Vom Sein und von der Seele: Gedanken eines Idealisten [3., verm. Aufl. Reprint 2019] 9783111550619, 9783111181318

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Vom Sein und von der Seele: Gedanken eines Idealisten [3., verm. Aufl. Reprint 2019]
 9783111550619, 9783111181318

Table of contents :
Vorwort zur dritten Auflage
Inhaltsverzeichnis
Vom Sein und von der Seele
Über Liebe und Humor, Kaß und Ironie
Die Wirklichkeit des Individuums und der Kultur
Über das Märchen
Über das Schaffen des künstlerischen Genies
Mensch, Kunst und Natur
Von Herzenskämpfen und vom stillen Heldentum
Vom transzendentalen Scheine im Leben des Einzelnen und der Menschheit
Über Sünde, Liebe und Leid
Lebensführung und Charakter
Charaktere
Über Einsamkeit
Über die Freundschaft
Über die Macht der Idee und über den Idealismus des Lebens

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Vom Sein und von der Seele

Gedanken eines Idealisten von

Walter Kinkel Dritte vermehtte Auflage mit Buchschmuck von Ida Blell

Verlag von Alfred Töpelmann (vormals I. Ricker) :: Gieken 1921

Uns zwingt die enge Sahung Durch Leiden zu lernen Aeschylos (.Agamemnon')

Zur dritten Auflage Dies Buch ist bestimmt für kämpfende, suchende Menschen, die entbehren und verlangen — nicht für dogmatische Philister, die besitzen und genießen. Unter denen möchte ich mir Freunde werben, welche die Wahr­ heit nicht als einen fertigen, endlichen Besitz, sondern als das unendlichferne Ziel der Kultur ansehen; welche mit mir suchen wollen. Ich spreche nicht zu denen, welchen das Schicksal freundlich alle Güter des Lebens in den Schoß geworfen hat; sondern wer Schmerzen kennt und Entsagung, der wird mich verstehen. Aber die Modekrankheit des Pessimismus kann ich nicht mit­ machen; sie entspringt doch zumeist einem mehr oder weniger versteckten Egoismus. Durch Leiden sollen wir lernen. Ich habe diesen Worten, die ich der ersten Auflage vorangestellt habe, heute, wo das Buch zum dritten Mal seinen Weg in die Welt nimmt, nichts weiter hinzuzufügen. Meiner verehrten Freupdin, Frau Ida Stell, bin ich für die schönen Zeichnungen, mit denen sie mein Werk geschmückt hat, dankbar verbunden. Möge denn das Buch im neuen, verschönten Gewand alten und neuen Freunden willkommen sein! Gießen, Winter 1920

Walter Kinkel

SeUe

Vom Sein und von der Seele....................................................... 1 Über Liebe und Humor, Haß und Ironie................................. 6 Die Wirklichkeit -es Individuums und der Äulfur . . 9 Über das Märchen......................................................................... 30 Über das Schaffen des künstlerischen Genies......................... 36 Mensch, Kunst und Natur ..........................................................47 Von Herzenskämpfen und vom Men Heldentum ... 37 Vom transzendentalen Scheine im Leben des (Ein-einen und der Menschheit.......................................................... 71 Über Sünde, Liebe und Leid................................................... 86 Lebensführung und Charakter................................................... 90 Charaktere......................................................................................... 110 Über Einsamkeit............................................................................. 122 Über die Freundschaft ............ 128 Über die Macht der Idee und den Idealismus des Lebens............................................... 139

Vom Sein und von der Seele AYVan kann unser ganzes Dasein auffaffen als einen •441 Kampf Um die Wirklichkeit unserer Seele. Ost frei-

ltch handeln wir von der Peripherie unserer Innenwelt aus; das find Taten, die weder von unserem Selbst ausgehen, noch zu ihm hinführen; in ihnen find wir unwirklich. Wir sollten alle wirklicher werden. Me Wünsche, Ge­ fühle und Empfindungen, die durch unser Gemüt strömen oder schleichen, find nur Probleme, die wir lösen, find nur Schein-Realitäten, denen wir Existenz und Wirklich­ keit verleihen sollen. Das können wir nicht, wenn wir nicht vom Zentrum unserer Persönlichkest aus handeln, wenn wir nicht an jeder Tat völlig und ganz beteiligt find. Allzuhäufig handeln die Ereigntffe und Eindrücke, die Gefühle und Stimmungen aus uns heraus. Damit bereichern wir weder die Welt, noch uns selbst, und wir müssen uns solcher Taten leicht schämen und fie bereuen. Und auch dann find wir unwirklich. Wenn die Leiden­ schaft unsere Seele beherrscht, wenn der Schmerz oder die Lust fie in Fesseln legt, leben wir wahrlich in einer Welt der Schatten und Träume. In solchen Momenten kann der gesamte Boden unserer Existenz erschüttert werden und selbst das ins Schwanken geraten, was wir schon zum festen Besitzstand unserer individuellen WirkKinkel, Dom Sein und von der Seele. 1

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Vom Sein und von der Seele

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ltchkeit zählten. Aber wir sollen uns an den Freuden und Leiden des Daseins befestigen, indem wir zu unserem vernünftigen, sittlichen Sein durchdringen. Je ärmer uns das Leben an Glück und Lust macht) desto reicher sollten wir an Lebensmut werden. Wir sollen wirklicher werden: das heißt einmal, wir sollen wahrhafter werden. Gegen uns selbst und gegen andere. Denn nichts kann wirklich sein, was nicht wahr­ haft ist. Unseres Lebens Sinn ist die Pilgerfahrt nach dem sittlichen Selbst, das da wohnt in der Idee der Menschheit. Cs wird uns nicht von der Natur geschenkt, sondern wir müffen es suchen und verwirklichen. Jede gute Tat ist ein Baustein zu unserem sittlichen Selbst. Wir aber lieben es, uns in eine Schetnwelt einzuspinnen; wir hintergehen uns mit Träumen des Glückes und der Lust und suchen unser Selbst, wo wir es nicht finden können: in der Isolierung, statt in der Gemeinschaft. Die Syphistik des Herzens ist die Logik der von der Leiden­ schaft beherrschten Vernunft. Wir erdenken Trugschlüsse, um das vergängliche Glück zu retten, dem sich die Wahrhett widersetzt; wir leihen unseren Taten den Schein der Realität, um sie so in die objektive Welt einzuschmuggeln. Aber diese weigert sich, sie zu empfangen, denn Sein und Nichtsein können sich nie verbinden. Sollen wir wirk­ licher werden, so laßt uns wahrhaftiger werden! Das Sein unserer Seele lebt in der Wahrheit. Wirklicher werden heißt auch: nachsichtiger werden. Das ist nur die Folge der Wahrhaftigkett' gegen uns selbst. Wer die Lücken in der eigenen Wirklichkeit sieht, kann die anderen nicht mehr verdammen. Es heißt endlich auck: sein Selbst im anderen suchen. Häufig scheut sich die Seele, das Sein zu berühren: sie wandelt wie schlafbefangen durch des Lebens Finsterniffe und fürchtet, zu erwachen. Absichtlich sogar entkleidet sie zuweilen die Welt ihrer Realität, um sich un-

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gestört im seligen Lande der Phantasie und der unbe­ griffenen Gefühle zu ergehen. Cs ist wie eine süße, selige Dämmerung um sie: die Hoffnung flüstert leise, die Sehnsucht breitet ihre Arme aus und selbst das Leid geht wie ein guter Freund auf ihren Pfaden. Aber un­ sanft weckt das Leben die Träumende! Da kommen die Sorgen, die sie nicht angeschaut, und lachen ihr ins Antlitz und schneiden Fratzen und Gesichter; da bäumt sich der Kummer auf und der Gram führt bittere Streiche nach ihr. Die Leidenschaft zerreißt das Lustgebilde ihrer Träume, und die Wehrlose, die die Zügel verloren hat, steht am Abgrund des Nichtseins. Darum laßt uns wirk­ licher werden. Laßt uns standhaft die Leiden übernehmen, denen wir nicht zu entrinnen vermögen, damit wir die reinen Freuden retten können, denen das Schicksal nichts anzuhaben imstande ist, weil sie in der Wirklichkeit der Seele, im sittlichen Selbst wurzeln. Laßt uns die Gegenwart kennen und dennoch in der Zukunft leben; denn die Gegenwart ist nur das Kind der Zukunft, und was heute zukünftig ist, wird morgen gegen­ wärtig sein. Die Zukunft ist die tiefste Quelle der Wirk­ lichkeit, aus der unser Wille das Sein schöpfen muß. Wollen wir wirklicher werden, so müssen wir der Zu­ kunft ruhig und klar ins Auge sehen. Sie birgt Ent­ sagung und Erfüllung. Dem kräftigen und reinen Willen ist die Zukunft wohlgesinnt. Wentt wir die Zukunft ge­ stalten, so vertiefen wir die Wirklichkeit unserer Seele. Die reife Einsicht, daß die Wirklichkeit dem Indivi^ duum wie der Menschheit ein Problem und eine Aufgabe ist, lehrt die Seele Wachsamkeit. Allzugerne ruht der Mensch aus dem Faulbett der absoluten Gewißheit, und wer das absolute Sein zu besitzen glaubt, der hat es in Wahrheit verloren. Wie ost geht uns im Meere wider­ streitender Gefühle ein Stück unserer mühsam erworbenen Innenwelt nach dem anderen verloren, und wie oft müssen 1*

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wir vom Grund aus neu bauen. Cs wäre eine fruchtbare Andacht und eine Zucht der Selbstüberwindung, wenn wir uns bei jeder Handlung und jedem Erlebnis fragen woll­ ten: wieviel trägt es zu deiner Wirklichkeit bei? Was ist denn real, was bloßer Schein? Aber wir verschleudern die Geschenke des Schicksals, wenn wir uns den Freuden und Leiden hingeben wie das Tier. Ein großer Schmer­ ist eine gütige Gabe des Lebens, die uns zur Menschen­ liebe erziehen soll: denn in dem individuellen Kummer spricht die Stimme der Menschheit zu uns, die mit uns leidet. Wir haben nur soviel individuelle Wirklichkeit, als wir von der Realität der Mheit aufzusaugen und darzustellen vermögen. Das fittliche Leiden, das Leiden, das uns bester macht, gebietet Ehrfurcht und erwirbt uns Freunde. Viele Unglückliche unter unseren Brüdern werden in eine Welt des Scheins hereingeboren; fie müsten kämpfen und dulden, wenn fie auch nur ein Fleckchen Wirklichkeit gewinnen wollen. Roch ist das Misten und die Wissen­ schaft unserer Kultur nicht Mgemeingut geworden; viele stehen abseits und dürsten. Helfen wir ihnen, teilen wir unsere Schätze mit ihnen, so bereichern wir uns selbst. Wir haben alle nur eine Heimat, zu der uns unsere Sehn­ sucht treibt: die Idee des Guten, welche zugleich die Idee der Menschheit ist. In ihr gibt es keine bevorrechteten Stände, keine Klaffen- und Raffenunterschiede, keine Aristokraten und Plebejer. Wir machen uns selbst zu Fremden in der Welt und versperren uns den Weg zum ewigen Sein, wenn wir uns isolieren und Schranken er­ richten wider unsere Brüder. Die Fülle der Gefühle, mit der unser Herz begnadet sein könnte, der Reichtum des Empfindens, der unserer Seele bestimmt ist, stirbt und unsere Wirklichkeit wird arm und dürftig, wenn wir uns überheben und die Berührung mit den Verlassenen scheuen. Es ist kein menschliches Elend und Unglück, kein noch so

enges Leben, in dem du nicht den ewigen Funken der Menschlichkeit leuchten siehst: und kein Mensch ist so klein, daß er dir nicht Schätze geben könnte, die dem Gemüt

bereichern. Wer immer zurückgezogen lebt und sich ängst­ lich vor der Not und den Sorgen des Lebens versteckt, der weiß nicht, was Wirklichkeit ist. Wer nie schwere Stunden hatte, kennt auch keine frohen. Von der Seele zum Sein sind der Wege ungezählte; aber alle führen durch dorniges Gestrüpp zu fruchtbaren Auen Laßt uns wirklicher werden!

Über Liebe und ßumor,

Kaß und Ironie

Qyian muß nicht nur rechtschaffen lieben, sondern auch -ZZl rechtschaffen Haffen können: lieben das, was man für wahrhaft, für gut und seiend hält; Haffen, was man für nichtseiend, für hohl und falsch und schlecht hält. Soll man aber die Menschen Haffen, an denen man so etwas wie Falschheit und Schlechtigkeit wahrzunehmen glaubt? Das dürfte man nur dann, wenn man an die Realität des Bösen glaubte, dem Schlechten eine gerade so wahrhaftige Existenz zulegte, wie dem Guten. Wenn aber das Sein der Idee, das wahrhaftige Sein an sich (welches wir Menschen freilich immer nur als Ziel, als Aufgabe kennen) zugleich der Ausdruck und die Derwirklichung des Guten ist, dann kann das Böse kein Sein, sondern nur eine Form des Nichtseins, des Problematischen, Irrtümlichen, des unge­ lösten und unbesiegten Ehaos bedeuten. Ist dem aber so, dann dürfen wir auch die Menschen nicht Haffen: denn wahrlich, sie müßten aufgehört haben, Menschen zu sein, wenn sie nicht, ihrer Bestimmung und Aufgabe nach wenigstens, d. h. in ihrer substantiellen Wesenheit, dem Reiche der Wahrheit und des Guten zugehörten. Weil aber kein Mensch die Idee restlos in sich verwirklicht, weil wir alle arme, schwache Sünder find, d. h. weil wir alle noch des Problematischen und Nichtseienden so un-

über Liebe und Humor, Haß und Ironie

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endlich viel mit uns schleppen, so daß unser wahrhaft sitt­ liches Selbst und also auch unsere wahrhafte Realität gleichsam nur wie ein abgewehtes Blatt auf dem Ozean des Nichtseins schwimmt, deswegen regen sich in unserem gemeinsamen Verkehr die Gefühle des Haffes gegenein­ ander. Aber wir irren uns, wenn wir glauben, den Men. schen im Menschen zu Haffen; es ist gerade der NichtMensch, der Noch-Nicht-Mensch, den wir Haffen, d. h. das, was in unserem Nächsten uns noch problematisch, nichtseiend, böse erscheint. Natürlich, wir können uns irren — und ein solcher Irrtum ist jeder Hatz, der aus dem sogenannten Egoismus entspringt. Wir können uns ja auch in der Auffassung der Idee der Menschheit irren; je richtiger aber diese ist, d. h. je-tiefer wir in die Er­ kenntnis des Menschen und seiner Bestimmung eindringen, desto reiner, richtiger und gesunder wird unsere Liebe und unser Hatz sein; wir werden auch dann den Irrtum ablegen, den Menschen im Menschen Haffen zu können. Deshalb ist die einzig berechtigte Form, wie sich der Hatz im Verkehr der Menschen untereinander äutzern sollte, die Ironie oder die Satire. Denn die persönlichste Ironie bleibt im Grunde genommen doch unpersönlich. Die rechte und echte Ironie richtet sich immer gegen das Proble­ matische, Nichtseiende im Menschen, gegen das, was er npr irrtümlich mit seinem Ich oder gar mit seinem sitt­ lichen Selbst identifiziert. Indem sie mit diesem Irrtum scheinbar Ernst macht, enthüllt sie ihn in seiner ganzen Kläglichkeit. Wer mich ironisch behandelt, der zwingt mich, das, was er ironisiert, einmal völlig mit meinem Wesen in Eins zu sehen und mir darüber klarzuwerden: bin ich das wirklich ? ist das mein Selbst? llnd das Schmerz­ liche und Verletzende der Ironie gibt sich gerade in dem Gefühl kund, welches sich unser bemächtigt, wenn wir so gezwungen werden, ein Stück unseres Schein-Ichs fort zuwerfen. So hilft die echte Ironie zur Selbsterkenntnis

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durch die Erkenntnis eines Irrtums gestärkt, denn er er­ kennt ihn durch die Wahrheit. Wenn wir alle unsere Seelenkräfte im Dienst einer guten Sache angestrengt, unser ganzes Wesen für fie ein­ gesetzt — und doch unser Ziel nicht erreicht haben; dann kommt wohl eine Abgespannthett, Niedergeschlagenheit und Verzagtheit über uns, die uns schier verzweifeln läßt. Wer der Gedanke sollte uns trösten, daß keine edle An­ strengung der Welt völlig verloren geht. IP denn auch kein Erfolg in der äußeren, Welt zu bemerken, so find doch wir selbst im Innern bester geworden. Denn der Dienst am Guten veredelt. Und wenn wir nun so reiner und tiefer zur Wirklichkeit zurückkehren, so beffern wir auch diese. Die Stürme der Seele, die Kämpfe des Herzens find mannigfalt; dem Tapferen gereicht alles zum Segen!

Vom lranszendentalen Scheine im Leben des

Einzelnen und der Menschheit Wei Irrtümer verwirren unser Leben: wir scheiden das Endliche nicht vom Unendlichen, oder wir glauben das Unendliche greifen zu können. Das Sein ist unend­ lich, die jeweilige Wirklichkeit ist endlich; das Sein ist ewig, die Wirklichkeit vergänglich. Das Sein ist das Ziel unserer Wanderschaft und die unendliche, nie restlos zu lösende Aufgabe unseres Geistes; die Wirklichkeit ist das System und die Einheit unseres zeitlichen Wtffens. Das Sein ist Idee, die Wirklichkeit Begriff. Unsere Sehnsucht treibt uns der Unendlichkeit des Seins entgegen und unser inbrünstiges Verlangen täuscht uns mit der Mög­ lichkeit, es zu besitzen. Wir setzen entweder das Endliche, die Wirklichkeit absolut als ob sie das Sein wäre; oder wir reden vom Unendlichen, als ob es endlich wäre. Kant nannte das den transzendentalen Schein. Das tiefe Leid der Menschheit liegt in ihm; und die Geschichte der Kultur entlarvt ihn mehr und mehr, so daß an seine Stelle die Hoffnung und die Zuversicht der Zukunft tritt, der Glaube an den endlichen Sieg des Guten. Das Sein liegt nicht jenseits der Vernunft, aber die Vernunft muß es erst gebären und erzeugen; die Vernunft, das will sagen; die Wissenschaft und Sittlichkeit der Menschheit'.

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23out transzendentalen Scheine

So ist das Sein die Wahrheit und das Gute. Wir suchen es; es enthüllt sich immer mehr. Aber keines Menschen Fuß wird das gelobte Land betreten, keiner wird die volle Sittlichkeit verwirklichen, die ganze Wahr­ heit erblicken. Beide sind nur das Ziel unserer Be­ mühungen, der Endpunkt unserer Wanderschaft. Sie find zugleich unser wahres, unser ewiges Wesen. So ist der Fortschritt der Kultur zugleich die Entdeckung und Entfal­ tung der Menschheit. Das ist der Glaube des Idealismus. 2lber ich wollte von den Irrtümern unseres Lebens reden. Der transzendentale Schein, welcher das Endliche mit dem Unendlichen verwechselt, beherrscht die Seele des einzelnen, wie den Geist der Völker und schädigt die Entwicklung der Kultur. Wir wollen ihn zuerst im Gemüt des Individuums aufsuchen. Wir verwechseln das End­ liche mit dem Unendlichen, wenn wir dem Menschen einen fertigen, geschloffenen, unveränderlichen Charakter bei­ legen in irgendeinem Punkte seines Lebens. Denn da­ mit verschließen wir uns die Einsicht in sein sittliches Selbst und zerstören den Begriff der Freiheit: dieser Irrtum ist es, der uns veranlaßt, von guten und schlechten Menschen zu reden statt von guten und schlechten Hand­ lungen. Das sittliche Selbst ist im Individuum jederzeit Problem.*) Wir sollten immer die Menschheit im Men­ schen achten. Jeder einzelne trägt das Ziel, die Idee der Menschheit der Anlage nach in sich; er erbaut sein sitt­ liches Selbst in und durch die Handlung, aber diese ist kein fettiges Ding, und die künftige Handlung rettet dem Selbst, was die gegenwärtige ihm raubte. Wenn wir nun den Menschen zum Ding, seine Seele zur Substanz machen, dann müssen wir ungerecht gegen ihn werden. Denn dies Ding, diese Substanz müßte nach unveründer*) Dgl. die schönen Ausführungen in H. Cohens Ethik des reinen Willens. S. 307 ff.

