Der Verlag H. Goverts im Dritten Reich 9783110976618, 9783598249044

Der 1934 von Eugen Claassen und Henry Goverts gegründete H. Goverts Verlag konnte, anders als andere Verlage bürgerlich-

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Der Verlag H. Goverts im Dritten Reich
 9783110976618, 9783598249044

Table of contents :
Vorwort
1. Einleitung
1.1 Der Verlag H. Goverts/Claassen & Goverts: Sonderfall und Exempel
1.2 Zur Forschungslage
1.3 Materiallage
2. Verlagsgründung unter der Diktatur
2.1 Vorgeschichte: Zu den Biographien Eugen Claassens und Henry Goverts'
2.2 Verlagsgründung: Begleitumstände und Motive
2.3 Rahmenbedingungen für die Verlagsarbeit nach dem 30.1.1933
3. Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs
3.1 Anfänge der Verlagsarbeit
3.2 Verlagsprogramm in den Vorkriegsjahren
3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien
3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein«
3.5 »Am besten ist man heute so klein wie möglich«: Die materielle Verlagsbasis
3.6 Kreisbildung: Die »Gemeinschaft der Einzelgänger«
4. Verlagsarbeit in den Kriegsjahren
4.1 Rahmenbedingungen
4.2 Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie«
4.3 Der »europäische Horizont«: Anspruch und Widersprüche
4.4 Möglichkeiten und Grenzen der »Distanz zur Macht«: Die Schwierigkeiten der Balance
4.5 »... und dennoch«: Auswege und Perspektiven
Anhang
I. Bibliographie
II. Literatur-und Quellenverzeichnis
Register

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Anne-M. Wallrath-Janssen Der Verlag H. Goverts im Dritten Reich

ARCHIV FÜR GESCHICHTE DES BUCHWESENS Studien Band 5 Im Auftrag der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e.V. Herausgegeben von Monika Estermann und Ursula Rautenberg

Anne-M. Wallrath-Janssen

Der Verlag H. Goverts im Dritten Reich

K · G · Saur München

Herausgeber: Historische Kommission Ordentliche Mitglieder: Prof. Dres. h.c. Klaus G. Saur, Berlin, Vorsitzender; Prof. Dr. Reinhardt Wittmann, Oberachau, Stellv. Vorsitzender; Prof. Dr. Stephan Füssel, Mainz; Wilhelm Hohmann, Stuttgart; Prof. Dr. Georg Jäger, München; Prof. Dr. Siegfried Lokatis, Leipzig; Dr. Wulf D. von Lucius, Stuttgart; Prof. Dr. Ursula Rautenberg, Erlangen; Thedel von Walmoden, Göttingen. Korrespondierende Mitglieder: Prof. Dr. Hans Altenhein, Bickenbach; Dr. Werner Arnold, Wolfenbüttel; Dr. Jan-Pieter Barbian, Duisburg; Prof. Frédéric Barbier, Paris; Dr. Hans-Erich Bödeker, Göttingen; Prof. Dr. Bernhard Fabian, Münster; Dr. Bernhard Fischer, Marbach/N.; Prof. Dr. Ernst Fischer, Mainz; Prof. Dr. John Flood, London; Dr. Stephanie Jacobs, Leipzig; Dr. Thomas Keiderling, Leipzig; Dr. Michael Knoche, Weimar; Prof. Dr. Hans-Joachim Koppitz, Mainz; Dr. Mark Lehmstedt, Leipzig; Prof. Dr. Alberto Martino, Wien; Dr. Helen Müller, Gütersloh; Prof. Dr. Ulrich Ott, Marbach/N.; Prof. Dr. Günther Pflug, Frankfurt a.M.; Dr. Karl H. Pressler, München; Prof. Dr. Dres. h.c. Paul Raabe, Wolfenbüttel; Prof. Dr. Helmut Rötzsch, Leipzig; Prof. Dr. Walter Rüegg, Veytaux-Chilion; Prof. Dr. Wolfgang Schmitz, Köln; PD Dr. Ute Schneider, Mainz; Herta Schwarz, Frankfurt a.M.; Dr. Volker Titel, Erlangen; Prof. Dr. Peter Vodosek, Stuttgart; Clara Waldrich, München; Prof. Dres. Bernhard Zeller, Marbach/N. D 7 Göttinger Philosophische Dissertation Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Einbandillustration: Klipstein, Editha: Anna Linde. Aus: Börsenblatt 102 (1935) 249, S. 5069 Gevers, Marie: Frau Orpha. Aus: Börsenblatt 102 (1935) 249, S. 5070 Grabe, Reinhold Th.: Das Geheimnis des Adolph Freiherrn von Knigge. Aus: Börsenblatt 103 (1936) 91, S. 1943 U Gedruckt auf säurefreiem Papier © 2007 by K. G. Saur Verlag, München Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG Alle Rechte vorbehalten Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlags ist unzulässig Satz: Anke Vogel, Ober-Olm Druck & Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Printed in Germany ISBN 978-3-598-24904-4

Inhalt Vorwort ............................................................................................................................ 3 1 1.1 1.2 1.3

Einleitung .......................................................................................................... 5 Der Verlag H. Goverts/Claassen & Goverts: Sonderfall und Exempel ............ 5 Zur Forschungslage ......................................................................................... 11 Materiallage ..................................................................................................... 15

2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 2.3

Verlagsgründung unter der Diktatur ................................................................ 20 Vorgeschichte: Zu den Biographien Eugen Claassens und Henry Goverts’ ... 20 Eugen Claassen ................................................................................................ 21 Henry Goverts ................................................................................................. 29 Verlagsgründung: Begleitumstände und Motive ............................................. 36 Rahmenbedingungen für die Verlagsarbeit nach dem 30.1.1933 ................... 46

3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3

Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs ... 59 Anfänge der Verlagsarbeit ............................................................................... 59 Verlagsprogramm in den Vorkriegsjahren ...................................................... 76 Romane deutschsprachiger Autoren: Nichtnationalsozialistische Literatur ... 77 Literatur in Übersetzungen: Europäische Themen und Zeitromane ............... 82 Der Bereich Kulturgeschichte/Wissenschaft: Ein Bildungsprogramm ........... 85 Bibliophiles Erbe: Die Ausstattung der Bücher des H. Goverts Verlags ........ 88 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien ................................................... 96 Wertorientierungen .......................................................................................... 98 Die »naive Kraft des Erzählens« ................................................................... 110 Europäischer Bildungsanspruch: »Symptomatisches« und »höhere Aktualität« ............................................... 118 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein« .................................. 136 Zwischen Vorschriften und freiwilliger Selbstzensur: Legalistisches Denken, »Sondieren« und Taktik .......................................... 137 In dubio contra: Hans Henny Jahnns »Holzschiff« ....................................... 162 Zwischen »Beifall von der falschen Seite« und politischen Angriffen ......... 171 »Am besten ist man heute so klein wie möglich«: Die materielle Verlagsbasis ........................................................................... 182 Finanzielle Beschränkungen und mäßige Erfolge: Die Aufbauphase des Verlags ....................................................................... 182 Die Stabilisierungsphase ............................................................................... 192 Bücher »für die schwindende Elite« ............................................................. 199 Kreisbildung: Die »Gemeinschaft der Einzelgänger« ................................... 201 »Es war wie eine unsichtbare Loge oder eine kleine verstreute Akademie.«: Privatheit als Signum der Zeit ................................................. 202 Autor-Verleger-Beziehungen ........................................................................ 205 Dichter und Bildungsbürger: Lebensgefühl und Selbstverständnis .............. 216

3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.6 3.6.1 3.6.2 3.6.3

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Inhalt 4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.4 4.4.1 4.4.2. 4.4.3 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3

Verlagsarbeit in den Kriegsjahren ................................................................. 223 Rahmenbedingungen ..................................................................................... 223 Die Auswirkungen des Kriegsbeginns auf den Verlag .................................. 223 »Bücherhunger« und wirtschaftliche Erfolge ................................................ 229 Herstellungsbedingungen .............................................................................. 233 Bücherproduktion »in den leeren Raum hinein« ........................................... 239 Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie« .................................... 243 Auf der Suche nach deutschen Autoren ........................................................ 243 Bausteine eines Restprogramms: Die Bewahrung tradierter Werte durch Literatur ............................................................................................... 256 Ambivalente Distanz: Gerhard F. Herings Briefsammlung »Der deutsche Jüngling« ................................................................................ 263 »Gerade nach einem Roman vom Typus des Ihren habe ich gesucht«: Die Druckgeschichte von Krämer-Badonis »Jacobs Jahr« ........................... 269 Der »europäische Horizont«: Anspruch und Widersprüche .......................... 279 »Weltoffenheit« im Krieg: Ein Bildungskonzept in der Defensive .............. 280 Der Austausch mit dem »geistigen Europa« als Vision: Auf der Suche nach Übersetzungsliteratur .................................................... 289 Vermittlungsbemühungen: Govertsbücher im Ausland ................................ 309 Kontakte ins neutrale Ausland: Die Rolle der Beziehungen nach Schweden und in die Schweiz ....................................................................... 317 Möglichkeiten und Grenzen der »Distanz zur Macht«: Die Schwierigkeiten der Balance .................................................................. 339 »... solange es mit Anstand geht«: Kontakte und taktisches Verhalten ......... 339 »... die dichterische Darstellung des deutschen Soldaten von der menschlichen Seite aus gesehen«: Das Thema Krieg ................................... 357 »... unwesentliche Streichungen und Änderungen«? – Zensur und Selbstzensur ................................................................................ 371 »... und dennoch«: Auswege und Perspektiven ............................................. 392 »Man sollte die sonst schwer erträgliche Zeit zu Arbeiten nutzen, die erst später Frucht tragen«: Das Ethos des Widerstehens ......................... 392 Der Ausbau der Wissenschaftlichen Reihe: »Kriegswichtige Literatur« ...... 412 Planungen »für die Zeit danach« ................................................................... 428

Anhang I. II.

Bibliographie .................................................................................................. 445 Literatur- und Quellenverzeichnis .................................................................. 472

Register.......................................................................................................................... 489

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Vorwort In den frühen 80er Jahren bin ich, angeregt durch Recherchen zum Literaturbetrieb der Nachkriegszeit im Rahmen der Beschäftigung mit der Gruppe 47, auf die für die Forschung schwierige Überlieferungssituation im Bereich des Verlagswesens im 20. Jahrhundert aufmerksam geworden. Die Suche nach einem Verlagsarchiv, anhand dessen ich exemplarisch die Wechselwirkung von schriftstellerischen Ambitionen, verlegerischen Strategien und zeitpolitischen Einflüssen beschreiben wollte, gestaltete sich zunächst mehr als kompliziert; fasziniert aber hat mich von Anfang an der Blick auf die im traditionellen Wissenschaftsbetrieb eher als Nebengebiet angesehene Buchhandelsgeschichte, in der sich viele Teildisziplinen überschneiden. So habe ich es als Glücksfall betrachtet, als mich Reinhard Tgahrt bei meinem ersten Besuch im Deutschen Literaturarchiv Marbach a. N. auf das Archiv des Claassen Verlags aufmerksam machte, den Nachfolge-Verlag des 1934 gegründeten H. Goverts Verlags. Von seiner Begeisterung für die Chancen, die in einer intensiven Beschäftigung mit den Briefkonvoluten aus den Anfängen des H. Goverts Verlags bis in die 60er Jahre hinein lägen, habe ich mich anstecken lassen – nicht ahnend, welche Details die zunächst unüberschaubare Anzahl an Mappen und das durch neue Zugänge weiter anwachsende Gesamtarchiv bargen und welche Entdeckungen und Einsichten über die Verlagsarbeit im Dritten Reich sie ermöglichen würden. »So eine Arbeit wird eigentlich nie fertig, man muß sie für fertig erklären wenn man nach Zeit und Umständen das Möglichste getan hat.« – Diese Erkenntnis Goethes, am 16. März 1787 in der Italienischen Reise formuliert, hat mir schließlich die Richtschnur gegeben, die vorliegende Studie nach manchen Überarbeitungen und Kürzungsversuchen in der nun vorliegenden Fassung der Öffentlichkeit zu übergeben. Die Umstände waren aus beruflichen wie auch privaten Gründen nicht immer günstig, so daß es mir nicht möglich war, die Arbeit eher abzuschließen und sie erst jetzt, nach weiteren Verzögerungen, endlich veröffentlicht werden kann. Anders als lange geplant habe ich mich in der Darstellung der Geschichte dieses Verlags auf die Jahre des Dritten Reichs beschränkt. Aber auch mit dieser Begrenzung, so hoffe ich, wird die exemplarische Kontinuität über den 8. Mai 1945 hinaus deutlich werden. Viele Personen und Institutionen waren am Zustandekommen dieser Arbeit beteiligt. Vor allem den Archivaren des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar, allen voran Herrn Dr. Reinhard Tgahrt und Herrn Dr. Jochen Meyer, möchte ich für ihre intensive Unterstützung, für viele Informationen am Rande und manchen Rat danken. Die spezifische Marbacher Atmosphäre, die anregenden Gespräche mit den stets hilfsbereiten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, darüber hinaus mit Forschern aus aller Welt haben mich bei meinen zahlreichen Archivbesuchen immer wieder beflügelt. Dank gebührt auch all jenen namentlich nicht zu nennenden Archivaren und Bibliothekaren, die überall dort, wo ich nach weiteren Quellen forschte, stets geduldig und freundlich zur Hilfestellung bereit waren: im Berlin Document Center, dem Bundesarchiv Koblenz/heute Potsdam sowie dem Militärarchiv Freiburg, im HeinrichHeine-Institut Düsseldorf, in der Monaciensia-Sammlung der Stadtbibliothek München, im Zeitschriften-Archiv Dortmund und in den Staats- und Universitätsbibliotheken Göttingen und Hamburg und nicht zuletzt in der Deutschen Nationalbibliothek mit der von ihr betreuten Bibliothek des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels unter Leitung von Herrn Herrmann Staub.

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Vorwort Den Veröffentlichungen Hans Dieter Schäfers zum Dritten Reich verdankt diese Arbeit wichtige Anregungen; die Gespräche mit ihm und die Diskussionen auf verschiedenen Tagungen zur Geschichte des Buchwesens, so mit Dr. Jan-Pieter Barbian, dessen grundlegende Studie zur Literaturpolitik des Dritten Reichs während meiner Forschungen erschien, mit Dr. Volker Dahm und Prof. Siegfried Lokatis haben mich immer wieder darin bestätigt, die ebenso entsagungs- wie lustvolle Kärrnerarbeit in Archiven weiterhin ernst zu nehmen und in der Darstellung die zahlreichen Dokumente selbst sprechen zu lassen. Ohne finanzielle Unterstützung wären die umfangreichen Archivaufenthalte, die diese Arbeit erforderte, nicht möglich gewesen. Neben der Studienstiftung des Deutschen Volkes und der Fritz-Thyssen-Stiftung danke ich besonders der Horst-KliemannStiftung für Geschichte des Buchwesens für die stets großzügige Finanzierung der Forschungsreisen durch die gesamte Bundesrepublik und zahlreicher Archivreisen von Göttingen und Oldenburg nach Marbach. Die vorliegende Arbeit ist im SS 1999 von der Philosophischen Fakultät der GeorgAugust-Universität Göttingen als Dissertation angenommen worden; für die Veröffentlichung habe ich sie leicht gekürzt und da, wo es mir angebracht schien, hinsichtlich neuerer Studien aktualisiert. Herrn Prof. Christian Wagenknecht und Herrn Prof. Paul Raabe, die meine Forschungen von ihren Anfängen an mit vielen Anregungen inhaltlicher wie methodischer Art, mit großzügiger Geduld und vielen Ermunterungen begleitet haben, möchte ich ganz besonders danken: persönlich wie für die Möglichkeit, im Kreis zweier Doktoranden-Colloquien in Göttingen und Wolfenbüttel die verschiedenen Stadien der Arbeit intensiv und stets hilfreich zu diskutieren. Die privaten Arbeitszusammenhänge, die in diesem Umkreis entstanden sind, haben wesentlich zur Präzisierung grundlegender Thesen beigetragen: Dr. Ingrid Laurien, Göttingen, und Ottmar Hinz, Bremen, sei stellvertretend für alle anderen gedankt. Frau Dr. Monika Estermann von der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels hat die Entstehung der Arbeit von den Anfängen an mit großem Interesse verfolgt und immer wieder vielfältige Unterstützung geboten; ihr bin ich zu großem Dank verpflichtet. Ihrer energischen Hilfe bei allen Vorbereitungen für die Drucklegung sowie der kompetenten Fertigstellung des Satzes durch Frau Anke Vogel verdankt die Arbeit ihre endgültige Form. Ein besonderer Dank gilt Frau Prof. Irmela von der Lühe für die spontane, engagierte Übernahme des Zweitgutachtens im Rahmen des Dissertationsverfahrens – und dem K. G. Saur Verlag für die Bereitschaft, die vorliegende Arbeit in der Reihe Studien zum Archiv für Geschichte des Buchwesens zu veröffentlichen. Widmen möchte ich diese Arbeit dem Andenken meines Vaters, Johannes-Georg Wallrath (1923 – 2006), dem ich sie so gerne noch in die Hände gelegt hätte, sowie all jenen Freundinnen und Freunden, Weggefährten und Diskutanten, die in den Jahren der Entstehung dieser Arbeit nicht nur danach gefragt haben, wann sie denn endlich fertig wäre, sondern die darüber hinaus immer wieder aufs Neue bereit waren, mit mir über den aktuellen Recherchestand, über spannende Einzelfunde und irritierende Beobachtungen kritisch zu diskutieren; sie haben mir geholfen, vorschnelle Urteile zu vermeiden und mir Mut gemacht, die Ambivalenzen, die die Auseinandersetzung mit dem Verhalten von Intellektuellen im Dritten Reich auch heute noch mit sich bringt, im Diskurs auszuhalten.

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Oldenburg, im August 2007

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Einleitung

1.1

Der Verlag H. Goverts/Claassen & Goverts: Sonderfall und Exempel

1.1 Der Verlag H. Goverts/Claassen & Goverts: Sonderfall und Exempel Am 20. Dezember 1934 gründeten Eugen Claassen und Henry Goverts in Hamburg einen literarischen Verlag: den H. Goverts Verlag (HGV).1 »Das war ein eigensinniger Akt, ein Wagnis«, hat Reinhard Tgahrt anläßlich der Marbacher Ausstellung Eugen Claassen. Von der Arbeit eines Verlegers2 betont: »Wer gründete in jener Zeit, in der die großen liberalen Verlage sich duckten, der Ausverkauf oder die Emigration der großen jüdischen Verlage bevorstand, schon einen neuen literarischen Verlag, nicht um mitzuschwimmen, sondern um standzuhalten?«3 Das Motiv war in der Tat unzweideutig4: Der berufliche Werdegang wie die politisch-moralische Orientierung der beiden Verleger während der Zeit der Weimarer Republik erweist sie als über jeden Verdacht erhaben, sie hätten mit dem Nationalsozialismus sympathisieren wollen: Goverts stammte aus dem Freundeskreis von Theo Haubach, Carlo Mierendorff und Carl Zuckmayer und war Mitte der zwanziger Jahre Assistent des Soziologen Alfred Weber an der Universität Heidelberg gewesen. Claassen kam aus dem liberalen Milieu der Frankfurter Zeitung und hatte bis zum Frühjahr 1934 deren Buchverlag, den Societäts-Verlag, geleitet. Diese Verlagsgründung unter der Diktatur wirkt auch aus heutiger Perspektive auf den ersten Blick ungewöhnlich; es gibt keine vergleichbaren Beispiele. Anders als bekanntere Verlage bürgerlich-liberaler Provenienz, wie z. B. Rowohlt oder Suhrkamp, vorm. Fischer, hat der H. Goverts Verlag bis zur Besetzung Hamburgs durch die englischen Truppen am 2. Mai 1945 kontinuierlich arbeiten können. Während der Rowohlt Verlag 1939 der Deutschen Verlagsanstalt angegliedert wurde und später praktisch in ihr aufging, während Peter Suhrkamp im April 1944 wegen Hoch- und Landesverrats angeklagt wurde und zehn Monate in Gefängnissen und im Konzentrationslager verbringen mußte, hat es beim H. Goverts Verlag keinerlei behördliche Eingriffe in die äußere Organisation und die personelle Struktur gegeben. Unter Leitung der beiden Geschäftsführer Eugen Claassen und Henry Goverts überstand der Verlag auch die beiden großen Stillegungsaktionen im Frühjahr 1943 und im Herbst 1944, bei denen zahlreiche Buchverlage und auch Zeitschriften zusammengelegt bzw. geschlossen wurden; er galt nunmehr als »kriegswichtig«. Noch in den letzten Wochen vor der Kapitulation des Deutschen Reichs wurden in diesem Unternehmen Bücher hergestellt und aus1 Der Eintrag in die Zentralgewerbekartei der Stadt Hamburg erfolgte am 20.12.1934, die Ankündigung der Verlagsgründung im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, 102 (1935) 100, Umschlagseite. 2 Eugen Claassen. Von der Arbeit eines Verlegers. 1935 – 1966. – Vgl. auch das »Marbacher Magazin« 19/1981 (MM 19/1981) unter dem gleichen Titel, mit einer Bibliographie der Verlagsproduktion H. Goverts, Claassen & Goverts und Claassen von 1935 bis 1966, bearbeitet von Reinhard Tgahrt u. a. – Die im Anhang der vorliegenden Arbeit abgedruckte Bibliographie der Verlage H. Goverts, Claassen & Goverts und Claassen von 1935 bis 1950 beruht im wesentlichen auf den Daten des MM 19/1981, S. 31 –53 sowie S. 77 –79. 3 Tgahrt: Der Verlag wird seine Richtung nicht ändern müssen, S. 7. 4 Vgl. MM 19/1981, S. 19.

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1 Einleitung geliefert, Manuskripte geprüft und neue Veröffentlichungen geplant. Auch trafen Eugen Claassen und Henry Goverts zu Beginn der Besatzungszeit nicht auf Mißtrauen der Alliierten. Bereits am 31. Oktober 1945 erhielten sie die Lizenz zur Weiterarbeit.5 Sie gehörten damit in Hamburg – neben Hoffmann & Campe, Rowohlt, Marion von Schröder und Christian Wegner – zu den allerersten Verlegern, denen die Britische Militärregierung die Mitarbeit am Wiederaufbau des literarischen Lebens zugestand.6 Wie konnte diese erstaunliche Verlagskontinuität gelingen? Rückblickend auf nahezu zwanzig Jahre Verlagsarbeit schrieb Eugen Claassen im Frühjahr 1955, der Verlag habe »jeden Kontakt mit dem politischen Alltag« vermieden und sei »erstaunlicherweise weder durch die Diktatur, noch durch den Krieg und die Nachkriegsjahre zu peinlichen Kompromissen genötigt«7 gewesen. Diese Aussage ist auffällig genug: nicht nur durch die Parallelsetzung in gesellschaftspolitischer Hinsicht so unterschiedlicher historischer Phasen wie NS-Diktatur und Besatzungszeit, sondern vor allem durch die Behauptung, während der NS-Zeit habe es in diesem Verlag keinerlei gravierende Zugeständnisse an die herrschende Ideologie gegeben. Im September 1945 versicherte Claassen einem Verlagsautor, die Neuproduktion werde sich »ganz auf der alten Linie«8 bewegen, und über die Wiederaufnahme des Verlagsgeschäfts heißt es in einem anderen Brief: »Das ist freilich bei mir kein revolutionärer Akt, da ich die alte Haltung des Verlags ohne Bruch fortsetzen kann und darf.«9 Als die ersten fünf Nachkriegsbücher erschienen und weitere in Satz gegangen waren, kommentierte der Verleger die Manuskriptauswahl mit den Worten: »Es war nicht erforderlich, an der Richtung des Verlags etwas zu ändern. Unsere literarischen und wissenschaftlichen Interessen sind die gleichen geblieben.«10 Eine Kontinuität par excellence demnach, im Programmatischen wie in der politisch-moralischen Orientierung: Dieses Urteil Claassens über seine Verlagsarbeit hebt sich deutlich ab von dem Gros vergleichbarer zeitgenössischer Verlegeräußerungen.

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5 Lizenzträger waren Eugen Claassen und Henry Goverts gemeinsam, Geschäftsführer allein Claassen. Im März 1946 wurde der Verlag in Claassen & Goverts umbenannt. 1950 schied Goverts, der seit Kriegsende hauptsächlich in Vaduz/Liechtenstein lebte, endgültig aus; seitdem firmierte der Verlag als Claassen Verlag. 6 Vgl. Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, Anhang B: Verlagslizenzen (Zulassungen), bes. Sp. 1699 – 1712. 7 Claassen: Über das Verlegen. In: In Büchern denken, S. 17. Das Ms. wurde für den Norddeutschen Rundfunk geschrieben und am 22.3.1955 gesendet. – Vgl. dazu MM 19/1981, S. 95. 8 Claassen an Walter Lennig, 20.9.1945; vgl. auch Claassen an Rudolf Bach, 14.11.1945: »Der Verlag ist [...] völlig unangefochten ganz der alte geblieben. [...] Die Linie ist die alte.« – Die in dieser Arbeit zitierten Briefe zwischen den Verlegern Eugen Claassen und Henry Goverts und den Autoren und Autorinnen, die mit dem Verlag in Kontakt standen, befinden sich, wenn nicht anders vermerkt, im Claassen Archiv des Deutschen Literaturarchivs in Marbach a. N. (Cl.A). 9 Claassen an E. A. Schmorl, 23.11.1945 (In Büchern denken, S. 443). 10 Claassen an José Antonio Benton [Hans Elsas], 29.8.1946 (In Büchern denken, S. 80).

1.1 Der Verlag H. Goverts/Claassen & Goverts: Sonderfall und Exempel Zum Ende des Jahres 1946 erschien im Börsenblatt eine Abhandlung über Stand und Arbeitsmöglichkeiten der Verlage11 von Hans Hümmeler, seit 1929 Leiter des katholisch geprägten L. Schwann Verlags in Düsseldorf. In Tenor und Argumentation ist dieser Rückblick auf die Verlagsarbeit in der NS-Zeit gleich in zweierlei Hinsicht symptomatisch für die Legitimationszwänge nach dem Ende des Dritten Reichs: Einerseits wurde das Ausmaß der staatlichen Einflußnahme als von Anfang an derart übermächtig beschrieben, daß eine eigenständige Arbeit praktisch unmöglich gewesen sei; gleichzeitig aber wurde das eigene »Widerstehen« betont: »Der Axthieb, der [...] gegen die Autoren geführt wurde, traf die deutschen Verlage zwar nur mittelbar, doch wurde auch für sie schon in aller Eile der enge Käfig gezimmert, darin ihr Schaffen eingepfercht werden sollte. Jedem Einsichtigen war klar, daß er von unerbittlichen Trainern in eine strenge Dressur genommen werden sollte und künftig nur noch nach Art abgerichteter Manegepferde wohlabgezirkelte Schritte tun dürfe. Wer sich gegen diese Einsicht sträubte, der wurde durch einen Hagel von Peitschenhieben in Form von Verboten und Beschlagnahmungen, behördlichen Schikanen und erpresserischen Drohungen eines Besseren belehrt.«12 Die Dämonisierung des Regimes, die Betonung der Totalität der Überwachung von Anfang an, die Charakterisierung des Verhaltens der Verlagsleiter als Lavieren, das Insistieren auf gelungenen Täuschungsmanövern: Solcher Art Beschreibungselementen war der Legitimationszwang abzulesen, unter dem die Verleger standen. Auch die Lizenzierungspraxis der Alliierten, die einen detaillierten Nachweis der politischen Unbelastetheit verlangte, trug dazu bei, die eigene Arbeit als von übermächtigen Zwängen diktiert darzustellen und den Blick auf die »radikal neuen Aufgaben«13 der Nachkriegszeit zu lenken. Im Einklang mit den Bemühungen der westlichen Siegermächte wurde der kulturelle Wiederaufbau als »Re-education« und somit als pädagogisch-moralische Aufgabe verstanden. Die Selbstdarstellungen lizenzierter Verlage im Börsenblatt14 sind sprechende Zeugnisse für die emphatische Betonung des Neubeginns und die pathetische Selbstverpflichtung, durch verlegerische Arbeit neue Wertorientierungen zu fördern. So wenig in Frage steht, daß die weitverbreitete Vorstellung von einer tiefen Zäsur subjektiv ehrlich war und angesichts zerstörter Verlagshäuser, verbrannter Lager und unterbrochener Kommunikationswege15 durchaus ihre Berechtigung hatte, so problematisch blieben doch ihre Auswirkungen. Die Redeweise von der »Stunde Null« oder dem »Nullpunkt« hatte eher Entlastungsfunktion. Bis weit in die siebziger Jahre hinein entbanden diese »emphatischen Metaphern«16 viele Zeitgenossen von einem kritischen,

11 Hümmeler: Stand und Arbeitsmöglichkeiten der Verlage. In: Börsenblatt, Frankfurter Ausgabe (1946) 20/21, S. 196 – 198; Börsenblatt (1946) 22, S. 232 – 234; Börsenblatt (1946) 23/24, S. 254f. 12 Hümmeler: Stand und Arbeitsmöglichkeiten, S. 196 (Hervorheb. im Original). 13 Hümmeler: Stand und Arbeitsmöglichkeiten, S. 233. 14 Vgl. Börsenblatt, Frankfurter Ausg. 1946 bis 1948 sowie die Rubrik »Verlegerprofile« in der Zeitschrift »Welt und Wort« und die Aufsatzfolge »Getreues Spiegelbild. Querschnitt durch die Buchverlagsproduktion« in der Zeitschrift »Die Gegenwart« Ende 1947/Anfang 1948. 15 Vgl. auch Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels. 16 Vgl. Emmerich: Nullpunkt, S. 538.

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1 Einleitung und vor allem selbstkritischen, Blick zurück. Das gilt in besonderem Maße auch für die deutschen Verleger. Die Veröffentlichungen von entsprechenden Verlagsgeschichten bieten in der Rückschau ausreichend Anlaß, die Beobachtungen Hans Dieter Schäfers über das Verhalten vieler Schriftsteller und Publizisten auf einen Großteil der Verleger zu übertragen. Nicht nur die Autoren, wie Schäfer konstatierte, auch die Verleger »übertrieben [...] die Durchsetzung der reaktionären Kunstpolitik der Nationalsozialisten, blendeten ihre eigenen Arbeiten aus und entwirklichten das kulturelle Leben des Dritten Reiches«17. In solchen Darstellungen ex domo erschienen die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Diktatur als abrupte Unterbrechung der »Normalität«; sie wurden als weitgehend homogene Phase der Gefährdung und Unterdrückung beschrieben. Allemal aber kam nach diesen Darstellungen die existentielle Bedrohung von außen: als übermächtige, dem Einzelnen aufgezwungene Ideologie, als Gleichschaltungsdruck des Regimes, dessen man sich nicht habe erwehren können.18 Vor diesem Hintergrund erscheint der H. Goverts Verlag (HGV) nicht nur als ein besonderer Verlag, sondern geradezu als Ausnahmefall. Das Selbstbild Claassens, zu keinen »peinlichen Kompromissen«19 gezwungen gewesen zu sein, deckt sich mit einer Vielzahl achtungsvoller Urteile von außen: »Ihre Aussichten müßten ja gut sein«20, schrieb Ernst Schnabel kurz nach der Kapitulation an seinen Verleger, und ein anderer Autor prophezeite, daß »jetzt die große Zeit des Goverts Verlags anbrechen«21 werde. Ein dritter resümierte: »Sie sind ja als Verleger in der glücklichen Lage, daß man an Ihrer Arbeit während des letzten Jahrzehnts kein Haar finden kann, auch bei bösem Willen nicht«.22 Und aus Sao Paulo schrieb der Emigrant Hans Elsas23, der Herausgeber der Deutschen Blätter: »Unter den wenigen Bürgen einer helleren Gegenwart wurde hier stets Ihr Name und der des Dr. Goverts genannt.«24 Es steht längst außer Zweifel, daß das nationalsozialistische Regime in vielfältiger Hinsicht »Nischen« bot: Eine große Anzahl von Einzeluntersuchungen über die Alltagswirklichkeit des Dritten Reichs in den letzten Jahren hat dies belegt. Als »staatsfreie Sphäre«25 lassen sich diese Nischen als wesentliches Element der Herrschaftssicherung bestimmen. Diese private Sphäre, zu der auch das Angebot einer als »unpolitisch« erscheinenden Literatur gehörte, wurde auch unter der Diktatur gefördert, um die Mehrheit der Bevölkerung auf Dauer an das Regime zu binden. Die Handlungsmöglichkeiten

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17 Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 7. – Eine erste Fassung des Aufsatzes »Die nichtnationalsozialistische Literatur der jungen Generation im Dritten Reich« erschien unter dem Titel »Die nichtfaschistische Literatur der jungen Generation im nationalsozialistischen Deutschland« in Denkler/Prümm: Literatur im Dritten Reich. – Schäfers detailreichen Untersuchungen verdankt diese Arbeit wichtige Anregungen. 18 Vgl. zu diesem Phänomen der begrifflosen Erklärungsversuche Haug: Der hilflose Antifaschismus. 19 Claassen: Über das Verlegen. In: In Büchern denken, S. 17. 20 Ernst Schnabel an Claassen, 27.5.1945 (In Büchern denken, S. 453). 21 Will-Erich Peuckert an Claassen, 28.6.1945. 22 Walter Lennig an Claassen, 28.10.1945. 23 Pseudonym José Antonio Benton. 24 José Antonio Benton an Claassen, 20.10.1946 (In Büchern denken, S. 81). 25 Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 7, S. 114 u. ö.

1.1 Der Verlag H. Goverts/Claassen & Goverts: Sonderfall und Exempel sahen zu Beginn des Regimes anders aus als gegen Ende. Das literarische Leben im NSStaat war ja keineswegs eine »gleichgeschaltete Kulturwüste«. Es lassen sich zeitlich markante Einschnitte in den äußeren Rahmenbedingungen aufzeigen, aber ebenso auch Ungleichzeitigkeiten: Während ganze Verlagssparten, Verlage und Autoren in ihrer wirtschaftlichen Existenz vernichtet wurden, gab es gleichzeitig Widersprüche innerhalb des Machtsystems, Kompetenzüberschneidungen und Konkurrenzen innerhalb des Bereichs der offiziellen Literaturpolitik, die sich von den Betroffenen zu eigenen Zwecken nutzen ließen. Vor diesem Problemhintergrund gewinnt die Beschäftigung mit der Geschichte des H. Goverts Verlags exemplarischen Charakter. Die Entscheidung für einen Kleinverlag mit nur wenigen Veröffentlichungen im Jahr hatte die Halbjahresproduktion auf zunächst drei, noch in den letzten Kriegsjahren auf nicht mehr als fünf Titel beschränkt. Zwischen 1935 und 1945 erschienen insgesamt 73 Bücher, Einzeltitel ohne Reihenbildung, bei denen bereits früh drei Bereiche erkennbar wurden. Der Schwerpunkt des Verlagsprogramms lag – neben der Übersetzungsliteratur und einer kulturwissenschaftlichen Sparte mit Biographien und historischen Arbeiten – auf der Literatur einer jüngeren Autorengeneration, deren Angehörige erst gegen Ende der Weimarer Republik zu schreiben begonnen hatten und die keinen Kontakt mehr zu republikanischen Traditionen besaßen. Sie sahen sich zwar persönlich in Distanz zur NS-Ideologie und deren künstlerischen Vorgaben; gleichzeitig jedoch fühlten sie sich selbst als »unpolitisch«. Allemal aber wollten sie wirken, und dafür waren sie auf Möglichkeiten der Veröffentlichung angewiesen. Der Zwiespalt, in den sie dadurch notwendig gerieten, hatte Auswirkungen auf das Verhalten von Autoren wie Verlegern und auf die Literatur selbst. Mit der Geschichte des HGV läßt sich die Möglichkeit des Überdauerns eines bestimmten literarischen Milieus durch die NS-Zeit hindurch beschreiben: im Spannungsfeld zwischen einer unzweideutigen Motivation der Beteiligten und den sich in der Alltagspraxis notwendig ergebenden Ambivalenzen in vielfältiger Hinsicht. In seinem Aufsatz Über das Verlegen hat Claassen zehn Jahre nach Kriegsende als Notwendigkeit beschrieben, was er – in der Rückschau – als Motiv seiner Verlagsarbeit von Anfang an charakterisierte. Nach Errichtung der Diktatur seien die verlegerischen Aufgaben in Deutschland andere gewesen als zuvor: »Es kam darauf an, vorhandene traditionelle Werte zu bewahren, eine Tradition von Jahrhunderten nicht abreißen zu lassen, das Gefühl für Qualität zu steigern, den Sinn für die Sprache zu schärfen, echte Toleranz zwischen den großen geistigen Gruppen zu stärken, das Gemeinsame gegen völkischen Ungeist zu beleben, Dichtung, Kunst, Philosophie, Geschichte gegen Verfälschung zu schützen.«26 Es bleibt zu untersuchen, ob, und wenn ja: inwieweit, dieses ex post formulierte verlegerische Programm als gelungen bezeichnet werden kann. Grundsätzlich ist dabei die Frage zu beantworten, wie dies möglich war, d. h. unter welchen Bedingungen, innerhalb welcher Entscheidungsspielräume solche Verlagsarbeit stattfand und welche Wirkung sie hatte: für Verleger, Autoren und Leser und damit insgesamt innerhalb der literarischen Kultur im Dritten Reich. Ein Terrain des Rückzugs war dieser Bereich des Schreibens und Veröffentlichens in innerer Distanz zum nationalsozialistischen Regime, das in ideologischen Verlautbarungen auch und gerade von den Angehörigen der geisti26 Claassen: Über das Verlegen, S. 17.

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1 Einleitung gen Berufe Bekenntnis und Engagement für den »neuen Staat« forderte, allemal. Doch wie stellten sich diese Bedingungen des literarischen Lebens für die Beteiligten im Alltag, in den verschiedenen Phasen der politischen Entwicklung des Systems, in stets neuen Entscheidungssituationen dar? Tatsächlich sagen auch die von Claassen verwandten Ausdrücke wie »Haltung«, »innere Linie« und »Vermeidung des Kontakts zum politischen Alltag« ja nichts darüber aus, wie sich ein solches Verhaltenskonzept unter der Diktatur praktisch durchführen ließ.

Zielsetzung der Studie Es geht also darum, die Geschichte des H. Goverts Verlags in der Zeit zwischen 1934 und 1945 zu rekonstruieren, um das beschriebene Vakuum hinsichtlich unserer Kenntnisse von der praktischen Verlagsarbeit unter der nationalsozialistischen Diktatur zu füllen. Auf eine eigenständige Darstellung der frühen Nachkriegsjahre muß im Rahmen dieser Arbeit verzichtet werden. Auch so aber wird an vielen Beispielen die »exemplarische [...] Kontinuität über die historisch-politischen Zäsuren hinweg«27 erhellt werden. (Vgl. dazu Kap. 4.5) Zunächst sind die biographischen Hintergründe, die Begleitumstände und Motive der Verlagsgründung sowie die Rahmenbedingungen der Verlagsarbeit nach dem 30. Januar 1933 zu beschreiben; zusammen ermöglichen diese Aspekte eine Erklärung der Entscheidung für die Gründung dieses Verlags im Dezember 1934. (Vgl. dazu Kap. 2) Der Kriegsbeginn stellte einen Einschnitt grundsätzlicher Art dar. Das rechtfertigt die Darstellung in zwei große Abschnitte: die Vorkriegs- und die Kriegsjahre. Das Profil des Verlags, so wie es sich der zeitgenössischen Leserschaft anhand der veröffentlichten Literatur der ersten viereinhalb Verlagsjahre bot, läßt sich mit seinen inhaltlichen Schwerpunkten beschreiben. An vielen einzelnen Beispielen, oft bis ins Detail, sind die Lektoratsentscheidungen, die die Verlagsarbeit prägten, rekonstruierbar: nicht nur anhand der Auswahlkriterien und der ihnen zugrundeliegenden Wertorientierungen, sondern ebenso als direkte und indirekte Auswirkungen der Literaturpolitik. Die Motivation und das Selbstbild von Verlegern wie Autoren lassen sich dabei anhand der verlagsinternen Diskussionen und Entscheidungen ebenso präzise beschreiben wie der von den staatlichen und politischen Überwachungsstellen tatsächlich ausgeübte Druck, dessen subjektive Wahrnehmung und die praktischen Folgen für die Verlagsarbeit. Die Konturierung der Handlungsbedingungen dieses Kleinverlages im Dritten Reich, dessen Überschaubarkeit Programm war, wird möglich, und vor diesem Hintergrund das konkrete Verhalten der Verleger und Autoren und damit auch die Taktik gegenüber den Maßnahmen der offiziellen Literaturpolitik. (Vgl. dazu Kap. 3) Die Verlagsarbeit geriet, mit zunehmender Verengung des Handlungsspielraums besonders in den Kriegsjahren, immer mehr in die Defensive. Anhand der Lektoratsentscheidungen werden die Gewichtsverschiebungen in den Kriegsjahren offenkundig: erkennbar sowohl innerhalb der einzelnen Sparten wie auch hinsichtlich des Niveaus. Ausführlich läßt sich die Suche nach »Auswegen« beschreiben: zum einen als Versuch der Bewahrung tradierter Werte durch Literatur und durch intensive Kontakte ins (noch) erreichbare Ausland, in den letzten Kriegsjahren vermehrt in die einzigen neutra-

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27 Tgahrt: Der Verlag wird seine Richtung nicht ändern müssen, S. 8.

1.2 Zur Forschungslage len europäischen Länder, Schweden und die Schweiz; vor allem aber in Form bewußter »Planungen für die Zeit danach«. Deutlich werden dabei auch die Grenzen einer solchen Verlagsarbeit in versuchter Distanz zum Regime, die immanenten Widersprüche, ja Aporien. (Vgl. dazu Kap. 4) Gleichzeitig wird im Verlauf der Arbeit, in zwei Abschnitten gesondert herausgehoben, die Konturierung des sozialen Milieus dieses Verlags möglich, das sich sozial und in der ideologischen Orientierung als relativ homogen darstellen läßt. Der »Kreis Gleichgesinnter«28, der von einzelnen Beteiligten in der Rückschau geradezu mystifiziert wurde, tritt im Atmosphärischen anhand der Quellen eindrücklich zutage. Dieser Zusammenhalt zwischen den beiden Verlegern und den Autoren ist als eine unabdingbare Voraussetzung für das z. T. geschickte Taktieren unter den vorgegebenen Bedingungen zu charakterisieren. Gleichzeitig läßt sich an Konfliktsituationen aber auch verdeutlichen, wie die Beteiligten zu Mitakteuren bei der Durchsetzung offizieller Vorgaben wurden. Das Hauptinteresse dieser Arbeit richtet sich darauf, vor dem Hintergrund der literaturpolitischen Rahmenbedingungen ein wirklichkeitsnahes Bild der Arbeit eines deutschen Verlages zwischen 1934 und 1945 mit vielen Zwischentönen zu zeichnen. Der Versuch, mit und durch das Schreiben und Veröffentlichen von Literatur zum Regime Distanz zu halten, war, da er innerhalb des Systems stattfand, notwendigerweise mit Widersprüchen verbunden. Zum Überdauern notwendig war ein äußerst differenziertes Verhalten gegenüber der Schrifttumsbürokratie. Trotz der später so nüchtern und selbstbewußt von Claassen vorgetragenen Selbsteinschätzung der eigenen Arbeit ist dies von den Beteiligten punktuell immer wieder auch als widersprüchlich wahrgenommen worden.

1.2

Zur Forschungslage

1.2 Zur Forschungslage Das langsame Erwachen des wissenschaftliche Interesses an diesem Forschungsgegenstand ist seit den sechziger Jahren zu beobachten. In den letzten beiden Jahrzehnten jedoch nahm sich die Generation jüngerer Historiker und Buchwissenschaftler verstärkt dieses Themas an. Mit der verdienstvollen Arbeit von Jan-Pieter Barbian über die Literaturpolitik im »Dritten Reich«29 stand, nahezu fünfzig Jahre nach Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, der weiteren Forschung endlich jene Gesamtdarstellung der Institutionen, Kompetenzen und Betätigungsfelder zur Verfügung, die längst überfällig war. Sie beruht auf einer gründlichen Auswertung der in verschiedenen Archiven lagernden Akten der staatlichen Behörden und parteiamtlichen Dienststellen und bezieht die neueren Ergebnisse der politikwissenschaftlichen Forschung mit ein.30 Nach jahrelanger Enthaltsamkeit in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Institutionen und Inhalten der nationalsozialistischen Kulturpolitik sind mittlerweile die Erkenntnisse

28 Vgl. dazu Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 11. 29 Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. (1993). 30 Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 12 – 15.

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1 Einleitung von Bollmus31 in seiner Studie zum Amt Rosenberg durch weitere Forschungen differenziert worden; jegliche Totalitarismus-Theorien sind damit obsolet geworden: In seinem Forschungsüberblick32 weist Barbian darauf hin, daß sowohl Hans-Ulrich Thamer in seiner Darstellung Verführung und Gewalt33 wie auch Norbert Frei in seiner Geschichte des Führerstaats34 übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen sind, daß der ideologische Anspruch der Nationalsozialisten auf Reglementierung und Steuerung der Kultursphäre sich keineswegs lückenlos mit der Realität gedeckt habe.35 Besonders Frei legt ausführlich dar, daß die angestrebte »umfassende Mobilisierung der Gesellschaft« Rücksichtnahmen auf »kulturelle Traditionen und zivilisatorische Besitzstände« erforderlich gemacht habe, um die »wie auch immer abgestufte Loyalität einer großen Mehrheit der Deutschen nicht zu gefährden«36. Damit sind, wie Barbian zu Recht betont, vonseiten der zeitgeschichtlichen Forschung nicht nur die Thesen Ketelsens zur Kulturpolitik des III. Reiches37 bestätigt, der bereits 1980 darauf hinwies, daß weder ein systematisch geschlossener kulturpolitischer Verwaltungsapparat noch eine einheitliche Kulturideologie existiert habe.38 Besonders die Ergebnisse der Studien Hans Dieter Schäfers über Das gespaltene Bewußtsein39, die in der Literaturwissenschaft zunächst heftig diskutiert wurden, erscheinen damit in der Tat festgeschrieben: nicht nur sein detaillierter Nachweis einer nichtnationalsozialistischen Literaturszene, die relativ ungefährdet das Dritte Reich überdauern konnte,40 sondern auch sein Versuch, aufgrund der beobachtbaren Kontinuität in den Mentalitätsstrukturen zu einer neuen Epochengliederung in der Literaturgeschichte zu gelangen, die sich nicht ausschließlich an den politischen Zäsuren orientiert, sondern an den Schreibweisen und Themen und den ihnen zugrundeliegenden kulturellen Orientierungen.41 Während über Zeitschriften und auch Zeitungen der NS-Zeit Monographien bereits früh in größerer Zahl vorlagen, die in jüngerer Zeit zunehmend aus den Quellen, d. h. auch anhand von Archivmaterialien erarbeitet wurden,42 erschienen erst seit den achtzi31 32 33 34 35 36 37 38 39 40

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Bollmus: Das Amt Rosenberg und seine Gegner. (1970). Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 6 – 12. Thamer: Verführung und Gewalt. (1986). Frei: Der Führerstaat. (1987). Vgl. Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 9. Frei: Der Führerstaat, S. 110. Ketelsen: Kulturpolitik des III. Reiches und Ansätze zu ihrer Interpretation. (1980). Vgl. Ketelsen: Kulturpolitik, S. 229 sowie Ketelsen: Literatur und Drittes Reich (1992). Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein. (1981). Vgl. Schäfer: Die nichtnationalsozialistische Literatur der jungen Generation im Dritten Reich. In: Das gespaltene Bewußtsein. 41 Vgl. Schäfer: Zur Periodisierung der deutschen Literatur seit 1930. In: Das gespaltene Bewußtsein (erstmals 1976). 42 Besonders hervorzuheben ist die Arbeit über die »Neue Rundschau« von Falk Schwarz: Literarisches Zeitgespräch (1972), als Zusammenfassung auch u. d. T.: Die gelenkte Literatur (1976); über das »Innere Reich«: Mallmann: Das Innere Reich (1978) sowie Denkler: Janusköpfig (1976); vgl. zu dieser Zeitschrift auch das Marbacher Magazin 26/1983 u. d. T. Das Innere Reich; über die Wochenzeitung »Das Reich«: Martens: Zum Beispiel »Das Reich« (1972); über »Die neue Literatur« und die »Nationalsozialistischen Monatshefte«: Berglund: Der Kampf um den Leser (1980). Über die Frankfurter Zeitung ist bereits eine

1.2 Zur Forschungslage ger Jahren wissenschaftliche Darstellungen über die Arbeit von Verlagen in der NSZeit. Daß in den beiden vorzüglichen bereits älteren Arbeiten von Wolfram Göbel über den Kurt Wolff Verlag43 und Jochen Meyer über den Steegemann Verlag44 die Zeit der Diktatur nur einen schmalen Raum einnimmt, hat seinen Grund in der Geschichte dieser Verlage selbst, d. h. in der Emigration bzw. der frühen Schließung.45 Mit der Arbeit von Volker Dahm über Das jüdische Buch im Dritten Reich46 und die Geschichte des Verlags Salman Schocken öffnete sich auch die Buchhandelsgeschichte diesem vorher gemiedenen Thema. Die umfassende, anhand umfangreicher Archivmaterialien erarbeite Gesamtdarstellung des bedeutendsten jüdischen Verlages reflektiert den politischen Hintergrund stets mit. Wichtige seitdem erschienene Studien, die Dissertation von Andreas Meyer über Die Verlagsfusion Langen-Müller47, die umfangreichen Aufsätze von Justus H. Ulbricht über Die Literaturpolitik der völkischen Verlage in der Weimarer Republik48 und die Arbeit von Siegfried Lokatis über die Hanseatische Verlagsanstalt49, haben die politisch extreme Rechte des Verlagsspektrums zum Untersuchungsgegenstand gewählt. Meyer macht am Beispiel der Geschichte der beiden Verlage Georg Müller und Albert Langen50 in der Spätphase der Weimarer Republik die institutionellen Voraussetzungen deutlich, die es ermöglichten, daß das neue Unternehmen nach 1933 zu einem den führenden Verlage des Dritten Reichs avancierte. Die Rolle, die der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband als einzige nichtmarxistische Arbeitnehmerorganisation spielte, wird dabei in ihrer Relevanz für die literaturpolitischen Bemühungen der Nationalen Rechten in der Endphase der Republik exemplarisch deutlich. Mit gründlichen Quellenstu-

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47 48 49 50

größere Anzahl von Untersuchungen erschienen; genannt seien hier nur: Becker: Demokratie des sozialen Rechts (1971), Schivelbusch: Intellektuellendämmerung (1982) sowie Gillessen: Auf verlorenem Posten (1986) und Almut Todorow: Das Feuilleton der »Frankfurter Zeitung« in der Weimarer Republik (1996), die mit der Akzentuierung auf die »Rhetorik des Feuilletons« auch für die Zeit des Dritten Reichs Anregungen gibt. – Über das Berliner Tageblatt gibt es die Darstellung von Boveri: Wir lügen alle (1965); über das Hamburger Fremdenblatt die Arbeit von Fromme: Zwischen Anpassung und Bewahrung (1981); über die Kölnische Zeitung die von Oelze: Das Feuilleton der Kölnischen Zeitung im Dritten Reich (1990). Göbel: Der Kurt Wolff Verlag 1913 – 1930. (1975). Meyer: Der Paul Steegemann Verlag. (1975). Über Exilverlage gab es bereits früh eine Reihe zusammenfassender Darstellungen: z. B. Walter: Die Helfer im Hintergrund (1965) und Deutsche Exilliteratur 1933 – 1950 (1972); Brenner: Deutsche Literatur im Exil 1933 – 1947 (1947); Kunoff: Literaturbetrieb in der Vertreibung (1973); Halfmann: Bibliographien und Verlage der deutschsprachigen ExilLiteratur 1933 –1945 (1969). Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich. Teil I: Die Ausschaltung der jüdischen Autoren, Verleger und Buchhändler. Teil II: Salman Schocken und sein Verlag (1979/1982). Die überarbeitete Fassung ist 1993 unter dem Titel »Das jüdische Buch im Dritten Reich« im Verlag C. H. Beck erschienen. – Vgl. auch das Marbacher Magazin 25/1983 u. d. T. In den Katakomben. Jüdische Verlage in Deutschland (1933 –1938). Meyer: Die Verlagsfusion Langen-Müller. (1989). Vgl. Ulbricht: »Die Quellen des Lebens rauschen in leicht zugänglicher Fassung ...« (1990) sowie Ulbricht: Die Bücher des heimlichen Deutschland (1990). Lokatis: Hanseatische Verlagsanstalt. (1992). Vgl. zu Albert Langen auch die weniger differenzierende Darstellung von Abret: Albert Langen. Ein europäischer Verleger. (1993).

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1 Einleitung dien, ergänzt um eine intensive literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der veröffentlichten Literatur, zeigt Ulbricht das breite, sich z. T. untereinander heftig befehdende Spektrum der völkisch-nationalen Verlage in der Weimarer Zeit auf. Lokatis’ Studie behandelt die Geschichte der Hanseatischen Verlagsanstalt als Prozeß einer gelungenen Anpassung an die veränderten politischen Bedingungen in den Jahren 1933 bis 1945. Er beschreibt das Verhalten der Verlagsleiter als Ausfluß der immanenten Logik eines politischen Buchmarketings im »Dritten Reich«, so der Untertitel. Daß dieser Großverlag, der für die Verbreitung nationalsozialistischer Literatur eine äußerst wichtige Rolle einnahm, gleichzeitig der »Hausverlag« wichtiger Autoren der sog. Inneren Emigration wie Ernst Wiechert und Ernst Jünger war, ermöglicht es, wichtige Rückschlüsse auf die keineswegs ausschließlich völkisch-nationale Orientierung eines solchen Verlagskonzerns zu ziehen. Auch die Geschichte des Eugen Diederichs Verlags zwischen 1929 und 194951, von Ulf Diederichs mit Zugriff auf ein sogenanntes Hausarchiv der Verlegerfamilie differenziert als »ein Stück deutscher Firmen- und Zeitgeschichte« dargestellt, wird als »Typus des traditionsreichen Familienverlags im Dritten Reich, eine Verstrickung mit all ihren Folgen«52 beschrieben. Dem gleichen Thema widmete sich Florian Triebel in seiner Dissertation über den Diederichs Verlag in der Zeit von 1930 bis 1949.53 Er nähert sich der Geschichte des Verlags unter der Leitung der Söhne des Gründers und ihrer Anpassung an die neuen politischen Verhältnisse in rein unternehmensgeschichtlicher Perspektive, die das ökonomische Kalkül in den Vordergrund schiebt und dabei die Diskussion der Inhalte der publizierten Bücher ausblendet. Dies führt im Vergleich mit den bisher genannten Arbeiten zu einer ungleichgewichtigen Darstellung, da sie den literarischen Bereich gänzlich ignoriert. Durch die Arbeit von Irene Nawrocka über den S. Fischer Verlag in der Zeit von 1933 bis zur Trennung von S. Fischer und Peter Suhrkamp im Jahre 195054 wird sein wechselvolles Schicksal in Wien, Stockholm, New York und Amsterdam anhand von Quellen und Archivalien deutlicher als bisher. Die Geschichte des Paul Zsolnay Verlags in Wien zwischen 1923 und 1945, die Murray G. Hall55 durch uneingeschränkten Zugang zu dem Verlagsarchiv und damit auf der Grundlage eines umfangreichen Materials facettenreich rekonstruiert hat, ist ebenfalls ein anschauliches Beispiel für eine solche quellengestützte Arbeit, ebenso die Darstellung der Geschichte des Kiepenheuer Verlags56. Langsam sind weitere Verlage dazu übergegangen, die Darstellung ihrer Geschichte anläßlich von Firmenjubiläen Wissenschaftlern anzuvertrauen. Der Springer Verlag ist dafür ein Beispiel57, mit Einzelakzentuierungen auch Reclam58 und, ein Beispiel aus jüngster Zeit, der Piper Verlag59. Wenn sich auch Bertelsmann erst nach einem Eklat

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51 Diederichs: Verleger im Schatten. Der Eugen Diederichs Verlag 1929 bis 1949. Teil 1 –3 (1999/2000). 52 Diederichs: Verleger im Schatten. Teil 1, B 90. 53 Triebel: Der Eugen Diederichs Verlag 1930 – 1949. (2004). 54 Nawrocka: Verlagssitz: Wien, Stockholm, New York, Amsterdam. (2000). 55 Hall: Der Paul Zsolnay Verlag. (1994). 56 Funke: »Im Verleger verkörpert sich das Gesicht seiner Zeit«. (1999). 57 Vgl. Sarkowski: Der Springer Verlag. (1992). 58 Vgl. Reclam. 125 Jahre Universalbibliothek. Hrsg. von Dietrich Bode (1992). 59 Vgl. Ziegler: 100 Jahre Piper. (2004).

1.3 Materiallage entschloß, die Aufarbeitung der Geschichte von Bertelsmann im Dritten Reich60 einer Unabhängigen Historischen Kommission anzuvertrauen, so steht gerade diese Studie im Ergebnis doch als Beispiel für die Ergiebigkeit einer solchen Arbeit, zumal in diesem Fall die einmalige Chance genutzt werden konnte, sie mit einer Gruppe von Forschern als interdisziplinäres Projekt zu konzipieren und, ausgestattet mit den erforderlichen Ressourcen, in begrenzter Zeit durchzuführen. Anders wäre eine solche umfangreiche Forschungsarbeit, als deren Ergebnis sich die Geschichte des Hauses Bertelsmann »als aufschlußreich hinsichtlich des Verhältnisses von Marktrationalität und politischer Opportunität, von unternehmerischem Handlungsspielraum und weltanschaulichem Profil«61 erwiesen hat, nicht durchführbar gewesen. Die Erwartungen, mit einer solchen Darstellung gleichzeitig eine »umfassende Positionierung des Unternehmens innerhalb der deutschen Verlagslandschaft« bieten zu können wie auch eine »Verortung im konfessionellen und literarischen Spektrum sowie im politischen Kommunikationsraum des NS-Regimes«62, ließen sich allerdings selbst unter diesen Rahmenbedingungen nicht befriedigen. Das Fazit des Autorenteams weist auf ein allgemeines Desiderat hin: Für differenzierte Vergleiche fehlen vielfach die notwendigen Materialien. Von Jahr zu Jahr erscheinen weitere Beiträge, die das Gesamtbild verlegerischer Arbeit im Dritten Reich zu differenzieren helfen, sowohl kleinere Aufsätze über einzelne Verlage63 als auch größere Arbeiten, die bisher vernachlässigte Aspekte der Literaturpolitik in den Blick nehmen und somit, über die wertvolle Studie Barbians hinaus, die Basis für weitere Forschungen bieten. Als Beispiel können die Veröffentlichungen von Hans-Eugen und Edelgard Bühler64 dienen. In diesen Rahmen reiht sich auch die vorliegende Studie über den H. Goverts Verlag ein.65

1.3

Materiallage

1.3 Materiallage Das Verlagsarchiv des Claassen Verlags, vormals H. Goverts bzw. Claassen & Goverts, der 1967 an die Econ-Verlagsgruppe verkauft wurde, seit 1991 zum Gerstenberg Verlag gehört und zum 1. Juni 1998 von dem Münchener Verlagshaus Goethestraße übernommen worden ist,66 wurde Anfang der achtziger Jahre dem Deutschen Literaturarchiv Marbach übergeben, das diesen Bestand in den folgenden Jahren um mehrere Zugänge erweitern konnte. Das Archiv umfaßt den Briefwechsel zwischen den Verlegern Eugen Claassen und Henry Goverts mit Autoren und Übersetzern von den Anfängen des Verlags bis 1966, 60 61 62 63

Friedländer/Frei/Rendtorff/Wittmann: Bertelsmann im Dritten Reich. (2002). Friedländer u. a.: Bertelsmann im Dritten Reich, S. 10. Friedländer u .a.: Bertelsmann im Dritten Reich, S. 11. Vgl. z. B. Barbian: Zwischen Dogma und Kalkül. Der Herder Verlag und die Schrifttumspolitik des NS-Staates (2001); Sarkowski: Die »Insel-Bücherei« unter dem Hakenkreuz (2001). 64 Vgl. Bühler: Der Frontbuchhandel 1939 – 1945 (2002) sowie Bühler/Bühler: Die Wehrmacht als Verleger (2002). 65 Vgl. auch Wallrath-Janssen: Quellenüberlieferung zum Verlagswesen 1945 – 1949. (1997). 66 Unter dem Namen Claassen besteht der literarische Verlag bis heute fort.

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1 Einleitung nach Autoren in Mappen sortiert, in einer erstaunlichen Vollständigkeit. Zwar wurde, wenn es zu keinem Vertragsabschluß kam, im Allgemeinen die Korrespondenz nach zwanzig Jahren fortgeworfen,67 doch gab es offensichtlich auch Ausnahmen. Bei der Renovierung des Verlagshauses in Hamburg 1962 wurde manches, z. T. wohl aus Nachlässigkeit, vernichtet,68 darunter vermutlich auch vereinzelte Autorenbriefwechsel aus den Jahren bis 1945.69 Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß einige Briefkonvolute gezielt, z. T. wohl direkt vor der Besetzung Hamburgs durch die englischen Truppen, verbrannt wurden. Dies trifft ganz allgemein auf den Briefwechsel mit den staatlichen und parteiamtlichen Dienststellen zu: Diese Korrespondenz ist im Verlagsarchiv nur gewissermaßen »zufällig«, vor allem in Abschriften an Autoren, erhalten.70 Das bedauerliche Ergebnis der regulären Kassation nach zwanzig Jahren ist ebenfalls der Verlust aller Geschäftsbriefe im engeren Sinn, die Herstellung, Vertrieb und Werbung betreffen: Die Briefwechsel mit Druckereien und Bindereien, mit Verlagsvertretern oder Zeitschriften- und Zeitungsredaktionen sind nicht erhalten, auch nicht der mit der Geschäftsstelle des Börsenvereins z. B. wegen Werbeannoncen, so daß die ökonomische und buchhändlerische Seite sich nur indirekt erschließen ließ und z. B. eine Rekonstruktion von Kalkulationen nicht möglich war. Trotz solcher Einschränkungen bietet dieses Verlagsarchiv ein großes Spektrum an dokumentarischem Material. Es umfaßt – neben dem Briefwechsel zwischen Autoren und Verlegern – interne Gutachten, Mappen über »nicht verwirklichte Verträge«, Aufstellungen über Produktionsverlagerungen und Kriegsverluste, ebenso gedruckte Materialien wie Verlagsprospekte und vereinzelt auch Rezensionen. Aus dem Nachlaß Hilde Claassens kamen biographische Dokumente sowie private Briefe Claassens an seine Frau hinzu.71 Dieses Archiv eröffnet eine seltene Chance: Die zahlreichen Briefe der Verleger mit den Autoren sind Spiegelbild eines vertrauensvollen Verhältnisses und damit Dokumente

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67 Laut brieflicher Auskunft der Verlagsangestellten Hedwig Vortmann an Manfred Schlösser vom 31.5.1964. (Cl.A.) 68 Vgl. Hilde Claassen an Goverts, 12.3.1964: »Als vor zwei Jahren das Verlagshaus renoviert wurde, haben Frau Wulfram und Frau Vortmann einiges Material, das nicht mehr benötigt wird und das, wie sie mit Recht glaubten, lediglich Ballast war, der unser Lager im Keller blockierte, zum Einstampfen weggegeben, darunter auch die alten Vertreter-Reisemuster [...] aus der Vorkriegszeit.« 69 Auf einigen wenigen Autorenmappen, in denen Briefe ab dem 1. Januar 1945 aufbewahrt wurden, fand sich z. B. ein handschriftlicher Vermerk »Bestand bis 1944 im Keller ausgebündelt«; diese Konvolute mit Briefen von vor 1945 fehlen heute im Gesamtbestand. 70 Mit einer reichlich vagen – und angesichts der akribischen Aktenführung der Autorenkorrespondenz seit 1934 wenig plausiblen – Erklärung versuchte Claassen im März 1949 in einem Brief an Horst Lange zu rechtfertigen, weshalb der Briefwechsel mit dem früheren Kriegsverwaltungsrat Jürgen Eggebrecht, der die Zensurstelle der Wehrmacht geleitet hatte, nicht erhalten sei: Es habe sich herausgestellt, »daß diese Akten nicht mehr vorhanden sind. Gegen Ende des Krieges habe ich dieses und manches andere vernichtet, da es ja damals nicht mehr interessierte und wir ohnehin an Platzmangel leiden.« (Claassen an Horst Lange, 31.3.1949) 71 Für die Zeit zwischen 1945 und 1948 enthält das Archiv darüber hinaus einen intensiven Briefwechsel zwischen den beiden Verlegern Claassen und Goverts, der für die vorliegende Arbeit nicht ausgewertet werden konnte.

1.3 Materiallage jenes »Zusammenrückens von Gleichgesinnten« unter der Diktatur. In erstaunlicher Offenheit geschrieben, offensichtlich nur in seltenen Fällen mit Hemmungen wegen einer möglichen Postkontrolle, geben sie nicht nur eine große Fülle von Informationen über den Verlagsalltag und damit detaillierten Einblick in Planungen und interne Diskussionen, sondern vermitteln gleichzeitig in großer Anschaulichkeit auch das Atmosphärische der jeweiligen Entscheidungssituation. Daß die Person Claassens in der Gesamtdarstellung eine deutlichere Kontur erhält und sein Anteil an der Verlagsarbeit dadurch überproportional gewichtet erscheint, liegt an der Quellenlage. Nicht nur führte Claassen den bei weitem größeren Teil der Verlagskorrespondenz mit den Autoren. Von ihm sind darüber hinaus Dokumente aus dem privaten Nachlaß in das Verlagsarchiv übernommen worden. Goverts’ private Korrespondenz von vor 1943 wurde bei den Bombardierungen Hamburgs im Sommer 1943 vernichtet, als seine Wohnung völlig ausbrannte; sein privater Nachlaß wurde nach seinem Tod durch Einzelverkäufe verstreut. Einen geringen Teil dieser Briefe hat Hilde Claassen 1970 in dem Briefband Eugen Claassen. In Büchern denken zum 75sten Geburtstag des 1955 gestorbenen Verlegers herausgegeben: in einer erklärtermaßen subjektiven Auswahl, die die Person Eugen Claassens in den Vordergrund stellt und mit der Hilde Claassen »die Intentionen, die den Verleger leiteten, in einer möglichst vollständigen Form«72 verdeutlichen wollte. Daß die Geschichte des Verlags und damit auch die Zeitgeschichte dabei »nur immer wieder blitzartig erhellt«73 würde, hat die Herausgeberin selbst gesehen. Die Behauptung allerdings, daß Auslassungen stets nur »Wiederholungen und Vertragsabmachungen, Bücherwünsche, Ankündigungen, Verabredungen« beträfen und nur »in wenigen Fällen [...] der Name noch lebender Personen eliminiert«74 worden sei, hält einer Überprüfung anhand des Archivs ebensowenig stand wie das Stereotyp, »Bomben, Brände, Umzüge, beschränkte Raumverhältnisse« hätten den ursprünglichen Bestand vermindert und nur »wenige und meist kurze geschäftliche Korrespondenzen« hätten sich »vollständig erhalten«75. Die im Claassen Archiv im DLA aufbewahrten Briefe ergeben in ihrer Gesamtheit ein weitaus umfassenderes Bild von der Praxis der Verlagsarbeit in der Zeit des Dritten Reichs und den Jahren danach, als solche Einschränkungen vermuten lassen. Weiter ergänzen allerdings ließ sich das Quellenmaterial da, wo der Arbeitsaufwand zu rechtfertigen war, um Schriftsteller-Nachlässe76 und um einzelne Funde in den erreichbaren Beständen zeitgeschichtlicher Archive, soweit sie für die Verlagsgeschichte interessant zu sein versprachen. Die Einsicht in verschiedene Akten des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda und der Reichsschrifttumskammer sowie in die Korrespondenz des Präsidenten der Reichsschrifttumskammer Johst im Bundesar-

72 73 74 75 76

In Büchern denken. Vorwort, S. 8. In Büchern denken. Vorwort, S. 7. In Büchern denken. Vorwort, S. 13. In Büchern denken. Vorwort, S. 13. Eingesehen habe ich die Nachlässe Emil Barths im Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf; Hans Henny Jahnns in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg; Elisabeth Langgässers und Dolf Sternbergers im Deutschen Literaturarchiv Marbach und Horst Langes in der Monaciensia-Sammlung der Stadtbibliothek München.

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1 Einleitung chiv Koblenz77, die mittlerweile in das Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde transferiert worden sind, führte aufgrund der unvollständigen Überlieferung insgesamt zu wenig neuen Erkenntnissen; ebenso die in die Akten der Zensurstelle des Oberkommandos der Wehrmacht im Militärarchiv Freiburg. Interessante Einzelfunde, wenn auch nicht für alle Verlagsautoren, ergaben sich in den Personalakten der Reichsschrifttumskammer im Berlin Document Center78, in denen z. B. auch einzelne Briefe des H. Goverts Verlags erhalten sind. Recherchen nach einem eigenen Aktenbestand zum H. Goverts Verlag innerhalb der Unterlagen der Reichsschrifttumskammer, Gruppe Buchhandel im Berlin Document Center blieben ergebnislos.79 Diese umfangreichen Nachforschungen in zeitgeschichtlichen Archiven erwiesen sich als unterschiedlich ergiebig, führten in einzelnen Fällen zu wichtigen Ergänzungen und bestätigten im Detail immer wieder die anhand des Verlagsarchivs rekonstruierte Geschichte des Verlags. Als Quelle für die offiziellen Vorgaben der nationalsozialistischen Schrifttumspolitik wurden auch die Vertraulichen Mitteilungen für die Fachschaft Verlag herangezogen, die, wenn auch mit kleinen Lücken, im Archiv des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt/M. einzusehen sind,80 ebenso der redaktionelle Teil des Börsenblatts, der die Änderungen in den literaturpolitischen Vorgaben, soweit sie die Verleger betraf, gut dokumentiert. Für die Einschätzung der Verlagswerbung erwies sich der Anzeigenteil des Börsenblatts als sehr illustrativ; eine systematische Auswertung von Zeitschriften und Zeitungen war diesbezüglich nicht nur wegen des damit verbundenen Arbeitsaufwandes, sondern vor allem aufgrund des schwierigen Zugangs81 nicht möglich. Auf eine umfassende Analyse des Bereichs der öffentlichen Wirkung des Verlags in Form von Rezensionen mußte verzichtet werden, wenn sich dieser Aspekt auch anhand von Beleghinweisen in der Verlagskorrespondenz im Claassen Archiv prinzipiell erschließen ließe. Nicht jeder behördliche Vorgang, auch nicht in einer Diktatur, spiegelt sich in den Akten wider. Vieles wurde auf informeller Ebene geregelt. Auch deshalb ist es wichtig, Zeitzeugen in ihren Erinnerungen, seien diese schriftlich als Autobiographien überliefert oder in persönlichen Gesprächen übermittelt, ernst zu nehmen. Jenen Interviewpartnern aus dem Umfeld des Verlags, mit denen ich mich noch unterhalten konnte – Dr. Hilde Claassen, die Witwe des Verlegers und Verlagsleiterin von 1955 bis 1967; die Autoren Martin Beheim-Schwarzbach und Dr. Rudolf Krämer-Badoni sowie der Ham-

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77 Vor allem innerhalb des Bestandes R 55 (Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda) und R 56 V (Reichsschrifttumskammer, incl. der Korrespondenz des Kammerpräsidenten Johst). – Zum Umfang der Überlieferung des Aktenbestands zur nationalsozialistischen Literaturpolitik vgl. Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 12f. 78 Seit 1994 untersteht das Berlin Document Center dem Bundesarchiv. 79 Vgl. dazu auch Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 12 und S. 218. 80 Vertrauliche Mitteilungen der Fachschaft Verlag/ab 1938: Vertrauliche Mitteilungen für die Fachschaft Verlag im Bund Reichsdeutscher Buchhändler/ab Nr. 17 vom 17.11.1936: [...] der Gruppe Buchhandel in der Reichsschrifttumskammer. – Das Historische Archiv des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels besitzt eine Kopie der nahezu vollständigen Sammlung im Staatsarchiv Leipzig. 81 Bei der Archivierung von Zeitschriften und Zeitungen – z. B. auch im Zeitschriften-Archiv Dortmund – wird vor der Bindung i. d. R. der Anzeigenteil herausgenommen; Beilagen werden ebenfalls nicht aufbewahrt.

1.3 Materiallage burger Buchhändler Felix Jud; vor allem auch Helmut Frielinghaus, der dem Verlag bis 1988 vorstand – bin ich für ihre Bereitschaft zum Gespräch und für ihre Offenheit zu Dank verpflichtet. Wenn auch die Erinnerungen an Vorgänge, die zum Zeitpunkt dieser Gespräche 40 bis 50 Jahre zurücklagen, im Einzelfall verblassen und insgesamt eine eigene Quellenschicht darstellen, so können sie doch, zusammen mit den zeitgenössischen Quellen, hilfreich für Einschätzungen im Detail sein. Für die Darstellung erschien mir der ausführliche Gebrauch von brieflichen Zitaten ein Vorzug, auch wenn dies deutlich spürbare Auswirkungen auf den Umfang der Arbeit hatte. Über den Belegcharakter hinaus vermitteln diese Quellen viel von der Atmosphäre jener Jahre zwischen 1934 und 1945, anschaulicher und besser, als manche Erörterung über Erfolge und Mißerfolge, Motive, Selbsttäuschungen und Widersprüche es vermag.

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Verlagsgründung unter der Diktatur

Der von Henry Goverts und Eugen Claassen am 20. Dezember 1934 in Hamburg gegründete Verlag läßt sich dem Typus Individualverlag zurechnen. Auch der Goverts Verlag war in starkem Maße geprägt von den Persönlichkeiten der beiden Verleger. Ihre jeweiligen individuellen Erfahrungen und Fähigkeiten, ihr literarischer Geschmack, in dem sie keineswegs immer übereinstimmten, ihre politischen Orientierungen und Handlungsmaximen hatten starken Einfluß auf das Programm und die Gesamtentwicklung des Verlags. Von der intellektuellen Ausstrahlung des HGV, die in intensivem privaten Kontakt zu den Autoren wesentlich von der persönlichen der Verleger mitbestimmt wurde, hing zu einem nicht geringen Teil die Wertschätzung des Verlags bei den Autoren und im Buchhandel ab. Zunächst sollen biographische Hintergründe, Herkunft, Bildungsgang und Berufserfahrungen zusammengetragen werden, um das soziale und geistige Milieu, dem die Verlagsgründer entstammten und das ihre Wertorientierungen und Interessen geprägt hatte, zu rekonstruieren. Die Biographien und der Versuch eines Porträts der beiden Verleger versuchen dem Rechnung zu tragen. Die Gründung eines Verlags erschien Goverts wie Claassen als Ausweg aus einer beruflichen Situation, die beide aufgrund der geänderten politischen Bedingungen nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten als unbefriedigend, ja perspektivlos empfanden. Aus den Begleitumständen der Verlagsgründung werden ihre Motive deutlich. Ohne diese Vorgeschichte sind die programmatischen Orientierungen und Handlungsmaximen der späteren Jahre nicht erklärbar; ebensowenig die grundsätzliche Entscheidung für eine Verlagsgründung zu einem Zeitpunkt, zu dem wesentliche Elemente nationalsozialistischer Kulturpolitik sich bereits herauskristallisiert hatten. 2 Verlagsgründung unter der Diktatur

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Vorgeschichte: Zu den Biographien Eugen Claassens und Henry Goverts’

2.1 Vorgeschichte: Zu den Biographien Eugen Claassens und Henry Goverts’ Zum Zeitpunkt ihrer gemeinsamen Verlagsgründung waren Henry Goverts und Eugen Claassen beide bereits über 40 Jahre alt: Goverts wurde 1892, Claassen 1895 geboren. Ihre Kindheit und Jugend war also noch in die Kaiserzeit gefallen. Sie hatten am Ersten Weltkrieg teilgenommen, in den ersten Nachkriegsjahren studiert und das Studium mit einer Promotion abgeschlossen. Beide hatten sich ursprünglich mit Plänen für eine wissenschaftliche Laufbahn getragen, die sich nicht verwirklichen ließen, dann über zehn Jahre lang in verschiedenen Bereichen gearbeitet: Claassen war zunächst Hauslehrer, dann literarischer Leiter eines Verlags; Goverts, der noch drei Jahre als Assistent an der Universität blieb, konnte sich aufgrund seines großbürgerlich vermögenden Hintergrundes ein Leben als Privatier leisten und engagierte sich auf vielfältige Weise im politischkulturellen Leben der zwanziger und frühen dreißiger Jahre.

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2.1 Vorgeschichte: Zu den Biographien Eugen Claassens und Henry Goverts’

2.1.1 Eugen Claassen Elternhaus und Schulzeit: »Wir waren in Bildung befangen« Eugen Claassen1 wurde am 14. Februar 1895 als Jewgenij Schmujlow in Zürich geboren. Sein Vater, Wladimir Schmujlow, war russischer Emigrant aus der Ukraine und väterlicherseits vermutlich jüdischer Abstammung.2 Die Mutter, Maria Claassen, genannt Ria, entstammte einer ostpreußischen Kaufmannsfamilie. In Zürich waren beide Mitglieder einer russischen sozialistischen Studentengruppe, deren Leitbilder die ebenfalls dort lebenden Lenin, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin waren. Trauzeuge bei der 1893 in London stattfindenden Eheschließung war Friedrich Engels.3 Seit 1898 wuchs Jewgenij Schmujlow, von den Eltern Shenja genannt, in München auf. Der Vater, dessen Beruf in der Geburtsurkunde des Sohnes mit »Schriftsteller«, in der Taufurkunde von 1901 mit »Chemiker« angegeben ist, übernahm dort die Leitung der russischen Abteilung der Münchener Rückversicherung. Die bescheidene Wohnung war »der Mittelpunkt eines bewegten literarischen Lebens«4. Hauptsächlich die Mutter bestimmte die geistige Atmosphäre: Ria Claassen war befreundet mit Hugo von Hofmannsthal5, Ricarda Huch sowie Karl und Hanna Wolfskehl, über die sie Verbindungen zum George-Kreis bekam. Die russisch-orthodoxe Taufe der beiden Kinder Jewgenij und Hertha 1901, endgültig der Übertritt Ria Claassens vom evangelisch-lutherischen zum katholischen Glauben 1907 entfremdete die Eltern vom sozialistischen Milieu der Studienjahre. Über die Entwicklung des jungen Jewgenij gibt es so gut wie keine Quellen. Nach den Erzählungen der Eltern soll er ein »kluges, unbefangenes, scharf beobachtendes Kind«6 gewesen sein, erinnerte sich die Schwester Hertha. In ihrem Bericht erscheint der Bruder als sehr selbständig und eigenwillig: er habe »immer sein eigenes Leben« geführt, an dem »nur wenige«7 hätten teilnehmen dürfen. Die Schulausbildung schloß 1 Die biographischen Angaben stützen sich im wesentlichen auf Hilde Claassens »Notizen zur Biographie Eugen Claassen« (In Büchern denken, S. 665 – 669; auch in: MM 19/1981, S. 81 – 85) und das Typoskript »Das Bild der Eltern und ihre Welt« von Hertha Claassen, der jüngeren Schwester Eugen Claassens (Cl.A.), sowie Claassens Angaben in Anlagen zu Fragebögen der Reichskulturkammer. 2 So Hilde Claassen wörtlich in den Notizen zur Biographie Eugen Claassens (In Büchern denken, S. 665). 3 Hilde Claassen und Hertha Claassen geben übereinstimmend an, daß die Eheschließung mit einem Ausländer genehmigungspflichtig war und in diesem Fall vom Preußischen Staat nicht genehmigt worden wäre: Als Sozialist sei Wladimir Schmujlow »etwas anrüchig« gewesen (so Hertha Claassen: Das Bild der Eltern und ihre Welt). – In der Anlage eines Briefes an das Standesamt Hamburg vom 5.1.1939 (Kopie im Cl.A.) ist die deutsche Übersetzung der kirchlichen Heiratsurkunde erhalten, bestätigt vom Kaiserlich Russischen Generalkonsulat in London, in der Engels unter seinem Exil-Pseudonym »Carl Veit« als Trauzeuge genannt ist. 4 Hilde Claassen: Notizen zur Biographie Eugen Claassens, S. 666. 5 Vgl. die Lizentiatsarbeit von Claudia Abrecht: Ria Schmujlow-Claassen und Hofmannsthal: Geschichte ihrer künstlerischen Beziehungen. Ein Frauenleben der Jahrhundertwende. 6 Hertha Claassen: Das Bild der Eltern und ihre Welt. 7 Hertha Claassen: Das Bild der Eltern und ihre Welt.

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2 Verlagsgründung unter der Diktatur Jewgenij Schmujlow nach dem zeitweiligen Besuch des Max-Gymnasiums, später eines Realgymnasiums in München 1914 mit dem Abitur ab. Aus der Schulzeit rühren Freundschaften mit Ernst Heimeran, Gustav End und Wolfgang Petzet.8 Der Beginn des Krieges bedeutete für die Familie Schmujlow das jähe Ende eines in der Kaiserzeit auch für politische Flüchtlinge gesicherten Lebens, trotz finanziell bescheidenen Rahmens. Der Alltag dieses ganz von der ästhetischen Atmosphäre eines in der deutschen bildungsbürgerlichen Tradition stehenden Elternhauses, in engem Kontakt zum reichen kulturellen Leben Münchens bis 1914, änderte sich schlagartig. Als »feindliche Ausländer« standen sie unter Meldepflicht. Der Vater wurde von der Münchener Rückversicherung nach Schweden geschickt, um deren internationale Verbindungen vom neutralen Ausland aus aufrechtzuerhalten. Obwohl Shenja Schmujlows Eingabe auf Einbürgerung bereits erfolgt war, war ihm ein Studium, sogar der Besuch von Bibliotheken, verwehrt; eine freiwillige Meldung zum Militär war nicht möglich. Im zweiten Kriegsjahr ging er zu Verwandten nach Berlin, besuchte als »Schwarzhörer« MathematikVorlesungen und arbeitete an der Feuilleton-Korrespondenz Oscar Kühl/Paul Landau9 mit. Bereits bei dieser Tätigkeit konnte er offensichtlich seinen philosophischen Neigungen nachgehen; im Archiv sind z. B. Exzerpte des Studenten aus dieser Zeit zum Thema »Wahrheit« erhalten. Über soziale Kontakte aus dieser Zeit ist wenig überliefert. Hilde Claassen berichtet von der engen Freundschaft, die ihn mit Friedrich Wilhelm Foerster10 und dessen Bruder Karl11 verbunden habe. Seine Begeisterung für alles Gärtnerische mag in den wiederholten Spaziergängen in den von Karl Foerster in Bornim weiträumig angelegten Gärten ihren Ausgangspunkt gehabt haben.12 Im März 1917 wurde seiner freiwilligen Meldung zum Kriegsdienst stattgegeben. Nachdem Jewgenij Schmujlow im Juli Reichsdeutscher geworden war, wurde ihm im Oktober 1917 die Genehmigung erteilt, anstelle des bisherigen Namens den deutschen Vornamen Eugen und den mütterlichen Familiennamen Claassen zu führen.13 Im Sommer 1918 wurde er an der Marne schwer verwundet.

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8 Ernst Heimeran wurde später ebenfalls Verleger; Gustav End leitete den Deutschen Bücherbund, Wolfgang Petzet die Münchner Kammerspiele. 9 Oscar Kühl und Gertrud Kühl-Claassen, die Schwester Ria Claassens, gaben zusammen mit Paul Landau in Berlin eine Feuilleton-Korrespondenz heraus. 10 Pädagoge und Pazifist (1869 –1966). 11 Gärtner und Gartenbuchschriftsteller (1874 – 1970). 12 Vgl. Hilde Claassen: Notizen zur Biographie Eugen Claassens. In: In Büchern denken, S. 667. 13 »Auf Grund des Allerhöchsten Erlasses vom 12. Juli 1867 (Gesetz-Sammlung Seite 1310) wird dem Jewgeny Schmujlow [sic], geboren am 14. Februar 1895 in Zürich die Genehmigung erteilt, an Stelle des Familien- und Vornamens Jewgeny Schmujlow fortan den Namen Eugen Claaßen zu führen.« (Genehmigung I B. 19203 des Königlichen Regierungspräsidenten in Potsdam vom 25. Oktober 1917 – Cl.A.). – Vgl. dazu auch Claassens Angaben in Anlagen zu den verschiedenen Fragebögen, die ab dem Frühjahr 1935 an die Mitglieder des Bundes Reichsdeutscher Buchhändler für die Eingliederung in die Fachschaften der RSK, Gruppe Buchhandel versandt wurden: »Da ich an die deutsche Front ging, sollte aus meinen Papieren die russische Herkunft nicht ersichtlich sein.« – Die Schreibweise des Geburtsnamens der Mutter variiert in den verschiedenen Dokumenten. Claassen selbst unterschrieb mit »Claaßen«.

2.1 Vorgeschichte: Zu den Biographien Eugen Claassens und Henry Goverts’ Rückblickend auf seine Jugend und das geistige Milieu, in dem er aufgewachsen war, hat Eugen Claassen über vierzig Jahre später, zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, geschrieben: »Ich war gerade zum Studium bereit, als der erste Krieg ausbrach. Ich war, wie viele in Deutschland, in Bildung befangen. Ich wußte wenig vom Leben der Arbeit, von Wirtschaft, Technik, von Politik und den realen Kräften, die die Geschichte bewegen. Dieser naive Glaube an behütete geistige Werte, an Philosophie und Kunst brach zusammen. Wir begannen alle nach dem Krieg neu. Wir verloren die bürgerliche Sicherheit.«14 Trotz dieser Verunsicherung begann auch Claassen, wie im Bildungsbürgertum traditionell üblich, mit einem geisteswissenschaftlichen Studium.

Studium: »Lebendige Gegensätze« In den Monaten der politischen Wirren der Münchner Rätezeit begann Claassen 1919 in München mit dem Studium der Philosophie und Soziologie, Nationalökonomie und Staatswissenschaften. Erkenntnistheorie und Fragen der Ethik scheinen ihn in den Vorlesungen und Seminaren Moritz Geigers und Max Webers15 in besonderem Maße beschäftigt zu haben. Die privaten Kontakte in dieser kurzen Studienzeit waren heterogen und wohl auch spannungsreich, wie Hilde Claassen sich im Gespräch erinnerte.16 Vom Elternhaus her den Kreisen um die Familien Wolfskehl und Hofmannsthal verbunden, mit deren Kindern er noch aus der Jugendzeit befreundet war, kam er über seinen Schulfreund Wolfgang Petzet in engeren Kontakt zu dem Bund freier Menschen, in dem der Schriftsteller Oskar Maria Graf einen großen Freundeskreis von Arbeitern, Studenten und Künstlern um sich scharte. Hier lernte er auch seine spätere Frau Hilde Brüggemann kennen, die mit den Schriftstellerinnen Regina Ullmann und Hertha König zusammenwohnte, Kunstgeschichte studierte und im Anschluß an Studium und Promotion in München eine Kunstgalerie mitbegründete.17 Über sie kam er in Kontakt mit zeitgenössischen Malern wie Emil Nolde, Ernst Kirchner und George Grosz. Bereits 1922 wurde Claassen mit einer umfangreichen philosophischen Arbeit über Realität und Idealität. Ein erkenntnistheoretischer Versuch zur Realgrundierung der Idealität promoviert.18 Nach dem Abschluß des Studiums plante er, auch auf den Rat seiner akademischen Lehrer hin, zunächst eine wissenschaftliche Karriere. Eine Zusammenfassung seiner Dissertation trug er im Frühjahr 1923 an den Universitäten

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Eugen Claassen: Über das Verlegen, S. 16. Vgl. Stölting: Akademische Soziologie in der Weimarer Republik. So Hilde Claassen im Gespräch mit der Verf. Hilde Brüggemann, geb. 21.4.1897 in Linnich bei Aachen, entstammte einer protestantischen Pfarrerfamilie, studierte in München Germanistik, Romanistik und Kunstgeschichte und schloß ihr Studium mit einer Dissertation über Herder ab. Sie war Mitbegründerin der Galerie Franz M. Zatzenstein/Matthiesen, deren Inhaber 1934 nach London emigrierten. Bis zu ihrer Eheschließung mit Eugen Claassen arbeitete sie in München und Berlin an Ausstellungen über Daumier und Toulouse-Lautrec mit. 18 Eugen Claassen: Realität und Idealität. Ein erkenntnistheoretischer Versuch zur Realgrundierung der Idealität. München: Phil. Diss. München 1922 (ungedr.).

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2 Verlagsgründung unter der Diktatur Stockholm, Uppsala und Lund in Schweden vor.19 Aus dieser Zeit ist ein weiteres Vortragsmanuskript über Religion und Wirtschaftsethik20 erhalten. Die Inflationszeit entzog der ohnehin nicht vermögenden Familie Claassen die wirtschaftlichen Grundlagen.21 Claassen nahm eine Anstellung als Hauslehrer auf dem bayerischen Landgut des dänischen Dirigenten und Komponisten Paul von Klenau und seiner Frau Anne-Marie an, einer Schwester des Inhabers der Frankfurter Zeitung, Heinrich Simon. Diese Tätigkeit war als Vorbereitungszeit auf eine philosophische Habilitation gedacht, ein Plan, den er ein Jahr später aus ökonomischen Gründen aufgeben mußte. Als geradezu idealer Ausweg aus dieser schwierigen, beruflich perspektivlosen Situation, wie sie für viele seiner Generation typisch war, muß dem jungen Privatgelehrten das Angebot Heinrich Simons erschienen sein, Mitarbeiter in jenem publizistischen Verlag zu werden, der dem Verlag der Frankfurter Zeitung (FZ) im Jahre 1921 angegliedert worden war und der sich noch im Aufbau befand.

Societäts-Verlag: »... in großen Zusammenhängen denken« Claassen übernahm 1925 das Lektorat, kurz darauf die literarische Leitung des Societäts-Verlags in Frankfurt am Main. Bis zu seinem Ausscheiden im Frühjahr 1935 war er für Programmgestaltung und Lektorat, Kalkulation, Herstellung und Werbung gleichermaßen zuständig. Über den Buchverlag der Frankfurter Zeitung, der in den vier Jahren seines Bestehens mit einer Vielzahl von Broschüren vor allem der Mitarbeiter der FZ hervorgetreten war und zu diesem Zeitpunkt als Teil der Frankfurter SocietätsDruckerei G.m.b.H. die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Mutterverlags teilte,22 gibt es keinerlei Literatur.23 Aus der Gesamtbibliographie24 lassen sich allerdings an dem jährlichen Produktionsumfang und den Akzentuierungen im Programm die Konsolidierungsbemühungen unter Claassens Leitung im Groben ablesen.25

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19 Eugen Claassen: Die objektivistische Tendenz in der modernen Erkenntnistheorie. Ms., datiert April/Mai 1923 (Cl.A.). 20 Eugen Claassen: Religion und Wirtschaftsethik. Vortrag. Ms., undatiert (Cl.A.). 21 Hertha Claassen berichtet, daß das Rosenbergerhaus im Bayerischen Wald, dessen Kauf das Ergebnis intensiver Beschäftigung Ria Claassens mit Adalbert Stifter gewesen war und in dem die Familie viele Sommer verbracht hatte, in der Inflationszeit für die Eltern nicht mehr zu halten gewesen sei. Als es 1923 verkauft worden sei, habe das ausbezahlte Geld »nur noch für eine kurze Pelzjacke für meinen Vater und einen Sack von weißen Bohnen gereicht«. (Hertha Claassen: Das Bild der Eltern und ihre Welt) 22 Vgl. Schivelbusch: Intellektuellendämmerung. Darin: Die Frankfurter Zeitung, bes. S. 44. 23 Das Archiv des Verlags ist wie das der Zeitung kurz vor Kriegsende in Frankfurt/M. verbrannt; die ausgelagerten Teile sind verschollen. – Vgl. auch Gillessen: Auf verlorenem Posten, der allerdings die Geschichte des Societäts-Verlags nicht behandelt. 24 Gesamtbibliographie des Societäts-Verlags (DLA). 25 Einen Einblick in die Abläufe der programmatischen Entscheidungen, allerdings nur für die frühen 30er Jahre, geben zudem die Berichte Claassens über den jährlichen Geschäftsgang, über Publikations- und allgemeine Arbeitspläne an die Mitglieder des Aufsichtsrats und vereinzelte Gutachten für Heinrich Simon, die im Cl.A., als Zugang aus dem privaten Nachlaß Claassens, erhalten sind.

2.1 Vorgeschichte: Zu den Biographien Eugen Claassens und Henry Goverts’ Das intellektuelle Klima im Umkreis der Frankfurter Zeitung, von den Beteiligten als Hort der liberalen Tradition in Deutschland seit ihrer Gründung durch Leopold Sonnemann im Jahre 1856 verstanden, ist oft beschrieben worden: als Teil einer »sorgfältigen Legendenpflege«26 oder in kritischer Absicht27. Es ist unbestritten, daß diese Zeitung in ihrer politischen Orientierung für freiheitliche Gesinnung, Toleranz, Humanität stand und daß gerade das Feuilleton in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle für die bürgerlichen Intellektuellen Deutschlands spielte, besonders auch für die jüdische Intelligenz. Über den liberalen Konsens hinaus, der einem strengen Legalitätsdenken verpflichtet war und die Grundlagen der Weimarer Republik stützte, kamen moderne und im politischen Spektrum linke Meinungen, aber auch konservative zu Wort.28 Die große Titelzahl des Verlags in den Jahren 1924 mit 30 und 1925 mit 42 Titeln, meist Broschüren der Mitarbeiter der Frankfurter Zeitung, wurde unter Claassens Leitung in den nächsten zehn Jahren nicht mehr erreicht. Die durchschnittliche Zahl an jährlichen Veröffentlichungen pendelte sich nach gravierenden Einbrüchen in den Jahren bis 1928 und einer erstaunlich hohen Produktionszahl im Jahre 1929 von 29 Titeln – 1926: 12 Titel; 1927: 10; 1928: 7 – auf ca. 20 Titel pro Jahr ein, was als Versuch einer programmatischen Konsolidierung im Sinne eines eigenständigen Buchverlags gewertet werden muß. Die Programmbreite, die vor 1925 bereits angelegt war und die Bereiche Wirtschaftspolitik und juristische Grundlagen, nationale politische Geschichte seit der Revolution 1848, jüngste Zeitgeschichte, Sozialpolitik und Länderberichte umfaßte, auch schon in Form von Reiseberichten, wurde unter Claassen beibehalten; in wesentlichen Aspekten allerdings bemühte er sich offensichtlich um eine inhaltliche Vertiefung bei gleichzeitiger Erweiterung des Themen- und Gattungsspektrums. Der Bereich der soziologischen Studien erhielt, über die schon vor 1925 breit vertretene Broschürenliteratur über sozialpolitische Fragen hinaus,29 durch ein so bahnbrechendes Werk wie die Studie Siegfried Kracauers Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland oder auch Lenka von Koerbers Menschen im Zuchthaus (beide 1930) stärkeres Gewicht. Zeitkritische Veröffentlichungen zum deutschen poltischen Alltag reichten, besonders im Übergang zu den dreißiger Jahren, von Auseinandersetzungen mit nationalkonservativem Gedankengut in Broschürenform30 über kulturpolitische Streitschriften31 bis zu ausländischen Studien über die Krise der bürgerlichen Kultur in

26 Schivelbusch: Intellektuellendämmerung, S. 45. – Vgl. Margaret Boveri: »Es gibt, umgeben von einer unsichtbaren Hülle des noli me tangere, eine Legende der »Frankfurter Zeitung«.« (Boveri: Joseph Roth und die Frankfurter Zeitung, S. 786) 27 Vgl. Becker: Demokratie des sozialen Rechts, und Schivelbusch: Intellektuellendämmerung, sowie die bei beiden genannte Literatur. – Vgl. in diesem Zusammenhang die umfassende Studie Gillessens: Auf verlorenem Posten. 28 Vgl. zu den Mitarbeitern des Feuilletons der Frankfurter Zeitung zwischen 1919 und 1929 auch die Studie Todorows: Das Feuilleton der »Frankfurter Zeitung« in der Weimarer Republik. Zur Grundlegung einer rhetorischen Medienforschung, bes. S. 83 – 163. 29 Z. B. Marianne Weber: Die Idee der Ehe und die Ehescheidung (1929). 30 Z. B. Alarmruf aus Österreich. Ein Blick hinter die Kulissen der Reaktion (1931); Friedrich Franz von Unruh: National-Sozialismus (1931). 31 Wolfgang Petzet: Verbotene Filme (1931).

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2 Verlagsgründung unter der Diktatur Deutschland32; sie wurden ergänzt um eine intensive Behandlung des Verhältnisses Deutschland – Frankreich33. Daneben erschienen auch differenzierte Darstellungen spezifisch nationaler politischer Auffassungen in anderen Ländern und Regionen, wie dem Vorderen Orient34, der Sowjetunion35 oder Italien36. Die Reiseberichte der FZ-Mitarbeiter über die politischen und sozialen Verhältnisse in Ländern wie den USA, der Sowjetunion und England37 dienten im allgemeinen dem Vergleich mit den deutschen Verhältnissen. Grundsätzlich bekam der Blick auf fremde Kulturen unter Claassens Leitung einen größeren Stellenwert im Verlagsprogramm: Leo Frobenius’ Forschungen über Afrika38 wurden fortgesetzt, die Darstellung fremder Erdteile erweitert um die Arktis39, Indien40 und China41. An den Büchern Kasimir Edschmids über Afrika, Südamerika, das Mittelmeer und auch Deutschland42 läßt sich die zeitgenössische Ausprägung der Gattung Reisebericht – eine literarisch-journalistische Mischform zwischen Sozialreportage und Roman, für die gerade das Feuilleton der FZ in den zwanziger Jahren ein wichtiges Forum bot –, besonders gut ablesen. An der Förderung Edschmids zu einem anerkannten Reiseschriftsteller hatte Claassen persönlich großen Anteil. Das Gesamtprogramm des Societäts-Verlags wurde von Claassen vorsichtig um den Bereich der fiktionalen Literatur erweitert: Neben den Werken Fritz von Unruhs43, den Ernst Erich Noth als »Hausautor«44 des Verlags bezeichnet hat, kam 1929 Ludwig Renns vielbeachteter Roman Krieg45 heraus. Ernst Erich Noths Mietskaserne46 kann als Beispiel

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32 Pierre Viénot: Ungewisses Deutschland (1931). 33 Z. B. Wolf von Dewall: Der Kampf um den Frieden. Deutschland-Frankreich in der europäischen Politik (1929); Friedrich Sieburg: Gott in Frankreich (1929), Frankreichs rote Kinder (1931) und Vendée (1931). 34 Hans Kohn: Nationalismus und Imperialismus im Vorderen Orient (1931). 35 Hans Kohn: Der Nationalismus in der Sowjetunion (1932). 36 Nikolas Benckiser: Italien als Nation. Fascismus, Volk und Welt (1934). 37 Arthur Feiler: Amerika – Europa. Erfahrungen einer Reise (1926) und Georg Swarzenski: Europäisches Amerika (1927); Arthur Feiler: Das Experiment des Bolschewismus (1929); Rudolf Kircher: Engländer (1926) und Fair play. Sport, Spiel und Geist in England (1927). 38 Leo Frobenius: Erlebte Erdteile. Bd. I –IV (1925/1928/1929). 39 Knud Rasmussen: Thulefahrt. 2 Jahre im Schlitten durch unerforschtes Eskimoland (1926) und Friedrich Sieburg: Die rote Arktis. »Malygins« empfindsame Reise (1932). 40 Katherine Mayo: Mutter Indien (1928). 41 Wilhelm P. O. Walther: Das China von heute (1932). 42 Kasimir Edschmid: Afrika nackt und angezogen (1929), Glanz und Elend Südamerikas (1931), Zauber und Größe des Mittelmeers (1932) und Westdeutsche Fahrten. Im Spiegel des Rheins (1932). 43 Im Societäts-Verlag waren bereits 1924 Reden des Schriftstellers veröffentlicht worden, der sich unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs von seiner adligen Herkunft losgesagt hatte und zum engagierten Pazifisten geworden war; im folgenden Jahr erschienen ein Reisebericht (Flügel der Nike) und seine älteren Dramen (Louis Ferdinand, Prinz von Preußen, Erstaufl. bei Erich Reiss 1922; Offiziere, Erstaufl. 1911) sowie das Festspiel Heinrich von Achternach, in den Folgejahren weitere dramatische Werke. 44 Noth: Erinnerungen, S. 232. – Vgl. auch die Verlagsveröffentlichung: Fritz von Unruh. Auseinandersetzung mit dem Werk (1927). 45 Bis 1932 erreichte dieser Roman eine Auflage von 160.000. 46 Ernst Erich Noth: Die Mietskaserne. Roman junger Menschen (1931).

2.1 Vorgeschichte: Zu den Biographien Eugen Claassens und Henry Goverts’ für den sozial engagierten Roman junger Autoren der Weimarer Republik gelten, Agnes Smedleys Eine Frau allein47 als zeitgenössische amerikanische Ausformung dieser Gattung. Unter Claassens literarischer Leitung entwickelte sich der Buchverlag in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre zu einem eigenständigen, angesehenen Verlag mit einem breitgefächerten Programm. Die Veröffentlichungen ließen eine liberale, der demokratischen Geschichte Deutschlands und dem politischen Zeitgeschehen wie den sozialen Verhältnissen zugewandte Haltung erkennen. Zu Beginn der dreißiger Jahre erfolgte mit Büchern über neue Medien und Technik eine Erweiterung des Themenspektrums: Es erschienen Bücher über Photographie, Rundfunk und Automobile, Mode und sogar Kochkunst48, Geschenkliteratur sowie repräsentative Bildbände und ein Jugendbuch.49 In seinem Aufsatz Über das Verlegen hat Eugen Claassen in der Rückschau diese Verlagsarbeit im Umkreis der Frankfurter Zeitung selbst charakterisiert: »Ich verfocht nicht bestimmte politische Thesen, aber ich wollte Verständnis für moderne, demokratische, das heißt von eigener Verantwortung getragene Politik schaffen. Die Erkenntnis wirtschaftlicher Zusammenhänge schien mir unentbehrlich, die Kenntnis von anderen Ländern und Leuten notwendig. [...] Die Autoren waren bedeutende Journalisten, Professoren, Diplomaten, Politiker, Essayisten, weltkundige Romanciers, ein Kreis von Leuten, die zur Frankfurter Zeitung in Beziehung standen, aber unabhängig von ihr und der notwendigen journalistischen Alltagsarbeit fähig waren, in großen Zusammenhängen zu denken.«50 An den wenigen erhaltenen Dokumenten aus Claassens letzten Jahren im SocietätsVerlag wird sein großes Engagement in der differenzierten Ausgestaltung des Verlagsprogramms deutlich. Eine vage Vorstellung von dem Bemühen innerhalb des Verlags, bereits zu Beginn der dreißiger Jahre mit der zeitkritischen Literatur die liberalen Käuferschichten nicht aus politischen Gründen zu verlieren, vermitteln die Werbetexte besonders für die Kriegsbücher: Daß sie in immer neuen Formulierungen als Bücher »ohne Tendenz«51 charakterisiert werden, ist bereits als Symptom zu werten. (Vgl. Kap. 2.2.) Die sozialen Kontakte der Frankfurter Jahre hat Hilde Claassen beschrieben: Nach der Heirat und der Geburt der Tochter52 zog die Familie in eine Neubausiedlung in Frankfurt-Ginnheim, die der bekannte Architekt Ernst May entworfen hatte: »Zu den 47 Agnes Smedley: Eine Frau allein. Mein Lebensroman (1929). 48 Vgl. z. B. Helmuth T. Bossert/Heinrich Guttmann: Aus der Frühzeit der Photographie 1840 – 1870 (1930); Erich Lasswitz/Josef Hausen: Rundfunk kein Geheimnis mehr (1930); Herbert Sitterding: Automobil-Typen 1933 (1933); Käthe von Porada: Mode in Paris (1932) und Marcel Boulestin: Almanach der feinen Küche (1932). 49 Vgl. z. B. Max Geisenheyner: Mit »Graf Zeppelin« um die Welt (1929); Ernst Fuhrmann: Die Pflanze als Lebewesen. Eine Biographie in 200 Aufnahmen (1930); Kamerad im Westen. Ein Bericht in 221 Bildern (1930). – Das Jungenbuch von Hans Queling: Sechs Jungen tippeln nach Indien und zum Himalaja (1931), das in einer Auflage von 17.000 Exemplaren auf den Markt kam, blieb eine Ausnahme im Verlagsprogramm. 50 Claassen: Über das Verlegen. In: In Büchern denken, S.16f. 51 Neuerscheinungen und neue billige Sonderausgaben des Societäts-Verlags Frankfurt a. M. (Verlagsprospekt Winter 1931) (DLA): »ohne Tendenz und Pose«; »tendenzlos dargestellt«; es werde »die Partei des Friedens ergriffen«. 52 1926 heirateten Eugen Claassen und Hilde Brüggemann, 1927 wurde die Tochter Judith geboren.

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2 Verlagsgründung unter der Diktatur Nachbarn gehörten Künstler, Schriftsteller und Journalisten. Der Maler Willi Baumeister kam an vielen Abenden zum Schachspiel herüber. Im Hause des Schriftstellers Ernst Schön lernte Eugen Claassen Walter Benjamin kennen; mit ihm und mit Theodor Adorno führte er nächtelange Gespräche, und in den Gärten der Architekten Martin Elsässer und Gerhard Planck feierte er gemeinsam mit den Freunden sommerliche Feste.«53 Von häufigen Einladungen bei Heinrich Simon, auch bei Georg Swarzenski, dem Direktor des Frankfurter Städel-Museums, ist die Rede,54 von der Freundschaft mit Ernst Schön, dem künstlerischen Leiter von Radio Frankfurt, von intensiven Kontakten zur Familie des FZ-Redakteurs Benno Reifenberg – und immer wieder von anregenden intellektuellen Gesprächen. Die Beziehungen zu den übrigen Redakteuren der Frankfurter Zeitung, bis auf die zu Wilhelm Hausenstein in den letzten Jahren, werden wohl insgesamt eher auf einer gesellschaftlichen Ebene stattgefunden haben. Eine besondere Rolle spielten die von Claassen geförderten jungen Autoren, besonders Ludwig Renn, Ernst Erich Noth und Kasimir Edschmid, die im Societäts-Verlag ihre ersten Bücher herausgebracht hatten.55 Ohne Zweifel waren die zehn Frankfurter Jahre für den jungen Verlagsleiter eine »Zeit reicher Erfahrungen und fruchtbringender Arbeit«56 und damit die entscheidenden Lehrjahre für seine Verlagsarbeit im Dritten Reich und in den Nachkriegsjahren.

Versuch eines Porträts mit den Augen der Zeitgenossen Als Claassen am 26. April 1955 im Alter von sechzig Jahren starb, sprach aus den Nachrufen der Freunde und Bekannten nicht nur eine große Betroffenheit über den frühen und unerwarteten Tod. Die postumen Würdigungen und Erinnerungen hoben in großer Übereinstimmung Wesenszüge hervor, die das Gesamtbild eines äußerst zurückhaltenden, sehr eigenwilligen Menschen ergeben, der Respekt und Vertrauen gleichermaßen einflößte. Seine umfassende Bildung beeindruckte besonders jene Autoren, die jung zu ihm gekommen waren. Als einen »selten gebildeten Mann«, der »seiner Veranlagung nach vielleicht ein Privatgelehrter hätte werden können und diese Veranlagung auch nie ganz verleugnet hat«57, hat sein späterer Autor und Lektor Hans Georg Brenner ihn bei der

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53 Hilde Claassen: Notizen zur Biographie Eugen Claassen. In: In Büchern denken, S. 668. 54 Eine Facette der Persönlichkeit Claassens, seine Fähigkeit zum Imitieren verschiedener Personen, beschreibt Hilde Claassen ausführlich und gibt damit gleichzeitig einen Einblick in die Formen der Geselligkeit jenes »unbeschwerten Lebens« des Ehepaars Claassen in Frankfurt, wenn sie von einer improvisierten Kabaretteinlage bei einer Einladung im Hause Georg Swarzenskis berichtet. Claassen habe, mit der Begleitung Teddy Wiesengrunds [d. i. Theodor W. Adorno] am Klavier, als Rezitator ein Gedicht Bernhard von Brentanos in verschiedenen Formen und in den Rollen verschiedener Personen vorgetragen – zur großen Erheiterung der ganzen Gesellschaft. 55 Hilde Claassen nennt als private Gäste die Societäts-Autoren Fritz von Unruh, Friedrich Sieburg, Kasimir Edschmid, Alfons Paquet, Siegfried Kracauer, Arthur Feiler, Ernst Glaeser, Ernst Erich Noth und Ludwig Renn (Hilde Claassen: Notizen zur Biographie Eugen Claassens, S. 668). 56 Hilde Claassen: Notizen zur Biographie Eugen Claassen. In: In Büchern denken, S. 668. 57 Hans Georg Brenner: Zum Tode von Dr. Eugen Claassen. Ms., datiert vom 26.4.1955 (Cl.A.).

2.1 Vorgeschichte: Zu den Biographien Eugen Claassens und Henry Goverts’ ersten gemeinsamen Begegnung wahrgenommen. Die fundierten Kenntnisse Claassens auf vielen Gebieten, sein breitgefächertes Interesse und die Bereitschaft zu einem intensiven Gedankenaustausch haben diejenigen, die mit ihm in engeren Kontakt kamen, besonders geschätzt. Der Eindruck einer fundierten Bildung und Informiertheit rührte wohl vor allem von Claassens »weltoffener Wahrnehmungsgabe«58 her, von der der Freund Dolf Sternberger in seinem Nachruf sprach. Die Stärke dieses »merkwürdig wachen, merkwürdig vorurteilslosen«59 Mannes habe im Dialog gelegen: wenn er in ausgiebiger und gründlicher philosophischer und literarischer Diskussion zu zweien, »immer voller Aufmerksamkeit«60, sich auf ein geistig ebenbürtiges Gegenüber einstellte oder mit großer Ernsthaftigkeit jungen Autoren zuzuhören bereit war.

2.1.2 Henry Goverts Elternhaus, Jugend und Militärzeit Als einziges Kind einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, mütterlicherseits aus England, väterlicherseits aus Holland stammend, wurde Henry Goverts am 28. Mai 1892 in Hamburg geboren. Über die Einflüsse des Elternhauses, besonders die Rolle des Vaters, gibt es keinerlei Überlieferung;61 die großbürgerlich-konservative Atmosphäre hat Goverts mehr als fünfzig Jahre später in seiner Erinnerung an die Heidelberger Studienjahre verallgemeinernd als »gesättigte[n] Lebenszustand« beschrieben, der vielen Söhnen des Besitzbürgertums direkt nach dem Ersten Weltkrieg »immer dumpfer und leerer«62 erschienen sei. Die Mutter, die zu Beginn des Dritten Reichs nach Vaduz in Liechtenstein übersiedelte, scheint das förmliche, etwas steife Gebaren einer hamburgischen Patrizierfamilie noch im Alter aufrechterhalten zu haben. Eine Widmung Henry Goverts’ an seine Mutter in einem Privatdruck von 1939 ergibt den Eindruck einer engen Bindung;63 es gibt keinerlei Hinweise darauf, daß er früh in familiäre Konfliktsituationen gekommen wäre. Für die typische Entwicklung eines Sohns aus begüterter Kaufmannsfamilie und vor allem einen starken Einfluß der Eltern spricht auch, daß er nach 58 59 60 61

Sternberger: Eugen Claassen †, S. 308. Brenner: Zum Tode von Dr. Eugen Claassen. Sternberger: Eugen Claassen †. Insgesamt sind die biographischen Quellen bei Goverts eher dürftig; der private Nachlaß ist nach Goverts’ Tod von den Erben durch Einzelverkäufe verstreut worden. Am ergiebigsten ist noch der knappe Lebenslauf in dem Bändchen »Begegnung mit Henry Goverts« (in: MM 19/1981, S. 86 –88 wiederabgedruckt). Die in dem Erinnerungsband enthaltenen Texte der Freunde entwerfen ein facettenreiches Bild, das die beiden autobiographischen Texte, die in weiten Passagen identisch sind, ergänzen: Goverts: Abschied und Erinnerung. Carl Zuckmayer zum 60 Geburtstag. In: Merkur, 10, 1956, S. 1201 – 1206; Goverts: Unsere Heidelberger Jahre. In: Festschrift für Carl Zuckmayer, S. 33 – 42. 62 Goverts: Unsere Heidelberger Jahre, S. 34. 63 »Meiner Mutter zu Ihrem [sic] siebzigsten Geburtstag am 13. Juni 1939 von ihrem Sohne Henry. – Verse. Aus meinen Gedichten, die auch Dir Erinnerungen bedeuten. Im Auftrage des Verfassers gesetzt aus der Garamond-Antiqua und gedruckt von der Spamer A.-G., Abt. Druckerei. Leipzig, im Juni 1939«. (Cl.A.)

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2 Verlagsgründung unter der Diktatur dem Abitur, der Tradition der väterlichen wie mütterlichen Familie gemäß, eine Lehre in einer Hamburger Export- und Importfirma begann und diese bis zum Ende absolvierte, obwohl er keinerlei Neigung dazu verspürte. Während der Zeit des obligatorischen sog. Einjährigen-Dienstes beim Militär begann der Erste Weltkrieg, an dem Goverts somit, mit der zunächst üblichen patriotischen Begeisterung,64 von Anfang an teilnahm. Als Leutnant der Feldartillerie wurde er 1916 schwer verwundet und nach längerem Lazarett-Aufenthalt zum Adjutanten der Ersatzabteilung seines Regiments nach Berlin befördert, wo er bis Kriegsende blieb. Diese zwei Berliner Jahre während des Krieges und die hier geknüpften Beziehungen scheinen richtungsweisend für Goverts’ weitere Entwicklung gewesen zu sein. Aus dieser Zeit her rührt offensichtlich nicht nur eine Vielzahl von Kontakten innerhalb militärischer Kreise, besonders zu einzelnen Offizieren, die später im Dritten Reich zum Umkreis der Spionageabwehr um den Oberst Canaris gehörten, sondern auch die Bekanntschaft mit einflußreichen Vertretern des Spätexpressionismus. Carl Zuckmayer, der Freund der anschließenden Studienjahre, betonte in seinem Gruß an Henry Goverts zum 80. Geburtstag, offensichtlich mit unpräziser Zeitangabe, Goverts habe »bereits vor dem Krieg unter solch abenteuerlich-avantgardistischen Gestalten wie Herwarth Walden – Begründer des Sturm und damit des konsequenten Expressionismus – gelebt und in Berlin [...] bei ähnlichen Gestalten wie William Wauer, Rudolf Blümner und anderen eine Art von expressionistischer Ausbildung genossen, im Sprachausdruck und in der Diktion«.65 Es steht zu vermuten, daß Goverts in diesen Jahren auch in seiner Heimatstadt Hamburg Kontakte zu Bekannten und Freunden unterhielt, die vom Aufbruchs- und Umbruchsbewußtsein des Jahrzehnts erfüllt waren. Die Skepsis gegenüber der bürgerlichen Saturiertheit des wilhelminischen Kaiserreichs wurde durch die Erfahrung des Krieges verstärkt: »Wir entwickelten uns damals politisch mit anderen unserer Generation nach links, begrüßten später die ersten Anzeichen einer nahenden Revolution und lebten durchaus nicht im Bewußtsein der erfolgten Niederlage.«66 Auch wenn Goverts sich in den revolutionären Wochen und Monaten nach Kriegsende kurzfristig im Berliner Soldatenrat engagierte, spricht doch vieles dafür, daß er die krasse Ablehnung von Bürgertum, Adel und Militär als den tragenden gesellschaftlichen Kräften des Kaiserreichs nicht so heftig vollzog wie viele andere. Die Verbindung von literarisch und politisch revolutionärer Haltung entsprach bei ihm wohl eher einem allgemeinen Aufbruchs- und jugendlichen Lebensgefühl.67 Tatsächlich scheinen seine Interessen in diesen ersten Nachkriegsmonaten hauptsächlich ins Literarische gegangen zu sein. Nachdem er sich bereits im Berlin der letzten beiden Kriegsjahre durch den regelmäßigen Besuch der sog. Sturm-Abende unter der Leitung Rudolf Blümners von der in diesem

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64 »Viele unserer Generation hatten 1914, als der Erste Weltkrieg begann, das Klassenzimmer unseres Gymnasiums mit dem Kasernenhof vertauscht, wo man fest in eine Organisation eingebettet, wie in der Schule gehorchen mußte, und zogen dann als Soldat begeistert ins Feld. Von Haß oder Verachtung des Gegners allerdings waren die meisten unserer Jahrgänge, die durch die Jugendbewegung aufgerüttelt der bürgerlich-nationalen Tradition unserer Väter skeptisch gegenüberstanden, nicht erfüllt.« (Goverts: Unsere Heidelberger Jahre, S. 34) 65 Carl Zuckmayer, in: Begegnung mit Henry Goverts, S. 63. 66 Goverts: Unsere Heidelberger Jahre, S. 34. 67 Vgl. Korte: Expressionismus als Jugendbewegung.

2.1 Vorgeschichte: Zu den Biographien Eugen Claassens und Henry Goverts’ Kreis propagierten »Wortkunst« – einer gegen das traditionelle Literaturverständnis gerichteten neuen literarischen Ausdrucksmöglichkeit in Drama und Lyrik – hatte beeinflussen lassen, widmete er sich, nach einer kurzen Zeit als Regievolontär bei Max Reinhardt, in den wenigen Monaten bis zum Beginn seines Studiums hauptsächlich seinen schriftstellerischen Neigungen. Bis 1920 veröffentlichte er in verschiedenen Zeitschriften der expressionistischen Bewegung unter dem Namen Hendrik Goverts Gedichte: in der Aktion68 Franz Pfemferts, in der Zeitschrift Kräfte69, dem kurzlebigen literarisch-künstlerischen Organ der Hamburger Expressionisten, für die Herwarth Waldens Sturm Vorbild war70, sowie in dem hannoverschen Zweemann71. Für die Zeitschrift Das junge Deutschland72, herausgegeben vom Deutschen Theater in Berlin, schrieb Goverts einen Aufsatz über die Dramatik Kokoschkas73.

Studium in Heidelberg Im Sommersemester 1919 begann Goverts mit dem Studium in Heidelberg, »der fortschrittlichsten und geistig anspruchvollsten Universität Deutschlands«74, wie sie Goverts’ Studienfreund Carl Zuckmayer in seiner Autobiographie bezeichnete. Er hörte Vorlesungen bei Friedrich Gundolf, vor allem aber studierte er bei Alfred Weber, dem Bruder Max Webers, der die als Universitätsfach noch neue Soziologie vertrat. Goverts 68 Hendrik Goverts: Das Ideal. In: Die Aktion, 9, 1919, Sp. 265. 69 Kräfte. Zeitschrift für Dichtung, Musik, bildende Kunst. Hrsg. von Kinner v. Dresler. Folge I (H. 1 –3). Hamburg: V. Fischer (H. 3. Dresden: Dresdner Verlag von 1917). – H. 1. 1919: Hendrik Goverts, Aus den Fluten steigt das Kind (S. 46); Gesang der Freunde (S. 49); Verlassen (S. 50f.); Liebesnacht (S. 52); Schöpfer wellen durch die Zeit (S. 59); Trunken (S. 60f.). Heft 2: Hendrik Goverts, Lieder der Einsamkeit (S. 33 – 35), nämlich: Der Künstler. Kinner von Dresler gewidmet (S. 34), Welt will leiden (S. 34), Die Stadt und ich (S. 35), Vorfrühling (S. 35). 70 Vgl. Pirsich: Verlage, Pressen und Zeitschriften des Hamburger Expressionismus, S. 224, der die »Kräfte« als »unpolitische Zeitschrift, die eindeutig dem Vorbild des Sturm verpflichtet ist«, charakterisiert. 71 Der Zweemann. Monatsblätter für Dichtung und Kunst. Hrsg. von Friedrich W. Wagner (ab H. 4 hrsg. von Hans Schiebelhuth) und Christof Spengemann. 1. Jahresfolge. Hannover: Der Zweemann Verlag Robert Goldschmidt 1919/1920. – H. 5: Hendrik Goverts, Drei Gedichte (S. 8 – 10), nämlich: Trübsinn (S. 8 – 10), Das Ende (S. 10), Wir Menschen (S. 10). 72 Das junge Deutschland. Monatsschrift für Theater und Literatur. Hrsg. vom Deutschen Theater zu Berlin. Verantwortlich für den allgemeinen Teil: Arthur Kahande (Jg. 1, H. 1, 2: Paul Kornfeld); für den zweiten Teil (Blätter des Deutschen Theaters): Heinz Herald. Jg. 1 – 3. Berlin: Erich Reiss 1918 – 1920. 73 Hendrik Goverts: Ein Beitrag zur Dramatik Kokoschkas. In: Das junge Deutschland, 3, 1920, S. 78f. 74 Zuckmayer: Als wär’s ein Stück von mir, S. 286; vgl. denselben Wortlaut bei: Classen/Wolgast: Kleine Geschichte der Universität Heidelberg, S. 80. – Der Archäologe Ludwig Curtius erklärt in seiner Autobiographie die besondere Atmosphäre der Heidelberger Universität in den zwanziger Jahren aus der »Verbindung von Philosophie, Geschichte und Gesellschaftswissenschaften«; vgl. Curtius: Deutsche und antike Welt, S. 61 und S. 100. – Vgl. auch Sternberger: Gang zwischen Meistern. Darin: Erinnerung an die Zwanziger Jahre in Heidelberg (1986), S. 17 – 32.

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2 Verlagsgründung unter der Diktatur hat in der Rückschau auf seine Studienjahre in Heidelberg75 ebenso wie Carl Zuckmayer76 eine lebendige Beschreibung des gemeinsamen Freundeskreises gegeben. Carlo Mierendorff und Theo Haubach gehörten dazu, beide nach dem Studium aktive Sozialdemokraten und im Dritten Reich im Widerstand;77 der spätere Leiter der Münchener Kammerspiele Wolfgang Petzet, Egon Wertheimer, später österreichischer Diplomat; Emil Henk, der dem George-Kreis nahestand, und die Schriftsteller Hans Schiebelhuth und Carl Zuckmayer. Dieser Kreis stand in enger Verbindung zu dem Darmstädter Freundeskreis junger Dichter und Maler, die sich um den Schriftsteller Kasimir Edschmid und den jungen Verleger Joseph (Pepi) Würth sammelten. Goverts selbst hat dieses Bedürfnis nach Bildung von Gemeinschaften während der Studienjahre psychologisch erklärt: Seine Generation, die »immer nur gehorchen gelernt« habe, sei der akademischen Freiheit der Universität gegenüber zunächst »recht hilflos« gewesen, obgleich viele von ihnen doch »für die Freiheit gekämpft« hätten: »Die wilhelminische Ära war zu Ende, unserem bürgerlichen Elternhaus waren wir entfremdet, und nun sollten wir auf uns allein gestellt in dieser sinnentleerten Zeit auf einer der deutschen Universitäten, die außer im Lehrbetrieb keine Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler, wie in England, kannten, uns nach eigener Planung bilden und für einen Beruf entscheiden. Derart isoliert, skeptisch allem Überkommenen gegenüber, aber mit einem Hunger nach Wissen und Erkennen sowie dem Bedürfnis, die Zeitsituation und unsere Aufgabe in ihr zu erhellen, fanden sich in Heidelberg einige Gleichgesinnte zusammen.«78 In Goverts’ Erinnerungen für den Freund Zuckmayer wird nicht nur die große Bedeutung fächerübergreifender Diskussionszirkel deutlich;79 er beschreibt den großen, auch menschlichen Einfluß der akademischen Lehrer, allen voran die des Soziologen Alfred Weber, aber auch die Rolle des jungen Kunsthistorikers Wilhelm Fraenger. Goverts scheint, nicht nur aufgrund seines Alters, in den Augen der Freunde eine Sonderrol-

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75 Goverts: Abschied und Erinnerung, und: Unsere Heidelberger Jahre. 76 Zuckmayer: Als wär’s ein Stück von mir, S. 283f. 77 Carlo Mierendorff (1897 – 1943), Herausgeber der revolutionären Darmstädter Zeitschrift »Das Tribunal«, wurde nach dem Studium Sekretär des Transportarbeiter-Verbandes im ADGB, später enger Mitarbeiter des hessischen Ministerpräsidenten Leuschner; Theodor Haubach (1896 – 1945) wurde Auslandsredakteur der sozialdemokratischen Zeitung »Hamburger Echo«, dann Hamburger Polizeisenator und später leitender Beamter im Preußischen Innenministerium. Beide mußten ihre politischen Aktivitäten besonders zu Ende der Weimarer Republik im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold gegen die nationalsozialistische Partei mit KZ-Haft bezahlen. Beide gehörten zum Kreisauer Kreis. Mierendorff starb bei einem der alliierten Luftangriffe auf Leipzig; Haubach wurde als Mitglied des Kreisauer Kreises nach dem 20. Juli 1944 zum Tode verurteilt und in Plötzensee gehängt. – Vgl. van Roon: Widerstand im Dritten Reich. 78 Goverts: Unsere Heidelberger Jahre, S. 34. 79 Er erwähnt die »lebhaften »Soziologischen Diskussionsabende«, die regelmäßig im Hotel Schrieder stattfanden und auf denen Probleme der Wissenschaft wie der Zeit bis in ihre menschlichen Bezirke und Haltungen hinein diskutiert wurden.« (Goverts, S. 35) – Vgl. zu diesen von Alfred Weber bereits in den Vorkriegsjahren initiierten und im WS 1920/1921 wieder aufgenommenen Diskussionsabenden: Demm: Von der Weimarer Republik bis zur Bundesrepublik Deutschland, S. 102 – 110.

2.1 Vorgeschichte: Zu den Biographien Eugen Claassens und Henry Goverts’ le gespielt zu haben. Den Umgangston untereinander, dessen Beschreibung durch Carl Zuckmayer und Wolfgang Petzet an den »frohen Intellektualismus«, die »zerebralen Ulkigkeiten« des Frühexpressionisten Kurt Hiller erinnert,80 hat er in besonderem Maße mitgeprägt: »Die Frozzelei, das Einander-Aufziehen und Vexieren, gehörte zum ständigen Verkehrston unseres Kreises, worin es Goverts, durch eine bestimmte Art von andeutungsvoller Diskretion und getarnter Seriosität, zur Meisterschaft brachte, so daß für diese Spiel- und Lebensform sehr bald der Name »Govertsismus« geprägt wurde.«81 Petzet erklärte die Wirkung solcher »lustiger Clownerie« mit der »unerschütterliche[n] Glaubwürdigkeit« der Person Goverts’, der von ihm verkörperten »untadelige[n] Haltung eines jungen englischen Lords«, und beschrieb als Spannweite im Charakter des Freundes »die Rationalität im Irrealen, die Konzentration im Diffusen, die Disziplin im Chaotischen«.82 In der Erinnerung der Studienfreunde ist es vor allem diese Mischung aus Selbstinszenierung und Selbstironie bei gleichzeitiger großer Begeisterungsfähigkeit und Ernsthaftigkeit im Intellektuellen, die seine persönliche Ausstrahlung bereits in den frühen zwanziger Jahren ausmachte. Während der Studienjahre in Heidelberg veröffentlichte Goverts im Verlag Die Dachstube des Darmstädter Freundes Pepi Würth83 einen schmalen Gedichtband unter dem Titel Der Weg. Frühe Gedichte von Hendrik Goverts84, der die meisten der bereits gedruckten Gedichte zusammenfaßte. Inhalt wie Wirkungsabsicht waren fern aller politischen Radikalität; von einer besonderen lyrischen Begabung oder Originalität kann bei diesen Gedichten nicht die Rede sein. Das Urteil Zuckmayers berücksichtigt das dichterische Bemühen und die Aufnahme dieser Art von Lyrik im Kreis der spätexpressionistisch engagierten Jugend; es erscheint gerecht: Die Lyrik Goverts’ sei »von einer schönen, natürlichen Anschauung geprägt« gewesen. Der »lebendige Expressionismus«, den Goverts anstrebte, habe »in seiner Leidenschaft zur Intensität der Wahrheitskündung, des ekstatischen Ausdrucks und der menschlichen Camaraderie« auch im Formalen eine »Art von politischer Brisanz«85 gehabt.

80 Vgl. z. B. Kurt Hillers Eröffnungsrede im Neopathetischen Cabaret, zitiert nach Erken: Der Expressionismus – Anreger, Herausgeber, Verleger, S. 649. 81 Zuckmayer, in: Begegnung mit Henry Goverts, S. 61. 82 Petzet: Go – surreal. In: Begegnung mit Henry Goverts, S. 39. 83 Bereits als 15-jähriger Gymnasiast hatte Joseph (genannt Pepi) Würth begonnen, die expressionistischen Blätter »Die Dachstube« herauszugeben; daraus entstand später der Verlag gleichen Namens. Vgl.: Dem lebendigen Geiste. Ein Gedenkbuch zu »Dachstube« und »Tribunal«. (AGORA. Zeitschrift des Ludwig-Georg-Gymnasiums. Heft 7/8. Darmstadt 1956); Dachstube – Tribunal. Kunst und Literatur im Darmstadt der zwanziger Jahre. 84 Mit einer Original-Lithographie auf dem Umschlag von Reinhold Ewald. Darmstadt: Verlag Die Dachstube 1923 (Die kleine Republik. 12). Gedruckt in einer einmaligen Auflage von 150 numerierten Exemplaren. 24 S. – Zum 70. Geburtstag Henry Goverts’ wurden diese Gedichte erneut in einer limitierten Ausgabe herausgegeben: Henry Goverts: Gedichte aus frühen Tagen. (Die Gedichte aus frühen Tagen wurden für Freunde aus der in der »Aktion« und in dem Bändchen »Der Weg« (Verlag Die Dachstube, Darmstadt 1923) erschienenen Gedichten von Henry Goverts zusammengestellt. Zum 70. Geburtstag am 28. Mai 1962. Vorwort Carl Zuckmayer.) Stuttgart: Goverts 1962. 85 Zuckmayer, in: Begegnung mit Henry Goverts, S. 64.

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2 Verlagsgründung unter der Diktatur Auch wenn Goverts bei manchem der Freunde als »Dichter« ernstgenommen wurde,86 scheint er während der Studienjahre nur noch vereinzelt Gedichte geschrieben zu haben. Er beschäftigte sich mit Literaturgeschichte und vor allem Kunstsoziologie; die z. T. englische Herkunft seiner Familie mag mit den Ausschlag für eine intensivere Beschäftigung mit der englischen Kulturgeschichte gegeben haben. Im Jahr 1923 sammelte er in Londoner Bibliotheken und Archiven Material für seine Dissertation und beendete sein Studium 1924 mit einer Arbeit über Die Deutung der grundlegenden Bestimmungen im Volkserziehungsprogramm des John Ruskin. Die folgenden drei Jahre blieb er als Assistent Alfred Webers in Heidelberg und ging seinen vielfältigen Interessen nach;87 es gibt keine Quellen darüber, ob er eine Habilitation angestrebt hat. Von 1927 an wohnte er wieder in Hamburg, wo ihm im Haus der Eltern in der RothenbaumChaussee eine eigene Wohnung zur Verfügung stand.

