so je­ de Zweckmäßigkeit abgeschirmt bleibt. In ihrer Ausrichtung zum Wirklichen erfährt sie den Zweck aus den Ur-Teilen, nämlich das Selbe, welches diese aus sich nicht zu halten vermögen. Eine solche Einsicht bedeutet auch, dass die Ur-Teile selber, aus sich selber sich nicht in Wirklichkeit halten können. Ihr Wirklichsein erfährt sich von innen heraus vom Zweck-Selben getragen. Es gehört aber zur Reflexion, dass sie nun in sich die beiden Richtungen verknüpft. Das Logische aus der einen Ausrichtung ist das Selbe aus der Erfahrung. Ist damit ihr Denkgesetz nicht auch das Zweck-Selbe? Also liegt doch für das mit der Reflexion begabte Individuum die Aufforderung dar­in, das Logische anzuwenden zur Erfahrung des Zweck-Selben im Wirklichen. Damit ist aber die Antwort auch schon gegeben. Ich erfahre das Logische in der inneren Anschauung nicht als Gleichnis, nicht als Ur-Teil. Darin verschließt es sich mir aber auch als Zweck. In der Anwendung erfahre ich das Logische als das Zweck-Selbe. Allein diese Anwendung ist eine bloße Einsicht­nahme des Ur-Teiles, diese Anwendung wird nur zur Aufforde­rung der Anwendung aller Ur-Teile. Denn der Selbstvollzug des Erkennens in dieser Richtung sieht das Zweck-Selbe nur im Vergleich, womit das Sehen nur der seinsentleerte Teilbeitrag wird. So kann der Zweck nicht gehalten werden. Demnach ereignet sich im Erkennen etwas Ungeheuerliches. Das ZweckSelbe wird inmitten der Entwicklung Mittel zu sich sel­ ber, es dient als Mittel zum Zweck. Offenbar wird es nur des­halb Mittel zum Zweck, weil es selber Zweck bleibt. Umgekehrt gesehen bedeutet es, das Wirkliche in seinen Ur-Teilen vermag auch sich, diese Angleichung nicht mehr zu leisten. Das Selbe teilt ihm etwas mit, was das Wirkliche über sich hinaushebt, und darum ist es das Letzte, was das Selbe dem Wirklichen mitzuteilen vermag: Das Selbe. Das Wirkliche erlebt sich in der Tat als das Selbe, indem es seine Gegenstände und sich selbst als seine Vorstellungen erfährt. Allein die Ohnmacht des Da­ seins bezeugt ihm den Schein, und nur die Reflexion vermag den Schein zu durchschauen. Die Reflexion und das Dasein kommen daran überein: Die Not-Wende des Daseins unterbricht am



§ 33  Die Reflexion im Lichte des Zweck-Selben233

Gemüt das Bewusstsein, und die Reflexion nimmt das An sich des Gegen­ stands wahr, weil das Logische nicht Ur-Teil und Gleichnis im Bewusstsein wird. Jetzt erst legt sich der letzte Grund des An sich frei. Weil das Logische als das Selbe im Sein wie im Er­kennen das Selbe ist, erfährt die Reflexion das Sein an sich, und das „An sich“ besagt, dass es auf Sein wie auf Reflexion bezogen werden kann. „Sein an sich“ bedeutet nichts anderes als Sein auf seinen logischen Grund gesetzt. Damit wird aber die Reflexion nicht nur zum Nachvollzug einer Freisetzung des Seienden. So wäre der Brückenschlag auch ein geurteiltes Gleichnis. Die Reflexion setzt das Seiende frei, und dieses Verhältnis steht im Bewusstsein an als Sein an sich oder Sein an der Reflexion; jedoch nur als logischer Grund, und jede Er­ fahrung ist schon im Gleichnis zerfallen. Wenn wir sagen, das Logische ist weder Ur-Teil noch Gleich­nis, so sagen wir dasselbe wie: Das Logische ist keine Vor­stellung; es steht nur an als Grund. So erklärt sich denn die Reflexion als ein Zurückversetzen, besser als Zurückversetzt­sein in diesen Grund. Das Verständnis von „Sein an sich“ er­hellt sich nocheinmal, indem sich die Freisetzung von Sein an sich aus der Rückversetzung der Reflexion beglaubigt.

3. Erkennen und der Zweck Die Frage, die uns immer noch etwas beschäftigt, lautet jetzt: Warum holt das Wirkliche den Zweck nicht im Erkennen völlig ein, wenn Erkennen das Selbe ist? Hat denn unsere Fra­ge mit dem Aufzeigen des tiefen Verständnisses von Sein an sich nicht einen neuen Grund für Erkennen erhalten? Wir wol­ len an dieser Stelle hier einmal bemerken, dass Erkennen für uns in seiner Zwielichtigkeit noch manche Dunkelheit vor­ weist. Denn Erkennen als das Selbe müsste doch dann wenigstens als einziges Ur-Teil im Wirklichen in sich gleichmäßig sein. Tatsächlich bemerken wir aber, dass gerade Erkennen es ist, welches nach den verschiedenartigsten Zügen in sich geglie­dert ist. Mit dieser Dunkelzone müssen wir aber weitergehen, indem wir unsere Frage an der Reflexion ausrichten. Wenn an diesem Punkt innigster Berührung Zurückversetzung sich als Freisetzung abspielt, so müsste doch das Bewusstsein alle seine Macht zusammennehmen, um sich an dieser Stelle einzuholen. Es wird aber gerade an dieser Stelle der grundsätzliche Un­terschied zwischen dem Wirklichen und dem Zweck-Selben doch offenbar. Für das Wirkliche liefe solches Streben auf ein bloßes Spiel mit rein formaler Logik hinaus. Da hier das Ende sofort ansteht, ließe sich die Eingründung als Metaphysik oder Ontologie hinzunehmen. Für das Selbe aber bedeutete Lo­ gik Selbstvollzug in seiner ganzen Fülle: Erkennen als Sein und Handeln, das für das Wirkliche einfache Unvorstellbare.

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3. Teil, 3. Kap.: Die Vermittlung des Zweckes

Was jetzt zum Vorschein kommt, enthüllt sich als Vermessen­heit an der Reflexion. Indem diese sich als zurückversetzt und freigesetzt wahrnimmt, missbraucht das Bewusstsein sie als Selbstsetzung, die aber am Zweck in Zwietracht mit sich sel­ber fällt. Die Zweideutigkeit des Zweckes kennen wir bereits: Es ist der innerwirkliche Zweck in seiner Vielfalt, in Über- und Unterordnungen, welcher als Bedürfnis das Bewusstsein am Wirklichen wie im Kreise herum treibt. Alle diese zweckmäßi­gen Bedürfnisse liegen auf dem Umkreis und deuten auf das allgemeine Gleichnis des Wirklichen. Im Zusammenschluss kreist es das Zweck-Selbe ein. Nur so nähert sich das Wirkliche, weil es so nach Plan lebt. Dann liegt der Zweck aber allein in der Anwendung der Reflexion: Über das Gleichnis, welches also die Tat des Daseins einbezieht, kommt Bewusstsein zum Zweck-Selben. Die andere Richtung wird daran zum falschen Ge­genpol, wenn sie als Zweck gesetzt wird. Denn so erreicht das Bewusstsein weder das Wirkliche noch das Selbe. Das Ergebnis lautet also: Im Erkennen erscheint zwar der Zweck selber, aber Erkennen kann den Zweck für sich nicht be­halten. Wie der Zweck im Erkennen Mittel zu sich selber wird, so wird der Zweck im Bewusstsein Mittel zur Entwicklung. Zwi­schen der Selbstbeschauung eines philosophischen Einsehens und der Not-Wendigkeit des Daseins besteht eine Spannung, die Vermittlung kann nur im Wesen geschehen. Das Gleichnis wird sich daher nur in einer gleichmäßigen Inanspruchnahme der Teile einstellen. Eine hartnäckige Zweckverschwiegenheit beseelt die Wissen­schaften der Neuzeit, mit dem Anspruch auf Erfassung des Wirklichen wird sie zu einem Widerspruch in sich. In der Tat erweist sich der Zweck als der einzige Schlüssel, der zum Verständnis führt, und bezeichnenderweise kommt Erkennen für sich allein im Bewusstsein nicht auf den Zweck. Es ist eine Triebangleichung, die Bewusstsein auf den Zweck aufmerksam macht. Zweckverständnis erfordert mehr als bloße Feststellung eines Wirkzusammenhangs. Während Ursache und Wirkung im Aus­maß des Erkennens ablaufen, ohne dass hier nach einem Zweck zu fragen wäre, fordert Zweckdenken die Ganzbeteiligung des Be­ wusstseins; die Unterscheidung reicht nicht hin, die Entschei­dung muss hinzukommen. Darin liegen der Ursprung und das End­gültige. Reines Erkennen kann so nur etwas Vorläufiges oder eine Zwischenstelle sein, und das Vorläufige behauptet sich eben darin, dass der Zweck vorläufig zurückgestellt wird. Auch das hat seinen Zweck: Die sachliche Feststellung soll einmal unbeeinflußt vom herandrängenden Zweckdenken gesehen werden. Gewiss droht vom Zweckdenken eine Gefahr. Das ganze beteiligte Bewusstsein gibt seine Vorentscheidung als Wissensunterschei­dung aus. Allein diese Gefahr ist immer gegeben, auch da, wo der Zweck in einem Wissensbetrieb verdrängt wird. Indem der Zweck sich als Leitfaden zum Verstehen



§ 33  Die Reflexion im Lichte des Zweck-Selben235

oder zum Vertreten des Wirklichen ausgezeichnet hat, sind wir auf Gedeih und Verderb auf ihn angewiesen. Mag der glücklich sein, der die Ursachen der Dinge erkennt; verständig ist nur, wer die Dinge auf den Zweck hin betrachtet. Der Zweck enthüllt sich als die tiefere Ursache; wo sich der Zweck verschließt, mag das gelehrte Wis­sen überquellen, es stellt sich nur als Zweckentfremdung zwi­ schen das Bewusstsein und seine Welt. Dann aber ist Zweckent­fremdung wahre Weltfremdheit. Und sie ereignet sich da, wo aus Zweckentfremdung eine neue Zweckmäßigkeit als Technik be­ herrschend wird.

4. Teil

Welt und Bewusstsein. Entwurf zu einer geistigen Wirklichkeit

1. Kapitel

Die Anlagen zum Geistigen § 34  Erkennen im Zusammenhang des Wirklichen 1. Das Logische als Ausschluss einer Möglichkeit an sich Das Bewusstsein hat sich in einem Umriss herausgeklärt. Welt ist ein Gegenpol, den es weder in einer Gegenüber- noch in einer Darüberstellung allein bewältigen kann. Die Welt ist ihm tatsächlich durch seine innere Verfassung gegeben, aber so, dass sich im Verhältnis des Erkennens zum ganzen Bewusst­sein ein Grundverhältnis überhaupt abzeichnet. Alle weiteren Überlegungen bleiben indes ein müßiges Gerede über Welt und Bewusstsein, wenn sich das Bewusstsein der Aufklärung des Zwec­kes verweigert. Was sich jetzt unmissverständlich ausspricht, ist doch Folgendes: Es gibt keine unverbindliche Weltschau. Erkennen erfährt sich not-wendig als Anwendung im Bewusstsein, und das reine Schauen fliegt nicht schwerelos über dem Boden. Erkennen ist Anerkennen einer zweckmäßigen Gebundenheit. Der Lösung vom Boden antwortet Bewusstsein als ein innerer Spiel­ raum, der aber als Innen die Welt als das Außen und als ande­ren Pol erlebt. Alles Leben ist Entscheidung, und alles Ein­sehen folgt der Anerkennung. Eine kurze Besinnung tut Not. Wir wollen die Schwierigkeiten nicht übersehen, die sich uns an den metaphysischen Urteilen einstellen, da doch die logischen schon umstritten sind in der Philosophie. Als Leitfaden steht ein Ergebnis: Erkennen bleibt immer Gleichnis, Dasein ist Verselbigung. Dasein ist der Stein des Anstoßens, woran das Gleichnis seine Berichti­gung erfährt. Versuchen wir jetzt nach dem Plan des Wirklichen eine Be­griffsgleichung des Bewusstseins aufzustellen. Erkennen er­scheint uns, wie es sich uns erklärt, wenig geeignet, den Nerv des eigentlichen, sich entscheidenden Ich abzugeben. Mag dieses Erkennen in seiner Gliederung auch noch weitgehend ungeklärt und geradezu widerspruchsvoll zu sich in das Schema gezwängt worden sein. Auch das Wesen sträubt sich gegen die Vereinzelung. Bleibt also Dasein als jenes Principium, woraus wir die Individuatio und die Identitas entnehmen dürfen. Da­sein bedeutet Weg nach innen und als solcher Ausdruck des We­sens. Am Erkennen, das Selbe wird Ur-Teil am Wirk-

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4. Teil, 1. Kap.: Die Anlagen zum Geistigen

lichen, bricht Dasein zum Gemüt auf und erlebt sich als Ich. Also kann auch nur Dasein der Wurzelgrund des Willens sein, der freilich im Wesen seine gegenständliche Form gewinnt. Die ei­ gentliche Kraft des Willens bleibt jedoch dem Wesen fremd und das Ureigentliche des Daseins. In der Zone des Daseins bleibt immer etwas zurück, was nicht Form ist und was als solches nicht vom Wesen abstammen kann. Dieses Etwas darf deshalb auch nicht als Übersetzung aufgefasst werden. Für den Lebenswillen ergibt sich so die Bestimmung als Kraft zum Zweck, und das Gemüt insgesamt erlebt den Zweck. Es liegt in der Verselbigung des Daseins, dass Gemüt und Willen bei all den vielen Zwecken, die anstehen, immer in einem Grundpol versammelt sind. In der Grundstimmung fassen sich alle Zwecke als Gleichnisse des einen großen Zweckes der Wirklichkeit zu­sammen. All die vielen Zwecke werden im Erkennen nur vermit­telt; alle Bedürfnisse, und die Frage ist hier ein besonde­res, entspringen dem Gemüt, werden sich inne am Erkennen, stillen sich im Dasein oder spannen dieses Dasein. Inhaltlose Grundstimmung dabei ist die Zeit des Daseins, aber sie hat eine unbeugsame Richtung, woran alles Fragen nach rückwärts sinn- und zwecklos wird. Das Ich erlebt sie als das große Flussbett des Zweckes, und die Frage, ob dieses Ich nun zufäl­lig da ist oder ob es dasein soll, erweist sich als rückwärts und gegen die Zeit gerichtet. Solches Fragen kommt gar nicht zum Zuge, es wird ausgerichtet zum Wesen hin, von vorne kommt alle Erkenntnis. Dasein strömt immer zum Wesen, auch wenn es stirbt; auch Verwesung geschieht nur in Richtung Zeit der Entwicklung. Es gibt keine Zeit des Aufblühens und eine Zeit des Absterbens, es gibt nur die allgemeine Richtung, denn der Zweck ändert sich nicht, und die Zeit ergeht wie als allge­meines Aufgebot des Zweckes. Alle Daseienden werden in der Zeit mitgetrieben. Selbst die Frage, ob dieser Strom einer ewigen Zeit gleichkommt, bleibt rückwärts gerichtet. Alles Fragen kommt nur auf in der Ausrichtung nach vorne zum Wesen und zum Erkennen hin, und nur so findet es einen Sinn. Wir erfahren also das Dasein im Zeichen der Zeit und als tie­risches Treiben, das getriebene Bewusstsein hat keine Möglich­keit, seinen Kopf über das Getriebe zu erheben. Es weiß nicht um den geheimen Leuchtturm des Wesens der mitten im Strome wandellos steht. Es gleitet in der Mächtigkeit je nach dem Grad, in dem es die Vollgestalt des Wesens ausdrückt. Das We­sensgesetz tritt am Dasein in Kraft, ohne Daseiende ist es nichts. Wirklichkeit als Zusammenschluss soll den Zweck in sich widerleuchten lassen. Was den Zweck vertritt, kann nicht zeitlich sein, so liegt denn das allgemeine Erkennen in einem Widerspruch in sich selber, wenn es nur im Getriebe des Da­seins sein Wesen einholt. Die Reflexion waltet zwar in diesem Bewusstsein, aber die Ur-Teilung nach Wesen und Dasein kann diesem Bewusstsein aus noch unbekannten Gründen nicht mitge­teilt werden. Tierisches



§ 34  Erkennen im Zusammenhang des Wirklichen241

Bewusstsein vermag den Unterschied zwischen Wesen und Dasein nicht zu fassen, und umgekehrt lässt sich jetzt sagen, dass die Reflexion sich an dieser Unterschei­dung ins Morgenlicht des Bewusstseins begibt. Der Zweck ist das Allgemeine und er teilt sich im Ur-Teil des Wesens mit. Aber im tierischen Erkennen bleibt das Wesen völlig verwach­sen mit dem Dasein, so dass sich der Zweck nur in den Bahnen der Triebe, also in den Kreisläufen der Entwicklung, durch­setzt. Was im Kreislauf steht, verfolgt den Zweck, aber es versteht ihn nicht. Das Tier versteht ihn so wenig wie die Pflanze. Auch hier erscheint ein früher Lichtstrahl der Reflexion. Die Morgendämmerung des Zweckes kommt als Gespanntsein des Gemü­tes auf Zukunft hervor. Die Unterscheidung nach Wesen und Da­sein fällt also in die Zukunftserwartung hinein, worin sich der Abstand und die Spannung des Daseins zum Wesen hin im Ge­müt verzeitlichen. So erhält indes die Zeit ihren zeitlosen Maßstab am Wesen und im Erkennen, Bewusstsein um Zeitliches setzt Anwesenheit von Zeitenthobenem voraus. Im Wesen ist die erste, in sich geschlossene Vertretung des Zweckes gegeben, jedoch als Ur-Teil. Die Ur-Teile unter sich ergänzen sich planmäßig zum Zweck. Mitwirklichkeit öffnet sich im Erkennen und zeigt sich als das zweckmäßigere Allge­meine. Die neue Form des Allgemeinen kommt dem Zwecke nur nach, indem sie formlos ist, um alle Formen sammeln zu kön­ nen. Jede weitere Form würde den Zusammenschluss, der mit We­sen und Dasein gegeben ist, nur wieder sperren. Das Ziel der Annäherung wird erreicht, indem der Zweck als Mittel zu sich selber im Wirklichen aufkommt. An dieser Stelle darf freilich nicht verschwiegen werden, dass sich die Kenn- und Wahrzeichen am Wirklichen nicht mehr so eindrucksvoll wie bisher ins Bewusstsein prägen. In Bezug der Einordnung des Erkennens im Plan des Wirklichen erschließt sich das Selbe als Grund der Ermöglichung. In dieser Hinsicht erscheint auch Erkennen wie die anderen Ur-Teile. In der Reflexion offenbart sich jedoch eine jeweils allgemeinere Ent­ schränkung von den Ur-Teilen des Wirklichen, und sie vollen­det sich, indem im Logischen das als Erkennen gebrochene Selbe aufgefasst wird. Die Überwirklichkeit des Selben bricht als Unwirklichkeit im Wirklichen ein. Eine andere Vermitt­lung, eine Zwischenzone, wäre doch dem Gleichnis einerseits und dem Selben andrerseits nur im Wege. Die Fuge, welche das Wirkliche als Grundzug trägt, schließt sich im Erkennen; sie schließt sich nicht im Wirklichsein, sondern im Überwirkli­chen, welches sich so nicht mitteilen lässt. Was hier zur Wie­dergabe kommt, ist das Innesein des Wirklichen im Selben, aber dies alles kann sich nur als Umkehrung des Verhältnisses dort ereignen. Indem dieses Erkennen im Wirklichen und im Selben ein und dasselbe bedeutet, bleibt auch jeder Restbe­ stand an Gefugtem ausgeschieden, und

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4. Teil, 1. Kap.: Die Anlagen zum Geistigen

darin bezeugt sich nur der Unterschied zwischen allem, was als Gemüt dem wirklichen Dasein angehört. Das Ledigsein von Wesen und Dasein macht es möglich, dass diese Zone zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit unterschei­det. Was wir von Erkennen letztlich aussagen können, lässt sich in dieser Bestimmung zusammenfassen: Es hat an sich nicht den Unterschied von Möglichkeit und Wirklichkeit, es steht als das zeitlos Vollendete und als das unvorstellbar Ungewordene da. Das Wirkliche vermag die Überwirklichkeit, die in seine Fuge eingelegt ist, nicht in Anspruch zu nehmen. Also hat es an ihm auch nicht die Möglichkeit, denn Möglich­keit ist das Sein des Daseins. Wenn wir sagen, dass etwas lo­gisch nicht möglich sei, so sagen wir dasselbe wie, dass es logisch nicht wirklich sein könne. Das Logische als letzter Bestimmungsgrund von Wirklichkeit und Möglichkeit erscheint in der Reflexion nur deshalb so, weil jeder Unterschied an ihm selber zurückgewiesen ist. Auch darin enthüllt es sich als das Selbe, dass es Wirklichkeit und Möglichkeit als dasselbe ist. Darum kann das Logische in der Reflexion auch niemals zum Gleichnis werden wie die Begriffe des Erkennens sonst. Es ist das Selbe in Sein und Erkennen, es ist ein und dasselbe Maß, worin es in Welt und Bewusstsein ansteht. Die Fähigkeit der Unterscheidung nach Möglichkeit und Wirk­lichkeit obliegt daher dem Erkennen, weil es in sich diese Fuge nicht kennt. Was immer auch Bewusstsein annimmt aus sol­cher Verfassung, entspringt dem Dasein und dem Wesen. Man sieht, dass hier neue Fragen an Wirklichkeit und Möglichkeit aufbrechen, nämlich solche nach den verschiedenen Ursprüngen. Welches sind die Möglichkeiten des Daseins, und hat das Wesen auch Möglichkeiten? Wenn aber die Wesenszone mit dem Dasein niemals in der Wirklichkeit verwächst, sondern die Fuge immer bleibt, so haben wir die Möglichkeit hier nicht als etwas zu suchen, das sich lediglich in der Verwachsenheit hält. Allein diesen Fragen wollen wir, um nicht abgelenkt zu werden, hier gar nicht nachgehen. Wenn dieses Erkennen der Berührpunkt von Wirklichem und Selbem bleibt, so lässt es sich noch am ehesten als Umkehrung des Verhältnisses oder der Verhältnisse berüh­ren. Nur so hält sich der Berührpunkt als das Selbe durch, indem die Überwirklichkeit auf der einen Seite zur Ohnmacht auf der anderen Seite sich umkehrt. Damit bleibt aber dennoch die Contradictio ausgeschlossen, weil die Umkehrung zum Zwec­ke der Angleichung eingerichtet ist. Das Überwirkliche hält sich im Logischen durch, und darum teilt sich dieses als reine Zwecklosigkeit mit. Darum wird aber auch die Reflexion zur selben Wand, die nach beiden Ansichten zurückstrahlt. Das Wirkliche kann das Zweckmäßige nur aus seinem Eigentümlichen entnehmen, und nun wird jede Übertragung zu einem ärmlichen Gleichnis des Elends und der düstergebrechlichen Schatten. Das Logische vermittelt in der Tat nichts und überlässt das Dasein in seiner ganzen Ausgesetztheit; es ist



§ 34  Erkennen im Zusammenhang des Wirklichen243

hinausgeworfen in die Einsamkeit, und das Logische wird ihm nur zur Sonne, in die es nicht blicken kann, weil es sonst vollends erblin­det. Das Logische, welches also niemals Gleichnis wird, welches den Unterschied von Sein und Erkennen an sich ausgeschieden hat, ist nicht Sein des Wirklichen und ist nicht Erkennen des Wirklichen, und es ist dennoch Reflexion im Wirklichen.

2. Die Reflexion und die Einheit des Erkennens; das Ungenügen in der Ansicht bisher Machen wir uns also mit dem Gedanken vertraut, dass das Logi­ sche Verselbigung mit dem Selben in der Reflexion ist. So steht denn diese Reflexion ungreifbar schillernd zwischen dem Selben und dem Wirklichen, doch wenn Erkennen das Selbe ist, so muss es in der Reflexion zutreffen. Ein Richtiges hat der Transzendentalismus in seiner völlig „verkanteten“ Sicht freilich bemerkt. Das Logische ist das Gesetz der Reflexion, ihr Selbstvollzug schlichthin, und das Logische gehört so nicht zum Sein, wie es der Reflexion angehört. Als Selbstvoll­zug erklärt es sich auch als Selbstvorstellung im letzten An­gelpunkt. Ein Bewusstsein, wie es der Transzendentalismus ha­ben möchte, wird daraus nicht ableitbar. Indem die Reflexion das Logische als ihr ureigenes Gesetz durchschaut, das sie dem Seienden gar nicht entnehmen kann, stellt sie dieses am Sein durchaus nicht in Abrede. Aber in ihr ist es von Hause aus, im Sein ist es als Zweck, den das Sein so nicht halten kann. Das Logische, welches niemals Gleichnis wird, welches an sich den Unterschied von Sein und Erkennen ausgeschieden hat, kann nicht Wirkliches sein. Die Übereinkunft zwischen Sein und Erkennen erklärt sich als eine vorausgesetzte, weil Erkennen am Logischen in der Hinsicht zum Wirklichen dessen Bezug vom Selben nun auch noch vertreten kann. Nicht weil es in dieser Rückversetzung den Zweck verstehen könnte, dies ge­ schieht ja nur am Gleichnis des Wirklichen, wo es eine Rück­erschließung kraft seiner Rückversetzung vornimmt. Darum kann aber auch das Wirkliche nur ins Gesetz des Logischen fallen, und es hat keinen vernünftigen und keinen zweckmäßigen Grund, von einem Sein an sich zu reden, dessen innere Verfassung (Existentia oder Essentia) dem Bewusstsein völlig unbekannt bleiben müsste. Die Reflexion erfasst aus sich das Logische, nicht aber den Zweck als das Selbe; am Wirklichen dagegen ge­langt die Reflexion zum Zweck nicht jedoch zum Logischen. So gewahrt sich das Bewusstsein in einer ohnmächtigen Erhabenheit rückversetzt in das Selbe, in einem machtvollen Dasein aber eingepflanzt in das Zusammengesetzte. Es ist hinausgesetzt in eine Welt, und jeder Versuch, seine logische Rückversetzung daseinsmäßig nachzuvollziehen, käme einem Rückwärtsgehen in

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4. Teil, 1. Kap.: Die Anlagen zum Geistigen

die Zeit gleich. Seine Bestimmung ist es, das Ganze als Ergänzung zu verwalten. Dies bedeutet aber, das Gleichnis im Hinblick auf den Zweck anzunehmen, und je­de zweckfreie Schau wird zur sinnlosen Flucht aus der Welt. In der Blickrichtung zu den Gründen des Gleichnis-Wirklichen wird das Logische zum Vergleichsgrund, welches als das Selbe nun zwecklos erscheint. In der Anwendung wird das erkennende Bewusstsein zum Vergleich, aber nicht zum Vergleichsgrund. Da­ mit wären Bewusstsein und Wirklichkeit zunächst einmal in eine Planskizze gebracht, die in ihrer Allgemeinheit von allem Be­ sonderen absieht und so vielleicht eine gewisse Annehmbarkeit finden könnte. Allein das Übersichtliche, welches von ihr ausgeht, verdankt sie auch dem Umstand, dass wir eine Schwie­rigkeit bisher mehrmals unterdrückt haben, und diese bricht nun an die Oberfläche unserer Planskizze. Es ist doch Erken­nen selber, welches uns jetzt auseinanderbricht und die Ein­heit des Planes zu vereiteln droht. Unsere Untersuchung begann doch damit, dass wir Erkennen als eine klar gegliederte Anlage im Bewusstsein erschlossen haben, und was am Weltkörper als Zusammensetzung erschienen ist, dies hat sich als eine Zusammenstückung von Sinnenwelten er­geben. Auch die Einheit des Weltkörpers aus fünf Ansichtstei­len hat noch nicht standgehalten, sie hat sich in eine grund­ legendere von Wesen und Dasein aufgelöst. Drehen wir nun das Verhältnis um, so drängt sich natürlich der Gedanke auf, dass diese Gliederung im Erkennen eben eine zweckmäßige Einrich­tung im Wirklichen darstellt. Denn dieses Erkennen kommt auf, um das Wirkliche als Gleichnis zum Selben schließen zu las­sen; eine Lücke klaffte noch im Wirklichen. Erkennen soll je­doch das Selbe selber sein, es wird zum Ur-Teil im Wirklichen und zum Urteil im Bewusstsein. Damit wäre nun eine weitere Sicht eingeräumt: Wenn das Selbe schon Ur-Teil wird im Wirk­lichen, so ur-teilt es sich eben im Ur-Teil Erkennen noch­ mals, um die Vermittlung zu sich selber desto besser auszuführen. Die Annäherung an den Zweck zieht die Angleichung an das Wirkliche nach sich. Die Gründe der Ur-Teilung enthüllen nun zwei Seiten; nämlich Eigengründe des Wirklichen, die ihm aus sich zukommen; dann aber auch Vergleichsgründe am Wirkli­chen, die ihm im Hinblick auf das Selbe zukommen. Wenn Wirk­lichkeit ein Dasein außerhalb des Selben bedeutet, so wird dieses Dasein schlichthin gefugt und geteilt, es fällt also begrifflich mit dem Nicht-Selben als Dasein zusammen. Auf dieser Grundbedingung ließe sich aber nun durchaus eine Ur-Teilung im Wirklichen ableiten, die irgendwie von einer inne­ren, unergründlichen Verfassung des Selben geprägt ist. Dass Wirkliches geteilt ist, liegt in seinem Vorhandensein; dass es gerade so und so geteilt ist, könnte aber auch aus Ver­gleichs­ gründen am Selben bedingt sein. Auch diese Überlegungen helfen uns aber hier nicht weiter, weil uns als Vergleichsgrund nur das Wirkliche zur Verfügung steht. Wenn dieses Erken-



§ 34  Erkennen im Zusammenhang des Wirklichen245

nen der Einbruch des Selben ins Wirk­ liche sein soll, wie ist dann eine Zersplitterung in fünf Zu­träger Sinne und eine völlige Abschirmung davon als Reflexion zu erklären? Vor allem aber verlangt diese Frage eine Ant­ wort: Erscheint das Selbe nur im Erkennen als Reflexion oder auch in den übrigen Anlagen? An Letzterem hat sich indes klar bezeugt, dass sie nur Gleichnisse zu Vergleichsgründen in die Vorstellung bringen können, womit jeder Zugang zum Selben doch aussichtslos bleibt. Eine weitere Beobachtung macht die Schwierigkeiten noch grö­ ßer. Es legt sich nahe, nun die Sinne als die dem Dasein ge­widmete Anlage im Erkennen anzusehen, womit dann die Reflexion als Erfassung des Wesens anzusetzen wäre. Gegen eine so verstandene Aufteilung nach Daseins- und Wesenserkenntnis hat sich jedoch früher schon einiges quer gestellt. Denn die Da­seinserkenntnis haben wir dem Selbst-Innewerden vorbehalten, welches sich doch gerade als eine völlig eigenartige, in sich ungegliederte, innere Wahrnehmung auszeichnet. Im Übrigen er­halten wir aber auch hier noch eine ungeklärte Anlage, die uns die Einheit des Erkennens zu sprengen droht. Wir können also die Sinneserkenntnis nicht von ihrem Vorstellungsund Empfängnisgrund her, noch weniger aber von ihrer Gegenständ­lichkeit her mit der anderen Daseinserkenntnis gleichsetzen. Außerdem wissen wir, dass Dasein sich nicht einfach in stoff­lichem Dasein erschöpft. Lebendiges ist als Dasein immer mehr als bloße Materie; dies gilt auch dann noch, wenn wir Dasein als Zone ohne das Wesen betrachten. Denn dieses tritt auch im Individuum nicht ins Dasein, es bedingt nur Dasein als Ge­stalt, nicht jedoch als Wille. Darum geht eine solche Sicht auch an der Reflexion als Wesenserkenntnis nicht auf. Denn al­ les Gestalthafte wird am Dasein wahrgenommen, allein das We­sensgesetz leistet die Reflexion. Wir fragen uns von daher, warum dieses Erkennen in sich nicht völlig in eines gegeben und insgesamt ungegliedert wie die Daseinserkenntnis sein könnte. Da es sich offensichtlich nicht so verhält, müsste doch wohl angenommen werden, dass nur die Reflexion jene Auszeichnung erhält, etwas vom Selben ins Wirkliche zu setzen. Es wäre also ein schroffer Trennungs­ strich zu ziehen zwischen der Reflexion und der übrigen, wie immer auch gegliederten Anlage Erkennen. Dem steht doch nun gar nichts im Wege, wenn wir bedenken, dass eine Linse, sogar die Oberfläche des Wassers unsere Umgebung widerspiegelt. Gewiss, die schroffe Trennung zwischen den Sinnen und der Reflexion steht als ein Factum, worauf unsere unmittelbare Einsicht gegründet ist. Allein die Abbildung einer Linse hat mit be­wusstem Sehen kaum etwas zu tun. Erkennen bleibt Bewusstsein und erklärt sich weder als Form noch als Materie. An Hand solcher Gegebenheiten und Zeugnisse entzieht sich uns aber auch eine nähere Abgrenzung der Zone in sich selber. Es ver­hält sich so, als ob alles, was bisher sich im begrifflichen Halbdunkel halten dürfte, nun hier zusammenkäme, um seine Einlösung zu verlangen.