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Uchen, ewigen Naturgesetzen tobten: es gäbe keinen Fortschritt, keine Entwicklung des sittlichen Selbst, keine Besse­ rung, keine Erziehung. Daher macht uns dieser Glaube nicht nur ungerecht, sondern auch grausam, unbarmherzig und intolerant gegen unsere Mitmenschen. Die Idee der Menschheit ist unendlich, und unendlich ist daher auch die Seele des Menschen. Den falschen Begriff der £tnsterblichkett, welcher aus dieser Verwechslung des End­ lichen mit dem Unendlichen hervorgeht, hat Kant in dem Abschnitt der Krittk der reinen Vernunft, der von den Paralogtsmen der reinen Vernunft handelt, in seiner Hohlheit enthüllt. Das ist die Vorstellung des Mythos, daß die Seele wie ein Sttick Holz durch den Ozean der Zett schwimmt. Dies Seelendtng, wie es fich dem finnlichen Auge in den fichtbaren Taten offenbart, mit allen Fehlern und Tugenden, mit allen Freuden und Leiden soll durch die Ewigkeit wandern. Unbarmherzig ist dieser Glaube, er schließt die Ewigkeit der Höllenqualen in fich. Er macht das Böse zu einer Realität und stellt so dem lieben Gott den Teufel zur Seite. Woraus besteht denn dies ewige Seelen-Ctwas? Wie werdet ihr eurer Seele gewiß? Sind nicht die Schmerzen und Sorgen, die flüchttgen Lüste und Genüsse des Daseins seine Offenbarun­ gen? Was bleibt von dem Seelending, wenn ihr die nehmt? Und die sollten ewig sein und unsterblich? Fürwahr, es ist begreiflich, daß der Mythos dem Himmel die Hölle gegenüberstellt: das ist die Ewigkeit der Lust und der Schmerzen! Wenn ihr doch sehen wolltet, daß die Seele liegt in dem Guten und Wahren, was der Mensch erschafft und denttl Das ist das Ewige im Menschen. Ist denn die Fähigkeit zu leiden und zu ge­ nießen des Aufbewahrens durch die Zeiten wert? Der Glückliche mag so denken, der nie im Leben gelitten, der nie zu entsagen brauchte, der stets genießt und schwelgt; und doch auch er nicht: denn endlich wird seine Begierde

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abgestumpft, er verschmachtet im Genuß nach Begierde. — Diese verhängnisvolle Verwechftung macht uns nicht nur unseren Mitmenschen fremd, fie kehrt stch in ihren ver­ hängnisvollen Folgen auch gegen uns selbst. Sie steigert die Überhebung des übermütigen, und sie nimmt dem Zaghaften völlig den Mut. Der selbstgewisse Mensch, wenn er nicht aus Beschränktheit stolz ist, verdankt sein Selbstvertrauen zumeist dem Glück und einem gütigen Geschick. Weil's ihm dort und dann so gut gelungen; weil er sich in der Gefahr einmal tapfer, in der Ausübuitg seiner Kunst oder Wiffenschast einmal brauchbar gezeigt hat, so zweifelt er nicht mehr an sich. Cr kennt ja seine Kräfte, und diese find unwandelbar. Cr hält seine Seele für endlich und vertraut fich so lange — bis er einmal Schiffbruch leidet an der Flut und dem Sturm der Leiden­ schaft, die in ihm ruhten, oder am äußeren Geschick, das er nicht bezwingen kann. Wie viele glauben an ihre eigene Tugend, nur weil die Versuchung der Sünde nicht an fie herangetreten ist. Wer ewig in ficherer Hut ist, hat der Gefahr gut spotten. Man soll die Tagend nie, am wenigsten die eigene, absolut setzen; fie ist eine un­ endliche, stets erneute Aufgabe und muß immer wieder erkämpft und errungen sein. Zn Beer Hofmanns Drama: „Der Graf von Charolats" sagt der kupplerische Wirt von fich: .... Was wißt ihr, wie ich bin? Weiß ich's selber denn? Ich weiß nur, wie ich war! Herr, ich war gut! nicht stolz! Nicht eitel, Herr! und sah, wie unterm Mieder den Frau'n der Busen immer höher flog, als müßt' er meiner Stimme nach, die auf fich schwang und schwoll und stieg und hoch fich wiegte! Kein Lüstling, Herr! usw. es blies ein Wind, ein Frühlingswind und nahm

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die Stimme mir — und mit ihr alles!

Wie ihr, hatt' ich auch Ekel vor Gemeinem — und alles zerdlies ein Wind in nichts! Wie bin ich? wie seid ihr? Wißt ihr's? seid ihr so sicher, daß kein Wind euch Lügen straft? Ja, das ist es. ein Windstoß kann die stolze Tugend der Philister knicken. Wer aber seine Seele so verend­ licht, allzusehr an seinen eigenen tugendhaften Charakter

glaubt, der wird ein Philister der Tugend. Man soll so keinen Moment seines Lebens an sich selber glauben, son­ dern sich mißtrauen und kämpfen. Mer auch dem Schwachen und Mutlosen wird diese Verendlichung des eigenen Ichs zum Hemmschuh. Es ist ihm einmal sehl­ geschlagen; und auch wohl der zweite Versuch ist miß­ glückt; vielleicht bekommt er seine Mattherzigkeit vor­ gehalten von andern. So muß wohl sein Charatter sein Verderben sein! Weiß er doch nicht, daß er diesen selbst erst schafft! — Und was bleibt doch dem Menschen noch für eine Freiheit auf diesem Standpunkt? Cs gibt keine andere mehr als die, nicht gefangen zu sein und nicht gefeffelt. Denn die Freiheit wird ja selbst zu einer finnlichen Kraft, einer Eigenschaft der Seelensubstanz. Die rechte Freiheit ruht aber in der Erzeugung des fittlichen Selbstes. Daher ist Freiheit nicht Zügellostgkeit, son­ dern Unterordnung unter die Idee der Menschheit. Der Graf von Chärolais (im obengenannten Drama) will sich selbst dem Gefängnis überantworten, damit er die Leiche seines Vaters aus den Händen seiner Gläubiger lösen kann. Er will also scheinbar seine Freiheit aufgeben, aber nur um seine wahre Freiheit zu gewinnen. Solange die Leiche seines Vaters unbeerdigt im Schuldturm liegt, ist er nicht ftei, denn die unerfüllte Gewiffenspflicht feffelt seine Seele. Bin ich frei? Glaubt ihr, ich wär's, ich könnt' es sein, solange et noch------- ? Die Mauern, die um ihn find, find um mich!

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Das ist im tiefsten Sinne wahr. Wer eine unerfüllte Gewiffensschuld mit sich herumträgt, besten Gedanken, besten Gefühle, besten Willen ist gefesselt. — Auch wenn Leid und Lust unsere Seele unfrei machen, das ist eine Verwechslung des Endlichen mit dem Unendlichen. Zwar

die Einsicht befreit uns nicht von diesem transzendentalen Schein, auch die Größten falten ihm zuzeiten zum Opfer. Je größer aber der Mensch ist, desto mehr ist er dem Leid, desto weniger der Lust untertan. Denn das Leid hat einen sittlichen Kern, einen Ewigkeitswert. Es zeigt an, wo eine Lücke im Dasein ist, wo ein Weg zum Sein ver­ fehlt worden ist. Aber nicht das Gefühl, die sub­ jektive Empfindung des Leides ist das Ewige; und eben hier liegt der Fehler. Seht nur eure Gefühle ab­ solut — die Zeit wird euch belehren l Wer die endlichen, wandelbaren Gefühle für das Unendliche hält, der ver­ kennt das Ewige, veffen Boten sie find. So ist in der glücklichen Liebe nicht das subjettive Gefühl der Lust, welches der Besitz gewährt, in der unglücklichen Liebe nicht das Schmerzgefühl, welches dem Entsagen ent­ springt, das Unendliche; sondern die gemeinsame Arbeit am Ewigen, das sich Verstehen oder nicht Verstehen, der einttächttge Dienst der Idee der Menschheit. Doch die Menschen glauben so ost der Idee zu dienen und dienen nur ihrer unvollkommenen Erscheinung oder dem mangelhaften Bild, das sie sich von ihr gemacht haben. Aber hier möchte man sagen: du sollst dir kein Bildnis machen noch irgendein Gleichnis. Denn der Fanattsmus des einzelnen, die Glaubenskriege der Völ­ ker und der Verfolgungen der Kirchen und Religionen, auch die Stteitigkeiten der Rationen und die Gegensätze der Raffen beruhen auf dieser Verdinglichung des Unend­ lichen. Richt nur die Leiden der Cinzelseele, sondern auch die der Menschheit stammen aus diesem Grundirrtum des menschlichen Bewußtseins. Es würd« ein lehrreiches

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Buch, das die Einwirkung des transzendentalen Scheines in der Kulturgeschichte verfolgte: in Religion, Sittlichkeit und Politik, in Kunst und Wissenschaft. Wir dürfen dies Thema hier nur vom weiten berühren. Wie einer ist, so ist sein Gott, Darum ward Gott so oft zum Spott,

sagt Goethe. Cs ist die tiefste Einsicht des reifsten Idealismus, daß Gott die Verwirklichung der Idee des Guten, der Harmonie von Ratur und Sittlichkeit ist.*) So ist-Gott Aufgabe, Idee, Problem und zugleich doch die sicherste und notwendigste Voraussetzung der Cultur. Die Sehnsucht unseres Herzens treibt uns zu ihm, unser Wille sucht das Unendliche. Aber wir möchten es greifen und faffen, wir sprechen von ihm, als ob es ein endliches Ding wäre; uns täuscht der transzendentale Schein. Der naive Mensch glaubt nur an das sinnlich Wahrnehmbare. Er denkt sich daher Gott nach Menschenart, er schafft Gott nach seinem eigenen Bilde. Der Widerstreit der verschiedenen Religionen und Konfessionen läßt sich von hier aus verstehen, wenn man bedenkt, daß sie die nur endliche, relative Versuche find, sich der Idee zu nähern. Der Mythos in ihnen schafft ihren Dogmatismus. Dem primitiven Bewußtsein ist. Gott das finnliche Agens, die verdinglichte Kraft und Wirksamkeit in allen Vorgängen in Natur und Sittlichkeit. Dies ist die Stufe des Dämonenglaubens.**) Allmählich regt sich der persönliche Gott aus dieser Allbeseelung der Ratur heraus, oder viel­ mehr: die persönlichen Götter. Denn die Einheit Gottes seht bereits eine viel höhere Stufe sittlicher Entwicklung voraus. Immer aber, auf den verschiedensten Stufen reli­ giöser Begriffsbildung, finden wir jene Verendlichung *) Vgl. wiederum H. Cohens Ethik des reinen Willens. **) Vgl. hierzu Bd. I meiner „Gesch. d. Philos., als Ein­ leitung in das System der Philosophie", Gießen, A. Töpelmann, 1906.

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des Unendlichen wieder, die Gott zu einer Wahrheit der Wirklichkeit macht und ihn so in die ganze Zufälligkeit des Wirklichen herabzieht. Es verrät schon einen hohen Grad philosophischer Besinnung, wenn man Gott das Prädikat der Transzendenz, der Jenseitigkeit und Außer» Weltlichkeit znschreibt. Denn wirklich ist das Unendliche, die Idee der jeweiligen zufälligen Natur in gewissem Sinne transzendent, sowie die Zukunft der Gegenwart. Cs ist nicht transzendent in dem Sinne, daß es ein Ding oder eine Person außerhalb der Welt wäre, sondern es ist die Zukunft und als solches die Quelle des Seienden. Denn die Zukunft ist die Quelle und der Ursprung der Gegenwart: was gegenwärtig ist, war zuerst zukünftig. Indem nun aber die verschiedenen Religionen und Konfesfionen die Idee des Guten substantialifieren und »etendlichen, geraten sie notwendig in Gegensatz zueinander; denn das Gute kann nur eines sein. Wer aber das Gute besitzt, das an sich und absolut Gute, hat der nicht die Pflicht, seine Mitmenschen zu ihm — und sei es selbst mit Gewalt — zu bekehren? Aber der Fehler ist eben der transzendentale Schein, als ob das Gute ein endliches Wesen wäre, das man völlig und ganz besitzen könnte zu jeder Zeit und an jedem Ort; es ist aber eine unendliche Aufgabe für den Willen und für die Erkenntnis Derselbe transzendentale Schein macht die Gegensätze der Völker und Raffen begreiflich. Man verlacht und »erspottet die Ideen der Freiheit und Gleichheit, weil man nicht erkennt, daß sie Ideen, d. h. Aufgaben sind, weil man sie wie endliche Dinge denkt und in der zufälligen Gegenwart — natürlich vergeblich — sucht. Die Einheit der Menschheit gilt als ein leerer Wahn, weil sie noch nicht und zu keinem Zeitpunkt völlig verwirklicht ist; man spricht wegwerfend von Humanitätsduselei, weil man nicht sieht, daß Humanität die hohe Aufgabe und das Ziel der menschlichen Kultur ist. Wenn die Menschenfteunde

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auftreten und sagen: dies oder jenes sollte sein, dies oder jenes wollen wir er st reden, so antwortet man immer und immer wieder mit kindischem Trotz: es ist aber nicht so, seht euch um in der W i r k l i ch k e i t. Man seht eben die endliche Wirklichkeit an Stelle des Unend­ lichen, man setzt fie absolut, unveränderlich, als ob fie das Sein an sich wäre. Freilich wird die Idee jederzeit einen Kompromiß mit der Wirklichkeit schließen müssen, in der fie fich doch aussprechen, in der fie doch so weit als möglich zur Erscheinung kommen soll; aber indem fie dies tut, verbessert fie die Wirklichkeit, ja erschafft sie völlig neu. Man verlangt z. B. gleiches Wissen und gleiche Geistesbildung für alle Menschen; die Antwort lautet: die Veranlagung, die sozialen Verhältnisse der Menschen erlauben es nicht. So ändert fie. Das kann man nicht mit einem Schlage. Wer verlangt das? Cs ist ja die Forderung nur ein Ziel- und Richtpunkt für die Bemühungen der Kultur, über das Mögliche hinaus ist keiner fähig zu handeln; aber: den lieb' ich, der llnmögliches verlangt. — Die Friedensfreude, welche der Un­ geheuerlichkeit des Krieges, des modernen Massenmordes zwischen den Menschen, entgegenarbeiten, werden verlacht. Seht ihr nicht, daß die ganze Natur fich befeindet? Wo find die Tiere, die einträchtig miteinander leben? Wo die Menschen, die durch ihre physische Organisation dem Tier­ reich angehören? So weist man auf die bestehende, un­ vollkommene Wirklichkeit gleichwie auf etwas Absolutes, Ewiges hin und degradiert den Menschen wieder zum Tiere. Die Idee des ewigen Friedens ist eben — eine Idee. Wer aber nicht an die Idee glaubt, der wird frei­ lich ewig in der Endlichkeit seiner Zeit befangen bleiben. Der Raffen- und Nationalitätenhaß ist nur eine Folge des transzendentalen Scheines. Der physiologische, empirische Mensch in seiner sinnlichen Gegebenheit bildet die Grundlage der Raffeneinhett; und wenn man auch

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nicht »erkennen kann, daß die Oiation eine Einheit höherer, ideeller Art ist gegenüber der Raffe, so kommt sie zu ihrer ethischen Gestaltung doch erst im Staat. Der Staat aber ist der freilich immer unvollkommene Versuch der Reali­ sierung der Idee der Menschheit. Er bleibt somit selbst immer Aufgabe, Idee, denn er strebt einem unendlich fer­ nen Ziel zu. Uber den empirischen Besonderheiten der Raffe und des Volkes steht die Einheit der Allheit der Menschheit. Die Raffenfanatiker aber und die Vertreter des Nationalitätenhaffes begehen wiederum den Fehler, das Endliche für das Unendliche, die vergängliche Wirk­ lichkeit für das Sein der Idee zu halten. Sie nehmen die Raffe als etwas Absolutes. Sie vergeffen, daß die Sittlichkeit entweder ein leerer Wahn oder ein allgemein nienschliches Problem ist. Im Kampf der Raffen und Völker wiederholen sich hier die Fehler, welche die Ver­ dinglichung und Verendlichung des Seelenbegriffes im Verkehr der Individuen zur Folge hat; sie wiederholen sich auch im Leben der Nation und des Staates selbst, wenn diese Einheiten in ihrer empirischen Zufälligkeit ab­ solut genommen werden. Der Raffenfanatiker setzt ge° wiffe zufällige, empirische Merkmale dem Begriffe der Menschheit gleich. Eine vergängliche Erscheinung, ein bloßes Abbild des Urbildes der Idee, gibt er für die Idee selbst aus. Zumeist sind hierfür auch dieselben Ur­ sachen maßgebend, wie für die Verdinglichung des Seelenbegriffes. Wir find im Verkehr von Mensch zu Mensch häufig einfach durch des Lebens Notdurft ge­ zwungen, unserem Mitmenschen einen bestimmten Charak­ ter zu vindizieren und in unsere Berechnungen einzustellen. Tun wir dies hypothetisch und unter vollem Bewußtsein des Mangelhaften, Unzureichenden unseres Verfahrens, so begehen wir kein Unrecht; zumal wenn wir den Men­ schen nicht ethisch einfach als böse verurteilen. So muß auch der Politiker mit den empirischen Gegebenheiten des

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Volkes gleichsam als mit einem festen Charakter rechnen. Aber er hypostasiert diesen und verfällt dem transzenden­ talen Schein. Der Staat ist das fittliche Selbst des Volkes und der Nation. Cr unterliegt daher auch denselben Gefahren wie das fittliche Selbst des Individuums. Der zufällige Staat wird mit dem unendlichen verwechselt. Hegel hat diese Verwechslung geradezu zum Prinzip erhoben. Der Teilnahme der Allgemeinheit am Staat setzt fich der transzendentale Schein entgegen. Der Absolutismus des Königtums, welcher erklärt: l’etat c’est moi, begeht den Fehler am offenfichtlichsten. Das endliche empirische In­ dividuum setzt fich an Stelle der Idee! Mer auch die einseitige Intereffenherrschast der Klaffen und Stände ist nur eine Folge des transzendentalen Scheins, überhaupt wird die historische Betrachtungsweise der Dinge durch ihn getrübt, und zwar im Sinne Hegels, der das Wirk­ liche dem Vernünftigen gleichsetzt. „Es erben fich Gesetz und Rechte wie eine ew'ge Rankheit fort!" — Wie das

persönliche, vergängliche Glück und Leid von uns im Seelenbegrtff hypostafiert wird, so hypostafieren di« Stände und Klaffen das Wohl und Wehe einer empiri­ schen Sonderheit, als ob in ihr die Idee der Menschheit gleichsam eingefangen wäre. Bei diesen Andeutungen über die Bedeutung des transzendentalen Scheines im politischen Leben müffen wir es hier genügen lassen. Wir find alle Glückssucher, und es bedarf vieler Ent­ täuschungen und Entsagungen, bis wir lernen, das Glück nicht mehr in unserem eigenen kleinen Ich, sondern im fittlichen Selbst, d. h. in der Mheit der Menschheit zu suchen. Der Fortschritt der Kultur ist die Erziehung der Individuen und der Völker zu dieser Selbsterkenntnis. Wir müffen alle erkennen, daß man die Lust des Augen­ blicks verachten muß und in der Zukunst leben soll. Die Gegenwart ist die verwirklichte Zukunst, und wie wir die Kinkel, Dom Sein und von der Seele.

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Zukunst gestalten, so wird die Gegenwart einst sein. Aber der transzendentale Schein spiegelt fich oft selbst in den beherrschenden Ideen der vergänglichen Kutturepochen wider. So z. 23. ist der Pessimismus, welcher fich ost ganzer Völker und Zeitalter bemächtigt — man denke z. 23. an die Zett des niedergehenden Griechentums und des Urchristentums —, nur eine Folge des transzendent talen Scheines. Man wußte nichts mehr von der Idee und dem Unendlichen, die bestehende, mangelhafte Wirklichkeit wurde für das Sein gehalten, und diese war dann steilich unvollkommen und traurig genug. Alle dogma­ tischen Philosophen, welche einen einzigen, endlichen Be­ griff zum Ausdruck des Unendlichen machen, wie z. D. Schopenhauer den Willen, Hartmann das llnbewußte usw., sind Opfer des transzendentalen Scheines. Selbst Hegel ist ihm nicht ganz entgangen, indem er die Ver­ nunft selbst verdinglichte, übrigens ist auch Hegels Philosophie nicht ganz stet von Pessimismus; und auch der beruht natürlich aus einer Hypostafierung des End­ lichen zum Unendlichen. Dieser Teilschlüffel zu seinem System liegt in seinem Begriff des „Anderssein". Man kann fast sagen, daß dieser Begriff der treibende Faktor in Hegels Geist ist: Die Verschiedenheit ist das Anderssein. Der Schmerz und der Ernst des Lebens liegt für ihn im „Anderssein". Zwei Dinge find verschieden, d. h. sie Widerstreiten fich; derselbe Begriff, dasselbe Ding (so glaubt Hegel) ist anders zu verschiedenen Zeiten und widerspricht fich selbst. Zwei Menschen find verschieden, fie find anders, und dies Anderssein ist mit ihrer Endlich­ keit und Individualität unmittelbar gegeben: daraus resultiert aber, daß fie anderes suchen, wünschen, hoffen, lieben, Haffen. Run ist der Begriff des Anderssein sogar mit dem Begriffe der Vernunft unvermeidlich verbunden: schon der bloße Gedanke des einen, mit fich Identischen führt die Verschiedenhett, das Unterscheiden mit fich, also das Anderssein des einen zum anderen. So scheint der

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Gegensatz, scheint der Ursprung alles Leides und aller Disharmonie der Welt in der Vernunft selbst zu liegen. Man lese den folgenden Satz aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes: „Das Leben Gottes und das göttliche Erkennen mag also wohl als ein Spielen mit sich selbst ausgesprochen werden; diese Idee finkt zur Erbaulichkeit und selbst zur Fadheit herab, wenn der Ernst, der Schmerz, die Geduld und Arbett des Negativen darin fehlt. An sich ist jenes Leben wohl die unge­ trübte Gleichheit und Einheit mit fich selbst, der es kein Ernst mit dem Anderssein und der Cntftemdung, sowie mit dem Überwinden dieser Entfremdung ist . . (S. 15 d. G. W. Bd. 2). Der Begriff ist auch für Hegel der Quell der Realität, und mit ihm ist das Anderssein, also auch die Verschiedenheit und der Schmerz des Lebens gesetzt. Aber die tiefere Identität, welche das andere mit dem einen verbindet und welche das eigentliche Charatteristikum des Begriffes ist, liegt auch in der Vernunft. Vernünfttg sein heißt daher auch: die Zwiespältigkeit und Zerriffenheit des Daseins durch die Innerlichkeit der identtschen Wahrheit zu überwinden. Ganz abgesehen davon, daß die Verschiedenheit noch nicht den Gegensatz und erst recht nicht den Widerspruch bedeutet, so steht man leicht, wie der pessimistische Zug dieser ganzen Be­ ttachtungsweise daher kommt, daß die endliche Wirklich­ keit, der relattve Begriff, der unendlichen Idee gleich­ gesetzt wird. Und wenn die empirischen Menschen, die Individuen wirklich verschieden und selbst entgegengesetzt find, so ist doch die Idee der Menschheit nur eine, und an ihr haben alle teil. Sie lieben und Haffen, fie suchen und verabscheuen im Grunde doch alle ein und dasselbe: ihre Sehnsucht geht zum Guten, fie fliehen vor dem Bösen, Chaotischen. And der Schmerz und das Weh der Wirk­ lichkeit hat keinen Bestand in der Idee und in der Zu­ kunft; fie gehött dem Willen und der Vernunft. 6S

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Nichts liegt uns dabei ferner, als das Vorhandensein und das Dasein des Leides und der Schmerzen in der Wirklichkeit zu leugnen. Sie find da, aber als treibende Faktoren, die Idee zu suchen, zu lieben, zu ver­ wirklichen. Zum Ewigen, zum Unendlichen sotten wir unseren Blick immer erheben. Aber freilich wohl: wer ist so heilig, daß er nicht gegen dies Gebot zuzeiten verstieße, daß ihn der transzendentale Schein nicht äffte? Wer wird nicht zuweilen von der Endlichkeit überwältigt und an der Gegenwart sozusagen erstickt? „Lin wenig Glück macht uns besser, aber immer nur Unglück macht uns zu Wölfen", sagt Strindberg in seinem „Totentanz". Mer das ist nicht wahr. Das Leid, das Unglück kann wohl auch den großen Mann für Augenblicke übermannen, es kann ihn selbst zu schlechten Handlungen verführen — aber völlig schlecht machen kann es ihn nicht; er müßte ja aufhören, Mensch zu sein. Der Witte ist frei; und auch der Schwächste kann fich immer wieder aus der Endlichkeit befreien und ins Reich des Ewigen flüchten. Wohl uns, wenn wir unsere Seele offenhalten für die Schauer der Unendlichkeit und die Stimmen der Ewigkeit I Laßt uns einander helfen, den Weg zur Idee zu suchen, laßt uns aufhören, uns zu befeinden, um vergänglicher Besonder­ heit willen. Richt der Zufall der Geburt, nicht die An­ gehörigkeit zu einer Rasse, Nation oder Konfession sott die Idee der Menschheit in uns ertöten. Laßt uns immer den Menschen im Menschen lieben! Wer die Gefahren des transzendentalen Scheines er­ kannt hat; wer gesehen hat, wie wir auf Schritt und Tritt dem Irrtum ausgesetzt sind, der uns das Endliche mit dem Unendlichen verwechseln läßt, wird Nachsicht üben im Verkehr mit den Menschen.