Kulturpolitisches Engagement in Hamburg Bis zu den ersten Planungen einer Verlagsgründung, die im Frühjahr 1934 konkretere Formen annahmen, hat sich Goverts, finanziell durch das elterliche Vermögen abgesichert, die Freiheiten eines Privatiers ohne bürgerlichen Beruf leisten können. Freunde wie Besucher betonten stets den exklusiven Lebensstil.88 Die Lehrtätigkeit an der Hamburger Volkshochschule, die in späteren Kurzbiographien89 hervorgehoben wird, hat sich nach Ausweis der Vorlesungsverzeichnisse90 auf das Sommer-Semester 1927 und das Winter-Semester 1927/28 beschränkt, in denen Goverts unter identischem Titel und gleichlautender Vorankündigung eine Arbeitsgemeinschaft Das gegenwärtige England in Kultur und Kunst anbot. Er veröffentlichte einige wenige Aufsätze,91 einen davon 1930 als Einleitung eines von ihm mit herausgegebenen Sammelbandes unter dem Titel Der Student im Ausland92. Die Möglichkeit zu einem, wenn auch sicher kurzen, Studienaufenthalt in England sechs Jahre nach dem Ende des Krieges, die dem Doktoranden vermutlich von der englischen Verwandtschaft mütterlicherseits ermöglicht worden war, hat Goverts demnach

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86 Zuckmayer, in: Begegnung mit Henry Goverts, S. 63: »Für mich war Hendrik Goverts damals ein Dichter, der außerdem mehr von moderner Kunst wußte als wir [...].« 87 Petzet beschreibt sein lebhaftes Interesse für die verschiedensten Bereiche der Politik und Kultur (Petzet: Go – surreal, S. 40f.). 88 Petzet erinnerte sich, in Goverts’ Wohnung der späten zwanziger Jahre in der RothenbaumChaussee »von zwei Hauswesen höheren Ranges – mit allen Attributen eines Films aus der Viktorianischen Zeit« aufs diskreteste betreut und bewirtet worden zu sein. (Petzet: Go – surreal, S. 41) – Auch Oda Schäfer betont, er habe »sehr exklusiv« gewohnt (Oda Schäfer: Ein Blatt Erinnerung. In: Begegnung mit Henry Goverts, S. 45). 89 Vgl. die Vita Henry Goverts in MM 19/1981, S. 87. 90 Die Vorlesungsverzeichnisse sind archiviert im Staatsarchiv Hamburg, Bibliothek Z 565/1. 91 Goverts: Wahlverfahren und lebendige Demokratie in Deutschland (1929); Goverts: Das Auslandserlebnis des deutschen Studenten (1930). – Weitere Veröffentlichungen ließen sich nicht nachweisen. 92 Der Student im Ausland. Hrsg. von Henry Goverts u. a.; darin: Goverts: Das Auslandserlebnis des deutschen Studenten (1930). – Der Band versammelt eine größere Anzahl von Erfahrungsberichten Heidelberger Studenten im europäischen Ausland und in den USA.

2.1 Vorgeschichte: Zu den Biographien Eugen Claassens und Henry Goverts’ als große persönliche Bereicherung empfunden. In seinem Aufsatz erwähnte er nicht nur den »wissenschaftlichen und menschlichen Antrieb, vielleicht durch das Erlebnis Englands und seiner Kultur das Wesen dieser Persönlichkeit der viktorianischen Zeit [d. i. John Ruskin] schärfer erfassen zu können«;93 vor allem warb er in diesem Erfahrungsbericht aufgrund seiner eigenen Erlebnisse für die »Möglichkeiten internationaler Verständigung«.94 Für die Überwindung eines chauvinistischen Nationalismus und die Durchsetzung eines europäischen Bewußtseins setzte er sich in diesen Jahren mit großem Engagement ein, vor allem wohl im Hamburger Kulturleben.95 Mit durchaus ironischem Unterton hat Wolfgang Petzet ihn als Gründer einer Vielzahl von Lokalgruppen bezeichnet,96 und tatsächlich scheint dieses selbst den Freunden oft undurchschaubare, aber stets in seiner Ernsthaftigkeit und geistigen Liberalität geachtete kulturpolitische Engagement Goverts’ dessen Hauptbeschäftigung in der Spätphase der Weimarer Republik ausgemacht zu haben.

Versuch eines Porträts mit den Augen der Zeitgenossen Freunde und Bekannte haben stets den »freien liberalen Geist«97 des späteren Verlegers betont. Einen Großteil seiner Ausstrahlung auf Fremde und Freunde, Autoren wie Kollegen muß seine Begabung für Konversation ausgemacht haben: »Begeisterungsfähigkeit, Optimismus, Wagemut, Entschlossenheit«98 strich Hilde Claassen als wesentliche Charakterzüge Goverts’ heraus. Die Verlegerin Hildegard Grosche betonte seinen Enthusiasmus, sein leidenschaftliches Engagement für seine Autoren und Bücher.99 Die Vielseitigkeit seiner geistigen Interessen, die Wolfgang Petzet in Anekdoten aus den 93 Goverts: Das Auslandserlebnis des deutschen Studenten, S. 10. 94 Goverts, S. 10f. – »Für mich lag der wesentliche Gewinn meines ersten Studienaufenthalts in England in dem erzieherischen Moment, das aus der Isoliertheit auf fremdem Boden erwächst, und in den Gesprächen mit englischen Studenten, bei denen ein Funke überzuspringen schien und neues gemeinsames Leben entzündete.« Der Student im Ausland erfahre neben »seiner eigenen nationalen Einstellung, mit der er schicksalsmäßig verkettet ist, [...] andere Wertungen, die neben der seinen möglich sind, und dieses Erlebnis vertieft sein Verständnis für das besondere Leben seines Volkes wie für das der größeren Welt.« 95 Recherchen hinsichtlich dieser Aktivitäten blieben leider ohne Ergebnis. – Der einzige im Cl.A. erhaltene Beleg ist ein Vortragsprogramm des »Deutschen Kulturbundes, Ortsgruppe Hamburg«, deren Sekretariat mit Goverts’ Privatadresse identisch war, für das Frühjahrssemester 1933: »Der Deutsche Kulturbund erblickt seine vornehmste Aufgabe darin, jenseits aller Politik zwischen Persönlichkeiten des geistigen Lebens in Europa Verbindungen herzustellen, gegenseitiges Vertrauen zu fördern und so allmählich eine Atmosphäre des Verständnisses und der gegenseitigen Achtung zu schaffen, welche die geistige Voraussetzung bildet, um eine spätere Erörterung und Lösung schwieriger, mit der Gegenwartsgestaltung in unmittelbarem Zusammenhang stehender Fragen zu ermöglichen.« – Als Vortragende sind u. a. der ehemalige ungarische Ministerpräsident Graf Stefan Bethlen und Hugh Dalton von United Press aufgeführt. 96 Petzet: Go – surreal, S. 42: »Nie habe ich erfahren, welche Deiner vielen Lokalgruppen Du damals gegründet hast und warum.« 97 So Gustav End, in: Begegnung mit Henry Goverts, S. 19. 98 Hilde Claassen, in: Begegnung mit Henry Goverts, S. 11. 99 Hildegard Grosche, in: Begegnung mit Henry Goverts, S. 22.

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2 Verlagsgründung unter der Diktatur zwanziger Jahren anschaulich gemacht hat,100 korrespondierte mit einer Behendigkeit im gesellschaftlichen Umgang, die von manchen als Unruhe verstanden wurde: »[...] immer auf dem Sprung [...] stets gespannt und unterwegs. Er ist noch da und schon dort«,101 so charakterisierte ihn Peter Härtling. Werner Helwig beschrieb ihn als einen »auf englische Art wohlhabend wirkenden Herrn von einer sozusagen geschwinden Höflichkeit«102. Die »artige Kälte«103, die Alice Herdan-Zuckmayer bei der ersten Begegnung mit dem Studienfreund ihres Mannes beobachtete, die Umgangsformen einer distanzierten Höflichkeit, die Wolfgang Petzet als »untadelige Haltung eines jungen englischen Lords«104 kennzeichnete: Diese auch von den Freunden beschriebenen Wesenszüge mögen Goverts in den Jahren des Dritten Reichs den Umgang mit den nationalsozialistischen Behörden in politisch schwierigen Situationen erleichtert haben. Wenn seine Fähigkeit zu distanzierter Geselligkeit auf manche Autoren auch verunsichernd wirken konnte,105 so überwiegt in den Würdigungen seine Fähigkeit zur Freundschaft, die mit Blick zurück auf die Jahre unter der NS-Diktatur Verschwiegenheit und Hilfe in Situationen der Gefahr mit einschloß. Dolf Sternberger erinnerte sich in seinem Geburtstagsbrief an »vertraute[n] Rat in der Bedrängnis«: »[...] an den verschwiegenen Mann, der zur rechten Zeit da ist, ohne große Worte, ja fast ohne alle Worte handelt und wieder verschwindet.«106 Ein starker Individualismus, geistige Offenheit in Verbindung mit breiten Interessen in philosophischen und kulturellen Fragen, politische Liberalität, gepaart mit großem Verantwortungsbewußtsein für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung der Weimarer Republik – unter dieser Klammer lassen sich die hinsichtlich Herkunft, Bildungsgang, sozialem Umfeld und Berufserfahrung so heterogen erscheinenden Biographien der beiden späteren Verleger zusammenfassen, die sich im Frühjahr 1934 durch die Vermittlung des gemeinsamen Freundes Wolfgang Petzet kennenlernten und im Dezember desselben Jahres zusammen einen Verlag gründeten.

2.2

Verlagsgründung: Begleitumstände und Motive

2.2 Verlagsgründung: Begleitumstände und Motive Nicht nur das Interesse des kulturpoltisch umtriebigen Bohémiens Goverts wie des für zeitgenössische kulturelle Entwicklungen engagierten Verlagsleiters Claassen, vor allem die Übereinstimmung in politischen Fragen auf der Grundlage einer moralischen Vorstellung von Politik machen die gemeinsamen Planungen für eine künftige Zusam-

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100 Petzet: Go – surreal, S. 40f. 101 Härtling, in: Begegnung mit Henry Goverts, S. 23. – Er habe schnell gesprochen, erinnerte sich Oda Schäfer an ihre erste Begegnung mit dem Verleger ihres Mannes Horst Lange im Jahre 1934: »[...] liebenswürdig, gesellschaftlich, etwas zerstreut.« (In: Begegnung mit Henry Goverts, S. 46) 102 Werner Helwig, in: Begegnung mit Henry Goverts, S. 25. 103 Alice Herdan-Zuckmayer, in: Begegnung mit Henry Goverts, S. 29. 104 Petzet: Go – surreal, S. 39. 105 Werner Helwig beschreibt einen Zug ins »Spöttisch-Höfliche« (S. 28): »[...] stehende Redensarten, von denen man nie wußte (»mit Verlaub zu sagen ...«), ob sie zum Zeremoniell seines Auftritts oder als Spott gemeint waren.« (In: Begegnung mit Henry Goverts, S. 25) 106 Dolf Sternberger, in: Begegnung mit Henry Goverts, S. 58.

2.2 Verlagsgründung: Begleitumstände und Motive menarbeit vom Frühjahr 1934 an plausibel. Der finanzielle Hintergrund des einen, gepaart mit der Lust am Initiieren hoffnungsvoller Projekte, die persönlichen Mut, ja Beherztheit erforderte, ergänzte sich mit der Berufserfahrung und Besonnenheit des anderen. Aus den Begleitumständen der Verlagsgründung wird deutlich, daß die Entscheidung Goverts’ wie Claassens für diesen Schritt letztlich aus der Defensive heraus erfolgte: Beide sahen sich vor der Notwendigkeit, Konsequenzen aus einer beruflich höchst unbefriedigenden, letztlich aus politischen Gründen nicht mehr akzeptablen Situation zu ziehen; für beide kam die Emigration aus persönlichen Gründen, aber auch aus grundsätzlicher Überzeugung nicht in Frage. Hinter den jeweiligen Motiven scheint ein angesichts der politischen Situation großer Optimismus auf.

Abb. 1: Anzeige der Geschäftlichen Einrichtung des H. Goverts Verlags (Ausschnitt), aus Börsenblatt 102 (1935) 100, Umschlag

Hamburg nach der »Machtergreifung« Mit dem Ausgang der Senatswahlen am 8. Mai 1933 erlangten die Nationalsozialisten in Hamburg die Macht.107 Obwohl die Beteiligung von einzelnen Angehörigen angesehener Kaufmannsfamilien und der würdige Modus der Einführung des Senats kurzfristig Illusionen geweckt haben mag, hat es in Hamburg keine Sonderentwicklung gegeben: Die »Machtergreifung« verlief nach demselben Muster wie überall im Reich; die politischen Gegner, allen voran die Kommunisten, wurden in den folgenden Wochen und Monaten verfolgt und aus öffentlichen Ämtern entlassen.108 Bereits eine Woche nach der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes durch Reichstag und Reichsrat am 23. März 1933 hatte der Senat den Beamten, Angestellten und Arbeitern des Staates die Zugehörigkeit zu »marxistischen« Parteien verboten, was zur Folge hatte, daß die SPD-Führung ihren Mitgliedern den Austritt empfahl, um ihre berufliche Existenz nicht zu gefährden. Die in Hamburg traditionell und selbst noch nach dem massiven Terror vor den Reichstagswahlen starke Partei109 verlor damit einen großen Teil ihrer engagiertesten Funktionäre und

107 Vgl. Büttner/Jochmann: Hamburg auf dem Weg ins Dritte Reich, S. 7. 108 Vgl. Büttner/Jochmann, S. 39 –70. 109 Bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 hatte die SPD 220.748 Stimmen erlangt. Auf beide Arbeiterparteien zusammen (KPD 144.333 Stimmen) entfielen mehr Stimmen als auf die NSDAP (318.747). (Die übrigen Parteien: DStP 28.470, DVP 19.725, die DNVP 65.540, das Zentrum, 13.714, der Christlich-Soziale Volksdienst 6756). – Vgl. Hochmuth/Meyer: Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand, S. 24. Zu den Wahlergebnissen in Hamburg zwischen 1907 und 1933 vgl. Büttner/Jochmann: Hamburg auf dem Weg ins Dritte Reich, S. 79.

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2 Verlagsgründung unter der Diktatur viele aktive Mitglieder; in den folgenden Tagen legten zwölf Abgeordnete der Bürgerschaftsfraktion ihre Mandate nieder und traten aus der Partei aus.110 Parallel zur Gleichschaltung der politischen Institutionen und der Verwaltung erfolgte die der Hamburger Lehrerschaft. Die Hamburger Pädagogen hatten in den Jahren nach dem Weltkrieg in besonderem Maße die Ziele der Schulreformbewegung der Jahrhundertwende in verschiedenen Gemeinschaftsschulen umgesetzt und sich in der konkreten pädagogischen Arbeit von der Idee einer Demokratisierung der Schule im Sinne der Selbstverwaltung und einer intensiven Zusammenarbeit zwischen Lehrerkollegien, Eltern und Schülern leiten lassen. Bis zum Sommer 1933 inszenierten Senat und Partei unter der Parole »Schluß mit der roten Pädagogik« eine »gezielte Kampagne gegen alle fortschrittlichen schulischen Einrichtungen der Weimarer Zeit«111. In noch stärkerem Maße als die allgemeinbildenden Schulen war die Hamburger Volkshochschule von der Gleichschaltung betroffen. Nach dem Hochschulgesetz von 1921 eine staatliche Einrichtung, vertrat sie in den zwanziger Jahren liberale Bildungs- und Erziehungsziele, die eine Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen, sozialen und politischen Fragen mit einschlossen und auf das Verantwortungsbewußtsein der Hörer auch in politischer Hinsicht zielten.112 Von diesem liberalen Geist der Hamburger Volkshochschule war im Winterhalbjahr 1933/34 in dem entsprechenden programmatischen Vorspann des Veranstaltungsverzeichnisses nichts mehr zu spüren. Nunmehr oblag ihr »die hohe Aufgabe der staatsbürgerlichen und weltanschaulichen Bildung der breiten Masse«: »Ihr fundamentales Prinzip ist die Bindung an den lebendigen und organischen inneren Lebenswillen der Nation. Zu diesem Zweck muß sie deutsches Geistesgut zur Verarbeitung ihren Hörern vermitteln, wobei Charakterbildung und weltanschauliche Erziehung nach deutschen Grundsätzen das ideale völkische Ziel sein muß. Dadurch erfüllt sie ihre Aufgabe, deutsche Menschen zu schaffen, die aus innerster Hingabe dem deutschen Staat dienen werden.«113

Berufsperspektive: Verleger Unter den veränderten politischen Verhältnissen fühlte sich Henry Goverts im Laufe des Jahres 1933 offensichtlich genötigt, nach einer konkreten Berufsperspektive zu suchen. Die Existenzform eines Privatiers barg in einem Staat, der jegliches »Schmarotzertum« bekämpfte und von jedem Deutschen und in besonderem Maße von den Angehörigen der Bildungsschicht aktive Mitarbeit am Aufbau einer neuen, nationalsozialistischen

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110 Vgl. Büttner/Jochmann, S. 41. 111 Hochmuth/Meyer: Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand, S. 77. 112 Vgl. z. B.: Hamburger Volkshochschule: Vorlesungen und Arbeitsgemeinschaften im Sommerhalbjahr 1927; darin: Vorbemerkungen. Allgemeines: »Die in den Werken der Kunst und Wissenschaft, in Recht und Sitte, in Sprache und Religion gestalteten Werte der Kultur gilt es in eindringender, nachschaffender Kraft zu erfassen und dadurch dem Wirken der führenden, schöpferischen Geister in der Gesamtheit des Volkes den kraftspendenden und aufnahmebereiten Boden zu sichern, daneben das Verständnis für die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme unserer Zeit zu vertiefen, den sozialen Willen und das politische Verantwortlichkeitsbewußtsein zu stärken.« 113 Zitiert nach Milberg: Kontinuität und Wandel, S. 90.

2.2 Verlagsgründung: Begleitumstände und Motive »Volksgemeinschaft« forderte, möglicherweise die Gefahr, gar zu Aufgaben herangezogen zu werden, die keinen eigenen Entscheidungsfreiraum mehr boten. Eine größere Anzahl seiner Bekannten und Freunde, die sich in den politischen Kämpfen der Monate vor den letzten Reichstagswahlen in stärkerem Maße als er exponiert hatten, waren ihrer Posten enthoben worden, wie der Leiter der demokratisch-sozialistischen LichtwarkSchule, Heinrich Landahl,114 oder waren Verfolgungen und KZ-Inhaftierung ausgesetzt, wie die Sozialdemokraten Carlo Mierendorff und Theo Haubach.115 Wann genau Goverts den Plan faßte, einen eigenen Verlag zu gründen, und welche Motive ihn dabei leiteten, ist nicht mehr zu erschließen. Allerdings lassen seine literarischen und kulturpolitischen Interessen seit den frühen zwanziger Jahren diesen Schritt plausibel erscheinen. Zwar scheint Goverts über die frühen Verbindungen hinaus über keine Kontakte zu Verlagen verfügt zu haben; für eine solche Entscheidung eines kulturell und literarisch interessierten Sohnes aus bildungsbürgerlich-vermögendem Elternhaus gibt es allerdings seit der Jahrhundertwende durchaus Vorbilder.116 Die finanzielle Fundierung der Unternehmung stellte aufgrund seines familiären Hintergrundes kein Problem dar. Möglicherweise hat Goverts’ Hamburger Verlegerkollege Heinrich Ellermann Recht, der im Rückblick vermutete, es sei »der heikle Balanceakt zwischen Geld und Geist«117 gewesen, der Goverts fasziniert habe. Zwar hatte Goverts eine kaufmännische Ausbildung hinter sich; auf dem Gebiet des Verlagswesens aber hatte er keinerlei praktische Erfahrung. So lag es für ihn nahe, sich auf die Suche nach einem geeigneten Geschäftspartner zu machen. Dieser sollte nicht nur die verlegerische Kompetenz mitbringen, die ihm selbst fehlte, sondern mußte vor allem in kulturellen Fragen und in der politischen Haltung mit ihm übereinstimmen. Goverts’ Studienfreund Wolfgang Petzet, der nach einer kunstsoziologischen Dissertation in Heidelberg Assistent von Heinrich Simon an der Frankfurter Zeitung und deren Korrespondent in Karlsruhe gewesen und mittlerweile Chefdramaturg an den Münchener Kammerspielen geworden war, vermittelte ihm als »Compagnon« seinen »Freund Shenja Claassen«118, den er noch aus München kannte.

Erste Kontakte – Emigration als Alternative? Über die ersten Kontakte und detaillierteren Planungen gibt es nur wenige Quellen. In einem sehr persönlichen Geburtstagsbrief an Goverts erinnerte sich Hilde Claassen an ein Treffen in Frankfurt im Frühjahr 1934, während dessen die Gespräche bereits konkrete Formen angenommen hatten: »[...] als Du uns im Frühjahr 1934 in Frankfurt besuchtest, da bezogen sich alle Gespräche auf ein einziges Thema: den Verlag, den Du mit Eugen gründen wolltest und der in Hamburg seinen Sitz haben sollte. Ich weiß noch 114 Zur Lichtwark-Schule vgl. die entsprechenden Abschnitte bei Hochmuth/Meyer: Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand, sowie Milberg: Kontinuität und Wandel. 115 Carlo Mierendorff war im März 1933 kurzfristig verhaftet worden; Theo Haubach kam 1933 für mehrere Monate in sog. Schutzhaft, später war er in den KZs Börgermoor sowie Esterwegen inhaftiert. 116 Vgl. z. B. Göbel: Der Kurt Wolff Verlag. 117 Heinrich Ellermann, in: Begegnung mit Henry Goverts, S. 17. 118 Wolfgang Petzet: Go – surreal. In: Begegnung mit Henry Goverts, S. 42.

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2 Verlagsgründung unter der Diktatur genau, wie erschrocken ich im Anfang über diesen Plan war, denn er durchkreuzte unseren Wunsch, aus Deutschland fortzugehen.«119 Hilde Claassen hat den Gedanken an eine mögliche Emigration ausdrücklich nur als Wunsch bezeichnet. Eugen Claassen jedoch wollte davon nichts wissen.120 Sicher wurde die Alternative der Emigration – wie von vielen Intellektuellen in den ersten Monaten des Jahres 1933121 – unter dem Eindruck der politischen Verfolgungen, darunter vieler Societäts-Autoren und Mitarbeiter der FZ,122 im Freundes- und Bekanntenkreis diskutiert. Für Eugen Claassen wäre ein solcher Schritt ins Ungewisse, ohne die Chance, in England seinen Beruf ausüben zu können, nicht akzeptabel gewesen. Gegen eine Emigration sprach vor allem aber die feste Verwurzelung Claassens in der deutschen Bildungstradition; auch unter den Angehörigen der bildungsbürgerlichen Eliten im Umkreis der Frankfurter Zeitung war die Auffassung von der Wirkungslosigkeit jeglichen Engagements für das eigene Land von jenseits der Grenzen weit verbreitet.123 Anders als die jüdische Massenemigration, die ihren Höhepunkt erst 1938/39 erreichte, ist die literarische und publizistische Emigration im wesentlichen auf das erste Halbjahr der nationalsozialistischen Herrschaft einzugrenzen.124 Während in den ersten Monaten der Diktatur, besonders in der Folge der Mai-Ereignisse, der Massenauszug von Intellektuellen nicht allein die Rettung der eigenen bedrohten Existenz zum Ziel hatte, sondern auch »Ausdruck moralischen Protests und politisch bewußter Gegnerschaft«125 war, verließen danach ohne direkte Bedrohung nur noch vergleichsweise wenige das Land. Ausschlaggebend für die Entscheidung des Ehepaars Claassen gegen die Emigration aber wird gewesen sein, daß Claassen, wie auch Hilde Claassen in ihren Erinnerungen notiert, die unter Intellektuellen sogar in Exilkreisen noch im Frühjahr und Sommer 1934 weitverbreitete optimistische Fehleinschätzung teilte, daß »alles bald vorüber«126 sein würde.

Wachsende Distanz zum Societäts-Verlag Die Ereignisse der Jahre 1933 und 1934 hatten erhebliche Auswirkungen auf die Frankfurter Zeitung und die Societätsdruckerei. Daß Claassen seine Arbeit als literarischer Leiter des Buchverlags zunehmend skeptischer sah, ist sicher. Einschneidende interne Veränderungen aufgrund der prekären finanziellen Situation des Gesamtverlags hatten

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119 Hilde Claassen: Begegnung mit Henry Goverts. In: Begegnung mit Henry Goverts, S. 11. 120 Vgl. Hilde Claassen: Erinnerungen. Ms. (Cl.A.). 121 Vgl. z. B. Boveri: Verzweigungen, S. 214: »Ich selber habe eigentlich den ganzen Sommer nur debattiert: auswandern oder bleiben?« 122 Von den Freunden aus der Jugendzeit emigrierten früh z. B. Friedrich Wilhelm Foerster und Oskar Maria Graf (vgl. Walter: Deutsche Exilliteratur, Bd. 1, S. 222), aus dem Umkreis der Frankfurter Zeitung und des Societäts-Verlags die Autoren Unruh, Noth, Renn und Kracauer. Hans Lothar, der Leiter des Zentralbüros der Frankfurter Societätsdruckerei, Ernst Schoen, zwischen 1929 und 1933 künstlerischer Leiter von Studio Frankfurt, und der dem SocietätsVerlag verbundene Rechtsanwalt Max Hermann Maier verließen Deutschland bis 1936. 123 Vgl. dazu den Artikel »Emigration« in der Frankfurter Zeitung vom 23.7.1933, sowie Gillessen: Auf verlorenem Posten, S. 190. 124 Vgl. Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich, S. 26. 125 Walter: Deutsche Exilliteratur, Bd. 1, S. 206. 126 Stephan: Die deutsche Exilliteratur, S. 45.

2.2 Verlagsgründung: Begleitumstände und Motive allerdings bereits früher begonnen.127 Im Verlauf des Jahres 1929 war der Verlag der Frankfurter Zeitung, seit der Gründung im Jahre 1856 in Familienbesitz, in derartige finanzielle Schwierigkeiten geraten, daß er nur durch die Beteiligung Dritter gerettet werden konnte. Die Gelder für die Sanierung über eine eigens zu diesem Zweck gegründete Imprimatur G.m.b.H. kamen, vermittelt über den Industriellen Carl Bosch, aus einem Kulturfond der I.G. Farben. Mit 51 % des Stammkapitals behielt die Familie Simon eine knappe Mehrheit. Es ist umstritten, ob die personellen Änderungen in der Redaktion und die größere Ausgewogenheit in den politischen Äußerungen der bis dahin entschieden liberalen Zeitung als direkte Folge dieser Transaktion, gar als Ergebnis einer indirekten Einflußnahme der Industrie, anzusehen sind.128 Für die Arbeit des Verlags gewann der Aufsichtsrat zunehmend an Bedeutung. Die erhaltenen Dokumente aus Claassens Arbeit im Societäts-Verlag ermöglichen einen Einblick in den Ablauf der Entscheidungen für oder gegen die Annahme eines Manuskripts. Die Dokumente zeigen nicht nur Claassens großes Engagement, sondern auch, daß Lektoratsentscheidungen selbst gegen das ausdrückliche Votum des literarischen Leiters gefällt werden konnten – und daß das Beharren auf einer konsequent liberalen Position in den politischen Konfrontationen der Spätphase der Weimarer Republik zunehmend schwerer wurde. Ein eindrucksvolles Beispiel für Claassens eindeutige Position innerhalb der internen Diskussionen in FZ und Verlag, in welchem Ausmaß auch Vertreter rechtskonservativen Gedankenguts in den Veröffentlichungen der Societätsdruckerei zu Wort kommen sollten,129 ist sein internes Gutachten über Friedrich Sieburgs Manuskript Es werde Deutschland,130 mit dem Claassen die Veröffentlichung dieses Buchs im Societäts-Verlag verhindern wollte. Es soll daher ausführlicher dargestellt werden. Friedrich Sieburg, Mitarbeiter der FZ seit 1925, der als Summe seiner vierjährigen Korrespondententätigkeit in Paris 1929 ein vielbeachtetes Porträt Frankreichs unter dem Titel Gott in Frankreich veröffentlicht hatte, nach Gillessen »ein Lobpreis französischer Lebensart«131, hatte nach drei Jahren Aufenthalt in London ein Buch über Deutschland geschrieben, von dem er selbst in einem Brief an Heinrich Simon meinte, es sei für den Verlag der Frankfurter Societäts-Druckerei »zu weit rechts orientiert« und enthalte »Bekenntnisse und Anschauungen [...], mit denen weder der Verlag, noch Sie, noch (indirekt) die Zeitung sich identifizieren können«132. In einem persönlich für Heinrich Simon abgefaßten Gutachten gab Claasen zu, ihm habe das Manuskript »einen Chock« versetzt.133 Besonders in jenen Teilen des Buches, die »das eigentliche Credo« darstellten und den »nationalen Mythos« erwecken« sollten, erschreckten Claassen »die Hybris und 127 Vgl. dazu Gillessen: Auf verlorenem Posten; Schivelbusch: Die Frankfurter Zeitung, sowie Becker: Demokratie des sozialen Rechts. 128 Becker spricht von einer »Wandlung zum Pragmatismus«; die Zeitung sei »gewissermaßen ›entideologisiert‹« worden (Becker, S. 36); vgl. kritisch dazu Gillessen, S. 44 – 60. 129 Vgl. in diesem Zusammenhang Gillessen, der berichtet, daß Benno Reifenberg sich im September 1932 kurzfristig dazu verstieg, für die Beteiligung Hitlers an der Regierung zu plädieren (S. 73). 130 Claassen: Zu dem Deutschlandbuch von Friedrich Sieburg. Ms., o. D. (Winter 1932/33) – (Cl.A). 131 Gillessen: Auf verlorenem Posten, S. 72. 132 Sieburg an Simon, 22. November 1932 (Nachlaß Simon), zitiert nach Gillessen, S. 74. 133 Claassen: Zu dem Deutschlandbuch von Friedrich Sieburg.

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2 Verlagsgründung unter der Diktatur die radikale Ausschließlichkeit«, mit der Sieburg sich des Themas bemächtigt habe; er hielt es »für ausgeschlossen, daß Abschwächungen diesen Radikalnationalismus zu ändern vermögen«, da er »zur Substanz des Buches« gehöre. Claassens Kritik zielte gleichzeitig auf die innere Widersprüchlichkeit der Sieburg’schen Dogmatik. »Das Buch versagt im Positiven, das ihm allein seine Berechtigung geben und uns legitimieren könnte, das Thema zur Diskussion zu stellen, in fast tragischer Weise. Nicht die Kritik am Liberalismus, die in durchaus würdiger Weise geübt wird, sondern seine intimsten positiven Gehalte sind unvertretbar.« Claassen fürchtete, sie würden »all die Leute, die der Arbeit des gesamten Verlags mit kritischem Vertrauen folgen, kopfscheu machen.«134 Heinrich Simon ließ sich von Claassens Argumenten, daß die Herausgabe dieses Buches eine Abkehr von der programmatischen Linie der Societäts-Druckerei bedeute, nicht überzeugen. Zwar versuchte er, den Autor zu einzelnen Änderungen zu bewegen;135 letztlich aber überwog doch sein Interesse daran, Sieburg als Mitarbeiter für die Zeitung zu halten, und dazu gehörte, seine Bücher im Societäts-Verlag zu veröffentlichen. Sieburgs Buch Es werde Deutschland wurde wenige Wochen nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten ausgeliefert. Wenn schon Heinrich Simon, wie Gillessen schreibt, zu diesem Zeitpunkt höchst unwohl mit dem Buch gewesen sei,136 muß es für Claassen an Selbstverleugnung gegrenzt haben, die Werbetexte zu formulieren oder zumindest zu verantworten.137 In dem im Spätherbst desselben Jahres erschienenen Sammelprospekt der Neuerscheinungen des Societäts-Verlags, der ebenfalls noch von Claassen verantwortet wurde, finden sich referierende Passagen, deren Wortwahl durchaus als vorsichtige Distanzierung lesbar sind. Der Schluß dieses ausführlicheren Werbe-

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134 Claassen: Zu dem Deutschlandbuch von Friedrich Sieburg. 135 Vgl. Gillessen: Auf verlorenem Posten, S. 74, der die internen Diskussionen auf der Grundlage der Korrespondenz zwischen Simon und Sieburg beschreibt. Das Gutachten Claassens lag Gillessen nicht vor. – Die Rolle Reifenbergs in diesem Zusammenhang, der sich nach Gillessen mit Simon in die jahrelangen Bemühungen teilte, Sieburg bei der Zeitung zu halten (vgl. Gillessen, S. 74) und der im Herbst 1932 intern in der Frage der Beteiligung der NSDAP an einer Regierung die Auffassung vertrat, man könne »nur deutsche Politik machen, wenn man imstande ist, Deutschland in allen seinen Entscheidungen in sich aufzunehmen« (Reifenberg an Hausenstein, 16.9.1932, Nachlaß Hausenstein, zitiert bei Gillessen, S. 84), ließe sich wohl nur auf der Grundlage der Nachlässe Simons und Reifenbergs ermitteln. 136 Vgl. Gillessen, S. 74: Simon habe gefürchtet, daß »gewisse Kreise« Sieburg »als Überläufer bejubeln« und andere ihn »in der gleichen Eigenschaft anklagen« würden. (Simon an Sieburg, 3. März 1933, Nachlaß Simon) – Vgl. zur Gesamteinschätzung des Buchs Margot Taureck: Friedrich Sieburg in Frankreich, S. 83 – 110, die Heinrich Manns Urteil aus dem Jahre 1935 zitiert, Sieburg habe »lang und breit, ausdrücklich für Frankreich, die Verteidigung des deutschen Nationalismus unternommen« und damit »hauptsächlich erreicht, daß seine französischen Leser diesen Deutschen seitdem für moralisch unzulänglich halten. Denn sie stellten fest, was aus dem gerühmten Nationalismus inzwischen geworden ist: der Terror; und was aus seinem Autor: ein Parteigenosse Hitlers.« Taureck betont, die Lektüre des Buchs werde »durch ein Amalgam von Inkongruenz und widerspruchsvollen Verknüpfungen sowie die außerordentliche Elastizität der Begriffe erschwert.« (S. 85) 137 Aus den in Claassens Nachlaß erhaltenen Unterlagen über den Societäts-Verlag geht hervor, daß auch sein Mitarbeiter Wangart für Werbemaßnahmen zuständig war. Es ist daher nicht eindeutig zu bestimmen, wer von beiden im Einzelfall die Werbeprospekte formuliert hat. Claassen als literarischer Leiter des Verlags allerdings verantwortete sie.

2.2 Verlagsgründung: Begleitumstände und Motive textes enthielt gleichzeitig eine deutliche Distanzierung vom Nationalsozialismus des Jahres 1933: Sieburg halte sich »von radikalen Ausschreitungen dadurch fern, daß seine Vision eines von innen her geeinigten Deutschlands alle Menschen einbegreift, die fähig sind, mit reinem Herzen Deutschland zu lieben und um Deutschland zu leiden«138. Die Änderungen in der Atmosphäre des Gesamtverlags erfolgten nicht schlagartig mit dem 30. Januar 1933. Die Artikel der Frankfurter Zeitung lassen sich aber spätestens nach den Märzwahlen auch als Versuche werten, auszuloten, wo die Grenzen einer oppositionellen Haltung gezogen waren.139 Im Lauf des Jahres 1933 begann zudem die erzwungene Auswechslung einer größeren Anzahl von Redakteuren.140 Claassen muß klar gewesen sein, daß nicht nur die in früheren Jahren von Alfred Rosenberg als »Judenblatt« und »jüdische Giftspritze«141 beschimpfte Frankfurter Zeitung, sondern die gesamte Verlagspolitik der Frankfurter Societäts-Druckerei von der nationalsozialistischen Staatsmacht äußerst kritisch würde beobachtet werden. Die Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat, die am Tag nach dem Reichstagsbrand, am 28. Februar 1933, erlassen wurde, veranlaßte die ersten Autoren des Buchverlags zur Flucht:142 Siegfried Kracauer, für dessen 1930 erschienene Studie Die Angestellten Claassen sich vehement eingesetzt hatte, verließ Deutschland am selben Tag;143 Ernst Erich Noth folgte am 5. März, ebenfalls über die französische Grenze.144 Ludwig Renn, der am 25. November 1932 wegen seiner Vorlesungen über militärwissenschaftliche Fragen an der Marxistischen Arbeiterschule inhaftiert und am 28. Januar 1933 aus der Haft entlassen worden war, wurde am 28. Februar erneut verhaftet.145 Einen Beleg dafür, für welche Autoren und Bücher die Verlagsleitung im Herbst 1933 noch zu werben wagte, stellt das 16-seitige Gesamtverzeichnis des SocietätsVerlags dar, abgeschlossen im Herbst 1933, auf dessen Titelblatt mitgeteilt wurde, daß die in diesem Verzeichnis aufgeführten Bücher »in allen Buchhandlungen erhältlich«

138 Sammelprospekt der Neuerscheinungen des Societäts-Verlags (Herbst 1933) (Cl.A.). – Daß Sieburgs Buch von der nationalistischen Kritik, trotz mancher Einschränkungen, zunächst eine wichtige Funktion zuerkannt wurde, im Jahre 1936 dann schließlich auf Veranlassung der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums verboten wurde, beschreibt Taureck: Friedrich Sieburg in Frankreich, S. 107 – 110. 139 Vgl. Gillessen: Auf verlorenem Posten, S. 91 – 110. 140 Vgl. Gillessen, S. 181 –198. 141 Rosenberg: Kampf um die Macht, S. 93 u. S. 194. 142 Fritz von Unruh, der im Frühjahr 1932 die Eiserne Front mitgegründet hatte, war bereits in der Folge der Frankfurter Krawalle um die Aufführung seiner Komödie Zero im Sommer 1932 nach Italien emigriert (vgl. Walter: Deutsche Exilliteratur, Bd. 1, S. 54 und S. 64). Nachdem seine Wohnung im Rententurm, die ihm 1924 wegen seiner Verdienste um den Frieden auf Lebenszeit zugesprochen worden war, von Unbekannten aufgebrochen, demoliert und ihm anschließend aus politischen Gründen von der Stadt Frankfurt gekündigt worden war, fühlte der Autor sich in Deutschland nicht mehr sicher. 143 Vgl. Gillessen: Auf verlorenem Posten, S. 184 –185: Simon hätte ihn gewarnt und ihm Anfang April den Rat gegeben, sich in Paris eine neue Existenz aufzubauen. 144 Vgl. Walter: Deutsche Exilliteratur 1933 – 1945, Bd. 1, S. 223. 145 Vgl. Walter, S. 156.

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2 Verlagsgründung unter der Diktatur seien.146 Von den seit 1930 erschienenen Titeln waren Kracauers Angestellte nicht mehr enthalten; auch nicht Petzets Streitschrift Verbotene Filme von 1931 und die im selben Jahr erschienene Broschüre National-Sozialismus von Friedrich Franz von Unruh, dem Bruder des Dramatikers Fritz von Unruh. Daß der Grund darin zu suchen ist, daß die Bücher zu diesem Zeitpunkt als politisch nicht mehr tragbar angesehen wurden, ist angesichts der Titel zu vermuten. Bei politischen Broschüren, die i. d. R. nicht nachgedruckt wurden, wie z. B. Alarmruf aus Österreich. Ein Blick hinter die Kulissen der Reaktion von 1931 sowie Deutscher Umbau von Rudolf Kircher ist es auch möglich, daß sie bereits ausverkauft waren. Allein das Erscheinen auf einer der zahlreichen Verbotslisten allerdings war bis zu diesem Zeitpunkt kein hinreichender Grund für den Verlag, die öffentlich inkriminierten Bücher nicht mehr anzuzeigen. Die beiden Bilddokumentationen Kamerad im Westen von 1930 und Wehrlos hinter der Front. Die Leiden der Völker im Krieg von 1931 hatten beide auf der Schwarzen Liste der Deutschen Studentenschaft gestanden147 und waren dennoch im Gesamtverzeichnis des Spätherbstes 1933 enthalten. Die Tatsache, daß die Bücher Fritz von Unruhs wie auch Ludwig Renns Krieg und Ernst Erich Noths Mietskaserne noch angezeigt wurden, läßt sich dahingehend deuten, daß der Verlag nicht bereit war, literarische Werke ohne direktes Verbot freiwillig vom Markt zu nehmen, selbst wenn sie auf den meisten »Schwarzen Listen« aufgetaucht und die Autoren inhaftiert oder bereits emigriert waren.148 Ein Jahr später allerdings wagte der Verlag für die wenigsten seiner vor 1933 erschienenen Bücher noch zu werben: Auf einem vierseitigen Bestellschein des SocietätsVerlags für die Neuerscheinungen des Jahres 1934149 waren als »früher erschienene gangbare Bücher« nur noch Edschmids Westdeutsche Fahrten (1933), die Briefe der Karschin,150 Harold Nicolsons Die Herren der Welt privat (1933) und zwei Abenteuerbücher für Jungen von Hans Queling (1931)151 genannt – neben vier Büchern von Friedrich Sieburg.152 Deutlich genug läßt sich an diesen internen Diskussionen und dem äußerst vorsichtigen Verhalten des Verlags in der Werbung erkennen, wie sehr die Societäts-Druckerei mit ihrer bisherigen programmatischen Orientierung in die Defensive geraten war.153

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146 Gesamtverzeichnis des Societäts-Verlags Frankfurt am Main. Abgeschlossen Herbst 1933 (DLA). 147 Vgl. Sauder: Bücherverbrennung, S. 131f. 148 Vgl. Walter: Deutsche Exilliteratur 1933 – 1945, Bd. 1, S. 238f. 149 Vermutlich im Spätherbst oder Winter 1934 erschienen (DLA). 150 Die Karschin. Friedrich des Großen Volksdichterin. Ein Leben in Briefen (1933). 151 Die beiden Erzählungen des 1931 erschienenen Geschenkbuchs »Sechs Jungen tippeln nach Indien und zum Himalaya«, das in einer Auflage von 17.000 Exemplaren erschienen war, waren mittlerweile getrennt aufgebunden worden. 152 Friedrich Sieburg: Frankreichs rote Kinder; Vendée (beide zusammen auch als Geschenkkassette); Gott in Frankreich?; Die rote Arktis. 153 Für welche ihrer früheren Veröffentlichungen im Laufe der ersten zwei Jahre der sich etablierenden nationalsozialistischen Diktatur zu welchem Zeitpunkt Verbotsanträge eingeleitet, wann genau die Verbreitung einzelner Werke polizeilich verboten war, ließe sich nur durch Recherchen in den Akten der Geheimen Staatspolizei erschließen. – Vgl. dazu auch die bei Barbian, Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 64 erwähnte Liste »unerwünschter Literatur« vom November 1933, die vom Börsenverein »in Übereinstimmung mit dem

2.2 Verlagsgründung: Begleitumstände und Motive In seinen persönlichen Beziehungen trafen Claassen am meisten die Auswirkungen des am 4.10.1933 erlassenen Schriftleitergesetzes auf die Frankfurter Zeitung und den gesamten Verlag. Sie zeigten sich in großen personellen Änderungen in der Zeitung und führten schließlich im Sommer 1934 zum Ausscheiden Heinrich Simons, den Claassen persönlich schätzte und verehrte. Mit Inkrafttreten dieses Gesetzes am 1.1.1934 durfte »Schriftleiter« nur sein, wer arischer Abstammung war; zudem durfte der Verleger nicht mehr Mitglied der Redaktion zu sein. Gillessen hat detailliert beschrieben, wie zeitgleich mit den politischen Bemühungen der Machthaber, jüdische Mitbürger von der Teilhabe am kulturellen Leben auszuschließen, die Sanierung des Unternehmens erfolgte, das seit Anfang des Jahres 1933 wieder um sein wirtschaftliches Überleben kämpfte.154 Die Folge war die Übernahme von nahezu 98 % der Anteile durch die Imprimatur GmbH. Die Brüder Simon und ihre Mutter Therese Sonnemann schieden aus allen Organen der Gesellschaft aus. Heinrich Simon emigrierte über die Schweiz nach Palästina und später in die USA. Sein Nachfolger als Verleger wurde Wendelin Hecht, der zur Sanierung des Unternehmens allen Redakteuren und Angestellten im September 1934 einschneidende Gehaltskürzungen zumutete. In diesem Zusammenhang gesehen erscheint Claassens Entscheidung, nach Alternativen zu seiner Tätigkeit im SocietätsVerlag zu suchen, geradezu als Notwendigkeit.155 Vor dem Hintergrund dieser Belastungen und Beschränkungen innerhalb des Societäts-Verlags muß Claassen das Angebot Goverts’, mit ihm zusammen einen Verlag zu gründen, gereizt haben. Dieser neue Verlag würde für die neuen Machthaber nicht so sichtbar mit der Hypothek einer engagierten, demokratischen und sozialkritischen Vergangenheit belastet sein, und er wäre nicht abhängig von potenten, wirtschaftlich und damit auch politisch einflußreichen Geldgebern. Die Möglichkeit, in eigener Regie und eigener Verantwortung einen kleinen Verlag aufzumachen – so muß es Goverts und Claassen gemeinsam erschienen sein –, würde sie davon befreien, jene Kompromisse machen zu müssen, ohne die, wie Claassen es nach 1945 im Rückblick des öfteren for-

Kampfbund für Deutsche Kultur« als Einschreiben an die einzelnen Verlage versandt wurde: B.Arch. Koblenz R55/684, Bl. 214ff (Nov./Dez. 1933) und Bl. 30 –199 (Januar 1934); dazu auch unten Kap. 2.3. – Im B.Arch. Koblenz ist z. B. in den erhaltenen Akten der Preußischen Geheimen Staatspolizei (R58/967, Bl. 187 – 212) die Beschlagnahmung von Sieburgs Buch »Es werde Deutschland« in den Räumen des Societäts-Verlags und der Druckerei Osterrieth in Frankfurt/Main dokumentiert, die auf einen Erlaß B.Nr. II 2 B 1153 – 6.4.36 zurückging und am 14.4.1936 von der Staatspolizeistelle für den Reg.-Bez. Wiesbaden in Frankfurt/Main durchgeführt wurde. 154 Vgl. dazu Gillessen: Auf verlorenem Posten, S. 164 – 180. 155 Ob auch das Gehalt des literarischen Leiters des Buchverlags unter diese Kürzungen fiel, ließ sich nicht mehr recherchieren. Die anekdotenhaft wirkende Erzählung Hilde Claassens in ihren unveröffentlichten Lebenserinnerungen würde in diesem Zusammenhang allerdings verständlich: Ihr Mann sei von Ernst Schön, dem Direktor des Radio Frankfurt, dazu engagiert worden, »Feuilletons, Gedichte, Aufsätze von bekannten Persönlichkeiten, auch von Autoren des Societäts-Verlags, vorzutragen« (Hilde Claassen: Erinnerungen. Ms. (Cl.A.). Diese Nebentätigkeit als Rundfunksprecher könnte Claassen während seines letzten Jahres im Societäts-Verlag zur Aufbesserung des Gehalts gedient haben.

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2 Verlagsgründung unter der Diktatur muliert hat, die weitere Arbeit im Societäts-Verlag nicht möglich gewesen wäre.156 Daß es kein publizistischer Verlag sein sollte wie der Societäts-Verlag, stand von Anfang an fest. Der Plan ging dahin – so hat es Claassen in der Retrospektive beschrieben –, einen schöngeistigen Verlag aufzubauen, der »jeden Kontakt mit dem politischen Alltag«157 vermeiden sollte.

2.3

Rahmenbedingungen für die Verlagsarbeit nach dem 30.1.1933

2.3 Rahmenbedingungen für die Verlagsarbeit nach dem 30.1.1933 Als Henry Goverts und Eugen Claassen am 20. Dezember 1934 den Verlag H. Goverts ins Handelsregister der Stadt Frankfurt/Main eintragen ließen, war die »revolutionäre« Phase der nationalsozialistischen Machtübernahme längst abgeschlossenen; die terroristischen Aktionen der Anfangsmonate waren einer rechtsförmigen Schrifttumspolitik gewichen. Die Rahmenbedingungen und die Veränderungen der Organisationsstrukturen sind inzwischen Gegenstand mehrerer wissenschaftlicher Untersuchungen geworden, von denen besonders die Arbeiten von Volker Dahm und Jan-Pieter Barbian zu nennen sind.158 Es bleibt zu erklären, was Claassen und Goverts zu diesem Zeitpunkt zu der Einschätzung bewog, eine von nationalsozialistischen Vorgaben weitestgehend unabhängige Verlagspolitik wäre auch in Zukunft noch möglich. Wenn aus der Retrospektive auch die Beurteilung leicht fällt, daß diese Hoffnung nicht realistisch war, so ist die Frage zu beantworten, ob sie vor dem Hintergrund der kulturpolitischen Entwicklung bis zum Ende des Jahres 1934 verständlich ist.

Entwicklung der staatlichen Kulturpolitik Der Blick auf die Gesamtentwicklung der staatlichen Kulturpolitik bis zum Ende des Jahres 1934 bestärkt den Eindruck, daß zum Zeitpunkt der Gründung des H. Goverts Verlags am 20.12.1934 die wesentlichen juristischen und organisatorischen Grundlagen für eine im nationalsozialistischen Sinne gelenkte staatliche Schrifttumspolitik bereitet waren. Der rigide Umgang mit oppositionellen Verlagen war bereits in den ersten Wochen und Monaten offensichtlich geworden.159 Die zunächst sich scheinbar wildwüchsig entfaltende staatliche Indizierungspraxis mögen selbst kritische Zeitgenossen zwar in den Anfängen durchaus in Kontinuität zu den in der Endphase der Weimarer Republik erlas-

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156 Vgl. Claassen: Über das Verlegen. In: In Büchern denken, S. 17; Claassen: Vom schönen Leben des Verlegers. In: In Büchern denken, S. 636. – Vgl. auch Hilde Claassen: Notizen zur Biographie Eugen Claassen. In: In Büchern denken, S. 668. 157 Claassen: Über das Verlegen, S. 17. 158 Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich, sowie Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«. 159 Genannt seien nur die bekanntesten Beispiele: das der KPD nahestehende Verlags- und Zeitungsunternehmen Willi Münzenbergs (vgl. Walter: Deutsche Exilliteratur 1933 – 1945, Bd. 1, S. 164f); die sozialdemokratische Firma J. H. W. Dietz Nachf. (vgl. Emig/Schwarz/ Zimmermann: Literatur für eine neue Wirklichkeit) sowie der Malik-Verlag (vgl. Herzfelde: Der Malik-Verlag 1916 – 1947; Hermann: Malik. Zur Geschichte eines Verlags; Hermann: Zwischen Weltkrieg und Diaspora; Faure: Im Knotenpunkt des Weltverkehrs).

2.3 Rahmenbedingungen für die Verlagsarbeit nach dem 30.1.1933 senen Schmutz- und Schundgesetzen gesehen und insgesamt so wahrgenommen haben, wie Dahm sie fünfzig Jahre später charakterisierte, nämlich »als ein durch die territoriale und kompetenzmäßige Zersplitterung der staatlichen Indizierung zusätzlich verwirrtes Knäuel privater, organisationsspezifischer, gerichtlicher, polizeilicher und behördlicher Maßnahmen und Aktionen [...], das vor allem die Vorstellung eines planmäßigen, zentral gesteuerten Handelns absurd erscheinen läßt.«160 Eine eingehende Lektüre des Börsenblatts allerdings offenbarte jedem Interessierten vom Frühjahr 1933 an in frappierender Deutlichkeit die Bereitschaft des Börsenvereins für den deutschen Buchhandel, sich von Anfang an aktiv an den sog. »Säuberungsmaßnahmen« zu beteiligen.161 Während die »Gleichschaltung« der verschiedenen schriftstellerischen Repräsentanz- und Interessenvertretungen im wesentlichen bereits im Sommer 1933 abgeschlossen war162, erfolgte die des deutschen Buchhandels vergleichsweise spät. Die Gründe dafür sind in der beispiellosen freiwilligen Selbstanpassung in den Anfangsmonaten des Regimes zu sehen, verbunden mit der komplizierten Organisationsstruktur des Börsenvereins, die eine reibungslose Überführung in die Reichsschrifttumskammer verhinderte. Es ist nicht auszuschließen, daß das sich lang hinziehende Verfahren sogar einen kritischen Beobachter der Lage, wie es Claassen zweifellos war, bei der Lektüre des Börsenblatts in den ersten Monaten des Jahres 1934 noch zu einer realitiv optimistischen Einschätzung der Lage bewegen konnte. In der zweiten Hälfte des Jahres erfolgten allerdings die entscheidenden Schritte auf dem Weg zur endgültigen »Gleichschaltung« des Börsenvereins. Die Rechtfertigung für die Gründung eines neuen buchhändlerischen Fachverbandes, des Bundes Reichsdeutscher Buchhändler (BRB), und eine klare Aufgabentrennung zwischen dem nur noch für wirtschaftliche Fragen zuständigen Börsenverein und dem BRB wurde in der »Bekanntmachung« vom 11. Juli 1934 im Börsenblatt formuliert: Zweck des Bundes sei die »ständische Selbstverwaltung des reichsdeutschen Buchhandels im nationalsozialistischen Geist«163. Wenige Wochen später gelangte mit Wilhelm Baur, Verlagsleiter im Parteiverlag Franz Eher Nachf., ein überzeugter Nationalsozialist an die Spitze des Börsenvereins.164 In unmißverständlicher Deutlichkeit legte der in einer Ansprache vor dem Gesamtvorstand am 21.9.1934, die im Börsenblatt in voller Länge abgedruckt wurde,165 seine Vorstellungen von der »Führung« des Börsenvereins dar und beschrieb die Vorbereitungen der zurückliegenden Wochen mit Nachdruck als einschneidende Richtungsänderung: Die neue Satzung mache »radikal Schluß mit der bisherigen Verfassung«, und hieraus könne man bereits »den Geist des Neuen ersehen«166. 160 Dahm: Die nationalsozialistische Schrifttumspolitik, S. 43. 161 Vgl. dazu zsfd.: Dahm: Die nationalsozialistische Schrifttumspolitik; Barbian: Von der Selbstanpassung zur nationalsozialistischen »Gleichschaltung«; Krämer-Prein: Der Buchhandel war immer deutsch; ausführlich: Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«; Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich. 162 Vgl. Brenner: Ende einer bürgerlichen Kunst-Institution; Jens: Dichter zwischen rechts und links; Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«; Mittenzwei: Der Untergang der Akademie. 163 »Bekanntmachung« vom 11.7.1934, in: Börsenblatt 101 (1934) 161, S. 625 – 632. 164 Vgl. zu den Hintergründen Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 46 – 48. 165 »Ansprache des Herrn Wilhelm Baur an den Gesamtvorstand in der Sitzung am 21.9.1934«, in: Börsenblatt 101 (1934) 224, S. 835 –837. 166 Ansprache, S. 835.

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2 Verlagsgründung unter der Diktatur Mit der Ersetzung des Börsenvereins in der RSK durch den Bund Reichsdeutscher Buchhändler am 19.10.1934167 und der Annahme der neuen Satzung des Börsenvereins auf der außerordentlichen Hauptversammlung des Börsenvereins am 11.11.1934168 kann in der Tat die »Gleichschaltung« des Börsenvereins als abgeschlossen gelten. Laut Protokoll trug die Satzungsänderung »den neuen nationalsozialistischen Forderungen Rechnung« und setzte »den Schlußstein für den berufsständischen Aufbau des Buchhandels«169. Wenn auch bis zum Ende des Jahres 1934 im Buchhandel die Hoffnung genährt wurde, daß jüdische Verleger nicht an der Ausübung ihres Berufes gehindert werden würden, so gab es doch genügend Indizien dafür, daß dies lediglich eine Verzögerung gegenüber anderen Sparten der kulturellen Berufe bedeutete. Die systematische Ausschaltung jüdischer Schriftsteller hatte bereits im zweiten Halbjahr 1934 begonnen.170 Die Tatsache, daß in der am 3.11.1934 im Börsenblatt veröffentlichten Satzung des Bundes Reichsdeutscher Buchhändler im § 13 festgelegt war, daß ein Amt im BRB nur bekleiden könne, »wer seine arische Herkunft für sich und gegebenenfalls für seine Ehefrau nachzuweisen vermag«171, deutete ebenfalls in Richtung einer generellen Verschärfung der Kulturpolitik auch für die Verleger hinsichtlich der rassischen Zugehörigkeit. Bei der Bewertung der Vorgänge im Herbst 1934 kommt Dahm zu dem Schluß, das Regime habe mit »der endgültigen Gleichschaltung des deutschen Buchhandels durch die Gründung des BRB und Inbesitznahme des Börsenvereins [...] die Fiktion der Selbstverwaltung der kulturellen Berufe aufgegeben, die es anfänglich mit großem propagandistischen Aufwand suggeriert hatte«172. Daß der RSK zu diesem Zeitpunkt noch der nationalkonservative Schriftsteller Friedrich Blunck vorstand173, konnte über jene Komponenten, die der grundlegende Einschnitt des Spätherbstes 1934 mit der Gründung des Reichsverbandes Deutscher Buchhändler enthielt, kaum hinwegtäuschen. Über die Satzung des BRB durfte auf der außerordentlichen Hauptversammlung des Börsenvereins am 11.11.1934 gar nicht mehr abgestimmt werden.174 Daß für die Regionalgliederung des

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167 Vgl. die »Bekanntmachung« vom 1.11.1934, in: Börsenblatt 101 (1934) 257, S. 957. 168 Vgl. das »Protokoll über die Verhandlungen der außerordentlichen Hauptversammlung«, in: Börsenblatt 101 (1934) 265, S. 989 – 992 sowie »Bekanntmachung«, in: Börsenblatt 101 (1934) 269, S. 1005 – 1008, in der die endgültige Satzung abgedruckt ist. 169 Protokoll, S. 989. 170 Zur »Ausschaltung« der jüdischen Autoren vgl. Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich, S. 47 – 59 sowie Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 158 – 165. 171 Satzung des Bundes reichsdeutscher Buchhändler, in: Börsenblatt 101 (1934) 257, S. 959f, hier: S. 960. 172 Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich, S. 61. 173 Seine Ersetzung wie auch die des Präsidenten der Reichsmusikkammer, Richard Strauss, und die des Präsidenten der Reichsfilmkammer, Fritz Scheuermann, durch nationalsozialistische Gefolgsleute erfolgte im Frühjahr 1935. 174 Laut Protokoll war der Vorsteher »von vornherein etwa bestehenden irrigen Meinungen« entgegengetreten und hatte »ausdrücklich« darauf hingewiesen, »daß eine Abstimmung über die Satzung des Bundes reichsdeutscher Buchhändler n i c h t stattfindet. Die Satzung ist in der von den Gründern festgelegten Form bereits in das Vereinsregister eingetragen und hat damit Rechtskraft erlangt. Die Änderung dieser Satzung steht hier nicht zur Debatte.« (Protokoll über die Verhandlungen der außerordentlichen Hauptversammlung des Börsenvereins

2.3 Rahmenbedingungen für die Verlagsarbeit nach dem 30.1.1933 Bundes die Gau- und Ortsgruppeneinteilung der NSDAP festgelegt wurde, hatte praktische Folgen für die bestehenden Regionalgruppierungen des Börsenvereins.175 Im BRB galt das Führerprinzip; Vorstandswahlen waren obsolet geworden, da der Vorsteher den Rat, dem nach Ablauf von drei Jahren die Berufung des Vorstehers zustand, selbst berief. Das Organ der Hauptversammlung war zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Jedes Mitglied, dem die Mitgliedschaft ja nach dem Reichskulturkammergesetz vorgeschrieben war, hatte »insbesondere« die Pflicht, »die Anordnungen der Reichsschrifttumskammer sowie die nach Maßgabe der Satzung gefaßten Beschlüsse, Entscheidungen und Anordnungen der Organe des Bundes zu befolgen« und sich auch »den Anforderungen gemeinschaftlicher Maßnahmen nicht zu entziehen«176. Der zukünftige Weg informeller Weisungen, die hiermit eine juristische Grundlage erhielten, war bereits mit der Ankündigung eines »Mitteilungsdienstes« der Reichsschrifttumskammer im September vorgezeichnet. Als dessen Zielsetzung war bereits im Börsenblatt vom 25.9.1934 angegeben worden, »die Verbindung zwischen der Reichsschrifttumskammer und den Verbänden enger zu gestalten«177. Neben diesen deutlichen Anzeichen einer zunehmenden Verschärfung der staatlichen Kulturpolitik waren die Auswirkungen der Gründung verschiedener parteiamtlicher Prüfungs- und Überwachungsstellen, von denen lediglich die »Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums (Bouhler-Kommission)« und das »Amt Schrifttumspflege« Alfred Rosenbergs sowie die ihr beigeordnete »Reichsstelle zur Förderung ders deutschen Schrifttums« größere Bedeutung gewannen,178 gegen Ende des Jahres 1934 kaum abzusehen. Dennoch waren sie als Indiz für das Bestreben verschiedener Gruppierungen der nationalsozialistischen Partei zu werten, auf die Literaturpolitik des Dritten Reichs Einfluß zu nehmen. Über Gründung, Funktion und z. T. auch Arbeitsweise dieser Einrichtungen, z. B. auch über deren Recht, Besprechungsstücke anzufordern, sowie über Gutachten-Anzeiger und Empfehlungen wurde im Börsenblatt informiert.179

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der Deutschen Buchhändler zu Leipzig (11.11.1934), in: Börsenblatt 101 (1934) 265, S. 989 – 992; hier: S. 991) Vgl. Satzung des Bundes reichsdeutscher Buchhändler, § 5, in: Börsenblatt 101 (1934) 257, S. 959. Satzung des BRB, § 3 b ½, S. 959. – Der Vorstand des Börsenvereins sicherte sich in seiner neuen Satzung die absolute Gefolgschaftstreue seiner Mitglieder, indem er für die Aufnahme »die bindende schriftliche Verpflichtung« erforderlich machte, »die vom Börsenverein selbst oder von seinen Untergliederungen erlassenen, von ihm selbst genehmigten und veröffentlichten Satzungen, Ordnungen und Verfügungen zu befolgen«; dies gelte »sowohl für denjenigen, der die Aufnahme nachsucht, als auch für den von ihm vertretenen Geschäftsbetrieb.« (Satzung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler, § 2 und § 4, in: Börsenblatt 101 (1934) 269, S. 1006 – 1009; hier: S. 1007) Heß: Sitzung des Gesamtvorstandes am 21. September 1934, in: Bbl. 101 (1934) 224, S. 833f.; hier: S. 834. Als »Vertrauliche Mitteilungen der Fachschaft Verlag im Bund reichsdeutscher Buchhändler« erschienen sie ab dem 31.5.1935 und wurden kostenlos an die Mitglieder durch die Post verschickt. Vgl. Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 116 – 156, sowie Dahm: Die nationalsozialistische Schrifttumspolitik, S. 71 –77. Vgl. zum Überblick das »Verzeichnis der wichtigsten Bekanntmachungen« vom 1.1. bis 30.9.1934 im Bbl. 101 (1934) 230, S. 859f.

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2 Verlagsgründung unter der Diktatur Auch die staatliche »Reichsschrifttumsstelle beim Propagandaministerium«, deren Gründung im Juni 1934 bekanntgegeben wurde,180 trat bis zum Ende des Jahres 1934 lediglich mit Einzelmaßnahmen zur Literaturförderung hervor, etwa mit Werbekampagnen wie »Die sechs Bücher des Monats«.181 Die Aufwertung dieser bis dahin lediglich als »Referat für Literatur- und Verlagswesen« innerhalb der »Abteilung Propaganda« bestehenden Schrifttumsstelle des Propagandaministeriums zu einer eigenständigen Abteilung (VIII) unter Heinz Wismann war allerdings im Rahmen der Gesamtentwicklung der Literaturpolitik durchaus auch als ein weiteres Anzeichen zunehmender Verschärfung und verstärkter Kontrollbemühungen vonseiten des Staates interpretierbar.

Deutsche Verlage 1933/1934 – Versuch eines Querschnitts All diese Etappen einer »Gleichschaltung« waren im Börsenblatt gut dokumentiert und konnten einem Mann wie Eugen Claassen nicht verborgen bleiben, der als literarischer Leiter des politisch exponierten Societäts-Verlags die literaturpolitische Entwicklung ohne Zweifel sehr genau und mit kritischem Blick auf die geänderten Rahmenbedingungen beobachtete. Einen liberalen Intellektuellen, der das Regime aus politischer Überzeugung ablehnte, konnte zu diesem Zeitpunkt nur noch eine geradezu trotzige Hoffnung zu der Prognose veranlassen, daß es für einen kleinen Privatverlag auch in Zukunft möglich sein würde, in weitestgehender Distanz zu den Zwangsverbänden und Überwachungsstellen zu arbeiten. Immer mehr Indizien sprachen im Verlauf der zweiten Hälfte des Jahres 1934 gegen die Vorstellung, in einem bestimmten, gar nicht so eng begrenzten Rahmen müsse auch unter der Herrschaft der Nationalsozialisten eine eigenständige Verlagsarbeit möglich sein: mit von außen unbeeinflußten verlegerischen Entscheidungen, individuellen Gewichtungen und einer vor allen Dingen nach qualitativen Gesichtspunkten ausgewählten Vielfalt in der Produktion. Henry Goverts und Eugen Claassen, für die eine Emigration subjektiv offensichtlich keine realistische Alternative war, werden allerdings während der Monate bis zum Ende des Jahres 1934, in denen sie die Gründung des neuen Verlages planten, neben dem Blick auf die Verbote und Beschränkungen auch, und möglicherweise vorrangig, auf die Ergebnisse der Arbeit anderer Verlage geachtet haben. Wie sich vergleichbare Firmen, d. h. solche, die sich hauptsächlich mit Belletristik und kulturhistorischen Arbeiten befaßten, zu Beginn des Dritten Reichs verhielten – ob tatsächlich die meisten »sich duckten« oder gar »mitzuschwimmen«182 bereit waren – ist auch heute erst in Ansätzen erforscht. Es ist ohne intensives Quellenstudium und

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180 Vgl. Bbl. 101 (1934) 130 (7.6.1934), S. 509: »Beim Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda ist eine Reichsschrifttumsstelle eingerichtet worden. Aufgabe dieser Stelle ist die Durchführung praktischer Propagandamaßnahmen auf dem Gebiete der Pflege des deutschen Schrifttums in Zusammenarbeit mit allen zuständigen Organisationen.« – Barbian gibt als Zeitpunkt der Gründung erst den Herbst 1934 an (vgl. Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 73). 181 Vgl. für das erste Dreivierteljahr des Jahres 1934: Bbl. 101 (1934) 130; 132; 138; 142 (Errichtung) sowie 152; 172; 202; 218; 228 (jeweils u. d. T. »Die sechs Bücher des Monats«). 182 Tgahrt: Der Verlag wird seine Richtung nicht ändern müssen, S. 7.

2.3 Rahmenbedingungen für die Verlagsarbeit nach dem 30.1.1933 ohne genaue Kenntnis der Einzelfälle selbst in der Retrospektive schwer zu entscheiden, ob die nach außen sichtbaren Veränderungen auf äußeren Druck hin zustande gekommen waren, ob sie das Ergebnis vorauseilenden Gehorsams waren oder ob ihnen gar geänderte Überzeugungen oder schlichtweg marktpolitisches Kalkül zugrunde lagen. Auch den Zeitgenossen blieben solche Hintergründe in der Regel verborgen, und sie waren bei der Beurteilung oft auf Indizien angewiesen. Strothmann hat als erster darauf hingewiesen, daß es bereits in den Jahren 1918 bis 1933 eine größere Zahl von Verlagen gab, die »eine der NS-Weltanschauung entsprechende ›nordische‹ Literatur« herausbrachten bzw. jene Autoren förderten, von denen die Nationalsozialisten später behaupteten, sie seien während der Weimarer Republik massiv behindert worden: »Außer den Unternehmen J. F. Lehmann (München) und Theodor Fritsch (Leipzig), die ausschließlich rassische und antisemitische Bücher verlegten, waren schon damals die Verleger Albert Langen-Georg Müller (München), die Hanseatische Verlagsanstalt (Hamburg), L. Staackmann (Leipzig), Georg Westermann (Braunschweig), der Hoheneichen-Verlag (München), die Deutsche VerlagsAnstalt (Stuttgart), der Insel-Verlag und der Paul List-Verlag (beide Leipzig), der Eugen Diederichs Verlag (Jena), Stalling (Oldenburg) und Ludwig Voggenreiter (Potsdam) an der Verbreitung eines nationalen schöngeistigen Schrifttums beteiligt.«183 Neuere Forschungen haben den für den Aufstieg der nationalen Rechten entscheidenden Einfluß des Hugenberg-Konzerns,184 zu dem auch der Scherl-Verlag gehörte, herausgearbeitet, ebenso Entstehung und Wirken des Verlagsimperiums des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbands (DHV) am Beispiel der Verlagsfusion LangenMüller185. Es steht zu vermuten, daß jene völkischen Klein- und Kleinst-Verlage in der Weimarer Republik, deren Bedeutung für die massenhafte Verbreitung völkischen Gedankenguts Ulbricht186 herausgestellt hat, in der breiten bürgerlichen Öffentlichkeit kaum bekannt waren. Daß die größeren völkischen und nationalkonservativen Verlage insgesamt unter den veränderten Bedingungen stärkeres marktpolitisches Gewicht erhielten, zeigte nicht nur die Entwicklung des parteieigenen Franz Eher Verlags,187 sondern auch die der Hanseatischen Verlagsanstalt.188 Kritischen Zeitgenossen wird die Tatsache, daß diese Verlage vor allem auch in der Werbung offensiver an die Öffentlichkeit traten, genausowenig entgangen sein wie die der wachsenden Auflagenziffern der von ihnen geförderten Autoren.189 Von größerer Bedeutung für Claassen und Goverts bei dem Versuch einer möglichen Beurteilung der verbliebenen Möglichkeiten

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Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 93f. Holzbach: Das »System Hugenberg«. Meyer: Die Verlagsfusion Langen-Müller. Ulbricht: »Die Quellen des Lebens rauschen in leicht zugänglicher Fassung ...«. Vgl. Aus der Geschichte des Zentralverlags der NSDAP. Lokatis: Hanseatische Verlagsanstalt. Vgl. zur Einschätzung der Autoren des völkisch-nationalen und des nationalsozialistischen Spektrums: Bormann: Vom Traum zur Tat; Prümm: Die Literatur des soldatischen Nationalismus der zwanziger Jahre; Vondung: Der literarische Nationalsozialismus; Ketelsen: Literatur und Drittes Reich. – Zum geradezu explosionsartig wachsenden Einfluß des EherVerlags vgl. Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 361 – 366.

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2 Verlagsgründung unter der Diktatur waren ohne Zweifel aber die Verlage des bürgerlich-liberalen Spektrum mit ihrer Produktion vom Frühjahr 1933 bis zum Herbst 1934. Ein Beispiel für eine politische Neuorientierung im Verlagsprogramm ist die Sammlung Universal-Bibliothek des Reclam-Verlags, innerhalb derer sofort sichtbare Veränderungen vorgenommen wurden.190 Bereits 1933 erschienen das Bändchen Wie Adolf Hitler der Führer wurde von Czech-Jochberg und weitere Ausgaben, »die schon vom Titel her eine offensichtliche Affinität zum Nationalsozialismus besaßen«191, wie Schöneichs Tausend Jahre deutscher Kampf im Osten (1933) oder von Leers’ Geschichte auf rassischer Grundlage (1934). Auch eine Hitler-Rede tauchte im Verlagsprogramm auf. Gleichzeitig wurden, offensichtlich aus politischen wie rassistischen Gründen, ältere Autoren wie Auerbach, Börne, Heine, Lassalle und Saphir vom Markt genommen, von den Autoren des 20. Jahrhunderts u. a. Andersen-Nexö, Auernheimer, Leonhard Frank, Klabund, Heinrich Mann, Schnitzler, Wassermann, Werfel und Arnold und Stefan Zweig.192 Weiterhin aber erschienen die Klassiker in einer großer Bandbreite sowie viele zeitgenössische deutsche und ausländische Autoren. Die Außenwirkung im Jahre 1934 mochte sich durchaus mit Ruppelts Gesamteinschätzung ex post decken, daß »die nationalsozialistische Weltanschauungs- und Indoktrinationsliteratur nach 1933 keinen hohen Anteil an der Gesamtproduktion hatte«193. Ob z. B. beim Piper-Verlag bereits im Herbst 1934 jener »Rückzug des Verlages in die Idyllik, die Unterhaltung, das Biedermeierliche«194 erkennbar war, den Göbel als wesentliches Charakteristikum für die Zeit des Nationalsozialismus herausstellt, ist keineswegs sicher. Tatsächlich erschienen hier ab 1933 keine Bücher des mittlerweile emigrierten Regisseurs Max Reinhardt bzw. über ihn mehr, wie noch 1930, oder von Klaus und Erika Mann, wie noch 1931; doch die meisten Autoren, die im Verlagsprogramm von 1933 und 1934 vertreten waren, waren Verlagsautoren der zurückliegenden Jahre.195 Auch im Fall des erst fünf Jahre alten Hanser-Verlags kann angesichts der geringen Zahl der Veröffentlichungen bis 1933 bezweifelt werden, ob die interne Entscheidung, sich nach 1933 ganz auf den Fachverlag zu beschränken und auf literarische

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190 Vgl. 150 Jahre Reclam; Ruppelt: Die Universalbibliothek im »Dritten Reich«, sowie Koch: Ernst Sander und der Verlag Philipp Reclam. – Annemarie Meiner hat 1942 eine stark dem Zeitgeist verhaftete Verlagsgeschichte vorgelegt (Meiner: Reclam. Eine Geschichte der Universalbibliothek); in der Neufassung von 1958 mußte sie euphemistisch eingeräumen, »gewisse Konzessionen« hätten gemacht werden müssen: »Weltbekannte Autoren, tote und lebendige, die man aufgenommen hatte, mußten aus der Sammlung entfernt werden, weil sie nach der herrschenden Weltanschauung unerwünscht waren, und stattdessen zog mancher ein, der nicht mit ihnen konkurrieren konnte.« (2. Aufl. 1961, S. 35) 191 Ruppelt: Die Universalbibliothek im »Dritten Reich«, S. 338. 192 Vgl. 150 Jahre Reclam. Daten, Bilder und Dokumente zur Verlagsgeschichte, S. 151f. 193 Ruppelt: Die Universalbibliothek im »Dritten Reich«, S. 338. 194 Göbel: Der Verleger Reinhard Piper, S. 30. 195 Vgl. 75 Jahre Piper. Bibliographie und Verlagsgeschichte 1904 – 1979. – Auch Ziegler: 100 Jahre Piper, S. 118, betont, der Verlag sei trotz einer Hausdurchsuchung aufgrund einer Denunziation im März 1933 »relativ unbehelligt« gblieben: »Zu Repressionen hätte es auch keinen legitimen Anlaß gegeben. Keines der »verbrannten Bücher« ist bei Piper erschienen; keiner der Verlagsautoren gehört zu den von vornherein verfolgten und verbotenen.«

2.3 Rahmenbedingungen für die Verlagsarbeit nach dem 30.1.1933 Betätigung völlig zu verzichten,196 zum fraglichen Zeitpunkt schon so deutlich sichtbar geworden war. Anders verhielt es sich da schon mit dem in den zwanziger Jahren literarisch sehr engagierten Erich Reiss-Verlag, der vor 1933 u. a. Balzac, Hugo, Flaubert und Heine, Benn, Edschmid, Polgar, Sternheim, Toller und Kisch herausgegeben hatte und nach 1933 ausschließlich jüdische Autoren verlegte: ein Entschluß, der auch öffentlich verkündet wurde.197 Als Sonderfall und scharfer Bruch mit der republikanischen Tradition seines Verlags wurde von den Verlegerkollegen ohne Zweifel die Reaktion des ehemals progressiven Paul Steegemann-Verlags wahrgenommen, der sich zu Beginn der zwanziger Jahre durch die Herausgabe frühexpressionistischer Werke einen Namen gemacht hatte und nun politisch gewissermaßen um 180 Grad umgeschwenkt war.198 Ab Frühjahr 1933 hatte Steegemann in einer neuen Buchreihe unter dem Titel Die Erhebung. Dokumente zur Zeitgeschichte u. a. Reden von Hitler sowie nationalsozialistischen Funktionsträgern wie Frick, Göring, Darré und Schacht auf den Markt gebracht.199 Die Folgen dieses von nationalsozialistischer Seite offensichtlich als purer Opportunismus verstandenen Verhaltens wurden im Börsenblatt vom 6.10.1934 bekanntgegeben: Von der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums war dem Verlag die Erlaubnis entzogen worden, nationalsozialistisches Schrifttum herauszugeben.200 Berufsverbot und damit die Schließung des Verlags waren die Konsequenz. Das »Jonglieren« Rowohlts, seine »Zweigleisigkeit«201, ist – mit Unterschieden in der Bewertung – in der Rückschau häufiger beschrieben worden. Zeitgenössischen Beobachtern konnte nicht verborgen geblieben sein, daß dieser Verlag, der in den zwanziger Jahren ein »politisch recht einheitliches Programm ›links der Mitte‹«202 herausgebracht hatte, von dem viele Titel am 10. Mai 1933 verbrannt wurden und das in den folgenden Monaten zu fast 50 Prozent verboten wurde, bereits 1929/1930 den mittlerweile zum Rechtsradikalen gewandelten Arnolt Bronnen verlegt hatte.203 Auch Ernst von Salomon mit seinen Romanen Die Geächteten (1931) und Die Stadt (1932) hatte sich im Verlagsprogramm vor 1933 – neben Tucholsky, Polgar, Annette Kolb und Mu196 Vgl. Göpfert: Der Carl Hanser Verlag 1928 – 1978, S. 16. 197 Vgl. Halbey: Der Erich Reiss Verlag 1908 – 1936. 198 Meyer: Der Paul Steegemann Verlag, S. 59, beschreibt, wie Steegemann »auf die Machtergreifung und die daraus ohne Zweifel sich ergebende Gefährdung seines Verlages und seiner Position [...] reagiert« hatte: »[...] nicht, wie viele seiner Branchenkollegen – mit der Produktion harmloser, unpolitischer, halbwegs sich anpassender Literatur [...]. Vielmehr stellte ausgerechnet dieser linksprofilierte Verleger sich um auf die Veröffentlichung geradezu parteioffiziellen Schrifttums, dessen Linientreue nun freilich nicht einmal mehr vom Münchener Franz Eher Verlag übertroffen werden konnte.« 199 Vgl. Meyer: Steegemann, S. 59 – 61. 200 Börsenblatt 101 (1934) 234, S. 875. Unter der Überschrift »Gegen Überproduktion pseudonationalsozialistischer Schriften« wurde diese Entscheidung des Reichsleiters Philipp Bouhler abgedruckt. Der Vorsitzende der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums machte »alle Parteigenossen auf diesen Umstand aufmerksam, der es von selbst verbietet, mit diesem Verlag weiterhin in Beziehung zu treten.« 201 Walter: Deutsche Exilliteratur, Bd. 1, S. 85. 202 Walter, S. 84. 203 Vgl. Bronnens Romane »O.S.« und »Roßbach«.

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2 Verlagsgründung unter der Diktatur sil – bereits recht seltsam ausgenommen.204 Als vor allem auf ökonomischem Kalkül beruhendes Verhalten205 aber mußte auf den Berufsstand die ganzseitige Werbeanzeige am 18. Mai 1933 wirken, mit der der Rowohlt-Verlag für seinen neuen Titel Ein Volk steht auf. 53 Tage nationaler Revolution warb: »Bitte legen Sie diese Broschüre reihenweise ins Schaufenster! Sie erzielen damit glänzende Verkaufserfolge«206, versprach der Verlag den Buchhändlern neben einem ganzseitigen Bild dreier fahnentragender marschierender Männer in NS-Uniform. Der Abdruck von Presseurteilen der Stettiner Abendpost, des Märkischen Adlers und des Frankfurter Volksblattes, die die »technisch und künstlerisch vollendeten Bilder« des Buches feierten und es als »Zeitdokument von bleibendem Wert« priesen, endete mit einem Auszug aus den Dresdner Nachrichten: »Dies Büchlein wird Allen [sic], die diese große Zeit in Bild und Wort miterlebt haben, eine dauernde Erinnerung sein. Ein trefflich gelungenes Bildnis Hitlers leitet das Buch ein. Man wird gern diese Zusammenstellung zu bleibendem Andenken sich aufbewahren.«207 Kurt Pinthus hat Rowohlts verlegerisches Gebaren später als »biedermännisch verkleidete Gerissenheit« beschrieben.208 So befremdlich eine solche Verlagsstrategie unter dem Gesichtspunkt einer politischen Moral erscheinen mochte: Die Veröffentlichungen des Rowohlt Verlages der Jahre 1933 und 1934 mit Sinclair Lewis, Robert Musil, Alfred Polgar und Ringelnatz ließen sich a u c h als Zeichen dafür werten, daß innerhalb der Sparte Schöne Literatur das mögliche Spektrum an zeitgenössischen gewichtigen ausländischen wie deutschsprachigen Autoren immer noch imponierend war. Das gleiche gilt für den Verlag Bruno Cassirer, dem es in dem kurzen Zeitraum von 1928 bis 1933 gelungen war, die literarische Abteilung seines arrivierten Kunstverlags vor allem mit skandinavischer Literatur und einem dezidiert sozialen Schwerpunkt zu großer Geltung zu bringen.209 Selbst nach dem weitgehenden Verbot210 dieses sozial engagierten Verlagsteils bis zum Ende des Jahres 1934, das unter das nationalsozialistische Verdikt »Asphaltliteratur« fiel, nahm sich das verbliebene Programm der Jahre 1933 und 1934 nicht nur aufgrund der schwedischen und norwegischen Literatur,211 sondern auch und gerade mit jungen deutschen Autoren wie Marie-Luise Kaschnitz, Hans Georg Brenner, Edlef und Wolfgang Koeppen, Josef Leitgeb und August Scholtis qualitativ beeindruckend aus. Erst recht aber vermittelte die Verlagsproduktion des renommierten S. Fischer Verlags in den ersten beiden Jahren des Dritten Reichs diesen Eindruck einer politischen Unberührtheit: »Das Erstaunliche, im Rückblick geradezu Beklemmende, war, daß man der Verlagsproduktion die Zwangslage, in der das Haus sich befand, vorerst kaum an-

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204 Vgl. die Bibliographie im Rowohlt Almanach 1908 – 1962, S. 605 – 676, bes. S. 628f. 205 Vgl. zum eingeschränkten verlegerischen Aktionsradius Rowohlts, der auch ökonomische Gründe hatte, Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 221f. 206 Vgl. Börsenblatt 101 (1933) 114, S. 2529f. 207 Börsenblatt 101 (1933) 114, S. 2530 (Unterstreichungen sind hier fortgelassen). 208 Pinthus: Ernst Rowohlt und sein Verlag, S. 30. 209 Vgl. Abele: Zur Geschichte des Verlages Bruno Cassirer 1928 –1932. 210 Vgl. Abele: 1933 – 1938: Der Verlag Bruno Cassirer, B 1. 211 Bei Cassirer erschienen Sigrid Undset und Olav Duun. – Vgl. die Verlagsbibliographie 1928 – 1936 in Abele: 1933 – 1938, B 17f.

2.3 Rahmenbedingungen für die Verlagsarbeit nach dem 30.1.1933 sah. Es fehlte am gewohnten Bild nichts Wesentliches, und es kam nichts Ungewohntes hinzu, das dieses Bild wesentlich verändert hätte.«212 Tatsächlich verzeichnete das Verlagsprogramm213 für das Jahr 1934 noch Neuerscheinungen von Annette Kolb, Mechtilde von Lichnowsky, Oskar Loerke, Thomas Mann, Ernst Pentzoldt, Bernard Shaw, Franklin D. Roosevelt und Virginia Woolf. Daß es möglich war, dieses Verlagsprogramm, ohne irgendein erkennbares politisches Zugeständnis, noch im zweiten Jahr nach der »Machtergreifung« zu verwirklichen – den deutlichen Anzeichen einer zunehmenden Verschärfung der nationalsozialistischen Literaturpolitik zum Trotz –, konnte nach außen hin durchaus als Zeichen einer relativen Liberalität des neuen Regimes mißverstanden werden. Gottfried Bermann Fischer hat über diese letzten Monate vor dem Tode Samuel Fischers und die Vorbereitungen für die Emigration des Verlags in seinen Erinnerungen notiert: »Der Verlag arbeitete [...] nahezu ungestört weiter. Ob man uns in Ruhe ließ, um vor dem Ausland zu demonstrieren, wie »liberal« man war? Aber es war eine unheimliche Ruhe, hinter der Bedrohung lauerte die Ungewißheit über den nächsten Tag, die lähmende Machtlosigkeit gegenüber brutaler Gewalt.«214 Das Wenigste von dieser Bedrohung wurde nach außen hin sichtbar. Insofern konnte gerade das Beispiel S. Fischer bzw. die Produktion dieses Verlags, des in Deutschland renommiertesten im Bereich der belletristischen Literatur, einen jungen Verleger zu diesem Zeitpunkt zu der Einschätzung ermutigen, auch unter nationalsozialistischer Herrschaft müsse eine qualitätvolle verlegerische Arbeit möglich sein. Der Produktion einer größeren Anzahl von Verlagen mit langer liberaler Tradition war bis zum Spätherbst 1934 noch nicht so generell anzusehen, wie das aus der Retrospektive möglich ist, in welchem Ausmaß auch sie unter den Druck der staatlichen Kulturpolitik gerieten.

Offizielle Verlautbarungen des Regimes Immer wieder war in offiziellen Verlautbarungen, auch und gerade von Goebbels in verschiedenen seiner Reden, beteuert worden, daß man die künstlerischen Berufe keinesfalls knebeln wolle, an eine Einengung der künstlerisch-kulturellen Entwicklung nicht gedacht, eine Eintönigkeit der Buchproduktion auch von den neuen Machthabern gar nicht erwünscht sei. Gleichzeitig allerdings war stets auch die sogenannte »Mitverantwortung« der Kulturberufe beim Aufbau des »neuen Staates« betont worden. In seiner Rede215 im Rahmen des abendlichen Festessens anläßlich der traditionellen Kantate-Sitzung des Börsenvereins 1933, vier Tage nach den Bücherverbrennungen, hatte Goebbels es nicht an Forderungen, Warnungen und auch Drohungen fehlen lassen. Die Buchhändler müßten sich »klar sein, daß dieser geistige Umbruch, der mit dem 30. Januar begonnen« habe, auch »nicht spurlos« an ihnen selbst und an ihrem Gewerbe vorbeigehen könne. Nachdem Goebbels als »Pflicht des deutschen Buches« definiert hatte, »der neuen

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de Mendelssohn: Der S. Fischer Verlag, S. 1281. Vgl. S. Fischer Verlag. Vollständiges Verzeichnis aller Werke, Buchserien und Gesamtausgaben. Bermann Fischer: Bedroht – Bewahrt, S. 80f. Die Rede wurde im Börsenblatt 100 (1933) 112, S. S. 353 – 356 abgedruckt. Die Schriftleitung notierte zum Ende »(Stürmischer Beifall)« (S. 356).

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2 Verlagsgründung unter der Diktatur Kultur den Weg freizulegen«216, hatte er angedroht, die Nationalsozialisten würden »auch den Zeitgeschmack ändern«217. Im selben Atemzug hatte er behauptet, er brauche sich »nicht gegen den Vorwurf zu verwahren, daß die neue Regierung für kulturelle Entwicklungsmöglichkeiten kein Verständnis aufbringe«. Der wortreichen Abwehr der als »Verdacht« bezeichneten Vorwürfe, die neue Regierung sei »kulturfeindlich«, war deutlich das Bemühen anzumerken gewesen, den innen- wie außenpolitischen Schaden einzudämmen, den die öffentlichen Bücherverbrennungen bewirkt hatten. Trotz seiner Beteuerungen, die Regierung sei »weitherzig« in den Methoden und »human« in den Mitteln, »wirtschaftlich und politisch [...], kulturell und geistig« einen »Weg nach oben« zu zeigen, hatte Goebbels in dieser Rede doch immerhin offen zugegeben, die »Ideen, die mit dem 30. Januar zum Durchbruch« gekommen seien, seien »ihrem Wesen nach antiinternational, antipazifistisch und antidemokratisch«218. In einer Mischung aus scheinbarer Liberalität und unmißverständlicher Drohgebärde hatte er an die »Vernunft« des Berufsstandes appelliert: »Ich verlange nicht von Ihnen, meine Herren, daß Ihre Herzen mit den unseren gleichklingen, was ich aber im eigenen Interesse von Ihnen verlangen kann und verlangen muß ist, daß Sie uns mit dem Verstand verstehen, daß Sie einsehen lernen, daß hinter uns nichts mehr steht als nur ein Chaos.« Jeder »wahre Patriot« müsse wissen, daß dies »der letzte Versuch zur Wiedergewinnung deutscher Freiheit und deutscher Größe« sei: »Würde dieser Versuch mißlingen, die Folgen wären unausdenkbar und deshalb müssen wir – ob wir uns mit dem Herzen dazu bereit finden oder uns nur mit dem Verstande finden – zusammengehen und uns die Hände reichen. Wir haben einander nötig. Wir können ohne einander nicht fertig werden.«219 Wenige Monate später bei der feierlichen Proklamation der Reichskulturkammer in der Berliner Philharmonie am 15.11.1933, über die in der deutschen Presse ausführlich berichtet wurde, hatte Goebbels in seiner Rede Die Kultur vor neuen Aufgaben220 propagandistisch äußerst geschickt221 für die Gemeinschaft aller »schaffenden Menschen« geworben, die sich »wieder als eine einzige Einheit empfinden« sollten – nun allerdings eindeutig unter dem »Patronat« des Staates. Wieder hatte er zunächst den Verdacht auf diktatorische Reglementierungen zurückgewiesen: »Nicht einengen wollen wir die künstlerisch-kulturelle Entwicklung, sondern fördern. Der Staat will seine schützende Hand darüberhalten; die deutschen Künstler sollen sich unter seinem Patronat geborgen fühlen und das beglückende Gefühl zurückgewinnen, daß sie im Staate ebenso unentbehrlich sind wie die, die die Werte seines materiellen Daseins schaffen.«222 Die Rede223, die Goebbels ein weiteres halbes Jahr später, anläßlich der »Festsitzung« der Reichskulturkammer am 1. Mai 1934, dem »Nationalen Feiertage der Arbeit 216 217 218 219 220

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Goebbels: Kantate-Rede 1933. In: Börsenblatt 100 (1933) 112, S. 353. Goebbels, S. 355. Goebbels, S. 355. Goebbels, S. 356. Goebbels: Die Kultur vor neuen Aufgaben; zitiert wird hier aus: Goebbels-Reden. Hrsg. v. Helmut Heiber. Bd. 1, S. 131 – 141. 221 Vgl. zur Beurteilung dieser Rede auch Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 84f. sowie Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich, S. 61. 222 Goebbels: Die Kultur vor neuen Aufgaben, S. 138f. 223 Vgl. Festsitzung der Reichskulturkammer. In: Börsenblatt 101 (1934) 104, S. 411 – 413.

2.3 Rahmenbedingungen für die Verlagsarbeit nach dem 30.1.1933 des Deutschen Volkes«224, in der Berliner Staatsoper gehalten hatte, war vollständig im Börsenblatt nachzulesen gewesen. Noch einmal hatte der Präsident der Reichskulturkammer betont, sie hätten bei der Gründung bereits gewußt, »daß es nicht Ziel und Aufgabe einer Organisation sein kann, Kunst zu schaffen und es noch viel weniger in ihrem Bestreben gelegen sein darf, wirkliche Kunst zu behindern oder gar in der Entfaltung verkümmern zu lassen. Wir haben diese Gefahr nach den besten Kräften zu vermeiden gesucht. Wir sahen unsere Pflicht immer und zuerst darin, dem Genius wirklich schöpferischen Gestaltens die Wege zu ebnen und ihm die Bahn frei zu machen.«225 Zwar hatte er im folgenden eingeräumt, »eine autoritäre Regierung« könne »keine Kunst machen«, und die Maßnahmen des Staates als Versuche »vorsichtiger Mäßigung« verharmlost. Deren Ziel sei es, »dem geistigen Werdeprozeß, sofern das möglich ist oder tunlich erscheint, jene materiellen Hemmungen zu nehmen, die ihn im ersten Aufkeimen ersticken könnten«. Doch solchen Sätzen war unschwer die Bemühung anzusehen gewesen, den »vor allem im Auslande« erhobenen Verdacht zu zerstreuen, »eine Diktatur über die Kunst« auszuüben. Es steht zu vermuten, daß kritische Zeitgenossen sich kaum von dem Argument überzeugen ließen, der »Führer und seiner Mitarbeiter« dächten »viel zu künstlerisch, als daß sie glaubten, mit Zwangsmaßnahmen geistige Prozesse kommandieren zu können«226. Dennoch kann die Tatsache, daß das Regime solche verbalen Beteuerungen immer wieder nötig hatte, selbst bei Skeptikern die Hoffnung bestärkt haben, daß die Rücksicht auf fortgesetzte negative Auslandsreaktionen eine weitere Einengung der kulturellen Rahmenbedingungen verhindern und somit die deutlich erkennbare Verschärfung der staatlichen Literaturpolitik in der zweiten Hälfte des Jahres 1934 zum Stillstand kommen würde. Auch die in manchen offiziellen Verlautbarungen geäußerte Hochschätzung des »guten Buchs«, so z. B. in Goebbels’ Beschreibung der Funktion des Buchs als »Wegweiser und Freund und Trost und Stärkung« in seiner Rede zur Eröffnung der »Woche des deutschen Buches« am 5. November 1934 im Sportpalast Berlin, ließ sich noch als Hinweis auf mögliche Nischen im abstrakten »Reich der Ideale« verstehen.227

Fazit Ausschlaggebend für die Entscheidung einer Verlagsgründung zu diesem Zeitpunkt dürfte aber auch für Claassen und Goverts die Hoffnung228 gewesen sein, daß die Herrschaft der Nationalsozialisten nur von begrenzter Dauer sein würde. Daß diese Hoff224 Goebbels, in: Börsenblatt 101 (1934) 104, S. 411. 225 Goebbels, S. 412. 226 Goebbels, S. 412. – Vgl. erneut Goebbels: Rede zur Eröffnung der »Woche des deutschen Buches« am 5. November 1934 im Sportpalast Berlin. In: Goebbels-Reden, Bd. 1, S. 168 – 173; wiederabgedruckt in: »Das war ein Vorspiel nur ...«, S. 385 – 387: »Ich weiß sehr wohl, daß man die Dichtung nicht kommandieren kann, und niemand von uns hat je den Versuch dazu gemacht.« 227 Goebbels: Rede zur Eröffnung der »Woche des deutschen Buches«, S. 172f. 228 Diese Vorstellung vom notwendigerweise raschen »Abwirtschaften« des zur Macht gekommenen Nationalsozialismus war selbst in Emigrantenkreisen weit verbreitet. – Vgl. dazu Walter: Deutsche Exilliteratur, Bd. 1, S. 89 – 116; Stephan: Die deutsche Exilliteratur, S. 20 – 23 und S. 45 sowie Brenner: Deutsche Literatur im Exil 1933 –1947.

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2 Verlagsgründung unter der Diktatur nung einem Wunschdenken gleichkam, war allerdings spätestens seit der blutigen Niederschlagung des Röhmputsches Ende Juni 1934 und der Zusammenlegung des Reichspräsidentenamtes mit dem des Reichskanzlers nach Hindenburgs Tod Anfang August 1934 prinzipiell erkennbar. Bis zu diesem Zeitpunkt waren alle wesentlichen Verordnungen zur Etablierung der NS-Diktatur erlassen: Sie reichten von der sogenannten »Gleichschaltung« der Länder im Frühjahr 1933, dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, das die Grundlage zum Ausschluß von Juden und politischen Gegnern geboten hatte, der Auflösung der Gewerkschaften und der Selbstauflösung aller Parteien mit Ausnahme der NSDAP im Laufe des Sommers 1933 über die Verquickung von Partei- und Staatsämtern und die Versuche, die gesamte Bevölkerung in Organisationen der NSDAP zu erfassen, bis zur Errichtung eines Terror-Regimes mit Gestapo und Sondergerichten wie dem Volksgerichtshof im April 1934. Die Festigung einer diktatorischen Einparteienherrschaft der NSDAP war in ihren Stationen nicht zu übersehen gewesen.229 Selbst Verleger aber wie der alte Samuel Fischer230 oder Bruno Cassirer, die als Juden gefährdet waren, glaubten im Jahre 1934 noch daran, daß das Regime bald abgelöst werden würde. Cassirers literarischer Berater Max Tau, der noch im Dezember 1938, gewissermaßen in letzter Minute, emigrieren konnte, hat in seinen Erinnerungen sehr anschaulich die Haltung des kulturkonservativen, letzlich völlig unpolitischen Cassirer beschrieben. Cassirer habe ihm vorgeworfen, er wolle ihm »doch wohl nicht weismachen, daß dieser Verbrecher auf die Dauer ein Land beherrschen kann, in dem es schon so viele verrückte Bewegungen gegeben hat? Schauen Sie, ich habe die StoeckerBewegung und andere antisemitische Hetzgesellschaften erlebt, aber ich hielt es immer für meine Pflicht, die deutsche Kultur, mit der ich aufgewachsen bin, zu verteidigen. Und nun wollen Sie mich dazu bringen, meine Pläne zu verändern, so schnell wie möglich auszuwandern und alles im Stich zu lassen?«231 Es gab viele Intellektuelle, die diese Pflichtauffassung teilten. Sie hingen der Vorstellung an, sie dürften den Nationalsozialisten nicht das eigene, angestammte Gebiet, das des Geistes, freiwillig überlassen. Noch in den frühen Nachkriegsjahren diente dieses Argument zur Erklärung für das Verhalten während der Zeit des Dritten Reichs.232 In der Retrospektive hat Claassen die »Aufgaben in Deutschland«, so wie er sie sah, wie ein Verlagsprogramm formuliert: »Es kam darauf an, vorhandene traditionelle Werte zu bewahren, eine Tradition von Jahrhunderten nicht abreißen zu lassen, das Gefühl von Qualität zu steigern, den Sinn für Sprache zu schärfen, echte Toleranz zwischen den großen geistigen Gruppen zu stärken, das Gemeinsame gegen völkischen Ungeist zu beleben, Dichtung, Kunst, Philosophie, Geschichte gegen Verfälschung zu schützen.«233 Die Umsetzung dieses Programms stand im Dezember 1934 noch aus.

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229 Vgl. Möller: Das Ende der Weimarer Demokratie, S. 33f. 230 Samuel Fischer starb am 15.10.1934. – Vgl. S.Fischer, Verlag. Von der Gründung bis zur Rückkehr aus dem Exil, S. 432. 231 Tau: Das Land, das ich verlassen mußte, S. 223. 232 Vgl. dazu Laurien: Politisch-kulturelle Zeitschriften, S. 94 – 101 und S. 112 – 122. 233 Claassen: Über das Verlegen. In: In Büchern denken, S. 17.

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Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs

3.1

Anfänge der Verlagsarbeit

3.1 Anfänge der Verlagsarbeit Am 20. Dezember 1934 wurde der H. Goverts Verlag in Frankfurt/Main gegründet und in das Handelsregister eingetragen. Die offizielle Bekanntgabe im Börsenblatt erfolgte allerdings erst am 2. Mai 1935. Als Verlagsadresse war »Hamburg 13, Alte Rabenstraße 12« angegeben, die Privatwohnung Goverts’; als Geschäftsführer wurden »Dr. Henry Goverts u. Dr. Eugen Claassen«1 genannt. Im Januar 1935 begann Goverts zunächst allein mit der Verlagsarbeit, zusammen mit Hedwig Vortmann als Verlagshilfe.2 Zum 1. April 1935 kam Claassen, ohne Familie, von Frankfurt nach Hamburg und zog zu Goverts in dessen Privatwohnung. Erst Anfang April 1936 wurde die Übersiedlung Hilde Claassens und der Tochter Judith nach Hamburg vorbereitet. Die Familie Claassen bezog eine Wohnung in der Körnerstraße 21; gleichzeitig wurde für den Verlag eine eigene Verlagsetage in der Moorweidenstraße 14 angemietet. Zwischen der ersten Kontaktaufnahme der beiden zukünftigen Verlagspartner im Frühjahr 1934 bis zu dieser endgültigen Entscheidung für eine gemeinsame Weiterarbeit im H. Goverts Verlag in Hamburg lagen zwei Jahre gemeinsamer Planungen, verbunden mit zahlreichen Reisen auf der Suche nach Autoren; vorläufige Entscheidungen wurden gefällt und Pläne revidiert. 3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs

Der Start Das Startkapital von 50.000 RM hatten Claassen und Goverts nominell zu gleichen Teilen eingebracht.3 Sie verstanden sich in jeder Hinsicht als gleichberechtigt.4 Insofern mag zunächst verwundern, warum der Verlag nicht nach beiden Partnern benannt wurde. Goverts hat später häufiger darauf hingewiesen, es sei nicht von Anfang an sicher gewesen, ob Claassen sich wirklich auf das gemeinsame Unternehmen habe einlassen wollen.5 Gegen diese Einschätzung sprechen wichtige Indizien, vor allem Claassens 1 2 3 4

Börsenblatt 102 (1935), 100 Umschlagseite. Vgl. Goverts’ Angaben in Tgahrt: Der Verlag wird seine Richtung nicht ändern müssen, S. 7. Vgl. Tgahrt: Der Verlag wird seine Richtung nicht ändern müssen, S. 7. In einem Brief an die Verf. schrieb Goverts, daß er Claassen angeboten habe, »mit mir als gleichberechtigtem Partner bei gleicher Einzahlungssumme, die ich ihm vorzustrecken anbot, und gleichem Gehalt mitzumachen«. 5 Die Äußerungen von Goverts zu den Anfängen der gemeinsamen Verlagsarbeit müssen vor dem Hintergrund der Trennung der beiden Verleger nach 1949 interpretiert werden. An die Verf. schrieb Goverts, Claassen »willigte nur unter einer Bedingung ein, daß er vorerst, bevor sich das Unternehmen als erfolgreich erweise, diesem nur beratend zur Verfügung stände, denn er wollte seine sichere Stellung als Leiter des Societäts-Verlages, des Buchverlages der Frankfurter Zeitung, nicht aufgeben, bevor sich herausstellte, daß unser gemeinsames Unternehmen erfolgreich wäre.« – Daß Claassen lediglich literarischer Leiter und seine Stellung im Societäts-Verlag keineswegs sicher war, daß vielmehr zum 1.1.1935 eine vorläufige Kündigung ausgesprochen worden war, wurde oben beschrieben.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs großes Engagement für den gemeinsamen Verlag schon vor seinem Umzug nach Hamburg, das aus den wenigen erhaltenen Quellen6 ersichtlich ist. Der Entscheidung allerdings, den Verlag nur nach Goverts zu nennen, mag in der Tat Claassens professionelle Skepsis gegenüber ihrem Vorhaben zugrunde gelegen haben, möglicherweise auch die Befürchtung, die Hilde Claassen in ihren Erinnerungen nennt, daß nämlich Claassen »schon allein durch seine Zugehörigkeit zur Frankfurter Zeitung belastet«7 gewesen sei. Demnach könnte er Bedenken gehabt haben, daß er bei der Aufnahme in den Bund Reichsdeutscher Verleger Schwierigkeiten würde haben können.8 Als juristischer Berater bei der Gründung des Verlags stand Claassen und Goverts in Frankfurt der Rechtsanwalt und Notar Max H. Maier zur Seite, zu dem Claassen ebenfalls über den Societäts-Verlag freundschaftlichen Kontakt hatte.9 Die Option für Hamburg als Sitz des neuen Verlages lag vor allem darin begründet, daß Goverts hier aufgewachsen war. Er traute sich sicherlich auch zu, die personellen und atmosphärischen Veränderungen der vergangenen anderthalb Jahre im Hamburger Kulturleben einschätzen zu können. Vor allem aber verfügte er über zahlreiche Kontakte und persönliche Beziehungen. Für Goverts stand fest, daß von dem weltoffenen, liberalen Klima der alten Hansestadt noch so viel erhalten sei, daß Hamburg »immer noch imstande« sei, es »mit London aufzunehmen«10.

Auf der Suche nach Autoren: Pläne und Projekte der ersten Monate Aus den ersten Monaten nach der Gründung des Verlags, während derer Goverts nach eigenem Bekunden Claassens »Fern-Schüler« war, da er »damals vom Verlagswesen verhältnismäßig wenig Ahnung«11 hatte, sind nur sehr wenige Briefwechsel erhalten, und so ist nur indirekt zu erschließen, welche Verbindungen in dieser Zeit bereits geknüpft wurden und welche auf Goverts’ oder auf Claassens Initiative hin zustande gekommen sind. Die Herbstproduktion des Jahres 1935 – drei zeitgenössische Romane, davon je eine Übersetzung aus dem Englischen und dem Französischen – war das nach außen sichtbare Ergebnis der Verlagsarbeit der ersten Monate: der historische Roman

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6 Im Verlagsarchiv sind aus dieser Phase der Vorbereitungen bis zur Übersiedlung Claassens nach Hamburg nur sehr wenige Briefe erhalten. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde diese frühe Verlagskorrespondenz zusammen mit Goverts’ privaten Unterlagen beim Brand seiner Wohnung nach der Bombardierung Hamburgs im Sommer 1943 vernichtet. 7 Hilde Claassen: Erinnerungen. Ms. (Cl.A.) 8 Diese Befürchtung scheint auf den ersten Blick wenig begründet, da Claassens Position keineswegs exponiert war. 9 Vgl. Maier: »In uns verwoben, tief und wunderbar«. Erinnerungen an Deutschland, S. 192 – 194. Als Motiv Claassens für sein Ausscheiden aus dem Verlag der Frankfurter Zeitung gibt Maier an, daß diesem »der Kampf gegen den ihm verhaßten Nationalsozialismus von der Zeitung zu lau geführt worden« sei und er selbst »keinerlei Kompromisse im Verlag auf sich nehmen wollte«. (S. 192) 10 So Hilde Claassen, in: Begegnung mit Henry Goverts, S. 11. 11 Goverts, zitiert in: Tgahrt: Der Verlag wird seine Richtung nicht ändern müssen, S. 7.

3.1 Anfänge der Verlagsarbeit Peter Abälard der englischen Wissenschaftlerin Helen Waddell12, der in Flandern spielende Liebesroman Frau Orpha der im selben Jahr mit dem französischen Volkspreis ausgezeichneten belgischen Schriftstellerin Marie Gevers13 und der deutsche Entwicklungsroman Anna Linde von Editha Klipstein14. Diese ersten drei Romane, mit denen der H. Goverts Verlag sich im Oktober 1935 der literarischen Öffentlichkeit vorstellte, sind ein Beleg dafür, wie sich Claassens Kontakte über den Societäts-Verlag für den neuen Verlag fruchtbar machen ließen. Daß Claassen bereits direkt nach Gründung des HGV, während seiner letzten Monate im Societäts-Verlag, »in eigener Sache« plante, belegt der Brief an C. H. Brooks von der Literarischen Agentur A. M. Heath & Comp. in London vom 27.1.1935.15 Claassen hatte sich darin von den Gründen, die zur Ablehnung des Romans Peter Abelard16 der englischen Historikerin Helen Waddell durch den Societäts-Verlag geführt hatten, deutlich distanziert.17 Er berichtete von dem neuen Verlag, für den er die deutschen Rechte an dem Roman Peter Abelard erwerben wolle. Der Name der Übersetzerin und vor allem deren wissenschaftlicher Berater sollten bei der Literarischen Agentur Vertrauen in die Solidität des neuen Abb. 2: aus Börsenblatt 102 (1935) 249, S. 5069 Unternehmens wecken: »Die Übersetzung wird Baronin Lucie von Wangenheim übernehmen, sie ist mit Prof. Ernst Kantorowicz, dem Verfasser des auch in England vielbeachteten Buches über Kaiser Friedrich II. befreundet, der sie als mittelalterlicher Historiker bei der Übersetzung beraten wird.«18 Be12 Helen Waddell: Peter Abälard. Ein Roman. Aus dem Englischen übertragen von Lucy von Wangenheim (1935). (Nr. 3; die Zählung fogt der Bibliographie des Verlags H. Goverts in Anhang I) 13 Marie Gevers: Frau Orpha. Ein flämischer Roman. Ins Deutsche übertragen von Richard Möring [!] (1935). (Nr. 1) 14 Editha Klipstein: Anna Linde. Roman (1935). (Nr. 2) 15 Claassen an Lit. Agentur A. M. Heath, 27.1.1935 (Cl.A./Helen Waddell). 16 Helen Waddell: Peter Abelard. London: Constable 1934. 17 Im Gutachten für den Societäts-Verlag (»An die Geschäftsführung«, datiert vom 15.1.1935) hatte Claassen formuliert: »Ich persönlich möchte die Herausgabe des Buches dringend empfehlen trotz zweier Bedenken: 1. es ist möglich, daß das Buch von katholischer Seite eine nicht zu unterschätzende Kritik erfährt 2. der Stoff enthält einige Kraßheiten, die in keiner Weise zu ändern oder gar zu eliminieren sind (die Autorin hat sie im Gegenteil so dezent wie möglich behandelt) an denen aber vielleicht doch Anstoß genommen werden könnte.« (Cl.A./Waddell) 18 Claassen an Lit. Agentur A. M. Heath, 27.1.1935.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs reits am 2.2.1935 erklärte C. H. Brooks seine Zustimmung, und der Vertrag zwischen dem H. Goverts Verlag und der Autorin Helen Waddell wurde am 4.2.1935 unterzeichnet. Auch die Vereinbarung mit der Belgierin Marie Gevers stammte vom Frühjahr 1935. Der »flämische Roman«, wie er in der deutschen Übersetzung im Untertitel genannt wurde, war dem jungen Verlag von dem Ehepaar Margot und Wilhelm Hausenstein empfohlen worden, mit dem Claassen über den Kreis der Frankfurter Zeitung befreundet war. Hier hatte Wilhelm Hausenstein, der 1934 die Leitung des Literaturblattes und der Frauenbeilage übernommen hatte,19 gleich nach Erscheinen der Originalausgabe für eine deutsche Übersetzung geworben.20 Das Verlagsgutachten vom 18.3.1935, das erste erhaltene überhaupt, stammt von Heinrich Landahl, dem aus politischen Gründen entlassenen Leiter der Hamburger Lichtwark-Schule, der von Anfang an bis zum Frühjahr 1945 im Verlag mitarbeitete.21 Anstelle des zunächst als Übersetzer vorgesehenen Max von Brück22 gewann Goverts für die Übersetzung seinen Freund Richard Moering23, der in den folgenden Jahren mehrere Bücher aus dem Französischen für den H. Goverts Verlag übertrug. Claassens private Briefe an seine Frau Hilde, die sich mit der 8jährigen Tochter Judith im Verlauf dieses ersten Verlagsjahres hauptsächlich in Süddeutschland aufhielt,24 spiegeln das Atmosphärische dieser ersten Verlagsmonate. »Wir arbeiten sehr harmonisch zusammen«, beschrieb Claassen die Aufgabenteilung nach sechs Wochen ge-

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19 Gillessen, Auf verlorenem Posten, S. 192, teilt mit, daß Hausenstein schon in den 20er Jahren für die Zeitung geschrieben habe, aber erst in ein festes Verhältnis zu ihr eingetreten sei, »nachdem er auf Weisung von Himmlers bayerischer Staatspolizei bei den Münchner Neuesten Nachrichten fristlos entlassen worden war«. Hausenstein habe die beiden Wochenendbeilagen in Tutzing am Starnberger See redigiert. 20 Vgl. das Literaturblatt der Frankfurter Zeitung vom 5.3.1935: »Madame Orpha sollte ins Deutsche übertragen werden, fein und voll von Saft, wie die Erde Flanderns, ist dieses Buch, wahrhaft wert von vielen gelesen zu werden.« (Frankfurter Zeitung/Literaturblatt (1935) 9) 21 Landahl, der mit Goverts befreundet war, hat vor allem Lektoratsarbeiten übernommen; ob er fest angestellt oder als freier Mitarbeiter beschäftigt war, konnte nicht geklärt werden. Im Mai 1945 wurde er von den englischen Besatzungsbehörden in Hamburg als Schulsenator eingesetzt. 22 Max von Brück übernahm 1935 die Leitung des Feuilletons der Frankfurter Zeitung (vgl. Gillessen: Auf verlorenem Posten, S. 192f.). Im Verlagsarchiv ist die Abschrift eines Briefes Wilhelm Hausensteins an »Baron von Brück« erhalten, datiert vom 24.4.1935, in dem Hausenstein mitteilt, das erste Kapitel habe »noch nicht den Stil, der mir für das Buch der Marie Gevers vorschwebt.« Infolge dieses Urteils verzichtete von Brück auf die Übersetzung. (Cl.A./Gevers/Moering) 23 Richard Moering (bis 1953 auch unter der Schreibweise »Möring«) ist der bürgerliche Name des Schriftstellers Peter Gan, der zu dieser Zeit bereits hauptsächlich in Frankreich lebte. 24 In ihren Erinnerungen beschreibt Hilde Claassen die komplizierte Ohrenerkrankung der Tochter, die häufigere Operationen und Kuraufenthalte erforderlich gemacht hätten. Für diese Zeit hatte Hilde Claassen die Genehmigung erhalten, ihre Tochter privat zu unterrichten. (Vgl. Hilde Claassen: Erinnerungen. Ms.)

3.1 Anfänge der Verlagsarbeit meinsamer Verlagsarbeit: »Er kümmert sich um Bank und ähnliche Angelegenheiten, ich ums Buchhändlerische.«25 Eine erste Reise für den neuen Verlag, verbunden mit Urlaubstagen in Italien, hatte Claassen bereits im März, d. h. vor seiner Übersiedlung nach Hamburg, über München nach Rom gemacht. In München war ihm besonders der Freund Wolfgang Petzet bei der Kontaktaufnahme zu möglichen Geschäftspartnern behilflich. Allein die Aufzählung der Namen von Autoren, Zeitschriftenredakteuren oder Buchausstattern in einem Brief an Hilde Claassen vermittelt einen Eindruck von der Wichtigkeit, die der Möglichkeit des persönlichen Kennenlernens, arrangiert durch Freunde und gute Bekannte, beigemessen wurde: »Den ganzen Tag machten wir für den Verlag Besuche: bei Dr. Stefl, bei Preetorius, bei Regina Ullmann, im Café trafen wir Dr. Brück, Dr. Schöningh (Hochland), Dr. Sellnauer, der ein Buch für uns schreiben soll. Nachmittags nach Tutzing zu Hausenstein [...].«26 Mitte April unternahmen Claassen und Goverts gemeinsam eine Fahrt durch mehrere Städte Norddeutschlands nach Berlin: Sie besuchten u. a. in Lübeck den Buchkünstler Emil Preetorius, in Goslar Friedrich Georg Jünger27 und in Berlin, auf Empfehlung Elisabeth Langgässers, die Claassen über den Societäts-Verlag kannte, den zukünftigen Verlagsautor Horst Lange.28 Die ersten knapp hundert Seiten seines Romanmanuskripts mit dem Arbeitstitel Schwanengesang beeindruckten die beiden Verleger so stark, daß im Juni 1935 ein Vertrag unterzeichnet wurde. Damit war bereits im ersten Verlagsjahr die feste Verbindung zu jenem Autor hergestellt, der von den jungen Schriftstellern die wichtigste Rolle für den Verlag spielen sollte.29 Viele Manuskripte jedoch genügten Claassens Ansprüchen nicht, wie er seiner Frau nach zwei Monaten in Hamburg klagte: »Sonst saß ich zu Hause und las unentwegt Manuskripte, die wir zusammengetrommelt haben. Leider fast alles Nieten oder Dinge, die nicht wirklich gut sind. Das wirkt deprimierend. Ich gehe jetzt noch einmal auf die Suche.«30 Anfang Mai 1935 war Claassen allein nach Belgien, Frankreich und Großbritannien gereist und hatte Verleger und literarische Agenten besucht. Seinen guten Kontakten zur Literarischen Agentur A. M. Heath verdankte er die Vermittlung einer Biographie der Königin Elisabeth I. aus der Feder des englischen Historikers John Ernest Neale.31 Die Übertragung der Biographie Benedikts von Nursia aus dem Italienischen war offensichtlich ebenfalls ein Ergebnis der Reisen Claassens in den ersten Monaten der Arbeit

25 Eugen Claassen an Hilde Claassen, 13.5.1935. (Cl.A.) 26 Eugen Claassen an Hilde Claassen, 13.5.1935. 27 »[...] ein merkwürdiger Mann (er schrieb den Aufsatz »Lob der Vokale«, der auch Dir gefiel). Äußerlich norddeutsches Militär, bei näherem Zusehen ein feines, verhaltenes Gesicht, ein ungewöhnlich kultivierter Geist.« (Eugen Claassen an Hilde Claassen, 17.4.1935) 28 Diesen ersten Besuch beschreibt Oda Schaefer-Lange in ihrer Autobiographie: Auch wenn Du träumst, gehen die Uhren, S. 274f. 29 Langes Romandebüt erschien 1937 u. d. T. Schwarze Weide. (Nr. 10) 30 Eugen Claassen an Hilde Claassen, 28.5.1935. »Ich fahre morgen allein für vier Tage nach Berlin, dann nach Halle, Leipzig und München. Auch in Stuttgart, Heidelberg und Frankfurt werde ich Station machen.« 31 John Ernest Neale: Queen Elizabeth. London 1934; das Buch erschien im H. Goverts Verlag 1936 in der Übersetzung von Georg Goyert. (Nr. 7)

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs für den neuen Verlag: Im Sommer 1935 bot der Autor dem Verlag das Buch an, das dann im Frühjahr 1937 in der Übersetzung von Gertrud Kühl-Claassen32 erschien. Bereits für die ersten Monate der Verlagsarbeit ist die offensichtlich von Anfang an geplante programmatische Orientierung an zwei Polen erkennbar. Die Verleger beschränkten sich bei ihrer Suche auf zeitgenössische deutsche Romane sowie kulturgeschichtliche Darstellungen mit großer Themenbreite, die auch wissenschaftlichen Ansprüchen genügen sollten; hinzu kamen Übersetzungen aus dem europäischen Ausland, die ebenfalls diesen beiden Sparten zuzuordnen sind. Besonders über kulturgeschichtliche Themen wurden in diesen ersten Monaten Abmachungen getroffen, die auf Claassens Anregung hin erfolgten. Im April 1935 lag von Dolf Sternberger, der nach einem Philosophiestudium in Heidelberg 1934 fester Mitarbeiter beim Feuilleton der Frankfurter Zeitung geworden und mit Claassen befreundet war,33 ein vierseitiger »Entwurf zu einem Buch« vor, »worin die Grundmotive und -begriffe des 19. Jahrhunderts dargestellt werden«34. Sternberger selbst betonte in einem Brief an Goverts, daß dieses Projekt – das erst im Frühjahr 1938 unter dem Titel Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert als Buch erschien35 – von Claassen initiiert worden sei: Er sehe es »als beste Gewähr der Vollendung« an, daß der Verleger dem Autor dasjenige Thema gestellt habe, das ihm selber »am dringlichsten von allen«36 sei. Für einen anderen Plan, der Claassen offensichtlich schon lange beschäftigt hatte, fand er auf einer Reise nach München im Oktober 1935 den geeigneten Autor. »Interessant« sei »ein ausführliches Gespräch mit einem Psychiater, Dr. Leibbrand«, gewesen, der ein Buch für sie schreiben solle, berichtete Claassen seiner Frau: »Ein hervorragender Kenner der ›Romantik‹, klug und umsichtig. Ich hoffe, daß er das von mir so lange geplante Buch über medizinische Romantik schreiben kann (das soll ein Exposé noch ausweisen).«37 Das Buch erschien im Frühjahr 1937 im Verlag H. Goverts unter dem Titel Romantische Medizin.38 Auch für die Biographie des Aufklärers Freiherr von Knigge, die im Herbst 1936 unter dem Pseudonym Reinhold Th. Grabe herauskam,39 lag bereits im Juni 1935 das Exposé des jungen Autors Hans Georg Brenner40 vor, den Claassen seit dem Sommer 1932 persönlich kannte. Wissenschaftlicher Berater und Mitautor war der Literaturhistoriker Werner Milch41; dessen 1935 im Societäts-Verlag erschienene Biographie der

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32 Luigi Salvatorelli: Benedikt. Der Abt des Abendlandes (1937). (Nr. 13) – Die Übersetzerin war die Schwester der Mutter Claassens. 33 Sternberger war der einzige Autor des Verlags, mit dem Claassen sich duzte. 34 Das Exposé ist im Cl.A. erhalten (beiliegend dem Brief Sternbergers an Goverts, 14.4.1935). 35 Dolf Sternberger: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert (1938). (Nr. 21) 36 Sternberger an Goverts, 14.4.1935. 37 Eugen Claassen an Hilde Claassen, 16.10.1935. 38 Werner Leibbrand: Romantische Medizin (1937). (Nr. 11) 39 Reinhold Th. Grabe: Das Geheimnis des Adolph Freiherrn von Knigge. Die Wege eines Menschenkenners. 1752 – 1796 (1936). (Nr. 6) 40 Brenner hatte seine ersten Arbeiten bei Cassirer und Kiepenheuer veröffentlicht; im Herbst 1935 erschien bei Cassirer der kleine Roman »Fahrt über den See«. 41 Werner Milch war von der Universität Marburg aus rassischen Gründen entlassen worden und emigrierte später nach England. – Am 2.7.1935 erschien in der Frankfurter Zeitung ein Artikel über Knigge unter dem Kürzel »W.M.« (Frankfurter Zeitung (1935) 331/332, S. 11)

3.1 Anfänge der Verlagsarbeit Sophie von la Roche42 war noch von Claassen initiiert worden. Andere Buchpläne dieser Sparte, von denen in der Verlagskorrespondenz der ersten Monate die Rede ist, wurden nie verwirklicht. Weder schrieb Wolfgang von Einsiedel für den H. Goverts Verlag ein Buch über »ein antikes Thema«, das Claassen mit ihm im Oktober 1935 mündlich vereinbart hatte,43 noch konnte der Verleger Rudolf Bach jenes Goethe-Buch abringen, von dem im Briefwechsel seit dem Sommer 1935 immer wieder die Rede war.44 Vor allem gestaltete sich die Suche nach deutschen Romanen zeitgenössischer junger Autoren im ersten Jahr als schwierig. Manchen jungen Autor mögen die Verleger in der Anfangszeit auch aufgrund ihrer Beschränkung auf Romane verloren haben: Rudolf Bach, dessen Kindheitsbuch Claassen der geplanten Goethe-Studie zeitlich nachordnen wollte, ging im Dezember 1935 zum Wunderlich Verlag.45 Dem jungen Roland Ziersch, der im Sommer 1935 offensichtlich von S. Fischer zu einem anderen Verlag wechseln wollte,46 schrieb Claassen ablehnend, kleinere Erzählungen würden vom Buchhandel »nur mit Widerstreben aufgenommen«47. Die Ablehnung von Lyrik und Erzählungsbänden in den Anfangsjahren begründete Claassen stets wirtschaftlich. An Lyrik »wagen wir uns in den ersten Jahren noch nicht heran«48, bekannte er Rudolf Bach. Emil Barth gegenüber, auf den Claassen von dem Verlegerkollegen Hegner aufmerksam gemacht worden war, argumentierte er noch grundsätzlicher: Sie seien »ein noch junger Verlag«, der bei seiner Arbeit daher auch »auf gewisse Grenzen Rücksicht nehmen« müsse. Sie verfügten »über noch nicht genügend Fonds, um uns diesen schönen und im höheren Sinne sicher ersprießlichen Luxus leisten zu können«49. Die gleichzeitig dem Verlag vorgelegten Kindheitserinnerungen des jungen Autors allerdings begründeten im November 1935 dann doch eine langjährige Zusammenarbeit.50 Lediglich bei bereits eingeführten Autoren war Claassen zu Ausnahmen von der Regel bereit. Auf Vorschlag Wilhelm Hausensteins hin schlug Claassen Regina Ullmann, die er im März 1935 in München besucht hatte, eine Neuherausgabe ihrer bereits

42 Werner Milch: Sophie la Roche. Die Großmutter der Brentanos. Frankfurt/Main: SocietätsVerlag 1935. 43 So Eugen Claassen an Hilde Claassen, 16.10.1935. Noch ein Jahr später bat Claassen Hans Georg Brenner, sich bei Einsiedel für den Abschluß von dessen »standard work« einzusetzen (Claassen an Brenner, 28.10.1936); danach war von diesem Plan nicht mehr die Rede. – Einsiedel arbeitete zunächst in der Redaktion der Neuen Rundschau und emigrierte später nach England. 44 Noch vier Jahre später erhoffte sich Claassen von diesem Buch, daß es »zumindest für eine Dekade das Goethe-Bild« (Claassen an Bach, 30.3.1939) bestimmen und »ein Herzstück des Verlags« werden würde (Claassen an Bach, 4.4.1939). 45 Der hatte ihm für seinen Roman »ein sehr günstiges Angebot« gemacht und sich auch bereiterklärt, seine Lyrik zu verlegen (Bach an Claassen, 25.12.1935). 46 Auch auf diesen Autor war Claassen von Wolfgang Petzet hingewiesen worden. 47 Claassen an Ziersch, 27.6.1935. Dessen Roman-Erstling »Die Spur« erschien vier Jahre später bei Suhrkamp. 48 Claassen an Bach, 10.8.1935. 49 Claassen an Barth, 20.11.1935. 50 Emil Barth: Das verlorene Haus. Eine Kindheit (1936). (Nr. 4)

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs 1925 im Schweizer Verlag Grethlein erschienenen Novelle Die Barockkirche51 vor, ergänzt um »zwei oder drei neue Novellen«52. Ein engerer verlegerischer Kontakt zu dieser Autorin, die fünfundzwanzig Jahre zuvor einen gewissen Bekanntheitsgrad besessen hatte und z. B. von Rilke sehr geschätzt worden war,53 muß Claassen zunächst sehr gereizt haben; er kannte sie aus seiner Münchener Zeit auch privat.54 Nachdem der mittlerweile in der Schweiz lebenden Regina Ullmann im November 1935 vom Schutzverband deutscher Schriftsteller in Wien allerdings ihr Ausschluß aus der Reichsschrifttumskammer mit der Begründung mitgeteilt worden war, sie habe Deutschland verlassen, trat Claassen sofort zurück,55 bemühte sich allerdings gleichzeitig um Abwägung der Alternativen im Interesse der Autorin. Erst nach dem Krieg brachte Claassen von dieser Autorin als Lizenzausgabe des Schweizer Benzinger Verlags einen Band mit Erzählungen heraus.56 Von Anfang an hatten Claassen und Goverts für ihren Verlag ein Programm entworfen, das sie als Selbstcharakterisierung in den Briefen an zukünftige Autoren in verschiedenen, z. T. sehr vagen Formulierungen nach außen trugen. Bereits im November 1934 hatte Goverts in einem Brief an Elisabeth Langgässer angekündigt, er werde »mit einem Freunde, der augenblicklich noch in der Leitung eines bekannten Verlags« sei, »Anfang Dezember einen auf meinen Namen lautenden Verlag gründen, der eine der deutschen Tradition entwachsene [sic] humanistische Linie haben«57 werde. Zehn Monate später bekannte Claassen in einem Brief an Irene Behn58, sie seien »zwar kein katholischer Verlag, sehen aber im Dienst d i e s e s Christentums das wichtigste Element der abendländischen Geschichte. Wir würden daher gern dazu beitragen, Verständnis zu wecken. Das kann im Rahmen unseres Verlags nur durch allgemein kulturelle Darstellungen geschehen.«59

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51 Der Züricher Verlag Seldwyla war mittlerweile in Konkurs gegangen. 52 Claassen an Ullmann, 25.4.1935 (In Büchern denken, S. 516). 53 Rilke hatte 1910 ein Geleitwort zu ihrer Sammlung mit Prosastücken »Von der Erde des Lebens« geschrieben. 54 »Ich würde mich sehr freuen, wenn sich gleich am Anfang unserer Verlagstätigkeit die Möglichkeit ergäbe, ein Buch von Ihnen erscheinen zu lassen.« (Claassen an Ullmann, 25.4.1935 – In Büchern denken, S. 516). 55 Die Anordnung der Reichsschrifttumskammer, die den Verlags- und Buchhandelsunternehmungen zur Auflage machte, die Kammerzugehörigkeit ihrer Geschäftspartner, Autoren und Angestellten zu überprüfen, stammte bereits vom 30.7.1934; vgl. Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 86. 56 Regina Ullmann: Von einem alten Wirtshausschild. Hamburg: Claassen & Goverts (1949). (Nr. 156) 57 Goverts an Langgässer, 23.11.1934 (DLA Langgässer/70.3907/1). In diesem Brief bat er um ein Buch von ihr und kündigte seinen Besuch für Dezember an. Im Dezember 1934 schloß sie bereits einen Vertrag mit Jakob Hegner über ihre Tierkreisgedichte. Der Kontakt blieb auch nach ihrem Ausschluß aus der Reichsschrifttumskammer im Jahre 1935 bestehen. 58 Claassen kannte die Philologin Irene Behn, die mittlerweile in Hamburg wohnte, aus seiner Studienzeit in München. Sie beriet ihn im Bereich spanischer Literatur. – 1948 erschien von ihr eine Übertragung der Gedichte des katholischen Lyrikers Gerard Manley Hopkins bei Claassen & Goverts. (Nr. 120) 59 Claassen an Behn, 28.9.1935 (Cl.A./Salvatorelli).