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4. Teil, 1. Kap.: Die Anlagen zum Geistigen

Unser Schema aber, das uns bis hier­her gebracht hat, gibt keine weitere Auskunft mehr darüber, wie denn die Einheit der Erkennenszone zu verstehen sei. Auch wenn die Sinne von ganz anderer Art sich zeigen als die Reflexion, auch wenn die Daseinserkenntnis darin weder mit der Reflexion noch mit den Sinnen in eines zu fassen ist, so dürf­te doch die innere Einheit der Zone an den Unterschieden nicht auseinanderbrechen. Gestehen wir der Zone aber eine solche Einheit zu, so reichen die Folgen hin, um auch das tierische Bewusstsein mit einzubeziehen. Die Verhaltenswei­sen hochentwickelter Säugetiere lassen doch klar auf eine Gliederung des Bewusstseins nach Gemüt und Erkennen, nach fünf Sinnen und einer Erinnerung schließen. Angesichts der Tatsachen verschließt sich nur das Geheimnis dessen, was wir Denken nennen. Wo soll der Einschnitt denn liegen, der die Wahrnehmung und ihr antwortendes, durchaus verständiges Verhalten von der eigentlichen Reflexion absetzt? Räumen wir dem Tier Einsicht ein; ein Schimpanse mag zwei Ki­sten aufeinander stellen, um eine Banane zu erreichen. Dass ein Schimpanse über sein eigenes Bewusstsein nachdenken wird, dass er die Gliederung seiner Sinne zum Gegenstand seines Be­wusstseins machen kann, dies halten wir für völlig abwegig. Den Anhaltspunkt für eine solche Reflexion, die den Menschen vom Tier unterschiedet, suchen wir jedoch vergebens. Soll er bei gleitender Zunahme an der Gehirnmasse irgendwo plötzlich gegeben sein? Das Gehirn hat mit der Reflexion soviel zu tun wie die Augenlinse mit dem bewussten Sehen. Was die Reflexion letztlich auszeichnet, lässt sich nur darin angeben, dass sie die gesamte Anlage Wirklichkeit in ihrer Gliederung und in ihrer Zweckmäßigkeit zum Gegenstand setzen kann, ohne dass ihr eine Art Monopol zukäme, wie es wohl Descartes am ausgepräg­testen gefordert hat. In dieser ausgezeichneten Stellung ließe sich aber dennoch die gesamte Anlage Erkennen an ihr aufhängen, und damit wäre diese Zone als Einbruch des Selben am Wirklichen begründet. Darin ist doch Erkennen über das Wirkliche hinaus, dass es dieses wieder einholt in die Einheit des Selben. Darin behält es sich aber nur als das Selbe am Wirklichen, dass ihm jede Seinsart abgeht. Allein auch diese passende Begründung wird uns sofort wieder durchkreuzt. Wenn die Zone Erkennen aus der Reflexion allein begründet wird, dann bricht uns gerade deshalb ihre Einheit in eine Reflexion einerseits und in ein tierisches Erkennen andrerseits ausein­ander. Fassen wir jedoch die Zone einfach als Einheit, so entgleitet uns das Podest, worauf die Reflexion ihre Erhaben­heit zu behaupten weiß. Wir versprechen uns gar nichts davon, dass wir nocheinmal an­setzen, um Erkennen in seinen verschiedenen Seinsweisen noch genauer zu beschreiben. Dies würde die Enge und das Aus­sichtslose, wohin wir gelangt sind, wohl kaum ändern. Was uns fehlt, sind neue Ansichten, neue Züge am Wirklichen, die wir bis jetzt nicht beachtet haben, einfach deshalb nicht, weil es uns ratsam und erlaubt vorkam, so vorzugehen.



§ 35  Die Möglichkeiten des Daseins und die Denkgewohnheiten247

§ 35  Die Möglichkeiten des Daseins und die Denkgewohnheiten des „Wesentlichen“ als des „Wichtigen“ Bekanntlich bilden die Vernunft und die Freiheit des Willens das, was menschliches Bewusstsein auszeichnet und Kultur her­ vorbringen kann. Maßgeblich für den überlieferten Bewusst­seinsbegriff der Metaphysik wird dann auch, dass die Vernunft als ratio practica den gemüthaften Anteil des Gewissens für sich in Anspruch nimmt. Die verschiedenen Vorschläge inner­halb der reichen und gedankenschweren Überlieferung liegen jedoch nicht so eng beieinander, dass sie auf dieser gemeinsa­men Grundlage nicht teilweise das Apriori einer ratio practi­ ca in Abrede stellen würden. Was jedoch allgemein verbindet, bleibt ein gewisses Monopol der Vernunft oder des Denkens, welches in seiner Ausformung genügt, um nun irgendwie zur nä­heren Ursache für die Willensfreiheit zu werden.1 Selbst wenn Schopenhauers Vorwurf in den meisten Fällen übertrieben sein sollte, so bleibt Kants „Idee der Freiheit“ sicherlich als ein Zeugnis zurück, woran dieser Vorwurf seinen Halt findet.2 Im Zuge einer solchen Auffassung von Seele, Vernunft und Freiheit muss das Eigentümliche einer Freiheit des Willens nicht ausgehöhlt werden. Es dürfte aber gesichert sein, dass dann die Freiheit des Entscheidens nicht nur 1  Es liegt nun gerade an dieser Auffassung, dass es nie ganz geklärt ist, wie die Vernunft zur Voraussetzung der Willensfreiheit wird, sei es nun in psychologischer, ontologischer oder gnoseologischer Hin­ sicht. Verständlich ist es aber, wenn man hinzunimmt, dass ja die Ver­nunft ein Wesensmerkmal sein soll, dieses wiederum aus der anima sub­stantialis erstellt werden soll. Aus einem solchen Ansatz, so großar­tig und kraftvoll er auch die Jahrtausende überdauert hat, kann es nie zu einer Entflechtung der Zonen kommen. Was so für Platons Philo­sophie gerade zum Merkmal der Güte geworden ist, wird bei der Über­nahme in die Metaphysik zwar zum ehernen Grund und machtvollen Zusam­ menhalt, aber mit dieser Kraft stellt es sich auch gegen eine Entfal­tung. 2  Hier nur Schopenhauers Vor­ wurf: „Die Behauptung einer empirischen Freiheit des Willens, …, hängt auf das Genaueste damit zusammen, dass man das Wesen des Men­schen in eine Seele setzte, die ursprünglich ein erkennendes, ja ei­gentlich ein abstrakt denkendes Wesen wäre und erst in Folge hiervon auch ein wollendes, dass man also den Willen sekundärer Natur machte, statt dass, in Wahrheit, die Erkenntniß dies ist. Der Wille wurde so­gar als ein Denkakt betrachtet und mit dem Urtheil idenficirt, na­mentlich bei Cartesius und Spinoza.“ Welt als Wille u. Vorst. 1. § 55. Kants „Idee der Freiheit“ ist ein Apriori der Vernunft, und diese Vernunft nimmt die sittliche Entscheidung so sehr für sich in An­spruch, dass alles Freie vernünftig und alles Unsittliche unfreie, leibhaftige Sinnlichkeit ist. Der Nerv der eigentlichen Willensfrei­heit ist der klaren Ordnung der Vernunft zum Opfer gebracht. Zu Kants Freiheitsbegriff vgl. v. a. „Grundlgg. z. Metaph. d. Sitten. Meiner-Ausg. 3. Aufl. 1952. S. 79–82.

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4. Teil, 1. Kap.: Die Anlagen zum Geistigen

aus der vernünf­tigen Einsicht ihren sittlichen Anstoß erhält, sondern sich aus einem vernünftigen Wesensgrund auch als Kraft zur Ent­scheidung herleiten muss. Es bedeutet also, dass Freiheit des Willens sich aus einer Ontologie des Wesens zu erklären hat, was dann wiederum das vernünftige Wesensmerkmal voraussetzt. Die Vernunft ist Causalitas der Freiheit. Kant hat es beson­ders klar gesagt.3 Indem wir uns von diesem einheitlichen An­ satz freigemacht haben, müssen wir auch die Möglichkeiten des anderen Bewusstseinsbegriffs voll ausleuchten, gegebenenfalls anwenden. Es ist klar, dass dort alles, was irgendwie maßgeb­lich wird und die Sonderstellung des Menschen herausbildet, im Wesen angelegt wird. Der Gedanke, dass die Insignia des Menschlichen sogar im Dasein gründen könnten, muss der Meta­ physik des Aristoteles und ihrer unermeßlichen Ausstrahlung völlig fremd bleiben. Es kann durchaus in der beherrschenden Strahlkraft dieses Ansatzes liegen, wenn wir nun am Erkennen in eine ausweglose Enge geraten sind. Denn am Ende erwartet man doch vom Wesen her den weiteren Aufschluss für die Beson­derheit menschlicher Verfassung. Hat man freilich die Zone Erkennen aus ihrer gewohnten engen Wesensbindung herausge­löst, so schwebt diese Zone nun in einem scheinbar leeren Raum, wo alle Gründe und Grenzen schwinden. Und hier gilt es, einmal Ernst zu machen mit jener Überlegung, die in der Meta­physik bisher nicht aufkommen konnte, weil Dasein nichts, aber auch gar nichts außer der Verwirklichung des Wesens als erster Substantia an sich haben sollte. Dies ging so weit, dass nur das Wesen als Substantia Träger der Accidentia sein konnte. Indem das Wesen des Menschlichen in der Seele gesehen wird, setzt sich das Ausmaß des Artwesens als einer biologischen Form am Menschen ganz zurück, bzw. die menschliche Gestalt in ihrer rein biologischen Form gegenüber Pferd, Hund, Schimpan­sen wird ganz als Ausstrahlung von Vernunft und Freiheit ge­sehen. Allein hier hat sich schon eine Voraussetzung eingela­ gert, und es gilt, dass wir uns einmal von diesem überlagern­den Denken freimachen. Denn die menschliche Erscheinung ist ein Artwesen wie Pferd und Hund; und Freiheit und Vernunft haben mit der Gestalt nichts zu tun. Warum sollten sie also an die menschliche Gestalt gebunden sein? Erst jetzt öffnet sich die Sicht, Freiheit und Vernunft einmal in der Zone des Daseins zu suchen. Haben wir uns aber erst einmal nach dieser Sicht ausgerichtet, so können wir die Überlegung auch zu Ende führen. Warum sollte unbedingt in der Reflexion die Vorausset­zung oder die Ermöglichung der Willensfreiheit angenommen werden, die damit schon weithin als Willenseinsicht geprägt ist. Sind wir nicht gerade daran in den ausweglosen Engpass am Erkennen geraten, dass wir dieses als ein in sich selber unbe­dingt gestuftes Vermögen gesetzt haben. Dann muss diese Zone als Einbruch des 3  Vgl.

Anm. oben.



§ 35  Die Möglichkeiten des Daseins und die Denkgewohnheiten249

Selben ins Wirkliche in sich auseinanderbre­ chen, oder wir müssen uns dennoch entgegen jeder Einsicht zu einem wohl gleitenden Übergang zwischen Sinnlichkeit und Reflexion bekennen. Nehmen wir also dieses brachliegende Neuland Dasein einmal an, dann dürfen wir auch so weit gehen, dass wir die Reflexion aus einer oder als eine neue Verfassung im Da­sein annehmen. Genau dahin hat nun unsere Überlegung zu ge­ hen, weil das Schema Wirklichkeit, so wie es sich uns er­schlossen hat, nur in dieser Anlage sich weiterführen lässt. Die Möglichkeiten des Daseins bieten sich an als ein Freisein von allem Formhaften, womit freilich ein Inhalt schon vorge­geben ist, der sich nur noch als die Verneinung des Wesens halten kann. Alles ist Form, und Dasein versteht sich nur noch als die Tat des Wesens. Eine solche Überlastung des We­sens einerseits und Unterschätzung des Daseins andrerseits stimmt aber schon nicht mehr zusammen, wenn man Erkennen nicht mehr als etwas Wesentliches ansieht. Es ist eine zu be­queme Lösung; was beide zusammenführt, ist nur das Fehlen ei­ner eigentlichen Entwicklung, was man beiden Zonen zugestehen muss. Denn der Begriff des Erkennens lässt nirgendwo das Ausmaß einer Entwicklung in sich eindringen, ansonsten zeigt sich die Zone völlig eigengründig gegenüber dem Wesen, so dass man sie auch mit dem Dasein in ein Verhältnis der Abstammung set­zen könnte. Dem Dasein wächst jedoch ein eigener, unableitba­rer Gehalt im Willen zu. Gewiss eignet dem Willen eine innere Form, es ist das Gebot seines Wesens; allein die Form macht noch nicht den Willen, und dieser kann als solcher nicht aus der Übersetzung des Wesens abgeleitet werden. Doch damit hat sich die Verfassung des Daseins noch lange nicht erschöpft. Seine Möglichkeiten bleiben nur deshalb verschlossen, weil man eigentlich denkgewohnt ist, jedes Verhalten, welches et­was von Grund auf sich Wandelndes an der Umwelt vorlegt, als etwas Wesentliches einzuschätzen. Wir sagen „wesentlich“ und „unwesentlich“, und wir meinen „wichtig“ und „unwichtig“; wir bemerken gar nicht, wie sehr wir das Wesen mit dem Erken­nen verwachsen sein lassen, wie sehr wir aber auch durch das „Wesentliche“ das eigentliche Wesen verfälschen und den Seinsbegriff verzerren. Es gehört zu den klaren Gegebenheiten des bloßen Hinschauens, dass sich neue Wesensformen mit der Lösung des Lebendigen vom Boden abzeichnen. Die wesentlichen Änderungen reichen indes nicht hin zur Erklärung, denn die aufkommenden Werkzeuge des Erkennens sind mit ihrer erscheinenden Form nur äußerlich er­fasst. Wir gewinnen hier den Einblick, wie sich der neue Raum des Daseins, der Exsistentia, aber auch sofort verschließt. Dass daraufhin Erkennen und Wesen zusammengeschlossen werden, geschieht aus innerer Folge in einem Zuge. Es ist die Vorbe­stimmung des alten Bewusstseinsbegriffs, der Bewusstsein mit Erkennen gleichsetzt und das Gemüt dann eingliedert. Damit wird die ganze Fülle des neuen

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4. Teil, 1. Kap.: Die Anlagen zum Geistigen

Inhalts in die Wesenszone ge­schleust und das Dasein verschlossen. Hier hält sich aber auch der Keim zur anderen Auffassung. Bewusstsein ereignet sich im Einbruch des Erkennens ins Wirk­ liche. Dieses Ereignis kann aber nur vonstatten gehen, indem Dasein in sich selber als Gemüt aufbricht. Wille ist nur eine Verdichtung des Gemütes, die als solche sicher nicht das ganze Ausmaß desselben einholt. Er ist das, was auf der Ober­fläche schwimmt und am Erkennen sich spiegelt. Dasein birgt in sich die Verhaltensweisen der Entscheidung, vorstellbar wird dies aber nur als eine formlose Kraft der Annäherung an das Wesen und der Einstellung auf die Erscheinung der Umwelt. Dasein enthält die Kraft zunehmender Anwendung aus Erkennen. Liegt diese Kraft nur als Willenskraft vor, oder äußert sich Willenskraft selber nur als eine neue Verfassung des Daseins, die sich als neues Verhältnis zum Erkennen eingerichtet hat, darin aber nicht aus dem Wesen begründet ist? Wenn hier von Freiheit und Vernunft die Rede ist, so haben wir die Begriffe einmal aus der metaphysischen Überlieferung einfach übernommen, um damit menschliches Bewusstsein auszuzeichnen. Bis jetzt hatten wir es in unserer Untersuchung nur mit einem triebhaften, aus Bedürfnissen strebenden Gemüt zu tun, worin der Willensfreiheit keine Möglichkeit eingeräumt ist, um sich einzurichten. Wenn nun Freiheit und Vernunft in einem Atemzug gewöhnlich genannt werden, so liegt dem die Überzeugung zu Grunde, dass hier ein stufenhafter Zusammenhang oder eine wechselseitige Bedingung vorliegt. Was nun diese Übernahme der Vorstellungen betrifft, so geht es uns nur darum, sie von ihrer wesentlichen Verflechtung einmal zu be­freien. Wenn es sie geben sollte, so müssen sie keineswegs im Wesen ihren einzig denkbaren Wurzelgrund finden. Unsere Un­ tersuchung bisher sollte klar gemacht haben, dass dieses Aus­maß im Bewusstsein für uns eher im Dasein gesucht werden könn­te. Der Vorrang, den die Vernunft innehat gegenüber der Willens­freiheit, ist freilich ein offensichtlicher, weil ich mir des Denkens als einer einsehbaren Angelegenheit bewusst bin, wäh­rend ich kaum jemals klar aufzeigen kann, wie weit meine Ent­scheidungen sich nicht einfach als Ergebnis verschiedener Triebkräfte einstellen. Auch hier wird deutlich, dass Freiheit der Entscheidung ein ganz anderes Feld des Bewusstseins bean­sprucht als Denken. Eine solche Freiheit wird aber im Denken des Menschlichen nur im Zusammenhang mit einem sittlichen Be­wusstsein von Bedeutung sein, und dieser Bereich steht noch gar nicht an. Dass Sittlichkeit im menschlichen Bewusstsein ei­ne vorrangige Bedeutung hat, ist für uns eine Tatsache von unmittelbarer Einsicht und unmittelbarer Gewissheit. Allein damit können wir uns nicht mehr zufrieden geben. Wie weit diese völlig andere „Erscheinung“ in Bewusstsein und Gesell­schaft aber mit unserem Zweck vereinbar ist, steht



§ 35  Die Möglichkeiten des Daseins und die Denkgewohnheiten251

noch völ­lig offen. Dies alles gilt es zu bedenken, wenn es nun wei­tergehen soll, Bewusstsein näher nach Gemüt und Erkennen zu bestimmen. Denn was sich bis jetzt an Zweckmäßigkeit heraus­gestellt hat, verleiht dem gesamten Weltbild der Wildnis eine so grundlegende Bedeutung, dass wir menschliche Gesellschaft auf dem Boden der Wildnis und nicht etwa die Wildnis als Er­zeugnis in der Kulturschmiede des Menschen zu sehen haben. Freiheit wird gar nicht greifbar, so wie ich Denken anschau­lich machen kann. Mag einer auch die logische Geltung der Denkgesetze leugnen, dass ich dies alles in die Reflexion setze, liegt auf der Hand; es sind Tatsachen aus dem Bereich des Erkennens. Die Dinge ändern sich schlagartig, wenn ich nach solchen Tatsachen im Bereich menschlicher Handlungsfrei­heit suche. Ist in Wahrheit die Freiheit nicht vielmehr eine Forderung? Damit hat sich unversehens das Richtmaß der Wahr­heit bei uns eingeschlichen, und ehe sie bedacht, liegt sie schon als Wahrheit des Erkennens und als Wahrheit des Ent­scheidens oder Sollens vor. Also tun wir gut daran, diesen Begriff fern zu halten, da er nicht klärend wirkt. Die Um­stände, welche hier zu Tage treten, haben aber sicherlich dazu beigetragen, dass die Vernunft wie ein fest begründeter Aus­sichtsturm anschaulich wird, der als Voraussetzung für eine freie Entscheidung notwendig ist. Während so die Vernunft als feste wandellose Warte steht, wird die Freiheit als eine Hal­tung angesehen, die mühsam erkämpft werden muss. Dem soll nicht widersprochen werden; es soll nur gezeigt werden, dass auch aus dieser Überzeugung nur die andere gefestigt werden kann: Dass Vernunft Dasein irgendwie freimacht. Hier soll nur in Betracht kommen, dass eine freie Einsicht als bewusste Ein­sicht in das Einsehen noch nicht den eigentlichen Lebensnerv einer Entscheidung erstellen kann. Denn diese kommt wurzel­haft aus Dasein. Was uns bis jetzt zur Verfügung steht, ist eine Reflexion. Es hat sich an ihr herausgestellt, dass wir sie am Wesen nicht begründen können. Damit fällt aber für uns auch eine Begrün­dung für eine Willensfreiheit aus dem wesentlichen Vernunft­ansatz. Ist denn diese Willensfreiheit nicht eine Forderung, die uns jetzt in die Quere kommt, mit der wir aber auch hier nichts anzufangen wissen? Wenn wir sie in Betracht ziehen, dann deshalb, weil sie gemeinhin mit der Vernunft untrennbar verbunden sein soll. Diese Vernunft stimmt überein mit den Merkmalen der Reflexion, die für uns Verstand und Vernunft er­setzt. Auch sie hat ihren Erkenntniszwang wie die Sinne. Reflexion ist Verstand als Denknotwendigkeit und Vernunft als Einsicht in die Denkform. Reflexion versteht sich jedoch auch als Feststellung der Bedürfnisse des Gemütes. In jeder Hin­ sicht erhält die Reflexion ein Müssen zum Gegenstand, keines­wegs ein Sollen. Was sich bis jetzt an dieser Wirklichkeit als grundlegend bedeutsam erwiesen hat, war immer ein Müssen oder eine Festlegung, etwas Zweckmäßiges in Richtung Erfah­rung, etwas Logisches in Richtung

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4. Teil, 1. Kap.: Die Anlagen zum Geistigen

Reflexion. Alles Wechsel­hafte war als Spiel des Zufalls nicht geeignet, um der Wirk­lichkeit Regeln abzugewinnen. Was also Raum hat, sich so oder so zu entscheiden, bleibt als das Unzweckmäßige zurück; es ist Nebensäch­ liches, das mit dem Logischen gar nicht in Widerstreit geraten kann. Von diesen Voraussetzungen herkommend, müssen wir demnach überlegen, was uns nun zur Verfügung steht, wenn wir nicht eine Anleihe aus der Überlieferung heranziehen wollen, um weitermachen zu können.

§ 36  Das Unauffällige menschlicher Entwicklung 1. Die Entwicklung als Kraft und Richtung; das Rätsel der Zeit Da die Sinne keine metaphysische Unterscheidung kennen, ent­steht Dasein aus einer Intuitio. Es ist wichtig, dass Dasein nicht einfach als Abstraktion des Verstandes aufgefasst wird. Mag dies hinzukommen, wir haben es mit einer ursprünglichen Einsichtnahme der Reflexion zu tun. Dasein ist eine Vorstel­lung in der Einheit der logischen Gesetze, Dasein erweist sich aber an dieser letzten logischen Einheit dennoch als ein völlig eigenständiges Feld gegenüber dem Wesen. Darauf kommt es bei der Erfassung des Wirklichen an: Es gibt keinen Ein­heitsbegriff Sein in dem Verständnis, dass Erkennen sich noch­ mals eine verstandliche Abstraktion von Wesen und Dasein ma­ chen könnte. Der Seinsbegriff bleibt auch im Letzten ver­ schiedengründig. Die logische Einheit genügt, weil ja in der Reflexion der Einheitsgrund als erkenntnismäßiger wie auch seinsmäßiger ansteht. Gewiss ur-teilt sich die Anwendung so­fort, dies ändert aber nichts daran, auch die analogia entis der mittelalterlichen Metaphysik ist als Intuitio niemals als Abstraktion zu verstehen. Die logische Einheit ist nur am Sel­ben gegeben, soweit dieses als Reflexion am Wirklichen wider­leuchtet. Darin vollzieht sich Intuitio. An der Erfahrung versteht sich aber der Seinsbegriff unmittelbar wesens- und daseinsgründig. Die analogia entis leitet sich deshalb nur aus einer logischen Einheit her, und sie hat, wie jetzt zu sehen ist, einen Bezug zwischen dem Selben und dem Wirklichen und einen Bezug vom Logischen für das Wesen und das Dasein unter sich. Das Feld des Daseins hält seine Gestalt am Wesen, dennoch ist es das Dasein und nicht das Wesen, welches Gestalt annimmt. Die feste Gestalt erklärt sich als Wandel, und das Gesetz der Gestalt geht selber nicht in die Gestalt. Es ist ein uner­gründlich verschlossenes Feld, was da ins Dasein strahlt, sein Grundgesetz hält sich darin, dass nichts ins Dasein von ihm geht; der Übergang ins Dasein ist seine Unmöglichkeit, und darin trägt es allen Wandel. Indem Dasein am Wesen seine Kluft und Unwesentlichkeit



§ 36  Das Unauffällige menschlicher Entwicklung253

erlebt, hält es sich im Wandel am Wesen aufrecht. Dieses Dasein rollt nicht im gleitenden Über­gang aus dem Nichts ins Werden, denn Dasein ist Werden schlichthin; es ist immer am Wesen, oder es ist überhaupt nichts. Wenn Wirklichkeit aber die Ergänzungsbedürftigkeit als ihre allgemeine Verfassung ausspricht, dann bleibt das Wesen in seiner Weise nicht weniger bedürftig am Dasein. Auch ein Wesen bleibt ein Nichts ohne Dasein. Darum wäre es eine Herabminderung des Daseins, wollte man sagen, dass es zwischen Nichts und Wesen ausgespannt sei. Es liegt eine geradezu unerträgliche Spannung in diesem Da­sein, weil es in ein und derselben Hinsicht Gestalt und Wan­del ist. Wesen kann nur im Dasein gestaltet sein, und Dasein darf deshalb auch nicht einfach als Gleichnis einer Wesensge­stalt angesetzt werden, die es als Urbild nie erreicht. Dies wäre eine weltflüchtige Sicht von Wirklichkeit, da doch der Zweck im Wirklichen und nicht im Wesen liegt. Wir bezeichnen deshalb am besten das Wesen als Leitbild, es trägt Dasein als Gestalt und Wandel in einem. Es kommt also auch nicht darauf an, dass die Wandelgestalt des Daseins wenigstens einen Augen­blick einer formvollendeten, wandellosen Wesensgestalt gleichkommt. Denn eine solche Vorstellung überschätzt das We­sen ins Wirkliche, und sie würde das Dasein zur Schattenwirk­lichkeit einer Idee herabsetzen. So darf denn Dasein auf kei­nen Fall als Annäherung oder Näherungslösung zum Wesen hin verstanden werden, vielmehr ist es Dasein in irgendeiner Form, und darin wird es zur Alleinheit einer einträchtigen Wirklichkeit, worin die Wesen nur Mosaiksteinchen sind. Die Wandelgestalt des Daseins bezeichnen wir als Entwicklung, Dasein als raumzeitliches Leben erscheint in jedem Stadium als solche, und sie kann auch im Absterben nur als Hinbewe­gung zum Wesen verstanden werden. In dieser Hinsicht kann keine Entfernung zum Wesen stattfinden; Altern darf nur als Zurückbleiben in der Entwicklung gesehen werden, denn eine Rückwärtsbewegung würde ja den allgemeinen Zweck des Wirkli­chen außer Kraft setzen. Wir bemerken von daher eine gewalti­ge Spannweite, in welcher das Wesen zum innersten Anhalts­punkt und zur äußersten Grenze wird. Wesen umschließt Dasein von innen und außen, so dass dieses Dasein unentwegt als Ent­ wicklung ablaufen kann. Dasein hat einen Spielraum, worin es sich von der bloßen Materie unterscheidet. Indem es das Wesen umspielt, findet es seine Möglichkeiten, worin sich Wirklich­ keit immer fester zusammenschließt. Es kommt also auf das freie Spiel der Kräfte im Dasein an, weil es sich so am be­ sten entfaltet. Entwicklung besteht als Kraft, die zwar glei­ ten, zunehmen und schwinden kann, deren Richtung aber wandel­los als Wesen bestimmt ist. Entwicklung enthält immer mehr als bloße Materie, nicht nur am Wesen, sondern im Dasein. Mit aller Vorsicht möchten wir deshalb annehmen, dass Materie ein geheimnisvolles Vorhanden­ sein ist, dem kein eigentümliches

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4. Teil, 1. Kap.: Die Anlagen zum Geistigen

Wesensgesetz zukommen kann, weil dieses sich zwischen Wesen und Dasein stellen und den Zweck des Wirklichen entfremden würde. Materie dürfte demnach auch keine Richtung haben. Aber damit geraten wir erneut in unsere alte Frage: Hat die Materie Zeit? Wir können jetzt vielleicht so fragen: Ist die Zeit der Entwicklung eine ge­richtete Zeit und jene der Materie eine kreisläufige? Eine Antwort liegt außer Sichtweite. Dasein als Bewusstsein aber erlebt sich als zeitliches. Damit ließe sich aber aus der In­nenseite des Daseins keine allgemeine Zeit begründen, da die­se nie im Erkennen gegeben ist.

2. Die Entwicklung als gesetzmäßiges Streben und das Fehlen einer menschlichen Besonderheit Dasein hat das Eigenartige, dass wir es von zwei Seiten her erschlossen haben, nämlich als Erscheinung und als Gemüt. Es geht nicht nur auf die Erfahrung des Bewusstseins zurück, wenn wir Dasein immer für mehr als bloße Materie ansehen; auch die pflanzliche Entwicklung lässt sich mit dem Inhalt Materie al­lein nicht erklären. Lebendiges Dasein verdankt sich zwar nur der Wesenszone, dennoch ist solches Leben im Dasein selber und klar abgegrenzt von der Wesenszone mehr als nur Materie. Allein der Aufbruch nach innen zum Gemüt reicht keineswegs hin, um menschliches Dasein in seiner gesellschaftlichen Sei­ te von tierischen Gesellschaften abzusondern. Menschliche Kultur steht aber so handgreiflich vor uns, dass wir sie eben­ falls als eine Erscheinung bezeichnen können, die von einem Gemüt nach außen geprägt worden ist. Wir haben es also im Be­reich der Kultur mit einer Daseinszone zu tun, keineswegs mit einer Wesenszone. Hier liegt nun der Aufschluss vor, aber er liegt nur als vermittelndes Zeichen vor. Wenn wir nämlich Kultur als Dasein bezeichnen, so tun wir es offensichtlich in einem wirklich nur gleichnishaften Sinne zum lebendigen Da­sein der Wesen, und daraus wird das Sonderbare menschlichen Daseins ablesbar. Dieses Dasein erfährt seine eigene Sonder­ stellung unter den anderen tierischen Wesen aus Daseins­gleichnissen, denen gar kein Leben innewohnt. Menschliches Dasein schafft sich Mittel, die etwas völlig Neues in die Wirklichkeit bringen. Die Sonderstellung des menschlichen Da­seins lässt sich jetzt nach dem Schema bisher so umreißen: Menschliches Dasein schafft selber eine vierte Zone in der Wirklichkeit. Was hier vor sich geht, kommt einer neuen un­mittelbaren Einsicht gleich, und dies entspricht dann nur der neuen Zone in der Wirklichkeit. Menschliches Bewusstsein fin­det sich in dem Verhältnis vor, dass es seine Besonderheit nur an toten Werkzeugnissen beglaubigen kann. Was es ausdrücken möchte, dass es verständig ist, dass es moralisch ist, dass es sich für gut und bös entscheiden kann, dies muss es unter der Ebene, die es beansprucht, glaubhaft machen.