ünde md Leid, Laster und Kummer bewirken oft im menschlichen Antlitz ganz verwandte Züge und einen merkwürdig ähnlichen Ausdruck. Nicht als ob jedes leidvolle Antltz auch an die Sünde gemahnte: wohl aber kann man agen, daß ein menschliches Gesicht, solange es überhaupt noch Spuren der Humanität aufweist, wenn die Sünde und das Laster ihre Spuren darin abgedrückt haben, imner auch den Stempel des Leides trägt. Wie ist das -u regreifen? Der Grund hierfür liegt nicht nur darin, daß der Lasterhafte unter seinem Laster leidet und der Sünde unter der Sünde; sondern wirklich haben Sünde, Later und Leid etwas Gemeinsames. Alle be­ deuten einn Mangel in der Wirklichkeit und Existenz des Indivduums. Aber das Leid ist sich dieses Mangels bewußt, Lrster und Sünde nicht. Die letzteren beiden sehen vielnehr den Mangel als etwas Positives, als eine Art eoter Nealität an. Die Sünde ist der einmalige, das Laster der dauernde Versuch, ein Nichtsein -um Sein zu rroklamieren, eine Lücke in der Wirklichkeit als Wahrreit zu bestätigen. Es ist noch ein weiterer Unterschied zwischen dem Leid einerseits und der Sünde und dem Laster anderseits vorhanden. Tas Leid emp­ findet zrmeist einen Mangel, der in der Natur des

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allgemein menschlichen Problems liegt und dec jeweiligen Kulturwirklichkeit gleichsam notivendig anhaftet; das Laster gebiert einen Mangel, wo das Problem nicht mehr zu sein brauchte. Das Leid, das rechte, tiefe Seelen­ leid (nicht der egoistische Schmerz, der immer auf einem Irrtum beruht) ist daher im tiefsten Grunde eminent fittlich: es ist das Gefühl des Nichtseinsollenden, welches menschliche Kraft heute noch nicht zu bewältigen vermag. Große Leiden können daher auch Wegweiser der Zukunft werden. Das Laster und die Sünde aber, als ein Ver­ such, dem Nichtsein Existenz zu verleihen, rufen ihren Bruder, das Leid, herbei, und find so indirekt eine Nechtfertigung des Gottmenschen. Es gibt Leute, welche mit ihrem Leide kokettieren; fie haben einen spezifischen Gefichtsausdruck, der dem Lasterhaften einen großen Schritt näher steht als gewöhnlich. Der Grund davon ist: fie sehen auch einen Mangel als pofitiv, den Mangel, der dem Leid entspricht. Cs ist auch wirklich lasterhaft, mit dem Leide zu kokettieren, weil damit der eigenen fittlichen Persönlich­ keit ein Schaden geschieht: das Streben über den Mangel an Wirklichkeit hinaus, welches dem reinen Leide immer innewohnt, geht hier wieder verloren, und die Nicht­ existenz wird, wie beim Laster, als Wahrheit anerkannt. — Wenn nun so Leid und Sünde des Nichtseins Kinder find, der Mensch aber außer den pofitiven Gewalten seiner Seele immer auch Leid und Sünde in fich birgt, so erklärt fich von hier aus das Gefühl des Problemati­ schen, Unsicheren, Traumhaften, das den Menschen zuzeiten beherrscht (das Leben ein Traum). Wenn nämlich die Sünde oder das Leid zu stark werden/wird gleichsam die innere seelische Existenz des Individuums erschüttert; das Nichtsein scheint das Sein zu verschlingen, und die Wirklichkeit verblaßt zu einer Phantasmagorie. Dasselb« kann aber auch aus entgegengesetztem Grunde ein­ treten, wenn die Liebe des Menschen herz regiert. Den«

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die Liebe ist gleichsam der Affekt, durch den das Indivi­ duum eine höhere Form der Existenz ergreift, die noch nicht Wirklichkeit geworden ist. Je stärker daher ihre Macht in der Seele ist, desto geringer die Geltung der zufälligen Wirklichkeit. In der Liebe verstärken fich die Existenzen der Individuen wechselseitig. Denn was der eine dem andern in der Liebe wirklich geben kann: das Bereichernde und Erhöhende der Liebe liegt darin, daß die höhere Wirklichkeit, das Individuum der unbehinder­ ten, freilich nie völlig erreichten Zukunft, welches in jedem Menschen schlummert, vom Liebenden vorausschau­ end, vorahnend, aber auch hilfreich erkannt und erfaßt wird; indem nun der Liebende den geliebten Menschen nach diesem überwirklichen Gefühle behandelt und ein­ schätzt, erweckt er in jenem die Einsicht und das Begreifen seines Zukunsts-Selbst. Das mag wohl auch der Grund des großen Leides einer unglücklichen Liebe sein, daß die Idee des Liebenden fich nicht erfilllt, weil der Geliebte nicht darauf hinhört und sie nicht begreift. Der wahrhaft, aber unglücklich Liebende kann daher nie Zorn oder Haß gegen den unempfindlichen Geliebten empfinden, weil er ja gar nicht den zufällig wirklichen Menschen liebt, der ihn daher auch nicht kränken kann. Woher dann aber die Verwandtschaft von Liebe und Haß l Der Haß kann nur entstehen, wo die Liebe nicht nur unglücklich, sondern ein offenbar gewordener Irrtum war. Aber zu diesem Irrtum bekehrt sich das Herz schwer, daher der Hatz gern und leicht wieder in vermeintlich« Liebe umschlägt. Di« Methodik der glücklichen Liebe besteht, wenn man so sagen darf, darin, daß neue Kategorien des Seins er­ sonnen werden, die freilich zuerst nur gefühlsmäßig er­ griffen werden, mit deren Hilfe der Liebende aus dem Geliebten einen ganz neuen Menschen macht, obgleich er doch nur das, was im Geliebten noch lückenhaft und problematisch war, aus diesem selbst zu ergänzen sucht.

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Auch der Liebende gewinnt, indem er sich dem Geliebten hingibt: die Aufopferung der Lieb« ist ein Sich-selbstfinden. Denn wie der Liebende den Geliebten erhöht, so strebt er ihm auch nach. Es gibt keine tiefere Scham, als die Scham vor dem Geliebten. Worin beruht denn die Gemeinschaft der Liebenden (die allein den dauernden Wurzelboden der Treue abgeben kann) als in der Iden­ tität des fittlichen Lebenszieles? Das geheime, un­ mittelbare Verstehen, das Erraten der Gefühle, Gedanken und jedes Wunsches entspringt zwischen Liebenden aus der Gewißheit, daß die Realität des eigenen fittlichen Selbstes fich mit der des Geliebten deckt. Die Gemein­ schaft der reinsten Liebe ist immer der Ursprung einer neuen fittlichen Wirklichkeit; darum ist auch keine Sünde größer als die gegen die Liebe; denn fie zerstört nicht nur ein Wirkliches und setzt an deffen Stelle ein Nichtsein, sondern fie zerstört eine Zukunfts-Wirklichkeit. Es ist daher auch nichts unfittlicher, als die Treue da erzwingen zu wollen, wo die Liebe geflohen ist. Der Egoismus ist immer der Irrtum der Substantialifierung und Verding­ lichung des eigenen Ich, wobei dünn der notwendige Beziehungspuntt des fittlichen Selbst, der andere, aus welchem das Selbst geboren wird, negiert werden soll. Der sogenannte Egoismus der Liebe (der aber kein Bestand­ teil reiner Liebe ist) besteht daher darin, daß das Zukunfts-Selbst des Geliebten nur als Mittel, nicht als Selbstzweck anerkannt wird, weil die Identität des fitt­ lichen Selbstes für Liebenden und Geliebten hier fehlt. Sünde, Leid und Liebe find die wahren Erzieher der Menschheit. Sünde und Leid gemahnen an das Pröblemalische und Mangelhafte jeder Wirklichkeit und ver­ hindern die Erstarrung des Ich. Der Mensch, der nie die Schauer der Sünde gekostet hat — es gibt aber keinen solchen — würde hartherzig oder ein Heiliger werden. Wenn alles verstehen alles verzeihen heißt, so ist der

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Schlüffe! zu diesem Verständnis die Sünde. Daß der Mensch nicht in der Sünde stecken bleibt, dafür sorgt die Liebe. Sie zeigt über der mangelhaften, problematischen Wirklichkeit dem Gefühl das Sein der Idee und der Zu­ kunft. Leid und Liebe suchen sich, wie die Dichter sagen, von alter Zeit an. Und dennoch ist auch das ein löstliches Gut: an der Liebe zu leiden; denn hier wird das Leid selbst positiv schaffend, weil die Liebe die Ergänzung gibt.

Lebensführung und Charakter es gibt keine« angeborenen und unzerstörbaren Charak­ ter. Schopenhauer hat uns zwar das Gegenteil leh­ ren wollen. Seine Meinung, daß der Charakter durch eine tntelligible Tat unverrückbar und für alle Zeiten bestimmt sei, ist aber nur eine jener menschenfeindlichen Konsequenzen seiner antirattonaltstischen Lehre. Ver­ dankt doch der Intellekt, die Vernunft, das höchste Gut und die eigentliche Wesenheit der Menschheit, bei ihm sozusagen einem blinden Ungefähr, einem Zufall die Exi­ stenz; der unvernünftige Wille erschafft fie in seinem dunklen Drange. Dieser Wille wird fich freilich nicht belehren und erziehen lasten, dem die Vernunft gleichsam nur eine Akzidenz ist. Die Erziehung ist ja bei ihm nur ein Modeln am Äußern. — Der Idealismus der Misten schaft ist zugleich Rationalismus. Die Wahrheit ist das Sein. Und es gibt kein Sein, das jenseits der Vernunft läge. Aber das Sein, das absolute Sein, ist Ziel und Aufgabe der menschlichen Vernunft; wir suchen es. Unser Misten und Wollen ist immer relativ, obgleich auf das Absolute gerichtet. Daher kann es auch keinen Charakter, der unveränderlich wäre, geben. Der Charakter ist viel­ mehr die Erscheinungsweise der Idee, der sittlichen Idee, im einzelnen, im Individuum. Die Idee erscheint aber

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nie und nirgends restlos; jedes menschliche Leben ist in seinen Handlungen nur ein unvollkommener und mangel­ hafter Versuch, die Idee des Guten zur Erscheinung zu bringen. Am den Charakter eines Menschen restlos zu erkennen, müßten wir daher sein ganzes Leben über­ schauen können, in allen Handlungen und Vorsätzen. Der Charakter ist für den lebenden Menschen die Aufgabe seines Daseins. Die sittliche Idee, das ist die Idee der Einheit der Menschheit. Ihre besondere Erscheinungs­ weise im Individuum ist sein Charakter. So sieht man, wie freilich sine Erziehung als Charakter b i l d u n g möglich ist. Nicht so, daß der Mensch seinen Charakter gleichsam von außen eingesetzt bekommen könnte. Jede Erziehung ist nur die Erweckung zur Selbsttätigkeit des Willens und der Vernunft. Alles Lehren ist ein Appell an die Spontaneität des Bewußtseins des Lernenden, alle Willensbildung ein Aufruf zur Charakterbildung. Aber diese Bildung ge­ schieht von innen aus, von der Seele des zu Bildenden selbst. Indeffen wir wollen hier nicht von der bewußten und planmäßigen Erziehung durch Schule und Elternhaus reden, sondern von der Lebensführung des Individuums Denn diese ist auch eine Erziehung. Das Leben und die Gesellschaft erziehen uns, rufen uns zur Charakter­ bildung auf. Wenn wir die Schule und das Elternhaus verlassen, dann erst pflegen diese neuen Lehrmeister recht eigentlich in ihre Funktion zu treten. Gefühle und Leiden­ schaften stürmen auf uns ein, Triebe und Empfindungen, die unser Denken und unsern Willen vor stets neue Probleme stellen. And kein Mensch entwächst der Schule des Lebens bis zu seinem Tode; keiner ist je fertig. Der Charakter des Einzelnen bestimmt fich nun danach, wie klar er die Idee erkennt und wie nahe er ihr zu kommen vermag. Wenn aber in der Jugend Eltern und Lehrer unser Wollen und Denken aus die rechten Pfade lenken.

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die zur Idee hinführen, so müssen wir später im Leben unsere Wege selber suchen. Das ist freilich -um großen Teil immer unsere eigene Schuld. Denn so arm ist keines Menschen Her-, daß es nicht Freundschaft und Liebe fände. Wer freilich in beiden nur ein Mittel steht, fich das Leben angenehmer zu gestalten, der weiß nicht, was Freundschaft und Liebe ist. Sie find gegründet auf die Gemeinsamkeit des Strebens nach der Idee. Sie setzen also wechselseitiges Belehren und Erziehen voraus. Das braucht nicht immer planmäßig und bewußt zu geschehen. Schon der ist mein Freund, der ungewollt große Gefühle und Gedanken in mir erweckt; die großen Gefühle rufen die großen Gedanken herbei. Was kann man vom Um­ gang mit einem Menschen Besseres zu seinem Lobe sagen, als daß wir dadurch zu reinerem, tieferem Denken, zu heißerem und doch klarem Wollen erwacht find? — Eine große Liebesletdenschaft mag zwar die Seele zuzeiten unficher machen und von Grund auf aufwühlen — sie ist doch ein guter Lehrmeister. Denn die Unendlichkeit der eigenen Seele dämmert in ihr auf. Sie läßt uns tausend Erscheinungen begreifen, die bis dahin unverstanden an unseren Blicken vorüberzogen; fie erweitert den Blick für das Weltgeschehen. — Was wir alle lernen müssen und worin wir doch alle immer Lehrlinge bleiben, das ist die Kunst, dem eigenen Glück zu entsagen. Und doch ist es das Leid der Entsagung, welches die Seele erst weckt aus dem Traum, in den eine glückliche Jugend fie eingewtegt. Kein Leid ist so bitter als das der Entsagung und keines so wohltätig. Wir find nicht eher reif fürs Leben, als bis wir alle seine Zuckungen und Bewegungen in tiefster Seele mitspüren; wir können uns nicht eher zu den Jüngern der Zukunst rechnen, bis die Gegenwart uns gezüchtigt hat. Wie es zumeist mehrere, verschiedene Wege zur Lösung einer mathematischen Aufgabe gibt, so führen auch

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ungezählte Wege ins Reich der einen, ewigen Idee Wenn Originalität die Fähigkeit zur Erzeugung neuer Kulturwerte ist in Wissenschaft, Kunst und Leben, so ge­ hört Originalität zur Charakterbildung; denn der Charatter ist ja die besondere Art, wie der einzelne die Idee zur Erscheinung zu bringen sucht. Eine gemachte Ori­ ginalität dagegen ist Llnfittlichkeit, denn sie täuscht uns das Gesetz vor, wo es nicht ist. Je energischer wir aber unsere wirkliche Originalität betonen, desto enger wird auch unser Zusammenhang mit der Allgemeinheit, weil jeder Schritt der Charakterbildung uns der Allheit, d. h. der Idee zuführt. Wie überhaupt das Sittliche kein Geschenk der Natur ist, so müssen wir insbesondere seine konkrete Ausprägung in uns, das Individuelle, Beson­ dere, was uns zugleich von anderen unterscheidet und mit Ihnen verbindet, jeden Tag wieder von neuem behaupten und rechtfertigen; nämlich inwiefern in ihm wirklich das Allgemeine, Verbindende des Gesetzes enthalten ist, d. h. wir müssen es als einen einzelnen Fall des Gesetzes er­ weisen — das ist seine Rechtfertigung. Das Unterschei­ dende also, was den Charakter ausmacht, ist weder etwas Gegebenes noch ein Gegensatz zum Allgemeinen, sondem muß gerade kraft des Allgemeinen existieren. Man hat das Wort geprägt: seine Individualität ausleben. Das ist kein gutes Wort, wenn man es als sittliches Prinzip aufstellen will; dagegen wird es berechtigt, wenn es dem Sittengesetz, d. h. der Idee, untergeordnet wird. Die Individualität ist ein Problem. Man kann sich auf doppelte Art in der Welt zur Geltung bringen: entweder, indem man das Sein und den Bestand der eigenen Seele vermehrt; das ist die rechte Art; — oder, indem man den Wert der anderen zu ver­ kürzen sucht. Das ergibt fteilich nur eine Scheinexistenz, die vom ersten Windstoß des Schicksals zertrümmert wird. Cs gibt Leute, welche alles und jedes bewitzeln und be-

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spötteln; fie verdecken damit nur den Mangel an eigenem Gehalt, und es ist das Gefühl der eigenen Nichtigkeit, das fie dazu führt. Anderseits gibt es auch Leute, welche stets über sich selbst und ihr eigenes Tun lachen. Aber dies Lachen ist nur ein künstlicher Schutz gegen das Lachen der Welt. Du dürftest fie nicht in ihrem Kämmerlein sehen, wenn fie fich allein glauben: fie weinen da. Ein wirklich Reicher an der Seele kann einen Irrtum leicht eingestehen: es bleibt ihm noch Wahrheit und Existenz genug. Dem kleinen Geiste gehen auch die größten Erlebniffe spurlos verloren und er nützt die Erziehung des Lebens nicht aus. Geschieht es, daß ein Ereignis an die Türe seiner Seele pocht, gleich einem Wanderer, der Herberge verlangt: so öffnet er zwar ein wenig die Pforte, um nachzuschauen, wer draußen ist; hat er aber das Bild des Wanderers nur flüchtig aufgefaßt, heißt er ihn weiter­ gehen. Tiefere Gemüter öffnen weit die Pforten des Geistes und laden den Gottgesandten zum Eintritt ein. Cs ist die Art großer Menschen, alles Äußere in fich zu ziehen und in das Gewebe ihrer Gedanken und Gefühle etnzuspinnen. Bei vielen Leuten bauert aber die Selbsttätigkeit der Seele nur gerade solange, als die Berührung von außen, die dazu aufgefordert hat; schwindet diese, so schwindet auch jene. Das richttge ist es aber, wenn jedes Ereignis in uns nachwtrtt, wenn wir es uns nachgehen laffen. Jeder Anstoß von außen soll uns lehren, den Blick ins Innere zu wenden. Wenn wir den Blick ins Innere kehren, so kehren wir ihn recht eigentlich nach außen. Denn im Innern liegen die Quellen des Äußeren. Dem tüchttgen Menschen ist in dieser Hinficht auch das Ge­ wöhnlichste das Seltenste: denn er fieht nie zweimal dasselbe, sondern immer den Charatter der Ereigniffe. Was kann uns das Leben anderes lehren, als daß wir uns unseres Selbstes bewußt »erben? Jedes Ve-