3.1 Anfänge der Verlagsarbeit Neben solchen programmatischen Bekenntnissen zu Humanismus und Christentum als den wichtigsten Komponenten der europäischen Bildungstradition betonten die Verleger immer wieder ihren Anspruch auf ein »ein hohes geistiges und sprachliches Niveau«60: »Neben Romanen beabsichtigen wir vor allem bedeutende Biographien, historische Darstellungen und allgemeine kulturelle Publikationen herauszubringen, die stilistisch und in der sachlichen Behandlung der Themen hohen kulturellen und geistigen Ansprüchen genügen.«61

Arbeitsteilung und verlegerisches Selbstverständnis Die Zusammenarbeit zwischen den beiden so verschiedenen Partnern, gar eine gleichberechtigte Arbeitsteilung in der Verlagsarbeit, lief recht langsam an. »Anfangs war Claassen mein Lehrmeister«62, hat Goverts später häufig betont. Allerdings war Claassen wohl kein sehr geduldiger Lehrmeister. In zehnjähriger Berufspraxis im SocietätsVerlag hatten sich bei ihm sehr genaue Vorstellungen über die verlegererische Arbeit und, beeinflußt von den im Umkreis der Frankfurter Zeitung kultivierten Niveauvorstellungen, ein hoher Qualitätsanspruch herausgebildet, den er auch in dem neuen Verlag zu verwirklichen suchte. Daß Claassen in den Anfangsmonaten die praktische Mitarbeit seines Compagnons im Verlag eher kritisch sah, wird aus einem Brief an seine Frau vom Oktober 1935 deutlich. In allen privaten Dingen, heißt es dort lakonisch, sei »Go reizend. Im Verlag macht er mir Sorgen.«63 Ob Goverts’ Unerfahrenheit in Verlagsfragen oder seine größere Nonchalance in allen Lebensbereichen die Ursache für diesen Stoßseufzer waren, oder ob die Gründe für die hier angedeuteten Differenzen eher in Claassens »starker, ziemlich autoritärer Persönlichkeit«64 lagen, die ihm Goverts fünfzehn Jahre später nach ihrer Trennung bescheinigte, sei dahingestellt. Nach außen allerdings traten sie einmütig auf. Goverts sprühte offensichtlich vor Ideen. Er entwarf eine Vielzahl von Plänen, z. T. auch recht vager Art, ohne sich zunächst um deren Verwirklichungsmöglichkeiten zu bekümmern.65 Bei der Suche nach ausländischer Literatur verließ er sich wohl auch oft auf die Empfehlung der Freunde aus den Jahren seiner eigenen schriftstellerischen Ver-

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Claassen an Ziersch, 18.6.1935. Goverts an Hansgeorg Maier, 19.12.1935. So Goverts nach Claassens Tod an Hilde Claassen, 22.9.1955. Claassen an Hilde Claassen, 16.10.1935. Goverts an Claassen, 7.3.1951: »Bei Deiner starken, ziemlich autoritären Persönlichkeit mußte man sich Dir allerdings weitestgehend fügen; die Waschzettel mußten in Deiner Art geschrieben werden, eine andere ließest Du kaum gelten.« (Cl.A/Claassen-Goverts) 65 So entwickelte er im Januar 1935 in einem Brief an Richard Moering einen Plan über die Geschichte der klassischen Architektur, die der aus dem Hamburger Staatsdienst entlassene Architekt Richard Tüngel, mit dem beide befreundet waren, schreiben sollte – noch ehe er mit diesem überhaupt Kontakt aufgenommen hatte: »Ich möchte mit ihm ein Buch machen über den Neoklassizismus, worin er von der griechischen Architektur ausgehend dann Gilly behandelt, der in gewisser Weise die neue Sachlichkeit in der Architektur schon vorwegnahm, und dann auf die heutige Situation zu sprechen kommt.« (Goverts an Moering, 8.1.1935)

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs suche; deren Kompetenz vertraute er.66 Es hat den Anschein, als habe er das Lesen und Prüfen der Manuskripte weitgehend Claassen überlassen. Im Mai 1935 schrieb der an seine Frau, es freue ihn, daß ihr der englische Roman Abelard gefalle: »Außer mir hat ihn bisher niemand gelesen.«67 Besonders seine Begeisterungsfähigkeit, die etwas Gewinnendes gehabt haben muß, hat Goverts im persönlichen Kontakt viel spontane Sympathie eingetragen. Auch Hilde Claassen erinnerte sich im Rückblick auf den Beginn ihrer Bekanntschaft zuerst an Goverts’ »Spontaneität« und die »Wärme« seiner Worte. Das erste Gespräch im Frühjahr 1934 habe »sozusagen im Status nascendi gewisse Eigenschaften erkennbar« werden lassen, die ihr für den späteren Verleger »unerlässlich schienen: Begeisterungsfähigkeit, Optimismus, Wagemut, Entschlossenheit, aber auch die Bedachtsamkeit und die Skepsis eines kritischen Geistes.«68 Diese Begeisterungsfähigkeit konnte sich allerdings auch in pathetischen Formeln äußern;69 in Verbindung mit seiner gesellschaftlichen »Weltläufigkeit«, die junge Autoren durchaus zu verunsichern vermochte, ließ dieser Charakterzug Goverts’ zuweilen auch den Eindruck von Unverbindlichkeit zu.70 Im Gegensatz zu Goverts wirkte Claassen im persönlichen Kontakt eher zurückhaltend, nüchterner, im Urteil abwägender, auch skeptischer.71 Die Briefe der ersten Verlagsmonate dokumentieren sein verlegerisches Selbstverständnis als Anreger und vor allem kritischer Berater der Autoren. Sie zeigen, welch genaue Vorstellungen er in bezug auf Projekte hatte, die sich noch in der allerersten Planungsphase befanden.72 Auch in der Korrespondenz mit Übersetzern finden sich intensive Auseinandersetzungen über Stil und Qualität der Übertragungen und Erörterungen grundsätzlicher Pro-

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66 Im Januar 1935 hatte er seinem Freund Richard Moering angekündigt, er wolle ihn »als Lektor für englische und französische Bücher« mit heranziehen (Goverts an Moering, 8.1.1935 – Cl.A./Gevers). Hans Schiebelhuth, der ebenfalls zum Darmstädter Freundeskreis um den Freundeskreis Pepi Würth gehört hatte, muß mehrere Vorschläge für eine sog. »Romanbibliothek« gemacht haben. 67 Eugen Claassen an Hilde Claassen, 16.5.1935. 68 Hilde Claassen: Begegnung mit Henry Goverts, S. 11. 69 Vgl. z. B. Goverts an von Wangenheim, 16.8.1935: »Helen Waddell schuf hier weniger einen historischen Roman als die lebendige Vergegenwärtigung ewiger Kämpfe und Probleme. ›Leidenschaft‹ ist das Signum dieses Werks, im geistigen und hohen erotischen Sinne.« 70 Oda Schaefer-Lange hat in ihren Erinnerungen den ersten Besuch der jungen Verleger bei dem späteren Autor Horst Lange in den Ostertagen 1935 beschrieben. Goverts habe »eher elegant und weltläufig« gewirkt. »Goverts [...] redete viel, zerstreut und schnell, liebenswürdig und halb flüsternd, er gebrauchte mit gespitztem Mund das Modewort ›Irgendwie‹ so oft, daß es uns auffiel. Es klang unverbindlich. Später sollten wir erfahren, daß er in Hamburg von seinen Freunden liebevoll ›das Irgendwiesel‹ genannt wurde.« (SchaeferLange: Auch wenn Du träumst, gehen die Uhren, S. 274f.; sie verlegt den Besuch allerdings irrtümlich auf das Jahr 1934.) 71 Oda Schaefer-Lange brachte diesen Eindruck auf die ironische Formel, Claassen habe Literatur »durch seine scharfgeschliffenen Brillengläser« betrachtet. (Schaefer-Lange, S. 275) 72 Dies zeigt sich z. B. in Briefen an Brenner, in denen er den Aufbau und die Schwierigkeiten in der Darstellungsweise einer Biographie erörterte und detaillierte Verbesserungsvorschläge machte (vgl. Claassen an Brenner, 27.6.1935 und 20.11.1935 – In Büchern denken, S. 90 –92), oder an seiner Bereitschaft, zu Sternberger nach Frankfurt zu fahren, um mit ihm ausführlich über das geplante Projekt zu diskutieren.

3.1 Anfänge der Verlagsarbeit bleme des Übersetzens.73 Claassens Auffassung von der inhaltlichen Mitarbeit des Verlegers an allen Verlagsprojekten und sein persönliches Engagement für eine breitere Wirksamkeit der im H. Goverts Verlag erscheinenden Bücher gingen so weit, daß er für die Biographie Peter Abälard selbst einen zweiseitigen Anhang mit Erklärungen erstellte. Er setzte dies auch gegen die Überzeugung der Übersetzerin durch, die es »prinzipiell für falsch« hielt, »Leser durch fragmentarische Erläuterungen davon abzuhalten, sich selbst zu informieren.«74 Auch wenn Claassen ein gebildetes Lesepublikum antizipierte, glaubte er dessen Detailkenntnisse doch nicht überschätzen zu dürfen.75

Hamburg als Verlagsstadt Wenn Claassen im ersten Verlagsjahr in den Briefen an seine Frau immer wieder seine Unzufriedenheit und Nervosität, ja Ungeduld eingestand, so lag dies nicht nur an den Schwierigkeiten bei der Suche nach geeigneten Manuskripten, die seinen Ansprüchen genügen sollten. Des öfteren spielte er auf die völlig geänderte Lebenssituation in Hamburg an, die ihm »manchmal fast zu privat« vorkam: »Es fehlt mir der größere Apparat, an den ich mich gewöhnt hatte. Das ist keine Kritik, sondern nur ein Reflex aus den letzten 10 Jahren.«76 Offensichtlich fühlte er sich von Herkunft und Bildungsgang her, trotz der zehn Frankfurter Jahre, als Süddeutscher, d. h. zu süddeutscher und österreichischer Kultur und Lebensart hingezogen. Trotz Goverts’ Bemühungen bekam er zu dessen Freunden und zu Hamburg als Stadt nicht leicht Zugang: »Ich lebe mich hier schwer ein«, gestand er Hilde Claassen. »Die Stadt ist schön, aber sie gibt sich schwer. Ich kann mir noch gar nicht ausmalen, ob und wie wir hier leben. Ich hoffe immer noch auf München.«77 Bis zum März 1936 gab immer wieder ernsthafte Überlegungen, das neugegründete Unternehmen in eine andere Stadt zu verlegen; daß die Anregungen dazu von Claassen ausgegangen sind, liegt auf der Hand. Doch er war selbst unschlüssig: »Ob wir hier bleiben, ist mir noch immer nicht klar, vieles spricht dafür, manches dagegen.«78 In Claassens Augen war Hamburg keine Verlagsstadt; nur politische Gründe sprachen für diese Stadt: »Ich neige immer mehr dazu, im nächsten Jahr endgültig nach München oder Berlin zu gehen (nur die »Inselatmosphäre« unter aktuellen Gesichtspunkten hält mich). Als Boden für praktische Arbeit ist Hamburg gleich Null. Ich war vor einigen

73 Claassen an von Wangenheim, 24.6.1935: »Die Quadratur des Kreises, deren Lösung jede Übersetzung im Grunde fordert, liegt in der Schmiegsamkeit gegenüber dem Original und dem Zwang, auch der deutschen Sprachsphäre gerecht zu werden.« 74 von Wangenheim an Claassen, 5.9.1935 (In Büchern denken, S. 623). 75 »Die Kenntnis der patristischen und scholastischen Philosophie und der kirchengeschichtlichen Daten ist in Deutschland selbst in katholischen Kreisen, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, sehr bescheiden. Ich halte diesen Anhang in diesem Fall für sehr nützlich, ohne daß er dem Buch in irgendeiner Form Abbruch tut.« (Claassen an von Wangenheim, 7.9.1935 – In Büchern denken, S. 623) 76 Eugen Claassen an Hilde Claassen, 13.5.1935. 77 Eugen Claassen an Hilde Claassen, 13.5.1935. 78 Eugen Claassen an Hilde Claassen, 28.5.1935.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Tagen in Berlin, das bei allem Unangenehmen viel frischer ist.«79 Schließlich gab doch die Einschätzung der mit dem Bild der Insel deutlich charakterisierten kulturpolitischen Situation Hamburgs den Ausschlag zu bleiben: d. h. die von vielen Hamburgern eher atmosphärisch wahrgenommene Besonderheit der Hafenstadt, die zum Ausland hin noch offen schien, sowie vor allem die örtliche Distanz zu den Behörden des nationalsozialistischen Staates.

»Wir müssen mutig sein, um alle Gefahren abzuwenden« Es ist nachträglich schwer zu beurteilen, worauf genau Claassen anspielte, als er seiner Frau im Mai 1935 bekannte, er sei »durch die ›Situation‹ deprimiert«80. Wenige Wochen zuvor hatte er in seinem Geburtstagsbrief an sie ihr wie wohl gleichzeitig auch sich selbst Mut zugesprochen: »Wir müssen mutig sein, um alle Gefahren abzuwenden.«81 Nachdem die systematische Säuberung der Reichsschrifttumskammer von »nichtarischen« Schriftstellern binnen dreier Monate im April 1935 nahezu vollständig abgeschlossen war,82 begann die Übertragung der antisemitischen Vorschriften auf den bis zum Frühjahr in dieser Hinsicht unberührt gelassenen Bund Reichsdeutscher Buchhändler. Es ist nicht auszuschließen, daß Claassen selbst glaubte, über die Vorfahren seines Vaters nach nationalsozialistischen Rassevorstellungen jüdischer Abstammung zu sein.83 Daß er den Nachweis einer »arischen« Abstammung väterlicherseits nicht würde führen können, war ihm bewußt. Insofern wäre es verständlich, wenn er sich bedroht gefühlt hätte und mit der Möglichkeit rechnete, daß die zunehmend rigideren antisemitischen Vorschriften in den Kulturberufen auch ihn treffen könnten.84

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79 Eugen Claassen an Hilde Claassen, 16.10.1935. – Viele autobiographische Aufzeichnungen belegen, daß Berlin, der kulturelle Mittelpunkt der zwanziger Jahre, noch bis in die ersten Kriegsjahre hinein, vor allem in privaten Zirkeln, manches vom bohèmehaften Flair dieser Jahre hatte bewahren können. 80 Eugen Claassen an Hilde Claassen, 13.5.1935. 81 Eugen Claassen an Hilde Claassen, 20.4.1935. 82 Vgl. Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich, S. 47 –54 sowie S. 63. 83 Hilde Claassen hat in den Notizen zur Biographie Eugen Claassen angegeben, daß die väterliche Familie »orthodoxen Glaubens und vermutlich jüdischer Abstammung« gewesen sei. (In Büchern denken, S. 665) 84 In Anlagen zu verschiedenen Fragebögen, die ab dem Frühjahr 1935 an die Mitglieder des BRB versandt wurden und die als Kopien im persönlichen Nachlaß Claassens im Cl.A. erhalten sind, hat sich Claassen bemüht, das Fehlen jeglicher Papiere über die Abstammung seines Vaters mit dem Verlauf der russischen Revolution 1917/1918 zu erklären. Nachforschungen seines Vaters durch das Nansen-Komitee nach dem Krieg seien völlig negativ verlaufen: In Charkow und Poltawa seien keinerlei Unterlagen mehr aufzufinden gewesen; alle russischen Angehörigen seines Vaters seien seit dieser Zeit verschollen. Mit dem Hinweis darauf, daß sein Großvater väterlicherseits ursprünglich Gutsbesitzer gewesen sei, versuchte er, mögliche Bedenken wegen einer »nichtarischen« Abstammung zu zerstreuen: »Mein väterlicher Großvater war ursprünglich Gutsbesitzer, ebenso wie die Vorfahren meiner väterlichen Großmutter. [...] Da Juden damals in Rußland keinen Grundbesitz erwerben durften, ist die nichtarische Herkunft schon aus diesem Grunde unwahrscheinlich.« (Fragebogen zur Eingliederung in die Fachschaften im Bund Reichsdeutscher Buchhändler e.V., »zu Punkt 4 a)«, undatiert)

3.1 Anfänge der Verlagsarbeit Für Claassen kam der Weggang von Frankfurt zu einer Zeit, in der das nationalsozialistische Regime sich stabilisierte und die weitere politische Entwicklung und damit die der verlegerischen Rahmenbedingungen schwer abzuschätzen waren, einem Bruch in mehrfacher Hinsicht gleich. Die existentiellen Bedrohungen vor allem der als jüdisch geltenden Mitarbeiter des alten Frankfurter Kreises hatte eine größere Anzahl bereits in die Emigration getrieben, und die Zurückgebliebenen schlossen sich in den verbliebenen Zirkeln enger zusammen.85 Für Claassen bedeutete der Schritt zur Gründung des eigenen Verlags zunächst weitgehend Isolation, in beruflicher wie privater Hinsicht. Eine Art innerer Distanz gegenüber den ärmlichen Verhältnissen der Emigration, vor allem aber die Hilflosigkeit, die abgebrochenen sozialen Kontakte zu den eigenen Lebensumständen in Beziehung zu setzen, ist Claassens knapper Notiz zu entnehmen, mit der er seiner Frau von dem Wiedersehen mit emigrierten Freunden wie Erich Schoen berichtet, dem ehemaligen künstlerischen Leiter des Radio Frankfurt, oder dem Ehepaar Planck, das vor dem Regime über die Schweiz nach Spanien entwichen war: »In London sah ich Schoen, sehr bescheiden, aber immerhin guter Laune. In Bern Gaby [Planck], die Dich beide grüßen. Solche Begegnungen nach langer Zeit sind immer merkwürdig.«86 Die Nachricht vom plötzlichen Tod seines früheren Mitarbeiters Wangart im Societäts-Verlag muß Claassen im Oktober 1935 schlagartig den längst vollzogenen Bruch mit seiner Frankfurter Zeit und der dortigen Arbeit bewußt gemacht haben. Er habe nun das Gefühl, schrieb er an Kasimir Edschmid, »daß die kurze Tradition dieses Verlags abgerissen«87 sei.

»... und vorsichtig, um nicht aufzufallen« Zu der Verunsicherung in den privaten Beziehungen addierte sich die Unsicherheit beim Ausmessen des eigenen Handlungsspielraums. Vorsicht dominierte das Verhalten der Verleger von Anfang an. Als Hans Georg Brenner im Sommer 1935 die Edition einer Sammlung von Grab- und Gedenkreden zur Diskussion stellte, benannte er die politische Brisanz der Auswahlkriterien gleich an mehreren Beispielen: »Jean Paul – dürfen wir die Rede von Börne wagen? [...] Nicht ungesagt darf bleiben, daß Magnus, dem die Helmholtz-Rede gilt, nichtarisch war. [...] Virchow – davor wird gewarnt, weil er als Prototyp liberalistischer Wirtschaftsauffassung gilt; man wollte sogar das Krankenhaus umbenennen.«88 Claassens Antwort fiel lakonisch kurz aus: »Ihr Bedenken gegenüber Virchow leuchtet mir ein.«89 Das Projekt wurde binnen weniger Wochen ebenso verworfen wie die Übersetzung des Romans La jument verte von Marcel Aymé, die der Heidelberger Indologe Heinrich Zimmer90 vorgeschlagen hatte. »Ich hatte […] schon nach den ersten hundert Seiten den Eindruck, dass die Veröffentlichung heute unmöglich ist«, resümierte Claassen in einem Brief an Lucy von Wangenheim seine Entschei85 86 87 88 89 90

Vgl. Gillessen: Auf verlorenem Posten, Kap. VII – X. Eugen Claassen an Hilde Claassen, 16.5.1935. Claassen an Edschmid, 24.10.1935. Brenner an Claassen, 30.6.1935. Claassen an Brenner, 3.7.1935. Zimmers Frau Christiane, eine Tochter Hofmannsthals, war Claassens Kinder- und Jugendfreundin gewesen. Das Ehepaar Zimmer emigrierte 1937.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs dung, die in der diplomatischen Würdigung gipfelte, er habe »diese Studie über das intime Familienleben der französischen Provinz sehr instruktiv«91 gefunden. Die Korrespondenz der ersten Monate macht anschaulich, mit welch großer Vorsicht die Verleger die Verlagsarbeit begannen. Angesichts der schwer überschaubaren literaturpolitischen Vorgaben waren sie in jeder Hinsicht bemüht, bei den Überwachungsstellen gar nicht erst aufzufallen. In formalen Fragen entsprach dieser Vorsicht das Bemühen, die vorgegebenen Richtlinien möglichst korrekt einzuhalten und sich eng an die informellen Anweisungen der Vertraulichen Mitteilungen der Fachschaft Verlag92 zu halten, die den Mitgliedern im Bund Reichsdeutscher Buchhändler seit dem 31.5.1935 »kostenlos durch Post« zugesandt wurden. Nicht selten schlug solch streng legalistisches Denken angesichts mancher Direktiven, die i. d. R. als »Empfehlungen« ausgegeben wurden, in Überkorrektheit um; den Autoren gegenüber wurden die Vorgaben nicht selten als Zwang ausgegeben. (Vgl. Kap. 3.4.1)

Der Verlag präsentiert sich der Öffentlichkeit Der junge Verlag stellte sich im Oktober 1935 mit einer bis ins Detail auf eine intensive Wirkung hin kalkulierte Werbekampagne für seine ersten drei Bücher vor. Die Werbebemühungen in den zeitgenössischen Zeitschriften und Tageszeitungen lassen sich aufgrund der schwierigen Überlieferungssituation nur bruchstückhaft rekonstruieren.93 Doch bereits an der ersten Anzeigenserie des Verlags im Börsenblatt werden charakteristische Züge der Verlagswerbung erkennbar. Die ganzseitigen Börsenblatt-Anzeigen vom 18. und 25. Oktober und vom 9., 10. und 11. Dezember 193594 zielten darauf ab, ein möglichst markantes Profil des H. Goverts Verlags zu entwerfen. Sie spiegelten in anschaulicher Form die positive Presseresonanz auf die Originaltitel im Ausland wider, ebenso wie die auf die deutschen Titel im Herbst 1935. In der ersten, optisch stark gegliederten und im Gesamtbild aufgrund der Vielfalt der verwendeten Schrifttypen etwas unruhig wirkenden Anzeige vom 18.10.1935 präsentierte sich der Verlag unter der Überschrift »Vorankündigung« dem deutschen Buchhandel mit seinen ersten drei Veröffentlichungen. Das Verlagssignet, das neben der vertikal angeordneten Abkürzung »HGV« einen Jüngling zeigt, der auf der linken Schulter eine Amphora trägt, stammte von Emil Rudolf Weiss, der auch Einband und Schutzumschlag der ersten Goverts-Bücher entwarf. In der Anzeige ist

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91 Claassen an von Wangenheim, 16.5.1935. 92 Eine vollständige Sammlung dieser wichtigen Quelle zur NS-Schrifttumspolitik, deren »informelle Anweisungen« die »Feinsteuerung« des Buchhandels ermöglichten (Dahm: Die nationalsozialistische Schrifttumspolitik, S. 66), ist nicht erhalten. Im Archiv des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels ist eine Kopie des Bestandes der Deutschen Bücherei in Leipzig vorhanden, das allerdings Lücken aufweist. – Vgl. auch Thunecke: NS-Schrifttumspolitik am Beispiel der »Vertraulichen Mitteilungen der Fachschaft Verlag«. 93 Bei der Archivierung und Bindung der Zeitungen und Zeitschriften des hier interessierenden Zeitraums wurden i. d. R. die Anzeigen-Seiten, wie das leider auch heute noch üblich ist, nicht mit aufgenommen; bei den Mikrofilm- und Mikrofiche-Editionen, die auf der Grundlage dieser Bestände erstellt wurden, fehlen diese Seiten demzufolge ebenfalls. 94 Vgl. Börsenblatt 102 (1935) 243, S. 4876; Börsenblatt (1935) 249, S. 5069 – 5071; Börsenblatt (1935) 285, S. 6395; Börsenblatt (1935) 286, S. 6427 sowie Börsenblatt (1935) 287, S. 6451.

3.1 Anfänge der Verlagsarbeit dieses Signet eingerahmt von der doppelten Ankündigung »Herbst 1935«. Die unter dem optisch hervorgehobenen, in Antiqua gesetzten Verlagsnamen »H. Goverts Verlag« plazierte Eigencharakterisierung der Produktion machte nur indirekt deutlich, daß es sich um eine Neugründung handelte:95 »Gute Romane. Wichtige Bücher aus Geschichte und Kultur für die breiten gebildeten Schichten.«96 Mit dieser Ankündigung, deren programmatischer Charakter ins Auge fällt, war nicht nur als Zielgruppe ein Publikum bestimmt, das sich über seine bereits erworbene Bildung bzw. sein Bildungsbemühen definierte. Durch die Betonung des Anspruchs auf Qualität und Bedeutsamkeit der Produktion, dem durch die beiden handschriftlichen Züge »drei bedeutende Romane«, »drei Dichtungen von Rang« im mittleren und unteren Teil der Anzeige Nachdruck verliehen wurde, stellte sich die junge Firma selbstbewußt in die Tradition der großen literarischen Verlage in Deutschland. Die Formulierung der Werbeanzeige signalisierte den Anspruch, sich gegen reine Unterhaltungsliteratur durch literarisches Engagement abzusetzen, d. h. bei der Auswahl vor allem ästhetische und weltanschauliche Kriterien anzulegen. Eine solche Selbstcharakterisierung hatte vor dem Hintergrund der Zeitereignisse für den Buchhandel bzw. das über ihn angesprochene bildungsbürgerliche Publikum durchaus emphatischen Charakter. Der so deutlich formulierte Anspruch auf Qualität und Bedeutsamkeit und die Bandbreite des angestrebten Verlagsprogramms ließen sich als Festhalten an einer literaturkritischen Tradition verstehen, die viele Bildungsbürger wegen der Zunahme des tendenziösen Unterhaltungsschrifttums und plakativ argumentierender Geschichtsumdeutungen in Gefahr sahen. Die Wahl des griechischen Jünglings als Verlagssignet ließ sich ebenso als Signal für das Bemühen deuten, an einer bis in die Antike zurückreichenden geistesgeschichtlichen Tradition festzuhalten, wie die Entscheidung für die Antiqua in einer Zeit, die aus nationalistischen Gründen die vorgeblich deutsche Frakturschrift favorisierte. Die in dieser ersten Vorankündigung vom 18. Oktober enthaltenen Charakterisierungen der drei Romane bestanden jeweils aus der Angabe des Genres sowie einem Hinweis auf Zeit und landschaftlichen Hintergrund der Handlung, ergänzt um ein dezidiertes Werturteil über die Qualität des Gesamtwerks. Während dies bei dem deutschsprachigen Roman Anna Linde lediglich als Behauptung des Verlags möglich war, ließ sich bei den Übersetzungen zusätzlich der Erfolg im Herkunftsland bereits mit Fakten belegen: »Editha Klipstein: Anna Linde Der spannende deutsche Entwicklungsroman von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart Ein reiches Buch von erstaunlicher Vielseitigkeit. Helen Waddell: Peter Abälard Der große Liebesroman aus dem frühen Mittelalter/ein leidenschaftliches Buch ewiger menschlicher Kämpfe. In England sechzehn Neuauflagen während eines Jahres. Marie Gevers: Frau Orpha Ein bestrickender Roman vom Verhängnis der Liebe und vom großen Zauber der flämischen 95 Ein weiterer Hinweis auf diese Tatsache der Neugründung war die (kleingedruckte) Bitte am Ende der Anzeige, den Vertreter des Verlags zu empfangen. 96 Börsenblatt 102 (1935) 243, S. 4876.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Landschaft. Mit dem französischen Volkspreis ausgezeichnet.«97

Die emphatische Verwendung des bestimmten Artikels suggerierte im Falle Anna Linde und Peter Abälard den Eindruck von Einmaligkeit und erschöpfender Darstellung des Themas. Exakt eine Woche später,98 am 25. Oktober 1935, stieß der Verlag mit nunmehr drei ganzseitigen Anzeigen im Börsenblatt nach.99 Unter der jeweiligen Überschrift »Ende Oktober erscheint« wurden die drei Romane ausführlicher vorgestellt. Die drei Anzeigen erscheinen in der optischen Komposition sehr ausgewogen: mit Schmuckrand, links ausgerücktem Verlagssignet und im Falle Klipstein und Gevers sogar mit der Wiedergabe der Zeichnung der Titelfiguren auf dem Buchumschlag. Verglichen mit dem Gros der Börsenblatt-Anzeigen des Jahres 1935 wirken sie zurückhaltend und erinnern am ehesten an die des Insel- oder des S. Fischer-Verlags. Die Anzeige des Romans Anna Linde von Editha Klipstein streicht in einem fortlaufenden Werbetext, der einen Inhaltsüberblick bietet, vor allem den hohen Anspruch des Romans heraus: Es handele sich bei diesem »deutschen Entwicklungsroman« um eine »die Zeit spiegelnde und klärende Darstellung«, um »eine Rechenschaft, die weiterhilft«; die Autorin stelle »eine bedeutende Kraft« dar, sei eine von den »Auserwählten«100. Die Ankündigungen der beiden Übersetzungen unterscheiden sich davon durch eine äußerst knappe Inhaltscharakterisierung, die in einem Fall mit drei Sätzen, im anderen mit nur einem Satz auskommt und die durch Auszüge aus Rezensionen aus der ausländischen Presse ergänzt werden. Die Anzeige für Frau Orpha enthält eine größere Anzahl von kurzen, in deutscher Übersetzung gegebenen Zitaten aus Rezensionen verschiedener flämischer und wallonischer, holländischer und französischer Zeitungen, eingeleitet durch die in der Frankfurter Zeitung veröffentlichten Aufforderung des nicht namentlich genannten Wilhelm Hausenstein, den Roman ins Deutsche zu übersetzen.101 Durchgängig wird die Bindung des Romans an die bäuerliche Landschaft Flanderns gelobt und wiederholt seine »poetische Sprache« betont; die Autorin wird als »große Dichterin« gewürdigt, als »die begabteste unter denen, die in den letzten fünfzehn Jahren neu in Erscheinung getreten«102 seien. Die Anzeige für den historischen Roman Peter Abälard besteht im wesentlichen aus Rezensionsauszügen aus englischen Zeitungen und Zeitschriften, die jeweils bündig in ihrer Bedeutung charakterisiert werden; zitiert werden die »große englische Zeitung New Chronicle«, das »bekannte Londoner Abendblatt Evening Standard«, die »wichtige politische Wochenschrift New Statesman« und die »große populäre britische Rundfunkzeitung The Listener«. Die Börsenblatt-Anzeige, in der dem deutschen Buchhandel zum

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97 Börsenblatt 102 (1935) 243, S. 4876 (Hervorh. im Orig.). 98 Kleingedruckt war am Schluß der Anzeige vom 18.10.1935 darauf hingewiesen worden: »Anzeigen mit genauen Hinweisen und Bestellkarten folgen am 25. Oktober.« (Börsenblatt Nr. 243) 99 Vgl. Börsenblatt 102 (1935) 250, S. 5069 – 5071. 100 Börsenblatt 102 (1935) 250, S. 5069. 101 Vgl. Frankfurter Zeitung/Literaturblatt (1935) 9. 102 Börsenblatt 102 (1935) 250, S. 5070.

3.1 Anfänge der Verlagsarbeit frühestmöglichen Zeitpunkt eine einhellig positive Resonanz des Buches in der englischen Öffentlichkeit präsentiert wurde, gipfelte in der Würdigung durch die »bedeutende katholische Zeitschrift Blackfriars Review«: »Die große Gelehrsamkeit Helen Waddells ist in diesem Roman von der Kraft der Darstellung aufgesogen und durchsichtig gemacht. Die Dichterin hat eine derart überragende Meisterschaft über den Stoff errungen, daß sie nur noch die Blume der Historie entfaltet. Übliche Begriffe sind zu starr für die leidenschaftliche Kraft dieses Buches.«103 An drei aufeinanderfolgenden Tagen, rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft, am 9., 10. und 11. Dezember 1935,104 erschienen im Börsenblatt in der Rubrik Fertige Bücher unter der Überschrift »Die ersten begeisterten Urteile!« Auszüge aus jeweils fünf Rezensionen verschiedener deutschsprachiger Zeitungen und Zeitschriften. Dabei handelte es sich zum einen um die im Bildungsbürgertum angesehenen Feuilletons der bürgerlichen Presse wie z. B. die der Frankfurter Zeitung, des Berliner Tageblatts, der Deutschen Zukunft und der Dame, aber auch um die bereits weitestgehend gleichgeschalteter Tageszeitungen: Rezensionen des Hamburger Anzeigers und des Hamburger Fremdenblatts, des Hannoverschen Anzeigers, des Westdeutschen Beobachters und der Kölnischen Volkszeitung, der Dresdner Neuesten Nachrichten und des Stuttgarter Neuen Tageblatts wurden berücksichtigt. Die selbstverständliche Präsentation von Auszügen aus den beiden wichtigsten Schweizer Tageszeitungen, der Neuen Zürcher Zeitung und der Basler National-Zeitung, ließ sich im Verbund mit der großen regionalen und politischen Streuung der zitierten Zeitungen und Zeitschriften als Signal lesen, daß die »begeisterten Urteile« über die drei Neuerscheinungen des jungen Verlags im gesamten deutschsprachigen Raum einhellig und weitestgehend unabhängig von der weltanschaulichen Couleur der Zeitungen erfolgten. Reine NS-Blätter allerdings, und das ließ sich durchaus auch programmatisch verstehen, fehlten. Verglichen mit dem Gros der Verlagsanzeigen der dreißiger Jahre im Börsenblatt fallen an dieser Anzeigenreihe des H. Goverts Verlags vor allem die exakte zeitliche Kalkulation auf und die bis in kleinste Details gezielt vorgenommene ästhetische Gestaltung, die auf Wiederholung und damit Wiedererkennung setzte, gleichzeitig aber auch mit differenzierten Variationen arbeitete: Die dominierende Drucktype der Anzeigen z. B. entspricht jeweils der, in der die einzelnen Bücher gesetzt sind: Antiqua bei Peter Abälard, Fraktur bei den beiden anderen zeitgenössischen Romanen. Manche Informationen wurden, fast versteckt, nur einmal gegeben: Während in der Ankündigung vom 25. Oktober der Übersetzer der Frau Orpha mit seinem bürgerlichen Namen Richard Möring genannt wurde,105 löste die Anzeige vom 10. Dezember diesen gewissermaßen als Pseudonym auf: In Klammern wurde nun sein Schriftstellername Peter Gan angegeben, unter dem der mittlerweile in Frankreich lebende Autor als Lyriker hervorgetreten war.106 Diese erste Werbekampagne des H. Goverts Verlags im Börsenblatt, mit der das neugegründete Unternehmen sich dem Buchhandel präsentierte, wurde durch Anzeigen 103 Börsenblatt 102 (1935) 250, S. 5071. 104 Vgl. Börsenblatt 102 (1935) 185, S. 6395; Börsenblatt (1935) 286, S. 6427; Börsenblatt (1935) 287, S. 6451. 105 Vgl. Börsenblatt 102 (1935) 250, S. 5070. 106 Vgl. Börsenblatt 102 (1935) 286, S. 6427.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs in den größeren literarischen Zeitschriften und den Feuilleton-Beilagen einzelner für das anvisierte Publikum wichtiger Tageszeitungen sowie durch persönliche Anschreiben an befreundete Redakteure ergänzt. Insgesamt zeugte sie von hoher Professionalität. Der Erfolg sollte sich rasch einstellen.

3.2

Verlagsprogramm in den Vorkriegsjahren

3.2 Verlagsprogramme in den Vorkriegsjahren Die Produktion des H. Goverts Verlags blieb in den ersten dreieinhalb Jahren bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs äußerst schmal. Es erschienen von Herbst 1935 bis Frühjahr 1939 insgesamt 26 Titel; pro Erscheinungstermin waren es bis zum Frühjahr 1938 nicht mehr als drei, danach nicht mehr als fünf. Auch für einen Kleinverlag ist dies eine geringe Zahl.107 Die Auflagenzahlen der Erstausgaben bewegten sich im üblichen Rahmen von in der Regel 3.000 bis maximal 6.000 Exemplaren, nur in zwei Ausnahmefällen waren aufgrund der hohen Vorbestellungen bereits zum Auslieferungstermin 10.000 Exemplare fertiggestellt. Einzig bei diesen beiden Titeln kam es innerhalb des angegebenen Zeitraums auch noch zu weiteren Neuauflagen. Einer davon entwickelte sich innerhalb kürzester Zeit zum Bestseller, der ab Herbst 1937 die solide finanzielle Grundlage des Verlags darstellen sollte: Margaret Mitchells Vom Winde verweht108 erreichte bis zum Herbst 1939 eine Auflage von 180.000, bis zum Juli 1941waren 276.900 Exemplare verkauft. So wichtig dieses Buch in ökonomischer Hinsicht für den Verlag auch wurde: Sein Profil bestimmte es kaum. (Vgl. Kap. 3.4.2) In der Verlagsproduktion bis zum Sommer 1939 standen Romane zeitgenössischer Autoren im Vordergrund: Von den 26 Gesamttiteln waren 18 Romane, die zu fast gleichen Teilen aus deutschsprachigen Werken (8) und Übersetzungen aus dem europäischen bzw. englischsprachigen Ausland (10) bestanden: fünf aus dem Englischen bzw. Amerikanischen (4 aus England, 1 aus den USA), zwei aus dem Französischen (je 1 aus Frankreich und Belgien) und drei aus dem Norwegischen. Bei beachtlicher Gattungsvielfalt und thematischer Breite der Veröffentlichungen lag das Schwergewicht damit im Bereich der Belletristik, wobei die nahezu gleiche Verteilung von deutschsprachigen Romanen und Übersetzungen ins Auge fällt. Die verbliebenen acht Titel – vier Biographien und vier weitere kulturhistorische bzw. kulturwissenschaftliche Werke – lassen sich als eigene Gruppe beschreiben. Sie umfassen deutschsprachige Titel wie auch Übersetzungen. Diese Gruppenbildung, von Anfang an intendiert,109 vollzog sich ohne Reihendeklaration. Der Verlag überließ es weitgehend den Buchhändlern und Lesern, einen inneren Zusammenhang zwischen den Büchern herzustellen, die dezidiert als Monographien präsentiert wurden. Erst allmählich wurde in der Werbung durch Hinweis auf bereits erschienene Titel die sich ergebende Gruppenbildung explizit gemacht.

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107 Zum Vergleich: Im Rowohlt Verlag erschienen im Zeitraum von 1935 bis 1938 pro Jahr 24 (1935) bis 28 (1938) Titel; im S. Fischer Verlag (ab 1942 Suhrkamp Verlag) kamen zwischen 1936 und 1944 insgesamt 178 Neuerscheinungen heraus. 108 Margaret Mitchell: Vom Winde verweht. Roman (1939). (Nr. 12) 109 Bereits in der ersten Anzeige im Börsenblatt war darauf verwiesen: »Gute Romane. Wichtige Bücher aus Geschichte und Kultur.« (Börsenblatt 102 (1935) 243, S. 4877)

3.2 Verlagsprogramme in den Vorkriegsjahren

3.2.1 Romane deutschsprachiger Autoren: Nichtnationalsozialistische Literatur Mit den acht Romanen deutschsprachiger Autoren, die zwischen Herbst 1935 und Frühjahr 1939 erschienen, präsentierte sich der H. Goverts Verlag als Förderer junger, weitgehend unbekannter Autoren, die in diesem neugegründeten Unternehmen ihr Romandebut gaben. Mit Ausnahme der bereits 1880 geborenen Editha Klipstein, die zuvor ausschließlich als Essayistin hervorgetreten war, und dem in Brasilien lebenden José Antonio Benton alias Hans Elsas, Jahrgang 1894, der den deutschen Lesern unter Pseudonym als gebürtiger Elsässer und damit quasi als Auslandsdeutscher vorgestellt wurde,110 handelte es sich mit Emil Barth (geb. 1900), Martin Beheim-Schwarzbach (geb. 1900), Horst Lange (geb. 1904), Hans Stock (geb. 1902) und Konrad Wildhagen (geb. 1907) um junge Autoren, die erst gegen Ende der Weimarer Republik zu schreiben begonnen hatten und bis zum Zeitpunkt ihrer ersten Veröffentlichung im H. Goverts Verlag höchstens mit kleineren Werken, oft Gedichtbänden, an die Öffentlichkeit getreten waren. Mit Barth, Beheim-Schwarzbach und Horst Lange sind drei Autoren vertreten, deren während der Zeit des Dritten Reichs erschienenen Romane Hans Dieter Schäfer als »nichtnationalsozialistische« Literatur beschrieben hat.111 Wenn die Autoren zum Großteil mit ihren Werken auch gegen Haltungen und Ansichten anschrieben, die das NS-Regime ebenfalls bekämpfte, und vor allem eine Mythisierung des Ordnungsdenkens betrieben, so lagen ihnen politische, soziologische und psychologische Fragen grundsätzlich fern.112 In Thematik und Stil sind diese Romane durchaus heterogen und repräsentieren unterschiedliche Traditionslinien. Die beiden autobiographischen Kindheitsbücher Emil Barths113, Das verlorene Haus. Eine Kindheit (Frühjahr 1936) und Der Wandelstern. Roman (Frühjahr 1939),114 beschreiben Episoden aus Kindheit und Schulzeit eines empfindsamen Jungen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, dessen Erfahrungskosmos gedeutet wird als natürliches Hineinwachsen in eine im Metaphysischen verankerte Kultur- und Lebensordnung. Barths starkes Bemühen um stilistische Ausdrucksgenauigkeit in der Tradition des Spät-

110 Das Pseudonym des 1894 in Stuttgart geborenen und im Elsaß aufgewachsenen Hans Gustav Elsas, der als Sohn einer Französin und eines Portugiesen die französische Staatsbürgerschaft besaß, nach 1933 seinen Beruf als Rechtsanwalt in Deutschland nicht mehr hatte ausüben können und 1935 nach Brasilien emigriert war, wurde vom Verlag erst in den frühen fünfziger Jahren gelüftet. 111 Vgl. Schäfer: Die nichtnationalsozialistische Literatur der jungen Generation im Dritten Reich, S. 7 – 54. 112 Vgl. Schäfer: Zur Periodisierung der deutschen Literatur seit 1930, S. 66. 113 An selbständigen Publikationen waren zuvor von Emil Barth (1900 – 1958) erschienen: Totenfeier. Für meine Mutter (Haan/Rhld.: Franz Birken 1928; unveränderter Nachdruck München: Tukan 1933) und Ex voto. Sonette (München: Tukan 1933). 1927 hatte er, zusammen mit Cajetan Maria Freund, Das Erbauungsbuch des guten Handwerkers (München: Deutsche Kunst- und Verlagsdruckerei Grassinger u. Co.) herausgegeben. 114 Emil Barth: Das verlorene Haus. Eine Kindheit (1936). (Nr. 4); Emil Barth: Der Wandelstern. Roman (1939). (Nr. 22)

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs expressionismus115 führt in seinen Kindheitsbüchern zu einer konservativen Sprachgebärde, die sich in Archaismen, Rhythmisierungen im Satzbau bis hin zu Manierismen äußert. Mit der Veröffentlichung dieser beiden Romane partizipierte der junge Verlag an der Mode der autobiographischen Romane zu Beginn der dreißiger Jahre.116 In einer besonderen Tradition des historischen Romans steht José Antonio Bentons Tarpan. Mythe vom letzten Mongolenzug117, im Frühjahr 1938 erschienen. Den historischen Stoff bildet der letzte, vom 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts dauernde Eroberungszug eines Mongolenstammes bis an die Grenzen Europas, im Klappentext gedeutet als »Verkörperung des ›Unruhigen Asiens‹«118. Im Roman erscheint dieser Mongolenzug als Konfrontation eines noch geschichtslosen Ostens mit der abendländischen Zivilisation. Die Begegnung endet mit der panischen Flucht der Mongolen zurück in die Urheimat des Stammes. Bentons Bemühen um einen schlichten Stil hat starke Stilisierungen zur Folge. Die Geschichte dieser Nomaden wird nicht realistisch erzählt, sondern ins Mythische erhöht: Die Torguten werden nicht als Individuen, sondern als zeitlos-mythische Verkörperungen des »Heldischen« dargestellt. Hans Stocks Erzählung Der seltsame Räuber. Die abenteuerliche Geschichte vom Brotzipopel119, im Oktober 1936 veröffentlicht, ist die phantastische Geschichte eines Räuberhauptmanns, der »ebenso gut heute wie in der Sage« leben könnte und in geheimnisvoller Weise der Natur verbunden ist. Der Versuch einer bürgerlichen Existenz scheitert auf tragikomische Weise. Am Ende kehrt er zurück »in das Element seines Ursprungs, die unbekümmert sprießende, rätselvolle Natur«120. Die Humoreske, mit der der Verlag versuchte, im Bereich niveauvoller Unterhaltungsliteratur durch ein von Raum und Zeit völlig abgelöstes Thema an die Tradition romantischer, volkstümlicher Phantasie anzuknüpfen, blieb im Gesamtprogramm Episode. Von den deutschsprachigen Romanen der ersten vier Verlagsjahre ist, nach Thema und Darstellung, am ehesten Konrad Wildhagens Roman Der Freier mit dem Degen121 vom Frühjahr 1939 als reine Unterhaltungsliteratur anzusehen. Die Geschichte der leidenschaftlichen Werbung eines Kaperkapitäns um die Tochter des Gouverneurs der

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115 Barth beschäftigte sich zeit seines Lebens mit Georg Trakl. – Vgl. dazu Emil Barth: Georg Trakl. Zum Gedächtnis seines fünfzigsten Geburtstags am 3. Februar 1937. Mainz: Albert Eggebrecht-Presse 1937. – Zu Barth vgl. den Ausstellungskatalog Emil Barth (1900 – 1956) des Heinrich-Heine-Instituts 1981. 116 Vgl. z. B. Hellmut von Cube: Das Spiegelbild. Berlin: S. Fischer 1936; Rudolf Bach: Reich der Kindheit. Tübingen: Rainer Wunderlich 1936; Gerhart Hauptmann: Im Wirbel der Berufung. Berlin: S. Fischer 1936; Wilhelm Hausenstein: Buch der Kindheit. Frankfurt/M.: Societäts-Verlag 1936; Paula Ludwig: Buch des Lebens. Leipzig: L. Staackmann 1936; Erich Pfeiffer-Belli: Sylvia. Berlin: Rowohlt 1936; Rudolf Alexander Schröder: Aus Kindheit und Jugend. Hamburg: Der Deutsche Buch-Club 1935; Ina Seidel: Meine Kindheit und Jugend. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1935; Ernst Wiechert: Wälder und Menschen. München: Langen/Müller 1936. 117 José Antonio Benton: Tarpan. Mythe vom letzten Mongolenzug. Roman (1938). (Nr. 16) 118 Tarpan, Umschlag-Klappentext. 119 Hans Stock: Der seltsame Räuber. Die abenteuerliche Geschichte vom Brotzipopel (1936). (Nr. 8) 120 Stock: Der seltsame Räuber, Klappentext. 121 Konrad Wildhagen: Der Freier mit dem Degen (1939). (Nr. 32)

3.2 Verlagsprogramme in den Vorkriegsjahren Bahama-Inseln im frühen 18. Jahrhundert ist phantasievoll erzählt. Die übrigen drei Romane lassen sich, trotz großer Unterschiede in der Durchführung, durch ihren Gegenwartsbezug, die Gestaltung der Zeitatmosphäre und die zugrundeliegende Erzählerintention als zusammengehörig beschreiben. Editha Klipsteins Roman Anna Linde122, als erster deutschsprachiger Roman des H. Goverts Verlags im Herbst 1935 veröffentlicht und als »deutscher Entwicklungsroman von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart«123 vorgestellt, schildert die Suche einer jungen, in der wohlbehüteten bürgerlichen Ordnung einer Kleinstadt aufgewachsenen Frau nach Orientierung und Vorbildern: nach einem »neuen Glauben« als Lebensinhalt, der eine »absolute Forderung«124 an den Einzelnen stellt. Anna Linde findet schließlich den »geheimen Sinn« ihres Lebens in der aufopfernden Arbeit in einem Kriegswaisenund Invalidenheim: »Eine Ordnung, irgendeine Ordnung hat über sie gesiegt.«125. »Die Freiheit hat aufgehört.«126 Den Roman, der in der Erzähltradition des klassischen Entwicklungsromans des 19. Jahrhunderts steht, durchzieht ein starker moralpädagogischer Impetus. Die Forderung an den Einzelnen, das »ihm zugehörige Maß«127 zu finden, erhält vor dem Hintergrund der bürgerlichen Saturiertheit der Vorkriegszeit und der materiellen Not der Nachkriegsjahre ihren besonderen Akzent. Auch in Martin Beheim-Schwarzbachs128 im Oktober 1938 erschienenen Roman Die Verstoßene129 geht es um den Reifungsprozeß junger Menschen »wenige Zeit nach dem großen Kriege«130. In weit stärkerem Maß als die Autorin der Anna Linde stellt Beheim-Schwarzbach jedoch die ärmliche Welt der sozialen Unterschichten dar. Stadt und Hafen Hamburgs bilden den Schauplatz. Die intensive Beschreibung von norddeutschem regnerischen Grau, von Hafenspelunken, der zwielichtigen Welt sozial Ausgestoßener und der Ärmlichkeit eines kleinbürgerlichen Milieus verdichten sich für den Leser zu atmosphärischer Düsternis. Die ausführlichen Darstellungen seelischer Abgründe und Grausamkeiten werden in ihrer Wirkung gemildert durch die humorvolle Beschreibung einer größeren Anzahl skurriler Nebenfiguren, die in zahlreichen Gesprächen zu philosophischen Einsichten gelangen.

122 Editha Klipstein: Anna Linde. Roman (1935). (Nr. 2) – Editha Klipstein (1880 – 1953) war zuvor lediglich durch kleinere essayistische Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften hervorgetreten, u. a. in der Frankfurter Zeitung. 123 Klipstein: Anna Linde, Klappentext. 124 Klipstein: Anna Linde, S. 93. 125 Klipstein: Anna Linde, S. 442. 126 Klipstein: Anna Linde, S. 444. – Hervorheb. im Original gesperrt. 127 Klipstein: Anna Linde, S. 325: »Nichts anderes können wir lernen in diesem langen Leben, als das uns zugehörige Maß zu finden.« 128 Seit 1930 hatte Beheim-Schwarzbach (1900 – 1985) in verschiedenen Verlagen kleinere Romane (Die Michaelskinder, 1930; Die Herren der Erde, 1931; Der Gläubiger, 1934), eine Erzählung (Die Todestrommel, 1934) und Gedichte (Die Krypta, 1935) veröffentlicht. Zusammen mit Joachim Maass schrieb er eine Abhandlung über Wesen und Aufgabe der Dichtung (1934). 129 Martin Beheim-Schwarzbach: Die Verstoßene. Roman (1938). (Nr. 15) 130 Beheim-Schwarzbach: Die Verstoßene, S. 5.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Wie Anna Linde und Die Verstoßene spielt auch Horst Langes131 Roman Schwarze Weide132, der im Oktober 1937 erschien, in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. Auch er thematisiert die Suche eines jungen Menschen nach Orientierung angesichts einer sich in einer dramatischen Umbruchphase befindlichen Gesellschaft, deren moralische Normen und Werte ins Wanken geraten sind. Viel ausgeprägter noch als bei Klipstein und Beheim-Schwarzbach läßt sich als die eigentliche Sinnschicht des Romans die Orientierungslosigkeit des jungen Protagonisten bei der Suche nach einer gültigen Ordnung beschreiben. Mit in Umfang und Handlungsdichte barock anmutender Üppigkeit und vielfältigen poetischen Gestaltungsmitteln stellt Langes Schwarze Weide ein monumentales Gesellschaftsporträt eines ganzen Jahrzehnts dar, entworfen vor dem Hintergrund des deutschen Ostens mit seiner landschaftlichen Weite. Langes Buch, für Robert Minder und Hans Dieter Schäfer »ein Buch vom Rang der Werke Döblins oder Jahnns«133, ist der gewichtigste deutschsprachige Roman, der bis 1945 im H. Goverts Verlag erschienen ist. Langes sublime Zeitkritik an einer Endzeitgesellschaft, deren Mitglieder verführbar sind und deren sensiblere Individuen in Angst und Lethargie verharren, mündet zwar in die Propagierung eines abstrakten Pflichtbegriffs und die vage Verheißung eines neuen Anfangs mit der nachwachsenden Generation, die »noch schuldlos«134 ist. Das harmonische Ende schließt dennoch Elemente einer konkreteren Zeitkritik nicht aus. Grundsätzlich ist Schäfer zwar zuzustimmen, wenn er davor warnt, die nichtnationalsozialistische Erzählprosa insgesamt als Literatur einer verdeckten Schreibweise zu interpretieren.135 In der Beschreibung des demagogischen Sektenführers Smorczak, seiner hypnotischen Wirkung auf seine Anhänger und der Dynamik der von ihm verursachten Massenansammlungen wird allerdings eine Analogie zwischen Hitler und Smorczak nahegelegt,136 die der zeitgenössische Leser erkennen konnte, aber nicht mußte. Daß sie von Lange intendiert war, belegt sein Brief an Ernst Kreuder ein Jahr nach Erscheinen seines Romans: »Wen ich mit Smorczak und seiner Sekte gemeint habe, können Sie sich mit einiger Phantasie und Folgerichtigkeit selbst zusammenreimen.«137

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131 Horst Lange (1904 – 1971), seit 1933 verheiratet mit der Lyrikerin Oda Schäfer, gab 1934 zusammen mit V. O. Stomps die Zeitschrift »Der weiße Rabe« heraus. Seit 1927 hatte er in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften Rezensionen, Theaterkritiken und kleine erzählerische Beiträge veröffentlicht und zwischen 1933 und 1936 insgesamt acht Hörspiele geschrieben, die von mehreren Rundfunkanstalten gesendet wurden. 132 Horst Lange: Schwarze Weide. Roman (1937). (Nr. 10) 133 Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 77. 134 Lange: Schwarze Weide, S. 451. 135 Vgl. Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 29: Er charakterisiert die Schreibweise der Angehörigen dieser Generation, die gegen Ende der Weimarer Republik zu schreiben begonnen hatten und kaum noch Kontakt zu sozialkritischen Traditionen besaßen, als »Allegorie eines Lebensgefühls«/Vgl. zur Schreibweise auch Scheffel: Magischer Realismus. 136 Vgl. dazu auch Kirchner: Doppelbödige Wirklichkeit, S. 90. 137 Lange an Kreuder, 12.12.1938 (Nachlaß Lange, Handschriften-Sammlung der Stadtbibliothek München).

3.2 Verlagsprogramme in den Vorkriegsjahren

Abb. 3: Anzeige des H. Goverts Verlags aus Börsenblatt 104 (1937) 237, S. 4689

Über diese äußerst subtile Art eines politischen Zeitbezugs ging keines der im HGV erschienenen belletristischen Werke hinaus. Auch da aber, wo es sich um landschaftlich gebundene Romane handelt, lassen sich keine näheren Affinitäten zu nationalsozialisti-

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs schen Idealen wie Heroismus, Volksgemeinschaft oder Rasse feststellen. In der Mehrzahl der deutschsprachigen Romane des H. Goverts Verlags, die bis zum Sommer 1939 erschienen, geht es primär um den Einzelnen und seine sittliche Entscheidung im metaphysischen Sinne, verstanden als Suche nach Wertorientierungen. Die politikferne Haltung, auch die zur Sprache gebrachten Depressionen stehen im Widerspruch zur heroischen Lebensauffassung der Nationalsozialisten.138 Daß die in den Romanen auf die Zukunft gerichteten Lebensentwürfe an rückwärtsgewandten gesellschaftlichen Modellen ausgerichtet sind, belegt den Bruch mit den demokratischen Traditionen in der Literatur der zwanziger Jahre.

3.2.2 Literatur in Übersetzungen: Europäische Themen und Zeitromane Die belletristische Übersetzungsliteratur im H. Goverts Verlag in der Zeitspanne vom Herbst 1935 bis zum Frühjahr 1939 umfaßt insgesamt zehn Titel von acht Autoren aus England, den USA, Frankreich, Belgien und Norwegen. Es wurden ausnahmslos Romane präsentiert, die mit ihren bisher im Herkunftsland erschienenen Werken als Romanciers oder, wie im Fall der historischen Romane, gleichzeitig auch als Wissenschaftler anerkannt waren. Mit Ausnahme von Herman Melville, dessen Erzählung Billy Budd139 für Deutschland eine Neuentdeckung bedeutete, und den von Bruno Cassirer übernommenen Werken Olav Duuns handelte es sich um zeitgenössische Romane, deren Veröffentlichung im Herkunftsland erst ein, höchstens zwei Jahre zurücklag. Im Durchschnitt waren die ausländischen Autoren des Verlags um zehn Jahre älter als die deutschen. Hinsichtlich Gattung und Thematik ist die Spannbreite der Veröffentlichungen noch größer als bei der deutschen Literatur: Sie reicht von den historischen Romanen Helen Waddells Peter Abälard140 und Alfred T. Sheppards Rom nimmt, Rom gibt141 aus dem Englischen bis zu den poetischen Liebesromanen Marie Gevers’ Frau Orpha142 und Claire Sainte-Solines Antigone oder Roman auf Kreta143 aus dem Französischen; das veröffentlichte Programm ausländischer Belletristik umfaßt das Südstaatenepos Margaret Mitchells Vom Winde verweht144 und den zeitkritischen Gesellschaftsroman Howard Springs Geliebte Söhne145 ebenso wie das zweibändige Geschlechter-Epos Die Juwikinger und

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138 Vgl. Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 66. 139 Herman Melville: Billy Budd. Vortoppmann auf der »Indomitable« (1938). (Nr. 18) – Das Original, 1891 geschrieben, war 1924 unter dem Titel »Billy Budd« erschienen. – Der deutschen Übersetzung lag die sorgfältig edierte 16bändige englische Gesamtausgabe zugrunde, die Mitte der zwanziger Jahre bei Constable in London erschienen ist. 140 Helen Waddell: Peter Abälard. Ein Roman (1935). (Nr. 3) 141 Alfred T. Sheppard: Rom gibt, Rom nimmt. Roman (1937). (Nr. 14) 142 Marie Gevers: Frau Orpha. Ein flämischer Roman (1935). (Nr. 1) 143 Claire Sainte-Soline [Nelly Fouillet]: Antigone oder Roman auf Kreta (1938). (Nr. 19) 144 Margaret Mitchell: Vom Winde verweht (1937). (Nr. 12) 145 Howard Spring: Geliebte Söhne (1938). (Nr. 20)

3.2 Verlagsprogramme in den Vorkriegsjahren zwei weitere Romane des Norwegers Olav Duun146 und die bereits genannte Erzählung Billy Budd des Amerikaners Melville aus dem Jahre 1891. Die Qualität der Übersetzungen ist ausnahmslos sehr gut. Mit Lucy von Wangenheim, Beheim-Schwarzbach und Hans Zehrer für die englischsprachige Literatur, vor allem aber Richard Moering für die beiden Titel aus dem Französischen sowie den Billy Budd hatte der Verlag Übersetzer verpflichtet, die es verstanden, ein dichterisches Äquivalent des Originals zu schaffen. In dem im Herbst 1935 erschienen Roman Peter Abälard erzählt die irische Historikerin Helen Waddell vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Geistesgeschichte mit ihren erbitterten Glaubenskämpfen und scholastisch spitzfindigen theologischen Diskussionen die tragische Liebesgeschichte zwischen Abälard und Héloise. Weniger komprimiert, vielmehr die Fülle des historischen Stoffes breit entfaltend, beschreibt der englische Historiker Alfred T. Sheppard in Rom gibt, Rom nimmt, im Herbst 1937 erschienen, die politischen, geistigen und sittlichen Wirren während der Zeit des päpstlichen Schismas in der Umbruchsepoche zwischen dem späten Mittelalter und dem Beginn der Renaissance anhand der Lebensgeschichte eines nach dem Papststuhl strebenden Kardinals. Mit beiden historischen Romanen, die mit fundierter Kenntnis des jeweiligen Zeithintergrunds geschrieben sind und in England großen Erfolg hatten, legte der Verlag bei der Wahl dieser im Bildungsbürgertum äußerst beliebten Gattung den Schwerpunkt auf weiter zurückliegende Phasen der europäischen Geschichte. Die beiden Romane aus dem Französischen, die im Herbst 1935 erschienene Frau Orpha der Belgierin Marie Gevers147 und Antigone oder Roman auf Kreta von Claire Sainte-Soline aus dem Jahr 1938, erzählen in ganz unterschiedlicher Weise die Geschichte einer Liebe. In der Atmosphäre weniger problembeladen als die deutschsprachige Literatur im H. Goverts Verlag und besonders in der Beschreibung der Natur von großer Poesie, erhält in beiden Romanen die Landschaft, in der die Liebesgeschichte sich entfaltet, ein eigenes Gewicht. Am ehesten noch mit diesen beiden Übersetzungen aus dem französischsprachigen Raum gelang es dem Verlag, das deutsche Publikum an zeitgenössische literarische Strömungen der Nachbarländer heranzuführen. Die poetische Atmosphäre des Romans von Marie Gevers stellte dabei durchaus einen Kontrast zu der bäuerlichen Schwere der in den dreißiger Jahren offiziell geförderten flämischen Literatur eines de Coster, Streuvels oder Timmermann dar, während der französische Roman, wenn auch als Idyll, das europäische Erbe Griechenland als poetischen Raum entdeckte. 146 Olav Duun: Die Juwikinger. Hrsg. von J[ulius] Sandmeier Bd. 1. und 2. (1938). (Nr. 17) – Die erste deutschsprachige Ausgabe erschien 1927 – 1929 in Frankfurt/M. bei Rütten & Loening; 1934 kamen bei Bruno Cassirer, Berlin, und 1938 in der Deutschen Buch-Gemeinschaft, Berlin, Volksausgaben heraus. – Mit der Übernahme der Lizenzrechte von der Deutschen BuchGemeinschaft erwarb der H. Goverts Verlag 10.000 Exemplare und band sie neu auf. Olav Duun: Der Gang durch die Nacht. Roman. Hrsg. von J[ulius] Sandmeier (1939.) (Nr. 24) – Die erste deutschsprachige Ausgabe erschien 1936 bei Bruno Cassirer, Berlin. Mit den Rechten erwarb der H. Goverts Verlag 1938 auch Restexemplare, die neu aufgebunden wurden. Olav Duun: Die Olsöy-Burschen. Roman. Hrsg. von J[ulius] Sandmeier (1939). (Nr. 26) – Die erste deutschsprachige Ausgabe erschien 1930 bei Bruno Cassirer. 147 Marie Gevers (1883 – 1975), Belgierin, war im Jahr zuvor mit dem französischen Volkspreis ausgezeichnet worden. Frau Orpha ist der erste ins Deutsche übertragene Roman dieser Autorin.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Mit Margaret Mitchells148 Südstaaten-Epos Gone with the Wind, zum Zeitpunkt der Herausgabe der deutschen Übersetzung Vom Winde verweht im Oktober 1937 in den USA schon ein Millionenerfolg,149 erwarb der Verlag einen Bestseller, der ihm »für Jahrzehnte die solide finanzielle Basis«150 einbrachte. Die Lebens- und Liebesgeschichte der rücksichtslosen, gleichzeitig in ihrer Lebensenergie faszinierenden Scarlett O’Hara vor dem Hintergrund des amerikanischen Sezessionskriegs kann als Prototyp eines fesselnd geschriebenen Gesellschaftsromans gelten. Als Werk der gehobenen Unterhaltungsliteratur mit dem Erfolg einer Gesamtauflage von 276.900 Exemplaren bis zum Juli 1941 blieb der amerikanische Roman allerdings im Gesamtprofil des HGV eine Ausnahme. Am ehesten läßt er sich mit dem Roman Geliebte Söhne des Engländers Howard Spring151 in einem Zusammenhang sehen, der in der Übersetzung von Hans Zehrer im Herbst 1938 herauskam und auch in Deutschland mehr Erfolg hatte als die deutschsprachige Belletristik des Verlags. Die Geschichte zweier erfolgreicher Väter und ihrer durch Wohlstand verwöhnten Söhne im Zeitraum zwischen 1880 und 1920, vor dem Hintergrund des Untergangs der viktorianischen Epoche und der englischirischen Kämpfe beschrieben, ist von Spring als scharfe Gesellschaftskritik anhand des Verfalls der Moral und der allgemeinen geistigen Unsicherheit der Vor- und Nachkriegsjahre angelegt. Diese beiden Übertragungen öffneten das Übersetzungsprogramm hin zu jener Gruppe kritischer Gesellschaftsromane, wie sie sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts im angelsächsischen Raum entwickelt hatte. Die Veröffentlichung der letzten Erzählung Herman Melvilles152, Billy Budd, im Frühjahr 1938 ist als Sonderfall innerhalb der Übersetzungen aus dem angloamerikanischen Sprachbereich zu werten. Sie war geplant als Beginn einer Neuentdeckung des amerikanischen Autors, dessen Werk in den zwanziger Jahren in den USA, Großbritannien und Frankreich zum modernen Klassiker avanciert war und das im Deutschen nur in verkürzten, als Abenteuerbuch zurechtgemachten Ausgaben bekannt war. Mit der Übernahme dreier Werke des Norwegers Olav Duun, die seit 1927 in Deutschland in verschiedenen Ausgaben erschienen waren, ergänzte der Verlag sein Übersetzungsprogramm um jene Komponente, die spätestens seit den zwanziger Jahren in der Tradition Hamsuns als nordische Literatur beliebt war. Das zweibändige, über 1100 Seiten dicke Epos der Juwikinger, das im Herbst 1938 herauskam, verfolgt in brei-

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148 Margaret Mitchell (1900 – 1949) schrieb ihren ersten Roman in den Jahren zwischen 1926 und 1929, als sie nach einem Autounfall für lange Zeit bettlägerig war. 149 In der zweiseitigen Börsenblatt-Anzeige, mit der der Verlag das Erscheinen der Übersetzung bekanntgab, wurde das Buch bereits als der »größte Roman-Welterfolg seit Jahrzehnten« gefeiert: »Über 1 1/2 Millionen Auflage während eines Jahres in Amerika und England« (Börsenblatt 104 (1937) 238, S. 4710f). 150 Tgahrt: Der Verlag wird seine Richtung nicht ändern müssen, S. 15. 151 Howard Springs (1889 –1965) erster Roman wurde nach seinem Erscheinen in England und den USA schnell ein Erfolg: »Amerikanische Auflage über 100.000. Seit Monaten bestseller in Amerika und England« (Börsenblatt 105 (1938) 234, S. 5744). – Die deutsche Erstauflage von 10.000 Exemplaren war bereits durch Vorbestellung vergriffen, das 11. – 20. Tausend wurde bereits im Oktober 1938 ausgeliefert. 152 Herman Melville (1819 – 1891) hatte mit seinen Werken, die in den vierziger und fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts in den USA erschienen, zu Lebzeiten keinen Erfolg; nach über 40jährigem Schweigen schrieb er 1891, kurz vor seinem Tode, die Erzählung »Billy Budd«.

3.2 Verlagsprogramme in den Vorkriegsjahren tem epischen Stil die Geschichte eines norwegischen Bauerngeschlecht über einen Zeitraum von 150 Jahren. Die Einzelschicksale, eng mit der Natur und der bäuerlichen Arbeit verbunden, erscheinen für den Leser wie die Erfüllung eines vorgegebenen Gesetzes. Der Neuauflage des 1927 bis 1929 bei Rütten & Loening erstmals in Deutschland veröffentlichten Romans folgten im Frühjahr 1939 der Roman Die Olsöy-Burschen, in dem die Schicksale von vier Brüdern erzählt werden, die mit ihrer Mutter einsam auf einer kleinen Nordseeinsel leben, sowie der Roman Gang durch die Nacht, der von der mühsamen Aufklärung eines rätselhaften Todesfalls handelt. Keines der Werke im Bereich der Übersetzungsliteratur im H. Goverts Verlag ist der Moderne zuzurechnen, wie sie in den zwanziger Jahren besonders von den Verlagen S. Fischer und Rowohlt in Deutschland bekanntgemacht wurde. Trotz der Beibehaltung einer linearen Erzählweise, der souveränen Nutzung traditioneller literarischer Techniken und dem völligen Verzicht auf stilistische und formale Experimente enthalten einzelne dieser Werke dennoch Elemente einer Sozialkritik, die mit den stilistischen Innovationen jener modernen Literatur einhergingen. Künstlerisch auf respektablem Niveau, kommen die bis 1939 erschienenen Übersetzungen zwar der deutschsprachigen Belletristik des HGV auch in den Wertorientierungen nahe. Die Charaktere allerdings sind vielfältiger; die Entwicklung der Protagonisten verläuft nicht notwendig positiv: auch ein Scheitern ist möglich. Zum Gesamtwerk Olav Duuns, der vom Verlag im Börsenblatt als der »neben Hamsun größte nordische Dichter der Gegenwart«153 gefeiert wurde, stellen die historischen Romane mit ihren der abendländischen Geistesgeschichte entstammenden Themen ein Gegengewicht dar.

3.2.3 Der Bereich Kulturgeschichte/Wissenschaft: Ein Bildungsprogramm Der dritte Programmbereich, Kulturgeschichte und Wissenschaft, umfaßte bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs insgesamt acht Monographien, dabei zu gleichen Teilen deutschsprachige Werke und Übersetzungen aus dem Englischen, Italienischen und Französischen. Mit vier Titeln lag der Schwerpunkt auf Biographien einzelner Repräsentanten von Umbruchphasen in der europäischen Geschichte: Luigi Salvatorellis Benedikt. Der Abt des Abendlandes154, im Herbst 1937 erschienen; John Ernest Neales Königin Elisabeth155 vom Frühjahr 1936; Hans Georg Brenners156 unter dem Pseudonym Reinhold Th. Grabe veröffentlichtes Geheimnis des Adolph Freiherrn von Knigge157 sowie

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Börsenblatt 106 (1939) 219, Titelseite. Luigi Salvatorelli: Benedikt. Der Abt des Abendlandes (1937) (Nr. 13) John Ernest Neale: Königin Elisabeth (1936). (Nr. 7) Hans Georg Brenners (1903 – 1961) erster Roman war 1934 unter dem Titel »Fahrt über den See« bei Bruno Cassirer erschienen. Die Knigge-Biographie hatte Brenner zusammen mit dem Literaturhistoriker Werner Milch geschrieben, dem er in der Vorbemerkung des Buchs für seine Mitarbeit dankt. 157 Reinhold Th. Grabe [Brenner]: Das Geheimnis des Adolph Freiherrn von Knigge. Die Wege eines Menschenkenners. 1752 – 1769 (1936). (Nr. 6)

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Frida Strindbergs158 Lieb, Leid und Zeit. Eine unvergeßliche Ehe159 (beide Herbst 1936). Die anderen vier Titel sind die essayartig konzipierte Studie Dolf Sternbergers160 Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert161, im Frühjahr 1938 erschienen, die der Autor in einem »aphoristischen Vorwort« als einen »Versuch in der historischen Topographie«162 bezeichnet; Werner Leibbrands163 Romantische Medizin164 (Frühjahr 1937), die den Einfluß der romantischen Philosophie in der Medizingeschichte des 19. Jahrhunderts behandelt, und Louis de Broglies165 Licht und Materie166 vom Frühjahr 1939, eine Einführung in die Anfänge der Atomphysik auf hohem wissenschaftlichen Niveau, die mit einem Vorwort des in den dreißiger Jahren bekanntesten deutschen Atomphysikers Werner Heisenberg eingeleitet wurde. Neben solchen gewichtigen Monographien steht das Kochbuch Merkur in der Küche167 des Franzosen Marcel X[avier] Boulestin168, das im Herbst 1936 herauskam, singulär da; als reines Sachbuch in der Tradition der Ratgeberliteratur blieb es im Verlagsprogramm des HGV eine Ausnahme. Mit Einleitungen des Verlags, des Autors oder eines kompetenten Wissenschaftlers wurde die jeweilige Intention des Buches verdeutlicht oder eine Lesart nahegelegt, mit der, z. T. in erstaunlicher Deutlichkeit, erkenntniskritische Reflexionen formuliert, allgemeine Wertorientierungen gegeben oder historische Epochen in ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung unter einem bestimmten Blickwinkel charakterisiert werden. Diese Vorworte wurden von den Autoren wie dem Verlag gleichermaßen als Interpretationshilfe wie zur subtilen Verschleierung der zugrundeliegenden Motivation formuliert. Mit Bibliographien und Registern im Anhang erfüllten die Ausgaben zum Zeitpunkt ihres Erscheinens gleichzeitig einen wissenschaftlichen Anspruch, ohne sich dezidiert an ein rein wissenschaftliches Publikum zu richten. Die italienische Biographie des Abts Benedikt erzählt in klarem, einfachen Stil die Geschichte der Gründung des Benediktinerordens in enger Verbindung mit den politischen Umbrüchen des 5. und 6. Jahrhunderts, einer Zeit, in der, wie es im Klappentext heißt, »die Antike unterging und das Abendland entstand« und Benedikt »inmitten des allgemeinen Verfalls neue Bindungen schuf«169. Der englische Historiker Neale zeichnet in seiner Biographie der Königin Elisabeth die Politik der Königin als Kunst der Verzö-

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158 Frida Strindberg, geb. Uhl (1872 [?] – 1943) war die erste Ehefrau August Strindbergs. 159 Frida Strindberg: Lieb, Leid und Zeit. Eine unvergeßliche Ehe (1936). (Nr. 9) 160 Dolf Sternberger (1907 – 1989), Mitarbeiter im Feuilleton der Frankfurter Zeitung, veröffentlichte im Verlag H. Goverts sein erstes Buch. 161 Dolf Sternberger: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert (1938). (Nr. 21) 162 Sternberger: Panorama, S. 7. 163 Werner Leibbrand (1896 – 1978), Psychiater. 164 Werner Leibbrand: Romantische Medizin (1937). (Nr. 11) 165 Louis de Broglie (1892 – 1987), französischer Physiker, hatte zusammen mit seinem Bruder den Nobelpreis für die Entdeckung der Wellenmechanik des Lichts erhalten. 166 Louis de Broglie: Licht und Materie. Ergebnisse der Neuen Physik (1939). (Nr. 23) 167 Marcel X. Boulestin: Merkur in der Küche. Die Kunst, stets vollendet und doch billig zu kochen (1936). (Nr. 5) 168 Von Marcel Xavier Boulestin (1878 – 1943), der seit 1917 als Koch von Weltruf in London lebte, war 1933 im Societäts-Verlag ein Kochbuch der französischen Küche herausgekommen, das ein großer Erfolg wurde. 169 Salvatorelli: Benedikt. Der Abt des Abendlandes, Klappentext.

3.2 Verlagsprogramme in den Vorkriegsjahren gerung und des Lavierens und damit als »Realpolitik«, in der politisches Machtstreben und die Glaubenskämpfe des 16. Jahrhunderts verschmelzen. Die Biographie, die unter Aussparung ökonomischer und sozialer Fragen der Zeit den Charakter Elisabeths ins Zentrum der Darstellung rückt, ist gleichermaßen wissenschaftlich fundiert wie spannend und stilistisch klar geschrieben. Frida Strindbergs Buch über ihre zweieinhalbjährige Ehe mit dem schwedischen Dramatiker August Strindberg ist in seiner Mischung aus Erzählung, Erinnerungsbruchstücken und Bekenntnissen, ergänzt um eingefügte Briefe Strindbergs, keine Biographie im herkömmlichen Sinn; aufgrund der zitierten abwechselnd auf deutsch, schwedisch und französisch geschriebenen Briefe Strindbergs erhebt es zwar den Anspruch, ein »Dokument«170 zu sein; strengeren wissenschaftlichen Ansprüchen allerdings genügt es nicht. In der Biographie über den Freiherrn Adolph von Knigge, von Hans Georg Brenner unter Mithilfe des Literaturhistorikers Werner Milch mit großer Detailkenntnis flüssig und unterhaltsam geschrieben, werden Leben und Gestalt des hauptsächlich als Autor des Umgangs mit Menschen bekannten Aufklärers im Übergang zwischen höfisch-absolutistischer und bürgerlicher Gesellschaft anschaulich gemacht. Dabei werden vor allem die Mißerfolge dieses Lebens und die Widersprüche im Charakter Knigges als Ausdruck eines vernunftgläubigen Zeitalters gedeutet. In seiner Romantischen Medizin versucht der Psychiater Werner Leibbrand, auf der Grundlage einer großen Anzahl philosophischer Quellen, eine geistesgeschichtliche Würdigung der Krankheitsauffassung im 19. Jahrhundert unter dem Einfluß der romantischen Philosophie zu geben. Die eingeforderte »Ganzheitsbetrachtung der ärztlichen Kunst«171, die auf die Überwindung einer rein positivistischen Auffassung von der Krankheit einzelner Organe zielt, soll nach Leibbrand historische und auch geographische Unterschiede in der Behandlung von Krankheiten umfassen und in eine anthropologische Fundierung der Heilkunde münden. Während Leibbrand somit eine weitreichende philosophische Fundierung der ärztlichen Wissenschaft anstrebt,172 wehrt Sternberger in Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert für seine Studie ein derart umfassendes Erkenntnisstreben dezidiert ab. Statt »der Epoche einen universalgeschichtlichen Sinn«173 abzugewinnen, will er sich darauf beschränken, in Anlehnung an die um 1870 aufkommende Gattung174 illusionistischer Rundblick- und Aussichtsgemälde lediglich »Ansichten« zu geben, indem er ganz verschiedenartige kulturgeschichtliche Phänomene des ausgehenden 19. Jahrhunderts beschreibt. Die akribischen Beobachtungen und sensiblen Deutungen z. T. kurioser Details aus Technik und Alltagskultur, Kunst und Wissenschaft stellten bei Erscheinen des Buchs

170 Strindberg: Lieb, Leid und Zeit, S. 7. 171 Leibbrand: Romantische Medizin, S. 193. 172 Vgl. Gay: Die Republik der Außenseiter, S. 132 – 134, der bereits für die zwanziger Jahre einen »Hunger nach Ganzheit, nach Bindung und Einheit« konstatiert und »organisch« als »Reizwort« ausmacht. 173 Sternberger: Panorama, Aphoristisches Vorwort, S. 8. 174 Prototyp ist das Kolossalgemälde Anton von Werners, in der ein bestimmter Augenblick in der Schlacht bei Sedan festgehalten ist. – Sternberger: Panorama, S. 11 – 21.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs sowohl methodisch wie auch inhaltlich etwas völlig Neuartiges dar. Sie sind im Zusammenhang der Studien Benjamins und Kracauers der späten zwanziger Jahre zu sehen.175 Die im Frühjahr 1939 unter dem Titel Licht und Materie erschienenen Ergebnisse der Neuen Physik des französischen Nobelpreisträgers und Begründers der Wellenmechanik Louis de Broglie beschreiben in einem auch für Laien verständlichen Stil in einzelnen abgeschlossenen Aufsätzen, auf dem Stand der Atomphysik der frühen dreißiger Jahre, verschiedene Aspekte der Quantenphysik.176 Die Biographien und Monographien aus verschiedenen Bereichen der Geistes- und Kulturgeschichte, denen insgesamt ein hohes, z. T. wissenschaftliches Niveau bescheinigt werden kann, enthalten sich durchgängig grundsätzlicher politischer Einschätzungen oder eindeutiger Bezugnahmen auf die politische Gegenwart des Dritten Reichs. Auffällig aber ist, daß die in den Vorworten oft äußerst subtil vermittelten Beurteilungskriterien für zurückliegende historische Entwicklungen nicht nur die klassischen Bereiche des bildungsbürgerlichen Wissenshorizontes betreffen. Sie berühren darüber hinaus grundlegende Wertorientierungen.

3.2.4 Bibliophiles Erbe: Die Ausstattung der Bücher des H. Goverts Verlags In erstaunlich kurzer Zeit war es dem H. Goverts Verlag gelungen, in der literarischen Öffentlichkeit als ein Verlag mit eigenem Profil wahrgenommen zu werden. Euphorische Einführungen wie die von Wilhelm Hausenstein in der Frankfurter Zeitung im Dezember 1935 trugen mit dazu bei: »Der junge Verlag Henry Goverts in Hamburg zieht durch einige erste Veröffentlichungen, die einen sicheren Instinkt für hohe literarische Qualität bezeugen, die Aufmerksamkeit anspruchsvoller Leser auf sich.«177 Neben der Homogeneität des literarischen wie des kulturwissenschaftlichen Programms, die die Werbung von Anfang an betonte,178 trug zu diesem Außenbild wesentlich die sorgfältige Ausstattung bei: Der Verlag bot ein geschlossenes Gesicht auch in der äußeren Präsentation seiner Bücher. Nicht nur in Rezensionen wurde die vorzügliche Ausstattung der Bücher aus dem H. Goverts Verlag hervorgehoben. Auch die Verlagsautoren lobten in vielen Briefen das äußere Erscheinungsbild: »Die Bücher sehen vorzüglich aus, und ich möchte nicht unterlassen, Ihnen für die Sorgfalt und den Geschmack, mit der die Ausstattung vorgenommen

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175 Vgl. zur längst ausgestorbenen Gattung des Panorama: Stefan Oettermann, Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums (1980) und Wolfgang Schivelbusch, Lichtblicke (1983). – Oettermann erwähnt Sternbergers Arbeit nicht einmal in einer Fußnote. 176 Neben dem Autor hat auch der deutsche Nobelpreisträger Werner Heisenberg ein Vorwort geschrieben: Broglie: Licht und Materie, S. 7 –11 (Vorwort von Werner Heisenberg, S. 7f; Vorwort von Louis de Broglie, S. 9 – 11). 177 Hausenstein: Marie Gevers, eine Dichterin in Flandern. In: Frankfurter Zeitung/Literaturblatt (1935) 50, S. 6. 178 Im März 1937, nachdem erst neun Bücher erschienen waren, warb der Verlag für zwei davon mit seinem Namen als einem Markenzeichen: »Zwei Goverts Bücher von Internationalem Erfolg«, Börsenblatt 104 (1937) 55, S. 1048.

3.2 Verlagsprogramme in den Vorkriegsjahren worden ist, meinen herzlichsten Dank zu sagen«179, schrieb Beheim-Schwarzbach nach Erscheinen seines Romans. Aus den USA kam ein überschwengliches Lob der Bestsellerautorin Mitchell, die sich begeistert über die deutsche Ausgabe von Gone with the Wind äußerte; der Einband sei farbig und voller Bewegung, die Bindung exzellent.180 Und Dolf Sternberger zeigte sich von der Ausstattung des gleichzeitig mit seinem Panorama erschienenen Buchs von de Broglie sehr angetan; es mache als Band »wirklich einen wunderschönen und repräsentativen Eindruck«181. Wenn in den ersten Jahren die Autoren sich kritisch zu grundsätzlichen Entscheidungen des Verlags in Ausstattungsfragen äußerten, dann bezog sich dies in der Regel auf die Wahl der Drucktype.

Antiqua versus Fraktur Grundsätzlich wurden die deutschsprachigen Romane des H. Goverts Verlags in Fraktur gesetzt, in der Regel auch die Übersetzungen aus dem Englischen, Norwegischen und Flämischen. Für die Übersetzungen aus dem Französischen und dem Italienischen wurde grundsätzlich eine Antiqua-Schrift verwandt. Die meisten kulturwissenschaftlichen Bücher erschienen in Antiqua: alle Übersetzungen, aber auch die meisten deutschsprachigen Werke. Allerdings wurde offensichtlich weiter differenziert nach Thema und Gattung, so daß z. B. Grabes Knigge-Biographie in Fraktur, Sternbergers PanoramaBuch aber in Antiqua gesetzt wurde. Besonders Claassen schätzte die Antiqua weitaus höher als die Fraktur. Die feinen Differenzierungen in der Schriftwahl hatten vor allem politische Gründe. Der seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland stark ideologisch gefärbte Streit um die Vorrangstellung einer der beiden Schrifttypen, der seinen Höhepunkt im Kaiserreich hatte und den Anhängern der Antiqua-Schrift den Vorwurf nationaler Unzuverlässigkeit eingetragen hatte,182 war gegen Ende der Weimarer Republik von den Nationalsozialisten wiederbelebt worden. Ab 1933 hatte eine intensive Förderung der sogenannten »deutschen« Schrift durch das Reichsinnenministerium eingesetzt, die nicht nur Auswirkungen auf den Lese- und Schreibunterricht der Volksschulen hatte.183 Praktisch alle Zeitungen stellten in den folgenden Monaten auf Fraktur um, und auch in der Buchproduktion gewann die Fraktur größeres Gewicht.184 Ohne Zweifel glaubten auch Claassen und Goverts, sich dem herrschenden Trend anpassen zu müssen. Als der junge Autor Emil Barth im Januar 1936 selbstbewußt seine Ausstattungswünsche für seinen ersten Roman formulierte und »eine nicht zu kleine, gut lesbare 179 180 181 182

Beheim-Schwarzbach an Claassen, 7.10.1938. Vgl. Margaret Mitchell an HGV, 15.11.1937. Sternberger an Goverts, 4.4.1939. Keunecke: Schwabacher Lettern, B 87. – Vgl. zum Folgenden Keunecke: Die deutsche Schrift im Dritten Reich, B 121 – 129. – Die Gesamtdarstellung von Hartmann: Fraktur oder Antiqua (1998) stellt den Schriftstreit in seiner Entwicklung von 1881 bis 1941dar. 183 Reichsinnenminister Wilhelm Frick hatte im Mai 1933 vor den Kultusministern der Länder in einer Ansprache gefordert, die deutsche Schrift dürfe »ihren unbedingten Vorrang vor der lateinischen niemals verlieren«. (Zitiert bei Keunecke: Die deutsche Schrift im Dritten Reich, B 122). 184 Vgl. Keunecke: Die deutsche Schrift im Dritten Reich, B 123.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Antiqua«185 forderte, bemühte sich Goverts, ihm die Fraktur schmackhaft zu machen: Er glaube kaum, daß es »bei der heutigen Einstellung des Buchhandels möglich sein« werde, »gerade Ihr Buch in einer Antiqua zu bringen. Es gibt jedoch alte Frakturschriften, die einen sehr klaren und ruhigen der Antiqua angepaßten Schriftcharakter haben.« 186 Daß Barth sich der ideologischen Implikation einer solchen Entscheidung bewußt war, bewies seine Antwort: Daß dieses Buch in Fraktur gedruckt werden solle, sei ihm »insofern auch lieb, als es ja ein besonders deutsches Buch ist; mir geht es nur darum, daß die Fraktur schön und sehr gut lesbar ist und nicht vor Schnörkeln flimmert.«187 In klareren Worten hatte Claassen gegenüber der Übersetzerin Lucy von Wangenheim seine persönlichen Überzeugungen in dieser Frage zum Ausdruck gebracht und seine Entscheidungskriterien im konkreten Fall, dem historischen Roman Peter Abälard aus dem Englischen, offengelegt: »Für das Buch ist selbstverständlich Antiqua vorgesehen, die ich persönlich mehr als Fraktur schätze. Ich habe früher nie Bücher in Fraktur hergestellt, erst in den letzten Jahren, da man darin in Deutschland sehr empfindlich geworden ist. In diesem Fall, wo es sich um ein romanisches Thema, lateinische Textzitate und ein übersetztes Buch handelt, habe ich keine Bedenken.«188

Bibliophile Tradition Wahlweise mit Leineneinband und abnehmbaren Schutzumschlag oder als Broschur erhältlich, wurden die Goverts-Bücher auf Papier guter Qualität in ausgesuchter Typographie und mit wohlproportioniertem Satzspiegel ausschließlich in einer der renommiertesten Druckereien Deutschlands, bei Brandstetter in Leipzig, gedruckt, einige auch in der Abteilung Jakob Hegner. Mit der individuellen Gestaltung der Einbände und Schutzumschläge, die anerkannten Buchkünstlern übertragen wurde, stellte sich der Verlag in die Tradition der großen, anerkannten Literaturverlage wie S. Fischer, Insel u. a., deren Publikationen vom zeitgenössischen Publikum aufgrund der sorgfältigen Ausstattung schon vom Äußeren her als zusammengehörig empfunden wurden. Gleichzeitig aber zielte die Ausstattung eines jeden Buches gewissermaßen auf eine Verpersönlichung des Buchkörpers, indem das Äußere des Buchs den Inhalt unverwechselbar darzustellen versuchte. Ohne Zweifel orientierten sich Claassen und Goverts bereits in der Planungsphase auch hinsichtlich der optischen Präsentation der zukünftigen Verlagsproduktion am Vorbild der großen bürgerlichen literarischen Verlage. Leider sind im Verlagsarchiv keinerlei Briefwechsel aus dem Bereich der Herstellung, d. h. mit Druckereien, Bindereien oder Ausstattern, erhalten. Ein Brief an den Lyriker und Übersetzer Richard Moering aus dem ersten Verlagsjahr, in dem Claassen bei der Suche um Rat bittet, belegt nicht nur den mit großer Selbstverständlichkeit formulierten Anspruch der Verleger auf eine exzellente Ausstattung, sondern gleichzeitig den Wunsch nach Individualität: Die »Großen« wie

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185 Barth an Goverts, 25.1.1936 186 Goverts an Barth, 27.1.1936. 187 Barth an Goverts, 30.1.1936. – Auch Hans Georg Brenner, der zunächst für seine KniggeBiographie die Fraktur abgelehnt hatte, fand die ausgewählte Schrifttype schließlich »sehr hübsch«; er habe sich mit der Fraktur »vollständig versöhnt« (Brenner an Claassen, 12.3.1936). 188 Claassen an Lucy von Wangenheim, 24.7.1935.

3.2 Verlagsprogramme in den Vorkriegsjahren Thiemann, E. R. Weiß und Hans Meid lägen »auf der Hand. Sie bestimmen aber schon das Gesicht der großen literarischen Verlage wie Fischer, Cassirer, Insel usw. Wir würden uns also mit ihnen nur würdig einreihen, ohne uns genügend abzuheben.«189 Offensichtlich stellte sich Claassen zu diesem Zeitpunkt einen weniger bekannten Buchausstatter vor, der, gewissermaßen als Generalausstatter, in der Lage wäre, dem neuen Verlag ein ganz eigenes, unverwechselbares optisches Profil zu geben – auf gleich hohem Niveau. Die Wahl fiel schließlich doch auf den bekannten Buch- und Schriftkünstler Emil Rudolf Weiß,190 der schon eine Vielzahl von Büchern für Verlage wie Rowohlt, Reclam, Insel, Piper, Cotta und S. Fischer191 ausgestattet hatte. Insgesamt 14, das sind über die Hälfte der 26 Titel der H. Goverts-Produktion bis zum Frühjahr 1939, wurde von Weiß ausgestattet, dessen Vorstellungen einer sinnbildlichen Verdichtung des Buchgehalts für den Umschlag somit das äußere Erscheinungsbild des jungen Verlags entscheidend prägte. Der Gesamteindruck der unaufdringlichen, gediegenen Repräsentation, der auf der Umschlagzeichnung die Bandbreite von klassisch anmutender Strenge bis hin zu verhalten-zarter Kleinteiligkeit umfaßt und damit auch einen durchaus harmonisierenden Charakter annehmen kann, wird durch die Ausgewogenheit von Schrift und Bild verstärkt. Die Schlichtheit der Titelei auf Vorderdeckel und Buchrücken sowie dem Vorsatzblatt, die Wahl kleiner, eher zart wirkender Schrifttypen, ein wohlproportioniertes Format, ein harmonischer Satzspiegel und ein einfarbiger Einband geben den meisten H. Goverts-Büchern jenes dezente Äußere, mit dem sie auch optisch in große Nähe vor allem zu der Produktion S. Fischers, später Suhrkamp,192 rückten. Mit der Entscheidung für E. R. Weiß als wichtigsten Buchausstatter, der ab 1933 nach dem Verlust seines Lehrauftrags an der Berliner Akademie für freie und angewandte Kunst als freischaffender Graphiker und Maler arbeitete und vor allem für Piper und weiterhin für Rowohlt sowie S. Fischer/Suhrkamp Buchausstattungen übernahm,193 reihte sich der Verlag auch optisch ein in die Gruppe jener literarischen Verlage mit einem bildungsbürgerlichen Publikum, das von der bibliophilen Tradition der Jahrhundertwende geprägt war.

Die Buchumschläge von Emil Rudolf Weiß Nur wenige Buchumschläge von E. R. Weiß sind erhalten.194 Allerdings ist aus der Summe der Werbeanzeigen im Börsenblatt doch ein Eindruck von der Bandbreite der optischen Ausdrucksmittel zu gewinnen,195 die sich oft im Schriftbild, z. T. auch in re189 Claassen an Moering, 7.8.1935. 190 Emil Rudolf Weiß (1875 – 1942). – Vgl. zum Folgenden Stark: Der Buch- und Schriftkünstler Emil Rudolf Weiß. 191 Die intensive Zusammenarbeit mit S. Fischer reichte bis ins Jahr 1904 zurück und wurde bis zu Weiss’ Tod fortgesetzt. – Vgl. Pfäfflin: 100 Jahre S. Fischer, S. 15 –18. 192 Vgl. S. Fischer, Verlag (Marbacher Katalog 40) sowie Pfäfflin: 100 Jahre S. Fischer. 193 Vgl. Stark: Der Buch- und Schriftkünstler Emil Rudolf Weiß, III, S. 291. 194 Vgl. die Sammlung Tiemann im DLA. 195 Besondere Beachtung verdient die Werbeanzeige für Margaret Mitchells »Vom Winde verweht« im Börsenblatt 105 (1938) 242, S. 5678, die im unteren Viertel unter der Überschrift »Denken Sie auch an unsere anderen Bücher!« eine photographische Abbildung von 13 in versetzter Reihung aufgestellten Büchern des HGV enthält.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs duzierter Form der bildlichen Umschlaggestaltung als Vignette, auf dem Einbanddeckel wiederholt. Die Weiß’schen Entwürfe reichen von den klassisch-realistischen Federzeichnungen für Klipsteins Anna Linde und Melvilles Billy Budd über die kräftigere Tuschzeichnung für den Antigone-Roman Sainte-Solines bis zu dem geradezu ungebändigt-dynamisch wirkenden Pferdeporträt auf dem Umschlag für Bentons Tarpan. Die starke Wirkung der Weiß’schen Umschlagentwürfe beruht auf der Formelhaftigkeit der Zeichnung. Das in der Regel gegenständliche Umschlagbild bezieht sich direkt auf den Buchinhalt:196 Ein charakteristisches Motiv, das sich zum repräsentativen Symbol verdichten kann – wie bei den beiden voller Dynamik aus einer Wolke hervorstoßenden Schwert- und Schwurhänden auf dem Umschlag für den historischen Roman Sheppards – erhält den Charakter einer inhaltlichen Aussage. Für die historischen Romane wie Waddells Peter Abälard und Salvatorellis Benedikt griff Weiß bei seinen Zeichnungen auf historische Gemälde zurück, um den Zeitcharakter zu veranschaulichen.

Abb. 4: Anzeige des H. Goverts Verlags, aus Börsenblatt 105 (1938) 242, S. 5678

Die Ausstattung der Bücher aus dem kulturwissenschaftlichen Programm nimmt Teil an der allgemeinen Tendenz der zwanziger und dreißiger Jahre, geschichtliche Werke, besonders Biographien, durch ein stellvertretendes Bild auf dem Schutzumschlag zu kennzeichnen.197 Für den Umschlag von Neales Königin Elisabeth wählte Weiß sogar das Photo eines zeitgenössischen Gemäldes; für die Biographie Knigges zeichnete er ein Porträt des Aufklärers, das exakt einem zeitgenössischen Gemälde nachempfunden ist und durch den Abdruck des Photos als Frontispiz gewissermaßen beglaubigt wird. Verstärkt wird dieser historische Bezug bei der Knigge-Biographie durch die Wahl der im ausgehenden 17. Jahrhundert beliebten humanistischen Kursivschrift. Dem Ausstattungsvorbild für wissenschaftliche Literatur näherte sich Weiß bei der Umschlaggestaltung für Leibbrands Romantische Medizin an, die ihre Aussagekraft aus dem Zusammenspiel der großen Antiqua-Schrift mit dem schlichten Äskulapstab zieht. Die optische Außenwirkung des Buchs von Frida Strindberg erklärt sich vornehmlich aus der dynamischen Typographie und der kräftigen grünen Farbe.

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196 Vgl. Stark: Der Buch- und Schriftkünstler Emil Rudolf Weiß, III, S. 292. 197 Vgl. Schauer: Kleine Geschichte des deutschen Buchumschlags, S. 35.

3.2 Verlagsprogramme in den Vorkriegsjahren Das harmonische Zusammenwirken von Sinnbild und Schrift, ihrer Form, Größe und Anordnung läßt sich als Charakteristikum der äußeren Ausstattung der GovertsBücher beschreiben. Weiß griff auf eine Vielzahl aussagestarker Schrifttypen zurück, die er virtuos einsetzte. Sie stehen nicht nur untereinander in einer ausgewogenen Ordnung und in inhaltlichem Bezug zu der bildlichen Darstellung, sondern zieren auch dezent und variationsreich den Einbanddeckel und -rücken. Weiß bevorzugte dabei den waagerecht gestellten Rückentitel, so daß sich das im Regal stehende Buch schnell auffinden läßt. Auf dem unteren Teil des Buchrückens, sowohl auf dem Umschlag wie auf dem Einband, ist stets das Verlagssignet angebracht, typographisch angepaßt der für das jeweilige Buch verwandten Schrifttype.198

Varianten Besonders dann, wenn die Umschlaggestaltung stärker auf Werbung abzielen sollte, wie es bei den beiden auf größere Publikumswirksamkeit hin ausgerichteten Unterhaltungsromanen der Fall war, entschieden sich die Verleger für Ausstatter, die das illustrative bzw. erzählerische Element betonten.199 Die farbigen, detailreich und differenziert ausgeführten Tuschzeichnungen Gerhard Gossmanns für Mitchells Vom Winde verweht und Springs Geliebte Söhne stechen optisch von dem Gros der Goverts-Bücher ab, wenn auch die Proportionen zwischen Schrift und bildlicher Darstellung im üblichen Rahmen bleiben. Auch die Umschlaggestaltung von Lore Holz für den Roman Konrad Wildhagens Der Freier mit dem Degen, der ebenfalls als Unterhaltungsroman lanciert wurde, bildet mit ihren sechs erzählerisch konzipierten Kleinzeichnungen, der klobigen, überproportionierten Frakturschrift und dem stark geschmückten Buchrücken eine Ausnahme in der optischen Präsentation der Bücher des Verlags. In zwei Fällen wurde die Buchgestaltung auch Malern wie Armin T. Wegner und Alfred Kubin übertragen, bei deren Ausführungen das illustrativ-erzählerische Moment dominiert. Wegners Ausstattung von Beheim-Schwarzbachs Die Verstoßene umfaßt Einband, Schutzumschlag und Titelzeichnung, die eine intensive, düstere Ausstrahlung haben und in der Kombination einen wesentlichen Teil der Handlung – die Todesgefahr durch Ertrinken und die Rettung der Protagonistin – illustrieren. Alfred Kubin bekam den Auftrag, für den von Hans Hermann Hagedorn ausgestatteten Romanerstling Horst Langes einen zweiten Umschlag zur freien Auswahl der Buchhändler zu gestalten, der die erotische Sphäre des Romans deutlicher hervorhob. Anhand der Verlagskorrespondenz läßt sich die Bereitschaft der Verleger, den Autoren in Ausstattungsfragen Mitspracherecht einzuräumen, gut dokumentieren. Im folgenden soll exemplarisch die intensive Zusammenarbeit zwischen Sternberger und Hans Bohn kurz dargestellt werden, der, zusammen mit Hans Hermann Hagedorn, das optische Außenbild des Verlags in den Kriegsjahren prägte, ergänzt um ein extremes Beispiel, die Diskussionen zwischen Autor und Verlegern über die Ausstattung des ersten Romans von Emil Barth. 198 Eine Ausnahme bilden die von Cassirer übernommenen ersten Bände Olav Duuns, bei denen der Verlagsname nachträglich unten auf die Vorderseite des Buchumschlags gesetzt wurde. 199 Vgl. die Klassifikation der Buchumschläge in plakative, dekorative und illustrative, die Stark vornimmt (Stark: Der Buch- und Schriftkünstler Emil Rudolf Weiß. III, S. 291 – 295).

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs

Mitwirkung der Autoren in Ausstattungsfragen Die Idee für die Abbildung eines zeittypischen Guckkasten-Panoramas auf dem Umschlag für sein Buch über das 19. Jahrhundert stammte von Sternberger selbst.200 Während zunächst noch von Weiß als Ausstatter die Rede gewesen war,201 plädierte Claassen wenige Monate später für Hans Bohn,202 der kurz zuvor mit der Gestaltung des Buchs von de Broglie beauftragt worden war. Das zweifache Interesse der Verleger an der Verbindung mit dem neuen Ausstatter formulierte Goverts im Brief an Sternberger. Er hoffte nicht nur auf »einen wirkungsvollen Schutzumschlag«, zugleich sollte er sich »in den Stil der übrigen«203 einfügen. Goverts hatte mit seiner Vermutung Recht, Autor und Ausstatter würden miteinander »zweifelsohne gut auskommen«204: Die Zusammenarbeit zwischen beiden gestaltete sich produktiv. Bei intensiver Suche im Atelier Bohns fand Sternberger, wie er seinen Verlegern berichtete, in einem alten Schriftenbuch das Wort Panorama »in einer wunderbar knorpligen Blockschrift, und wir sind übereingekommen, dies womöglich genau zu kopieren.«205 Komplizierter verlief die Zusammenarbeit mit dem jungen Autor Barth, der bereits früh seinen Anspruch auf Mitsprache auch bei der Ausstattung206 angemeldet und seine Qualitätsvorstellungen selbstbewußt formuliert hatte.207 Seine Vorschläge, die er den Verlegern in großer Ausführlichkeit unterbreitete, bezogen sich nicht nur auf die Schriftwahl bis hin zur Länge der Gedankenstriche.208 Sie umfaßten die Anzahl der Titelseiten,209 den Satzspiegel,210 die Gestaltung von Kolumnentiteln und viele typographische Details, die Wahl des Einbandleinens und die künstlerische Gesamtausstattung von Einband und Umschlag. Die ausufernde Korrespondenz, die von Claassens Seite

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200 Sternberger an Claassen, 7.12.1937: »Du hast bemerkt, daß ich das Bildchen für den Einband beigelegt habe? Halt mich bitte darüber auf dem laufenden, was Ihr in der Einbandfrage unternehmt: wer beauftragt wird, und womit [...].« (In Büchern denken, S. 479) 201 Goverts an Sternberger, 27.9.1937: »Ich glaube, daß ein Mann wie Weiß oder Harwarth das glänzend ausführen könnte.« 202 Claassen an Sternberger, 30.12.1937: Bohn habe »Jahre regelmäßig für Rütten & Loening gearbeitet, mit zum Teil ausgezeichneten Ergebnissen«. 203 Goverts an Sternberger, 13.1.1938. 204 Goverts an Sternberger, 13.1.1938. 205 Sternberger an Claassen, 11.1.1938 (In Büchern denken, S. 479). 206 Barth war Sohn eines Buchbinders, hatte selbst eine Buchdruckerlehre absolviert und mehrere Jahre in diesem Beruf gearbeitet. 207 Barth an Claassen und Goverts, 14.12.1935: »Sicher stimmen wir darin überein, daß äußerster Wert auf eine geschmackvolle und dezente Ausstattung des Buches gelegt werden soll.« 208 Barth an Claassen, 12.3.1936: »Zu meiner Bestürzung sah ich, daß man riesige Gedankenstriche genommen hat, die das Satzbild förmlich durchlöchern [...].« 209 Barth an Claassen, 12.3.1936: »Das Buch muß, wie fast alle Bücher, mit S. 9 beginnen; sonst sieht der Titel so eingespart aus, was ja gerade bei unserem Buch sinnwidrig wäre, da es so großzügig gedruckt ist.« 210 Barth an Goverts, 25.1.1936: »[...] wir stimmen gewiß darin überein, daß für meine nicht auf Spannung, sondern auf Ruhe und langsame Lektüre angelegte Sprache der Satzspiegel der Seite nicht zu groß werden darf; in meiner Sprache hat auch eine kleine Seite Substanz genug.«

3.2 Verlagsprogramme in den Vorkriegsjahren aus mit schließlich kaum noch unterdrückter Ungeduld geführt wurde,211 rechtfertigte Barth mit dem Bekenntnis, er fühle sich für das Aussehen seines Buches »durchaus mitverantwortlich«212. Claassen war zunächst auch bereit, auf Barths Wunsch einzugehen, eine Vignette aufzudrucken, wofür der Autor mit detaillierter Begründung gleich mehrere Motive vorschlug.213 Schließlich mußte doch – aus Zeit-, sicher auch aus Kostengründen – auf die Vignette verzichtet werden; nahezu alle von Barth gewünschten Motive aber vereinigte Weiß auf dem Schutzumschlag, den Claassen euphorisch als »eine der besten Leistungen« bezeichnete, »die Prof. Weiß in den letzten Jahren gebracht«214 habe. Die äußerst sorgfältige Gesamtausstattung der ersten Bücher ließ sich mit ihren aufwendigen bibliophilen Details in den Folgejahren nicht durchgängig fortführen. Zum Teil war sie den Verlegern auch zu teuer. Infolge des heftigen Einspruchs Barths215 setzte Claassen nach intensiven Recherchen bei Buchhändlern im Frühjahr 1939 den zunächst auf RM 7.50 kalkulierten Preis für seinen Titel Wandelstern auf RM 6.80 fest. »Notgedrungen« erklärte er sich bereit, »den Verlust zu tragen«, klagte aber gleichzeitig, sie alle müßten jedoch »daraus eine Lehre ziehen«: »Für RM 6.80 hätte ich bei diesem Umfang eben eine etwas andere Ausstattung vorgenommen. Es war in keiner Weise erforderlich, das bestmögliche Papier zu nehmen mit einem Gewicht von 100 gr; dasselbe gilt für Leinen, den Satzspiegel usw.«216 Auch die höchst anspruchsvolle Ausstattung mußte sich also am ökonomischen Kalkül orientieren; das Beispiel des Wandelstern blieb insofern eine Ausnahme. Grundsätzlich aber hielten die Verleger an dem Ideal einer sorgfältigen, qualitativ hochstehenden Buchausstattung fest, so lange es irgend ging. Der zitierte Fall ist gleich211 Claassen an Barth, 16.3.1936: »Die Tatsache, daß wir Prof. Weiß regelmäßig [bisher waren drei Bücher erschienen!] mit unserer Buchausstattung beauftragen, dürfte Ihnen wohl hinreichend Sicherheit für ein gutes Aussehen geben.« 212 Barth an Claassen, 4.3.1936. 213 Er schlug »eine blühende Distel oder einen blühenden Distelzweig« vor, »als Symbol des Vertriebenseins aus dem Paradies, in seiner Blütenhaftigkeit aber zugleich auch wieder ein Symbol des Schönen dieser Erde, das zwischen Dornen und Stacheln blüht; – dann ein Glaskästchen mit einem aufgespannten Schmetterling: als Zeichen des Toten, Dahingegangenen, Bewahrten; Zeichen der Melancholie, Zeichen auch der vergangenen Freuden; gleich der Distel eine mehrfache Rolle im Buch spielend; – zum Dritten: ein Kinderspazierstöckchen – Symbol des Humors dieses Buches.« (Barth an Claassen, 12.3.1936) 214 Claassen an Barth, 30.3.1936. Gerade dieser Umschlag mit der Federzeichnung von einem kleinen Jungen mit Spazierstöckchen, der sinnend einem fortfliegenden Schmetterling nachschaut, dominiert von einer Distel im Vordergrund, die zwei Drittel der Vorderseite bedeckt, kann als Beispiel dienen für den allgemeinen Zug zur Kleinteiligkeit und Idylle in der Buchkunst der frühen dreißiger Jahre, der auf die Goverts-Bücher in ihrer Gesamtheit allerdings nicht zutrifft. – Vgl. dazu Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 78, der allgemein einen »Zug zum Kleinen, Niedlichen und Zierlichen« im Buchschmuck dieser Zeit beobachtet, sowie zur Gesamtbewertung der Umschlaggestaltungen Ernst Robert Weiß’ bei Stark: Der Buch- und Schriftkünstler Emil Rudolf Weiß, S. 295 –306. 215 Barth fürchtete, daß der hohe Preis seinem Buch »von vornherein den Lebensfaden abschneidet« (Barth an Claassen, 19.2.1939). 216 Claassen an Barth, 23.2.1939.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs zeitig ein Beleg dafür, daß sie nicht bereit waren, die Vorgaben der Reichsschrifttumskammer hinsichtlich der Regelung des Papierverbrauchs im Bereich der Fachschaft Verlag217 vom Frühjahr 1937 zum Anlaß für eine sparsamere Ausstattung zu nehmen. Dort hatte es zunächst geheißen, der deutsche Verleger sei »verpflichtet, bei der Wahl der Papierqualität und des Papiergewichtes für Neuauflagen und Neuproduktion von übersteigerten Ansprüchen Abstand zu nehmen. Es ist nicht mehr zulässig, ein Manuskript unter Zuhilfenahme großen Schriftgrades, Durchschusses oder Formats und vor allem durch Verwendung eines schweren oder stark auftragenden Papiers aufzublähen. – Bei Neuauflagen von Werken, bei denen bisher ein Papier von mehr als 70 g/qm verwendet wurde, ist das Papiergewicht nach Möglichkeit um mindestens 10 % zu verringern.«218 Bis zum Beginn der kriegsbedingten Einschränkungen in der Herstellung konnten sich die Verleger auf die bereits früh angekündigte »Lockerung« der Bestimmungen für solche Bücher, die auch für den Export bestimmt waren, berufen,219 und sie nutzten diese Chance für ein gleichbleibend hohes Niveau in der Gesamtausstattung ihrer Bücher extensiv aus.

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Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien

3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien Mit seinen nur 26 Titeln bis zum Sommer 1939 war das Verlagsprogramm des H. Goverts Verlags vergleichsweise schmal. Diese Begrenzung war Teil der Verlagskonzeption, der das Bemühen um Überschaubarkeit der Verlagsarbeit im Rahmen eines Privatverlags mit nur wenigen Mitarbeitern zugrundelag. Trotz wiedersprüchlicher Angaben zu Plänen der Ausweitung der Verlagsproduktion220 ist die Beschränkung auf wenige Titel vor allem als Vorsichtsmaßnahme aus politischen Gründen zu werten. Die Vielzahl der Projekte legt zwar den Schluß nahe, daß Claassen und Goverts schon in den ersten Jahren an einer Ausweitung der Produktion gelegen war. Besonders Claassen

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217 Vgl. die »Bekanntmachungen der Fachschaft Verlag: Regelung des Papierverbrauchs im Bereich der Fachschaft Verlag« vom 27.2.1937. In: Vertrauliche Mitteilungen der Fachschaft Verlag, Nr. 20 vom 3.3.1937, S. 1f. sowie die »Bekanntmachungen über eine Regelung des Papierverbrauchs im Bereich des deutschen Verlagsbuchhandels« vom 6.4.1937. In: Vertrauliche Mitteilungen der Fachschaft Verlag, Nr. 24 vom 6.7.1937, S. 1f. 218 Vertrauliche Mitteilungen vom 3.3.1937, S. 1. 219 Vertrauliche Mitteilungen der Fachschaft Verlag, Nr. 26 vom 31.7.1937, S. 2. – Die Jahresberichte der Fachgruppen und Arbeitsgemeinschaften der Fachschaft Verlag, veröffentlicht im Tätigkeitsbericht des Leiters der Fachschaft Verlag, jedenfalls meldeten bereits im Januar 1938, daß die »im Rahmen des Vierjahresplans notwendig gewordene Einschränkung des Zellstoffverbrauches für die Anfertigung holzfreier Papiere [...] im großen und ganzen gesehen keine wesentliche Verringerung der Papierqualität im Gefolge gehabt« habe (Vertrauliche Mitteilungen der Fachschaft Verlag. Nr. 31 vom 31.1.1938, S. 9). 220 Ende 1935 z. B. berichtete Claassen dem jungen Autor Hans Georg Brenner, er sei »in der merkwürdigen Lage, für das Frühjahr außerordentlich wenig, für den nächsten Herbst 12 Bücher zu haben« und beklagte die »falsche Gewichtsverteilung« (Claassen an Brenner, 18.12.1935). Noch im Januar 1939 betonte er, er lebe, da sie »noch immer ein verhältnismäßig junger Verlag« seien, »verlegerisch gesprochen von der Hand in den Mund« (Claassen an Hering, 21.1.1939).

3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien aber sah wohl an seiner eigenen Arbeitsbelastung, über die er häufig klagte,221 daß der Verlag aufgrund seiner Struktur als Kleinstverlag eine Ausweitung gar nicht verkraftet hätte. Vor allem aber hätte eine deutliche Vergrößerung der Produktion verhindert, daß jedes einzelne Manuskript von den beiden Verlegern gründlich hätte lektoriert werden können. So bremste Claassen in den Anfangsjahren gewissermaßen selbst immer wieder ab, wenn sich Möglichkeiten zur Ausweitung andeuteten. Es steht außer Frage, daß die Verleger von Anfang an recht genaue Vorstellungen von der Gesamtkonzeption des Verlages hatten, die über das vage Eigenbild von Qualität und Relevanz der Produktion für ein bildungsbürgerliches Lesepublikum hinausgingen.222 Claassen und Goverts bemühten sich bei ihren Planungen und Abmachungen, wie sie wiederholt in der Korrespondenz mit Freunden und potentiellen Autoren formulierten, um eine bestimmte »innere Linie« innerhalb der Verlagsplanungen. Wenn auch nicht völlig ausgeschlossen werden kann, daß die häufige Betonung einer solchen »Linie«, die es einzuhalten gelte, auch ein Element der Selbststilisierung darstellte, so ist das Insistieren auf die Existenz einer Verlagskonzeption, selbst wenn sie selten genug näher erläutert wurde, doch ernst zu nehmen. Oft wurden in den Verlagsbriefen mit dem Hinweis auf eine solche »große« oder auch »innere Linie« bestimmte Entscheidungen gerechtfertigt; gleichzeitig gingen die Verleger davon aus, daß die Verlagskonzeption auch von außen erkennbar sein würde. Im Frühjahr 1936 z. B. begründete Claassen die Ablehnung eines Manuskripts damit, daß er »in den ersten Jahren die große Linie möglichst wenig durchbrechen [wolle], um im Bewußtsein der Buchhändler und Leser ein klares Bild zu erzeugen«.223 In dem Aufsatz Über das Verlegen hat Claassen im Frühjahr 1955 sein Credo von der Art und Weise, wie die Persönlichkeit eines Verlegers im Sinne eines Individualverlegers das Programm präge, formuliert: Die Summe der Bücher, die ein Verleger mit seinem Namen begleite, sei »gleichfalls auch eine Aussage über ihn selbst. In der Abfolge vieler Jahre werden seine Vorlieben, seine geistigen und künstlerischen Interessen, seine sozialen, seine politischen Überzeugungen offenbar. Der Verleger ist mit keinem seiner Autoren identifizierbar, aber er veröffentlicht, vielleicht sogar wider Willen, wachsend ein Porträt von sich selbst.«224 Tatsächlich zeigte das zwischen Herbst 1935 und Frühjahr 1939 verwirklichte Programm des H. Goverts Verlags, bei weit gefächertem Publikationsspektrum, in seinen groben Zügen eine gewisse Homogenität, die es ermöglicht, thematische wie stilistische Gemeinsamkeiten zu beschreiben. In einer anderen Retrospektive hat Claassen betont, das Glück, daß ein Verleger mit neu auftauchenden Literaturrichtungen identifizierbar sei – wie S. Fischer mit dem Naturalismus, Kippenberg mit dem Humanismus der Jahrhundertwende oder Diederichs mit dem Jugendstil und der Jugendbewegung –, sei seit etwa Mitte der zwanziger Jahre 221 Vgl. Claassen an Barth, 20.1.1937: »Ich stecke von morgens bis tief in die Nacht in Arbeit und bin daher so gehetzt, daß mir im Augenblick die innere Sammlung fehlt [...].« 222 Vgl. die erste Werbeanzeige im Börsenblatt 102 (1935) 243, S. 4877: »Gute Romane. Wichtige Bücher aus Geschichte und Kultur für die breiten gebildeten Schichten«. 223 Claassen an Brenner, 10.3.1936. – Das betreffende Buch falle »ganz aus dem Rahmen« ihrer Verlagsarbeit. 224 Claassen: Über das Verlegen. In: MM 19/1981, S. 1f. – Vgl. auch: Vom schönen Leben des Verlegers, S. 633.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs »niemand mehr beschieden« gewesen, da es so homogene Richtungen nicht mehr gegeben habe. Auch bei den »späteren« habe es eine »Einheit in der Vielfalt« gegeben, sie habe aber »im Geschmack und im geistigen Gesicht des Verlegers selbst«225 gelegen. Claassens ex post formulierten Vorstellungen bleiben vor allem deshalb problematisch, weil sie suggerieren, daß jeder verlegerischen Entscheidung ausschließlich ein Geschmacksurteil zugrundeliege und andere als geistige und künstlerische Interessen für die Veröffentlichung eines Buches nicht möglich seien. Aus internen Verlagsgutachten und brieflichen Äußerungen, aus privaten Bekenntnissen und Diskussionen mit einzelnen Autoren läßt sich erschließen, welche Prinzipien die Verlagsarbeit im allgemeinen, d. h. im Programmatischen, welche sie im konkreten Fall bestimmten. Die vorhandenen Quellen ermöglichen differenzierte Einblicke in die Lektoratsentscheidungen des H. Goverts Verlags. Ausführlich beschreiben läßt sich, über verlegerische Rahmenvorstellungen von einem persönlichen, engen Autor-Verleger-Verhältnis hinaus, in welchem Ausmaß die Verleger mit den von ihnen herausgegebenen Büchern Wertorientierungen geben wollten. Konkret werden diese aus internen Begründungen vor allem für die Auswahl fiktionaler Literatur, ebenso, ex negativo, aus Ablehnungsgründen. Daß der Entscheidung besonders für belletristische Werke gleichzeitig bestimmte traditionalistische ästhetische Vorstellungen zugrunde lagen, zeigen kontroverse Diskussionen mit mehreren Autoren über die »naive Kraft« des Erzählens. Ein sich europäisch verstehender Bildungsanspruch stand nicht nur hinter der Auswahl ausländischer Belletristik, sondern vor allem auch hinter den Entscheidungen im Programmbereich Kulturgeschichte. Aus der Verlagskorrespondenz lassen sich auch, bei gleichzeitiger vergleichender Auswertung von Exposés, Vorworten, Klappentexten und Werbeanzeigen, die Vorstellungen präzisieren, die die Verleger mit dem wiederholt geäußerten Anspruch auf Herausgabe »symptomatischer« Werke verbanden oder mit dem auf »höhere Aktualität«.

3.3.1 Wertorientierungen In dem wiederholt zitierten Aufsatz Über das Verlegen bekannte sich Claassen offen zu einer »durchaus subjektiven Seite des Verlegerberufs«: »Wir wollen, daß andere, unsere Zeitgenossen, Werte erkennen und bejahen, die uns bedeutsam sind, daß Tendenzen bekämpft werden, die uns bedrohlich erscheinen.«226 Dieses Bekenntnis, mit der Auswahl bestimmter Titel Wertorientierungen geben zu wollen, hat der Verleger für die Zeit unter der Diktatur präzisiert: »Es kam darauf an, vorhandene traditionelle Werte zu bewahren, eine Tradition von Jahrhunderten nicht abreißen zu lassen, das Gefühl für Qualität zu steigern, den Sinn für Sprache zu schärfen, echte Toleranz zwischen den großen geistigen Gruppen zu stärken, das Gemeinsame gegen völkischen Ungeist zu beleben, Dichtung, Kunst, Philosophie, Geschichte gegen Verfälschungen zu schützen.«227 Tatsächlich erscheint es eher zweifelhaft, daß ein solcherart dezidiert formulier-

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225 Claassen: Vom schönen Leben des Verlegers. In: In Büchern denken, S. 635f. 226 Über das Verlegen, S. 2. 227 Über das Verlegen, S. 2.

3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien tes Programmm von Anfang an bestanden hat. Der Verlagsalltag jedenfalls fand unter den Rahmenbedingungen der nationalsozialistischen Literaturpolitik statt.

Ein Verlag uns befreundeter Autoren Trotz des häufigen Insistierens auf einem noch näher zu bestimmenden NiveauAnspruch war für Claassen und Goverts die literarische Qualität der Manuskripte nicht das einzige Kriterium der Auswahl. Es hat den Anschein, als sei es den Verlegern zu Beginn einer Verlagsbeziehung weniger um das einzelne Werk als um die Person des Autors gegangen. Der persönliche Eindruck, oft zunächst ersetzt durch die Empfehlung von Freunden und Bekannten, Hochschätzung, die nicht selten aus einer Achtung vor der »Kultiviertheit«228 der Person herrührte, spontane Sympathie229 und Vertrauen in die menschliche Qualtität eines Autors – verbunden mit dem Anspruch, daraus eine freundschaftliche Beziehung sich entfalten zu lassen: Dies alles war notwendiges, wenn auch nicht hinreichendes Moment für eine Zusammenarbeit, die auf Dauer angelegt war. Claassens Charakterisierung Editha Klipsteins in einem Brief an Rudolf Bach belegt eine solche Hochachtung vor einer bestimmten Lebenshaltung: »In bescheidenem Rahmen wird hier eine Existenz durchgefochten, die Stil hat und auch jemandem, der nichts von der geistigen Welt, die hier bewahrt wird, versteht, Eindruck machen muß. Die Armut wird bejaht, die Mühseligkeit der täglichen Arbeit positiv durchlitten.«230 Im besten Fall entwickelte sich aus einem bereits bestehenden vertrauensvollen Freundschaftsverhältnis eine Verlagsbeziehung, wie bei Hans Georg Brenner231 bzw. Dolf Sternberger, oder der Abschluß eines Vertrags führte, wie bei Joachim Maass, zu einer Freundschaft, die auch über große räumliche Distanzen aufrechterhalten wurde.232 Eine 228 Claassen sprach im Brief an Hilde Claassen z. B. von der »reifen Natur« Editha Klipsteins (13.11.1935). – Nach dem Besuch bei G. F. Jünger, der allerdings zu keinen Verlagsvereinbarungen führte, hieß es, er sei »ein ungewöhnlich kultivierter Geist« (Claassen an Hilde Claassen, 17.4.1935). 229 Vgl. z. B. die Charakterisierungen einzelner Autoren: »sehr nett« (Claassen an Hilde Claassen, 18.3.1936 über Bastian Müller und Manfred Hausmann); auch über Hermann-Georg Rexroth: »etwas wirr, aber nett« (Claassen an Hilde Claassen, 16.5.1935); über Hans Stock: »ein liebenswürdiger und begabter Mensch« (Claassen an Brenner, 30.3.1936). 230 Claassen an Bach, 15.7.1937 (In Büchern denken, S. 34). – Daß eine solche Hochachtung durchaus mit ambivalenten Zügen in der persönlichen Beziehung einhergehen konnte, schrieb Claassen seiner Frau: »Sie ist der umständlichste Mensch, den ich kenne. Immer neu diskutiert sie urälteste Fragen: eine riesige, sinnlose Korrespondenz. [...] Meine Beziehung zu ihr besteht aus Schätzung, aus Ungeduld über ihre Penetranz und ihre Tantenhaftigkeit und aus Rührung über ihre Umständlichkeit. Erstaunlich, wie in einer so reifen Natur die Eitelkeit nistet.« (Claassen an Hilde Claassen, 13.11.1935) 231 »Ich habe immer damit gerechnet, daß ›Brenner‹ nicht nur zu meinen Freunden, sondern auch zu den von mir betreuten Autoren zählt. Dieses Interesse habe ich Ihnen ja schon im Sommer 1932 zum Ausdruck gebracht.« (Claassen an Brenner, 30.3.1936) 232 Claassen an Maass, 7.4.1941 (In Büchern denken, S. 347): »Mein Verhältnis zu Ihnen war vom ersten Tag an ein unbedingt freundschaftliches. Daran hat sich nichts geändert. Die Basis dieser Freundschaft ist nicht nur eine gefühlsmäßige Sympathie, sondern auch die tiefe Überzeugung, daß Sie als geistiger Mensch und Künstler mir nahestehen.«

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs solche Sympathie erwuchs aus dem vagen Gefühl einer gemeinsamen Distanz zum Nationalsozialismus. Von den Autoren wurde der Anspruch der Verleger auf ein enges, von gegenseitigem Vertrauen getragenes Verhältnis fast ausnahmslos begrüßt. Brenner versicherte sogar treuherzig, er halte den Verleger »nicht für den Erbfeind des Autors [...], eher fürs Gegenteil«233. Claassens hohe Erwartungen an einen vertrauensvollen, gleichzeitig sachlich-kooperativen Stil der Zusammenarbeit wurden im allgemeinen erfüllt,234 was allerdings nicht ausschloß, daß es vereinzelt zu heftigen Auseinandersetzungen in finanziellen Fragen kam. Anläßlich eines solchen Streits formulierte Goverts unmißverständlich das Selbstverständnis der Verleger. Den Verdacht finanzieller Eigeninteressen schloß er dabei aus. In einem Brief an Barth insistierte er vor allem auf einer freundschaftlichen Beziehung als Grundlage für einen engeren Verlagskontakt. Sie seien »kein auf Geschäftemachen aufgezogenes Unternehmen, sondern ein primär kultureller Verlag, der auf einen Kreis uns befreundeter Autoren hinzielt, für die wir die Verleger sein wollen. Dr. Claaßen und ich wollen lediglich unser Auskommen haben.«235 Der Absicht der Verleger, bestimmte Autoren und nicht einzelne Bücher zu fördern, entsprach der Versuch, in besonderem Maße junge oder zumindest noch weitgehend unbekannte Autoren zu gewinnen und sie auch vertraglich durch Optionen auf spätere Werke an den Verlag zu binden. Bei ausländischen Autoren gelang dies in der Regel,236 wenn auch nicht immer.237 Gerade bei den jungen deutschen Autoren forderten die Verleger mit Nachdruck ein, daß alle zukünftigen Bücher im H. Goverts Verlag erschienen. Diesem Ausschließlichkeitsanspruch allerdings wurde von ihnen selbst auch Grenzen gesetzt: finanzielle wie die des eigenen Qualitätsanspruchs. Besonders in der Frühphase des Verlags kam es häufiger vor, daß die wirtschaftliche Situation des H. Goverts Verlags mit dem prinzipiellen Anspruch kollidierte, nicht nur ein bestimmtes Werk, sondern einen Autor zu fördern. Einerseits sperrten sich die Verleger bis zum Herbst 1939 grundsätzlich gegenüber der Herausgabe von Lyrik

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233 Brenner an Claassen, 14.3.1936. 234 Vgl. z. B. Claassen an Brenner, 26.3.1936: »Ich darf Ihnen noch einmal meinen herzlichen Dank zum Ausdruck bringen und betonen, wie angenehm und reibungslos die Zusammenarbeit gelaufen ist.« 235 Goverts an Barth, 25.5.1937. 236 So z. B. bei der Französin Claire Sainte-Soline oder auch bei dem Norweger Olav Duun: »Die Übernahme der beiden bei Cassirer erschienenen Bände ist nur sinnvoll, wenn wir auch ein neues Buch von Duun veröffentlichen.« (Claassen an Dr. Hell vom Cassirer Verlag, 10.8.1938) 237 Obwohl die Verleger sich für Marie Gevers, eine in Deutschland noch unbekannte Autorin, »mit einem großen Reklameaufwand und den entsprechenden Kosten« eingesetzt hatten, erschienen die folgenden beiden Bücher der Autorin im Staackmann-Verlag. Die Argumentation der Verleger in ihren Briefen an die Autorin belegt erneut ihren Anspruch auf die Chance zur Förderung des Gesamtwerks: Sie fühlten sich unfair behandelt, weil nun »ein anderer deutscher Verlag den Nutzen aus dieser Propaganda zieht«, und reagierten entsprechend entrüstet: »Man wechselt doch im allgemeinen nur einen Verleger, wenn man ausgesprochen unzufrieden mit ihm ist.« (Goverts an Gevers, 23.11.1935) – Ob, was zu vermuten ist, in diesem Fall finanzielle Gründe den Ausschlag für den Verlagswechsel der Autorin gegeben haben, ließ sich nicht überprüfen.

3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien und begründeten dies stets finanziell.238 Gerade an dem Einzelfall der langjährigen Verweigerung einer Veröffentlichung der Barth’schen Lyrik jedoch wird deutlich, daß hinter einer zunächst nur ökonomisch begründeten Ablehnung von Lyrik gleichzeitig die Skepsis gegenüber ihrer poetischen Qualität stehen konnte.239 Die von Seiten des Autors schließlich höchst verbittert geführte Diskussion – für ihn war das Gedicht »die höchste dichterische Möglichkeit«240 – ist ein anschauliches Beispiel für das Bemühen der Verleger um eine »100%ige Identifikation«241 mit den Veröffentlichungen ihres Verlags; ihr eigenes Qualitätsurteil gab den Ausschlag für die Beurteilung.242 Ausnahmen von diesem Prinzip waren allerdings möglich: z. B. dann, wenn ein von Claassen und Goverts als Prosaist hochgeschätzter Autor wie Barth mit der Auflösung des Vertrags drohte und die Verleger, um eine Trennung zu verhindern, sich daraufhin langfristig doch auf eine Herausgabe seiner Lyrik einließen; oder auch dann, wenn sie einen bestimmten Autor unbedingt fördern wollten und sein erstes Werk als »eine Art Vorläufer«243 rechtfertigten. Ausschlaggebend für einen Vertrag war schließlich immer wieder die persönliche Beziehung.

Mitte und Maß: Die Gutachten Hilde Claassens Weder Henry Goverts noch Eugen Claassen haben sich der Mühe unterzogen, bei der Prüfung von Manuskripten ihre Beurteilungskriterien schriftlich zu fixieren. Offensichtlich fand der Austausch zwischen den beiden Verlegern mündlich statt. Besonders Claassen hatte hohe Ansprüche an die eigene Lektoratsarbeit und war von Anfang an bemüht, alle eingehenden Manuskripte selbst zu lesen. Früh hatte sich allerdings gezeigt, daß er damit zeitlich überfordert war. Das Ausmaß einer möglichen Entlastung durch Heinrich Landahl, der als freier Mitarbeiter im Lektorat besonders in den ersten Verlagsmonaten auch Gutachten erstellte,244 läßt sich schwer einschätzen. Vermutlich

238 Symptomatisch dafür ist Claassens Hinweis auf die noch fehlenden »Fonds« für einen solchen »schönen und im höheren Sinne sicher ersprießlichen Luxus« (Claassen an Barth, 20.11.1935). 239 Claassen brachte seine Vorbehalte deutlich zum Ausdruck: »Ich möchte Ihnen offen gestehen, daß ich bei Ihren Gedichten das Gefühl des Unbedingten noch nicht zu gewinnen vermag.« (Claassen an Barth, 20.11.1935) 240 Barth an Claassen, 26.3.1936. – Er insistierte darauf, daß »das Höchste, das Letzte« doch »nur im Gedicht zu sagen« sei. (Barth an Claassen, 28.12.1936) 241 Vgl. in diesem Sinne Claassen an Barth, 11.6.1937. 242 Am 23.2.1937 resümierte Claassen, er vermöge »zum Ganzen der Gedichtsammlung keine wirklich positive Stellung zu finden. Ich habe das Gefühl, daß Sie als Lyriker Ihre eigene Handschrift (wenn ich mich so ausdrücken darf) noch nicht gefunden haben.« 243 So Claassen an Lange, 1.4.1938, nach dessen Kritik an dem Roman Bentons: Er betrachte das Buch als »eine Art Vorläufer«, weil er »glaube, daß dieser Mann noch weit Besseres zu leisten in der Lage ist«. 244 Erhalten sind allerdings lediglich seine Gutachten zu Marie Gevers’, Frau Orpha, und zu Neales Biographie der Königin Elisabeth.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs ist er zunächst hauptsächlich für Korrekturarbeiten bei Büchern des kulturwissenschaftlichen Programms zuständig gewesen.245 In den ersten Verlagsjahren kam Hilde Claassen, in zunehmendem Maße, eine wichtige Rolle bei der Auswahl deutschsprachiger sowie englisch- und französischsprachiger Romanmanuskripte zu. Eine größere Anzahl ihrer Gutachten ist im Verlagsarchiv erhalten. Daß Claassen das Urteil seiner Frau nicht nur schätzte,246 sondern sich weitestgehend darauf verließ, läßt sich daraus ableiten, daß er ihren Empfehlungen i. d. R. entsprach: Ihr ablehnendes Urteil hatte ausnahmslos zur Folge, daß das Manuskript nicht angenommen wurde;247 umgekehrt wurden viele Bücher, die sie positiv bewertet hatte, im H. Goverts Verlag veröffentlicht. Anhand dieser Gutachten248 lassen sich wesentliche für die Verlagsarbeit wirksame Beurteilungskriterien erschließen. Die Ablehnung reiner Unterhaltungsliteratur, des öfteren von den Verlegern programmatisch gefordert,249 entsprach einer dichotomischen Vorstellung von »Dichtung« und »Literatur«, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert im Bildungsbürgertum herausgebildet und während der Literaturdebatten der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre verfestigt hatte.250 Als Unterscheidungskriterium dienten in den internen Gutachten zunächst vor allem stilistische Qualitäten eines Werks. In den Gutachten Hilde Claassens wurde ausnahmslos das »nur Literarische« gegen das »Dichterische« ausgespielt: »Das Buch ist überaus anregend, trotz aller Fundiertheit aber ist es »literarisch«, wenn auch mit Niveau. Für eine Übersetzung ins Deutsche und eine Herausgabe durch den Goverts Verlag scheinen mir Stil und Sprache zu wenig Dichtheit, Kompaktheit, Substanz zu besitzen.«251 Über eine immer wieder eingeforderte »dichterische Sprache« hinaus erschien als wichtiges Beurteilungskriterium die Komposition der Fabel. Die verlagsinternen Kriterien zur Bestimmung dessen, was »das Dichterische« eines Romans ausmache, lassen sich exemplarisch anhand der Gutachten Hilde Claassens

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245 Claassen stand Landahls Arbeit offensichtlich zu Anfang sehr kritisch gegenüber. In einem Brief an seine Frau klagte er im Februar 1936 über die notwendigen Korrekturen an der Übersetzung der Elisabeth-Biographie von Neale. (Claassen an Hilde Claassen, 8.2.1936) 246 »Die Gutachten sind beide vorzüglich. Sie geben einen so starken und objektiven Eindruck, daß sich jede weitere Prüfung erübrigt. [...] Du hast Dir allmählich einen ganz eigenen für das Lektorat sehr brauchbaren Stil für die Begutachtung zugelegt. Es freut mich, daß ich Deiner Arbeit so rückhaltlos zustimmen kann.« (Claassen an Hilde Claassen, 13.6.1938) 247 Einzig E. M. Forsters Roman Howards End, den Hilde Claassen, sicherlich vor Beginn des Krieges, für den H. Goverts Verlag prüfte und mit literaturkritischer Begründung ablehnte, wurde später, allerdings erst 1949, veröffentlicht. (Nr. 141) 248 Da die Gutachten meist nicht datiert sind, ist eine zeitliche Einordnung oft nur mithilfe der übrigen Verlagskorrespondenz möglich. 249 Vgl. z. B. Goverts in seinem Brief an die Übersetzerin aus dem Norwegischen, Sophie Angermann, 27.9.1937, in dem er die Ablehnung eines Romans von Barbra Ring, Leken pa Ladeby, begründet: »Da wir nun in unserem Programm uns vorgenommen haben, keine reinen Unterhaltungsromane zu bringen, möchten wir in Anbetracht der nicht überragenden dichterischen Kraft dieses Werks hier keine Ausnahme machen [...].« 250 Vgl. Berlin – Provinz. Literarische Kontroversen um 1930 (MM 35/1985) sowie Ketelsen: Literatur und Drittes Reich, S. 77 – 80. 251 Hilde Claassen: Gutachten Halliday Sutherland, Hebredian Journey (28.8.1939).