§ 36  Das Unauffällige menschlicher Entwicklung255

Eine völlig neue Aussicht steht jetzt an, aber es scheint doch so, dass wir gar keine andere Möglichkeit des Weges ent­decken können, um fortfahren zu können mit der Untersuchung. Denn menschliche Wirklichkeit unterscheidet sich als Entwick­lung viel zu wenig von jener der Säugetiere in der Umge­ bung. Dass dieser Mensch aufrecht geht, feingliedrige Hände und statt eines Felles eine feine, unbehaarte Haut hat, reicht nicht hin, um ihm eine besondere, innere Wirklichkeit zu ent­ nehmen. Der Unterschied zwischen dem Menschen und dem Schim­pansen ist doch verschwindend, wenn man beide mit einem Holunderstrauch in Beziehung setzt. Es gilt deshalb zu sehen, dass nach den Mitteln der Beobachtung bisher von einer neuen Stufe, welche als dritte in einer Abfolge Pflanze, Tier, Mensch dastehen soll, keine Rede sein kann. Wir müssen die Feststellung machen, dass menschliche Wirklichkeit im Rahmen der Entwicklung und im Zusammenhang dessen, was wir Natur und Wildnis nennen, sich überhaupt nicht unterscheidet. Wir fin­den außer den feingliedrigen Händen nichts, was eine Sonder­stellung im Reich der Säugetiere beanspruchen könnte, und dies reicht nicht hin, um Vernunft, Sittlichkeit und Freiheit zu bezeugen, schon gar nicht, um diese Auszeichnungen als We­ sensmerkmale einzurichten. Menschliche Entwicklung ist nur anfangs hilfloser und nimmt mehr Zeit in Anspruch als jede andere. Leben zeigt sich als Innenleben an der Materie, die so nur eine Außenseite kennt. Die Tiefe des Raumes bleibt immer nach außen gekehrt, Raum hat keine Entwicklung. Welche Rolle die Zeit dabei spielt, bleibt uns gänzlich verschlossen. Leben bedeutet uns aber soviel wie Entwicklung. Die sich entwic­kelnde Wirklichkeit vermag das Zweck-Selbe nicht zu fassen, letzteres muss aber den inneren Einheitsgrund und Tragegrund erstellen. Der Raum ergibt keine Entwicklung, die Entwicklung ergibt nicht das Selbe. Indem die Entwicklung dieses Zweck-Selbe nur in sich selber erfahren kann, eine andere Richtung wäre nur Verfall und Widerspruch in sich, strebt solches Le­ben nur in sich, nur für sich. Für die Entwicklung ist alles außen, Materie in der Rolle des Stoffwechsels. Leben strebt nach innen, nur für sich als Individuum und als Identitas, so dass Wirklichkeit als Allgemeinheit im Zweck-Selben vertreten ist. Indem das Zweck-Selbe in jedem Individuum den Zusammen­halt trägt, wird die Gesamtheit der Wirklichen zu einer zweckmäßigen Einheit. Daher erfüllt das Individuum den Zweck, wenngleich alles in ihm nur für sich strebt. Das Individuum kann den Zweck nicht fassen und arbeitet gerade deshalb für das Allgemeine. Weder die Pflanze noch irgendein Tier können den Zweck in sich aufgehen lassen, und was so seinsmäßig an Wesen und Dasein gilt, dies wiederholt sich im Bewusstsein. Der Zweck löst nur den Sog nach innen aus, und Erkennen folgt nur der ersten, unmittelbaren Daseinsbindung zum Wesen hin. Daran gemessen bleibt für das menschliche Leben nichts übrig, was sich absetzen könnte von den übrigen Entwicklungsträgern. Die Kreisläufe der

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4. Teil, 1. Kap.: Die Anlagen zum Geistigen

Entwicklung vollziehen sich in ihm nicht anders: Indem das Individuum nun bewusst für sich selber strebt, erfüllt es den Zweck auch an der Gemeinschaft, und darin handelt ein Rudel Wölfe auch so. Was nun den Nächsten betrifft, so unterscheidet sich der Mensch auch darin nicht vom Tier; wie jede andere Art erkennt auch er nur den Artge­ nossen als den Nächsten an. Jedoch tut er es mit dem Unter­schied, dass innerhalb der Art sich Verbände zusammenschlie­ßen, die sich gegenseitig bekämpfen. Was also menschliche Entwicklung betrifft, so dürfen wir sie ohne Zögern einordnen in den Gesamtverlauf, und dieser soll nun in seiner allgemeinen Verfassung umrissen werden. Was als Umfeld der Bestimmung ansteht, sind die drei Gründe Wesen, Dasein, Erkennen, die in einem noch weiteren Feld Materie er­ scheinen, sich erschließen und sich vermitteln. Leiten wir Natur von Geburt her, so dürfen wir nur die Entwicklung zu ihr rechnen. Die Bezeichnung Materia müsste aber dann ihrem Inhalt nach auch so behandelt werden. Leiten wir indes die starre Materie von Mater Terra her, so zeigt sich das Unstim­mige einer solchen Ableitung. Wir fassen deshalb mit Natur die Materia und die Entwicklung in einem Begriff zusammen. Und wie es sich zeigt, möchte man nun Natur mit Wirklichkeit gleichsetzen. Bis jetzt war uns jedoch die Materia nur wie eine Vorbereitung zur Wirklichkeit, sie diente uns wie ein Teppich, worauf die Wesen ihren Einzug ins Dasein hielten oder als unentbehrliche Fassung für die Wirklichkeit. Materia als wesenloses Schattendasein im Voraus. Damit hätten wir freilich das Ausmaß der Zeit nun doch in ihrer Bestimmung, nämlich als Dasein im Voraus. Lassen wir diese Bestimmung of­ fen, so dürfen wir dennoch die Natur so weit fassen, dass sie die Materie und die Entwicklung zum Inhalt haben kann. Was aber nun die Gleichsetzung von Natur und Wirklichkeit be­trifft, so zeichnet sich ein neues Hindernis am Rande unseres Blickfelds ab. Das Ereignis Kultur steht noch zur Bestimmung bevor; es der menschlichen Wirklichkeit abzusprechen, geht nicht an. Was bisher als Wirklichkeit gelten durfte, benennen wir von jetzt an besser mit Natur. Soweit wir nun menschliche Wirklichkeit der Natur der Ent­ wicklung einordnen, lassen sich überhaupt keine Anhaltspunkte finden, wonach wir sie als etwas grundlegend Neues bestimmen müssten. An dieser schlichten Einordnung geht zunächst einmal alles unter, weil Entwicklung keinerlei Frei- oder Spielraum übrig hat. Die Lösung vom Boden erlaubt zwar die Freiheit der Bewegung im engen Raum, allein eine solche Losgebundenheit wird sofort wieder eingefangen durch das Streben einer Ent­wicklung, die im Wesen nicht weniger gefesselt ist als die bewusstlose Pflanze. Entwicklung strebt nur nach dem Wesen, sie tut es bewusst oder unbewusst, pflanzenhaft oder tierhaft über Erkennen und Gemüt. Darin zeigt sich Entwicklung, dass



§ 36  Das Unauffällige menschlicher Entwicklung257

alles in die Form des Wesens läuft und ein solches Dasein überhaupt keine weitere Auslegung mehr kennt als die Entfal­tung seines Leibes. Es strömt alles nach innen zum Wesen in einer inneren Notwendigkeit, und die völlige Nacktheit des Lebendigen nach außen gibt Zeugnis davon, dass hier eine ande­re Freiheit als Losgebundenheit gar keinen Innenraum findet. Entwicklung läuft in wesentlicher Gesetzmäßigkeit ab, und was hier freies Spiel zu sein scheint, ist zweckloser Zufall. Na­türlich gehört es zum Dasein, dass es einen gewissen Spielraum am Wesen hat, und dieser lebt wohl gerade aus der Trennung der Zonen voneinander. Würden nämlich Wesen und Dasein in der Wirklichkeit verwachsen, so wäre wohl das Individuum inner­halb der Art vielleicht gleichförmiger.4 Was aber den Spielraum des Daseins am Wesen betrifft, so ma­chen wir eine Feststellung, die sicherlich nicht ohne Bedeu­tung ist. Es muss doch wohl auffallen, dass mit dem Aufkommen der Bewegungsfreiheit des tierischen Bewusstseins nun gerade der Spielraum des Einzelnen zu seiner Artgestalt zurückgeht. Denn die pflanzlichen Individuen einer Art sind in ihrem ge­ staltlichen Umriss weniger Uniformen als die Tiere. Es scheint daher so, als ob die Freiheit der Bewegung mit dem Spielraum des Einzelnen am Wesen erkauft worden wäre. Die „Freiheit“, die mit dem Bewusstsein in das Leben kommt und die jedenfalls im Spiel der Sinne sich einrichten kann, wird in der Entwick­ lung noch nicht einmal berücksichtigt. Ganz im Gegenteil er­fährt die Wandelgestalt des Daseins einen schärferen Umriss an der Wesensgestalt als die Pflanze. Offensichtlich sind also Tiere mehr uniform als Pflanzen. So sehen wir denn, dass die bewusstseinsmäßige Entfaltung im Tierreich dennoch aus der ge­setzmäßigen Notwendigkeit der Entwicklung überhaupt nicht auszubrechen vermag. Entwicklung bleibt daher ein naturgesetzlicher Ablauf, und der Spielraum unterbricht nicht im Geringsten die Zielstre­bigkeit am Wesen, so dass für nichts anderes mehr Freiraum ist, wie sich äußerlich an ihr zeigt. Entwicklung besteht als ein völlig selbstsüchtiges Ausbeuten der Umwelt oder Mitwirk­lichkeit, und sie hat nichts übrig, um in irgendeiner Weise für die Umwelt zu sorgen. Sie schlingt nur in sich hinein, und sie legt sich nicht aus in Formen und Weisen außerhalb dieses Ausmaßes. Eine Ausnahme macht jedoch die Natur auch hier. Doch ist es auch hier bezeichnend, dass die Fürsorge bei der Aufzucht der Jungen ganz im Bannkreis des Fortpflanzungs­ 4  Diese Auffassung, nämlich das Verwachsensein von Wesen und Dasein, läuft auf eine strenge Verneinung einer distinctio realis hinaus, die man bei Duns Scotus am entschiedensten findet. Scotus muss deshalb folgerichtig eine entitas positiva zur Essentia hinzukommen lassen, um dem Individuum sein Eigentümliches zu geben. Letzteres wird aus einer distinctio realis mit dem Dasein aus sich hergestellt. Vgl. Plato metaph. § 25.1.

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4. Teil, 1. Kap.: Die Anlagen zum Geistigen

triebs steht, der sich in der Natur nicht weniger als selbst­süchtiges Streben äußert. Der Zweck als Arterhaltung setzt sich im Kreislauf der Entwicklung durch, und das Individuum erlebt im Anderen sein eigenes Streben. Dieses Verhältnis ist aber im Modus der Befruchtung schon angelegt. Es soll jedoch nicht übersehen werden, dass am dritten Kreislauf der Entwick­lung grundsätzlich eine offene Stelle in der Entwicklung ge­geben ist, worin vielleicht eine neue Weise des Wirklichen sich ankündigt, die sich in den Gegebenheiten bisher nicht auswei­sen lässt. Die Betrachtung schließt sich mit der Einsicht, dass all dies, was man gemeinhin geistige Wirklichkeit nennt, in der Natur des menschlichen Wesens überhaupt keinen Sockel findet, wor­auf man diese Würde nachweislich gründen könnte. Es gehört zur Besonderheit menschlichen Daseins, dass es sich so ver­hält.

2. Kapitel

Die Kultur als neue Wirklichkeit; Versuch einer Beschreibung nach den Bestimmungsstücken bisher § 37  Die „vierte“ Zone des Wirklichen 1. Kultur als Betrachtungsgrund der Metaphysik Geistige Wirklichkeit bedeutet uns jetzt menschliches Dasein in seinen absonderlichen Schöpfungen, die wir als Kultur zu­sammenfassen. Geist und Kultur verhalten sich wie Innenleben und Außenseite, so dass wir die Kultur als die neue Materie ansehen können. Damit deutet sich aber auch die andere oder innere Seite schon in ihrem Inhalt voll an. Wie nämlich diese Werkzeuge der Kultur nur in der Materie sich auslegen, so vermag ihre Innenseite auch nur an der Entwicklung zu er­ scheinen. Nehmen wir die Erscheinung beim Wort, so zeigt sich nur die Materie; dann engen wir aber die Erscheinung auf die Sinne ein. Bereits das Leben ist an der Materie vermittelt, es erscheint nicht an sich. Der Unterschied zwischen bloßer Materie und Leben springt in die Augen, niemand kann ihn ernsthaft leugnen, dennoch erscheint er nur an der Materie. Es ist also nicht zu erwarten, dass es sich mit dem Geist und der Kultur anders verhält. Wirklichkeit erscheint an der Ma­terie, aber Bewusstsein ist nicht weniger wirklich als Mate­rie, und diese Wirklichkeit besteht in drei Ur-Teilen, die ursprünglich sind. Indem die Zeit am Wesen und am Erkennen ausgeschieden ist, bleibt sie nur für das Dasein von ent­scheidender Bedeutung. Wirklichkeit als Zeit und Materie zu erklären, hieße Bewusstsein leugnen. Gehen wir von den Sinnen aus und lassen wir die Materie nur ursprünglich erscheinen, so nehmen wir das Lebendige bereits in einer ersten Ebene, dahinter vermittelt, wahr. Allein das einzelne Lebendige, das sich nur an dieser stofflichen Sub­stantia offenbaren kann, hängt in seiner Ebene schon zusammen mit dem Leben allgemein. Man kann das Leben allgemein als zweite Ebene hinter der unmittelbaren Ansatzfläche der Sinne auffassen, wir dürfen aber dann nicht vergessen, dass so be­griffenes Leben nicht mit der

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4. Teil, 2. Kap.: Die Kultur als neue Wirklichkeit

Abstraktion der Gattung wiederzugeben ist.5 Es ist gerade das Durchgehende in der Substan­tia, welches ja eine so innige Verzahnung in der beschriebe­ nen Spannweite herstellt, dass die Ebenen kaum noch im Bewusst­ sein auseinanderzuhalten sind. Aber es liegt in der Verzah­nung des Ich-Bewusstseins, dass die rein erkenntnismäßigen Ein­zelteile anscheinend schon verschmelzen. Es ist die Sinnmitte des Bewusstseins, sein Sitz im Leben, die hier, schon ganz zweckmäßig eingestellt, alles für sich in Anspruch nimmt. Erst indem Bewusstsein sich in die äußerste Anspannung der Reflexion verlagert, die Sinnmitte einklammert, erkennt es von dort das Fugenwerk seiner Begrifflichkeit. Die Fähigkeit des Bewusstseins, sich in die Reflexion zu set­zen, bezeugt diese, so wie das Auge sich letztlich selber be­zeugt. Das Selbstzeugnis der Augen genügt jedoch nicht, es muss zudem noch in die Reflexion gesetzt werden. Es besteht al­so nicht der mindeste Grund, dass wir an der Reflexion mehr zu zweifeln hätten als am Vorhandensein der Sinne. Wenn das Tier sich nicht bewusst sein sollte, dass es mit den Augen sieht und mit den Ohren hört, so zeichnet sich hier die unterste Regung der Reflexion als Grenze ab. Ob eine solche Einsichtnahme dem Tier jedoch ganz verschlossen sein sollte, bleibt doch wohl ungewiss, denn eine solche tierische Einfühlung könnte doch in der Gegenüberstellung der Artgenossen angeregt werden. Jeden­falls liegen aber die Ebenen so zutage, dass wir keinen Grund haben, am Vorhandensein der Reflexion zu zweifeln. Und die Verlagerung des Bewusstseins in die Reflexion vollzieht sich als eine Zurückversetzung in einen Ursprung, der als das all­ gemein Selbe vom Bewusstsein so in seiner Überwirklichkeit nicht eingeholt werden kann. Allein die unmittelbare Herlei­tung vom Selben vermag zu erklären, was Reflexion ist, nämlich Offenheit nach innen, und darin zeichnet sie sich aus. Kein anderes Vermögen hat diese Offenheit nach innen, dies bedeu­tet einfach die Möglichkeit, alles andere als Gegenstand zu setzen, sich selber auch und sogar das Selbe. Es muss also die Reflexion irgendwie vom Selben sein. Andrerseits aber ist es uns nicht gelungen, die Reflexion innerhalb von Erkennen abzusetzen von jenen Vermögen, die nicht nach innen offen sind. Was sich so auslegt, nehmen wir als einen natürlichen Zusam­menhang wahr, Natur als Gegenstand einer phänomenologischen Betrachtung, die aus ihrer Absicht zum Metaphysischen ganz von selber überleitet. Natur als Gegenstand einer Metaphysik, weil Bewusstsein gar nicht anders kann, als sich selber in dem natürlichen Zusammenhang zu verstehen. Im metaphysischen Ver­ständnis steht Natur als die Gesamtheit des Wirklichen, so­weit es sich bis jetzt erschlossen hat. Die Grenze zur Natur als Gegenstand der Naturphilosophie ist sicherlich nicht als scharfe Linie gegeben. Der be5  Vgl.

§ 15. 1.



§ 37  Die „vierte“ Zone des Wirklichen261

trächtliche Unterschied der Me­taphysik zur Naturphilosophie hält sich aber bereits in ihrer Einstellung zum Gegenstand. Die Naturphilosophie hat in ihrem Begriff der Natur nicht das sich selber hinzunehmende Bewusst­sein enthalten. Es ergibt sich für die Naturphilosophie eine wenigstens vom Gegenstand her klar geforderte Grenze zur Kul­turphilosophie. Indem aber das Ereignis Kultur für unsere me­taphysische Betrachtung zu einem unentbehrlichen Zeugnis wird, um das Wirkliche weiterhin zu erschließen, gehört der Gegenstand Kultur auch mit zum Allgemeinen der Metaphysik. Was also die Grenze zwischen Metaphysik und Kulturphilosophie betrifft, so verhält es sich hier ähnlich wie an der Natur­philosophie, jedoch nur deshalb, weil sich in der Metaphysik nun der Begriff der Natur öffnet. Er vermag das Wirkliche nicht mehr zu fassen, weil dieses nun eine neue Zone anerken­nen muss. Kultur muss sich an der metaphysischen Natur bestimmen, weil nichts anderes zur Verfügung steht. Kultur ist ein Ausmaß, eine Zone, eine Beseelung von ganz eigener Art. Darum dürfte die Bezeichnung vierte Zone des Wirklichen gar nicht zutref­fend sein. Damit hätte man gerade das entscheidend Neue völ­lig übersehen, jenes Neue, das wir Zug um Zug freilegen müs­sen. Kultur ist keine vierte Zone, denn so wäre doch die Na­tur in sich gar nicht geschlossen, so käme Kultur als letztes Ur-Teil zur Natur. Was aber ist dann Kultur? Ohne viele Um­stände nehmen wir eine Statue, um an ihr die wichtigen Merk­male zu finden. Sie ist ein Werkzeugnis, und damit etwas gänzlich anderes als die Nahrungsmittel, die natürliche Ent­wicklung benötigt. Das Zeugnis wird nicht einverleibt. Es wird gerade von solchen Stoffen angefertigt, die unterhalb der Entwicklung liegen, von toter Materie. Ein erstes Merk­mal. Merkwürdigerweise bezeugt aber gerade dieses Stück Mate­ rie mehr als die Nahrungsmittel die Besonderheit des mensch­ lichen Daseins, weil dieses sich in Bezug auf Nahrungsmittel überhaupt nicht von vielen Säugetieren unterscheidet. Zweites Merkmal. Indem dieses Werkzeugnis aus totem Stoff besteht, wird es aber gerade zum Gleichnis des menschlichen Bewusst­ seins. Dieses drückt sein Verhältnis zur Welt aus, indem es etwas schafft, worin Wesen, Dasein, Erkennen in der Tat sel­big sind, worin es also über seine Natur hinausgeht. Aber solch ein Überstieg gelingt ihm nur im Zeichen, es ist ein toter Stoff. Und dennoch drückt sich daran das Besondere aus; das Zeichen hat nicht den Rang einer Ameise, aber es soll Zeugnis einer höheren Wirklichkeit sein, und es soll so mehr bedeuten als die bloße Zeugung, die jedes Tier auch vollzie­hen kann. Drittes Merkmal. Kultur ist ein gewaltiges Geflecht, das in Schichten, Ebenen, in Zusammenhängen von Ursachen und Zwecken menschliches Da­sein umgibt und durchdringt. Was dabei von Wichtigkeit er­ scheint, ist gar nicht so sehr Kultur als Gegenstand, so wie die Natur in der Naturphilosophie es wird,

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4. Teil, 2. Kap.: Die Kultur als neue Wirklichkeit

vielmehr enthüllt sich das Geheimnis der Kultur in der Weise, wie sie Natur be­ seelt, diese in sich selber vollendet, ohne irgendwie als neue Materie aufzustocken. Und dennoch ist sie ein neuer Daseinsgrund. In dieser Eingründung wird die Kultur zum Ge­genstand der Metaphysik. Sie ist zunächst einmal gar nicht greifbar, wenn wir sie als neuen Grund im Wirklichen suchen, weil sich alles an ihr auf das Wirkliche bisher zurückführen lässt. An der Kultur des Gesanges hören wir nur die Natur­stimme, und dennoch kommt in ihr eine Vollendung zu Gehör, die eben doch nicht mit bloßer Naturstimme erreicht wird. Dies gilt aber nicht für die Melodie, sondern für die bloße Weise des Vortrags. Daran erkennen wir schon die Eingründung des Kulturhaften, ihre Innerlichkeit, die es zu erschließen gilt, um sie als beredtes Zeugnis zu vernehmen. Gemäß unserem Vorgehen bisher empfiehlt es sich freilich, dass wir wieder möglichst außen beginnen. Es verhält sich nun einmal so, dass Bewusstsein die Überzeugung auf solche Gründe baut, die am weitesten von ihm wegliegen, auf die Erscheinungsgründe der Materie, die den Sinnen entsprechen.

2. Die Kultur als Werkzeugnis; Metaphysik zwischen Materia­lismus und Idealismus Man kann die Kultur mit dem einfachsten Gerät beginnen las­sen, welches frühe Menschen zur Jagd verwendet haben. Allein in dieser Form bleibt die Kultur bloßes Werkzeug, und darin unterscheidet sie sich zu wenig von der Technik. Tatsächlich zeigt sich die Technik als ein Mittel innerhalb der Kultur; wir reden zwar von Kultur und Technik, es gibt Übergang, Überschneidung und Gegensatz, im Allgemeinen wird man aber die Kultur als menschliche Verwirklichung des Daseins auch als die Grundhaltung auffassen. Unsere Betrachtungsweise hat sich daher um den Unterschied von Kultur und Technik nicht zu kümmern. Kultur im Vollsinn stellt sich indes schon am Acker­bau ein. Denn wir haben es hier nicht nur mit dem technischen Gerät zu tun wie bei der Jagd, dieses bleibt Werkzeug der Kultur. Die neue Einstellung des Daseins menschlichen Bewusst­seins ist eben mehr als bloße Überlistung der Natur durch Verstand; Technik kann hochentwickelt sein und dennoch die Merkmale der Kultur vermissen lassen. Bei Letzterer kommt es auf das Erzeugnis selber an, welches einen Aufbau darstellt. Werkzeug und Erzeugnis zusammen erfüllen den Inhalt Kultur, den wir somit als Werkzeugnis verstehen. Das völlig Eigenar­tige der Kultur schält sich nun heraus, sie gibt Zeugnis für eine Verfassung des Bewusstseins, die als solche gar nicht er­scheint. Die Betrachtung kann ihren Grund nur finden, wenn sie gleich einsieht, dass Kultur zwei Seiten beinhaltet, wel­che untrennbar zusammengehören. Das Werk selber, nicht nur das Werkzeug, gibt Zeugnis für eine Einstellung des Bewusst­seins. Gewiss zeigt sich das



§ 37  Die „vierte“ Zone des Wirklichen263

Werkzeugnis unerhört vielschich­tig in einem Geflecht von Zwecken; dies allein bleibt für uns aber nur Zeichen, Anzeichen und Kennzeichen eines Kultur­grundes, den wir nicht außen suchen können. Es fällt jetzt die Ähnlichkeit der neuen Betrachtung mit dem Anfang auf. Dort haben wir die Erscheinung nur in ihrem Ver­hältnis im Erkennen gefasst, hier geht es darum, Kultur nur aus ihrem Ursprung im Bewusstsein zu verstehen und zurück zu deuten. Die Seite des Werkzeugnisses soll uns etwas enthül­len, was sich unmittelbar aus sich nicht erschließen lässt. So sind wir schon an der Reflexion vorangekommen. Dann wird das Werkzeugnis in sich gesehen nur zu einer Mitteilung, wenn wir im Inhalt den Bezug aus dem Bewusstsein freilegen. Wir finden aber denselben Grundstein wie zu Beginn, und dennoch ist er anders, gemäß dem, was Kultur von Natur absondert. Das Werk­zeugnis liegt vor uns wie ein Gegenstand der Natur, wie ein bloßer Felsblock, und was seine Materie betrifft, so unter­ scheidet er sich eben nicht von der Natur. Kultur ist nichts Selbstständiges. Diese Aussage beruft sich auf ihren äußersten Inhalt. Das bearbeitete Werkstück ist keine neue Materie, die der Mensch machen würde, so wie er Kultur macht; Kultur setzt Natur voraus. Soweit sie es tut, unterscheidet sich ihr sinnlicher Begriff überhaupt nicht von Natur. Ihre Erscheinung bleibt ihrem äußersten Bestand nach völlig untergetaucht in Natur. Das Unselbstständige wird daraus noch deutlicher, dass dem Gegenstand ein An sich fehlt, wel­ches der natürliche Gegenstand beansprucht. Nur soweit das Werkstück Natur ist, kommt es in Bezug auf ein An sich mit dem Naturstück überein. Soweit es indes Kultur darstellt, treten nun ganz neue Verhältnisse an ihm auf, die sich am Wirklichen bisher und nach dessen Zweckmäßigkeiten so nicht weiter einordnen lassen. Das Unselbstständige fügt keine neue Zone hinzu; Natur schließt in sich als Entwicklung, und auch der Mensch ließe sich so in den Kreislauf der Wildnis einrei­hen. Aber das Jagdgerät sprengt schon den Kreis der Wildnis, auch wenn es nur ein Mittel zum Beuteschlagen wäre. Mit dem Ackerbau ist der Kultur sinnbildlich der Boden gelegt, indem eine klare Grenze zwischen der Wildnis und dem Garten der ge­ordneten Saat und des gepflegten Bodens gezogen ist. Dabei wird an diesem Unselbstständigen auch schon ein grundsätzliches Merkmal sichtbar, welches das Ganze bestimmt. Kultur umgreift die gesamte menschliche Wirklichkeit, indem sie keine Be­reiche übriglässt, die sich ausklammern dürften. Sie wird zu einer Haltung im Bewusstsein, denn nur von hier aus lässt sich das Ganze „halten“. Damit erklärt sich bereits der Rückzug eines An sich am Werkstück, welches aber am Naturgegenstand nur sich halten kann. Auch der Ackerbau setzt ja die Ent­wicklung voraus. Es zeigt sich aber jetzt eine bemerkenswerte Verschränkung zwischen Bewusstsein einerseits und Materie andrerseits, und sie enthüllt ein Grund-

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4. Teil, 2. Kap.: Die Kultur als neue Wirklichkeit

gesetz der Kulturverwaltung. Offenbar wirkt dieses Gesetz, um den Anspruch der Kultur, nämlich kei­nen Bereich menschlicher Wirklichkeit dem An sich der Wildnis zu überlassen, zu unterstützen. Es geschieht eine Verklam­merung der Einheit von oben nach unten, von außen nach innen, die einen Einheitszweck ankündigt, den es sorgfältig zu un­tersuchen gilt. Diese gegenläufigen Bewegungen müssen wir se­hen: Bereits am Vorgang des Wissens haben wir bemerkt, dass Erkennen zu sich einkehrt, indem es zum An sich auskehrt; die Entflechtung in gegenseitige Einsamkeit ist nicht im Verhält­nis vorgesehen. Das Kulturverhältnis setzt das Wissensver­hältnis in dieser Hinsicht voraus, indem Wissen als ein ein­seitiges Verhältnis auftritt, während Kulturschaffen immer mehr beansprucht. Indem nun das Bewusstsein sich aber zum Ei­gentlichen zurückzieht, es kehrt zu sich selber ein, dringt es andrerseits immer tiefer ein in die tote Materie. Die Kul­tur des Ackerbaus hat es noch mit dem rein tierischen Bedürf­nis zu tun, aber das natürliche Erzeugnis steht freilich schon ganz in der Sphäre der Kultur und ist nicht mehr Wild­nis im menschlichen Leben. Indem aber das Bewusstsein sich von diesen natürlichen Bedürfnissen seines Leibes zurückzieht, erzeugt es doch Gegenstände, denen jedes Leben an sich ab­ geht. Dennoch bezeugen sie ein „höheres“ Leben des Bewusst­seins als die bloße Entwicklung. Es drückt sich eine wundersame Spannung im Kulturschaffen aus, und wir ahnen, dass hier die Brunnenstube der Verwaltung sich verborgen hält. Dieses Bewusstsein steht doch für uns noch ganz im Zeichen der Entwicklung, da wir bis jetzt noch keine Mittel und Wege gefunden haben, um es irgendwie abzusondern von ihrem ehernen Gesetz eines rein selbstsüchtigen Strebens im Banne der drei Kreisläufe, die da sind Nahrungs­ aufnahmen, Wachstum, Fortpflanzung. Die Bewegung des freien Spieles seines Leibes im Bereich des mittleren Abstands bleibt eingebunden wie tierisches Bewusstsein überhaupt. Aber nun zeichnet sich die Verschränkung ab: Das Bewusstsein müht sich, da herauszukommen in ein neues Verhältnis, das ihm irgendwie angemessen, also zweckmäßiger sein soll. Doch diese Mühe lässt sich nur nachweisen in neuen Werkstücken, die nichts mehr zu tun haben mit der Entwicklung. Dies muss frei­lich so sein, es soll ja nicht mehr um tierische Bedürfnisse gehen, oder es sollen zumindest diese tierischen Bedürfnisse auf eine neue Ebene gehoben werden, wo die eherne Macht der Kreisläufe und ihrer Gebieterin Entwicklung gebrochen wird. Aber kommt es hier nicht zu einem Widerspruch zwischen Natur und Kultur? Was vor sich geht, soll abgelesen werden an einer Äußerung Kultur, die eine innere, unsichtbare Haltung verkör­pert, und diese gilt es letztlich zu bestimmen. Mitten in der Wildnis kehrt dieses Bewusstsein in sich ein, und die Merkmale einer Entfremdung lassen sich nicht übersehen. Aber die Werkstücke überwinden die Entfremdung, und sie bezeugen eine gewisse Freiheit von



§ 37  Die „vierte“ Zone des Wirklichen265

der Entwicklung. Genau genommen bleibt es jedoch auch nur bei einer äußeren Freiheit gegenüber der Entwicklung, weil das menschliche Bewusstsein nach wie vor sich eingespannt erlebt. Die Entfremdung wird überbrückt durch „künstliche“ Gegenstände, und alles bleibt im Grunde nur bei einer äußerlichen Einrichtung. Denn die Gebilde, die der Mensch schafft, greifen immer tiefer in die tote Materie. Die Freiheit bezeugt sich rein vom Gegenständlichen her ge­se­hen als ein Abstieg in die Materie, die dem Tier so völlig gleichgültig bleibt. Es geht das Merkwürdige vor sich, dass menschliches Bewusstsein in der angeblichen Einkehr zu sich die Innenseite der Materie mehr und mehr erschließt, um dabei nur bestätigt zu finden, dass diese kein Innenleben hat. Wir haben es mit einer grundsätzlichen Verfassung des Kultur­verhaltens zu tun, die so selbstverständlich ist, dass wir sie gar nicht mehr beachten; und doch sollten wir uns hier wun­dern. Denn wir versuchen uns doch vom Kreislauf der Entwick­lung unabhängiger zu machen, indem wir tote Materie bearbei­ten; aber wir entfremden uns auch mehr und mehr von der Wild­nis. Was aber unsere organische Abhängigkeit von der Entwick­lung betrifft, so haben wir nichts erreicht. Wir bauen Häu­ser, weil wir nicht mehr im Freien leben können; wir tragen Kleider, weil wir sonst erfrieren; wir bauen an, weil wir un­fähig sind, um Beute zu machen. So stellt sich Kultur aus na­ türlicher Sicht dar. Behalten wir auch den Zweck der natürli­chen Sicht bei, dann wird die Kultur zu einer Überbrückung eines sich an der Wildnis entfremdenden Bewusstseins. Folgen wir dem Gedanken, so führt er uns in einen Materialismus der Tat und der philosophischen Überzeugung. Wie es hier weiter­gehen soll, in einem Sozialismus oder in einem Vitalismus, darüber wollen wir gar nicht nachdenken, weil der Zweck der Wildnis an einem so beschaffenen Bewusstsein mit sich selber uneins wird. Ein solches Bewusstsein mag nun von Zweckfreiheit reden, aber es entkommt dem Zweck mit keinem Schritt. Es mag Erkennen als zweckfrei erklären, so wird Erkennen zum Selbst­ zweck. Dann löst sich aber ein solcher Selbstzweck tatsäch­ lich wieder auf, und es bleibt ein gespaltenes Bewusstsein, weil dieses der tierischen Entwicklung andrerseits nicht ent­kommt. Das Bewusstsein findet so keine Lösung, weil ihm die Einheit des Zweckes zerbricht. Es gelangt zu einer Wissenschaft als Materialismus, die es tatsächlich entfremdet mit der Natur, und es folgt andrerseits seinem Triebleben, so gut es eben im Zusammenleben geht. Was sich als Kultur einstellt, ist dann die bürgerliche Verbrämung eines klaffenden Widerspruchs im Erkennen und im Handeln. Aber hat sich hier nicht eine Vor­aussetzung eingeschlichen, die wir gar nicht begründet haben? Tatsächlich haben wir eine Voraussetzung angelegt, nämlich diejenige, dass Kultur zweckmäßig auftritt und dass sie keine Fehlentwicklung sein kann. Auf der Seite des Bewusstseins ent­spricht dem, dass wir dem Zweckdenken nicht entkommen. Gewiss

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4. Teil, 2. Kap.: Die Kultur als neue Wirklichkeit

werden wir also geleitet und stehen wir im Bannkreis des Zweckes, und nun gilt es, genau zu unterscheiden. Was wir vermeiden müssen, ist ein klar bestimmter Zweck, der sich als ein Apriori der überlieferten Kulturwerte hier einschleicht. Es scheint nun so, als hätten wir das Urteil über den Mate­rialismus am Leitbild einer bereits vorausgesetzten geistigen Wirklichkeit gefällt. Dabei werden dann mit Geist sofort die Inhalte Vernunft, Freiheit, Sittlichkeit und Unsterblichkeit verknüpft. Wir zweifeln nicht, dass an dieser Stelle die Ge­fahr ansteht, dass ein solches Apriori der Überlieferung unser Denken bewegt. Also muss besonders sorgfältig geprüft werden. Was wir als Materialismus bezeichnet und abgelehnt haben, entpuppt sich als eine Haltung, die, am Vorausgelegten gemes­sen, keineswegs haltbar ist, weil sie einen Stilbruch und ei­ne Fehlentwicklung mit hereinnimmt. In dieser Annahme besteht aber noch kein Grund, wenn sich das Werkzeugnis der Kultur als absonderlich erweist. Um also ganz sicher zu gehen, mil­dern wir unser Urteil ab, indem wir sagen, weder der Materia­lismus noch der Idealismus können sich uns als das Leitbild an­bie­ten. Materialismus bedeutete, dass wir die Reflexion an die­ser Stelle, wo Kultur auftaucht, ausgliedern aus dem Zusam­menhalt des Wirklichen in der Entwicklung bisher. Damit wäre freilich dem Erkennen ein angemessener Vorrang zugesprochen, der es als Mittel zum Zweck einer tierischen Entwicklung be­freit. Es hätte zur Folge, dass die Reflexion den Zweck für sich in An­spruch nimmt. Andrerseits bleibt der Zweck in der Entwicklung auch am menschlichen Bewusstsein nach wie vor un­abänderlich. Man sieht, dass hier alles auseinanderbricht, was bis hierher zusammengehalten hat. Entweder müsste sich das Zweck-Selbe selber urteilen, oder es wäre die Reflexion tat­sächlich eine Fehlentwicklung. Die Gegenstände der Kultur enthalten aber sehr wohl die Mög­ lichkeit einer anderen Auslegung und die Richtung zu einer anderen Deutung. Es ist nicht zu übersehen, dass es Kunstge­bilde sind, die nicht einmal als Lebensmittel dienen; es sind also Mittel zum Lebensmittel. Aber gemäß der Einheit der Kul­tur taucht nun doch etwas Entscheidendes an ihnen auf. Sie sind niemals bloßes Gerät für die Jagd, sie dienen nicht nur dem Ackerbau, um einer der Wildnis entfremdeten Art das Über­leben zu sichern. Sie weisen immer über die bloße Entwicklung der Wildnis hinaus auf ein Bewusstsein, dessen Kopf irgendwie hinausragt aus dem Kreislauf der Wildbahn. Dann liegt eine andere Lösung näher: Dieses Bewusstsein hat sich der Wildnis nur deshalb entfremdet, weil in ihm eine neue Einstellung zur Wirklichkeit aufgebrochen ist. Was dann als Entfremdung außen erscheint, kann eine neue Innerlichkeit bezeugen, die eine neue Erinnerung der Wildnis mit sich bringt. Was so als Ab­stieg zur toten Materie sich darstellt, kann durchaus zur Verklammerung einer neuen, zweckmäßigen Einheit wirken. Kul­ tur widerspricht zumindest nicht der Absicht bisher, dass näm­lich die Angleichung des Wirklichen an das Zweck-Selbe in ihr weitergeführt ist.