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wußtwerden ist aber ein Zu-fich-selbst-kommen; indem da­ restlose Bewußtsein zugleich die Verwirklichung des theo­ retischen und praktischen Selbstes wäre, weil hier alle Empfindungen und Gefühle bestimmt und mit dem Be­ wußtsein der Begriffe und Gesetze durchleuchtet, oder, was dasselbe ist, an bestimmte Begriffe und Gedanken angehestet wären. Weil jedes Erkennen und jeder Willensakt ein Bestimmen und Beschränken des Unend­ lichen zum Endlichen ist, so scheuen wir uns ost vor der Klarheit des Bewußtseins und geben uns lieber der fal­ schen Unendlichkeit eines unbestimmten und verschwömmenett Gefühls hin. Wir übersehen, daß ja die Funktion und Kraft unseres Geistes, welche sich im Erkennen und Wollen äußert, selbst unendlich ist, so daß wir die wahr­ hafte Unendlichkeit nur mit unserem Selbst verlieren könnten. Für den Dogmatiker ist jede neue Erkenntnis ein Stück verlorener Siraft: sowie seine Begriffe sogleich versteinern, so in ihnen die Vernunft. Für den kritischen Kopf ist aber jede neue Erkenntnis ein Erwerb neuer Kräfte: er übt seine Vernunft. Unsere Lebensreise gleicht einer Wanderschaft in «ine bis dahin von uns noch nicht betretene Gegend, von der wir eine Karte besttzen, welche zwar die Richtung unseres Pfades erkennen läßt, auch die Distanz der Orte angibt, aber nur in der Luftlinie. Wenn wir daher uns auf den Weg machen, können wir nie wiffen, wie lange wir von einer Station zur anderen gebrauchen werden und ob unsere Kräfte reichen. Denn wir können auf Berge und Täler, Flüsse und Wälder stoßen, die die Karte nicht ver­ zeichnet. Soviel Unerkanntes, Problematisches begegnet uns auf der Lebensretse. Deswegen sollten wir den­ jenigen dankbar sein und sie hochschätzen, welche schon ein Stück weiter find und uns belehren wollen. Es gibt eine Andacht des Lernens. Jedes Wissen ist das Resultat eines Kampfes gegen das Chaos und das Nichtsein:

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wenn uns daher jemand diesen Kampf erspart — soweit er das kann: er zeigt uns ja nur den Weg, der zum Siege führt; die Tat ist hernach doch unser —, so müssen wir ihm dankbar sein! Jede Zeit hat ein System von Begriffen, welches ihre Wahrheit und Natur darstellt. Aber das ist nicht ihre volle Wirklichkeit, denn die umschließt auch die Probleme. Die Probleme bergen aber die Natur der Zukunft. Die Zukunft gleicht einer Jungfrau, die einst Mutter werden soll. Dazu bedarf es des befruchtenden Willens und der Tat. Es ist aber schon manche Zukunft — alte Jungfer geworden. Der rechte Affekt, der uns durchs Leben leiten soll, ist daher die Hoffnung und der Glaube an die Zukunft. Es ist ja auch viel leichter, eine Enttäuschung zu verschmerzen, als ohne Hoffnung zu sein. Man darf sogar sagen, daß selbst jeder Selbstmörder in seiner letzten Stunde eine große Hoffnung und einen großen Glauben hat; und sei es auch nur der Glaube und die Hoffnung des Nihilismus. Er glaubt an einen ewigen Schlummer des Seins. Den gibt es nicht und kann und soll es nicht geben. In der Idee ruht das Sein, und die können wir nur durch das selbsttätige Erkennen und Handeln ergreifen. Man spricht von Epochen der Menschheit; von Entdeckungen, Handlungen,,welche Epoche machen: aber das ist immer nur das Aufleuchten der Idee in der Allgemeinheit, freilich immer in einer endlichen, bestimmten und mangel­ haften Form. Die Epochen der Menschheit find eben­ soviel Schritte in der Vollziehung des Selbstbewußtseins der Menschheit. Aber das Ziel ist unendlich fern, und der Weg dahin ist dornig. „Der Anschuld unbeflecktes Eigentum ist nicht das Teil des sterblichen Mannes . . sagt Pestalozzi, „er steht fie in den beiden Grenzen seines Daseins, und lebt in ihrer Mitte, umhergetrieben vom Sturme seiner Schuld." Weil wir nun einmal so im

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Reiche der Schuld und Sünde leben, sollen wir uns den Nutzen der Schuld zu eigen machen: das ist die Kraft des Verzeihens und Verstehens. In der Idee wäre Schuld und Sünde überflüssig, denn es gibt nichts mehr zu ver­ zeihen; wir aber, wir endlichen Individuen können einen Segen der Sünde spüren. Das Verzeihen mutz aber eben wirklich aus dem Gefühl eigener Sündhaftigkeit ent­ springen, sonst wird es leicht zur Anmahung. Diese Ge­ fahr liegt bei den Menschen am nächsten, die sich fündenfrei glauben. Solche Leute verzeihen überall, wo auch gar nichts zu verzeihen ist. Umgekehrt bei der erheuchel­ ten Demut, die überall um Verzeihung bittet. Es gibt dem Gefühlsleben nach aktive und passive Naturen. Die passiven Naturen empfinden in jeder ihrer Handlungen viel mehr die Veränderungen ihres Selbst als der Umgebung, auf welche sie wirken; bei den aktiven Naturen ist es umgekehrt. Die ersteren neigen zum Grübeln, zur Selbstbetrachtung und endlich zum Mysti­ zismus ; die letzteren gehen leicht in blohem Tun auf. Die ersteren haben auch zumeist ein viel stärker ausgeprägtes Schuldbewutztsein und empfinden das Problematische des Lebens richtiger. Überall, wo wir auf das Problematische im Leben stotzen, zeigt sich recht eigentlich, was wir wert find. Marquis Posa sagt: „And was ist Zufall anders als der rohe Stein, der Leben annimmt unter Bildners Hand? Den Zufall gibt die Vorsehung — zum Zwecke mutz ihn der Mensch gestalten." So heißt es bei Novalis: „Alle Zufälle unseres Lebens find Materialien, aus denen wir machen können, was wir wollen." So stehen wir dem Chaotischen der äußeren und inneren Welt gegenüber: je mehr wir das Problematische befiegen und das Chaos durch Begriffe und Handlungen entwirren, desto seltener wird der Zufall. Aber da das Sein unendlich ist, wird das Problematische nie völlig aus der Welt verschwinden, Kinkel, Dom Sein und von der Seele. 7

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und also auch nicht der Zufall. Wenn wir nun fähig find, den Zufall im Dienste der Idee zu verwerten, so über­ springen wir gleichsam immer einige Zwischenglieder in der logischen Selbstentwicklung und im Ausbau des Selbstbewußtseins. Wie die Idee selbst nie völlig und rein stch in der Wirklichkeit aussprtcht, so kann es auch keinem Menschen gelingen, die Modifikation der Idee, die wir seinen Cha­ rakter nennen, ganz rein zur Erscheinung zu bringen. Aber wenn er nur soviel erreicht, daß die Idee seines Charakters ins Zeitbewußtsein übergeht, so ist ihre Fort­ wirksamkeit und damit die endliche Vollendung seines Charakters gefichert. Mag fie sich immerhin nach seinem Tode in tausend Individuen spalten und in tausendfachem Einzelbewußtsein zum Leben erwachen, fie kann nicht untergehen. Cs ist nicht wahr, daß wir gestorben find, wenn unser Leib im Grabe fault oder zu Asche verbrannt ist: wenigstens' dann nicht, wenn wir auch nur Eine Idee, Ein Wort, Einen Satz oder Eine Tat in die Welt geworfen haben, die im Reich der Geister fortzeugt und fortwirkt. Es ist eine triviale Weisheit: man solle die Gegenwart aus der Vergangenheit verstehen lernen; viel wich­ tiger ist es, Vergangenheit und Gegenwart von der Zu­ kunst aus zu begreifen. Man muß verstehen lernen, wo­ hin die Sehnsucht und der Wille der Menschheit zielt, um die Absonderlichkeiten und Mängel, aber auch um die Größe und Wahrheit der Gegenwart zu verstehen. So soll man auch dem einzelnen Individuum gegenüber ver­ fahren: man soll, wenn man fich ein Bild von seinem Charakter machen will, zuerst darauf achten, welche Hoff­ nungen, Träume und Entwürfe sein Herz bewegen; und man kann hierbei ost einen Menschen bester verstehen als Freund, als er fich selbst versteht. Die Begehrungen und Bestrebungen seines Gemütes find der eigentliche Quellund Ärsprungspunkt der Wirklichkeit seiner Seele.

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So liegt auch der bleibende Gewinn, den die Crziehung durch das äußere Leben, durch Sckicksalsfchläge, Leiden und Freuden, uns geben kann, in den veränderten Hoffnungen und Wünschen unseres Herzens. Ze mehr fich diese von den isolierten Interessen unseres vergäng­ lichen Individuums abtehren und der Allheit der Menschheit zuwenden, desto weiter ist unsere sittliche Erziehung fortgeschritten. Wenn der Cmbryologe die Entwicklungsgeschichte des Individuums verfolgt, so muß er mit der Funttionsweise der einzelnen Organe im fertigen Individuum be­ reits vertraut sein. So stehen wir auch der Geschichte des sittlichen Menschen und der ganzen Menschheit gegen­ über: je klarer uns das Ziel der menschlichen Kultur vor Augen steht, desto deutlicher und durchsichtiger wer­ den uns die vergänglichen, relativen Bemühungen der einzelnen Lebens- und Zeitalter. Wenn wir nun zu der Einsicht gekommen find, daß das Ziel der Kultur, aber auch das Ziel unseres eigenen sittlichen Selbstes, in der Idee der Menschhett liegt, so werden wir jedes Ereignis uiib jede menschliche Handlung zuerst daraufhin zu be­ trachten lernen, was fie der Verwirklichung der Idee für Dienste leisten; und das heißt eben, fie von der Zukunft aus verstehen. Wir alle können der Zuchtrute des Schicksals nicht entgehen. Den einen trifft fie in Gestalt der Armut, Krankheit und äußerer Sorge und Rot, den andern als Herzenskummer und seelisches Leid. Wenn wir aber in alledem immer nur uns selbst, unser vergängliches, empi­ risches Ich fühlen, so ist unsere Erziehung noch im An­ fangszustand. Jene Mahnrufe der Rotwendigkett sollen uns nur an die Unvollkommenheit des gegenwärttgen Zu­ standes der Menschhett und an die Mangelhaftigkeit der Wirklichkeit erinnern. Wir sollen außer uns wirken; denn nur so können wir das, was in uns schlummert, zur Ent-

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faltung bringen. Es ist die höchste Erscheinungsform der Sittlichkeit, wenn wir in der höchsten eigenen Rot doch der fremden Not nicht vergessen; und wenn uns das Leben täglich das Unvollkommene unserer Bemühungen vor Augen führt, so soll der lebendige Glaube an die Idee dennoch nicht am endlichen Sieg des Guten ver­ zweifeln. — Häufig sehen wir einen Charakter dadurch verküm­ mern, daß er in Einseitigkeiten verfällt. Der lichte Schimmer einer Wahrheit hat ihn so geblendet, daß er die Dämmerung der angrenzenden Probleme nicht mehr zu durchdringen vermag. Aber eine isolierte Wahrheit hört immer zur Hälfte auf, Wahrheit zu sein, so wie ein isolierter Mensch aufhört, ein ganzer Mensch zu sein. Dies gilt auch auf fittlichem Gebiete: die Tugend ist eine Methode und eine Kraft, niemals aber ein einzelnes Ding. Wie manche Gelehrte ihr ganzes Leben lang zehren von dem Einen Buch, das sie geschrieben haben, von der Einen Erkenntnis, die fie gewonnen haben, — so manche Menschen von der Einen Tugend, die fie be­ griffen haben. Aber unser Verhältnis zu dem unendlichen Probleme des Daseins verlangt eine stets erneute Tugend und Seelenstärke. Es geschieht auch, daß wir uns selbst verkennen, in­ sofern wir die richtigen Kräfte unserer Seele nicht in Bewegung setzen, durch welche wir das meiste in der Welt vermöchten. And nicht immer trifft fich's so gut, daß das Leben uns gerade die Probleme stellt, die wir spielend zu lösen vermögen. Aber wenn unsere phyfische Existenz auch an der Schwere unserer besonderen Lebensaufgabe scheitern kann, so find wir doch unter Men Amständen fähig, unsere sittliche Existenz und damit die Ewigkeit unseres Wesens zu retten. Es ist freilich nicht immer leicht, das Sittliche zu finden, sondern es setzt ein reines und tiefes Streben nach Erkenntnis voraus. Statt deffen

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bleiben wir oft hasten an den problematischen Erschei­ nungsformen der Wirklichkeit, hinter denen sich die sitt­ lichen Kräfte der Zukunft verbergen. Und so liegt die Gefahr nahe, haft schließlich die Seele aufgeht in jener Scheinwelt leerer Gebräuche, und daß eine Schale des Trugs uns selbst den göttlichen Kern unserer wahren Natur verdeckt. Cs erfordert Entschlossenheit, im Strudel des All tagslebens und unter den Fesseln der Sitte (die nicht immer Sittlichkeit ist), dem Unendlichen treu zu bleiben! Weil die Darstellung des eigenen Charatters auch beim tüchttgsten und stärksten Menschen immer unvollkommen ist, so muß gerade der Getreuste die meisten Kämpfe aus­ fechten. Aber wie sie aus dem Geiste geboren find, sollte er sie auch im Geiste bestehen. Die tiefsten Schmerzen, die der Künstler empfindet, wenn er, was sein Geist er­ schaut und seine Seele ergriffen hat, nicht rein aus sich Herausstellen kann; die kränkende Beschämung, die unser Herz befällt, wenn wir die reine Darstellung der Idee in unserem Charatter nicht annähernd durchzuführen ver­ mögen; die Verzweiflung, die den Forscher erfaßt, wenn er der Unendlichkeit des Seins kaum ein Stückchen Wirk­ lichkeit abzuringen vermag, — kann dennoch nur die innige und unerschütterliche Liebe zur Idee befiegen. Gerade die größten Geister fühlen es am stärksten, daß all unser Wollen, Wissen und Können Stückwerk ist. Mer wir dürfen nur der Zukunft verttauen und ihr mit kindlichem Gemüt unserer Hände Werk, unseres Geistes Frucht anhetmgeben: so wird sie den Keim unseres Wesens zur Entfaltung bringen, den die Wirklichkeit achtlos beiseite warf. Und wenn nur der Einzelne vorschauend den Blick zur Ewigkeit des Werdens und Wachsens der Menschheit erhebt, so kann er sein sterbliches Individuum versetzen in jenes Reich der Unvergänglichkeit. Wie häufig aber gehen wir im Nichtigen und

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Problematischen auf, indem wir unsere beschränkte Sub­ jektivität falsch einschähen. Wir suchen auf alle Art den Sorgen und Widerwärtigkeiten des Daseins zu entgehen und stehlen uns selbst die kostbarsten Stunden der Kraft und Wirksamkeit um eines leeren Zeitvertreibes willen. „Zeitvertreib!"' es ist schon recht, wenn wir die Zeit dmch die Ewigkeit vertreiben und an Stelle des Vergänglichen das Unwandelbare sehen. Mer leider vertreibt die Zett zumeist umgekehrt uns selbst. Wir hängen uns an ihre Rockschöße und laufen mit ihr, bis wir die wahre Heimat unserer Seele verloren haben. Aber, wo ist denn unsere wahre Heimat, wenn nicht in den Tiefen unseres eigenen Gemütes und in der Einheit der Menschheit? Was die Natur nicht zeigt, was die Handlungen der Menschen so selten verraten, das ist dennoch das gemeinsame Vand der Menschheit: die Bestimmung -um Guten. Und ob wir gleich tausendmal sündigen und irren: die Wahrheit und das Sein sollen und werden wir ergreifen. Die Liebe zur Idee ist zugleich immer eine Sehnsucht nach einer höheren DasetnSform voll reicherer Wahrheit und reinerer Sittlichkeit. Plato und Plottn kommen darin überein, den philosophischen Cros zu charakterisieren als das Streben, im Schönen zu zeugen, d. h. aber theore­ tische und praktische Ewigkeitswerte zu schaffen. Und so wäre ja der philosophische Cros der Grundtrieb jeder reinen Lebensführung? So verhält es sich wirklich. Wir bleiben alle bedürftig unser Leben lang; wir suchen und suchen, und jede Seele hat eine ihrer Natur gemäße Sehn­ sucht nach der Ewigkeit. In welche Daseinsformen wir auch treten, wir dürfen nie -um Augenblicke sagen: ver­ weile doch, du bist so schön! Die Ausgestaltung des Charakters in der Lebensführung soll ein ewiges Zeugen in der eigenen Seele und eine ewige Geburt sein. Wenn die Welt und das Schicksal uns befruchten, so sollen wir das außer uns gebären in der Tat und in der Liebe.

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Und wenn uns das Schicksal zu Ideenfreunden er» zieht, dann find wir seiner Willkür entronnen. Denn den Ideenfreund kann die Natur nicht mehr zwingen, deren Relativität und Vergänglichkeit, deren Ursprung im eige­ nen Bewußtsein er erkannt hat; und alle Ereigniffe und Crlebniffe seines Daseins schließen fich um jene eine, un­ wandelbare Einheit, die sein zerstreutes geistiges Besitz­ tum wie mit Kesseln der Liebe verbindet. Auch nur auf diesem Wege können wir dazu gelangen, uns selbst zu befitzen. Zwar ist unser fittltches Selbst in keinem Augenblicke unseres Lebens völlig abgeschlossen und vollendet; aber in der Entfaltung selbst unserer Kräfte und Anlagen in der Richtung auf jenes eine, unwandelbare Ziel können wir jene Selbsterkenntnis gewinnen, welche den rechten Besitz unseres, geistigen Ichs ausmacht. Die höchste Kraft des Selbstbefitztums würde dann erreicht sein, wenn jede Empfindung und jedes Gefühl in uns das deutliche Bewußtsein unseres besonderen Charakters, d. h. unseres besonderen Verhältnisses zur allgemeinen, einheitlichen Idee, hervorbringt. Zumeist, wenn uns das Schicksal die Nichtigkeit alles individuellen Glückes und aller selbstischen Lust vor Augen führt, dann erbauen wir uns das Scheinbild einer über­ weltlichen, jenseitigen Wirklichkeit, die jenes Vergängliche. Zeitliche selbst gleichsam festhalten und verewigen soll. Aber der Ideenfreund sucht sein Jenseits in der Zukunst; es liegt steilich häufig jenseits des sterblichen Individuums, aber nicht jenseits des fittlichen Selbstes. Und wer an die Idee glaubt, der soll auch für ste leiden können. Die Menschheit ist ein ungläubiger Thomas und verlangt immer sichtbare Zeichen und Wunder. Es er­ scheint aber den Ideenverächtern, die noch im Finstern wandeln, wie ein Wunder, wenn das Individuum fich selbst vergessen und leiden und Kümmernisse des Lebens auf fich nehmen kann, um die Kraft der Idee zu bekunden.