3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien zu Emil Barths Wandelstern und Claire Sainte-Solines Journée252 verdeutlichen. Das spezifisch Dichterische eines Werks wird in den Gutachten in ursächlichem Zusammenhang mit einem klassizistischen Ideal von »Mitte und Maß« gesehen. Die Sprache Barths sei »dichterisch, von höchster Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit«: »Diese höchste Sinnfälligkeit und Bildhaftigkeit der Sprache ist gleichzeitig überaus kultiviert, d. h. sie ist mit einem untrüglichen und sicheren Gefühl für Mitte und Maß, für das Gleichgewicht und das Sich-entsprechen-müssen von Inhalt und Form gegeben.«253 Auch der zweite Roman Sainte-Solines war für Hilde Claassen »sprachlich, stilistisch ein Kunstwerk«. Er sei »mit einem eminenten Gefühl für Mitte, Maß geschrieben«254. Positiv bewertete sie insgesamt – das wird bei der Gesamtbeurteilung der Prosa Barths deutlich – nicht so sehr Wortwahl und Bildlichkeit bzw. die Entsprechung von Form und Inhalt,255 sondern die »heiter-versöhnliche« Grundstimmung, die einer solchen als klassizistisch empfundenen Haltung angemessen sei. Claassen selbst fand zu diesem Manuskript, entgegen seiner sonstigen Zurückhaltung, denn auch geradezu begeisterte Worte: »Dieses Buch ist das geschlossenste und großartigste [sic], das mir seit langer Zeit vor Augen gekommen ist; eine Leistung, von der ich durchaus sicher bin, daß sie der großen deutschen Literatur angehört; eine durch und durch sinndurchtränkte Darstellung, die ich beim langsamen Lesen als ein ständiges großes Glück empfand. [...] Ich glaube, daß von diesem Buch heute eine heilende Kraft ausgehen kann.«256 Diese Argumente machen deutlich, welche Intentionen die Verleger bei der Herausgabe eines belletristischen Werks wie das Emil Barths leitete. Wenn Claassen dem Autor schrieb, er empfinde »die Kraft der Aneignung und der Behütung, die Sie allen Dingen angedeihen lassen, als ungewöhnlich deutsch. [...] Ihnen ist eine glückliche Mitte zwischen Klassik und Romantik gelungen«257, so sprach er deutlich aus, welche »bewahrende Funktion«258 die Prosa Barths in seinen Augen besaß und wie wichtig ihnen die Förderung der diesem Buch zugrundeliegenden Wertorientierungen war. Anläßlich der Neuauflage des Romans im dritten Kriegsjahr bekannte Claassen dem Autor, sie betrachteten »die Veröffentlichung von Büchern wie den Ihren« als »unser wichtigstes Anliegen«259. Schäfer hat in seinen Studien immer wieder betont, daß die positive Bewertung klassizistischer Werthaltungen in den dreißiger Jahren epochal gewesen sei, und einen psychologischen Erklärungsansatz für diese Art von Literatur gegeben.260 Die Rückwendung gerade der jungen Autoren, die erst gegen Ende der zwanziger Jahre zu schreiben begon252 Claire Sainte-Soline: Zwischen Morgen und Abend. Roman (1939). (Nr. 28). – Der Roman, der im Herbst 1939 erscheinen sollte, wurde zu Kriegsbeginn nicht ausgeliefert. 253 Hilde Claassen: Gutachten Emil Barth, Wandelstern [Sommer 1938]. 254 Hilde Claassen: Gutachten Claire Sainte-Soline, Journée (o. D.) 255 Hilde Claassen vermerkte kritisch, daß es passagenweise zu einer »pathetisch, geschwätzig, prätiös und gestelzt wirkende[n] Überbetonung des Formalen« komme. (Gutachten Emil Barth, Wandelstern) 256 Claassen an Barth, 24.1.1939. 257 Claassen an Barth, 24.1.1939. 258 Claassen an Gerhard F. Hering, 16.5.1939: »Ich glaube [...], daß Barth im Gesamtkonzept der deutschen Literatur eine besondere bewahrende Funktion zukommt.« 259 Claassen an Barth, 1.4.1941. 260 Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 23 u. ö.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs nen hatten, auf einen »inneren Bezirk« und auf überlieferte literarische Formen, seien vor allem als Reaktion auf die politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen der Weltwirtschaftskrise zu deuten. Nicht nur habe die Form »an metaphysisch-utopischer Bedeutung« gewonnen; sie habe »eine geprägte, dem realen Tageszweck entgegengesetzte Welt« repräsentiert.261 Es bleibt festzuhalten, in welch hohem Maße die im Lektorat wirksamen Bewertungskriterien mit solchen Bestrebungen übereinstimmten. Die beiden Verleger, die einer anderen Generation als ihre deutschsprachigen Romanautoren angehörten und die selbst, wie Goverts, vom Spätexpressionismus beeinflußt waren bzw., wie Claassen, vor 1933 sozialkritische Literatur oder auch moderne feuilletonistische Gattungen wie Reiseliteratur gefördert hatten, identifizierten sich nun in hohem Maße mit solchen rückwärtsgewandten Stilhaltungen. Aus dem Briefwechsel Claassens mit Gerhard F. Hering, dem Feuilletonleiter der Kölnischen Zeitung, wird deutlich, daß die Verleger sich sehr wohl bewußt waren, mit der Förderung Barths eine Schreibhaltung bewahren zu helfen, die, wie Barth es formuliert hatte, einem »zunehmenden allgemeinen Sprachnaturalismus«262 entgegenwirkte. Herings vertrauliche Kritk an der Schreibweise Barths in Frühjahr 1939, die, wie er betonte, »selbstverständlich weit über alles in der Öffentlichkeit zu erörternde« hinausging, deutete einen Gegenpol an, der in den internen Diskussionen als Forderung stets präsent war. Hering monierte, »daß uns diese Art, vor deren sprachlichem Vermögen und Verantwortungsgefühl ich denkbar hohen Respekt habe, auf die Dauer gesehen, nicht weiterbringen kann.« Mündlich wäre er bereit zu begründen, warum er »im tiefsten Grunde befürchte, daß es Barth an eben dem fehlt, was auf jeden Fall heute in den Köcher des Schöpferischen gehört: Dämonie und Spontaneität.«263

Das »Düstere« Nicht in derselben Wortwahl, aber vergleichbar dieser Forderung Herings, erscheint in den Verlagsgutachten Hilde Claassens, gewissermaßen als Negativfolie zu der beschriebenen versöhnlichen Grundstimmung, die einen eigenen, von »heiterer Gelassenheit« getragenen geistigen Raum der Dichtung erschließt, als Beschreibungsmoment des Atmosphärischen das »Düstere«. Eine größere Anzahl von Manuskripten lehnte Hilde Claassen trotz äußerst positiver Würdigung von erzählerischer Komposition und Stil allein mit einer solchen Begründung ab. »Trotz der hohen dichterischen Qualität«, heißt es im Gutachten zu dem Roman Jordanstown der Amerikanerin Josephine Johnson, werde das Buch für den H. Goverts Verlag kaum infrage kommen: »Eine heutige deutsche Leserschaft dürfte den Einwand erheben, daß es allzuviel des Belastenden, Bedrückenden, Düsteren enthalte und daß das »Positive« erst ganz zum Schluß gegeben sei.«264 Von Jean Gionos 1937 erschienener Erzählung Batailles de la Montagne265 zeigte sich Hilde Claassen zwar einerseits »begeistert«, kritisierte allerdings gleichzeitig das

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Schäfer, S. 23. Barth an Claassen, 6.6.1936. Hering an Claassen, 15.5.1939. Hilde Claassen: Gutachten Josephine Johnson, Jordanstown (o. D.). Von Giono, den der S. Fischer Verlag in Deutschland bekannt gemacht hatte, erschien noch 1937 in Berlin die Novellensammlung »Taube Blüten«; der von Hilde Claassen kritisch be-

3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien »Gewicht« und die »Schwere«266, die über dem Buch lägen. Aus demselben Grund schied ein weiterer Roman aus dem Französischen aus: »Ich würde diesen Roman für den Goverts-Verlag empfehlen, wenn ich nicht wegen des ›düsteren Inhaltes‹ und der ›drückenden Atmosphäre‹ und der allerdings ausweglosen Dunkelheit, die über dem Ganzen liegt, Bedenken hätte.«267 Das Gutachten zu Joachim Maass’ im Herbst 1939 erschienen Roman Ein Testament268 macht deutlich, daß ein wichtiges, wenn nicht das entscheidende Beurteilungskriterium für die Empfehlung eines Romans eine positive, hoffnungsvolle, idealistische Grundstimmung war, die ein Buch zu vermitteln versprach; im äußersten Fall konnte sie auch eine »düstere Atmosphäre« erträglich machen – selbst auf die Gefahr hin, daß ein solcher Idealismus mit Schwärmereien vermischt wäre. Der Roman von Maass, dessen äußere Schicht realistisch sei,269 enthielt für Hilde Claassen »höchst fragwürdige philosophische Phantastereien, die hart an der Grenze zum Banalen stehen. Doch ist es gerade dieser Idealismus, der sozusagen das versöhnliche Element dieses Romans, der ein Äußerstes an Dumpfheit, Düsternis, Absurdität enthält, darstellt und der diesen Roman zu einem für die gegenwärtige deutsche Literatur bedeutsamen Dokument werden läßt.«270 Als »Dokumente eines Lebensgefühls«, so liest sich die Argumentation Hilde Claassens im Fall Maass, sind auch Beschreibungen von Negativbezirken möglich, wenn sie letztlich in vorbildliche Lebensentwürfe münden.

Lebensentwürfe und vorbildliche Haltungen Die Bandbreite der im HGV geförderten zeitgenössischen Literatur belegt eine Gleichzeitigkeit verschiedener Lebensentwürfe der jeweiligen Protagonisten. Als Orientierungshilfe in einer oft als bedrohlich, wenn nicht gar als dämonisch angesehenen Realität werden in den Romanen Haltungen vermittelt, die auch die Verleger positiv werteten und die in ihren Augen, so legen es die verlagsinternen Beurteilungen nahe, für die Leser durchaus Vorbildcharakter haben sollten. Daß die dabei in den Romanen auf die Zukunft gerichteten Lebensentwürfe an rückwärtsgewandten gesellschaftlichen Modellen orientiert sind, ist oben beschrieben worden. (Vgl. Kap. 3.2.1.) Als Dokumente einer Lebenserfahrung und gleichzeitig als gelungene dichterische Verarbeitung schätzten Claassen und Goverts die Romane der jungen deutschen Autoren hoch. Viele briefliche Äußerungen, aus denen die Zustimmung der Verleger gerade zu dieser Komponente der poetischen Verarbeitung einer Generationserfahrung der Orientierungslosigkeit ablesbar ist, belegen dies. Horst Langes Schwarze Weide, die in der ersten Börsenblatt-Anzeige als »erschütternde[r] Lebensausdruck der Nachkriegszeit« und als Werk eines »neuen Dichters von ungewöhnlicher epischer Kraft«271 gepriesen wurde, kam innerhalb der Gesamtproduk-

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gutachtete Roman kam 1939 u. d. T. »Bergschlacht« in Stockholm heraus. – Vgl. S. Fischer, Verlag, S. 497. Hilde Claassen: Gutachten Jean Giono, Batailles de la Montagne (o. D.). Hilde Claassen: Gutachten Pierre-Jean Launay (ohne Titel, o. D.). Joachim Maass: Ein Testament. Roman (1939). (Nr. 27) Dem Roman liegt eine kriminalistische Handlung, die Aufdeckung eines Mordes, zugrunde. Hilde Claassen: Gutachten Joachim Maass, Ein Testament (o. D.). Börsenblatt 104 (1937) 237, S. 4689 – Vgl. Abb. oben, S. 81.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs tion des H. Goverts Verlags ein besonderer Stellenwert zu. Claassen empfand gerade Lange, Beheim-Schwarzbach und Maass als in ihren künstlerischen Absichten zusammengehörig. Es werde ihn interessieren, schrieb er im Sommer 1938 an Lange, »daß wir in diesem Herbst einen Roman von Martin Beheim-Schwarzbach veröffentlichen, den ich für außerordentlich halte und der sich würdig neben Ihr Buch reiht. Da im nächsten Herbst ein sehr umfangreicher Roman Joachim Maass’ aus dem gleichen Geist geschrieben folgt, bilden Sie drei schon eine besondere Gruppe von geistig Verwandten im Verlag.«272 Die Schreibhaltung gerade dieser drei jungen Autoren, die eine starke ethischmoralische Komponente besaß,273 wurde in den Werbeanzeigen des Verlags allerdings kaum hervorgehoben. Das geschah ausschließlich bei den Anzeigen für Edita Klipsteins Anna Linde. Dieser Roman wurde in der ersten Börsenblatt-Anzeige als Orientierungshilfe für eine ganze Generation angekündigt: »Langsam, unaufhaltsam« gelange die Protagonistin »zurück zu einem neuen, einfachen, echten, durch Arbeit verbundenen Leben.« Die Autorin wurde als »bedeutende Kraft« beschrieben, die »zu einer die Zeit spiegelnden und klärenden Darstellung« ausgeholt habe: Das Buch sei »eine Rechenschaft, die weiterhilft, ein Stück deutsche Prosa, das eine wirkliche Bereicherung bedeutet.« 274 Wenn an Anna Linde die selbstvergessene Pflichterfüllung im Dienst an bedürftigen Menschen als vorbildliche Lebenshaltung herausgestellt wurde, so war es in den erhaltenen Verlagsgutachten zu den beiden Romanen aus dem Französischen, Marie Gevers’ Frau Orpha und Claire Sainte-Solines Antigone oder Roman auf Kreta, vor allem die harmonische Beziehung der Protagonisten zu Natur und Landschaft, die als positive Orientierung für zukünftige Leser und Leserinnen beschrieben wurde. An dem Roman Sainte-Solines hob Hilde Claassen besonders das Atmosphärische der »heiteren homerischen Landschaft« hervor, in der die Liebesgeschichte zwischen den beiden »ruhelosen Europäern« sich entfalte, und lobte die Darstellung des zeitgenössischen bäuerlichen Lebens in einem Dorf auf Kreta, das alle Züge des Idyllischen habe: »[...] das Idyll ist vielleicht die schönste Form des Außer-sich-seins, des Entrücktseins.«275 Das in ihrem Gutachten indirekt enthaltene Plädoyer für eine Hinwendung zum Thema Griechenland akzentuierte das quasi zeitlos-mythische »einfache bäuerliche Leben« als eine abgeschlossene Welt in homerischer Landschaft, die für die Gegenwart als idyllisches Gegenbild aufschien.

Pflicht, Staatsräson und Moral: Warum »Billy Budd«? Am unvermitteltsten haben die Verleger bei der Herausgabe der Erzählung Billy Budd ihre Absicht nach außen getragen, gerade auch mit belletristischen Werken Wertorientierungen für die Gegenwart anzubieten. Aus dem Konvolut der Verlagsgutachten Hilde

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272 Claassen an Lange, 19.8.1938. 273 Oda Schaefer-Lange, die Ehefrau Horst Langes, sprach in einem flammenden brieflichen Plädoyer für die Konzeption von Langes Romans von einem »fast religiösen Verantwortungsbewußtsein«, das seinem Schreiben zugrundeliege. (Oda Schaefer-Lange an Claassen, 26.5.1936) – (In Büchern denken, S. 282) 274 Börsenblatt 102 (1935) 249, S. 5069. 275 Hilde Claassen: Gutachten Claire Sainte-Soline, Antigone où roman en Crète (o. D.).

3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien Claassens geht hervor, daß sie nicht nur ausführliche Gutachten zu insgesamt 13 Romanen und Erzählungen Melvilles geschrieben hat,276 sondern ebenso das achtseitige Nachwort zu Billy Budd.277 Darin wird der Tod des jungen Matrosen als »letztwillige Verfügung«278 eines Dichters interpretiert, dessen »aristokratisch-konservative Denkweise« mit ihrem Glauben an »unbedingte Treue, Verantwortungsgefühl, Entschlußkraft, Autorität«279 sich in seinem Werk dokumentiere. Mit der alle Maßstäbe überschreitenden Tragik des Geschehens habe Melville den Widerschein einer jenseitigen Gerechtigkeit angedeutet, die es auf Erden nicht gebe: Das »irdische Erscheinen« göttlicher Liebe und der »Dreieinigkeit des Guten, Wahren und Schönen« sei »ein Kampf und Untergang ihr irdischer Triumph«280. In der Ankündigung des Verlags im Börsenblatt wurde Billy Budd als »ein Meisterwerk der Weltliteratur« empfohlen, in einer Formulierung, die in ihrer Vagheit als Paradebeispiel einer verdeckten Schreibweise gelten kann. Der Roman werde »für das heutige Deutschland zu einem Ereignis« werden. Er werfe »die Frage auf, wie Pflicht, Staatsräson und Moral sich ineinanderfügt. Ein Thema, das in der Behandlung des Heroischen gerade den Deutschen auf den Leib geschrieben ist.«281 Allein im Rückgriff auf einen unangefochteten Klassiker der Weltliteratur, wie es Melvilles Billy Budd war, und auch das nur äußerst versteckt, wagten die Verleger moralische Normen zu benennen, denen die politische Realität widersprach.

Stilfragen nicht nur als Qualitätsfragen: Der Anspruch auf redaktionelle Mitarbeit Große Bedeutung wurde in den internen Gutachten und in zahlreichen Briefen stilistischen Aspekten der Manuskripte beigemessen. Immer wieder wurde positiv der »gute Stil«282, die »gute« oder auch »kultivierte Sprache«283, der »vollendete sprachliche Ausdruck«284 oder allgemein das »gute Deutsch« eines Autors hervorgehoben und mit der Anschaulichkeit, Sinnfälligkeit oder Bildhaftigkeit der Darstellung begründet. Umgekehrt wurden nicht wenige Romanmanuskripte mit dem Hinweis besonders auf einen schlechten Stil abgelehnt: Sei es, daß dem sprachlichen Ausdruck jegliches »Niveau«

276 Erhalten ist ein Überblick über die Werke Herman Melvilles, datiert vom 28.2.1940, der offensichtlich eine Zusammenstellung aller bis dahin erstellten Einzelgutachten ist. – Vgl. zu den Vorbereitungen weiterer Melville-Übertragungen im H. Goverts Verlag, die ausnahmslos erst nach 1945 erschienen, unten Kap. 4.3. 277 Nachwort. In: Herman Melville: Billy Budd, S. 145 – 152. 278 Nachwort, S. 151. 279 Nachwort, S. 145. 280 Nachwort, S. 152. 281 Börsenblatt 105 (1938) 64, S. 1443. 282 Landahl: Verlagsgutachten J. E. Neale, Queen Elizabeth, London 1934 (o. D.). 283 Vgl. z. B. das Gutachten Hilde Claassens zu Emil Barth, Wandelstern. 284 So in Hilde Claassens Gutachten zur Hilaire Belloc: The mercy of Allah (o. D.).

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs abgesprochen wurde,285 sei es, daß eine »gewichtige Sprache« ohne jegliches »Gefühl für das Echte und Unverfälschte«286 kritisiert wurde. Auch und gerade bei den Übersetzungen, bei belletristischen Werken genauso wie bei den Monographien des kulturwissenschaftlichen Programms, legten die Verleger großen Wert auf hohe sprachliche Qualität; das bedeutete eine in inhaltlicher wie stilistischer Hinsicht möglichst originalgetreue Übertragung ins Deutsche. Wie schwer Claassen grundsätzlich in diesen Fragen zufriedenzustellen war, zeigt sein eingeschränktes Lob der Übersetzung des Peter Abälard durch Lucy von Wangenheim. Der deutsche Text mache »einen ausgezeichneten Eindruck. Das einzige, was ich einzuwenden hätte: der deutsche Text ist etwas spröder und härter geraten als der englische, der sprachlich ein sehr merkwürdiges Fluidum besitzt.«287 Immerhin aber räumte er ein, dies sei »eine Frage, bei der schwer zu entscheiden sein dürfte, ob sie überhaupt lösbar«288 sei. Für die Verleger war Bewußtheit, ja Gewissenhaftigkeit im Umgang mit der Sprache ein großer Wert; dieselbe Sorgfalt forderten sie auch von den Autoren ein. Hinter Claassens Forderungen nach einer gründlichen sprachlichen Durchformung auch eines Romanmanuskripts stand eine durchaus handwerkliche Auffassung, wenn er Barths Wandelstern als »reife, auch handwerklich vollendete Arbeit« lobte, an der er »beim besten Willen nichts zu mäkeln wüßte«289. Viele Partien des Verlorenen Hauses von Emil Barth gehörten für Claassen zwar zum besten, was sie »seit langem gelesen« hätten, schrieb der Verleger in seinem ersten Brief an den jungen Autor, und er bekundete »das stärkste Interesse« an diesem Manuskript; gleichzeitig aber bezeichnete er ganze Passagen schonungslos als »mißlungen«290, was den empfindsamen Autor, der sich in seinen tieferen Absichten mißverstanden fühlte, zu heftigem Widerspruch provozierte. In den folgenden Wochen und Monaten diskutierten die Verleger mit Barth in einem ausführlichen Briefwechsel die Angemessenheit einer Vielzahl von sprachlichen Ausdrücken und forderten immer wieder aufs Neue »kleine Abänderungen«, die sie als »nötig«291 bezeichneten, gleichzeitig aber als »nicht wesentlich« verharmlosten: »Ich möchte in unserem gemeinsamen Interesse Sie vor dem Vorwurf des Preziösen, des Allzugewollten schützen«292, rechtfertigte Claassen ihre Hartnäckigkeit. Er habe für Barths Buch »eine große Liebe«, und gerade darum wolle er es »vor billigen Einwänden und Formulierungen bewahren, die Ihnen den Vorwurf des ›Manierierten‹ eintragen könnten.«293

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285 Vgl. Hilde Claassens Gutachten zu Christa Anita Brueck: Wer spricht noch mit Luedemann? (o. D.): Der Roman sei »überaus primitiv und ohne Niveau in der Anlage, in der Darstellung, in der Sprache«. 286 In Heinz Becks Romanmanuskript »Der Opferberg« kam nach Hilde Claassens Urteil »nicht ein einziges der vielen sich häufenden Bilder aus einem Gefühl für das Echte und Unverfälschte« (Gutachten Hilde Claassen, 1.7.1938). 287 Claassen an Lucy von Wangenheim, 29.9.1935 (In Büchern denken, S. 625). 288 Claassen an Lucy von Wangenheim, 29.9.1935. 289 Claassen an Barth, 24.1.1939. 290 Claassen an Barth, 20.11.1935. 291 Goverts an Barth, 18.1.1936; am 21.1.1936 fordert er »einige kleine Streichungen und Änderungen«. 292 Claassen an Barth, 28.2.1936. 293 Claassen an Barth, 4.3.1936.

3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien In einem vierseitigen Brief bemühte sich der Verleger, ihre Kritik an einer Vielzahl einzeln aufgelisteter Wendungen zu begründen. Wenn er einen Ausdruck wie »kaufen gewollt« als störenden »Bajuwarismus«294 monierte, den von Barth intendierten Doppelsinn in seiner Wortbildung »Gerücht« als »nicht dem Sprachusus« entsprechend295 und Adjektive wie »traumgartig« als »künstlich« oder »aufpassensscharf« als »durch die vielen ›s‹ als hart« klingend problematisierte, so traf er mit solchen Extremen zweifellos ein Spezifikum der sprachschöpferischen Bemühungen Barths, das den Manierismus-Vorwurf begründete. Wenn Claassen allerdings behauptete, Formulierungen wie »das Blut braver Krieger«296 seien »in dieser ironischen Form heute sehr anfechtbar«, an der Charakterisierung von patriotischen Festtagen wie »Kaisers Geburtstag« das Adjektiv »kakaodurchschlürft« heftig kritisierte und auf der Ersetzung der Wendung »hingebracht« durch »zugebracht« insistierte, so wird offenkundig, daß es ihm bei der sorgfältigen Überprüfung einzelner sprachlicher Wendungen nicht nur um Angemessenheit in ästhetischer Hinsicht, sondern vor allem um Fragen des sozialen, und d. h. des politischen aptum ging: Mit der vagen Formulierung von den »billigen Einwänden«, vor denen er Barth schützen wolle, umschrieb er vor allem diese politische Rücksichtnahme. Am konkreten Beispiel der Barth’schen Schilderungen des Kaisergeburtstages und des Sedanstages begründete er seine Hartnäckigkeit mit den möglichen Folgen: »Ich glaube, daß Sie die Empfindlichkeit in vaterländischen Dingen unterschätzen, denn der ganze Kontext [...] macht eine gewisse Abwehr durchscheinend […]. Ich möchte Sie noch einmal dringend bitten, diese zwei Worte zu streichen. Es hat wohl keinen Sinn, dieser Stelle wegen, irgendwelche Angriffe und Unannehmlichkeiten zu riskieren.«297 Das lebhafte Interesse der Verleger an einer engen Zusammenarbeit bei der Verabschiedung eines Manuskripts als druckfertige Vorlage war demnach nicht nur ästhetisch motiviert. Die Hartnäckigkeit, mit der Claassen und Goverts auf bestimmten Änderungen bestanden – in dem zitierten Fall sogar auf eine Änderung oder Streichung der Stelle »unbedingt Wert« legten, »da unter Umständen eine Defirmierung des Buches zu befürchten«298 sei –, macht deutlich, wie ängstlich sie bereits in dieser Anfangsphase der Verlagsarbeit bemüht waren, in politischer Hinsicht, vor allem aber nationalkonservativen Kreisen gegenüber, jegliche Angriffsmöglichkeiten zu vermeiden. Es liege ihm fern, so begründete er seine kritischen Kommentare in den brieflichen Auseinandersetzungen mit Emil Barth, sich »in die internsten Dinge des schriftstellerischen Handwerks zu mischen«; er fühle sich »aber gerade heute als Verleger verpflichtet, auf vielleicht unbeabsichtigte Nebenwirkungen aufmerksam zu machen.«299

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Claassen an Barth, 10.3.1936. Claassen an Barth, 10.3.1936. Claassen an Barth, 28.2.1936. Claassen an Barth, 10.3.1936. Claassen an Barth, 4.3.1936. Claassen an Barth, 10.3.1036.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs

3.3.2 Die »naive Kraft des Erzählens« Die Vorliebe für den großen Roman in der Tradition des europäischen Bildungs- oder Gesellschaftsromans, die im Verlagsprogramm bis Sommer 1939 zu erkennen war, spiegelt sich insgesamt innerhalb der Lektoratsentscheidungen. Claassen selbst schätzte zwar persönlich eine reflektierte Romanform hoch, wie sie z. B. von den Österreichern Hermann Broch oder Robert Musil repräsentiert wurde. Zu Broch hielt er bis zu dessen Emigration 1938 persönlichen Kontakt, und er zeigte sich zunächst auch an Musils Romanmanuskript Der Mann ohne Eigenschaften interessiert. Im allgemeinen aber beharrte er bei der Suche nach Romanmanuskripten und besonders in den Diskussionen mit den Autoren auf Forderungen, die einer konventionellen Ästhetik entstammten.

Konservativismus der Form Von Anfang an erfolgten in diese Richtung die meisten Vorstöße. Schon die Kontaktaufnahme mit Regina Ullmann und mit Editha Klipstein sind in dieser Hinsicht Indizien. Claassen hielt Verbindung zu jüngeren Autoren, die er in seiner Frankfurter Zeit kennengelernt und deren grundsätzlich formkonservative Einstellung er kannte, wie Hans Georg Brenner und Elisabeth Langgässer. Daß er von beiden erst nach 1945 einen Roman veröffentlichte, hatte unterschiedliche Gründe. Von beiden aber bekam er Empfehlungen über junge Autoren aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis. Elisabeth Langgässer brachte die Verleger im Frühjahr 1935 mit dem jungen Horst Lange zusammen, mit dem sie über den Kreis um den Verleger V. O. Stomps befreundet war. Brenner, der aufgrund der politisch prekären Lage des Cassirer-Verlags im Januar 1936 sich von der bestehenden Option befreien und langfristig zu H. Goverts wechseln wollte,300 hielt Claassen Anfang des Jahres 1936 über »die Situation bei Cassirer« auf dem Laufenden,301 mit der Folge, daß Claassen, offensichtlich auf die vergleichsweise erzählkonservative Einstellung des Lektors Tau302 und eine gewisse Verwandtschaft in der Schreibhaltung der Cassirer-Autoren bauend, schon einmal Interesse an einzelnen Schriftstellern wie Josef Wiessalla und Wolfgang Koeppen303 anmeldete. »Vielleicht besteht ja die Möglichkeit, die beiden für den Verlag zu gewinnen. Ich würde mich besonders im Falle Köppen freuen.«304 Es gibt aber auch Indizien dafür, daß die Verleger ein sicheres Gespür für außerordentliche erzählerische Experimente besaßen und sich, beeindruckt von der dichteri-

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300 »Verschiedene Dinge« legten es ihm »sehr nahe«, sich bei nächster Gelegenheit von der Option zu befreien (Brenner an Claassen, 5.1.1936). – Vgl. dazu Abele: Der Verlag Bruno Cassirer im Nationalsozialismus. 301 Es scheine »alles in der Auflösung zu sein«, schrieb er am 26.3.1936, und nach einer »langen Unterhaltung« mit dem Lektor Max Tau berichtete er zwei Tage später, es sei »aus praktischen Gründen unmöglich«, bei Cassirer noch etwas zu verlegen. (Brenner an Claassen, 28.3.1936) – Vgl. Kap. 3.5.1. 302 Vgl. Haas: Max Tau und sein Kreis. 303 Josef Wiessallas erster Roman »Die Empörer« war 1935 erschienen, Wolfgang Koeppens »Eine unglückliche Liebe« und »Die Mauer schwankt« 1934 und 1935. 304 Claassen an Brenner, 4.2.1936.

3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien schen Qualität eines Manuskript, um eine Publikation bemühten. Claassens wenn auch durchaus zurückhaltend vorgebrachtes Interesse für Musils dritten Band des Mann ohne Eigenschaften im Jahre 1938 ist dafür ebenso ein Beispiel wie ein Jahr zuvor das Engagement für den ersten Teil des Holzschiffs des auf Bornholm lebenden Hans Henny Jahnn,305 von dem sie sich »ganz außerordentlich beeindruckt« zeigten und das für Claassen »zu den besten Manuskripten« gehörte, die ihm »seit Jahren vorgekommen«306 seien. Mit ihrer Zusage an Jahnn bewiesen sie zunächst, daß sie persönlich auch einer Schreibweise gegenüber offen waren, die in einer unvermittelteren Art und Weise von expressionistischen Einflüssen geprägt war, als dies bei den jüngeren Autoren der Fall war. Ihre Beurteilung des Manuskripts zeigte allerdings von Anfang an eine große Unsicherheit angesichts möglicher negativer Rektionen auf eine Veröffentlichung unter den gegebenen politischen Verhältnissen. (Vgl. Kap. 3.4.2)

Abwehr von »Abstraktion« und »zu viel Reflexion«: Die Forderung nach »Naivität« In der brieflichen Diskussion über die Konstruktion des Mittelteils von Horst Langes Schwarzer Weide im Frühjahr 1936, an der sich als »Fürsprecher« Langes Ehefrau Oda Schäfer-Lange und offensichtlich auch Freunde wie Elisabeth Langgässer, ihr Ehemann Werner Hoffmann und Peter Huchel307 engagiert beteiligten, wurden die poetologischen Präferenzen Claassens etwas deutlicher benannt. Claassen hielt den zweiten Teil des Romans308 »in der jetzigen Form für eine Sackgasse«309. Er argumentierte gegen eine in seinen Augen mangelnde Balance zwischen dem kritischen Vermögen des Autors und dem »nachtwandlerisch Naive[n]«, von dem Claassen glaubte, daß »diese Art der Darstellung Horst Lange vielleicht näher« stehe: Der zweite Teil wirke im Verhältnis zum ersten »unbalanciert, gezwängt, ich-monoman«; er bedeute einen »Absturz ins Vage und übertrieben Monologische«310. Oda Schaefer-Lange, die dieses Monologische des Zwischenteils als »kompositionelles Experiment« und »eine für die moderne Epik glückliche und neue Lösung«311 verteidigte, polemisierte gegen Claassens differenzierte Argumentation: Ihm gehe es bei seiner Kritik vor allem um die fehlende Handlung und damit letztlich darum, daß »vieles direkt gesagt« werde; er habe dagegen »denselben Widerwillen [...] wie die Flaubert-Anhänger«. Dieses »direkte Sagen« aber sei durchaus

305 Hans Henny Jahnn hatte den Verlegern am 15.1.1937 seine im Jahr zuvor geschriebene »Novelle von reichlich 250 Schreibmaschinenseiten« unter dem Titel »Das Holzschiff« angeboten. 306 Claassen an Jahnn, 5.3.1937. 307 Die Briefe der Freunde sind im Verlagsarchiv nicht erhalten. – Alle drei würden »direkt und nicht auf dem Umweg über theoretische Erwägungen auf Prosa« reagieren (Lange an Claassen, 4.6.1936). 308 Der dritte Teil war zu diesem Zeitpunkt erst skizziert. 309 Claassen an Oda Schaefer, 27.5.1936 (In Büchern denken, S. 284). 310 Claassen an Oda Schaefer, 27.5.1936 (S. 285). 311 Oda Schaefer an Claassen, 26.5.1936 (S. 284).

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs möglich, nur gehöre »viel Mut dazu, gegen den Aberglauben der Jahrhundertwende von den indirekt eingekleideten Intentionen des Dichters vorzugehen«312. In dieselbe Richtung wie bei Lange zielte auch Claassens Kritik an dem ersten Kapitel eines Romans313, das Hans Georg Brenner dem Verleger im Januar 1937 zur Beurteilung zugeschickt hatte. Claassen monierte die »betonte Sachlichkeit der Schilderungen«, die für sein Gefühl »allzu trocken dargelegt« waren, kritisierte »das Konstruierte der Fabel« und eine fehlende »naive [...] Bindung an den Stoff« und forderte, das »Absichtslose«314 müsse dem Roman erhalten bleiben: »Ich habe das Gefühl, als ob das »Wissen um«, das Ihnen als Autor zukommt, Sie oft zwänge, von ihm Gebrauch zu machen, wo es nicht notwendig ist. Das gilt z. B. für die monologische Seite in Andreas. Das gilt aber auch für die anderen Figuren, die immer ein Stück Naivität in dem, was sie tun, besitzen und selbst auch Geschobene und nicht nur Schiebende sind.«315 Brenner reagierte verbittert; besonders den Einwand fehlender Naivität wies er weit von sich. In seiner Antwort beschrieb er emotionsgeladen sein Lebensgefühl als das seiner Generation, das er in ein poetologisches Credo münden ließ: »Der Einwand fehlender Naivität wird heute oft erhoben; er kommt – verzeihen Sie – meines Erachtens aus einer künstlich herbeigeführten historisch falschen Stifter-Renaissance. Wir haben uns glaube ich im Zusammenhang mit den Briefen über die Berechtigung einer zu fordernden Naivität unterhalten. Ich bestreite diese Naivität. Sie ist in unserer Gesellschaft, wo immer Menschen in einer modernen Gemeinschaft leben, nicht mehr existent. Wir leiden an unserer Bewußtheit.«316 In seinem Antwortbrief bemühte sich Claassen um eine Vermittlung zwischen den in seinen Augen nur scheinbar extremen Positionen: Für ihn sei »niemand ein nur Schiebender und auch niemand ein nur Geschobener«, und auch das Bestreiten jeglicher Naivität schien ihm »eine künstliche und theoretische Position« zu sein: »Auch hier müssen sich die kontrollierenden und die unbewußten Kräfte die Waage halten. Anders kann ich mir eine künstlerische Arbeit schwer vorstellen. Bei aller Reflektiertheit ist auch die moderne Gesellschaft noch weit naiver als der erste Anschein glauben macht. Es gibt keine menschliche Handlung und auch kein menschliches Gefühl, sei es so bewußtseinsbelastet wie immer, das nicht auch noch eine naive Seite hat.«317 Bei seiner Kritik ging es Claassen vor allem um die Lebendigkeit und Spontaneität des Erzählflusses, auf der er den Autoren gegenüber beharrte. Im Falle Brenner kollidierte diese Forderung nach einem »Stück Elan«318 mit dessen Lebensgefühl.

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312 Oda Schaefer an Claassen, 26.5.1936 (S. 284). 313 Brenners Romanentwurf u. d. T. »Die Zuschauer« blieb in der Folge jahrelang liegen; es handelt es sich um eine Vorstufe des unter dem Arbeitstitel »Die Geretteten« nach dem Krieg vom Autor beendeten Romans, den Brenner Anfang Januar 1948 Claassen zuschickte. Zehn Jahre hatte er ihn mit sich herumgetragen (so Brenner an Claassen, 2.1.1948). Nach erneuter Überarbeitung erschien er 1950 im Claassen Verlag u. d. T. »Das ehrsame Sodom«. (Nr. 163) 314 Claassen an Brenner, 4.1.1937 (In Büchern denken, S. 94 – 95). 315 Claassen an Brenner, 4.1.1937 (S. 94). 316 Brenner an Claassen, 5.1.1937 (In Büchern denken, S. 96). 317 Claassen an Brenner, 8.1.1937 (In Büchern denken, S. 98). 318 Claassen an Brenner, 8.1.1937.

3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien In der Korrespondenz mit den Autoren beharrte er in der Regel auf einer Homogeneität der ästhetischen Darstellungsform und plädierte, wie er es fast zwanzig Jahre später in einem Aufsatz über Die verlorengegangene Naivität formulierte, für einen »freie[n] natürliche[n] Fluß der Erzählung, kurz die Naivität«319. Eine derartige Prioritätensetzung barg allerdings durchaus auch die Gefahr eines verlegerischen Fehlgriffs. Bei der Entscheidung für den Roman Konrad Wildhagens jedenfalls waren Claassen und Goverts offensichtlich dem ersten positiven Eindruck von dessen »Fabulierkunst« erlegen. Claassen selbst war über den Vertrag schließlich »unglücklich«: In Briefen an seine Frau gestand er nicht nur, daß die »Mischung von begabt, ja routiniert und niveaulos« ihm »peinlich«320 sei; für ihn war der Roman »Talmi«.321

»Tendenz« So vage die zitierten Diskussionen mit Barth, Lange und Brenner letztlich verliefen, so machen sie doch deutlich, daß die Lektoratsarbeit von bestimmten normativen Vorstellungen von einer Romantechnik dominiert wurde, deren Vorbild die großen bürgerlichen Romane des 19. Jahrhunderts waren. Der Vorliebe für eine erzählerische Naivität, die sich im »freien, natürlichen Fluß der Erzählung« zeigen sollte, entsprach die Skepsis gegenüber Reflexionen und Interpretationen, seien sie den Personen der Handlung als Monologe in den Mund gelegt oder in Erzählerrede vermittelt. Claassen brachte seine eigene hartnäckige Kritik an solchen monologischen Passagen, in denen »zuviel direkt gesagt« statt gezeigt oder dargestellt würde, auf den Begriff der »Tendenz« und bediente sich dabei mit entwaffnender Unbekümmertheit jenes Terminus aus den literarischen Debatten der Endphase der Weimarer Republik,322 den die nationalsozialistische Literaturpolitik bei ihrer Unterdrückung der sozial engagierten Literatur mittlerweile zum Kampfbegriff erhoben hatte. Die gesellschaftlichen und literarischen Debatten der späten Weimarer Republik und der politische Sieg des Nationalsozialismus hatten bei vielen liberalen Intellektuellen zur Verstärkung ohnehin vorhandener konservativer Ansätze geführt, auch und vor allem zu einem Konservativismus ästhetischer Auffassungen und damit der literarischen Form. An der Durchsetzung dieses Geschmackswandels hatten auch die Verleger Anteil. Nur in diesem Kontext ist innerhalb des H. Goverts Verlags die Herausgabe der phantastischen Erzählung Stocks zu erklären, in der versucht wird, das gleichsam Schwerelose einer zeitabgehobenen »romantischen Ironie« zu imitieren,323 vor allem 319 Claassen: Die verlorengegangene Naivität (1952). In: In Büchern denken, S. 631f. 320 Claassen an Hilde Claassen, 30.7.1938: »[...] dabei fürchte ich, daß es nicht eimal einen populären Erfolg haben wird.« 321 Claassen an Hilde Claassen, 27.7.1938. 322 Vgl. exemplarisch Berlin – Provinz. Literarische Kontroversen um 1930 (MM 35/1985). 323 Vgl. dazu Ulrich Christoffel: Deutsche Innerlichkeit (1940), darin: Das Heitere. – Claassen selbst hatte in einem Brief an seine Frau vom 16.2.1936 schon früh seine ambivalente Haltung gegenüber dem Buch Stocks deutlich gemacht: »Zur Belebung des reizenden, aber vielleicht etwas dummen Buches habe ich an Zeichnungen gedacht [...].« – Sowohl Brenner wie Lange polemisierten nach Erscheinen gegen die Veröffentlichung: Lange zeigte sich verwundert, warum Claassen seine Arbeit, sein Geld und seinen Namen »in eine derart niedlich-unsinnige Belanglosigkeit wie den Brotzipopel investiert« habe (Lange an Claas-

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs aber die Hinwendung zu historischen Themen und die Teilnahme an der zeitgenössischen »Mode« der Kindheitserinnerungen. Die Grenzen zu einer Art Bekenntnisliteratur waren gerade bei dieser wesentlich autobiographisch fundierten Dichtung fließend, allerdings auch bei den Entwicklungsromanen, die stark vom eigenen Lebensgefühl der jungen Autoren geprägt waren. Hier lag auch der Ansatzpunkt häufiger lektoratsinterner Kritik. Immer dann, wenn persönliche Motive des Autors als Meinungen oder Überzeugungen des Erzählers oder in Form von monologischen Reflexionen der Protagonisten allzu deutlich offenbar zu werden drohten, wurden ästhetische Gegenargumente ins Feld geführt. Es liegt nahe, daß die in der Verlagskorrespondenz sibyllinisch angedeutete Kritik der Verleger sowohl an Wolfgang Koeppen324 wie auch an Stefan Andres325 in diesem Zusammenhang anzusiedeln ist.326 Für Claassen kamen autobiographische Romane, in denen existentielle Lebensfragen direkt thematisiert wurden, nicht infrage. Bei der Beurteilung von Bastian Müllers Die Eulen327 traten in der Korrespondenz unterschiedliche Auffassungen der beiden Verleger hinsichtlich der dichterischen Qualität des ersten Romans dieses jungen Schriftstellers zutage; dabei setzte sich Claassen mit seiner ablehnenden Haltung durch. Während Goverts in einem Brief an Lange bekannte, der Roman habe ihn »in seiner klaren, einfachen Sprache, die kein unechtes Bild, kein falsches Pathos kennt, sehr erregt«328 und noch zwei Jahre später behauptete, Bastian Müller sei ihnen vom Verlag Wolfgang Krüger »weggeholt«329 worden, war Claassen nach Erscheinen des Romans erleichtert, das Buch nicht veröffentlicht zu haben.330

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sen, 7.1.1937), und Brenner kritisierte, Stock habe vielleicht eine solche von Claassen eingeforderte Naivität vorgeschwebt; sie sei notgedrungen literarisch und innerlich wie äußerlich unwahrhaftig geraten« (Brenner an Claassen, 5.1.1937 – In Büchern denken, S. 97). Claassen an Brenner, 27.3.1936: Er werde ihm gern bei ihrem nächsten Zusammensein auseinandersetzen, was ihm an den Romanen ›Eine unglückliche Liebe‹ und ›Die Mauer schwankt‹ »im tiefen Sinne mißfällt«. Goverts an Seelig, 19.9.1940: Sie hätten sich lange um Stefan Andres bemüht, hätten auch versucht, seinen ersten Roman ›Der Mann von Asteri‹ »umzuformen«, was aber nicht gelungen sei; dann hätten sie sich zurückgehalten. – Der Roman war 1939 bei Riemerschmidt in Berlin erschienen. Vgl. die zeitgenössische Rezension zu Wolfgang Koeppens: »Die Mauer schwankt« von Karl Zimmermann in der Frankfurter Zeitung/Literaturblatt 68 (1935) 47, S. 7 vom 24.11.1935: »Und anstatt Wahrheiten, wie sie von jenem [Herrn von Süde] gemeint sind, durch die Vorgänge der Erzählung selbst, auf konkrete, symbolhafte, unverrückbare Weise, offenbar werden zu lassen, fügt er seiner Erzählung hie und da und vor allem am Schlusse Meditationen hinzu, die sich als Fremdkörper im lebendigen, pulsenden Leib des Romans ausnehmen.« Claassen hatte Bastian Müller und Manfred Hausmann im März 1936 in Worpswede kennengelernt und im Brief an seine Frau als »sehr nett« charakterisiert. (Claassen an Hilde Claassen, 18.3.1936) – Der Roman erschien im Frühjahr 1939 bei Wolfgang Krüger. Goverts an Lange, 15.5.1939. Goverts an Seelig, 3.1.1941: »[...] eine außerordentlich begabte Novelle«. Als Ganzes sei das Buch »doch unreif und schwach, trotz hervorragender einzelner Abschnitte. [...] der Ruf nach dem Sinn des Lebens kindisch.« (Claassen an Hilde Claassen, 11.6.1939. – Vgl. auch das vernichtende Urteil Landahls in seinem Gutachten über ein Ro-

3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien Vermutlich hatte letztlich auch bei der Ablehnung von Brenners Manuskript Unter vier Augen, das Claassen dem Autor Anfang Oktober 1935 zurückgesandt hatte, die Skepsis der Verleger gegenüber der durchgängig bekenntnishaft-reflexiven Anlage des Werks den Ausschlag gegeben. Claassen betonte zwar, ihm seien durch Brenner »Verhaltens- und Beurteilungsweisen« erst deutlich geworden, die für dessen Generation »als symptomatisch angesprochen werden dürften«; alles sei aber zu sehr »auf einen Ton gestimmt«331. Claassens in der Regel ästhetisch begründete Skepsis gegenüber jeder eindeutig als These zu bestimmenden Aussage innerhalb eines fiktionalen Werks ist durchaus im Zusammenhang mit der offiziellen nationalsozialistischen Polemik gegen die sogenannte Tendenzliteratur zu sehen. Wenn diese sich auch vor allem gegen die sozialkritische Literatur der Weimarer Republik richtete, so mußte Claassen sich doch der politischen Gefahr bewußt sein, die auch in der fiktionalen Literatur in jedem als eindeutig bestimmbaren Urteil oder Bekenntnis enthalten war. Eine eindeutige Aussage barg tendenziell die Möglichkeit eines politischen Angriffs, da sie eventuell – nach nationalsozialistischem Sprachgebrauch – als Teil einer »Weltanschauung« identifizierbar war. Die ängstliche Abwehr aller literarischen Mittel, mittels derer eine »Tendenz« des jeweiligen Werkes interpretierbar erschien, ging somit einher mit der Verabsolutierung eines »naiven« Erzählens, das als »frei« und »natürlich« beschrieben wurde. Die politische Brisanz einer zweifellos ungewollten Übereinstimmung nicht nur mit den ästhetischen Vorstellungen der Kulturkonservativen,332 sondern sogar mit denen tonangebender Literaturwissenschaftler aus dem nationalsozialistischen Lager333 schien auf, als Horst Lange bei seinem engagierten Eintreten für den Romanentwurf Brenners von seinen Verlegern eine »hohe, verantwortungsvolle Verpflichtung [...] gegenüber dem inoffiziellen Schrifttum« einforderte und ihnen im Affekt vorwarf, auch bei ihnen machten sich »bereits die Anzeichen dafür bemerkbar [...], daß die berüchtigten ›Forderungen der Zeit‹ das unvoreingenommene Urteil über Kunstwerke zu trüben beginnen«334. Wenn Langes Unterstellung auch stark zugespitzt erscheint, so belegt sie doch die Sensibilisierung einzelner Autoren für Überschneidungen der verlagsintern diskutierten Darstellungsformen mit quasi offiziellen ästhetischen Forderungen nationalsozialistischer Literaturpolitik. Daß Claassen und Goverts den Hinweis auf solche Parallelen zurückwiesen, ist nicht erstaunlich. Ihre eigenen Vorstellungen von einer zu fordernden Naivität werden sie allerdings wohl eher mit solchen zeitgenössischen Überlegungen wie denen Wolf-

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manmanuskript Hansgeorg Maiers: »Noch ein Roman um den nirgends verwurzelten Jahrgang ca. 1903. [...] Eine vier Seiten lange Ouvertüre beklagt in feierlichen Worten Not und Schicksal dieser ganzen Generation. [...] In sprachlicher Hinsicht ist die Lektüre eine Qual.« (Heinrich Landahl: Gutachten Hansgeorg Maier, Glaube und Beständigkeit, 9.11.1938) – Das Buch erschien u. d. T. »Glück und Erfüllung« bei Stalling. Claassen an Brenner, 3.10.1935. Vgl. z. B. die zeitgenössische Literaturgeschichte von Paul Fechter: Die deutsche Literatur vom Naturalismus bis zur Literatur des Unwirklichen (1938). Vgl. z. B. Langenbucher: Volkhafte Dichtung der Zeit (1937). Lange an Claassen, 7.1.1937.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs gang Müllers zum naiven Roman335 zur Deckung gebracht haben. Wie auch immer eine solche eindeutige Präferenz einer bestimmten Erzählform hergeleitet wurde, die Claassens und Goverts’ persönlichem Geschmack ohnehin nahekam: In den verlagsinternen Diskussionen wurde sie von den Verlegern unter dem Einfluß der politischen Verhältnisse verabsolutiert.

Das Epische Daß solche Vorstellungen, die einhergingen mit der Bevorzugung der Erzählperspektive eines allwissenden Autors, fließende Übergänge zu jenen Formen der Epik besitzen, wie sie sich in den Nationalliteraturen besonders der skandinavischen Länder im 19. Jahrhundert herausgebildet haben, liegt auf der Hand. Vor diesem Hintergrund ist die verlagsinterne Hochschätzung Olav Duuns zu verstehen, die exemplarisch an Hilde Claassens Gutachten zu der im Herbst 1939 erschienenen Übersetzung des Romans Gott lächelt deutlich wird: »Es wird mit einer großen Selbstverständlichkeit, Gelassenheit und Lebendigkeit erzählt. An irgendeiner Ecke des breiten und vollen Lebens wird angefangen, an irgendeiner anderen wird aufgehört. Geburt und Tod, Liebe und Haß, Tugend und Laster und alles, was an Schicksal, Verhängnis, Gewaltsamkeit hiermit verbunden ist, das wird mit der gleichen Ruhe und Umständlichkeit erzählt wie die kleinen und nebensächlichsten Begebenheiten [...].«336 Angesichts einer solch positiven Würdigung des sogenannten Saga-Stils der skandinavischen Literatur hat die kritische Beurteilung z. B. des Finnen Joel Lehtonen eine gewisse Plausibilität. Hilde Claassen kritisierte an dem Roman Putkinotko337, der den Verlegern von Wolfheinrich von der Mülbe empfohlen worden war, vor allem das Fehlen einer Handlung. Wenn es in diesem Fall der konsequente Verzicht des Autors auf eine Erzählung im eigentlichen Sinne war, weshalb für die Gutachterin das Manuskript »nicht infrage«338 kam, so war es bei E. M. Forsters Howards End339 die Charakterzeichnung in der »vom Intellekt beherrschten Prosakunst« des Engländers: Die Figuren blieben für Hilde Claassen bis auf die beiden Protagonistinnen »merkwürdig schemen-

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335 Müller: Zivilisationsroman und naiver Roman. In: Die neue Rundschau (1939) 12, S. 456 – 460. Den bei Schiller konträr gesetzten Begriffen von Naivität und Reflexion hatte der junge Literaturwissenschaftler in einer Sammelrezension neuerschienener Romane die Forderung nach einer »höheren Naivität« im Sinne Goethes und Hamsuns entgegengestellt, die »das Ganze der Welt« enthalte. (S. 458) 336 Hilde Claassen: Gutachten Olav Duun, Gott lächelt (o. D.). 337 Die schwedische Übersetzung des 1919/1920 erschienenen Romans Lehtonens, eines hinsichtlich seiner nationalen Selbstkritik und kompositorischen wie stilistischen Konsequenz geradezu klassischen Werks der finnischen Literatur, war 1935 herausgekommen. 338 Hilde Claassen: Gutachten Joel Lehtonen, Putkinotko (o. D.). 339 Das neben »A Passage to India« wohl bedeutendste Werk Forsters, das wie die meisten seiner Romane die Überwindung der Schranken zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Lebensstils thematisiert, war bereits 1910 erschienen.

3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien haft, mehr aus dem Reflektieren heraus entstanden als aus der Anschauung oder Erfahrung, Repräsentanten bestimmter Ideen, ein wenig unoriginell und unlebendig.«340 Ex negativo setzte sich damit in ihrem Gutachten die lektoratsinterne Hochschätzung einer Darstellungsform durch, die die Forderung des »Absichtslosen« auch für die Schilderung der Charaktere aufrechterhielt.

Ein »Fundamentalstück unserer Bemühungen um junge Literatur«: Horst Langes »Schwarze Weide« So deutlich die internen Gutachten die Schwierigkeiten der Verleger bei der Suche nach Manuskripten belegen, die ihren ästhetischen Forderungen nach dem »großen« Roman entsprachen, so sehr machen die kontroversen Diskussionen mit den Autoren offenkundig, daß Claassen und Goverts sich keineswegs immer mit ihren Vorstellungen durchsetzen konnten. Wenn auch nicht wenige Manuskripte dadurch für den Verlag ausfielen, so gibt es dennoch genügend Beispiele für die Bereitschaft der Verleger, letzlich die von den Autoren verteidigte Darstellungsform – wie im Fall des Mittelteils von Langes Schwarzer Weide341 – oder auch kürzere Formen zu akzeptieren, wie im Fall Benton342. Langes »dichterische Potenz« stand für Claassen auch während der intensiven Diskussionen um die Funktion des Mittelteils »außer Frage«343. 1947, zehn Jahre nach dem Erscheinen des Romans, bekannte Claassen dem Autor, er habe »die Schwarze Weide stets als Fundamentalstück unserer Bemühungen um heutige Literatur betrachtet [...]«.344 Bis zum Ende des Krieges erhielt Lange mit drei weiteren Werken nicht nur von der Anzahl der Publikationen unter den jungen Autoren im H. Goverts Verlag das stärkste Gewicht.345 Im Mai 1944 bescheinigte ihm Claassen, er halte ihn »für einen unserer wichtigsten Autoren«346. Mit seiner traditionell perspektivischen Erzählweise, bei der das Geschehen linear entwickelt und von einem souveränen Standpunkt aus auf einen Fluchtpunkt hin erzählt wird, entsprach Lange auch hinsichtlich seines Erzählstils weitestgehend den Vorstellungen der Verleger von einem »naiven« Erzählen. Gleichzeitig waren sie der Überzeugung, daß Langes Detailgenauigkeit und Beschreibungsintensität eine ganz eigene poetische Qualität besaß. Im Börsenblatt 340 Hilde Claassen: Gutachten E. M. Forster, Howards End (o. D.). Das Gutachten (vermutlich 1939) endet mit der Feststellung, das Buch dürfte »für den Goverts Verlag kaum in Frage kommen«. 341 Tatsächlich erschien der Mittelteil der »Schwarzen Weide« als »Zwischenspiel« in der von Lange konzipierten Form. – Barth gegenüber konnte sich Claassen denn auch eine kritische Bemerkung nicht verkneifen: Langes Roman sei »eine außerordentliche Talentprobe, die durch einige Mängel im Aufbau nicht außer Kraft gesetzt wird.« (Claassen an Barth, 20.10.1937) 342 Claassen an Benton, 26.1.1937: Der relativ geringe Umfang des Manuskripts »Tarpan« liege »noch unter der Norm, die für ihre Publikationen in Frage« käme. 343 Claassen an Oda Schäfer, 27.2.1936 (In Büchern denken, S. 284). 344 Claassen an Lange, 24.3.1947. 345 Horst Lange: Ulanenpatrouille (1940). (Nr. 36); Das Irrlicht. Erzählung (1943). (Nr. 58); Die Leuchtkugeln. Drei Erzählungen (1944). (Nr. 65). – Diese Gesamtanzahl von Veröffentlichungen erreichte neben ihm nur Emil Barth. 346 Claassen an Lange, 16.5.1944.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde Lange bei Erscheinen der Schwarzen Weide als »ein neuer Dichter von ungewöhnlicher epischer Kraft«347 angekündigt. Claassen schien es im März 1944 »fraglos, daß Sie nicht nur zu den erfolgreichen jüngeren Autoren gehören, sondern daß Sie als Prosaist und Dichter schon eine Art Vorbild, ja ein Maßstab geworden sind«348.

3.3.3 Europäischer Bildungsanspruch: »Symptomatisches« und »höhere Aktualität« Der früh geäußerte Anspruch, die eigene Verlagsarbeit an einer »der deutschen Tradition entwachsene[n] humanistische[n] Linie«349 zu orientieren, läßt sich nicht nur an den Auswahlkriterien für Übersetzungsliteratur überprüfen. Besonders deutlich wird diese nur vage bestimmte programmatische Linie bei den Lektoratsentscheidungen innerhalb des geistes- und kulturwissenschaftlichen Programms, gleichgültig, ob die Monographien von deutschsprachigen Autoren verfaßt oder aus anderen Sprachen übertragen waren. Die Verleger verstanden ihre Bemühungen im Kontext eines europäischen Bildungsanspruchs. Er umfaßte die Kenntnis kultureller Zeugnisse jener Nationen in Mitteleuropa, die in enger Verbindung zu einer sich als abendländisch verstehenden Tradition standen.

Das »Symptomatische« als Auswahlkriterium für Übersetzungsliteratur In einem Brief an den norwegischen Rechtsanwalt Eilif Moe, der innerhalb der Kanzlei Thallaug & Moe in Lillehammer auf die Vermittlung norwegischer Literatur spezialisiert war und zu dem die Verleger auf Empfehlung des Cassirer-Lektors Max Tau im Herbst 1936 Kontakt aufgenommen hatten, formulierte Claassen als ihr Verlagsprogramm, sie wollten »die dichterische Qualität und die großen symptomatischen Werke herausgeben«350. So vage diese Selbstcharakterisierung war – dahinter stand der Wunsch nach Büchern, die repräsentativ für die Literatur des jeweiligen Herkunftslandes stehen sollten, insofern sie thematisch oder auch stilistisch als charakteristisch für wichtige Strömungen in der jeweiligen nationalen Kultur angesehen werden konnten. Gleichzeitig, auf jeden Fall aber nur indirekt, im Sinne einer »höheren Aktualität«, sollten sie dem zeitgenössischen deutschen Leser sowohl Zusammenhänge innerhalb einer gesamteuropäischen Kultur nahelegen als auch den Blick auf nationale Besonderheiten in der Literatur anderer Länder ermöglichen, die durchaus auch als Spiegel für die deutsche Gegenwart dienen konnten. Die Planungen innerhalb des belletristischen Programmbereichs zeigen zwar eine gewisse Bandbreite; von dem Programm einer »ausländischen Romanbibliothek«, wie

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Börsenblatt 104 (1937) 237, S. 4689. Claassen an Lange, 16.5.1944. Goverts an Langgässer, 23.11.1934. Claassen an Moe/Rechtsanwaltskanzlei Thallaug & Moe, 22.10.1936 (Cl.A./Duun).

3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien es Goverts mit Hans Schiebelhuth 1935 in Angriff nehmen wollte,351 blieb bis 1939 allerdings nur wenig übrig. Die Schwierigkeiten, rechtzeitig von geeigneten ausländischen Neuerscheinungen zu erfahren, gar an Leseexemplare und Optionen zu gelangen, nahmen in den wenigen Jahren bis zum Beginn des Krieges, der einen Einschnitt grundsätzlicher Art darstellte, kontinuierlich zu. Direkte, persönliche Kontakte ins Ausland wurden von Jahr zu Jahr seltener. Im Jahre 1935 war Claassen das erste und letzte Mal für den neugegründeten Verlag352 ins westliche Ausland gereist, hatte in Belgien und Frankreich persönliche Verlagskontakte geknüpft, war in Italien und England gewesen und hatte von diesen Reisen auch Übersetzungsverträge mitgebracht. Reisen ausschließlich beruflicher Art in diese Länder unternahm er in den folgenden Jahren nicht mehr. Am Internationalen Verlegerkongress im Juni 1936 in London nahmen weder er noch Goverts teil.353 Lediglich nach Österreich fuhr Claassen zwei- oder dreimal;354 Bermann Fischer berichtet von einem heimlichen Treffen im November 1938 in Kopenhagen.355 Ob Claassen bei diesen seltenen Reisen auch Anregungen für Übersetzungsliteratur erhielt, geht aus den Verlagsunterlagen nicht hervor, ist aber anzunehmen.356 Wahrscheinlich ist ebenfalls, daß Goverts von seinen Reisen in die Schweiz Empfehlungen mitbrachte. Zur Klärung der Frage, von wem die Verleger Hinweise auf neuerschienene ausländische Literatur erhielten, gibt die Verlagskorresponden nur unzureichende Informationen. Sicher kamen manche Anregungen von Richard Moering,357 der offiziell nach Frankreich übergesiedelt war und mit dem Claassen während seiner Besuche nach Deutschland Kontakt hielt,358 ebenfalls von Carl Seelig aus der Schweiz. In den Briefen an seine Frau von seinen Verlagsreisen durch Deutschland berichtete Claassen von vielen privaten Besuchen. Andere Namen tauchen in der Korrespondenz mit Autoren ab und zu auf: so z. B. Hans Zehrer und Hans Hennecke, die schließlich für den Verlag auch als Übersetzer aus dem Englischen und Französischen tätig wurden, Kyra Dohrenburg-Jakstein, die Gutachten über norwegische Bücher erstellte, und ab 1938 Egon Vietta, der als Kenner der italienischen Literatur hinzugezogen wurde. Sicherlich bestanden in den ersten Verlagsjahren

351 Der Brief Schiebelhuths vom 26.6.1935, nach dem Manfred Schlösser als Herausgeber der Reihe »Agorà« am 13.5.1965 brieflich bei Henry Goverts anfragte (Cl.A./Goverts-Claassen) und in dem von weitreichenden Planungen die Rede gewesen sein muß, ist leider nicht erhalten. 352 Die Reisen im Frühsommer 1936 nach Spanien und im Mai 1937 nach Korsika dienten allein der Erholung und dem Zusammensein mit alten Freunden, dem Architekten Gerhard Planck und seiner Frau Else. 353 Vgl. den Artikel »Der Internationale Verleger-Kongreß 1936«. In: Börsenblatt 103 (1936) 161, S. 629 – 631. 354 Das letzte Mal war Claassen im Frühsommer 1938 in Österreich; dort traf er z. B. Broch kurz vor dessen Abreise ins amerikanische Exil. 355 Vgl. Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 178. 356 Seiner Frau berichtete er brieflich aus Linz, er sei in Wien »von morgens bis abends unterwegs, um sich zu orientieren und Sympathie für den Verlag zu wecken.« (Claassen an Hilde Claassen, 21.9.1937) 357 Goverts hatte im Januar 1935 angekündigt, er wolle ihn »als Lektor für englische und französische Bücher mit heranziehen« (Goverts an Moering, 8.1.1935). 358 »Was Kultur angeht, ein wirklicher Freund.« (Claassen an Hilde Claassen, 6.10.1936)

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs auch noch Kontakte zu verschiedenen ausländischen Agenturen.359 Vor allem aber scheinen sich die Verleger privat umgehört zu haben. In den ersten Verlagsjahren konzentrierten sich Claassen und Goverts auf wenige Herkunftsländer: auf Frankreich, auf Großbritannien und die USA, auf Italien360 und ab 1936, offensichtlich angeregt von Max Tau und den Möglichkeiten, die sich für sie aus der Schließung des Cassirer Verlags und Taus Vertrauen in sie ergaben, auf Norwegen. Dem engen Verständnis von einer europäischen Kultur, die neben Deutschland von den wenigen »großen« Kulturnationen Frankreich, Italien und England getragen würde, entsprach auch das fehlende Interesse an zeitgenössischer spanischer Literatur, obwohl Claassen noch kurz vor Beginn des Bürgerkriegs seinen Urlaub in Spanien verbracht hatte.361 Die Motive der Verleger bei der Auswahl der wenigen bis zum Sommer 1939 erschienenen Romanübersetzungen lassen sich aus den verschiedenen Quellen gut rekonstruieren. Die internen Gutachten belegen, welch wichtige Rolle der Stil eines Werks bei der Auswahl der Übersetzungsliteratur spielte. Stilistische Eigenheiten wurden nicht nur als nationaltypische Besonderheiten beurteilt. Die Gutachten legen nahe, wenn auch oft nur in Andeutungen, daß verlagsintern bestimmte Charakteristika eines Textes auch als positive Alternative zur Schreibweise eines Großteils der offiziell hofierten zeitgenössischen deutschsprachigen Autoren angesehen wurden. Das Gutachten Heinrich Landahls über den Roman der belgischen Autorin Marie Gevers z. B. hob einen »echten kraftvollen Stil« hervor, die Verbindung von »derbem Humor und zarter Einfühlung« und die »unmittelbare Lebensnähe und tendenz- und moralfreie Wahrhaftigkeit«; vor allem aber stellte er – noch pointierter, als es in einer späteren Börsenblatt-Anzeige362 formuliert war – die Besonderheit bei der Ausformung dieses Genres durch die belgische Autorin heraus: Es handele sich um »landschaftsgebundene Dichtung im besten Sinne des Wortes«363. Den Verlegern wird dieses Buch als positive Alternative zur sog. Blut- und Boden-Dichtung nationalsozialistischer Provenienz erschienen sein. Bei der Auswahl der Übersetzungsliteratur spielten in den Anfangsjahren zwei Themenbereiche eine entscheidende Rolle: zunächst vor allem eine als christlich verstandene abendländische Geschichte, später die Antike als Wurzel der abendländischen Kultur. Vereinzelt hat Claassen in der Korrespondenz der ersten Verlagsjahre von der Bedeutung gesprochen, die sie innerhalb ihrer Verlagsarbeit der Geschichte des Christentums einräumen wollten. Er wies zwar weit von sich, als katholischer Verlag angesehen werden zu wollen, doch sahen die Verleger gemeinsam, wie er an Irene Behn im Herbst 1935 schrieb, »im Dienst d i e s e s Christentums das wichtigste Element der abend-

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359 Über die Literarische Agentur einer Frau Wegner in Wien erhielten die Verleger z. B. im November 1937 ein Prüfungsexemplar von de Broglies »Matière et lumière«. 360 Für italienische Literatur hatten Claassen und Goverts in den ersten Jahren offensichtlich keine Gewährsleute. Claassens eigene Sprachkenntnisse waren eher gering. 361 Seit dem Eingreifen des Deutschen Reichs in den Spanischen Bürgerkrieg wären für die Verleger allerdings ohnehin Kontakte zu spanischen Verlegern aus politischen Gründen kaum infrage gekommen. 362 »Ein Roman vom Verhängnis der Liebe und vom Zauber der flämischen Landschaft«. In: Börsenblatt 102 (1935) 287, S. 6451. 363 Landahl: Gutachten Marie Gevers, Madame Orpha (18.3.1935).

3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien ländischen Geschichte. Wir würden gern dazu beitragen, Verständnis zu wecken.«364 Wenn er im Folgenden einschränkte, das könne »nur durch allgemein kulturelle Darstellungen geschehen«365, so waren damit bereits früh die Grenzen abgesteckt. Offensichtlich boten in ihren Augen aber gerade die beim deutschen Lesepublikum sehr beliebten historischen Romane366 eine gute Möglichkeit, die Rolle des Katholizismus innerhalb der Kulturgeschichte des Abendlandes als Thema zu lancieren. Die Veröffentlichung von Helen Waddells Peter Abälard und Alfred T. Sheppards Rom gibt, Rom nimmt aus dem Englischen entsprach nicht nur einer bewußten Orientierung an einer als abendländisch bezeichneten geistesgeschichtlichen Tradition, die ihre Wurzeln in der griechischen und römischen Kultur hat und deren Quintessenz in der Verschmelzung von Antike und Christentum im frühen Mittelalter liegt. Bei der Entscheidung für die beiden historischen Romane über zwei wichtige Epochen der abendländisch-christlichen Geistesgeschichte hatte ohne Zweifel das Thema eine entscheidende Rolle gespielt. Die Werbung für den Abälard stellte allerdings primär die Gattung »Liebesroman« heraus bzw. charakterisierte das Werk als »leidenschaftliches Buch ewiger Kämpfe«367, und bei Sheppards Rom gibt, Rom nimmt wurde der Hauptakzent ein halbes Jahr nach Erscheinen auf die »gewaltigen Machtkämpfe in der dramatisch bewegten Frühzeit der Renaissance«368 gelegt. Die zunehmende Zurückhaltung der Verleger bei der direkten Nennung dieser Themen aus der abendländisch-christlichen Geistesgeschichte im Laufe des Jahres 1937 wird ihren Grund in der offiziellen Zurückdrängung christlicher Themen gehabt haben. Die Verknüpfung von höchstem wissenschaftlichen Niveau und künstlerischer Darstellung wurde in der der Werbung wiederholt als vorbildlich und gleichzeitig indirekt auch als charakteristisch für die romanhafte Darstellung eines solchen Themas durch englische Historiker gepriesen: »Inmitten der literarischen Landplage der »historischen Romane««, so wurde eine Besprechung des Abälard im Stuttgarter Neuen Tagblatt zitiert, sei der Roman »frisches Quellwasser«369. Als symptomatisch für ein »neues, lebens- und weltoffeneres Frankreich«370 präsentierten die Verleger in der Börsenblatt-Werbung bei Erscheinen des kleinen Liebesromans Antigone oder Roman auf Kreta die französische Autorin Claire Sainte-Soline. Die Besinnung auf die gemeinsamen kulturellen Wurzeln Frankreichs und Deutschlands wurde als Möglichkeit eines Brückenschlag zwischen den beiden Nationen herausgestellt. Ein derart pointierter Hinweis auf den kulturellen Zusammenhang innerhalb Europas blieb in der Verlagswerbung singulär. Daß Claassen, wie vielen bildungskonservativen Intellektuellen 364 Claassen an Behn, 28.9.1935. 365 Claassen an Behn, 28.9.1935. 366 Von der Herbstproduktion 1936 z. B. waren nach Hellmuth Langenbuchers Auszählung und Prüfung von einhundertfünfzig Romanen »etwa hundert geschichtliche Romane«. (Langenbucher: Die Herbstproduktion 1936. In: Börsenblatt 104 (1937) 81, S. 314) 367 Verlagsankündigung Helen Waddell: Peter Abälard. In: Börsenblatt 102 (1935) 249, S. 5071. 368 Verlagswerbung Alfred T. Sheppard: Rom gibt, Rom nimmt. In: Börsenblatt 104 (1937) 230, S. 4442. 369 Börsenblatt 102 (1935) 286, S. 6427. 370 Börsenblatt 105 (1938) 244, S. 5787. – »Die Stimme eines neuen Frankreich!« In: Börsenblatt 106 (1939) 47, S. 1095.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs im Verlauf der dreißiger Jahre, die Hinwendung zu antiken Themen immer wichtiger wurde, deutete sich in einem Brief an Rudolf Bach im Frühjahr 1937 an, als er ihn darum bat, ihm seine »Nachdichtungen der Sappho« zu schicken: »Alle Versuche die Antike lebendig zu erhalten sind mir eine besonders wichtige Angelegenheit.«371 Mit der Entscheidung für die Publikation der Romane Margaret Mitchells und Howard Springs, denen Claassen, im Gegensatz zu Goverts, zunächst recht skeptisch gegenüberstand, wandten sich die Verleger jüngeren Epochen zu. Mit diesen Romanen partizipierte der H. Goverts Verlag an der zeitgenössischen Mode des bereits im 19. Jahrhundert beliebten Gesellschaftsromans. Die erfolgreichsten Romane dieser Gattung kamen seit Beginn des 20. Jahrhunderts aus eben diesen beiden Ländern. In einem frühen sechsseitigen Werbeprospekt für den »größten Buch-Welterfolg seit Jahren« priesen die Verleger Margaret Mitchells Vom Winde verweht als in jeder Hinsicht geglückte amerikanische Ausprägung dieses Genres. Der »Gesellschaftsroman großen Stils, in dem persönliche und Cliqueninteressen die merkwürdige Verwandlung zu einem bestimmten unverwechselbaren Kulturausdruck« erführen, sei zur Seltenheit geworden. Mit Gone with the Wind sei Amerika ein solcher Gesellschaftsroman »von wesentlicher Prägung« geglückt. Dem Roman wurde nicht nur »dieselbe Sinnfälligkeit« bescheinigt, die Tolstojs Krieg und Frieden »für das Rußland und Europa vor und nach Napoleon« besitze. Die mit »einer wohltuend naiven Erzählergabe« geschilderte Vorund Nachgeschichte der amerikanischen Sezessionskriege – »das tiefste, aber auch das fesselndste amerikanische Thema« – wurde zum repräsentativen Ausdruck eines »neuen Selbstbewußtseins« Amerikas stilisiert; gleichzeitig wurde aus der Amerika und Europa gemeinsamen Erfahrung des Weltkriegs die Bedeutung des Romans für »das heutige Mitteleuropa« abgeleitet. Schäfer hat in seinen Studien anhand vieler Beispiele belegt, daß von einer systematischen Abschottung des deutschen Buchmarkts von ausländischer Literatur bis zum Beginn des Krieges keine Rede sein kann.372 Er hat dabei auch auf die großen Erfolge vor allem englischer Kriminal- und Gesellschaftsromane bis zum Beginn des Krieges hingewiesen. Die kritischen Kommentare staatlicher und parteiamtlicher Dienstellen zu der vorgeblichen »Flut« von Übersetzungsliteratur und besonders der amerikanischen gehobenen Unterhaltungsliteratur setzten erst langsam ein.373 Sie ging zeitlich einher mit einer Verschärfung der Übersetzungskontrolle seit der zweiten Hälfte des Jahres 1937. Die Reaktionen Claassens und Goverts’ auf diese deutlich spürbare Verschlechterung der literaturpolitischen Rahmenbedingungen lassen sich in vielen Nuancierungen beschreiben. Dazu gehörte auch die offensive Präsentation vor allem der beiden amerikanischen und englischen Erfolgsromane, die im Fall Spring als extremes Beispiel für ein Agieren mit taktischem Kalkül zu erkennen ist. (Vgl. Kap. 3.4.1.) Bei der Suche nach Übersetzungsliteratur, der sie Chancen auf Genehmigung einräumten, fand eine vorsichtige Verschiebung auf andere Literaturen und Themenbereiche statt. Die Orientierung an der im Dritten Reich offiziell geförderten sogenannten »nordischen Literatur«, die innerhalb des HGV mit der Übernahme des Gesamtwerks des

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371 Claassen an Bach, 2.4.1937. 372 Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 12 – 17. 373 Vgl. bereits Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 195 – 198 sowie die bei Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, zitierten Quellen, S. 242.

3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien Norwegers Olav Duun einsetzte,374 deutete demgegenüber bereits früh einen alternativen Weg an, den sie, durchaus mit Zügen einer vorsichtigen Anpassung an die politisch erwünschte Richtung, zu gehen versuchten. Mit Duun, der sich, anders als Hamsun, politisch nicht durch lautstarke Bekenntnisse zum Dritten Reich exponiert hatte, übernahmen sie vom Cassirer-Verlag einen Autor, der in der Tradition der skandinavischen Saga-Literatur stand. Im H. Goverts Verlag wurde Olav Duun als für die norwegische Literatur neben Hamsun und Sigrid Undset repräsentativer Dichter375 angesehen, dessen Werke gleichzeitig eine Entwicklung seines Menschenbildes dokumentierten. Claassen hielt bereits Duuns Hauptwerk Die Juwikinger »ganz unabhängig von der ›Mode norwegische Literatur‹ für eines der bedeutendsten europäischen Bücher, das in den letzten Jahrzehnten geschrieben wurde«.376 Hilde Claassen pointierte ihre Beschreibung der Olsöyburschen auf die in ihren Augen positive Weiterentwicklung des Duun’schen Verständnisses vom »Heldischen«.377 Während es in den Juwikingern nicht abzulösen sei »von dem, was man Erfüllung eines Gesetzes« nennen könne, »eines Gesetzes, das Familien und Sippen mit ehernem Ring« umschließe, so zeige sich die Wandlung des Begriffs »hier zum ersten Mal im spontanen und elementaren Durchbrechen dieses Gesetzes, in einem Heraustreten aus der vorgeschriebenen Bahn, durch das der Mensch gleichsam sich selbst zurückgegeben wird. Denn stärker als die Gesetze des Blutes, stärker auch als die Gewalten der Natur und die Mächte des Schicksals sind die verborgenen Kräfte des menschlichen Herzens.«378 In der Werbung im Börsenblatt wurden bei Erscheinen der ersten Bücher im Herbst 1938 und im Frühjahr 1939 allerdings andere Akzente gesetzt: Olav Duun wurde als die »unbestritten neben Hamsun [...] wesentlichste Erscheinung nordischen Schrifttums in der Gegenwart« gefeiert, die Juwikinger erschienen als »Epos der Gemeinschaft, aus der die große Einzelpersönlichkeit hervorsteigt«379, und Die Olsöyburschen als Roman einer Verwandlung von vier jungen Männern, »ungebärdig und wild«380, durch die Liebe. Das, was die Verleger als das jeweils Symptomatische an einzelnen Büchern erkannten, gewinnt damit durchaus ambivalente Züge. Spätestens seit dem Frühjahr 1937 beschränkten sich die Verleger bei der Suche nach Übersetzungsliteratur nicht mehr auf die breit angelegte, vorsichtige aktive Suche innerhalb des geduldeten Rahmens. Ihre Beschäftigung mit japanischer Literatur im Sommer 1938 ist als Versuch anzusehen, im Rahmen einer offiziell geförderten Nationalliteratur nach belletristischen Werken zu suchen, die in ihre Linie paßten. In zeitlich auffälligem Zusammenhang mit dem bilateralem Kulturabkommen des Deutschen

374 Duun hatte 1936 von der Universität Hamburg den Hendrik-Steffens-Preis erhalten. – Vgl. Börsenblatt 103 (1936) 285, S. 1073. – Zur Würdigung Duuns vgl. Paul Großmann: Vom norwegischen Schrifttum der Gegenwart. 375 Zu Duun vgl. auch Max Tau: Olav Duun und seine »Juwikinger«. In: Der Kunstwart (1930), S. 85 – 92. 376 Claassen an Oswalt/Deutsche Buchgemeinschaft, 13.5.1938. 377 Hilde Claassen: Gutachten Olav Duun, Die Ölsöyburschen. Roman (o. D.). 378 Gutachten Olav Duun, Die Ölsöyburschen. 379 Verlagsankündigung Olav Duun: Die Juwikinger. In: Börsenblatt 105 (1938) 244, S. 5786. 380 Vgl. Verlagsankündigung. In: Börsenblatt 106 (1939) 69, S. 1827.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Reichs mit Japan im November 1938, wenige Monate vor Abschluß dieses Abkommens,381 begannen sie eine eigenständige Suche nach japanischer Literatur. Auf welchem Weg sie an die Prüfungsexemplare gelangt waren, geht aus den erhaltenen Quellen nicht hervor. Hilde Claassens Gutachten382 lagen die englischen Übersetzungen zugrunde. Während zwei Titel für sie aufgrund des Themas383 nicht infrage kamen, lobte sie Jun-Ichiro Tanizakis Novelle Ashikart and the story of Shunkin nicht nur aufgrund der Sprache, die »überaus klar, straff, sehr direkt und ohne jede Umschreibung«, bei allem Realismus aber »dennoch dichterisch« sei; sie pries das Buch als »höchst beachtliche psychologische Studie« und vor allem als »Spiegel für viele den Japanern eingeborene[n] Eigentümlichkeiten«. Den Ausschlag für ihr ablehnendes Gesamturteil, in das erneut das Kriterium des für die jeweilige Nationalliteratur »Symptomatischen« einfloß, gab letztlich ihre vehemte Kritik an der Darstellung einer für ihr Gefühl »überspitzten, überzüchteten, krankhaften Erotik«: Als Thema sei es »nicht voll und umfassend genug, um einen Zugang zu jener überaus vielgestaltigen Welt des geistigen Japan zu vermitteln«384. Das insgesamt negative Ergebnis ihrer Bemühungen mag die Verleger zunächst von weiteren Versuchen abgehalten haben, den offiziellen Forderungen nach sog. »Verständigungsliteratur« durch eigene aktive Suche nachzukommen. Daß sie zu den staatlichen Förderlisten, die in der Folgezeit im Zusammenhang der weiteren Kulturabkommen erstellt wurden, Distanz halten wollten,385 ist anzunehmen.

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381 Das bilaterale Kulturabkommen, das vom Auswärtigen Amt unter Mitwirkung des Reichserziehungsministeriums und des Propagandaministeriums ausgehandelt wurde, stammte vom 25.11.1938. Es gibt keine Anhaltspunkte im Verlagsarchiv, daß sie sich in der Folge der weiteren Kulturabkommen mit Ungarn (28.5.1936), Italien (23.11.1938) und Spanien (24.1.1939) in den Vorkriegsjahren näher mit ungarischer oder spanischer Literatur beschäftigt hätten. Für beide Literaturen begannen die Verleger sich erst ab 1941 zu interessieren. – Vgl. Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 285f. sowie Barbian: »Kulturwerte im Zeitkampf«. 382 Hilde Claassen: Gutachten Kin-No-Suke Natsume, Botchan; Gutachten Soseki Natsume, Unhuman Tour; Gutachten Jun-Ichiro Tanizaki, Ashikart and the story of Shunkin (alle drei datiert vom 5.7.1938). 383 Kin-No-Suke Natsumes Botchan handele von den Erfahrungen eines jungen Lehrers in der japanischen Provinz (Gutachten). 384 Hilde Claassen: Gutachten Jun-Ichiro Tanizaki, Ashikart and the story of Shunkin (5.7.1938). 385 Über die literaturpolitischen Absichten der bilateralen Abkommen wurden die deutschen Verleger informiert. Anläßlich der Bekanntgabe des deutsch-italienischen Abkommens war z. B. im Börsenblatt zu lesen, die Übersetzung von geeignet erscheinenden Büchern solle damit eine »wirkungsvolle staatliche Ermunterung« erfahren. »Tendenz- und Emigrantenliteratur wird selbstverständlich auf beiden Staatsgebieten ausgeschlossen werden.« (Börsenblatt 105 (1938) 275, S. 925f.)

3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien

»Neue Sicht« und »höhere Aktualität« in der geistes- und kulturgeschichtlichen Sparte »Sie erfüllen mit diesen Aufsätzen [...] eine wirkliche Mission im anderen Deutschland.«386 – Als Claassen im Sommer 1937 mit diesem Lob auf einen Artikel Rudolf Bachs in der Frankfurter Zeitung387 reagierte, formulierte er gleichzeitig so deutlich wie sonst selten das Motiv seiner eigenen Verlagsarbeit in Abgrenzung von den aktuellen Zeitströmungen und der Tagespolitik des Dritten Reichs. Besonders mit den Veröffentlichungen im geistes- und kulturwissenschaftlichen Bereich wollten die Verleger ein bildungsbürgerliches Publikum erreichen, das sein Selbstverständnis, bei weitestgehender Distanz zur Politik, aus der Beschäftigung mit philosophischen Fragen und Zusammenhängen bezog und sich gerade während der Jahre der Diktatur in einem emphatischen Sinne als »das andere«, »das bessere« Deutschland empfand. In der Summe sind die Planungen dieses Bereichs als Bildungsprogramm zu werten, mit Interpretationen und Dokumentationen verschiedener Phasen der europäischen Geistesgeschichte, ergänzt um Darstellungen einzelner Abschnitte der jeweils nationalen Geschichte.

Das »alte Europa«: Salvatorellis »Benedikt« und Neales »Elisabeth« Wenn die Biographie des Abts Benedikt aus der Feder des italienischen Historikers Luigi Salvatorelli vom Herbst 1937 auch die einzige monographische Darstellung christlicher Kulturgeschichte im H. Goverts Verlag blieb, so hat sich doch schon anhand der übersetzten Belletristik die Bedeutung gezeigt, die die Verleger besonders in den ersten drei Verlagsjahren diesem Thema entsprechend ihrem Verständnis der Geschichte des »alten Europa« als »Abendland« einräumten. Es ist anzunehmen, daß sie auch innerhalb des geistes- und kulturwissenschaftlichen Programms mehr Versuche in diese Richtung unternahmen, als aus aus den Verlagsunterlagen zu erschließen ist.388 Angesichts der im Laufe des Jahres 1937 einsetzenden politischen Pressionen gegenüber dem sogenannten konfessionellen Schrifttum389 war die Werbung für die Benedikt-Biographie geradezu offensiv.390 In der Verlagsankündigung war zunächst die Rolle des Ordensstifters bei der Entstehung jener als abendländisch bezeichneten Kultur herausgestrichen worden, die primär als Geisteshaltung und philosophische Orientierung verstanden wurde: »In Benedikt fand das Abendland, das in den politischen, sozialen und theologischen Wirren unterzugehen drohte, wieder Form, Halt und Ordnung.«391 Der plötzliche Tempuswechsel im nächsten Satz gab der Aussage einen 386 Claassen an Bach, 15.7.1937 (In Büchern denken, S. 34). 387 Bach hatte dort einen Aufsatz über Liesl Karlstadt und »die große süddeutsche Traditionslinie« der deutschen Schauspielkunst veröffentlicht (vgl. Claassen an Bach, 15.7.1937). 388 Daß die Prüfung der Biographie des Franz von Assisi von Luigi Salvatorelli zu keinem Abschluß führte, bedauerte Claassen sehr. – Vgl. Hertha Schmuijlow: Gutachten Salvatorelli, Vita di San Francesco d’Assisi (20.7.1937). 389 Vgl. dazu Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 250. 390 Die Verleger legten sogar schriftlich Protest gegen eine polemische Besprechung im Stuttgarter NS-Kurier ein, in der es geheißen hatte, Salvatorelli sei »Schreiber im Sold der katholischen Aktion« (so Claassen an Salvatorelli, 27.7.1937). 391 Börsenblatt 104 (1937) 68, S. 1395.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs potentiellen, wenn auch sehr versteckten Hintersinn: In der möglichen Lesart einer verallgemeinernden Aussage erhielt das Thema eine doppelsinnige Aktualität: »Stille Wachstumskräfte siegen über die Mächte der Zeit.«392 An der Darstellung des italienischen Historikers wurde im Klappentext eindrücklich das »romanische Talent« gelobt, »klar, abwägend und anschaulich zu schreiben«. Als Zielgruppe erschienen die »Völker des alten Europa«, als Thema die »abendländische Kultur«: Salvatorelli vermittele »allen Völkern des alten Europa das Bild eines Abtes, der zu den Vätern der abendländischen Kultur gehört«393. Diese Betonung des »alten Europa« als kulturellem Zusammenhang zwischen nicht näher benannten einzelnen Nationen in der geistigen Tradition von Antike und Christentum ist in der Werbung gerade für die Bücher des geistes- und kulturwissenschaftlichen Programms auffällig. Wenn die gemeinsame Anzeige für die Benedikt-Biographie wie für die der Königin Elisabeth gleich doppelt akzentuiert wurde, so war dies sicherlich gattungsbedingt; gleichzeitigt entsprach es dem taktischen Bemühen um Unangreifbarkeit: »Europäische Geschichte an zwei Wendepunkten, eingefangen in den Lebensbildern der großen, die Zukunft gestaltenden Persönlichkeiten«394. Die Elisabeth-Biographie wurde sogar als »Ereignis für die gesamte abendländische Geschichtsschreibung«395 annonciert. Einen besonderen Stellenwert räumten die Verleger der Geistes- und Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts ein. Zwei Veröffentlichungen verschiedenen Inhalts und ganz unterschiedlicher Methodik belegen dies: Frida Strindbergs Buch über ihre zweieinhalbjährige Ehe mit dem schwedischen Dramatiker August Strindberg,396 von dem Claassen glaubte, ihm komme »bei allem privaten Detail eine große symptomatische Bedeutung«397 zu, vor allem aber Dolf Sternbergers eigenwillige Studie über das 19. Jahrhundert, die von Claassen selbst initiiert398 worden war.

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Börsenblatt 104 (1937) 68, S. 1395. Luigi Salvatorelli: Benedikt. Der Abt des Abendlandes, Klappentext. (Nr. 13) Börsenblatt 104 (1937) 232, S. 4478. Börsenblatt 103 (1936) 89, S. 1916f. Frida Strindberg: Lieb’, Leid und Zeit. Eine unvergeßliche Ehe (1936). (Nr. 9) Claassen an Barth, 21.10.1936. – Dem Freund Sternberger gegenüber offenbarte er das Motiv der Herausgabe präziser: »Ich habe wohl ebenso wie Du zu dieser Zeit mit ihrem grotesken Geniekult, zum Seelendämmer, bei dem noch die letzten und peinlichsten Äußerungen die Herkunft vom Jugendstil verraten, ein ironisches Verhältnis. Ich bin aber überzeugt, daß diese Zeit, in der Nietzscheanismus, Häckelianismus und vieles andere Aktuelle durcheinanderbrodeln, in ihrer historischen Wichtigkeit auch für heute noch gar nicht hinreichend erkannt ist.« (Claassen an Sternberger, 20.10.1936) 398 »Übrigens muß ich noch einmal sagen, mit wie großer Freude ich diese Arbeit mache, – und: daß ich es als beste Gewähr der Vollendung ansehe, daß der Verleger dem Autor dasjenige Thema gestellt hat, das ihm selber am dringlichsten von allen ist.« (Sternberger an Claassen und Goverts, 14.4.1935)

3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien

Sternbergers »Panorama« In seinem vierseitigen Entwurf zu einem Buch, worin die Grundmotive und -begriffe des 19. Jahrhunderts dargestellt werden399, hatte der Autor die »Absicht« seiner Studie »aus der aktuellen Situation« abgeleitet. »Die schärfste Ablehnung […] geht einher mit dem kräftigsten, dabei unreflektierten Weiterleben bzw. Wiederaufleben von Haltungen, Stilmomenten und Problemen des 19. Jahrhunderts.«400 Er betonte zwar »die Dringlichkeit der Beziehung«, in welcher die Gegenwart zu den von ihm beschriebenen Phänomenen stehe; diese Beziehung herzustellen aber sollte »gänzlich dem Leser überlassen werden«401. Die erkenntniskritischen Reflexionen seines Aphoristischen Vorworts402, einem Meisterstück an Doppeldeutigkeit, sowie einzelne allgemeine Passagen sind dabei als Anspielung auf die Gegenwart und gleichzeitig als persönliches Bekenntnis lesbar. »Die Menschen, die an solchem zeitlichen Orte sich bewegen, haben es sich gewiß nicht aussuchen können, da oder dort – in der Geschichte – geboren zu werden und aufzutreten, und insofern sind sie unschuldig an der Geschichte. Mancher, der seiner Epoche überdrüssig geworden ist, mag sich wohl wünschen, er wäre im alten Rom geboren oder unter dem Kaiser Rotbart oder bei den Inkas, aber das wird ihm nicht davonhelfen. Er ist an seinem zeitlichen Ort durchaus gefangen und kann, sei er auch noch so faul, nicht anders als an irgendeiner Ecke, sei sie noch so entlegen, mitschaufeln oder Steine tragen. Insofern macht er sich dauernd mitschuldig an der Geschichte.«403 Sternberger umschreibt das Ziel seiner akribischen Beobachtungen und sensiblen Deutungen z. T. kurioser Details aus Technik und Alltagskultur, Kunst und Wissenschaft metaphorisch als eine Art Selbsterkenntnis der Nachgeborenen, deren Haltung gegenüber dem späten 19. Jahrhundert zwischen »modischer Verliebtheit« und »purer Verachtung« schwanke und sie hindere, »bestimmte historische Begriffe zu gewinnen«. Seine Umschreibung der möglichen Leistung solcher historischen Begriffe kommt einer poetischen Verklärung aller wissenschaftlichen Erkenntnisbemühungen gleich, wenn er sie als »Löseworte« bezeichnet, die »nicht allein das Vergangene treffen, sondern der eignen Verwandlung dienen müssen. Sie gleichen dem ›Mutabor‹, welches der Kalif Storch vergessen hatte.«404 Möglichen Einwänden gegenüber seiner eventuell zufällig anmutenden Auswahl einzelner kulturgeschichtlicher Aspekte begegnet Sternberger am Schluß seines Vorworts mit der resignativen These von der »Zufälligkeit der Geschichte selber«405. Das rein phänomenologische Verfahren geht einher mit dem Verzicht auf jegliches Bemühen, »der Epoche einen universalgeschichtlichen Sinn« abzugewinnen: »Bedingnisse und Taten, Zwang und Freiheit, Stoff und Geist, Unschuld und Schuld können in der 399 Sternbergers Entwurf zu der 1938 erschienenen Studie »Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert« stammt vom April 1935 (als vierseitiges Ms. beigelegt dem Brief Sternbergers an Goverts, 14.4.1935). 400 Sternberger: Entwurf, Ms., S. 2. 401 Entwurf, S. 2. 402 Dolf Sternberger: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert (1938). (Nr. 21); Aphoristisches Vorwort, S. 7 – 10. 403 Sternberger: Panorama, S. 7. 404 Sternberger: Panorama, S. 8. 405 Sternberger: Panorama, S. 10.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Vergangenheit, deren unabänderliche Zeugnisse, wenn auch verstreut und unvollständig, vor uns liegen, nicht voneinander abgeschieden werden.«406 Nach Sternbergers Verständnis war dieses Vorgehen nicht nur »phänomenologisch«, sondern gleichzeitig »analytisch-aufklärend« – was für ihn Polemik ausschloß.407 De facto war der Verzicht auf jedes kulturkritische Urteil der Tribut, der an das Bemühen um Politikferne und lediglich indirekte, versteckte Aktualität gezahlt wurde. Die für Verleger wie Autor sublime Aktualität der Studie wurde in der Ankündigung im Börsenblatt denn auch nur als Reizwort ausgegeben, wenn die Frucht der Lektüre in sprachlich mehr als kurioser Verdrehung des Tempus charakterisiert wurde als »eine Bereicherung unseres historischen Bewußtseins, die erstaunliche Erkenntnis, welche Aktualität diese vom Leben strotzende Zeit besaß«408.

Knigge: Die verlachte Aufklärung An der Biographie des Freiherrn Adolph von Knigge,409 an der Hans Georg Brenner mit Werner Milch seit dem Sommer 1935 arbeitete, hatte die Verleger vor allem die »unbekannte Seite« und damit eine neue Sicht der Aufklärungsepoche gereizt. Als Claassen im März 1936 Dolf Sternberger die Fahnen sandte und um eine Besprechung in der Frankfurter Zeitung bat, pries er nicht nur die soziologisch neue Erkenntnis, die das Buch in seinen Augen bot, sondern er betonte eigens, das Buch sei »auch zwischen den Zeilen zu lesen«. Das »Resultat« sei »höchst interessant. Mittelstandsideologie aus dem 18. Jahrhundert in größtem Maßstab. Das Buch bedarf eines sehr überlegenen Kopfes, um richtig und so wie gemeint in die Erscheinung zu treten.«410 Monate später, als der ökonomische Mißerfolg des Buches sich längst abgezeichnet hatte, resümierte Claassen ähnlich sibyllinisch dem Autor gegenüber die Gründe der Schwierigkeiten beim Verkauf damit, »daß das Thema Knigge als solches nicht attraktiv« wirke, sondern daß es »einer komplizierten Betrachtungsweise« bedürfe, um klarzustellen, daß mit diesem Thema »etwas Interessantes unmittelbarst verknüpft«411 sei. Daß Claassen mit solch vagen Hinweisen einen aktuellen Bezug zumindest andeuten und Parallelen zu zeitgenössischen kleinbürgerlichen Verhaltensweisen nahelegen wollte, liegt auf der Hand. Sowohl das Vorwort des Verlags als die Werbung allerdings trugen mit ihrer Akzentuierung auf das vorgeblich »Amüsante«412 der Lebensgeschichte Knigges wesentlich zur Verschleierung dieses versteckten Motivs bei. Der Veröffentlichung vorausgegangen war im Sommer 1935 eine sensible, ausgewogene Würdigung des Lebenswerks Knigges in der Frankfurter Zeitung von Werner 406 407 408 409

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Sternberger: Panaorama, S. 7f. Sternberger: Panorama, S. 3. Börsenblatt 105 (1938) 63, S. 1413. Reinhold Th. Grabe: Das Geheimnis des Adolph Freiherrn von Knigge. Die Wege eines Menschenkenners. 1752 – 1796 (1936). (Nr. 6) 410 Claassen an Sternberger, 19.3.1936. 411 Claassen an Brenner, 9.11.1936. »Ich habe das einer Reihe Berliner Buchhändler selbst klarzumachen versucht. Sie stöhnten nach meinem Vortrag ›Wunderbar – aber wie sollen wir dergleichen unseren Kunden faßlich machen?‹« 412 Vgl. Börsenblatt 103 (1936) 91, S. 1943 und Börsenblatt 103 (1936) 252, S. 5434.

3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien Milch.413 Spätestens ein Artikel im Berliner Tageblatt vom Januar 1936, in der ein F. Dalichow unter der Überschrift Ausgerechnet Knigge! Ein Schriftsteller antwortet einem Verleger414 gegen den Plan einer Neuedition der Schriften Knigges heftig polemisierte, wird Claassen die Notwendigkeit bewußt gemacht haben, daß die Herausgabe einer Biographie über eine derart kontrovers beurteilte Figur einer besonderen Rechtfertigung bedürfe. Das von Brenner auf Rat seiner Verleger hin entworfene Vorwort415 fand Claassen zwar »glänzend formuliert« und er versicherte dem Autor, es ehre seine Objektivität. »Verlegerisch gesehen« aber bedeutete es in Claassens Augen »eine Torheit«, die sie »im gemeinsamen Interesse vermeiden«416 sollten. Auch einen zweiten Entwurf Brenners verwarf Claassen als »zu akademisch«417 und entband den Autor schließlich von der Verpflichtung, eine Einleitung zu schreiben. Stattdessen formulierte Claassen selbst ein gleich doppeltes Vorwort des Verlags.418 Darin wurde der ohnehin der Brenner’schen Darstellung unterlegte entlarvende Gestus, mit dem die Mißerfolge dieses Lebens und die Widersprüchlichkeit in Knigges Charakter als Ausdruck eines vernunftgläubigen Zeitalters gedeutet werden, auf die Spitze getrieben. Die Verleger rechtfertigten darin die »Wiederentdeckung Knigges« als »mehr komische[s] Widerspiel einer entscheidenden Generation der deutschen Geistesgeschichte«419; das Objekt der Darstellung wurde als »tragikomische Verkörperung« der Aufklärung denunziert, die »gutgläubig die Vernunft zum einzigen Maßstab des menschlichen Daseins«420 erhoben habe. Gerade Knigge könne »die unbekannte anonyme Seite des achtzehnten Jahrhunderts in Deutschland schlagender und witziger als irgendein anderer« illustrieren. Als »Till Eulenspiegel des »tintenklecksenden Jahrhunderts«« wurde Knigge schließlich am Ende des Vorworts einem »befreiende[n] Gelächter«421 preisgegeben.

413 W. M. [d. i. Werner Milch]: Was steht eigentlich im Knigge? In: Frankfurter Zeitung 68 (1935) 332, S. 1. 414 F. Dalichow, in: Berliner Tageblatt vom 9.1.1936. – Brenner hatte den Verlegern den Artikel am 10.1.1936 zugesandt. 415 Das Manuskript ist im Verlagsarchiv nicht erhalten. 416 Claassen an Brenner, 26.2.1936. 417 Claassen an Brenner, 13.3.1936. 418 »Statt einer Einleitung – Warum Knigge?« (S. 7) sowie »Warum Knigge?« (S. 9f.) 419 Statt einer Einleitung – Warum Knigge?, S. 7 420 Warum Knigge?, S. 9. »Alle Irrtümer und Halbheiten, alle Winkelzüge und Widersprüche der Epoche haben sich in ihm ein Stelldichein gegeben. Der große Atem eines bei aller Beschränktheit bedeutenden Jahrhunderts wird in Knigge in amüsantester Weise asthmatisch. Er vereinigt und karikiert unfreiwillig in seiner Person ebenso den souveränen Lebensanspruch absoluter Fürsten und ihrer prunkhaften Höfe, wie das Pathos des erwachenden Bürgertums.« 421 Warum Knigge?, S. 10.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Die Pointierung auf das vorgeblich Lächerliche der Person Knigges entsprach nicht nur verlegerischer Taktik,422 sondern offensichtlich auch Claassens Überzeugung. Er hatte dem Autor gegenüber für eine Einleitung plädiert, die »das dumme Recht des dummen Kleinen von vornherein wahrt, das was an ihm symptomatisch interessant ist hervorhebt und den Gedanken, dieser Vielschreiber könnte ein unzureichendes Objekt für den Leser sein, weit abweist.«423 In befremdlichen Formulierungen und Vergleichen kam Claassens Einstellung der historischen Person Knigge gegenüber als Mischung aus Abscheu und Amüsement zum Ausdruck. In seiner Rechtfertigung der Beschäftigung mit dem Thema Aufklärung gerade anhand der Lebensgeschichte Knigges schien Claassen völlig unberührt von dem grundlegend veränderten gesellschaftlichen Kontext, in dem mittlerweile die bereits in den zwanAbb. 5: aus Börsenblatt 103 (1936) 91, S. 1943 ziger Jahren auch unter Liberalen verbreitete Kritik am Zeitalter der Aufklärung stand – so als gäbe es keine politische Gefährdung grundlegender Überzeugungen in dieser Tradtion: »Das heute offiziell abgetane Thema ›Aufklärung‹ läßt sich besser kaum illustrieren. Die Verknüpfung dieser platten Aufklärung mit nicht minder hohler Geheimniskrämerei darf Autor und Leser in ihrer Art ruhig faszinieren.«424 Bei einem der engsten Freunde, mit denen sich die Verleger in politischen Fragen grundsätzlich einig wußten, provozierten sie mit dieser Interpretation im Sommer 1936 eine zwar zurückhaltend formulierte, gleichzeitig allerdings inhaltlich sehr bestimmte öffentliche Kritik. Dolf Sternberger verteidigte in der Frankfurter Zeitung425 gegenüber dem gesellschaftlich erfolglosen Lebensweg Knigges dessen Werk, vor allem seinen Umgang mit Menschen. Er konstatierte eine »Schwäche in der Haltung des Biographen«; der haue »in diese von Knigge selber schon geschnittene Kerbe immer wieder von neuem seinerseits hinein [...], indem er sich darüber mokiert, daß jener die selbstgesetzten Regeln so schlecht zu befolgen imstande war.«426 Sternberger verteidigte die »aufklärerischen Grundsätze«, seine Argumentation zielte dabei vor allem auf die innere Logik und den Gestus der Darstellung, die für ihn

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422 Es kann nur vermutet werden, daß Claassen an der Kritik der Person Knigges die damit einhergehende Entlarvung von Verstellung und Personenkult fasziniert hat. (Vgl. S. 10) 423 Claassen an Brenner, 26.2.1936 (In Büchern denken, S. 93). 424 Claassen an Brenner, 26.2.1936. 425 Sternberger: Wer war Knigge? In: Frankfurter Zeitung 81 (1936) 407, S. 1. 426 Sternberger, S. 1.

3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien »überhaupt [...] ein wenig unter der Überlegenheit gegenüber dem Objekte«427 litt. Seine politisch motivierte Kritik,428 die sich gegen das wohlfeile Amüsement über ein sozial gescheitertes Leben richtete – auf Kosten des Gesamturteils über die philosophischen Grundüberzeugungen einer Epoche, die unter der Diktatur dem öffentlichen Verdikt anheimgefallen war –, wollte Claassen nicht akzeptieren. Sein Dankesbrief für den Knigge-Aufsatz vom selben Tag, in dem er sich gleichzeitig zu verteidigen suchte, bewies, daß er die Zielrichtung der Sternbergerschen Kritik nicht verstanden hatte: »Der Einwand der falschen Überlegenheit wäre ohne weiteres entkräftet, wenn Du Dir die Zeit nehmen könntest (was natürlich ein Unding ist!) das authentische Material durchzusehen.«429 Auf die subtile Argumentation des Freundes ging Claassen gar nicht ein. Er begnügte sich mit einer pauschalen Zurückweisung.

Synthesebemühungen: Leibbrands »Romantische Medizin« In der grundsätzlichen Ablehnung einer ausschließlich auf die Vernunft als Maßstab des menschlichen Daseins reduzierten Aufklärung waren sich die Verleger nicht nur mit einem Autor wie Brenner, sondern auch mit dem Psychiater Leibbrand einig, dessen Romantische Medizin430 von Claassen selbst initiiert worden war. In seiner Rückschau nach fast zwanzig Jahren hat Claassen als verlegerisches Motiv für diese Darstellung formuliert, die »reichlich positivistische Medizin« habe »einer Ausweitung« bedurft, da die »Vorstellung von krank und gesund, von Heilen und Mensch [...] allmählich eine andere geworden«431 wäre. Daß Leibbrands Versuch, eine geistesgeschichtliche Würdigung der Krankheitsauffassung im 19. Jahrhundert unter dem Einfluß der romantischen Philosophie zu geben, dann allerdings doch »leider nicht das geworden« war, was Claassen vorgeschwebt hatte, gestand er im ersten Nachkriegsjahr einem befreundeten Autor. Die Studie habe »eigentlich mehr einen geistesgeschichtlichen Tenor« haben sollen; ihm selbst habe »weniger an einem historischen, als an einem Problem-Buch«432 gelegen. An dem Thema hatte Claassen vor allem die Zusammenbindung getrennter Wissenschaftsbereiche gereizt. Der Autor selbst sah sich, zusammen mit anderen jüngeren Forschern wie z. B. Viktor von Weizsäcker, als »Ganzheitsforscher«433. Das »romantische Element aller und jeder echten ärztlichen Wissenschaft«434, im Vorwort als Untersuchungsziel angegeben und im Verlauf der Studie erläutert als Forderung nach einer

427 Sternberger, S. 1. 428 Sternbergers Besprechung wurde ungewöhnlich spät gedruckt. Drei Monate nach Erscheinen des Buches hatte Claassen dem Autor berichtet, die Frankfurter Zeitung habe sich bei seinem Besuch »etwas sperrig« verhalten: »Der Referent scheint dort mit dem Buch nicht ganz konform zu gehen.« (Claassen an Brenner, 22.7.1936) 429 Claassen an Sternberger, 11.8.1936. 430 Werner Leibbrand: Romantische Medizin (1937). (Nr. 11) 431 Claassen: Vom schönen Leben des Verlegers (1953). In: In Büchern denken, S. 634. 432 Claassen an Wolfgang von Einsiedel, 28.11.1946. 433 Leibbrand an Claassen, 21.7.1937. – Im Verlagsarchiv ist die Abschrift eines Briefs von Weizsäckers vom 19.6.1937 erhalten: »Ich wollte, ich hätte Ihr Buch geschrieben.« 434 Leibbrand: Vorwort. In: Romantische Medizin, S. 8. (Nr. 11)

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs »Ganzheitsbetrachtung der ärztlichen Kunst«435, entsprach für Leibbrand dem »Bindungswillen« der gegenwärtigen Epoche: »Die positivistisch genannte Zeit brachte es mit sich, daß wir größtenteils Unterschiedsseher geworden sind; erst jetzt werden wir wieder Zusammenhangsseher. Mittelalter und Romantik rücken uns deshalb wieder erheblich näher. Nach langer Zeit kunstvoller Zergliederung haben wir wieder den Bindungswillen der romantischen Epoche.«436 Den Verlegern wie dem Autor war die Möglichkeit einer ideologischen Vereinnahmung gerade dieses Themas bereits im Sommer 1936, ein knappes Jahr vor der Veröffentlichung, bewußt. Nicht erst die zahlreichen Rezensionen der Romantischen Medizin in der Fachpresse wie in den Feuilletons machten offenkundig, daß Leibbrands Interesse für die Romantik mit ihrer Orientierung am Organischen und ihrem Synthesebemühen wie auch seine eigenen Vorstellungen von einer Verankerung ärztlichen Selbstverständnisses im Metaphysischen mit grundlegenden Denkansätzen nationalsozialistischer Provenienz vereinbar schienen. Grundsätzlich schienen manche der Folgerungen Leibbrands auch nationalsozialistischen Vorstellungen einer sich völkisch verstehenden Heilkunde nicht zu widersprechen. Bereits in einem im Verlagsarchiv erhaltenen Gutachten,437 datiert vom 27.6.1936, wurde z. B. »ein Gedanke, der besonders aufhorchen lasse«, eigens hervorgehoben: daß nämlich »Wissenschaft und Wirken der Medizin ebenso an Blut und Boden gebunden, eine »völkische« Angelegenheit seien wie Ernährung, Wohnung und Tracht, Brauchtum, Sittlichkeit und politisches Gebaren.«438 Im Gegensatz zur Besprechung im Deutschen Ärzteblatt, das im November 1937, wie Leibbrand seinen Verleger lakonisch mitteilte, »nun auch gelobt« habe, »auf aktueller Basis«439, fühlte sich der Autor von Victor von Weizsäckers »hervorragender[r] Besprechung«440 in der Deutschen medizinischen Wochenschrift441 in seinen Motiven

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435 Leibbrand: Romantische Medizin, S. 193. Sie entspreche dem »innere[n] Bedürfnis der Heilkunde nach einer wissenschaftlichen Zusammenschau«. (S.195) 436 Leibbrand, S. 197. 437 Blum: Gutachten zu dem Buch »Romantische Medizin« von Werner Leibbrand, 27.6.1936. – Die Art der Begutachtung und der Tenor legen nahe, daß die Verleger von der Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, das Manuskript freiwillig vom Amt Schrifttumspflege bzw. der ihm beigeordneten Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums begutachten zu lassen. Deren Ziel war die »systematische Begutachtung des neueren deutschen Schrifttums nach politisch-weltanschaulichen, künstlerischen und volkserzieherischen Gesichtspunkten sowie die Förderung wertvoller Werke« (Vgl. Bernhard Payr: Das Amt Schrifttumspflege, S. 6). – Vgl. auch Hellmuth Langenbucher: Schrifttumspflege im neuen Deutschland, S. 24 –30. – Vgl. zusammenfassend Dahm: Die nationalsozialistische Schrifttumspolitik, S. 71 –73 sowie Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 69 –73 und S. 116 – 122. 438 Gutachten Leibbrand. – Vgl. dazu Leibbrand: Romantische Medizin, S. 194, wo er darauf hinweist, daß in »Polikliniken in verschiedenen Teilen des eigenen Landes oder gar des Auslandes [...] Unterschiede im Umgang mit den Kranken, ja im Krankheitsverlauf offenbar« würden: Der »Münchner Bieralkoholiker« reagiere »anders als der Schnapstrinker vom Berliner Wedding«. Bestimmte »Volkseigentümlichkeiten« seien für das ärztliche Handeln »von größter Bedeutung«. 439 Leibbrand an Claassen, 6.11.1937 440 Leibbrand an Claassen, 2.7.1937.

3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien verstanden. Der hatte als Fazit der Studie Leibbrands die Möglichkeiten einer Fortführung und neuen Entfaltung der romantischen Idee in der Gegenwart als Fragen formuliert, deren Beantwortung er als »Arbeit einer ganzen Epoche« sah: »Da ist die Frage, ob die Natur mit Gott oder ohne Gott zu denken ist. Da ist die Frage, ob das organische Geschehen mit Seele oder ohne Seele zu denken ist. Da ist die Frage, ob die Wissenschaft von der Natur moralisch, sittlich bestimmt sein muß oder nicht [...].«442 Der Medizinhistoriker Leibbrand, dessen persönliche Distanz zum Nationalsozialismus außer Frage ist, steht mit seiner Romantischen Medizin exemplarisch für die Möglichkeit einer ideologischen Vereinnahmung auch der geistes- und kulturwissenschaftlichen Titel des H. Goverts Verlags. Leibbrands Schlußfolgerungen aus der historischen Darstellung für die Gegenwart sind letztlich so knapp und vergleichsweise allgemein gehalten,443 daß sie breit interpretierbar waren und ganz unterschiedlichen Interessen nutzbar gemacht werden konnten. Im Bild von der »Sonderstellung des deutschen idealistischen Geistes«, in der Bereitschaft zum Ausspielen eines »reinen Materialismus« gegenüber einer vorgeblich im deutschen Volkscharakter begründeten Romantik, wie sie Leibbrand zwei Jahre später in einer zusammenfassenden Würdigung verschiedener Besprechungen seines Buchs zum Ausdruck brachte, liegen die Erklärungsansätze für eine derartige Rezeptionsmöglichkeit: Dem Deutschen, so argumentierte hier Leibbrand, scheine »ein reiner Materialismus« nicht durchführbar; selbst in den Dokumenten positivistischer Denker stecke »ein irrationaler Kern, der immer wieder aufzubrechen bereit« sei: »Wir Deutschen taugen nicht zum Materialismus, weil der Geist der Romantik nie in uns aussterben kann!«444 Nicht erst durch solche Bekenntnisse und Fragen des Autors waren die Möglichkeiten einer Vereinnahmung auch von nationalsozialistischer Seite gegeben. Bereits durch den Tenor der Werbung, die, wenn auch vage, die Aktualität des Buches behauptete und eine romantische Auffassung der Medizin direkt mit einer allerdings nicht näher bestimmten »neuen Heilkunde« in Verbindung brachte, leisteten die Verleger Interpretationen aus nationalsozialistischem Blickwinkel Vorschub.

Auswege: Die »reine« Wissenschaft Eine Möglichkeit, solche ungewünschte Nähe zu umgehen, bot sich den Verlegern mit einem Thema aus dem Bereich der »reinen« Wissenschaft, d. h. den Naturwissenschaften. Als Versuch der Vermittlung eines selbst für gebildete Laien schwer zugänglichen Gebiets, das der zeitgenössischen Physik, war die Veröffentlichung des französischen Physikers und Nobelpreisträgers Louis de Broglie445 allerdings einzigartig in den Vor441 Victor von Weizsäcker: »Romantische Medizin«. Zum Werk von Werner Leibbrand. In: Deutsche medizinische Wochenschrift 63 (1937) 34, S. 1310f. 442 Weizsäcker, S. 1311. 443 Vgl. Leibbrand: Romantische Medizin, Kap. X: Neue Ergebnisse, neue Hoffnungen, S. 186 – 198. – Im Vorwort (S. 7f.) hieß es, es solle einer »späteren Betrachtung [...] vorbehalten bleiben, den engeren theoretischen Zusammenhang des modernen medizinischen Denkens mit der Gedankenwelt der Romantik herzustellen.« 444 Leibbrand: Romantische Medizin und kein Ende. In: Hippokrates (1939) 52, S. 1355. 445 Louis de Broglie: Licht und Materie. Ergebnisse der Neuen Physik (1939). (Nr. 23)

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs kriegsjahren. Die damit erfolgte Erweiterung ihres kultur- und geisteswissenschaftlichen Bildungsprogramms um eine Darstellung der jüngsten Entwicklungen und der Erklärungsprobleme einer Naturwissenschaft erhielt erst in den Planungen der zweiten Hälfte des Krieges ein stärkeres Gewicht. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im Frühjahr 1939 hielten sich Claassen und Goverts in der Werbung sowohl für die deutschsprachigen Autoren als auch für geisteswissenschaftliche Monographien mit Hinweisen auf europäische Gemeinsamkeiten längst zurück. Das Feld der modernen Naturwissenschaften allerdings muß ihnen auch zu dieser Zeit noch als Chance erschienen sein, auf der Forderung nach einer praktischen Zusammenarbeit über politische Grenzen hinweg beharren zu können. In gleich zwei Vorworten446 nutzten sie diese Möglichkeit intensiv. Während Werner Heisenberg, der berühmteste Vertreter der deutschen theoretischen Physik,447 allgemein die »Gemeinsamkeit der Aufgaben« betonte, die »den Naturforschern in allen Ländern gestellt«448 seien, formulierte Louis de Broglie sein engagiertes Plädoyer für eine Zusammenarbeit der Wissenschaftler über nationale Grenzen hinweg mit noch größerem Nachdruck. »Für den Fortschritt der Wissenschaften« sei die Zusammenarbeit der Völker »immer von großem Nutzen, ja in vielen Fällen die unerläßliche Voraussetzung« gewesen. Die Betonung nationalspezifischer Unterschiede in den Beiträgen zu »diesem gemeinsamen Werk«, von deren Existenz er sich ebenso wie Heisenberg überzeugt zeigte, führte bei ihm zu einem geradezu emphatischen Bekenntnis einer »entente cordiale« im wissenschaftlichen wie im kulturellen Bereich zwischen Deutschland und Frankreich, das auch den Verlegern aus dem Herzen gesprochen gewesen sei dürfte: »Deutschland und Frankreich haben, eines wie das andere, eine bedeutende Rolle in der modernen Entwicklung unserer wissenschaftlichen Erkenntnis gespielt. Sehr häufig haben die Forschungsarbeiten deutscher und französischer Gelehrter sich wechselseitig ergänzt. Möge diese fruchtbare Zusammenarbeit auf kulturellem Gebiet sich fortsetzen und weiter ausbauen zwischen unseren beiden großen Nationen, deren geistige Gaben sich in so vieler Hinsicht ergänzen.«449 Der Ankündigung im Börsenblatt stellten Claassen und Goverts Werner Heisenbergs Würdigung programmatisch voran: Das Werk Broglies lege »in der schönsten Weise Zeugnis ab von der Gemeinsamkeit der Aufgaben, die den Naturforschern in allen Ländern gestellt sind.«450 Letztlich ging es den Verlegern, das zeigt nicht nur dieses Beispiel, selbst im Bereich der wissenschaftlich fundierten Monographien immer wieder auch um Wertorientierungen und Lebenseinstellungen. Neben dem verlegerischen Motiv besonders bei geistes- und kulturwissenschaftlichen Darstellungen, eine neue Sichtweise einer Epoche oder eines Problems zu geben, stand hinter dem oft nur vage formulierten Anspruch auf eine höhere oder auch versteckte Aktualität die Vorstellung, mit solchen indirekten Bezügen zeitgenössische Entwicklungen zu relativieren oder zu kritisieren. Nur selten allerdings wurden grundsätzliche politische Einstellungen so nachdrücklich und unver-

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446 »Vorwort von Werner Heisenberg« (S. 7f.) und »Vorwort von Louis de Broglie« (S. 9 – 11). 447 Werner Heisenberg, Professor in Leipzig und Berlin, hatte 1933 (nachträglich für das Jahr 1932) für die Begründung der Quantenmechanik den Nobelpreis für Physik erhalten. 448 Vorwort von Werner Heisenberg, S. 8. 449 Vorwort von Louis de Broglie, S. 11. 450 Börsenblatt 106 (1939) 70, S. 1864.

3.3 Lektoratsentscheidungen: Auswahlkriterien schlüsselt formuliert wie im Frühjahr 1939, als bei der Präsentation der Monographie de Broglies – wenigstens für den wissenschaftlichen Bereich – die Forderung nach Fortführung geistigen Austauschs und praktischer Zusammenarbeit über nationale Grenzen hinweg in den Vordergrund gerückt wurde.

Maßhalten: Das Kochbuch Boulestins Die verlegerische Absicht, mit den im H. Goverts Verlag erscheinenden Büchern Wertorientierungen zu bieten, läßt sich sogar an jenem Buch mühelos belegen, das auf den ersten Blick als Sachbuch bzw. Ratgeberliteratur eine Sonderrolle im Verlagsprogramm der Vorkriegsjahre zu spielen scheint. Vor diesem Deutungshorizont paßt es sich jedoch in das Verlagsprogramm ein. Das Kochbuch des Franzosen Marcel X. Boulestin451 empfahl sich im Untertitel als Ratgeber für die »Kunst, stets vollendet und doch billig zu kochen«. In der Ankündigung im Börsenblatt452 wurde der Autor als »Künstler« seines Faches gefeiert. Was als Vereinigung von »Kultur und Ökonomie« gepriesen und mit antiken Allegorien erhöht wurde – in Boulestins Küche regiere »Merkur, der Koch des Maßhaltens« –, entpuppt sich als praktische und angesichts der Autarkiebestrebungen des Deutschen Reichs politisch durchaus affirmative Lebenshilfe. Das Kochbuch, das allgemeine Ratschläge, nach Zutaten geordnete Rezepte und auf fast 25 Seiten Eintopfgerichte enthält, empfiehlt im Einleitungskapitel angesichts der wirtschaftlichen Krise in Europa den »Wert der Einfachheit«453 und preist Sparsamkeit gleichermaßen als »Sport« wie als Pflicht. Anhand dieser frühen, für die programmatische Gesamtlinie des HGV eher nebensächlichen Veröffentlichung läßt sich die Identifikation mit kleinbürgerlichen Tugenden wie Sparsamkeit und Maßhalten erkennen, die nicht nur positiv gewertet, sondern geradezu zur »Lebenseinstellung« erhoben werden. Hilde Claassen lobte in ihrem Gutachten, das Buch sei geschrieben »aus einem echten und unverfälschten Lebensgefühl heraus, aus der Freude am einfachen Dasein, die jeder Tag vermitteln« könne. Es setze »an Stelle der Illusion, der Verschwendung und des Prätensiösen [sic] Einfachheit, Natürlichkeit und Sparsamkeit«454. Dieses Lob einer Sparsamkeit aus Überzeugung, die Betonung des Maßhaltens als Verbindung von Kultur und Ökonomie, war Ausdruck einer grundsätzlichen Einstellung, die zudem – jedenfalls für das in den Inflationsjahren verarmte Bürgertum – eine Notwendigkeit zum Ideal erhöhte. Die positive Wertung eines solchermaßen geadelten Mangels, dessen ökomische und damit auch politische Ursachen völlig aus dem Blick gerieten, offenbarte durchaus Parallelen zur offiziell geforderten Bereitschaft zur Genügsamkeit unter der Diktatur, die in der Regel einherging mit heftiger Polemik gegen jegliche Neigung zu Luxus und Überfluß. Die Widersprüche, in die die Verleger bei ihrer Verlagsarbeit gerieten, wenn sie mit ihren Wertorientierungen und Deutungsmustern – zweifellos unbeabsichtigt – auch den nationalsozialistischen Zeitgeist trafen, waren nicht zu vermeiden: Sie waren Bestand451 Marcel X. Boulestin: Merkur in der Küche. Die Kunst, stets vollendet und doch billig zu kochen (1936). (Nr. 5) 452 Börsenblatt 103 (1936) 246, S. 5237. 453 Boulestin: Merkur in der Küche, S. 15. 454 Hilde Claassen: Gutachten Marcel X. Boulestin, Merkur in der Küche (o. D.).

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs teil der praktischen Verlagsarbeit im Dritten Reich. Ebenso wie die Orientierung an Erklärungsmustern vergangener Epochen barg die Vagheit und Interpretationsbedürftigkeit vieler Deutungsangebote und der freiwillige Verzicht auf politisch eindeutige Stellungnahmen grundsätzliche Probleme.

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Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein«

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein«

Prinzipien der nationalsozialistischen Literaturpolitik Ein wichtiges, wenn nicht sogar das wesentliche Prinzip für die Umsetzung der literaturpolitischen Ziele des Nationalsozialismus im Bereich des Buchhandels war die scheinbare Eigenverantwortlichkeit der Verleger. Für die Schrifttumspolitik war neben dem »organisierten Chaos«455, dem »Führungschaos im Führerstaat«456, die Scheinlegalität, die schleichende Abkehr vom kodifizierten Recht, die Gewaltandrohung und die faktische Entmündigung der Betroffenen charakteristisch: »Der Teilhabe an der politischen Entscheidung beraubt, trug der einzelne die Bürde der Verantwortung für das Geschick der nationalsozialistischen ›Volksgemeinschaft‹; im Zweifelsfalle versagte immer das allseits auf seine Gesinnung reduzierte Individuum.« Bei möglichem »Fehlverhalten« war die Schuldzuweisung vor jeder Erfahrung bereits geklärt.457 Die Anordnungen und Bekanntmachungen der Reichskulturkammer, der Reichsschrifttumskammer und des Propagandaministeriums wurden den Verlegern durch Veröffentlichungen im Börsenblatt bekanntgegeben. Die »Feinsteuerung«458 innerhalb des subtilen Kontroll- und Lenkungssystems mittels Durchführungsbestimmungen, vor allem aber durch informelle Anweisungen, erfolgte stets auf »vertraulichem Weg«, vor allem durch spezielle Mitteilungsblätter, die die RSK für die einzelnen Berufsgruppen herausgab: Für die Verleger waren dies die Vertraulichen Mitteilungen für die Fachschaft Verlag.459 Die heute bekannten und in Archiven zugänglichen Verbotslisten wurden den deutschen Verlegern, nicht zuletzt auch mit Rücksicht auf einen möglichen schädigenden Einfluß auf die Außengeltung des Dritten Reichs, gar nicht zur Kenntnis gebracht. Der deutsche Buchhandel sollte vielmehr zur Kooperation mit seiner »berufsständischen Vertretung« gezwungen werden.460 In »Zweifelsfällen« waren somit die Verleger gehalten, sich entweder an die RSK zu wenden, an eine der in enger Verbindung mit ihr arbeitenden Beratungsstellen, die im Frühjahr 1937 in der Beratungsstelle Verlag zusammengefaßt worden waren, oder direkt an das Propagandaministerium, auf das im Frühjahr 1938 die Zuständigkeit für die Überwachung des Buchmarkts überging.461 455 456 457 458 459

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Siebenhaar: Buch und Schwert, S. 82. Siebenhaar, S. 87. Siebenhaar, S. 83. Dahm: Die nationalsozialistische Schrifttumspolitik, S. 66. Vgl. zu den Vertraulichen Mitteilungen auch Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 247 sowie vor allem Thunecke: NS-Schrifttum am Beispiel der Vertraulichen Mitteilungen. – Die Weitergabe der Vertraulichen Mitteilungen war »strengstens untersagt«. 460 Vgl. dazu Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 226 –230. 461 Vgl. Handbuch der RSK, S. 44.

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein« Eine solche grundsätzlich erwartete »Zusammenarbeit« legte den Verlegern nicht nur eine freiwillige Vorzensur nahe; zusätzlich bestand das Angebot einer als informell ausgegebenen Beratung in Form einer persönlichen Unterredung.462 Es bleibt zu untersuchen, wie Claassen und Goverts angesichts der Anordnungen und Bestimmungen, gleichzeitig aber auch vielfältiger Vorgaben, Forderungen und unverhohlenen Drohungen ihre programmatischen Vorstellungen in praktische Verlagsarbeit umsetzten. Zwischen Vorschriften und freiwilliger Selbstzensur, informellen »Sondierungen« und vielerlei Formen taktischen Verhaltens bewegte sich der Verlagsalltag. (Vgl. Kap. 3.4.1) Äußerst vorsichtig setzten sie ihre verlegerischen Ziele um; im Zweifelsfall entschieden sie sich gegen die Herausgabe eines Werks, auch wenn sie es noch so sehr schätzten. (Vgl. Kap. 3.4.2) Mit großem taktischen Geschick bewegten sie sich ebenso im Umfeld gefährlich anmutender offizieller Kritik wie auch bei öffentlichem Beifall, selbst wenn er von der falschen Seite kam: stets zwischen behutsamer Distanzierung und vorsichtigem Kalkül. (Vgl. Kap. 3.4.3) Der Verlagsalltag des HGV im Dritten Reich belegt die Wirksamkeit der subtilen Herrschaftsmechanismen nationalsozialistischer Literaturpolitik. Mit der »Unsicherheit der Betroffenen (Schriftsteller, vor allem aber Verleger, Buchhändler, Bibliothekare [...]) wuchs die Verfügungsgewalt und Willkür der Unterdrücker. Die Schere im Kopf sicherte jenes Gefühl dauernder Bedrohung und Angst, das sich in Phasen des Übergangs als nützlicher erweisen kann als jede ›stabile‹ normativ verbürgte Repression.«463

3.4.1 Zwischen Vorschriften und freiwilliger Selbstzensur: Legalistisches Denken, »Sondieren« und Taktik In ihrem Bemühen, sich politisch nicht zu exponieren, versuchten die Verleger, sich in jeder Hinsicht »korrekt« zu verhalten. Diese Verhaltensmaxime entsprach einem streng legalistischen Denken. Immer wieder pochten Claassen und Goverts den Autoren gegenüber auf »Vorschriften«, an die sie als Verleger gebunden seien. An vielen Beispielen ist bereits deutlich geworden, daß die Taktik, bei den verschiedenen staatlichen und parteipolitischen Überwachungs- und Lenkungsstellen gar nicht erst aufzufallen, in der Regel zu einer äußerst engen Auslegung des vorgegebenen Entscheidungsspielraums führte. Für die alltägliche Verlagsarbeit waren die z. T. vagen Formulierungen der Anordnungen stets interpretationsbedürftig, die Übergänge von einem extensiven Ausloten des Handlungsspielraums zu einem überkorrekten Verhalten fließend: Aus dem Wunsch heraus, auf keinen Fall »Anstoß« zu erregen, wurde selbst das, was zunächst nur als Empfehlung ausgegeben wurde, als Rahmen akzeptiert. Manche Vorgaben, selbst wenn sie in der Praxis zunächst vergleichsweise großzügig gehandhabt wurden, wie z. B. die Anmeldepflicht für ausländische Literatur,464 wurden von Claassen und Goverts den

462 Vgl. dazu auch Barbian: Literaturpolitik, S. 245 – 247. 463 Siebenhaar: Buch und Schwert, S. 83f. 464 Vgl. Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 197, der feststellt, die Meldepflicht sei »in den ersten Jahren fast immer eine Formsache« gewesen.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Autoren gegenüber von Anfang an ohne Umschweife als bindendende Genehmigungspflicht interpretiert.465

Normalvertrag Die enge Auslegung der im Juni 1935 ergangenen Anordnung über den Normalvertrag466 ist ein anschauliches Beispiel. Zweifellos ist es auch als Zeichen für die Unsicherheit der Verleger zu werten, daß Claassen die Formulierung der ersten Verlagsverträge, die sie nach Bekanntgabe dieser Anordnung abschlossen – so für Emil Barth und für Hans Georg Brenner Ende des Jahres 1935 – immer wieder vor sich herschob und dies nachträglich damit begründete, daß er für die »mühsame Zusammenfassung der heute auch [sic] durch die Kammer vorgeschriebenen Vertragspunkte«467 lange keine Zeit gehabt habe. Als Barth aus Ärger über einzelne Klauseln und Formulierungen des Vertrags wenige Tage vor Beginn der Herstellung des Buches sein »Vertrauen für die Zukunft völlig erschüttert«468 sah und sein Manuskript zurückziehen wollte, bemühte sich Goverts telegraphisch wie brieflich um Rechtfertigung: »Aber uns ist dieser Normalvertrag, der alle Möglichkeiten berücksichtigt, seitens der Reichsschrifttumskammer vorgeschrieben, und schließlich hat ja auch ein solcher für alle Eventualitäten vorsorgender Vertrag sein Gutes.«469 Tatsächlich aber handelte es sich bei dieser Anordnung des Präsidenten der RSK nicht um eine bindende Vorschrift. Unter »Pflichten und Rechte bei Vertragsabschluß« hieß es, die Parteien seien gehalten, »bei Abschluß eines Verlagsvertrages das Muster des anliegenden Verlagsvertrages zu benutzen. Es steht ihnen im Einzelfall frei, die Musterbestimmungen nach den besonderen Umständen des Falles abzuändern, soweit sie dies mit dem Geist der Anordnung für vereinbar halten.«470 Daß damit dem einzel-

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465 Vgl. z. B. Goverts an Lies Brauer, 9.9.1935: »Sie wissen vielleicht, daß neuerdings die Bestimmungen verschärft sind. Wir haben vor jeder Übertragung eines ausländischen Buches für dasselbe und den Übersetzer unter Angabe seiner Reichsschrifttumskammer die Genehmigung der Reichskulturkammer einzuholen.« 466 Veröffentlicht im Börsenblatt 102 (1935) 142, S. 505f: Bekanntmachung der Reichsschrifttumskammer. Verordnung über einen Normal-Verlagsvertrag zwischen Schriftstellern und Verlegern. – Vgl. zu den einzelnen Punkten zusammenfassend Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 202 –205. 467 Claassen an Brenner, 31.12.1935. 468 Barth an den HGV, 28.2.1936. Barth hatte sich besonders an dem Passus über die Möglichkeit einer »Neubearbeitung« des Werks gestoßen und den zweiten Abschnitt in der Tat mißverstanden (vgl. Normal-Verlagsvertrag, § 11, der dem Autor das Recht auf eine Neubearbeitung einräumte, den Zeitraum dafür allerdings beschränkte: »Auf Ersuchen des Verlegers ist der Verfasser binnen sechs Wochen zur Neubearbeitung verpflichtet). »Entweder taugt das Buch etwas oder es taugt nichts: das ist von dem Urteil der Bücherkäufer völlig unabhängig. Und entweder ist es ein Kunstwerk, also ein in sich geschlossener lebendiger Organismus, in den, wenn er einmal vollendet, kein Eingriff ohne Schädigung mehr möglich ist, oder er ist eine tote Mechanik, in der man nach Belieben Teile verändern, auswechseln oder weglassen kann.« 469 Goverts an Barth, 29.2.1936. 470 Anordnung über einen Normal-Verlagsvertrag. In: Börsenblatt 102 (1935) 142, S. 505.