§ 37  Die „vierte“ Zone des Wirklichen267

3. Die Erscheinung Kultur bezeugt eine neue Natur im Bewusst­sein Das einfachste Gerät bezeugt nicht die Fehlentwicklung, son­ dern die Überlegenheit eines Bewusstseins. Dieses Bewusstsein weiß, dass es eingegliedert ist in die Wildnis und dass es ein zweckloser Wille wäre, diese Entwicklung abstreifen zu wol­len. Darum richten sich die Geräte auf die Entwicklung, und sie fördern sogar deren Kreislauf in sich. Schon hier zeigt sich die Überlegenheit in Form der alten Zweckmäßigkeit, und doch ist es das unerhört Neue auf dem Boden des Alten. Mit­tels des einfachsten Gerätes schafft dieses Bewusstsein „künstliche“ Bedingungen. Was heißt nun künstlich? Es bringt alle günstigen Bedingungen der Wildnis in einem Garten zusam­men; es scheidet alle Nachteile der Wildnis ab, und es holt sich alle Vorteile in den Garten. Damit hat es den Kreislauf und die Entwicklung der Wildnis in sich überhaupt nicht ge­stört und dennoch den Naturzustand überwunden. Alle Merkmale von Kultur sind hier enthalten. Das einfachste Gerät deutet daher nicht auf das Felsgestein unterhalb des Ackerbodens, es ist Zeugnis einer Einsichtnahme, die sich gerade nicht aus­gliedert, sondern sich eingliedert. Die Absonderung ergibt sich in der neuen Eingliederung, sie erschließt sich als innere Wirklichkeit am äußeren Vorgang von Kultur an der Natur. Denn dieses Bewusstsein hat die Fä­higkeit, sich hineinzuversetzen in das An sich der Dinge. Es ist Reflexion, Zurückversetzung in den Zweck, der allwal­tet, und nur so lässt sich Reflexion erklären. Aus der Zurück­versetzung in das Zweck-Selbe hat es die Möglichkeit, sich in alle Dinge hineinzuversetzen. Es wiederholt die Aussetzung der Dinge aus dem Logischen, worin es nur mit dem Zweck-Sel­ben eins werden kann. In der Zurückversetzung ins Logische kann es die Aussetzung als Hineinversetzung wiederholen, aber es steht damit schon immer im Gleichnis des Erkennens, es wiederholt nichts im Sein. Damit klärt sich aber einiges auf für das Verständnis von Kultur und am Werkzeugnis der Kultur. Das Zeugnis der Kultur ist in seiner gegenständlichen Seite schon immer auf das Bewusstsein bezogen, es hat eine Bindung, die dem Naturgegenstand abgeht. Schon in seiner reinen Bezie­hung zum Erkennen ist eine förmliche Bildung vom Bewusstsein her eingeflochten. Also hat der Kulturgegenstand ein An sich nur, soweit er als Naturgegenstand zur Anschauung kommt. Im Zeugnis des Kulturwerks liegt die Kultur des Bewusstseins als Haltung eingeschlossen; danach erfüllt sich ja die Grundbe­dingung des Werkzeugnisses. Aber damit erreichen wir dennoch nicht den entscheidenden Grund dessen, was Kultur verursacht. Gewiss wird die Kultur des Bewusstseins in den „höheren“ For­men, womit wir es noch gar nicht zu tun haben, immer maßgeb­ licher. Die Materie scheint sich hier zu verflüchtigen. Für uns sind aber gera-

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4. Teil, 2. Kap.: Die Kultur als neue Wirklichkeit

de die Tongefäße der Kultur von Wichtig­keit, weil an ihnen das hervorkommt, was den Grund ausmacht. Es geht doch letztlich darum, dass die in der Materie erschei­nenden Gegenstände als Kultur etwas bezeugen, das im Bewusst­ sein nicht Kultur, sondern Natur ist. Unser Grundsatz, Kultur setzt Natur voraus, enthüllt sich also auch in zwei Richtun­gen, nämlich hin zum Gegenstand wie auch zum Bewusstsein. Kul­tur kann nichts hervorbringen, was nicht keimhaft schon in der Natur liegt, dennoch bedeutet sie eine Neuheit in der Wirklichkeit oder vielleicht eine neue Wirklichkeit und in diesem Sinne dann wohl auch eine neue Entwicklung. Damit ist die Verbindung zwischen Kultur und Reflexion gefun­den. Was die Reflexion in ihrem Selbstverständnis vorgefunden hat, dies bezeugt sich am Kulturhaften; die Reflexion liefert die Natur, deren Ausstrahlung als Kultur in der Materie wie­derleuchtet. Wir stehen wieder bei der Reflexion, deren Ein­richtung im Gefüge des Wirklichen noch genauer zu bestimmen ist. Dabei hoffen wir, dass uns das Ereignis Kultur ein neues Mittel liefert, um unserem Ziele näher zu kommen. Die Gegen­stände der Kultur sollen sich nun aussprechen in Bezug auf die Natur des Bewusstseins, und dabei geht es nicht nur um die Reflexion, die ja nur Teil eines Ur-Teils ist. Welche Änderun­gen stellen sich an diesem kulturschöpferischen Bewusstsein weiterhin ein? Es bleibt also von Wichtigkeit, dass wir an den Tongefäßen der Kultur beginnen. Es ließe sich freilich sagen, dass ihnen die allgemeine Bestimmung anhaftet, die menschliche Entwicklung zu fördern. Aber Kultur als Ereignis weist schon immer dar­ über hinaus, wie wir gesehen haben; ihr Merkmal macht gerade diesen Kreislauf nicht mehr schließen. Am Schema ausgedrückt heißt dies also, die unmittelbare Bindung des Daseins an das Wesen spielt kaum noch eine Rolle, sie ist nicht mehr als die Materie zu den Gefäßen. Kultur entfaltet sich als Spiel im Bereich der zweiten Bindung des Daseins an das Wesen. Doch enthält gerade diese Bindung in der Reflexion die Ausrichtung auf das Gesamt des Wirklichen, so dass eben nicht das Wesen, sondern die Reflexion zum Naturboden des Kulturhaften geworden ist. Jetzt erst kommen wir näher. Für das philosophische Den­ken ist es selbstverständlich, dass Kultur für den Menschen etwas Wesentliches ist. Wir müssen nun umdenken. Kultur ist keine Gegebenheit der Wesenszone. Damit löst sich aber auch der alte Zusammenhang zwischen Natur und Wesen, denn die Reflexion als Naturboden der Kultur kann nur als Erkennen und als Wesenloses begriffen werden. Kultur kommt wie ein Spiel zwischen Reflexion und Existentia, zwischen Vernunft, Sinne, Erinnerung und Gemüt auf; man möchte sagen, sie ergeht gerade in der Lösung vom Wesen. Gewiss betrifft die Kleidung, die Wohnung, die Nahrung auch das Wesen, aber immer weist das ei­ gentlich Kulturhafte darüber hinaus. Nicht das „Was ich esse“ ist Kultur, sondern das Mahl macht die Kultur.



§ 37  Die „vierte“ Zone des Wirklichen269

Zumindest in ihrer Erscheinung außen und in ihrer Haltung als Gemüt ver­ steht sich daher Kultur als Ereignis des Daseins. Indem das Wesen zurücktritt, ergibt sich die Kultur als Verhältnis zwi­ schen Reflexion und Dasein. Dann öffnet sich auch für das Da­sein eine Aussicht: Hat Kultur letztlich nur in der Reflexion ihre Ursache, oder begründet sie sich auch in einem neuen Da­ seinsboden? Kann dem Dasein eine neue Verfassung zukommen, die sich gar nicht als eine Form bestimmen lässt, weil solche eben Wesen ist? Mit einer solchen Aussicht hätten wir aber auch einen Lichtblick für die Reflexion. Zu ihr fehlen uns ja immer noch die Gründe, um sie vom übrigen Erkennen schroff abzusetzen, so wie sie sich doch auch zeigt. Welche Möglich­keiten bieten sich hier im Zusammenhang mit dem Dasein? Kultur erklärt sich jetzt gerade als Lösung von der Wesens­bindung, wenigstens soweit sich diese Bindung als Entwick­ lungsträger herausgestellt hat. Aber wird damit Kultur auch zur Lösung von jeder Entwicklung? Diese Frage muss noch unter­sucht werden. Dass Kultur in der Geschichte eine Bewegung dar­stellt, ist offensichtlich. Allein die Unterscheidung zwi­schen Natur und Geschichte, zwischen wesentlicher Entwicklung und geschichtlicher Entfaltung geht uns noch gar nichts an. Kultur bestimmen wir jetzt als die besondere Weise menschli­chen Bewusstseins, Wirklichkeit zu bestehen, zu verwalten, vielleicht sogar zu beherrschen. Das Tier besteht seine Wirk­ lichkeit anders; diese Einsicht versteht sich als unmittel­bare. Es gehört zum Grundzug von Kultur, soweit sie Haltung ist, dass kein Bereich der menschlichen Wirklichkeit von der Kultur ausgeklammert bleibt. Aus der Bestimmung der Reflexion bisher geht indes hervor, dass menschliche Wirklichkeit in Wirklichkeit schlichthin übergeht. Darin zeigt sich gerade die Lösung vom Wesen, dass die Reflexion offen ist zur Vertre­tung des Gesamten. Sie kann es nur sein, wenn sie nicht ein­gebunden ist in die Entwicklung.

4. Die „vierte“ Zone als Befreiung von der Sorge der Entwick­lung Es gehört jetzt zur Eigenart unserer Untersuchung, dass wir die Natur des Bewusstseins aus der erscheinenden Kultur auf­ klären. Was sich am Bewusstsein nachweisen ließ, haben wir bis hin zum Selbstverständnis der Reflexion erschlossen. Dabei musste es doch unser Anliegen sein, dass wir unsere Beobachtung rein gehalten haben von Bestimmungsstücken, denen bereits die Kulturbindung anhaftet. Eine solche Betrachtungsweise gehört zum Selbstverständnis der Metaphysik und ihr offenliegender Einsichtsgrund liefert auch den Grund der Rechtfertigung ei­ ner Metaphysik. Es ist ein großes Verdienst Husserls, dass seine „Ideen zu einer reinen Phänomenologie“ das alte Anlie­gen der Metaphysik erneut freigelegt haben. Leider hat

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4. Teil, 2. Kap.: Die Kultur als neue Wirklichkeit

sich die Phänomenologie nicht der „Wildnis“ der Metaphysik geöffnet, und ohne sie kann Philosophie nicht zu ihren fruchtbaren Gründen kommen. Mit dem Ereignis Kultur ändert sich unsere Betrachtungsweise, indem wir einen ganz anderen Gegenstand mit einbeziehen. Den­noch gehen hier Kulturphilosophie und Metaphysik nicht zusam­men, unsere Absichten bleiben rein metaphysisch, es geht um die Metaphysis menschlicher Wirklichkeit. Keineswegs soll da­bei der Schwerpunkt auf das Meta- gelegt werden, es geht darum, die Physis in ihrem vollen Ausmaß und aus allen Grün­den zu erfassen. Dabei soll uns nicht entgehen, dass wir unter Natur, so wie sie sich ergeben hat, die alte Metaphysis in ihrem ganzen Ausmaß verstehen dürfen. Diese Gleichsetzung ist nicht neu, denn unter menschlicher Natur versteht man gemein­hin die gesamte Wirklichkeit, nicht nur die leibliche. Fasst man die Natur als Auswirkung des Wesens, so geschieht es in der Metaphysik, dann wird die Natur zur Metaphysis. Für die menschliche Wirklichkeit ergibt sich jetzt, dass zwar die Kul­tur zu einem Ereignis geworden ist, das nicht wegzudenken ist von ihr, welches aber dennoch nicht zur Natur zu rechnen ist. Menschliche Natur, so wie sie besteht, bezeugt sich in Kultur, so müssen wir sagen; aber die Kultur gehört nicht zum Be­ stand der Metaphysis. Daraus leitet sich die neue Form der Betrachtung ab. Wir benötigen nun laufend die Kultur in ihren allgemeinen Merkmalen, weil wir die Natur des Menschen in ih­rer Besonderheit anders nicht nachweisen können. Wir bemerken am Sonderfall Mensch, dass seine Natur deshalb noch nicht seine gesamte Wirklichkeit ausfüllt. In der Kultur wollen wir ein Ereignis des Daseins sehen, sie lässt sich in der Wesenszone gar nicht unterbringen. Offenbar gehört es aber zum Spielraum des Daseins, dass es sich ein Um­feld schafft, welches so nicht einfach als Auswuchs menschli­cher Natur zu ihm gehört. Menschliches Bewusstsein hat nicht nur eine Wirklichkeit von Natur aus, es gehört zu seiner Na­tur, dass es sich eine erweiterte Wirklichkeit selber einrich­tet. Es erscheint aber auch so, dass die Natur dabei unverän­derlich bleibt. Wenn wir deshalb Kultur als eine erweiterte Wirklichkeit ansetzen wollen, so können wir sie auch als eine Zwischenzone zwischen menschlicher Natur und Weltwirklichkeit verstehen. Menschliche Wirklichkeit wird deshalb durch eine Naturbindung und eine Kulturbindung an die Welt geheftet, und sie erhält daraus ihre besondere Aufgabe, dieses Verhältnis zu bewältigen. Dass der Naturbindung auch die Wesensbindung einverleibt ist, versteht sich; Naturbindung enthält jedoch auch die Reflexion und das noch unerschöpfliche Dasein. Von der Zwischenzone Kultur wissen wir, dass sich menschliches Be­wusstsein darin mit einem häuslichen Wall umgibt, der nicht einfach der Entwicklung in der Wesensbindung gelten kann. Kultur erscheint jetzt in einer übergreifenden Zweckbestim­mung. Menschliches Dasein soll herausgelöst werden aus der tierischen Verhaftung an die



§ 38  Untersuchung zu einem Verhältnis von Kultur und Zweck271

Belange der Entwicklung; dies muss freilich auf der Grundlage der Natur geschehen. Wiederum zeigt sich dieser Fortschritt als eine Loslösung, aber dies­mal vollzieht sie sich nicht als etwas Wesentliches. Die Lö­sung ereignet sich als Spielraum, denn befreit von der Ent­ wicklung sind wir nicht im Geringsten. Es zeichnet sich also zunächst einmal nur ein Wall ab gegenüber der Wildnis, inner­halb dessen die Natur nicht weniger entwicklungsbedürftig da­steht als außerhalb. Die äußerste, aber bereits allgemeine Richtlinie von Kultur ist gefunden. Was sich hier ankündigt, wirkt als Freiheit von einer tierischen Verfallenheit an den Kreislauf der Wildnis. Innerhalb des Walles erhebt der Mensch seinen Kopf über die zwangsläufige Abfolge. Er sorgt für Vor­räte im Vorausblick, und er entledigt sich der Unterjochung der Not des Augenblicks. Zweifelsohne finden wir in der Reflexion die rein erkenntnismäßige Voraussetzung für den Frei­raum, die Freizeit, die Freizone in der Wirklichkeit. Die „vierte Zone“ hält sich frei von allen Bindungen. Ihre Mate­ rie ist die natürliche Materie, Dasein im Voraus, ihre Form ist einfach Zweckmäßigkeit als Befreiung aus tierischer Not.

§ 38  Untersuchung zu einem Verhältnis von Kultur und Zweck 1. Der Zweck der Kultur als Wohlbefinden des Bewusstseins An dem festgestellten Verhältnis muss uns wohl auffallen, dass der Befreiung das Merkmal einer Zweckmäßigkeit zukommen soll. Es könnte doch sein, dass wir dem Verhältnis etwas hinzufügen, indem wir ein Ergebnis von vorher anwenden. Losbindung und Zweck gehen aber hier in eines zusammen. Dann bleibt dennoch ungewohnt, dass uns ein Zweck geradezu als Zweckfreiheit be­gegnet; begnügt er sich doch mit einem bloßen Losgebunden­ sein. Der Losbindung vom Boden beim tierischen Organismus hatte das aufkommende Bewusstsein entsprochen. Dergleichen lässt sich hier nichts entnehmen, da wir die Kultur als ein Gebilde aus fremder Materie draußen, außerhalb der Natur an­gesiedelt haben. Allein dies liegt nun einmal in der „vierten“ Zone, dass der Mensch in seinem Spielraum und in seiner Freizeit die Wirklichkeit mit Kultur überzieht, ohne die Natur eigentlich zu ändern. Denn Kultur setzt Natur vor­aus. So steht es für uns fest. Betrachten wir indes die Kul­tur in ihrem weiteren Aufbau, so lässt sich freilich zweifeln, ob sich hier nicht ein Zweck bemerkbar macht, der doch mehr zum Inhalt hat als nur die Geborgenheit vor den Nöten und Ge­fahren der Wildnis. Es könnte also durchaus sein, dass die allgemeine Bestimmung einer Entsorgung nur darin allgemein sich hält, dass sie eben als äußerster Wall den gesamten Frei­raum einkreist. Dann wäre der Wall vom Freiraum darinnen zu unterscheiden.

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4. Teil, 2. Kap.: Die Kultur als neue Wirklichkeit

Wenn Kultur aus der Reflexion ihre erkenntnismäßige Ermögli­chung gewinnt, so muss von daher eine weitgehende Formlosig­keit erwartet werden. Reflexion als Zurückversetzung ins Logi­sche macht sich zwecklos bemerkbar, weil das Logische in sei­nem Sein als das Zweck-Selbe verschlossen bleibt. Die Einheit von Sein und Erkennen, die das Logische mitteilt, erscheint von innen ohne jede Seinsmacht. Die Hineinversetzung ins Wirkliche geschieht in der Anwendung des Logischen, und hier vollzieht sich im Gleichnis, was die Zurückversetzung am Lo­gischen nicht zu leisten vermag. Die Reflexion entnimmt am Gleichnis den Zweck. Entscheidend wird aber nun, dass Bewusst­ sein nicht nur unterscheidet; die Anwendung vollzieht sich als Tat. Die gesamte Anlage bringt nun im Gleichnis Sein und Erkennen zusammen. Darin behauptet sich jedoch das Geheimnis Kultur noch nicht, weil Erkennen an seiner natürlichen Ent­wicklung schon das Bewusstsein zu dieser Tateinheit veranlaßt. Allein dies geschieht nur im Rahmen der Kreisläufe. Kultur muss daher anders gesehen werden. Die Zurückversetzung am Logischen erzeugt eine neue Form der Hineinversetzung ins Wirkliche; daraus leiten wir ja die neue Natur des Bewusst­seins ab. Es handelt sich um zwei Seiten einer Sache. Das Be­wusstsein, genauer das Erkennen, findet hier seine überzeugen­de Bestätigung einer Wirklichkeit an sich. Es erfährt sich tiefer hineinversetzt in das Wirkliche, weil es zurückver­setzt wird in das logisch Selbe; darin begründet sich jedes Verständnis. Und jetzt erst ereignet sich Kultur, indem Be­wusstsein seine innere Eingründung anwendet. Vermöge seines Einblicks in die naturgesetzlichen Zusammenhänge ordnet Be­wusstsein die Dinge so zusammen, dass die Wildnis selber für es arbeitet. Die Entsorgung kommt also in der Weise auf, dass Be­wusstsein die Wildnis für sich arbeiten macht, die Wirklich­keit für sich wirken lässt. Fragen wir nun nach dem Zweck, so lesen wir ab, dass sich hier zwar ein neues Bewusstsein bezeugt, dass der Zweck aber im In­dividuum nicht weniger selbstsüchtig im Bewusstsein wirkt als im Rahmen der natürlichen Entwicklung. Warum sollte es auch anders sein? Die Art Mensch wirkt durch ihr Bewusstsein, darin unterscheidet sie sich von jeder Tierart. Ihre Überlegenheit strahlt sich als Beherrschung aus, sie lässt alles zu ihrer Entsorgung arbeiten, sie beutet alles aus, und daraus weitet sich ihre tierische Umwelt zur Welt schlichthin. So gesehen erscheint denn die Art Mensch am Ende der sich Entwickelnden, um alles für sich in Anspruch zu nehmen, um ihren Spielraum und ihre Freizeit zu genießen. Freiheit als Beherrschung der Wildnis, Freiheit als Freisein von Not und Gefahr und als Plattform zu einem möglichst genussvollen Leben. So sagt es unsere erste Richtlinie. Vergleichen wir damit das Ideal des reinen Schauens einer Wissenschaft, so erscheint uns dieses zwar ehrwürdig und hehr dagegen, aber es kann sich so nicht halten, weil es letztlich keinen Zweck hat. Es müsste denn das



§ 38  Untersuchung zu einem Verhältnis von Kultur und Zweck273

Zwecklose zum Ideal erhoben werden, das freilich an der Ent­wicklung seinen beständigen Widerspruch aushalten müsste. Dar­ um lässt sich dieses Ideal auch nicht mit dem Widerspruch ver­söhnen, indem man nun das reine Schauen als das wahre genuss­volle Leben erklärt. Denn das reine Schauen widerspricht sich als Ideal unentwegt in Lehre und Leben. Also behauptet sich jene Freiheit als Entsorgung hin zur Wildnis und als Genießen hin zum Bewusstsein doch darin mit mehr Überzeugung, dass sie aus der Einseitigkeit jenes Ideals wenigstens in der Lehre heraußen ist. Denn reines Schauen läuft für uns immer auf ei­ne fadenscheinige Zweckfreiheit hinaus, die sich auf Schritt und Tritt selber verleugnen muss. Es stimmt aber ganz mit dem Zweck bisher überein, wenn das Individuum Wohlstand des Daseins und Wohlleben im Bewusstsein sucht, weil es darin eins wird mit sich und dabei jene uner­reichbare Einheit des ZweckSelben in den Vergleich bringt. Wir dürfen sogar umgekehrt nun schließen, dass dieses Zweck-Selbe, wenn wir einen bewusstseinsmäßigen Übersprung in den Vergleich wagen könnten, seine Einheit von Wesen, Dasein, Er­ kennen als reines Wohlbefinden genießt. Jedenfalls bietet sich von der Warte aus, die wir jetzt einnehmen, nichts über­zeugender als Zweck an als die Freiheit zum lustvollen Leben, soweit die Entwicklung es erlaubt. Leicht wird es einsehbar, wenn dann auch das Streben nach Erkenntnis seinen hinreichen­den Zweck in der Anwendung zum Wohlleben findet. Denn dieses Ziel erweist sich als das wahrhaft letztgültige, da es doch die Einsicht in die Unterordnung zu zwingen vermag. So weit wäre damit der Vorrang des Genießens vor dem Wissen geklärt; weniger klar bleibt indes, ob dieser Inhalt nun voll allen Ansprüchen des menschlichen Bewusstseins genügt. Auch hier bleibt uns nichts anderes übrig, als die Gebilde der Ku­ ltur in ihren Absichten und Zielsetzungen weiterhin zu befra­gen. Denn das Leben genießen, ist ein klarer Leitspruch; hier legt sich nur der Urtrieb des Daseins aus, und im Willen äu­ßert sich so nur, was wir metaphysisch als Zweck für das Wirkliche in seinen Ur-Teilen herausgefunden haben. Alles Ge­ nießen ist eine Verselbigung im Gemüt, Erkennen aber kommt über die Unterscheidung nie hinaus. Daraus ergibt sich die Kluft, worin das Wirkliche hängt. Zwar wird es in der Reflexion eins mit dem Selben, aber als Sein ist es abgesetzt vom Selben, und es erreicht so die wirkliche Verselbigung nur im Dasein als Angleichung an das Selbe. Aber die Tateinheit be­darf eben ständig der Erkenntnis, weil der Zweck trotz seiner Allgemeinheit im Leben in die Zersplitterung geht. Indem die­ ses allgemeine Ziel nur als Gleichnis aus dem Wirklichen her­ ausgesucht und herausgefunden werden muss, steht es ganz von selber in der Auseinandersetzung. Damit aber wird die Ein­ sicht erst Weg und das Wissen erst Tat. Die Lehre vom Genie­ßen kann nicht aus der Logik hergeleitet werden, das Hinein­versetzen in die Dinge macht aber noch nicht das

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4. Teil, 2. Kap.: Die Kultur als neue Wirklichkeit

Wohlleben, der Zweck hält sich noch als ein absolutum abstractum. Das Genießen bedarf einer Lehre, es scheint die allerschwerste Lehre zu sein, und nun scheint doch die Metaphysik in ein neues Stadium zu kommen. Geht es uns darum, das menschliche Bewusstsein weiterhin zu bestimmen, oder wollen wir uns nur noch um eine Philosophie des Genießens bemühen? Wir sind jedoch nicht abgekommen vom Thema. Tatsächlich schneiden sich die Fragen hier, da wir das Bewusstsein aus seinen Werkzeugnissen bestimmen wollen. Denn anders geht es für uns nicht weiter.

2. Die Kultur als Ereignis des Daseins und das Zeugnis des Mahles Der Zweck, den wir jetzt einmal nur im Umriss herausgefunden haben, müsste doch wenigstens darin eine Fortführung der Ent­wicklung einschließen, dass er hin zum Daseinshandeln drängt, weil eben darin die Wirklichkeit ihr Gewicht erhält und dabei alles eingespannt wird. Nur entlang dieses Leitsinnes können wir es vertreten, dass wir ein lustvolles Leben über das blas­se Ideal eines Gelehrten stellen. Dabei hält sich indes unser Ziel noch so leer an genaueren Anweisungen, dass wir zwischen Lust, Freude und vielleicht noch höheren Gemütsbewegungen noch gar nicht scheiden können. Nur wissen wir jetzt, dass die Reflexion eigentlich in den Dienst des Gemütes gestellt wird und dass jede Einsicht der Reflexion auf eine Gemütsbewegung angelegt sein müsste. Alles entscheidet sich im Dasein; Kultur blüht auf als Ereignis im Dasein, was sie noch am Wesen fest­hält, erweist sich als Nähe zur Entwicklung. Die Kultur des Bewusstseins erscheint also, indem sie zunächst einmal die Entwicklung in sich selber fördert, denn nur in dieser Hinsicht kann ja Lust und Freude erwartet werden. In dieser Vollendung wächst die Natur über die Wildnis hinaus, aber darin bezeugt sich nur die neue Natur des Bewusstseins, und es wird deutlich, dass diese neue Natur sich eben nicht im Wesen ereignet hat. Die Reflexion kann nicht aus dem Wesen hergeleitet werden. Aber Kultur enthält nicht nur die Förde­rung der Entwicklung aus der Reflexion, sie tut es nur, weil sie schon einen Stand darüber hat. Denn es geht um die Lösung von den Schranken des jährlichen Kreislaufs, um die Sicherung eines festen Heimatbodens, der nicht dem natürlichen Wechsel der Wildnis ausgesetzt ist. Bereits die Haustiere haben sich in der Fortpflanzung unabhängig von der Jahreszeit gemacht, aber sie haben sich im Bewusstsein keineswegs geändert. Kultur hat nur der Mensch als Züchter, nicht das Haustier. Es ist die Reflexion, die mit Hilfe des Werkzeugnisses Dasein in den Kulturzustand versetzt. Das Bewusstsein ersinnt in der Reflexion Mittel, die kei-



§ 38  Untersuchung zu einem Verhältnis von Kultur und Zweck275

neswegs als Wesensgleichnisse sich verstehen lassen. Gewiss spielt das Wesen noch eine Rolle da­bei, aber das Bedeutsame macht sich darin bemerkbar, dass es hier gar nicht mehr um die Entwicklung geht, sondern um die Verklammerung der Entwicklung mit der Kultur und um die Ein­gründung der letzteren in den Boden der Wildnis. Hier lesen wir die große, grundlegende Bedeutung des Ackerbaus als Naht­stelle ab. Die Nahtstelle hat immer die Richtung zur Kultur; die Entwicklung soll immer schon hereingenommen sein in die neue Zone, es gibt im menschlichen Dasein grundsätzlich nichts, das sich dem Anspruch der Kultur ausgliedern könnte. Darum erscheint die unterste Schicht der Kultur als wesent­lich, und ohne sie wäre die Kultur zur Entfremdung an der Wildnis eingeleitet. Als den eigentlichen Sinn der Kultur be­merken wir aber nun das Verhältnis von Reflexion und Dasein, wobei alles darauf hindeutet, dass Dasein überwesentlich wer­den soll. Ein völlig neues Verhältnis zeichnet sich ab. Das Wesen bleibt wandellos, darüber kann sich die Natur nicht hinwegsetzen; dennoch gleicht das Wesen nur dem Boden, worauf das Haus Kultur gebaut wird, und darum errichtet sich Kultur als Ereignis des Daseins. Dieses Ereignis soll uns hier je­doch nur Aufschluss geben über die Verfassung menschlichen Be­wusstseins. Die Werkzeuge, welche die Reflexion anfertigen lässt, indem sie alle Vermögen wiederum einspannt, stehen jenseits aller Ent­wicklung, und nichts bleibt ihnen ferner als ein Wesen. Die­ser Grundzug muss beachtet werden. Solche Mittel haben indes nur den allgemeinen Zweck, Dasein mit der Reflexion zu vermit­teln, und jetzt stellen wir doch etwas sehr Bemerkenswertes fest. Auf der Voraussetzung eines körperlich besonders geeig­neten Wesens, spielt sich eine Angleichung von Dasein an die Reflexion ab. In diesem Verhältnis der Angleichung entdecken wir alles, was Kultur heißt und aus ihm entnehmen wir die Verfassung der Natur des menschlichen Bewusstseins. Bis jetzt können wir sagen, dass Kulturarbeit dahin geht, die Entwick­ lung als einen notwendigen Ablauf unter sich zu lassen. Kul­ tur strebt nach einem Enthobensein, um die inneren Anlagen des Bewusstseins nach außen zu bringen. Aller Ursprung liegt bis jetzt in der Reflexion. Was sich so als Kulturbildung voll­ zieht, zeigt nur jenes bereits beschriebene Verhältnis: Das Zurückversetztsein ins Logische überträgt sich als Fähig­keit, sich hineinzuversetzen in die Abläufe der Wildnis. Eben daraus ergeht jedoch die Möglichkeit, das Naturgesetz­ li­ che in der Zone des Daseins zu überwinden. Dasein bietet die Mög­lichkeit allein, wobei dieses Dasein nur die Materie der Kultur abgibt. Denn nur die Reflexion liest aus den Mög­ lich­kei­ten des Daseins, was sich bilden lässt, und damit haben wir die neue Weise, die nun an die Stelle der Entwicklung getre­ten ist. Wo in der Wildnis die Entwicklung des Wesens zu Ge­bote stand, da tritt nun die Bildung des Daseins in der Kul­ tur auf. Aber die Kultur setzt die Natur voraus, Einblick in das Notwendige ist die Natur der Reflexion.

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4. Teil, 2. Kap.: Die Kultur als neue Wirklichkeit

So wie sich die Leitgedanken jetzt zusammenfügen, müssen wir in der Reflexion den Baumeister sehen, für den Dasein zum neu­en Baugrund wird. Aber dann müssten wir doch noch weitergehen, weil dieses Vermögen nicht nur als Baumeister am Wirken ist, sondern als neues Vermögen im Erkennen erst den neuen Bau­grund bewirkt. Hier muss indes noch einiges ungeklärt bleiben, weil wir die Zusammenhänge nicht im Bestand, vielmehr im Ab­ lauf beschreiben. Genügt die Reflexion allein für die Verfas­ sung des Bewusstseins? Dann wäre das Dasein nur ein tierisches im Grunde, das mittels der Reflexion über sich hinausweist. Oder bewirkt die Einrichtung einer Reflexion mit anlagenmäßi­ger Notwendigkeit ein verändertes Dasein, welches seinerseits erst befähigt wird, die Einsichten der Reflexion in die Tat umzusetzen? Die Fragen stoßen aber zusammen mit jenem anderen Fragenkreis, der uns am Erkennen schon unbeantwortet geblie­ben ist. Wir haben den Grund nicht gefunden, der die Reflexion als neue Kraft im Erkennen verursachen sollte. Wir sind des­halb gehalten, die Fragen so in der Schwebe bestehen zu las­sen. Der innere Baugrund der Metaphysis hält sich verschlos­sen, und so sind wir nur befähigt, einen Weg zu gehen, der sich eigentlich umgekehrt zum metaphysischen Grund verhält. Wir können Inhalte wie Freiheit, Sittlichkeit und ähnliche Anlagen aus der menschlichen Natur nicht ableiten, weil diese als feste Überzeugung zwar in der Kultur und der allgemeinen Überlieferung vorhanden sind, als metaphysische Gegebenheit jedoch nicht einsichtig werden. Was uns aber in der Weise einsehbarer Wirklichkeit gegeben bleibt wie unsere Einsichten bisher, sind die Gebilde, Denkmäler und Wahrzeichen der menschlichen Kultur. Dabei geht es uns freilich nicht darum, was diese uns offen mitteilen, denn so hätten wir nur unge­prüft ein Apriori aus einer Überlieferung übernommen. Es sind Zeichen und Gleichnisse an sich, deren Vorhandensein und Ei­genart gegenüber der Wildnis uns Auskunft geben sollen, indem wir das Erzeugnis als Zeugnis für eine Ursache hinter der vordergründigen Kulturwelt lesen. Es steht daher so, dass wir das Verhältnis von Dasein und Reflexion als Ergebnis einer Kulturbildung befragen; näher sind wir sonst noch nicht herangekommen. Doch deuten die neuen Ge­bilde in ihrem künstlichen Dasein durchweg eine neue Befrei­ung an. Was sich am Bewusstsein als Zweck der Entsorgung aus­gesprochen hatte, das zeigt sich hier gegenständlich als das Beständige, welches nicht der Entwicklung unterworfen ist. Es ist zumindest nicht sterblich wie diese am Wesen. Gewiss liegt diese Dauerform in der toten Materie, doch dabei darf nicht übersehen werden, dass die Dauerform in ihrer Unvergänglich­keit ein Ausdruck des Bewusstseins bleibt. Damit greifen wir indes nur an das Instrumentarium, und wir wissen, dass der in­nere Gehalt der Kultur in den unvergänglichen Weisen besteht, die auf diesem Instrumentarium gespielt und so auch zum Ge­ genstand werden. Zwei Seiten dürfen wir jetzt wieder in Be­tracht ziehen, und dabei nehmen



§ 38  Untersuchung zu einem Verhältnis von Kultur und Zweck277

wir einen Überstand auf der gegenständlichen Seite wahr. Die Entsorgung allein, deren Zweck im Wohlleben besteht, reicht nicht hin, um das Ausmaß Kultur, welches nun einmal besteht, aufzurichten. Die Ent­sorgung lässt sich nicht in einem vordergründigen Freisein und in einem bodennahen Genussleben verstehen. Es zeigt sich viel­mehr so, dass diese Entsorgung überhaupt nur möglich wird, weil sie die Auswirkung einer neuen Einstellung des Bewusst­seins zur Wirklichkeit ist. Der Zweck eines genussvollen Le­bens hält sich ganz im Einklang mit der Entwicklung, und er widerspricht auch keineswegs der Kultur; er muss die Bereiche organisch verschweißen. Aber innerhalb seiner Geltung werden nun Ziele durchsichtig, die ihn geradezu unterordnen möchten. Erneut können wir auf die einzigartige Bedeutung des Mahles hinweisen, an dem sich die Züge einer allseitigen Verknüpfung von Zonen und Bereichen herausstellen. Hier wird das Mahl nun zum gegenständlichen Ereignis dessen, was wir am Zweckgehalt eben festgestellt haben. Wie dieser als verwachsene Einheit von Entwicklungszweck und Kulturzweck noch nahe am Boden wal­tet, so erscheint das Mahl als naturgesetzliches Gefäß, wel­ ches offen ist für die gesamte Welt der Kultur. Denn es gibt kein Ereignis im Leben der Kultur, sei es auch noch so hoch über aller Entwicklung, welches durch das Mahl nicht würde­ voll gefeiert würde. Notwendigkeit, Genuss und alles, was die Kultur in ihrem Ausmaß birgt, werden hier zusammengeführt. Vergleichen wir die Bedeutungen des Mahles, so entgeht an­scheinend kein Bereich der Wirklichkeit in allen ihren Rich­tungen, den das Mahl nicht irgendwie ankündigt. Seine kraft­volle Sinnbildhaftigkeit ergeht daraus, dass es als unmittel­bares Ereignis an der Entwicklung dennoch in besonderer Weise die neue Weise des Menschlichen verkündet. Das Mahl ist wohl das ursprünglichste Zeichen des Menschseins, es ist als Grundgesetz der Entwicklung dennoch schon immer Eingriff der Kultur in diese. Menschliches Mahl liegt nie auf der bloßen, nackten Entwicklung, es bedeutet dem Menschen weit mehr als die Kleidung, es bezeugt eine neue Weise des Daseins. Wenn so das Mahl eine allgemein vermittelnde Aussage annimmt, dann dürfen wir gerade am Festmahl die Besonderheit menschli­ chen Daseins verstehen. Das Ereignis deutet in seiner ur­sprünglichen Frische und in seinem sinnenhaften Genuss eigent­lich den stärksten Gegensatz an, nämlich ein unvergängliches Ereignis, welches zunächst einmal alle Gebrechen der Zone ab­streifen will. Aber dieses Ereignis findet andrerseits auch kein stärkeres Ausdrucksmittel in der Zone als die Speise. Das Unentbehrlichste des Kreislaufs soll Verbindung herstel­len zu einer Wirklichkeit, die erhaben sein soll über das Ge­setz der Wildnis. Menschliche Wirklichkeit drückt hier ihr Geheimnis, die verborgene Zweigründigkeit, in einer erschei­nenden Doppeldeutigkeit aus.