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Das ist der doppelte Segen des Leides, daß es uns subjektiv vertieft, objeftiv aber rechtfertigen und unsere reinere Natur bezeugen kann. Es hat freilich auch Fana­ tiker des Leidens gegeben, welche, weil ihnen andere Zeugen fehlten, die Kraft der Schmerzen anriefen, um durch sie die Berechtigung und Wahrheit ihrer Lehre zu erweisen. So ist das Gefühl oft der Umweg, auf welchem der Gedanke, und damit zugleich erst das objektive Sein, sich Anerkennung verschafft. Schon wer für seine Freundschäft und Liebe leidet, der leidet für die Idee. Cs ist eine wohltuende und doch zugleich schmerzliche Erscheinung des Seelenlebens, daß unser Gemüt, je reicher es an Gefühlen, Erkenntniffen und Willen wird, auch desto empfindlicher und empfänglicher wird. Bei einem charak­ tervollen Menschen, der seines Weges sicher geht, hängt ohnehin die Gesamtheit seines seelischen Besitzes so eng zusammen, daß man ihn angreifen mag, wo man will, man hat immer den ganzen Menschen. Je mehr sich nun die Eigenwelt eines Individuums erweitert und vertieft, desto mehr Berührungspunkte gewinnt sie mit der Welt und desto leichter antwortet sie auf die Ansprache des Schicksals. Wohltätig ist diese Erscheinung, weil so der Forffchritt zu höheren Daseinsformen erleichtert wird, und die Seele immer mehr Mittel und Wege gewinnt, ihren eigentümlichen Charakter auszuprägen. Das Schmerzliche der Erscheinung liegt aber darin, daß nun­ mehr die Widerwärtigkeiten und Leiden des Lebens auch doppelt empfunden werden. Immer wieder werden wir an der Welt irre und in tiefster Seele erschüttert, wenn wir auf das Unvernünftige, Ungelöste des Daseins stoßen. Stile Versuche der Theodicee entspringen jenem naiven Wirklichkeitsglauben, den man zuerst überwunden haben muß, ehe man auch nur von ferne einen Abglanz der Idee gewahren kann. Lust und Leid find freilich in der Welt von heute nicht nach Recht

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und Billigkeit verteilt, aber sie anzurufen, um gleichsam statistisch (nach dem überwiegen der Lust oder Unlust in der Wirklichkeit) die Berechtigung des Optimismus oder Pessimismus zu erweisen, ist eine Erfindung der Neuzeit, die ihr nicht zur Ehre gereicht. Die wahrhafte und einzig mögliche Theodicee soll der menschliche Wille vollziehen, indem er die Welt immer wahrer, immer sittlicher, immer schöner gestaltet. Cs gibt noch so viel ungezähmte Kraft, soviel blinder Naturtrieb in uns und außer uns, den die Vernunft zum rechten Ziele lenken sollte; und dazu sollte das Leben uns vor allem erziehen, daß wir hier immer den Anfang bei uns selbst machen. Aber wir sehen den Splitter im Auge des Nächsten, und den Balken im eigenen Auge sehen wir nicht; wir empfinden die Fehler unserer Brüder tiefer als unsere eigenen mit) beurteilen sie strenger; und doch sollte das Gegenteil der Fall sein. Denn unsere eigenen Fehler berühren näher unseren An­ teil an der Zukunft als die fremden. Ebenso bewerten wir zumeist unsere eigenen Werke und Taten höher, wenn sie sich als gehaltvoll erweisen und gut, denn die anderer Menschen. Dies ist fast ein noch größerer Fehler. Denn alle guten Werke, die von Bestand find, entspringen einer­ inneren Notwendigkeit des Handelnden, welche zugleich die höchste Freiheit ist: indem sie die Mittel und Wege find, unsere Cigenwelt mit der allgemeinen Wirklichkeit in Zusammenhang zu bringen. Wir befreien uns durch sie von einer Lücke in unserem Sein und sprechen eine neue Seite unseres Charakters aus. Das eigene Werk, sofern es ein sittliches und kulturförderndes ist, ist daher immer zugleich eine Wohltat gegen unsere eigene Seele, eine Beftiedigung eines uns drückenden Problems. Den­ noch kann sich in ihnen nicht mehr aussprechen als unser Ich, soweit es in dieser Stunde der Geburt gekommen war. Die fremden Taten aber bringen Neues herzu, wecken Llngekanntes in unserem Gemüt und find daher

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selbst für unsere eigenen, zukünftigen Taten befruchtender Tau; indem wir fie uns zu eigen machen, erweitern und vergrößern wir unser Ich. In der Isolierung würden wir verkümmern. Wir haben daher eine größere Pflicht der Dankbarkeit gegen fremde wie gegen eigene Arbeit. Auch zeigt es von Geistesgröße, wenn wir am fremden Wirken immer das Positive aufsuchen und die Fehler möglichst übersehen. Wir nützen uns selbst damit. Vom Segen der Arbeit kann man überhaupt nicht hoch genug denken; es darf nur keine mechanische Arbeit sein, sondern eine fruchtbare, fesselnde, welche das ganze Selbst des Menschen ergreift und in Bewegung seht. Eine rein mechanische Arbeit, die wir mit Widerwillen oder wenigstens ohne inneres Interesse verrichten, kann sogar unsere fittltche Existenz gefährden. Denn fie ver­ führt uns, die Wesenskräste unserer Seele, die wir auf dem Weg zur Idee so nötig haben, zu mißbrauchen, und ertötet die A ch t u n g vor der Arbeit. Es gibt aber frei­ lich keine wertvolle Arbeit, die im schlimmen Sinne mechanisch wäre: Denn auch die auf das scheinbar bloß Nützliche gerichtete Tätigkeit hängt irgendwie mit dem sittlichen Endziel unseres Lebens zusammen und bean­ sprucht insofern unser Interesse. Diesen Zusammenhang gilt es nur aufzusuchen. Wenn z. B. ein Arbeiter täglich und stündlich denselben einen, identischen Handgriff an einer Maschine ausübt und hierdurch innerlich verödet und abgestumpft wird gegen seine Arbeit: so liegt der Fehler nicht eigentlich in dem ewigen Einerlei, sondern darin, daß er, der Arbeiter, nicht fähig ist, das Ganze der Maschine und ihren Endzweck zu übersehen. Übrigens: je vollkommener eine Maschine ist, desto weniger, aber auch desto gebildetere Arbeiter find zu ihrer Bedienung erforderlich. Wie ein Kapitän sein Schiff, ein Ingenieur die von ihm konstruierte Maschine lieben kann, so sollt« jedes tote Werkzeug, dessen wir uns im Lebenskampf be-

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dienen, gleichsam ein Teil unseres Ichs werden. Wir müssen ihm hierzu selbst Bedeutung verleihen. Die Werke, denen wir gleichgültig gegenüberstehen, werden endlich immer unsere Feinde.

„Ach unsre Taten selbst, so gut als unsre Leiden, ste hemmen unsres Lebens Gang",

sagt Faust. Das gilt zuerst von jenen Taten, die wir widerwMg ausüben und zu denen wir uns nicht bekennen können. Sie liegen uns überall in ihren Folgen wie Steine des Anstoßes im Weg«. Freilich kann ein Werk auch noch im anderen Sinne unser Feind werden, sogar dann, wenn wir es im Momente seiner Geburt mit unserem vollen Selbst erfüllt hatten. Nämlich dann wird es unser Feind, wenn wir darin, statt den Versuch zur Vollendung, die Vollendung selbst sehen. Wie oft erlebt man es z. B., daß bedeutend talentierte Künstler durch den Erfolg eines Erstlingswerkes für immer ruiniert wer­ den. Sie werden Manteristen und kopieren in Zukunft sich selbst. Sie glauben eben, fertig zu sein. Aber die Abhängigkeit von den eigenen Werken ist noch nicht so gefährlich, wie die Mhängigkeit von der toten Natur. Denn im eigenen Werk wohnt immer noch ein Stück Selbst, ein Residuum der Seele. Zwar ist auch die Natur, ihrem Ursprung im Bewußtsein gemäß, keine uns fremde und feindliche Macht: aber wir suchen in ihr nur die Notwendigkeit, und wer sich daher der Natur verschreibt und sie (nicht nur ästhetisch genießt, sondern) zum Richter seines Lebens nimmt, der muß das Be­ stehende, Wirkliche zum letzten Notwendigen machen und hindert den Fortschritt zur Idee. Die Idee soll sich in der Natur aussprechen, verwirklichen durch unseren Willen; aber eben deswegen muß der Wille (der die Erkenntntund den Affekt in sich schließt) über die jeweilige Natur hinausgehen können, indem er sie wahrer macht und also erneuert. Das geschieht eben durch die Werk« unseres

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Willens, die daher auch immer wie Stationen auf der Wallfahrt zur Idee sein müssen. Es bleibt das A und Q unseres Lebens, daß wir unsere ganze Existenz in den Dienst der Idee stellen.- Wer sich den Gefühlen und Stimmungen hingibt, zerreißt sein Dasein; wer nach dem Endlichen greift, muß in ihm ver­ sinken. Wer wir können auch die Idee anerkennen und dennoch vom Leben trennen; dann wird sie zur Illusion. Es ist gewiffermaßen der entgegengesetzte Fehler: die An­ endlichkeit soll das Endliche gebären, das Endliche ein Ausdruck des Unendlichen werden. Wer einseitig nur das Endliche oder Unendliche zu fassen trachtet, muß erliegen. Ob wir von der Einheit zur Mannigfaltigkeit (von der Idee zur Erscheinung) oder von der Mannigfaltigkeit zur Einheit (von der Erscheinung zur Idee gehen): sofern wir nur beiden Teilen gerecht werden, können wir nicht ver­ derben. Die verwirrende Menge der Interessen, durch welche Berufsleben, soziale Stellung, nationale Verschie­ denheit und Verschiedenheit der Bildung die Menschen zu trennen versuchen, werden zu Freunden der Menschheit, wenn sie in ihrer Relativität erkannt und der Idee unter­ geordnet werden; sie find die schlimmsten Feinde des Menschengeschlechts, wenn fie absolut und an die Stelle der Idee gesetzt werden. Die verschiedenen Charaktere der Individuen und Völker sollen fich ausprägen, ohne der Einheit des Menschengeschlechts im Wege zu stehen. Dieselben Kämpfe, welche heute noch aus Mißverstand die Völker trennen, trennen häufig den Menschen von fich selbst in den Kämpfen seiner Seele. Irgendein Gefühl, sei es des Glückes oder des Leides, durchdringt seine ganze Eigenwelt und sucht alle Kräfte und -Wünsche zu unter­ drücken und zu fesseln — bis fich aus dem Lebenszentrum selbst heraus der vernünftige Wille gegen die vergängliche Macht aufbäumt und fie in ihre Schranken zurückweist Kein endliches Gefühl hat Selbstzweck: wie es aus dem

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Endlichen entstand, durch Endliches hervorgerufen wurde, must es die dienende Stellung des Endlichen gegen das Unendliche teilen. Das Gefühl der Liebe z. B. fesselt uns zuzeiten so, daß wir in der Hingabe an es die hohe Auf­ gabe und Rechtfertigung der Liebe, die in dem Zeugen, im Schönen, d. h. in der Auferbauung der Idee in der Seele des Geliebten besteht, ganz aus dem Auge verlieren. Und ebenso der Schmerz der Entsagung, da doch die Entsagung, wenn sie gerechtfertigt ist, auch nur Mittel zum Zweck der Selbstläuterung sein sollte. Der philosophische Eros, die Liebe zur Idee, muß uns auch Stühe sein, wenn der Tod kommt, in der letzten Stunde uns die Zweige des Daseins aus der Hand zu winden, die gemach verdorrt find, ohne daß wir's gewahr wurden; wenn der stille Wandersmann plötzlich aus der Dämmerung hervortritt — denn er folgt, ohne daß wir's merken, unsern Schritten seit unserem ersten Tag — und unseren Leib fordert, der ihm verfallen ist. Dann tritt das fittliche Selbst, rein und von den Schlacken der End­ lichkeit befreit, seinen Weg in die Zukunst an: unsere Taten, Gedanken und Gefühle, die der Idee geweihten, überleben uns.

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n der Seele eines großen Menschen wird jedes Wort und jedes unscheinbare Erlebnis zu einem bedeu­ tungsvollen Ereignis. Es ist ja nichts klein und nichts­ sagend in der Welt, wenn wir nicht selbst klein und stumpf find. Je tiefer das Gemüt eines Menschen ist, desto kraft­ voller antwortet es auf die Cinflüffe des Lebens. Aber nicht jeder vermag seine Gefühle und Gedanken unmittel­ bar in Taten umzusehen: vielmehr bewirken die unfichtbaren Erschütterungen und die inneren Stürme und Herzenskämpfe bei vielen eine Veränderung der ganzen Cigenwelt, die fich nur dem tieferblickenden Auge des Freundes offenbart. Es gibt grüblerische, finnende Charaktere, welche lange Zeit brauchen, um fich in jedem einzelnen Falle über fich selbst und ihre Stellung zur Welt klarzuwerven: fie gehen, kann man sagen, immer von der Idee zur Wirklichkeit, während die ihnen entgegengesetzten Menschen von der Wirklichkeit zur Idee aufsteigen. Jene Ideenfreunde also, welche in der Zukunft leben, wenn ihre Seele durch ein Ereignis aufgewühlt wird, ruhen nicht eher, bis fie den Zusammenhang mit der Idee ge­ funden haben und begreifen, wie fich die neue, durch das Ereignis bedingte Wirklichkeit dem Sinn und Zweck ihres ganzen Lebens, der für fie unverrückbar feststeht, unter-

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ordnet. Alles, was sie in dieser Welt erfahren, wird hier zu einem Ausdruck des ewigen Seins; aber eben weil sie so im Unvergänglichen und Ewigen leben, finden sie sich nur schwer im Dasein und der Wirklichkeit zurecht. Sie können -. B. lange Zeit in scheinbar unmöglichen Situa­ tionen ausharren; sie find vertrauensvoll und glauben an die Menschen bis zum äußersten. Sie leiden aber auch doppelt an der Welt, und jede Enttäuschung, jede er­ zwungene Entsagung, an denen ja die Crdenwanderschast so reich ist, drückt fie über die Mafien nieder. Die Leute spotten über fie als über unpraktische Träumer; die Welt verlacht fie und die Menge geht roh und gleichgültig an ihnen vorüber. Und dennoch find fie häufig Führer und Bahnbrecher der Menschheit, die, weil fie selbst so viel gelitten, ihren kranken Brüdern die Hand reichen und ihnen helfen. Sie geben der Welt Gedanken, und die Zu­ kunst gibt ihnen dafür — freilich oft erst, wenn fie das sterbliche Gewand angezogen haben — Taten. Weil sie immer von der Idee ausgehen, sehen fie die Wirklichkeit in zu rostgem Licht: fie erleben daher immerwährend Enttäuschungen. Aber fie können dennoch im tiefsten Innern nie völlig zugrunde gehen: fie find fittliche Cha­ raktere. Cs ist viel beschämender, die Wirklichkeit und unsere Mitmenschen zu tief eingeschätzt zu haben als zu gut. Wer von einem Menschen niedrig gedacht hat und wird durch deffen Handlungen vom Irrtümlichen seiner Denkweise überzeugt, der lernt das schlimmste Gefühl der Scham kennen und verliert einen Teil seines fittlichen Selbstes. Wer aber von einem Menschen zu gut gedacht hat, der kann wohl Leid und Kummer, niemals aber Scham ernten. Die dummen weltklugen Leute freilich urteilen anders und schätzen den gewiffenlosen Skeptiker höher als den reinen Toren. Die fittliche Kraft jener geschilderten Eharattere wird begreiflicher, wenn man be­ denkt, wie der blotze Glaube ans Gute der Menschen

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Herzen stärkt und fie gut macht. Glaubt nur an die Men­ schen und ihr bessert fiel Denn die Liebe zum Guten wohnt auch im Irrenden. Nehmt alle Laster der Welt und formt einen Menschen daraus: er wird die Tugend lieben, die er nicht besitzt. — Jene tiefen Naturen find auch der reinsten Liebe und Freundschaft fähig, denn Liebe und Freundschaft verlangen Vertrauen und Glauben. Ihnen entgegengesetzt find, wie gesagt, die Men­ schen, welche von der Wirklichkeit zur Idee gehen. Sie entdecken die Idee gewiffermasten immer erst im Kampf mit der Gegenwart, indem fie die Mängel der wirklichen Welt gleichsam am eigenen Leibe empfinden. Sie leiden aber nicht halb so viel darunter, als die erst geschilderten: denn fie vergleichen nicht Ideal und Wirklichkeit, sondern eine Ahnung des Ideals taucht erst in dem Augenblick in ihnen auf, in welchem fie vom Nichtsein bedroht werden. Sie wirken unmittelbar in das Leben, und ihre Taten liegen vor allen Blicken offen. Sie lieben weniger die Menschheit als die einzelnen Individuen. Während jene von uns zuerst betrachteten Charaktere auch im Freund und in der Geliebten immer das Allgemeinmenschliche sehen, schätzen und achten, so find die anderen, von denen jetzt die Rede ist, im einzelnen befangen. Die einen sehen auch in den Vorzügen ihrer Freunde nur eine Eigen­ schaft, die dem Begriffe Mensch einwohnt; die anderen sehen darin vielmehr gerade das Unterscheidende, Be­ sondere des geliebten Individuums. In jener Schein­ welt der verrauschenden Zeit find die letzteren besser ge­ stellt: fie find die Schoßkinder des Glückes. Auch haben fie scheinbar viel mehr Kraft drnr Endlichen, Pro­ blematischen des Daseins gegenüber als ihre Brüder: denn fie greifen überall zu ohne viel Befinnen; aber weil sie das Unendliche nicht zu Hilfe rufen, oder vielmehr ihm nur gleichsam wider Willen nachgehen, so bleiben fie doch mehr im Endlichen stecken, als die Welt glaubt. Das zeigt

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fich, wenn sie einmal wirklich ins Anglück kommen; obgleich für seelische Schmerzen unempfindlicher, so geht ihnen doch der tiefe Halt ab, den die Idee allein dem Herzen verleihen kann. Wer von der Idee aus die Wett zu verstehen sucht, der kann fich zwar des Leides und der Sorgen des endlichen Daseins im Augenblicke nicht er­ wehren, wird aber endlich imstande sein, durch produkttve Arbeit sein Selbst zu retten. Leid und Kummer »ertiefen ihn, er gibt der undankbaren Welt um so mehr, je mehr fie ihm genommen hat. Wer aber von der Wirklichkeit zur Idee geht, der kann leicht zugrunde gehen, weil ihm das Dasein doch die eigentliche Realität ist, die er nur notgedrungen durch Ideen ergänzt. Er möchte geben, aber sein Quell verfiegt allzu leicht, er weiß nicht, wo zu schöpfen. Jedoch können natürlich beide Typen an ihrem Ort die Menschheit fördern. Nur, wer derart von der Endlichkeit gefangen ge­ nommen wird, daß ihm auch die Ahnung der Idee ver­ loren geht, ist ein völlig unnützes Glied der Menschheit. Freilich, solange einer eben noch Mensch ist, lebt auch die Liebe zur Idee in ihm; irgendwie fühtt auch den Materialisten seine Sehnsucht zum Anendlichen. Den Irrtum, daß die unmittelbare, relattve Wirklichkeit die höchste Form des Seins wäre, korrigiert das Schicksal uns allzubald. Das unendliche Sein der Idee, d. h. die Vollendung und der Fottschritt zur Vollendung der Kultur und Menschheit, ist freilich nicht mit Augen fichtbar und mit Händen greifbar, aber dennoch der eigentliche Quell puntt aller Realität. Die Ideenfreunde also, welche irr allem, was fie tun, auf die unendliche Idee blicken, leben in Wahrheit in einer weit höheren Wirklichkeit, als fie den Verehrern des Bestehenden zugänglich ist. Freilich ist auch der Stärkste zu schwach, fich immer in die Idee zu flüchten: wieviel Leiden und Kummer bliebe uns sonst er­ spart! Der Egoist ist ein Mensch, welcher dem Daseienden ftinfeeL Vom Sein und von oer Seele. 8

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auch absoluten Wert erteilt, und -war insbesondere sei­ nem zufälligen, empirischen Ich. Er.' steht nicht, daß er eine Änendlichkeit des Seins opfert, um eine Schetnwelt zu retten, die der Zeit doch erliegt. Cr weiß nicht, daß sein fittliches Selbst in der Allheit der Menschheit wurzelt und in der Isolierung sterben muß. Er hält überall die subjektiven Gefühle und Empfindungen, die seine Begriffe und Handlungen begleiten, für das letzte Sein, während ste doch ihren Ewigkeitswert erst aus dem objektiven Be­ griff und der fittlichen Idee schöpfen. Der Egoist liebt nicht das Sein, sondern das Chaos, das Problem. Denn überall, wo wir das Chaos überwinden, das problema­ tische Sein zur Wahrheit erlösen, find wir über unser begrenztes Ich hinaus in der Mgemeinheit. Die Liebe offenbart sehr deutlich den Charakter des Menschen. Wer wahrhaft und rein liebt, der liebt im anderen das Ewige, Seiende und strebt, dies zu vertiefen und zu erweitern. Die pathologische Liebe dagegen er­ streckt fich gerade auf das Problematische, Nichtsetende im Nebenmenschen — physiologisch ebenso, wie psychisch. Die reine Liebe liebt im anderen den Ausdruck der Idee der Menschheit. Daher ehrt und adelt uns auch die Liebe eines großen Mannes: denn je mehr der Liebende der Wahrheit und des Seins in fich trägt, desto mehr vermag er solches im Geliebten zu erkennen. Durch seine Liebe gesteht er also zu, daß der Geliebte einen pofitiven Kern des fittlichen Seins in fich hat, und er Hilst, diesen zu vertiefen. Aber fast noch mehr als die Liebe vermag die Gewiß­ heit des Todes den Charakter der Menschen zu enthüllen. Der Tod scheidet das Ewige im Menschen vom Vergäng­ lichen: was wir im Leben von wahrhaftem Sein errungen haben, das bleibt der Kulturwelt erhalten, jeder wahre und große Gedanke, jeder sittliche Impuls und Willens­ entschluß — und durch beides, das in stemden Seelen fort-

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lebt, auch jedes tiefe und edle Gefühl. Das Chaotische, Problematische in uns, das wir nicht aufzulösen vermochten, die bloß subjektiven Empfindungen und -Gefühle dagegen sterben mit unserem empirischen Ich. Wer daher mit der Gewißheit über die Erde wandelt, daß seine Lebensstunden gezählt find, der offenbart in jeder Hand­ lung und jedem Wort das letzte Refugium seines Charakters. Wir wollen uns klarzumachen versuchen, wie fich die beiden Grundtypen von Charakteren, die wir aufgestellt haben, dem Tode gegenüber verhalten müssen. Der Ideenfreund wird den Tod weder fürchten noch unnütz suchen. Sein ganzes Leben ist ja eine Überwin­ dung des Todes. Indem er auch bei den scheinbar gleich­ gültigsten Handlungen an die Idee denkt und in allem seinem Tun, Denken und Fühlen das Ewige sucht, ist ja jeder Schritt seines Lebens ein Stück Weges von der Ver­ gänglichkeit fort, die wir doch einzig im Tode fürchten. Er wird aber den Tod auch nicht suchen, wenigstens so lange nicht, als er noch ein Mittel weiß und eine Kraft in fich spürt, Ewigkeitswerte zu schaffen und so sein fittliches Selbst zu vertiefen und zu vergrößern. Alle Men­ schen von Charakter werden im Angeficht des Todes ernst; aber es gibt, nach Lesfings schönem Wort, auch ein ernst­ haftes Lachen, einen Humor, der seine Wurzeln im tiefsten fittlichen Ernst hat. Und so kann der Ideenfreund dem Tode sogar mit ernsthaftem Humor entgegentreten. Ich habe an anderer Stelle zu zeigen gesucht, wie der Humor der Liebe verwandt ist, die Ironie aber dem Haß. Die Ironie wendet fich an das Problematische, Vergängliche, Nichtseiende im Menschen und setzt dieses scheinbar als seine wahrhafte Realität, um es so in seiner Kläglichkert zu enthüllen. Der Humor tut dies zwar auch, seht aber immer gleichsam im stillen hinzu: ich weiß ja, daß du das nicht bist, sondern überdem einen pofitiven, unvergäng­ lichen Kern ewigen Seins in dir birgst. Run, der Ideen8'

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freund mag den ernsten Humor im Angesicht des Todes behalten. Er mag scherzend einmal dem Tode recht geben, der ja auch nur das Vergängliche, Problematische, Unge­ löste der Seele zerstört, — weiß doch der Ideenfreund: das bin ich ja eigentlich gar nicht, sondern mein Selbst ist das Unvergängliche, das der Tod nicht berührt. Wieviel große Männer haben im Angesicht des Todes ihren Humor behalten und über ihren eigenen Zustand gescherzt! Zu dieser Freiheit des Geistes erhebt den Menschen der feste Glaube an die Idee?) Wehrloser steht der Wirklichkeitsmensch dem Tode gegenüber, weil er dem Irrtum mehr ausgesetzt ist, das unmittelbar Wahrnehmbare, die relative Wirklichkeit der Zeit für das Sein zu halten. Er wird daher fürchten, im Tode nicht nur sein Wirkungsfeld, sondern auch die Früchte seiner Arbeit' zu verlieren. Er fürchtet im Tode um sein Selbst, weil er nicht weiß, daß der Tode gerade das sittliche Selbst des Menschen erst klar hervortreten läßt. Er ist daher auch nicht fähig, sich dem Tode gegen­ über humoristisch zu verhalten, höchstens ironisch. Je größer freilich der Wirklichkeitsmensch ist, desto deutlicher wird angesichts des Todes die Idee vor ihm aufsteigen. Wer aber nie und nirgends zur Erkenntnis der Idee durchdringt, dem bleibt freilich dem Tode gegenüber nur noch die Waffe der Ironie. So müßte sich der rechte Pessimist im Sterben zur Welt stellen. Denn zum Pessimisten wird ja der Mensch gerade dadurch, daß er nirgends das Ewige zu finden weiß, sondern durchaus im Problematischen, Vergänglichen, Richtseienden stecken bleibt. Ihm muß die Welt zu einem Reiche des Scheines werde;;, das keinen tieferen Sinn, keinen Ewigkeitswert hat; er wird daher schon im Leben immer zur Ironie neigen, indem diese ihm erlaubt, die Nichtigkeit des

*) Die Liebe ist aber nur eine Art dieses Glaubens, auf das Individuum gerichtet.