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein« nen Verleger, unter dem Hinweis auf die Möglichkeit von Abänderungen im »Geist der Anordnung«, die Verantwortung zugeschoben wurde, derer er sich jederzeit als »unwürdig« erweisen konnte, beleuchtet einen wesentlichen Mechanismus nationalsozialistischer Herrschaftspolitik. Günther Genz, Justitiar der RSk, betonte denn auch die Eigenverantwortlichkeit der Verleger: Mit der Unsicherheit, welche Abweichungen vom Mustervertrag er mit seinem »Gewissen vereinbaren« könne, müsse »der einzelne fertig werden, weil diese Entwicklung notwendig ist. Der Führer will nicht ein Volk von Knechten, das in jeder Frage mit Gewehr bei Fuß Befehle erwartet. Der Nationalsozialismus gibt nur die Richtlinien an, handeln muß der einzelne selbständig.«471 Im konkreten Fall ging das Kalkül auf. In ihrem Bemühen, sich korrekt zu verhalten und dem »Geist« der Anordnung zu entsprechen, hielten Claassen und Goverts sich möglichst eng an den Normal-Verlagsvertrag – und verschanzten sich dem Autor gegenüber hinter dem vorgeblichen Zwang, jeden Passus daraus exakt übernehmen zu müssen. De facto aber ergänzten sie – bei Barth wie bei allen anderen Autoren – ihre Verlagsverträge über die im Normalvertrag genannten Punkte hinaus: Sie fügten einzelne Passagen ein, die in ihrem eigenen Interesse lagen und ihnen wichtig waren, indem sie z. B. eine sog. Wettbewerbsklausel einfügten,472 eine Verlängerung der festgelegten Frist bis zum Erscheinungstermin festlegten473 oder sich auch für Fälle »höherer Gewalt«474 absicherten. Bei Hans Georg Brenner, der zunächst vertraglich noch an den Verlag Cassirer gebunden war, zeigte sich Claassen auch zu einer Umformulierung der Optionsklausel bereit. Er räumte ein, daß bei Einzelaspekten Änderungen durchaus möglich seien, wenn die Optionsformel auch von der RSK »in erster Linie empfohlen«475 sei. Gerade in finanziellen Fragen legten Claassen und Goverts die Anordnung sehr eng aus. Grundsätzlich blieben sie mit ihrer pauschalen Honorierung von 10 % vom Ladenpreis des gehefteten Exemplars für die erste Auflage am untersten Limit der im NormalVerlagsvertrag vorgesehenen Honorierung; der dort vorgesehenen allmählichen Um-

471 Günther Genz: Der Normal-Verlagsvertrag. In: Börsenblatt 102 (1935) 158, S. 562. 472 Als § 2 findet sich in den meisten Verlagsverträgen des HGV mit seinen Autoren folgender Passus: »Der Verfasser erklärt, daß er allein berechtigt ist, über das Urheberrecht an dem Werk zu verfügen, und daß er dieses Werk weder ganz noch teilweise anderweitig in Verlag gegeben hat. Er verpflichtet sich, bei keinem anderen Verlag ein Werk erscheinen zu lassen, das mit dem Werk, das Gegenstand dieses Verlagsvertrags bildet, in Wettbewerb zu treten geeignet wäre.« – Als Barth auch diesen Abschnitt mißverstand, erklärte Claassen den Sinn dieses Paragraphen und verteidigte seine Aufnahme: »Ich habe bisher noch keinen Fall erlebt, wo diese Wettbewerbsklausel praktische Folgen hatte. Trotzdem ist erst durch sie das Verlagsrecht juristisch definiert. […] Ich habe ihn in allen Verträgen, die ich seit 12 Jahren abschloß, aufgenommen, obwohl in den meisten Fällen genau wie bei Ihnen derselbe Einwand hätte erhoben werden können. Gestatten Sie mir also, diesen durchaus üblichen Passus zu behalten.« (Claassen an Barth, 10.3.1936) 473 Claassen an Barth, 27.2.1936: »Die Verlängerung des Erscheinungstermins haben wir nur aus formalen Gründen hineingenommen, da der Buchhandel augenblicklich erschreckend stagniert. Wir wollen in jedem Fall mit der Herstellung jetzt beginnen.« 474 So im Vertrag mit Sternberger über das »Panorama«-Buch, datiert vom 26.4.1935. 475 Claassen an Brenner, 8.1.1936.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs stellung auf eine Honorarabrechnung nach dem Umsatz476 kamen sie in der Regel mit einer Steigerung auf 12,5 % ab der zweiten Auflage nach. Allerdings entsprach die verlagsinterne Gesamtkalkulation auf der Basis einer angenommen Preisdifferenz von 33 1/3 % zwischen der gebundenen und der broschierten Ausgabe477 weder der tatsächlichen Preisgestaltung noch dem unter Pflichten und Rechte bei Vertragsabschluß478 genannten Verhältnis von 10 % und 7,5 %, was dort als Grundlage für die Errechnung des Honorars von geheftetem und gebundenen Exemplar genannt war.479 Die Verlagskorrespondenz weckt den Eindruck, daß die Vorschriften teilweise auch ihren eigenen verlegerischen Interessen entgegenkamen. Die Abwehr von Bitten um Rezensionsexemplare480 mit eben dieser Begründung ist nur ein Beispiel unter vielen.481

Überprüfung der Kammerzugehörigkeit Anders verhielt es sich mit der Anordnung vom 30.7.1934,482 mit der den Verlags- und Buchhandelsunternehmen die Überprüfung der Kammerzugehörigkeit ihrer Geschäftspartner, Autoren, Angestellten und Lehrlinge zur Auflage gemacht worden war. Diese Anordnung kollidierte nicht nur mit den Interessen der Verleger, sondern war Claassen und Goverts besonders bei neuen Kontaktaufnahmen stets unangenehm. Dennoch bestanden sie von Anfang an auf der Abklärung dieser Frage. Als Claassen im August 1934 den Übersetzer Georg Goyert, der sich mit seiner Joyce-Übertragung einen Namen gemacht hatte, die Elisabeth-Biographie zur Übersetzung anbot, nannte er bereits im ersten Brief als Voraussetzung dessen Mitgliedschaft in der Fachschaft Übersetzer im Reichsverband Deutscher Schriftsteller.483 In der Tat war eine solche Abklärung zu diesem Zeitpunkt vorgeschrieben, de facto allerdings zunächst

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476 Vgl. Anordnung über einen Normal-Verlagsvertrag, Abschnitt »Pflichte und Rechte bei Vertragsabschluß«. In: Börsenblatt 102 (1935) 142, S. 505. 477 So Claassen in seiner Erläuterung des Verlagsvertrags im Brief an Barth vom 10.3.1936. 478 Vgl. Börsenblatt 102 (1935) 142, S. 505. 479 Die brieflichen Diskussionen im Januar 1937 mit Neale, der die pauschale Errechnung des Honorars nach der broschierten Ausgabe, die es gar nicht gab, als »Farce« kritisierte und sich »nicht fair behandelt« (Neale an Claassen, 13.1.1937) fühlte, ist ein weiterer Beleg für die äußerst sparsame und wenig autorenfreundliche Kalkulation, die sich auch mit dem »Geist« der Anordnung nur schwer vertrug. Claassen beharrte allerdings darauf, daß die meisten schöngeistigen Verlage die Broschur zugrundelegten. (Claassen an Neale, 21.1.1937) 480 Die als Verlagshilfe angestellte Hedwig Vortmann beschied z. B. die Bitte verschiedener Patres um ein Rezensionsexemplar für den Roman Salvatorellis am 26.2.1937 abschlägig. – Vgl. dazu die Amtliche Bekanntmachung, abgedruckt in: Handbuch der RSK (1942), S. 160f. 481 Vgl. dazu auch Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 40 – 48 sowie S. 202 –205. – Zur innerhalb der Fachschaft Verlag im Frühjahr 1939 diskutierten Problematik der Remittenden, deren Abgabe in größeren Mengen nach Ansicht des Börsenvereins »eine Maßnahme sei, die einer Aufhebung des Ladenpreises gleichkommt«, vgl. Börsenblatt 106 (1939) 110, S. 410. – Vgl. dazu auch Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 86. 482 Bekanntmachung Nr. 37: Anordnung über den Nachweis der Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer, veröffentlicht im Börsenblatt (1934) 180; abgedruckt in: Das Recht der Reichskulturkammer, Bd. 1, S. 222f.; vgl Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 86. 483 Vgl. Claassen an Goyert, 10.8.1935 (Cl.A./Neale)

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein« kaum überprüfbar. Anders jedenfalls sind die Ermahnungen in den Vertraulichen Mitteilungen in der ersten Hälfte des Jahres 1936, als der Ausschluß der Juden aus dem reichsdeutschen Kulturleben forciert wurde, kaum zu erklären. Im April und erneut im Juni 1936 wurden die Verleger darauf hingewiesen, daß der Nachweis der Mitgliedschaft »nicht genügend beachtet« werde; explizit wurde den Verlegern dabei die Verantwortung zugewiesen.484 Im Bewußtsein dessen, wozu diese Anordnung letztlich diente, bemühte sich Claassen bei ihnen noch unbekannten Autoren um indirekte Informationsquellen. Die Überprüfung der RSK-Mitgliedschaft war auch von den Autoren längst als Vehikel für den radikalen Ausschluß jüdischer Schriftsteller erkannt. Der Briefwechsel mit Emil Barth zeigt die prekäre Mischung aus Sich-Winden und massivem Einfordern. »Nicht geäußert« habe er sich über die Mitgliedschaft bei der Reichsschrifttumskammer. »Ich darf sie wohl als selbstverständlich voraussetzen? Sollte in irgendeiner Hinsicht der leiseste Zweifel bestehen, so müßten Sie mir das ebenfalls telegraphisch bekanntgeben, da ich vor Klärung dieser Frage natürlich mit dem Satz nicht beginnen könnte.«485 Möglichst beiläufig hatte Claassen sich dafür hinter dem vorgeblichen Interesse des Buchhandels versteckt. Sie würden »heute vom Buchhandel bei Erscheinen neuer relativ unbekannter Autoren immer wieder gefragt, ob der Betreffende denn auch ›arisch‹ sei. Es wäre freundlich, wenn sie uns auch in dieser Richtung Auskunft erteilen wollten.«486 Postwendend teilte der Autor seine RSK-Mitgliedsnummer mit – und nahm mit fast zynischem Unterton die Formulierung Claassens auf: »Über mein ›reines Ariertum‹ besteht nicht der leiseste Zweifel.«487

Vom Umgang mit »jüdischen«, »halbjüdischen« und »jüdisch versippten« Autoren Am Umgang mit jenen Autoren, die entsprechend der absurden Arithmetik nationalsozialistischer Rassenpolitik als »jüdisch«, »halbjüdisch« oder »jüdisch versippt« galten und nach dem Willen der Schrifttumsbürokratie aus dem Kulturleben ausgeschlossen werden sollten, läßt sich exemplarisch die Bandbreite an Verhaltensweisen zeigen, mit der Claassen und Goverts auf die Zumutung reagierten, an diesem Ausschluß mitzuwirken. Vorsicht dominierte das Verhalten der Verleger von Anfang an. Von den Diskussionen im Zusamenhang der mit Hans Georg Brenner im Sommer 1935 geplanten Edition einer Sammlung von Grab- und Gedenkreden war bereits die Rede. (Vgl. Kap. 484 Vgl. Vertrauliche Mitteilungen für die Fachschaft Verlag, 10 (1936) und 12 (1936). – Im September 1937 wurde an dieser Stelle erneut an den Nachweis der ständischen Eingliederung von Schriftstellern erinnert. (Vertrauliche Mitteilungen für die Fachschaft Verlag, Nr. 28 vom 18.9.1937, S. 3) 485 Claassen an Barth, 5.3.1936. – Eine Woche zuvor hatte er ihn gebeten, in die Präambel des Vertrags die Nummer seines Reichsschrifttumskammerausweises einzufügen: »Wir haben bisher scheinbar [sic] versäumt, Sie nach dieser selbstverständlichen Voraussetzung zu fragen. Sollten Sie nicht der Kammer angehören, so ist unsere Unterschrift ungültig«. (Claassen an Barth, 27.2.1936) 486 Claassen an Barth, 27.2.1936. 487 Barth an Claassen, 6.3.1936.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs 3.1.) In diesen Wochen, in der der systematische Ausschluß der deutschen Juden aus der RSK nahezu abgeschlossen war,488 schätzten Autor wie Verleger die Auswahl jüdischer Schriftsteller selbst dann als Politikum ein, wenn diese längst ver-storben waren. Während in diesem Fall binnen weniger Wochen das Projekt ver-worfen wurde – bei zu vielen der von Brenner ausgewählten Autoren waren Claassen »Bedenken« gekommen –, legten Verleger wie Autoren bei einem Werk mit wissenschaftlichem Anspruch noch andere Maßstäbe für den Ausschluß an: In seiner Vorbemerkung im Anhang Quellen und Literatur der Knigge-Biographie489 hob Hans Georg Brenner die Mitarbeit Werner Milchs, der Jude war, ausdrücklich hervor.490 Schwieriger gestaltete sich die Entscheidung im Falle von Autoren, die unter die sog. Rassegesetze fielen.

Das Beispiel Elisabeth Langgässer Mit Elisabeth Langgässer, die nach den Rassegesetzen als Halbjüdin galt, hatte Claassen bereits Anfang des Jahres 1933 korrespondiert und für den Societäts-Verlag Interesse an ihrem Manuskript Gang durch das Ried gezeigt.491 Im November 1934 nahm Goverts für den neuen Verlag Kontakt auf,492 offensichtlich zu spät: Im Dezember jedenfalls schloß die Autorin mit Jakob Hegner einen Vertrag über ihre Tierkreisgedichte, kurz danach auch einen über den Roman Gang durch das Ried.493 Der Kontakt zum HGV allerdings blieb bestehen. Im Mai 1936 wurde Elisabeth Langgässer aus der RSK ausgeschlossen. Auch nach der Verlagsneugründung Jakob Hegners in Wien im Jahre 1936 fanden ihre Bücher innerhalb des Deutschen Reichs kaum noch Verbreitung. Offensichtlich erhoffte sich Elisabeth Langgässer noch im Frühjahr 1937, daß Claassen und Goverts eine Änderung ihrer Lage erreichen und langfristig weitere Bücher von ihr herausbringen könnten, zunächst einen geplanten Novellenband, langfristig den Roman Das unauslöschliche Siegel, von dem zu diesem Zeitpunkt zwei Kapitel vorlagen. Tatsächlich scheint Goverts in diesen Monaten zunächst vorgehabt zu haben, durch persönlichen Kontakt zum Präsidenten der RSK, Hans Blunck, zu versuchen, eine Sondergenehmigung494 für Elisabeth Langgässer zu erreichen. Seine Briefe an die Autorin dokumentieren, mit welch vorsichtiger Zurückhaltung, auch gegenüber der Autorin, er dabei vorging: »Mein Gespräch mit Blunck hat bisher nur vorbereitenden Charakter gehabt. Ich werde ihn in der zweiten Maihälfte auf seinem Gut aufsuchen […]. Ich möchte daher auch Sie bitten, bis zu meiner Blunck-Unterredung zu warten und vorher Ihren Novellenband und die beiden ersten Kapitel einem Auslandsverlag vorläufig noch Vgl. Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich, S. 47 –54. Grabe: Das Geheimnis des Adolph Freiherrn von Knigge, S. 273 –280 (Quellen und Literatur). Quellen und Literatur, S. 273. So Elisabeth Langgässer an Elisabeth Andre, 24.1.1935. In: Langgässer: Briefe, I, S. 162: »Claassen von der Sozietäts-Druckerei« finde die Anlage des Romans »unerhört« und wolle darauf »unbedingt die Option für seinen Verlag« haben. – Die Frankfurter Zeitung erwarb noch im September 1935 für einen Vorabdruck im Feuilleton die Rechte (Cl.A./Langgässer, Korrespondenz Jakob Hegner, September 1935). 492 Goverts an Langgässer, 23.11.1934 (DLA Langgässer/70.3907/1). 493 Die »Tierkreisgedichte« erschienen bei Jakob Hegner 1935, der Roman 1936 . 494 Vgl. die Beispiele für eine »flexiblere Handhabung« in bezug auf die Berufszulassung »jüdisch versippter« Schriftsteller bei Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 158 – 160.

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3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein« nicht anzubieten.«495 Im Juni 1937 berichtete Goverts von seinen »bisherigen Erkundigungen«: »Ich habe inzwischen meine Fühler ausgestreckt und dabei erfahren, daß es möglich ist, bei Fällen wie dem Ihren für ein fertig vorliegendes Ms, wie jetzt ihren Anekdotenband, eine eventuelle Sondergenehmigung zu erreichen. Über den besten Weg bekomme ich in einigen Tagen noch genauen Bescheid.«496 Es sieht so aus, als habe sich Goverts doch davor gescheut, sich persönlich durch einen Antrag auf eine Sondergenehmigung zu exponieren. Nachdem er von dem Versuch Wolfgang Einsiedels erfahren hatte, für den Abdruck einer einzelnen Novelle in der Neuen Rundschau eine Sondergenehmigung zu erreichen,497 wollte er diese Entscheidung abwarten. Der Briefwechsel erweckt nicht den Eindruck, daß Goverts sich in dieser Frage forciert bemüht hätte. Die »ausführliche Nachricht«, die Goverts für »in Kürze«498 ankündigte, scheint er mündlich überbracht zu haben.499 In einem Brief an Emanuel bin Gorion faßte Elisabeth Langgässer im Juli 1937 die Bemühungen der Verleger zusammen: Goverts interessiere sich zwar für sie; er würde wohl gerne zahlen, was sie verlange, habe aber »keine Möglichkeiten, meine Position zu verändern; eine Voraussetzung, die ja die Hauptsache bei allen Verhandlungen ist«500. Aus der Retrospektive ist erstaunlich, wie lange Elisabeth Langgässer sich Hoffnungen gemacht hat, daß Claassen und Goverts ihre Werke würden herausbringen können. Im Almanach des Hegner Verlags 1937 war die Autorin bereits nicht mehr aufgeführt,501 und ihre Eingabe an Hans Hinkel502 als Geschäftsführer der RKK auf Rücknahme des Ausschlusses aus der RSK war Ende Februar 1938 abschlägig beschieden worden.503 Noch im März 1938, wenige Tage nach dem sog. Anschluß Österreichs, erwog sie in einem Brief an den mittlerweile nach England emigrierten Werner Milch die Idee, das

495 Goverts an Langgässer, 14.5.1937 (DLA/Langgässer/70.3407/2, 14.5.1937). – Im Mai wandte sich Elisabeth Langgässer an Bermann Fischer in Wien, der ihr zunächst »goldene Berge« versprach, nach Lektüre der ersten zwei Romankapitel die Vorfinanzierung für ein »so weittragendes Unternehmen« jedoch ablehnte (Langgässer an bin Gorion, 8.7.1937, in: Langgässer: Briefe, I, S. 273). 496 Goverts an Langgässer, 15.6.1937 (DLA/Langgässer/70.3407/3). 497 Vgl. Langgässer an bin Gorion, 8.7.1937 (in: Briefe, I, S. 273), die, unabhängig von diesen Bemühungen Einsiedels, ihren Kontakt mit Suhrkamp wegen einer möglichen Vorfinanzierung des »Unauslöschlichen Siegels« enttäuscht resümierte: »Er drehte und wand sich […]. Der langen Rede kurzer Sinn: ich möchte Dich wohl haben, mein Kind, aber möglichst billig. D. h. er möchte den Roman gern in den letzten 5 Minuten erwerben, wenn keine Vorfinanzierung mehr nötig ist.« 498 Goverts an Langgässer, 15.6.1937. 499 Der zeitlich auf diesen Brief folgende im Langgässer-Archiv stammt vom Frühjahr 1940. Vermutlich hat Goverts im Frühsommer 1937 in Berlin Elisabeth Langgässer besucht. 500 Langgässer an bin Gorion, 8.7.1937. In: Langgässer: Briefe, I, S. 274. 501 Auf den Protestbrief der Autorin am 18.12.1937 reagierte Dr. Wild, der Lektor des Verlags, mit einer lauen Entschuldigung. – Vgl. Wild an Langgässer, 20.12.1937 (Cl.A./Langgässer/ Korrespondenz Jakob Hegner) sowie die Antwort Elisabeth Langgässers an Wild, 5.1.1938 (Langgässer: Briefe, I, S. 289f.). 502 Langgässer an Hinkel, 17.8.1937 (Langgässer: Briefe, I, S. 277f.). 503 RSK an Langgässer, 28.2.1938 (DLA/Langgässer-Archiv).

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Unauslöschliche Siegel nach Fertigstellung einem englischen Verlag anzubieten und vielleicht mit Goverts eine deutsche »Übersetzung« zu vereinbaren.504 Erst im Februar 1939 scheint sich Elisabeth Langgässer keinerlei Hoffnungen mehr hingegeben zu haben, daß sie im Dritten Reich überhaupt noch irgend etwas würde veröffentlichen dürfen.505 1940 bekundete Goverts nur noch ein allgemeines Interesse: »Ich hoffe mit Ihnen, daß die große Trilogie nicht allzu lange in der Schublade wird liegen müssen.«506 In den ersten Nachkriegsmonaten konnten Claassen und Goverts an diesen Kontakt anknüpfen.507

Das Beispiel Dolf Sternberger Im Fall Langgässer haben sich die Verleger äußerst zurückhaltend und vorsichtig verhalten. Weitere Beispiele legen den Schluß nahe, daß diese Zurückhaltung und damit das Warten auf positive Signale im Laufe ihrer vorsichtigen »Sondierungen« im Umfeld der Entscheidungsstellen eine grundsätzliche Verhaltensmaxime war. Trotz ihres SichHinwegsetzens über die offiziellen Bestimmungen bei der Veröffentlichung des Panorama-Buchs Dolf Sternbergers im Frühjahr 1938, das ihrem sonstigen Verhalten auf den ersten Blick zuwiderzulaufen schien, erweckt der Ablauf der Diskussionen ein ähnliches Bild. Die Sondierungen hinsichtlich des in den Augen der Verleger noch vertretbaren Vorgehens zogen sich über zwei Jahre hin. Das Äußerste, zu dem sie sich nach langem Hin und Her entscheiden konnten, war, sich auf den formaljuristischen Standpunkt zu stellen, daß der Vertrag bereits vor der Bekanntgabe der entsprechenden Anordnungen geschlossen worden war. Das Beispiel Sternberger zeigt immerhin, daß es in einem solchen Fall zu diesem Zeitpunkt noch möglich war, die bestehenden Bestimmungen zu umgehen: Sternbergers Buch erschien, ohne daß der Autor Mitglied der Reichsschrifttumskammer war bzw. einen Befreiungsschein der RSK besaß. Die verlagsinternen Erörterungen und die Entscheidung belegen gleichzeitig die These Dahms, daß die Basis der systematischen »Entjudungsaktionen« innerhalb der RKK die Angaben der Mitglieder selbst waren.508 Dolf Sternberger, Mitarbeiter der Frankfurter Zeitung und damit Mitglied der Reichspressekammer, hätte wegen seiner jüdischen Ehefrau nach dem Sprachgebrauch des Regimes als »jüdisch versippt« gegolten, wenn er versucht hätte, den sog. Arier-

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504 Langgässer an Milch, 24.3.1938 (Langgässer: Briefe, I, S. 291 – 293). – Der Novellenband »Rettung am Rhein«, der Mitte März im neugegründeten Salzburger Verlag Otto Müller erscheinen sollte (vgl. Briefe, I, S. 294f.), kam schließlich mit Sondergenehmigung im Laufe des Jahres 1938 heraus. 505 Vgl. Langgässer an Karl Thieme, 16.2.1939 (Langgässer: Briefe, I, S. 317f.). 506 Goverts an Langgässer, 18.4.1940 (Cl.A./Langgässer). 507 Mehr als fünf Jahre später, im August 1945, kam es zu einem Verlagskontakt zwischen Elisabeth Langgässer und den Verlegern über den mittlerweile nahezu vollständig fertiggestellten Roman »Das unauslöschliche Siegel« (Nr. 99) und den Gedichtband »Der Laubmann und die Rose« (Nr. 100). Beide Werke wurden 1947 ausgeliefert. – Dankbar erinnerte sich Elisabeth Langgässer in einem Brief vom Dezember 1945 an den Verlagsabschluß als Treuebeweis Claassens. (Langgässer an Richard und Elisabeth Knies, 7.12.1945, in: Langgässer: Briefe, I, S. 517) 508 Vgl. Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich, S. 104.

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein« nachweis zu erbringen. Als Claassen und Goverts mit ihm am 27.4.1935 den Vertrag über sein Panorama-Buch abschlossen, war die Reorganisation des Schriftstellerverbandes zwar weitestgehend abgeschlossen; die bis Juli 1935 verschickten Fragebögen an die Mitglieder allerdings waren noch nicht ausgewertet.509 Ende Juni 1935 erinnerte Claassen den Freund bereits an die Notwendigkeit der Mitgliedschaft beim RDS, und drei Monate später mahnte er erneut: Die Mitgliedschaft bei der Reichsschrifttumskammer müsse Sternberger »für Buchveröffentlichungen unbedingt besitzen«510. Die erhaltenen Briefe erwecken den Eindruck, daß Sternberger auf Zeit spielte; es ist nicht auszuschließen, daß er den Antrag auch bereits eingereicht hatte, der dann möglicherweise bei der Neuorganisation der RSK verlorengegangen war. Im März 1936 jedenfalls bestätigte ihm Claassen, daß die Schrifttumskammer »bei ihrem Umzug im Oktober in der Tat einiges verloren« habe: »Im neuen Haus in der Friedrichstr. 194/199 funktioniert sie dagegen ausgezeichnet. Vergiß also nicht mir zu schreiben, wenn der »Antrag« positiv beschieden worden ist.«511 Mehr als ein Jahr lang war in der Korrespondenz zwischen den Verlegern und Sternberger von der notwendigen Mitgliedschaft nicht mehr die Rede. Trotz häufigen, zwischenzeitlich sogar recht massiven Drängens512 Claassens, der das Buch ursprünglich bereits im Herbst 1936 hatte veröffentlichen wollen, kam es immer wieder zu Verzögerungen bei der Fertigstellung des Manuskripts, das Sternberger erst im Spätsommer 1937, nach einer von den Verlegern arrangierten Klausur in Vaduz/Liechtenstein im Haus von Goverts’ Mutter, zum Abschluß brachte. Offensichtlich aber hatte Sternberger auf Drängen seiner Verleger in der Zwischenzeit bei der RSK doch einen Antrag auf Befreiung von der Mitgliedschaft gestellt. Nachdem er Ende Mai 1937 die mittlerweile üblichen Antragsformulare zugeschickt bekommen hatte,513 beschrieb er die Schwierigkeiten, in die er durch den Brief der Reichskulturkammer gebracht worden sei: »Es war die Antwort auf meine, von Ihnen seinerzeit angeregte oder vielmehr dringend erbetene Bitte um Befreiung von der Mitgliedschaft. Die Antwort besteht in drei verschiedenen Fragebogen beträchtlichen Umfangs, welche ausgefüllt werden sollen. Zwei davon sind Stammtafeln (für mich und Gattin) – diese auszufüllen kann ich allenfalls umgehen, da es genügt, wenn ich eine Bescheinigung der Pressekammer darüber beibringe, daß ich schon die gleichen Pflichten dort erfüllt habe. Das dritte Aktenstück ist der Fragebogen »für schriftstellerisch Tätige«, welcher ein vollständiges Verzeichnis der bisherigen Leistungen auf politischem wie literarischem Gebiete zu gewinnen strebt. Hierin wäre nicht das mindeste Bedenken gelegen, wenn nicht leider auch dabei nach Ehefrau und deren Geburtsnamen geforscht würde. Sie wissen, daß meine Ehefrau den Geburtsnamen Rothschild führt, einen wohl509 510 511 512

Vgl. Dahm: Die nationalsozialistische Schrifttumspolitik, S. 39f. Claassen an Sternberger, 26.9.1935 (Auslassung in: In Büchern denken, S. 476). Claassen an Sternberger, 12.3.1936. Im Winter 1936 war bereits davon die Rede, daß Sternberger den bis dahin überwiesenen Vorschuß von RM 1050,- zurückzahlen müsse, wenn er das Manuskript nicht bis zum 15.6.1937 abliefere (Claassen an Sternberger, 16.11.1936). 513 Sternberger versuchte sich zunächst in ironischer Distanzierung: Ein Brief von der Reichskulturkammer sei gekommen, »ein doppelter und überdies als portopflichtige Dienstsache, was den Bürger stets verdrießlich stimmt«. (Sternberger an Goverts, 28.5.1937)

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs klingenden und von historischer Würde vollen, an diesem Ort indessen gefährlichen Namen.«514 Der folgende Passus belegt exemplarisch den Kenntnisstand eines aufgrund seiner Mitarbeit bei der Frankfurter Zeitung im allgemeinen gut über die kulturpolitischen Bestrebungen des Regimes unterrichteten Journalisten. Er erläuterte seinem Verleger, ihm sei »seit kurzem bekannt, daß die Reichsschrifttumskammer seit etwa anderthalb Jahren langsam und unter der Hand die nichtarisch versippten Mitglieder ausscheidet. Unter diesen Umständen erscheint es durchaus fraglich, ob man meinem Befreiungsantrag stattgeben wird.« Sternberger räumte ein, man könne einwenden, daß es sich »ja gerade um die Befreiung von der Mitgliedschaft« handle, daß die Kammer also »ihrem Prinzip durch Gewährung nicht zuwiderhandeln würde«. Er gab zwar zu bedenken, man habe gewiß nicht voraussehen können, daß »bei dieser Formalität trotzdem die Fragebogenumstände gemacht« würden; gleichzeitig aber begann er Goverts Vorhaltungen wegen seiner mangelnden Sensibilität zu machen: Man hätte es »ahnen und daher eine andre Taktik einschlagen müssen. Ich kann Ihnen, lieber Go, keine Vorwürfe machen, aber es ist klar, daß mein Verfahren, einfach auf Grund der ersten Durchführungsverordnung schlankweg zu publizieren, das bessere gewesen wäre. Nachdem Sie natürlich einmal deswegen offiziell angefragt hatten, war die Sache im Rollen und nicht mehr abzubiegen.«515 Die »Chancen und Mittel« einer sogenannten »Sonderaktion«, d. h. einer Ausnahmeregelung, mochte Sternberger »in keiner Weise beurteilen«: »Sie müssen sofort überlegen, welche Personen und Argumente und vor allem welche Diplomatie […] Sie verwenden können. Inzwischen würde ich in dem Falle, daß Sie mir eine optimistische Mitteilung machen, den Fragebogen ausfüllen und die sonstigen Unterlagen von der Pressekammer besorgen und das Ganze, wenn Sie es für richtig halten, Ihnen zu weiterer Verwendung zuschicken.«516 Umgehend begann Goverts mit »Sondierungen« in Berlin, die er versprach, »mit äußerster Vorsicht«517 vorzunehmen, ohne dabei Sternbergers Namen zu nennen. Wenige Tage später bereits konnte er erste Ergebnisse andeuten. Auf »zwei völlig verschiedenen Wegen« habe er »sondiert«; und auf beiden habe er »ein gleiches Bild der Situation« erhalten: »Künstler und Schriftsteller mit jüdischen und nichtarischen Frauen wie Bergengruen, Kredel, Nossack, die bereits auf Grund dieser Tatsache aus der Kammer ausgeschlossen waren, sind jetzt kürzlich wieder Mitglieder geworden. […] Von Bergengruen erscheint, wie ich nur erwähnen möchte, im Herbst ein neuer Roman in 50 000 Auflage bei der Hanseatischen Verlagsanstalt, also ganz große Aufmachung und Propagierung.«518 Zwei Monate später noch glaubte Claassen den Autor, den er zuvor auf der Rückreise von seinem Urlaub auf Korsika besucht hatte, beruhigen zu können; er könne »der Frage der Kammerzugehörigkeit mit Vertrauen entgegensehen«. Sie würden »bis zur Vorlage des Ms nichts unternehmen. Ich bitte auch Dich, alles ruhen zu lassen.«519 514 515 516 517

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Sternberger an Goverts, 28.5.1937. Sternberger an Goverts, 28.5.1937. Sternberger an Goverts, 28.5.1937. Goverts an Sternberger, 29.5.1937: »[...] und bitte auch Sie vorerst, die Angelegenheit mit gleicher Vorsicht zu behandeln.« 518 Goverts an Sternberger, 3.6.1937. 519 Claassen an Sternberger, 11.6.1937.

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein« Am 1. Juli 1937 wurde im Börsenblatt die Amtliche Bekanntmachung der Reichsschrifttumskammer Nr. 88 vom 1. April veröffentlicht.520 Darin wurde angeordnet, daß die Schriftsteller den Verlegern gegenüber entweder die Mitgliedschaft bei der Reichsschrifttumskammer nachzuweisen hätten oder aber einen Befreiungsschein besitzen müßten.521 In seinem Brief vom 13.7. zog sich Claassen daraufhin auf diese Kammervorschrift zurück und wies Sternberger die Aufgabe zu, sich um die Klärung der Frage seines Befreiungsscheins selbst zu kümmern, so als hätten alle Diskussionen der mit einem solchen Antrag verbundenen Schwierigkeiten in den Monaten zuvor nicht stattgefunden. Claassens Forderung befand sich zweifellos mit den Formulierungen der Bekanntmachung im Einklang; dennoch bleibt der Stil befremdlich: »Unterdessen ist eine Kammervorschrift veröffentlicht worden, durch die die ganze frühere Praxis aufgehoben wird. […] Ich möchte dich sehr bitten, auch diese Frage nunmehr schnell zu erledigen, da ich ja ohne diese Genehmigung garnicht mit dem Satz beginnen kann.«522 Sein Ratschlag für Sternbergers Vorgehen reduzierte sich auf die Schritte, die die Verleger wenige Wochen zuvor noch selbst hatten übernehmen wollen: »Ich würde aber den Antrag auf das vorliegende Ms. beschränken. […] Die Tatsache, daß Du bereits Mitglied der Reichs-Presse-Kammer bist und daß unser Vertrag bereits 1935 abgeschlossen wurde, dürfte es erleichtern, daß Du die Genehmigung erhältst.«523 Sternberger scheint zunächst nichts unternommen zu haben: Er fürchtete vor allem wohl Schwierigkeiten mit der für ihn zunächst zuständigen Reichspressekammer. Der Ablauf der Ereignisse in dieser Sache im Laufe des Monats Juli erweckt den Eindruck, daß Claassen auf keinen Fall bereit war, solche Verhandlungen in Berlin persönlich zu übernehmen. Die eingespielte Arbeitsteilung zwischen den beiden Verlegern524 und damit die Rolle seines Kompagnons bei derartigen Abklärungen wird an diesem Beispiel exemplarisch deutlich. Am 4. August konnte Goverts von den Ergebnissen seines Gesprächs »mit unserem Gaufachschaftsberater, der bei mir frühstückte«, berichten: »Nach seinen Erfahrungen, die sich auch mit meinen Erkundigungen decken, wird Ihre Sache ohne irgendwelche Schwierigkeiten genehmigt werden. Der dumme Punkt ist nur im Augenblick, daß der diese Fragen bearbeitende Referent, der Vicepräsident Dr. Wißmann, aus der Kammer ausgeschieden ist und die Stelle noch unbesetzt ist. Er riet mir daher zu warten.«525 Goverts erwartete »noch einige Antworten«, plante, »bei einem Besuch in Berlin Herrn Bischof[f] von der Kammer zu fragen«, und erwog gleichzeitig, sich »direkt in

520 Vgl. Börsenblatt 104 (1937) 148, abgedruckt auch in: Handbuch der Reichsschrifttumskammer (1942), S. 249. – Vgl. dazu auch: Vertrauliche Mitteilungen für die Fachschaft Verlag, Nr. 28 vom 18.9.1937, S. 3. 521 Damit wurde die Anordnung vom 30.7.1934 modifiziert, nach der der Nachweis der Mitgliedschaft der Autoren praktisch in die Verantwortung der Verleger gelegt worden war. 522 Claassen an Sternberger, 13.7.1937. 523 Claassen an Sternberger, 13.7.1937. 524 Vor allem Goverts war es, der regelmäßig zu den halboffiziellen Verlegertreffen fuhr; er nahm auch am Internationalen Verlegerkongreß in Berlin teil (so Goverts an Barth, 21.6.1938), und im Mai 1939 fuhr er zur Kantate-Tagung nach Leipzig (Goverts an Barth, 20.6.1939). 525 Goverts an Sternberger, 4.8.1937

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs einem Brief« an den ihm »flüchtig bekannten Herrn Hanns Johst«526 zu wenden. Wenige Tage später berichtete er, er habe »auch von Rowohlt und anderen Nachricht erhalten, die der Ansicht sind, daß die Angelegenheit ohne irgendwelche Schwierigkeiten verlaufen«527 werde. Mitte September endlich, nach weiteren Verzögerungen, hatte Goverts sich zu einer Entscheidung durchgerungen. Sie entsprach im Ergebnis den Vorstellungen Sternbergers von Anfang an. Ausführliche Gespräche mit Verlegerkollegen, darunter Rowohlt und vermutlich auch Suhrkamp, bestärkten Goverts letztlich in seiner Überzeugung, es wäre doch kein allzu großes Wagnis, eine solche formaljuristische Position einzunehmen. Im Ernstfall, so lautete die Argumentationslinie, könnten sie diese auch der Reichsschrifttumskammer gegenüber vertreten: »Wir haben den Vertrag im Jahre 1935 geschlossen, als die inzwischen verlangte Anmeldung noch nicht notwendig war. Ich habe gleich in Berlin alle Bestimmungen durchgearbeitet und festgestellt, daß man es rechtlich durchaus vertreten kann, wenn wir jetzt nachträglich keine Anmeldung vornehmen.«528 Nachdem die Verleger sich für dieses Vorgehen entschieden hatten, wurde es brieflich nicht mehr diskutiert. Nach der äußerst gewissenhaften Durcharbeitung des Manuskripts wurde es in Satz gegeben. Sternbergers Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert wurden im Frühjahr 1938 ausgeliefert. Wegen des nicht beantragten Befreiungsscheins hat es in der Folge keinerlei Schwierigkeiten gegeben.

»Es war ja immer unsere Haltung, keine heißen Eisen anzufassen« Als Goverts wenige Tage nach dem Überfall der Deutschen Wehrmacht auf Polen Sternberger um die Adresse des Rußlandkorrespondenten der Frankfurter Zeitung529 gebeten und Sternberger befremdet reagiert hatte, wies Goverts empört dessen ironische Unterstellungen zurück.530 Unmißverständlich betonte er als Leitlinie ihrer verlegerischen Arbeit von Anfang an ihr Bemühen um Unangreifbarkeit: »Es war ja immer unsere Haltung, keine heißen Eisen anzufassen und uns nach Möglichkeit von der Politik fernzuhalten.«531 Als Auswirkungen dieser Maxime lassen sich zahlreiche Ablehnungen von Autoren und Ausgrenzungen vieler Themen beschreiben. Die Autobiographie des in England lebenden französischen Meisterkochs Marcel Boulestin Myself my two Countries schied aufgrund der schon am Titel ersichtlichen positiv beschriebenen Internationalität ebenso aus wie der amerikanische Roman von Vardis Fisher, Children of

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526 Goverts an Sternberger, 4.8.1937: »Haben Sie Beziehungen zu Johst?« – Hans Johst war seit Oktober 1937 Präsident der RSK. 527 Goverts an Sternberger, 11.8.1937. 528 Goverts an Sternberger, 13.9.1937. 529 Hermann Poerzgen berichtete seit 1937 für die FZ aus Moskau; vgl. Gillessen: Auf verlorenem Posten, S. 385 sowie S. 406f. 530 »Fast scheint mir, Sie haben keine sehr hohe Meinung von Ihrem Buchverlag, der Ihr schönes ›Panorama‹ brachte. Nein, wir beabsichtigen weder ein Buch über Josef Stalin zu bringen, noch Herrn Poerzgen zu bitten, uns ein Russland-Buch zu schreiben.« (Goverts an Sternberger 27.9.1939) 531 Goverts an Sternberger, 27.9.1939. – Er habe lediglich um die Adresse »für später, für unsere Kartothek« gebeten, »denn Claaßen denkt daran, Poerzgen später zu schreiben, welche jungen Schriftsteller er im heutigen Rußland für die begabtesten und wichtigsten hält.«

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein« God, über die Geschichte der Mormonen, den Hilde Claassen im August 1939 prüfte: »Diese Parallele zum Schicksal des Judenvolkes, die sich auch dem naivsten und ganz unvoreingenommenen Leser aufdrängt, ist einer der Gründe, aus denen wir von einer Veröffentlichung gerade im Deutschen gegenwärtig abraten zu müssen glauben.«532 Der Roman Winged Pharaoh der Amerikanerin Joan Grant war zwar in Claassens Augen »ausgezeichnet geschrieben, aber weder im Thema noch in der Darstellungsweise für Deutschland geeignet«533. Er kam für eine Veröffentlichung im HGV ebensowenig infrage wie ein Manuskript aus dem Französischen von Gilbert Sigaux, Les Chiens Enragés, eine Verteidigungsschrift in Tagebuchform, in der – in Parallele zum Fall Dreyfus – laut Hilde Claassens Gutachten »die Idee des Rechts und der Gerechtigkeit behandelt« wurde. Das Buch hatte Hilde Claassen zwar sehr beeindruckt, dennoch glaubte sie es nicht empfehlen zu können: »Da es aber durchaus zu den ›politischen‹ Büchern gehört, ist es mir zweifelhaft, ob man es im Augenblick veröffentlichen soll.«534 Toposartig zieht sich durch die Verlagsgutachten und die Korrespondenz der Ablehnungsgrund, daß ein Buch »zu politisch« sei oder daß »Parallelen zu heute« zu offensichtlich seien. Obwohl, entsprechend dem immer wieder aufs neue erhobenen Anspruch auf »höhere Aktualität«, ein wesentliches Motiv der Verlagsarbeit darin lag, die Leser zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den behandelten Themen zu bewegen, zogen die Verleger die Grenzen der politischen Andeutungen äußerst eng. Gerade bei der Wahl von Motti, wie sie z. B. Horst Lange und José Antonio Benton für ihre Romane ausgewählt hatten, waren die Verleger bemüht, »scheinbar den Inhalt erläuternde Zeilen« zu verhindern, besonders dann, wenn ihnen der Tenor politisch als problematisch erschien. Bei Lange gaben schließlich wohl hauptsächlich verkaufsfördernde Argumente den Ausschlag, wenn die vorgebrachten Argumente durchaus auch einen politischen Hintergrund hatten. Quasi im letzten Moment überredete Claassen den Autor, auf das »düstere Motto« der Verse des schlesischen Barockdichters Johann Christian Günther535 zu verzichten, die Lange der Schwarzen Weide voranstellen wollte, und rechtfertigte seine Entscheidung mit dem »einstimmigen Protest« vieler Buchhändler, mit denen er gesprochen habe.536 Die Entscheidung allerdings, die beiden von Benton gewählten Zitate ohne Rücksprache mit dem Autor ersatzlos zu streichen, zeigt, wie ängstlich sie bemüht waren, jegliche politische Andeutung zu vermeiden. Benton hatte seinem Manuskript Tarpan zwei Motti vorangestellt, »ein französisches von Procius und ein lateinisches von Virgil«537. Es liegt nahe, daß die Verleger, des Lateinischen sehr wohl mächtig, im Namen »Procius« die Anspielung auf die Emigration des früheren Stuttgarter Rechtsanwalts, der als Professor an einer protestantischen Missionsschule in Sao Paulo arbeitete, durchschauten. Bei der Begründung der Streichung gleich beider Motti zogen sie sich auf ein gewissermaßen wissenschaftliches und damit unverfängliches Argument zurück: 532 Hilde Claassen: Gutachten Vardis Fisher, Children of God (19.8.1939). – Claassen stimmte seiner Frau zu: »Schade um das großartige Thema, das aber heute undenkbar ist.« (Claassen an Hilde Claassen, 19.8.1939) 533 Claassen an Stock, 14.1.1938. 534 Hilde Claassen: Gutachten Gilbert Sigaux, Les Chiens enragés (o. D.). 535 »Gerodet hat die Zeit im sterblichen Herzen« 536 Claassen an Lange, 3.8.1937. 537 Landahl an Benton, 2.2.1938.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs »Wir haben in unseren deutschen Nachschlagemitteln nicht feststellen können, wer Procius ist. Bei der Gründlichkeit des deutschen Lesers ist es aber nicht gut möglich, Motti zu verwenden, deren Herkunft, ja deren Verfasser unbekannt und nicht feststellbar sind. Da wir, ohne die Herstellung des Buches in unerträglichem Maße zu verzögern, von Ihnen eine Aufklärung nicht mehr erbitten konnten, haben wir uns zu unserem Bedauern entschließen müssen, die beiden Motti zu streichen.«538 Während die Veröffentlichung dieses Werks eines deutschen Emigranten immerhin einigen Mut erforderte und die eigenartige Mystifikation des Autors Benton in der Geschichte des HGV während des Dritten Reichs damit ihre Erklärung und Berechtigung hat,539 bleibt befremdlich, daß Claassen noch vier Jahre nach Kriegsende den Autor auf diese Identität verpflichten wollte.540

Das Beispiel Musil Bei jeder anstehenden Entscheidung wägten Claassen und Goverts aufs neue ab, wo für sie die Grenze dessen lag, was sie noch glaubten wagen zu können: »Ich wälzte das Ms hin und her. Sehr vieles sprach dafür, das ganze war aber geeignet, dem Verlag viele Schwierigkeiten zu bereiten. So ließ ich es schweren Herzens und telephonierte heute ab.«541 Dieser Tenor zieht sich durch viele vertraute Briefe Claassens. Immer wieder holten sie »Erkundungen« ein und versuchten, sich auf diese Weise gewissermaßen im Vorfeld der Entscheidungen abzusichern. Im Falle Robert Musils, dessen finanzielle Lage prekär und dessen verlagsrechtliche Situation im Jahre 1938 äußerst kompliziert war,542 zogen sich die vorsichtigen Annäherungen ein volles Jahr bis zum Sommer 1939 hin. Die erhaltenen Quellen vermitteln den Eindruck, daß die Bemühungen der Verle-

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538 Landahl an Benton, 2.2.1938. 539 Die Person des Autors José Antonio Benton [d. i. Hans Elsas] innerhalb des H. Goverts Verlags, so wie sie sich im der Korrespondenz darstellt, stellt eine Mystifikation dar, die ganz offensichtlich für die Zensur veranstaltet wurde. In seinem Brief vom 16.8.1937 wies der Autor darauf hin, daß der letzte Brief der Verleger ihn mit zwei Monaten Verspätung erreicht habe: »Der Brief war geöffnet und mit einem Leimband verklebt. Auf dem Leimband stand etwas Unleserliches, in deutscher Schrift. Die Adresse war richtig. Der Brief war völlig verfleckt. Ich teile das mit, (da ich weiß, daß der Brief ordnungsgemäß von Ihnen weg ging), damit Sie sich ein Bild davon machen können, wer sich für unsere Correspondenz interessiert.« Er fühle, daß es »höchste Zeit« für ihn sei, »nach zwanzig Jahren wieder in Fühlung mit der lebendigen deutschen Sprache zu kommen.« (Benton an HGV, 12.10.1938). 540 Als Claassen nach dem Krieg eine Neuauflage des »Tarpan« (Nr. 16) für 1948 und die nach 1938 zurückgestellte Herausgabe der »Cambresischen Hochzeit« (1950) (Nr. 161) in Satz geben wollte, stieß sich der Verleger an einer Anspielung innerhalb des Manuskripts auf die wirkliche Identität: »Sie sind nun mal mit der Aura des Fernen versehen, alles ist auf den Namen Benton abgestellt. Warum diese durchaus vermeidbare Enthüllung?« (Claassen an Benton, 1.2.1949 – Auslassung in: In Büchern denken, S. 85 – 86) 541 Claassen an Hilde Claassen, 8.2.1936. 542 Im Juni 1937 waren die Rechte der 1930 und 1932 bei Rowohlt erschienenen ersten beiden Bände des »Mann ohne Eigenschaften« vom Wiener Verlag Bermann Fischers übernommen worden; nach dem sog. Anschluß Österreichs und der Emigration Bermann Fischers nach Schweden war es zu Schwierigkeiten mit dem kommissarischen Verwalter des Wiener Verlags gekommen.

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein« ger, sich auf diesen besonders von Claassen hoch geschätzten Autor eine Option zu sichern, ohne Kenntnis der Tatsache erfolgte, daß die Ehefrau Musils Jüdin war. Ende Juni 1938 hatte Claassen Musil in Wien besucht.543 Für eine vom Autor geplante Aphorismen-Sammlung war Claassen zu Musils Leidwesen zwar nicht zu erwärmen gewesen544, an der Fortführung des Mann ohne Eigenschaften allerdings hatte er Interesse gezeigt. Bei diesem Treffen muß sogar von einem monatlichen Fixum von 600 Schilling die Rede gewesen sein, das Claassen unter der Voraussetzung zu zahlen bereit war, daß Musil sich auf einen bestimmten Abgabetermin festlegen würde.545 Dennoch scheint es sich von beiden Seiten lediglich um ein vorsichtiges Abtasten gehandelt haben.546 Nicht nur wird den Verlegern die auch rechtlich problematische Situation des Autors, der alle Termine zum Eintritt in die Reichsschrifttumskammer verstreichen ließ, Bedenken bereitet haben.547 Claassen hatte weniger Interesse an einem weiteren Teilband, als vielmehr an der geschlossenen Herausgabe des noch ausstehenden Bandes mit den zuvor erschienenen.548 Während die deutschen Verleger sich weiterhin aufs Abwarten verlegten, übernahm der Schweizer Literaturkritiker Carl Seelig549 im Laufe des Frühjahrs 1939 die Vermittlerposition.550 Der Anstoß ging in den folgenden Monaten immer wieder von Musil aus.551 Zwar hatte Musil von Theodor Hahn, dem kommissarischen Verwalter des Wiener Bermann Fischer Verlags, bereits am 20. Oktober 1938 eine Nachricht erhalten, die, recht besehen, alle weiteren Verhandlungen mit einem reichsdeutschen Verleger obsolet 543 Sowohl Hermann Broch wie Rudolf Brunngraber waren bei diesem Treffen anwesend. (Vgl. Musil: Briefe 1901 – 1942, II, S. 475) – Im Cl.A. sind keine Briefe Musils erhalten; die folgende Darstellung bezieht sich auf die veröffentlichten Briefe Musils an Claassen sowie die Korrespondenz zwischen dem HGV und Carl Seelig im Cl.A. 544 In seinem Dankesbrief bedauerte Musil, daß Claassen die Aphorismen aus der Schweizer Literaturzeitschrift »Die Rappen« vergessen habe: ein »psychologisch-tendenziöses Vergessen?« (Musil an Claassen, 1.7.1938, in: Musil: Briefe 1901 – 1942, I, S. 828) 545 Vgl. dazu die im Kommentarband der Briefe Musils von Adolf Frisé zitierte Darstellung Rudolf Brunngrabers: »C. habe, für mindestens zwei Jahre, ein Monatsfixum von rund 600 Schilling angeboten[ …]. Die Verhandlungen hätten sich hingezogen, schließlich zerschlagen.« (Musil: Briefe 1901 – 1942, II, S. 475) 546 Vgl. Martha Musil an Annina Rosenthal, 5.9.1939 aus Zürich: »Ein guter d. Verleger bemüht sich immer weiter, ihn zu bekommen, aber dagegen spricht wieder allerlei.« (Musil: Briefe 1901 – 1942, I, S. 844) 547 Immerhin riet Claassen ihm in einem Brief vom 6.9. in einer »Andeutung«, er möge seinen Wohnsitz in Deutschland behalten. (So Musil an Claassen, [etwa 24./25.10.1938], in: Musil: Briefe 1901 – 1942, I, S. 860) 548 Musil an Claassen, [etwa 24./25.10.1938): »Ich möchte heute darum lieber davon ausgehn, daß der für Behrmann [sic] bestimmt gewesene Teil, seither etwas erweitert, im Frühjahr herauskommen könnte. [...] Dieser größere Band könnte zu Weihnachten 1940 oder spätestens Frühjahr 1941 [...] herauskommen, und mit ihm wäre das Wesentliche des Werks zu Ende gebracht.« (Musil: Briefe 1901 –1942, I, S. 861) 549 Vgl. zur Rolle Carl Seeligs für den Verlag Kap. 4.3.2. und Kap. 4.3.4. 550 Während eines Besuchs über Weihnachten und Neujahr in Vaduz/Liechtenstein und in der Schweiz hatte auch Goverts Musil persönlich kennengelernt. (Goverts an Seelig, 10.1.1939) 551 Goverts ließ Musil in seinen Briefen an Seelig zwar wiederholt grüßen. Seelig aber war es, der immer wieder den Kontakt herzustellen bemüht war. (Seelig an Goverts, 7.6.1939)

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs erscheinen lassen mußte: Hahn hatte in diesem Brief Musil gebeten, »zur Kenntnis zu nehmen, daß Ihr Romanwerk Der Mann o. E. für das gesamte Gebiet des Deutsch. Reiches als unzulässig erklärt worden ist«552. Claassen und Goverts jedenfalls scheinen von diesem Verbot nichts gewußt zu haben, das Musil in einem Brief an Oskar Maurus Fontana Ende Oktober 1938 immerhin als Faktum erwähnt hatte.553 Erst nachdem Seelig Ende Juli 1939 eine Nachricht von Goverts »Recherchen über den Roman von Robert M.«554 einforderte, berichtete Goverts knapp von seinen »bisherigen Erkundigungen«. Sie seien »äußerst negativ« ausgefallen. Für Claassen und Goverts muß mit diesem Ergebnis endgültig festgestanden haben, daß eine Veröffentlichung Robert Musils für sie nicht infrage kam. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Goverts bei seinen Erkundungen in Berlin von jener Indizierung der bis dahin erschienenen Bände des Mann ohne Eigenschaften und des Nachlasses zu Lebzeiten555 in Kenntnis gesetzt worden, von der Robert Musil bereits zehn Monate zuvor benachrichtigt worden war. Es bleibt erstaunlich, daß Musil auch den Recherchen Goverts’ zunächst nicht glauben mochte.556 Der Kontakt zwischen dem HGV und Musil riß damit ab. Erst im März 1942 aber scheint Musil bereit gewesen zu sein, das Schweigen der Verleger als das zu interpretieren, was es war: als Eingeständnis, daß eine Veröffentlichung Musils im Dritten Reich nicht mehr möglich war. Die Verbindung für spätere Zeiten zu halten, scheinen sie während der Kriegsjahre nicht gewagt zu haben.557 Im Selbstverlag brachte die Witwe Musils 1943 in Lausanne einen dritten Band des Mann ohne Eigenschaften heraus. Die erste Neuausgabe des unvollendet gebliebenen Romans erschien 1952 im Rowohlt Verlag.

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552 Musil: Briefe 1901 – 1942, I, S. 859-860. 553 Musil an Fontana, 29.10.1938: »Wir haben daran gedacht, wenn auch nur für kürzere Zeit, nach Wien zurückzukehren, aber da man jetzt, wie ich eben höre, den Mann o.E. verboten hat, mag ich es nicht gerade tun.« (Briefe 1901-1942, I, S. 869) 554 Seelig an Goverts, 26.7.1939. 555 In der offiziellen »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums. Stand vom 31. Dezember 1938« waren unter »I. Einzelschriften« der »Mann ohne Eigenschaften« (Berlin: Rowohlt 1933 sowie Wien: Bermann-Fischer 1938) sowie der »Nachlaß zu Lebzeiten« (Zürich: Humanitas-Verlag 1936) indiziert. 556 Noch am 6.8.1939 jedenfalls drückte Musil in einem Brief an Seelig seine Verwunderung über Goverts’ Nachricht aus, die ihm Seelig zugeschickt hatte. (Musil: Briefe 1901 – 1942, I, S. 1046f.) – Im Laufe des Monats August 1939 noch ermunterte Musil Seelig, er solle Goverts’ Verlangen nach seinem oeuvre sehr unterstützen (Musil an Seelig, 15.8.1939, in: Briefe 1901 – 1942, I, S. 1052) und »die Verhandlungen auch dann nicht entgleisen lassen«, wenn er »sie nicht fördern« wolle. (Musil an Seelig, 18.8.1939, in: Briefe 1901 – 1942, I, S. 1060) – Es gibt wohl keine andere Erklärung für Musils Reaktion als die, daß er während der zurückliegenden zehn Monate geglaubt hatte, daß zwar die von Bermann Fischer übernommene Ausgabe des »Mann ohne Eigenschaften« verboten war, dieses Verbot sich aber nicht auf ihn als Autor bzw. das Werk selbst bezog. 557 Musil: Briefe 1901 – 1942, I, S. 1411: »Von Goverts habe ich nichts gehört«, schrieb Musil am 22.3.1942, wenige Wochen vor seinem Tod, an Carl Seelig, »ich schließe daraus, daß sein und Claassens Interesse an mir erloschen ist, was ich bedauere, denn früher oder später werde ich doch einen Verleger wählen müssen.«

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein«

Antizipation möglicher Kritik: Selbstzensur Neben dem Absichern im Vorfeld einer Veröffentlichung oder, falls erforderlich, bereits eines offiziellen Genehmigungsantrags – jenem vorsichtigen, informellen »Sondieren«, das vor allem Goverts’ Domäne war, – versuchten die Verleger jegliche ihnen möglich erscheinende öffentliche Kritik zu antizipieren und ihr durch Selbstzensur vorzubeugen. Es läßt sich an vielen Beispielen belegen, in welchem Ausmaß im Jahre 1938 bereits Einigkeit zwischen Autoren und Verlegern darüber bestand, die Manuskripte vor der Veröffentlichung in einer abschließenden »Umarbeitung« in eben solche Form bringen zu müssen, daß sie keinerlei »Anstoß erregen« konnten. Auf solches Verständnis konnten die Verleger bei ihren Bitten um Auslassungen bei Übersetzungen nicht notwendig rechnen; die Weigerung ausländischer Autoren, aber auch Übersetzer, war insofern durchaus konfliktträchtig.

Das Beispiel Joachim Maass Im August 1938 hatte Joachim Maass das Manuskript seines Romans Ein Testament558 nahezu abgeschlossen. Claassen waren die Pläne des Autors, einen Lehrauftrag in den USA zu übernehmen, bekannt, und er drang darauf, daß Maass ihm vor seiner Abreise das Manuskript »in einem druckfertigen Zustand« übergäbe: »Sie entsinnen sich, daß ich Sie auf eine Reihe von Stellen aufmerksam machte, die Anstoß erregen und auch sonst auf einige Abschnitte des Buchs, an die noch letzte Hand anzulegen wäre.«559 Obwohl Maass sich grundsätzlich einverstanden erklärte und seinen Verleger glaubte beruhigen zu können, daß die »politischen oder sonstwie mißverständlichen Stellen [...] im Laufe eines Tages unschwer daraus zu entfernen«560 wären, insistierte Claassen wenige Tage später erneut auf seiner Forderung: Das Manuskript bedürfe noch einer »Umarbeitung«. Er plädierte für die Fertigstellung in zwei Etappen, »bei deren erster alles auszumerzen [sic] wäre, was das Buch aus politischen oder aus sonstigen heute maßgeblichen Gesichtspunkten gefährden könnte, und bei deren zweiter die noch verbleibende künstlerische Arbeit zu leisten ist.«561 Erst nach Maass’ Abreise in die USA im Frühjahr 1939, die er zunächst mit einem Aufenthalt in Schweden verband, hielt Claassen das überarbeitete Manuskript in Händen. Die »erneute Lektüre« bereitete dem Verleger zwar »große Freude«, und er betonte, »vom Ganzen des Buchs einen unvermindert starken Eindruck erhalten« zu haben; dennoch monierte er neben stilistischen Einzelheiten auch inhaltliche Passagen. Eine »phäkalische« Stelle bat er zu streichen. Das Buch werde so »vor vermeidbarer Kritik behütet.« An einer anderen Stelle schlug er vor, die Formulierung »in der Politik« in »in der Geschichte« zu ändern und das Imperfekt zu wählen: Durch diese »geringfügige Änderung« sei »jede garnicht gemeinte Aktualität unmißdeutbar abgewiesen«562. 558 559 560 561

Joachim Maass: Ein Testament. Roman (1939). (Nr. 27) Claassen an Maass, 1.8.1938. Maass an Claassen, 6.8.1938. Claassen an Maass, 9.8.1939. – Vgl. zum Sprachgebrauch Klemperer: LTI, sowie Klemperer: Tagebücher 1933 –1945. 562 Claassen an Maass, 25.4.1939. – Die beanstandeten Stellen beziehen sich auf angegebene Seiten des Manuskripts (S. 361 und S. 371), das allerdings im Cl.A. nicht erhalten ist.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Claassens Brief hatte Maass noch in Stockholm erreicht. Mittlerweile in London und kurz vor seiner Einschiffung nach den USA zeigte sich der Autor erfreut, daß Claassen »an dem Manuskript so wenig auszusetzen« hatte. Die meisten der stilistischen Einwendungen Claassens hielt Maass zwar für »untriftig« und bestand auf seinem persönlichen Stil: »Die Eigenart einer Sprache ist eben mit der Duden-Weisheit nicht abzudecken.« Dennoch erklärte er sich mit allen Änderungen einverstanden. »Sie sehen, lieber Claassen, daß Sie in mir den bisher gutmütigsten und nachgiebigsten Ihrer Autoren gewonnen haben. Vergelten Sie bitte soviel Liebenswürdigkeit dadurch, daß Sie nach Möglichkeit meine Wünsche, besonders die Bandgröße und die Type betreffend, erfüllen.«563 Dem von Maass wiederholt geäußerten Wunsch nach einer Antiqua-Schrift wagte Claassen jedoch nicht nachzukommen.564 Einige Monate nach Erscheinen des Romans sollte sich zeigen, daß auch die Selbstzensur nicht ausgereicht hatte; die Auseinandersetzungen mit der Hamburger Kriminalpolizei führten schließlich zu Änderungen in einer späteren Auflage. (Vgl. Kap. 4.4.3)

Das Beispiel Dolf Sternberger Die Änderungswünsche, die Goverts im Januar 1938 angesichts des fertigen Manuskripts Dolf Sternbergers forderte, bezogen sich zunächst auf stilistische Eigenheiten des Autors wie z. B. die Vorliebe für Elisionen565 – sprachliche Nuancierungen, von denen Goverts zunächst selbst einräumte, daß sie »eine rein phonetische Angelegenheit« und »nur nach dem Wohllaut zu entscheiden« seien. Sie seien »überall da, wo es sachlich vertretbar« sei, »selbstverständlich« ganz Sternbergers Meinung, daß »dieses überflüssige »e« verschwindet«. Offensichtlich unbekümmert hinsichtlich seiner Wortwahl machte sich Goverts die nationalsozialistischen Beurteilungskriterien zu eigen, wenn er sie auch in – sicherlich ironisch gemeinte – Anführungsstriche setzte. Er bat Sternberger »also auch in diesem Fall [...] sich an die Norm zu halten und nicht ›individualistisch zu entarten‹«. Das Buch habe ihm beim Lesen »viel Freude« gemacht, und es täte ihm »leid, wenn der äußerst flüssige und amüsante Text durch diese ›Entartungen‹ gestört würde«566. In der Tat sind die solcherart geäußerten Befürchtungen der Verleger angesichts des »bewußt altertümlichen Stils«567 Sternbergers als extremer Ausfluß ihres allgemeinen Bemühens zu beurteilen, jenen Auffassungen nicht zu widersprechen, von denen sie glaubten, daß sie derzeit »opportun« seien. Besonders in dem Anmerkungsteil des Sternbergerschen Textes nahm Claassen Streichungen vor: Er habe »den in der Klammer enthaltenen Text gestrichen, da es heute sehr unopportun« sei, »Richard Wagner mit erledigten Größen wie Marquard in einem Atem zu nennen und sogar Verwunde-

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563 Maass an Claassen, 1.5.1939. 564 Noch Mitte März sagte Claassen dem Autor die gewünschte Schrift zu (Claassen an Maass, 17.5.1939). Das Buch erschien jedoch wie die übrigen deutschsprachigen Romane des HGV in Fraktur. 565 Vgl. Goverts an Sternberger, 13.1.1938. – Goverts monierte Elisionen wie »eigne«, »hingezogne«, »vollzogne« oder »zerschlagne«. 566 Goverts an Sternberger, 13.1.1938. 567 Goverts an Sternberger, 13.1.1938.

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein« rung auszusprechen, warum ihm ein besseres Schicksal beschieden war«568. Auch eine andere Anmerkung hielt er »in dieser Fassung für gefährlich«: »Wir riskieren unangenehme Zitate und Glossen, wenn wir ausgerechnet Richard M. Meyer, und in diesem Zitat noch einmal Heine erwähnen. Wenn Du auf die Anmerkung nicht ganz verzichten willst, dann mußt Du eine andere Zeitstimme auftreiben. Ich bitte Dich sehr, das nicht zu unterlassen.«569 Daß die »Gefährlichkeit« dieser Autoren allein darin bestand, daß sie deutsche Juden waren, verstand sich für die Beteiligten von selbst.

Streichungsversuche bei Übersetzungen und die »besondere Situation des deutschen Katholizismus« Die Verhaltensmaxime, die an derartigen Argumentationen ablesbar ist, mußte notwendig auch bei Übersetzungen zu Versuchen einer freiwilligen Selbstzensur durch Streichungen führen. Bereits bei den Überlegungen für die Herausgabe der englischen Biographie über Peter Abälard für den Societäts-Verlag war Claassen deutlich gewesen, daß die Strategie der Vermeidung jeglicher als Provokation auffaßbarer Textpassagen sich – gerade in der Anfangsphase des Verlags – auch auf die katholische Bevölkerung beziehen mußte. So versuchten die Verleger, bei der englischen Autorin – mit Rücksicht auf die »besondere Situation des Katholizismus in Deutschland«570 – die Erlaubnis zur Streichung wenigstens einer Stelle zu erreichen, von der sie fürchteten, sie könne als »Blasphemie«571 ausgelegt werden. Nachdem Helen Waddell in strikter Form jegliche Änderung abgelehnt hatte, beklagte Claassen der Übersetzerin gegenüber seine Ungeschicklichkeit in dieser heiklen Angelegenheit: Nachdem er »dummerweise diese Äußerung provoziert« habe, bleibe ihm »wohl nichts übrig, als diese Stelle wieder herzustellen. Die Argumente sind ganz die Ihren. Ich bestreite nicht ihre Richtigkeit, ich fürchte ja nur die Konsequenzen.«572 Auf eine nochmalige Nachfrage wegen einer anderen Stelle verzichten sie lieber: Vier Zeilen wurden in der Übersetzung »ausgelassen«, was Goverts »in anbetracht des Textes durchaus für richtig«573 hielt. Daß die Verleger besonders in den ersten Jahren der Diktatur die deutschen Katholiken als eine eigene Zielgruppe574 im Auge hatten, wird an solchen Bemühungen deutlich. Auf keinen Fall wohl wollten sie diesen Teil der deutschen Bevölkerung brüskieren, mit dem sie sich in der Ablehnung des Nationalsozialismus einig glaubten. Nachdem sich dreieinhalb Jahre später allerdings die politische Situation der Kirchen im Dritten Reich grundlegend gewandelt hatte, besonders gegen die katholische Kirche öffentlich polemi568 Claassen an Sternberger, 20.1.1938. – Claassen insistierte auf der Streichung Richard Wagners, er sei »ein zu heikles Thema geworden«. (Claassen an Sternberger, 24.1.1938) 569 Claassen an Sternberger, 20.1.1938. 570 In diesem Tenor Goverts in seiner Korrespondenz mit Helen Waddell im Juni 1935. 571 So Claassen an die Übersetzerin Lucy von Wangenheim, 17.7.1935. 572 Claassen an von Wangenheim, 17.7.1935. 573 Goverts an von Wangenheim, 16.8.1935. 574 Im Frühjahr 1937 konnte Claassen mitteilen, daß er 400 Exemplare des »Verlorenen Hauses« für einen Preis von RM 1.30 an den katholischen Borromäus-Verein abgeben werde (Claassen an Barth, 22.3.1937); kurz vor Ostern kündigte Goverts in einem Brief an Barth »eine einheitliche Propaganda der dafür geeigneten Bücher unseres Verlags bei den katholischen Buchhandlungen« an. (Goverts an Barth, 14.4.1937)

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs siert wurde und deren Wirkungsmöglichkeiten zunehmend eingeschränkt wurden,575 veranlaßte eine Passage in Barths neuem Roman576 Claassen zu dem »rein taktischen Bedenken«, ob es »im Moment richtig« sei, die »zu Grunde gehende katholische Kultur gegenüber kapitalistischer Expansion so wie hier geschieht zu glorifizieren?«577 Nicht nur Helen Waddell hatte sich gegen die Streichungsversuche der Verleger gewehrt. Auch bei der Übersetzung der Benedikt-Biographie Luigi Salvatorellis führten die Änderungswünsche der Verleger zu manchen Beanstandungen des Autors, der die Übertragung der in Italien lebenden Übersetzerin überprüfte. Heftig beklagte sich Gertrud Kühl-Claaßen bei ihrem Neffen, daß manche von ihm vorgenommenen Änderungen nicht durch »konfessionelle Bedenklichkeit«, sondern durch seine »besonderen Wünsche veranlaßt«578 worden seien. Als Salvatorelli gegen die beabsichtigte Streichung einer Passage über Theoderich protestierte, geriet Claassen unter Rechtfertigungsdruck. Brieflich bat er um die Erlaubnis, jene Stelle weglassen zu dürfen, in der Salvatorelli beschreibe, daß die Germanen zur Zeit Theoderichs Barbaren gewesen seien. Kein anderes Argument fand Claassen, als daß dies eine »in Deutschland lebhaft bestrittene These«579 sei. Angesichts des vorsichtigen Verhaltens der Verleger, das ihnen zu diesem Zeitpunkt längst zur conditio qua non geworden war, ist es kaum erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit bereits bei der Prüfung und positiven Bewertung ausländischer Romane in den verlagsinternen Gutachten die Möglichkeit ins Auge gefaßt wurde, bestimmte Passagen auslassen zu können. Bei ihrer Prüfung des jüngsten Romans Sigrid Undsets, der dem Verlag in der englischen Übertragung u. d. T. The faithful Wife vorlag, war Hilde Claassen trotz mancher Kritik im Einzelnen zu einer Empfehlung gekommen; vor allem lobte sie den »durchaus positiven Charakter« des Buchs. Angesichts der »sehr kritischen Haltung« der mittlerweile politisch stark engagierten Norwegerin, die zunehmend auch in ihren Romanen Niederschlag fand, empfahl sie allerdings Eingriffe; »die Dinge, die etwa S. 334 über Deutschland gesagt« würden, seien ja »leicht zu streichen.«580 Die Zustimmung dafür hätte Sigrid Undset zu diesem Zeitpunkt sicherlich verweigert; sie galt seit ihrem öffentlichen Engagement gegen die deutsche Beteiligung im Spanischen Bürgerkrieg ohnehin als »unerwünschte ausländische Autorin«.

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575 Vgl. Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 250 – 252 sowie zum Hintergrund »Das war ein Vorspiel nur ...«, S. 340 – 344. 576 Emil Barth: Der Wandelstern. Roman (1939). (Nr. 22) 577 Claassen an Barth, 25.1.1939. – Auch die Frankfurter Zeirtung verhielt sich in dieser Hinsicht sehr vorsichtig: Die Verhandlungen über den Abdruck des »Wandelstern« in der »Frankfurter Zeitung« hätten sich etwas verzögert, schrieb Barth an Claassen, »weil die FZ in ihrer exponierten Lage übervorsichtig ist […]. Da ich aber auch für den Vorabdruck keinerlei Retuschen und Streichungen vornehmen mochte, sind wir übereingekommen, diesen ziemlich in sich geschlossenen ersten Teil fortzulassen«; der Vorabdruck beginne nunmehr »nach einer redaktionellen Vorbemerkung, wie das ja manchmal geschieht«, mit dem zweiten Kapitel. (Barth an Claassen, 23.1.1939) 578 Gertrud Kühl-Claaßen an Claassen, 12.1.1937. – Claassen hielt z. B. in einem Aktenvermerk vom 21.10.1936 fest: »Das Wort »Rasse« wird durch »Volk« ersetzt.« 579 Claassen an Salvatorelli, 5.2.1937. 580 Hilde Claassen: Gutachten Sigrid Undset, The faithful wife (o. D.).

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein«

Problematische Grenzgänge: Vom Umgang mit ausländischen Autoren Im Falle Halldór Laxness hatte dem HGV sogar bereits die Genehmigung der RSK vorgelegen, als die Verleger schließlich doch auf die Veröffentlichung seines Romans Salka Valka verzichten mußten. In einem Brief an Carl Seelig drückte Goverts seine Enttäuschung darüber aus, daß sie den Autor nun doch nicht herausbringen könnten. Der Verlag sei fest dazu entschlossen gewesen, die Übersetzung habe bereits vorgelegen,581 und »trotz eines für Deutschland nicht sehr freundlichen Aufsatzes des isländischen Dichters« habe die Förderungsstelle für Deutsches Schrifttum »in anbetracht der großen dichterischen Qualitäten des Werks« eine Herausgabe befürwortet. Nun aber habe »im März Herr Laxness in einem merkwürdig links orientierten Verlag sich für das rote Spanien begeistert eingesetzt und damit eine weitere Herausgabe seines Werks für einen deutschen Verlag unmöglich gemacht«582. Mit diesem internen Verbot wurden nicht nur die Grenzen bei der Übernahme ausländischer Werke deutlich erkennbar, die sich auch am politischen Wohlverhalten ausländischer Autoren gegenüber dem Deutschen Reich orientierten. An Goverts’ Argumentation, die keineswegs für eine mögliche Zensur veranstaltet war,583 werden die Widersprüche der eigenen Arbeit exemplarisch deutlich: Das scheinbare Einverständnis mit den Beurteilungskriterien der offiziellen nationalsozialistischen Literaturpolitik jedenfalls ist befremdlich.

Das Beispiel Spring Anhand der Hintergründe der Veröffentlichung eines der beiden ausländischen Erfolgsromane des Verlags, Howard Springs Geliebte Söhne im Herbst 1938, läßt sich das Taktieren der Verleger bei der Herausgabe eines englischen Unterhaltungsroman exemplarisch beleuchten. Die verlagsinternen Argumentationen, das Verhalten gegenüber den offiziellen Beratungsstellen und die Werbung sind dabei im Zusammenhang der sich verschärfenden Situation der ausländischen Literatur zu sehen. (Vgl. Kap. 3.3.3) Als Claassen und Goverts die Geliebten Söhne im Herbst 1938 im Börsenblatt ankündigten, geriet ihnen ihr Motiv, einen in ihren Augen zeittypischen Vertreter der englischen Literatur zu präsentieren, in bedenkliche Nachbarschaften. Ihren »neue[n] großen[n] Erfolgsroman« priesen Claassen und Goverts in der zweiseitigen Verlagsankündigung zunächst als ein Werk »großer Lebensnähe, jenseits von Gut und Böse«, als »umfassende[n] Gesellschaftsroman [...] von einer Frische, einer Fülle und einer Schlagkraft, wie ihn das alte Europa seit langem nicht hervorgebracht« habe. Die zitierten Urteile aus der englischen und amerikanischen Presse, die ausnahmslos die souveräne »Kunst der Erzählung« hervorhoben, standen in der Börsenblatt-Anzeige in auffälli581 Möglicherweise hatte Wolfheinrich von der Mülbe, der den Verlegern das Buch empfohlen hatte, die Übersetzung selbst angefertigt. 582 Goverts an Seelig, 30.4.1937. – Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, daß in einem Brief der Abtlg. VIII des Propagandaministeriums (Dr. Koch) an die RSK vom 3.4.1939 (BA/R 56 V, 111) Halldór Laxness als »ein ziemlich unbekannter und unbedeutender Schriftsteller« charakterisiert wird, »gegen den irgendwelche Maßnahmen noch nicht ergriffen« worden seien. 583 Die Korrespondenz mit Seelig, die in einem sehr vertrauensvollen und offenen Stil geführt wurde, erweckt nicht den Anschein, als rechneten die Beteiligten mit einer Zensur.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs gem Kontrast zu der Pointierung der Verleger: »Ein Roman der Spannung, der mit unbestechlichem Maß das Nachkriegs-England in die Schranken fordert.«584 Die Entscheidung der Verleger für eine derartig englandkritische Präsentation dieses Romans, der in seiner beißenden Zeitkritik selbstverständlich auch als Symptom für die Liberalität der zeitgenössischen englischen Gesellschaft gelesen werden konnte, läßt sich zu diesem Zeitpunkt nur vor dem Hintergrund der zunehmenden Steuerungsversuche durch die nationalsozialistische Literaturpolitik interpretieren. Gegen die große Bedeutung, die auf dem deutschen Buchmarkt traditionell der Übersetzungsliteratur zukam, hatten nationalsozialistische Kritiker von Anfang an polemisiert. Diese Abwehr hatte sich zunächst allerdings vor allem gegen englische und amerikanische Unterhaltungsliteratur gerichtet, besonders gegen die weitverbreiteten, beim deutschen Lesepublikum sehr beliebten englischen und amerikanischen Kriminalromane.585 Die Statistiken über ausländische Literatur in Deutschland und die Übersetzungen deutscher Bücher, die in regelmäßigen Abständen im Börsenblatt veröffentlicht wurden, dokumentieren gleichzeitig die weiterhin bedeutende Rolle, die die Übersetzungsliteratur im Deutschen Reich bis 1938 spielte.586 Die kritischen Kommentare staatlicher und parteiamtlicher Dienststellen an dieser allgemeinen Situation setzten erst langsam ein.587 Noch im Frühjahr 1937 hatte Hellmuth Langenbucher in seinem Bericht im Börsenblatt588 über die Herbstproduktion 1936 lediglich konstatiert, der deutsche Verleger sei »nach wie vor von einer geradezu verblüffenden Übersetzungsfreudigkeit«, und wohlwollend »einige wirklich gute Sachen darunter«589 registriert. Die Meldepflicht für den Erwerb von ausländischer Literatur, die seit 1935 gegenüber dem zuständigen Referat der RSK bestand,590 wurde zunächst noch nicht restriktiv gehandhabt;591 sie richtete sich vor allem gegen deutschlandfeindliche Bücher, Werke sogenannten kommunistischen Inhalts oder solche von Autoren jüdischer Abstammung. Letztlich trugen die Verleger die Entscheidung, was im allgemeinen zu einer vorsichtigen Auswahl führte.

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584 Börsenblatt 105 (1938) 243, S. 5744f. 585 Vgl. Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 242. 586 Schäfer: Das gespaltenen Bewußtsein, weist nach, daß keine grundsätzliche Abschottung des deutschen Buchmarkts von ausländischer Literatur bis zum Beginn des Krieges stattgefunden hat, S. 12 – 17; S. 127 – 130 u. ö. 587 Vgl. bereits Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 195 – 198 sowie die bei Barbian: Literaturpoltik im »Dritten Reich«, S. 242, zitierten Quellen: Bernhard Payr, Überflüssige oder begrüßenswerte Übersetzungen? und den »Jahreslagebericht 1938« des Reichssicherheitsamtes, Bd. 2, S. 155, der auf eine »erschreckend hohe Zahl von Übersetzungen aus anderen Sprachen« hinwies. 588 Langenbucher: Herbstproduktion 1936. In: Börsenblatt 104 (1937) 81, S. 313 –315. 589 Langenbucher, S. 315. 590 In den Vertraulichen Mitteilungen für die Fachschaft Verlag, Nr. 11 vom 4.5.1936 wurde im »Jahresbericht des Leiters der Fachschaft Verlag 1935 – 1936« an die Verfügungen erinnert, die »in besonderem Maße den schöngeistigen Verlag« berühren, und offen als Genehmigungspflicht interpretiert (S. 7). – Vgl. Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 242. 591 Vgl. Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 197.

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein«

Abb. 6: Anzeige des H. Goverts Verlags aus Börsenblatt 106 (1939) 37, S. 780

Die verstärkte Kontrolle, die im Laufe der zweiten Hälfte des Jahres 1937 einsetzte, hatte ihre Gründe nicht nur in der Devisenknappheit des Deutschen Reichs, sondern hing vor allem mit den internen Auswirkungen der Bestrebungen Goebbels’ zusammen,

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs die Aufgaben der Buchmarktkontrolle im Propagandaministerium zu konzentrieren.592 Mit Wirkung vom 1. April 1938 wurde die Überprüfung der Übersetzungsliteratur vom Propagandaministerium wahrgenommen.593 Entsprechend den am 18.6.1938 in den Vertraulichen Mitteilungen für die Fachschaft Verlag veröffentlichten Richtlinien,594 die – darauf wurde eigens hingewiesen – »im Interesse einer beschleunigten Erledigung [...] unbedingt einzuhalten« waren, mußten die Meldungen nunmehr folgendes enthalten: »1. Ein Exemplar des Werkes in Originalsprache. 2. Inhaltsübersicht in deutscher Sprache, gegebenenfalls mit auszugsweiser wörtlicher Wiedergabe fraglicher Stellen. 3. Auf besonderem Blatt kurze Stellungnahme zu dem ausländischen Autor unter Berücksichtigung der Frage seiner arischen Abstammung und seiner literarischen Bedeutung. 4. Angabe des Übersetzers. 5. Angabe des Vertragsgegners. 6. Begründete Stellungnahme, aus welcher die kulturpolitische Absicht des Verlages ersichtlich ist, unter Berücksichtigung der Fragen, ob das Werk eine Einführung in den Lebenskreis einer anderen Nation oder eine Diskussionsgrundlage bietet, bezw. unterhaltende oder belehrende Aufgaben erfüllt.«

Der Verleger war »gehalten, auf diejenigen Abschnitte hinzuweisen, die durch eine ausgesprochene Tendenz politisch besondere Beachtung verdienen«595. Vor dem Hintergrund dieser Richtlinien erhält die Prüfungskategorie »Tendenzfreiheit« in einer größeren Anzahl interner Verlagsgutachten, unabhängig von den bestehenden persönlichen Präferenzen der Verleger, eine eigene politische Dimension. (Vgl. Kap. 3.3.2) Auch so aber, das ist für die Jahre seit 1938 in der Retrospektive nicht zu übersehen, geriet der H. Goverts Verlag langsam, zunächst kaum merklich, in den Sog jener spezifischen Auswahl ausländischer Literatur, die offiziell nicht nur gebilligt, sondern aus ideologischen Gründen sogar gefördert wurde. Springs Geliebte Söhne stehen dabei exemplarisch für eine wachsende Abhängigkeit von den staatlichen Überwachungsstellen. Mit den der Argumentation zugrundeliegenden Auswahlkriterien und dem Tenor der Darstellung, das läßt sich anhand ihres Verlagsgutachtens exemplarisch zeigen, näherten sich die Verleger in problematischer Weise den literaturpolitischen Absichten des NS-Staates. Im Sommer 1938, wenige Monate vor Erscheinen des Romans und zu einem Zeitpunkt, an dem die brutale Verdrängung der Juden aus dem öffentlichen Leben in Deutschland bereits weit fortgeschritten war, äußerte der Übersetzer Hans Zehrer die Befürchtung, daß den Verlegern möglicherweise aufgrund der Figur des Juden Wertheim Probleme erwachsen könnten. In seinem Antwortbrief zerstreute Goverts diese Bedenken: Als sie

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592 Die Weitergabe der Honorare ausländischer Autoren durch die Devisenstelle erfolgte, wie aus der Korrespondenz der Jahre 1937 und 1938 zwischen Claassen und Neale deutlich wird, nur »tröpfchenweise« (Claassen an Neale, 12.5.1938). 593 Vgl. Amtliche Bekanntmachung der Reichsschrifttumskammer Nr. 127 (veröffentlicht im Börsenblatt 105 (1938). 594 Mitteilungen der Reichsschrifttumskammer: Erwerb ausländischer und Verkauf deutscher Verlagsrechte vom 10.6.1938. In: Vertrauliche Mitteilungen für die Fachschaft Verlag, Nr. 35 vom 18.6.1938, S. 1. 595 Vertrauliche Mitteilungen für die Fachschaft Verlag, S. 1.

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein« der Reichsschrifttumskammer ihren Plan einer Übertragung des Buchs gemeldet hätten, um die Genehmigung zu erhalten, habe er selbst »auf diese Gestalt unter Darstellung der besonderen Rolle, die sie spielt, hingewiesen«. Aufgrund der »Spring’schen Charakterisierung dieses Agententyps« habe man »dort keine Bedenken«596 gehabt. Das zweiseitige Gutachten,597 das Goverts im Februar 1938 zur Genehmigung der deutschen Übersetzung bei der RSK eingereicht hatte und das der HGV nach Übergang der Genehmigungskompetenz auf das Propagandaministerium im September 1938, gewissermaßen zur Absicherung, noch als Kopie bei der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutz des NS-Schrifttums vorgelegt hatte,598 interpretiert die in Howard Springs Roman geschilderten Personen und ihre charakteristischen Schwächen als symptomatisch für die englische Nachkriegsgeneration. Die »Wirklichkeit des Weltkriegs« habe der jungen Generation die Augen geöffnet; »Ideale, um die gekämpft worden« seien, hätten sich »als überholt erwiesen«. Diese »dem Buch zutiefst innewohnende Selbsterkenntnis« gebe ihm »eine Note von besonderer Aktualität«. Goverts wies nicht nur eigens auf »den jüdischen Revuemanager Wertheim« hin, der »in einer fast unheimlichen Verquickung von Geschäft und Kunst« die »Betäubungssucht vor allem der Fronturlauber [...] skrupellos« ausnutze, sondern mit besonderem Nachdruck auf die Darstellung des »fanatische[n] zähe[n] Freiheitskampf[s] der Iren: Er werde »mit einer Eindringlichkeit und Vollständigkeit geschildert, wie gerade wir Deutschen es für dieses uns so nahe berührende Volksschicksal schon lange gewünscht haben«599. Die Beschreibung der radikal kritischen Haltung Springs der gesellschaftlichen Entwicklung des eigenen Landes gegenüber, die die Verleger aufgrund der Parallelen zum Nachkriegsdeutschland symptomatisch fanden, geriet ihnen im Prozeß des Genehmigungsverfahrens zur Polemik gegen das zeitgenössische England. Vollends zynisch allerdings in seinem Schulterschluß mit den nationalsozialistischen Beurteilungskriterien muß in diesem Zusammenhang der Rat Goverts’ an den englischen Autor im Sommer 1939 erscheinen, der überlegt hatte, Kontakt zu dem Schweizer Humanitas-Verlag aufzunehmen: »The Humanitas Verlag is a Publishing House of not fine reputation in Germany, because it is open for literature of emigrants.«600 Mit dieser Argumentation, mit der er dem englischen Autor mit Nachdruck riet, auf Distanz zu einem international hochgeachteten Verlag zu gehen, wird schlagartig die Abhängigkeit der Verlagsarbeit von einer weitgehenden Identifikation mit den kulturpolitischen Vorgaben deutlich, die selbst von den ausländischen Autoren einzufordern war. Mit ihren Interpretationsbemühungen, die bei den nationalsozialistischen Behörden auf fruchtbaren Boden fallen mußten, hatten die Verleger Erfolg. Nicht nur wurde die Übersetzung umgehend von der RSK genehmigt; am 23. Oktober 1939 – sieben Wochen nach Beginn des Krieges und der Kriegserklärung Großbritanniens an das Deutsche Reich – erhielt der Verlag von der Reichsleitung der NSAP die Nachricht, »nach Prü596 Goverts an Zehrer, 7.6.1938. 597 Gutachten »Howard Spring, O Absalom. Roman. Collins Publisher, London 1938« (20.2.1938/zur Vorlage bei der RSK). 598 Laut der handschriftlichen Notiz Claassens auf dem im Archiv erhaltenen Verlagsexemplar, datiert vom 24.9.1938. 599 Gutachten Howard Spring. 600 Goverts an Spring, 10.7.1939.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs fung« habe das in ihrem Verlag erschiene Werk Springs, Geliebte Söhne, den Vermerk erhalten: »Aufgenommen in die Musterbücherei der NS-Volkswohlfahrt«. Das Werk sei für ihre Einrichtungen »hervorragend geeignet«601. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß der Roman Springs nach 1945 unter englischer Besatzung in Deutschland verboten war und erst nach Aufhebung der Zensur wieder erscheinen durfte.602 Die Vielzahl der Beispiele belegt, mit welchem Ausmaß an Vorsicht in ihren verlegerischen Entscheidungen Claassen und Goverts ihr Programm umzusetzen versuchten. Bis in die Details einzelner Textpassagen und Ausdrücke hinein bemühten sie sich, jegliche mögliche Kritik zu antizipieren und die Autoren zu bewegen, jeder noch so kleinen Möglichkeit, »Anstoß« zu erregen, durch freiwillige Änderungen von vornherein zu begegnen. Dies entsprach einer allgemeinen Taktik, die nicht allein der Vorsicht den politischen Machthabern gegenüber entsprang, sondern gleichzeitig dem Bestreben, jene Bevölkerungskreise nicht zu schockieren, mit denen sie sich in vager Übereinstimmung in einer inneren Distanz zum nationalsozialistischen Regime glaubten. Es entsprach aber gleichzeitig auch einem grundsätzlichen Bedürfnis, sich gar nicht erst zu exponieren: Jede Situation sollte vermieden werden, die den Verlag, die Mitarbeiter und die Autoren einer öffentlichen Kritik oder gar Polemik aussetzen konnte, die jenseits einer »geistigen Diskussion« um die Inhalte der Bücher lag. An der Idee einer prinzipiellen Trennbarkeit von Politik und Geist wollten sie festhalten, selbst unter den Bedingungen der Diktatur mit ihren weitreichenden Steuerungsversuchen der Verlagsproduktion. Nahezu hypertrophe Ausmaße mit weitreichenden Folgen für Autor und Werk hatte diese Vorsicht der Verleger im Fall Hans Henny Jahnns angenommen. Die gescheiterte Publikation des ersten Teils seiner Romantrilogie Fluß ohne Ufer läßt sich als exemplarisches Beispiel dafür nehmen, daß die Verleger sich im Zweifelsfall – wenn auch nur die geringste Gefahr bestand, mit dem Werk eines Autors oder der Person »Anstoß zu erregen« – gegen das Wagnis einer Veröffentlichung entschieden.

3.4.2 In dubio contra: Hans Henny Jahnns »Holzschiff« Im Januar 1937 bot Hans Henny Jahnn603, der seit 1934 auf Bornholm lebte,604 dem HGV »eine Novelle von reichlich 250 Schreibmaschinenseiten«605 an. »Sie heißt ›Das

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601 Der Reichsschulungsbeauftragte Buchüberwachung (Burger) an H. Goverts Verlag, 23.19.1039. 602 Die erste Neuauflage nach dem Krieg erschien im Verlag Claassen & Goverts 1949. 603 Zu Hans Henny Jahnn (1894 – 1959), Autor expressionistischer Dramen (z. B. Pastor Ephraim Magnus, 1919) und Romane (Perrudja, 1929), der gleichzeitig Orgelbauer war, vgl. Freeman: Hans Henny Jahnn. Eine Biographie. 604 Auf Bornholm hatte Jahnn im Frühjahr 1934 einen Hof erworben und widmete sich dort, neben seiner schriftstellerischen Arbeit, der Pferdezucht und Landwirtschaft; als Orgelsachverständiger arbeitete er für die Kopenhagener Orgelbaufirma Frobenius. 605 Jahnn an Goverts 15.1.1937. »[...] ich hoffe, Sie werden sich meines Namens als hamburger Schriftsteller und Orgelkonstrukteurs erinnern. – Ich habe von Ihrem neugegründeten Verlag das eine oder andere Lobenswerte gehört [...].« – Der Briefwechsel zwischen Jahnn und dem HGV ist, vollständiger noch als im Cl.A. des DLA, wo er in einer Mappe »Unverwirklichte Verträge« archiviert wurde, im Nachlaß Hans Henny Jahnn in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg überliefert.

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein« Holzschiff‹. Über Wert und Unwert der Arbeit kann ich nichts weiter sagen, als daß ich sie für eine meiner besten halte [...]. Selbstverständlich bin ich nach wie vor Mitglied der deutschen Reichsschrifttumskammer.«606 Bereits aus den ersten Reaktionen der Verleger lassen sich – wenn auch vorsichtig ausgedrückte – Bedenken herauslesen. Zumindest Teile von Jahnns schon während der Zeit der Weimarer Republik heftig umstrittenen Werk,607 auch seine pazifistische und dem nationalsozialistischen Regime gegenüber distanzierte Haltung608 werden ihnen sicher bekannt gewesen sein. Anders läßt sich der freundlich-offene Tenor der ersten Briefe nicht erklären, mit dem Goverts und Claassen ihre Skepsis überspielten. Ihre Antwort ließ offen, ob sie das Wagnis eingehen wollten, einen im Ausland lebenden Autor wie Jahnn zu veröffentlichen, dessen Werk eng verbunden war mit den liberalen Strömungen der Literatur der Weimarer Republik. Postwendend auf Jahnns Anfrage hin, »ob Sie sich denken könnten, ein Buch von mir herauszubringen«609, bat Goverts »sehr gespannt« um ein Prüfungsexemplar: »Wenn wir auch heute eine sehr vorsichtige Auswahl zu treffen haben, sehe ich – zumal Sie Mitglied der Reichsschrifttumskammer sind – bei dem Ernst Ihrer künstlerischen Einstellung vorerst keine Schwierigkeit.«610 Erst fast zwei Monate später erhielt Jahnn eine Antwort. Claassen zeigte sich zwar »ganz außerordentlich beeindruckt«. Das Holzschiff gehöre »zu den besten Manuskripten«, die ihm »seit Jahren vorgekommen« seien; gleichzeitig aber gab er zu, daß es den Verlag »in eine gewisse Verlegenheit«611 brächte. Er würde »ohne weiteres zugreifen«, wenn ihm das Manuskript »nicht gleichzeitig Zweifel aufgenötigt hätte, ob es heute nicht ›Anstoß‹ erregt. Ich halte es nicht für undenkbar, daß man es als zersetzend und negativ bezeichnet – ich persönlich teile diese Meinung nicht, muß aber auf eine Kritik dieser Art von vornherein Rücksicht nehmen.«612

606 Jahnn an Goverts, 15.1.1937. – Zuvor hatte er das Manuskript bereits Suhrkamp vom S. Fischer Verlag angeboten, der es abgelehnt hatte. Zwar glaubte Jahnn, im Ausland »natürlich Verleger genug« finden zu können. »Aber ich bin mir klar darüber, daß das einen Bruch mit meiner deutschen Heimat bedeuten könnte.« (Jahnn an Helmut Steinhaus, 4.1.1937) – Walter Muschg, »der neue Ordinarius für deutsche Literatur in Basel«, wurde von Jahnn als Kronzeuge angeführt; der habe vor, die Novelle »im Jahre 1938 in einer beschränkten Auflage den Mitgliedern des schweizer Buchclubs zugänglich zu machen« (Jahnn an Goverts, 15.1.1937). 607 Besonders Jahnns von der Hamburger Lichtwark-Stiftung herausgegebener Roman »Perrudja« und die von ihm gegründete Glaubensgemeinschaft Ugrino waren Auslöser öffentlicher Auseinandersetzungen gewesen. 608 Jahnn lebte von 1915 – 1918 im Exil in Norwegen; Freeman berichtet auch von Jahnns antifaschistischen Reden im Hamburger Curio-Haus 1931 und 1932 (Freeman: Hans Henny Jahnn, S. 285), bei denen vermutlich auch Goverts, der an den Veranstaltungen und Festen dieser für die kulturelle Szene Hamburgs wichtigen Gesellschaft regelmäßig teilnahm, unter den Zuhörern gewesen ist. 609 Jahnn an Goverts, 15.1.1937. 610 Goverts an Jahnn, 19.1.1937. 611 Claassen an Jahnn, 5.3.1937: »Ich hätte Ihnen längst unserer Verabredung gemäß geschrieben, wenn uns Ihr Ms nicht in eine gewisse Verlegenheit brächte.« 612 Claassen an Jahnn, 5.3.1937.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Nach weiteren sechs Wochen, während derer auch Goverts das Manuskript gelesen und die Verleger bei Bekannten wie Max Tau und vermutlich noch weiteren Gewährsleuten vorsichtig Erkundigungen über den Autor eingezogen und das Manuskript diskutiert hatten, kündigte Claassen, gedrängt von Jahnns Bitte um eine baldige Entscheidung,613 ihren »endgültigen Bescheid« für »Mitte nächster Woche« an; offensichtlich erschien ihnen das Ergebnis ihrer Recherchen als noch nicht ausreichend. Claassen hoffte aber, daß sich die Herausgabe mit »ganz wenigen Retusche-Vorschlägen«614 durchführen ließe: »Ich bitte mir zu glauben, daß ich Ihr Buch für so außerordentlich halte, daß ich alles, was in meinen Kräften steht, tun will, um schon in diesem Herbst eine deutsche Ausgabe zu ermöglichen.«615 Auch Goverts äußerte sich nach der Lektüre »außerordentlich stark beeindruckt«. Wie Claassen hielt er es jedoch »für durchaus denkbar, daß man das Werk als negativ und bedrückend bezeichnen wird – was heute nicht nur eine Feststellung, sondern oft auch ein Werturteil bedeutet. Wenn ich auch persönlich diese Meinung nicht teile, so ist doch schließlich zu bedenken, daß hier Menschen in einer verriegelten Sphäre stehen, aus der sie nicht heraus können.« »In anbetracht der großen dichterischen Qualität« seien sie zur Herausgabe doch entschlossen. »Allerdings setzen wir voraus, daß Sie sich bereit finden werden, einige Kraßheiten zu mildern.«616 Die »kleine Liste«617 von Änderungsvorschlägen, die Goverts dem Autor in der zweiten Maiwoche sandte, hatte er, wie er eigens betonte, zusammen mit zwei Freunden auf der Grundlage einer nochmaligen Lektüre des Manuskripts erstellt. Goverts zitierte zur Unterstützung seines Ansinnens nicht nur Max Tau,618 der bei einem Besuch die Meinung geäußert habe, Jahnn würde »durchaus Verständnis« für Goverts’ Bemerkungen haben und sie »befolgen«619. Die Änderungsliste umfaßte nicht nur eine größere Anzahl von Fremdwörtern,620 die meisten der beanstandeten Stellen bestanden aus Ausdrücken oder ganzen Passagen, die die Verleger aufgrund äußerst realistisch beschriebener kör-

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613 Jahnn konnte Claassens »Bedenken [...] natürlich nicht teilen«: »Es ist mein Bestreben gewesen, das Leben einzufangen, gewiß an einem besonderen Beispiel; dennoch fühle ich keine andere Verantwortung gegenüber den Abläufen und der Schöpfung, als sie trotz allem zu bejahen. Und gerade weil ich das tue, kann ich mir das Prädikat zu zersetzen nicht beimessen.« (Jahnn an Claassen, 14.4.1937) Dennoch erkannte er realistisch, daß es um eine solche Selbsteinschätzung gar nicht ging: »Am Ende muß von Ihrer Seite ein Ja oder ein Nein kommen.« Er habe sich bereits darauf vorbereitet, daß der Bescheid negativ ausfalle. 614 Claassen an Jahnn, 22.4.1937 (im Original unterstrichen). 615 Claassen an Jahnn, 22.4.1937 (im Original unterstrichen: »außerordentlich halte«). 616 Goverts an Jahnn, 30.4.1937 (im Original sind die letzten vier Wörter unterstrichen). 617 Goverts an Jahnn, 30.4.1937. – Die Liste »Bemerkungen zu dem Ms ›Das Holzschiff‹« (o. D.) mit insgesamt 23 Punkten ist im Cl.A. erhalten. 618 Offensichtlich hatte Tau von Jahnn ein Exemplar erhalten. Am 11.5. teilte Jahnn den Verlegern mit, Tau besitze noch ein Exemplar; er selbst habe keines mehr. 619 Goverts an Jahnn, 8.5.1937. 620 Z. B. sollte »Vokabular« durch «Wortschatz«, »Attribute« durch »Eigenschaften«, »Fiktionen« »vielleicht durch Begriffe« ersetzt werden und der Ausdruck »Kondensationsvorgänge« »verdeutscht« werden (Bemerkungen, o. D.).

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein« perlicher Vorgänger oder sexueller Schilderungen als »zu kraß«621 bezeichneten. Nachdem der Autor sich »mit den vorgeschlagenen Änderungen einverstanden«622 erklärt hatte, appellierte Goverts an Jahnns gewachsene Sensibilität: »Sollte Ihnen ferner bei der Durcharbeitung eine Stelle auffallen, die auf Grund unserer Liste Ihnen nunmehr bedenklich erscheinen könnte, so bitte ich auch hier Änderungen vorzunehmen.«623 Drei Tage später hielt Goverts noch einen Nachtrag für nötig. Nach einem Gespräch mit einem »befreundeten Reichswehroffizier« wies er Jahnn umgehend auf eine Passage hin, deren Änderung ihm nunmehr opportun erschien. Sein Bekannter sei der Ansicht gewesen, »daß der zu Beginn Ihrer Erzählung auftretende Reichswehroffizier des Landheeres evtl. in dieser Art Ärgernis erregen könnte. Er riet mir, weil man in dieser Hinsicht augenblicklich etwas empfindlich ist, etwa zu schreiben: »Ein Herr, der wie ein Offizier des Landheeres aussah ...« Sie erreichen damit dasselbe ohne Anstoß zu erregen. Überlegen Sie sich diese Sache noch einmal.«624 Als Jahnn Anfang Juni das druckreife Manuskript schickte, konnte er die Verleger beruhigen, und er übernahm dabei bereits die gewundenen Formulierungen des bisherigen Briefwechsel. Nachdem er den Text »gründlich durchgesehen« und alle »Bemerkungen berücksichtigt« habe, glaube er, das Holzschiff habe »jetzt eine Gestalt, die nicht leicht angreifbar ist«625. Das Ziel der Verleger, jegliche öffentliche Kritik zu vermeiden, schien erreicht. Die Diskussionen zwischen Jahnn und seinen prospektiven Verlegern macht deutlich, daß die Forderung an den Text, »nicht leicht angreifbar« zu sein, von den Verlegern nicht nur als Qualitätsurteil, sondern als conditio sine qua non einer Veröffentlichung angesehen wurde. Die Formulierung »nicht leicht« allerdings war euphemistisch verwandt; es ging ihnen darum, gar nicht angreifbar zu sein. Der sprachliche Umgang mit den in Rede stehenden Änderungsauflagen war auffallend unpräzise: Die Gründe, wenn sie denn überhaupt genannt wurden, wurden vorsichtig umschrieben (»man sei in dieser Hinsicht augenblicklich etwas empfindlich«), die Subjekte der Kritik stets sprachlich umgangen (»man könnte es als zersetzend empfinden«). Eine lediglich mögliche Kritik an dem literarischen Text wurde notwendig als dessen Problem beschrieben, so daß Änderungen quasi als Sachzwang und damit unabdingbar erschienen und mit Nachdruck eingefordert wurden, wenn auch gleichzeitig immer wieder Freiwilligkeit suggeriert wurde. Alle Voraussetzungen dafür, eine Veröffentlichung wagen zu können, schienen für Claassen und Goverts im Sommer 1937 erfüllt, als plötzlich eine Änderung eintrat. Vier 621 »Wir möchten Ihnen raten, das krasse Wort »Kopulationsscene« abzuändern in »Liebesscene«. – Die »Reflektionen über das Blut« sollten gekürzt, mehrere Passagen »gestrichen« oder allgemein geändert werden: »Die Erzählung des Clemens Fitte muß man ändern.« Mehrmals wurden Ausdrücke wie »schlachten« oder »schlachten und ausweiden« als zu kraß moniert. Wenn Goverts allerdings vorschlug, »›geschlachtet‹ dünkt uns zu krass. Vielleicht besser ›geopfert‹«, so wurde deutlich, daß die Änderungen sehr wohl auch die Inhalte betrafen. 622 Jahnn an HGV, 20.5.1937. An einigen Ausdrücken, wie z. B. »spratzendes Fleisch«, »Kondensationsvorgänge« oder »Dimension«, die Goverts moniert hatte, wollte er allerdings festhalten, was die Verleger schließlich akzeptierten. 623 Goverts an Jahnn, 22.5.1937. 624 Goverts an Jahnn, 25.5.1937. 625 Jahnn an Goverts, 3.6.1937: »An manchen Stellen habe ich von mir aus verändert. Die Fremdworte sind bis auf das Notwendige eingeschränkt.«

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Wochen ließen sie den Autor ohne Nachricht und vertrösteten ihn, als er sich nach dem Stand der Dinge erkundigte, mit »Papierschwierigkeiten«626, die zeitweilig das Erscheinen des Buchs im Herbst in Frage gestellt hätten. Erst Anfang Juli deutete Goverts vage an, es habe sich »in den letzten Tagen eine neue Schwierigkeit ergeben«, über die er »in der nächsten Woche ausführlich berichten«627 werde. Für Jahnn, der sich »einfach nicht vorstellen« konnte, »wieso es ein wochenlanges Hin und Her«628 über das Werk geben konnte, kam nur die Reichsschrifttumskammer als Urheber infrage. Trotzig machte er seinem Unmut über seine prekäre Situation als Schriftsteller im Dritten Reich Luft: Er sei »fest entschlossen, das Werk im Druck erscheinen zu lassen«, und er sei auch »bereit, darüber mit der Reichsschrifttumskammer in eine Diskussion einzutreten«. »Ich habe meine Freunde in Berlin, die der Reichsschrifttumskammer nahe stehen, schon vor geraumer Zeit wissen lassen, daß ich entschlossen bin, meine neueren Werke zu veröffentlichen. Ich habe immerhin jetzt vier Jahre gewartet, damit der sinnlose Widerstand gegen mich abflauen könnte. Und der Herr Reichsdramaturg, Dr. Schlösser, hat durch sein Verhalten in letzter Zeit zu erkennen gegeben, daß es unmöglich ist, auf die Dauer eine Potenz wie mich von der öffentlichen Literatur fernzuhalten, ohne Gefahr zu laufen, sie zu verlieren.«629 Jahnns Vermutungen gingen fehl. Erst ein handschriftlicher Brief Goverts’ aus Zürich deckte dem Autor den eigentlichen Grund der Verzögerung auf. Ein Onkel jenes musikalisch hochbegabten Jungen, den der in Afrika lebende Vater Jahnn zur Erziehung anvertraut hatte, habe wegen »ihm pervers [erscheinender] und den § 175 berührenden Stellen«630 in seinem Werk Perrudja Jahnn bei der Gestapo denunziert, um ein Verbot seiner Bücher zu erreichen und dadurch den Vater zu bewegen, den Jungen der Obhut Jahnns zu entziehen.631 »Nach dieser Mitteilung« werde er es »verstehen, daß es im Augenblick sinnlos ist, Ihr Werk in Satz zu geben, solange diese Angelegenheit nicht geklärt ist. Vielleicht können Sie selbst einiges zu einer positiven Lösung beitragen. Wir möchten Ihnen wenigstens raten einzugreifen, bevor es zu einem Verbot kommt.«632 Ein neues Buch eines Autors herauszubringen, gegen dessen früheres Werk möglicherweise ein Verbotsantrag anhängig war, wollten Claassen und Goverts zu diesem Zeitpunkt nicht wagen. Nachdem sie persönlich Kontakt zu dem in Hamburg lebenden

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626 »Diese Schwierigkeiten sind jetzt so gut wie behoben, so daß wir Ihnen wegen des Satzes, der Korrekturen und des Schutzumschlags Anfang nächster Woche schreiben werden.« (Goverts an Jahnn, 30.6.1937) 627 Goverts an Jahnn, 3.7.1937. 628 Jahnn an Goverts, 6.7.1937. 629 Jahnn an Goverts, 6.7.1937. – Freemans Darstellung, Jahnn habe gegenüber den Behörden nach 1933 jede politische Betätigung vor 1933 abgestritten (Freeman: Hans Henny Jahnn, S. 284), läßt sich mit dem am 21.6.1937 formulierten Lebenslauf (Eingangsstempel vom 24.6.1937) stützen, der in den Personalakten der RSK im BDC enthalten ist. 630 Goverts an Jahnn, 12.7.1937. – Der § 175 des StGB stellte homosexuelle Handlungen generell unter Strafe. 631 Als Quelle gab Goverts einen Dr. R. Johannes Meyer an. – Vgl. zu den Hintergründen dieses »Fall Sand« auch die Beschreibung bei Freeman: Hans Henny Jahnn, S. 371 –377: »[...] was als eine bloße Enttäuschung begann, gipfelte in einem alptraumhaften Skandal, der Jahnns literarische Aussichten im Reich zerstörte.« (S. 373) 632 Goverts an Jahnn, 12.7.1937.

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein« Urheber der möglichen Denunziation, einem Dr. Sand, aufgenommen hatten, fühlten sie sich offensichtlich in ihren Befürchtungen bestärkt. Auf Jahnns telegraphischen Vorschlag hin beriet sich Goverts in der Schweiz mit dem Literaturhistoriker Walter Muschg und empfahl schließlich dem Autor, selbst auf Klarheit zu dringen: »Alarmieren Sie Ihre Freunde in höheren Stellen wie Dr. Schlösser und andere. Werden sie bei der Reichsschrifttumskammer vorstellig. Man soll meinetwegen unter Ihre früheren Werke einen Strich ziehen und Sie mit Ihrem Drama [633] und dem »Holzschiff« neu ansetzen lassen. Sie müssen ja schließlich selbst einmal wissen, woran sie sind.«634 Zusammen mit Muschg sei er der Auffassung, »daß man bis zum Entscheid das ›Holzschiff‹ liegen lassen«635 solle. In seinem Antwortbrief beharrte Jahnn auf den Fakten: Keines seiner Werke sei verboten, und es bestehe auch nicht die Absicht, irgend ein Verbot zu erlassen. Sein Roman Perrudja sei »im Auftrage der Partei und des Ministeriums« gelesen worden; der Gewährsmann habe das Buch »hervorragend« gefunden: »Ihr Verlag ist mir von einem dem Propagandaministerium nahestehenden Herrn empfohlen worden. Kurz, behördliche Schwierigkeiten stehen nicht bevor; es ist nichts aufzuklären; die Bahn ist frei.«636 Goverts spielte ab August 1937 nicht nur auf Zeit, als er versuchte, Jahnn den Frühjahrstermin 1938 schmackhaft zu machen.637 Mittlerweile setzten die Verleger auf eine gewissermaßen offizielle Klärung: »Nachdem jetzt alles so klar und positiv geregelt ist, will ich die Gelegenheit nutzen, mit den entscheidenden Herren der Kammer zu sprechen und mir der Sicherheit halber das von Ihnen Erwähnte bestätigen lassen. Ich halte diesen Schritt in unserer beider Interesse für wichtig.«638 Dieses Sicherheitsbedürfnis der Verleger und die daraus resultierenden Verzögerungen warfen den ersten Schatten auf die Beziehung zwischen Jahnn und dem HGV. Zwischen den Zeilen der Briefe Goverts’ bleibe »irgendetwas unausgesprochen«639, beklagte sich Jahnn. Erneut erwog

633 Jahnn: Armut, Reichtum, Mensch und Tier, 1933. 634 Goverts an Jahnn, 19.7.1937. – In einer Abschrift des Goverts’schen Briefes im JahnnNachlaß, vermutlich für den Freund Werner Helwig erstellt, hat Jahnn notiert: »Freunde in höheren Stellen habe ich nicht. Schlösser hat nichts gegen mich. Die Reichsschrifttumskammer birgt nur Persönlichkeiten, die ich nicht kenne.« 635 Goverts an Jahnn, 19.7.1937. 636 Jahnn an Goverts, 3.8.1937. – Das Gutachten, auf das Jahnn anspielte, war, wie er drei Jahre später an Werner Benndorf schrieb, von Helmut Steinhaus erstellt worden; der habe auch seinem »Holzschiff« »hohe künstlerische Qualitäten« attestiert. (Jahnn an Benndorf, 22.7.1940) – Steinhaus hatte auch Jahnn die Empfehlung Pfeiffer-Bellis, des Feuilletonleiters des Berliner Tageblatts, übermittelt, sich »vielleicht an Herrn Dr. Claassen, H. Goverts Verlag, zu wenden«. (Steinhaus an Jahnn, 15.1.1937) 637 Die Weihnachtskataloge würden schon in der ersten Augusthälfte zusammengestellt. »Wollten wir jetzt noch Ihr Buch herausbringen, so würde es nachhinken, selbst in dem Fall daß es uns gelingen würde, sofort Papier zu erhalten, [...] Es käme also der Frühjahrsmarkt in Frage, der gerade für ein so literarisches Buch wie das Ihre geeigneter ist, weil zu diesem Zeitpunkt weniger erscheint.« (Goverts an Jahnn, 5.8.1937) 638 Goverts an Jahnn, 5.8.1937. 639 Jahnn an Goverts, 24.8.1937.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs er die Möglichkeit einer Veröffentlichung in einem ausländischen Verlag640 und erbat sich für den Fall seiner Zustimmung zu dem von Goverts vorgeschlagenen Frühjahrstermin wenigstens »eine ganz feste Zusage [...], sozusagen ein Versprechen, das nicht durch dunkle Hintergründe ins Wanken kommt.« Ein letztes Mal versuchte er, die Verleger zu einer festen Abmachung zu bewegen: »[…] nur der Kleinbürger ist gegen mich. Für Sie liegt das Wagnis m. E. nicht mit schlimmer Konstellation belastet. Sie werden es jedenfalls leicht vertreten können, ein ungewöhnliches Werk, das in deutscher Sprache geschrieben ist, herauszubringen«.641 In den Augen der Verleger aber waren die Probleme noch längst nicht gelöst; auf eine feste Zusage konnten und wollten sie sich auf keinen Fall einlassen. Ende August endlich wurde Claassen etwas deutlicher: »[...] mit der von Ihnen ausgesprochenen Vermutung, daß zwischen den Zeilen unseres Briefes etwas unausgesprochen bleibt, haben Sie recht. Unsere Bedenken, die einer Veröffentlichung des Buches im Wege standen, sind [...] m. E. noch nicht völlig ausgeräumt. Wir wollen uns bemühen, auch darin im Lauf des Herbstes klarer zu sehen.« Claassen wollte »Sicherheit«.642 Mittlerweile neigte er offensichtlich dazu, den Plan einer Veröffentlichung ganz fallenzulassen. Unter diesen »nicht durch unsere Schuld etwas nebulösen Verhältnissen« wollte er Jahnn »doch raten, ein mögliches akzeptables Angebot von dritter Seite« anzunehmen. Er betonte eigens, sie würden sich in diesem Fall »natürlich gern bereit erklären«, von ihren Abmachungen zurückzutreten, da sie Jahnn »auch umgekehrt keinerlei Bindung zumuten« wollten, die seiner »Entwicklung als Schriftsteller hinderlich«643 sei. Dieser Brief öffnete Jahnn tatsächlich die Augen: nicht nur darüber, daß der Verlag sich längst auf dem Rückzug befand – in Claassens Brief sei von dem Wunsch, das Holzschiff herauszubringen, »nichts mehr zu spüren« –, sondern vor allem über die Motive der Verleger. »Ein Meisterwerk erscheint mit der Absatz Ihres Briefes, in dem Sie ausführen, dass die Verhinderung einer unerfreulichen Polemik gegen mich ein Punkt unserer Abmachungen seien. Ich gestehe, daß diese Wendung mir Einfaltspinsel erst die Augen geöffnet hat, was mit den nebulösen Verhältnissen gemeint ist, und worin Ihre eigentlichen Bedenken bestehen. Daß also nicht die literarischen Verdächte, sondern die bürgerlichen Ihnen Sorge bereitet haben.«644 Vermutlich ist es tatsächlich in irgendeiner Form zu staatlichen Ermittlungen gekommen, die allerdings, wie Jahnn Helwig berichtete, Mitte Oktober eingestellt worden waren.645 Außer der »geldlichen« – Jahnn war zur Klärung der Vorwürfe im September

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640 »In Deutschland habe ich z. Zt. keine Verbindung zu einem namhaften Verleger. Aber im Ausland sind mir in letzter Zeit sehr handfeste Angebote gemacht worden. Ich habe Gründe zu zögern, solche Angebote mir zu nutzen zu machen.« (Jahnn an Goverts, 24.8.1937) – Dem in der Schweiz lebenden Jugendfreund Werner Helwig resümierte Jahnn den Ablauf des »Skandals«: »Da der Onkel meine Person nicht verdächtig machen konnte, nahm er Anstoß an meinen Büchern, vor allem am ›Perrudja‹. Der ›Perrudja‹ war aber im Vorwege vom Propagandaministerium gutgeheißen […]. Nur die deutschen Verleger, die von dem Skandal erfuhren, machten schlapp. Man hat im Lande heute schwache Nerven.« (Jahnn an Helwig, 6.9.1937) 641 Jahnn an Goverts, 24.8.1937. 642 Claassen an Jahnn, 28.8.1937. 643 Claassen an Jahnn, 28.8.1937. 644 Jahnn aus Göttingen an Claassen, 22.9.1937. 645 Vgl. dazu auch Freeman: Hans Henny Jahnn, S. 273.

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein« nach Deutschland und in die Schweiz gereist – sei »keine Schädigung zurückgeblieben«. »Ein paar Angsthasen, und dazu gehören meine Verleger in Hamburg, laufen indessen immer noch über das leere Feld.«646 Während der folgenden vier Monate versuchten Claassen und Goverts wiederholt durch vorsichtige Sondierungen bei den verschiedenen schrifttumsüberwachenden Stellen für den Autor gewissermaßen eine Unbedenklichkeitsempfehlung zu erhalten. In größeren Abständen wurde Jahnn von den Ergebnissen dieser stets als vertraulich beschriebenen Unterredungen auf dem Laufenden gehalten. Im Februar 1938, mehr als ein Jahr nach Jahnns erstem Kontakt mit dem HGV, erhielt der Autor den gewunden als Rat formulierten ablehnenden Bescheid aus Hamburg. In der Zwischenheit waren Claassen und Goverts in Berlin gewesen, wo Goverts »verschiedene Besprechungen hatte. Uns ist dort geraten worden, von einer Veröffentlichung Ihres Romans Das Holzschiff vorerst noch Abstand zu nehmen. Als ich Ihre Argumente ins Feld führte, erwiderte man mir, daß Sie ja im Hauptberuf Orgelbauer wären und dadurch ihre Existenz gesichert sei. Dies ist das Ergebnis meiner Bemühungen.«647 Die Vermutung läßt sich nicht gänzlich von der Hand weisen, daß die Verleger durch ihr Verhalten dieses Ergebnis mit provoziert hatten. Ihr Eingehen auf die ihnen zunächst indirekt zugetragenen Gerüchte von dem Vorgehen Dr. Sands648 und ihre vorsichtigen Recherchen mögen erst die Beschäftigung verschiedener offizieller Stellen mit Jahnn initiiert und ihr wiederholtes Nachfragen bei der RSK und dem Amt Schrifttumspflege schließlich diese unter der Hand gegebene Empfehlung provoziert haben.649 Im Sommer 1937 bereits hatte Claassen in einem Brief an den mit Jahnn befreundeten Göttinger Arzt Dr. F. Weissenfels650 empört eine solche mittlerweile von Dr. Sand telephonisch erhobene Vermutung zurückgewiesen.651 »Ausdrücklich« wollten Claassen und Goverts »betonen, daß das ganz ausgeschlossen« sei, da sie »selbstverständlich alles vermieden« hätten, was Jahnn hätte »Schwierigkeiten bereiten« können: »Wir haben nur auf sehr indirektem Wege erfahren, daß man sich mit H. H. Jahnn in der Tat beschäftigt und es darum für unopportun gehalten, sein Buch jetzt zu veröffentlichen.«652

646 Jahnn an Helwig, 11.10.1937. 647 Goverts an Jahnn, 10.2.1938. 648 In seinem Brief aus Zürich am 12.7.1937 hatte Goverts Jahnn geschrieben, sie hätten »die Angelegenheit von Dr. R. Johannes Meyer erfahren«. 649 Die Tatsache, daß auch in Jahnns Personalakte der RSK im BDC, die mit dem Fragebogen vom 31.5.1937 beginnt, zu diesem Vorgang keinerlei Unterlagen erhalten sind, läßt sich als Beleg dafür nehmen, daß viele halboffizielle Gespräche nirgendwo schriftlich fixiert wurden. 650 Claassen an Weissenfels, 3.8.1937 (Cl.A.). 651 Die Verleger hatten sich demnach zunächst bei einem Gespräch mit Dr. Sand von diesem die Gerüchte bestätigen lassen. Einige Wochen später habe sich Sand »erstaunt« gezeigt, daß Claassen und Goverts die Angelegenheit »nicht vertraulich behandelt« hätten […]. Dr. Sand habe die Vermutung ausgesprochen, »daß die Aufmerksamkeit der betreffenden Stelle durch unsere eigenen Recherchen erst in Gang gesetzt worden wäre.« (Claassen an Weissenfels, 3.8.1937). – Freeman zitiert einen Brief Sands, »er habe keine Anzeige erstattet, sondern nur »Erkundigungen« über Jahnn bei der Gestapo eingeholt.« (Freeman: Hans Henny Jahnn, S. 374f.) 652 Claassen an Weissenfels, 3.8.1937.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Das Scheitern der Veröffentlichung dieses Romans zeigt anschaulich, wie das Kalkül der nationalsozialistischen Literaturpolitik in der Praxis aufging: Das Risiko der Herausgabe eines möglicherweise unliebsamen Autors, das grundsätzlich in die Verantwortung der Verleger gelegt war, ließ sich auch in diesem Fall nur durch informelle Kontakte, sei es zur RSK oder zum Amt Schrifttumspflege, minimieren. Sobald einmal, von wem auch immer, Gerüchte ausgestreut waren, die Verleger sie ernst nahmen und sich bemüßigt fühlten, durch Mittelsmänner oder durch halb- und inoffizelle Gespräche vorsichtige Recherchen in Gang zu setzen, mußten die entsprechenden literaturüberwachenden Stellen von der Unsicherheit der Verleger Kenntnis erhalten. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie in einem solchen Fall die Bürokratie arbeitete. Nachdem die Verleger aus ihrem extremen Sicherheitsbedürfnis heraus diesen sogenannten Beratungsweg einmal eingeschlagen hatten, blieb ihnen kaum etwas anderes übrig, als sich die halboffiziellen, lediglich mündlich gegebenen hinhaltenden Ratschläge zu eigen zu machen. Die Verleger jedenfalls fühlten sich an dem negativen Ergebnis letztlich unschuldig. Der Kontakt zwischen Hans Henny Jahnn und dem H. Goverts Verlag brach im Frühjahr des Jahres 1938 erst einmal ab. Für den Autor hatte, auch ohne offizielles Verbot nur eines seiner Werke, die Verschiebung der Veröffentlichung seines neuen Romans auf unbestimmte Zeit weitreichende Folgen. Vor einem Bruch mit dem Deutschen Reich, den eine Verbindung mit einem dezidierten Emigrantenverlag bedeutet hätte, scheute er zurück,653 neutrale Auslandsverlage waren spezialisiert oder zeigten kein Interesse für Belletristik,654 und ein erneuter Versuch mit einem anderen reichsdeutschen Verleger schied zunächst aus. (Vgl. Kap. 4.5.2) So blieb der Roman vorerst unveröffentlicht.655 Doch damit nicht genug: Nachdem die RSK sich infolge der Nachfragen intensiver mit Jahnn beschäftigt hatte,656 erhielt er Ende März 1938 die Nachricht, daß er »mit sofortiger Wirkung« aus der Mitgliedschaft der RSK entlassen sei, da er sich lediglich »neben seinem Hauptberuf« schriftstellerisch betätige.657 In einem Brief an Werner Benndorf658

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653 Jahnn an Goverts, 4.11.1937: Er habe »eine große Reihe von Rücksichten zu nehmen«: »Jedenfalls scheiden Verlage, die durch die Art ihrer Publikationen sich einseitig festgelegt haben, für mich aus. Auch Prof. Dr. Muschg hat mir dringend abgeraten, Verbindungen zu suchen, die mich in eine mißliche Stellung zu meinem Vaterland bringen könnten. Beladen also mit Rücksichten wird mein Weg zu geeigneten Verlegern nicht leicht.« 654 Ende Januar 1938 berichtete Jahnn den Verlegern von seinen fehlgeschlagenen Versuchen, das »Holzschiff« im Ausland unterzubringen: Es sei für ihn »eine merkwürdige Erkenntnis« dabei herausgekommen: Sogenannte Emigranten-Verlage und jüdische Verleger sind sofort bereit, das Werk zu drucken, während neutrale Auslandsverlage entweder nur ein kleines Interessengebiet vertreten oder sich von der modernen deutschen Literatur, sofern sie in das Gebiet des Schöngeistigen fallen, fern halten.« (Jahnn an Goverts, 25.1.1937) 655 »Fluß ohne Ufer« erschien in zwei getrennten Teilen 1948 und 1951 bei Willi Weismann in München. Vgl. Willi Weismann und sein Verlag 1946 –1954. 656 Offensichtlich hatte Jahnn nach seiner Rücksendung des Fragebogens der RSK (unterschrieben am 31.5.1937) samt Lebenslauf vom 21.6.1937, die den Eingangsstempel vom 24.6.1937 tragen, den Abstammungsnachweis trotz Aufforderung nicht nachgereicht. (Vgl. RSK an Jahnn, 25.1.1938-Nachlaß Jahnn) 657 Metzner/RSK, 31.3.1938 (BDC/RSK-Akte Jahnn). 658 Benndorf nahm im März 1940 Kontakt zu Jahnn auf (vgl. Nachlaß Jahnn).

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein« resümierte Jahnn zwei Jahre später pointiert, das Nichterscheinen des Romans habe zu seinem »Ausschluß aus der Reichsschrifttumskammer geführt«, weil er »nur noch als Schriftsteller im Nebenberuf«659 gegolten habe. Sein Widerspruch, den er im Frühjahr 1938 mit großer Hartnäckigkeit verfocht,660 wurde schließlich mit der ergänzenden Begründung abgelehnt, daß er seinen »dauernden Wohnsitz außerhalb des Hoheitsgebiets«661 habe. Zu seinem zu Lebzeiten äußerst beschränkten Erfolg als Schriftsteller hat die gescheiterte Veröffentlichung seines Holzschiffs im H. Goverts Verlag während der sogenannten Friedensjahre des Dritten Reichs wesentlich beigetragen.

3.4.3 Zwischen »Beifall von der falschen Seite« und politischen Angriffen Die Goverts-Produktion im Spiegel der Presse Im Gegensatz zum äußerst langsam einsetzenden ökonomischen Erfolg des Verlags war der literarische der H. Goverts-Produktion, wie er sich in vielen Besprechungen in der Presse niederschlug, von Anfang an beachtlich. Die im Grundtenor durchweg positiven Kritiken beschränkten sich nicht auf jene Zeitungen und Zeitschriften, die noch am ehesten die Tradition einer bildungsbürgerlich orientierten Literaturkritik fortzuführen versuchten, wie vor allem die Feuilletons der Frankfurter Zeitung, der Kölnischen Zeitung, des Berliner Tageblatts oder der Deutschen Allgemeinen Zeitung, Zeitschriften wie die Neue Rundschau, die Europäische Revue, die Deutsche Rundschau und die Literatur oder auf traditionell konfessionell gebundene Organe wie Hochland oder Eckart oder Magazine wie die Dame, Die neue Linie oder die Koralle.662 Die wohlwollende, z. T. geradezu euphorische Aufnahme der Produktion des H. Goverts Verlags erfolgte nicht nur in weitgehend gleichgeschalteten Zeitungen wie dem Hamburger Fremdenblatt oder den Neuesten Münchener Nachrichten, die sich in ihrem Kulturteil noch um eine gewisse Bandbreite an zeitgenössischer reichsdeutscher Literatur bemühte, sondern auch in nationalsozialistischen Zeitungen wie dem Völkischen Beobachter oder dem NS-Kurier Stuttgart. In der »gesamten deutschen Presse« habe die Elisabeth-Biographie »uneingeschränktes Lob«663 gefunden, schrieb Goverts im Sommer 1936 dem Autor nach England, und ein halbes Jahr zuvor hatte er der belgischen Autorin Marie Gevers von der 659 Jahnn an Benndorf, 21.3.1940. 660 Jahnn beharrte in seinem Schreiben vom 5.4.1938 darauf, er sei »im Hauptberuf Schriftsteller«, wies die Entscheidung der RSK als »unfreundliche Handlung gegen mich« zurück und bat, seinen Brief dem »Herrn Präsidenten Hanns Johst persönlich vorzulegen«. (BDC/RSKAkte Jahnn) 661 RSK an Jahnn, 8.12.1938. 662 Vgl. Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 9, der auf die Bedeutung dieser Zeitschriften und Zeitungen für die Kontinuität der Moderne während des Dritten Reichs hinweist, insofern sie sich auf die Veröffentlichung und Besprechung von nichtnationalsozialistischer Literatur spezialisierten, sowie, stellvertretend für andere Organe, die Studie von Oelze: Das Feuilleton der Kölnischen Zeitung im Dritten Reich. 663 Goverts an Neale, 2.7.1936.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs einhellig positiven Aufnahme ihres Romans in Deutschland berichten können: »Inzwischen mehren sich die guten Besprechungen der ›Frau Orpha‹, die von allen führenden Zeitungen, seien sie nun katholischer oder betont nationalsozialistischer Einstellung, einstimmig begeistert aufgenommen wird.«664 Noch Anfang des Jahres 1937 wies Claassen die »Andeutungen« eines Autors, der Verlag sei »bei Parteizeitungen unangenehm aufgefallen«, weit von sich; sie seien ihm »nicht verständlich«: »Wir haben auch hier eigentlich nur eine gute Presse gehabt.«665 Auch nach der sog. »Neugestaltung des Buchbesprechungswesens«666 im Bereich der Presse und dem Verbot der Kunstkritik, mit dem laut Anordnung vom 28.11.1936 die sog. »zersetzende Kritik« verboten und durch die »Kunstbetrachtung« ersetzt werden sollte,667 erwecken die Buchbesprechungen in den ersten Jahren des Dritten Reichs kein monotones Bild. Strothmanns Einschätzung, Rezensionen hätten bald nur noch zustimmende Stellungnahmen enthalten, ist insgesamt zu differenzieren.668 Die literaturkritischen Würdigungen der H. Goverts-Produktion in verschiedenen Organen waren durchaus vielfältig, die Argumentation keineswegs pauschal. Vor allem innerhalb der ehemals bürgerlich-liberalen Restpresse bzw. den traditionell bildungsbürgerlichen Zeitschriften hielten die Besprechungen ein beachtliches Niveau; sie enthielten im Detail in Einzelfällen auch dezidierte Kritik: auch dann, wenn die Kritiker dem Verlag nahestanden oder selbst dort unter Vertrag standen. An einer größeren Anzahl von Kritiken ließe sich belegen, daß in den Zeitschriften und Feuilletons dieses Milieus die Zielsetzung der Autoren und damit auch die des Verlags am sensibelsten nachvollzogen wurde.669 Exemplarisch dafür können Dolf Sternbergers Besprechung des Romans Anna Linde von Editha Klipstein,670 W. E. Süskinds Rezension des Barth’schen Kindheitsromans Das Verlorene Haus671 und Karl Korns Auseinandersetzung mit Langes Schwarzer Weide in einer Sammelbesprechung über Erstlinge672 stehen. Auch innerhalb der NS-Presse gab es grundsätzlich Abstufungen in der Einschätzung einzelner Bücher, auch einander widersprechende Urteile.673 Während die Produktion des H. Goverts Verlags in sog. »Kampforganen« wie Will Vespers Neuer Literatur im allgemeinen gar nicht behandelt und somit gewissermaßen totgeschwiegen wurde, wurden die meisten Veröffentlichungen des HGV im Völkischen Beobachter ausführlich vorgestellt. Vereinzelt erschienen auch Besprechungen in der Bücherei. Zeitschrift für Schrifttumspflege674. Das Schwergewicht dieser Literaturberichte in den dezidiert 664 665 666 667 668 669

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Goverts an Gevers, 10.12.1935. Claassen an Stock, 5.2.1937. Vgl. dazu ausführlich bereits Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 269 –294. Vgl. dazu den amtlichen Kommentar von Kurt O. Fr. Metzner: Geordnete Buchbesprechung. Ein Handbuch für Presse und Verlag. Leipzig 1935. Vgl. Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 291. Die Besprechungen der H. Goverts-Produktion sind im Cl.A. nicht archiviert. Die Korrespondenz enthält allerdings z. T. explizite Besprechungshinweise. Auch weitere Werbematerialien wie Verlagsprospekte sind nur vereinzelt erhalten. Sternberger: Eine neue Gestalt des Bildungsromans, S. 667 – 672. Süskind: Emil Barth: »Das verlorene Haus«, S. 433. Korn: Erstlinge. Eine Bücherschau, S. 411 – 413. Vgl. Berglund: Der Kampf um den Leser im Dritten Reich. Hrsg. von der Reichsstelle für das Volksbüchereiwesen, Leipzig.