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4. Teil, 2. Kap.: Die Kultur als neue Wirklichkeit

Jetzt können wir das Besondere am Menschen im Rahmen unseres Schemas bisher bestimmen: Menschliche Wirklichkeit, soweit sie sinnenhaft erscheint, zeigt sich in einer Zweideutigkeit des Daseins. Wildnis und Kultur weben hier unmittelbar und wohl untrennbar ineinander. Das Einzigartige dieser Wirklich­keit äußert sich hier, mag auch die Reflexion vielleicht die ursprünglichste Ursache sein. Was Kultur hervorbringt, will Unvergänglichkeit; was Entwicklung hervorbringt, geht den Kreislauf von Entstehen und Vergehen am Wesen an. Auch die Ent­wicklung verfolgt im Wesen ein zeitloses Ziel, doch fällt das Ziel mit dem Zweck nicht zusammen. Das Wirkliche als Indivi­duum vermag den Zweck nicht zu halten. Indem es immer erneut verwest, bewahrt sich das Wesen vor dem Verfall, aber es deu­tet als Ur-Teil auch nur den Zweck an. Dass es am Individuum keine Mehrheit der Wesensform geben kann, lehrt die Erfahrung der Wirklichkeit.6 Darum kann Kultur, wenn sie aus dem Dasein kommt, gar nicht von einem inneren Wesen geleitet sein, und ihre innere Einheit bekundet sich als eine wesenlose und des­halb leblose. So gesehen bemisst sich ihre Unvergänglichkeit als eine nichtssagende im Vergleich mit der Höhe des Sterbli­chen. Aber das menschliche Dasein schafft sich in den Kultur­formen neue Daseinsformen, indem sein Wille als Wesensform da hineinfließt. Es sind Kunstgebilde, worin Wesen, Dasein und Erkennen eins geworden sind. Darin bezeugt sich das Ereignis Kultur und damit deutet es ein neues Dasein im Bewusstsein an.

3. Die Kultur als Zeugnis eines neuen Daseins Nicht in ihrer Gegenständlichkeit, sondern in ihrer Bedeutung liegt das Ereignis der Kultur. Menschliche Wirklichkeit ent­hält ein neues Verhältnis zum Zweck-Selben, und die Kultur bezeugt es. Darin liegt einzig und allein der Sinn unserer metaphysischen Kulturbetrachtung. Das neuartig Hervorge­ brachte birgt eine Einheit, die der Mensch in seine anorgani­sche und organische Umwelt als etwas Fremdes aussetzt, allein dieser Fremdling macht ihm die Umwelt zur Welt. Er überzieht die Wildnis mit Kultur; das Spannungsfeld von Kultur und Wildnis, von Bildung und Entfremdung ist damit gegeben. Es enthüllt sich als das ursprünglichste Anliegen einer Kultur­ philosophie, für unsere Betrachtung liegt es bereits im Ab­seits. Kultur als Ereignis des Daseins offenbart einen neuen Zweck, oder der Zweck offenbart sich in einer neuen Innerlichkeit, die notwendig in der Materie sich äußert. Ist es denn nicht verständlich, dass diese neue Weise unter die Ebene des Leben­digen gehen muss, weil sie nur hier den zweckmäßigen Spielraum findet. Denn Eingriff auf der Höhe des Lebendigen 6  Es gibt keine tierische und pflanzliche Entwicklung, mag sie auch in verschiedenen Stadien völlig verschiedene Formen annehmen, die dem widerspricht.



§ 38  Untersuchung zu einem Verhältnis von Kultur und Zweck279

würde nur Einheiten zerstören. Eingriffe auf der Höhe des Lebendigen sind dem Kulturbauer als Tier gegeben, darin bewahrheitet sich die Zweideutigkeit seines Daseins. Was der Kulturbauer hervorbringt, kann nicht als weitere Annäherung an das Zweck-Selbe angesehen werden, denn die Kunstwesen haben nicht die Höhe des Lebendigen. Die Bedeutung muss im Werkzeugnis gesehen werden. Kultur im Dasein vertritt die Natur des Menschen als eine weitere Annäherung an das Zweck-Selbe. Unsere Betrach­tung hat zum Ziele, die Verfassung der neuen Wirklichkeit ausfindig zu machen. Der Mensch wirkt als Tier. Zeugung, Geburt, Ernährung und Tod liegen restlos im Bereich der Entwicklung der Säugetiere. Aber Mahl, Vermählung und Begräbnis mit dem Begräbnismahl weisen inmitten der Entwicklung in die andere Richtung des Daseins. Sei es der Wille zum Jenseits einer Entwicklung oder sei es das Zeugnis zum Erhabensein über die Entwicklung, es bleibt bei der Vorstellung eines neuen Daseins, die allem Ku­lturschaffen zu Grunde liegt. Dann bezeugt aber eine solche Vorstellung nicht in erster Linie die Zeitlosigkeit des We­sens und des Erkennens, dies käme nur einer Flucht aus der Wirklichkeit gleich. Die Deutung gilt einem Dasein, welches dem Verfall der Entwicklung nicht ausgesetzt ist. Das Begräb­nismahl will Beweiskraft zum Weiterleben sein. In all dem macht sich ein Hinweis zur Verfassung menschlichen Bewusst­seins geltend. Die Vorstellung eines anderen Daseins ohne We­ sen wird natürlich sinn- und verständnislos. Einen Verständ­nisgrund finden wir nur, wenn wir dieses neue Dasein als ein neues Verhältnis am Wesen annehmen. Damit begegnen wir frei­lich dem uralten Glauben der Menschheit, und es hat den An­schein, als ob der Kultur die Unsterblichkeit schlichthin zu Grunde läge. Doch die alten Kulturen sind untergegangen wie die Menschen auch, und die Unsterblichkeit des Daseins hält sich in der letzten Entäußerung von Tongefäßen. Unsterblich­keit besagt im übrigen nicht mehr als eine bloße Verneinung, und sie vermag so überhaupt nichts Zweckmäßiges zum Ausdruck zu bringen. Eine neue Form des Daseins läge allerdings im Zweck, so wie er sich bisher uns erschlossen hat, und Kultur bezeugt das Neue. Wir finden uns aber an den Ausgang unseres offenen Fra­ genkreises zurückgeworfen vor. Genügt denn die Reflexion nicht, um Kultur zu zeugen? Dann erklärt sich menschliche Wirklichkeit als ein verständiges Tier. Es ließe sich doch leicht die Reflexion als ein neues Vermögen in der Zone des Erkennens ansetzen, da doch dieser Bereich offensichtlich sich als besonders gegliedert erweist. Dann liegt es durchaus im menschlichen Wesen, in Gestalt, Kopfform und Händen, dass es sich in besonderer Weise als Gefäß für die Reflexion eig­ net, jedoch wirklich nur als Gefäß, keineswegs als Grund der Reflexion. Was aber Dasein betrifft, so wäre an ihm überhaupt nichts dafür zu entnehmen; dieses Dasein fände keinen Grund, sich vom Dasein eines Regen-

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4. Teil, 2. Kap.: Die Kultur als neue Wirklichkeit

wurms zu unterscheiden. Mit sol­chen Überlegungen geraten wir aber schon am Zweck bisher in eine starke Verlagerung. Denn ein so mit Verstand begabtes Tier würde doch nur zu einer listenreichen und selbstsüchti­ gen reißenden Bestie. Erkennen in seiner tierischen Form wäre über seine bloße Einspannung in den Dienst der Entwicklung einerseits hinaus, aber seine Fähigkeiten fänden andrerseits keinen Zweck, der darüber hinausginge. Ein solches Erkennen träte als ein sonderbar einseitiges und zweckloses Ereignis auf, und es würde doch seine Fähigkeiten in solcher Weise für seine eigene Entwicklung in Anspruch nehmen, dass es das Gleichgewicht der Wildnis überall mit seinem Auftreten stören würde. In der Tat müsste man eine so verstandene menschliche Natur schon auf dem Baugrund der Wildnis als eine Fehlent­wicklung deuten. Das Bewusstsein eines verständigen Tieres er­ fährt indes einen schroffen Widerspruch, wenn wir es mit dem Zeugnis der Kultur in Beziehung bringen. Es sind nicht ihre Daseinsgründe bisher, woran alles auseinanderbricht. Der Zweck eines genussvollen Lebens hält sich offen für jeden neu­en Inhalt, denn nur so verschließt er sich nicht in die Ein­seitigkeit eines listigen Tieres. Allein das Auftreten der noch folgenden Kulturformen wie Sittlichkeit und Religion verhindert nun auch ein so veranschlagtes Bewusstsein: dass es seine neue Erscheinung in der Weltwirklichkeit einfach auf Grund einer neuen Anlage im Erkennen bezieht. Das Ereignis Kultur, so wie es im menschlichen Leben sich eingerichtet hat, verrät ein neues Verhältnis zur Zeit. Zeit kann ursprünglich im Erkennen nicht gegeben sein, weil sie im Gemüt aufkommt, wie alle ihre Kennzeichen bekunden. So fehlt dem Erkennen für sich die Zeitvorstellung; es wird der Zeit in der Daseinserkenntnis inne (subjektive Zeit), und es er­wirbt sich im Vergleich mit den äußeren Erscheinungen den Maßstab als „Vorstellung“ Zeit7 (objektive Zeit). Zeitbewusst­ sein benötigt daher in seiner ursprünglichsten Weise keine Reflexion, es wird durch ihr Hinzukommen dann aber auch nicht grundsätzlich verändert. Dagegen begründet sich der Denkin­halt eines Zeitlosen zunächst einmal als Schluss der Reflexion an der Erfahrung. Die Zone des Wesens kann in ihrem Bestand nicht die Entwicklung enthalten. Also kennt die Reflexion sehr wohl den Unterschied zwischen einer metaphysischen Zeitlosig­keit, die sie an der Erfahrung erschließt, und einem logi­ schen Urteil (geometrische und mathematische Axiome), welches als Denkgesetz a priori bereits ohne zeitliche Beziehung ge­formt ist.8 Aus keinem der beiden Ursprünge lässt sich aber unmittelbar eine zeitlose Wirklichkeit, die sich als zeitlo­ses Dasein zu erklären hätte, herleiten. Auf der anderen Sei­te müssen wir uns jedoch vor einem Kurzschluss hüten. 7  Vgl.

§ 26. 1. u. 5. geometrischen Axiome enthalten jedoch die Raumanschauung in ihrer idealen (nicht physikalischen) Vorstellung. 8  Die



§ 38  Untersuchung zu einem Verhältnis von Kultur und Zweck281

Wenn im Zeugnis der Kulturen nun Inhalte und Vorstellungen gegen­ständlich werden, die ein Jenseits der Entwicklung beanspru­chen, so dürfen wir eine so zum Tragen kommende Substantiali­tas nicht mit Zeitlosigkeit gleichsetzen. Es kommt also in dem Kulturbewusstsein der menschlichen Gesellschaft, um dieses Wort einmal zu gebrauchen, nicht so sehr etwas Zeitloses zum Vorschein, sondern vielmehr ein neues Verhältnis im Dasein zur Zeit. Aber müssen wir ein neues Verhältnis des Daseins zur Zeit, das nicht im Wesen und nicht im Erkennen allein be­gründet sein kann, nicht als neues Dasein begreifen? Es ist klar, dass eine phänomenologische Methode in ihrer strengen Form, so wie sie Husserl in einer Selbsteingrenzung bis zur Selbsteinkerkerung geübt hat, hier nicht mehr zu­langt. Wir verwenden Kultur noch nicht einmal als Wirkung, um ihre Ursache Natur zu erschließen. Kultur reicht hier ledig­ lich hin, um als Zeugnis eine innere Natur zu beglaubigen. An jener Stelle, wo sich die „transzendentale Reduktion“, in der wir beginnen mussten, aufgesprengt hat, lässt sich durchaus die innere Geschlossenheit von Gedanke und Erfahrungsinhalt auf­rechthalten. An dieser Stelle hier begegnen wir indes einem Jenseits im eigenen Bewusstsein, das sich aus Gründen auswei­ sen muss, die nicht in jener Offenheit gegeben sind, die bis­her angestanden hat. Wie weit darf aber dann philosophische Spekulation gehen? Die alte Metaphysik hat sich diese Frage überhaupt nicht gestellt. Heute verbietet man Metaphysik schlichthin, weil sie Spekulation ist. Aber was darf unter „reinem Schauen“, so wie es Husserl haben will, verstanden werden? Sein Richtmaß einer „intuitio sine comprehensione“ erweist sich in Bezug auf Gegenstand (Noema) und Begriff (Noesis) schon als schwere Aufgabe. Dieses Richtmaß wird je­doch daran schon uneins in sich, dass es von einem Vernunftbe­ griff ausgeht, der sich selber bereits als eine Spekulation im Sinne einer bestimmten Metaphysik versteht. So soll einmal kurz der Standort beleuchtet werden, an dem wir uns befinden, um überzusetzen in ein Jenseits der Ent­ wicklung. Was sich jetzt noch als tragfähig erweist, sind einzig und allein Bestimmungen, welche sich als Verlängerung unseres Zweckdenkens bisher ausziehen lassen. Es bedeutet, dass wir völlig abhängig werden von der Verbindlichkeit einer zweckmäßigen Erfahrung im Bewusstsein und einer zweckförmigen Erfassung im Denken. Es zeigt sich jedenfalls so, dass es im­mer nur die Zweckbestimmung ist, welche Brücken schlagen kann. So wie ich aus den Denkgesetzen allein die Vereinbarung von Sein an sich und Erkennen nicht ableiten kann, so langen auch die bisher gemachten Festsetzungen nicht mehr zu ohne die Lichtstrahlen des Zweckes. Gewiss setzt das Zwecknetz des Bewusstseins die Denkgesetze voraus, aber nichts reicht so weit wie die Verbindlichkeit des Zweckes. Was für das Auge das Licht, ist für Bewusstsein der Zweck. Darum reicht auch die Voraussetzung der Denkgesetze

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4. Teil, 2. Kap.: Die Kultur als neue Wirklichkeit

nicht völlig hin, um Zweck­den­ken zu untermauern. Denn die Denkgesetze verstehen sich nur als Grundform im Logischen, Zweckdenken schließt das Be­wusst­sein zusammen. Wenn Kant die Denkgesetze nur am trans­zen­den­ talen Schema zur Anwendung kommen lässt, so dürfen wir in der Zweckmäßigkeit ein nicht weniger umgreifendes Schema se­hen. Es reichen also die bisher gesammelten Inhalte und Zusammen­fugungen nicht hin, um weitermachen zu können. Die Denkgeset­ze bleiben wie bisher gleichgültig. Das Zeugnis der Kultur hält aber gewaltige Inhalte bereit, die nicht der Theologie und der Religionswissenschaft zu überlassen sind. Die Inhalte entsprechen als Werkzeugnisse einer Metaphysis, zu der als Jenseits der Entwicklung mehr gehört als nur eine We­senszone. Denn diese muss jeder Pflanze schon zukommen. Kultur erinnert an eine menschliche Natur, deren Dasein sich nicht im Leben erschöpft, sie weiß um einen weiteren Daseinsboden, der zum Wesen einfach hinzukommt, ohne dieses zu verändern. Dies lässt sich natürlich auch umgekehrt denken. Es könnte der andere Daseinsboden der ursprünglichere sein. Das Zeugnis lässt sich demnach in zweifacher Hinsicht betrachten. Als blo­ßes Zeugnis ist es gegeben, so wie mir ein sinnenfälliger Ge­gen­stand ge­geben ist. Der Gegenstand bezeugt nur sich selbst, das Zeug­nis deutet nur in ein Jenseits seiner eigenen Wirk­ lichkeit. Es kann also nur seine Zweckmäßigkeit auf dem Un­terbau bisher geprüft werden.

4. Die Kultur als Zweckbestimmung der menschlichen Natur Für die metaphysische Betrachtung enthalten also Natur und Kultur mehr als nur die Inhalte einer Natur- und einer Kul­turphilosophie. Natur meint hier nicht in erster Absicht die Wildnis gegenüber der Kultur, sondern die menschliche Natur, soweit in ihr die Anlage zur Kulturbildung schon da ist und soweit diese Natur in der Kultur ihre Zweckbestimmung findet. Deshalb enthält die menschliche Wirklichkeit mehr als die bloße Natur, während beim Tier Natur und Wirklichkeit zusam­menfallen. Das Tier wirkt lediglich für seine natürliche Ent­ wicklung, die Menschen arbeiten für ihre Kultur, wobei die Haustiere eingespannt werden. Die bloße Absicht der Entsorgung genügt in keiner Weise, um Kultur zu erklären, weder der Natur noch der Kultur nach. Kultur erweist sich vielmehr als untrennbares Ineinander von Entsorgung und Bildung, weil die Kultur zur Naturanlage ge­ hört. Es sind Gebilde, die entstehen, um das menschliche Le­ben zu überdauern, während menschliche Entwicklung unter ih­nen hinwegstirbt. Ist es nur ein Wunschdenken, etwas über den Tod hinaus zu schaffen? Wenn das Gebilde eine innere Natur bezeugt, so bezeugt



§ 38  Untersuchung zu einem Verhältnis von Kultur und Zweck283

es nur deren Besonderheit. Diese bestände dann darin, dass sie irgendwie fortbesteht. Allein die bloße Parallele zwischen Gebilde und ungreifbarer Natur wäre tat­sächlich nur ein Wunschdenken ohne eigentliche Beweiskraft. Wenn aber Kultur im Zweck der Natur liegt, so muss mehr ent­halten sein als bloßer Wunsch. Es geht um die weitere Annähe­ rung an das ZweckSelbe, was sich in den Gebilden bezeugt; die Entwicklung soll überwunden werden. Alle Kultur hat eine andere Richtung als bloß selbstsüchtige Entwicklung, mitten im Kreislauf hält sich eine andere Kraft, scheinbar frei­ schwebend und grundlos. Sie errichtet einen Überbau, während Entwicklung weiterkreist, und sie trägt so ein allgemeines Kennzeichen. Sie baut einen Grund über dem Kreislauf, von dem aus sie herabblickt auf diesen. Aller Kreislauf hat als Mit­ telpunkt das tierische Selbst, Kultur aber ergeht als Selbst­überwindung, und dennoch waltet in ihr die Idee einer Un­sterblichkeit des Selbst. Es liegt kein Widerspruch vor, es liegt vielmehr im Zweck, dass dieses Selbst eine neue Ordnung im Dasein bezieht. Ent­wicklung kennt nur sich, und sie gelangt im Bewusstsein zu ih­ rem ichverkrampften Mittelpunkt, worin alles zusammenströmt. Die Annäherung an das Zweck-Selbe erreicht aber in einem sol­chen tierischen Ich ihr Ende. Leben in seiner körperlichen Abgeschlossenheit nimmt nur Teile seiner Umwelt für sich in Anspruch, in seinem zweckmäßigen Streben erscheint die Mit­teilung an die Umwelt gar nicht eingerichtet. Diese geschieht nur als Abfall von der Höhe des Lebens. Nun erweist sich aber die Zone des Erkennens grundsätzlich als Ausblick und Aus­sicht in eine andere Richtung; als sich Hineinversetzen in Anderes enthält es die Anerkennung des Anderen. Allein tieri­sches Erkennen zeigt sich völlig hineingespannt in die Bahnen der Entwicklung, Kulturbildung dagegen entspringt einer ande­ren Absicht. Es liegt nicht im Erkennen, wenn hier eine völ­lig neue Zweckmäßigkeit aufkommt, denn diese Zone hat sich in ihrer allgemeinen Einheit immer wieder als eine solche ge­zeigt, der mit dem Sein auch die Zweckbeziehung abgeht. Daher ist auch nicht anzunehmen, dass von der Reflexion die tragen­de Kraft zu einer neuen Ausrichtung im Bewusstsein ausgeht. Der Anstoß, welcher im Bewusstsein Kultur veranlaßt, kann in der Reflexion nur zum Bewusstsein gelangen, so wie alles Bewusste nur im Erkennen zu Gesicht kommen kann. Die Macht zur Kul­tur lässt sich nicht allein aus dem Verstand der Naturgesetze erklären, sie muss als ein gemüthaftes Erhabensein über die Entwicklung gedeutet werden. Aus diesem Grunde nehmen wir im Dasein einen neuen Tragegrund an, der mitten im Kreislauf des Organischen seine eigene Ordnung bewahren kann. Kultur will hinaus über den Zerfall der Ur-Teile, dem die menschliche Wirklichkeit ausgesetzt ist, und darin klafft nun doch ein offener Widerspruch. Denn was die Kultur dem Grab entgegenstellt, ist ein Spielzeug, das überlebt, weil es kein Leben hat. Es wäre in der Tat nur eine hilflose Ges-

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4. Teil, 2. Kap.: Die Kultur als neue Wirklichkeit

te, wenn wir den Zweck nicht weiterhin entdecken und verfolgen könn­ten. Dieser Zweck hat sich indes bewährt in der Entsorgung, und da diese sich von der Bildung gar nicht entflechten lässt, müssen die Spielzeuge doch als Zeugen ernst genommen wer­den. Denn es ergibt keinen Sinn mehr, dass wir die Kultur als Folge einer technischen Überlegenheit erklären, zu der die Menschen auf Grund eines sich entwickelnden Gehirnes gelangt sind. Man muss es anders sehen: Menschliches Bewusstsein mei­ßelt sich an der Materie ein Sinnbild oder ein Gleichnis sei­ner Verfas­sung. Es gibt kein Lebendiges, welches nicht ver­ west, also nicht in Wesen und Dasein zerfallen würde. Leben ereignet sich in Materie. Die Werkzeuge, die menschliches Be­wusstsein schafft, deuten ein neues Verhältnis von Wesen und Dasein an. Damit könnte auch ein Hinweis auf den Verstand ge­geben sein, der sich an den Werkzeugen offenbart. Es ist die­ses neue Da­sein am Wesen, welches Erkennen erst in den Zu­stand versetzt, den wir Reflexion nennen. An der Nahtstelle von Entsorgung und Bildung muss sich der Zweck in seiner weiteren Innerlichkeit offenbaren. Die Ent­wicklung steht als Selbstzweck für sich da, aber sie tut es nur als Vergleich zum Zweck-Selben. Dieses erklärt sich als letzter Anstoß für die Kraft des strebenden Daseins und als innerste Macht, welche die Ur-Teile schließen lässt. Nur als Jenseits der Ur-Teile, nur als das Selb-Andere genügt es dem Anspruch der Reflexion, dem einzigen, was hier übertragbar bleibt. Mit dem Kulturgerät träte so nur ein Mittel zum Selbstzweck menschlicher Entwicklung auf den Plan, wenn die­ses Gerät nicht schon ein Zeugnis für einen Neuansatz des Zweckes wäre. Die Entsorgung bezeugt den Zweck der Bildung. In diesem Sinne ist das Kulturgerät zu verstehen, die Entsor­gung allein wäre weiterhin nur Selbstzweck der Entwicklung. Bildung dürfen wir dann als Weiterbildung in einer strebenden Bewegung zum Zweck hin ansehen. Dem haben wir bis jetzt noch zu wenig entnommen. Die Werkzeuge in ihrer Einheit von Wesen und Dasein als einer künstlichen sollen das neue Dasein an­zeigen. Was bedeutet aber dann das Streben der Bildung näher­hin, wenn sie nun als eine weitere Ebene die Entwicklung ab­lösen soll? Das Kulturgerät bezeugt etwas Neues, indem es aber nur noch als Mittel dient, fällt es ab in der Überzeugungskraft. Die Entwicklung bezeugt sich selbst, indem sie für sich allein steht als lebendiges Selbstzeugnis. Aber sie versteht sich nicht selbst. Das Gerät bezeugt etwas, dem aufgegeben ist, sich selber zu verstehen. Ein solches Selbstverständnis führt indes allein schon aus dem Bestand des Gerätes zu einem stre­benden Weiterwirken. Es soll ein neues Verhältnis des Daseins zum Wesen vorhanden sein, aber das alles kennzeichnet noch zu wenig, was Bildung als neues Streben zum Zweck hin als ei­gentlichen Inhalt anführt. Bildung haftet bis jetzt noch zu sehr am Äußeren, sie hält in ihren Zeugnissen noch nicht ein­mal die Innerlichkeit des Organischen. Es liegt doch etwas Unentschiedenes und gerade-



§ 38  Untersuchung zu einem Verhältnis von Kultur und Zweck285

zu Zweckloses in der Bildung, und so wie sie nun aufkommt, möchte sie sich als ein Selbstzweck behaupten, der am Zweck bisher zur Zweckfreiheit wird. Fallen Zweckfreiheit und Selbstzweck am Ende zusammen? Dann bliebe doch Kultur als Äußerung des Selbstzwecks und als Zeugnis von Zweckfreiheit zurück. Es ließe sich auch eine solche Sicht mit der geforderten neuen Weise des Daseins am Wesen nur un­terstreichen. Wenn nämlich die Entwicklung sich als Selbst­zweck erlebt und danach zwangsläufig handelt oder strebt, warum sollte dann die neue Daseinsweise nicht dem Selbstzweck im freien Spiel einer Bildung nachkommen? Kultur als Zeugnis für Bildung als Selbstzweck; an diesem Endziel angelangt, werden dann Selbstzweck und Zweckfreiheit in der Tat eins.

3. Kapitel

Sein und Sittlichkeit; der Geist § 39  Die Bestimmung des neuen Daseins; das Sollen 1. Das Selbst als Gleichnis und Widerspruch zum Selben Jedes Selbst blüht aus der Wirklichkeit als ein Gleichnis des Selben auf, und es strebt als ein Gipfel aus der endlosen und eintönigen Masse der Materie hervor. Indem aber dieses Selbst Selbstzweck sein darf, kennt es nur sich, und die Wirklich­keit ist übersät von solchen Selbstzwecken; ein Kampf ums Da­sein, ein Fressen und Gefressenwerden. Darin äußert sich doch aber auch die tiefe Kluft zum Zweck-Selben. Indem es sich selber erstrebt, vernichtet es andere Selbstzwecke. Die Wirk­ lichkeit des Selbst enthält einen furchtbaren Widerspruch ge­genüber dem Zweck-Selben, der sich als solcher auch im Mit­einander der Selbst-Träger auswirkt. Es bestätigt sich nur an dieser Einsicht, dass Wirklichkeit nur aus dem Selben ihren Zusammenhalt gewinnt und dass sie nur aus der geduldigen Ein­ heit des Selben so sein kann, wie sie ist. Das Selbst steht als Widerspruch und Gleichnis zum Selben. Denn das Selbe dul­det die zahllosen Selbst in ihrem selbstsüchtigen Streben, und diese haben nur die Möglichkeit oder Bedürftigkeit, darin wirklich zu sein. Darin behauptet sich die Ordnung dieser Wirklichkeit, der Widerspruch gehört zu ihrer Natur. Was sich so als Widerspruch dartun möchte, erklärt sich als bloßes Zurückbleiben. Was nicht inwendig zum Zweck-Selben ge­ hört, erfährt sich ausgesetzt und so auseinandergesetzt. Und es strebt nur in sich selber zusammen und erfüllt so den Zweck. Jedes Selbst sucht den Zweck im Innern, weil die Da­seienden nicht unter sich verbunden sind oder so den Zweck finden, sondern nur am Wesen. Das allgemeine Wesen teilt sich aber am Dasein als ein einzelnes mit. Innerhalb dieser Ord­nung waltet Erkennen; es durchbricht sie nicht, es fördert eine Entwicklung zum Selbst. Aber das Selbst hat sein Geheim­nis noch nicht gelichtet, und nur wegen dieses Geheimnisses darf jedes Selbst oberhalb der Pflanze als ein vorbereitendes Gleichnis zum Selben gelten. Denn mit dem Erkennen ist das Wirkliche in ein neues Verhältnis zum Selben getreten, weil dieses Erkennen das Selbe ist, welches am Wirklichen sich in die Einheit einer Zone gedrängt hat. In



§ 39  Die Bestimmung des neuen Daseins; das Sollen287

der Zone des Erken­nens wird der Kampf der Wildnis nun ausgetragen, in der Zone des Erkennens wird er aber auch ausgehalten, denn hier wird alles einig, was im Wirklichen auseinandergesetzt ist. Im Er­kennen enthüllt sich das Selbe, aber seine Einheit begibt sich am Wirklichen in eine Zone. So erscheint es nicht in seiner Übermacht, sondern als Spiegelung des Stückwerks Wirk­lichkeit. Erkennen ist nicht Stückwerk, was an ihm gefugt er­ scheint, tut es nur am Wirklichen. Der schreckliche Widerspruch, welcher im Fressen und Gefres­senwerden der Wildnis zum Vorschein kommt, mildert sich etwas aus der Flucht zum Selben hin, den der Selbstzweck darstellt. Denn dieses Zweck-Selbe allein vermag endgültiger Selbstzweck zu sein, indem es alles Wirkliche bestehen lässt. Indem die Selbst der Wildnis alles für sich in Anspruch nehmen, glei­ chen sie dem Zweck-Selben, und darin behauptet sich die neue Ordnung, welche im Erkennen aufgespannt ist. Mit dem Blüten­meer von Selbst-Trägern in der Wildnis widersprechen sich die Selbstzwecke aber auch unter sich und darin dem Selben. Al­lein dieser Widerspruch besteht nicht als ein seinsmäßiger, weil er auch erkenntnismäßig nicht zu Bewusstsein kommt. Das Selbst der Wildnis hat in seiner Natur nicht die Aussicht, dem Selben zu widersprechen. Der Unterschied zwischen dem „Raubtier“ und dem Pflanzenfresser kommt hier gar nicht in den Begriff. Die Spannung liegt weniger in dem Widerspruch des selbstsüchtigen Zweckes in der Entwicklung, sie liegt nicht im Dasein, sie ist mit der Zone des Erkennens von Grund aus gegeben. Erkennen selber wird am Wirklichen zum Wider­spruch, da es im Dienste von Fressen und Gefressenwerden steht. Darin behauptet sich die ungeheure Spannung, welche nach Auflösung verlangt. Da die Entwicklung den natürlichen Weg des Zerfalls geht, ist es nicht schlimm, wenn Tiere ge­fressen werden. Aber es liegt eine Nacht über der Wildnis, und sie hat sich erst mit dem Erkennen als Himmelszelt aufge­spannt. In dieser Nacht kann der Zweck nicht sein wirkliches Ende finden, sie verlangt nach dem Frühlicht. Die Vertretung des Ganzen, welche nur im Erkennen anstehen kann, verrät dessen Besonderheit. Es ist ein Abkömmling des Selben, von anderer Ursprünglichkeit als Wesen und Dasein. Wir bemerken das wunderbare Geheimnis dieser Zone, indem wir entdecken, dass Erkennen schon immer Reflexion im Wirklichen ist. Also handelt es sich im einfachsten Bewusstsein schon um eine Wiederspiegelung im Selben, Reflexion waltet hier, aber sie bleibt abgeschirmt, abgeschattet durch das Dasein und das Wesen des Bewusstseins. Es sei hier nebenbei bemerkt, dass mit­tels dieses Verhältnisses die unerklärlichen Instinkthandlun­gen „vernunftloser“ Tiere ihre Ermöglichung finden. Mit der abgeschatteten Reflexion, welche als Nacht über der Wildnis liegt, hat der Aufstieg des Lebens sein Ziel nicht erreicht. Es liegt im Zweck des Wirklichen, dass die Reflexion eingeholt wird; offenbar voll-

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4. Teil, 3. Kap.: Sein und Sittlichkeit, der Geist

endet sich darin das Gleichnis zum Selben. Aber die Gleichung ist nun so weit bestimmt, dass die Reflexion allein den Vergleich zum Zweck-Selben nicht halten kann. Denn dies würde doch zu einer falschen Erinnerung und zu einer Weltflucht führen. Kultur hält ihren Schwerpunkt im Dasein, wie wir gesehen haben. Erkennen ergeht als Erinnerung des Wirklichen an das Selbe, oder sagen wir es besser so: Im Erkennen bringt sich das Selbe am Wirklichen in Erinnerung. An diesem Verhältnis kann nichts entnommen werden, was einem Hervorgang gleichkäme. Denn das Selbe steht als Erkennen im Wirklichen; wäre dies ein Hervorgang, so wäre das Wirkliche das Selbe. Nur weil diese Erinnerung nichts mit einem Hervorgang zu tun hat, geht das Selbe als Zone im Wirklichen auf; nur so kann es zu einem Schnittpunkt von Selbem und Wirklichem kommen. Aus dem Zusam­menhang entnehmen wir auch, dass Wirkliches mindestens drei Grundverhältnisse zum Selben haben muss, da jede Zone völlig andere Züge aufweist. Jede Zone bestimmt sich als Verhältnis zum Selben, Wirklichkeit besteht als dreigründige Einheit; nennen wir die Wirklichkeit Sein, so versteht sie sich durch und durch im Gleichnis als Sein. Das Wesen ist nicht Sein in sich, das Dasein ist nicht Sein in sich; Wirkliches ist Sein in sich, soweit es Vergleich ist. Näheres können wir an die­ser Stelle dem Geheimnis nicht entlocken, es genügt indes, um einzusehen, dass eine Verlagerung des Zweckes ins Erkennen etwas Ergebnisloses mit sich führen müsste. Es verhält sich demnach nicht so, dass Bewusstsein sich darin vollendet, dass es Erkennen mit dem Selben einfach gleich­setzt. Offenbar liegt darin eine scheinbare Angleichung nur. Mag dieses Erkennen wohl das Selbe sein, wir haben am Logi­schen schon bemerkt, dass es den Zweck nicht enthüllt. Darin finden wir den ersten Hinweis nur. Aber auch die Anwendung an die Erfahrung, um Erkenntnisse zu sammeln, erfüllt so noch nicht den Zweck. Das Selbe lässt sich im Erkennen geradezu als Mittel herab, um Wirklichkeit in ihrem ganzen Sein ineins zu schließen. Die Weiterführung erweist sich dann ganz im Sinne der Entwicklung, dass Erkennen eingeordnet bleibt. Eine wider­ spruchsvolle Spannung besteht also weiter: Erkennen soll aus seiner Versklavung in die Entwicklung, zur Reflexion hin ge­lichtet werden, und dennoch soll sich das Streben nicht ver­lagern in dieses neue Ziel. In der Reflexion wird dem Wirk­li­chen eine Einheit, die über seine Fassung hinausgeht; es ist nicht Sein, was ihm so ansteht, und darum bleibt das Wirk­li­che abgewendet. Eine Lichtung ist im Bewusstsein aufge­gangen, sie gleicht der Sonne mit ihren Strahlen, die das Be­wusstsein an das Dasein verweisen. Alles geht zum Dasein hin, das neue Verhältnis spricht sich zwischen Dasein und Reflexion aus, es erscheint im Dasein und nicht am Wesen.