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Realen (oder dessen, was er so nennt) zu enthüllen. Es gehört freilich eine nicht zu verachtende Geistesgröße dazu, diese Ironie auch dem Tode gegenüber zu bewahren: denn das heißt ja, die Richtigkeit und völlige Vergänglichkeit des eigenen Selbstes frei eingestehen. Der Pessimist haßt, der rechte Ideenfreund liebt die Welt. Der Ideenfreund ist der Gefahr des Pessimismus viel weniger ausgesetzt. Der Pessimismus könnte bei ihm nur entspringen aus der andauernden Erfahrung, daß seine Bemühungen, die Idee zu realisieren, immer wieder scheitern. Aber das braucht ihn dennoch nicht an der Ide« irre zu machen. Viel näher liegt für ihn die Gefahr, ein wirklicher Träumer und „grundloser" Optimist zu werden, indem er die Brücke abbricht zwischen der relativen Wirk­ lichkeit und dem Sein der Idee. Er flieht in ein er­ träumtes Reich der Idee, die so zur Illusion wird, und verzichtet auf weitere Anstrengungen im Dienste der Idee. Die Ideenfreunde find auch für die Kunst empfäng­ licher als die Wirklichkeitsmenschen. So schwer sich oft der Ideenfreund in dem schwankenden Dasein dieser ver­ gänglichen Wirklichkeit zurechtfindet, so leicht ist er in der, Welt der Schönheit zu Hause. In der Kunst ist ja die Natur und die Sittlichkeit bereits in den Dienst der Idee zetteten, die sich hier dem Gefühle unmittelbar offenbart. Der Wirklichkeitsmensch dagegen ist in der Welt der Schönheit nicht in seiner wahren Heimat: denn hier ist ja alles gleichsam auf die Idee angelegt. In der relattven Wirklichkeit der Natur kann man allenfalls an dem Dasein zur Idee aufsteigen: in der Kunst ist das Gefühl für die Idee umgekehrt erst der Schlüsiel für die dargestellte Wirk­ lichkeit. — Wenn die Kunst die Natur und die Sittlichkeit in die Einheit des reinen Gefühles der Idee verschmelzen soll, so ist doch diese Harmonie selbst von verschiedenen Selten erreichbar. Der eine Künstler geht mehr von der Natur, der andere mehr vom Reiche der Sittlichkeit aus.

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Cs ist leicht «inzusehen, daß der Wirklichkeitsmensch leichter für die Kunst -u gewinnen sein wird durch den Künstler, der von der Natur ausgeht. 2.

Mitten inne zwischen dem Ideenfreund und Wirkltchkeitsmenschen scheint der Charakter derjenigen Men­ schen zu stehen, die überall wie Naturwesen handeln, deren Taten und Gedanken wie ein notwendiges, unabänder­ liches Produkt ewiger Naturgesetze erscheinen. Diesen Eindruck hat man z. B. den meisten Charakteren Shake­ speares gegenüber. Es ist, als ob die Taten seiner Helden mit Notwendigkeit aus ihrem ganzen Wesen so folgen müßten wie sie tatsächlich erfolgen: fie können, so scheint es, gar nicht anders handeln, als sie in Wirk­ lichkeit tun. Besonders gilt dies für die Frauencharak­ tere, die er gezeichnet hat; denn während die Männer doch häufig vor der Tat Gewiffensskrupel und innere Zweifel zu überwinden haben (»gl. z. B. Macbeth vor der Ermordung Duncans), so erfolgt bei den Frauen ihr ganzes Benehmen und Handeln so selbstverständlich, so ohne Zögern und Bedenke:», als müßte es einfach so sein. Indeffey reicht zur Erkläning dieser Erscheinung die einfache Behauptung: „Shakespeares Personen han­ deln als Raturwesen" nicht aus. Frei find die Helden Shakespeares, auch seine Frauengestalten, wie jeder Mensch; denn Freiheit ist das Wesen des Menschen. Indefien kann fich der Mensch gegenüber den Problemen, den Nöten und Anforderungen des Lebens in doppelter Weise verhalten: und je nachdem erscheint er im einzelnen bedingt und nur als Gesamtwescn frei; oder man steht seine Freiheit gleichsam in jeder einzelnen Handlung. Bei manchen Menschen ist nämlich von vornherein, sobald fie anfangen, das Leben mit Bewußtsein zu gestalten, ein Gedanke, ein Entschluß oder Gefühl, dem fie fich

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freiwillig und völlig aus eigener Kraft hingeben, so be­ stimmend, daß nunmehr jede einzelne Handlung gleichsam mit Notwendigkeit daraus folgt. Diese müssen dann natürlich im einzelnen bedingt und unfrei erscheinen. Jene anderen Charaktere dagegen müffen sich jeder neuen Lebenslage gegenüber gleichsam wieder aufs neue auf fich selbst besinnen: man vermißt die Kontinuität, den inneren Zusammenhang ihrer Handlungsweise, aber in jedem Moment gewahrt man, daß sie fich aus fich selbst bestimmen und -war eben jetzt, wo sie handeln. Shake­ speares Frauengestalten find fast alle von der ersten Art. Die große Freiheit ihres Wesens wird nur offenbar, wenn man ihr ganzes Leben überschaut, nicht die einzelne Handlung. (Unter den männlichen Charakteren gibt es aber viele der anderen Art, z. B. Coriolan, Hamlet usw.). Zm einzelnen Moment find fie bedingt, und das ist es gerade, was ihnen den Anschein des Raturwefens verleiht. Za, zuweilen finden wir, daß fich dies« Men­ schen mit voller Klarheit ihrer Selbstfeffelung und Selbst­ bestimmung bewußt find und fie gelegentlich selbst in Worten aussprechen. Sie wollen die Überlegung, das zweifelnde Zaudern nicht aufkommen laffen, um nicht ihrem tiefsten Entschluß untreu zu werden. Gonertl (Lear 1,1): „Es muß etwas geschehen, und in der ersten Hitze." Also: nur nicht überlegen und zaudern; wir haben uns schon entschloffen, wir find schon bestimmt; nun muß gehandelt werden. Aus dieser ur­ sprünglichen Selbstbestimmung folgt dann aber auch alles, was fie tun und laffen, so daß die Menschen für Außenstehende wie ein Spielball in der Hand finsterer Mächte erscheinen können. Vgl. z. B. Gloster (Lear IV, 1): „was Fliegen find Mutwilligen Knaben, das find wir den Göttern. Sie töten uns zum Spatz." Ich sagte schon: diese Art Charaktere steht gewiffer-

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maßen zwischen dem Ideenfreund und dem Wirklichkeits­ freund, wie wir ihn in der ersten Abhandlung schilderten. Cs ist nicht die unendliche Idee selbst, die Sehnsucht zum letzten. Göttlichen, aus dem ihr Handeln notwendig hervorgeht (obgleich natürlich ihres tiefsten Wesens Kern auch darin wurzelt), sondern irgendeine endliche Er­ scheinungsform derselben, vielleicht gar ein Zerrbild wie die Ehr- und Herrschsucht bei Goneril, die Eifersucht bei Othello. Mer sie haben doch das mit dem Ideenfreund gemein, daß sie sich mit ganzer Seele einem zu erstreben­ den Ziele hingeben, von ihm ausgehend die Wirklichkeit des Augenblicks gestalten. Weil aber dieses Ziel gemein­ hin ein endliches, begrenztes ist (z. B. die Königskrone für Macbeth und sein Weib), so erwachsen daraus auch tiefe Verwandtschaften mit dem Charatter des Wirklich­ keitsfreundes. Denn naturgemäß wird ihr Blick näher an der Erde haften, um so näher, je weiter ihr Ziel von der unendlichen Idee entfernt bleibt. Daher werden diese Menschen den Augenblicksproblemen des alltäglichen Schicksals gegenüber nicht nur Entschlossenheit, sondern auch Klugheit und die Gabe der Erfindung zeigen. Man sehe z. B. wie stch Goneril und ihre Schwester, wie sich Macbeth und sein Weib ohne weitere Verabredung über die Mittel, ihr Ziel zu erreichen, verstehen. So ist für diese Gestalten die Beziehung zu dem Charatter des Wirklichkeitsfreundes eine viel engere noch als zum Ideenfreund. Anders steht es freilich mit denjenigen Frauen­ gestalten, die wie z. V. Cordelia im Lear, Ophelia im Hamlet und Desdemona im Othello von dem einen einzigen Gefühl der Liebe bestimmt werden. Oft schon habe ich ausgeführt, wie die heilige, reine Liebe im Geliebten die Idee sucht und liebt. Hier tritt also mit der Hingabe an die Person des Geliebten doch zugleich wieder die Hingabe an die Idee zur Erscheinung. Diese Frauen

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zeigen daher auch alle die früher entwickelten Eigenschäften des Ideenfreundes. Wie groß, verehrungswürdig und herrlich erscheinen sie in allen wichtigen und großen Ereignissen und Situationen des Lebens! !lnd wie un­ beholfen, ja hilflos gegenüber der grausamen Alltäglichkeit! Man denke daran, wie Desdemona dem Jago in die Falle geht; wie Ophelia an dem Verlust ihrer Liebe scheitert. Es ist wohl einer der tiefsten Züge im Lear, daß Cordelias Hilfsheer geschlagen wird. Sie unter­ liegt, um dem Tode gegenüber zu siegen. Kann es überHaupt eine schönere Bestätigung unserer Charatteristik des Ideenfreundes in seinem Verhalten gegenüber dem Tode geben als z. V. das Verhalten der Desdemona? Ihre Liebe besiegt den Tod: ihre letzten Worte find eine Entschuldigung ihres Mörders, den sie liebt und eine Bitte an seine Güte. Emilie: Gott im Himmel, wer hat das getan? Desdemona: Niemand — ich selbst — leb wohl — Empfiehl mich meinem güt'gen Herrn — leb wohl.

Über Einsamkeit tnfamfdt! Sie ist des Menschen Freundin und Trö­ sterin, sie ist seines Lebens ärgster Feind. Das Beste weckt sie in ihm und das Schlimmste: die Sehnsucht, den Glauben ans Ewige und Unendliche, den guten Vorsatz — aber auch das böse Herz, die Verlassenheit und Ver­ zweiflung. Die Melancholie ist ihre Freundin und die Empfindsamkeit ihre Tochter. Unsere Seele bedarf der Einsamkeit und verkümmert doch, wenn sie fich ihr dauernd übergibt. Laßt uns sehen, was sie uns antut, warum wir fie bald lieben, bald Haffen I Der Mensch ist nichts ohne den Menschen. Die Gemeinschaft mit unseres­ gleichen weckt unsere Innenwelt. Unser Gemüt erwacht zur Liebe und zum Haß, zum Hoffen, Dangen und Streben, unser Geist zum Denken und Begreifen nur im innigen Zusammenhang und Verkehr mit unseren Mit­ menschen. Die Beziehung -um anderen gebiert Lust und Leid, Freuden und Schmerzen meines Ichs. Die Eigen­ art unseres Charakters bUdet fich in der bald fteundlichen, bald feindlichen Berührung mit anderen Charakteren. Rein, von Hause aus find wir nicht für die Einsamkeit bestimmt, nicht für fie geboren. Ein Mensch, der von Geburt an den Verkehr mit seiner Gattung miffen müßt«.

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der würde bestenfalls — ein Tier. Ja, auch der Mensch, besten Seele fich vollgesogen hat im Umgang mit der Welt und Menschheit, kann doch dauernd die Einsamkeit nicht ertragen: seine Seele verkümmert, wenn die Lichter aus­ gebrannt find, die die Menschheit in ihm entzündet; die Gefühle und Empfindungen ersterben; die Erinnerung verblaßt, die er aus der Welt in seine Einsamkeit gerettet hat. Und dennoch! Zuzeiten lieben wir, zuzeiten bedürfen wir der Einsamkeit! Ob die Einsamkeit uns wohl oder wehe tut, das kommt darauf an, mit welcher Gemüts sttmmung wir ihr entgegentreten. Wenn unser tiefstes Lebenszentrum erschüttert ist, wenn die Hast und Unruhe des Alltagsdaseins unsere Seele verwirrt, dann rufen wir die Einsamkeit, damit fie uns Sammlung und innere Sicherheit wiedergebe. Sie zwingt uns dann zur Klar­ heit teer Gefühle, fie beschwichtigt den Sturm der Leiden­ schaft und läßt die erregten Wellen des Empfindungs­ lebens abklingen. Aber vergeblich versuchen wir uns von der Welt dauernd abzulösen, solange wir noch hoffen und wirklich leben. Zwar ein starkes Gemüt, das reichbestellt ist mit Gütern des Geistes, vermag die Einsamkeit lange zu ertragen, aber nur der Asket, der nichts mehr wünscht und hofft, wählt fie zu seiner Lebensgefährtin. Für Stunden aber bedarf jeder Mensch der Emsamkeit. Zur Einsamkeit führt uns die Sehnsucht. Westen Seele sucht nach dem Fernen, Unerreichbaren: sei es im Heimweh nach dem Vaterland, sei es im Verlangen nach der fernen Geliebten; der ist gern allein; denn die Einsamkeit erlaubt ihm, seinen Gedanken nachzuhängen: er zaubert fich die Bilder seiner Sehnsucht ungestört vor Augen. Ja, die Sehnsucht schafft uns auch die Einsamkeit und ruft fie herbei: o, man kann einsam sein im Gewühl der Men­ schen! Wenn die Sehnsucht, wenn ein tiefer Schmerz deine Seele feffelt, dann bist du einsam im lautesten Strom der Welt. Du kannst immer nur dasselbe denken.

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du sagst dasselbe Sprüchlein tausend und abertaufendmal vor dir auf: Wär ich doch dort! oder: Wie kann das fein! Du bist in Gesellschaft; die Menschen reden dich an — aber du hast Mühe, den Sinn ihrer Worte zu verstehen. Denn dein Geist ist mit eisernen Klammern wie an einen Punkt geheftet. Du stehst immer dasselbe. O, du bist einsam! Mögen die Lichte im Saale glänzen, mag die festlich geschmückte Tafel prangen, mag die Mufik die Fröhlichen zum Tanze fordern: du stehst es nicht, du hörst es nicht. Oder du gehst auf die Straße, und alle Men­ schen, die dir begegnen, find dir im Wege; du fiehst fie fast mit Haß und denkst bei jedem: Was will er hier? Er sollte mich Mein taffen. Gleichgültigen Leuten, die dir nie etwas zuleide getan, bist du gram. Denn fie wissen ja nichts von deinen Schmerzen und deiner Sehnsucht und gehen achtlos an dir vorbei, als wärst du einer der anderen Glücklichen! Wer dies Gefühl nicht kennt, der weiß nicht, was Einsamkeit ist. Ja, diese Einsamkeit ist gefährlich. Denn die Melancholie ist ihre Freundin. Sie zwingt dich, Mes Schlimme, was du erlebt, Mes Trau­ rige, was du befürchtest, in den stillsten Winkeln deines Herzens aufzusuchen. Sie lehrt dich grübeln. Jedes Wort, das dich einmal verletzt, ob es gleich harmlos gemeint war; jedes unscheinbare Ereignis, das längst im Strome der Zeit verrauscht ist, und das die Vergeffenhett schon gütig in ihre Arm« genommen hatte, wird wieder lebendig. Du suchst nach Mem, was dich quält, und dein Glück, das Glück, was du genossen, und das Glück, das dir die Sehnsucht zeigt und du vielleicht nie gewinnst, spricht nun zu dir: ich bin nicht bet dir, du bist verlassen. Diese Einsamkeit bricht deinen Willen und raubt dir deinen Lebensmut, ilnd fie vergrößert alle Leiden. Der Kummer und die Sorgen schreiten wie Riesen durch deine Seele. Dieser Einsamkeit sollst du dich nicht ergeben, ob fie fich dir gleich einer Freundin anbietet. Aber wie ihr

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entfliehen? Es ist ein Mittel wider sie, ein einziges, das heißt: Arbeit. Wirke, schaffe! Aber manche Menschen sind ihr ganzes Leben einsam. Sie leben in einer Welt, die sie nicht versteht. Die reinsten und edelsten Kräfte ihrer Seele werden entweder nicht erkannt und darum nicht geachtet oder sogar ver­ spottet. Sie verweben die Eindrücke des Daseins in das Gespinst ihrer Innenwelt; wenn sie aber ihre Schätze, die sie gesammelt haben, austeilen wollen, ist niemand, der sie empfängt. Sie erbauen sich ihr Lebenszentrum aus Wünschen, und Hoffnungen, die sich nie erfüllen, aus Be­ griffen, die niemand versteht. Sie leben für die Kultur der Menschheit und fördern sie in sich; aber die Zeit und ihre Umgebung ist undankbar und nicht reif für sie. Man ver­ schmäht sie. Die größeren Naturen leiden unter dieser Einsamkeit am meisten. Sie suchen das Ewige; ihre Inter effen find bei dem Unendlichen. Aber alles um fie lebt und webt im Endlichen und Vergänglichen. Und der Tod ist der Freund dieser Einsamen. Er durchbricht ihre Ein­ samkeit und befreit fie von ihrer Verlaffenheit. Er nimmt die Schätze auf, die fie gesammelt und die die Zeit ver­ schmähte, gibt fie der Zukunft, die fie mit reinen Händen in die Ewigkeit streut und der Menschheit ein Gut schenkt, das fie nicht gekannt. Wie mancher gilt in der Welt fürglücklich, der völlig einsam seines Weges geht! Weib und Kind, Geld und Gut verbinden ihn nicht mit seiner Zeit, weil seine Seele im Zukünftigen lebt. Aber wenn die anderen einsam sein werden, im Tode, der das Ver­ gängliche zerstört, dann werden sie fich Freunde werben, dann beginnt ihr ewiges Leben. Dem Schuldbeladenen ist die Einsamkeit eine strenge Richterin. Sie weckt das Gewissen. Die Stimme, die der Lärm des Tages und der Rausch des Augenblickes übertönte, wird laut. Drum flieht der Sünder die Ein­ samkeit. Aber gerade fie ist seine beste Freundin. Denn