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein« nationalsozialistischen Organen lag immer wieder auf dem Landschaftsgebundenen dieser Dichtung; toposartig wurde in den Besprechungen aber auch stets auf das »Dichterische« und das »hohe Niveau« hingewiesen – ein Qualitätsurteil, das in der Tat in den Presseurteilen über die Veröffentlichungen des HGV immer wieder auftauchte: verteilt über das gesamte Spektrum der Zeitschriften und Feuilletons des Dritten Reichs.

Verlagswerbung im »Börsenblatt« Bei der eigenständigen Charakterisierung der Verlagsautoren und ihrer Produktion im Börsenblatt hielten sich die Verleger mit Beschreibungen, die sie in Argumentation und Sprache in die Nähe nationalsozialistischer Wertungskriterien gebracht hätten, weitestgehend zurück.675 Eine Auswertung der Werbeanzeigen des HGV im Börsenblatt ergibt den Gesamteindruck, daß die Verleger auch auf die Verwendung positiver Presseurteile aus rein nationalsozialistischen Organen in den ersten Jahren in geradezu demonstrativer Form verzichteten. Es dominierten zunächst Auszüge vor allem aus den genannten Zeitschriften und Feuilletons der bildungsbürgerlichen oder auch konfessionell gebundenen Presse, vor allem der Europäischen Revue, der Deutschen Zukunft, dem katholischen Hochland und Eckart, erstaunlich selten aus der Neuen Rundschau und der Literatur, oft auch aus Rezensionsorganen wie dem Bücherwurm oder den Blättern für Bücherfreunde, aus der Dame und der neuen linie. Besonders häufig zitierten die Verleger aus den Feuilletons der Frankfurter Zeitung, der Kölnischen Zeitung, der Deutschen Allgemeinen Zeitung oder dem Berliner Tageblatt. Hinzu kamen Belege aus regionalen Tageszeitungen, auch solchen, die in ihrem politischen Teil früh gleichgeschaltet waren, die aber offensichtlich mit Bedacht ausgewählt waren, um die reichsweite Resonanz zu belegen.676 Vereinzelt warben die Verleger für ihre Bücher auch mit der Autorität prominenter Autoren oder Rezensenten, wie z. B. Reinhold Schneider bei Neale,677 bei Lange mit einem Brief Ernst Wiecherts,678 oder unter Namensnennung Werner Bergengruens (Deutsche Rundschau), Karl Korns (Berliner Tageblatt), Johannes Kirschwengs (Frankfurter Zeitung), Joachim Günthers (Europäische Revue) oder Raimund Pretzels [Pseud. Sebastian Haffner] (Dame),679 bei Strindberg auch mit dem renommierten Namen Knut

675 Die Tatsache, daß regelmäßig auf die landschaftliche Herkunft eines Schriftstellers hingewiesen wurde, legt allerdings den Schluß nahe, daß sie selbst der Überzeugung waren, dies bereits könne über Charakter und Stil des jeweiligen Werks Entscheidendes aussagen. Vgl. dazu Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 328. 676 Es erschienen Auszüge aus den »Dresdner Neuesten Nachrichten«, der »Essener Volkszeitung«, dem »Hamburger Fremdenblatt« und dem »Hannoverschen Anzeiger«, der »Kölnischen Volkszeitung«, der »Mittelrheinischen Landeszeitung«, der »Neuesten Mannheimer Zeitung« und der »Rheinisch-Westfälischen Zeitung«, der »Schlesischen Volkszeitung«, dem »Stuttgarter Neuen Tagblatt« und der »Westfälischen Zeitung«. 677 Vgl. Börsenblatt 104 (1937) 44, S. 1048. 678 Vgl. Börsenblatt 104 (1937) 237, S. 4689. 679 Vgl. Börsenblatt 105 (1938) 63, S. 1412.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Hamsuns680 und bei Duun mit Hermann Stehr;681 auch einzelne Buchhändler wurden mit ihren positiven Urteilen zitiert.682 Bereits die Beschreibung der ersten Werbekampagne des Verlags zwischen Spätherbst und Weihnachten 1935 hat gezeigt, wie offensiv die Verleger zunächst mit internationalen Pressestimmen zu werben bestrebt waren. Das gilt in besonderem Maße für ihre Übersetzungen,683 aber auch unter den »ersten begeisterten Urteilen«684 über Editha Klipsteins Anna Linde war ein Auszug aus der Neuen Zürcher Zeitung aufgeführt. Im Frühjahr 1936 zitierten sie bei der Ankündigung der Elisabeth-Biographie ausgiebig Urteile »führender« oder »bedeutender« englischer und amerikanischer Historiker und warben mit Auszügen aus der englischen literarischen Presse,685 und noch im Herbst 1936 enthielt die zweiseitige Werbeanzeige für Frida Strindbergs Lieb, Leid und Zeit686 ausschließlich Pressestimmen aus Schweden anläßlich der schwedischen Veröffentlichung. Im Frühjahr 1937 wurde in der Doppelwerbung für diese beiden »Govertsbücher von internationalem Erfolg«687 allerdings unter je drei Stimmen zu jedem Titel nur noch eine ausländische genannt: keine Zeitung oder Zeitschrift mehr, sondern mit Rebecca West und Knut Hamsun im Dritten Reich offiziell wohlgelittene Autoren.688 Läßt sich bis zum Herbst 1937 in der Verlagswerbung die Haltung der Verleger als Versuch einer Distanz zu reinen NS-Organen beschreiben, so fand in diesen Wochen ein deutliches Umschwenken statt. Das erste Mal warben Claassen und Goverts im Börsenblatt am 6. Oktober 1937 mit einem Besprechungsauszug aus dem Völkischen Beobachter689 für Werner Leibbrands Romantische Medizin. Weniger der Tenor dieses Zitats690 als die Tatsache an sich fällt auf. Die Vermutung liegt nahe, daß die Verleger, offensichtlich aufgrund der sich in diesen Monaten merklich zuspitzenden kulturpolitischen Situation, zu diesem Zeitpunkt glaubten, die übrigen Rezensionsauszüge aus der Deutschen Medizinischen Wochenschrift, der Frankfurter Zeitung, der Deutschen Allgemeinen Zeitung und zwei deutschsprachigen ausländischen Organen, nämlich der Praxis. Schweizerische Rundschau für Medizin und der Reichspost (Wien), mit einem positiven Urteil aus der führenden nationalsozialistischen Tageszeitung flankieren zu müssen.

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680 Vgl. Börsenblatt 103 (1936) 245, 5205. 681 Vgl. Börsenblatt 106 1939) 69, S. 1826f. 682 Mehrmals z. B. der Buchhändler und Sortimenter Dr. Walter Götze von der Buchhandlung Adolf Ettler in Hamburg. 683 Vgl. z. B. die Werbung für Waddell und Gevers (Börsenblatt 102 (1935) 249, S. 5070 und S. 5071). 684 Börsenblatt 102 (1935) 285, S. 6395. 685 Vgl. Börsenblatt 103 (1936) 89, 1916f. 686 Vgl. Börsenblatt 103 (1936) 245, S. 5204f. 687 Börsenblatt 104 (1937) 55, S. 1048f. 688 Zu Neale wurde neben Reinhold Schneider und H. v. Borch (DAZ) Rebecca West (»zum englischen Original«) zitiert; zu Strindberg neben Heinz Steguweit und Lothar Erdmann (»Deutsche Zukunft«) Knut Hamsun («zur schwedischen Übertragung«). 689 Vgl. Börsenblatt 104 (1937) 231, S. 4475. 690 »Ein sehr selbständiges, auf eigenen Studien der Romantiker verschiedener Gebiete beruhendes und deshalb nicht bloß für Ärzte, sondern für jeden Gebildeten hochinteressantes und nützliches Werk. Besondere Würze sind eine Reihe von Anekdoten.« (S. 4475)

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein« Diese Entscheidung blieb keine singuläre. In der Folge, wenn auch keineswegs regelmäßig, bedienten sich die Verleger bei der Werbung für einzelne Autoren des öfteren einzelner zustimmender Urteile zu ihrer Produktion gerade aus dem Völkischen Beobachter. Der Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, daß diese Praxis taktischem Kalkül entsprach, d. h. einer gewissermaßen prophylaktischen Abwehr politisch motivierter Kritik von nationalsozialistischer Seite.691 Am 8. Dezember 1937 jedenfalls wies der HGV unter der Überschrift »Und nochmals die Presse«692 nicht nur mit Auszügen aus den Blättern für Bücherfreunde, der Dame und der Rheinischen Landeszeitung auf Horst Langes Schwarze Weide hin. An erster Stelle wurde der Völkische Beobachter, Berlin mit der Würdigung zitiert, dieses »erste große Prosawerk von Horst Lange ist außerordentlich in jeder Beziehung«693. Wenn eine solche Stützung zur Durchsetzung der deutschsprachigen Autoren auch zunächst eine Ausnahme blieb, so scheint sie bei der Werbung für die ausländischen Romane seit dem Frühjahr 1938 zur Regel geworden zu sein. Daß dieses Verhalten im Zusammenhang mit der zunehmenden Polemik von nationalsozialistischer Seite gegen die sog. »Flut« der Übersetzungsliteratur gesehen werden muß, liegt auf der Hand. Die Werbung für den Weltbestseller Vom Winde verweht, die im Oktober 1937 im Börsenblatt mit dem lobenden Urteil Prof. Friedrich Bries in der Fachzeitschrift Anglia eingeleitet worden war,694 in einem aufwendigen Faltprospekt eine größere Anzahl ausländischer Pressestimmen enthielt und sich noch im Dezember 1937 in einer erneuten Börsenblatt-Anzeige auf einen Auszug aus der Kölnischen Zeitung beschränkte,695 wurde am 15. Februar 1938 am selben Ort, in einer ganzseitigen Anzeige, allein mit einem Zitat aus dem Völkischen Beobachter fortgeführt: »Eine großartige und leidenschaftliche Schilderung amerikanischer Geschichte, mit einer verblüffenden Wiedergabe des historischen Milieus und einer Zeichnung menschlicher Charaktere von einer bewundernswerten geistigen Warte aus.«696 Am 17. Oktober 1938 kündigte der Verlag erneut in einer ganzseitigen Anzeige697 mit demselben Zitat die Auslieferung des 101. bis 130. Tausend an. Im unteren Viertel waren unter der Überschrift »Denken Sie auch an unsere anderen Bücher!« dreizehn weitere Verlagstitel, die – einmalig in der Verlagswerbung – photographisch abgebildet waren, diesem Zitate aus dem Völkischen Beobachter zugeordnet. Auch ohne Beleg aus dem Verlagsarchiv läßt sich ein Artikel in Will Vespers Neuer Literatur vom August 1938 als wahrscheinlicher Auslöser dieser Entscheidung ausmachen. Unter der Überschrift »Übersetzungen«698 hatte Will Vesper sich mit sechs Titeln, darunter zwei aus 691 692 693 694

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Vgl. dazu auch Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 71f. Börsenblatt 104 (1937) 284, S. 6423. Börsenblatt 104 (1937) 284, S. 6423. Börsenblatt 104 (1937) 238, S. 4710f.: »Einem Roman von solch geistiger Kraft, von so langem Atem und von so hoher Kunst der Seelenzergliederung und Milieuschilderung, der überdies an Spannung keinem Sensationsroman etwas nachgibt, wird niemand die Bewunderung versagen können.« Börsenblatt 104 (1937) 278, S. 6164. Börsenblatt 105 (1938) 38, S. 697. Börsenblatt 105 (1938) 242, S. 5678. Vesper: Übersetzungen, S. 403f.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs dem H. Goverts Verlag, beschäftigt. Während er zu Powys’ König Duck, Allans Jugend auf Dungair und Tammsaares Wargamäe lobende Worte gefunden hatte, hatte er den größeren Teil seines Textes auf eine heftige Polemik gegen Margaret Mitchells Vom Winde verweht und eine, wenn auch im Tenor moderatere, abfällige Beurteilung des Werks Herman Melvilles699 verwandt. Die Einleitung war dezidiert gegen den H. Goverts Verlag gerichtet, von dem immerhin zwei Titel genannt waren. Es sei »keinesfalls nötig, daß wir jede irgendwo anders vielleicht erfolgreiche literarische Marktware und Modeware auch sogleich eindeutschen. Hut- und Strumpfmoden mag man für Herrchen und Dämchen internationalisieren. Im Geistigen sollte zwischen den Völkern nur Edelmetall ausgetauscht werden, nicht Konfektion.«700 Zur »geistigen Konfektion« aber gehörte für Vesper »unbedingt das Buch der Mitchell«: »Von der 1000seitigen und deshalb entsprechend teuren Schwarte erschien in kurzer Zeit das 100. Tausend. Edelste deutsche Meisterwerke warten auf solchen Erfolg jahrzehntelang. Und was gehn uns Deutsche in Wahrheit diese geschickt paprizierten [sic], grell und blutig gemalten amerikanischen Historien an? Und was diese ›Heldin‹, die zusamt ihren Männern aus einer verlogenen, ja widerlichen Literaturmaché und geistigen Tarzan-Welt stammt?«701 Im Gegensatz zu dieser heftigen Attacke gegen den Weltbestseller und seinen deutschen Verlag fiel Vespers Urteil über Melville milder aus, wenn er auch hier um eine Relativierung der begeisterten Präsentation dieses Autors in Deutschland bemüht war: »Melville, selbst der romantischen deutschen Novelle stark verpflichtet, bringt uns nichts, was nicht E. Th. A. Hoffmann und Kleist und manche Geringere aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts ebenso und besser gekonnt hätten.«702 Vor dem Hintergrund dieser Polemik findet nicht nur die zitierte massive Werbung des H. Goverts Verlags für Margaret Mitchells Roman, flankiert von der übrigen Verlagsproduktion, mit dem Auszug aus dem Völkischen Beobachter eine zusätzliche Erklärung. Auch die weitere Werbung ab dem Frühjahr 1939 für die ausländische Literatur, besonders die im Ton z. T. geradezu aggressive für die Geliebten Söhne Howard Springs, ist in diesem Zusammenhang zu beurteilen.Während der HGV, auch nach Erscheinen der Vesper’schen Polemik, im Oktober 1938 für diesen englischen Roman noch mit »Urteile[n] aus England und Amerika«703 warb und in seiner Dezember-Anzeige die neue linie zitierte,704 bestand die ganzseitige Anzeige im Februar 1939 ausschließlich aus einem Auszug aus dem Völkischen Beobachter, Berlin: Der Schlußsatz schien wie dazu geschaffen, jegliche Kritik an der Übersetzungsliteratur des HGV abzuweisen: »Es ist ein

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699 Genannt waren die Ausgabe »Billy Budd« (Nr. 18) von Goverts und die Erzählung »Benito Cereno« aus dem Verlag F. A. Herbig in Berlin. 700 Vesper: Übersetzungen, S. 403. 701 Vesper, S. 403f. 702 Vesper, S. 404. 703 Die zweiseitige Werbeanzeige im Börsenblatt enthält Auszüge aus dem »Evening Standard« und dem »Observer« (beide London), der »New York Herald Tribune« und der »New York Times« (Börsenblatt 105 (1938) 243, S. 5745). 704 Börsenblatt 105 (1938) 282, S. 7392.

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein« hartes, mitunter grelles Geschehen, das sich im Rahmen des gegenwärtigen, aus Übersetzungen bekannten englischen Schrifttums wie ein Fanal abhebt«.705 Die Werbeanzeige für Claire Sainte-Solines Antigone oder Roman auf Kreta Ende Februar 1939 jedenfalls enthielt an erster Stelle, vor Auszügen aus der Frankfurter, der Kölnischen und der Rheinisch-Westfälischen Zeitung, ebenfalls ein lobendes Urteil aus dem Völkischen Beobachter.706 Bei dem im Dritten Reich offiziell hochgeschätzten Norweger Olav Duun wäre eine solche offensive Beglaubigung von nationalsozialistischer Seite allerdings wohl kaum nötig gewesen. Auch die zweiseitige BörsenblattAnzeige im März 1939, mit der auf drei Romane Duuns im HGV hingewiesen und die Veröffentlichung des bisherigen Gesamtwerks von sechs Romanen angekündigt wurde, warb mit einem Auszug aus dem Völkischen Beobachter.707 Mittlerweile war die Verwendung eines positiven Urteils aus dieser Zeitung offensichtlich schon zur Regel geworden. Diese langsame Verschiebung im äußeren Bild der Werbeanzeigen muß als Symptom für das zunehmend auch in der Werbung taktische Verhalten der Verleger gesehen werden.708 Jenseits der Anzeigen im Börsenblatt allerdings bemühten sich die Verleger weiterhin um Distanz zu rein nationalsozialistischen Organen und Tageszeitungen. Fast ausschließlich inserierten sie in der Frankfurter, der Kölnischen und der Deutschen Allgemeinen Zeitung sowie im Berliner Tageblatt.709 Auch dann, wenn in einzelnen Büchern des Verlags auf der letzten Seite für andere Veröffentlichungen des HGV mit Auszügen aus der Presse geworben wurde, griffen die Verleger nahezu ausschließlich auf diese Organe zurück, deren Namen noch am ehesten jene ehedem liberale, bildungsbürgerliche Tradition zu verbürgen schienen, der sie sich selbst verpflichtet fühlten.710 Erst der Klappentext der zweiten Auflage von Horst Langes Schwarzer Weide, die 1941 erschien, enthielt – ohne Datumsangabe – ein positives Urteil aus dem Völkischen Beobachter.

705 Börsenblatt 106 (1939) 33, S. 695. – Im Original sind die letzten vier Wörter in Großbuchstaben in einer eigenen Zeile abgesetzt. Vgl. die Abb. S. 159. 706 Vgl. Börsenblatt 106 (1939) 47, S. 1095. 707 Börsenblatt 106 (1939) 69, S. 1826f. 708 Auffällig allerdings ist, daß die Verleger sich auch nach Bekanntgabe in den Vertraulichen Mitteilungen nicht an die Anweisung hielten, bei der Werbung mit Zeitungsbesprechungen den Tag der Veröffentlichung anzugeben. – Vgl. Vertrauliche Mitteilungen für die Fachschaft Verlag, Nr. 39 vom 3.2.1939, S. 6. 709 So an Barth, 22.4.1936. – Um für Sternbergers »Panorama« gezielt zu werben, ließen sie z. B. im Oktober 1938 Prospekte den Zeitschriften »Tat«, »Europäische Revue« und »Umschau« beilegen: »Wir hofften damit einen anderen Kreis von möglichen Interessenten zu erreichen.« (Claassen an Sternberger, 31.10.1938) 710 Als Beispiel kann die Verlagswerbung auf der letzten Seite von de Broglies »Licht und Materie« (S. 332) dienen: Unter dem Hinweis »Im gleichen Format und in gleicher Ausstattung erschienen« wurde für Leibbrand, Sternberger, Salvatorelli und Neale mit Auszügen aus der »DAZ«, der »Frankfurter Zeitung« und dem »Bücherwurm« sowie mit dem Lob Reinhold Schneiders geworben.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs

Vom Umgang mit negativer Kritik: Das »Panorama«-Gutachten der Rosenbergstelle Claassen und Goverts scheinen sehr genau differenziert zu haben, in welcher Form einer Kritik an einer ihrer Veröffentlichungen am klügsten zu begegnen wäre. Als im Frühsommer in der Leihbücherei, der offiziellen Zeitschrift des Leihbüchereiwesens, »eine unglückliche Besprechung«711 über Barths Verlorenes Haus erschienen war, hatte sich Goverts, wie er dem Autor umgehend mitteilte, noch »beschwert« – wie er hoffte, mit Erfolg: »Sie nehmen jetzt eine Nachprüfung vor und werden voraussichtlich eine Berichtigung bringen.«712 Auch gegen eine Besprechung im NS-Kurier Stuttgart über Salvatorellis Benedikt-Biographie, die in Claassens Augen »völlig unsachlich« war, ging Claassen im Sommer 1937 noch offensiv vor. Gegen den Vorwurf, er sei ein »Schreiber im Sold der katholischen Aktion«713, hätten sie protestiert, schrieb Claassen nach Italien, als er Salvatorelli die Rezensionsauszüge weitersandte. Anders stellten die Verleger sich von Anfang an zu den parteiamtlichen Gutachten der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums, die dem Amt Schrifttumspflege Alfred Rosenbergs beigeordnet war.714 Die Gutachten dieser Prüfungsstelle wurden mit ihren Begründungen den Verlegern bekanntgegeben und in den allerdings »streng vertraulichen« Jahres- Gutachtenanzeigern, einem gesondert zu beziehenden Anhang der Zeitschrift Bücherkunde, mit den entsprechenden Zensurnoten veröffentlicht.715 Auch unter dieser nach äußerst strengen weltanschaulich-ideologischen Wertungsmaßstäben716 vorgenommenen Begutachtung gab es einzelne Bücher aus dem HGV, die unter die oberste Kategorie »positiv« fielen: Dazu gehörten 1938 sowohl Bentons Tarpan. Mythe vom letzten Mongolenzug717 wie auch Werner Leibbrands Romantische Medizin718. Im selben Jahr erhielten Herman Melvilles Billy Budd719 und Alfred T. Sheppards Rom gibt, Rom nimmt720 die Zensur »Mit Einschränkung«. Es gibt 711 712 713 714 715

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Goverts an Barth, 17.7.1936. Goverts an Barth, 17.7.1936. Claassen an Salvatorelli, 27.7.1937. Vgl. Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 214 – 217 sowie Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 116 – 128. Im Gegensatz zu der Aufteilung in Verbots- und Förderungslisten bei der Abt. III des Propagandaministeriums, anders auch als die nur positive Titel führende Nationalsozialistische Bibliographie (NSB) der Parteiamtlichen Prüfungskommission, wurden in den JahresGutachtenanzeigern sämtliche Prüfungsresultate veröffentlicht. Sie setzten sich aus den Urteilsgraden »positiv«, »negativ«, »beschränkter Interessenkreis«, »belanglos«, »überholt – mit Einschränkung«, »bedingt positiv« und »bedingt negativ« zusammen. – Vgl. dazu Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 216. »Daß die Rosenbergzensur strengere Maßstäbe anwandte und damit auch Schriftsteller als »schädlich« bezeichnete, die sonst ausnahmslos zu den »förderungswürdigen« zählten, hebt sie von der Methode der staatlichen Prüfung und der Kontrolle der anderen parteiamtlichen Aufsichtsbehörden ab.« (Strothmann, S. 248) – Vgl. dazu Strothmanns Auswertung der Jahresgutachten-Anzeiger Rosenbergs, S. 244 – 252. Jahres-Gutachtenanzeiger (1938) 147, S. 13. Jahres-Gutachtenanzeiger (1938) 1542, S. 71. Jahres-Gutachtenanzeiger (1938) 1700, S. 78. Jahres-Gutachtenanzeiger (1938) 2199, S. 99.

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein« keinerlei Indizien dafür, daß Claassen und Goverts die positiven Gutachten in irgendeiner Form für die öffentliche Werbung verwandt hätten.721 Die erste dezidiert negative Beurteilung einer Veröffentlichung des H. Goverts Verlags vonseiten dieser parteioffiziellen Stelle traf Dolf Sternbergers Panorama.722 Ende Juli 1938 – Sternbergers Buch war vier Monate zuvor herausgekommen – schickte Claassen dem Autor ein Gutachten zu, mit dem Kommentar, die »Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums (Rosenbergstelle)« habe dem Verlag dieses Schriftstück »in den letzten Tagen ohne unser Zutun« zugestellt. Sternberger solle bald schreiben, wie er dieses Schriftstück »und die daraus evtl. folgende Situation«723 beurteile. Das anderthalbseitige Gutachten, unter dem Kürzel »Sm.« erstellt, datiert vom 15. Juli 1938 und ist von Dr. B. Payr (»f.d.R.«) unterschrieben; in Argumentation und Diktion mag es als Beispiel für eines der wenigen erhaltenen Gutachten dieser Reichsstelle724 dienen: »Deutsche Geschichte, sollte man meinen, könne ein Deutscher nicht anders mehr als im Bewusstsein ihres völkischen Gesetzes schreiben. Indes unternimmt Dolf Sternberger den Versuch einer historischen Topographie des deutschen neunzehnten Jahrhunderts, insbesondere der bürgerlichen Welt in den Jahren etwa von 1860 bis 1900, wobei er im Aphoristischen Vorwort eine gewisse Zufälligkeit seiner Methodik entschuldigen möchte mit einer »Zufälligkeit der Geschichte selber, die in der zufälligen Wahl der Zitate, in dem zufälligen, krausen Wirrsal der Züge, die gleichwohl zur Schrift sich fügen, nur aufgefangen und aufbewahrt ist. Es handelt sich also mit einem Wort – wenn das Paradox erlaubt ist – um eine notwendige Zufälligkeit.« Das Paradox ist keineswegs erlaubt, denn der »Zufall« büsst eine Lücke nicht der Kausalität, sondern des Wissens. Es handelt sich also nicht um eine Metaphysik des Zufalls, sondern lediglich um einen Denkfehler, der freilich doppelt befremden muss in einer Zeit, die mit jedem neuen Tag bestätigt, dass Männer die Geschichte machen. Es genüge der Hinweis auf diesen einen Denk-, um nicht zu sagen Haltungsfehler. Er entscheidet über die unverzeihlich willkürliche, durchaus »liberalistische« Behandlung des Themas. Wiederum genüge ein Beispiel für viele. S. 83 ff zitiert der Verfasser jenen Offenen Brief, mit dem Richard Wagner 1879 Ernst von Webers Protest gegen die Vivisektion zu seiner eigenen Sache macht. In diesem Protest gegen die Vivisektion erblickt nun Sternberger eine der Komponenten, deren Schnittpunkt den geschichtlichen Ort bezeichne für die Religion des Mitleidens, wie Wagner sie in diesem Zusammenhang vertritt. Eben damit aber sei zugleich der geschichtliche Ort für Nietzsches Umwertung bezeichnet, welche die Werte nicht des Christentums schlechthin betreffe, sondern ausschliesslich das Genre-Christentum der Zeit: Parsivals Religion des Mitleidens und – Onkel Toms Sklavenmoral. Der Schluss mag noch so geistreich, freilich auch noch so geschmacklos gezogen sein – er ist in keiner Weise bündig. Bestimmt er doch den geschichtlichen Ort allenfalls für die Waffen der Kämpfer, nicht für den Kampf der Geister selbst, der im neunzehnten Jahrhundert Wagners und Nietzsches, des »Parsival« und des »Antichrist«, zutiefst die nämliche Selbstbegegnung des deutschen Menschen war, wie sie seit je Grösse und Tragik des deutschen Schicksals bildete.

721 Denkbar ist, daß sie sie lediglich gewissermaßen prophylaktisch archivierten: Das Gutachten zu Benton ist im Cl.A. erhalten, die zu Melville und Sheppard nicht. 722 Jahres-Gutachtenanzeiger (1938) 2497, S. 111: »Negativ« 723 Claassen an Sternberger, 29.7.1938. 724 Im BA Koblenz ist eine unvollständige Loseblattsammlung der positiven und negativen Gutachtenanzeiger für die Jahre 1935 – 1938 erhalten (vgl. Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 124).

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Die Kritik darf sich, wie gesagt, damit begnügen, die Theorie und Praxis des Sternbergerschen Buchs entsprechend an zwei Beispielen beleuchtet zu haben. Sie bezeichnen hinlänglich ein Unternehmen, das, verfehlt in seinem Ansatz und deshalb auch sein Ziel umso mehr verfehlend, unter allen Umständen abzulehnen ist.«725

In seinem ausführlichen Antwortschreiben726 versuchte Sternberger zunächst vor allem, Claassen zu beruhigen und die Erfahrungen der Frankfurter Zeitung weiterzugeben. Er bewies dabei ein bewunderungswürdiges Beurteilungsvermögen hinsichtlich der Kompetenzstreitigkeiten zwischen den verschiedenen literaturpolitischen Lenkungsämtern und der vergleichsweise geringen Einflußmöglichkeit der Rosenbergstelle:727 »Von uns aus werden die Meinungen der ›Reichsstelle‹ gemeinhin nicht sehr wichtig genommen, da ihnen ja jedes Exekutionsmittel fehlt, und die Stelle überdies unter der Konkurrenz der ›Parteiamtlichen Prüfungsstelle‹ und obendrein des Prop. Ministeriums zu leiden hat. Es sind wohl schon mehrmals bei uns Bücher günstig besprochen worden, die in der Sparte ›Rumpelkammer‹ der ›Bücherkunde‹ vorkamen, wenn auch nachher.«728 Trotzdem interessierten ihn auch die »Erfahrungen des Verlags mit diesem Amte«. Für Sternberger war gar nicht sicher, »ob nun auch ein solcher ›Verriß‹ in die »Bücherkunde« hineinkäme.« Letztlich gab er den Rat, dieses Gutachten gar nicht weiter zu beachten: »Je mehr ich mirs überlege, desto deutlicher wird mir, daß man am besten tut, dieses Gutachten ganz zu übergehen und gar nicht zu reagieren. Wenn der Absatz nachläßt daraufhin – kann man auch nichts machen; aber ich glaube nichteinmal, daß er nachlassen muß. Wir, also Ihr und ich, haben dann halt einen schwarzen Punkt bei Rosenberg.«729 Claassen war bereit, dem durch die exponierte Stellung der Frankfurter Zeitung erfahrenen Freund zuzustimmen, wenn er auch betonte, mittlerweile eigenständig zum selben Urteil gekommen zu sein. Inzwischen habe er »die gleichen Erwägungen« wie Sternberger angestellt, und er sei »zu genau dem gleichen Resultat« gekommen: »Ich hielte es für ausgesprochen unklug, irgendeine Polemik aufzunehmen, da ja dadurch erst ein wirklich[er] Konfliktfall entstehen könnte. Zudem wäre gegenüber dem vorliegenden Gutachten der Rosenbergstelle ja der Beweis anzutreten, daß Dein Buch weit von liberalistischen Gedankengängen entfernt sei, ja daß es ein Musterbeispiel für heutige geisteswissenschaftliche Erörterungen darstelle.«730 Für den Verleger war dies eine »Prestige-Frage, die ja bei solchen Auseinandersetzungen leicht akut« werde. Darüber hinaus sei aber »auch die sachliche Schwierigkeit dieser Erörterung zu berücksichtigen«. »Das alles« sprach in seinen Augen dafür, »in

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725 Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums bei dem Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Schulung der NSDAP: Gutachten für Verleger: »Dolf Sternberger: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert«. Berlin, 15.7.1938 (Cl.A.) 726 Sternberger an Claassen, 8.8.1938. 727 Vgl. dazu auch Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 124, der die »imponierende Arbeitsleistung« dieser Prüfungsstelle als »in der literaturpolitischen Praxis [...] nur bedingt relevant« beschreibt, gleichzeitig allerdings davor warnt, den literaturpolitischen Einfluß des Amtes Rosenberg zu unterschätzen. – Vgl. auch Siebenhaar: Buch und Schwert, der der Rosenbergstelle den »Status eines Mahners ohne Exekutivkompetenz« zuschreibt (S. 87). 728 Sternberger an Claassen, 8.8.1938. 729 Sternberger an Claassen, 8.8.1938. 730 Claassen an Sternberger, 9.8.1938.

3.4 Verhaltensmaximen: »... wir müssen vorsichtig sein« diese Diskussion überhaupt nicht einzutreten. Ich habe aber Deine Meinung deshalb abgewartet, weil ich annahm, daß Du an der Frankfurter Zeitung die Möglichkeit hast unter der Hand Recherchen über die bestehenden Aussichten anzustellen.« Gleichzeitig versuchte auch er, sich selbst und den Freund zu beruhigen; die möglichen Auswirkungen dieses negativen Urteils der parteiamtlichen Prüfungsstelle mochte er, genausowenig wie Sternberger, allzu pessimistisch sehen: »Im großen und ganzen hat uns die Rosenbergstelle bisher sehr freundlich behandelt, wenn wir natürlich auch kaum Aussicht haben, ihr Lieblingskind zu werden. Eine spürbare praktische Auswirkung dieses Gutachtens, selbst wenn es in der ›Bücherkunde‹ erscheint, befürchte ich nicht, da Dein Buch ohnehin nur bei relativ wenigen Elite-Buchhandlungen vorhanden ist.«731 Sternbergers Antwort dokumentiert nicht nur die Einigkeit zwischen Autor und Verleger in dieser Frage des taktischen Umgangs mit einem parteioffiziellen negativen Gutachten, sondern gleichzeitig die Schwierigkeiten jener möglichen »Recherche unter der Hand«, von der Claassen gesprochen hatte. Die Atmosphäre innerhalb der Redaktion der Frankfurter Zeitung jedenfalls beschrieb er bei solchen Fragen als angstbesetzt: »[...] und die anderen Kollegen, die allenfalls hier noch ein Urteil hätten, das ist namentlich Hausenstein, haben eben vor lauter Angst kein Urteil mehr.«732 Einen Monat später schließlich teilte Claassen Sternberger die erste »Konsequenz« des diskutierten Gutachtens mit und bat gleichzeitig darum, die Nachricht »vertraulich zu behandeln«: »Ich wurde zunächst in Berlin darauf aufmerksam gemacht, daß sich Dein Buch auf einer Liste nicht zu fördernder Bücher befinden soll.« Claassen berichtete, er habe sich »heute den »Gutachtenanzeiger, Beilage zur Bücherkunde Ausgabe B« September 1938 Nr. 9, 4. Jahrg. (vom 1. – 31. August 1938) beschafft: dort ist in der Tat Dein Buch als nicht zur förderndes aufgeführt.«733 Der Blick auf die scheinbar wahllose Zusammenstellung der inkriminierten Titel dieses Gutachtenanzeigers scheint Claassen in seiner Einschätzung bestärkt zu haben, daß Nichtbeachtung die beste Strategie wäre. Unüberhörbare Ironie spricht aus seiner Präsentation der neben Sternberger aufgeführten Autoren und Bücher: »Um Dir einen Begriff zu geben, was sonst in dieser Liste figuriert, erwähne ich E. Bachmann ›Doppelte Buchführung‹, Verlag August Schultze; Rudolf Heinrich Daumann ›Macht aus der Sonne‹, Schützen-Verlag, Berlin; Paul Gurk ›Tresoreinbruch‹. Roman, Verlag Holle & Co; […]« Claassen hatte nunmehr endgültig beschlossen, das negative Gutachten schlichtweg zu ignorieren. Er nehme »diesen Hinweis nicht tragisch, wenn er auch natürlich in einem gewissen Sinne die ohnehin geringe Neigung des Buchhandels sich für das Buch zu verwenden verstärken wird. Ich bitte Dich, keinesfalls dagegen irgend etwas zu unternehmen, da ich das für ausgesprochen unklug hielte.«734 Nichtbeachtung schien in diesem Fall die beste Devise, solange keine spürbaren Folgerungen für ihre Weiterarbeit sichtbar waren. Die Bestätigung ihrer Verlagsarbeit wollten sie ohnehin aus anderen Bereichen ziehen.

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Claassen an Sternberger, 9.8.1938. Sternberger an Claassen, 10.8.1938. Claassen an Sternberger, 7.9.1938. Claassen an Sternberger, 7.9.1938.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs

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»Am besten ist man heute so klein wie möglich«: Die materielle Verlagsbasis

3.5 »Am besten ist man heute so klein wie möglich«: Die materielle Verlagsbasis Mit dem relativ geringen Anfangskapital von nur 50.000 RM gingen die Verleger zu Beginn sehr vorsichtig um. Einerseits bemühten sie sich mit der Vergabe von Auftragsarbeiten, Autoren an den jungen Verlag zu binden, und waren in diesem Rahmen auch bereit, nach Vertragsabschluß Vorschüsse zu zahlen; gleichzeitig aber zeigten sie durch ihr Verhalten den Autoren gegenüber, daß sie ihren eigenen Spielraum für mäzenatische Unterstützung als sehr gering ansahen. In eklatantem Widerspruch zu den literarischen Achtungserfolgen, die der Verlag durch positive Besprechungen eines Großteils der Bücher in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften erfuhr, stand der wirtschaftliche Erfolg. Viele der im H. Goverts Verlag veröffentlichten Bücher mußten als reine Mißerfolge gewertet werden; die meisten verkauften sich mit äußerst mäßigem Erfolg. Erst mit dem offensichtlich besonders für Claassen völlig unerwarteten Verkaufserfolg von Margaret Mitchells Vom Winde verweht im Herbst 1937 wurde die Stabilisierungsphase des Verlags eingeleitet.

3.5.1 Finanzielle Beschränkungen und mäßige Erfolge: Die Aufbauphase des Verlags Grenzen mäzenatischen Verhaltens In der Regel vereinbarten die Verleger vertraglich ein Honorar von 10 % mit den Autoren, errechnet von der broschierten Ausgabe,735 das für höhere Auflagen, z. T. bereits ab 3.000 oder 4.000 Exemplaren, auf 12,5 %, ab 5.000 oder 6.000 Exemplaren auf 15 % festgelegt wurde, verbunden mit einer festen Option auf die nächsten drei Werke. Wenn tatsächlich einmal bereits für die ersten 5.000 Exemplare ein Honorar von 12,5 % festgelegt wurde, schlug sich dies auf den Verkaufspreis nieder. Nur in Ausnahmefällen, wie 1935 bei der Übernahme der Übersetzungsrechte des Gevers-Romans, waren die Verleger bereit zu einer höheren Vorauszahlung.736 Selbst bei Titeln, die gewissermaßen im Auftrag geschrieben wurden – wie Brenners Knigge, Sternbergers Panorama und Leibbrands Romantische Medizin – überstiegen die Vorschüsse grundsätzlich nicht die Summe von 1.000 RM; in der Korrespondenz mit den Autoren ist oft von kleinen »Renten« in Höhe von 50 oder 100 RM die Rede. Für manche Autoren war solche Zurückhaltung durchaus ein Grund, auf das Angebot eines anderen Verlags einzugehen. Das Ausmaß der Bereitschaft der Verleger, einen Autor, den sie fördern wollten, finanziell zu unterstützen, wie auch die Grenzen lassen sich exemplarisch am Beispiel Horst Langes zeigen. Beim ersten Besuch der Verleger im April 1935 bei dem jungen Autor

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735 Der größere Teil der Produktion wurde in Leinen gebunden und zu einem höheren Preis verkauft. Deshalb beklagten sich einige Autoren zu Recht darüber, daß diese Kalkulationsgrundlage »illusorisch« sei. 736 Jedenfalls überstiegen noch im Februar 1940, als die erste Auflage von 3.300 Exemplaren nahezu verkauft war, die Vorauszahlungen das der Autorin zustehende Honorar. (Vgl. Goverts an Gevers, 20.2.1940)

3.5 »Am besten ist man heute so klein wie möglich«: Die materielle Verlagsbasis erhielt Lange die Zusage für einen Vorschuß von 1.000 RM, zahlbar in Monatsraten von 100 RM. Ein letztes Mal noch war die Reaktion Claassens und Goverts’ auf die finanziell äußerst bedrängte Situation der jungen Familie Lange im Februar 1936 positiv, als die Verleger, um eine drohende Räumungsklage aufzuhalten, die dringend erbetenen 150 RM schickten, obwohl sie, wie Claassen betonte, sehr große Beträge »an Drucker, Papierleute, Anzeigenmenschen und wie die Quälgeister heißen«737 zu überweisen hatten. Ab Sommer 1936 allerdings weigerten sich die Verleger, weitere Vorschüsse zu zahlen, und begründeten dies mit der angespannten finanziellen Situation des jungen Verlags: 1/5 des Betriebskapitals seien durch ungedeckte Vorschüsse an Autoren festgelegt.738 Die Grenzen der finanziellen Förderung selbst eines Werks, an dessen Fertigstellung den Verlegern sehr lag, waren damit nach Ablauf des ersten Verlagsjahres zunächst erreicht. Im Fall Lange allerdings erfolgte ein dreiviertel Jahr später eine eindrucksvolle Aktion zur Rettung des investierten Kapitals, die in der Verlagsgeschichte singulär blieb: Als die finanzielle Krise des Autors im März 1937 einen neuerlichen Höhepunkt erreicht hatte, gingen Claassen und Goverts zu einer Radikallösung über. Sie bezahlten die ausstehenden Mietschulden und Steuern für das Ehepaar Schaefer-Lange und brachten beide auf einem Bauernhof in Holstein739 unter, wo Horst Lange schließlich das Manuskript bis zum Sommer 1937 fertigstellte. Dankbar hat er später in einem Brief an den mit ihm befreundeten jungen Autor Ernst Kreuder das Engagement der Verleger als notwendige Bedingung für die Fertigstellung seines Romans gewürdigt. Wenn Goverts ihn »nicht rechtzeitig, als erst 100 Seiten des Buches fertig waren, vorfinanziert hätte, wäre die ›Schwarze Weide‹ wahrscheinlich heute noch nicht zu Ende geschrieben«740. Der Optimismus, mit dem die beiden Verleger im ersten Verlagsjahr bei ihrer Arbeit vorgingen und Auftragsarbeiten vergaben, ist erstaunlich und beweist, wie wenig sie sich trotz des engen finanziellen Spielraums zunächst von rein kaufmännischen Gesichtspunkten leiten lassen wollten. Andererseits war besonders Claassen Praktiker genug, um bei der Entscheidung über Annahme oder Ablehnung die voraussichtliche Verkäuflichkeit den Ausschlag geben zu lassen. Bereits im Oktober 1935 begründete Claassen Brenner gegenüber die Ablehnung des Manuskripts Unter vier Augen. Briefe an die Vergangenheit – trotz »allergrößten Eindrucks«, den das Manuskript auf ihn gemacht habe – damit, daß alles zu sehr »auf einen Ton gestimmt« sei: Das bedeute eine starke Einengung der Wirkungsmöglichkeiten. Da sie ihre Mittel »durch Aufträge verschiedenster Art, die mit Vorschüssen belastet« seien, »schon erheblich angespannt« hätten, wage er »dem Verlag dieses Opfer vorerst noch nicht zuzumuten. [...] Ich bin aufrichtig betrübt, daß praktische Erwägungen mir ganz nüchtern Zurückhaltung auferlegen.«741 Ein halbes Jahr später, als Brenner dem Verleger eine Sammlung von Totenreden vorschlug, war letztlich wieder das Argument der angespannten Finanzlage ausschlagge-

737 Claassen an Lange, 17.2.1936. 738 Claassen an Lange, 5.6.1936. 739 Zum Kontakt des Ehepaars Lange zu Clara Mayer vgl. den im Nachlaß Lange/Stadtbibliothek München – Monaciensia-Slg. erhaltenen Briefwechsel. – Vgl. auch Schaefer-Lange: Auch wenn Du träumst, gehen die Uhren, S. 275. 740 Lange an Kreuder, 12.12.1938 (Nachlaß Lange). 741 Claassen an Brenner, 3.10.1935.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs bend für die Ablehnung.742 Zwischen dem Anspruch der Verleger, gerade den jungen Autoren, die sich oft in finanziell bedrängter Lage befanden, zu helfen, und den tatsächlichen Möglichkeiten bestand somit eine empfindliche Differenz, die durchaus zu Mißstimmungen zwischen Verlegern und Autoren führen konnten. Als Claassen ein zur Prüfung eingereichtes Romankapitel Brenners als einen »gut durchdachten Grundriß« bezeichnete, der aber noch nicht ausgereift genug sei,743 und keinerlei weitere Angebote machte, klagte Brenner diesen Widerspruch heftig an: »Solange mir die Berechtigung zugesprochen wird, und, um mich zu belehren, höchst schmeichelhafte Vergleiche herangezogen werden, darf ich wenigstens theoretisch, in bescheidenem Umfang auch praktisch verlangen, daß man mich instand setzt, dieser Berechtigung zu entsprechen.«744 Die Diskussion um die mögliche Veröffentlichung der Lyrik Emil Barths zeigt zudem, daß für die Verleger zunächst ihr eigenes Qualitätsurteil den Ausschlag für die Entscheidung gab. Erst als Barth drohte, den Verlagsvertrag aufzulösen, erklärten sie sich bereit, von ihrem Prinzip der »100 %igen Identifikation« mit den Veröffentlichungen ihres Verlags abzuweichen: Er würde gegen seine »besten Überzeugungen« handeln, wenn er die Auflösung des Vertrags zuließe, bekannte Claassen. Er sei überzeugt, Barth werde »als Schriftsteller Großes leisten«, und er nehme auch an seiner Person »so lebhaften Anteil«, daß ihm »eine Trennung in jeder Weise absurd« erschiene: »Ich halte es bei einer Zusammenarbeit dieser Art nicht für erforderlich, daß der Verlag sich mit jeder Teiläußerung von Ihnen 100%ig identifiziert.«745 Das schließlich im Sommer 1937 gegebene Versprechen der Verleger, parallel zur Herausgabe des zweiten Prosabandes eine Sammlung der Gedichte Barths herauszugeben,746 war eine Reaktion auf Barths Drohung. Nachdem Barth seine Gedichte 1938 in einer Auflage von 500 Exemplaren in der Eggebrecht-Presse herausgebracht hatte, kam es allerdings erst vier Jahre später zur Veröffentlichung einer Gedichtsammlung Barths im HGV.747 Grundsätzlich zeigt aber gerade der Umgang mit dem Prosawerk dieses Autors, daß sie schon in der Anfangsphase des Verlags bereit waren, das kaufmännische Kalkül hinter literarische Vorlieben zurückzustellen. Claassen war von Anfang an bewusst, daß es »nicht leicht« sein würde, dem Kindheitsbuch »ein breiteres Interesse zuzuwenden.«748 Ohne genaue Kenntnis der Kalkulationsgrundlage des Verlags749 ist es schwer zu entscheiden, ob die Verleger einen größeren finanziellen Handlungsspielraum hatten, als sie vorgaben – in anderen Worten: ob sie grundsätzlich zu sparsam gewesen sind, wie der Hamburger Buchhändler Felix Jud im Nachhinein urteilte.750 Der großbürgerliche Lebensstil Goverts’ mag bei Autoren wie Buchhändlern zu übertriebenen Vorstellungen von der finanziellen Fundierung des Verlags geführt haben. Hinzu kam eine

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Claassen an Brenner, 27.3.1936. Claassen an Brenner, 4.1.1937 (In Büchern denken, S. 94f.). Brenner an Claassen, 5.1.1937 (Auslassung in In Büchern denken, S. 97). Claassen an Barth, 11.4.1937. So Claassen an Barth, 11.6.1937. Emil Barth: Gedichte (1943). (Nr. 52) Claassen an Barth, 28.2.1936. Solche Unterlagen sind im Verlagsarchiv nicht erhalten. So im Gespräch mit der Verf.; auch Beheim-Schwarzbach versicherte in einem Gespräch, Claassen und Goverts seien »geizig bis zum Exzeß« gewesen.

3.5 »Am besten ist man heute so klein wie möglich«: Die materielle Verlagsbasis eher haushälterische Grundeinstellung der beiden Verleger, denen auch im privaten Umgang mit den Autoren jene Großzügigkeit völlig abging, die z. B. Rowohlt nachgesagt wurde.

Verkaufserfolge der ersten Bücher Das einzige Buch der H. Goverts-Produktion, das bis zu diesem Zeitpunkt einen beachtlichen Verkaufserfolg751 erzielte, war die Elisabeth-Biographie von Neale, die im Frühjahr 1936 in einer Auflage von 6.000 Exemplaren herausgekommen war. In einer zweiseitigen Börsenblattanzeige als »Neuerscheinung von höchstem Rang!« angekündigt und als »ein Ereignis für die gesamte abendländische Geschichtsschreibung«752 gerühmt, erreichte das Buch noch im Herbst 1936 das 9. Tausend, im Herbst 1937 das 15. Tausend.753 Bereits den Vorverkauf und den Absatz der ersten Wochen hatte Claassen Brenner gegenüber als »erstaunlich«754 gerühmt. Die erste Aufnahme sei ungewöhnlich, schrieb der Verleger kurz nach Erscheinen des Buches auch an Neale; dessen hohe Erwartungen dürften sich erfüllen.755 Im Gegensatz zu diesem Verkaufserfolg mußten besonders die phantastische Räubergeschichte von Stock und die Knigge-Biographie Brenners verlegerisch gesehen als reine Mißerfolge verbucht werden. Mit einem Anflug von Ironie teilte Claassen dem Autor Stock das Ergebnis der ersten Abrechnung über den Seltsamen Räuber mit: Es sei »nicht minder seltsam«756. Auch in den folgenden Monaten war nur »ein mehr als mageres Ergebnis«757 zu melden; offensichtlich waren die Verleger über diesen Mißerfolg selbst erstaunt: »Die Freude an echter Fantasie scheint in Deutschland im Schwinden begriffen zu sein. Mir war dieses traurige Ergebnis selbst eine Überraschung; es verdirbt aber natürlich in keiner Weise die Freude an Ihrem Buch.«758 Der kaufmännische Mißerfolg der Knigge-Biographie aber trieb Claassen denn doch fast zur Resignation. Nach anderthalb Jahren schickte er Brenner die Abrechnung mit dem Kommentar, er müsse »gestehen, daß dieses groteske Ergebnis den größten Mißerfolg darstellt, den ich bisher in 13 Jahren Verlagsarbeit auf mich nehmen mußte. Ich werde mich natürlich auch in Zukunft bemühen. Aber Sie werden verstehen, daß mein Optimismus gegenüber solchen Ergebnissen einer fast gewaltsamen Stärkung bedarf.«759 Daß 751 Auch die Abrechnungen sind nur in Ausnahmefällen erhalten; indirekt läßt sich allerdings aus der Korrespondenz mit den Autoren sehr wohl die Tendenz ablesen. 752 Börsenblatt 103 (1936) 89, S. 1916f. 753 In England war das Buch, wie Neale am 5.1.1936 an Claassen schrieb, ein »bestseller« geworden; für ein Buch eines Wissenschaftlers mag diese hyperbolische Bezeichnung durchaus angemessen gewesen sein: In anderthalb Jahren waren 26.000 Exemplare verkauft worden. 754 Claassen an Brenner, 14.4.1936. 755 So Claassen an Neale, 22.4.1936. 756 Claassen an Stock, 23.1.1937. 757 Claassen an Stock, 16.4. 1937. 758 Claassen an Stock, 14.10.1937. 759 Claassen an Brenner, 23.1.1937. Nachdem im darauffolgenden Jahr eine größere Anzahl an Kommissionsexemplaren zurückgesandt worden war, klagte Claassen: »Am liebsten würde ich Ihnen die beiliegende Abrechnung gar nicht schicken, da sie die groteske Erscheinung eines rückläufigen Absatzes nunmehr augenscheinlich macht.« (Claassen an Brenner, 25.1.1938)

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Claassen bereits früh den Grund für den verlegerischen Mißerfolg in der Gattungswahl suchte – er meinte, den Erfolg der Elisabeth-Biographie außer acht lassend, in der Folge für Biographien allgemein »etwas schwarz«760 sehen zu müssen –, beweist in diesem Fall wenig Gespür für die Problematik des Objekts und gleichzeitig seiner Darstellung. Auch die übrigen Bücher verkauften sich eher schlecht. Die 3.200 Exemplare der ersten Auflage des Romans Frau Orpha waren noch im Frühjahr 1940 nicht abverkauft.761 Helen Waddells Peter Abälard war von Anfang an »lächerlich schwer durchzusetzen«762 gewesen, und auch das Kochbuch Boulestins, von dem Claassen sich sicherlich einen durchschlagenden Erfolg erhofft hatte,763 verkaufte sich nur mäßig: sei es, weil sehr viele, z. T. schon bebilderte Kochbücher mit ihm konkurrierten, sei es, daß dem Publikum französische Lebensart und Eintopfsonntag als Gegensätze doch als zu schwer vereinbar erschienen.764 Mit den Frühjahrsneuerscheinungen 1937 setzte sich die schlechte Verkaufssituation fort, wenn auch Goverts zunächst in einem Brief noch ganz optimistisch verkündete, die Romantische Medizin Leibbrands und der historische Roman Sheppards gingen gut, die Benedikt-Biographie Salvatorellis »vorerst nur langsam«765. Im März 1938 meldete Claassen Leibbrand nur noch ein »flackernde[s] Interesse«766 an seinem Buch; und nach erheblichen Schwierigkeiten bei Kommissionsverkäufen trat auch in diesem Fall das »paradoxe[...] Ergebnis eines rückläufigen Absatzes«767 auf. Grundsätzlich begegneten die Verleger diesen in der Tat bescheidenen Verkaufserfolgen mit einer geradezu stoischen Gelassenheit. Sie schienen sie in ihrem Selbstbild geradezu zu bestätigen. Als symptomatisch für dieses Haltung kann das Resümée gelten, das Claassen ein Jahr nach Herausgabe des Abälard der Literarischen Agentur A. M. Heath gegenüber zog: »Ich habe den Eindruck, als ob der wunderbare Roman von Helen Waddell sich in einer stillen aber nachhaltigen Weise durchgesetzt hat, so daß wir noch auf lange Sicht einen gewissen mittleren Standard an Absatz erwarten dürfen.«768 Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich, daß die Verleger auch in der Folgezeit die geringen Erfolge bei der Weiterverwertung der Verlagsrechte offensichtlich nicht weiter tragisch nahmen. Lediglich für Mitchells Vom Winde verweht und für

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Claassen an Brenner, 6.8.1936. Goverts an Gevers, 20.2.1940. Claassen an Sternberger, 12.11.1935. Einen anderen Titel Marcel X. Boulestins, den »Almanach der feinen Küche«, hatte Claassen 1932 mit Erfolg im Societäts-Verlag publiziert. Eine Neuauflage dieses Buchs erschien 1952 im Claassen Verlag. 25 Jahre später gab Claassen in einem Brief an die Literarische Agentur Peters in London als Grund für den verlegerischen Mißerfolg dieser Ausgabe an: »This book has not had the same success in Germany as ›Almanach der feinen Küche‹ owing to the fact that its recipes were less characteristic for french kitchen art.« (Claassen an A. D. Peters, 10.3.1951Cl.A./Boulestin) Goverts an Barth, 13.5.1937. Claassen an Leibbrand, 23.3.1938. Claassen an Leibbrand, 2.2.1939. Claassen an Brooks, Literarische Agentur A. M. Heath, 7.11.1936. – Zweieinhalb Monate später hieß es allerdings nur noch lapidar, »Peter Abälard« halte »den Kopf über Wasser« (Claassen an Brooks, 26.1.1937).

3.5 »Am besten ist man heute so klein wie möglich«: Die materielle Verlagsbasis Langes Schwarze Weide konnten sie 1938 mit dem Deutschen Bücherbund Verträge für Lizenzausgaben abschließen.769 Der einzige Abschluß mit einem ausländischen Verlag, den für eine italienische Ausgabe von Leibbrands Romantischer Medizin, erfolgte gegen eine sehr geringe Gebühr. Claassen wertete diesen Vertrag mit dem Verlag Laterza denn auch lediglich als »rein moralischen Erfolg«: Mit ironischem Unterton teilte er dem Autor mit, ihrer beider »Moneten« erführen »dadurch allerdings keine grundlegende Wandlung«770.

Selbstbild und Geschäftsgebaren Die Art und Weise, wie die Verleger den finanziellen Aspekt der Verlagsarbeit behandelten, zeigt deutlich, mit welch großer innerer Distanz sie diesem Bereich gegenüberstanden. Offenbar war Claassen der Ansicht, daß Verträge, Honorare und Abrechnungen lediglich eine untergeordnete Rolle in den Verlagsbeziehungen spielen sollten; auf keinen Fall aber durften Auseinandersetzungen um finanzielle oder juristische Fragen den Kontakt zu den Autoren dominieren. Als typischer Ausdruck dieser Einstellung kann die Äußerung Claassens in einem Brief an Bach gelten: »Es ist mir ein sehr angenehmes Bewußtsein, daß nunmehr alle Formalitäten hinter uns liegen und der freundschaftliche Austausch über die Sache selbst beginnen kann.«771 Einer der ärgsten Vorwürfe, den ein Autor den Verlegern gegenüber äußern konnte, war der, sie würden sich auf Kosten der Autoren bereichern wollen. Als Lange den Verlegern im Sommer 1937 vorwarf, sie würden finanzielle Schwierigkeiten auf den Rücken der Autoren austragen,772 zeigte die ungewöhnlich heftige Reaktion Claassens, wie tief er in seinem Selbstverständnis getroffen war. Immerhin hatte er – unter Absehung der existentiellen Nöte eines jungen Autors – versucht, eine Fehlkalkulation nachträglich auch zu Lasten des Autors zu korrigieren und das vertraglich bereits zugesicherte Honorar für die 769 Auch die Autoren sahen die Weiterverwertung der Verlagsrechte eher skeptisch. Lange jedenfalls kommentierte die schlechte Ausstattung und das »lächerliche Honorar« der Buchgemeinschaftsausgabe eher höhnisch: »Immerhin sichert man sich dadurch einige neue Leser, die vielleicht so neugierig gemacht werden, meine nächsten Bücher auf normalem Weg zu kaufen.« (Lange an Goverts, 17.10.1938) 770 Claassen an Leibbrand, 6.12.1937. 771 Claassen an Bach, 8.12.1937. – Vgl. auch später an Ilse Molzahn bei Rücksendung des nach langen brieflichen Diskussionen endlich unterschriebenen Vertrags: »Ich hoffe, daß wir damit alles Juridische für lange Zeit beiseiteschieben können und nur noch die lebendige, vom Werk her orientierte Beziehung gilt.« (Claassen an Molzahn, 26.3.1940) – Vgl. auch Claassen an Ernst Schnabel, 13.1.1940: Sie sähen den Vertrag ohnehin nur »als notwendiges Übel« an: »Entscheidend ist das persönliche Vertrauen, das zwischen Verlag und Autor herrscht.« 772 So Lange an Claassen, 15.7.1937. – Claassen hatte darum gebeten, wegen des unerwartet großen Umfangs des Romanmanuskripts »Schwarze Weide« nachträglich das vertraglich bereits vereinbarte Autorenhonorar von 10 % auf 8 % verringern zu dürfen, um den Verkaufspreis auf RM 7.50 halten zu können: »Ich sehe keinen anderen Weg, als daß alle Beteiligten Opfer bringen. [...] Wir selbst werden auf Gewinn in diesem Fall verzichten [...].« Als Entschädigung hatte er »bei der nächsten Staffel von 5.000 – 10.000 Exemplaren« statt der zunächst vereinbaren 12,5 % bereits 14 % angeboten, »über 10.000 Exemplaren dann wieder 15 %« (Claassen an Lange, 14.7.1937).

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs ersten 5.000 Exemplare zu verringern. Daß er sich gegen Langes vehement vorgetragenen Anschuldigungen damit rechtfertigte, »nicht den Vertrag in Frage gestellt, sondern eine persönliche Bitte« ausgesprochen zu haben, belegt erneut die mangelnde Bereitschaft, den finanziellen Streitpunkt als Interessenkonflikt zu akzeptieren. Die Vorwürfe Langes wies Claassen empört als Unterstellung falscher Motive zurück: »Das beweist, daß Ihnen im Verkehr zwischen Autor und Verleger nicht eine vertrauensvolle Haltung, sondern das prinzipielle Mißtrauen als Richtlinie vorschwebt. Ich hatte eine andere Auffassung und werde mich auch bemühen, sie in Zukunft zu verwirklichen.«773 Die hinter diesem Streit aufscheinende Abwehr, die Beziehung zwischen dem Verlag und den Autoren auch als Geschäftsbeziehung zu sehen, in der die Verleger i. d. R. in der mächtigeren Position waren, bedeutete keineswegs, daß Claassen und Goverts sich nicht in Einzelfällen als harte Geschäftsleute erweisen konnten. Augenfällig wurde dies bei Kontakten zu einzelnen Übersetzern, besonders dann, wenn die Verleger mit dem Ergebnis unzufrieden waren. »Tragödien«774 hatten sich in Claassens Augen bei der Herstellung der Biographie der Königin Elisabeth abgespielt. Nachdem Goverts die erste Übertragung Georg Goyerts noch als »im Ganzen glücklich übersetzt«775 angesehen, allerdings bereits eine dreiseitige Liste von Änderungsvorschlägen des Verlagsmitarbeiters Heinrich Landahl mitgeschickt hatte, monierte Claassen wenige Wochen später »eine Reihe zum Teil recht schwerwiegender Lapsuse [sic]«776. Mit Hinweis auf den großen Zeitdruck aufgrund fester Herstellungstermine mußte Goyert sich damit einverstanden erklären, daß Landahl die Übersetzung stilistisch überarbeitete, Korrektur las sowie ein Register und eine genealogische Tafel erstellte. Trotz solcher Unterstützung durch den Verlag mußte der Umbruch in der letzten Februarwoche gestoppt werden, da der englische Autor gegen eine größere Anzahl von Mängeln der bereits revidierten Fassung Einspruch erhob und das Manuskript der Übersetzung mit vielen Verbesserungsvorschlägen zurück nach Hamburg schickte.777 Offensichtlich aufgrund akuter Geldnöte bat Goyert, der am Verkaufserlös der Elisabeth-Biographie mit 3 % beteiligt war, den Sommer über mehrmals um weiteren Vorschuß und bot schließlich an, für eine einmalige Abfindung auf seine vertraglich fixierte Beteiligung zu verzichten. Noch im Juli behauptete Claassen, daß »in absehbarer Zeit« die Verkäufe einen Satz von 5.200 Exemplaren – das entsprach offensichtlich den bis dahin gezahlten Vorschüssen – nicht erreichen dürften und »der Erfolg einer Neuauflage in keiner Weise abzusehen«778 sei. Als im September Goyert erneut um eine Abfindung bat, ging Claassen darauf ein, ohne zu erwähnen, daß zu diesem Zeitpunkt bereits das 9. Tausend in Druck war. Zu spät wurde dem Übersetzer klar, daß er »einen enormen Fehler«779 gemacht hatte. Goyerts Versuche, die Vertragsänderung rückgängig zu machen, konterte Claassen mit formaljuristischen Argumenten, lehnte weitere Verhandlungen ab und schob 773 774 775 776 777

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Claassen an Lange, 16.7.1937. Claassen an Brenner, 14.3.1936. Goverts an Goyert, 23.11.1935 (Cl.A./Neale). Claassen an Goyert, 14.12.1935. Neale bemängelte in seinem Brief vom 3.2.1936 eine größere Anzahl von Mißverständnissen, zu freien Übertragungen und stilistischen Fehlern. 778 Claassen an Goyert, 23.7.1936. 779 Goyert an Claassen, 18.9.1936.

3.5 »Am besten ist man heute so klein wie möglich«: Die materielle Verlagsbasis als letzte Begründung nach, Goyerts Arbeit sei schließlich »wirklich schlecht«780 gewesen. Dieses Verhalten offenbarte eine Rigorosität im geschäftlichen Gebaren, die für Claassen bis zu diesem Zeitpunkt eher untypisch war. Grundsätzlich scheinen die Verleger an die Qualität von Übersetzungen hohe Ansprüche gestellt zu haben, waren aber zu einer angemessenen Bezahlung kaum bereit. Für die Fertigstellung der Übersetzung des Mitchell-Romans Gone with the Wind, für die ihm vom Verlag eine sogenannte »Rohübersetzung«781 zur Verfügung gestellt worden war, hatte Martin Beheim-Schwarzbach ein Pauschalhonorar von RM 555,- erhalten. Tatsächlich scheint Beheim die Arbeit als reinen »Broterwerb« angesehen zu haben.782 Nachdem sich der Verkaufserfolg des Romans längst abgezeichnet hatte, beklagte sich der Übersetzer allerdings bitterlich, seine »Unerfahrenheit und Notlage«783 seien ausgenutzt worden. Schließlich fanden sich die Verleger doch bereit – ohne, wie sie betonten, einen Rechtsanspruch anzuerkennen –, Beheim weitere 450 RM zu zahlen; gleichzeitig allerdings hielt Claassen ihm seine in ihren Augen mangelhafte Arbeit vor. Mit seinen Argumenten, sie seien gezwungen gewesen, den von Beheim gelieferten Text »einer sehr sorgfältigen Nachkontrolle zu unterziehen«, Landahl habe »volle drei Monate ausschließlich damit verbracht«784, bestätigte Claassen letztlich, offensichtlich ohne es selbst zu bemerken, Beheims Vorwürfe hinsichtlich einer völlig unangemessenen Bezahlung.785

Verlagsübernahme des Werks Olav Duuns vom Cassirer Verlag Läßt sich dieses Verhalten eventuell noch mit der äußerst angespannten Finanzsituation des Verlags im Frühsommer 1937 erklären und mit Claassens grundsätzlicher Skepsis 780 Claassen an Goyert, 19.9.1936. 781 Lt. Aktennotiz Landahls vom 3.5.1937 (Cl.A./Mitchell). – Die Rohübersetzung hatte Therese Mutzenbecher für ein Pauschalhonorar von RM 800 angefertigt, die als sog. Halbjüdin nicht in die RSK aufgenommen wurde. Ihr Name taucht in den Verlagsunterlagen erst 1949 auf, als sie über einen Rechtsanwalt versuchte, vom Verlag eine finanzielle Entschädigung für das geringe Honorar zu erreichen. Gegen den Vorwurf, Claassen habe sich »in ungerechtfertigter und scharf zu mißbilligender Weise« auf Kosten der Übersetzerin bereichert (Rechtsanwalt Fischer, 9.8.1949), konterte der Verleger auf moralischer Ebene: »Der Verlag hat im Gegenteil, wofür er beliebig viele Beweise antreten kann, sich stets bemüht, Opfern des Dritten Reiches nach Kräften zu helfen.« (Claassen an Fischer, 11.8.1949) 782 In einer Aktennotiz vom 3.5.1937 hatte Landahl Beheims Übersetzung als »oberflächliche Arbeit« abqualifiziert; die Fehler der Rohübersetzung seien oft nicht beseitigt, neue hinzugekommen. Beheim, der eine »ausgesprochene Abneigung« gegen das Buch geäußert habe, habe sich damit einverstanden erklärt, daß das von ihm abgelieferte Ms. »als unfertig zu betrachten sei« und von Landahl noch einmal »ohne Rücksprache mit ihm bearbeitet würde.« (Aktennotiz, Cl.A./Mitchell) 783 Beheim an Goverts, 25.11.1937: Über seine »Abfindung« herrsche in seinem Bekanntenkreis »allgemeines Kopfschütteln«; für die Umarbeitung eines Buchs von solchem Umfang sei das Dreifache üblich. 784 Claassen an Beheim-Schwarzbach, 27.11.1937. 785 Genüßlich rechnete Beheim in seinem Antwortschreiben, in dem er sich mit 1000 RM Nettohonorar zufrieden erklärte, dem Verleger vor, nach Claassens Vorschlag habe er 500 RM brutto verdienen sollen, also praktisch etwa 25 Mark die Woche, was nunmehr auf 55 Mark heraufgesetzt worden sei (Beheim an Claassen, 28.11.1937).

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs dem amerikanischen Roman gegenüber – er glaubte, im Gegensatz zu Goverts, nicht an einen großen Erfolg in Deutschland –, so sind die Übernahmeverhandlungen mit dem Cassirer Verlag wegen der bis dahin in Deutschland erschienenen Romane des Norwegers Olav Duun ein Jahr später, als die ökonomische Stabilisierungsphase des HGV längst eingeleitet war, vor dem politischen Hintergrund des endgültigen Ausschlusses jüdischer Verleger kein Ruhmesblatt in der Verlagsgeschichte. Finanzielle Verluste durch die Verbots- und Ächtungspolitik seit dem Machtantritt der Nationalsozialisten und allgemeine Absatzschwierigkeiten, deren Gründe in der zunehmenden Boykottierung jüdischer Verlage durch den Buchhandel lagen, hatten bei Cassirer zu einer Umorientierung des literarischen Programms786 auf junge, bis dahin unbekannte Autoren wie Hans Georg Brenner, Walter Bauer, Max René Hesse, Marie Luise Kaschnitz, Wolfgang Koeppen, Josef Leitgeb und August Scholtis787 und den Ausbau einer »kleinen norwegischen Abteilung« mit Werken Sigrid Undsets und Olav Duuns geführt.788 Der Aufschub der Liquidierungsfrist ist wohl auch mit dieser programmatischen Orientierung zu erklären.789 Vor allem aber ist die Geschichte dieses Verlags zwischen 1933 und 1938 vor dem Hintergrund der allgemeinen Verzögerung der sog. »Arisierung« des gesamten Verlags- und Buchhandels zu sehen, die nicht nur wirtschaftspolitische Gründe hatte, sondern auch aus Rücksichtnahme auf die internationale Wirkung im Zusammenhang der Olympischen Spiele erfolgte.790 Als Mitglied der Gruppe der sog. »bekannteren Juden« gehörte Cassirer damit, wie S. Fischer, zu jenem kleinen Teil jüdischer Verlage, die erst im Rahmen der zweiten Ausschaltungswelle791 ab Herbst 1936 in sog. »arische« Hände übergeben werden mußten. Als einer der letzten jüdischen Verlage mit nichtjüdischem Programm wurde der Cassirer Verlag am 25.2.1937 aus der RSK ausgeschlossen, als letzte Frist für die Auflösung seines Betriebes wurde der 30. September 1937 festgesetzt.792

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786 Abele: 1933 – 1938: Der Verlag Bruno Cassirer im Nationalsozialismus, Teil II, B 4, erklärt die »schlagartige« Abkehr von dem bis dahin dominierenden sozialen Verlagselement zu einem neuen Verlagsprogramm der »Verinnerlichung« mit der Widersprüchlichkeit im Denken Taus, der bereits vor 1933 wiederholt gegen sozial engagierte Literatur polemisiert hatte. – Vgl. auch Tau: Das Land, das ich verlassen mußte. 787 Vgl. die Verlagsbibliographie des Cassirer Verlags für die Jahre 1933 bis 1938 bei Abele, B 17f. sowie die Beschreibung der zeitweiligen Schwierigkeiten Max René Hesses, Koeppens und Scholtis’ mit den Überwachungsbehörden (Abele, B 5f.). 788 Preiswerte Editionen in der Serie der Cassirer’schen Volksausgaben erschienen 1933 von Sigrid Undset (Viga Ljot und Vigdis) und 1934, als Lizenz von Rütten & Loening, die »Juwikinger« von Olav Duun in zwei dicken Bänden; 1936 folgte von Sigrid Undset der Erzählungsband »Ein Fremder« und der kleine Roman »Gang durch die Nacht« von Duun. »Die Ölsöy-Burschen« waren bereits 1930 herausgekommen. 789 Auch das Anfang 1935 für Max Tau drohende Arbeitsverbot aufgrund seiner jüdischen Abstammung wurde durch das »engagierte Eintreten einiger Schriftsteller und die Tatsache, daß er vor seiner Zeit bei Cassirer Autoren gefördert hatte, die nun von den Nationalsozialisten hofiert wurden«, hinausgezögert (Abele: Der Verlag Bruno Cassirer, Teil II, B 2). 790 Vgl. Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich, S. 59 –100. 791 Vgl. Dahm, S. 82 – 86. 792 Vgl. Abele: Der Verlag Bruno Cassirer, Teil II, B 9 sowie Dahm.

3.5 »Am besten ist man heute so klein wie möglich«: Die materielle Verlagsbasis Seit Frühjahr 1936 war im Briefwechsel zwischen Brenner und Claassen von der politisch brisanten Situation des Cassirer Verlags, der Brenners ersten Roman veröffentlicht hatte,793 die Rede. Brenner, der sein Verhältnis zu Cassirer als »unerfreulich« bezeichnete und zum HGV wechseln wollte,794 hielt Claassen aufgrund seiner guten Kontakte zu Tau auf dem Laufenden: Über Cassirer habe er »nichts Neues gehört. Er scheint aber noch ein Jahr Frist zu haben. Ich vermute, daß er dann liquidieren will.«795 Cassirer, für den der Verkauf des Gesamtunternehmens indiskutabel war,796 zögerte offensichtlich auch den Verkauf der Verlagsrechte so lange wie möglich hinaus. Erst im Frühsommer 1938 kamen, vermittelt über Max Tau797 und mit Unterstützung Karl Heinz Bischoffs von der RSK, die Übernahmeverhandlungen mit dem an Olav Duun interessierten HGV zu einem Ergebnis.798 Nachdem der Verlag bereits im Mai die Rechte an den Juwikingern von Rütten & Loening übernommen hatte, bedankte sich Goverts in einem Brief vom 21.6.1938 bei Cassirer für die Überlassung des Manuskripts der deutschen Übertragung von Olav Duuns Roman Gott lächelt, »weil Sie unseren in Norddeutschland beheimateten Verlag mit Billigung der Kammer am geeignetsten hielten, das Werk des großen norwegischen Dichters [...] weiterhin in Deutschland zu betreuen.«799 Die Abmachung mit Cassirer über die Rechte der Duun’schen Romane Die OlsöyBurschen (1930), Der Gang durch die Nacht (1936) und des Übersetzungsmanuskripts des Romans Gott lächelt inklusive der Übernahme der Restauflagen800 datiert vom 15.7.1938; offensichtlich jedoch war zu diesem Zeitpunkt die Vergütung noch offen. Im Oktober desselben Jahres jedenfalls beklagte sich ein Dr. Hell im Auftrag des Cassirer Verlags801 über den vom HGV angebotenen Preis von RM 2.300; er sei »ganz ungewöhnlich niedrig«: »[...] wir sind doch der Ansicht, daß der von Ihnen genannte Preis in Anbetracht der Bedeutung des gesamten Objektes unter der Summe liegt, die wir billigerweise erwarten durften. Unsere ursprüngliche Forderung von RM 3.500 war, wie wir Ihnen dargestellt haben, nur auf Grund einer sehr mäßigen Berechnung der Vorräte zuzüglich der bereits gezahlten Honorare entstanden.«802 793 Hans Georg Brenner: Fahrt über den See. Roman. Leipzig: Bruno Cassirer 1934. 794 »Cassirer ist ein Sphinx – aber es scheint alles in der Auflösung zu sein, so daß ich mich schon als »frei« betrachten kann.« (Brenner an Claassen, 26.2.1936) – Am 28.3.1936 schrieb Brenner: »Nach einer langen Unterredung mit Dr. Tau und nachdem ich mir die Situation bei Cassirer selbst angesehen habe, möchte ich dort gar nichts mehr verlegen – es ist aus praktischen Gründen unmöglich.« 795 Brenner an Claassen, 6.8.1936. 796 Vgl. Abele: Der Verlag Bruno Cassirer, II, B 9. 797 Vgl. Tau: Trotz allem, S. 156. 798 Im September 1937 hatte sich Goverts bereits bei den deutschen Übersetzern der Romane Sigrid Undsets und Olav Duuns erkundigt, ob »in der nächsten Zeit« damit zu rechnen sei, daß die nordischen Autoren des Cassirer Verlags frei würden. »Ich möchte auf alle Fälle unser großes Interesse für Frau Sigrid Undset und Olav Duun anmelden [...].« (Goverts an Sophie Angermann u. Julius Sandmeier, 16.9.1937 – Cl.A./Duun) 799 Goverts an Cassirer, 21.6.1938. 800 Vom »Gang durch die Nacht« wurden 1.190 Ex., von den »Olsöy-Burschen« 2.143 Ex. übernommen. 801 Vermutlich handelte es sich um den mit der Liquidierung beauftragten Rechtsanwalt. 802 Dr. Hell/Cassirer Verlag an den H. Goverts Verlag, 18.10.1938.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Claassen und Goverts gingen auch auf das Vermittlungsangebot von RM 2.700 nicht ein. Mit der Unterstützung der RSK im Rücken,803 die sie schamlos als Druckmittel einsetzten, pokerte der Verlag dem Rechtsvertreter Cassirers gegenüber hoch und beharrte telegraphisch auf dem niedrigen Preis: »Reichsschrifttumskammer drängt auf Abschluß – unser äußerstes Angebot 2300 – Drahtantwort – Govertsverlag«804. Am selben Tag hatte der Verlag im Börsenblatt das Erscheinen der zweibändigen Ausgabe der Juwikinger im H. Goverts Verlag »als Volksausgabe in neuer Ausstattung« bekanntgegeben und im selben Inserat die Herausgabe der Romane Die Olsöyburschen und Gang durch die Nacht für das Frühjahr angekündigt. Vorangestellt war – unter der eingerückten Überschrift »Verlagsübernahme« – folgende Bekanntgabe: »In freundschaftlichem Einvernehmen zwischen dem Autor und den beiden beteiligten Verlagen übernehmen wir das Gesamtwerk des großen norwegischen Dichters Olav Duun.«805 Einen Verhandlungsspielraum für den Cassirer Verlag gab es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Die Zustimmung wurde noch am selben Tag zugestellt.

3.5.2 Die Stabilisierungsphase Der Bestseller »Vom Winde verweht« Von dem großen Erfolg der Originalausgabe im Sommer 1936 hatte Goverts aus amerikanischen Kritiken erfahren. Über die Vermittlung der literarischen Agentin Marion Saunders erhielt der HGV im Spätherbst desselben Jahres vom Verlag Publishers Macmillan Co, New York für die deutschsprachige Ausgabe eine Option, die im Februar 1937 zu einer festen Vereinbarung führte.806 Es ist bezeichnend für Claassens Skepsis, daß er sich zunächst dem Projekt gegenüber ablehnend verhalten hatte. Goverts erinnerte sich viele Jahre später, »es benötigte längere Verhandlungen, in denen ich ihm auseinandersetzte, daß in dem Romanwerk Themen behandelt würden, die gerade auch uns interessierten, bis er schließlich einwilligte, die Ausgabe dieses Romanwerkes zu riskieren«807. Noch bevor die Übersetzung des über 1000 Seiten dicken Bandes, an dessen Erfolg auch Beheim-Schwarzbach nicht glaubte,808 unter großem Zeitdruck abgeschlossen war,809

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803 Karl Heinz Bischoff/RSK hatte den Verlegern zwei Wochen zuvor mitgeteilt, es bestehe ein »gewisses Interesse an einem baldigen Abschluß der Angelegenheit Duun [...], vor allem, um Duun nicht zu dem Eindruck zu verleiten, als würde seine Sache durch den Übergang des Werkes aus dem Cassirer Verlag ins Schwimmen kommen.« Ein »saubere Lösung« sei erwünscht. (RSK/Bischoff an HGV, 4.10.1938 – Cl.A./Duun) 804 Telegramm des HGV an den Cassirer Verlag, 19.10.1938. 805 Börsenblatt 105 (1938) 244, S. 5786. 806 Sie umfaßte die Rechte für die deutsche Übersetzung in Buchform und schloß weitere Rechte (Rundfunk, Film etc.) aus. 807 Goverts an die Verf. 808 So Beheim-Schwarzbach im Gespräch mit der Verf. 809 Aus den Verlagsunterlagen geht hervor, daß die Verleger noch im Juni 1937 die bis dahin vorliegende Fassung der Übersetzung Beheim-Schwarzbachs, die als »Rohübersetzung« bezeichnet wurde, von Alfred Newman in Kopenhagen gegen ein Honorar von 50 RM prüfen ließen (Cl.A./Mitchell).

3.5 »Am besten ist man heute so klein wie möglich«: Die materielle Verlagsbasis

Abbildung 5: Anzeige des Goverts Verlags aus Börsenblatt 105 (1938) 242, S. 5678

frohlockte Goverts in einem Brief an Barth, es bestünde schon jetzt ein derart starkes Interesse an dem Buch, daß sie für die erste Auflage 11.000 Exemplare drucken wür-

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs den.810 Tatsächlich betrug die Erstauflage aufgrund der großen Anzahl an Vorbestellungen 19.000 Exemplare – für den Verlag eine Investition ungekannten Ausmaßes. In der Verlagswerbung überschlugen sich von Anfang an die Superlative: »Der größte Roman-Welterfolg seit Jahrzehnten! Über 1½ Millionen Auflage während eines Jahres in Amerika und England«811, überschrieb der Verlag seine zweiseitige Ankündigung im Börsenblatt und setzte auf das Werbeprinzip der Nachfragesteigerung durch knappe Ressourcen: »1. – 14. Tausend durch Vorbestellungen vergriffen – 15. – 19. Tausend wird ausgeliefert – nächste Auflage Mitte November«812. Auch am Werbematerial für die Buchhändler wurde nicht gespart; es stach von dem im Verlag üblichen schon optisch ab: Der sechsseitige illustrierte Prospekt, der in der Anzeige neben einem zweiseitigen farbigen Bildprospekt und einem Plakat angepriesen wurde, war auf silberfarbenem Papier gedruckt.813 Als Barth den Verlegern in diesen Tagen zu dem großen Erfolg gratulierte, bekam er von Claassen eine eher mißmutige Antwort: »Mitchell hat sich in der Tat zu einem alle Erwartungen übersteigenden Erfolg ausgewachsen, so daß wir vorerst mehr Ungelegenheiten haben als uns lieb ist. Wir verfügen im Augenblick über kein einziges Exemplar.«814 Die Reaktion Claassens auf den Erfolg dieses Romans war nicht nur deshalb zwiespältig, weil das Buch für ihn unterhalb des Niveaus lag, das er er vertreten wollte.815 Seine Kommentare erwecken den Eindruck, daß die Dimensionen des Geschäfts ihn abstießen und die Investionen für Druck, Vertrieb und Werbung der ersten Wochen ihm über den Kopf zu wachsen drohten. Immerhin meldete die Börsenblatt-Anzeige vom 1. Dezember 1937 das 1. bis 40. Tausend als »in neun Wochen vergriffen«, das 41. bis 60. Tausend als »soeben erschienen«816; am 15. Februar 1938 wurde auch diese Auflage als vergriffen gemeldet und das 61. bis 80. Tausend als erschienen angekündigt.817 Mitte Juni 1938 warb der Verlag auf der Titelseite des Börsenblatts mit dem Erscheinen des 81. bis 100. Tausend.818 Kontinuierlich setzte sich der »gewaltige Erfolg«819 fort. Ein Jahr nach Erscheinen wurde das

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810 So Goverts an Barth, 13.5.1937. – Mitte September war in einem Brief an Lange von 9.000 im Vorverkauf fest abgesetzten Mitchell-Exemplaren die Rede (Goverts an Lange, 14.9.1937). 811 Börsenblatt 104 (1937) 238, S. 4710. 812 Börsenblatt 104 (1937) 238, S. 4711. 813 Selbst die Autorin im fernen Atlanta zeigte sich begeistert von den Werbebemühungen ihrer deutschen Verleger: »Miss Marion Saunders sent me your advertisement which was printed on silver paper and, while I could not read the text, I thought it a striking looking advertisement.« (Mitchell an Claassen, 13.12.1937 – In Büchern denken, S. 363) 814 Claassen an Barth, 14.10.1937. 815 Es sei »trotz literarischer Qualitäten nicht frei von kolportagehaften Passagen«, schrieb er an seine Frau (Claassen an Hilde Claassen, 17.7.1937). 816 Börsenblatt 104 (1937) 278, S. 6164. – »The success of the book, in consideration of the sales on the German market, is extraordinary«, berichtete Claassen am selben Tag der Autorin. »We hope to be able to make up a statement per 31st December 1937 covering 40.000 copies definitely sold. Printed are, up to now, 60.000 copies.« (Claassen an Mitchell, 1.12.1937 – In Büchern denken, S. 361) 817 Börsenblatt 105 (1938) 38, S. 697. 818 Börsenblatt 105 (1938) 135, Umschlagseite. 819 »Auch in Deutschland ein gewaltiger Erfolg!« (Börsenblatt, Umschlagseite)

3.5 »Am besten ist man heute so klein wie möglich«: Die materielle Verlagsbasis 101. bis 130. Tausend ausgeliefert.820 Weihnachten 1938 war das 140. Tausend vergriffen, und Mitte Januar 1939 wurde im Börsenblatt eigens darauf hingewiesen, daß das 141. bis 160. Tausend »in der Reihenfolge d. eingegangenen Bestellungen«821 ausgeliefert würde. Auf weitere Werbung für dieses Buch, von dem als Lizenzausgabe in der Deutschen Buchgemeinschaft bis Ende Dezember 1939 weitere 90.000 Exemplare erschienen, verzichtete der Verlag. In der letzten Abrechnung vor dem Eintritt der USA in den Krieg, datiert vom 22.7.1941, ist von einer Druckauflage von 276.990 Exemplaren die Rede. Der Saldo zu Gunsten Margaret Mitchells ist darin auf RM 184.374,75 beziffert.822 Allein diese Honorarsumme vermittelt – auch ohne die Gewinnspanne des Verlags exakt einschätzen zu können – eine Vorstellung von der Rolle, die dieses Buch für die finanzielle Fundierung des Verlags gewann. Die lakonische Nachricht Claassens an Barth sechs Wochen nach Erscheinen von Vom Winde verweht ist aussagekräftig genug: »Ich freue mich, daß der Verlag nunmehr wirklich festen Fuß gefaßt hat und auch Umsätze erzielt, die die Weiterarbeit gestatten.«823 Nach zweieinhalb Jahren trat der Verlag damit finanziell gesehen in eine Stabilisierungsphase ein, die allerdings nur eine äußerst vorsichtige, zahlenmäßig geringe Ausweitung der Produktion zur Folge hatte: Im Herbst 1938 kamen, statt der bis dahin üblichen drei Titel, vier Neuerscheinungen heraus, im Frühjahr 1939 fünf und im Herbst 1939 sechs. An der Grundentscheidung der Verleger, den HGV als den Kleinverlag fortzuführen, als der er im Herbst 1935 mit überschaubarem Programm angetreten war, sollte sich auch in den Folgejahren nichts ändern. Die Überzeugung, die diesem Entschluß zugrundelag und die vor allem politisch motiviert war, äußerte Gerhard F. Hering Jahre später pointiert: »Am besten ist man heute so klein wie möglich ...«824

Weitere finanzielle Erfolge Die deutsche Übersetzung des amerikanischen Bestsellers blieb nicht der einzige Publikumserfolg. Auch von Howard Springs Roman Geliebte Söhne vom Herbst 1938, in Großbritannien und den USA ebenfalls ein Bestseller,825 kam noch im Erscheinungsjahr das 30. Tausend heraus.826 In der Werbung versuchten die Verleger an den Vorjahreserfolg anzuknüpfen: In der ersten Börsenblatt-Anzeige wurde der Roman, dessen Startauflage bereits 20.000 Exemplare umfaßte, als »der neue große Erfolgsroman«827

820 Börsenblatt 105 (1938) 242, S. 5678. 821 Börsenblatt 106 (1939) 16, S. 267. 822 Offensichtlich gab es bereits von Anfang an Schwierigkeiten beim Honorartransfer, so daß das Geld auf ein Sperrkonto eingezahlt wurde. 823 Claassen an Barth, 25.11.1937. 824 Hering an Claassen, 18.11.1943. 825 Börsenblatt 105 (1938) 243, S. 5745: »Amerikanische Auflage über 100000. Seit Monaten best-seller in Amerika und England«. 826 Börsenblatt 105 (1938) 282, S. 7392: »Der große Erfolg – 1. –15. Tausend vergriffen – 16. – 20. Tausend in Ausl. – 21. – 30. Tausend im Druck«. 827 Börsenblatt 105 (1938) 243, S. 5744. – 10.000 Exemplare waren bereits im Vorverkauf abgesetzt worden (so Goverts an Hansgeorg Maier, 11.10.1938).

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs angekündigt. Mit den Verkaufszahlen des Mitchell-Romans allerdings konnte sich dieser Roman nicht messen; die Auflage war bis zum Herbst 1939 noch nicht erschöpft. Die finanziellen Erfolge des Verlags beschränkten sich somit auf die ausländische Literatur. Besonders mit den beiden englischsprachigen Romanen gelang es den Verlegern, die Begeisterung des deutschen Publikums für englische und amerikanische Gesellschaftsromane, die bis zum Beginn des Krieges an hohen Auflagenzahlen abzulesen war,828 für den HGV gewinnbringend umzusetzen. Das große Interesse des deutschen Lesepublikums an Übersetzungen allgemein, das für die ersten Jahre der Diktatur belegt ist und das seinen Höhepunkt 1937/1938 erreichte, wirkte sich auch auf die deutsche Ausgabe von Claire Sainte-Solines Antigone aus. Bei Erscheinen im Herbst 1938 war der Roman einer so großen Nachfrage ausgesetzt, daß die Bindereien mit der Arbeit nicht nachkamen und der Verlag nur noch in Broschur ausliefern konnte.829 Daß auch diese Übersetzung ein größerer Verkaufserfolg war als die deutschsprachigen Romane, zeigte sich daran, daß bereits im Februar 1939 die zweite Auflage erschien.830

Reaktionen Erst allmählich mochte Claassen die finanzielle Stabilisierung des Verlags nach außen zugeben. Über ein Jahr nach dem großen Erfolg des Mitchell-Romans finden sich in der Korrespondenz mit den Autoren häufiger entsprechende Äußerungen. Zum Jahreswechsel 1938 hieß es z. B. in einem Brief an eine Autorin selbstbewußt, der Verlag habe sich in diesem Jahr »außerordentlich gut entwickelt«831. Aus den Verlagsunterlagen geht nicht hervor, daß die Verleger in der Folgezeit bei ihren Kalkulationen oder in ihrem allgemeinen Geschäftsgebaren wesentlich großzügiger geworden wären.832 Grundsätzlich orientierten sich die Verkaufspreise an den Kosten für die Ausstattung sowie der Auflagenhöhe: Die Goverts-Bücher waren aufgrund ihrer guten Ausstattung nicht gerade billig, verglichen etwa mit den Preisen z. B. von S. Fischer/Suhrkamp aber auch nicht übermäßig teuer: Die Bücher des kulturwissenschaftlichen Programms des HGV waren mit einem Verkaufspreis zwischen RM 6.50 und RM 9.60 durchweg etwas teurer833 als die Romane, die in der Leinenausgabe je nach Seitenzahl zwischen

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828 Schäfer nennt in »Das gespaltene Bewußtsein« die hohen Auflagenzahlen verschiedener amerikanischer Bestseller und belegt damit seine Beobachtung, daß erst der Krieg die »Flut übersetzter englischer Kriminal- und Gesellschaftsromane« stoppte. (S. 14f.) 829 So Goverts an Barth, 20.10.1938. 830 Die Auflagenhöhe ließ sich nicht ermitteln; vermutlich lag sie pro Auflage zwischen 3.000 und 5.000 Exemplaren. 831 Claassen an Irene Behn, 29.12.1938. 832 Es ist kaum anzunehmen, daß der HGV die Passage 1. Klasse von New York nach Bremen bezahlte, die vom Verlag aus für Marion Saunders, die literarische Agentin Margaret Mitchells, beim Norddeutschen Lloyd Bremen im August 1938 bestellt wurde (lt. Notiz der Verlagsmitarbeiterin Vortmann vom 20.8.1938 – Cl.A./Mitchell). – Weitere Verlagsunterlagen zu diesem Kontakt sind nicht erhalten. Etwas vom Atmosphärischen dieses Besuchs Marion Saunders’ bei Claassen und Goverts gibt indirekt der Brief Margaret Mitchells an Claassen vom 6. Januar 1939 wieder. (In Büchern denken, S. 365) 833 So kosteten z. B.: Leibbrand: Romantische Medizin, RM 6.50; Sternberger: Panorama, RM 7.50; Strindberg: Lieb, Leid und Zeit, sowie de Broglie: Licht und Materie, RM 9.60.

3.5 »Am besten ist man heute so klein wie möglich«: Die materielle Verlagsbasis RM 4.80 und RM 7.50 kosteten.834 Bei den Übersetzungen betrug der Preis für die vergleichsweise schmalen Bände zwischen RM 3.80 und 4.80,835 die dicken »Erfolgsromane« waren vergleichsweise teuer: Geliebte Söhne kostete RM 8.50, Vom Winde verweht sogar RM 12.80. Nachdem Claassen den Verkaufspreis der Leinenausgabe des Wandelstern – entgegen der ursprünglichen Kalkulation auf RM 6.80 – wegen der verteuerten Ausstattung im ersten Rundschreiben an die Sortimenter mit RM 7.50 angegeben hatte, befürchtete Barth, daß dieser »ungewöhnlich hohe Preis« dem Buch »von vornherein den Lebensfaden abschneidet«: Er habe in seiner Bibliothek »vergeblich nach einem Werk gesucht, welches dem Umfang und der Ausstattung des Wandelstern entsprechend einen so hohen Preis hätte.«836 Durch die von Barth mit vielen Argumenten gestützte Bitte, den Preis wieder zu senken, fühlte sich Claassen in »sehr große Verlegenheit« gebracht: Die Kalkulation war in seinen Augen »beim jetzigen Umfang und der jetzigen Ausstattung des Buchs [...] derart unternormal«, daß er meinte, »eigentlich diesen Preis nicht verantworten«837 zu können. Claassens Recherchen bei verschiedenen Buchhändlern führten schließlich doch dazu, »in den bitteren Apfel zu beißen und den Ladenpreis auf RM 6.80 festzulegen. Allerdings waren die Verleger geschickt genug, den geänderten Preis für die Werbung auszunutzen. In der ersten Börsenblatt-Anzeige im März 1939, in der der Roman als »das schönste Geschenk für Ostern 1939« angepriesen wurde, gab der Verlag die mißglückte Kalkulation als Preisreduzierung aufgrund einer vorgeblichen Auflagenänderung bekannt: »Durch unser Rundschreiben vom 13.2.1939 teilten wir dem Sortiment als Ladenpreis des Leinenexemplars RM 7.50 mit. Es ist uns durch Erhöhung der Auflage möglich gewesen, den Preis für das sorgfältigst ausgestattete in bestes Leinen gebundene Werk auf RM 6.80 herabzusetzen und ihm so weiteste Verbreitung zu sichern.«838 Wenn die Verleger sich somit in Fragen der Kalkulation auch weiterhin sparsam zeigten, so gibt es dennoch Indizien dafür, daß sie allmählich bereit waren, aus der finanziellen Konsolidierung der zurückliegenden zwei Jahre und dem immensen Arbeitsanfall Konsequenzen zu ziehen. Offensichtlich planten sie ab dem Frühsommer 1939, die Chancen für eine leichte Ausweitung der Verlagsproduktion professioneller zu nutzen. Als Berater für deutschsprachige Literatur wurde seitdem der Autor Friedo Lampe hinzugezogen. Zur Entlastung Heinrich Landahls im Lektorat wurde Wilhelm Gollub fest angestellt; er stand dem Verlag allerdings nur für relativ kurze Zeit zur Verfügung.839 Verlagsintern führten die finanziellen Erfolge erst langsam zu etwas großzügigerem Verhalten. Auf die sog. Renten für die deutschen Autoren, die bereits im HGV veröffentlicht hatten, durch Option an den Verlag gebunden waren und an ihren nächsten Romanen arbeiteten, hatten die größeren Einnahmen des Verlags zunächst kaum Einfluß. Nur in Ausnahmefällen waren die Verleger aus freien Stücken zu einer Erhö834 Es kosteten Barth: Das verlorene Haus, RM 4.80; Lange: Schwarze Weide, RM 7.50. 835 So kosteten Benton: Tarpan, sowie Melville: Billy Budd, RM 3.80; Gevers: Frau Orpha, RM 4.80. 836 Barth an Claassen, 19.2.1939. 837 Claassen an Barth, 23.2.1939. 838 Börsenblatt 106 (1939) 58, S. 1449. 839 Gollub wurde im Frühjahr 1940 eingezogen.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs hung dieser monatlichen Abschläge bereit, auf die einzelne Autoren, die freiberuflich und ohne regelmäßige Einkünfte versuchten, ein Werk abzuschließen, durchaus angewiesen waren. In welchem Ausmaß Claassen und Goverts an der Fertigstellung des Goethe-Buchs von Rudolf Bach lag, zeigte ihre Bereitschaft, dem Autor ab Januar 1938 monatelang eine Unterstützung von RM 200 bzw. schließlich RM 100 zu zahlen und auch seine Reisen nach Weimar und Sizilien840 finanziell zu unterstützen. Gerade den jungen deutschen Autoren gegenüber aber scheint es den Verlegern wichtig gewesen zu sein, nicht in den Ruf zu geraten, zu großen Vorschüssen in der Lage zu sein: Als sie sich mit Joachim Maass im August 1938 auf die Übernahme seines Romanmanuskripts Das Testament einigten und dabei vertraglich die Zahlung von RM 3.000 zum 1.10. desselben Jahres vereinbarten,841 wollte Claassen offensichtlich sicherstellen, daß sich dies nicht herumspräche: Ein Vorschuß in dieser Höhe, so behauptete er, falle ihnen schwer.842 Die »kleine Rente von RM 50«843, die Claassen Horst Lange zunächst im Dezember 1938 anbot, wies dieser allerdings empört als »gekleckert« zurück und forderte monatlich RM 200. Erst seine Bitte, die Option zu lösen, damit er »anderen Angeboten gegenüber offen«844 wäre, bewog die Verleger, ihren Vorschlag zu überdenken. Claassen, der es für den Verlag »beschämend«845 gefunden hätte, wenn Lange nicht weiterhin bei ihnen erschienen wäre, erklärte sich schließlich ab Februar 1939 für die Dauer eines Jahres zur Zahlung einer Rente von 200 RM monatlich bereit. Gerade in den Briefen Langes klang häufiger ein kaum unterdrückter Neid auf den Erfolg der ausländischen Autoren durch, z. B. wenn er aufgrund des Umschlags gegen die Geliebten Söhne von Spring polemisierte, bevor er das Buch überhaupt gelesen hatte.846 In problematische Nähe zu der von der offiziellen Literaturpolitik spätestens seit dem Frühjahr 1938 einsetzenden Polemik in der Presse gegen die Übersetzungsliteratur geriet Lange allerdings mit seiner frustrierten Ankündigung, er wolle sich bei dem Berliner Vertreter des HGV, dem Buchhändler Ecke, für einen befreundeten Autor einsetzen: »[...] überhaupt für uns arme deutsche Würstchen, denen man weiß Gott nicht soviel Idealismus zumuten soll, daß wir uns unentwegt unter die starke angelsächsische Konkurrenz beugen«847. Auch Claassen scheint die Diskrepanz zwischen dem Erfolg der englischsprachigen Romane und der schlechten Verkäuflichkeit der deutschen seinen jungen Autoren gegenüber mehr als unangenehm gewesen zu sein. Rudolf Bach bat er

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840 Vgl. die Korrespondenz zwischen Bach und Claassen 1938/39. – Finanziell gesehen war wohl kaum eine Vorauszahlung innerhalb der Verlagsgeschichte derart hoch – und dennoch vergeblich – wie im Fall Bach: Eine Zusammenstellung vom 3.11.1948 weist RM 8.800 an Vorauszahlungen bis zur Währungsreform aus. (Cl.A./Bach) 841 Die Übersiedlung von Maass in die USA stand zu diesem Zeitpunkt bereits fest; das mag mit ein Grund für die hohe Vorauszahlung gewesen sein. 842 So Claassen an Maass, 1.8.1938. 843 Claassen an Lange, 19.12.1938. 844 Lange an Claassen, 29.12.1939 845 Claassen an Lange, 30.12.1938. 846 Lange an Goverts, 17.10.1938: Man könne »es nur lebhaft bedauern, daß man keinen englisch klingenden Namen führt und in deutscher Sprache dichten muß. Wie schön wäre es, wenn man übersetzt würde und bei uns für das, was man schreibt, nicht geradezustehen brauchte.« 847 Lange an Goverts, 17.10.1938.

3.5 »Am besten ist man heute so klein wie möglich«: Die materielle Verlagsbasis um Unterstützung für Langes Roman. Er fühle sich »etwas ungemütlich«, daß es ihm nicht gelinge, »dem deutschen Autor auch nur annähernd so viel Beachtung zu schaffen wie sie das amerikanische Buch spielend einheimst«848.

3.5.3 Bücher »für die schwindende Elite« Die Art und Weise, wie die Verleger mit den zahlreichen finanziellen Mißerfolgen umgingen, vor allem, wie sie sie den Autoren gegenüber begründeten, wirft ein Licht auf ihr Selbstverständnis. Von Anfang an hatte Claassen bei dem ersten Roman Barths, dem Verlorenen Haus, nicht mit einem großen Erfolg gerechnet; noch vor Erscheinen des Buchs im Frühjahr 1936 schrieb er dem Autor, er sei sich bewußt, daß es »nicht leicht« sein werde, »dem Buch ein breiteres Interesse zuzuwenden«849. Im Juli hieß es dann, der Roman habe »ein wechselndes Echo« gefunden: »Die Auswirkung auf den Absatz dürfen Sie sich allerdings nicht zu reißend vorstellen. Dichterische, zumal noch im besten Sinne stille Kräfte dringen auch nur langsam in die Realität des Buchmarkts ein.«850 Insgesamt erwecken die Kommentare der Verleger zu diesem Aspekt des an Verkaufszahlen ablesbaren Erfolges einen widersprüchlichen Eindruck. Einerseits zeigten sie sich durchaus bereit, aus finanziellen Mißerfolgen Konsequenzen zu ziehen;851 andererseits hat es oft genug den Anschein, als läge ihre verlegerische Zielvorstellung exakt in jenem »stillen, aber intensiven literarisch durchaus fühlbaren Erfolg«852, den Claassen Barth für sein erstes Buch bestätigte. Zum Teil bestärkten sogar die Autoren ihre Verleger noch in dieser Auffassung, wenn sie behaupteten, zunächst gar nicht mit großen Verkaufserfolgen zu rechnen. So schrieb Lange wenige Wochen nach Erscheinen seines Romans an Claassen, er sei »von Anfang an darauf gefaßt« gewesen, »daß die ›Schwarze Weide‹ ihren Weg nur langsam und über viele Schwierigkeiten hinweg machen« werde, »und ich muß sagen, daß die günstige Aufnahme, die mein Buch bisher in Berlin gefunden hat, meine Erwartungen weit übertraf«.853 In den Briefen an die Autoren tauchen immer wieder die gleichen Gründe auf, mit denen die Verleger die ausbleibenden Verkaufserfolge zu erklären suchten: Sei es, daß es am Genre liegen sollte, wie im Fall der Knigge-Biographie,854 oder zu viele vergleichbare 848 Claassen an Bach, 8.12.1937. 849 Claassen an Barth, 28.2.1936. 850 Claassen an Barth, 23.7.1936. – Im Brief vom 28.8.1936 zeigte sich Claassen über das schlechte Absatzergebnis allerdings dann doch etwas enttäuscht: »Dichterische Bücher scheinen es nach wie vor besonders schwer zu haben.« 851 Gegen Ende des Jahres, als sich der buchhändlerische Mißerfolg erwiesen hatte, äußerte sich Claassen Barth gegenüber skeptisch, ob es klug sei, mit der nächsten Veröffentlichung die Kindheitserinnerungen fortzusetzen. (Claassen an Barth, 28.12.1936) 852 Claassen an Barth, 11.6.1937. – Dieses Selbstbild entsprach der in der Regel »soliden und gedämpften Reklame«, die Sternberger an den Werbebemühungen des Verlags positiv hervorhob. (Sternberger an Claassen, 10.11.1937) 853 Lange an Claassen, 22.10.1937. 854 Claassen an Brenner, 6.8.1936: »Für Biographien sehe ich etwas schwarz, da diese Mode unwahrscheinliche Dimensionen angenommen hat. Die ältesten Mütter und abgelegensten Prinzen tauchen wieder auf.«

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Bücher als Konkurrenz auftraten, wie im Herbst 1936 bei Erscheinen des Verlorenen Hauses;855 sei es, daß die allgemeine Situation des Buchhandels angeführt wurde – ob der Buchhandel nun stagnierte, wie im Frühjahr 1936,856 oder ob er florierte, wie im Herbst 1937,857 – oder sei es, daß in den Augen der Verleger die führenden Berliner Buchhändler als wichtige Vermittler sich querstellten: »Es wäre wichtig, wenn diesen Pseudoliteraturpäpsten klargemacht würde, daß der Knigge ein gutes, brauchbares, aktuelles, lehrreiches – kurz ein Buch ist, das sie verkaufen müssen. Die schnoddrigen Berliner Herren sind außerordentlich zurückhaltend.«858 Dem Autor der Schwarzen Weide klagte Claassen seine Skepsis dem zeitgenössischen Buchhandel gegenüber: Die »komprimierte Kraft«, die in diesem Buch spürbar sei, »kann auf die Dauer nicht bagatellisiert oder gar unterdrückt werden, wozu der heutige Literaturbetrieb ja leider sehr neigt.«859 In der Korrespondenz mit Barth wird geradezu leitmotivisch das Argument wiederholt, Bücher wie seine seien »bei dem geringen Verständnis für dichterische Dinge schwer zu verkaufen«860. Selbst dann, wenn Claassen – wie beim Peter Abälard – einräumte, das Thema eines Buches könne für das Publikum »vielleicht zu fremd«861 sein, beharrte er gleichzeitig darauf, daß der eigentliche Grund für den mangelnden Verkaufserfolg in dem hohen Niveau liege: Der Roman scheine »für breitere Möglichkeiten zuviel vorauszusetzen«862. Bach gegenüber klagte er, es werde »immer schwerer, Qualität und Anspruch durchzusetzen. Die Leser versagen sich zunehmend solchen Belastungen.«863 Der Topos, Bücher für eine »schwindende Elite« herauszugeben, zieht sich als Begründung und gleichzeitig Trost an die Autoren durch die Verlagskorrespondenz. »Wir bitten, das relativ bescheidene Resultat nicht mißzuverstehen«, schrieb Claassen an Benton nach Brasilien: »So außerordentlich die literarische Kritik des Buches war, so reduziert doch auch wieder der Markt. Das hängt aber gerade mit den Vorzügen Ihres Buches,

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855 Goverts an Barth, 23.11.1936: Er habe leider festgestellt, »daß der erst kürzlich herausgekommene Bach als Neuerscheinung infolge der snobistischen Publikumseinstellung, immer nach dem Neuesten zu fragen, Ihr Buch zurückgesetzt hat, wobei noch zu berücksichtigen ist, daß Kinderbücher von Herrn Cube, Wiechert, Dr. Hausenstein u. a. herauskamen.« – Vgl. Kap. 3.2.1. 856 »Die ersten Monate waren leider für den gesamten Buchhandel etwas flau.« (Claassen an Lucy von Wangenheim, 30.4.1936) – Vgl. dazu auch: Vertrauliche Mitteilungen für die Fachschaft Verlag, Nr. 11 vom 4.5.1936, S. 3 –7. 857 »Bei der Unzahl von Herbstneuigkeiten bedarf es großer Arbeit, Sie weiter durchzusetzen.« (Claassen an Lange, 19.10.1937) 858 Claassen an Brenner, 30.5.1936 859 Claassen an Lange, 27.12.1937. 860 Claassen an Barth, 30.3.1936. – Vgl. auch Claassen an Barth, 18.11.1940: »Mit dem Absatz des ›Wandelstern‹ bin ich sehr einverstanden. Ich glaube, daß wir bei einem so dichterischen Buch eine stürmische Entwicklung gar nicht erhoffen durften. 861 Claassen an Sternberger, 12.11.1935: »Das Buch ist lächerlich schwer durchzusetzen, die meisten Leute scheuen vor dem ›Mittelalter‹ zurück.« 862 Claassen an Lucy von Wangenheim, 30.4.1936. 863 Claassen an Bach, 3.5.1938.

3.6 Kreisbildung: Die »Gemeinschaft der Einzelgänger« seiner Intensität, Knappheit und dem konstruktiven Verfahren der Darstellung zusammen.«864 In keinem Fall ließen sich die Verleger durch den schleppenden Absatz in ihrem Urteil beirren, ihre Bücher seien von höchstem Niveau; stets klang die kulturkritische Klage über die Unfähigkeit des zeitgenössischen Publikums durch, dem hohen geistigen Anspruch der Goverts-Bücher gewachsen zu sein. In den Briefen an den Freund Sternberger kam diese Einschätzung deutlich zum Ausdruck: »Wie groß der Erfolg Deines Buches wird, vermag ich beim besten Willen noch nicht exakt zu sagen. Noch vor 10 Jahren war es eine Kleinigkeit, solche Bücher in großem Maßstab durchzusetzen. Heute ist uns der Boden abgerutscht. [...] Sicher ist mir, daß wir bei literarisch interessierten und einsichtsvollen Leuten Erfolg haben werden; ob beim Publikum muß sich erweisen.«865 Nicht nur bei Sternbergers Panorama-Buch, sondern »allgemein« hatte Claassen »den Eindruck, daß das Niveau, das noch als zumutbar betrachtet werden darf, von Halbjahr zu Halbjahr sanft abwärts sinkt«866. Grundsätzlich machte es aber die bessere finanzielle Situierung des HGV im Laufe des Jahres 1938 den Verlegern etwas leichter, ausbleibende Verkaufserfolge zu verschmerzen. Mit zunehmendem Gleichmut nahm Claassen den äußerst mageren Absatz von Sternbergers Werk hin. Über die Diskrepanz zwischen den hervorragenden Urteilen in der Presse und den relativ bescheidenen praktischen Ergebnissen sei er »durchaus nicht betroffen«, bekannte er dem Autor: »So wie sich mir die kulturelle Lage heute darstellt, sind eben Bücher Deiner Art eine Sache einer schwindenden Elite geworden. [...] Es ist keine Frage, daß das Buch im geistigen Sinne Schule macht und daß die wenigen Exemplare, die gekauft werden, jeweils der Kern einer Bemühung und Diskussion sind.«867 Der Gegenüberstellung von »literarisch interessierten und einsichtsvollen Leuten« und einem anonymen Publikum entsprach das Selbstbild, Bücher für eine geistig anspruchsvolle Elite anzubieten. Wenn Claassen allerdings sogar angesichts des schleppenden Absatzes der phantastischen Geschichte vom Räuber Brotzipopel den Autor damit zu trösten suchte, daß »das Genre des Buches scheinbar nur für eine Elite in Frage«868 komme, so macht dieser Begründungsversuch deutlich, daß die Selbsteinschätzung, ausschließlich Bücher von höchstem Niveau herauszubringen, längst zum Stereotyp geronnen war.

3.6

Kreisbildung: Die »Gemeinschaft der Einzelgänger«

3.6 Kreisbildung: Die »Gemeinschaft der Einzelgänger« Sehr früh schon bildete sich um die beiden Verleger ein durch persönliche Freundschaften bestimmtes Beziehungsgeflecht sowohl mit den einzelnen Autoren als auch zwischen 864 Claassen an Benton, 2.2.1939. 865 Claassen an Sternberger, 22.3.1938. 866 Claassen an Sternberger, 30.3.1938. – Als sich die Zurückhaltung der Buchhändler gerade Sternbergers Buch gegenüber abzuzeichnen begann, stellte Claassen vorsichtige Überlegungen an, ob die angesprochene Zielgruppe möglicherweise doch zu klein sei. (Claassen an Sternberger, 6.5.1938) 867 Claassen an Sternberger 9.7.1938 (In Büchern denken, S. 480). 868 Claassen an Stock, 23.1.1937.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs den Autoren, Journalisten und Wissenschaftlern. Eine bewußte literarische Gruppenbildung hat es unter den Romanautoren des H. Goverts Verlags nicht gegeben. Das lag nicht nur am Fehlen homogener literarischer Richtungen in der deutschen Literatur seit den zwanziger Jahren,869 auch nicht an der möglichen politischen Brisanz einer forciert vorgenommenen und gar öffentlich zur Schau gestellten Abgrenzung von den offiziellen nationalsozialistischen Literaturvorstellungen. Eine solche Gruppenbildung widersprach sowohl der Auffassung der Verleger von der Wichtigkeit und Einmaligkeit der Person als auch dem Lebensgefühl und Selbstbild der Autoren. Gerade im Verlag H. Goverts aber gab es einen starken Zusammenhalt zwischen Verlegern und Autoren, der sich ebenso im Selbstbild und Zusammengehörigkeitsgefühl der Autoren beschreiben läßt wie in den Auswirkungen dieses Zusammenhalts auf die Verlagsarbeit. Gleichzeitig ist aus vielen Selbstäußerungen und Erinnerungen der Autoren ablesbar, in welch starkem Maße dieser Zusammenhalt im Lebensgefühl und Selbstverständnis derjenigen begründet war, die sich dem Verlag, als »Dichter« oder als »Geistige«, verbunden fühlten.

3.6.1 »Es war wie eine unsichtbare Loge oder eine kleine verstreute Akademie.«: Privatheit als Signum der Zeit In seiner Erinnerung an diesen sozialen Zusammenhalt hat Dolf Sternberger von der »geistigen Gesellschaft« gesprochen, die dieser Verlag gebildet habe; sie habe »Autoren und Verleger umfaßt«: »Eine solche Intensität des Mitdenkens und Mitfühlens, des Anregens und auch Antreibens, der freundschaftlichen Fürsorge, habe ich nie wieder kennengelernt.«870 Dieses Vertrauen in menschlicher Hinsicht, das die Voraussetzung für das in den Erinnerungen vieler bürgerlicher Intellektueller beschriebene »Zusammenrücken« unter der Diktatur bildete, war begründet in dem Bewußtsein einer gemeinsamen inneren Distanz zum NS-Regime. »Wir gehörten zusammen und lebten miteinander in einer sonst bösen Welt«871, hat Sternberger dieses Lebensgefühl beschrieben.

Zusammengehörigkeit Die bewußte Ablehnung der als geistfeindlich verstandenen Ideologie des Nationalsozialismus bewirkte im bildungsbürgerlichen Lager ein Zusammengehörigkeitsgefühl unter Menschen, die sich unter anderen politischen Verhältnissen vielleicht kaum wahrge-

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869 »Das Glück, daß ein Verleger mit neu auftauchenden Literaturrichtungen bekannt wird und sich mit ihnen identifizieren darf, ist seit etwa der Mitte der zwanziger Jahre niemand mehr beschieden gewesen [...]. Die Zeit gab so klare Profilierungen nicht mehr her. Wir mußten froh sein, überhaupt Talente zu finden.« (Claassen: In Büchern denken, S. 635f.) 870 Sternberger: Vorwort. In: Henry Goverts zum 90. Geburtstag, S. 3. – »Ich käme in Verlegenheit, wenn man von mir verlangte, die Gesinnung zu bezeichnen, die diese Leute miteinander und mit den Verlegern verband. Sie waren einander schlechthin vertrauenswürdig, sie waren einfach die Richtigen.« (S. 4) 871 Sternberger: Vorwort, S. 3f.

3.6 Kreisbildung: Die »Gemeinschaft der Einzelgänger« nommen hätten,872 sich auch vor 1933 einem breiteren politischen Spektrum – von linksliberal bis national-konservativ, von politisch engagiert bis unpolitisch – zugeordnet hatten. In den frühen Nachkriegsjahren brachte Claassen den gemeinsamen politischen Nenner in einem Leumundszeugnis für Rudolf Krämer-Badoni auf eine Formel. Schon bei der ersten Empfehlung dieses in der Öffentlichkeit noch unbekannten jungen Autors durch Karl Korn sei zum Ausdruck gekommen, daß Krämer »geistig, künstlerisch und politisch zum Kreis des Goverts Verlages gehören könnte«. Alle Freunde des Verlags hätten gewußt, daß sie »grundsätzliche Äußerungen jeder Art vermieden, die dem Nazi-Regime moralisch und politisch irgendeine Hilfe bedeuten könnten.«873 Margaret Boveri betonte in ihren Erinnerungen den historisch-politischen Hintergrund: »Unter dem Druck der Diktatur rückte man enger zusammen.«874 Einen Sammelpunkt für diese Intellektuellen und Schriftsteller, die sich dem NSRegime gegenüber innerlich ablehnend verhielten, aber aufgrund ihrer politischen Grundeinstellung auch nicht zum Widerstand neigten, stellte der H. Goverts Verlag dar. Dieser Sammelpunkt wurde weniger sichtbar in privater Geselligkeit, so wie sie um die Verleger Ernst Rowohlt oder V. O. Stomps in Berlin zu beobachten war.875 Claassen und Goverts waren in ihrem privaten Umgang in Hamburg eher zurückhaltend.876 Die Beziehungen zu den Autoren waren individueller geprägt. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl bildete sich manchmal spontan heraus und festigte sich in vielen Einzelgesprächen, im vertrauten Austausch unter vier Augen.877 »Mein Verhältnis zu Ihnen war vom ersten Tage an ein unbedingt freundschaftliches«, versicherte Claassen dem mittlerweile in den USA lebenden Joachim Maass: »Die Basis dieser Freundschaft ist nicht nur eine gefühlsmäßige Sympathie, sondern auch die tiefe Überzeugung, daß Sie als geistiger Mensch und Künstler mir nahestehen.«878

872 Vgl. Boveri: Wir lügen alle, S. 479: »Es gehört ja überhaupt zu den Merkmalen dieser Jahre, daß ehemalige Gegner oder Feinde sich nun wahrnahmen, sofern sie sich in Bezug auf den überragenden gemeinsamen Feind einig wußten.« – Vgl. auch Korn: Lange Lehrzeit, S. 251: »Was nicht Nazi war und sein wollte, empfand ein gesteigertes Informationsund Austauschbedürfnis. Man fand leichter zueinander.« 873 Claassen: Bemerkungen des H. Goverts Verlags zu dem von ihm veröffentlichten Roman von Rudolf Krämer, 20.10.1945. – Vgl. zur Publikationsgeschichte dieses Romans Kap. 4.2.4. 874 Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 11. – Vgl. auch Oda Schaefer-Lange: Horst Lange, S. 278: »Die Freundschaften waren so eng wie unter Verschworenen, denn wir haßten ohnmächtig das Gewalt-Regime.« 875 Vgl. Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 11 und S. 76f. 876 Von Claassen ist überliefert, daß sein größter Vertrauensbeweis einem Autor gegenüber darin bestand, ihn mit in seine Lieblingskneipe nach St. Pauli zu nehmen. – Vgl. Schnabel: Rede zum Tod Eugen Claassens (In Büchern denken, S. 670f.). 877 Vgl. Barth an Claassen, 21.12.1937: Er fühle »durch unser Gespräch und Zusammensein unsere Beziehungen gefestigt«. 878 Claassen an Maass, 7.4.194 (In Büchern denken, S. 347).

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs

Zunehmende Isolation Zum sozialen Umfeld des Verlags ist eine Vielzahl von Kontakten zu Einzelpersonen zu zählen: Bekannte und Freunde Goverts’,879 auch Freunde Claassens aus Schulzeit und Studienjahren in München. Auch diese Kontakte lebten, wie der Austausch mit den Autoren, von einem mehr oder weniger intensiv geführten Briefwechsel,880 von privaten Gesprächen während der Reisen Claassens; sie wurden fruchtbar bei Empfehlungen, bei literarischen wie politischen Ratschlägen, und sie erwiesen sich als hilfreich bei der Werbung für ihre Veröffentlichungen. Im Frühjahr 1938, als Dolf Sternberger eine Liste möglicher Rezensenten zusammenstellte, an die sein Panorama-Buch zu schicken wäre, hielt Claassen es nicht mehr für ratsam, Kontakt zu den mittlerweile emigrierten alten Freunden aus Frankfurter Tagen zu halten. Sternbergers Frage »Und was denkst Du von Löwith (in Sendai, Japan) und – von Teddie? Und Benjamin???«881 wehrte er, in einer Mischung aus Resignation und Vorsicht, ab: »Sendungen an Löwith, Teddie und Benjamin halte ich für überflüssig, ja unter Umständen sogar für nicht unbedenklich.«882 Von dem vernichtenden Urteil Benjamins über das Buch des früheren Bekannten und Mitarbeiters am Institut für Sozialforschung in Frankfurt haben weder Claassen noch Sternberger erfahren.883 Die verbliebenen Kontakte, die sich zunächst weitestgehend auf Verbindungen innerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs beschränkten, waren um so intensiver zu pflegen. Anschaulich werden sie in ihren Auswirkungen auf die Verlagsarbeit.

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879 Die privaten Kontakte Goverts’ sind im Cl.A. nicht dokumentiert. Vereinzelt ist in den Briefen Claassens an seine Frau von Besuchen bei Carlo Mierendorff und bei Theo Haubach die Rede. 880 Diese Briefwechsel, die zur privaten Korrespondenz zählen, sind im Cl.A. nicht erhalten. Von den privaten Kontakten auf Claassens Buchhändler-Reisen vermitteln die Briefe an Hilde Claassen einen – zweifellos unvollständigen – Eindruck. – Vgl. dazu bereits Kap. 3.1. 881 Sternberger an Claassen, 9.3.1938. – Mit »Teddie« war Theodor Wiesengrund-Adorno gemeint. Noch im August 1936 hatte Claassen seiner Frau von einem angekündigten Besuch Adornos bei ihm berichtet – mit geradezu ungläubigem Unterton: »Für heute hat sich (aus Berlin) Teddy Wiesengrund mit seiner Freundin Grete angemeldet. Sie bleiben über Wochenend (wohnen im Atlantic) und erscheinen nachher zum Abendessen. Er ist tatsächlich hauptsächlich meinetwegen gekommen. Seine Anhänglichkeit ist eigentlich erstaunlich.« (Claassen an Hilde Claassen, 8.8.1936) 882 Claassen an Sternberger, 11.3.1938. 883 Der Verriß wurde zu Lebzeiten Benjamins nicht veröffentlicht; er erschien posthum in: Benjamin: Die Kunst, Spuren zu verwischen: Nicht nur der Nationalsozialismus stehe ambivalent zu der beschriebenen Geschichtsepoche, schrieb Benjamin, auch »Sternbergers Haltung« sei »ambivalent«, aber sie sei es »im Gegensinn. Wo er die kritische Sonde an die Epoche legt, da hat er eben die Züge im Auge, in denen man heute mit ihr solidarisch ist. Und wo er sich ihr liebevoll überläßt und sie dem Leser ans Herz zu legen scheint, da hängt er einem soliden und mittleren Standard der bürgerlichen Moral nach, von dem das heutige Deutschland nichts wissen will. Mit anderen Worten: der Kritiker in Sternberger kann seine Einsichten, der Historiker in ihm seine Sympathien nur mit größter Behutsamkeit an den Tag legen.« (S. 172f.)

3.6 Kreisbildung: Die »Gemeinschaft der Einzelgänger«

3.6.2 Autor-Verleger-Beziehungen Zusammenarbeit: Freundschaftliche Kritik Eugen Claassen, mehr noch als Goverts, war das Zentrum des Verlags: Er vor allem war der Bezugspartner für die Autoren, die ihn als kritische Warte schätzten.884 Es war eher eine Ausnahme, wenn ein Autor solch eine Reaktion einfordern mußte.885 Anders als Goverts war Claassen äußerst sparsam im Lob. Er wisse ja, wie kritisch Claassen sei »und wie selten er Lob und Anerkennung verlauten lasse«886, klagte Hans Georg Brenner, noch Jahre später, in einem Brief an Goverts. Ernst Schnabel hat in der Rückschau diese Zurückhaltung Claassens beschrieben, die für die jungen Autoren ein Gespräch gleichzeitig zur Prüfungssituation werden ließ: »[...] ein jeder von uns wußte, daß nicht das Manuskript [...], nicht unsere so wichtige, von uns selbst sicherlich allzu wichtig genommene Arbeit hier und in diesem Augenblick geprüft wurde, sondern wir selbst, und daß das Zögern im Gespräch nicht einen Mangel an möglichem Kontakt bedeutete, sondern ein Wahrzeichen der Prüfung war, die hier stattfand. Wer sie bestand, bestand sie für immer.«887 Dennoch habe die Freundschaft, die daraus entstand, »gewissermaßen um sich in ihrer Verläßlichkeit zu bestätigen«, sich ihre »Zwischenprüfungen« eingelegt: »Er hörte mitunter ein wenig schwer. [...] er hörte ja vor allem dann nicht recht gut, wenn er sich langweilte. Was aber hätte es für Autoren, die Bücher schreiben wollen, was hätte es auch in der Freundschaft Besseres geben können als die Sicherheit, immer genau zu erfahren, wann man sich langweilte?«888 Bei einem so empfindsamen Autor wie Emil Barth konnten die kritischen Bemühungen der Verleger, die sich auch in seitenlangen Korrekturen niederschlugen, zwischenzeitlich allerdings immer wieder auch zu heftigen Verstimmungen führen. Als Claassen noch im Sommer 1941 dem Autor seitenlange Verbesserungsvorschläge zu seinem Manuskript Das Lorbeerufer889 sandte, führte dies zu heftigem Widerspruch Barths: »Auf die Gefahr hin, von Ihnen übergroßer Empfindlichkeit bezichtigt zu werden, muß ich es vor allem zurückweisen, meine Arbeit wie einen Klassenaufsatz der Sexta mit den roten Unfehlbarkeitsstrichen des Deutschlehrers zensiert zu sehen.«890 Im allgemeinen aber zeigten zum Schluß beide Seiten große Zufriedenheit über diese intensive Art der Zusammenarbeit: Lucy von Wangenheim dankte Claassen für seine Mithilfe, seine großen Kenntnisse und Anregungen,891 und auch Claassen äußerte Bren884 Die Autoren wussten, dass letztlich Claassens Urteil den Ausschlag gab. (Vgl. Lange an Kreuder, 6.5.1939 – Nachlaß Lange) 885 »Sie werden verstehen, daß mich langsam auch das Urteil meines Verlegers interessiert.« (Barth an Claasssen 23.1.1939) 886 Brenner an Goverts, 17.3.1948. 887 Schnabel: Rede zum Tod Eugen Claassens. In: In Büchern denken, S. 670. 888 Schnabel, S. 670. 889 Barth: Das Lorbeerufer (1942). (Nr. 46) 890 Barth an Claassen, 14.7.1941. 891 Lucy von Wangenheim an Claassen, 28.9.1935 (In Büchern denken, S. 624): Sie wolle Claassen »noch ganz besonders danken für all das, was ich durch Ihre Hilfe und Unterstützung gelernt habe, und Sie bitten, mir nicht zu verübeln, wenn ich mich gelegentlich zu Ungeduldsausbrüchen habe hinreißen lassen.«

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs ner gegenüber Genugtuung: »Ich darf Ihnen noch einmal meinen herzlichen Dank zum Ausdruck bringen und betonen, wie angenehm und reibungslos die Zusammenarbeit abgelaufen ist.«892 Freundschaft und gegenseitiges Vertrauen als Basis der Zusammenarbeit – diese Elemente ziehen sich als Selbstverständnis893 durch die Verlagskorrespondenz. Über alle höfliche Verbindlichkeit hinaus klingt in vielen Briefen ein geradezu herzlicher Tonfall an: Persönliche Anteilnahme am Wohlergehen der Autoren und ihrer Familien ist herauszuspüren; nur selten allerdings öffnete sich Claassen so weit, daß er dem Freund aus Frankfurter Jahren anläßlich einer Rezension gestand, sein Aufsatz habe ihn »traurig gestimmt, da er mir deutlich machte, wie sehr ich die Unterhaltung mit Dir vermisse.«894

Hilfe in bedrängter Lage Die Verleger nahmen großen Anteil am privaten Schicksal ihrer Autoren. Als Werner Leibbrand, der mit einer Jüdin verheiratet war, im Dezember 1937 für die Mitgliedschaft in der RSK den Ariernachweis für sich und seine Frau erbringen mußte, bat er in einem langen – in Latein abgefaßten – Brief um Claassens Meinung. Er wollte wissen, ob Claassen ihm raten würde, aus der Kammer auszutreten; als Wissenschaftler müsse er für kleinere Veröffentlichungen nicht notwendigerweise Mitglied der RSK sein.895 Offensichtlich ohne Leibbrands Furcht vor einer möglichen Postzensur antwortete Goverts auf Deutsch, sie würden ihm »als Wissenschaftler raten, ruhig aus der Kammer auszutreten, denn wo Sie sich nur wissenschaftlich betätigen, ist nach § 2 der amtlichen Bekanntmachung der RSK Nr. 88 eine Mitgliedschaft in der RSK nicht notwendig. Sie könnten also ruhig die Beiträge sparen. Dies wäre mein Rat.«896 Es ist symptomatisch, daß es Goverts war, der diesen Brief beantwortete. Gerade bei der notwendigen Interpretation von Paragraphen und Durchführungsverordnungen, vor allem im direkten Umgang mit den Behörden, entwickelte Goverts eine weitergehende Kenntnis und tieferes taktisches Gespür und Geschick als Claassen, der sich schlichtweg weigerte, sich auf diese Fragen einzulassen. In zunehmendem Maße übernahm Goverts diesen Bereich; nur wenn es unumgänglich war, fuhr Claassen selbst nach Berlin, und auch dann meist mit Goverts zusammen.897

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892 Claassen an Brenner, 26.3.1936. – Es war keine singuläre Äußerung eines Verlagsautors, als Joachim Maass nach dem Krieg betonte: »Jedenfalls meine Zusammenarbeit mit Ihnen hat zu den besten Erfahrungen gehört, die ich je mit einem Verleger gemacht habe [...].« (Maass an Claassen, 21.4.1946 – In Büchern denken, S. 349) 893 Vgl. Goverts an Barth, 25.5.1937: »Wir sind [...] ein primär kultureller Verlag, der auf einen Kreis uns befreundeter Autoren hinzielt, für die wir der Verleger sein wollen.« 894 Claassen an Sternberger, 29.5.1936. 895 So Leibbrand an Claassen, 8.12.1937. 896 Goverts an Leibbrand, 9.12.1937. 897 Max Tau schrieb dazu: »Eugen Claassen [...] versicherte mir wiederholt, er werde Zeit seines Lebens keine Reichsschrifttumskammer besuchen und nie mit einer offiziellen Stelle Kontakt aufnehmen.« (Das Land, das ich verlassen mußte, S. 269) – Sofern Claassen diese Äußerung tatsächlich gemacht haben sollte, läßt sie sich allerdings mehr als Willensbekundung denn als Aussage über die realen Möglichkeiten der Verlagsarbeit unter der Diktatur begreifen.

3.6 Kreisbildung: Die »Gemeinschaft der Einzelgänger« Auf diesem »inoffiziellen« Gebiet des Ratens zu klugem, und das bedeutete: taktischem Verhalten in der Diktatur, aber auch durch praktische Hilfe fand – unter der Hand – zweifellos bedeutend mehr statt, als aus dem Verlagsarchiv erschließbar ist.