§ 39  Die Bestimmung des neuen Daseins; das Sollen289

2. Dasein und Reflexion; ein neues Bewusstsein Erkennen war bisher in dem Strom der Entwicklung des Daseins zum Wesen hin eingesetzt. In diesem Sog des Strebens wäre Reflexion nur zum Gewinn der Beute angewendet worden; ein Unge­danke liegt hier vor, wenn wir das Verhältnis von Dasein und Reflexion näher beschauen. Für die Fortführung der Wirklich­keit sind die Rahmenbedingungen ja vorgezeichnet. Die Annähe­rung zum Zweck-Selben geschieht in einem weiteren Insichgehen des Wirklichen, welches nur so erreicht wird, dass Erkennen sein Verhältnis zum Zweck-Selben und zum Selbstzweck nicht ändert. Es darf also keine Verlagerung des Zweckes zum Erken­nen hin stattfinden. Es bedeutet, dass ein Aufbruch mitten in der Daseinsentwicklung sich ereignen muss. Der Sog des Stre­ bens, dem nichts im Bewusstsein sich entziehen kann, ur-teilt sich in eine neue Weise des Daseins, welche sich über Ent­ wicklung hinweggesetzt erfährt. Damit begründet dieses Dasein in seinem neuen Verhältnis zum Erkennen Reflexion. Erst die Abgesetztheit vom Gesetz des Kreislaufs ergibt den Standort oder Ruheplatz im Dasein, von wo aus Erkennen als Reflexion ins Gemüt leuchten kann. Ein neues Bewusstsein hat sich ereignet. Menschwerdung ge­schieht völlig unauffällig am Wesen; sie vollzieht sich in einer neuen Einstellung im Bewusstsein, die freilich nur das Ergebnis einer neu eingerichteten Kraft in der Zone des Da­seins sein kann. Es bedeutet aber, dass ein solches Bewusstsein nach wie vor im Handeln seine Wirklichkeit erfüllt. Es bleibt zu erwarten, wie dieses Handeln sich nun gemäß dem neuen Be­wusstsein vom Streben der Entwicklung abhebt. Das neue Bewusstsein erlebt in sich das alte selbstsüchtige Streben der Entwicklung, es ist seine Natur, gemäß der es le­ben muss und gar nicht anders leben kann. Es ist Tier. Allein das Kulturgerät bezeugt die neue Einstellung zur Umwelt, weil dieses schon herausgenommen ist aus der Entwicklung, indem dessen Dasein künstlich zu einem zweckmäßigen Wesen ver­schmolzen ist. Was am Bewusstsein nicht sichtbar wird, er­scheint als Sinnbild im Gerät. Mitten in der Strömung des Da­ seins zum Wesen hin steht eine neue Weise des Daseins schon vollendet am Wesen an. Für sich genommen hätte sie also Ent­wicklung nicht nötig, doch sie hält sich in der Entwicklung verborgen, sie gleicht sich der Entfaltung an. Es lässt sich das neue Bewusstsein nur erschließen aus seinen Zeugnissen und aus dem Zweck, der in der Wildnis erschienen ist. Selbster­ schließung bleibt dann unser Vorgehen in zweifacher Hinsicht: Das Bewusstsein nimmt sich als ein Glied der sich entwickeln­den Wildnis wahr. Zum anderen bemerkt das Bewusstsein seine Besonderheit nur an den Äußerungen und Vorstellungen, die es als Bildung hervorbringt. Es vermag sich selber nicht unmit­ telbar in seiner Besonderheit anzuschauen. Die neue Erinne­rung, die in ihm aufge-

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4. Teil, 3. Kap.: Sein und Sittlichkeit, der Geist

brochen ist, lässt sich nur im Vergleich mit dem Verhalten der anderen Tiere erschließen. Die Sprache ist das innerste Ereignis der Kultur, sie bezeugt selber, oh­ne dass sie technisches Gerät benötigte. In der Sprache ge­ langt die neue Erinnerung zu ihrem unmittelbarsten Zeugnis. Die neue Erinnerung ist Reflexion. Die Einsicht ins Logische, das Selbe von Sein und Erkennen, spiegelt sich unmittelbar als die Fähigkeit wider, sich hineinzuversetzen in die Zu­sammenhänge des Wirklichen. Das Wissen um ein An sich der Dinge hat sich eingerichtet, die unbegreifliche Einheit wird nur aus dem Selben möglich. Das Tier hat nicht die Möglich­keit, am An sich zu zweifeln, weil es um die Vorstellung ei­nes An sich nicht wissen kann. Rein erkenntnismäßig ereignet sich so etwas grundlegend Neues, dessen Ausmaß im Erkennen allein sicher nicht erklärbar wird. Das Bewusstsein durch­schaut seinen eigenen Selbstzweck, indem es sich in anderes Bewusstsein hineinversetzt; auch das andere Bewusstsein wird als Selbstzweck anerkannt. Aber hier behauptet sich mehr als bloße Einsicht, eine Haltung im Gemüt ist gegeben, die dem anderen auf Grund des gleichen Selbstzwecks das gleiche Da­sein einräumt. Der Andere ist nicht nur vom selben Wesen, Artgenosse, diese Einsicht kennt auch das Tier; es findet ei­ne Gleichsetzung von Dasein zu Dasein statt. Damit ist Natur­recht gegeben. Aber was enthält dieser neue Zustand nun nicht alles. Die bewusste Einsicht, dass anderes Dasein auch einen Selbstzweck darstellt, läuft nun dem Sog der Entwicklung ent­gegen, die Einsicht allein wäre jedoch kraftlos gegenüber dem Treiben der Kreisläufe und sie hätte kaum Aussicht, sich ih­nen gegenüber durchzusetzen. Eben darum lässt sich das Neue nicht bloß aus Reflexion erklären; es ist ein innerer Halt des Gemütes selber nötig, und es gewinnt ihn aus einer Nähe zum Wesen, die der Natur in einer gewissen Unabhängigkeit von der Entwicklung gegeben ist. Die Möglichkeit, sich mitten in der Entwicklung über deren selbstsüchtige Natur hinwegzusetzen und gegenläufig zu ihr das andere Lebewesen in seinem Dasein zu fördern, so als sei es die eigene Entwicklung, macht das neue Bewusstsein. Es hilft hier nicht weiter, zu fragen, wo die erste Ursache zu suchen ist, im Dasein oder im Erkennen. Was sich aber nach unserer Auffassung am wenigsten ändert, ist das Wesen, jene Zone, worin die Metaphysik bisher alle entscheidenden Merkma­le von Vernunft und Willensfreiheit untergebracht hat. Der Mensch kann damit nicht mehr zurück ins Tierreich, er kann es weder erkenntnismäßig noch gemütsmäßig. Die UrTeilung, die sich in seinem Dasein ereignet hat, lässt einen Zwiespalt im Bewusstsein aufkommen, welcher nicht im Erkennen, sondern im Gemüt ausgetragen wird. Er lebt in zwei Weisen des Daseins zugleich, und nun erst bekommt Kultur ihren inneren Sinn. Um nichts anderes geht es, als diese beiden Weisen, die in die Einheit des Leibes gegeben sind, in eine Form zu bringen. Die äußere Bildung der Kulturgeräte entspricht der inneren Aufga­



§ 39  Die Bestimmung des neuen Daseins; das Sollen291

be, die sich dem Bewusstsein stellt, und in ihrer Formung wer­den die Geräte zum Mittel der Bewältigung und zum Zeugnis, wie das Bewusstsein die Vermittlung bewältigt hat. Daraus lässt sich entnehmen, dass die jeweilige Form des Gerätes auf das Gemüt als Daseinshaltung zurückzuführen ist. In seiner allgemeinsten Verfassung hat sich nun das Bewusst­sein als bewusste Erfahrung des Zweckes zu bestimmen. Bisher hat das Bewusstsein den Zweck erlebt, das Selbst in der Ein­heit von Gemüt und Erkennen. Der bewusste Zweck als der im Er­kennen gegenständlich gewordene Zweck hat sich damit auch vom eigenen Dasein abgesetzt, oder ich betrachte meinen Selbst­ zweck wie einen fremden. Die völlig selbstlose Sicht erfährt sich eingebunden in die eigene Leib- und Gemütszone, und sie erhält aus dem Dasein zwei verschiedene Anstöße. Zumindest die eigenen Belange lassen das Selbst für sich streben. Die Einsicht, dass anderes Dasein ebenso im Zweck steht wie ich, genügt aber allein nicht, denn Erkennen bleibt sachlich, ge­mütlos, aber auch selbstlos. Es liegt also im neuen Dasein ein besonderer Anstoß der Teilnahme am Anderen, die indes gar keine Teil-Nahme, sondern eine Mitteilung ist. Denn die Teil-Nahme erweist sich als die alte Selbstsucht, die am An­deren nur etwas für sich in Anspruch nimmt. In der Mitteilung hingegen teilt Dasein über das Erkennen sich dem Anderen mit, indem es sich in seiner Bedürftigkeit in das Andere hinein­versetzt. Es kann sich deshalb nur um das Grundverhältnis im neuen Dasein handeln, welches die allgemeinste Verfassung be­stimmt; niemals gelingt es dem Bewusstsein, diesem Verhältnis zu entkommen, es ist seine Wirklichkeit schlichthin. Das neue Bewusstsein erfährt sich eingepflanzt in eine ver­schränkte Daseinsweise. Die Belange der eigenen Entwicklung stehen unmittelbar an, es erstrebt sie zumindest im Selbster­haltungstrieb. Darin bleibt ihm der gesamte tierische Boden­satz des Daseins gegeben. Die Selbstmitteilung am Anderen er­fährt es aber daraus, dass dieses neue Dasein in ihm am Wesen anders verfasst ist als das sich entwickelnde Dasein; es er­lebt die Entwicklung nur mit aus Gründen der Angleichung. In­dem dieses neue Dasein „an sich“, das heißt jedoch nur am We­sen, schon vollendet ist, gewinnt es erst die Voraussetzung, von der eigenen Bedürftigkeit abzusehen. Der Zweck nimmt Gestalt an, es geht um die Vermittlung von Mit-Teilung und Teil-Nahme, die Bedingungen sind ja gegeben. Das Allgemeine war bisher im Selbstzweck gegeben, und deshalb kann der Selbstzweck Gleichnis des Zweck-Selben sein. Dieser Standort ist überholt, der Zweck heißt Gemeinschaft als Verschränkung der Daseinsweisen. Erst jetzt wird Kultur in ihrer letzten Zweckmäßigkeit verstehbar. Es gilt, diese verschränkte Da­ seinsweise in gegenständliche Formen des Zusammenlebens zu übertragen. Dazu gehört natürlich auch die Verklammerung mit der Wildnis, die der Mensch in seinem eigenen Bestand hat. Kultur erklärt sich so als die Auswirkung der verschränkten Daseinsweise, und es gibt daher keinen Bereich, der sich

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4. Teil, 3. Kap.: Sein und Sittlichkeit, der Geist

ih­rer Ausstrahlung entzieht. Unsichtbar wird die Natur in sich durch das Gesetz der Bildung veredelt, nichts Neues wird greifbar nach Art der Entwicklung, und dennoch ist es da, als machtvolle Veränderung der Entwicklungsgesetze, die innere Wirklichkeit des Geistes.

3. Bildung als Abbildung des Zweckes; das Sollen Mit der Gemeinschaft hat der Zweck der Annäherung an das ZweckSelbe ein entscheidendes Stadium erreicht. Die Gemein­schaft wird als eigentliches Gleichnis des Zweck-Selben ein­ gesehen. Darin vollendet sich Reflexion erst im Zweck, dass sie dem Bewusstsein das Entscheidende, worauf es ankommt, klar­ macht. Das Logische in seiner Zwecklosigkeit verhilft zur Einsicht. In der neuen Artgemeinschaft hat sich der alte Selbstzweck abgelöst, und das Zweck-Selbe wird nun bewusst eingeschlossen. Dies bedeutet aber, dass es mit der bloßen Einsicht nicht getan ist. Die Einsicht, dass es mit der Ein­sicht nicht getan ist, enthält ein Sollen. Dasein soll so eingerichtet werden, dass die Kulturgemeinschaft sich irgend­wie als Spiegelung des Zweck-Selben in ihr herausbildet. Da­mit ist der allgemeine Weg zur allgemeinen Verfassung be­stimmt; das allgemeine Gesetz der Bildung versteht sich als Wegfindung und Ausdruck des gefundenen Weges in einem. Bil­dung bedeutet Abbildung des zu erschließenden Zweckes. Nach den Richtlinien bisher vereint Bildung zunächst einmal drei Merkmale: Einsicht, Anwendung und Sollen. Dabei versteht es sich, dass im Sollen die beiden Daseinsweisen ineins ver­schmelzen. Überhaupt wäre es falsch, dieses Dasein nun so zu verstehen, dass die Entwicklung einseitig für die alte Selbstsucht, die Bildung andrerseits nur für die Gemeinschaft der Anderen ar­beiten würde. Der Gemeinschaft liegt die Verschränkung zu Grunde, wonach Bildung immer als das Maß der Mitte zu finden ist. Der Einzelne wirkt für die Gemeinschaft, wenn er für sich in der richtigen Weise sorgt. Der Zweck stellt sich so an den Ur-Teilen des Wirklichen gemessen in seiner Verbind­lichkeit heraus; wie er als Weg im Dasein befolgt werden soll, bleibt noch zu erschließen. Bildung enthält also ein weiteres Merkmal, vielleicht ist es das wichtigste. In ihr hat sich das gefundene Gleichgewicht zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft schon niedergeschlagen, eigentlich meint Bildung schon immer Allgemeinbildung. Bildung als Abbildung des Zweckes steht in einer schroffen Zweckmäßigkeit, dies kann nicht übersehen werden. Alles er­gibt sich aus dem Lichtkegel des Sollens, welches nun über dem Individuum steht an Stelle des früheren triebhaften Müs­ sens. Dem entsprechend deutet denn auch die Kultur als Schutzwall der Gemeinschaft eine stark äußere Bildung, aber eine Allge-



§ 39  Die Bestimmung des neuen Daseins; das Sollen293

meinbildung an. Bedenken wir jedoch, dass dieses Sollen nicht erst aus der Gemeinschaft gegeben wird. Die Ge­meinschaft entsteht und besteht ja erst aus der ureigenen Er­fahrung des einzelnen Bewusstseins, und darum kann dieses Sol­len auch nicht bloß die Gemeinschaft zum Inhalt haben. Indem der Einzelne das Sollen nur aus sich entspringen lassen kann, hat dieses Sollen auch nicht bloß sein Verhältnis zur Gemein­schaft zum Inhalt. Der Lebensnerv aller Bildung hält sich darin, dass der Einzelne für sich allein diese Bildung bean­sprucht wie auch die Gemeinschaft für sich und der Einzelne für die Gemeinschaft. Dies ist die Wurzel aller Verzweigung: Die Angleichung an das Zweck-Selbe, die aus der Tiefe des Be­wusstseins emporsteigt, kann doch als Sollen nur so erfüllt werden, dass jeder Einzelne zum Schnittpunkt wird, der sich nun in Richtung zur Gemeinschaft ausbreitet. Als Schnittpunkt ist er aber als Einzelner so wichtig wie die Gemeinschaft. Die Gemeinschaft ist nur die Summe der Einzelnen, sie vermag weder eine neue Ordnung noch eine neue Wirklichkeit zu er­stellen; darum führt sie auch kein neues Sollen an, das nicht im Einzelnen seinen Grund hätte. Die Gemeinschaft erstellt sich aus den einzelnen Zellen, darum kann auch das Sollen nur so aufkommen. Ein Sollen aus der Gemeinschaft ohne Ursprünglichkeit im Einzelnen kann es nicht geben. Wir sehen es ein auf Grund der Entstehung des Sollens, wir verstehen es aber noch besser, wenn wir das Ver­hältnis auf das Zweck-Selbe hinfluchten. In der Gemeinschaft erstellt sich in besonderer Weise eine Vertretung des Zweck-Selben, weil in ihr gegenständlich das Streben der Entwick­lung durchbrochen ist. In ihrer Allgemeinheit verkörpert sie das Zweck-Selbe deshalb eher als der Einzelne. Aber es hilft ihr nicht weiter, sie ist nicht das Selbe, sie ist es so we­nig wie der Einzelne. Indem weder der Einzelne noch die Ge­ meinschaft die unbegreifliche Verschlossenheit des Selben be­rühren, pflanzt sich der Zweck als Sollen ins Bewusstsein, und er gewinnt in der Bildung seine eingerichtete Ordnung. In dem Sollen und seiner Erfüllung gewinnt die neue Be­ wusst­seinsge­meinschaft ihr Gewicht im Dasein, ihre Macht im Wirklichen, weil sie darin ihre größte Dichte zum Zweck-Selben erreicht. Das alte Dasein hat seine Vollendung im Ausdruck der ausge­reiften Wesensgestalt, darin verwirklicht sich dann seine Na­tur von selber. Indem das neue Dasein ein anderes Verhältnis am Wesen hat, wird es in dieser Hinsicht vom Streben entbun­den. Es verwächst nun mit der Gemeinschaft, jedoch nicht seinsmäßig, sondern sollensmäßig. Die Annäherung geschieht nicht im Sein und nicht im Erkennen, sondern in der Erfüllung des Sollens. Eine neue Macht äußert sich in der Bildung, die ihre Kraft aus einer ganz anderen Ursache bezieht, denn ihre Wurzeln gründen ja in einer neuen Innerlichkeit. Was Kultur und Tech­nik an Macht über die Wildnis gewinnen, dies kann nur Zeugnis dafür abgeben, dass dieses unsichtbare und ungreifbare Ver­hältnis wirklich ist.

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4. Teil, 3. Kap.: Sein und Sittlichkeit, der Geist

§ 40  Die Entbindung und die Einbindung des neuen Daseins 1. Die Zuneigung und das Mahl Die Reflexion setzt ihr eigenes Bewusstsein an den Weltanteil, und sie macht sich damit dessen Weltverhältnis zum Verhält­nis. Damit ist ein Abstand zu der triebhaften Enge des Be­wusstseins gewonnen. Bisher war Erkennen in die Enge des Gemü­tes eingespannt, jetzt ist das Gemüt in die Weite des Erken­nens gekommen. Eine grenzenlose Weite, die unermessliche Of­fenheit steht jäh an, und die Welt ist nicht so sehr ein Er­eignis der Gegenständlichkeit als des Bewusstseins. Hat sich dies nicht alles als eine Verlagerung des Bewusstseins in die Reflexion eingestellt? Haben wir hier nicht das „reine Ich“, welches sein eigenes Gemüt als „ichliche Habe“ hält? Aber da­mit geraten wir auf die schiefe Ebene der „transzendentalen Reduktion“; es ist nötig, dass wir es auch von der anderen Seite sehen. Intentionalitas reicht eben allein nicht hin, um Bewusstsein in seiner Weltoffenheit zu begründen. Wir haben gesehen, dass die Beobachtung von Erkennen, wie es erkennt, nur für den Anfang und nur als bewusste Einseitigkeit angenom­ men werden kann. Was Bewusstsein befähigt, den Standpunkt in der Reflexion einzunehmen, ist eine Kraft im Dasein. Denn das Bewusstsein bemerkt sich als ein gespaltenes im Gemüt, die Verselbigung ist in eine Zwietracht geraten, womit Erkennen gar nichts zu tun hat. Erkennen ist aus Natur Reflexion, aber das triebhafte Gemüt der Entwicklung kann den Standort dazu nicht beziehen. Bewusstsein erfährt sich in der Reflexion her­außen aus der Triebhaftigkeit, und es erlebt sich auch wieder ge­fesselt in seiner Selbstsucht. Aber dies enthüllt sich als die Selbsterfahrung des Gemütes, indem die Reflexion nur wie­derscheinen lässt, was sich auch seinsmäßig so verhält: Dasein hat einen doppelten Boden. Nur so erklärt sich Sollen als die Möglichkeit der Selbst­überwindung in eine neue Ebene des Daseins. Die Bestimmung des Sollens besagt Sorge für die Allgemeinheit, die natürlich so als ein Abstractum dasteht, wenn sie nicht die eigene Ein­pflanzung in Rücksicht nimmt. Das Verhältnis lässt sich zumin­dest so angeben: Eingepflanzt in den Boden der Wildnis, über­blickt dieses Bewusstsein dennoch wie ein Wachturm seine eige­ne Not-Wende und neigt sich in einer Gegenbewegung den Ande­ren zu. Bisher haben wir es Sollen genannt; es soll sich auch um die Anderen kümmern, weil es diese als eingepflanzt wie sich selber einsieht. Darum hält sich das Sollen auch im Er­kennen. Soweit das Sollen sich ein Stück Umwelt vornimmt, für das es zu sorgen hat, kann nur Erkennen den Plan ausarbeiten. Aber Sollen reicht allein nicht hin, es deutet nur auf eine Seite des Verhältnisses. Sollen setzt die Entbindung des Da­seins von dem Müssen der Entwicklung voraus.



§ 40  Die Entbindung und die Einbindung des neuen Daseins295

Es kommt also alles darauf an, dass Bewusstsein einen Spielraum erhält, der es befreit von der entwicklungsmäßigen Selbstsucht, und die­ser kann nur gegeben sein in der neuen Weise des Daseins, die schon immer am Wesen ansteht, erhaben über Entwicklung. Diese Weise des Daseins kann sich nicht erst verwirklichen nach Vollendung der Entwicklung, sie ist grundsätzlich gege­ben, weil sie die Reflexion bedingt. Wäre sie mit der Vollen­dung der Entwicklung gegeben, so gäbe es sie überhaupt nicht, oder die Pferde, Elefanten und Menschenaffen hätten sie auch. Die Daseinszone der Freiheit enthüllt sich zunächst einmal als Freisein von Entwicklung. So erst kann Sollen im Bewusst­sein vernehmbar werden, und die Hinbewegung zum Anderen ent­hält Sollen und Zuneigung in einem. Nur das neue Verhältnis zu sich selber begründet das Verhältnis zum Anderen, denn auch hier gilt die Verschränkung der Zonen im Dasein. Das Selbst bezieht sich anders als bisher. Die Zuneigung zum An­deren rührt aus der Selbstachtung, die sich jetzt als der neue Selbsterhaltungstrieb im Dasein ankündigt. Aber Trieb darf jetzt nicht mehr gesagt werden, denn es geht doch darum, die neue Weise im Dasein vom Treiben der Entwicklung abzugrenzen. So also zeigt sich die Anlage, dass ein Spielraum eingerichtet ist, und das Sollen findet einen geradezu wider­ sprüchlichen Inhalt: Der Spielraum soll ausgeweitet werden, Bewusstsein soll möglichst frei beweglich werden für die Be­lange der Bildung. Am Grunde des Verhältnisses steht eine doppelte Verschränkung: Das Ineinander der Zonen im Selbst führt auch zum Zueinander der Selbst unter sich. Hier rühren wir also an die Grundschicht der Bildung. Im Abstand zur ei­genen Entwicklung erfahre ich die Nähe zur fremden Entwick­lung, und aus der Sorge für die eigene Entwicklung keimt die Zuneigung zur fremden Entwicklung. Wiederum ist es unser einzigartiges Mahl, das auch hier sich als sinnbildhafter Grundstein erweist. Der Mensch frisst nicht wie ein Tier, seine Selbstachtung macht das Mahl zum Grund­ stock seiner Kultur. In gleich ursprünglicher Bedeutung wird aber das Mahl auch zur zuneigenden Fürsorge. Wir finden alle Merkmale von Kultur und Bildung im Mahle vereinigt. So wird aber das Mahl auch zum Wahrzeichen dafür, dass Bildung und Kultur inmitten der Entwicklung zu bewältigen sind. Es erin­nert an die NotWende der Entwicklung und an die Zuneigung zur neuen Daseinsweise. Das Mahl kann nicht aufkommen, wo nur eine tierische Entwicklung das Bewusstsein beherrscht, es be­inhaltet die freie Zuwendung zum Anderen nach außen und die Selbstbeherrschung gegenüber dem Triebhaften nach innen. Es ist also Kultstätte schlichthin für die Belange der neuen Da­seinsweise, und es hält als Bindemittel alles zusammen, Mit­ teilung und Teilnahme. Entwicklung läuft als natürliche Ich­verkrampfung im Bewusstsein ab; alles strömt kreisläufig oder zwangsmäßig zum Selbst, und alles, was außerhalb liegt, be­steht nur im Erkennen. Dieses führt zur Teil-Nahme, aber es er-

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4. Teil, 3. Kap.: Sein und Sittlichkeit, der Geist

weckt keine Mitteilung, wenn im neuen Gemüt keine Entspre­chung eingerichtet ist. Wir wollen uns nochmals daran erinnern, dass Sollen von außen her, also vom Ereignis Kultur abgeleitet worden ist. Der ei­gentliche Herd des Sollens bleibt unserem Zugriff uneinsich­tig. Mit der Zuneigung rühren wir an eine Gemütshaltung, die sich mit dem Sollen wechselseitig bedingt, und wir kommen et­was weiter nach innen. Das Sollen lässt sich an der Kultur als Erscheinung gegenständlich ablesen, die Zuneigung kommt an­geblich aus dem Gemüt. Dennoch bezeugen sich beide wechsel­seitig, so wie sie sich bedingen. Das Sollen beansprucht die Zuneigung, und es widerspricht ja einer bloßen Fortführung des alten Zweckstrebens. Ein bloßes Sollen kann sich nicht begründen, eine Zuneigung als bloße Folge einer Freisetzung des Daseins von Entwicklung erscheint in der Tat zweckfrei, zwecklos. In ihrer wechselseitigen Bezeugung werden indes Sollen und Zuneigung zu einer wechselseitigen Bedingung, die uns die metaphysische Wirklichkeit des neuen Daseins angibt. Eine andere Möglichkeit der Erschließung haben wir wohl nicht. Es geht also darum, dass wir die Weise des Seins aus ihren Äußerungen mittelbar erfahren. Die Zuneigung soll ge­ schehen, und das Sollen soll aus Zuneigung kommen. Darin be­kundet sich die Erhabenheit als Entbindung. Es ist freige­setzt, das neue Dasein, und darum hat es den Blick frei für das, was jenseits der Entwicklung steht, für Freiraum und Freizeit, für Kultur.

2. Sollen, Zuneigung und Freiheit; das sittliche Verhältnis Für gewöhnlich setzt das Ereignis Sittlichkeit im metaphysi­schen Denken Freiheit voraus. Es hat zu unübersehbaren Strei­tereien geführt, weil man zu wenig beachtet hat, dass Freiheit ein metaphysischer, theologischer und psychologischer Begriff sein kann, der dann jeweils unter anderen Gesichtspunkten und Voraussetzungen abgehandelt werden sollte. Stellen wir die Sittlichkeit dem alten Zweck der Entwicklung schroff gegen­über, so verlangt sie nach Freiheit. Aber das Tierische für sich allein ist nicht unsittlich, und der Mensch verhält sich dem Tier gegenüber nicht sittlicher als das Tier dem Menschen gegenüber. Betrachten wir aber Sittlichkeit als eine Evolutio aus der Entwicklung, so steht sie ganz im Zeichen einer verstandesmäßigen Überlegenheit des menschlichen Wesens.9 Man kann Sittlichkeit aus einer 9  Für die Metaphysik bedeutet natürlich Freiheit eine ontologische Ausstattung, die nicht aus der Evolutio herrühren kann. Der alte An­ satz der Metaphysik mit seiner Vermengung von Anima und Substantia, von Ratio und Essentia führt freilich dazu, die Freiheit in der Ein­heit von Vernunft und Wesen unterzubringen. Wenn-



§ 40  Die Entbindung und die Einbindung des neuen Daseins297

Ausweitung des Erkenntnisvermö­ gens begründen. In dem Maße, wie der Mensch auf Grund seiner Einsichten in das Not-Wendige sich freimacht von den Zwängen der Wildnis, gewinnt er die Freiheit als äußere Möglichkeit. Kultur hat dann die gute Absicht, diesen Zustand zu verinner­lichen. Dann erscheint Sittlichkeit als verständige Einsicht­nahme in den Instinkt. Aber die Wildnis schließt in sich, es bedarf überhaupt keiner Fortführung mehr, wenn man das Natur­geschehen als solches in sich betrachtet. Das Unschlüssige ergibt sich mit dem Auftreten des Menschen in seiner Kultur und seiner sittlichen Überzeugung. Dem in die Reflexion gesetzten Bewusstsein ist es unmöglich, dem Netz des Zweckdenkens zu entkommen. Wie sich aber eine Vereinbarung von Sein und Erkennen nur aus einer Zweckmäßig­keit begründen lässt, so kann auch die Wirklichkeit eines neu­en menschlichen Daseins letztlich auch nur als eine Zweckmä­ßigkeit in der Metaphysik aufgezeigt werden. Die in die Wild­nis gesetzte Festung einer menschlichen Kultur sprengt den Zweck, so wie er bisher sich angebahnt hat. Sie lässt sich aus ihm nicht ableiten, und er bedarf ihrer nicht, um sich zu vollenden. Kultur steht als gesetzter Aufbruch, als Neubeginn auf höherer Ebene, und jeder Versuch, mit Evolutio dies zu erklären, bleibt auf der Strecke. Deshalb muss aber mit neuen seinsmäßigen Einrichtungen gerechnet werden, die ebenso durchgreifend sind wie der Unterschied zwischen der Pflanze und dem hochentwickelten tierischen Bewusstsein. Unser neuer Zweck vollendet sich also darin, dass er sittliches Verhalten als die ursprünglichste und allgemeinste Äußerung der neuen Wirklichkeit ansieht. Erst jetzt vermögen wir das gegenständ­liche Ereignis Kultur zu fassen. Mag sie zunächst als Entsor­gung sich angebahnt haben, sie muss so erscheinen nach ihrer Äußerlichkeit. Mag auch das Ideal des Schönen sie wie Sonnen­licht erst erscheinen lassen und von innen heraus beseelen. Für unsere metaphysische Beschauung bleibt dies alles zweit­ rangig, nicht hinreichend, um Kultur als Bildung allgemein zu deuten. Die Verflechtung verschiedener Zwecke, die Ordnung der Über- und Unterordnungen ergeben sich gerade aus dem In­einander verschiedener Daseinsweisen im Menschlichen, und der Zweck seines Daseins wird deshalb zum höchst verwickelten, seine Aufgabe eine schwerst zu bewältigende. Wenigstens in abstracto lässt sich aber die neue Zweckmäßigkeit zusammenfas­sen und im Sinne des Verlaufes bisher begründen. Menschliches Dasein verwirklicht seine höchste Seinsmacht und seine volle Zweckmäßigkeit im sittlichen Verhalten. Mit dieser Einsicht unterstreicht sich nur ein Ergebnis bis jetzt: Erkennen allein kann den Zweck nicht halten. Der Selbstzweck der Wildnis ist aufgegleich die moderne Psychologie von der Vorstellung einer psychischen Substantia Abstand genommen hat, so hat sie es keineswegs getan vom Modell einer RatioPsyche. Vgl. Plato metaph. §§ 14–16.

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4. Teil, 3. Kap.: Sein und Sittlichkeit, der Geist

sprengt, aber nur, um die Mitteilung in sich aufzunehmen. Die Richtung zum Zweck-Sel­ben stimmt nach wie vor, und sie findet jetzt ihre endgültige Einlösung. Wirklichkeit als Gleichnis zum Zweck-Selben voll­endet sich in der Annäherung an das Selbe in der Mitteilung; das Selbst schließt sich in der Mitteilung nach Wesen, Dasein und Erkennen am machtvollsten zusammen. Die ontologische Ver­fugung, der klaffende Widerspruch zum Selben, soll durch eine bewusstseinsmäßige Tateinheit überbrückt werden. Gemüt ist Da­sein, und im Dasein gewinnt und verliert Wirklichkeit ihre Macht. Erst an der neuen Beziehung wird die Reflexion zur Vernunft, die im Vernehmen des Zweckes waltet. So hat Platon die Ver­nunft als eine Einheit von Erkennen, Sein und Handeln gese­ hen. Da sein Denken sich jedoch nicht mit den metaphysischen Seinsgründen befasste, hat er die vernünftige Einheit in die Seele gekleidet, mit der wir als Metaphysiker noch nichts zu schaffen haben.10 Das neue Sollen bleibt ohne die eingerichte­te Freizone im Dasein undenkbar, es wäre nur ein unvernünfti­ ges Müssen in Form des Instinkts. Freiheit entsteht als Ab­bruch der Entwicklung, denn nur so kann sich die andere Rich­tung der Mitteilung anlegen. Grundsätzlich bleibt daher Frei­ heit durch Entwicklung gehemmt und gefesselt. Die Mitteilung muss aber schon als Zuneigung verstanden werden. Doch lässt sich hier nicht übersehen, dass die Zuneigung in ihrer ur­sprünglichsten Fassung schon ein Sollen enthält, und dies scheint nun das Ursprüngliche der Zuneigung zu erdrücken. Wir haben uns aber hier nicht mit psychologischen Überlegungen zu befassen, sondern Sollen und Zuneigung im Lichte des Zweckes zu verstehen. Demnach dürfen wir Zuneigung nicht als Leiden­schaft oder gar Liebe auffassen, sie ist das aus Freiheit und Sollen geborene Anerkennen des im Bewusstsein allgemein ver­bindlichen Zweckes. Freiheit gleicht einem Boot im treibenden Strom der Entwick­ lung; sie kann sich aus dem Strom nicht erheben, um zu flie­gen, aber sie kann im Strom gelenkt werden und so sein Ziel erreichen. Freiheit gleicht auch einem neuen Ackerboden, in den die Keime des Sollens gesät werden, wofür der Wildnisbo­den überhaupt nicht empfänglich sein kann. Daraus bestimmt sich Kultur als das Gebilde, welches so heranwächst. Indem aber so die Freiheit dem Boden entspricht, ohne den nichts gedeihen kann, sehen wir auch, dass Freiheit um der Freiheit willen keinen rechten Sinn ergeben kann. Es ist ein karger Boden, der nur in mühsamer Bearbeitung fruchtbar wird und Früchte bringt. Für sich gesehen, wäre Freiheit eine bloße Verneinung, eine Plattform ohne Erzeugnisse. Da wir aber bisher alles unter dem Leitstern des Zweckes 10  Tim. 37 e; 34 b; 36 e; Phaidr. 246 a; Phaid. 79 d. Näheres b. Plato metaph. §§ 14–16.