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sie weckt in ihm die Reue und den guten Vorsatz. Sie schenkt ihm die Selbstbesinnung. Cdle Naturen, die ge­ fehlt haben, suchen nicht die Vergessenheit des Rausches, sondern die Einsamkeit. Auch dem Künstler ist die Einsamkeit zuzeiten ein Bedürfnis und eine wahrhafte Freundin. Bist du einmal mit freiem und empfindsamem Herzen allein durch die Sülle der Nacht gegangen? Und hat di« Einsamkeit zu dir gesprochen? O, ihre Stimme ist laut und vernehmlich! Über dir tausend und abertausend Sterne, die Augen der Unendlichkeit! Bei ihrem mildem Lichte erkennst du nur ungewth die Umriffe der Berge und Bäume. Dringt Irgendein Geräusch an dein Ohr, so fiingt es wie aus weiter, ungreifbarer Ferne l Der Wind erhebt fich. Die Äste der Bäume schlagen aneinander. Klingt es nicht wie das Seufzen der Nacht? Die Einsamkeit weckt das Ge­ fühl des Ewigen. Sie lenkt den Geist zur Idee. Deshalb braucht der Künstler die Einsamkeit. Was er im Lärm der Welt erlauscht, was er erlebt und erlitten hat — alles, alles wird erst recht sein eigen, wenn er es in die Ein­ samkeit trägt. Zn ihren Armen erwacht es zu neuem Leben. Hier scheidet fich das Ewige vom Vergänglichen, das Sei« vom Nichtsein. Za, der Anblick des Erhabenen verseht die empfängliche Seele von selbst in Einsamkeit. Der Anblick der Natur in ihren größten und gewaltigsten Äußerungen entführt uns gleichsam wider Willen dem lauten Treiben des Lebens. Die überwältigende Schön­ heit der Alpenwelt, die gewalttge Majestät des Meeres ziehen uns in ihren Bann und machen uns einsam vor dm Leuten. So auch die großm Werke der Kunst: wir verfmkm uns in fie. Aber diese Einsamkeit isoliert uns nicht und schwächt nicht die Seele. Sie entreißt uns nur dem Vergänglichen; fie tötet die Macht der Zeit und weckt die Kraft der Ewigkeit. Sie stimmt uns nicht feindlich, sondern fteundlich gegen die Menschm. Denn die

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Idee der Menschheit ist durch fie in uns lebendig ge­ worden. Einsamkeit! Sie ist des Menschen Freundin und Trösterin, fie ist seines Lebens ärgster Feind. Das Beste weckt fie in ihm und das Schlimmste: die Sehnsucht, dm Glauben ans Ewige, Unendliche, den guten Vorsatz — und das böse Herz.

ch glaube an die Freundschaft und ihre beseligende Kraft; und wenn ich aufhören müßte, an sie zu glauben, so möchte Ich aufhören, zu leben. Die Freund­ schaft hält in uns das Gefühl und Bewußtsein unserer göttlichen Bestimmung wach; solange wir der Freundschäft fähig find, glauben wir noch an die Menschheit. Di« Identität der Lebenszentren, d. h. att dessen, um das sich die Innenwelt des Individuums anschließt wie der Kristall um seinen Kern, ist die Grundbedingung der Freundschaft. Die Freundschaft setzt nicht voraus, daß man in allen und jeden Einzelheiten gleichdenkt, wohl aber, daß man fich bemüht, gleichdenkend zu werden; und das hat zur Voraussetzung die Gemeinsamkeit der Lebens­ ziele. Wir suchen alle, bewußt oder unbewußt, die Idee der Menschheit zu erreichen. And wenn wir nur in dem Verlangen nach ihr einig find, so können uns die Diffe­ renzen des Mtags nicht trennen. Diese tiefe, innere Übereinstimmung in den höchsten Zwecken des Daseins ermöglicht auch erst das Verständnis in den Einzel­ heiten des praktischen Lebens. Wir können ja von einer Vorstellung, einem Begriff oder Gefühl eigentlich erst dann sagen, daß wir uns fie recht zu eigen gemacht haben, wenn wir fie in ein bestimmtes Verhältnis zu dem End-

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zweck unserer vernünftigen Natur gesetzt und so zu einem Bestandteil unserer Eigenwelt gemacht haben. Von dieser verbindenden Einheit aus also empfangen wir alles, was der Freund uns gibt. Es ist ein edles Vorrecht der Freundschaft, das, was man erkannt und erlebt hat, dem Freunde mitzuteilen: denn man möchte mit und in dem Freunde wachsen. Fedes Wort, das der Freund zum Freunde spricht, ist eine Seelenbrücke, auf der die Gefühle hin und her gehen. Der Freund legt seine Gefühle und Gedanken in die Seele des Freundes und schöpft fie be­ reichert und verklärt daraus zurück. Der bloße Wille, im Freunde Überall nur das Wahre und Gute zu sehen, leitet die Seele mit feinem Instinkt überall auf den Wahrheitsfern, den selbst der Irrtum des Freundes immer enthält. So ist wirklicher Freundesrat und auftichtiges Freundes­ wort ein Läuterungsbrunnen des Gemütes. Auch find alle unsere Werke eitel, wenn fie nicht in der Seele eines Freundes nachzittern: dort allein ist der wahre Probier­ stein ihrer Würdigkeit. Wir brauchen nicht blind zu sein gegen die Mängel unserer Freunde und müffen nicht schweigen zu ihren Fehlern; aber jedes Wort des Tadels, das wir an fie richten, muß durchdrungen sein von jenem Ton der Liebe, der da sagt: das ist alles nur dein Außen­ werk, du selbst bist groß und gut. Cs gibt daher auch keine befferen Lehrer als Freunde und Liebende: denn was fie unserem Verstände darbieten, ist unserem Herzen lieb und wert, weil es von ihnen kommt; so ergreifen wir's gern und leicht.*) Eine Freundschaft, die nicht im tiefsten Grunde unseres Gewtffens wurzelt, ist nicht rein. Die Achtung vor dem Freunde muß so groß sein, daß wir an ihm unser Tun und Handeln prüfen können. Wenn wir etwas wünschen oder zu tun beabfichttgen, was wir dem Freunde

*) „Liebe und Not find doch die besten Meister" (Dich­ tung und Wahrheit, Goethe). filnhel, Dom Sein und von der Seele.

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verhehlen möchten, so kann's nicht gut sein. Der Freund soll unsere Freuden und Leiden teilen, und es darf kein Wtnkelchen unserer Seele geben, das ihm verborgen bliebe. Ein Freundeswort in der Rot ist dem Gemüt ein Zauberschlüffel, der seine Tore weit auftut. Darum ist es eine der schlimmsten Sünden, Freundschaft zu heucheln, wo wir ste nicht empfinden. Denn wer dem Menschen seine Geheimniffe stiehlt, der stiehlt ihm sein Allerheiligstes. Die Freundschaft tastet fich immer von den Gefühlsäußerungen und Worten zu ihrem Arsprung: ste begnügt fich nie mit fertigen Resultaten, sondern sucht immer die Quellen und das Ziel. Daher können wir einen wahren Freund schwerlich über unsere verborgenen Gefühle und Gedanken täuschen. Nichts Ist gewiffer, als daß nur das Positive, das Wahre und Gute in den Menschen die Freundschaft be­ gründet.*) Wo die Freundschaft ihren Arsprung hat, da schöpft sie ihre Dauer her. Ist sie aus der Gemeinschaft kleinlicher Interessen entsprungen, so vergeht sie mit diesen: wurzelt sie in der Tiefe des Gemütes; so kann kein Wandel der Zeit ihr etwas anhaben. Die Freund­ schaft muß gleichsam die Substanz unseres Lebens sein: die Mztdenzien, die Eigenschaften und Inhalte der Seele mögen fich verwandeln und verändern; aber geruhig muß die Einheit beharren, welche die Freundschaft begründet. In der Freundschaft soll man fich nicht stören oder irren lassen durch ftemdes Wort und Wille, durch böse Nach­ rede oder Wechselfälle des Lebens: ist sie doch das Heilig­ tum des Herzens. Menschen, die ihre Freundschaft auf­ geben, sei es aus Menschenfurcht oder Eigennutz, das find elende Wichte; fie berauben fich auch selbst der höchsten Güter des Lebens und des Anrechts auf Achtung. Eine Freundschaft ist um so fester, je mehr fie durch Leid er*) „Gegen große Vorzüge eines Anderen gibt es kein Rettungsmittel als Liebe", Goethe, Wahlverwandtschaften.

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kaust und geweiht ist. Ich beklage die Menschen am meisten, denen das Leid ausweicht und die nie aus dem Becher der Sorgen und der Entsagung getrunken haben: denn fie wissen nicht, was in ihnen ist und was fie um­ gibt. Du sollst die Entsagung nicht Haffen und die Schmerzen, die sie dir gebiert: denn, was deine Sehnsucht verlangte und was du nicht besitzen darfst, das trägst du fortan reiner und schöner im Gemüt. Die Entsagung nimmt allem, was fie uns raubt, das Unsichere, Chaotische, Unvollkommene und zeigt es uns in ruhiger Klarheit, göttergleich, fleckenlos. Hättest du nicht, was dir das Schicksal geschenkt, mit Lebensstaub und Kleinheit be­ sudelt? Nun aber freue dich seiner lauteren Schöne! Wie die Ferne mit zartem Dust die Natur verklärt, daß wir ihre Mängel und ihr Häßliches nicht wahrnehmen: so ist die Entsagung gleichsam die Ferne und Dämmerung unseres Gemütes. So ist die Freundschaft, die sich auf entsagende Liebe gründet, die reinste und edelste der Welt. — Aber nicht nur das Unglück ist ein Probierstein der Freundschaft, sondern auch das Glück. Wer das Glück in sich selbst genießen kann, ohne des Freundes zu ge­ denken, der weiß nicht, was Freundschaft ist. Der wahre Freund genießt sein Glück erst in der Freude des Freun­ des. — Die Freundschaft taucht alles in ein rosiges Licht: das Schwerste, dem Freunde zuliebe getan, wird leicht. Du willst nicht leiden? So wirst du das Glück nie er­ blicken; denn das Haus der Schmerzen ist die Wohnung des Glückes. Es ist kein Leben um dich, wenn du nicht alles, was dich umgibt, mit Leben füllest. Ja, wenn du recht tief im Anderen lebst, dann lebst du erst in dir. Wir sollen also alles Gute in der Welt fördern und alle Men­ schen lieben: aber wie wir an irgendeinem begrenzten Punkt mit der Verwirklichung des Guten beginnen müssen, so auch mit der Menschenliebe; das macht die Freund­ schaft so heilig. Die tiefen Gefühle, deren wir nur gegen 9*

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einige wenige Freunde fähig find, haben die Märtyrer der Menschenliebe gegen die ganze Menschheit empfunden: weil aber ihre Freunde fich untereinander nicht verstanden, find fie selbst auch nicht verstanden worden. — Alle Men­ schen mußt du zwingen oder bitten, die besten Gaben deines Geistes anzunehmen: nur der Freund nimmt fie willig und ungefragt. Eifersucht ist der wahren Freundschaft wie der reinen Liebe fremd: eine Freundschaft oder eine Liebe, die uns von der Welt isoliert, ist nicht tief genug. Wer des Freundes ficher ist, der braucht ihn der Welt nicht zu rauben. Man soll die Gegenwart der Freunde aufsuchen, soviel es das Leben und die Umstände erlauben; denn wie Goethe sagt: „Cs ist gar nichts nütze, daß man fich von denen entfernt, die man liebt; die Zeit geht hin und man findet keinen Ersah." Aber die Entfernung soll die Freundschaft verstärken, nicht abschwächen, denn die rechte Freundschaft beruht auf gemeinsamer Sehnsucht. Es ist leicht, fich Meine zurechtzufinden, solange das Helle Licht des Tages herniederflutet und alles leuchtend, klar und wohlgeordnet ist; aber wenn die Dämmerung der Sorgen und das tiefe Dunkel der Schmerzen auf uns niederfinkt, da bedürfen wir der leitenden Freundeshand. — Wenn die Stunde der Sehnsucht kommt, wo dein Herz aufwallt und glüht nach den goldenen Früchten des Lebens, wo dir Mes nichtig scheint, was du bisher Freundliches auf beinern Pfade gepflückt; wenn die große, einzige Leidenschaft deine Seele erfüllt und dein Gemüt erbebt unter den Stürmen eines ungekannten Gefühles, — dann scheint dir dein bisheriges Leben ein verlorenes, dein zukünftiges nur in dem Einen, dem Gegenstand deiner Sehnsucht und deines Verlangens lebenswert. Aber wiffe: diese Flutwelle ist dir nicht gesandt, damit du glück­ lich seist, sondern damit du tapfer und reif wirst. Führt fie im Schoße die Arznei der Schmerzen, so danke dem

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Geschick: es ist Zeit, daß du erwachest. Die großen Ge­ fühle sollen deine Begeisterung entfachen: du sollst hinfort in einer reineren, edleren Welt leben. Die Begeisterung, die innerste Seele großer Taten, läßt traurig ihre Flügel finken im Kreise argwöhnischer und kleinmütiger Seelen: fie fliegt auf bis zum Sternen­ zelt, wenn der Odem der Freundschaft und Liebe fie um­ wehet. O heiliger Rausch der Begeisterung, durchflute und durchzittere mein Herz! Fache an die heilige Flamme der Sehnsucht und trage mich Ins Paradies der Men­ schenliebe! Ach, der armen Abgestorbenen, in deren Brust der Sonnenschein der Hilfsbereitschaft erloschen ist! Ver­ weben und einbetten will ich mich in die Leiden meiner Brüder. Es ist viel Finsternis in der Zett; so laßt uns unsere Seelen entzünden. Cs ist viel Not und Elend in der Zett; so ist der werktätigen Menschenliebe ein reiches Feld bereitet. Die friedlosen, zerrißenen Seelen, die das Schicksal zerzaust hat, kann nur die Freundschaft retten. Der Freund feffelt ihre Wünsche und Sorgen, ihre Freuden und Leiden, ihre Gedanken, Gefühle und Leidenschaften mit goldenen Ketten der Liebe an fich und fühtt fie ficheren Zielen zu. Fremden Menschen gegenüber ist Nachficht Pflicht: gegen den Freund Bedürfnis. Auch erzieht die Freundschaft zur Arbeit. Denn die Stetigkeit, welche die Seele der Freundschaft ist, gibt auch der Arbeit den Nähr­ boden des Erfolges; und dann adett die Freundschaft di« Arbeit und macht fie leicht; die gleichgülttgste Beschäfttgung gewinnt Sinn und Bedeutung durch die Frage: was würde der Freund dazu sagen? Wir tun alles für ihn. Jedes Werk, das wir aus uns herausstellen, ent­ hüllt dem Freunde eine neue Sette des Charatters und einen Teil unserer Seele — und wollten wir uns vor ihm schämen müssen ? Warum ist es so unendlich süß, das Tun und Treiben

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des Freundes oder der Geliebten zu beobachten? Weil uns die Liebe den Schlüssel zu ihrem Wesen gegeben hat und wir nun mit tausend Freuden das, was wir an ihnen lieben, in ihrem Wesen wiedererkennen. Die Frauen haben ein besonders zarte- Gefühl für das Gute und und Reine im Menschen: wer daher von edlen Frauen geliebt wird, der kann nicht ganz schlecht sein. Die Freundschaft ist die einzig erlaubt« Selbstsucht: sie sucht im Freunde das sittliche Selbst. Das ist eine selbstlose Selbstsucht! Nein, wahrlich: echte Freundschaft ist selbstlos: sie be­ gehrt nichts, sondern gibt und schenft; und gerade dadurch gewinnt fie fich die köstlichsten Gegengaben: Dankbarkeit, Liebe und Vertrauen. Wer rechte Freundschaft genossen hat im Leben, der hat auch das höchste Glück erkannt: denn reinere Gefühle sind dem Menschen nicht gegeben, als das Bewußtsein, geliebt und verstanden zu werden.*) Die Freundschaft ist auch eine rechte Gottsuche: wir suchen, achten und ver­ ehren im Freunde die Idee des Guten, d. i. die Idee der Menschheit. Menschenliebe ist, wir haben es schon gesagt, nur gesteigerte und erweiterte Freundschaft. Denn wer an seinen Freund glaubt — und wie wäre Freundschaft ohne Vertrauen möglich? —, der bekennt damit als seine Lwerzeugung, daß der Freund aus allen Irr- und Wirrsalen immer schließlich den Weg zum Guten finden werde: so find der Freundes- und der Menschheitsglaube nur der Ausdruck unserer göttlichen Bestimmung. Solange du noch einen Freund hast, mußt du auch nie ohne Hoffnung sein, und wäre dein Freund so arm und elend wie du: denn wo ein Herz in der Einsamkeit dem Leiden nicht stand hält, da befiegt ost der Mut treugeeinter Seelen das schlimmste Elend. *) „Auf diesem beweglichen Erdball ist doch nur in der wahren Liebe, der Wohltätigkeit und der Wissenschaft die ein­ zige Freude und Ruhe.* (Goethe an Frau von Stein 1781.)

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Ja, in der Freundschaft gesellen sich Glaube, Liebe und Hoffnung. Darum sollten wir immer daran denken, daß uns der Tod den Freund jeden Augenblick rauben kann: dann würden wir uns bemühen das Ewige in ihm zu entdecken, das uns die Zeit nicht nehmen darf. Wer kennt sich so genau, daß er in jedem kritischen Moment des Lebens seines moralischen Charakters sicher wäre? Wenn aber der Glaube des Freundes uns trägt, können wir nicht straucheln. Wer kann in Gegenwart des Freundes roh oder schlecht sein? Ost genug auch hat der Glaube der Freunde den mangelnden Verfall der Welt erseht: Künstler, Gelehrte usw. find aus der Welt ge­ schieden, ohne den verdienten Beifall zu finden, aber der feste Glaube der Freunde an ihr Talent und ihre Fähig­ keit hat fie immer wieder aufgemuntert und angespornt; er hat ihnen auch die Substanz des Ruhmes ersetzt. Nicht jedem ist eine Wirkung in die Breite gegeben. Wer auch nur einem einzigen Menschen im Leben etwas gewesen ist, der hat nicht umsonst gelebt. Was die Freundschaft so liebenswürdig macht, ist, daß hier alles ohne Selbstdünkel und Überhebung ge­ schieht: denn was wir dem Freunde geben, geben wir uns selbst. Daher ist die rechte Gefinnung gegen den Freund immer die Dankbarkeit. Wer karg ist in der Freundschaft und dem Freunde sein Herz verschließt, der verliert den ganzen Segen der Freundschaft. Im selben Maß du willst empfangen, mußt du geben; Willst du ein ganzes Herz, so gib ein ganzes Leben.

Komplimente und Redensarten verschwendet man an Menschen, denen man nichts zu sagen hat oder die einem gleichgültig find: dem Freunde redet man zur Seele. Jedes Kompliment ist eigentlich beschämend und belei­ digend für den, an welchen man es richtet; es zeigt, daß man sich ans Außere hält, weil man nichts Innerliches

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zu entdecken wußte. Freilich fällt dieser Vorwurf leicht auf denjenigen zurück, der sich in Redensarten und Komplimenten bewegt: er mag nicht fähig gewesen sein, bis zum wahren Werte des Menschen durchzudringen. Wie kulturfördernd die Freundschaft ist, kann man an der Sünde bemerken: einer Sünde gegen den Freund schämt man sich doppelt, wenn die Freundschaft nur tief und echt ist. Würde nun unsere Liebe zur Wgemetnheit der Menschheit den Grad erreichen, den sie in der Freund­ schaft annimmt, wieviel reiner und besser wäre unser Lebenswandel! Jede echte Liebe und Freundschaft wirft an sich schon veredelnd, weil sie uns Freude am Menschen gibt: sie führt unser Herz dahin, wohin es die Pflicht ruft. Wer in der Freundschaft nicht treu und ehrlich ist, der taugt auch im öffentlichen Leben nicht viel. Wie kannst du sagen, du seist dem Staate treu, den du nicht siehst, wenn du dem Freunde nicht treu bist, den du siehst. Cs gibt keinen Menschen, von dem wir nichts lernen könnten. Wenn wir oft bet näherer Bekanntschaft von einem Menschen enttäuscht find, so liegt es zumeist nur daran, daß wir etwas anderes, nicht aber etwas Größeres, bei ihm gesucht hatten; wir haben ihn auf dem einen Felde überschätzt und dafür die wahre Größe seiner Seele nicht gefunden. Der Freund nun, der im höchsten Lebenszweck mit uns identisch ist, muß uns in gewisser Hinsicht ergänzen. Cs ist eine gütige Gabe des Schicksals, wenn wir uns der Schranken unseres Geistes an der höheren Vollendung des Freundes bewußt werden: denn alsdann haben wir sie schon überwunden. Der Irrtum isoliert, die Wahrheit verbindet. Gemeinschaften, die durch den Irrtum begründet werden, sind vergänglich und zerfallen sofort, wenn sich die Wahrheft blicken läßt- Die rechte Freundschaft, weil sie auf der Wahrheit beruht, ist daher dem Menschen so wohltätig in seinem Irrtum: sie gibt

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ihm stets wieder den sicheren Ausgangspunkt, von dem aus er sich im Labyrinth des Lebens zurechtfinden kann. Je niedriger der Mensch steht, desto mehr wird er zur Eifersucht neigen: denn er hat ja um so mehr seines­ gleichen, die ihn, den Freund rauben könnten. Auch ist Eifersucht immer ein Zeichen von Mißtrauen gegen sich selbst; wer andere der Treulosigkeit für fähig hält, ist selbst im tiefsten Herzen nicht treu. Der Zweifel an der Menschheit beruht zumeist auch im Zweifel an uns selbst. Das Glück macht sich mit jedermann gemein: Leid und Kummer find wählerisch. Gerade die tiefsten Seelen find schamhaft im Leide: sie verbergen ihre Schmerzen vor der Welt und lassen nur auserlesene Herzen an ihrem Schicksal tetlnehmen. Daher soll man es als einen Vor­ zug empfinden, mit dem Freunde leiden zu dürfen, ilm­ gekehrt soll man aber auch selbst seine Seelenschmerzen nicht durch breite Öffentlichkeit profanieren: Menschen, die uns fremd find, sehen doch nicht bis auf den Grund unseres Herzens und werden daher unsere tiefste Trauer nie begreifen. Rur der Freund kann verstehen, was uns kränkt, weil er die feinsten Fäden kennt, die jedes Erleb­ nis mit allen Bestandteilen unserer Innenwelt verknüpfen. Die kalte Welt beurteilt unsere Leiden aus unserer Schuld: der Freund unsere Schuld nach unseren Leiden. Die Augen der Lebendigen sehen nur das Leben, und Vergängliches und Ewiges mischt sich ihren Blicken. Wenn aber die schwarzen Schatten der immerwährenden Nacht auf uns herabfinken; wenn sich der Weg ins Dunkle kehrt und der Tod seine Rechte geltend macht: dann scheiden die Freuden und Sorgen des Alltags; alles Un­ gelöste, Ungeklärte unserer Seele rauscht dahin mit un­ seren Fehlern und Irrtümern, und nur das Ewige und Wahrhaftige bleibt der Zukunft erhalten. So erlischt dein individuelles Bild schnell im Strom des geschäftigen

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Daseins: doch bleibt ein Rest deiner Eigenart bewahrt im Gemüte des treuen Freundes, der ein Dein-Gedenken pflegt und die Dankbarkeit der Welt durch seine Liebe abträgt. 3nt Leben und im Tode drum so ist die Freundschaft unsere Stütze, köstlichste Habe und lieblichste Pflicht.