Dauerhafte Bindung zwischen Autor und Verlag Der beschriebenen Bereitschaft zu einem engen vertrauensvollen Autor-VerlegerVerhältnis, gleichzeitig auch ihrem Anspruch, Autoren und nicht Bücher zu fördern, entsprach die Erwartung einer auch juristisch fixierten festen Bindung der Autoren an den Verlag durch Optionen. Die meisten der H. Goverts-Autoren teilten mit ihren Verlegern die Auffassung von der Notwendigkeit einer dauerhaften Bindung zwischen Verlag und Autor. Programmatisch formulierte Horst Lange dieses Verhältnis: »Das Verlagsgeschäft, diese eigentümliche Mischung aus Handel und Gesinnung, aus Profit und geistigen Verquickungen, hat es in seinen besten Vertretern immer wieder erwiesen, daß die Bindung zwischen Autor und Verleger nur dann ersprießlich sein kann, wenn sie über Jahre hinweg auf die Gesamtheit eines Lebenswerks zielt. Erfolge wird auf die Dauer nur derjenige haben, der wie Langen, S. Fischer und Kippenberg mit seinen Autoren durch dick und dünn geht.«898 In Einzelfällen aber mußten die Verleger gerade beim ersten Vertrag die Hemmungen der jungen Autoren vor einer juristisch verbindlich formulierten Bindung mit viel Überredungskünsten überwinden. Claassens Einstellung in dieser Frage – wie überhaupt zu allen »festen Vereinbarungen«899 – war äußerst korrekt; vor allem aber bemühte er sich, auf keinen Fall den Eindruck zu erwecken, er wolle Autoren von anderen Verlagen abwerben. Als er z. B. W. E. Süskind gegenüber sein Interesse an dessen Poetik über den Allwissenden Autor bekundet und dieser eingewandt hatte, er meine, solch ein Buch zuerst der DVA anbieten zu müssen,900 beeilte sich Claassen zu versichern, er verstehe seinen Standpunkt »sehr wohl. Es liegt mir fern, in bestehende Abmachungen, seien sie auch nur moralischer Natur, einzugreifen.«901 Tatsächlich aber übernahm der H. Goverts Verlag von Anfang an Autoren von anderen Verlagen, besonders den größeren, bekannten liberalen Häusern: sei es in freundschaftlicher Weiterempfehlung wie im Fall Barth, der von Hegner kam, sei es, weil die Autoren sich lösen wollten, wie von Cassirer, dem wegen seiner gefährdeten Position nichts anderes übrig blieb, als sie gehen zu lassen. In Konkurrenz geriet der HGV immer wieder mit Suhrkamp als Nachfolger des S. Fischer Verlags. (Vgl. Kap. 4.2.1) Der Wunsch nach einer ausschließlichen Bindung zwischen Verlag und Autoren konnte in Einzelfällen mit dem Anspruch der Verleger kollidieren, sich mit jeder literarischen Äußerung der zum HGV gehörenden Autoren zu identifizieren: Es war keineswegs so, daß, wer einmal als Verlagsautor akzeptiert war, nun auch alle anderen Werke im HGV veröffentlichen konnte. Auch bei der Übernahme des Autors Georg von der 898 Lange an Claassen, 7.1.1937. 899 Vgl. z. B. die Enttäuschung, ja fast Empörung, die aus Claassens Zeilen an seine Frau spricht: »Ein bestellter Roman von Horst Lange [...] ist nicht fertig geworden.« Auch Dolf Sternberger habe ihn »im Stich gelassen«. (Claassen an Hilde Claassen, 11.1.1936) 900 Süskind war Herausgeber der Literaturzeitschrift »Die Literatur«, die bei der DVA erschien. 901 Claassen an Süskind, 21.5.1942.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Vring war zunächst davon die Rede, daß der Verlag neben den Soldatenliedern902 das Gesamtwerk sowie das neue Romanmanuskript Franz der Soldat übernehmen wolle.903 Nach dem negativen Gutachten Landahls904 lehnte Goverts das Manuskript mit beschönigenden Worten ab. Im Sommer 1942 übernahm dann der Verlag R. Piper die »ganze frühere und zukünftige Prosa«905. Das Beispiel legt nahe, daß es vor allem der Niveauanspruch der Verleger war, der dazu führte, daß manche Autoren des Verlags einzelne kleinere Veröffentlichungen in anderen Verlagen unterbrachten.906 Hinzu kam das Kriterium der schlechten Verkäuflichkeit; in der Praxis konnten sich beide Argumente vermischen. Nicht in jedem Fall war Claassen nachträglich über seinen Verzicht ganz glücklich. Als Werner Leibbrand im April 1938 mitteilte, er habe einen eigenen größeren Band »innerhalb einer Art Enzyklopädie des gesamten Christentums [...] über die wichtigsten theologischen Einflüsse in den medizinischen Theorien ab Paracelsus bis zur Gegenwart«907 übernommen, und die Vermutung äußerte, daß den Verlegern an einer solchen Thematik verlegerisch wohl kaum gelegen sei, stimmte Claassen zunächst zu: »Das von Ihnen geplante Buch über die theologischen Einflüsse in den medizinischen Theorien ab Paracelsus gehört natürlich in die Enzyklopädie des gesamten Christentums. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mich auf diesen Buchplan aufmerksam machen. Wir haben dagegen nichts einzuwenden [...].«908 Nach Erscheinen des Bandes im Otto Müller Verlag Salzburg zeigte sich Claassen dann aber doch befremdet über die unabhängige Herausgabe als Monographie: »Wäre mir das von vornherein klar gewesen, so hätte ich sicher nicht so schnell und leichtherzig auf die Option verzichtet.«909

Interesse der Autoren an der »Gesamtlinie« Wenn Lange seinen im Frundsberg Verlag erschienenen Erzählungsband Claassen gegenüber herunterspielte – er sei »ja als Buch belanglos«910 –, wenn Leibbrand bei der

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902 Georg von der Vring: Dumpfe Trommel, schlag an. Soldatenlieder (1939). (Nr. 31) 903 Goverts an Georg von der Vring, 23.5.1939: Auch sie hätten den Eindruck, daß Vrings Werk sich ausgezeichnet ihrer bisherigen Produktion einfügen würde. 904 Landahl: Gutachten »Franz der Soldat« (20.6.1939): Der Roman stelle einen »Kult am toten Soldaten des vergangenen Krieges« dar; er persönlich stehe ihm »teilnahmslos, wenn nicht unangenehm berührt« gegenüber. 905 Von der Vring an den HGV, 1.6.1942. 906 So erschien ein Band mit zwei Erzählungen von Horst Lange im Jahr 1939 im Frundsberg Verlag (Lange: Auf dem östlichen Ufer), ein Gedichtband in der Rabenpresse (Lange: Gesang hinter den Zäunen). Eine Erzählung Brenners kam in der Reihe »Lebendiges Wort« bei List heraus (Brenner: Der Hundertguldentanz); seinen Roman »Nachtwachen. Die Aufzeichnungen eines jungen Mannes« (1940) ebenso wie den schmalen Erzählungsband »Drei Abenteuer Don Juans« (1941) veröffentlichte der Universitas Verlag. 907 Leibbrand an Claassen, 30.4.1938 (In Büchern denken, S. 316). 908 Claassen an Leibbrand, 2.5.1938 (In Büchern denken, S. 317). 909 Claassen an Leibbrand, 20.7.1939. 910 Lange an Claassen, 18.10.1939: »Das ›Östliche Ufer‹, das ja als Buch belanglos ist, kann dem neuen geschlossenen Werk nur nützen, weil es einen anderen Leserkreis, der zum Frundsberg-Verlag gehört, mir erschließt.« (In Büchern denken, S. 287) – Vgl. Kap. 4.4.2.

3.6 Kreisbildung: Die »Gemeinschaft der Einzelgänger« Bekanntgabe eines weiteren Buchprojekts mit Otto Müller über den Heiligen Vinzenz von Paul betonte, er könne sich nicht vorstellen, daß Claassen »an einer solchen fast konfessionell zu wertenden Arbeit Interesse«911 habe, so zeigte sich damit – über ein sicher auch vorhandenes taktisches Moment hinaus – das Interesse der H. GovertsAutoren am Profil des Verlags, so wie es sich in den Vorkriegsjahren entwickelt hatte. Dieses Interesse äußerte sich nicht nur als Informationswunsch der Autoren, dem die Verleger in der Regel durch Übersendung ihrer Neuerscheinungen – oft mit erläuternden Briefen – nachkamen. Nicht selten teilten die Autoren auch in ihren Briefen an die Verleger ihre Leseeindrücke über die Publikationen ihrer Verlagskollegen mit, wohlwollend,912 aber auch kritisch. Wenn Hans Georg Brenner die phantastische Räubergeschichte Stocks als »literarisch und innerlich wie äußerlich unwahrhaftig«913 abqualifizierte, Lange zugab, bei der Lektüre des Benton mitunter an »gedichtetes Kunstgewerbe« gedacht zu haben914 oder Sternberger in seinen Rezensionen z. B. über Editha Klipsteins Roman Anna Linde und die Knigge-Biographie Brenners deutliche Kritik übte, so beweisen solche Äußerungen eine intensive Auseinandersetzung der Verlagsautoren mit der Gesamtproduktion des Verlages: »[...] schließlich geht der Rahmen, in dem meine Arbeit erscheint, mich ja doch an«915, rechtfertigte Joachim Maass seine scharfe Kritik an der Publikation des Romans von Wildhagen. Immerhin machten solche Äußerungen deutlich, daß es ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl einzelner Verlagsautoren untereinander auch in literarischer Hinsicht gab. Daß auch Claassen dies so empfand, belegt sein Brief an Lange im August 1938: »Es wird Sie sicher interessieren, daß wir in diesem Herbst einen Roman von Martin Beheim-Schwarzbach veröffentlichen, den ich für außerordentlich halte und der sich würdig neben Ihr Buch reiht. Da im nächsten Herbst ein sehr umfangreicher Roman Joachim Maass’ aus dem gleichen Geist geschrieben folgt, bilden Sie drei schon eine besondere Gruppe von geistig Verwandten im Verlag.«916 911 Leibbrand an Claassen, 2.8.1939. 912 An dem »Innehalten eines möglichst hohen Niveaus Ihrer Erscheinungen« sei er »brennend interessiert« (an Claassen, 29.4.1936), betonte Barth, um ein Jahr später zu versichern, er freue sich, »daß der Verlag so redliche Arbeiten« habe herausbringen können (an Claassen, 1.4.1937). Die Frühjahrsproduktion 1938 – mit Melville, Benton und Sternberger – kommentierte er mit dem Lob: »Das organische Wachstum Ihres Verlags freut mich sehr.« (Barth an Claassen, 15.3.1938) 913 Brenner an Claassen, 5.1.1937 (In Büchern denken, S. 97). – Lange drückte seine Verwunderung darüber aus, daß Claassen seine Arbeit und sein Geld, »in eine derart niedlich-unsinnige Belanglosigkeit wie den Brotzipopel investiert« habe (Lange an Claassen, 7.1.1937). 914 Lange widerstrebte die »völlig fremde und allzu mythisch beschwerte Erzählungsart«; mitunter habe er beim Lesen an »gedichtetes Kunstgewerbe« denken müssen (Lange an Claassen, 31.3.1938.) 915 Maass an Claassen, 5.2.1941 (Auslassung in: In Büchern denken, S. 345): »Warum soll ich Ihnen nicht gestehen, daß ich mich ärgere, wo ich Sie auf anderen Wegen sehe, indem Sie beispielsweise ein Geschmiere wie das Wildhagens drucken? Das steht dann in Ihrem Kataloge, als wär’ es desselben Geistes wie das, was Schwarzbach, Lange oder ich machen – und da soll ich mich nicht ärgern?« 916 Claassen an Lange, 19.8.1938.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Diese »geistige Verwandtschaft« hatte ihre konkrete soziale Entsprechung in der gemeinsamen Herkunft einer Gruppe von Verlagsautoren aus dem Kreis um die Zeitschrift Die Kolonne. Zeitung der jungen Gruppe Dresden, die von 1929 bis 1932 von A. A. Kuhnert und Martin Raschke im Verlag Wolfgang Heß, Dresden herausgegeben wurde. Horst Lange und Günter Eich, Preisträger im Lyrik-Wettbewerb 1932, Wolfgang Koeppen und Martin Raschke, Elisabeth Langgässer und Oda Schaefer gehörten ebenso zum engeren Kreis dieser Zeitschrift wie Beheim-Schwarzbach, mit dem zusammen Maass eine Abhandlung über Wesen und Aufgabe der Dichtung917 geschrieben hatte. In Abgrenzung gegen eine Literatur der »Sachlichkeit«, die, so hatte es im Leitartikel des ersten Heftes geheißen, »den Dichter zum Reporter erniedrigte und die Umgebung des proletarischen Menschen als Gefühlsstandard modernen Dichtens propagierte«918, forderten diese Autoren ein »meditatives Eingehen auf die Zeichen der Natur«; durch klassische Formen und eine engere Rückbindung an die Naturwirklichkeit bemühten sie sich, den Expressionismus zu bewahren.919 Auch nach Einstellung der Zeitschrift 1932 hatte der Freundeskreis Bestand. Lange bemühte sich in besonderem Maße, Autoren aus dem Umkreis der Kolonne dem Verlag zuzuführen – wenn auch nicht mit großem Erfolg: »Neulich überlegten wir uns, wer eigentlich von den jungen Autoren, die wir sonst noch kennen, sich vielleicht für Ihren Verlag eignen würden, aber wir fanden (außer Huchel) niemanden; die meisten von denen, die damals mit uns in der Zeitschrift ›Die Kolonne‹ angefangen hatten, sind ja im Rundfunk und in der Zeitungs-Schreiberei stecken geblieben, oder sie begnügen sich mit der eilfertigen und serienweisen Herstellung von Romanen, in denen sie alle bemerkenswerten Landschaften beschreiben, die Deutschland aufzuweisen hat.«920 Wenn die zahlreichen Kontaktaufnahmen über Lange und Brenner – zu Huchel, Ihering, Koeppen, Meckel, Scholtis, Wiessalla u. a. – auch nicht zu Vertragsabschlüssen führten, so wird aus den Bemühungen doch der Wunsch einzelner Autoren des Verlags deutlich, solche älteren Beziehungen zu festigen und dem Verlag neue Autoren zuzuführen, deren Dichtungsverständnis und Grundhaltung dem politischen System gegenüber der eigenen Einstellung weitestgehend entsprach.921 Claassen betrachtete es »als das organischste Wachstum des Verlags, wenn durch die Autoren selbst die Erweiterung des Verlagsprogramms«922 erfolge. Diese Einstellung teilten die meisten der H. Goverts-Autoren. Exemplarisch drückte Barth diese Bereitschaft zur Mittlertätigkeit zwischen möglichen Autoren und dem Verlag aus, als Zeichen der festen Zugehörigkeit zum Verlag und Interesse an seiner Entwicklung: »»[...] ich kann Ihnen nur versichern, daß ich, wo immer mir eine Begabung begegnet, Sie darauf aufmerksam machen bzw. sie selber im Auge behalten werde.«923 917 918 919 920

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Beheim-Schwarzbach/Maass: Wesen und Aufgabe der Dichtung (1934). Leitartikel. In: Die »Kolonne. Zeitung der jungen Gruppe Dresden« (1929) 1, S. 1. Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 58f. Lange an Claassen, 30.10.1935. – Mit der polemischen Charakterisierung spielte Lange wohl vor allem auf Günther Eich und Martin Raschke an, die mittlerweile für den Rundfunk arbeiteten, und auf Arnold Bauer, dessen Romane bei Cassirer erschienen. 921 Informationskanäle bildeten solche Verbindungen allemal. 922 Claassen an Lange, 6.9.1938. 923 Barth an Claassen, 28.12.1940.

3.6 Kreisbildung: Die »Gemeinschaft der Einzelgänger«

Engagement der Autoren im »Buchbesprechungswesen« des Dritten Reichs Die Verlagskorrespondenz mit den Autoren vermittelt einen anschaulichen Eindruck von der Bedeutung, die persönlichen Beziehungen zu einzelnen Zeitschriften- und Zeitungsredaktionen zukam. Solche Kontakte waren eminent wichtig für die Lancierung von Besprechungen und damit langfristig für die Durchsetzungschancen eines Buches. Von Anfang an hatten sich die Verleger auch mit der Bitte an einzelne Autoren gewandt, ihnen mit Besprechungen der Verlagsproduktion dabei behilflich zu sein, potentielle Käufer für die Bücher des HGV zu interessieren: »Vielleicht sind Sie in der Lage, in einer Ihnen genehmen Form auf unseren Verlag aufmerksam zu machen«, bat Claassen Rudolf Bach im Oktober 1935. »Gerade am Anfang bin ich in besonders hohem Maße auf die Unterstützung Wohlmeinender angewiesen«.924 Besonders Brenner reagierte auf die Bitte der Verleger hin, auch im Namen Werner Milchs, äußerst hilfsbereit und routiniert: »[...] bitte schicken Sie mir einen Prospekt oder Ähnliches über Ihre drei ersten Bücher, damit wir unseren befreundeten Zeitungen die Besprechungen so rechtzeitig vorschlagen können, daß sie von anderen nicht mehr mit Beschlag belegt werden können. Drucksache genügt.«925 Exemplarisch läßt sich am Werbeeinsatz für Langes Schwarze Weide zeigen, daß, neben dem Engagement der Verleger mittels Anzeigen, Verlagsprospekten und einer »Unzahl«926 von Buchhändlerkontakten, der persönliche Einsatz der Autoren für die Produktion von großer Bedeutung für die Durchsetzung war. Anders als die FZ, bei der die Buchbesprechungen von der Redaktion an ausgewählte Mitarbeiter vergeben wurden, scheinen die kleineren Zeitungsredaktionen offener auf die Vorschläge freier Mitarbeiter eingegangen zu sein. Lange jedenfalls rühmte sich, Redaktionsbeziehungen zum Berliner Tageblatt, zur Frankfurter Zeitung, zur Koralle, zum Inneren Reich, zur Neuen Rundschau und über Friedrich Bischoff und Reindl auch zur Dame zu haben, und aktivierte seine Bekannten und Freunde. Auch Claassen bemühte sich um Unterstützung durch befreundete Verlagsautoren. »Es wird Ihnen ja gegenwärtig sein, daß es nicht leicht ist, dieses Buch zu propagieren«, ermunterte er Brenner. »Es bedarf daher der Zusammenarbeit aller, die an Lange nicht nur ein persönliches, sondern auch ein künstlerisches Interesse nehmen.«927

924 Claassen an Bach, 28.10.1935. 925 Brenner an Claassen, 21.10.1935. – Eine Woche später bereits konnte er melden, er habe den Klipstein-Roman unaufgefordert von der »Magdeburgischen Zeitung« zur Besprechung bekommen; an das »Berliner Tageblatt« habe er sich selbst gewandt. (Brenner an Claassen, 27.10.1935) – Auch Lange schrieb z. B. im Frühjahr 1936, sie trieben mit den ihnen zugeschickten Prospekten, »wo es nur angeht, Propaganda« (Lange an Goverts, 15.5.1936). – Am 12.3.1938 versprach er, »alles« für die Neuerscheinungen zu tun, »was in unseren Kräften steht«. Er versuchte, »überall, auch bei den mir bekannten Buchhändlern, dafür einzutreten und sie zu interessieren.« (Lange an Claassen, 31.3.1938) 926 Claassen an Lange, 20.11.1937: Er habe eine »Unzahl von Buchhandlungen besucht« und dabei das Hauptgewicht auf die Propagierung von Langes Roman und der älteren Bücher gelegt. 927 Claassen an Brenner, 13.9.1937.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Aus Goverts’ Nachfragen bei Lange sprach, wenn auch in ironischer Verfremdung, eine recht kämpferische Auffassung von der Werbung für dieses Buch.928 Zwei Wochen vor dem offiziellen Erscheinen erkundigte sich Claassen, »wann die ersten Besprechungen Ihres Buches seitens Ihrer Freunde erscheinen«929. Wenige Tage nach der offiziellen Ankündigung im Börsenblatt930 erinnerte er daran, bei »der Unzahl von Herbstneuigkeiten« bedürfe es »großer Arbeit, Sie weiter durchzusetzen«931. Umgehend versicherte Lange den Verlegern, er und seine Freunde täten in Berlin alles, um sein Buch den Buchhändlern gegenüber durchzusetzen: zahlreiche nur mit Rezensionen in verschiedenen Feuilletons, auch mit weiteren Leseabenden bei Ecke und Nold.932 Immerhin erschienen in den folgenden Wochen und Monaten über Besprechungen.933 Dennoch wurde das Buch kein Verkaufserfolg. Kurz vor Weihnachten resümierte Goverts, Langes Schwarze Weide sei »ein Buch, das das Publikum nicht vom Tisch weg kauft. Der Buchhändler muß sich zu ihm äußern, was in diesem Fall nicht leicht ist.«934

Persönliche Beziehungen zu Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen Zu Beginn der Verlagsarbeit scheint Claassen und Goverts besonders an einer positiven Resonanz in der Frankfurter Zeitung gelegen gewesen zu sein; aufgrund derselben Zielgruppe, die diese Zeitung mit ihrer liberalen Tradition wie auch der junge Verlag anvisierten, war dies plausibel. Trotz der zweifellos von beiden Seiten vorausgesetzten Übereinstimmung in grundsätzlichen Fragen und trotz der persönlichen Beziehungen zu Hausenstein und Sternberger waren die Kontakte jedoch kompliziert. Die Korrespon-

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928 »[...] und wäre auch dankbar, wenn Sie mir gelegentlich einen kurzen Bericht von dem Frontabschnitt Berlin mitteilen würden. Denn wenn wir Berlin erobert haben, so haben wir die Schlüsselstellung in Händen, von der wir die provinziellen Fronten aufrollen können.« (Goverts an Lange, 14.9.1937) – Lange nahm in seiner Antwort das Bild auf: »Es folgt nun der Bericht über die derzeitige Lage im Frontabschnitt Berlin an das Hauptquartier […].« (Lange an Goverts, 17.9.1937) 929 Claassen an Lange, 25.9.1937. – Im Cl.A. ist eine »Liste Besprechungs-Exemplare« (20.8.1937) mit 31 Namen und Adressen erhalten, die Lange zusammengestellt hatte. Genannt sind u. a. Staatsrat Guido Zermatto, der zum Kolonne-Kreis gehört hatte (Wien), Paul Alverdes (München), Ernst Wiechert, Hermann Stehr, Hermann F. Dollinger, Martin Raschke (Dresden), Edlef Köppen, Friedrich Bischoff, Kurt Elwenspoek (»wichtig für Reichssender Stuttgart!«), Kurt Ihlenfeld (Eckart), Eberhard Meckel (»Scherlzeitungen, DAZ«), Schriftleiter Gilles (Magdeburg – »NS-Zeitungen!«), Harald Braun, Werner Bergengruen (»wieder fest in der Kammer!), Hermann Gaupp (Reichssender Breslau), Werner Pleister, Karl Rauch, Kurt Heynicke. – Raimund Pretzel (»Ullsteinhaus, Redaktion Neue Modenwelt«), H. G. Brenner, Karl Korn und Günter Eich sollten »sofort und schon vor Erscheinen« ein Besprechungsexemplar erhalten; sie wollten »das Buch noch vor Einsetzen der Herbst-Neuerscheinungswelle besprechen«. 930 Börsenblatt 104 (1937) 237, S. 4689. 931 Claassen an Lange, 19.10.1937. 932 Lange an Claassen und Goverts, 22.10.1937. 933 Über 30 Rezensionen sind in der Korrespondez genannt. 934 Goverts an Schaefer-Lange, 16.12.1937.

3.6 Kreisbildung: Die »Gemeinschaft der Einzelgänger« denz besonders mit Sternberger zeigt, mit wie viel Fingespitzengefühl Claassen in jedem Einzelfall glaubte vorgehen zu müssen. Nachdem Claassen die Fahnen des Gevers-Romans an die Redaktion der FZ geschickt hatte, bat er Sternberger um Hilfestellung bei der Lancierung eines Vorabdrucks.935 Während Claassen im Frühjahr 1936 noch darauf vertraute, daß man ihm und seinem Verlag bei der FZ »sehr wohl will«936, gestand er einige Monate später Brenner ein, die »Frankfurter Zeitung, an der mir besonders liegt«, habe sich bei seinem Besuch »etwas sperrig« verhalten. Der Referent dort scheine »mit dem Buch nicht ganz konform zu gehen. Ich habe jedenfalls getan, was ich konnte.«937 In einem Brief an Oda Schaefer-Lange, die sich über die Kritik Sternbergers an Brenners Knigge-Biographie empört hatte,938 beschrieb Claassen die in seinen Augen reichlich heikle Beziehung seines Verlags zur FZ: »Man behandelt uns dort im Augenblick bewußt etwas schlecht, da ich ganz unberechtigt im Geruch stehe, allzu gut behandelt worden zu sein. Es wurden dort einige Gegenminen gelegt, deren schwache Explosioen ich wohl über mich ergehen lassen muß.«939 Die Chancen für einen Vorabdruck von Horst Langes Schwarzer Weide schätzte Claassen daraufhin sehr gering ein; in seiner Gesamtbeurteilung der FZ wurde er noch deutlicher: »Sie hat mich zwar lebhaftestens um Romane gebeten, bei der Verwirklichung solcher Vorschläge […] versagt sie mit rührender Regelmäßigkeit. Ihre Prüfungsfristen sind lächerlich lang, ihre Einwände literarisch beachtenswert, aber praktisch der Tod. [...] Endlich habe ich noch gelinde Zweifel, ob die Zeitung bis dahin nicht den Weg alles Irdischen gegangen ist.«940 Die Komplikationen im Verhältnis zwischen dem HGV und der Frankfurter Zeitung beruhten offensichtlich vonseiten der Zeitungsredaktion auf einer Mischung aus privaten Empfindsamkeiten und dem Beharren auf Prinzipien. Nachdem es im Sommer 1937 und erneut im Frühjahr 1938 im Zusammenhang mit Vorabdrucken aus Bentons Tarpan und Barths Wandelstern zu Querelen wegen des Abdrucks des CopyrightVermerks gekommen war, kommentierte Claassen das »eigentlich skandalöse« Verhalten der Geschäftsführung der FZ in der Rückschau noch mit Humor: Die Frankfurter 935 Claassen an Sternberger, 26.9.1935: »Könntest Du Dich dafür interessieren, daß die Frage bald entschieden wird? Natürlich mit Dezenz, damit in niemandes Kompetenzen eingegriffen wird.« 936 Claassen an Barth, 30.3.1936. – Vgl. auch Claassen an Lange, 21.4.1936: Für Brenners Buch wäre es sicher nützlich, wenn ein Vorabdruck in der FZ erschiene: »Da ich dorthin gute Beziehungen habe, dürfte es mir, wenn es sich dazu einigermaßen eignet, sicher gelingen.« 937 Claassen an Brenner, 22.7.1936. 938 Schaefer-Lange an Claassen, 12.11.1936: »Die Kritik von Sternberger in der Frankfurter fanden Horst [Lange], Brenner und ich empörend dumm, geschwätzig und keine Buchkritik.« – Den Plan Karl Korns für das »Berliner Tageblatt«, zunächst selbst eine ablehnende Kritik zu Brenner Buch zu veröffentlichen, auf die Oda Schaefer-Lange eine Woche später eine Erwiderung bringen sollte (so Schaefer-Lange an Claassen, 12.11.1936), vereitelten in diesen Wochen die literaturpolitischen Einschränkungen im Bereich des Rezensionswesens: Diskussionen im »BT« seien »nach den neuen Bestimmungen nicht möglich« (SchaeferLange an Claassen, 2.12.1936). – Vgl. dazu auch Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 269 – 294. 939 Claassen an Oda Schaefer-Lange, 14.11.1936. 940 Claassen an Oda Schaefer-Lange, 28.12.1936.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Zeitung habe »den komischen Ehrgeiz, jeden Hinweis auf Dritte prinzipiell auszuschalten.«941 In einem persönlichen Brief Max von Brücks, der 1937 die Leitung des Feuilletons der FZ übernommen hatte, erhielt Claassen schließlich die ihn wenig überzeugende Erklärung, »der eigentliche Grund« sei gewesen, daß die Zeitung nicht vom H. Goverts Verlag »hintereinander mehrere Werke« habe bringen können.942 Angesichts der Tatsache, daß die beiden genannten Romane die einzigen waren, die seit Gründung des Verlags in der FZ vorabgedruckt worden waren, glaubte Claassen zwischen den Zeilen mehr herauslesen zu müssen. »Rein privat« erkundigte er sich bei Brück, »ob der Gesichtspunkt, daß Sie sich uns gegenüber besondere Zurückhaltung auferlegen müssen, auch in Zukunft gelten«943 solle. Eine Antwort ist im Verlagsarchiv nicht erhalten. Mit einer intensiven Unterstützung der Frankfurter Zeitung konnten die Verleger, trotz mancher privater Verbindungen, also keineswegs rechnen. Um so wichtiger wurden die Kontakte z. B. zur Kölnischen Zeitung, deren Schriftleitung zum 1. April 1937 Gerhard F. Hering übernommen hatte. Goverts kannte Hering, der wie er bei Alfred Weber und Gundolf in Heidelberg studiert und promoviert hatte, persönlich.944 Hering sei »innerhalb der deutschen Publizistik heute eine besonders wichtige Figur«945, schrieb Goverts im Sommer 1937 an Barth. In der Tat überwog aufgrund des engagierten Einsatzes Herings in der Folgezeit, vor allem in den Kriegsjahren, die Bedeutung der Kölnischen Zeitung für den Verlag die der Frankfurter um ein Vielfaches. Nicht nur wurden nahezu alle Veröffentlichungen des Verlags in der Kölnischen besprochen; in den Kriegsjahren druckte sie auch mehrere im HGV erscheinende Romane im Vorabdruck ab,946 ebenso Romanauszüge oder Erzählungen einzelner Autoren aus dem H. Goverts Verlag,947 von denen einige auch immer wieder Buchbesprechungen in dieser Zeitung veröffentlichten.948 Über diesen durch die persönliche Beziehung zu Gerhard F. Hering gewissermaßen institutionalisierten engen Kontakt zur Kölnischen hinaus bemühten sich die Verleger um persönliche Ansprechpartner in einer Vielzahl von Redaktionen. Die Rezensentenlisten für einzelne Bücher, meist in Absprache mit den Autoren erstellt, vermitteln einen Eindruck von der Bandbreite der Kontakte. Immer wieder tauchen in diesen Listen dieselben Namen auf: neben Hausenstein für die FZ und Hering für die Kölnische W. E. Süskind für Die Literatur, Hauswedell für die Information, Fechter für die DAZ, Niebelschütz für die Rheinisch-Westfälische Zeitung, Kurt Ihlenfeld für den Eckart, Karl Korn für das Berliner Tageblatt, Karl Ude, Otto Heuschele und viele andere mehr. Persönliche Kontakte, d. h. direkte Ansprechpartner in den Redaktionen, scheinen von besonderer Wichtigkeit gewesen zu sein. Manche Zeitungen und ganze Regionen 941 942 943 944 945 946

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Claassen an Barth, 16.2.1939 So von Brück an Claassen, 21.4.1939. Claassen an von Brück, 5.5.1939. Goverts informierte Barth am 15.4.1937 von dem Wechsel in der Schriftleitung des Feuilletons der Kölnischen: Hering und er seien »miteinander bekannt«. Goverts an Barth, 2.8.1937. Vgl. die Zusammenstellungen bei Oelze: Das Feuilleton der Kölnischen Zeitung im Dritten Reich, S. 95f. Vgl. Oelze: Das Feuilleton, S. 102 – 112. Barth kündigte im Brief an Claassen vom 10.10.1937 an, er wolle »viel für Hering arbeiten«.

3.6 Kreisbildung: Die »Gemeinschaft der Einzelgänger« fielen für eine derartige intensivere Ankündigung der Goverts-Produktion praktisch aus, weil die Verleger zu den jeweiligen Redaktionen keine persönlichen Kontakte besaßen. Bei der Deutschen Literaturzeitung kenne er niemanden, klagte Claassen Leibbrand; er könne nur allgemein reklamieren.949 Andere schieden aus inhaltlichen Gründen aus: »Bei den Münchner Neuesten Nachrichten ist weniger zu erwarten; sie haben zur gesamten deutschen Literatur ein reichlich verqueres Verhältnis«950, konterte Claassen den Vorschlag Barths. Und als Claassen im Oktober 1935 Hans Georg Brenner darum bat, sich bei der Königsberger Allgemeinen Zeitung für eine Besprechung des KlipsteinRomans stark zu machen, wehrte der ab. Er habe mit dieser Zeitung » – Gott sei Dank – nichts zu tun; sie bespricht ohnehin im Allgemeinen mehr Flottenkalender und was darunter liegt; alles andere wird bestenfalls verrissen. In dieser Hinsicht entspricht sie nicht einmal der Berliner Börsen-Zeitung. Es braucht ihnen nicht leid zu tun.«951 Wenn Claassen ihm auch beipflichten mußte, so bedauerte er doch, es sei »nur unangenehm, daß keine Zeitung dort oben auf unsere Bücher aufmerksam macht, denn die Preußische Zeitung ist weiß Gott nicht besser!«952 Den Buchhändlern kam in den Augen der Verleger eine besondere Bedeutung zu, vor allem den Inhabern der großen Buchhandlungen in den Zentren. »Haben Sie Freunde in Berlin, die gute Beziehungen zu Amelang und den anderen wichtigen Buchhandlungen besitzen«953, insistierte Claassen zu Beginn der Werbebemühungen für die Knigge-Biographie. Besonders die Verdienste Eckes, der sich als Verlagsvertreter für den HGV in Berlin einsetzte, schätzten die Verleger hoch. Wenn auch Claassen sich zunächst privat eher skeptisch über dessen Spontaneität geäußert hatte,954 frohlockte Goverts Anfang 1938, es sei Ecke gelungen, ihren Verlag in Berlin »glänzend durchzusetzen«955. In Hamburg sei es vor allem der Buchhändler Saucke, der »für neue deutsche Literatur von Gehalt die lebhaftesten Anstrengungen«956 unternehme, versicherte Claassen Lange. Persönlich ging Claassen regelmäßig auf Buchhändlerreisen, um seine Produktion vorzustellen; er referierte vor den Hamburger Sortimentern – und klagte immer wieder über die mühsame »Bearbeitung« des Buchhandels. Nur in Einzelfällen scheint er sich von dieser Seite bei seinen Bemühungen unterstützt gesehen zu haben. Häufiger finden sich in der Korrespondenz mit den Autoren verärgerte Kommentare über die Berliner

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Claassen an Leibbrand, 23.10.1937. Claassen an Barth, 25.11.1937. Brenner an Claassen, 30.10.1935. Claassen an Brenner, 1.11.1935. Claassen an Brenner, 30.5.1936. Ecke verstehe es »immer von neuem«, ihn zu überraschen, schrieb Claassen an Lange, nachdem der Eckes spontanes Urteil über seine »Schwarze Weide« weitergegeben hatte, der Roman sei »ein Fragment« und gehöre »grundlegend umgearbeitet«. (Claassen an Lange, 1.9.1937) – Nachträglich äußerte sich Lange dankbar über Eckes Engagement: Ecke, dem er großen Dank schulde, habe sich »unermüdlich« für ihn eingesetzt und ihm »die Wege geebnet«. (Lange an Claassen, 22.10.1937) 955 Goverts an Barth, 9.2.1938. 956 Claassen an Lange, 3.8.1937.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs »Pseudoliteraturpäpste«, die auch schon mal als »die schnoddrigen Berliner Herren«957 apostrophiert wurden. Worauf es ihm ankam, schien immer wieder in der Korrespondenz mit den Autoren auf, wenn er dankbar auf engagierte Kommentare der Briefpartner zu einzelnen Verlagstiteln reagierte. »Richtig verstanden gehört es zu den edelsten Vergnügungen der Verlagsarbeit, die Spiegelungen der im Ms. erlebten Bücher zu überschauen«958, gestand er dankbar Oda Schaefer-Lange nach der Lektüre ihrer Rezension über das Buch Frida Strindbergs, und Carl Seelig versicherte er, es sei für sie »immer wieder eine große Freude, aus Ihren Besprechungen zu entnehmen, mit welcher großen Einfühlungsgabe Sie auch den intimeren Gesichtspunkten nachgehen und wie sehr Sie die Motive, die uns bei unserer Verlagsarbeit leiten, verstehen.«959 Als Gespräch unter Gleichgesinnten wollte er die Wirkungen der vom H. Goverts Verlag veröffentlichten Bücher verstanden wissen.

3.6.3 Dichter und Bildungsbürger: Lebensgefühl und Selbstverständnis Als Sammelpunkt, ja Kristallisationszentrum für Gleichgesinnte sahen Claassen und Goverts ihren Verlag: sowohl für die jungen nichtnationalsozialistischen Autoren, die sich als »Einzelne« und gleichzeitig in einem emphatischen Sinne als »Dichter« fühlten, wie auch für die Wissenschaftler, die sich als »Geistige« verstanden. Das Selbstverständnis dieser jungen Autoren, so wie es aus ihrer Dichtung und aus Selbstzeugnissen heraus erschließbar ist, ist als bewußte Abkehr von jeglicher Art von Fortschrittsglaube und Weltverbesserungsidee zu beschreiben: In ihrer Utopielosigkeit besaßen sie keine Verbindung mehr zu republikanischen Traditionen.960 Die Sehnsucht nach Harmonie und Form war wesentlicher Bestandteil ihres Kunstverständnisses, das Dichtung nicht nur als eigenständigen Bereich, sondern geradezu als Gegenwelt zum Alltag begriff. Anhand von Eigeninterpretationen ihres dichterischen Selbstverständnisses lassen sich Emil Barth und Horst Lange als zwei extreme Ausformungen desselben Typus begreifen.

Emil Barth Barth, für den nach eigenem Bekunden schon die Knabenjahre nach dem Tod der Mutter »Unglücksjahre«961 waren, hatte als einziger unter den jungen Autoren des Verlags 17jährig noch als Soldat 1918 das Kriegsende erlebt.962 Der Krieg wurde für ihn zur

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957 Claassen an Brenner, 30.5.1936. – Der Verlag sei im konkreten Fall »aber natürlich Partei und seine Überredungskünste haben nur eine halbe Wirkung.« 958 Claassen an Schaefer-Lange, 10.11.1936. 959 Claassen an Seelig, 21.1.1939. 960 Vgl. Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 8 u. ö. 961 Barth an Claassen, 2.4.1936. – »Meine Aufgabe bestand buchstäblich nur darin, den ärgsten Widerständen standzuhalten und in ihnen auszudauern.« 962 Er hatte den Rückzug des deutschen Heeres im Herbst 1918 bis Köln mitgemacht (so Barth an Claassen, 26.3.1936).

3.6 Kreisbildung: Die »Gemeinschaft der Einzelgänger« Generationserfahrung: Er gehöre noch zu jenen, so schrieb er seinem Verleger, »durch deren Seelen als das offenbar gemeinsame Generationszeichen der große unverschüttbare Abgrund des Krieges gezogen«963 sei. Das Leiden am Leben überhaupt scheint bei Barth, dem wohl sensibelsten und publikumsscheuesten964 unter den H. GovertsAutoren, der gleichzeitig in den Briefen an die Verleger am stärksten sein »Dichtertum« herauskehrte, ein wesentlicher Beweggrund seines schriftstellerischen Bemühens gewesen zu sein: »Heute dünkt mich diese unmäßige Leidensfähigkeit des Knaben wunderbar«, schrieb er in den autobiographischen Notizen für seinen Verleger, »die tiefste Erniedrigung vermochte nicht die Hoffnung auf Errettung durch sein Dichtertum in ihm auszulöschen, eine brennende Hoffnung, die um so wahnwitziger erscheinen mußte, als er lange Jahre glaubte, die Dichter seien tot.«965 In einem fünfseitigen Brief offenbarte Barth im Januar 1937 gegenüber den Verlegern sein dichterisches Selbstverständnis: »Ein einziger Grund ists, der – und es ist auch menschheitlich gesehen der älteste tiefste Grund aller Produktivität – ein einziger Grund, der mich immer wieder schöpferisch bewegt: die Vergänglichkeit.« Die »Erinnerung« stehe »in der Mitte« seiner Produktivität; »der Geist ists, der uns überm Strom der Gattung und Vergänglichkeit Stand zu fassen ermöglicht, mit unserer Stirn wie mit einem Schilde gewappnet gleich Kriegern«966. Mit diesem Dichtungsverständnis glaubte er nicht nur »aus unserem, am Individualismus erschöpften, durch den Nihilismus hindurchgehenden Zeitalter schon einen Schritt in die Zukunft begonnen«; er sah das Einmalige und in seinen Augen typisch Deutsche967 seines Ausdrucksbemühens gleichzeitig in der Gegenwart als äußerst bedroht: »Vielleicht wird schneller, als wir heute denken, die Zeit herankommen, da solche Strophen sagen, nein, sein, als Identität sein müssen, was Deutschland war.«968 Anders als im Umgang mit den übrigen Autoren, die immer wieder auch auf die Erfordernisse des Buchmarkts verwiesen wurden,969 zeigte sich Claassen Barth gegenüber bereit, auf dessen Selbstverständnis und seine Empfindlichkeiten Rücksicht zu nehmen: »Sie sind für mich eben in einem hohen Maße Schriftsteller, der ganz dem Geheimnis des natürlichen Wachstums überantwortet ist und der darum auch nicht im banalen verlegerischen Sinne organisiert werden kann.«970 Barth kultivierte unter den Verlags963 Barth an Claassen, 26.3.1936. 964 Seine Publikumsscheu ging so weit, daß er mit immer neuen Erklärungen seine Hemmungen rechtfertigte, die autobiographische Skizze zu schicken, um die Claassen ihn für die Werbung gebeten hatte. Er sei »der Meinung, daß sich der Leser erst nach einer gewissen Bekanntschaft mit dem Werk des Autors einen Anspruch auf einiges Wissen auch von seiner Person gewinnen [sic] (Barth an Claassen, 26.3.1936) 965 Barth an Claassen, 2.4.1936. 966 Barth an Claassen, 11.1.1937. 967 Er interpretierte die zweite Strophe seiner Hymne »Die Linden«: »[…] ein Abend als ewig deutsch, eine Strophe, die nur bei uns geschrieben werden konnte und nirgends sonst.« (Barth an Claassen, 11.1.1937) 968 Barth an Claassen, 11.1.1937. 969 Als Sternberger z. B. bekannte, ihm sei der Waschzettel des Verlags »höchst peinlich« gewesen. »nicht im Sachlichen, sondern im Persönlichen« (Sternberger an Claassen, 2.3.1938), konterte Claassen mit den Notwendigkeiten der »Propaganda«. 970 Claassen an Barth, 15.7.1938.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs autoren am ausgeprägtesten das Selbstverständnis als Führer der Jugend, als Prophet und Künder einer inneren Wahrheit – aus Einsamkeit971 und Verantwortung heraus: An Dichtern könne die Jugend »Form gewinnen«.972 »Fest« glaubte er daran, daß eine »Gemeinschaft, in lauter Einzelne zerstreut, doch noch da ist, und daß meine Arbeit sie bilden und festigen helfen wird.«973 Als er nachdrücklich seine Erwartung aussprach, er baue »bei der Bildung dieses Kreises einer stillen Gemeinschaft nicht zum wenigsten auf Ihre Mithilfe«974, erläuterte ihm Claassen vorsichtig und gleichzeitig nüchtern eben dieses Dichtungsverständnis als »die zentrale Schwierigkeit, Sie in der augenblicklichen Situation in größerem Stil populär zu machen«: Gerade bei seiner »ständigen Bemühung«, für Barth »einen Raum zu schaffen«, spüre er nicht anders als Barth selbst »die verhängnisvollen Widerstände. Gewiß gibt es die Gemeinschaft der Einzelnen und sicher wird es immer gelingen, dieser Gemeinschaft Neue zuzuführen. Wie sich das aber zahlenmäßig auswirkt, ist im vorneherein schwer zu sagen.«975

Horst Lange Auch wenn Horst Lange sich, trotz recht pragmatischen Umgangs mit den Erfordernissen der Werbung, punktuell ebenfalls mit dem überkommenen Bild des nur von wenigen verstandenen Dichters über mangelnde Verkaufserfolge hinwegtröstete,976 unterschied sich sein Selbstverständnis als Dichter doch in wesentlichen Aspekten von dem Barths. Dezidierter noch als in seiner Korrespondenz mit Claassen und Goverts beklagte Lange in seinen Briefen an den jungen Ernst Kreuder977 zwar auch Einsamkeit und Isolation; von einem Sendungsbewußtsein als Gemeinschaft stiftender einsamer Dichter jedoch war er weit entfernt. Sein Dichtungsverständnis entfaltete er im Mai 1939 in einer heftigen Polemik gerade gegen Emil Barth. Impulsiv bekannte er, er quäle sich »immer noch durch den faden und klassischen Voll-Barth«; dieser Wandelstern sei ein Buch, das ihn »vollkommen kalt« lasse: »Ein eingesargter, kleinbürgerlicher Trümmerhaufen, dessen einzelne kümmerliche Bestandteile mit Schildchen versehen sind

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971 Barth erläuterte im August 1939 Claassen gegenüber die »gewisse Bitterkeit« in seinen Ausführungen: »Immerhin ist die Lage des Dichters in unserer Zeit eine sehr einsame.« (Barth an Claassen, 14.8.1939) 972 Barth an Claassen, 28.12.1936. 973 Barth an Claassen, 14.8.1938. 974 Barth an Claassen, 14.8.1938. 975 Claassen an Barth, 19.8.1939. – Seine Leserschichten hatte Barth im Zusammenhang der Diskussion um den noch akzeptablen Verkaufspreis des »Wandelstern« beschrieben: Sie seien »nicht in den mehr oder weniger wohlsituierten Schichten zu suchen, die etwa ein Werk wie die Mitchell erwerben, sondern es wird sich um die gleiche Leserschicht handeln, die mehr oder weniger zur eigentlichen Dichtung ein Verhältnis hat, wie etwa bei Carossa.« (Barth an Claassen, 19.2.1939) 976 Vgl. Lange an Claassen, 22.10.1937: »Ich war von Anfang an darauf gefaßt, daß die ›Schwarze Weide‹ ihren Weg nur langsam und über viele Schwierigkeiten hinweg machen wird, und ich muß sagen, daß die günstige Aufnahme, die mein Buch bisher in Berlin gefunden hat, meine Erwartungen weit übertraf.« 977 Nachlaß Lange/Kreuder. – Vgl. auch: Schäfer: Horst Langes Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg. In: Das gespaltene Bewußtsein, S. 72 – 90.

3.6 Kreisbildung: Die »Gemeinschaft der Einzelgänger« wie die Pflanzen, Bäume und Sträucher in einem botanischen Garten – ganz ohne die Spannungen, die einen elektrisieren müssen, wenn man schreibt.«978 Er konzedierte zwar, daß »an solchen Erscheinungen, wie an dieser Pseudo-Klassik und StrohblumenIdyllik [...], ja die sogenannten Zeitumstände nicht ganz unbeteiligt« seien und auch seine und Kreuders Themenwahl davon nicht unberührt blieben; um so nachdrücklicher aber verwies er auf ihre gemeinsame Intentionen: »Sie schreiben einen Roman, der ›draußen‹ spielt, ich schreibe eine Erzählung aus der Zeit vor dem Kriege, aber unsereinem liegt es wenigstens daran, die Problematik dieser Gegenwart, wenn auch verhüllt und verschleiert, in das einzubauen, was wir machen und darstellen.«979 Jahre vor Gustav R. Hockes vielbeachtetetem Nachkriegsaufsatz über Deutsche Kalligraphie980 benutzte Lange diesen Terminus, um seine Kritik an dem Dichtungsverständnis von Autoren wie Barth und deren extremem Formbewußtsein auf den Be-griff zu bringen: »Sie treiben eine Art von kalligraphischer, widernatürlicher Unzucht und wissen es selbst vielleicht nicht, diese unschuldigen Kinder, welche von Herodes längst umgebracht worden sind.«981 Radikaler als Barth, mit dem Autoren wie Lange, Maass, Beheim-Schwarzbach oder auch Brenner die Generationserfahrung des Zerfalls einer alten Ordnung teilten, war Lange nicht bereit, der daraus resultierenden tiefen Verunsicherung allein durch einen Rückzug auf Maß und Form oder den Rückgriff auf christliche oder metaphysischmeditative Elemente zu begegnen. Das barocke Denken ermöglichte Lange, in seine Dichtung auch die tabuisierten Negativbezirke zu integrieren.982 Dennoch bekannte er sich mit Blick auf seine Schwarze Weide zu einem letztlich moralisch, von religiösen Fragen fundiertem Dichtungsverständnis, das auch verdeckte Gegenwartsbezüge mit einschloß: »Ich habe den Namen Gottes in meinem Roman sehr selten ausgesprochen, trotzdem möchte ich den Anspruch darauf erheben, daß die eigentliche und innerste Fragestellung eine religiöse und moralische ist und zwar jene nach der Verführbarkeit des Menschen, nach seiner Wankelmütigkeit und seiner Untreue den Gesetzen gegenüber, die ihm eingeboren sind und die im Dekalog eine so unvergleichliche Formulierung erfahren haben. In dieser Hinsicht ist der Roman durchaus zeitkritisch. Wen ich mit Smorczak und seiner Sekte gemeint habe, können Sie sich mit einiger Phantasie und Folgerichtigkeit selbst zusammenreimen.«983 Trotz seines intensiven Austauschs mit befreundeten Autoren klagte Lange in seinen Briefen an Kreuder über die Traditionslosigkeit seiner eigenen wie der nachfolgen978 Lange an Kreuder, 6.5.1939 (Nachlaß Lange/Kreuder). – »Man möchte diesem Autor mitunter etwas Pfeffer geben oder ihn so besoffen machen, daß er sich auf menschliche Weise von seinem Piedestal in den Kot fallen läßt. Man möchte ihn in den Puff verschleppen und dort aussetzen, in Unterhosen und ohne Duden, damit er endlich die lebendige Sprache lernt, – ach, was weiß ich, – ich bekomme die seltsamsten Gelüste beim Lesen dieser Abziehbilder, die so entsetzlich hygienisch sind.« – Die emphatischen Unterstreichungen ganzer Passagen im Original sind hier fortgelassen. 979 Lange an Kreuder, 6.5.1939. 980 Hocke: Deutsche Kalligraphie oder: Glanz und Elend der modernen Literatur, S. 9f. – Vgl. dazu Schäfer, Das gespaltene Bewußtsein, S. 78, mit weiteren Hinweisen S. 222. 981 Lange an Kreuder, 6.5.1939. 982 Vgl. zum Folgenden auch Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 75 u. ö. 983 Lange an Kreuder, 12.12.1938.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs den Generation, über das geistige »Vakuum«, das »immer unerträglicher und quälender« werde.984 Enttäuscht beschrieb er seine Einsamkeit, die er, anders als Barth, keineswegs als notwendige Bedingung seiner schriftstellerischen Existenz verstand, sondern vor allem als – zeitbedingten – Verlust der Freundeskontakte aus der Jugend und als Fehlen von Vorbildern: »Das Bewußtsein, allein und in einer trostlosen Isolierung dazustehen, kommt zu allem hinzu, was einen ohnehin bedrückt.« Alle seine früheren Freunde, mit denen er »vor 7, 8 Jahren noch eine kleine Front jugendlicher Begabungen gebildet« hätte, seien »von der Literatur abgewichen« und hätten »einträgliche und weniger anstrengende Beschäftigungen« gefunden, bei denen man »ohne Schaden Auswege machen« könne. »So gibt es heute nichts, auf das man sich verlassen könnte, weder einen neuen allgemeingültigen Stil noch eine direkt spürbare »geistige Richtung«, die einen stützt und etwas von einem fordert. […] Man hat nichts vor sich, nichts hinter sich, nichts neben sich, das einen anspornt, man lebt wie ein Krebs in der Schale, und vielleicht ist es wirklich so, daß man in Wahrheit rücklings läuft, indem man vermeint, sich nach vorn zu bewegen.«985 Solche Selbstzweifel mußten notwendig in Fatalismus münden. »[...] man weiß ja nicht, wohin das alles noch führt und was für Veränderungen uns bis dahin noch bevorstehen. Man muß es hinnehmen und sollte sich nicht zuviele Gedanken darüber machen, die einen schwächen, verwirren und unnötig beängstigen. Mit dem, was kommt und was sich jetzt schon insgesamt vorbereitet, hat man sich dann ohnehin später abzufinden.«986 Der Brutalität der Gegenwart wie der des bevorstehenden Krieges hatten die jungen nichtnationalsozialistischen Schriftsteller wenig entgegenzusetzen. Ohne dezidiert politisch Stellung nehmen zu wollen, empörten sie sich im privaten Gespräch über die geistlose Gegenwart und klagten über die »giftige Luft, die einem langsam das Herz abtötet«987. Die eigenen Möglichkeiten, die Melancholie zu überwinden, beurteilte Lange skeptisch. Die Literatur, die »das Formlose [...] bannen«988 sollte, versprach Ordnung und damit Halt. Im vertrauten Kontakt mit Gleichgesinnten versicherten sie sich desselben Ziels.

Die »Geistigen« Anders als die Romanautoren des HGV, die sich – neben freier Mitarbeit für Zeitschriften und Zeitungen – auf die kargen Lebensbedingungen eines freien Schriftstellers eingelassen hatten und oft in geradezu ärmlichen Verhältnissen lebten, entstammten die Autoren des geistes- und kulturwissenschaftlichen Programms meist dem akademischen Milieu, hatten ihr Studium mit einer Promotion abgeschlossen und arbeiteten in einem bürgerlichen Beruf. Die der Frankfurter Zeitung verbundenen Mitarbeiter – oft jüngere Essayisten, Journalisten, Wissenschaftler, die unter der Diktatur nicht selten auch in ihren Karrieren behindert waren –, bildeten das Milieu, zu dem besonders Claassen über Verbindungen verfügte; diese Kontakte reichten auch in die Redaktionen der Neuen

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Lange an Kreuder, 12.12.1938. Lange an Kreuder, 27.2.1939. Lange an Kreuder, 27.2.1939. Lange an Kreuder, 14.7.1939. Lange an Kreuder, 15.6.1939.

3.6 Kreisbildung: Die »Gemeinschaft der Einzelgänger« Rundschau und der Feuilletons der Kölnischen Zeitung oder der Europäischen Revue hinein. Der Verlag wurde somit zum Sammelbecken eines ehedem liberalen Milieus – in der Spannbreite von liberal-konservativ bis sozialliberal. Ebensosehr wie auf die Schriftsteller trifft auch auf diese jungen Wissenschaftler die Charakterisierung als Einzelgänger zu. Verbunden waren beide Gruppen über ihr Selbstverständnis als »Geistige«, so wie Ingrid Laurien989 es als grundlegend für die mentalitätsgeschichtliche Ausgangssituation der Nachkriegszeit beschrieben hat: als Eigenbild, das sich gegen Ende des Ersten Weltkriegs und im Verlauf der kurzen Jahre der Weimarer Republik herausgebildet und unter der Diktatur verstärkt hatte.990 Eng verbunden mit dem Attribut der Verantwortlichkeit, stand dieser Begriff – durch Assoziationen aus den deutschen Traditionen von Innerlichkeit und Bildungsbürgerlichkeit – zunächst für eine Aufwertung der Rolle des »Intellektuellen«.991 Der Ausdruck »Geistige« ersetzte schließlich als »Kompromißbegriff«992 den zunehmend von antiaufklärerischen Ressentiments belasteten Begriff des »Intellektuellen«. Er bildete gleichzeitig auch die im Bürgertum seit der Zeit des Idealismus unbestrittene Idee einer Polarität von Geist und Politik ab: eine Unterscheidung, die bei den Romanciers der strikten Trennung von Kunst und Leben entsprach. Einher ging dieses Selbstverständnis als Hüter der geistigen Kultur im Gegensatz zu den Niederungen des politischen Handelns993 mit der Vorstellung einer Verantwortlichkeit für bürgerlich-humanistische Ideale wie Menschlichkeit, Individualität und Moral. Schon die »Machtergreifung« der Nationalsozialisten hatten diese Journalisten und Essayisten, Wissenschaftler oder auch Romanautoren als umfassende Niederlage empfunden; im Bewußtsein derjenigen, die sich als »Geistige« verstanden, wurde unter der Diktatur der Gegensatz zwischen dem »Geist« und der als barbarisches System erlebten »Macht« immer schroffer: »Je aggressiver und umfassender die nationalsozialistische Literatur- und Pressepolitik [...] alle Manifestationen, die von kritischem oder auch nur differenziertem Denken zeugten, zu unterdrücken suchte, um so mehr erstarrten »Geist« und »Kultur« zum quasi metaphysischen Gegenpol gegen die »Barbarei«.994 Zum Eigenbild dieser Bildungsbürger gehörte das Widerstehen: ohne Zweifel ein defensives Widerstehen, das seine Legitimation daraus bezog, »das Bewußtsein der Existenz einer anderen, einer höheren Welt des »Geistigen« abseits von der Politik aufrechtzuerhalten«995. Es fand statt vor allem als Rückzug auf Dichtung, Geschichte, Philosophie und Geistesgeschichte als die klassischen, identitätsstiftenden Bereiche bürgerlicher Welterkenntnis, erweitert um die Naturwissenschaften, die nicht als Technik, sondern als Grundlagenforschung gesehen wurden. Vor dem Hintergrund, daß im bildungsbürgerlichen Lager nicht nur das Vertrauen in den Erkenntniswert der Rationalität erschüttert war, sondern auch die Wirkungsweise 989 Laurien: Politisch-kulturelle Zeitschriften in den Westzonen 1945 – 1949, bes. S. 94 – 101. 990 Vgl. dazu auch die Studie von Bering, Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes (1978). 991 Vgl. Laurien: Politisch-kulturelle Zeitschriften in den Westzonen, S. 95. 992 Bering: Die Intellektuellen, S. 314. 993 Vgl. Laurien: Politisch-kulturelle Zeitschriften in den Westzonen, S. 96. 994 Laurien, S. 97. 995 Laurien, S. 97.

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3 Der Verlag H. Goverts von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs von Argumenten auf Nicht-Einsichtige, sind Sternbergers Exposé und seine Einleitung in sein Panorama-Buch zu sehen, ebenso das Synthesedenken Leibbrands. Das Denken in großen Zusammenhängen entsprach dem zugrundeliegenden Bildungsverständnis. Die fächerübergreifenden Bemühungen zielten notwendig auf eine Ganzheit der Welterkenntnis und damit letztlich auf metaphysische Zusammenhänge. Von Autoren wie Verlegern wurden solche Bemühungen stets als Versuch verstanden: als Angebot zur Auseinandersetzung im potentiellen Gespräch der Geistigen. Da nach 1933 die »reine Macht« herrschte und der »Geist« seinen direkten, moralische Legitimation stiftenden Einfluß verloren hatte, beschränkte man sich auf ein »Gespräch« unter Gleichgesinnten, im Bewußtsein, als Autor eine Stellvertreterrolle einzunehmen.996 Insofern gehörte zum Selbstverständnis als »Geistiger« immer auch das Elitebewußtsein: Autoren wie Verleger sahen sich somit als Hüter und Bewahrer all dessen, was Moral und Kultur ausmachte. Je schwieriger es wurde, solche geistigen Auseinandersetzungen ohne gravierende inhaltliche Beschränkungen in der Öffentlichkeit zu führen, desto wichtiger wurde der Freundeskreis. Die intensiven, zu einem großen Teil brieflich geführten Diskussionen vor allem auch über die Inhalte der Manuskripte und die eigenen Intentionen dienten nicht nur als Ersatz für eine politische Partizipation, die längst nicht mehr möglich war. In den vertraulichen Gesprächen versicherten sich die »Geistigen« wechselseitig ihrer Integrität. Die Rettung der eigenen intellektuellen wie moralischen Identität blieb ein wichtiges Ziel dieser Schriftsteller, Essayisten und Wissenschaftler; darin vor allem sahen sie den tieferen Sinn ihres »Widerstehens«.997 Keiner der zum H. Goverts zugehörigen Autoren verstand sich als innerer Emigrant in dem Sinne, daß er mit seinen Schriften, und sei es noch so indirekt, politische Opposition gegen den nationalsozialistischen Staat üben wollte; keiner gar in dem Sinne, daß er Schweigen und Verstummen als sinnvolles – und moralisch wünschenswertes – Verhalten eines Schriftstellers angesehen hätte. Mit ihren Verlegern hielten die Autoren an dem Versuch fest, über Veröffentlichungen Gespräche anzustoßen bei denen, die dafür offen waren. Von der Wirkung des Panorama-Buchs Sternbergers in der »kulturellen Lage heute« hatte Claassen eine klare Vorstellung: »Es ist keine Frage, daß das Buch im geistigen Sinne Schule macht und daß die wenigen Exemplare, die gekauft werden, jeweils der Kern einer Bemühung und Diskussion sind.«998 Als »eine Gesellschaft von durchaus autonomen Geistern« hat Sternberger den Kreis von Dichtern, Essayisten und Gelehrten beschrieben, der sich um den H. Goverts Verlag bildete, »alles hing mit allem zusammen, es war ein durchgängiger Geist der Bildung, und man interessierte sich auch für alles, was die anderen trieben. [...] Es war wie eine unsichtbare Loge oder eine kleine verstreute Akademie.«999

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Vgl. Laurien: Politisch-kulturelle Zeitschriften in den Westzonen, S. 99. Vgl. Laurien, S. 100. Claassen an Sternberger, 9.7.1938 (In Büchern denken). Sternberger: Vorwort. In: Henry Goverts zum 90. Geburtstag, S. 4

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Verlagsarbeit in den Kriegsjahren

Der Beginn des Zweiten Weltkriegs bewirkte eine deutliche Zäsur im kulturellen Leben des Deutschen Reichs. Die fünfeinhalb Jahre bis Kriegsende waren auch innerhalb des Verlagswesens geprägt von weiteren, sukzessive zunehmenden Einschränkungen. Die von offizieller Seite gesteuerte Agitation in der Presse gegen den immer noch als zu groß angesehenen Anteil an Übersetzungsliteratur hatte zwar bereits im Laufe des Jahres 1938 zugenommen und Anmeldegenehmigungen für Übersetzungsvorhaben waren seitdem zunehmend restriktiver gehandhabt worden. Dennoch kann erst nach den Kriegserklärungen Großbritanniens und Frankreichs und den darauf folgenden literaturpolitischen Anordnungen, die in einem weitgehenden Verbot zeitgenössischer englischer und französischer Literatur bestanden und nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR im Juni 1941 und der Kriegserklärung der USA im Dezember 1941 auch auf die Literatur dieser Länder ausgedehnt wurden, von einer Absperrung des deutschen Buchmarkts im größeren Ausmaße die Rede sein. Auf jene Verlage, die sich auf Übersetzungsliteratur spezialisiert hatten, wirkte sich diese Entwicklung deutlich sichtbar aus. Auch innerhalb des Gesamtprogramms des H. Goverts Verlags verschoben sich in den Kriegsjahren die Gewichtungen.1 Der briefliche Kontakt deutscher Verleger mit Autoren, die in einem kriegführenden Land lebten, brach zunächst völlig ab. Zwar vergrößerten sich die Veröffentlichungschancen deutscher Autoren, aber viele jüngere Schriftsteller wurden eingezogen und fanden oft nicht mehr genügend Gelegenheit zum Schreiben größerer Werke. Das Ziel der Verleger, die programmatische Linie der ersten Verlagsjahre fortzuführen, war immer schwerer zu verfolgen. Ihre Versuche, sich an einem »europäischen Horizont« zu orientieren, führten unter den Bedingungen des Eroberungskrieges notwendigerweise zu Widersprüchen. Autoren wie Verleger sahen sich in zunehmendem Maße mit offiziellen Forderungen konfrontiert; Zensur und Selbstzensur nahmen weiter zu. Die praktische Verlagsarbeit in versuchter »Distanz zur Macht« wurde zu einem Balanceakt zwischen Taktik und Anpassung, war aber gleichzeitig auch geprägt von der Suche nach Auswegen und Perspektiven. 4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren

4.1 Rahmenbedingungen 4.1 Rahmenbedingungen 4.1.1 Die Auswirkungen des Kriegsbeginns auf den Verlag Anders als im Ersten Weltkrieg kam der Kriegsbeginn, der Überfall auf Polen am 1.9.1939, für die deutsche Bevölkerung nicht unerwartet. Schon die Sudetenkrise im Sommer 1938 hatte den Krieg fast provoziert; die enormen Rüstungsanstrengungen der deutschen Wirtschaft, spätestens aber die Besetzung Prags im März 1939 und die propagandistischen Kriegsdrohungen in der Presse, waren kaum anders denn als direkte 1 Auf eine gesonderte Darstellung der im HGV bis Kriegsende veröffentlichten Bücher wurde verzichtet. Inhalte wie Gewichtsverschiebungen werden in den Kapiteln 4.2. bis 4.5. unter unterschiedlichen Fragestellungen thematisiert, so daß das Gesamtprofil im Laufe der Darstellung deutlich wird.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren Kriegsvorbereitung zu interpretieren. Mitte August rechnete Claassen offensichtlich täglich mit dem Kriegsbeginn. Seine Frau, die mit der Tochter auf der Insel Föhr Urlaub machte, informierte er vorsichtshalber über seine vorgesehene militärische Verwendung: »Sollte eine Pêle-mêle entstehen, dann seid Ihr dort gut aufgehoben. [...] Meine persönliche Lage in diesem extremen Fall hat sich auch geklärt: ich bin, was relativ harmlos ist, für die Eisenbahn vorgesehen, bis jetzt noch ohne Angabe irgend eines Eventualtermins.«2 Wenn Claassen in einem Zusatz schrieb, im übrigen verlaufe das Leben »still und so als ob Friede ist«3, so drückte er damit, wenige Tage vor Beginn der Kriegshandlungen, ein weitverbreitetes Zeitgefühl in diesen Sommermonaten des Jahres 1939 aus: Es war längst kein Friede mehr. Die direkten Auswirkungen des Kriegsbeginns auf die interne Verlagsleitung blieben vergleichsweise gering. Claassen wurde nur für acht Tage zur Bahnpolizei eingezogen. Im Sommer 1940 rechnete er zwar erneut mit seiner Einberufung,4 doch gelang es ihm bis in die letzten Kriegstage, vermutlich aufgrund seiner schweren Verwundung aus dem Ersten Weltkrieg, für die Verlagsarbeit freigestellt zu werden. Die Funktion und das Ausmaß der Dienstverpflichtung Goverts’ sind im Rahmen dieser Arbeit nicht zu ermitteln gewesen. Kurzfristig war er, wie er im Frühjahr 1940 einem Autor schrieb, beim Generalkommando der Wehrmacht beschäftigt.5 Heinrich Landahl, der Claassen im Lektorat unterstützte, war ebenso wie die Verleger freigestellt, und so änderte sich an der Verlagsleitung nichts Wesentliches.6 Den Hauptanteil an der praktischen Verlagsarbeit, d. h. das Lektorat und den umfangreichen Briefwechsel mit den Autoren, erledigte Claassen, während Goverts die immer wichtiger werdenden Verhandlungen mit den offiziellen Stellen in Berlin führte: vor allem mit der Reichsschrifttumskammer, der Abteilung VIII des Propagandaministeriums und der Zensurstelle des Oberkommandos der Wehrmacht. Die Reaktionen der Verlagsautoren auf den Überfall auf Polen und die Kriegserklärungen Großbritanniens und Frankreichs, so wie sie aus der Verlagskorrespondenz abzulesen ist, waren zwar fern jeder Euphorie; dennoch läßt sich in Einzelfällen eine auffällige Diskrepanz beobachten zwischen privaten Eingeständnissen von Niedergeschlagenheit,7 Hilferufen um Unterstützung bei Freistellungsgesuchen und einer zur Schau gestellten Gefaßtheit, die auch vor Phrasen nicht zurückscheute. Emil Barth, der sofort eingezogen und wegen eines Magenleidens bereits nach wenigen Wochen in ein Lazarett eingeliefert worden war, schrieb auf Wunsch seiner Verleger vom Krankenbett aus für die Propagierung seines im Frühjahr erschienenen Romans Der Wandelstern

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2 Claassen an Hilde Claassen, 19.8.1939. 3 Claassen an Hilde Claassen, 19.8.1939. 4 »Ich konnte die Einberufung bisher nur noch um einige Wochen vertagen. Ob mit einer längeren Gnadenfrist zu rechnen ist, läßt sich heute noch nicht überschauen.« (Claassen an Hedwig Conrad-Martius, 5.5.1940) 5 So Goverts an Hansgeorg Maier, 10.4.1940. – Zehn Monate später schrieb er einer Autorin, er sei wieder »militärisch tätig«. (Goverts an Irene Behn, 18.2.1941) 6 Von den fest angestellten Mitarbeitern wurde nur Walter Gollub, der seit dem Frühjahr 1938 für Herstellung und Werbung zuständig war, im April 1940 eingezogen. 7 Friedo Lampe, der in diesen Wochen mit Claassen und Goverts einen intensiven Briefwechsel führte, schrieb in gedrückter Stimmung aus Berlin: »Augenblicklich bin ich noch von den Ereignissen so gelähmt, daß ich mich auf keine Arbeit konzentrieren kann. Wo soll das alles hingehen?« (Friedo Lampe an Goverts, 19.9.1939)

4.1 Rahmenbedingungen einige Sätze über sein Dichtungsverständnis und leitete sie mit einem kleinen Situationsbericht ein, der den Beginn des Kriegs pathetisch überhöhte und gleichzeitig aus dem Topos der (falschen) Bescheidenheit schöpfte: An dieser Stelle sei »nicht der Ort, und, wie mir scheint, da eben die Völker Europas sich zum zweitenmal innerhalb unserer Generation zum tragischen Waffengang anschicken, auch nicht die Stunde, von persönlichen Lebensdaten Aufhebens zu machen.«8 Gleichzeitig bat er die Verleger inständig, sich für seine Freistellung einzusetzen. Neben dem Publizisten Wolfgang Einsiedel,9 neben dem Literaturhistoriker Werner Milch und der Übersetzerin Lucy von Wangenheim, die, als Juden bzw. »Halbjuden« gefährdet, noch im Jahr 1938 nach England emigrierten, und neben Richard Moering, der bereits seit Ende der zwanziger Jahre einen Großteil des Jahres in Frankreich verbrachte und bei Kriegsbeginn dort blieb, hatten zwei weitere Goverts-Autoren in den Monaten zuvor Deutschland verlassen: ohne Zweifel aus politischen Gründen, wenn auch nicht in demonstrativer Weise. Joachim Maass hatte seine Übersiedlung in die USA im Frühjahr 1939 – er ging als Deutschlehrer an ein kleines College auf Long Island – langfristig vorbereitet; bereits im August 1938 war in den Briefen mit Claassen davon die Rede gewesen. Martin Beheim-Schwarzbach, der von Geburt an einen britischen Paß besaß, fuhr im Mai 1939, mit einem Empfehlungsschreiben Goverts’ an dessen englischen Cousin ausgerüstet, nach London und »blieb bei Kriegsbeginn einfach in England«10. Während Maass aus diesem Schritt zunächst kein Nachteil erwuchs, wurde die Auslieferung von BeheimSchwarzbachs Roman Die Verstoßene im Dezember 1940, auf Veranlassung des Propagandaministeriums, durch die Hamburger Gestapo verboten. (Vgl. Kap. 4.4.3.) Der Kontakt zu den Autoren im westlichen Ausland brach im September 1939 sofort ab, der zu José Antonio Benton alias Hans Elsas in Brasilien Anfang 1940. Die Korrespondenz mit Joachim Maass bis zum Kriegseintritt der USA – über die Schweiz bzw. schließlich sogar Sibirien – zeigt, wenn auch als singulärer Fall, die Intensität, mit der die Verleger die Kommunikation mit ihren im Ausland lebenden Autoren aufrecht zu erhalten suchten, solange dies noch irgend möglich war. Der soziale Zusammenhalt des Verlags, d. h. die Kontakte zwischen den Verlegern und den Autoren, aber auch den Autoren untereinander, wurde mit Beginn des Krieges noch enger, als er zuvor schon gewesen war. In einer Vielzahl von Briefen wurde die persönliche Situation, wurden Befürchtungen und Hoffnungen erstaunlich freimütig und offensichtlich ohne Angst vor einer Briefzensur ausgedrückt. Wie viele andere Verlage zögerte auch der H. Goverts Verlag in den ersten Tagen des Krieges, fertiggestellte Bücher der Herbstproduktion auszuliefern.11 Am 12. Sep8 Emil Barth an Claassen, 16.10.1939. 9 Claassen hatte mit Wolfgang Einsiedel zu Beginn der Verlagsarbeit ein Buch geplant, das nicht zustande kam. 10 So Beheim-Schwarzbach in einem Gespräch mit der Verf. – Es ist wohl als symptomatisch für die von vielen Emigranten stets als moralisches Dilemma empfundene Einstellung zu Exil und Emigration anzusehen, daß Beheim-Schwarzbach noch fast 50 Jahre nach seinem Weggang aus Deutschland, in das er 1945 als Angehöriger der englischen Besatzungsmacht zurückgekehrt war, den Begriff »Exil« als für sich nicht zutreffend zurückwies. 11 »Im Verlag ist alles noch versammelt, Arbeitsstimmung allerdings null; begreiflicherweise, da man nicht weiß, ob und was man erscheinen lassen kann.« (Claassen an Hilde Claassen, 2.9.1939)

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren tember berichtete Goverts dem Autor Friedo Lampe, der mittlerweile für den HGV als freier Lektor verpflichtet worden war, sie würden wegen des Kriegsbeginns den »doch sehr düsteren Maass«12 zurückstellen, und bat ihn gleichzeitig, sich umzuhören, wie andere Verlage in Berlin sich einstellten.13 Acht Tage später allerdings hatte sich die Situation in den Augen der Verleger bereits entspannt, und Goverts führte als Begründung ohne Umschweife auch die militärischen Erfolge der Wehrmacht an: Inzwischen hätten sie sich »nun dazu entschlossen, den Maass schon in diesem Herbst herauszubringen. Die bisherige Entwicklung, die der Krieg genommen hat und die Tatsache, daß verschiedene Buchhändler uns bestürmt haben, das Buch schon in diesem Herbst herauszubringen, haben uns hierzu veranlaßt.«14 Über die Auslieferung englischer und französischer Übersetzungsliteratur herrschte in den ersten Kriegswochen zunächst Unsicherheit. Anders als bei der Presse scheint es zunächst nicht einmal interne Anweisungen gegeben zu haben; Orientierung gaben offensichtlich Gerüchte sowie Einzelabsprachen zwischen den Verlegern und dem Propagandaministerium sowie der RSK. Die Richtlinien für die Produktion und die Auslieferung während der Kriegszeit wurden erst am 4.12.1939 auf einer Verlegerbesprechung in Berlin festgelegt und am 15.12. in den Vertraulichen Mitteilungen für die Fachschaft Verlag veröffentlicht.15 Mit dieser Anordnung waren der Vertrieb und die Auslieferung von schöngeistiger und populärwissenschaftlicher Literatur, die urheberrechtlich nicht frei war, »bis auf weiteres unerwünscht«16, wie es in der euphemistischen Formulierung der Anweisung hieß. Die Rechtfertigung bestand aus einer Kombination politischer und ökonomischer Argumente. Es müsse insbesondere »verhindert werden, daß aus dem weiteren Vertrieb dieser Übersetzungen Devisenforderungen zugunsten von Ländern anwachsen, die mit allen Methoden des Wirtschaftskrieges versuchen, das deutsche Volk auszuhungern.« Ausnahmen waren allerdings möglich; sie waren exakt definiert. Das Verbot galt »nicht für einwandfrei wissenschaftliche Werke, die der wissenschaftlichen Forschung oder Lehre dienen, ebenso nicht für Übersetzungen, deren Autoren die irische oder amerikanische Staatsangehörigkeit besitzen. Es gilt ferner nicht, wenn Auslieferung und Vertrieb vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda besonders gewünscht werden.«17 Mit großer Wahrscheinlichkeit lag bis zu diesem Zeitpunkt eine Absprache mit dem Propagandaministerium zugrunde, wenn die Übersetzung eines zeitgenössischen Autors aus dem Englischen oder dem Französischen ausgeliefert oder für eine ältere geworben wurde.

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12 Goverts an Friedo Lampe, 12.9.1939: »[...] denn dieses Werk von höchster Qualität beansprucht allerlei vom Leser, was er in der jetzigen Situation kaum leisten kann. Ich glaube, daß wir damit dem Buch wie dem Autor dienen.« 13 Lampe berichtete daraufhin, Rowohlt habe drei Bücher zurückgestellt: zwei englische (John F. C. Fullers: Entscheidungsschlachten der Weltgeschichte, und Freya Stark: Die Südtore Arabiens. Ein Reise in Hadhramaut) sowie sowjetrussische Satiren, die »nicht mehr zeitgemäß« seien (Lampe an Goverts, 19.9.1939). 14 Goverts an Friedo Lampe, 20.9.1939. 15 Vertrauliche Mitteilungen für die Fachschaft Verlag, Nr. 45 vom 15.12.1939; nachgedruckt in: Handbuch der Reichsschrifttumskammer, S. 199f. 16 Vertrauliche Mitteilungen für die Fachschaft Verlag, Nr. 45 vom 15.12.1939, S. 3. 17 Vertrauliche Mitteilungen, S. 3.

4.1 Rahmenbedingungen Der H. Goverts Verlag, dessen Leiter bis dahin stets bemüht gewesen waren, sich in aktuell-politischen Fragen zurückzuhalten, zeigte in seinen öffentlichen Reaktionen in diesen ersten Kriegswochen durchaus ambivalente Züge, die sich möglicherweise damit erklären lassen, daß die Verleger versuchten, aus der Situation einen finanziellen Vorteil zu ziehen. Es ist auch nicht auszuschließen, daß der HGV vom Propagandaministerium – aus durchschaubaren politischen Gründen – dazu aufgefordert worden war, seinen englischen Bestseller vom Vorjahr, den Roman Geliebte Söhne von Howard Spring, aufgrund der politischen Situation zu aktualisieren. Noch vor der Auslieferung der Herbstproduktion, am 26.9.1939, drei Wochen nach dem Kriegseintritt Großbritanniens, inserierte der Verlag ganzseitig im Börsenblatt: »Gerade jetzt sollte man diesen englischen Roman lesen! Selten ist der Verfall des privaten und öffentlichen Lebens in England, ist die verlogene Grausamkeit der englisch-irischen Kämpfe so packend, so kühn und mit so schonungsloser Selbsterkenntnis dargestellt worden!«18 Unter diesem Motto, flankiert von dem schon in früheren Anzeigen verwandten Rezensionsauszug aus dem Völkischen Beobachter, Berlin vom 5. Januar desselben Jahres, stellte sich der Verlag nahzu unverhüllt in den Dienst der offiziellen Kriegspropaganda. Die Tatsache, daß im Verzeichnis lieferbarer Bücher des H. Goverts Verlags19, das am 13.11.1939 im Börsenblatt veröffentlicht wurde, dieser Roman nicht mehr aufgeführt war, läßt zweierlei Erklärungen zu: Entweder war die bei Kriegsbeginn vorhandene Restauflage zu diesem Zeitpunkt tatsächlich bereits ausverkauft,20 oder die Verleger waren sich noch nicht sicher, für wie lange die Möglichkeit der Auslieferung bestehen würde.21 Daß jedenfalls eine Neuauflage unter den gegebenen Umständen unwahrscheinlich war, lag auf der Hand. Auf die Auslieferung des zweiten Romans der Französin Claire SainteSoline, Zwischen Morgen und Abend, verzichteten die Verleger von Anfang an. Er wurde innerhalb Deutschlands nur an befreundete Autoren versandt.22 Da gegen die Ausfuhr der

18 Börsenblatt 106 (1939) 224, S. 4939. 19 Börsenblatt 106 (1939) 264, S. 131. 20 Als sich im Mai 1943 Georg Goyert, der Übersetzer der Elisabeth-Biographie des englischen Historikers Neale, nach dem Roman Springs erkundigte, erhielt er von Landahl die Auskunft, der Roman unterliege, wie die Werke aller lebenden englischen Autoren, einer Auslieferungssperre während des Kriegs; bei Kriegsausbruch sei aber ohnehin gerade die letzte Auflage völlig ausverkauft gewesen. (Landahl an Neale, 4.6.1943) 21 In den Vertraulichen Mitteilungen für die Fachschaft Verlag vom 15.12. jedenfalls hieß es einen Monat später, ab sofort sei »die Werbung einschließlich der Ankündigung im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel für die einstweilen zurückzuziehenden Werke unerwünscht«. (Vertrauliche Mitteilungen für die Fachschaft Verlag, Nr. 45 vom 15.12.1939, S. 3) 22 Da die für die Dauer des Krieges zurückgestellten Werke »nicht verboten«, sondern »zur Verwertung nach Beendigung des Kriegszustandes daher aufbewahrt werden« durften (Vertrauliche Mitteilungen für die Fachschaft Verlag, Nr. 45 vom 15.12.1939, S. 3), konnten sich die Verleger später – in seltenen Fällen – mit solchen Büchern wohl auch einmal für einen Freundschaftsdienst erkenntlich zeigen. Als z. B. ein Lektor der Gebrüder Paetel im November 1942 den Verlegern mit dem Verleih einer fünfbändigen Boccaccio-Ausgabe entgegenkam, bat er im Gegenzug um zwei Exemplare der »Antigone« von Claire SainteSoline: »Zum eigenen und diskreten Gebrauch. Der Grund des Zurückhaltens ist uns bekannt, aber wie gesagt, es kommt in verschwiegene Hände.« (Cl.A./Grabher – Rüdiger).

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren für die Dauer des Krieges zurückgestellten Übersetzungen »keine Bedenken«23 bestanden, konnte auch dieses Buch z. B. in die Schweiz ausgeliefert werden.24 Unter das offizielle Verbreitungsverbot innerhalb des Deutschen Reiches vom 15.12.1939 fielen aus der bisherigen Goverts-Produktion zunächst die beiden englischen historischen Romane, nämlich Helen Waddells Peter Abälard und Alfred T. Sheppards Rom gibt, Rom nimmt, sowie die beiden Romane der Französin Sainte-Soline und das Kochbuch Marcel Boulestins.25 Auf Marie Gevers, immerhin Mitglied der Academie française, traf als Flämin offensichtlich das Verbreitungsverbot nicht zu. Ihr Roman durfte weiter vertrieben werden; ebenso Herman Melvilles Billy Budd, da dieses Werk urheberrechtlich frei war und der Verlag somit keine Devisen für etwaige Honorarzahlungen benötigte. Auch die Biographie aus dem Englischen über die Königin Elisabeth und das Buch des Physikers Louis de Broglie über Licht und Materie fielen als wissenschaftliche Literatur nicht unter die Anordnung. Von diesen Büchern durften auch noch Neuauflagen hergestellt werden – ebenso wie von dem amerikanischen Bestseller Vom Winde verweht. Das offizielle Verbot für die Auslieferung und den Handel mit nordamerikanischer Literatur erfolgte nach dem Kriegseintritt der Amerikaner im Dezember 1941 mit Verfügung vom 5.1.1942.26 Seitdem war auch dieses Buch, das dem Verlag fast vier Jahre lang ein solides finanzielles Fundament gegeben hatte, verboten. Praktisch allerdings war es schon seit April 1941 nicht mehr lieferbar gewesen. Der englische Roman Geliebte Söhne aus dem Vorjahr war nicht das einzige Buch, das durch die veränderte politische Lage einen aktuellen Akzent erhielt. Die Herbstproduktion des Verlags, die in der zweiten Oktoberwoche ausgeliefert wurde, enthielt einen schmalen Gedichtband – den ersten im H. Goverts Verlag überhaupt – von Georg von der Vring mit dem Titel Dumpfe Trommel, schlag an! Soldatenlieder27. Die Reaktionen von Autor und Verlegern auf diese plötzliche Aktualität waren ambivalent. Von der Vring jedenfalls fühlte sich offensichtlich unter Rechtfertigungsdruck, als er in einem Brief an die Verleger argumentierte: »[…] ich komme mir ganz seltsam vor dabei, denn jeder wird denken, daß ich die Konjunktur gesucht hätte. Das ist ja nun nicht so. Es wäre mir trotzdem lieb, wenn das Büchlein ein Erfolg würde.«28 Claassen und Goverts war die Warnung der Reichsschrifttumskammer zweifellos bekannt, die in den Vertraulichen Mitteilungen für die Fachschaft Verlag bereits am 18.7.1939 unter der Überschrift Betr. Kriegsbücher veröffentlicht worden war: Die deutschen Verleger waren auf Veranlassung des Oberkommandos der Wehrmacht darauf

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23 Vertrauliche Mitteilungen für die Fachschaft Verlag, Nr. 45 vom 15.12.1939, S. 3. 24 Goverts schrieb im November 1939 an die Frau von Carl Seelig, sie hätten die Erlaubnis, dieses Buch, das für Deutschland infolge des Krieges nicht in Frage komme, in die Schweiz ausliefern. (Goverts an Martha Seelig, 20.11.1939) 25 Die genannten Titel waren schon in dem im Börsenblatt veröffentlichten Verzeichnis lieferbarer Bücher nicht mehr enthalten, vgl. Börsenblatt 106 (1939) 264, S. 131. 26 Veröffentlicht in den Vertraulichen Mitteilungen der Fachschaft Verlag, Nr. 187 – 195 vom 5.1.1942 (abgedruckt auch im Handbuch der Reichsschrifttumskammer, S. 204). 27 Von der Vring: Dumpfe Trommel, schlag an! Soldatenlieder (1939). (Nr. 31). 28 Von der Vring an den HGV, 10.10.1939. – Zumindest in den ersten Kriegsmonaten erfüllte sich diese Hoffnung des Autors nicht. »Der neue Krieg stand diesem Gedichtband ganz offenbar im Wege«, resümierte Claassen zehn Monate später die Verkaufsabrechnung vom ersten Halbjahr (Claassen an von der Vring, 7.8.1940).

4.1 Rahmenbedingungen hingewiesen worden, »daß das Erscheinen von Büchern über den Weltkrieg und das Kriegserlebnis, bei denen noch in starkem Maße eine Tendenz der Abschreckung vorherrscht und der einzelne Mensch mehr als Opfer des Krieges, als duldendes Wesen, als wehrloser Leidender denn als Kämpfer und Mann erscheint, unerwünscht ist.«29 Dezent, aber doch unüberhörbar versuchten die Verleger mit dem Klappentext und in der ersten Börsenblatt-Anzeige, die Aktualität für die Werbung zu nutzen: »Ein schöner reiner Klang aus einer schicksalhaften Stunde, die gerade heute in uns allen nachhallt!«30 Auch Horst Lange, der in diesen ersten Kriegswochen seine Erzählung Ulanenpatrouille31 überarbeitete, sah die unvermittelte Aktualität sehr deutlich, die die Geschichte durch den Kriegsbeginn gewonnen hatte, und er hoffte auf Erfolg. Gleichzeitig aber legte er großen Wert darauf, daß das Buch, schon vom äußeren Eindruck her, nicht als gängiges Kriegsbuch mißverstanden werden könnte: »Ulanen gibt es heute nicht mehr. Man weiß sofort, daß die Handlung vor dem Krieg oder während seines Ablaufs spielen muß. Außerdem gibt das Wort Ulanen dem Ganzen eine gewisse freundliche Farbigkeit. Aufgabe des Umschlags wäre es dann, dem Käufer die endgültige Gewißheit zu geben, daß es sich hier um ein Friedensbuch handelt.«32

4.1.2 »Bücherhunger« und wirtschaftliche Erfolge Aufgrund der Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg33 rechneten die deutschen Verleger von Anfang an mit zunehmenden Absatzchancen für Bücher, insbesondere für Unterhaltungsliteratur deutscher Autoren. Bereits am 6.9.1939 prophezeite Goverts in einem Brief an Horst Lange diese langfristige Entwicklung. Es sei später »genau wie im Weltkrieg damit zu rechnen, daß gerade das Lesebedürfnis, weil viele andere Möglichkeiten wie Tanz und Theater ausfallen, stark anwachsen wird.«34 Mit dem Hinweis auf die problematische Situation der Übersetzungsliteratur führte Goverts den Verlagsautoren ihre nunmehr vergrößerten Chancen vor Augen. Friedo Lampe, der durch den Kriegsbeginn wie gelähmt schien, versuchte er zu ermuntern: »Denn da im Augenblick englische und französische Autoren ausfallen und man sich auch den Amerikanern gegenüber eine gewisse Zu-

29 Vertrauliche Mitteilungen für die Fachschaft Verlag, Nr. 42 vom 18.7.1939, S. 1. 30 Börsenblatt 106 (1939) 238, S. 5304 (im gleichen Wortlaut als Klappentext des Schutzumschlags). – »Nur jemand, dem die kahlen Fronten aus dem Weltkriege, dem die Urgewalten mörderischen Feuers, dem jene einzigartigen Frontlandschaften zur Heimat wurden, kann so leise und innig, so traurig und getrost, so einfach und schwingend von den Gräben und den toten Brüdern sprechen.« (Vring: Dumpfe Trommel, schlag an!, Klappentext) – Der Krieg erschien als existentielle Herausforderung: »Nicht der frisch-fröhliche Krieg, der einer uns kindlich anmutenden Vergangenheit angehört, wird hier besungen, sondern klaglos und ohne Furcht der äußerste Vorposten bezogen, den dieses menschliche Dasein noch gestattet.« (Klappentext sowie Börsenblatt 106 (1939) 238, S. 5304) 31 Horst Lange: Ulanenpatrouille (1940). (Nr. 36) 32 Lange an Claassen, 14.10.1939. 33 Vgl. dazu Göbel: Der Kurt Wolff Verlag, Sp. 680 – 682. 34 Goverts an Lange, 6.9.1939; vgl. zu diesen Gedankengängen auch Adolf Speemann: Was sollen wir tun? In: Börsenblatt 106 (1939) 244, S. 693f.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren rückhaltung auferlegen wird, haben deutsche Autoren große Möglichkeiten.«35 Die veränderten politischen Verhältnisse und die daraus resultierenden Änderungen in der Literaturpolitik hatten erhebliche Auswirkungen auf das Gesamtprogramm des H. Goverts Verlags. Die offiziele Förderung der Unterhaltungsliteratur, besonders nach der Gründung der Frontbuchhandlungen,36 schlug sich auch in verlagsinternen Diskussionen nieder. Die Auswahl von Manuskripten wurde von dieser Entwicklung mitbestimmt. Die allgemeine Zurückhaltung auf dem Büchermarkt dauerte – im Gegensatz zu der Stagnation in den Anfangsmonaten des Ersten Weltkriegs – nur wenige Wochen.37 Danach stieg, besonders in der Zeit bis Weihnachten, die Nachfrage geradezu sprunghaft an, zunächst hauptsächlich nach Romanen. Bereits Anfang Dezember waren die beiden Herbst-Neuerscheinungen des Verlags, die in der üblichen Startauflage von 5.000 Exemplaren auf den Markt gekommen waren,38 ausverkauft, und es kostete den Verlag offensichtlich einige Mühe, rechtzeitig, d. h. noch für das Weihnachtsgeschäft, die zweite Auflage auszuliefern. »Mit dem Erfolg der Bücher in diesem Herbst bin ich außerordentlich zufrieden«39, notierte Claassen in einem Brief – allerdings nicht ohne im selben Atemzug über den drohenden Engpaß zu seufzen: Momentan verfüge er weder von Maass noch von Duun noch von einer Reihe anderer Bücher über Exemplare: »All das macht heute besonderes Kopfzerbrechen.«40 Seit dem Herbst 1940 war in der Verlagskorrespondenz immer wieder von dem »großen Bücherhunger« die Rede; auch im Börsenblatt erschien eine größere Anzahl von Artikeln dazu. Der Grund für die große Nachfrage lag wohl kaum in den Verdunkelungsmaßnahmen und der zunehmenden Bereitschaft, sich »inneren Werten« zuzuwenden, wie Gerhard Menz mutmaßte,41 sondern vor allem in der Tatsache, daß bei fortschreitender Rationierung aller Artikel des täglichen Bedarfs Bücher noch zu den wenigen Waren gehörten, die ohne Bezugsschein erworben werden konnten. Absatzprobleme hat es für den HGV bis zum Ende des Krieges nicht mehr gegeben – dafür aber um so größere Schwierigkeiten, dem Bedarf nachzukommen. Allein bis zum Sommer 1940 kündigte der Verlag viermal im Börsenblatt Neuauflagen seiner »nach kurzer Auslieferungspause« wieder lieferbaren Titel an, am 23.7.1940 sogar unter An-

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35 Goverts an Friedo Lampe, 20.9.1939. 36 Die erste Bekanntmachung der Gründung dieser Einrichtung erfolgte im Börsenblatt 106 (1939) 242; die offizielle Inbetriebnahme fand am 3.11.1939 statt (vgl. Börsenblatt 106 (1939) 256, S. 5857). 37 Im Aufsatz von Gerhard Menz, Börsenblatt 106 (1939) 240, S. 696, war bereits von der allgemeinen Erwartung eines guten Weihnachtsgeschäfts die Rede. Vgl. dazu im Rückblick Hellmuth Langenbucher: Das gute, alte Buch. In: Börsenblatt 107 (1940) 31, S. 41f. 38 Es handelte sich um die Romane »Das Testament« von Joachim Maass und »Gott lächelt« von Olav Duun. 39 Claassen an Rudolf Bach, 11.12.1939. 40 Claassen an Bach, 11.12.1939. 41 Vgl. Gerhard Menz, in: Börsenblatt 106 (1939) 240, S. 696. – Vgl. auch die Ausführungen des Leiters der Schrifttumsabteilung des Propagandaministeriums, Wilhelm Haegert: Das Leben der Zivilbevölkerung werde sich »weit mehr als früher wieder im Rahmen ihres Heims« abspielen; daher habe man »mehr Zeit als früher, sich mit dem Buch zu beschäftigen« (Haegert: Schrifttum und Buchhandel im Kriege. In: Börsenblatt 107 (1940) 94, S. 148 –152).

4.1 Rahmenbedingungen gabe von genauen Terminen auf der Titelseite des Börsenblatts: »Unsere besonders viel verlangten Verlagswerke sind in neuen Auflagen wieder lieferbar.«42 Offensichtlich hatte die steigende Nachfrage zunächst in besonderem Ausmaß der noch verfügbaren englischen und französischen Übersetzungsliteratur gegolten – neben spannender deutscher Unterhaltungsliteratur.43 Im Laufe des Jahres 1940 wurden aber auch die älteren Bücher der Verlagsproduktion langsam von der allgemeinen Nachfrage erfaßt. Während z. B. der HGV noch im Februar 1940 vom Buchhandel 400 Kommissions-exemplare von Emil Barths zweitem Kindheitsroman Der Wandelstern mit der Begründung zurückerhielt, dieses »stille Buch« sei »jetzt unverkäuflich«,44 äußerte sich Claassen kurz vor Weihnachten 1940 dem Autor gegenüber immerhin schon »sehr einverstanden«45 mit dem Absatz. Im geisteswissenschaftlichen Programm wirkte sich die gesteigerte Nachfrage erst im Laufe des Jahres 1941 aus. Claassens Briefe erwecken den Eindruck, daß er diese Entwicklung mit ungläubigem Erstaunen beobachtete. Noch im September 1940 informierte er den Herausgeber der im Frühjahr 1940 erschienenen Briefsammlung Der deutsche Jüngling46, Gerhard F. Hering, er habe für die Neuauflage 3.000 Exemplare in Aussicht genommen: »Das dürfte auf längere Zeit reichen.«47 Dolf Sternberger berichtete er kurz vor Weihnachten von dem Verhalten der Buchkäufer; er zeigte sich sicher, daß die Käufer »wenn schon nicht auf dem oder jenen Opus, so doch auf der ihnen nahestehenden Gattung Literatur beharren«. Der Absatz des Panorama-Buches sei »um einige wenige Grade lebhafter geworden, aber keineswegs so, daß ich hoffen oder fürchten müßte, die Auflage auszuverkaufen«.48 Mit ähnlicher Ambivalenz reagierte Werner Leibbrand im Sommer 1941 auf die Nachricht vom Verkauf der ersten Auflage seiner zuvor so schwer absetzbaren Romantischen Medizin: »Das Ergebnis der Abrechnung hat mich erfreut; vielleicht sollte es mich betrüben, denn es ist wohl kein Vorteil, in diesen Zeiten ausverkauft zu werden.«49 Hans Georg Brenner allerdings fand nur noch Worte der Selbstironie, als seine Knigge-Biographie, deren Absatz Claassen nach ihrem Erscheinen als den größten Miß-erfolg bezeichnet hatte, den er in dreizehn Jahren Verlagsarbeit hatte hinnehmen müssen, im Laufe des Jahres 1942 ebenfalls von dem allgemeinen Bücherhunger berührt wurde: »[...] die Inflation auf dem Buchmarkt muß arg sein, da sogar meine Bücher davon erfaßt werden.«50 42 Börsenblatt 107 (1940) 169, U1; vgl. auch Börsenblatt 106 (1939) 285, 6950 – 6952; Börsenblatt 107 (1940) 50, S. 938 und Börsenblatt 107 (1940) 51, S. 985. 43 Vgl. zu dem allgemeinen Trend Goverts an Barth, 6.2.1940: »Namentlich zu Beginn des Krieges verlangte ein großer Teil der deutschen Leserschicht spannende Unterhaltungsliteratur, ohne nach dem Niveau zu fragen.« 44 So Goverts an Bach, 6.2.1940. 45 Claassen an Barth, 18.11.1940. 46 Gerhard F. Hering (Hrsg.): Der deutsche Jüngling. Selbstzeugnisse aus drei Jahrhunderten (1940). (Nr. 35) 47 Claassen an Hering, 16.9.1940. 48 Claassen an Sternberger, 18.12.1940. 49 Noch im Februar 1940 hatte Leibbrand, erbittert über die in seinen Augen unzureichende Verlagswerbung für sein Buch, geklagt, die schlechte Abrechnung habe ihn in keiner Weise enttäuschen können; es sei ihm klargeworden, daß »das fast vollkommene Schweigen des Goverts Verlages« zu keinem besseren Erfolge habe führen können. (Leibbrand an Goverts, 11.2.1940) 50 Brenner an Claassen, 18.11.1942.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren

Abb. 7: Cover des Börsenblattes 107 (1940) 169 mit Anzeige des H. Goverts Verlags

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Finanziell gesehen profitierte der HGV in den ersten Kriegsjahren demnach durchaus von den geänderten Absatzverhältnissen auf dem Buchmarkt. Im April 1941 bezog der

4.1 Rahmenbedingungen Verlag eine eigene, geräumigere Villa in der Hamburger Parkallee.51 Die ökonomischen Erfolge bewirkten verlagsintern eine etwas großzügigere Handhabung in Fragen von Vorschüssen für die Autoren – was nicht nur dazu führte, daß einige der älteren Verlagsautoren etwas höhere »Renten« erhielten, sondern auch Romane neuer Autoren regelmäßig vorfinanziert wurden.52 Der Honorarsatz von 12 1/2 Prozent bis zu 5000 Exemplaren, darüber hinaus von 15 Prozent, von Claassen noch 1938 als Ausnahme angesehen, wurde zur Regel. Daß auch in diesen ersten Kriegsjahren die Zahl der Neuerscheinungen des HGV nicht weiter erhöht wurde, daß die Expansion sich also hauptsächlich auf einmal eingeführte Titel in Form von Neuauflagen auswirkte, war eine klare Entscheidung der Verleger. Neben dem politisch motiviertem Wunsch, nicht durch Ausweitung des Verlagsangebots und damit wachsende Gesamtgröße mehr als ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit offizieller Stellen auf sich zu ziehen,53 entsprach dieser Einsatz für die dem Verlag zugehörigen Autoren auch der Auffassung der Verleger von einer gezielten Förderung. Geradezu programmatisch beschrieb Heinrich Landahl dieses Selbstverständnis: »Wir setzen unseren Ehrgeiz darein, die Werke der Autoren, die wir in unseren Verlag genommen haben, nicht ausgehen zu lassen, sondern immer wieder neue Auflagen herauszubringen. [...] Wir glauben [...] mit dieser Haltung eine der vornehmsten Verlegerpflichten zu erfüllen.«54

4.1.3 Herstellungsbedingungen Die Herstellungsbedingungen in den Kriegsjahren, vor allem die Papier- und Leinenverknappung, die im Laufe des Jahres 1941 zur Papierbewirtschaftung führte, die Überlastung der Druckereien und besonders die Folgen der Zerstörung Leipzigs im Dezember 1943 wirkten sich in zunehmendem Maße hemmend auf die Herstellung von Büchern aus: nicht nur, was die Fristen, sondern auch, was die Qualität der Ausstattung betraf.55

Papierengpässe Bereits um die Jahreswende 1936/37 war in der Verlagskorrespondenz von Engpässen auf dem Papiermarkt die Rede gewesen, die sich als Folge der Autarkiebestrebungen der reichsdeutschen Wirtschaft ergeben hatten. Während die Verleger im Frühjahr 1936 noch von einer Herstellungsfrist von sechs Wochen ausgegangen waren, hatte Claassen schon ein Jahr später Autoren wie Übersetzer immer wieder um frühzeitige Übersen-

51 Ausschließlich als Zeichen für das wirtschaftliche Florieren des Unternehmens ist dieser Umzug allerdings wohl nicht zu werten; dem Umzug ging eine Kündigung voraus. 52 Ilse Molzahn z. B. erhielt ab März 1940 für zwölf Monate 300 RM im Monat; nach dem rasch einsetzenden Erfolg ihres Romans ab dem 1. Januar 1942 sogar 500 RM à conto. – Ilse Molzahn: Töchter der Erde. Roman (1941). (Nr. 43) 53 Vgl. dazu Hering an Claassen, 18.11.1943: »Am besten ist man heute so klein wie möglich ...« 54 Landahl an den Übersetzer Willy Grabert, 26.6.1941 (Cl.A./de Pange). 55 Vgl. dazu auch Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S.307 – 313.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren dung der Manuskripte bitten müssen, weil die Herstellungsfristen sich »so außerordentlich verlängert«56 hätten und es so schwierig geworden sei, Papier zu beschaffen. Nach einer zeitweiligen Verbesserung der Situation57 bis Kriegsbeginn verschärften sich die Engpässe schon im Jahre 1940 wieder, von Monat zu Monat in zunehmenden Maße. Die Schwierigkeiten seien seit Kriegsbeginn »progressiv gewachsen«58, resümierte Claassen im August 1940 die Erfahrungen des ersten Kriegsjahres. Die Überlastung der Druckereien, die wegen der Einberufung vieler Mitarbeiter mit weniger Personal arbeiteten, gleichzeitig in zunehmendem Ausmaß Wehrmachtsaufträge auszuführen hatten, führte ebenfalls zu Verzögerungen. Die Folge war, daß die in den ersten Verlagsjahren mit ihren Auflagenhöhen so vorsichtig kalkulierenden Verleger dann, wenn der Vorverkauf relativ gut anlief, noch vor der Auslieferung »vorsorglicherweise«59 eine Neuauflage in Auftrag gaben.60 Im Dezember 1940 rechnete Claassen bereits mit Herstellungszeiten von sieben bis acht Monaten; nur innerhalb dieser Frist seien Fragen wie Papier- und Leinenbeschaffung, Satz, Druck und Bindearbeiten »einigermaßen zu erledigen«61. Die Unterscheidung zwischen Herbst- und Frühjahrsproduktion, zuvor im deutschen Buchhandel eine Frage von großer, vor allem verkaufstaktischer, Bedeutung, wurde hinfällig. »Unsere sogenannten Frühjahrsbücher sind noch immer nicht fertig«62, notierte Claassen Ende Mai 1941; eventuell werde es Frühherbst werden, bis sie erscheinen könnten. Tatsächlich wurden in diesem Jahr die Neuproduktionen erst im Spätherbst ausgeliefert.63 Am 1. Januar 1940 war eine Anordnung des Präsidenten der RSK, Hanns Johst, in Kraft getreten,64 die den Verlegern eine Meldepflicht für jede Neuerscheinung und jede Neuauflage auferlegte: Die genaue und vollständige Auflagenhöhe, die Menge und Art des dafür verwandten Papiers mußten im Rahmen dieser »Papierverbrauchsstatistik« für jedes Verlagswerk gemeldet werden. Für sogenannte wehrpolitische, politische und auch schöngeistige Literatur, die die Interessen der Wehrmacht berührte, wurde zum 1.4.1940 zusätzlich eine Meldepflicht beim Propagandaministerium eingeführt,65 der eine Papier-

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56 Claassen an die Übersetzerin Gertrud Kühl-Claassen, 9.1.1937. 57 In einem Brief Goverts’ an Barth vom 17.3.1937 war bereits von der »Überwindung der großen Papierschwierigkeiten« die Rede gewesen. 58 Claassen an Bach, 15.8.1940. 59 Claassen an Lange, 13.3.1940. 60 Es bleibe wegen der trostlosen Situation bei den großen graphischen Betrieben nur ein Weg, nämlich »alles so schnell wie es praktisch eben möglich ist zu fördern und dann nach Fertigstellung des Buchs zu entscheiden, ob es gleich oder zu einem noch günstigeren Zeitpunkt erscheinen soll.« (Claassen an Molzahn, 20.4.1940) 61 So Claassen an Barth, 31.12.1940. 62 Claassen an Barth, 29.5.1941. 63 Claassen an Hering, 4.8.1941: Sie befänden sich »in der grotesken Situation, daß die sogenannten Frühjahrsbücher erst im Oktober erscheinen werden.« 64 Amtliche Bekanntmachung Nr. 139, veröffentlicht im »Völkischen Beobachter« vom 1. Februar 1940 und im Börsenblatt 107 (1940) 29, abgedruckt im Handbuch der Reichsschrifttumskammer, S. 146f. 65 Vgl. Vertrauliche Mitteilungen für die Fachschaft Verlag, Nr. 49 vom 27.3.1940, abgedruckt im Handbuch der Reichsschrifttumskammer, S.137 – 139.

4.1 Rahmenbedingungen genehmigungspflicht nachgeordnet war. Im Laufe des Jahres 1940 entwickelte sich diese allgemeine Papiergenehmigungspflicht praktisch in eine generelle Präventivzensur, die entsprechend der mittlerweile eingeführten generellen Anmeldepflicht für Verlagsplanungen in Form von Halbjahresplanungen für den gesamten Schrifttumsbereich galt. Somit ließen sich die Maßnahmen zur Bewältigung der Papierknappheit grundsätzlich auch als Mittel der Zensur einsetzen, da ohne Begründung und für die Verleger in der Motivierung der Entscheidung nicht nachprüfbar die Drucklegung eines Werks allein durch die Verweigerung der Papierbewilligung verhindert werden konnte. Anfang 1941 trat eine weitere inhaltliche Verschärfung der offiziellen Genehmigungskriterien ein; eine Papierbewilligung sollte nur noch für Bücher erfolgen, die nach Ansicht des Propagandaministeriums »kriegs- und staatspolitisch wichtig«66 waren. Die Papierzuteilung wurde somit zum einfachsten Hebel, um mißliebige Verlage in ihrer Produktion zu bremsen. Im Mai 1941 brach das System der allgemeinen Papierbewirtschaftung zum ersten Mal fast völlig zusammen. Alle erteilten Genehmigungen von Papieren, die noch nicht hergestellt waren, wurden von der Wirtschaftsstelle des deutschen Buchhandels wieder zurückgezogen, und es wurde eine Sperrfrist für Bewerbungen bis zum Juni verhängt.67 In der Folgezeit häuften sich die Ablehnungen von Papieranträgen besonders für Neuauflagen. In Einzelfällen wurde dem HGV sogar die Erlaubnis verweigert, eigenes Lagerpapier für den Druck zu verwenden.68 Es konnte aber auch, für die Verleger unerwartet, geschehen, daß für bestimmte Bücher größere Anfangsauflagen von 10.000 Exemplaren und mehr genehmigt wurden; wenn gleichzeitig eine Wehrmachtsauflage zugelassen wurde, konnte diese Anfangsauflage noch höher sein.69 Insofern lassen sich solche Papierablehnungen auch nicht generell als politisch motiviert, als Ablehnung bzw. versuchte Unterdrückung eines Autors oder als Zeichen für die Mißliebigkeit eines Verlags interpretieren, wie manche Autoren argwöhnten. Wie schwer kalkulierbar dieser Faktor war, macht Claassens Eingeständnis deutlich, er habe bei diesen Papieranträgen »immer das Gefühl von Lotteriespiel«70. Die Herbstproduktion 1941 war die letzte, die die Verleger noch auf herkömmlich gutem Papier herstellen konnten. Bis zu diesem Zeitpunkt bemühten sie sich trotz zunehmender Schwierigkeiten weiterhin um eine äußerst sorgfältige Ausstattung: um gutes, holzfreies Papier, eine geschmackvolle Typographie und einen künstlerischen Einband. Abbildungen, gar Farbreproduktionen waren schon im zweiten Kriegsjahr ein großes Problem; später verzichteten die Verleger bereits im Voraus auf jeglichen Versuch in dieser Richtung. Im Börsenblatt war schon seit Kriegsbeginn immer wieder der Pappband als sinnvolle Alternative zu dem in Deutschland nicht erst seit der Bibliophilen-Bewegung der Jahrhundertwende so beliebten Leinenband angepriesen worden; im Sommer 1941 wurde die Problematik »Leinenband oder Broschur« hier sogar

66 So Goverts an Irene Behn, 18.2.1941. 67 So Claassen an Ilse Molzahn, 7.6.1941. – In der Zeit vom April bis Juli 1943 trat eine erneute Papiersperre in Kraft; in dieser Zeit wurden überhaupt keine Genehmigungen erteilt. (So Goverts an Friedo Lampe, 13.7.1943) 68 So z. B. im August 1941 für Emil Barth (vgl. Goverts an Barth, 14.8.1941). 69 Vgl. dazu auch Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 309. 70 Claassen an Edschmid, 30.4.1942.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren kontrovers erörtert.71 Claassens bibliophile Einstellung geriet angesichts der großen praktischen Schwierigkeiten gegen Ende des Jahres 1941 in Wanken. »Ich persönlich fände die Gelegenheit, endlich in Deutschland zum Typ des broschierten Buches wie er in Frankreich und Italien üblich ist überzugehen, sehr günstig«, räumte er pragmatisch ein. »Aber wie der Buchmarkt in Deutschland nun einmal ist, kann der Verleger aus eigener Initiative diese Entwicklung nicht fördern. Wir müssen uns vielmehr bemühen, solange es irgend geht, die heiß begehrten gebundenen Bände herzustellen.«72 Als »letzten Behelf«73, zu dem sie sich noch nicht hätten entschließen können, bezeichnete Claassen noch ein halbes Jahr später diese Option. Nachdem im April 1942 die Herstellung von Schutzumschlägen verboten worden und ein Jahr später die Richtlinie erlassen worden war, daß nur noch broschierte Ausgaben erscheinen durften,74 gab es in den letzten beiden Kriegsjahren nur noch in Ausnahmefälle eine bessere Ausstattung.75 Als einzelne Autoren sich über die »reduzierte« Ausstattung und das holzhaltige Papier beklagten, konnte Claassen solche bibliophilen Ansprüche nur noch abwehren: »Ist es nicht wirklich besser, daß das Buch in dieser Form als garnicht erscheint? Das ist doch die einzige Alternative gewesen.«76

Auswirkungen des Bombenkriegs Bei der Bombardierung Hamburgs Ende Juli 1943 wurden die Verlagsräume erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Goverts’ Wohnung brannte völlig aus. »Die Stadt sieht unbeschreiblich aus«77, berichtete Claassen seiner Frau. »Das meiste muß man stehen lassen und sich selbst überlassen. Vor allem die Bücher. Da ist eben nichts zu machen. Man kann bei einer solchen Katastrophe auch nicht verlangen, daß einem nichts passiert.«78 Zunächst geschah im Verlag »nur das Dringlichste, Aufräumarbeiten«79. Der Verlag liege »sehr lahm«, beschrieb Claassen die Arbeitssituation. »Briefe tippt mit einem Finger Landahl, nur das Allerdringlichste natürlich, auch hier Schutt, Zerstörung und Durcheinander.«80 In welchem Ausmaß Claassen sich für den Verlag und die Weiterarbeit verantwortlich fühlte, vermittelt der Zusatz, er könne jetzt »unmöglich den Verlag sich selbst überlassen«81.

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71 »Zur Ehre des Pappbandes«. In: Börsenblatt 106 (1939) 217, S. 729; »Der gute Leinenband«. In: Börsenblatt 108 (1941) 162, S. 258 und »Broschüren statt Bücher«. In: Börsenblatt 108 (1941) 186, S. 281 – 284. 72 Claassen an Herta Snell, 13.10.1942. 73 Claassen an Edschmid, 30.4.1942. 74 So Claassen an Charlotte Pauly, 7.5.1943. 75 Für einzelne Gedichtbände erreichte Claassen noch im Februar 1944 auf solche Weise »holzfreies, wirklich schönes Papier«. (Claassen an Appel, 25.2.1944) 76 Claassen an Barth, 8.10.1942. 77 Claassen an Hilde Claassen, 26.7.1943. 78 Claassen an Hilde Claassen, 30.7.1943. 79 Claassen an Hilde Claassen, 29.7.1943. 80 Claassen an Hilde Claassen, 5.8.1943. 81 Claassen an Hilde Claassen, 5.8.1943. – Ebenso am 14.8.1943: »Ich kann weder unsere Wohnung noch den Verlag noch dringliche Arbeiten einfach sich selbst überlassen, so besteht die Gefahr, daß wir alles verlieren.«

4.1 Rahmenbedingungen Die Auswirkungen der Bombenschäden auf die Verlagsarbeit selbst hielten sich in Grenzen: Manuskripte und Verlagskorrespondenz, im Keller ausgelagert, waren unversehrt geblieben. Nur ein Gedichtband, dessen Stehsatz bei der Hamburger Druckerei Petermann lagerte und der gerade bei der Buchbinderei Hoffmann kurz vor der Fertigstellung stand, wurde bei der völligen Zerstörung dieser beiden Betriebe vernichtet. Langsam ging die Verlagsarbeit im zerstörten Hamburg weiter: »[…] wir versuchen, uns in den Trümmern einzurichten und weiterzumachen«.82 Im Dezember desselben Jahres verlor der Verlag bei der Bombardierung Leipzigs, bei dem das Buchhändlerviertel mit Druckereien, Bindereien und Auslieferungslagern weitgehend zerstört wurde, seine gesamten Lagerbestände und alle in den Leipziger Herstellungsbetrieben befindlichen Bücher. Ihre »schlimmsten Befürchtungen« seien übertroffen, gab Claassen dem Freund Dolf Sternberger gegenüber zu: »Wir verfügen nur noch über unser Verlagsarchiv.«83 Vor der Bombardierung Leipzigs hatten die Verleger noch die Auslagerung einzelner Bestände aufs Land versucht;84 aufgrund der Transportschwierigkeiten war dies nur in ganz geringem Ausmaß gelungen. Verfügen konnte der Verlag über diese Bücher allerdings erst Monate später: Für einen Privatverlag waren die Transportprobleme ohne behördliche Unterstützung im vorletzten Kriegsjahr bereits unüberwindlich. Sie seien im Moment ein »Verlag ohne Bücher«85, beschrieb Claassen die Situation: »Ich will versuchen, wieder Papier zu beschaffen und die Verbindung mit neuen Druckereien aufzunehmen, um langsam das Verlags-Oeuvre wieder herzustellen. Das wird uns ohnehin nur zum Teil gelingen.«86 Die Suche der Verleger nach Druckereien nahm in der Folgezeit einen Großteil der Zeit für die praktische Verlagsarbeit in Anspruch.

Maßnahmen zur »totalen Mobilmachung des Buchhandels«: Drohende Verlagsschließung Den Verlagsschließungen oder -zusammenlegungen, die reichsweit im Frühjahr 1943 und erneut im Herbst 1944 aus kriegsbedingten Gründen erfolgten,87 gingen grundsätzliche Überprüfungen der Verlagsarbeit voraus. Zweimal entging der Verlag nur knapp der Schließung. Beide Male gelang es den Verlegern schließlich, mit ihrer Produktion als »kriegswichtig« eingestuft zu werden. Im Frühjahr 1943 wurde der HGV in die Liste

82 Claassen an Appel, 11. 8.1943. 83 Claassen an Sternberger, 23.12.1943. 84 So Claassen an Ilse Molzahn, 21.12.1943: »Seit Monaten« hätten sie den Versuch gemacht. – Vgl. auch Claassen an Krämer-Badoni, 17.3.1944: »[...] am Tag vor dem Angriff« noch hätten sie sich darum bemüht. 85 So Claassen an Sophie Angermann, 25.1.1944. 86 Claassen an Hering, 24.1.1944. 87 Vgl. Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 124 sowie Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 315 – 319. – Vgl. im Detail die Ausführungen des Justitiars der RSK, Günther Genz, u. d. T. »Schließung von Buchverlagen«, in: Börsenblatt 110 (1943) 84, S. 74f. sowie das »Merkblatt zur totalen Mobilmachung des Buchhandels«, Beilage zum Börsenblatt 111 (1944) 70.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren der zu sichernden Verlage88 aufgenommen.89 Daß das Kriterium der »Kriegswichtigkeit« zunehmend auch inhaltliche Auswirkungen auf die Verlagsproduktion hatte, der Handlungsspielraum der Verleger sich damit weiter verengte, liegt auf der Hand. Bereits im März 1943 kündigte Claassen diese Entwicklung in einem Brief an den Autor Friedo Lampe an: »Die verbleibenden Verlage werden sich auf Bücher und Leser einzustellen haben, bei denen das künstlerisch-literarische Moment gewissermaßen unsichtbar gemacht werden muß.«90 Von der zweiten Schließungswelle der deutschen Verlage im Herbst 1944 im Zuge der »totalen Mobilmachung« waren fast alle Verlage mit dem Schwerpunkt auf schöngeistiger Literatur, so z. B. auch Suhrkamp und Kiepenheuer, betroffen.91 Eine Reihe von Verlagen allerdings konnte kriegswichtige Aufträge nachweisen.92 Claassens Unsicherheit in diesen Wochen wird in einem vertraulichen Brief an Horst Lange atmosphärisch spürbar: »Auf der einen Seite besteht ein grundsätzliches Verbot, schöngeistiges Schrifttum herzustellen. Auf der anderen Seite ist uns schriftlich mitgeteilt worden, wir sollten unsere Produktion verstärken. Wir haben schon Schritte unternommen, um dieses Dilemma in einem uns erwünschten Sinne aus der Welt zu schaffen.«93 Am selben Tag gab Claasen in einem Brief an Walter Opitz zu, daß die Erlaubnis zur Weiterarbeit bisher nur ein »Leerschema« sei; es sei noch nicht geklärt, »was ein so ausgesprochen schöngeistiger Verlag wie wir weiterhin drucken darf. Im Augenblick bedrückt uns diese Sorge noch nicht, da noch sehr viel laufende Arbeit sich in den Druckereien befindet.«94 Es hat durchaus den Anschein, als hätten die Verleger das ihnen eingeräumte Privileg als recht zwiespältig angesehen. Goverts jedenfalls bat Horst Lange, die Tatsache, daß der Verlag weitermachen dürfe, nicht jedermann zu berichten, »damit nicht Neider an irgendwelche Wühlarbeit«95 gingen. Allemal aber wurden Druckvorhaben seitdem »fast zu einem diplomatischen Kunststück«96. Wenn Claassen auch einräumte, für den Neusatz kämen ja nur »mehr

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88 Vgl. BA R 56 V 108/Blatt 24 – 41 (VS); der H. Goverts Verlag ist dort auf S. 11 (Blatt 34) genannt. In einer weiteren Liste sind von den Hamburger Verlagen Ellermann, Goverts, die Hanseatische Verlagsanstalt, Hauswedell, Hoffmann & Campe, Marion von Schroeder, J. P. Toth und Christian Wegner aufgeführt. 89 Barbian teilt mit, daß im Frühjahr 1943 in Hamburg von Schließungen dann doch ganz abgesehen wurde, da infolge der Luftangriffe keine Möglichkeit zu einer anderweitigen Verwendung der Arbeitskräfte bestanden hätten (Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 317). 90 Claassen an Friedo Lampe, 11.3.1943. 91 In der im Bundesarchiv erhaltenen Liste der zu sichernden Verlage vom September 1944 (BA R 56 V 109) ist der H. Goverts Verlag nicht aufgeführt. 92 Vgl. dazu auch Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 319. 93 Claassen an Horst Lange, 28.9.1944. – Vgl. auch Classen an Barth, 30.8.1944: »Über die praktischen Auswirkungen der ›neuen Maßnahmen‹ für unseren Verlag kann ich Ihnen noch nichts Endgültiges sagen. Daß unsere Arbeit höchst gefährdet ist, liegt ja auf der Hand. Wir hoffen trotzdem auch diese Zeit zu überstehen.« 94 Claassen an Walter Opitz, 28.9.1944. 95 Goverts an Lange, 16.9.1944. 96 Claassen an Lange, 24.11.1944.

4.1 Rahmenbedingungen oder minder wissenschaftliche Werke«97 infrage, so wird zu zeigen sein, daß die Verleger die letzten Monate des Krieges nicht nur mit großer Intensität und geradezu stoischer Gelassenheit für ihre »Planungen für die Zeit danach« nutzten, sondern daß es in dieser Zeit der Auflösung auch der staatlichen Überwachungsmaßnahmen sogar noch Möglichkeiten gab – wenn auch in äußerst begrenztem Maße –, die offiziellen Anweisungen mit einigem Geschick zu umgehen.

4.1.4 Bücherproduktion »in den leeren Raum hinein« Es lag nicht allein an den zunehmenden Schwierigkeiten bei der praktischen Herstellung, auch nicht nur an der Notwendigkeit vorsichtigen Taktierens bei den Versuchen, die drohende Schließung abzuwenden, daß besonders in den letzten beiden Kriegsjahren zwischenzeitlich ein resignativer Ton in Claassens Verlagsbriefen mitschwang. Nicht selten vermittelt die Lektüre der Verlagskorrespondenz aus dieser Zeit den Eindruck, daß für die Verleger das »Durchhalten« und Weiterproduzieren, allen Widrigkeiten zum Trotz, bei schwindender Resonanz in einer auf ein Minimum beschränkten literarischen Öffentlichkeit in eine fast irreal anmutende Sphäre geriet. Über das mangelnde Niveau der Buchbesprechungen in der Presse hatte Claassen schon immer geklagt. Verwunderlich ist eigentlich nur, daß er offensichtlich bis zum Schluß erwartete, eine niveauvolle, engagierte und vor allen Dingen »Maßstäbe setzende« Auseinandersetzung mit literarischen Neuerscheinungen müsse noch möglich sein. In dieser Beziehung erwartete er von den Feuilletonredaktionen, die ja in noch viel stärkerem Maße als die Verleger Anweisungen und politischen Reglementierungen unterlagen, recht viel. Feinfühlig registrierte er die Veränderungen in der bürgerlichen Restpresse in den Kriegsjahren, besonders in der Frankfurter Zeitung und der Kölnischen Zeitung, die er täglich »sehr genau«98 las: »Ich finde, daß die F.Z. immer weniger an auffallenden Äußerungen zu veröffentlichen in der Lage ist«99, stellte Claassen im Sommer 1940 fest. Die wichtigste Vermittlerrolle für den Verlag übernahm in den ersten drei Kriegsjahren nunmehr die Kölnische Zeitung, zu deren Feuilletonleiter Gerhard F. Hering Claassen ein sehr vertrauensvolles Verhältnis aufbaute. Daß der Platzmangel in den Feuilletonspalten wegen der zunehmenden Papiereinsparungen ganz allgemein zu einem Rückgang der Besprechungen von Neuerscheinungen führte, daß die Farblosigkeit und mangelnde Originalität vieler Besprechungen, die Unsitte des »Ausschlachtens« von Klappentexten und Einleitungen auch als Indiz für die zunehmenden Schwierigkeiten in den Feuilletonredaktionen, für eine sich immer mehr ausbreitende Ängstlichkeit zu werten war, wurde in der Verlagskorrespondenz nicht erörtert.100 Die wenigen Besprechungen, die überhaupt noch erschienen, empfand

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Claassen an Stock, 1.11.1944. Claassen an Hering, 20.6.1940. Claassen an Hering, 20.6.1940. Die Beurteilung eines Buches, so wie Claassen sie erwartete, hätte immer auch substantielle Kritik beinhalten müssen – und die war längst verboten. Eine eingehendere Auseinandersetzung mit den zu besprechenden Büchern, wie sie noch in den ersten Jahren der Diktatur

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren Claassen – so wertvoll sie im einzelnen auch für ihn waren – weitgehend als »Klischee.«101 Anderthalb Jahre später klang seine Einschätzung der Möglichkeiten öffentlicher Resonanz noch resignierter: »Im übrigen gehört das Kapitel ›Besprechungen‹ zu den besonders trostlosen. Das literarische Echo der Bücher ist heute […] gleich Null. Autor und Verleger müssen heute an die stille Wirkung der Bücher, die auch sicher vorhanden ist, glauben. Alles andere gehört einer besseren Zukunft.«102 Dennoch mochte sich Claassen mit dieser Hoffnung allein nicht begnügen. Im Frühjahr 1942 mußte das Rezensionsorgan Die Literatur sein Erscheinen einstellen, im Herbst 1943 die Neue Rundschau, gleichzeitig auch die Frankfurter Zeitung. Damit waren die ohnehin schon stark begrenzten und meist auf persönlichen Beziehungen zu einzelnen Feuilletonredakteuren beruhenden Rezensionschancen für den Verlag weiter gesunken.103 Es klang fast trotzig, als Claassen im Herbst 1943 in einem Brief an den Nachfolger G. F. Herings im Feuilleton der Kölnischen Zeitung, Otto Brües, monierte, »daß die Besprechung unserer Bücher praktisch seit über 1 1/2 Jahren eingestellt worden« sei. »Es scheint mir einer Zeitung vom Rang der Kölnischen nicht ganz würdig zu sein. Man kann sicher zu dem oder jenen Buch unseres Verlages verschieden stehen, aber man kann uns nicht ganz ignorieren.«104 Daß Claassen gleichzeitig mit Besprechungsexemplaren zunehmend haushälterisch umging, ist vor diesem Hintergrund kaum noch verwunderlich. Von Barths vor Weihnachten 1942 ausgeliefertem Roman Das Lorbeerufer105 z. B. wurden nur noch 25 Besprechungsexemplare106 verschickt, »an alle wichtigen Zeitungen und Zeitschriften, von denen überhaupt noch eine Besprechung zu erwarten« war. Das Ergebnis fand er denn auch »kläglich genug«107. Offensichtlich hat Claassen die Tatsache, daß die Bücher des Verlags bis zum Schluß im Völkischen Beobachter besprochen wurde, nicht weiter beeindruckt. Wenn er

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praktiziert wurde, hätte zudem, zumindest indirekt, ein Offenlegen der eigenen Wertmaßstäbe bedeutet. Claassen an Hering, 13.6.1940. Claassen an Ilse Molzahn, 10.1.1942. Nachdem z. B. Hans Paeschke eingezogen war, erschienen Claassen die Beziehungen zur »Neuen Rundschau«, die ja ohnehin keine Besprechungen mehr brachte, auch für einen Vorabdruck kaum noch aktivierbar. Am 20.9.1943 schrieb er an Hedwig Conrad-Martius, es sei fraglich, ob Suhrkamp für einen Vorabdruck zu gewinnen sei. Nachdem Joachim Moras eingezogen worden war, bestand auch zur »Europäischen Revue« kein Kontakt mehr. (So Claassen an Bense, 15.12.1944) Claassen an Otto Brües, zitiert im Brief an Heinrich Jacobi, 30.9.1943. – Eine hohe Meinung hatte er von dieser Zeitung, die nach der Zerstörung des Kölner Verlags obendrein in wesentlich reduziertem Umfang erschien, seit dem Revirement in deren Feuilleton ohnehin nicht mehr: »[...] auch die Redaktion hat sich so einschneidend geändert, daß ihre Qualität und ihr Wagemut entschieden gelitten hat.« (Claassen an Conrad-Martius, 20.9.1943) Emil Barth: Das Lorbeerufer (1942). (Nr. 46) In den Vorkriegsjahren waren es bedeutend mehr gewesen; genaue Vergleichszahlen liegen allerdings nicht vor. Claassen an Barth, 17.3.1943. – Zum Aufruf offizieller Stellen, dennoch weiterhin Besprechungsstücke zu versenden, vgl. Herbert Barth: Besprechungsstücke – auch jetzt? In: Börsenblatt 108 (1941) 240, S. 350.