§ 40  Die Entbindung und die Einbindung des neuen Daseins299

geschaut haben, legt es sich nahe, die Freiheit einzuordnen. Auch hier scheint nun das uner­hört Neue und Einzigartige der Freiheit einem ehernen Zweck­denken zum Opfer gebracht zu werden. Bedenken wir, dass Sitt­liches nur als Freiheitliches so sein kann, wie es ist. Aber im Verhältnis von Freiheit und Sollen hat die Freiheit keinen Inhalt, während wir am Sollen den Inhalt und den Anstoß un­terscheiden, der doch selbst wieder ein verwickeltes Ergebnis von verschiedenen Anregungen sein kann. Dieses Sollen erklärt sich grundsätzlich als Ausstrahlung des Zweck-Selben, wobei jedoch die Frage der Mitteilung und des Vernehmens im Bewusst­ sein noch unklar bleibt. Zunächst scheint der Inhalt scharf umrissen im Erkennen mit aller Ursprünglichkeit gegeben zu sein, und im Anschluss daran müsste sich der Anstoß von dem In­halt her begründen. Es ist klar, dass der Bewusstseinsbegriff wie auch das Geistverständnis der Metaphysik bisher diese Sicht sehr stark begünstigen. Desto nachdenklicher muss es uns machen, wenn auch im Rahmen dieser Metaphysik die Sicht schon durchbrochen wird durch eine Metaphysik des Willens. Dies bezeugt nur, dass es sich mit der Vernunft des Sittlichen nicht so einfach verhält wie mit anderen Einsichten. Ein blinder Anstoß vom Dasein her trifft sicherlich nicht den Nerv sittlicher Wahrnehmung; eine Freiheit, die sich ganz von der Vernunft herleitet, so wie Kant sie fasst, höhlt indes ih­ren Nerv aus. Da Sittlichkeit für uns Endzweck schlichthin bedeutet, kommt alles darauf an, dass hier die Ur-Teile des Wirklichen zwar voll beteiligt sind, dass jedoch der eigentli­che Schwerpunkt nur im Dasein, mithin im Willen zu liegen hat.

3. Zweckfreiheit und Zweck der Freiheit Freiheit legt sich zunächst als Abbruch der Entwicklung aus, der Organismus hat nichts übrig für die Freiheit. Das Zufäl­lige im Organismus gehört zwar dem Dasein an, mit der Frei­ heit hat es jedoch nichts zu tun. Nichts ergibt sich nach un­serer metaphysischen Sicht weniger zufällig als die Freiheit. So erscheint die Freiheit ganz in der Fassung des Zweckes; der Selbstzweck des Ich-Selbst, der wie ein Gipfel aus der Wildnis ragt, wird aufgebrochen zu einer neuen Ordnung, die als wirkliche noch näher bestimmt werden muss. Ontologisch ha­ben wir Willensfreiheit als eine feste Daseinszone zu verste­hen, die das Bewusstsein freisetzt von den wirkursächlichen Abläufen seines Leibes. Aber diese Zone ersetzt nicht die an­dere daseinsmäßige Wirklichkeit. Das neue Dasein ist einge­legt in die Entwicklung. Sein Verhältnis zu Raum und Zeit entzieht sich unserer Einsichtnahme. Tatsächlich ermöglicht sich eine zweckfreie Sicht. Freiheit öffnet erst Reflexion, und sie schaut das Logische zwecklos. Aber wie dieses schon an der Erfahrung sich als einen Aus­schnitt vom Zweck-Selben enthüllt, so erfährt das freie Be­ wusstsein eine Zweckfreiheit nur als vordergründige

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4. Teil, 3. Kap.: Sein und Sittlichkeit, der Geist

Möglich­ keit im Erkennen. Wir haben es mit einer Augenblickslösung zu tun, die sich scheinbar spielerisch betätigt, die freilich dem Zweckgefälle der Wirklichkeit niemals entgehen kann. Was hier vor sich geht, ist eine Verkehrung des Sinnes von Wirk­lichkeit, Erkennen als Selbstzweck, dem die Freiheit dient. Eine solche Verlagerung des Zweckmäßigen liegt aber im Auf­ kommen der Freiheit, und sie erhält natürlich einen starken Anstoß, wenn man das geistige Bewusstsein schlichthin als Ver­ stand auffassen möchte.11 Zweckfreiheit einer Wissenschaft vermag sich dann umso besser zu behaupten, da ja das Verste­hen der Dinge als der umgreifende Zweck zurückbleibt. Am Er­eignis Kultur hat sich indes schon gezeigt, dass diese in ih­rem gesamten Bereich zweckverwaltet ist und das Spielerische nicht ihr innerstes Ziel sein kann. Soweit sich Kultur bis jetzt mitgeteilt hat, bietet sie keinen Anlass, das Neuartige, welches nun in die Wirklichkeit einzieht, als zweckfrei von der Entwicklung anzusetzen. Zweckfreiheit liegt dem vernünftigen Bewusstsein deshalb so nahe, weil der Zweck, unter dem es steht, nur die andere Sei­te seiner Freiheit ist. Es bedeutet, dass es in dieser Freizo­ ne zwar losgebunden ist in Bezug auf seine tierische Vergan­genheit, aber nur wegen der Würde des neuen Zweckes, den es in der Vernunft erfahren darf. Freiheit bedeutet also empor­ gehobenes Bewusstsein. Es kann nicht darum gehen, dass die Ent­wicklung freiwillig vollzogen wird; dies wäre die völlige Zwecklosigkeit. Das Emporgehobensein führt zu einem neuen Er­kennen; die Dinge werden aus ihrer Eingründung im Zweck-Sel­ben erkannt, und in dem Maße wie die Eingründung verstanden wird, erschließt sich auch das Zweck-Selbe. Die Freizone und die aus ihr gewährte neue Sicht führt daher zur Bestimmung in einem neuen Handeln. Es ist der Zweck der Freiheit. Das ver­nünftige Bewusstsein vertritt die Dinge, indem es die Eingrün­dung bedenkt. Aber es verwaltet sie nur, indem es das Zweck-Selbe anwendet. Der Zweck liegt nun ganz in der Vermittlung, alles andere steht als Voraussetzung zur Verfügung. Alle Din­ge sind mitteilungslose Teilnahme an der teilnahmslosen Mit­teilung des ZweckSelben. Das freie und vernünftige Bewusst­ sein steht nicht als Mittelding dazwischen, es ist gefugte Wirklichkeit und Not-Wende, und alles, was es erzeugt, trägt diese Kennzeichen. Sein Handeln zeugt und bezeugt dennoch et­was Neues, das mit den Mitteln des Seins und der Wirklichkeit bisher nicht auszudrücken ist. Zweckfreiheit entpuppt sich als die Gefahr des neuen Selbst­zwecks, der seine natürliche Unschuld aber so nicht mehr hal­ten kann. Zweckfreiheit wird zur Verantwortungslosigkeit ge­genüber dem Zweck der Freiheit. Das vernünftige Bewusstsein kann seine Stellung nur aus einer Freizone heraus 11  „Das geistige Bewusstsein ist der Verstand selbst.“ Lehmen, Lehrbuch d. Philos. 1. S. 163.



§ 41  Kultur und Sittlichkeit301

verwirkli­chen. Die Freiheit ist bezweckt als Verbindung der Dinge mit dem Zweck-Selben, und daraus ergeht das Vernehmen, wie diese Stellung zu vollziehen ist auf Grund der Voraussetzungen. Die Zweckfreiheit entspricht zwar der Reflexion, aber Reflexion wird sofort zur Vernunft in der Anwendung des Zweckes der Freiheit.

§ 41  Kultur und Sittlichkeit 1. Die Wechselwirkung der Bildung Wie viele der Zwecke vordergründig auch sein mögen, so unent­wirrbar sie im Dasein auch verschlungen sind, der Zweck der Freiheit steht in der Vernunft in einer eigenartigen Weise an. Es ist die sittliche Gewissheit, die einer neuen Entwick­ lung folgt. Das Neuartige enthüllt sich als die Mittellosig­keit des Bewusstseins gemessen an den Einsichtnahmen bisher. Denn alles soll unter der Oberherrschaft des sittlichen Be­wusstseins zusammengebracht werden, nichts darin wird indes als Sein oder Wirklichkeit greifbar, und darin legt sich die Unmittelbarkeit des sittlichen Bewusstseins aus. So kommt es, dass die Metaphysik von einem Apriori der praktischen Vernunft spricht, das sie in einer gewissen Parallele zu den Denkge­setzen der Reflexion (ratio theoretica) sehen möchte. Eine solche Lösung mag zwar als praktische tatsächlich richtig, als theoretische nicht falsch sein, sie gelangt aber zu wenig zu dem neuen Verhältnis, das sich als ein viel verwickelteres darstellt als die verstandesmäßige Einsicht aus Denkgesetzen und Erfahrungsgleichnissen. So ist es zu erklären, dass der Unterschied zwischen der unmittelbaren Einsicht und der un­mittelbaren Gewissheit auch nicht im Ansatz in den Begriff kommt. Vom sittlichen Bewusstsein im Besonderen kann hier noch gar keine Überlegung sein, im Grunde dürften wir hier von Sitt­lichkeit noch gar nicht reden. Allein die Freisetzung von den Kreisläufen der Entwicklung, das Ausscheiden einer bloßen Zweckfreiheit und die Tatsache der Kultur lassen nun gar nichts anderes mehr übrig, als die Erhabenheit des Zweckes nur noch als Sittlichkeit anzunehmen. Die Aufgabe hat daran ihren Umriss gewonnen. Es muss noch deutlicher werden, warum sich der Zweck darin folgerichtig zum Selben hin fortführt, vollendet. Bisher haben wir Kultur in ihrer Gegenständlichkeit als Kul­turgerät gefasst, nun lässt sich sagen, dass sie im sittlichen Bewusstsein ihre eigentliche, letztgültige Innerlichkeit fin­det. Letztgültig meint dabei innerste oder höchste Zweckmä­ ßigkeit. Gewiss bleibt die Entsorgung in ihrer Bodenschwere ein wuchtiger Zweck, dem alles untertan zu sein scheint. Es ist aber offenbar geworden, dass die Entsorgung ihre Macht in der Vermittlung

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des alten Zweckes mit dem neuen Zweck hat, ihr Anspruch wird nun zu einer Bedingung, ohne die es nicht geht. Aber der alte Selbstzweck ist grundsätzlich aufge­sprengt, weil die neue Mitteilung nicht einfach auf ihrer neuen Ebene wirkt, sondern gerade im Bereich des alten Tätig­keitsfeld ihr geradezu wichtigstes Anliegen sieht. Gerade an der Entsorgung zeigt sich die Verschränkung der Daseinswei­ sen. Kultur als Äußerung ist zunächst einmal so zu verstehen: Es geht nicht darum, dass sich die Einzelnen zu einer welt­flüchtigen Innerlichkeit zurückziehen, um dem erhabenen Zweck zu dienen, wie immer dies auch sich gestalten mag. Kultur be­deutet Verschränkung von innen und außen, Verklammerung von Bildung und Entsorgung. Das sittliche Bewusstsein äußert sich in seinem ursprünglichsten Anliegen gerade damit, dass die Entsorgung da hineingehört. Ein Grundzug der neuen Zweckmä­ ßigkeit legt sich dahin aus, dass diese sich um alte Belange sorgt und sie keineswegs unter ihrer Ebene liegen lässt. Was sich als neue Zweckmäßigkeit zunächst abzeichnet, gilt dem Gemeinschaftsdenken in Bezug auf die Entwicklung, und die Kultur scheint so gerade ein Überbau zu sein, der als Frei­zeit und Freiraum entsteht. Es wird zu einem schwer durch­schaubaren Verhältnis; die Beziehung von Sittlichkeit als In­nenseite und Kultur als Äußerung drängt immer zum Leibhafti­gen hin. So hat es den Anschein, als ob nun die Fürsorge für das gemeinsame Wohl aller Leiber gerade der Bodensatz wird für eine Kultur, die in Musen schwelgt und jenes grundlegende Ziel dann zurücklässt. Darum ist es desto nötiger, um dieses feinnervige Verhältnis richtig zu fassen, dass wir unbeirrt den Zweck im Auge behalten, weil nur von ihm aus eine richti­ge Gewichtung vorgenommen werden kann. Die grundsätzliche Schwierigkeit hält sich doch darin, dass mit dem sittlichen Bewusstsein eine Ordnung aufgespannt wird, die weder als Natur noch als Kultur greifbar wird. Wir können im Wesen und am Er­kennen keinen Niederschlag finden, die nackte Wirklichkeit ändert sich nicht. Kultur und Sittlichkeit sind Ereignisse des Daseins, und es wird jetzt nicht recht klar, ob sie wett­eifern miteinander oder sich ergänzen. Was hier standhält, ist Bildung als möglichst ruhige Verschmelzung der beiden Da­ seinszonen. Bildung bedeutet zunächst einmal nichts anderes als die Einheit des leiblichen Wohles aus der Sicht des neuen Daseins. Das leibliche Wohl, die körperliche Wohlgestalt und das gesundheitliche Wohlergehen, wird zwar als gemeinsames Anliegen angenommen, aber darin schließt sich eben das Be­wusstsein nicht. Bildung zielt auf die Formung des Bewusstseins darüber hinaus. Alles, was die Entsorgung anhäuft, reicht nicht hin, auch wenn es im Bewusstsein der Mitteilung ge­schieht. Dies würde nur zu einer Bildung, die nicht aufbricht zu ihrer inneren Anlage eines freien Daseins. Betrachten wir unter Bildung die Einheit oder Wechselwirkung von Kultur und Sittlichkeit, so kommen wir dennoch zu dem Er­gebnis, dass auch das leibliche Gemeinwohl aller nicht ihr Ziel allein sein kann. Denn dies



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wäre lediglich eine Befrei­ung vom Kampf ums Dasein, die zu einer Entartung führen wür­de; es wäre ein Abbruch des Zweckes bisher, auf den keine neue Zielsetzung folgen würde. Das vernünftige Bewusstsein, welches sich mit einem solchen Materialismus begnügt, gerät in einen Widerspruch in sich. Es liegt daher zuinnerst im menschlichen Bewusstsein, dass es sich selber überschreitet, nicht nur in der Reflexion, sondern auch im Daseinshandeln. Damit gewinnt die Bildung ihren allgemeinen Grundzug. Das, worauf es ankommt, liegt in der Bewältigung eines ausgegli­chenen Verhältnisses zwischen dem Sich-Überschreiten des Be­ wusstseins und der Verschränkung mit der Herkunft aus der Wildnis. Hier pulst jetzt die Mitte der Wirklichkeit, weil sie darin am machtvollsten ihrer Bestimmung nachkommt. Es steht eine Metaphysik der Bildung an, die ihr Augenmerk so findet, dass sie sich um die Einheit der beiden Daseinsweisen kümmert. Denn nun erscheint der Mensch als jenes Bewusstsein, in dem der Selbstzweck bisher und das verschlossene Zweck-Selbe vermittelt werden sollen. Die Befreiung erfolgt im Sollen. Kultur entsteht schon immer aus der Verfassung der Selbstüberschreitung, und die Entsor­gung muss deshalb als eine Herablassung der neuen Daseinszone gewertet werden. Es geht niemals um einen Wohlstand allein, dies wäre schlimmer als bloße Wildnis, es wäre die Perversio, die Entartung im sittlichen Bewusstsein schlechthin. So klärt sich das Verhältnis von Kultur und Sittlichkeit auf, und es wird deutlich, worauf es letztlich ankommt. Sinnen und Trach­ten der neuen Wirklichkeit versteht sich als Einstimmung in diese Zweckmäßigkeit. Das Sich-Überschreiten des vernünftigen Bewusstseins findet sich immer zurückgeworfen in das leibliche Wohl, dies ist eine Tatsache. Aber dieses Leibhaftige soll sich mit allen Mitteln, die zur Verfügung stehen, bewusst ma­chen, dass es auf die Einstimmung in das Selbstüberschreiten ankommt. Also bildet das sittliche Bewusstsein den innersten Nervenstrang oder das zweckmäßige Rückgrat dieser Wirklich­keit Mensch, und Kultur entsteht und gedeiht dann als Mittel der Ausbreitung. Damit ist auch schon gesagt, dass Kultur nicht auf die Tongefäße verflacht werden kann. Denn die Ver­schweißung liegt ja zuinnerst im Sinne. Kultur umgreift die ganze Spannweite der neuen Natur. Sie webt als unmittelbarste Ausstrahlung des sittlichen Bewusstseins bis hin zum Ackerbo­den und zum einfachsten Tongefäß. Dann wird aber auch ein­ sichtig, dass sittliches Bewusstsein nicht nur ein Grundzug menschlicher Wirklichkeit ist, sondern deren Vollzug. Bildung versteht sich als das Zusammenschweißen. Alles, was die Hände des Menschen anfassen, ist immer schon ein bewusstes Bilden. Der Ameisenbau, die Waben der Bienen sind nichts Ge­bildetes; hier bedient sich ein Trieb des tierischen Bewusst­seins. Das einfachste Gebilde der Hände darf aber schon aus der Spannweite des sittlichen Bewusstseins verstanden werden, weil diese Haltung als letzte Zusammenfassung und Allgemein­heit al-

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lein übrigbleibt. Darum nimmt aber die Bildung in dem Maße, wie sie sich dem Kern der Kultur nähert, immer allge­meinere Formen und immer größere Auswirkung an. Hier zeichnet sich auch die Scheidung von aller Gelehrsamkeit ab. Echte Bildung kann nur aus der beschriebenen Mitte kommen, und sie wird auch nur aus dieser Mitte ihren Bezug und ihren Bestand erhalten können. Bildung ist Einbildung und Ausbildung. Zwischen Kultur und Sittlichkeit besteht eine Wechselwirkung; die Naturanlage strahlt sich aus als Entfaltung, gleichsam die Entwicklung des neuen Daseins. Aber dieses neue Dasein ist ja freige­setzt, und damit erhält das Verhältnis eine neue Richtung. Die Kulturanlage prägt auch das Bewusstsein, und dabei ent­hüllt der Zweck einen weiteren Grundzug. Die Mitteilung steht schon immer im Raume der Selbstüberschreitung, da sie ja mehr als das gemeinsame leibliche Wohl im Auge hat. Bildung wirkt als Wechselwirkung, indem die Kultur von außen nach innen den Menschen prägt. Es gehört zu den Freiheitsgraden der Bildung, dass sie allseitig formt, dass sie aber auch von allen Seiten her empfänglich sein kann und geprägt wird. Kultur und Sitt­lichkeit lassen sich metaphysisch betrachtet nur als zwei Seiten einer Anlage verstehen. Wo sie auseinanderlaufen, ver­ liert sich der Zweck menschlicher Gemeinschaft, die Bildung schlägt sich auf die Seite einer aufgeschwemmten Kultur, Sittlichkeit wird zurückgedrängt auf ihre „Reinkultur“. Wir bemerken, dass Bildung die Mitte halten muss; Bildung soll Kul­tur und Sittlichkeit zusammenhalten. Sittlichkeit in „Rein­ kultur“ kann so nicht verstanden werden, denn so wird sie zu einem Nebenzweck untergeordnet, der nur noch durch Strafrecht gestützt wird. Sittlichkeit an sich steht als Unwirklichkeit da. Sie ent­springt einer Anlage im menschlichen Bewusstsein, die selber nur in ihren Äußerungen greifbar wird. Dennoch lassen alle Äußerungen nur noch diese Unwirklichkeit als verbindliche und letztgültige Ordnung zurück. Nur sie bleibt zurück, wenn wir eine Verbindungslinie von der Entwicklung zum Zweck-Selben hin ziehen, und alles andere wäre eine Fehlentwicklung. Um den Zusammenhang zwischen Kulturbildung und sittlichem Be­wusstsein ganz zu verstehen, ist davon auszugehen, dass eine ungreifbare und unsichtbare Wirklichkeit sich in der erfahr­ baren Wirklichkeit Sinnbilder ihres Zweckes schafft. Erst jetzt erhalten wir die Begriffsform für die neue „Wirklich­keit“, die mit Mitteln bisher gar nicht wiedergege­ben werden kann. Das Technische an ihr erreicht niemals Sein nach Art und Weise der Natur; selbst die feinsinnigsten Äuße­rungen in Musik und Kunst bleiben immer etwas Technisches, weil sie nur im Bewusstsein weiterbestehen können. Sie haben kein Leben an sich. Aber diese Erzeugnisse erhalten als Un­wirklichkeit ihre geheimnisvolle Macht daraus, dass sie als technisches Sein zur Zweckmäßigkeit selber geworden sind. Die Gegenbewegung zum strebenden Selbstzweck findet als Herablas­sung statt. Das Le­bendige kann sich in seinem Streben



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nach Vereinigung nur hal­ten, indem es anderes Leben wieder auf­löst. Für den Ausgleich einer solchen Zweckwidrigkeit ist aber gesorgt, weil die Na­ tur in dieser Richtung angelegt ist. Die neue Wirklichkeit kann sich nur äußern, indem sie im Rah­men der alten ihre Kunstgebilde schafft. Kultur als Herablas­sung der Sittlich­keit, diese schafft sich ihren Unterbau. Da­mit öffnet sich ein neues Ausmaß der Überlegung. Kultur kann nur als Herablassung gedeutet werden, denn sie steht als Abbruch jeder Aufwärtsentwicklung bisher da. Es muss doch auffallen, dass jene Säugetiere, die dem Menschen näher stehen als alle anderen, weniger an tierischer „Kultur“ haben als die Bienen. Haustiere haben in Jahrtausenden nichts dazu gelernt. In der Herablassung deutet sich die Offenheit für die gesamte Wirklichkeit schon an. Kultur ist grenzenlos in Bezug auf Raum und Zeit, sie hat Welt, nicht Umwelt. Es er­klärt sich so die Kultur als Verwaltungsform des Stellvertre­ters des Zweckes der Welt. Die Herablassung wird aus der Sicht der Entwicklung gar nicht nötig, auch so gesehen wäre sie ein Eingriff als Fehlgriff. Herablassung ergeht als Erhe­bung, die Kultur wird zum Bindemittel der Angleichung der Welt an das neue Dasein, und Bildung waltet als das allseiti­ge Medium zwischen Kultur und Sittlichkeit, welches überall Zugang hat, zur Verfugung ansteht und für das Gelingen sorgt.

2. Freiheit und Vernunft; das geistige Bewusstsein Wir entnehmen dem Verhältnis, dass sich in der menschlichen Wirklichkeit eine Angleichung an das Zweck-Selbe ganz eigener Art vollzieht. Die Annäherung geschieht in der Herablassung an die übrige Wirklichkeit als Kultur, als Hege und Pflege. Die Annäherung geschieht in der Umkehr zur alten Natur, je­doch gerade nicht als Natur, dies wäre ein Rückfall, sondern eben als Kultur. Also wird der Mensch darin Gleichnis des Zweck-Selben. Aber seine Kultur hält die Natur nicht in Fu­gen, sie bezeugt nur in unmittelbarer Weise den Zweck, indem sie nicht Sein, sondern nur Ordnung darstellt. In der Natur äußert sich der Zweck im Sein, in der Kultur teilt er sich als Ordnung mit. Ordnung hat kein Sein, aber sie wirkt als eine Mitteilung des Zweck-Selben, Ordnung nimmt nicht teil, Sein ist Teil-Nahme. Jede Ordnung versteht sich jedoch als Bereich eines Zweckes, und Sittlichkeit beansprucht Ordnung aller Ordnungen zu sein. Es gilt also: Menschliche Wirklich­keit steht nicht bloß als Sein in der Vertretung zwischen dem Zweck-Selben und der Wirklichkeit, sie ist als seiende der Ordnung ausgesetzt. Dann wird verständlich, dass sie in der obersten aller Ordnungen eigentlich allein nur mit dem Zweck-Selben irgendwie in Verbindung treten kann. Alle Unterordnun­gen erhalten von daher ihre Ordnung, und in dieser Einstel­lung kann Kultur die Welt in Ordnung halten.

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Eine Überlegung muss sich jetzt ganz von selber aufdrängen: Sittlichkeit erscheint als Ordnung, und alles, was bis jetzt irgendwie erschließbar geworden ist, hat sich als eine Herab­lassung gezeigt. Es ist aufgekommen als ein Niederschlag die­ser Unwirklichkeit, greifbar wird es nur als Äußerung. Aber der Zusammenhang der gesamten Bildung entspringt doch einer Wirklichkeit, die in der neuen Daseinszone eingerichtet sein soll. Jede Wirklichkeit hat aber ihre Wirkung irgendwie in ihrer Daseinsebene und in ihrer Wesensform. So zeugt das Le­bendige wieder Lebendiges. Sittliches Handeln als Auswirkung der neuen Daseinszone kann sich nicht nur als Kultur nieder­schlagen; dies bedeutet, dass ihm nicht nur eine Äußerung ent­spricht. Es müsste also ein innerer Gehalt einer Wirkung gege­ben sein, worin die eigentliche Formursache von Kultur und Bildung zu suchen wäre. Hier ist nichts Wesentliches zu er­warten, aber das Wesen liegt dieser Wirkung zu Grunde, so wie es jedem Dasein vorausliegt. Es gehört nun einmal zum Eigen­tümlichen dieses Bereiches, dass sich seine Metaphysik nur an Äußerungen kundig machen kann. Es fehlt die unmittelbare Ein­sicht. Dagegen wächst eine unmittelbare Gewissheit, der es ei­ gen ist, dass sie erst aus der Erfahrung in ihrer Unmittelbar­keit gewinnt. Darum verhält sich dieses ­Apriori, wenn ein solcher Anklang überhaupt gegeben ist, ganz anders als ein principium per se notum et analyticum. Das innerste Ereignis des Sittlichen bleibt verschlossen. Übersetzt sich seine Wirkung unmittelbar nur ins Gemüt und wird es erst von da zur Äußerung, oder gehört ihm eine unmit­telbare aber unsichtbare Gegenständlichkeit an? Auch diese Frage muss offen bleiben. Wir nennen die Wirklichkeit der neu­en Daseinszone Geist. Weiter reicht unsere Metaphysik nicht. Was wir an Geist erfahren, ist immer schon Vermittlung. Ich erfahre mein Bewusstsein nicht unmittelbar als Geist. Aber die Werke des Geistes, dies alles sind jedoch nur Auswirkungen, lassen sein Dasein in mir mehr und mehr zur unmittelbaren Gewissheit werden. Darin liegt freilich ein gewisser Wider­spruch. Warum erfahre ich den Geist nicht so offensichtlich wie den Leib? Gibt es eine geistige Kultur, oder hat Kultur ihre Bestimmung gerade in der Bindung des Geistes an die Ma­terie? Andrerseits: Müsste geistiges Dasein, dem Wesen und Er­kennen natürlicherweise nicht fehlen können, nicht selbstän­diger sein als Leben und Bewusstsein im Reiche der Entwick­lung? Die Antwort, die gegeben werden kann aus der Sicht bisher, reicht nur dahin: Für das geistige Bewusstsein wird die sitt­liche Ordnung zu einem Netz der Zweckmäßigkeit, dem es nicht entkommen kann. Wie das Lebendige den Kreisläufen der Ent­wicklung ausgesetzt ist und darin seine Not-Wende hat, so steht Geist unter dem Entscheidungszwang am Zweck-Selben. Die Gesetze des Geistes sind andere als die des Lebens, aber der Zweck bleibt die Brücke, die uns zu seinem Verständnis führt. Damit ergibt sich folgender Schluss: Geistige Wirklichkeit kann keineswegs der Zweckfreiheit ausgesetzt



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sein, sie tritt nur in ein neues Verhältnis zum Zweck-Selben. Aber diese Wirklichkeit ruht in der Freiheit als ihrem Daseinsboden, und daraus leiten sich ihre Besonderheiten her. Ihr allgemeiner Rahmen ist das Spannungsfeld von Sittlichkeit und Freiheit, woraus wir Geistiges näher bestimmen können. Freiheit findet bis jetzt ihren Inhalt nur in der Befreiung von der Entwicklung. Dies bedeutet, dass Freiheit nur eine Ge­gebenheit des Gemütes sein kann. Weder Wesen noch Erkennen noch sich entwickelndes Dasein verraten Anlagen, um die Vor­ stellung Freiheit unterzubringen. Der überkommene Frei­heitsbegriff weigert sich geradezu, seine Wurzeln außerhalb der Erkenntniszone, näherhin der Vernunft zu suchen.12 Allein diese Sicht muss zu sehr von einem Idealismus getragen werden, der sich aus der Erfahrung zu wenig stützen lässt. Freiheit kann sich nur aus einer beobachteten Zweckmäßigkeit an der Erfahrung herleiten. Das in die Entwicklung verknäuelte, tie­rische Selbst, welches nur als Pol des Strebens alles auf sich bezieht, erhält im Gemüt eine abgelöste Zone, das Dasein der höheren Gemütsbewegungen. Wenn sich aber Gemüt nur aus der Daseinszone bestimmen lässt, so besteht geistiges Dasein lediglich aus Gemüt, und dieses besteht grundsätzlich ohne die Kreisläufe der Entwicklung. Darum wird jetzt erst verständlich, warum Freiheit und sitt­liche Ordnung sofort ein Feld der Zuordnung aufspannen. Es bleibt kein anderer Bereich mehr übrig. Vom Dasein her be­gründet sich Freiheit als die neue Losbindung vom Boden des alten Daseins. Die Freibeweglichkeit des Tieres erinnert nun an die Freiheit des Menschen als den folgenden Fortschritt. Dabei wird auch deutlich, dass der Wurzelstock der Pflanze seine Entsprechung im tierischen Bewusstsein findet. Die Frei­beweglichkeit zeigt sich jetzt als eine solche, die schon im­mer eingefangen ist im Plan der sittlichen Ordnung, und dies in zweifacher Weise. Sagen wir, Dasein des Geistes ist Frei­heit, so haben wir eine Bestimmung, die nur von ihrer Unter­zone Entwicklung her ihre Beschreibung nimmt. Dies käme doch der Bestimmung gleich, dass Tier ist eine vom Boden losgebun­dene Pflanze. Ein solches Dasein begründet aber auch erst die Reflexion. Das Zurückversetztsein in das Selbe weiß sich im Selben als hineinversetzt in das Andere, mithin in das alter ego. Dieser Beziehung entspricht im Dasein die Möglichkeit, sich abzuwenden vom Ich und sich in der Mitteilung hinzuwenden zum Anderen. Es kann daher sittliche Ordnung nur zu­ständig sein, wo Freiheit eingesetzt ist. Freiheit enthält daher mehr als nur Losgebundenheit, weil sie sich in dieser Ansicht eigentlich nur ihrer Unterzone der Entwicklung anbietet. Dennoch 12  Diese Auffassung findet bei Kant und Hegel ihren Höhepunkt. Auch Descartes’ „sum res cogitans, mens sive animus sive intellectus“ kennt keine andere Herleitung. Dagegen bekämpft Schopenhauer diese Ansicht, ohne seine „Willensfreiheit“ allerdings im Individuum begründen zu können.