Der Mensch hat nichts so eigen. So wohl steht ihm nichts an. Ms daß er Treu' erzeigen lind Freundschaft halten kann.

Über die Macht der Idee und über den Idealismus des Lebens N trüber Stunde spreche ich zu mir: „Cs ist nicht gut bestellt um uns Menschen! Da draußen harrt eine Unendlichkeit des Seins, daß wir ihre Probleme lösen sollen; in uns eine Unendlichkeit des Gefühls, die wir in unserer Endlichkeit als Sinnenwesen beherrschen und er­ dulden sollen!" In guter Stunde sehe ich hinzu: „Mer uns ward ein unendlicher Geist." Im Dienste der Ide«, im Suchen und Streben nach der Idee liegt auch der An­ teil, den der Einzelne an ihr gewinnen kann. Richt als ob irgendein Mensch zu irgendeiner Zeit wirklich voll­ kommen wäre: das ist unmöglich. Aber wo wir die Menschheit durch unser Tun und Denken auch nur ein kleines Streckchen der Idee entgegenführen, da saugen wir gleichsam den Mglanz der Idee und ein Stückchen Ewig­ keit in uns. Das Sein der Idee ist unendlich, unser Wiffen aber immer nur endlich und relativ; daher ist des Problematischen, Ungewissen «Ungelösten so viel im Leben; daher müssen wir so viel leiden und dulden. Aber ist es nicht dennoch töricht, immer ins Dunkel zu sehen und uns am Chaos gleichsam festzusaugen? Wir sollten es nicht anerkennen! Laßt uns dahin blicken, wo Licht ist; und wo keines ist, dort wollen wir es entzünden. Schon wer der Menschheit aus der Unendlichkeit der Probleme, die

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ihrer noch harrt, einige klar zum Bewußtsein bringt, fördert die Kultur gewaltig. Man sagt wohl oft: eine Wahrheit sei zu früh gekommen für eine bestimmte Zeit; und man entschuldigt reaktionäre Handlungen und Lehren mit der Unreife der Zeit und Menschheit für das Wahre und Beffere; aber man sollte bedenken, daß die neue Wahrheit auch eine neue Wirklichkeit in sich birgt, welche das Hohle, Nichtige besiegen und die Welt umgestalten wird und muß. Wenn eine neue Wahrheit nicht allsogleich ins Bewußtsein der Menge ausgenommen wird, so habt ihr dennoch nicht unrecht getan, sie auszusprechen; denn sie ist nun da, wirkt und schafft und kann auf die Dauer nicht umgangen werden. Was nicht reif ist, wird ihr entgegenreifen. Und so ist es auch mit Institutionen. Überall, wo sich große Ideen zur Wirklichkeit durchringen, geht ein Halbes, Schein-Wirkliches zugrunde: der Reich­ tum ihres warmen Lebens muß das tote Vettelwerk der Verwesung abschütteln. Deshalb machen sie in ihrem ersten Erscheinen den Menschen so oft den Eindruck einer bloß negativen Macht; denn unsere Augen find so sehr im Blendwerk des Versinkenden gefangen, daß wir das Werdende nicht erkennen können. Daß sich aber die Menschen so ost hartnäckig dem Befferen widersetzen, liegt daran, daß auch die unvollkommene Wirklichkeit, an der sie hängen, einmal ein Befferes gewesen ist, ein Fort­ schritt gegen eine noch unvollkommenere Welt. Und wenn man dann den Leuten die Idee zeigt und vom Sein spricht, so sagen sie: das ist alles nicht wahr! Sie meinen aber : das ist alles nicht wirklich! Und darin haben sie recht, aber es beweist nichts; denn man will ja gerade, es soll wirklich werden. Wer dem Fortschritt entgegen­ wirkt und die Menschheit auf irgendeine, sei es noch so hohe Stufe der Kultur ein für allemal festlegen will, der soll wiffen, daß er das Leben tötet. Denn gesundes Leben ist Fortschritt. Man sollte sich vielmehr bemühen.

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gegen die Vergangenheit zugleich so konservativ und so fortschrittlich wie möglich zu sein. Begriffe und Institutionen, welche sich auf einer niederen Stufe der Entwicklung des Kulturbewußtseins der Menschheit be­ währt haben, soll man auch den erweiterten Problemen gegenüber zunächst auf ihre Brauchbarkeit, Tragweite und Kraft hin prüfen und, wenn sie sich bewähren, als alte Freunde und Helfer in der Otot hochschätzen. Wenn sie aber am neuen Sein versagen, soll man fie durch beffere zu ersehen suchen. Man verkennt völlig die Realität der Ideen, und man macht sie zu Illusionen, wenn man in ihnen transzen­ dente Mächte oder bloße Vorstellungen im Kopfe träu­ mender Schwärmer sieht: wessen Seele die Idee ergreift, wer die Macht der Idee und ihre Wahrheit anerkennt, dem wird fie zum Quellpunkt seines Daseins. Freilich kommt der Idee keine Sinnen-Wirklichkeit zu; fie hat ihre Realität im Willen und in der Zukunft. Indem aber die Idee die Zukunft des Individuums oder der Menschheit formt, so gebiert fie die zukünftige Wirklich­ keit. Wir wollen die Idee: und damit versenken wir gleichsam die Keime des Wachstums unserer Seele in ihren ftuchtbaren Wurzelboden. Man muß fich das Ver­ hältnis gerade entgegengesetzt denken, wie Hegel es tut: nach diesem ist die immer weitergehende Verwirklichung der Idee des Guten durch die Vergangenheit mit Not­ wendigkeit bedingt; der dialektische Prozeß der Idee selbst erzeugt kraft der immanenten Vernünftigkeit die höheren und höheren Momente. Aber im Gegenteil: die Idee ist darum der Born des zukünftigen Guten, weil fie vom Willen ergriffen wird. Nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft verwirklicht die Idee. Die Philosophie der Geschichte, welche im Vergan­ genen, also auch im Vergänglichen, das Ewige aufsuchen soll, kann dies nicht finden, wenn fie glaubt, irgendein

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Endliches, Vergängliches der Idee gleichsehen zu können; auch die gesamte Vergangenheit (wenn dieser Begriff, weil eine abgeschloffene Unendlichkeit enthaltend, nicht widersprechend wäre) enthält nicht die Idee. Sondern das Ewige kann hier nur erkannt werden in der Rich» tung des Vergänglichen auf die Idee, welche sich in den Handlungen und Institutionen vergangener Zeiten offenbart. Man Hilst sich noch heute ost in manchen Lehrbüchern der Physik bet der Darstellung der Lehre vom Magnetismus und der Elektrizität mit der Theorie der Fluida, obgleich die fortschreitende Forschung dieselbe längst verlaffen hat; man wendet im Recht und in der Verwaltung noch heute altehrwürdige Gesetze und Ver­ ordnungen an, die dem Rechtsbewußtsein der Zeit längst widersprechen; im konventionellen Umgang der Menschen untereinander bedient man sich leerer Formeln, die ihren Inhalt längst verloren haben usw. So sehen wir überall «ine versinkende Wirklichkeit innerhalb des rechten und echten Daseins. Beide zu erkennen und in seiner Seele zu sondern, ist die vornehmste Pflicht des Ideensteundes. Er muß immer durch den Schleier der Gegenwart in die Zukunft zu sehen trachten. Wie häufig lastet die Gegen» wart nur deswegen so schwer auf unserer ermüdeten Seele, weil wir nur die absterbende Wirklichkeit sehen. Wenn du den brennenden Schmerz der Unerreichbarkeit der Idee überwinden willst, so schreite ihr tapfer ent­ gegen : in deinem Willen und deiner Sehnsucht wird sie lebendig sein. Die Aufgabe des Kulturfortschrittes ist vornehmlich eine doppelte: das bestehende Wiffen zu vertiefen und die Idee des Guten und der Schönheit zu fördern, so also das Kulturbewußtsein der Menschheit an Wahrheit, Sein, Güte und Schönheit reicher zu machen — und so­ dann diesen Reichtum jedem einzelnen als Inhalt seines besonderen Bewußtseins zuzuftthren. Wie nun der ein-

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seine, indem er seine Kraft erprobt, auch an Kräften zu­ nimmt, so auch die Menschheit. Ihre Fähigkeit zu schaffen, zu leiden, zu kämpfen wächst, wenn dann auch das Resultat des Fortschrittes sich häufig der Wahr­ nehmung entziebt. Durch Kämpfen, Leiden und Wirken sollen wir groß werden, damit das Reich Gottes von dieser Welt werde. Die Geschichte, welche den Vorgang der Verwirklichung der Idee im Bewußtsein der Mensch­ heit zu verfolgen hat, sollte uns nicht nur von der Rela­ tivität und folglich Unvollkommenheit jeder Wirklichkeit, sondern zugleich auch von der Heiligkeit und Größe der Idee selbst und von der Unendlichkeit der Vernunft über­ zeugen. Wir gewinnen die richtige Stellung zur Ver­ gangenheit und Zukunft, wenn wir bedenken, daß die Wirklichkeit vergangener Jahrhunderte immer nur ein Versuch zur Ergreifung der Idee war, wie die Zu­ kunft für uns die stets erneute Aufgabe derartiger Ver­ suche birgt. Also ist das Vergangene zwar heilig durch seine Beziehung zur Idee, aber durch seinen ewigen Ab­ stand von ihr auch seines absoluten Wertes entkleidet. Die Zukunft aber wird zum Wecker unseres Gewiffens, weil sie die Fehler und Irrtümer der Vergangenheit ab­ streifen soll. Cs ist ein mühsames Wandern in der Welt! Kaum haben wir einen Hügel erklommen, so sehen wir einen Berg vor uns. And dies gilt nicht nur für die Gesamtheit der Menschheit, sondern auch für den einzelnen. Aber nur MutI Unsere Last ist nie größer, als wir sie tragen können. Wir tragen Tag und Rächt in unserer Seele, Hölle und Himmel: und solange wir suchend und inend auf Erden wandern, werden fich beide bekämpfen. Aber unsere tiefste Sehnsucht geht nach dem Licht, und das Licht wird endlich siegen. Denn nur die Wahrheit ist, und die Lüge hat keine Existenz. Wie groß ist der Mensch, der dem Tode entgegengehend dennoch uner-

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schütterlich ans Leben glaubt! Es ist wahr, unser Ich lebt nicht ewig fort, sondern gehört dem Tode; aber das moralische Selbst ist ewig. Ja, nehmt nur den Gedanken recht in eure Seele auf, daß der Tod vergänglich und das Leben ewig ist. Denn das Leben ist die Arbeit und der schaffende Geist. Vertraut nur eure Werke und Ge­ danken der Ungewißheit der Zukunft: sie ist ficherer und wahrer als die Gegenwart. Wenn wir die Eindrücke der Welt leidend empfangen, statt fie bildend zu gestalten, werden wir bald im Sumpfe der Notwendigkeit untergehen. Wer die Dinge und Ereignisse zu selbständigen Wesen macht, den er­ drücken fie endlich. Seht doch zu, wie die Empfindungen eurer Sinne, wie Leiden und Freuden die Schaffenskraft eures Geistes auftusen l Befestigt fie in dauernden Gedanken! Der Glaube an ein unerbittliches Schicksal zwingt uns in seine Macht; wer aber kühn an seine Freiheit glaubt, der ist frei. Willst du das Sein und die Seele mit dem Schöpfeimer ausschöpfen? Der Wille und der Geist find unendlich. Wenn fich die Erde dreht, so ist ihr Mittelpuntt in Ruhe; so mag denn auch die Welt da draußen und das Vefitztum unserer Seele wechseln, wenn nur der Mittelpuntt und gleichsam der Iungborn unseres Wesens unverändert bleibt: die Sehn­ sucht nach der Idee. Freilich, wir lechzen ost nach einer Wahrheit, die, wenn wir fie gewonnen, uns von uns selber scheidet und uns zwingt, das Liebste, was wir hatten, aus unserer Seele zu verbannen. Und doch! Sollten wir deshalb ewig im Finstern schreiten? Und wenn du es auch nicht gleich gewahr wirst: die neue, so schmerzliche Einstcht fithrt dir endlich ein neues Größeres zu, das dir den Verlust erseht. Wir sollten die Geburts­ wehen der Erkenntnis nicht scheuen. Du wirfst einen Stein ins Waffer, und allsogleich fiehst du, wie fich Wellentteise verbreiten und wie nach

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und nach die ganze weite Oberfläche des Teiches er­ schüttert wird. Wisse, daß jede Tat, jedes Wort, das du aussprichst, ja, jeder Gedanke, den du denkst und der dich also selbst an Einsicht reicher macht und dich ver­ ändert, die ganze Wirklichkeit also erschüttert und verändett; bald so stark, daß die Umgestaltungen auch dem blöden Auge sichtbar find, bald wieder so geheim und verborgen, daß nur wenige ahnen, was sich begeben hat. Zuweilen bricht eine Trauer über deine Seele oder eln Jubel durchbebt dein Herz: es ist der Wellenschlag einer Bewegung, deren Ursprung dir verborgen bleibt. Die Seele auch des Tüchttgsten muß geweckt werden: sei es durch Leid oder Glück. Viele Menschen aber warten ihr ganzes Leben lang auf den großen Augenblick, wo sie ihr Bestes und Wertvollstes geben könnten und — haben ihn bereits verpatzt. Du mutzt die Seele deines Nächsten wie ein Ackerfeld betrachten, das dir gute Früchte trägt, wenn du guten Samen streust; und sei gewiß, was von dir in ihm auflebt, wird reiner und größer ans Tageslicht treten, als du es selbst geschaffen hättest; denn es wirkt ja darin jetzt auch das Eigene des anderen. Es ist ein zwiefaches Bedürfnis im Menschen, fich mitzuteilen: das eine ist die Schwäche und Armut, welche Hilfe und Rat heischt; das andere der Reichtum und Überfluß der Menschenliebe, welche helfen und belehren will. Beides sollten wir achten und ehren. Man mag fich so weltüberlegen stellen, wie man will: es bleibt doch ein schlimmes Gefühl, sich nicht mitteilen zu können und nicht verstanden zu werden. Hab' ich darum nach Wahrheit gesucht, um fie im eigenen Busen zu verschließen? Will man aber verstanden werden, so mutz man versuchen, von den Voraussetzungen des anderen auszugehen, nicht von den eigenen. Wir Pnd ja auch vom Unvollkommenen zum Vollkommeneren gelangt. Alle echte Anteilnahme ist produktiv; der Verkehr mit ft Inhel, Dom Sein und m der Citlt. 10

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den Menschen und der Natur ist unfruchtbar, solange er nur dem Vorteil des Augenblickes dient und wir im Gegenwärtigen gefangen bleiben. Jedes Wort, das ein anderer zu uns spricht; jeder neue Anblick, den uns die Natur beut, muß eine neue Sehnsucht und einen neuen Willen in uns entzünden. Cs muß alles sein wie ein Ruf aus der Zukunst. Wieviel Gefühle, wieviele Freu­ den und Leiden müssen aber unfruchtbar verkümmern 1 Cs ist zuzeiten gut, einen Gang durch unsere Seele zu machen, zu sehen, was in ihren Winkeln verborgen liegt. Da wecken wir wohl eine längst vergessene Freude zu neuem Leben, und selbst, wo wir schlummernde Leiden aufstvren, da ist's meist zu unserem Keil. Aber wir müssen auch alles dem Leben -urückgeben. In guten Menschen ent­ zündet das Leid ein heiliges Opferfeuer auf dem Altar des Herzens: ein Opfer der Menschenliebe und Sehn sucht! Vor: der quälenden Bitterkeit des Leides sucht ihr euch vergeblich zu befreien, indem ihr diejenigen haßt, die euch die Schmerzen bereitet haben. Wenn euch unrecht geschah, so haben eure Feinde geirrt; so lehrt sie durch Liebe den Irrtum erkennen. Wenn ihr aber euer Leid durch eigene Fehler verschuldet habt, müßtet ihr euch denn nicht vielmehr selber hassen? Man kann sich überhaupt nicht durch Gefühle vom Schicksal unabhängig machen: denn die Gefühle find es eben, welche uns unser Schicksal bereiten. Wer im tiefsten Elend ist und der Welt Bitternis durchkostet hat, der soll sich der Todesgedanken kräftig erwehren. Denn der Tod ist wie eine Dirne, die lockt und reizt, bis wir in ihren Armen liegen. Was hat doch der Gedanke des Todes für ein leidgequältes Herz so Verlockendes, Süßes, daß er sich gleichsam wider Willen immer wieder aufdrängt? Cr nimmt uns alle Schmerzen und Sorgen, er nimmt uns die Erinnerung! — Ja, aber er raubt uns auch die Fähigkeit, zu wirken und zu

schaffen! Das merke, armes Herz: so klein und gering ist keiner, der nicht der Welt noch ein Wort oder eine Tat zu geben hätte, die das Leben rechtfertigt. Und die letzte Ruhe kommt noch früh genug. Wir träumen uns oft ein Asyl, wo die Leiden und Schmerzen der Sehnsucht uns nicht mehr aufsuchen, wo wir in völliger Selbstgenügsamkeit dem Augenblick leben wollten. Aber abgesehen davon, daß mit unserer Sehn­ sucht der beste Teil unseres fittlichen Selbstes stürbe, so würde in solcher Ruhe und Abgeschiedenheit unser Ge­ fühlsleben erlöschen und wir uns bald nach Kampf und Leiden sehnen. Denn der Mensch ist nicht geborenum dem Leid zu entfliehen, sondern um es zu tragen und bekämpfen. Das Vergängliche, dem wir die größten Schmerzen und die flüchtigsten Freuden unseres Daseins verdanken, wrrd gleichsam geadelt und berechtigt durch die Schönheit. Denn die Schönheit sucht ihren Ausdruck im Vergänglichen, d. h. sie setzt es zur Idee in Beziehung und verleiht ihm so einen Schimmer der Ewigkeit und Unsterblichkeit. Ein schönheitstrunkenes Herz erblickt dtüberall den Abglanz seiner Göttin. Mer dies innere Erlebnis drängt in kräftigen Gemütern auch zur Erschei­ nung: der Künstler will uns zeigen, wie er die Welt steht. Man sagt wohl: ein Künstler müsse in seinen Werken enthalten sein; und das ist mehr als ein Bild. Denn die tiefste Sehnsucht und das heiligste Gefühl, was Begriffe und Worte nicht aussprechen können, spricht fich in seinem Kunstwerk aus. Was ihm der Schlüffel zum Alltäglichsten und Gewaltigsten, zum Sein und Wesen seiner selbst und der Welt gibt. Im Mittelalter ist es sonderbar, wie die Endlichkeit des fittlichen Ideals und der Natur auch eine Endlichkeit des ästhetischen Gefühls herbeigeführt hat. Die spezifisch christliche Kunst zeigt uns Werke, welche zwar eine Befriedigung des Gefühles in fich tragen, denen aber das Gefühl der Unendlichkeit

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völlig fremd ist: sie erscheinen endlich, wie der Stoff, in dem sie sich aussprechen. Heimliche Künstlerschaft, uns selbst vielleicht ver­ borgen, tragen wir alle im Gemüt. Nur der rechte Künst­ ler aber flieht zur Schönheit, um sich gegen die Welt zu retten. Solange wir nur Erholung und Zerstreuung bet der Kunst suchen, find wir noch nicht in ihr Heiligtum eingedrungen. Eine Sehnsucht, wie nach der verlorenen Heimat, muß uns der Schönheit zuführen. Es ist aber dann auch wie ein liebliches Wunder, wenn die Schätze der Kunst in uns zum Leben erwachen: als ob fich uns eine jugendliche, reine Menschenseele fteiwMg erschlöffe und ihre tiefsten Tiefen enthüllte. Da sehen wir, daß der Alltag nicht recht hat, welcher uns das Bild der Mensch­ heit verzerrt. Menschen, welche alle Arbeit nach ihrem Nutzen für den Augenblick bewerten, stehen der Kunst meist völlig ratlos gegenüber, die ein reines, interefseloses Gefühl der Humanität verlangt. Der Künstler leiht seine Sehnsucht zum Ewigen der Natur, und die erzählt fie nun in seinen Werken weiter. So sehen wir, wie die Idee der Leitstern unseres Lebens werden muh, in Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst. Alles setzen wir zu ihr in Beziehung; überall rufen wir nach ihr, suchen wir sie. Daher laßt uns Ideenfreunde werden!