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muss jetzt gleich einem Missver­ständnis vorgebeugt werden, denn so, wie Freiheit bis jetzt eingerahmt worden ist, wäre sie tatsächlich nur Ansichtssa­ che. Sie zeigt sich nämlich so der Entwicklung gegenüber als Losgebundenheit, der sittlichen Ordnung gegenüber als Einge­bundenheit. Wo bleibt aber dann der eigentliche Keim der Freiheit? Es bleibt daher nur übrig, die Zone des Daseins als ein Ich aufzufassen, welches in ursprünglicher Weise sich als Wirklichkeit besitzt. Dies bedeutet Dasein als rei­nes Be­wusstsein, eine Zone, worin jeder Gehalt an Materie aus­ge­schieden bleibt. Nennt man eine solche Verfassung auch noch Leben, so eignet ihm ein unmittelbarer Selbstbesitz, der freilich an eine Wesenheit gebunden bleibt. Freiheit gegen­über einem Wesen, gegenüber dem Erkennen wäre natürlich ein ontologisches Absurdum. Damit wird die Möglichkeit gegeben, dass sich ein solches Bewusstsein der zweckmäßigen Ordnung ver­sagt. Es bieten sich somit verschiedene Einordnungen an, den Inhalt Freiheit in eine Beziehung zu setzen. Denn eine frei­heitliche Tätigkeit oder Auswirkung ohne einen Bezug wird schwerlich vorstellbar. Freiheit als freiwilliges Befolgen einer Zweckmäßigkeit, die umweltlich oder weltlich geboten ist. Es bleibt dabei offen, dass eine solche Zweckmäßigkeit sich in verschieden starker Dringlichkeit mitteilt. Von ihrer anderen Seite her wird Freiheit zum Widerspruch gegenüber ei­ner Zweckmäßigkeit. Schließlich gehört aber zur Freiheit auch das freie Spiel der Lust und des Schönen. Denn Dasein ist die eigentliche Zone des Je-Einzelnen, und hier muss sich wohl ein beträchtlicher Bereich erschließen, der frei bleibt vom Kraftfeld eines Sollens und vom Eigensinn eines Widerspruchs. Es gehört aber dann dennoch zu diesem Spielraum, dass in ihm weithin Beziehungen zur Welt der Kultur und der Natur ge­knüpft werden. Es ist hier Freiheit möglichst rein von der Daseinszone her, die ihren Ursprung ergibt, bestimmt worden. Eine solche Frei­heit teilt sich im Umfeld der Entwicklung nur als keimhafte Anlage mit, und sie lebt hier eingetaucht in die Macht der Kreisläufe. Nicht die Entscheidungsfähigkeit, sondern die Möglichkeit, sich bilden zu lassen, müssen wir deshalb zuerst sehen. Freiheit als Empfängnis. Damit erhält Bildung ihren Tiefgang, selbstverständlich zielt sie auf Freisetzung des geistigen Daseins, und Kultur tritt mit der Absicht auf, die geistige Natur in sich zu festigen. Kultur als Burg des Gei­stes, aber sicher nicht als Abschirmung gegenüber der Wild­nis. In der Wechselwirkung zur Kultur wird daher Freiheit zur eigentlichen Grundlage der Bildungsfähigkeit. Die gegenseiti­ ge Bedingung, sagen wir besser die Beeinflussung, die hier zwischen Freiheit und Vernunft ans Licht möchte, hat schon immer die Philosophie und die Weisheitslehren beschäftigt. Die Beleuchtung dieses Verhältnisses kennzeichnet ein Denken, welches Vernunft als Vernehmen eines sittlichen Anrufs ver­steht. Gemeinhin gilt die Vernunft nicht nur als Sitz des logischen Erkennens, sondern mehr noch als Herd eines gerechten, sach­lichen und wahrhaftigen



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Einsichtnehmens. Letzteres will aber doch besagen, dass Vernunft zwar ansteht im Bewusstsein, dass sie indes erst zum Zuge kommt, wenn das Gemüt gebildet ist, wenn es von seinem triebhaften Eigensinn befreit ist. Es stimmt dann aber, dass ein zur Freiheit gebildetes Gemüt in dem Maße für die Vernunft empfänglich wird, wie es zur Frei­ heit erzogen wird. Allein dieses Verhältnis wird nur als ein bewusstseinsmäßiges aufgefasst; eine ursprünglich gesetzte Ver­nunft soll Freiheit erzeugen, und das sich bildende Bewusst­ sein vollzieht dabei nur eine Umkehr zurück zum ursächlichen Seinsquell der Freiheit. Es ist aber inzwischen klar gewor­ den, dass wir dieses bewusstseinshafte Verhältnis von Vernunft und Freiheit keineswegs als Umkehr zu einer ursprünglich an­deren Anordnung sehen müssen. Vielmehr vollzieht sich hier eine Abfolge, die so auch ontologisch schon angelegt ist. Denn Bewusstsein stellt keine ursprüngliche Zone dar, Bewusst­sein gliedert sich auf in Dasein und Erkennen. Die Zone des Daseins, die Freiheit als Fähigkeit des Entscheidens anführt, ist in ihrer Erhabenheit der Standort, welcher Vernunft im Bewusstsein aufkommen lässt. Dies bedeutet nur, dass sich nach dieser Sicht von Freiheit und Vernunft in Bezug auf das Ver­ hältnis von Weisheit, Besonnenheit usw., so wie es bisher ge­sehen wurde, überhaupt nichts ändert. Das eigentliche Ziel der Bildung kann deshalb nur in der Er­ziehung zur Freiheit sein, weil sie zur Wahrnehmung der Ver­nunft von selber führt. Es kann Vernunft nicht unmittelbar angestrebt werden, Vernunft muss befreit werden. Dies ist das Hohelied der Philosophie Platons. Letzten Endes geht es aber hier um ein seelisches Verhältnis von Freiheit und Vernunft, und dieses kann sich so der Metaphysik als Gegenstand nicht stellen. Indem Aristoteles aber die Psyche Platons zum Grund­ stock seines Seinsbegriffs erwählt hat, ist in dieser Anlage die Möglichkeit einer grundlegenden Unterscheidung zwischen Geist und Seele überlagert bis auf den heutigen Tag. Im Rah­ men des hier dargestellten Seinsbegriffs kommen wir deshalb zu folgendem Ergebnis. Das Besondere der menschlichen Wirk­lichkeit müssen wir nicht im Wesen Mensch suchen, wohl auch nicht in der Vernunft, sondern in seinem geistigen Dasein, das ihn von allen Tieren unterscheidet. Sein geistiges Dasein bleibt aber eingesenkt in das Streben der Entwicklung, und daraus stellt sich ihm die einzigartig schwere Aufgabe der Vermittlung zweier Zonen im Dasein. Das Ereignis Mensch ist also ein Ereignis im Dasein. Natürlich entspricht die Gestalt des Wesens dem irgendwie, aber diese könnte wohl in unzähli­ger Vielfalt der Formen auch bestehen. Der Artenreichtum gibt uns dafür ein unübersehbares Zeugnis. Vernunft aber bleibt formlos, und Freiheit kann nicht an ein Wesen gebunden sein.

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§ 42  Freiheit und sittliche Ordnung 1. Die Freiheit als Kraft zur Gelassenheit Betrachtet man das Erscheinen der Lebendigen als den Aufstieg des Lebens, so lässt sich wohl auf den Ebenen eine Parallele ziehen zwischen der Losbindung des Tieres vom Boden zu der Freisetzung einer Daseinszone inmitten von Entwicklung nach gesetzmäßiger Abfolge. Das Freibewegliche des Tieres ent­spricht außen der augenblicklichen Einstellung des Bewusst­ seins auf eine jeweilige Gegebenheit der Umwelt, und damit ist der Rahmen zu einer zufälligen Unberechenbarkeit gegeben. Die Entscheidung geht dahin, welchen Weg des Strebens ein hochentwickeltes Säugetier von Fall zu Fall einschlägt. Die Zuneigung, zu der Hunde fähig sind, ist erstaunlich und nä­ hert sich dem Menschlichen. Dennoch kann das neue Verhältnis nicht einfach als eine Fortentwicklung erklärt werden. Es verhält sich tatsächlich so, dass sich das neue Verhältnis im Bewusstsein weniger in der Freiheit eines Willens als in der vernünftigen Einsicht offenlegt. Weil dieses Bewusstsein vernünftig ist, kann ich von ihm ein sittliches Verhalten er­warten. Dies berechtigt, die Vernunft als den Herd des sitt­lichen Bewusstseins anzuerkennen. Eine solche Sicht lässt sich erkenntnismäßig auch verständlich machen, indem die Reflexion ja die Zusammenhänge des Sollens wahrnimmt. Aber gera­de das deutsche Wort „Vernunft“ besagt mehr als alle anderen Bezeichnungen, indem es in einzigartiger Weise den Unter­schied zu „Verstand“ zum Ausdruck bringt. Denn dieses „Ver­nehmen“ enthält zumindest eine Offenheit zum Dasein in der Weise des Gemütes, und darin liegt die Voraussetzung, die Be­dingung oder die Ermöglichung von Vernunft. Das neue Ver­hält­nis muss deshalb als ein seinsmäßiges angegangen werden, weil es nur so in seiner grundlegenden Verschiedenheit zum Streben des Bewusstseins herausgestellt werden kann. Denn was sittli­ches Bewusstsein als innerstes Merkmal von allem anderen ab­setzt, ist die Umkehrung des Strebens. Die Suche nach dem höchsten Gut, das vor allen anderen Gütern zu erstreben ist, kennen wir alle aus den Schriften der Wahr­heitssucher. Wir bemerken auch, dass dieses Leitbild begriff­lichen Spannungen ausgesetzt bleibt, weil die einen es mehr in erkenntnismäßiger Hinsicht, die anderen es mehr im Handeln des Daseins finden wollen. Ein solches Streben nach dem höch­sten Gut verdeckt nun wenigstens im Ausdruck gerade das, worauf es ankommt. Es versteht sich für uns, dass ein solches Bemühen seine Zielsetzung nur in einem sittlichen Bewusstsein haben kann, da es sonst den letzten Zweck verfehlt. Dann be­kundet sich aber das Einzigartige dieser über alles gebieten­den Ordnung im Ablassen vom Streben. Denn alles Streben gilt den untergeordneten Zweckmäßigkeiten. Wenn wir Freiheit nicht nur als eine Entbindung,



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sondern als eine inhaltliche Kraft des Willens erfassen wollen, dann erweist sie sich doch ge­rade im Abstand nehmen vom Streben des alten Daseins. Es ent­springt einer oberflächlichen Sicht, wenn wir meinen, da­mit wäre ja auch die sittliche Haltung des Bewusstseins aufge­ge­ben. Es geht darum, dass wir jetzt vollends einsehen, wie sich die letzte Zweckmäßigkeit dem geistigen Bewusstsein mit­teilt und dass hier eine Mitteilung erfolgt, die nur aus der neuen Ordnung von aller Teilnahme frei sein kann. Das Bewusstsein findet in der sittlichen Ordnung die Möglich­keit, über seine seinshaften Grenzen hinaus zu wachsen; gera­ de deshalb kann die Auswirkung solchen Handelns nur als Un­wirklichkeit sich ankündigen. Was sich so als Unwirk­lichkeit zeigt im Ausdrucksvermögen der Wirklichkeit, dies deutet ge­rade die Überwirklichkeit des Zweck-Selben an. Eine Parallele zum Erkennen zeichnet sich wohl ab. Erkennen darf als das Selbe im Wirklichen verstanden werden, dem aber so jedes Sein abgeht. Die Unwirklichkeit des Sittlichen wird jedoch zu ei­ ner daseinsmäßigen Macht, auch wenn sie unmittel­bar nicht messbar wird am Wirklichen. Ähnlich erzeugt auch die Anwendung des Verstandes eine Macht, die Wirklichkeit kulturförmig än­dern kann. Allein sittliches Handeln erreicht darin seine einzigartige Höhe, dass es alles Kulturförmige im­mer erneut als Mittel zum Zweck herabsetzt, um ständig und grenzenlos eine neue Unmittelbarkeit des Bewusstseins zu er­schließen. Das Kulturförmige bleibt immer als Ausdruck zu­rück, und es ist allein das Sittliche, welches die Kultur im Geistigen hält und sie vor einem Abfall in den verständigen Materialismus bewahren kann. Darin hält sich deshalb die un­gleich höhere Zweckmäßigkeit gegenüber dem bloßen Erkennen und Anwenden. Das Überwirkliche hält sich im Verzicht auf al­le Mittel, und diese ergeben sich als Ausdruck wie von sel­ber. Ein solches Verhältnis vermag sich jedoch einzig und al­lein als Inbegriff des Selben zu rechtfertigen, und es liegt ganz in der Art des Inbegriffs, wie diese Unwirklichkeit zur Wirksamkeit wird. Einzig und allein der Inbegriff des Selben erhöht das sittli­che Bewusstsein über alles, einzig und allein das Sittliche vermag aber auch mit dem Selben irgendwie in Berührung zu kommen. Denn nur weil das Sittliche darin unmittelbar wird, wächst es über sich hinaus. Die Unmittelbarkeit behauptet sich im Ab­stand von aller Teilnahme am Wirklichen, welche sich als Streben kennzeichnet. Die Kraft der Freiheit be­kun­det sich im Ablassen vom Streben, die wir als innere Gelas­ senheit kennen. Allein diese Kraft kann nur als eine gerich­tete aufkommen, es ist die Tatenlosigkeit des sittlichen Be­wusstseins als höchste Form des freien Selbstbesitzes. Der In­begriff des Selben ver­steht sich dann in der gemüthaften An­näherung. Das Gemüt hat als seinen Grundzug die Verselbigung, und darum ereignet sich in ihm, nicht im Erkennen die An­gleichung an das Selbe. Die Einswerdung in allumgreifender Zweckmäßigkeit kann sich nur im Gemüt des Bewusstseins

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ereig­nen, weil nur hier, in der Ver­selbigung die Wirklichkeit ihre Ausrichtung erhält. Die Un­ mittelbarkeit gelingt in der Ver­ selbigung, indem das Bewusst­sein im sittlichen Handeln mit den Anderen eins wird. Es ist also eine vermittelte Unmittel­bar­keit, die das Verhältnis zum Selben erzeugt. Der Andere ist aber nicht Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck. Gerade darin erhält das sittliche Bewusstsein seine einzige Mög­ lich­ keit, sich dem Selben im in­nerwirklichen Bereich zu nähern. Die Vermittlung gerinnt zur Unmittelbarkeit, indem es im An­deren dem Selben begegnet. Im sittlichen Handeln überschreitet das Bewusstsein die Ur-Teilsfugen seiner Wirklichkeit; hier steht nicht mehr die Al­ leinigkeit des erstrebten Selbstzwecks obenan; es ist die All-Einigkeit als Gegenbewegung aus Freiheit vom Streben und als Hinbewegung zum Selb-Anderen. Dies ist kein Streben, son­dern nur ein sich Öffnen dem Zweck in seiner höchsten Allge­ meinheit und möglichen Unmittelbarkeit. Wenn wir das Verhält­nis in seinen allgemeinsten Bezügen und Zuwendungen beschrei­ben, so stellt es sich, wie folgt dar: Die Erfüllung liegt im Geschehen, nicht im Einsichtnehmen. Aus der Unwirklichkeit des Sittlichen lässt sich wohl noch am ehesten erklären, dass es sich gerade als Ablassen vom Streben einstellt. Denn solches Streben trägt für gewöhnlich die Züge der Teilnahme, und es wird damit zur Gleichgültigkeit gegen­über der Ordnung des Sittlichen. Wegen dieser Verfassung müssen wir aber die Einstellung des sittlichen Bewusstseins an sich schon als ein die Ordnung vollziehendes Geschehen annehmen. Das Bewusstsein in dieser bewussten Ausrichtung gleicht so einem Kraftfeld, dessen Da­sein allein schon in hohem Maße Tätigsein bedeutet. Es wird auch deutlich, dass die Zuwendung zum Anderen in Form einer Mitteilung dessen, was man gewöhnlich für sich selber erstrebt, nicht allein ausreicht, um das Sittliche nach seinem ursächlichen Grund zu erklären. Der Rahmen des Ver­hältnisses setzt den Inbegriff des Selben als Zweck vor­aus, der Grund wird ohne den so gefassten Zweck nicht greif­bar. Das Dreiecksverhältnis, welches uns am Vorgang des Er­kennens auf­gegangen ist, zeichnet sich jetzt im Dasein aus. Aber hier ereignet sich alles auf der Grundform des Gemütes, dort auf der Grundform des Erkennens. Im Erkennen ergibt sich die im­mer bessere Unterscheidung, im Gemüt soll alles zur Versel­bi­ gung werden. Darin stoße ich auf den Nerv des sittli­chen Han­delns, dass das Andere nicht als Mittel zum Zweck her­abgesetzt wird, weil ich in ihm Mittel und Zweck verselbigt finde. Die Ausrichtung des neuen Daseins kann nur den Rich­ tungssinn des Überschreitens der Wirklichkeit bisher haben, und diese kann nur in der Selbstüberschreitung erzielt wer­ den. Der Anschluss an das Zweck-Selbe kann sich aber nur im Zusammenschluss mit



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den Anderen einstellen. Eine andere Mög­lichkeit lässt sich dem Plan der Natur oder der Metaphysis nicht entnehmen. Der metaphysische Gleichnisgedanke, welcher als Zweckform die Wirklichkeit durchwaltet, wird im sittlichen Bewusstsein Reflexion; er durchbricht seine Bewusstlosigkeit, die er im tie­rischen Bewusstsein hat, und die Reflexion selber erscheint nun wie ein Mittel. Denn alles strömt nun in die Tateinheit der Gesinnung und alles kommt auf den Anschluss zum Selben an. Das Selbst findet in der Zuneigung zum anderen Selbst die planmä­ßige Möglichkeit, das Selbe ins Verhältnis zu setzen. Ich, das andere Ich und das Selbe erreichen im Dasein eine einzig­artige Unmittelbarkeit, die immer erneut alle Vermittlung überschreitet. Also öffnet sich in der sittlichen Ordnung ei­ne geradezu grenzenlose Innerlichkeit oder Erinnerung. Diese einzigartige Berührung kann nicht wirklich werden, denn sie wäre eine Mittelwirklichkeit, die sich so nur dazwischen­stellt. Hier gibt es keine Vermittlung mehr, hier kommt alles auf das Verhältnis an. Betrachten wir die Freiheit angesichts dieses Verhältnisses. Freiheit behauptet sich als der unableitbare Daseinsgrund für dasselbe, und die Möglichkeit des Versagens oder des Wider­sprechens ist nichts anderes als ein Grundzug der Anlage. Aber das so eingerichtete Bewusstsein steht unentrinnbar im Sog des Zweck-Selben, der mit seiner Wirklichkeit einfach ge­ geben ist. Von dieser Seite her, nämlich von der Möglichkeit des Widerspruchs aus gesehen, lässt sich auch alles zusammen­fassen. Gerade so zeigt sich Freiheit als die höchste Kraft in der Tatenlosigkeit, es ist die Stärke, sich allem Wider­spruch zu versagen, und die Gesinnung wird dann ganz von sel­ber zur Anwendung. Das Sittliche kann nicht erstrebt werden, weil an ihm alles Triebhafte ausgeschieden bleibt. Es ist al­so die Gelassenheit des freien und starken Gemütes, die das Sittliche, soweit es sich erkenntnismäßig mitteilt, wie von selber einleuchten und wirksam werden lässt. Damit vollendet sich die seinsmäßige Anlage, wonach die Freiheit des Da­seins erst Erkennen zur Reflexion erhebt. Im Bewusstsein öffnet sich das freie und gelassene Gemüt, so dass das sittliche Verhält­nis in seiner Zweckmäßigkeit zum Leuchten kommen kann.

2. Die unmittelbare Gewissheit des Sittlichen Es war schon mehrmals von der unmittelbaren Gewissheit die Re­de, die sich von der unmittelbaren Einsicht grundsätzlich un­terscheidet, da letztere sich immer aus dem Selbstverständnis der Reflexion behaupten muss. Zunächst soll einmal der Eindruck eines Parallelismus zwischen dem Apriori einer ratio theore­tica und dem Apriori der ratio practica vermieden werden. Mit dieser Auffassung ist freilich nichts anderes gemeint als die unmittelba-

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re Gewissheit des sittlichen Bewusstseins. Der andere Bewusstseinsbegriff, dessen Vernunft-Monopol ja gerade in der Bezeichnung ratio theoretica und practica zum Ausdruck kommt, vermag aber mit einer solchen Auffassung nicht genügend das Eigenartige der sittlichen Empfindung wiederzugeben. Das Eigenartige wird im Vergleich mit dem logischen Apriori über­deckt; ihm ist es eigen, dass es mit einem erkenntnismä­ßigen Apriori nicht getroffen wird. Man sollte deshalb in diesem Bereich überhaupt nicht von einem Apriori sprechen. Es bleibt bedeutsam, dass man eigentlich nur im logischen und im sittlichen Bereich von einem Apriori in der Wahrnehmung spricht. Sicherlich eignet auch dem Schönen etwas Ursprüngli­ches, welches sich nicht ohne weiteres von den beiden anderen Gründen herleiten lässt. Die Unmittelbarkeit erweist sich in­des bei näherem Zusehen jeweils als eine völlig andere. Das logische Apriori kennt keine Vermittlung, keine Begründung, keine Erklärung; es steht als letzter Grund der Reflexion, mag eine Erkenntnislehre auch mit allerlei Klimmzügen versuchen, es wankend zu machen. Es darf auch als angelegte Denkform gelten. Darin kann man Kant zustimmen. Seine Geltung kommt in der Erfahrung lediglich zur Anwendung, es ist kein Erfah­ rungsgrund, sondern grundlegend für alle Erfahrung des Be­wusstseins. Aus dem Verständnis der unmittelbaren Gewissheit entnehmen wir dagegen, dass sie sich auf den Geltungsbereich des Sittlichen beschränkt. Nun zeigt sich eine solche Einschränkung jedoch nicht als Sonderfall oder als Unterordnung, sondern als her­vorragende einzigartige Auszeichnung. Wenn eine Ethik die sittliche Ordnung als einen Gesichtspunkt der menschlichen Wirklichkeit betrachtet, so ist jedenfalls die ontologische Grundlegung nicht gelungen. Seiendes gibt sich als Zweckmä­ßigkeit zu erkennen, und sie erhält in der sittlichen Ordnung ihre letzte Zusammenfassung; diese wird also nicht grundle­gend für die Erfahrung, sondern abschließend. Von dieser Ver­ anlagung und Zielsetzung her erhalten wir den Schlüssel, um die unmittelbare Gewissheit zu verstehen. Ihre Unmittelbarkeit wird nämlich gerade zur Umkehrung der unmittelbaren Einsicht. Die sittliche Ordnung nimmt alle Erfahrung in sich auf, und sie allein vermag alle Erfahrung abzuschließen. Hier waltet eine allseitige Vermittlung, die sich aber aus dem Anstehen am Zweck-Selben ständig in die Unmittelbarkeit und in die Verselbigung des Gemütes verjüngt. Der grundsätzliche Unter­ schied dieser Unmittelbarkeit zur Einsicht behauptet sich al­so darin, dass die Gewissheit aus der Erfahrung genährt wird und dabei aus aller Vermittlung zur Unmittelbarkeit im Be­ wusstsein herauswächst. Letztere erscheint dann wie ein Aprio­ ri, ihre Genesis aber enthüllt sie dennoch als Erfahrung. Die unmittelbare Gewissheit enthält naturgemäß immer den Er­ kennt­ nisinhalt, sie ist keine Blindheit. Aber ein solcher Er­kenntnisinhalt lässt sich



§ 42  Freiheit und sittliche Ordnung315

nun auch wieder beobachten nach sei­nem Sollen als Inhalt und nach der Begründung dieses Sollens aus einem seinsgemäßen Zusammenhang. Auch hier taucht der Un­terschied zwischen der Einsicht und der Gewissheit herauf. Es gehört ja ganz zur Vermittlung der Gewissheit, dass ihre Erfah­ rungsgründe im Bewusstsein untergehen, indem sie sich wie die Gewohnheit im Gemüt verselbigen. Das gewissenhafte Bewusstsein hat deshalb seine unübersichtlichen und äußerst verwickelten Erfahrungsgründe meist nicht einsichtig vor Augen. Aber es weiß dennoch Bescheid im Hinblick auf den Inhalt des Sollens; es erfährt unmittelbar den Anstoß dazu; es bedarf keiner lan­gen Unterredung, die es sogar verständigerweise unsicher ma­chen kann. Die Gewissheit hat ihren Schwerpunkt im Hinblick auf ein inhaltliches Sollen, weniger in einer einsichtigen Begründung, was nur für ihre Ähnlichkeit mit dem Apriori spricht.

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318 Literaturverzeichnis – Kritik der praktischen Vernunft. Hrsg. von Joachim Kopper. Stuttgart, Reclam 1970 (Universal-Bibliothek; 1111–13). – Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2. Aufl. Frankfurt, Suhrkamp 1977 (Werkausgabe; 7). – Kritik der reinen Vernunft. Hamburg, Meiner 1967 (Philos. Bibliothek; 37 a). – Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von Karl Vor­länder. Unveränd. Nachdr. d. 6. Aufl. von 1924. Hamburg, Meiner 1924 (Philos. Biblio­thek; 39 a). – Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphy­ sik. Hrsg. von Karl Vorländer. 6. Aufl. Ham­burg, Meiner 1976. (Philos. Bibliothek; 40). Kern, Iso: Husserl und Kant. Haag, Nijhoff 1964. Kraft, Julius: Von Husserl zu Heidegger. Kritik d. phänomeno­ logischen Philos. 3. Aufl. Hamburg, Meiner 1977. Lehmen, Alfons: Lehrbuch der Philosophie auf aristotelisch-scholastischer Grundlage. Bd. 1. Freiburg i. Br., Herder 1899. Mansion, Suzanne: Die erste Theorie der Substanz: Die Substanz nach Aristoteles. In: Metaphysik und Theologie des Aristoteles. Hrsg. von Fritz-Peter Hager. Darmstadt, Wiss. Buchges. 1969. S. 114–138 (Wege der Forschung; 206). Marbach, Eduard: Das Problem des Ich in der Phänomenologie Husserls. Den Haag, Nijhoff 1974. (Phaenomenologica; 59). Natorp, Paul: Platos Ideenlehre. E. Einführung in d. Idealismus. Leipzig, Dürr’sche Buchhdlg. 1903. – Über Platos Ideenlehre. Berlin, Reuther & Reichard 1914 (Philos. Vorträge; 5.). Owens, Joseph: Wesen und Realdistinktion bei Thomas von Aquin. In: Thomas von Aquin. Hrsg. von Klaus Bernath. Darmstadt, Wiss. Buchges. 2. Philos. Fragen. 1981. S. 239–265. Platon: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Griech. u. Dt. nach der Übers. F. Schleier­ machers, erg. d. Übers. von Franz Susemihl u. a. Hrsg. von Karlheinz Hülser, Frankfurt a. M. u. a., Insel 1991 (Insel Taschenbuch; …). Schindele, St.: Zur Geschichte der Unterscheidung von Wesenheit und Dasein in der Scholastik. München, Kastner & Lossen 1900. Schopenhauer, Arthur: Sämtliche Werke. Hrsg. von Arthur Hübscher. 2. Aufl. Wiesbaden, Brockhaus 1949. 2. Die Welt als Wille u. Vorstellung. T. 1. 3. Die Welt als Wille u. Vorstellung. T. 2. Thomas Aquinas: Compendium Theologiae. Dt.-lat. Übers. von Hans L. Fäh, hrsg. von Rudolf Tannhof. Heidelberg, Kerle. – Summa Theologiae. Dt.-lat. Madrid, 1961 ff. (Bibliotheca de autores christianos, …). – Über das Sein und das Wesen. Dt.-lat. Ausg. Übers. u. erl. von Rudolf Allers. Frankfurt a. M. u. a., Fischer 1959.

Personen- und Sachverzeichnis Abstraktion  76, 83 ff., 115 ff. Anima intellectiva  202, 204, 225 Anschauliches Wissen  70, 76 ff., 81 Aristoteles  38, 102, 103, 138, 154, 194, 194, 202, 204, 248 Arteinzelnes  24, 77, 127 ff., 131, 185 ff., 210 Artgesetz  221, 240 Artgleiches  24, 77 Artgleichnis  24, 26, 76 ff., 89, 112, 127 ff., 131, 201 Artselbigkeit  126 ff., 128 ff., 133, 134 ff., 142 ff., 184, 186 ff., 197 ff. Artwesen  19, 77, 210 Assoziation  116, 150 Avicenna  205 Bedürfnis  159 ff., 172, 177, 190 ff., 195, 197, 216 Beisichsein  105 ff., 108 Bewusstsein  147 ff., 213, 215, 227, 271 ff., 289 ff. Bildung  284, 292 ff., 301 ff. Brentano, Franz  55, 113, 171 Cajetan, Thomas  38 Capreolus (Johannes)  38 Dasein  148, 161 ff., 166, 172 ff., 174, 197 ff., 213 ff., 239, 247 ff., 274 ff., 278 ff., 289 ff. Dasein im Voraus  271 Dasein und Wesens  197 ff., 201 ff., 209 ff., 219 ff., 252 ff. Daseinserkenntnis  164 ff., 167, 170 ff., 186, 193, 199, 214, 245, 280 Daseinsnot  siehe Bedürfnis Descartes, René  35, 40, 164, 179, 184, 229, 246, 307

Distinctio realis   38, 203, 257 Dritte Grundeinsicht  191 Entsorgung  269, 272, 276, 282, 301 Entwicklung  209 ff., 252 ff., 269 ff. Erinnerung, siehe auch Sinnliche Erinnerung Erinnerung  23, 29, 41, 54, 66, 68, 83, 94 ff., 111 Erkennen  215 ff., 219 ff., 229 ff., 233 ff., 243 ff., 297 Erkennen und Gemüt  39, 42, 44, 113, 149 ff., 157, 159, 161, 173, 179, 191, 250 ff. Erste Grundeinsicht  108, 114 ff. Essentia  siehe Wesen Evidenz  siehe Unmittelbare Einsicht Existentia  siehe Dasein Existenzphilosophie  39 Finalitätsprinzip  195 Frage  159, 19 ff., 192 ff. Freiheit  siehe auch Willensfreiheit Freiheit  247, 249 ff., 271 ff., 295 ff., 298 ff., 305, 307, 310 Gattung  25, 26, 83 ff., 88 ff., 91 ff., 94 ff., 97 ff., 116, 143, 207 Gedächtnis  siehe Erinnerung Geist  239 ff., 286 ff., 305 ff. Gelassenheit  310 Gemüt   28, 147 ff., 161 ff., 213, 239 Gemütserkenntnis  157 Glaubenswelt  19, 20, 23 Gleichartiges  77 ff. Gleichnis Grundeinsicht des Selbstbewusstseins  siehe unten Erste, Zweite, Dritte Grundeinsicht

320

Personen- und Sachverzeichnis

Hegel, G. W. F.  72, 80, 94, 97, 229, 307 Husserl, Edmund  35, 40, 43, 55, 71, 87, 112, 113, 116, 121, 122, 129, 147, 153, 162, 167, 168, 171, 269, 281 Hylemorphismus  38, 204 Idealismus  262 Identifikationsprinzip  139 ff. Identitas  39, 40, 42, 43, 45, 151 ff. Individuatio essentiae  117, 203 Individuationsprinzip  131 ff., 204 Individuum  126 ff., 131 ff., 186, 204 Innere Anschauung  86 ff. Innewerden  155 f., 164 Intentionalitas  39, 40, 42, 43, 45, 151 ff., 294 Intentionalität  40, 43 Intersubjektivität  45 Johannes Duns Scotus  99, 103, 132, 203, 257 Kant, Immanuel  34, 42, 57, 69, 86, 112, 113, 116, 118, 123, 128, 154, 162, 229, 247, 282, 307 Kausalitätsprinzip  141 ff., 184 ff., 186 ff. Kontradiktionsprinzip  114 ff., 120, 139  ff., 141 ff., 174, 186 ff. Körper  97 ff. Kultur  16–19, 252 ff., 259 ff., 261 ff., 267 ff., 271 ff., 274 ff., 278 ff., 282 ff., 301 ff. Kulturphilosophie  260, 270, 282 Längsintentionalität  162 Lebendiges  126, 132 ff., 135, 188 Leiberfahrung  38, 41 Logisches  219 ff., 225 ff., 228 ff., 239 ff., 243 ff. Mahl  176 ff., 179 ff., 197 ff., 274 ff., 294 ff. Materialismus  262, 266 Materie  219 ff., 259 ff. Metaphysis  15, 270

Mittlerer Abstand  49, 208 Möglichkeit und Wirklichkeit  241 ff., 247 ff. Natur  16–19, 256 ff., 261, 267 ff., 282 ff. Naturale Reduktion  20 Naturphilosophie  260, 282 Naturrecht  290 Noema  87, 93, 158 Noesis  87, 93, 158 Not-Wende  172 ff., 175, 195, 215, 294 Nous  38 Ousia  38, 194, 204 Perichoresis  153 Pflanze  216 Platon  38, 102, 116, 134, 138, 148, 204, 206, 212, 247, 298 Praktische Vernunft  39, 113, 168, 301, 313 Principium causalitatis, siehe unten deutscher Bezeichnung Principium contradictionis, siehe unten deutscher Bezeichnung Principium identitatis, siehe unten deutscher Bezeichnung Principium individuationis, siehe unten deutscher Bezeichnung Principium finalitatis  siehe Finalitätsprinzip Querintentionalität  162 Ratio practica  siehe Praktische Vernunft Ratio theoretica  siehe Theoretische Vernunft Rationale Reduktion  15, 20 ff., 24, 28 ff., 34 Rationalistischer Bewusstseinsbegriff  28, 36, 38 ff., 40, 42 ff. Raum  26 ff., 49, 118 ff., 141 ff. Realunterscheidung  siehe Distinctio realis Reflexion  105 ff., 108, 119, 128 ff., 134 ff., 137 ff., 139 ff., 142, 159, 164,



Personen- und Sachverzeichnis321

179, 225 ff., 228 ff., 243 ff., 251, 289 ff. Relation  85 ff. Schopenhauer, Artur  35, 113, 148, 247, 307 Selb-Anderes  312 Selbes  212 ff., 215 ff., 222, 223 ff., 228 ff., 311 Selbiges  70 ff., 79, 81, 89, 91, 94, 124, 126, 131 Selbigkeit  67 Selbstbewusstsein  108 ff., 114 ff., 159, 167, 220 Selbstverständnis  105 ff., 108 ff., 114 ff., 120, 174 Selbstzweck  217 ff. Sensus communis  84, 89, 107, 113, 149, 167, 168 ff. Silvester von Ferrara  38 Sinne  124 / 125, 141, 183, 225 Sinnliche Erinnerung  24, 41, 105, 171 ff. Sinnliches Wissen  64 Sittlichkeit  250, 286 ff., 292 ff., 294 ff., 301 ff., 305 ff., 310 ff. Sollen, siehe unten Sittlichkeit Sprache  30 ff., 88 ff., 91 ff., 94 ff. Stimmung  166, 172, 213 Substantia  79 ff., 94 ff., 97 ff., 115 ff., 118 ff., 124, 126, 131 ff., 144, 201, 204, 206 ff. Synthesis speciosa  140 Theoretische Vernunft  39, 168, 194, 313 Thomas von Aquin  38, 99, 101, 102, 103, 113, 117, 204 Tier  217 Tod  222 Transzendentale Reduktion  15, 24, 34 ff., 39 ff., 183 Transzendentales Schema  33, 59, 118 ff. Triebintentionalität  41, 152

Übernatur  siehe Glaubenswelt Unanschauliches Wissen  83 ff., 105 Unmittelbare Einsicht  29, 74, 91, 108, 110 ff., 122, 155 ff., 187, 196, 250, 301, 306 Unmittelbare Gewissheit  29, 74, 155 ff., 157, 166, 176, 187, 196, 250, 301, 306, 313 ff. Unterbewusstsein Unvergleichliches Ur-Teil(e)  219 ff. Vernunft  226, 250, 290, 298, 305 ff., 310 Vernunft und Verstand  114, 119, 226, 251, 310 Verstehenswelt  21, 23 Vierte Zone  259 ff., 261, 269 ff. Wahrnehmung  155 ff. Werden  179 ff. Wesen, siehe auch Dasein und Wesen Wesen (Essentia)  101, 112, 144, 148, 197 ff., 147 ff., 268 Wesenserkenntnis  221, 245 Wildnis  16–19, 251, 264 ff. Willensfreiheit  247 ff., 290 Willensintentionalität  152 Wirklichkeit Wissen, siehe auch Anschauliches, siehe auch Unanschauliches Wissen  105 ff. Wissenswelt  20, 23 Zeit  26 ff., 42 ff., 49, 118 ff., 141 ff., 161, 171 ff., 185, 252 Zuneigung  294 ff. Zweck  44, 159, 174 ff., 179, 190 ff., 192 ff., 216 ff., 233 ff., 271 ff., 299 ff. Zweck-Selbes  209 ff., 213, 216 ff., 228 ff., 266, 273, 284, 286 ff. Zweite Grundeinsicht  39 ff., 108, 122, 151