4.1 Rahmenbedingungen dessen Urteile mittlerweile auch für die Werbung zu nutzen bereit war, scheint er sie darüber hinaus weitestgehend ignoriert zu haben. Persönlich wichtig waren ihm nur die Urteile von Kritikern, die er als Einzelpersönlichkeiten wahrnahm und schätzte und die in jenen Organen veröffentlichten, die sich traditionellerweise an das Zielpublikum des Verlags, das Bildungsbürgertum, richteten. Besprechungen in der Tagespresse waren zu diesem Zeitpunkt keine Voraussetzung mehr für eine gesteigerte Nachfrage; der Absatzboom seit dem Kriegsbeginn, vollends seit der Verknappung im Frühjahr 1941, hatte nicht nur diese Aufgabe der Feuilletons obsolet gemacht. Auch Werbung war längst überflüssig, und der Verlag beschränkte sich auf jeweils eine kleine Anzeige im Börsenblatt, in der i. d. R. nur noch Autor, Titel und Verlag genannt wurden.108 Im Februar 1941 hatte sich der Börsenverein bereits gezwungen gesehen, Grundsätze für den Bestell- und Lieferverkehr109 aufzustellen, die die Erledigung nicht sofort ausführbarer Bestellungen regeln sollten. Spätestens nach Einführung des Zuteilungsverfahrens, zu dem sich die Verleger im November 1942 zunächst noch freiwillig melden sollten,110 das aber ab dem Frühjahr 1943 die einzige verbleibende Möglichkeit war, wollte ein Verlag nicht mit einer Unzahl von Bestellungen überschwemmt werden, war ein »normaler« Absatz im Sinne eines freien Verkaufs endgültig vorbei. Aktiv hatte der HGV zunächst versucht, die Lieferschwierigkeiten selbst in den Griff zu bekommen. Im Sommer 1940 war auf der Titelseite des Börsenblatts angekündigt: »Wir sind um eine gleichmäßige und gerechte Belieferung aller Besteller bemüht, sehen uns aber durch die Verhältnisse gezwungen, uns Kürzungen vorzubehalten.«111 Im Herbst 1941 versuchten die Verleger mit einem Zusatz zu der Ankündigung ihrer Roman-Neuerscheinungen im Börsenblatt die Bestellungen zu drosseln: »Da unsere Bestände beschränkt sind, bitten wir alle Buchhandlungen, die bereits bestellt haben, von einer neuen Bestellung abzusehen. Aus demselben Grunde müssen die bereits vorliegenden Bestellungen gekürzt werden.«112 Praktisch bedeutete dies schon eine Bestellsperre und den Übergang zu einer verlagsintern vorgenommenen Zuteilung. Die Lieferschwierigkeiten des Verlags waren im Herbst 1941 derart groß, daß der HGV im Börsenblatt unter der Rubrik Verzeichnis von Büchern, die vor Weihnachten, teils auch in den ersten vier Monaten 1942, nicht mehr ausgeliefert werden können113, neunundzwanzig Titel seiner Gesamtproduktion von zu diesem Zeitpunkt vierunddreißig genehmigten Büchern anführen mußte. Im Dezember 1941 war – mit Claassens Worten – »der gesamte Verlag praktisch ausverkauft«114. 108 Die Größe von Verlagsanzeigen wurde seit Kriegsbeginn zunehmend reglementiert. Ab dem 27.9.1939 war es nicht mehr erlaubt, doppelseitig für einen Titel zu werben, ab 1941 waren nur noch halbseitige, dann viertelseitige und ab April 1942 achtelseitige Anzeigen erlaubt. Genaue Anweisungen dazu wurden in den »Vertraulichen Mitteilungen für die Fachschaft Verlag« und im Börsenblatt abgedruckt. 109 Vgl. Börsenblatt 108 (1941) 63, S. 93f. 110 Vgl. den Aufruf im Börsenblatt 109 (1942) 263, S. 1405 und (1942) 282/283 S. 254. – Vgl. auch Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 309 – 313. 111 Börsenblatt 107 (1940) 169, Umschlagseite. 112 Börsenblatt 108 (1941) 223, S. 2963; ebenso Börsenblatt (1941) 224, S. 2970 und (1941) 225, S. 2979. 113 Börsenblatt 108 (1941) 245/246, S. 10f. 114 Claassen an Grabert, 10.12.1941.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren Seit dem Aufbau der Frontbuchhandlungen115 zu Kriegsbeginn war das Sortiment immer wieder zur bevorzugten Belieferung dieser Einrichtung aufgerufen worden; seit 1941 galt ein Verteilerschlüssel, nach dem die Buchproduktion zuerst an die Frontbuchhandlungen und Rüstungsarbeiter, danach an die Volks-, Werk- und Leihbüchereien ausgegeben werden mußte. Der Rest wurde dem freien Verkauf durch die Buchhandlungen zur Verfügung gestellt.116 In welchem Ausmaß dem H. Goverts Verlag bereits vor dem endgültigen Übergang zum Zuteilungsverfahren im Frühjahr 1943117 größere Bestände der fertiggewordenen Bücher auf diese Weise abliefern mußte, geht aus den Verlagsunterlagen nicht hervor. Die Zuteilung an die Sortimentsbuchhandlungen, die nach der Zerstörung Leipzigs und dem Verbot des dortigen Kommissionsbuchhandels noch übriggeblieben waren,118 erfolgte zwar nach einem von den Verlegern selbst aufgestellten Plan; die Reglementierung auch dieses Verfahrens nahm jedoch im Laufe des Jahres 1944 derart zu, daß die Verleger schließlich kaum noch wußten, wohin ihre Bücher gelangten. Im Herbst 1944 zog der Börsenverein die Konsequenz: Seine Mitglieder wurden nunmehr geradezu genötigt, sich dem Zuteilungsverfahren anzuschließen.119 In der Folge blieben den Verlegern nur noch maximal zehn Prozent der Gesamtauflagen zur eigenen Verteilung. Im Oktober 1943 hatte Claassen noch hoffnungsvoll betont, er sei heute froh, wenn ein Buch »ohne viel Aufsehens den Weg zu seinen Lesern findet«120. Ende 1944 gab er sich den Autoren gegenüber keine Mühe mehr, seine Resignation zu unterdrücken: Die Verteilung einer Auflage sei »wie die Quadratur eines Cirkels«: »ganze Auflagenteile« würden ihnen weggenommen, und mit dem Rest solle »der ohnehin lahmliegende Buchhandel erhalten werden«121, klagte Claassen in einem Brief an Horst Lange. Trotz der Skepsis, trotz der ungewissen Zukunftsperspektive besonders nach der zweiten Schließungswelle der Verlage im Herbst 1944, als allgemein zwar ein Bann auf alles schöngeistige Schrifttum gelegt war, im einzelnen aber doch die Herstellung der bereits im Druck befindlichen Bücher noch abgeschlossen werden durfte, arbeitete der Verlag weiter – bis in die letzten Kriegstage hinein. Zweimal verbrannte Bücher wurden ein drittes Mal in Druck gegeben und z. T. noch in den allerletzten Tagen ausgeliefert. Dieses »Durchhalten« allen widrigen Umständen zum Trotz, das manchmal geradezu verbissen anmutende »und dennoch«, das in der Retrospektive nahezu irreale Züge annimmt, ist mit Pflichterfüllung allein nicht erklärbar, auch nicht damit, daß die Verleger glaubten, die eigene Arbeit auf keinen Fall aufgeben zu dürfen. Ohne die Hoffnung

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115 Vgl. dazu ausführlich Bühler: Der Frontbuchhandel 1939 – 1945. 116 Vgl. Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 137. 117 Vgl. Bbl 110 (1943) 74, S. 422. – Die Ankündigungen im Börsenblatt dienten ab diesem Zeitpunkt nur noch als Nachricht an das Sortiment, daß mit der Auslieferung begonnen wurde. 118 Vgl. Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 132 sowie Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«: Seit Herbst 1943 waren allein 10 % der Produktion an Lühe & Co. in Leipzig abzugeben. »Diese dem Eher-Konzern unterstehende Kommissionsfirma übernahm dann im Auftrag der Kammer die Zusammenstellung sogenannter Grundstöcke mit bis zu 1800 Bänden, die von Sortiments- und Leihbuchhandlungen sofort nach Schadensfall kostenlos abgerufen werden konnten.« (Barbian, S. 311). 119 Vgl. Anordnung über das Zuteilungsverfahren. In: Börsenblatt 111 (1944) 66, S. 153f. 120 Claassen an Jacobi, 14.9.1943. 121 Claassen an Lange, 24.11.1944.

4.2 Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie« auf »die Zeit danach«, für die verlagsintern viele Pläne vorlagen, ohne die Hoffnung, daß ihre Arbeit während der Zeit des Nationalsozialismus auch von den Siegermächten anerkannt werden würde, ohne den Glauben an die Möglichkeit einer freieren Weiterarbeit nach dem Ende des Krieges und dem Zusammenbruch der Diktatur ist diese Haltung der Verleger nicht zu verstehen. Eine Sicherheit in dieser Hinsicht gab es natürlich nicht.

4.2

Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie«

4.2 Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie« Auch in den Kriegsjahren, als der verlegerische Handlungsspielraum sich immer mehr verengte, haben Claassen und Goverts an der Maxime der ersten Verlagsjahre festgehalten. Bestrebt, sich mit ihrer Produktion von der Masse der veröffentlichten Bücher abzuheben, bemühten sich weiterhin darum, eine anspruchsvolle Literatur herauszubringen, die dem Leser eine intensive intellektuelle Auseinandersetzung abverlangte. Der Roman von Joachim Maass,122 schrieb Claassen an Rudolf Bach, sei ein Buch, das »eine ernste Auseinandersetzung geradezu provoziert. Aber das scheint mir ein Vorzug zu sein. An glatt zu Tal rieselnden Literaturbächen fehlt es ja nicht.«123 Allerdings wurde es für die Verleger zunehmend schwerer, an Manuskripte heranzukommen, die ihren Vorstellungen von »niveauvoller« Literatur entsprachen und gleichzeitig auch Chancen auf eine Genehmigung hatten. So wurde die Lektoratsarbeit in den Kriegsjahren, mehr noch als in den Jahren zuvor, zu einer komplizierten Gratwanderung, bei der die eigenen Ansprüche, die offiziellen literaturpolitischen Vorgaben und die faktische Mangelsituation auf einen Nenner gebracht werden mußten. Die Versuche der Beibehaltung der in den Vorkriegsjahren angelegten »inneren Linie« vor allem innerhalb der deutschsprachigen Literatur, in der fiktionalen Literatur ebenso wie innerhalb der kulturhistorischen Monographien, waren nur noch begrenzt erfolgreich.

4.2.1 Auf der Suche nach deutschen Autoren Bei der Suche nach neuen Autoren dominierte weiterhin die persönliche Komponente. Auch die Verlagsautoren bemühten sich, den Verlegern neue Talente zuzuführen: Wo immer ihm eine Begabung begegne, wolle er Claassen »darauf aufmerksam machen bzw. sie selber im Auge behalten«124, versprach Emil Barth, und Dolf Sternberger insistierte darauf, »nicht nur als Autor, sondern ebenso als Mittler am Verlag nützlich mitwirken«125 zu wollen. Besonders der Briefwechsel mit Gerhard F. Hering, dem Feuilletonchef der Kölnischen Zeitung bis zum Herbst 1943, ist ein Beispiel für die Kontinuität und Intensität der Zusammenarbeit in den Kriegsjahren.126 Bis zum Ausscheiden Herings aus der 122 123 124 125 126

Maass: Ein Testament (1939). (Nr. 27) Claassen an Bach, 11.12.1939. Barth an Claassen, 28.12.1940. Sternberger an Claassen, 16.2.1944. Vgl. Claassen an Hering, 25.5.1940: »Bei der Art unserer Zusammenarbeit werde ich Ihnen stets all das, was theoretisch für Sie in Frage kommt, vorlegen.«

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren Feuilleton-Leitung der Kölnischen übernahm diese Zeitung in den Kriegsjahren für den HGV eine noch bedeutendere Rolle, als in den ersten Verlagsjahren die Frankfurter Zeitung gespielt hatte. In welchem Ausmaß das immer wieder beschworene Gruppenbewußtsein solche Empfehlungen mit bestimmte, belegt der Auspruch Herings, der Roman Max René Hesses paßte »so wunderbar in unseren Verein.«127

Der Einfluß Friedo Lampes Friedo Lampe,128 ein hervorragender Kenner der zeitgenössischen Literatur,129 war den Verlegern von Max Tau vor seiner Emigration empfohlen worden. Die Verlagskorrespondenz mit dem promovierten Literaturhistoriker gibt einen deutlichen Eindruck von der Intensität, mit der die Verleger vom Spätsommer 1939 an den Ausbau des deutschen Belletristik-Programms voranzutreiben suchten. Die große Zahl von Autoren, die in diesen Briefen genannt werden – als vorgeschlagene, umworbene oder auch verworfene –, belegt die breite Suche nach deutschen Autoren und zeigt gleichzeitig die alten verlagsinternen Präferenzen für den »guten, zeitgenössischen Gesellschaftsroman«, allerdings auch einen zunehmenden Pragmatismus. Gleichzeitig wird aus diesen Briefen auch die Rolle deutlich, die Lampe bei den Ausbauplanungen des Verlags und bei der praktischen Lektoratsarbeit im ersten Kriegsjahr einnahm. Der Rückgriff auf die Mitarbeit Lampes und damit der Versuch, die Suche nach neuen Autoren zu delegieren, läßt sich nicht nur als Zeichen eines kurzfristigen Expansionsbestrebens, sondern auch als zunehmende Professionalität interpretieren. Vom Sommer 1939 an bestand für ein knappes Jahr eine zunächst vage vereinbarte freie Mitarbeit130 im H. Goverts Verlag auf Honorarbasis. Lampe überarbeitete Autorenmanuskripte,131 entwarf Klappentexte und schrieb Lektoratsgutachten von großer Sicherheit im Urteil, in denen er Stärken und Schwächen der Manuskripte auslotete und Claassen auch recht bestimmt in der Einschätzung mancher Autoren widersprach. Vor allem aber gab er den Verlegern Anregungen zur Kontaktaufnahme mit jungen, zum

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127 Hering an Claassen, 7.2.1941. 128 Friedo Lampe (1899 –1945) arbeitete als Berater verschiedener Verlage, ab 1940 als fest angestellter Lektor beim Verlag Karl Heinz Henssel; 1940 erschien im Verlag Die Waage die Sammlung »Das Land der Griechen. Antike Stücke deutscher Dichter«. 129 Lampes eigene Bibliothek, die im Dezember 1943 bei Luftangriffen auf Berlin verbrannte, wurde von Freunden und Kennern hochgeschätzt: »[...] an dieser Bibliothek habe ich mein Leben lang gesammelt, sie war in ihrer Art einzig – eine vollständige Sammlung der deutschen Dichtung von den Anfängen bis in die Gegenwart.« (Lampe an Claassen, 28.12.1943 – In Büchern denken, S. 276) 130 »Bezeichnen Sie sich [in den Briefen an die Autoren] einfach als Lektor unseres Verlages.« (Claassen an Lampe, 13.10.1939) 131 Als wie unbefriedigend Lampe die Überarbeitung des voluminösen Buches von Ernst Samhaber über Südamerika empfand, belegt sein Brief an Claassen vom 5.8.1939: »Ich kann verstehen, daß Sie mit meiner Umarbeitung [sic] des Samhab. Manuskriptes unzufrieden sind. Trotzdem ich mir Mühe gegeben habe und viel Arbeit davon hatte, bin ich selber nicht zufrieden.« – Vgl. Ernst Samhaber: Südamerika. Gesicht, Geist, Geschichte (1939). (Nr. 29)

4.2 Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie« Großteil in Berlin lebenden Autoren, zu denen er schließlich selbst, oft aufgrund persönlicher Bekanntschaft, die Verbindung herstellte.132 Es ist durchaus vorstellbar, daß der Verlag andere, vor allem auch mehr Autoren hätte gewinnen können, wenn die Mitarbeit Lampes von Anfang an fester gestaltet worden wäre.133 Claassen und Goverts jedenfalls schätzten Lampes Urteil sehr und zeigten sich enttäuscht, als er sich aus Gründen der finanziellen Absicherung gezwungen sah, eine feste Anstellung im Karl Heinz Henssel Verlag anzunehmen. Er sei sich sicher, schrieb Claassen im Frühjahr 1940 an Lampe, daß er »auch in Zukunft häufig das Bedürfnis haben werde«, seinen Rat in Anspruch zu nehmen.134 Die Verlagsvereinbarungen mit Paul Appel,135 mit Ilse Molzahn136 und mit Hermann Georg Rexroth,137 vermutlich auch die mit Hedwig Rohde,138 kamen auf Lampes Initiative hin zustande. Mit einem Lyrikband, einem Unterhaltungsroman und einem Band mit Erzählungen steht diese Auswahl schon für eine langsame Öffnung des Verlags zu einer größeren Bandbreite im Formalen. Der Publikation einzelner Erzählungen Rexroths hatte Claassen zunächst aus verkaufstechnischen Gründen recht skeptisch gegenübergestanden. In seiner sorgfältig abwägenden Beurteilung ermutigte Lampe die Verleger, die Veröffentlichung zu wagen, wenn er auch mit ironischem Unterton zugab, daß sie dann »einen Düsterling mehr im Verlag«139 hätten. Die meisten der erhaltenen Voten Lampes mündeten allerdings in eine skeptische oder auch strikt ablehnende Gesamteinschätzung, deren Tenor eine große Übereinstimmung zwischen Verlegern und Lektor in den Beurteilungsmaßstäben verdeutlicht. »Das ist so der übliche, gute, ganz sympathische Unterhaltungsroman. 132 In einer im Cl.A. erhaltenen »Liste von Anregungen Dr. Friedo Lampe«, datiert vom Oktober 1939, sind die Namen von Paul Appel, Fritz Ernst, Hans Fallada, Kurt Hanke, Kilian Kerst, Gerhard Kramer, Willy Kramp, Ilse Langner, Ilse Molzahn, Reginald Marquier, Hans Paeschke, Johannes Pfeiffer und Alma Rogge genannt. 133 Die Korrespondenz mit Lampe dokumentiert nur unvollständig, aus welchen Gründen eine Zusammenarbeit nicht zustandekam. Kilian Kerst z. B. fühlte sich an die Rabenpresse gebunden, Reginald Marquier als deren Lektor ohnehin. 134 Claassen an Lampe, 16.4.1940. 135 Appel habe »einen schönen Gedichtband bei Langen/Müller« herausgegeben, »hier und da« erscheine jetzt auch Prosa von ihm: »Er ist ein richtiger Dichter. Vielleicht könnte man eine größere Prosaarbeit von ihm bekommen. Er paßt garnicht zu Langen/Müller.« (Lampe, 11.10.1939, vgl. auch in: In Büchern denken, S. 270). – Vgl. Paul Appel: Neue Gedichte (1945). (Nr. 70) 136 »Heute habe ich mit Ilse Molzahn gesprochen. Sie hat große Lust, zu Ihnen überzugehen, weiß nur nicht recht, wie sie von Rowohlt loskommen soll. Ich glaube wohl, daß man sie gewinnen kann.« (Lampe an Claassen, 11.10.1939) – Vgl. Ilse Molzahn: Töchter der Erde. Roman (1941). (Nr. 43) 137 Vgl. Hermann Georg Rexroth: Das Stundenglas (1940). (Nr. 40), 2. Aufl. u. d. T. Junge und alte Liebe (1942). (Nr. 49) sowie Rexroth: Der Wermutstrauch. Aufzeichnungen aus dem Kriege (1945). (Nr. 73) 138 Vgl. Claassen an Lampe, 13.3.1940: »In der ›Kölnischen Zeitung‹ lese ich eine Erzählung von Hedwig Rohde ›Der Drachensee‹, die ich bisher sympathisch finde. Ist das dasselbe Manuskript, das Ihnen vorliegt? – Auch sonst bitte ich Sie kräftig Umschau zu halten.« – Vgl. Hedwig Rohde: Frühling im Oktober (1941). (Nr. 44) 139 Lampe an Claassen, 11.10.1939.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren Nichts Neues in Form und Gehalt«140, beschrieb Lampe seinen Eindruck von einem Romanmanuskript Herbert Rochs. Auch von Ilse Langner riet er vehement ab: »Das ist eine breiige zähflüssige Masse, krampfig, tief aufgemacht, schlesische verkomme Mystik gemixt mit Ostasien. Das Buch wirkt langweilig, zieht einen nicht hinein in seinen Fluß. Die Langner gönnen sie man ruhig dem Fischer-Verlag.«141 Daß Lampe sich bei seinen Empfehlungen an einem fest umrissenen Verlagsprofil orientierte, zeigen Urteile wie die über den DVA-Autoren Otto Rombach, der »biedere humoristische Unterhaltungsromane« schreibe – »Das ist glaube ich nichts für Sie«142 – oder auch seine Einschätzung der Berliner Malerin Sabine Lepsius, die Lampe »als Erzählerin nicht stark genug« fand: »An und für sich sind solche Biographien ja sehr beliebt und gehen gut. Nur gehört so was in den Goverts Verlag?«143 Auch die Ablehnung des Märchens Der alte Garten von Marie Luise Kaschnitz im Januar 1940 erfolgte, anders als die Nachbemerkung der erst posthum veröffentlichten Erstausgabe es nahe legt,144 vornehmlich auf der Grundlage des skeptischen Urteils Lampes, der sich »nicht viele Leser vorstellen« konnte und auch «die letzte Intensität und dichterische Ursprünglichkeit«145 vermißte. Die abwehrende Haltung der Verleger gegenüber manchem Vorschlag Lampes in diesen ersten Kriegsmonaten war in der Regel im Formalen begründet: Die Frage Claassens, ob bei den in Frage stehenden Autoren über die von Lampe hochgeschätzten Novellen und Erzählungen hinaus »Möglichkeiten für größere Arbeiten vorhanden«146 seien, durchzieht als Topos die Verlagskorrespondenz. Auch der Veröffentlichung eines kleinen Romans Rexroths zusammen mit drei Erzählungen stand Claassen zunächst skeptisch gegenüber. »Es wäre wichtig, wenn er einen geschlossenen und auch nach außen einigermaßen wirksamen Roman schriebe, um ihm so überhaupt eine Plattform zu schaffen.«147 Als Lampe sich für Kurt Kusenberg begeisterte und prophezeite, dieser Mann könne, das sei sein »deutliches Gefühl, ein richtiges Märchenbuch schreiben in der Art von dem englischen Alice im Wunderland«148, beendete Claassen die Diskussion

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140 Lampe an Claassen, 11.12.1939. 141 Lampe an Claassen, 11.12.1939. – Lampe bezog sich auf das Romanmanuskript »Die purpurne Stadt«. Der Roman erschien 1941 bei Suhrkamp. 142 Lampe an Claassen, 13.10.1939. 143 Lampe an Goverts, 12.12.1939. 144 Kaschnitz: Der alte Garten. Ein Märchen. Düsseldorf: Claassen 1975. – In dieser Erstausgabe wird die Herausgabe des Buches in einer Nachbemerkung (S. 291) zum Vermächtnis stilisiert. »Gegen 1940 befaßte sich Marie Luise Kaschnitz mit dem Plan, ein Buch für Kinder zu schreiben, und es entstand ein Märchen in siebzehn Kapiteln. Nach der Ausarbeitung des umfangreichen Textes konnte sich die Autorin jedoch nicht zu einer Veröffentlichung entschließen.« – Vgl. dazu Lampe: Votum Marie Luise Kaschnitz, Kinderbuch (13.1.1940). 145 Lampe: Votum Kaschnitz (13.1.1940). – Vgl. zur Publikationsgeschichte auch Dohle: Marie Luise Kaschnitz im Dritten Reich und in der Nachkriegszeit, S. 129, der darauf hinweist, daß das Manuskript lt. den Tagebüchern der Kaschnitz bereits im August 1939 von zwei Verlagen abgelehnt worden war. 146 Claassen an Lampe, 11.12.1939. 147 Claasen an Lampe, 13.10.1939. 148 Lampe an Claassen, 11.12.1939.

4.2 Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie« mit der schon stereotypen Aufforderung: »Vielleicht bringen Sie ihn dazu, etwas Geschlossenes in Angriff zu nehmen«.149 Es mußten erst noch literaturpolitische Vorgaben und eine deutlicher sich abzeichnende Änderung der Verkaufsbedingungen auf dem Büchermarkt hinzukommen, ehe die Verleger bereit waren, den veränderten Form- und Gattungspräferenzen in den Kriegsjahren mit ihren Veröffentlichungen Rechnung zu tragen. Erst langsam schlossen sich Claassen und Goverts dem ästhetischen Urteil Lampes an, der bereits im Oktober 1939 meinte, sie dürften »sich nicht nur auf den dicken Roman festlegen. Die besten Dinge bei uns werden jetzt gerade in anderen Formen gemacht.«150 Im Fall Rexroth ließen die Verleger sich das erste Mal von Lampe überzeugen.151 Erst seit 1943, als es zunehmend darum ging, unterhaltsame Literatur gerade auch für Soldaten herauszubringen, erschienen im HGV Sammlungen von Erzählungen – wie die von Opitz, Lange, Rexroth, Schnabel und schließlich auch Lampe.152

Auf der Suche nach dem »großen zeitgenössischen Gesellschaftsroman« Zunächst jedoch prägte weiterhin die Vorliebe der Verleger für den »großen zeitgenössischen Gesellschaftsroman« die Lektoratsentscheidungen. Möglichst als Entwicklungsroman angelegt, sollte er Probleme der Gegenwart aufgreifen, ohne politische Fragen zu berühren. Mittlerweile aber hatten sich verlagsintern die Vorstellungen davon, wie Romane beschaffen sein müßten, die im HGV veröffentlicht werden sollten, verändert. Die Romane, nach denen Claassen und Goverts nunmehr suchten, sollten zwar anspruchsvoll, aber gleichzeitig so volkstümlich geschrieben sein, daß sie Chancen auf eine größere Breitenwirkung boten. Mit dieser Suche nach Erfolgsautoren näherten sich die Verleger, anders als sie es in den Vorkriegsjahren getan hatten, den mittlerweile forciert vorgetragenen offiziellen Forderungen nach »Unterhaltungsschrifttum«.153 149 Claassen an Lampe, 21.12.1939. – Seine frühere Ablehnung eines Sammelbandes kleinerer Erzählungen Kusenbergs hatte Claassen damit begründet, daß sie ihm »nicht so zwingend« erschienen seien. (Claassen an Lampe, 14.11.1939) 150 Lampe an Claassen, 23.10.1939. – Im Frühjahr 1944 äußerte Lampe seine Auffassung über die zeitgenössische Formproblematik noch deutlicher, nunmehr bezogen auf sein eigenes Schreiben: »Vielleicht schätzen Sie die kleine Form nicht so hoch und halten mehr von den dicken Romanen. Einen dicken Roman werde ich Ihnen aber wohl nie liefern können. Wenn Sie sich also mit mir einlassen, müssen Sie immer damit rechnen, daß Sie Capriccios, Arabesken, Erzählungen, kleine wunderliche Gewebe bekommen, wenn Sie das nicht mögen, werden Sie nie mit mir zufrieden sein. Ich persönlich halte nicht viel von den Romanen der jüngeren deutschen Autoren. Sie lassen sich wohl gut verkaufen, sind aber Unformen. Das meiste was sich heute so nennt, sind breit getretene Novellen.« (Lampe an Claassen, 15.3.1944) 151 Hermann Georg Rexroth: Das Stundenglas (1940). (Nr. 40) 152 Walter Opitz: Beschworene Schatten (1943). (Nr. 59); Horst Lange: Das Irrlicht (1943). (Nr. 58) und Die Leuchtkugeln (1944). (Nr. 65); Hermann Georg Rexroth: Der Wermutstrauch (1945). (Nr. 73); Ernst Schnabel: Schiffe und Sterne (1944). (Nr. 69); Friedo Lampe: Von Tür zu Tür (1945). (Nr. 71) 153 In einem Artikel im »Börsenblatt« wurde Mitte April 1940 als Gesamtziel der Förderungsbemühungen nationalsozialistischer Literaturpolitik die »Schaffung eines wirklich unterhaltenden, einfachen Schrifttums für jeden Volksgenossen nach schwerer geistiger und körper-

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren Der Leiter der Abteilung Schrifttum im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Ministerialdirigent Haegert, hatte in seiner Ansprache in der Hauptversammlung des Börsenvereins im April 1940 die Erwartungen seiner Behörde unmißverständlich vorgetragen: »Wir vermissen aber schmerzlich den guten deutschen Unterhaltungsroman.«154 Von solchen »Unterhaltungsromanen mit Publikumswirkung« könne die »kulturelle Auslandswirkung« mit bestimmt werden. Vor diesem Hintergrund ist es auch kaum noch erstaunlich, daß Haegert sogar vor der gerade von nationalsozialistischer Seite zuvor intensiv geförderten Bauernliteratur warnte: »Es sind in letzter Zeit viele Bauernromane erschienen, manche gute, viele von Mittelmaß. Ein Zuviel ist hier gefährlich.« Die Großstadt als Sujet wurde den Verlegern zu Förderung anempfohlen, da »ein großer Teil des Volkes in Großstädten lebt und wahrscheinlich auch immer leben wird. Wo bleiben die Romane, die Großstadtprobleme in künstlerischer Form behandeln? Wann kommt einmal ein wirklicher Berliner Roman […]?«155 An den wenn auch letztlich vergeblichen Bemühungen um Max René Hesse und Hans Fallada, die sich von 1940 an über einen Zeitraum von drei Jahren in der Korrespondenz mit Lampe und Hering verfolgen lassen, wird die Verschiebung innerhalb der verlagsinternen Präferenzen des HGV augenfällig. Die neue Akzentsetzung läßt sich nur vor dem Hintergrund solcher offiziellen Verlautbarungen erklären. Claassen und Goverts suchten nunmehr Autoren, die zeitgenössische Themen derart behandelten, daß die Romane sowohl mit Vorstellungen wie denen von Haegert formulierten in Einklang zu bringen wären, als auch mit ihrem eigenen Selbstbild eines Verlags niveauvoller Unterhaltungsliteratur. Max René Hesse156 war 1932/33 mit den beiden dicken Unterhaltungsromanen Morath schlägt sich durch und Morath verwirklicht einen Traum zu einem der »Erfolgsautoren« Cassirers geworden.157 Obwohl beide Titel kurze Zeit als »unerwünscht« gegolten hatten,158 war 1935 noch ein weiterer Roman Hesses159 im Cassirer Verlag erschienen. Zwei Jahre später war bei Wolfgang Krüger in Berlin der erste Band eines als Trilogie angelegten Entwicklungsromans unter dem Titel Dietrich und der Herr der Welt herausgekommen, der die Suche eines Knaben bzw. jungen Mannes nach Freiheit und Selbstverantwortung beschreibt. Auch er war ein großer Erfolg geworden. »Außerordentlich gern«160 würde er Hesses Roman Jugend ohne Stern herausgeben, schrieb

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licher Arbeit« definiert, »das problemlos zwar, doch die Bindung an das wirkliche Leben nicht vermissen läßt und seinen Platz im Gesamtschrifttum der Nation einzunehmen imstande ist.« (Sebastian Losch: Unterhaltungsschrifttum – so oder so?! In: Börsenblatt 107 (1940) 88, S. 139) – Vgl. zu den Versuchen einer Steuerung der literarischen Produktion mit dem Ziel der Eindämmung von Trivialliteratur: Geyer-Ryan: Trivialliteratur im Dritten Reich, S. 267 – 277 sowie Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 194 –202. Haegert: Schrifttum und Buchhandel im Kriege. In: Börsenblatt 107 (1940) 94, S. 150. Haegert: Schrifttum, S. 150. Max René Hesse (1885 – 1952). Vgl. Abele: Der Verlag Bruno Cassirer im Nationalsozialismus, B 6. Im Verlagsverzeichnis von 1934 trugen beide den Stempelvermerk »Darf zur Zeit nicht geliefert werden« (vgl. Abele, B 6). Max René Hesse: Der unzulängliche Idealist. Berlin: Cassirer 1935. Claassen an Hering, 5.12.1939. – Ähnlich Goverts an Hering, 27.7.1940: Ihm liege an Hesse »außerordentlich viel«.

4.2 Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie« Claassen an G. F. Hering, der die Vorabdruckrechte für den zweiten Band der DietrichTrilogie erworben hatte. Im Frühjahr 1940 fehlte es den Verlegern vor allem an Romanmanuskripten: »Es würde mir sehr wichtig sein, in diesem Herbst seinen Roman zu veröffentlichen. Ich habe zwar eine Reihe außerordentlicher Bücher, aber bis jetzt noch keinen Roman, der unsere Linie fortführt.«161 Bei der Kontaktaufnahme mit dem schwierigen Autor, der sich mit seinem Verleger Wolfgang Krüger überworfen hatte, von diesem auf Herausgabe des Manuskripts verklagt worden war und nun von mehreren Verlagen umworben wurde,162 hielten sich die Verleger persönlich allerdings zurück und bedienten sich der Vermittlerkünste des Feuilletonchefs der Kölnischen Zeitung. Dessen Versuch, »noch einmal unter Aufbietung aller diplomatischen Kniffe«163 den Autor brieflich davon zu überzeugen, zum HGV zu wechseln, war allerdings vergeblich. Hesse wurde nach einem 1 ½ Jahre dauernden Rechtsstreit dazu verurteilt, den Roman im Wolfgang Krüger Verlag herauszubringen. Auch die Verhandlungen mit dem Erfolgsautor des Rowohlt Verlags, Hans Fallada,164 dessen Gesamtwerk politisch zwar nicht erwünscht und von nationalsozialistischer Seite auch immer wieder ablehnend beurteilt, aber insgesamt geduldet wurde, kamen über das Stadium einer vorläufigen Annäherung nicht hinaus.165 Der Autor sozialkritischer Romane hatte mittlerweile versucht, sich zu arrangieren. Nach dem Erscheinen von Wolf unter Wölfen, seinem dritten großen Zeitbild aus den Jahren der Weimarer Republik, wurde er kurzfristig für den nationalsozialistischen Film hofiert: Daß er mit dem Eisernen Gustav (1938) sich den an ihn als begabten Schriftsteller gerichteten Forderungen nahezu angepasst hatte, wird Claassen und Goverts bekannt gewesen sein. Mit den Veröffentlichungen der Jahre 1938 und 1939 jedenfalls hatte sich Fallada zum routinierten – und erfolgreichen – Autor idyllischer, zu Herzen gehender Familiengeschichten entwickelt.166 Die Chance auf Übernahme dieses Autors mußte Claassen und Goverts willkommen sein: vor allem als mögliche Erweiterung des Gesamtprogramms des HGV hin zur gehobenen Unterhaltungsliteratur für ein größeres Publikum. Als Lampe den Verlegern

161 Claassen an Hering, 13.3.1940. 162 U. a. von der DVA: »[...] es täte mir leid, wenn’s denen gelänge« schrieb Hering an Claassen. »Der Roman paßte so wunderbar in ›unseren Verein‹.« (7.2.1941) 163 Hering an Goverts, 11.2.1941. 164 Hans Fallada (d. i. Rudolf Ditzen, 1893 – 1947) erreichte mit seinen Romanen »Bauern, Bonzen und Bomben« (1931), »Kleiner Mann – was nun?« (1932), »Wer einmal aus dem Blechnapf frißt« (1934), »Wolf unter Wölfen« (1937) und »Der eiserne Gustav« (1938) ein Millionenpublikum. 165 Aus der Liste »Anregungen Friedo Lampe« geht hervor, daß sich die Verleger im Oktober 1939 erstmals an den Autor gewandt haben. – Ernst Rowohlt hatte im Januar 1939 Deutschland verlassen; sein Verlag war vom 1.1.1939 an eine Tochtergesellschaft der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart geworden, Geschäftsführer wurde Heinrich Maria Ledig [-Rowohlt]. Vgl. Pinthus: Ernst Rowohlt und sein Verlag. In: Rowohlt-Almanach, S. 31. 166 Hans Fallada: Geschichten aus der Murkelei (1938); Fallada: Himmel, wir erben ein Schloß (1939). – Vgl. dazu: Liersch: Hans Fallada, S. 302 – 316.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren im Sommer 1940 »streng vertraulich«167 von Falladas Absicht erzählte, von Rowohlt wegzugehen, bezog Goverts – offensichtlich allzu kurzschlüssig – dies sofort auf seinen Verlag und äußerte sich »recht angetan von der Idee, daß Fallada mit seinem nächsten großen Buch«168 zu ihnen kommen wolle. Erneut war im November 1943 von einer möglichen Übernahme dieses Autors die Rede, als Lampe »im Vertrauen« mitteilte, dass der Rowohlt Verlag in die DVA übergehe und dadurch einige Autoren, »vor allem Fallada, nicht mehr tragbar«169 seien. Im Falle Fallada mögen, neben den mehr als komplizierten persönlichen Verhältnissen, in denen der sucht- und nervenkranke Autor lebte, auch politische Hemmungen der Verleger eine Rolle gespielt haben, sich intensiver um die Übernahme zu bemühen. In beiden Fällen – bei Hesse wie bei Fallada – hätten allerdings die Verleger, wenn sie sich überhaupt hätten realistische Chancen ausrechnen wollen, den von ihren Mittelsmännern umworbenen Autoren gegenüber gewinnender auftreten müssen.

Abwerbungen Besonders Claassen legte bei der Suche nach neuen deutschen Autoren für den Verlag großen Wert darauf, den Eindruck gar nicht erst aufkommen zu lassen, sie würden versuchen, anderen Verlagen – praktisch handelte es sich seit der Emigration Cassirers ausschließlich um Suhrkamp und Rowohlt – Autoren abzuwerben. Die Korrespondenz besonders mit Lampe vermittelt den Eindruck, daß der HGV in dieser Hinsicht in besonderem Maße von dem intensiven Kontakt mit dem ehemaligen Rowohlt-Lektor Friedo Lampe profitierte. Claassen war bewußt, daß z. B. Ilse Molzahn allein deshalb ihre Verlagsbeziehungen zu Rowohlt lösen wollte,170 weil ihr erster Roman aufgrund der schwierigen politischen Situation des Verlags nicht genügend hatte betreut werden können.171 Mißstimmigkeiten im Verhältnis zu Rowohlt ergaben sich daraus offensichtlich nicht. Als allerdings der erste Roman Hedwig Rohdes im HGV172 zeitgleich mit der Veröffentlichung eines Novellenbandes dieser Autorin bei S. Fischer herauskommen sollte, war Claassen dies besonders unangenehm, und er bat die Autorin inständig, mit Suhrkamp zu sprechen, damit dieser nicht den Eindruck gewänne, Claassen würde ihm »einen Autor wegschnappen«173. De facto profitierten Claassen und Goverts in den Kriegsjahren somit von der politisch bedrängten Situation der beiden älteren liberalen Verlage. Diese Zwangssituation

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167 Lampe an Claassen und Goverts, 29.6.1940. – Vermutlich hingen die Überlegungen Falladas mit der Einberufung Ledigs zusammen und der Einsetzung des dem Verlag oktroyierten zweiten Geschäftsführers, dem SA-Führer Franz Moraller. 168 Goverts an Lampe, 18.7.1940. 169 Lampe an Goverts, 16.11.1943. »Wenn Sie Interesse daran haben, müßten Sie schnell handeln.« 170 Rowohlt hatte die Option auf ihr schließlich im HGV erschienenes Buch besessen. 171 Molzahn an Claassen, 18.2.1941: »[...] daß z. B. das Buch ›Nymphen und Hirten tanzen nicht mehr‹ ein Versager war, lag ausschließlich am Verlag und der damals bereits einsetzenden unhaltbaren Situation dieses Verlages.« 172 Hedwig Rohde: Frühling im Oktober (1941). (Nr. 44) 173 Claassen an Hedwig Rohde, 21.1.1941.

4.2 Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie« wurde allerdings in der Korrespondenz mit den umworbenen Autoren vonseiten der Verleger niemals deutlich benannt. Als Heinrich Jacobi Claassen im Herbst 1941 schrieb, daß auch Suhrkamp großes Interesse an seinem Romanmanuskript habe,174 versicherte Claassen, es tue ihm leid, daß er mit diesem Verleger, mit dem er befreundet sei, immer wieder kollidiere, und er argumentierte so, als bestünde zwischen den Verlagen immer noch ein freier Wettbewerb mit gleichen Ausgangsbedingungen: Für ihren Verlag könne er, »außer dem Anspruch auf hohes Niveau und die bisher bewiesene gute Lancierung von Autoren dieses Schlages, auch noch auf die Spezialeignung für Ihr Reeder-Thema hinweisen. Ein Hamburger Verlag ist dafür irgendwie prädestiniert.«175 Mögliche negative Außenwirkungen eines als Abwerbung interpretierbaren Verlagswechsels waren zu vermeiden; besonders dem Propagandaministerium gegenüber mußte auf jeden Fall der Eindruck gewahrt bleiben, daß die Autoren freiwillig und unbeeinflußt von seinem Werben zu ihm kamen. Es sei »heute vom Propagandaministerium den deutschen Verlagen quasi als Kameradschaftspflicht während des Krieges auferlegt worden, keinesfalls in fremden Gewässern zu fischen«, erläuterte Claassen in einem Brief an Edschmid die offiziellen Rahmenvorgaben. »Ich glaube dergleichen ohnehin nie getan zu haben.« Ganz anders sei es, »wenn der Autor aus berechtigten Gründen von sich aus diesen Entschluß faßt. Dagegen ist auch unter heutigen Umständen nichts einzuwenden.«176 Im Fall des Societäts-Verlags fühlte sich Claassen als früherer literarischer Leiter allerdings doch »zu einer ganz besonderen Loyalität verpflichtet«177. Als Kasimir Edschmid, an dessen Entwicklung zum erfolgreichen Reiseschriftsteller Claassen während seiner Jahre im Societäts-Verlag wesentlichen Anteil hatte, von sich aus großes Interesse bekundete, zum H. Goverts Verlag zu wechseln, versicherte ihm Claassen zwar, daß er ihn sehr gern übernehmen würde; gleichzeitig aber begründete er seine Zurückhaltung mit seinem »verlegerischen Reinlichkeitsgefühl«178.

174 Heinrich Jacobi: Der Großmast (1943). (Nr. 56) – Er bietet anhand der Geschichte einer Reederfamilie, mit einer willensstarken Frau als Protagonistin, das festgefügte Lebensbild des ökonomisch aufstrebenden Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg. 175 Claassen an Jacobi, 10.10.1941. 176 Claassen an Edschmid, 8.11.1941. – Vgl. dazu: Vertrauliche Mitteilungen der Fachschaft Verlag, Nr. 10 vom 30.4.1941, »Betr.: Pflicht der Kameradschaft«, S. 2. Der Leiter der Fachschaft Verlag, Karl Baur, hatte es hier als »standeswidrig« bezeichnet, ohne ausdrückliche Zustimmung des Originalverlegers die Herausgabe von Büchern anzustreben, die dieser aufgrund möglicher Einschränkungen in der Herstellung nicht nachdrucken könne. Von jedem Angehörigen der Fachschaft werde erwartet, »daß er mit dem Beispiel unbedingter Kameradschaft« vorangehe. Er, Baur, werde »unnachsichtig aus allen Fällen, wo gegen dieses selbstverständliche Gebot des Anstandes verstoßen wird, die gegebenen Folgerungen ziehen müssen.« 177 Claassen an Edschmid, 24.10.1941. 178 Claassen an Edschmid, 8.11.1941. »Ich kenne in dieser Frage überhaupt nur e i n e Hemmung: ich möchte unbedingt den Eindruck vermeiden, als ob ich Sie von meinem früheren Verlage weggelotst hätte.« Sicher begreife Edschmid, daß er gerade in seinem Fall, »da Sie ja quasi die wichtigste Säule des Societäts-Verlages sind, besonders vorsichtig verfahren müssen.«

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren

Wachsende Distanz zu einzelnen Publikationen Aus der intensiven Suche nach einem »dicken Unterhaltungsroman« resultierte auch die Annahme des Romans Töchter der Erde von Ilse Molzahn.179 An den lektoratsinternen Diskussionen über dieses Manuskript läßt sich exemplarisch die zunehmende innere Distanz besonders Claassens einzelnen geförderten Autoren bzw. ihren Werken gegenüber verfolgen. De facto kam diese Bereitschaft, von dem intern immer wieder eingeforderten wie in der Werbung behaupteten »Niveau« der Goverts-Veröffentlichungen abzurücken, nicht nur einem pragmatischen Rückzug gleich. Sie war der Tribut, den die Verleger für die Chance zahlten, neben ihrem amerikanischen Bestseller überhaupt noch Romane mit Breitenwirkung veröffentlichen zu können. Das Verlagsgutachten Heinrich Landahls war vernichtend ausgefallen: Er kritisiert eine »Überfülle episodischen Details«, eine »leider übertriebene, mystische Beseelung der Natur« und die »weltanschaulichen Thesen«, die die Erzählung belasteten. Die »zahllosen Vergleiche aus der erotischen Sphäre« empfand er ebenso wie die das Buch durchziehenden »Geburts- und Fruchtbarkeitsthemen« als »peinlich« und »unschön«. Auch der sprachlichen Darstellung konnte er keinen positiven Aspekt abgewinnen; sie schwanke »zwischen höchster Beschwingtheit und billiger Abgenutztheit«.180 Friedo Lampes Einschätzung des Manuskripts war zunächst bedeutend positiver. Für ihn hatte das Ganze »etwas Mitreißendes, Beschwingtes und Strömendes. Es gibt sicherlich bei uns nicht viele Frauen, die so frei, rücksichtslos und fest zupackend erzählen können wie Frau Molzahn.«181 Auch er allerdings sah Schwächen: Manches müsse »vielleicht gekürzt werden, manches allzu Ekstatische gedämpft, manche stilistische Unschönheit ausgemerzt werden.«. Im Ganzen allerdings war sein Eindruck »doch sehr positiv. Ich denke, da es Ihnen doch so sehr an Romanen fehlt, sollten Sie diese Sache unbedingt machen.«182 Seine Bereitschaft, in Zusammenarbeit mit der Autorin die stilistische Überarbeitung zu übernehmen,183 gab schließlich den Ausschlag für die Annahme des Manuskripts. Immerhin erklärten sich die Verleger im März 1940 bereit, der Autorin für ein Jahr ein monatliches Fixum von 300 RM zu zahlen: eine Summe, die über das im Verlag Übliche hinausging und darauf schließen läßt, daß die Verleger von Anfang an mit einem Verkaufserfolg rechneten.

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179 Ilse Molzahn: Töchter der Erde (1941). (Nr.43) – Der Roman erzählt das Schicksal von vier Frauen einer Familie, von der Urgroßmutter bis zur Enkelin. 180 Heinrich Landahl: Gutachten Ilse Molzahn, Töchter der Erde (30.1.1940). 181 Lampe an Claassen und Goverts 16.1.1940. 182 Lampe an Claassen und Goverts, 16.1.1940. Nach der Lektüre des zweiten Teils allerdings gab auch Lampe zu, sein Eindruck sei »etwas zwiespältig. Es sind sehr schöne Stellen da, aber manchmal kommt Frau Molzahn doch allzu sehr ins Schwärmen und in allzu gesteigerte Rhetorik.« (Lampe an Claassen, 29.6.1940) 183 So Lampe an Goverts, 26.2.1940.

4.2 Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie«

Abb. 8: Anzeige des H. Goverts Verlags aus Börsenblatt 108 (1941) 223, S. 2963

Nach der herben Kritik auch Herings, der das Manuskript für einen Vorabdruck bei der Kölnischen Zeitung abgelehnt hatte,184 bat Goverts Friedo Lampe, bei der Überarbeitung des Ganzen »in den Dämpfungen und Streichungen energisch«185 zu sein – was allerdings bei der selbstbewußten Haltung der Autorin nicht einfach war. Ihr Roman suche »bewußt eine neue Form«186, verkündete sie im Sommer 1940 ihren Verlegern und beschrieb ihr Werk als »Tanzroman«187. Ihre poetischen Vorstellungen formulierte Ilse Molzahn in Abgrenzung von Horst Lange: »Die schöne Form wird ihm alles sein. Mich interessiert die Form weniger. Mir kommt es zunächst darauf an, das im Menschen mehr und mehr absterbende Gefühl zu stärken und zu heben. Ihm die Spiegelseite des Lebens zu zeigen, das Richtige, das Ethische.«188 Tatsächlich stellten sich Autorin und Verleger mit diesem Roman in die Tradition einer Unterhaltungsliteratur für Frauen, basierend auf vagen Vorstellungen von »Erbauung« der Leserinnen. Das Selbstbild Ilse Molzahns kam weitgehend mit dem Frauenbild des Nationalsozialismus zur Deckung; vor

184 »Aufgefallen ist mir eine gewisse Histerie [sic] des Tones, ferner eine für mein Gefühl typisch weibliche Ungegenständlichkeit: es wird zu viel gedacht und gefühlt und zu wenig beschrieben.« (Hering an Claassen, 1.7.1940) 185 Goverts an Lampe, 5.7.1940. 186 Molzahn an Goverts (o. D). 187 Molzahn an Goverts, 25.7.1940. 188 Molzahn an Claassen, 10.9.1940. – Diese Zuschreibung weicht allerdings von der Selbsteinschätzung Langes erheblich ab.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren allem in ihrer Mystifizierung des »schöpferischen Vorgangs« identifizierte sie sich mit der Rolle, die der zeitgenössischen Frau als Dichterin zugewiesen war.189 Der Roman erschien im Frühjahr 1941 in einer für den Verlag erstaunlich hohen Startauflage von 12.000 Exemplaren und erreichte bis zum Kriegsende eine Gesamtauflage von über 53.000. Claassens Einschätzung des Buches wird in einem Brief an seine Frau deutlich, in dem er seine Enttäuschung und Distanz gegenüber dem gesamten von Lampe redigierten Manuskript ausdrückte: »Es ist leider nicht das geworden, was ich nach dem ersten Teil hoffte. Der zweite Teil ist leider ›Kitsch‹, wie ich ihn nicht gern vertrete, aber da ist nichts mehr zu machen.«190 Angekündigt als Werk einer »Dichterin von erstaunlicher Erzählergabe, deren deutende Kraft noch aus den Tagen zu stammen scheint, als der Menschen Tun im Guten wie im Bösen groß und einfach war«191, wurde der Roman in den Buchbesprechungen vor allem als »durchaus weibliches Werk« gelobt, das »anderes auszusagen weiß als Männerwerke«192. In der Kölnischen Zeitung wurden die Töchter der Erde in den Zusammenhang eines »bedeutende[n] Anteil[s] weiblichen Schaffens an unserer Dichtung« gestellt, dessen künstlerischer Aussage »als sozusagen authentisch eine erhöhte psychologische Bedeutung« zukomme.193 Daß Claassen grundsätzlich mit seinen Autoren die Manuskripte kritisch durchging, entsprach seiner Grundauffassung vom Verlegerberuf. Nach der endgültigen Überarbeitung hatte er sich in den ersten Verlagsjahren dennoch stets mit Buch und Autor identifiziert und sich besonders Dritten gegenüber grundsätzlich hinter die Veröffentlichungen des HGV gestellt. In den Kriegsjahren aber, und mit zunehmender Tendenz in der zweiten Hälfte des Krieges, änderte sich dies. Immer häufiger finden sich in der Korrespondenz mit den Autoren kritische Äußerungen Claassens über einzelne Bücher, die auf eine wachsende innere Distanz hindeuten. Schon seine erste Reaktion auf das Romanmanuskript Das Lorbeerufer194 von Emil Barth sprengte das bisher übliche Maß an Kritik – wenn es auch noch eine Angelegenheit zwischen Verleger und Autor blieb. In einem fünfseitigen Brief führte Claassen

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189 Im Frühjahr 1942 kritisierte Ilse Molzahn an Editha Klipsteins »Zuschauer« die »Prätension«, die sie »für eine gestaltende Frau als gefährlich« empfand: »Denn, sagen wir es aufrichtig (wenigstens ist das meine aufrichtige Meinung) Frauen sind da um Kinder zu kriegen und einen Mann zu lieben, sind sie aber ›entartet‹ (ich bin es ja schließlich auch) dann geht das Schöpferische nur bei allergrößter Demut vor sich, oder aber es fehlt eben jenes ›Ewig Weibliche, das uns hinanzieht‹.« (Molzahn an Claassen, 18.5.1942). – Vgl. zum Selbstverständnis einer großen Zahl zeitgenössischer Autorinnen als Dichterinnen mit besonderer »Mission«, das dem Frauenbild des Nationalsozialismus entsprach: Decken: Emanzipation auf Abwegen, bes. S. 182 – 193. 190 Claassen an Hilde Claassen, 18.9.1940. 191 Börsenblatt 108 (1941) 223, S. 2963; gleichlautend im Klappentext. 192 Eva Maria Seeringen, in: Die Literatur, 44 (1942), S. 161. 193 Als das Besondere an diesem »Erziehungs- und Bildungsroman« erschien dem Rezensenten, daß er »auf einer recht genau gearbeiteten erbbiologischen Grundlage aufgebaut« sei. Als »handlungsführend und schicksalsbestimmend« allerdings erkannte er »allemal die [...] sittliche Entscheidung dieser Frauen«. (H. W. Keim, in: Kölnische Zeitung vom 1.2.1942) 194 Barth: Das Lorbeerufer. Roman (1942). (Nr. 46). – Erzählt wird die Geschichte einer jungen Frau, Diana, die die Tragödie der mythischen Sappho erlebt: die unerfüllte Liebe zu einem jungen Griechen. Um ihn zu retten, nimmt sie den Opfertod auf sich.

4.2 Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie« eine Vielzahl von Beispielen an, die beim Leser das Gefühl hinterließen, daß »der Ton allein die Sprache geformt« habe, und hielt dem Autor wiederholt vor, der »Vorwurf des Manirierten«195 liege nahe. Dennoch nahm Claassen das Manuskript an, nicht zuletzt deshalb, weil er Barth als fest zum Verlag zugehörig ansah. Er veröffentlichte auch, trotz grundsätzlicher Kritik an der Art der Darstellung, das Sachbuch des Zoologen Richard Gerlach,196 der damit neu als Autor gewonnen wurde. Seiner Frau gegenüber gestand er ein, mit dem Buch »nur bedingt glücklich« zu sein: Der »Charme des Liebhabers, der über ausgebreitete Kenntnisse« verfüge, verbinde sich »mit dem Improvisierten des Dilettanten«197. Kitsch, Manierismus und Dilettantismus – das waren schwerwiegende Einwände, die sich kaum noch mit dem in früheren Jahren bei Kritik von außen des öfteren vorgebrachten Hinweis rechtfertigen ließen, sie wollten eine Begabung fördern, von der sie sich noch Vollkommeneres versprächen. Als deutliches Indiz für Claassens zunehmende Distanz gegenüber einzelnen vom Verlag herausgegebenen Büchern ist zu werten, daß er an gute und kritische Freunde wie Sternberger oder auch Hering bestimmte Bücher gar nicht mehr schickte. Im Sommer 1944 monierte Sternberger, ihm seien auf der Bestelliste des Verlags verschiedene Titel »doch vollkommen neu – sogar einige Autorennamen, wie z. B. Nisser und Glahn«198. Als Hering sich ebenfalls beklagte, keinen Überblick mehr über die Gesamtproduktion des Verlags zu haben, antwortete Claassen mit beschwichtigendem Unterton: »Sie tun sehr Recht, sich nach den Goverts-Büchern zu erkunden. Der finnische Kriegsroman hätte Sie bestimmt nicht interessiert, ich habe ihn an niemanden mir Nahestehenden gesandt. Er ist ein interessantes Dokument, aber nicht mehr.«199 Noch deutlicher drückte Claassen seine innere Distanz gerade diesem ausländischen Kriegsbuch gegenüber in einem Brief an Barth aus: »Wir waren uns bewußt, daß mit Nissers ›Blut und Schnee‹ literarisch kein neuer Weg beschritten wird. Wir haben auch nicht die Absicht, dieses Buch länger als seine natürliche Aktualität reicht am Leben zu erhalten.«200 Daß solchen abwehrenden Äußerungen Claassens über eine größere Anzahl von ihm verlegter Werke auch zumindest wohlwollende oder sogar enthusiastische Einschätzungen201 gegenüberstanden, ändert nichts an dem Gesamteindruck, daß sich im 195 196 197 198

Claassen an Barth, 10.7.1941. Richard Gerlach: Die Gefiederten. Eine Galerie quicker Vögel (1942/1943). (Nr. 55) Claassen an Hilde Claassen, 12.11.1941. Sternberger an Claassen, 25.7.1944 (In Büchern denken, S. 491). – Vgl. Peter Nisser: Blut und Schnee. Winterkrieg in Finnland (1943/1944). (Nr. 66); Thomas Glahn: Haussprüche (1940). (Nr. 33) – Barth gegenüber, der sich abfällig über die »Haussprüche« geäußert hatte (Barth an Claassen, 28.12.1940), verteidigte Claassen noch den Titel: »Wir hier halten das Buch für gut, wenn es auch aus einer anderen Grundvorstellung lyrischer Äußerung kommt als Ihre Gedichte.« (Claassen an Barth, 31.12.1940) 199 Claassen an Hering, 17.7.1944. 200 Claassen an Barth, 30.8.1944. 201 In einem Brief an Hering bezeichnete Claassen den Roman »Nachtwind« von Ernst Schnabel als »sehr sympathisch, aber nicht allzu bedeutend« (Claassen an Hering, 4.8.1941). – Vgl. Ernst Schnabel: Nachtwind. Roman (1942). (Nr. 50) – Mit Lampes schriftstellerischer Entwicklung in den Kriegsjahren erklärte er sich »durchaus einverstanden. Ich finde, er ist viel freier und weltoffener geworden.« (25.5.1940 an Hering).

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren Verlauf der Kriegsjahre bei der Auswahl der Manuskripte wesentliche Änderungen vollzogen. Lampes pragmatische Erkenntnis, mit ironischem Unterton vorgebracht, schließlich brauche man in einem Verlag »ja auch etwas durchschnittlichere Dinge«202, wurde nicht generell zur Maxime erhoben. Die Änderungen im Lektorat betrafen die Gewichtungen. Die Vermutung liegt nahe, daß sich in den Kriegsjahren in zunehmendem Maße Goverts’ Einfluß in den Lektoratsentscheidungen durchzusetzen begann: Auch in den Fällen, in denen Claassen sich sehr skeptisch äußerte, fand Goverts noch grundsätzlich positive oder gar euphorische Worte.203 Beide aber sahen die Verlagsarbeit in den Kriegsjahren und die damit verbundenen praktischen Entscheidungen zunehmend auch unter taktischen Gesichtspunkten.

4.2.2 Bausteine eines Restprogramms: Die Bewahrung tradierter Werte durch Literatur Während Claassen in den Anfangsjahren stets auf hohes darstellerisches Niveau und auf Originalität in Anlage und Stil eines Romans beharrt hatte, konnte nun allein die Behandlung eines bestimmten Themas den Ausschlag für die Annahme eines Manuskripts geben und die Verleger über manche konzeptionellen und stilistischen Mängel hinwegsehen lassen. »Die Zeit bedrängt ja alle alten europäischen Themen, sie haben eigentlich alle an Intensität gewonnen«204, schrieb Claassen im Frühjahr 1941 an Rudolf Bach und deutete damit den Traditionshorizont an, der ihm in zunehmendem Maße zur Orientierung diente.

Antike Mythen Dazu gehörte vor allem, in viel stärkerem Maße noch als in den Vorkriegsjahren, die Rückwendung zur Antike und zu den alten Mythen. Als Emil Barth im Frühjahr 1939 von den Erfahrungen einer Sizilienreise berichtete, zeigte sich der Verleger »überzeugt, daß diese Reise auch für Ihr geistiges Dasein eine Etappe bedeutet, die Erfüllung und Sichtbarmachung von Möglichkeiten, die allen deutschen Künstlern von Rang wichtig geworden sind.«205 So stand es für ihn außer Frage, daß er den literarischen Ertrag dieser Reise, die Neuerzählung der tragischen Geschichte der Sappho in Barths Lorbeerufer, veröffentlichen würde. »Die Sphäre meiner neuen Erzählung [...] ist eine zeitlos erhöhte und lyrisch-tragische, ihr Element ist eine sagenhaft mythische, waltend in einem entrückten Raum«206, charakterisierte der Autor sein neues Werk. Mit der in

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202 Lampe an Goverts, 13.12.1939. 203 Er stehe weiterhin ganz zu dem Roman Ilse Molzahns, beteuerte er z. B. in einem Brief an Lampe, da er die Autorin »für eine wirklich bedeutende Dichterin halte«. (Goverts an Lampe, 17.7.1940) 204 Claassen an Bach, 5.5.1941. 205 Claassen an Barth, 11.5.1939. – Rudolf Bach versicherte er, in Erinnerung an eine eigene frühere Sizilienreise, solch eine Reise gehöre »zu den stärksten und schönsten Eindrücken, die man als geistiger Europäer haben kann.« (Claassen an Bach, 30.3.1939) 206 Barth an Claassen, 14.7.1941.

4.2 Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie« diesem Roman enfalteten Thematik des Selbstopfers stand Barth unter den zeitgenössischen Autoren nicht allein; sie war gerade unter den nichtnationalsozialistischen Schriftstellern verbreitet.207 Daß Claasen und Goverts diese Hinwendung zu antiken Stoffen und mythischen Deutungsmustern begrüßten und unterstützten, zeigt auch ihre Veröffentlichung der Nachdichtung Griechischer Mythen208 von Marie Luise Kaschnitz. In allgemeinen Erörterungen mit den Autoren beharrte Claassen allerdings auf einer »originären Aneignung« dieses Bildungserbes und bewahrte sich eine gewisse Skepsis vor stereotypen, idealisierenden Rückwendungen, wie sie in einer größeren Anzahl von Reiseberichten in den vierziger Jahren gang und gäbe waren. In den Diskussionen mit Rudolf Bach formulierte Claassen seinen Anspruch an ein solches Thema. Es komme ihm darauf an, die »höhere Aktualität« der alten europäischen Themen »mit festem Griff wahrzunehmen«209. Praktisch aber hatte er gar nicht genügend Auswahl, um den eigenen Ansprüchen genügen zu können. Das christliche Mittelalter, das Herta Snell210 in ihrem Roman zum Zeithintergrund gewählt hatte, gehörte ohne Frage auch zu diesem von Claassen geschätzten »europäischen Themenhorizont«. Als Lampe »entschieden zur Ablehnung«211 riet, weil ihn weder Inhalt noch Sprache überzeugten, verteidigte Claassen ihre positive Entscheidung mit dem Hinweis auf die Atmosphäre und das gewissermaßen exklusive Thema des Buches. Er finde es »im Atmosphärischen sehr ausgewogen und schön.«212 Vor allem Thema und Zeithintergrund gaben demnach den Ausschlag für die Annahme des kleinen Romans und ließen die Verleger über darstellerische Mängel hinwegsehen.

Die schwierige Position des Christentums Gerade am Beispiel dezidiert christlicher Thematik, die für die Verleger selbstverständlich in den abendländischen Traditionszusammenhang hineingehörte, lassen sich die von außen vorgegebenen Begrenzungen verdeutlichen, die Claassen und Goverts in ihrer Interpretation des noch Wagbaren immer wieder zu Modifikationen und damit zu ängstlichem Reagieren nötigten. Hatten die Verleger in den Vorkriegsjahren mit Büchern wie den historischen Romanen Peter Abälard und Rom gibt, Rom nimmt gezeigt, daß für sie das Christentum in seiner geschichtlichen Bedeutung für die europäische Kultur von großer Wichtigkeit war und dabei auch katholische Zielgruppen angesprochen, so wurde die Thematik, entsprechend dem massiven Vorgehen des NS-Staates gegen die Kirchen und dem Versuch, christliche Themen in konfessionelle Verlage abzudrängen,213 zunehmend 207 208 209 210

Vgl. Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 24f. Marie Luise Kaschnitz: Griechische Mythen (1943/1944). (Nr. 64) Claassen an Bach, 5.5.1941. Herta Snell: Abenteuer in Kyparissia (1941). (Nr. 45) – Protagonist des Romans ist ein fränkischer Kreuzritter, mit dessen Ankunft in einem kleinen Ort auf der Peloponnes griechische Traditionen, byzantinische Kultur und mittelalterliches Vasallentum aufeinanderstoßen. 211 Lampe an Claassen, 22.4.1940. 212 Claassen an Lampe, 30.4.1940. »In der Handlungsführung ist es noch unbeholfen, im dichterischen Ausdruck nicht präzis und durchgeformt genug. Wohltuend finde ich, daß es sich von der Dutzendware schon thematisch so weit entfernt.« 213 Vgl. Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 250 – 254.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren prekär. Mit äußerster Vorsicht versuchten sie auszuloten, was, ohne Schaden für sie selbst, von den Überwachungsstellen voraussichtlich noch akzeptiert würde. Claassens Einwände in Briefen an Emil Barth zeigen, wie subtil in seinen Augen das Problem der Darstellung der Rolle des Christentums auch in literarischen Werken war. Vorsichtig versuchte er, seiner Ansicht nach extremen Betrachtungen entgegenzusteuern. Im Januar 1939 hatte Claassen angesichts einzelner Passagen des Wandelstern »rein taktisches Bedenken« geäußert, ob es richtig sei, die »zu Grunde gehende kirchliche Kultur gegenüber kapitalistischer Expansion [...] zu glorifizieren«214. Nachträglich fühlten sich Verleger wie Autor in ihren Befürchtungen bestätigt. Die »leicht katholisierenden Tendenzen«, die das Propagandaministerium und das Amt Rosenberg dem Roman dann in der Tat vorgeworfen hatten,215 sahen sie als Grund nicht nur für wiederholte Verzögerungen bei den Neuauflagen; auch die Verhinderung der Verleihung des Immermann-Preises 1940 an den Autor erklärten sie in diesem Kontext.216 An der Linie, die Rolle des Christentums zumindest ausgewogen zu würdigen, wollten die Verleger aber allemal festhalten. Als Barth in seinem Roman Lorbeerufer Christentum und Antike als polare Gegensätze entwickelte, bemängelte Claassen an dem Manuskript, »daß das Christentum gegenüber den heidnischen Elementen nur wie eine eifernde und ausschließlich um ihr eigenes Terrain bemühte Institution«217 handele. 1942 aber waren die Grenzen des verlegerischen Engagements in Bezug auf das Thema Katholizismus schon so eng gezogen, daß Claassen glaubte, der von ihm geschätzten Wissenschaftlerin Irene Behn218 eine Absage erteilen zu müssen. Auf einen Essayband über verschiedene ausländische dem Katholizismus nahestehende Schriftsteller, u. a. Chesterton und Hopkins, wollte er doch lieber verzichten. Es sei ihm deutlich geworden, »daß eine Veröffentlichung heute als ein so betontes Bekenntnis zum Katholizismus aufgefaßt werden muß, daß unbedingt mit einer Gegenwirkung zu rechnen ist«219. Bei Kösel oder Herder möge das als selbstverständlicher Ausdruck einer stets bekundeten Haltung eventuell anders sein; bei ihnen jedoch hätte die Veröffentlichung »etwas betont Ungewöhnliches« und werde darum »quasi zum Politikum«220. Die Überzeugung, sich politisch in keiner Hinsicht exponieren zu dürfen, dominierte letzt-

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214 Claassen an Barth, 25.1.1939. 215 So Goverts an Barth, 5.4.1944. 216 Barth berichtete Claassen in einem Brief vom 28.12.1940, daß mit dem Hinweis auf die »Katholizität« dieses Buches trotz einstimmigen Vorschlags des Komitees des ImmermannLiteraturpreises er diesen Preis nicht bekommen habe, auf wiederholten Einspruch des Amtes Rosenberg hin. Der Preis wurde 1940 nicht vergeben. 217 Claassen an Barth, 4.8.1941. 218 Die Bonner Wissenschaftlerin arbeitete seit 1936 an einem historischen Roman über die Königin Christine von Schweden, der im HGV herauskommen sollte, aber nicht fertig wurde. 219 Claassen an Behn, 23.3.1942. – Bereits in der »Anordnung zum Schutz der verantwortlichen Persönlichkeit im Buchhandel, veröffentlicht als Amtlichen Bekanntmachung Nr. 133 vom 31.3.1939« (vgl. Handbuch der Reichsschrifttumskammer, S. 97 –105), hatte es unter § 6 geheißen: »Unternehmen, die sich in der Hauptsache in den Dienst eines bestimmten, nicht Gedankengut der Gesamtheit des deutschen Volkes bildenden Weltanschauung, eines religiösen Bekenntnisses oder einer ihren Zwecken dienenden Einrichtung stellen, müssen diese Zielsetzung in ihrer Firma eindeutig und für jeden erkennbar zum Ausdruck bringen.« (S. 98f.) 220 Claassen an Behn, 23.3.1942.

4.2 Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie« endlich stets die Auswahl. Innerhalb der Belletristik wie auch im wissenschaftlichen Programm hatte diese Maxime bereits in den ersten Jahren der Verlagsarbeit eine stärkere Gewichtung dezidiert christlicher Thematik verhindert. In den Kriegsjahren geriet dieser Bereich nahezu vollständig aus dem Blick.

Das geplante Goethe-Buch Demgegenüber war die deutsche Klassik – vom Bildungsbürgertum von jeher als Höhepunkt deutscher Geistesgeschichte angesehen und in der Verehrung ihrer Protagonisten idealistisch überhöht – nicht von vornherein ein verfängliches Thema, wenn auch die nationalsozialistische Propaganda gerade diese Epoche für ihre Zwecke zu vereinnahmen suchte, mit den »Großdeutschen Weimarer Dichtertreffen« eine wohlkalkulierte Selbstdarstellung betrieb, den jungen Schiller und Hölderlin als heroische Verhaltensmuster pries und sie für die eigene geistige Ahnenschaft zu okkupieren suchte.221 An der Intensität, mit der Claassen sich um ein schon im Sommer 1935 mit Rudolf Bach222 verabredetes Goethe-Buch bemühte, dem Autor jahrelang – wenn schließlich auch mit großem Widerstreben – Vorschüsse zahlte und immer wieder sein starkes Interesse bekundete, läßt sich erkennen, wie wichtig ihm ein solches Buch über den als Repräsentanten eines klassischen, humanen Lebensgefühls verehrten Goethe war. Der Anspruch war denkbar hoch: »[...] zumindest für eine Dekade«223 sollte in Claassens Augen dieses Buch das Goethe-Bild bestimmen, »ein Herzstück des Verlags«224 sollte es werden. Daß der Autor mit seiner Gesamtdarstellung des Goetheschen Lebens – »das Phänomen Goethe in seiner Ganzheit«225 – nicht zurande kam, enttäuschte Claassen sehr.226 Um so begeisterter reagierte er auf einen neuen Plan Bachs im Sommer 1941, eine »alt-neue Lektüre des ›Faust‹, gemischt aus alter Erfahrung, viel Erinnerung und neuer Unbefangenheit«227 zu beschreiben. Der schriftliche Gedankenaustausch zwischen Claassen und dem Autor über diesen Plan, über die schließlich beabsichtigte Pointierung auf »die Pole Chaos und Form« als »Menschheits- und Weltproblem«,228 verdeutlicht, was sich Claassen, intellektuell wie atmosphärisch, während der Kriegsjahre von diesem Buch versprach.229 Nach der Lektüre der ersten dreißig von Bach abgelieferten Seiten schrieb Claassen emphatisch, das »Brio der Sprache« vermittele »anstrengungslos die gegenwärtige Erschütterung und damit die höhere Aktualität des Themas«. »Nach Kenntnis dieser Sei221 Vgl. Klassiker in finsteren Zeiten 1933 –1945. 222 Rudolf Bach (1901 – 1957), Dramaturg in Hannover, Düsseldorf und Berlin. 1938 war bei Duncker & Humblot sein Standardwerk »Tragik und Größe der deutschen Romantik« erschienen. 223 Claassen an Bach, 30.3.1939. 224 Claassen an Bach, 4.4.1939. 225 Bach an Claassen, 1.6.1941 (In Büchern denken, S. 36) – Hervorheb. im Original gesperrt. 226 Er werde »dem Goethe-Buch gegenüber jetzt Skeptiker und Fatalist werden«. – »Ich bewege mich bei unserer Korrespondenz so wie das Goethesche Maultier im Nebel.« (Claassen an Bach, 24.9.1940) 227 Bach an Claassen, 1.6.1941. 228 Claassen an Bach, 2.7.1941 (In Büchern denken, S. 36). 229 Claassen an Bach, 23.6.1941.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren ten« sei sein »Wunsch, dieses Buch in dieser Zeit abgeschlossen und gedruckt zu sehen, nur verstärkt worden«230. Wenige Monate später formulierte er seine Erwartungen noch deutlicher: Das Buch könne »heute im Kriege eine große Funktion in Heimat und Front erfüllen«; »gerade mit diesem Buch« würde Barth »heute vielen Menschen und besonders Soldaten Entscheidendes geben können.«231 Den hohen und immer wieder neu formulierten Anspruch, dem zeitgenössischen Leser die Person Goethes als Orientierung anzubieten, nicht allein mit Blick auf den »Bereich des Schönen«, sondern vor allem auf seine Fähigkeit, die Widersprüchlichkeit des Welterlebens in seiner Person zu harmonisieren,232 hat Bach nicht einlösen können; das Buch wurde nie abgeschlossen.233 Diese Besinnung auf Werthaltungen, die als Grundlage der abendländischen Kultur angesehen wurden und die es in den Augen der Verleger erst recht in den Kriegsjahren zu bewahren galt, trat als Motiv für die Auswahl immer mehr in den Vordergrund. Im Verlauf des Krieges wurden die Orientierungen zunehmend auch an »Gegenwelten« verdeutlicht: an menschlichem Verhalten in relativ kleinem, abgeschlossenen sozialen Rahmen, auch aus der Position von Außenseitern der Gesellschaft. Dies ist als weiteres Indiz für das Bemühen um Distanz zur Gegenwart zu sehen. Diese Gegenwelten sollten als Orientierungspole für den Leser dienen, als Erinnerung an Traditionen und moralische Grundüberzeugungen, die die Verleger als unverzichtbar ansahen: sei es als Mahnung, Trost oder Zuflucht, Vergewisserung oder Selbstbehauptung für den Leser.

»Glück mit Tieren« – Gegenwelt und moralischer Anspruch Durchaus als Vorbild dienen sollte auch das humane Verhalten den anvertrauten Geschöpfen gegenüber, das Walter Opitz in seiner kleinen Chronik Glück mit Tieren234 beschrieb: das Leben eines Blinden mit seinen Tieren – in einer »Welt für sich«. In einem Entwurf für den Klappentext, der in dieser Form nicht übernommen wurde, wurde der Allgemeinanspruch der moralisch-ethischen Grundhaltung noch sehr deutlich ausgesprochen: Der kleine Band werde »dem Leser, dem Freund der Bücher und der Weltbetrachtung im allgemeinen« eine »Fülle wertvoller und nachhaltiger Anregungen«235 bringen. Im Klappentext selbst ist das Buch charakterisiert als »Geschichte einer sehr verantwortlichen, geistigen und moralischen Beziehung zu Geschöpfen, die ihrer Natur nach auf die Liebe und Fürsorge des Menschen angewiesen sind«. Von »Ehrfurcht [...], die jeder Kreatur gebührt«, von »sittlicher Verpflichtung« und »Ver-

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230 Claassen an Bach, 14.2.1942. 231 Claassen an Bach, 22.6.1942. 232 Im November 1939 legte Claassen Wert darauf, daß auch »andere Züge Goethes« als sein Erlebnis der Antike und der italienisch-griechischen Landschaft zu Wort kämen, »vor allem seine merkwürdige Beziehung zum Dämonischen und zum Todesproblem.« (Claassen an Bach, 13.11.1939) 233 Posthum erschien: Rudolf Bach: Leben mit Goethe. Gesammelte Essays/Faust-Tagebuch. Hrsg. v. Thea Bach. München: Hanser 1960. 234 Walter Opitz: Glück mit Tieren (1940). (Nr. 37) 235 Ms. Klappentext Walter Opitz, Glück mit Tieren [Entwurf] (Cl.A./Opitz).

4.2 Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie« antwortung«236 ist dabei die Rede. Die Botschaft des Buches wurde in einzelnen Rezensionen durchaus verstanden. Franz Hammer betonte in der Literatur die »humane Gesinnung und Ehrfurcht vor dem Geschöpf im Tier« und beschrieb die Gegenwelt, die ein solches Buch für den zeitgenössischen Leser bot, erstaunlich offen als Zuflucht aus der Gegenwart: Gern werde der Leser, »wenn ihn zuweilen das ›menschliche Treiben‹ anzuwidern beginnen sollte, Zuflucht bei Opitz und seinen Tieren suchen.«237 Die in vielen Veröffentlichungen des H. Goverts Verlags enthaltenen »Gegenwelten« sind nicht notwendig verknüpft mit einer als vorbildlich dargestellten menschlichen Haltung. In der Zusammenfassung seines Tierbuches Die Gefiederten. Eine Galerie quicker Vögel beschreibt Richard Gerlach den Lebensbereich der Tiere selbst als »Gegenwelt für uns«: »Obwohl sie die Landschaft mit uns teilen, unterliegen sie doch nicht unseren Notwendigkeiten.«238 Die Präsentation dieses Buches durch den Verlag im Börsenblatt Ende März 1943 macht deutlich, daß sogar ein Sachbuch über Vögel zum Projektionsfeld für ungestillte Sehnsüchte werden konnte: Ob der Autor, Wissenschaftler und Dichter in einem, »uns von dem Wunder des Vogelzugs berichtet oder lebendige Porträts der einzelnen Arten gibt, immer vermittelt er uns zugleich den Zauber dieser leichteren Wesen, die in unser erdhaft gebundenes Dasein den Glanz der Weite bringen«239.

Die Position des Zuschauers Das Charakteristische des 1941 erschienenen Romans Der Zuschauer von Editha Klipstein,240 den Claassen und Goverts sehr hoch schätzten,241 liegt weniger in der Handlung begründet als in der eigentümlichen Präsentation der Geschehnisse anhand der Tagebuchaufzeichnungen eines Zuschauers, »dessen kluge Gedanken«, wie es im Klappentext heißt, »alle Zeichen äußeren Geschehens in ihren eigentlichen Sinn übertragen«242. Die sensiblen Besprechungen Dolf Sternbergers in der Frankfurter Zeitung und Wolfgang Müllers in der Neuen Rundschau stellten diese Zuschauerposition – als Rolle der Distanz par excellence – in den Vordergrund. Die Erzählerperspektive des genauen Zuschauers bewirke auch beim Leser keine Einfühlung, sondern eine eigenartige Distanz,243 beschrieb Sternberger seinen Leseeindruck. Die eigentümliche Suggestion, die »Konstruktion und Methode dieses Romans« auf den Leser ausübten, lag für Sternberger in der sehr genauen Beobachtung des Zuschauers, der voller Milde und tiefer Toleranz urteile, selbst dort, wo er besorgt oder streng ablehne. Für den Leser erscheine der glückliche Ausgang des Romans »als das Werk eben seines seltsam leise lenkenden 236 237 238 239 240 241

Klappentext Walter Opitz, Glück mit Tieren. Franz Hammer, in: Die Literatur, 42 (1940), S. 393. Richard Gerlach: Die Gefiederten. Eine Galerie quicker Vögel (1942/1943). (Nr. 55), S. 231. Börsenblatt 110 (1943) 76, S. 444. Editha Klipstein: Der Zuschauer (1941). (Nr. 42) So Claassen an Hering, 4.8.1941. Auch Goverts lobte das »wirklich bedeutende neue Buch« (an Hering, 15.8.1941). 242 Klipstein: Der Zuschauer, Klappentext. 243 Vgl. Dolf Sternberger: Zur Konstruktion des Romans – Editha Klipstein: Der Zuschauer. In: Frankfurter Zeitung, 86 (1942) 187, S. 1.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren Zuschauens, der Autorität seiner alles begleitenden, betrachtenden und lenkenden Augen.«244 Auf dieses Bild vom »geistigen Menschen« als dem eigentlich Handelnden, der sich aufgrund seiner ungetrübten Urteilskraft seine individuelle Freiheit bewahre, spielte auch Wolfgang Müller in der Neuen Rundschau an, wenn er vom »Zuschauer und der Wirklichkeit, die kein Gegensatz sind«, sprach und die »lächelnde Erfahrung« als eine bisher noch nicht genauer bestimmte Form der Ironie zu fassen suchte: »Die Ironie war immer ein Mittel, der Wirklichkeit Herr zu werden und die persönliche Freiheit zu behaupten.« In seiner Besprechung kam Müller zu dem Schluß, man werde »diesem ungewöhnlichen Buch wohl am gerechtesten, wenn man es als Anweisung nimmt, nicht zu leben [...], sondern zu sehen.«245 Diese Haltung eines distanzierten Beobachters, von stoischer Gelassenheit geprägt, der ein tief moralisch fundiertes individuelles Urteilsvermögen zu bewahren versteht, war während der Jahre der Diktatur keine singuläre Erscheinung, sondern unter den Bildungsbürgern, die sich als »Geistige« verstanden, eine verbreitete und zum Teil sogar programmatisch vertretene Position. Als individuelle Form des »Standhaltens« wurde sie interpretiert als die einem geistigen Menschen gemäße und würdige Haltung; als solche war sie durchaus auch als Vorbild für andere gemeint. Beispielhaft zeigt dies die Aufsatzfolge des Verlegers Peter Suhrkamp in der Neuen Rundschau von Sommer 1942 bis zum Winter 1943 u. d. T. Der Zuschauer bzw. Tagebuch des Zuschauers,246 die er mit einem beziehungsreichen Zitat von Joseph Addison aus der Moralischen Wochenschrift The Spectator247 überschrieb. »[...] ich schaute nur hin zu diesen bemerkenswerten Leuten wie zu einem Theaterstück, für das ich einen teuren Platz bezahlt und daher als Zuschauer nicht ganz versagen durfte.«248 Wenn in der Bücherkunde vom Juli 1942 der Klipstein-Roman mit Hinweis auf die programmatische Bedeutung des Zuschauers als dem »ewigen Gegentypus des Handelnden« und den »erkünstelten und leicht snobistischen Stil« verrissen wurde, so macht dies deutlich, daß die darin vertretene Haltung der Distanz von parteioffizieller Seite durchaus als Verweigerung erkannt wurde. Verurteilt wurde die vorgebliche »Grundhaltung einer müden und doch anmaßend überheblichen Resignation«: »Wenn

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244 Sternberger: Zur Konstruktion des Romans, S. 1. 245 Wolfgang Müller: Der Zuschauer und die Wirklichkeit. In: Die Neue Rundschau, 54 (1943), S. 132. 246 Peter Suhrkamp: Der Zuschauer. In: Neue Rundschau, 53 (1942) 7, bis 54 (1943) 6. 247 Suhrkamp: Der Zuschauer. In: Neue Rundschau, 53 (1942) 7, S. 325: » ... wo ich nur einen Haufen Leute beisammen sehe, da misch ich mich darunter, jedoch meinen Mund tu ich sonst nicht auf, als wenn ich in meinem Kreis bin. – Dergestalt lebe ich in der Welt mehr als ein Zuschauer denn als ein Mitbürger. – Joseph Addison, The Spectator.« 248 Suhrkamp: Der Zuschauer, S. 325. – Vgl. zu den Suhrkamp-Beiträgen in der »Neuen Rundschau« Falk Schwarz: Literarisches Zeitgespräch im Dritten Reich, sowie Schwarz: Die gelenkte Literatur, S. 78f. – Die von Schwarz zunächst vertretene These, bei den von Suhrkamp beschriebenen Personen handele es sich nicht um eindeutig bestimmbare Menschen aus seinem Freundeskreis, ist in dieser absoluten Form sicherlich nicht zu halten: Jedes Detail in der Beschreibung der älteren Dame ab Folge IV (Neue Rundschau, 53 (1942) 9, S. 424) trifft auf die Autorin Editha Klipstein zu, die Suhrkamp auf Claassens Empfehlung hin kennengelernt hatte.

4.2 Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie« wir dieses Buch ablehnen, so stellen wir weder seine schriftstellerische Gekonntheit noch die Richtigkeit mancher Menschenbeobachtung oder die Geistreichigkeit seiner aphoristischen Reflexionen in Frage. Wir wehren uns jedoch gegen eine Geisteshaltung, die Nichtigkeiten in eitler Selbstbespiegelung vorträgt und den Blick für die wahrhaft entscheidenden Dinge trübt.«249 Trotz dieser Ablehnung wurden 1942 noch eine zweite und eine dritte Auflage genehmigt.

4.2.3 Ambivalente Distanz: Gerhard F. Herings Briefsammlung »Der deutsche Jüngling« Am Beispiel des von Gerhard F. Hering 1940 herausgegebenen Briefbandes Der deutsche Jüngling250 wird erkennbar, wie schmal die Gratwanderung zwischen angestrebter Distanz zum Regime und unfreiwilliger Unterstützung werden konnte, wenn man sich auf die Tradition des deutschen Geistes berief und den Jüngling, in Claassens Augen »in der Tat ein uralter deutscher Prototyp«251, als »Urbild jeder neuen Wirklichkeit unseres Volkes«252 zum Ideal stilisierte. Im Januar 1939 hatte Hering Claassen die Herausgabe einer solchen Sammlung vorgeschlagen, die in loser historischer Abfolge von Johann Christian Günther, Herder, Mozart, Schiller, den Brüdern Humboldt, Hegel, Hölderlin und Schlegel über Clausewitz, Moltke und Bismarck bis zu Max Weber und Trakl reichte und mit Briefen unbekannter gefallener Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg enden sollte. Ein einleitender Essay von fünfzig Seiten war geplant: »Die ungeheure Aktualität eines solchen Bandes läge auf der Hand«253, begründete Hering seinen Plan, von dessen Durchführung Claassen sich zehn Monate später in einem Brief an Hilde Claassen begeistert zeigte. Das Briefbuch werde »großartig«. Er sei »sonst nicht allzu sehr für solche Sammlungen, diese aber ist geschlossen und eine Fundgrube unbekannter, großartiger Dokumente.«254 Die Auswahl einer reinen »Typologie des deutschen Jünglings in Selbstzeugnissen«255 erforderte in der zwölf Monate dauernden Vorbereitung des Manuskripts allerhand Rücksichtnahmen. Die »tränenreichen Jünglinge der Gleim-Epoche« z. B. wollte Claassen gern »gelichtet«256 haben. Jene Dokumente sollten entfernt werden, präzisierte der Verlagsmitarbeiter Gollub schließlich, »die in gewissem Sinne anstößig« seien; er sei »nicht überzeugt« davon, daß in jedem Fall »eine reine Freundschaftsidealität«257 dahinterstehe. Hofmannsthal erschien wegen seiner jüdischen Herkunft bedenklich: »Von der Veröffentlichung eines Hofmannsthal-Briefes rät man mir ab. Persönlich ist 249 Die Bücherkunde, 9 (1942), S. 224. 250 Gerhard F. Hering (Hrsg.): Der deutsche Jüngling. Selbstzeugnisse aus drei Jahrhunderten (1940). (Nr. 35) 251 Claassen an Hering, 21.1.1939 (In Büchern denken, S. 196). 252 Hering: Der deutsche Jüngling, Vowort, S. XI. 253 Hering an Claassen, 18.1.1939 (In Büchern denken, S. 195). 254 Claassen an Hilde Claassen, 26.11.1939. 255 Hering an Claassen, 18.1.1939 (In Büchern denken, S. 195). 256 Claassen an Hering, 16.1.1940 (In Büchern denken, S. 201). 257 Gollub an Hering, 20.1.1940.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren mir das schmerzlich, da ich ihn als unbedingt dazugehörig empfinde«258, bedauerte Claassen. Bei Otto Braun, einem Kriegsfreiwilligen des Ersten Weltkriegs, kamen Hering zunächst Bedenken wegen seines sozialdemokratischen Elternhauses. Nur »Idioten« könnten die Aufnahme beanstanden. »Um aber nicht das leiseste Ärgernis zu geben«259, habe er Hinweise auf das Elternpaar vermieden. Gerade am Beispiel dieses jungen Soldaten wird die Widersprüchlichkeit der NSLiteraturpolitik augenfällig.260 Von Otto Braun ist die Episode überliefert, daß er mit Zitaten aus der Ilias und mit Hölderlin-Versen seine Kameraden dazu brachte, ihren Ekel zu überwinden und schon in Verwesung übergegangene Gefallene zu bergen und zu beerdigen. Einerseits wurde dieses Verhalten von dem NS-Lyriker Eberhard Wolfgang Möller in einem Gedicht als mythisches Vorbild beschworen261 und noch 1944 von Walter Bauer in seinen Tagebuchblättern aus dem Osten mit Namen zitiert,262 andererseits wurden die hinterlassenen Aufzeichnungen Brauns in den Kriegsjahren in separaten Listen unter der Überschrift »Jüdische Literatur« aufgeführt. Claassen wollte in dieser Hinsicht im Januar 1940 jedenfalls sichergehen. »Sind Sie sicher, daß sich unter den ganzen, nunmehr aufgenommenen Namen, besonders unter denen an letzter Stelle, kein Nichtarier befindet? Wir dürfen das Buch durch einen Lapsus in dieser Richtung nicht gefährden.«263 Tatsächlich mußte Otto Braun schließlich »leider ausfallen«. Hering hatte versucht, sich an offizieller Stelle abzusichern; schließlich meldete er den Verlegern »den Bescheid des Propagandaministeriums, daß der Vater Jude war und er ›unerwünscht‹ sei.«264 Der Herausgeber habe die Auswahl »aus einem riesigen Material mit großem Takt und Geschick durchgeführt«265, faßte Claassen das Ergebnis zusammen. Vor dem Hintergrund solcher Ausgrenzungen, zu denen der Herausgeber wie die Verleger sich aus Vorsicht genötigt fühlten, erklärt sich Claassens Bemühen wenigstens um eine originelle, neuartige Auswahl für den Schluß des Bandes. Während Goverts sich bereits »in hohem Maße von der ausgezeichneten Zusammenstellung [...] angetan«266 zeigte, versuchte Claassen noch in den letzten Wochen, bevor das Manuskript in Satz ging, für den Schluß etwas »Abgelegeneres und dabei ebenso Schlüssiges«267 zu finden wie die in der bekannten Sammlung Kriegsbriefe gefallener Studenten268 von 1918 veröffentlichten Briefe. Sehr gern hätte er den Band mit noch unedierten Briefen von Franz Marc, August Macke oder am liebsten Norbert von Freiligraths, den George-Jünger und

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258 Claassen an Hering, 16.3.1939. 259 Hering an Claassen, 11.1.1940 (In Büchern denken, S. 200). 260 Vgl. Klassiker in finsteren Zeiten, darin: Meyer: Deutsche Klassiker als Führer der Dichter (Bd. II, S. 158 –181) sowie Tgahrt: Hölderlin im Tornister (Bd. II, S. 300 – 335). 261 Vgl. Meyer, S. 163 – 165 (aus: Eberhard Wolfgang Möller: Die Briefe der Gefallenen. Der fünfte Brief. In: Das innere Reich, 1 (1934/1935) 10, S. 1208). 262 Vgl. Walter Bauer: Tagebuchblätter aus dem Osten. Dessau 1944, S. 46f.; zit. bei Tgahrt, S. 301. 263 Claassen an Hering, 12.1.1940. 264 Hering an Gollub, 2.2.1940. Gollub setzte Hering davon in Kenntnis, daß nach einer internen Anweisung jüdische Herausgeber aus wissenschaftlichen Quellenverzeichnissen zu streichen seien (Gollub an Hering, 23.2.1940). 265 Claassen an Bach, 30.4.1940. 266 Goverts an Hering, 17.1.1940. 267 Claassen an Hering. 29.2.1940 (In Büchern denken, S. 203). 268 Kriegsbriefe gefallener Studenten. Hrsg. von Philipp Witkopp. München: Langen-Müller 1918.

4.2 Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie« Begründer der Hölderlin-Forschung im 20. Jahrhundert,269 abgeschlossen gesehen: »Das schiene mir der ideale Schluß des Buches.«270 Doch offensichtlich scheiterten die Versuche, über die Witwe Mackes bzw. die Schwester Freiligraths an die Rechte zur Veröffentlichung eines noch unedierten Briefs zu kommen. So waren Verleger wie Herausgeber schließlich doch auf die Witkopsche Sammlung angewiesen. Als »Briefe der Liebe, der Freundschaft, der Bewunderung, der Verachtung, der Einsamkeit und des mannhaften Entschlusses« und gleichzeitig als »eines der eindrucksvollsten Dokumente deutschen Geistes« wurde die Sammlung Gerhard F. Herings vom Verlag im Börsenblatt angezeigt. »Nirgends ist das, was als tiefste Möglichkeit in unserem Volke beschlossen liegt, lebendiger und vielgestaltiger, eindrucksvoller und überzeugender ausgesprochen, als in diesen Selbstzeugnissen. Sie wenden sich an alle, denen das Schicksal des deutschen Geistes am Herzen liegt und besonders an die jungen Deutschen, die in diesen Briefen als in einem Spiegel ihr eigenes Wesen finden werden.«271 Mit einem solchen demonstrativen Rückgriff auf die Tradition eines positiven Selbstverständnisses von der Geschichte der Deutschen als eines Volks der »Dichter und Denker« standen Claassen und Goverts und der Herausgeber Hering in diesen Jahren nicht allein. Oskar Loerke und Peter Suhrkamp planten zur selben Zeit ein zweibändiges Lesebuch mit abgeschlossenen Stücken essayistischen Charakters, das im Herbst 1940 als Deutscher Geist272 erschien. Im Klappentext war als Absicht expliziert, »ein geschlossenes Denkmal dessen zu geben, was deutscher Geist ist, monumental und sichtbar für die übrige Welt, zur Erinnerung, Anregung und Stärkung für die gegenwärtigen Deutschen«273. In ihrem Bemühen, am Beispiel des Denkens und Fühlens herausragender Vertreter deutscher Geistesgeschichte Vorbilder zu geben, sind beide Veröffentlichungen parallel zu sehen.274 Die Sammlung im H. Goverts Verlag bekam allerdings durch die Pointierung auf die Jugend als Hoffnungsträger noch eine besondere Gewichtung. Im dritten Kriegsmonat schien Claassen »dieses Buch auch für die Front sehr geeignet. Ich wüßte jedenfalls nichts Besseres und Tröstlicheres, was man jungen Deutschen in die Hand drücken könnte.«275 In dieser Spannung zwischen der idealistischen Überhöhung des Strebens junger Männer während eines Zeitraums von dreihundert Jahren deutscher Geistesgeschichte und der Trostfunktion vor dem Hintergrund des gerade begonnenen Krieges ist die Briefsammlung des HGV zu sehen.

Vgl. Klassiker in finsteren Zeiten, darin: Volke: Hölderlin-Forschung (II, S. 319 – 344). Claassen an Hering, 29.2.1940 (In Büchern denken, S. 203). Börsenblatt 107 (1940) 77, S. 1690. Deutscher Geist. Ein Lesebuch aus zwei Jahrhunderten (ohne Nennung der Herausgeber). Erster Band. Mit einer Einleitung von Oskar Loerke. – Zweiter Band. Berlin: S. Fischer 1940. 273 Klappentext, abgedruckt in: Friedrich Pfäfflin: Deutscher Geist für deutsche Menschen, in: Klassiker in finsteren Zeiten, II, S. 45. 274 Auch Walter Benjamins Briefsammlung »Deutsche Menschen«, 1936 in Luzern unter dem Pseudonym Detlef Holz erschienen, die im Deutschen Reich allerdings nicht vertrieben werden konnte, wurde im Prospekt als »Sammlung von Zeugnissen echten und tiefen deutschen Menschentums« charakterisiert; zitiert bei Pfäfflin: Deutscher Geist für deutsche Menschen, in: Klassiker in finsteren Zeiten, II, S. 38. 275 Claassen an Hering, 9.12.1939. 269 270 271 272

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren

Abb. 9: Anzeige des H. Goverts Verlags aus Börsenblatt 77 (1940)

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Die Diskussion zwischen Claassen und Hering über das Vorwort, das schließlich auf sechs Seiten knapp »nur die entscheidenden Grundhaltungen« übermittelte, macht die Schwierigkeiten deutlich, die sich vor dem Zeithintergrund des Krieges und des von den

4.2 Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie« Nationalsozialisten propagierten Heldenkultes notwendig ergaben, wollte man dem zeitgenössischen Leser eine Lese- und Interpretationshilfe geben.276 Mit dem »Duktus dieses Vorwortes« erklärte Claaassen sich zwar einverstanden, wollte aber »ein gewisses Bedenken« nicht unterdrücken; er wünschte sich »in einer kriegerischen und von Verwicklungen aller Art bedrohten Zeit wie der heutigen« im Vorwort »eine aktuellere Spannung«: »(mißverstehen Sie mich nicht, ich denke nicht im leisesten an irgendeine politische Anspielung. Im Gegenteil). Sie haben bis in die Stilistik hinein so stark das Georgische zum Ausdruck gebracht, daß das Buch einen Hauch von Antiquiertheit ganz überflüssigerweise erhält. Herbst 1914 wäre das wohl das Gemäßeste gewesen, heute wünschte ich mir etwas Vibrierenderes.«277 Herings Antwort, die sehr bestimmt ausfiel und auch Claassen davon überzeugte, am Vorwort nur noch kleinere stilistische Korrekturen vorzunehmen, legt die Vermutung nahe, daß dem Autor die Problematik einer möglichen Offenlegung seiner Auswahlkriterien bewußt war und gleichermaßen die Funktion von Stil- und Ausdrucksfragen in diesem Zusammenhang. Als seine »Grundhaltung« wollte Hering »ein bewußtes Festhalten an einer gewissen Distanz« zu erkennen geben, »sogar die des so berühmten wie berüchtigten ›Pathos der Distanz‹.«278 Die Einführung hält eine eigentümliche Spannung zwischen idealisierenden Ausdrücken, die als Schlagworte z. T. auch von der nationalsozialistischen Propaganda okkupiert waren, Passagen, die als Camouflage entzifferbar sind und im Widerspruch zur zeitgenössischen Realität stehen, und auffälligen Leerstellen. Gleichzeitig scheint im Text immer wieder – von metaphernreicher Sprache und pathetischer Stillage gehalten – als Verheißung eine »andere Wirklichkeit« auf: die Dichtung als »Seelenraum« im Sinne Georges, die als Zuflucht und Seelenhalt in der Gegenwart erscheint: »Gern richten wir in solchen Zeiten, da vieles schwankt, den Blick auf das Dauernde, uns an ihm zu sättigen und zu erheben. So öffnen uns die Jünglinge einen Seelenraum, in dem wir atmen, in ihrem Bild erschauen wir eine höchste Möglichkeit des Lebens.«279 Politische Schlagworte, von idealistischer »Tatbereitschaft« bis zum »Tod in der Schlacht«,280 sind in Herings Einführung durchaus positiv besetzt; gleichzeitig werden sie jedoch so verwandt, daß sie auch »zwischen den Zeilen« lesbar waren und somit von jenen Lesern, die dazu bereit waren, auch »gegen die Zeit« gelesen werden konnten. Zwar fehlen direkte nationalsozialistische oder gar völkische Anklänge; auch ist der Text frei von einer möglichen Idealisierung jeglichen Deutsch- oder Germanentums. Tragende Sinnschicht aber ist die Verklärung des Heldentodes als Opfertod, wenn der Tod in der Schlacht für das Vaterland als »bleibende[s] Sinnbild«281 aller vielversprechenden Eigenschaften eines jungen Menschen gerühmt wird. Einem nationalistischen Verständnis allerdings wird Einhalt geboten, wenn gleichzeitig betont wird, »jeden Volkes Heldenlied« rühme diesen Tod.282 Die Schlußzeile dieses Abschnitts ist durchaus auch als Verweigerung einer Identifikation mit den derzeitigen Kriegszielen lesbar: »Alle jene Jüng276 277 278 279 280 281 282

Claassen an Hering, 16.1.1940 (In Büchern denken, S. 201). Claassen an Hering, 16.1.1940. Hering an Claassen, 18.1.1940 (In Büchern denken, S. 202). Hering: Der deutsche Jüngling, Einführung, S. XII. Hering, S. XV. Hering, S. XV. Hering, S. XV.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren linge, die sich in Schlachten opferten, trugen im ahnenden und glaubenden Herzen ein geheimeres, vollkommeneres Vaterland, als jenes es war, dessen gegenwärtigen Bestand zu sichern sie auszogen in Kampf und Tod.«283 Die Idealisierung bestimmter der männlichen Jugend zugeschriebener Eigenschaften als anthropologische Konstanten waren ebenso wie die pathetische Stillage Voraussetzung für das Gelingen einer solchen systematisch zweideutigen Gesamtaussage. Geschrieben aus der idealistischen Grundhaltung eines sich als »Geistigen« verstehenden Bildungsbürgers heraus stellt Herings Einleitungstext ein Musterbeispiel politischer Camouflage dar. Gleichzeitig aber war dieser Briefband über den Deutschen Jüngling auch politisch vereinnahmbar. Die Tatsache, daß das Buch zwar im Jahresgutachtenanzeiger 1940 nur das Prädikat »Mit Einschränkung«, d. h. »weder positiv noch negativ«284 erhielt, bis 1943 allerdings sieben Auflagen von insgesamt 50.000. Exemplaren, einschließlich einer Wehrmachtsauflage, erreichte, macht deutlich, daß das Stilkalkül Herings, jenes »Pathos der Distanz«285, aufging. Der Text stellt in seinem diffusen Schillern zwischen verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten eine Projektionsfläche für konträre Wünsche, Vorstellungen und Ideale dar, was ihm eine eigenartige Vagheit gibt. Der Widerspruch zwischen dem Beharren auf Individualität einerseits und der grundsätzlichen Bereitschaft zu Gefolgschaft, Jüngertum und Kampf im zur »Schlacht« stilisierten Krieg andererseits, zwischen Verklärung des »Todes fürs Vaterland« und weitgehendem Fehlen nationalistischer Töne, zwischen Passagen, die als politische Aussagen lesbar sind, und dem Verweis auf die Dichtung als »eigentliche Welt«, ist aufgehoben in einer einheitlichen Terminologie und dem pathetischen Stil der Gundolfschule.286 Die Einführung Herings endet mit einem Hölderlin-Zitat. Mit ihm drückte Hering die Hoffnung aus, durch die Briefe »den Glauben daran zu stärken, es würden die deutschen Jünglinge verbürgen, daß dieses Volk werde, was Hölderlin sichtete, betete und verhieß: »Des Genius Volk vom Göttergeiste gerüstet«.«287 Vorangestellt waren der Sammlung als Motto Verse von Hölderlin, die die Jünglinge als Sinnbilder von Hoffnung, Verheißung, Zuversicht und Trost interpretierten: »Oft sagt ich Euchs: Es würde Nacht und kalt auf Erden und in Not verzehrte sich die Seele, sendeten zuzeiten nicht die guten Götter solche Jünglinge, der Menschen welkend Leben zu erfrischen. Hölderlin«288 Noch deutlicher war in einem weiteren Motto von Johann Gottfried Herder der Tradtitionshorizont signalisiert, dem Herausgeber wie Verleger sich verpflichtet fühlten und den sie den Lesern vermitteln wollten,289 nämlich »Tugend und Gesinnung der

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283 Hering, S. XV. 284 Jahresgutachtenanzeiger 1940. Hrsg. vom Amt Schrifttumspflege bei dem Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung der NSDAP, Ziffer 3440, S. 163. 285 Hering an Claassen, 18.1.1940 (In Büchern denken, S. 202). 286 Hering, der Schüler Gundolfs war, korrigierte Claassens Einschätzung, er habe in der Einleitung »bis in die Stilistik hinein« das »Georgische zum Ausdruck gebracht« (Claassen an Hering, 16.1.1940 – In Büchern denken, S. 201): Was er unter »georgisch« verstehe, werde wohl eher »gundolfisch« sein (Hering an Claassen, 18.1.1940). 287 Hering: Der deutsche Jüngling, Einführung, S. XVI. 288 Hering: Der deutsche Jüngling, Einführung, S. XVI, im Original in Versen abgesetzt. 289 »Nach dem einleitenden Aufsatz wünsche ich mir, wieder auf einer Seite für sich, das Herder-Zitat; ich fand es in einem glücklichen Augenblick in Herders Gedenkaufsatz für Win-

4.2 Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie« Alten«: »Jüngling, der du diese Briefe liesest, schöpfe Mut aus ihnen, bei vielleicht ähnlichem Schicksal. Deutschland ist lange ein Wald gewesen: aber auch im dicksten Wald findest du die rechte Himmelsgegend allein durch Tugend und Gesinnung der Alten; durch das Gefühl nämlich, zu etwas da zu sein auf der Erde, von niemand als sich abzuhängen im Begriff der wahren Ehre, des wahren Nutzens und Lebens; Macht zu haben, daß man falschen Zwecken entsage, nach Flittergolde des Ranges, Standes, der Gemächlichkeit und Wollust nicht laufe, auch arm und verachtet sein könne, wenn man nur das wird, was man werden soll, und in seinem Werk lebet. Herder«290 In zunehmenden Maße wurden im Verlauf der Kriegsjahre Klassiker-Zitate, mit Vorliebe von Hölderlin, einzelnen Veröffentlichungen des Verlags vorangestellt. Daß ihnen allgemein die Funktion einer Berufungsinstanz als Zuflucht und Identitätssicherung der imaginären Gemeinschaft der Leser zukam, die denselben Bildungshintergrund teilten, legt auch Claassens allgemeine Zustimmung nahe, die er Hering gegenüber in der ersten Planungsphase geäußert hatte: »Vor das Ganze ein schönes Motto von Hölderlin zu stellen, will mir sehr gefallen.«291

4.2.4 »Gerade nach einem Roman vom Typus des Ihren habe ich gesucht«: Die Druckgeschichte von Krämer-Badonis »Jacobs Jahr« Der Roman Jacobs Jahr des jungen, noch unbekannten Autors Rudolf Krämer292 ist der einzige der von Claassen und Goverts während der Zeit der Diktatur angenommenen literarischen Texte, der als Ganzer, und d. h. in seiner Gesamtaussage, als Camouflageliteratur und somit als Schlüsselroman lesbar ist. Die Druckgeschichte dieses nach erfolgter Herstellung schließlich aus Vorsichtserwägungen nicht ausgelieferten Romans kann als Beispiel dafür dienen, daß Claassen und Goverts letztlich doch vor einer zumindest potentiell als »List« interpretierbaren Veröffentlichung zurückschreckten. Im Oktober 1941 hatte Rudolf Krämer, der seit dem Herbst im Auftrag des Deutschen Akademischen Austauschdienstes als Universitätslektor in Nizza lebte,293 Claas-

290 291 292 293

ckelmann und wüßte mir nichts Schöneres als sinnentsprechende Überleitung zu den Briefen selbst.« (Hering an Claassen, 8.1.1940 – In Büchern denken, S. 197f.) Hering: Der deutsche Jüngling, Einführung, S. XVII. Claassen an Hering, 16.3.1939. Rudolf Krämer (1913 –1989), konservativer Publizist, machte sich als Rudolf KrämerBadoni in der Bundesrepublik einen Namen. Krämer war seit Dezember 1939 als Soldat in Frankreich. Ein Jahr später wurde er von der Deutschen Akademie in München reklamiert und als deutscher Lektor in Paris eingesetzt; seit dem 1.10.1941 war er an die Universität nach Nizza beordert. (So Maria Krämer, die Schwester Krämers, an Claassen, 31.12.1941; vgl. auch Krämer-Badoni: Zwischen allen Stühlen) – Die Korrespondenz in den von den Deutschen nicht besetzten südlichen Teil Frankreichs war »nur auf Umwegen«, d. h. über Italien, möglich. (Claassen an Krämer, 13.10.1941) – Krämer war zwar offiziell bei der Deutschen Akademie in München angestellt, gehörte aber formell dem Deutschen Institut und damit der Deutschen Botschaft in Paris an. Ab November 1941 war er über Feldpostnummer erreichbar.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren sen und Goverts seinen Roman-Erstling Jacobs Jahr294 angeboten. In dem Roman treten zwei beherrschende anonyme Figuren auf: ein »Chef«, der an der Spitze einer »Welt des Kontors« steht, und ein »Dichter«, das verehrte Idol eines Zirkels, der dem GeorgeKreis ähnelt. Beide stehen in einem nicht näher erklärten unversöhnlichen Gegensatz zueinander. Der junge Held Jacob verkehrt in beiden Kreisen und wird schließlich in die Vorbereitungen für einen »vernichtenden Schlag« gegen den Dichter hineingezogen. Nach einem kurzen, heftigen inneren Kampf entschließt sich der junge Mann, den Dichter zu warnen – im Bewußtsein, daß er sich damit den »Chef« zum Feind macht. Während der Dichter ins Exil fliehen kann, wird Jacob von den Schergen des »Chefs« umgebracht. Sein Tod wird schließlich in einer zynischen Ansprache des »Chefs« als tragisches Ende interpretiert und sein »Opfer« als Hilfe bei der Vernichtung des Gegners gewürdigt. Dem Roman sind drei Sätze aus Hölderlins Fragment Im Grund zum Empedokles vorangestellt, als durchaus eigenwillige Quintessenz dem gesamten Werk entnommen: »Das Schicksal seiner Zeit, die gewaltigen Extreme, in denen er aufwuchs, forderten nicht Gesang ... Das Schicksal seiner Zeit erforderte auch nicht eigentlich Tat ... Es erforderte ein Opfer...«295 Nicht häufig hat Claassen ein Manuskript mit solch uneingeschränkter Begeisterung entgegengenommen wie diesen Roman des jungen, ihm völlig unbekannten Autors. Es geschehe leider im Verlag »sehr selten, daß ein Fall so eindeutig wie der Ihre liegt«, schrieb Claassen drei Wochen nach Erhalt des Manuskripts begeistert an den Autor nach Nizza. Er sei »vom Thema, dem Stil, der Gesinnung Ihres Romans stark beeindruckt. Gerade nach einem Roman vom Typus des Ihren habe ich gesucht, da dieser Typus in Deutschland selten ist.«296 Im Dezember 1941 wurde der Vertrag geschlossen und nach einigen Verzögerungen wegen des aus Sicht der RSK zunächst unklaren nationalen Status des Autors297 die Herstellung in Gang gesetzt. Die Papiergenehmigung für eine erste Auflage von 5.000 Exemplaren zog sich bis zum Sommer 1942 hin; wegen der chronischen Überlastung der Druckereien in dieser Phase des Kriegs wurde das Buch erst im Dezember gedruckt und im März 1943 aufgebunden. Aus den Verlagsunterlagen geht nicht hervor, auf welche Weise den Verlegern die gleichzeitige Genehmigung für eine 2. Auflage gelungen war, die im Juni 1943 fertig wurde. Im April 1943 resümierte Claassen, die gedruckte Verkaufsauflage von 11.000 Exemplaren sei »auf wunderliche Weise zustande gekommen«. Sie sei »für den Moment als erheblich zu betrachten. Jedenfalls fürchte ich, daß uns in Zukunft dergleichen nicht mehr so leicht gelingen wird.«298

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294 Krämer: Jacobs Jahr. Roman (1943). (Nr. 57) – (Nicht ausgeliefert). 295 Krämer: Jacobs Jahr (Vorsatzblatt). – Von der 1943 fertiggestellten Ausgabe sind nur wenige Exemplare erhalten. 1978 erschien eine unveränderte Ausgabe des Romans, erweitert um ein »Vorwort 1977 zu Jacobs Jahr« des Autors (S. 5 – 8). 296 Claassen an Krämer, 6.11.1941 (In Büchern denken, S. 251). 297 Krämers Bitte an die RSK um einen Befreiungsschein wurde erst nach einem ausführlichen Briefwechsel, auf der Grundlage verschiedener Beglaubigungen und Abstammungsnachweise, stattgegeben (Befreiungsschein Nr. 8868/I 4 vom 30.1.1942). 298 Claassen an Krämer, 7.4.1943.

4.2 Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie« Lediglich 98 Exemplare allerdings versandten die Verleger im Frühjahr 1943 als Autorenbelege und als Freistücke an gute Bekannte. 12.173 Exemplare299 blieben im Auslieferungslager in Leipzig ein dreiviertel Jahr liegen. Sie verbrannten schließlich bei den Bombardements auf Leipzig Anfang Dezember 1943. Die Versuche der Verleger, im letzten Kriegsjahr noch eine Neuauflage zu erwirken, blieben ohne Erfolg. Die Gründe, die Claassen und Goverts bewogen, den Roman nicht auszuliefern, sind aus mehreren Quellenschichten zu erschließen. Das pointierte Vorwort 1977 zu »Jacobs Jahr«, von Krämer 35 Jahre später für die erste Ausgabe, die überhaupt den deutschen Buchmarkt erreichte,300 geschrieben, die ausführliche Korrespondenz zwischen 1941 und 1943 bis zu den Planungen für einen Nachdruck der verbrannten Ausgabe im letzten Kriegsjahr und die Funktionalisierung des Romans direkt nach Kriegsende belegen exemplarisch, in verschiedenen zeitgeschichtlichen, sozialen und psychischen Kontexten, ganz unterschiedliche Interpretationen der Beteiligten und damit die Realität einer äußerst differenzierten Umgangsweise mit einem Text, dessen Ambiguität, ja systematische Vagheit die Voraussetzung dafür bot.

Krämer-Badonis »Vorwort 1977 zu Jacobs Jahr« Krämer-Badoni selbst hat nachträglich die gescheiterte Veröffentlichung in den letzten Kriegsjahren als Ergebnis eines Gesprächs zwischen ihm und seinem zuvor ahnungslosen Verleger Claassen im Winter 1942 erklärt, in dem er Claassen auf die politische Brisanz des Romans hingewiesen habe. Er habe Claassen »zu seinem Mut« gratuliert, was dieser »verständnislos«301 registriert habe, und erst als Krämer ihm das Motto erklärt und die politische Interpretation seines Romans vorgeführt habe, habe Claassen verstanden: »[...] der Chef steht für das Nazireich, der Dichter für den Geist, der ins Exil geht, die Schlußfeier ist eins jener zynischen Staatsbegräbnisse.«302 Der Autor stilisiert sich in diesem Vorwort als mutigen jungen Mann, der damit gerechnet habe, im Krieg umzukommen, und vorher habe »Zeugnis ablegen«303 wollen von seiner Generation, die »auf zwei Schultern trug, sich durchmogelte, Bescheid wußte, trotz Bescheidwissen still hielt, überleben wollte auch um den Preis der Mitschuld«.304 Claassen erscheint als ahnungsloser Dummkopf, der von dem Buch lediglich zehn Seiten gelesen gehabt habe und nun, aus Ärger über die Täuschung und aus Angst vor der politischen Brisanz einer solchen Interpretation, die Auslieferung an den Buchhandel verhindert habe.305 Er müsse das Buch sofort lesen, habe der Verleger reagiert: »Bücher von Autoren, die er kenne, würden unbesehen gedruckt. Manuskripte von Unbekannten lese er an, nach zehn Seiten sehe er schon, woran er damit sei. So auch hier. Außerdem habe er ein Gutachten vorliegen, das des Lobes voll sei und den Schluß 299 Die Differenz zwischen dieser Zahl und der Verkaufsauflage von 11.000 erklärt sich aus dem üblichen Überdruck für die Werbung. 300 Rudolf Krämer-Badoni: Jacobs Jahr, Vorwort 1977, S. 5 – 8. 301 Krämer-Badoni: Vorwort 1977 zu »Jacobs Jahr«, S. 5. 302 Krämer-Badoni, S. 6. 303 Krämer-Badoni, S. 6f. 304 Krämer-Badoni, S. 6. 305 Krämer-Badoni, S. 6.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren eine ›Farce‹ nenne.«306 Er sei nach Hamburg zurückgefahren, habe das Buch gelesen – und daraufhin die Auslieferung an den Buchhandel verhindert. Dieses Vorwort stellt eine Quellenschicht ganz eigener Art dar. Erklären läßt es sich aus der nachträglichen Verbitterung des Autors darüber, daß Claassen den Roman in den Nachkriegsjahren nicht mehr herausgegeben hat.307 Die Stilisierung Claassens zum ebenso naiven wie überängstlichen Verleger und der eigenen Person zum mutigen Autor von politischer Camouflage-Literatur ist nicht nur inhaltlich überspitzt; sie ist auch in der Darstellung des zeitlichen Ablaufs der Entscheidung und damit der Fakten nicht korrekt. Der zeitgenössische Briefwechsel ergibt ein weitaus differenzierteres Bild.

»Alle Achtung! [...] ein Stück Mut« Bereits im Sommer 1942 hatte Gerhard F. Hering den Roman für einen Vorabdruck in der Kölnischen Zeitung angenommen.308 Als er dann allerdings zwei Monate später, ohne weiteren Kommentar, Claassen informierte, er wolle zuerst »den neuen Hesse«309 vorabdrucken »und dann erst ›Jacobs Jahr‹«310, scheinen Claassen zum ersten Male Bedenken gekommen zu sein, ob die Herausgabe dieses Buchs nicht doch ein Wagnis darstellen könnte. Vorsichtig fragte er im Januar 1943 an, ob der Vorabdruck noch möglich sei.311 Tatsächlich erschien der Roman erst von Februar 1943 an in der Kölnischen Zeitung im Vorabdruck,312 wenn auch mit einigen Zensureingriffen, die Krämer in einem Brief an die Verleger ironisch kommentierte.313 Es wird wohl kaum die nur vor dem Hintergrund der Prüderie der dreißiger und vierziger Jahre als solche interpretierbare Freizügigkeit in der Darstellung erotischer Passagen gewesen sein, die die Verleger im Frühjahr 1943 plötzlich zögern ließ, den Roman auszuliefern. Allerdings könnten Befürchtungen

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306 Krämer-Badoni, S. 6. 307 Trotz wiederholter Versprechen scheiterte die Neuausgabe in den ersten Nachkriegsjahren an technischen Schwierigkeiten. »Nur wenige Autoren müssen mit mir so unzufrieden sein wie Sie, und gerade Sie äußern sich so freundschaftlich, daß ich mir ganz beschämt vorkomme«, schrieb Claassen am 8.1.1948. – Erst 1951, als Claassen endgültig einen weiteren Roman von ihm abgelehnt hatte, verkehrte sich Krämer-Badonis Zuneigung in unverhohlen ausgedrückte Ablehnung, die sich in heftigen Vorwürfen ausdrückte. 308 Für 3.500 RM habe die »Kölnische Zeitung« den Vorabdruck erworben, benachrichtigte Goverts den Autor am 31.8.1942. Der »Gesamteindruck« Herings, des Feuilletonchefs der Kölnischen Zeitung, war »denkbar positiv« (Hering an Claassen, 18.8.1942). 309 Gemeint war Max René Hesse. 310 Hering an Claassen, 8.10.1942. Claassen könne das Buch ruhig erscheinen lassen, selbst wenn der Vorabdruck in der »Kölnischen Zeitung« noch nicht fertig sei. »Heute erscheint so etwas ja vorwiegend unter Ausschluß der Öffentlichkeit.« 311 Claassen an Hering, 18.1.1943. 312 Kölnische Zeitung, Nr. 70 vom 8.2. bis Nr. 174 vom 5.4.1943. 313 Krämer an Claassen, 27.4.1943: »Schmunzelnd habe ich den Zeitungsausschnitt noch einmal neben das Buch gehalten. Der ›Hering‹ hat (erlauben Sie mir diesen groben Soldatenscherz) alle Stellen, die nach Fisch schmeckten, kaltblütig gestrichen.« Bereits nach den ersten Folgen hatte er sich zu trösten versucht: »Die Zeitungspublikation ist ja nicht die endgültige literarische Verfestigung.« (Krämer an Claassen, 14.3.1943)

4.2 Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie« in dieser Hinsicht durchaus mitgespielt haben. Die Verleger werden in jenen Wochen, in denen die Schließung einer größeren Anzahl von Verlagen anstand und sie ihre Weiterarbeit für gefährdet hielten, sicher kaum geglaubt haben, sich Auseinandersetzungen auch nur mit der Kriminalpolizei leisten zu können. Auch der Publizist Karl Korn, dem Claassen im Frühjahr 1943 ein Rezensionsexemplar des Jacob zugesandt hatte, lenkte den Blick zunächst völlig begeistert auf die »kühne moralische Position«314: Erstaunt habe ihn, »zumal in Deutschland, wo man zu dergleichen ja nie den Mut hatte und hat«, der »gewisse Stendhalismus der moralischen Position. Donnerwetter kühn und in der Regie der amourösen Konnexe erstaunlich sicher!« Die »bohrende, mitleidlose Psychologie, die Gottseidank so angenehm thesenfrei« sei, habe ihm Eindruck gemacht. »Und dann kann der Mann endlich mal erotische Szenen aufschreiben, ohne sich wie ein dämlicher Postsekretär zu zieren, was im allgemeinen die Manier der deutschen Erotovegetarier ist.«315 Das Gesamturteil des Journalisten gipfelte in einem anerkennenden »alle Achtung!«, und es schien durchaus noch andere Aspekte als die genannten mit einzubeziehen: »Verlegerisch ist es, wie ich vermute, ohne im einzelnen die Situation zu kennen, ja wohl auch ein Stück Mut, einen solchen Erstling herauszubringen.«316 Die Vermutung liegt nahe, daß Claassen und Goverts dieses Lob des Journalisten, der als Leiter des Kulturressorts des Reichs »große Schwierigkeiten«317 gehabt hatte, in ihren Zweifeln bestätigte. Den Mut, von dem Korn sprach, konnten sie zu dem Zeitpunkt, als das Buch fertig vorlag, nicht mehr aufbringen. Den Ausschlag für die Entscheidung der Verleger, das Buch nicht auszuliefern, gaben in der Tat noch andere Qualitäten des Romans: nicht nur der Schluß, sondern vor allem die Mehrdeutigkeit des Textes. Der Briefwechsel zwischen Claassen und Krämer zwischen Winter 1941 und Frühjahr 1944 belegt, wie sich für den Verleger unter den sich ändernden Rahmen- und damit auch Rezeptionsbedingungen eine bestimmte Interpretation, die er vielleicht zu Anfang gar nicht als Möglichkeit sah, in den Vordergrund schob.

Wachsende Sensibilisierung: Die politische Lesart Es gibt viele Indizien dafür, daß Claassen in der zugespitzten politischen Lage des Frühjahrs 1943 den Roman anders zu lesen bereit war als zuvor, nämlich als Schlüsselroman. Erst allmählich muß er jene zunächst als sehr versteckt empfundenen zeitgeschichtlichen Anspielungen als derart offenkundig wahrgenommen haben, daß er die Veröffentlichung nicht mehr wagen zu können glaubte. Der langsame Wandel in der Interpretation des Romans und in Folge die geänderte Einschätzung der Verleger, wo 314 Im Verlagsarchiv ist die Abschrift des Urteils Karl Korns im Brief Claassens an Krämer vom 22.7.1943 erhalten. – Die Vermittlung zwischen dem HGV und Krämer war, auf Anregung des gemeinsamen Universitätslehrers Max Kommerell, über Korn erfolgt. (Vgl. Korn: Lange Lehrzeit. Ein deutsches Leben) 315 Korn an Claassen, als Abschrift im Brief Claassens an Krämer, 22.7.1943. 316 Korn an Claassen, 22.7.1943. 317 Daß Claassen über die Hintergründe von Korns Entlassung (vgl. Korn, Lange Lehrzeit, S. 273 – 277) informiert gewesen ist, geht aus dem Brief an Hering vom 9.6.1941 hervor: »Sie wissen, daß Dr. Korn große Schwierigkeiten hatte und sich im Augenblick [...] bei der Wehrmacht befindet.«

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren genau die Grenzen des noch Wagbaren zu ziehen wären, liegt in der Vagheit eben dieser Art von Camouflage-Literatur318 begründet. Sie setzt einen hohen Grad an Bereitschaft der Leser voraus, in die Vagheit des Textes solche politischen Anspielungen hineinzuprojizieren. Es gibt eine größere Anzahl von Beispielen dafür, wie sich unter der Diktatur diese politische Sensibilität immer stärker herausbildete.319 Wann genau in Claassens Gesamteinschätzung des Romans der Umschlag zu einer notwendig politischen Interpretation erfolgte, läßt sich anhand der verfügbaren Quellen nicht eindeutig beantworten. Spätestens im April 1943 allerdings, als der Autor das erste Exemplar seines Romans in Händen hielt, pointierte Krämer das EmpedoklesMotto320 in eindeutiger Weise als Interpretationshinweis für den Roman als Ganzen: »Das Hölderlinsche Motto, das Sie damals anspruchsvoll fanden, gefällt mir nicht wenig, wenn ich dadurch auch meine eigene Interpretation öffentlich festlege.«321 Bereits im Oktober 1941, noch vor Abschluß des Vertrages, hatte Krämer in zwei Briefen an Claassen eine eigene Interpretation seines Romanerstlings mitgeliefert. Bei der Übersendung des Manuskripts teilte er Claassen mit, er selbst glaube, »daß die Hauptfigur des Romans ein typisches Schicksal unserer Zeit lebt und zwischen mehreren Kräften hin- und herschwankend schließlich, fast entschlossen, diesem Hin und Her zum Opfer fällt.«322 Die beiden im Hintergrund gegeneinander stehenden Figuren seien »von einer Feindschaft beseelt, die nur von weitem erhellt aber garnicht zu begründen versucht« werde.323 »Das ist mit Absicht geschehen. Es wäre ein leiches, eine Begründung einzuführen, aber die müßte individuell sein, und ich wollte die beiden Figuren ohne jedes zufällige Motiv Feinde sein lassen. Man sieht vielleicht, […] daß die Beiden in starkem Maß symbolisch sind.«324 Aus Claassens Antwort, in der er differenziert zu dem Roman Stellung nahm, geht eindeutig hervor, daß er das Manuskript gründlich gelesen hatte.325 Sein überschwengliches Bekenntnis, er sei »vom Thema, dem Stil, der Gesinnung« des Romans »stark beeindruckt«326, legt nahe, daß er sehr wohl die Symbolik des Romans begriffen hatte. Seine Einwände gegen den Schluß und damit den Opfertod des Helden waren, wie er es gegen Ende der sich über ein halbes Jahr hinziehenden Diskussion mit dem

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318 Vgl. dazu Lämmert: Beherrschte Prosa. Poetische Lizenzen in Deutschland zwischen 1933 und 1945, sowie Schnell: Literarische Innere Emigration. 319 Vgl. Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 29 und öfter. 320 Claassen hatte in einem seiner ersten Briefe an Krämer (6.11.1941) dieses Motto lediglich als »anspruchsvoll« bezeichnet (Auslassung in: In Büchern denken, S. 252). 321 Krämer an Claassen, 27.4.1941: »Bei Leuten wie dem zweideutigen Kommerell wird das Anspruchsvolle dieses Griffes Zorn erregen.« 322 Krämer an Claassen, 1.10.1941. 323 Krämer an Claassen, 30.10.1941. – Als Quintessenz seines dichterischen Selbstverständnisses und seiner Forderungen an einen Roman formulierte er, daß dieser »mehr als nur erzählend und entwickelnd, daß er auch symbolisch sei«. (30.10.1941) 324 Krämer an Claassen, 30.10.1941 (Unterstreichungen getilgt). 325 »[...] ich schrieb Ihnen zuletzt am 13. Oktober, daß Ihr Manuskript ›Jacobs Jahr‹ eingetroffen ist. Ich habe seitdem Zeit gefunden, das Manuskript zu lesen. Es geschieht leider im Verlag sehr selten, daß ein Fall so eindeutig wie der Ihre liegt.« (Claassen an Krämer, 6.11.1941 – In Büchern denken, S. 252) 326 Claassen an Krämer, 6.11.1941.

4.2 Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie« Autor deutlich ausdrückte, »rein sachlich-künstlerischer Natur«327. Krämer verteidigte diesen Schluß zunächst als »wenn auch im besten Sinn ironische Wendung«, die ihm als »die evidenteste« erschienen sei: »Keine andere Lösung drängte sich vor in mir. Und begründend sagte ich mir nachträglich, daß diese äußerste Konsequenz auch dem zurückliegenden Leben des Helden eine ebensolche äußerste Verbindlichkeit und ebensolches Gewicht gibt. Haben Sie nicht auch denselben Eindruck, wenn man’s von dieser Seite betrachtet?«328 Offensichtlich hatte Claassen doch Bedenken, seine Einwände in extenso brieflich darzulegen. Immer wieder taucht in der Korrespondenz der Hinweis darauf auf, daß diese Frage eigentlich doch nur mündlich diskutiert werden könne.329 Die schriftlichen Zusammenfassungen blieben symptomatisch inhaltsleer.330 Im April 1942 brachte Krämer die Diskussion schließlich doch noch auf den Punkt. Er wolle vor allem gerne wissen, ob die Verleger »aus politischen Gründen Bedenken« hätten. »Vielleicht nicht, – nachdem ich die recht unerhörten Marmorklippen des Jünger habe erscheinen sehen.«331 Im selben Atemzug allerdings glaubte er Claassen gegenüber die naheliegende Schlußfolgerung weit von sich weisen zu müssen, auch er könne, so wie Jüngers Roman zwar kaum intendiert, aber tatsächlich rezipiert wurde,332 einen Schlüsselroman auf das Dritte Reich geschrieben haben: »Ich habe jedenfalls keineswegs die Absichten, in meinem Schriften heimliche oder offene Opposition zu treiben. Im Gegenteil, auf die Länge gesehen erwarte ich sehr viel von der heutigen gesellschaftlichen (oder sagen Sie: politischen) Entwicklung.«333 Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß ausgerechnet dieses Bekenntnis Krämers mit Rücksicht auf eine mögliche Zensur geschrieben worden sein soll; in allen seinen Briefen vorher und nachher hat er mit geradezu unbekümmerter Offenheit Claassen und Goverts seine Gedanken und Meinungen zur politischen Lage unterbreitet. Angesichts solcher Widersprüchlichkeit, die das Bewußtsein auch dieses Schriftstellers spiegelte, läßt sich Schäfers These von der »Allegorie eines Lebensgefühls«334, als die viele Romane dieser Jahre zu interpretieren seien, auch auf den Roman Krämers beziehen. Dies 327 Claassen an Krämer, 8.5.1942. 328 Krämer an Claassen, 18.11.1941 (In Büchern denken, S. 253). 329 So Claassen an Krämer, 9.12.1941; auch Krämer an Claassen, 3.4.1942: »Ob wir den ›Jacob‹ doch schriftlich diskutierten sollen?«; Goverts an Krämer, 15.4.1942: »Wie man hier verändern kann, läßt sich schriftlich kaum diskutieren und ist unseren Erfahrungen gemäß eigentlich nur im Gespräch eine gemeinsame Lösung zu finden [sic].« 330 »Die formale Evidenz, die ja sozusagen aus der Struktur des Buches erfolgt, vermag ich einzusehen. Wenn trotzdem ein ›Rest‹ bleibt, so wäre gemeinsam zu erkunden, ob er noch ohne harte Eingriffe in das Ganze getilgt werden kann.« (Claassen an Krämer, 9.12.1941) 331 Krämer an Claassen, 3.4.1942. 332 Vgl. dazu die Belege bei Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 29, die verdeutlichen, daß Jüngers 1942 erschienenen »Marmorklippen« entgegen dessen Intention als Widerstandsliteratur rezipiert wurden, und Schäfers zusammenfassende These, Jünger sei es »vielmehr um die Allegorie eines Lebensgefühls« gegangen. – Daß Claassen über die Schwierigkeiten bei der Veröffentlichung des Kriegstagebuchs »Straßen und Gärten« von Jünger informiert war, belegt sein Brief an Lange vom 23.1.1942: Es habe bei ihm, wie er »im Vertrauen hörte, Schwierigkeiten gemacht, die Genehmigung zu erhalten.« (In Büchern denken, S. 291) 333 Krämer an Claassen, 3.4.1942. 334 Vgl. Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 29 u. ö.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren schließt nicht aus, daß Verlegern wie Autoren die Ambiguität dieser Art von Literatur bewußt gewesen ist. Zu diesem Zeitpunkt jedenfalls wies Goverts Krämers so deutlich ausgesprochene Frage als völlig grundlos zurück: »Politische Bedenken haben wir keineswegs.«335 Ein letztes Mal begründete der Autor, weshalb er »ungern« auf die letzten drei Seiten des Jacob verzichten wolle: Opfere er den Schluß, so opfere er etwas, was ihm sehr lieb sei, »den Keim der Legendenbildung, der auf diesen drei letzten Seiten dargestellt ist. Jede der beiden Mächte beruft sich auf den zukunftskräftigen Toten. Etwas zynisch freilich ist dieser Schluß, aber nicht zynischer als alles, was ich in diesem kleinen Werkchen darstellen wollte.«336 Noch deutlicher brauchte die politische Brisanz, die in diesem Roman steckte, wohl nicht ausgesprochen zu werden.337 Und dennoch: Trotz dieser kaum noch verhüllten politischen Konnotationen des Jacob glaubten Claassen und Goverts im Sommer 1942 die Veröffentlichung in der von Krämer so hartnäckig verteidigten Fassung wagen zu können.

Die Ambiguität des Textes und die Folgen Zu einer Probe aufs Exempel kam es nicht, und es gibt auch keinerlei Zeugnisse dafür, daß einzelne Leser des Vorabdrucks in der Kölnischen Zeitung den Roman als Camouflage-Literatur interpretiert haben. Ein Jahr später, im Frühjahr 1944, hatten sich Verleger wie Autor in ihrer Interpretation des Romans so weit angenähert, daß sie die Ambiguität des Textes – als Eigenschaft des Romans und nicht nur als mögliche Autorintention – in ihrer Korrespondenz vergleichsweise unverhüllt zur Sprache brachten. Erst im März 1944 benachrichtigte Claassen den Autor von dem Verlust beider Auflagen des Jacob während der Bombardierung Leipzigs im Dezember 338 und damit auch erst von seiner Entscheidung im April 1943, den Roman nicht auszuliefern. Zwar in den Details recht vage, zum Teil geradezu gewunden, doch in der Gesamtaussage unmißverständlich rechtfertigte er sich mit dem Hinweis, sie hätten Zweifel gehabt, ob durch die Veröffentlichung sowohl Krämer wie auch ihnen »nicht Schwierigkeiten entstehen würden«. Es sei »natürlich schwer zu sagen, ob diese Zweifel zu Recht bestanden oder eher skrupulöser Natur waren. Nun sind die Ereignisse einer autonomen Entschließung in

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335 Goverts an Krämer, 15.4.1942. 336 Krämer an Goverts, 3.5.1942. – Wie nah prinzipiell in einem solchen politischen Zusammenhang selbsteingestandener Zynismus und verklärende Sinngebung beieinanderlagen, zeigt Krämers Brief vom 27.3.1942, in dem er über den »Sinn« des Sterbens so vieler Menschen im Krieg philosophierte. Es erscheine ihm vorläufig »gewiß, daß sich das Schicksal ›Jacobs‹ für viele wiederholen« werde. 337 Krämers Behauptung ex post, Claassen sei die mögliche Lesart dieses Romans als Camouflage-Literatur bis Dezember 1942 nicht klar gewesen, erweist sich als Selbststilisierung. – Vgl. Vorwort 1977 zu »Jacobs Jahr«. 338 Im Verlauf des Winters 1943/1944 war Claassen in keinem seiner zahlreichen Briefen an Krämer, der an der Ostfront in einer Sanitätskompanie eingesetzt war, auf den »Jacob« eingegangen. Bei einem geplanten Treffen auf dem Münchner Hauptbahnhof im Frühsommer 1943 hatten sie sich verpaßt: »Betrüblich ist und bleibt, daß wir uns verfehlten. Ich hätte Sie aus vielen Gründen gern persönlich gesprochen.« (Claassen an Krämer, 2.7.1943)

4.2 Das Bemühen um Beibehaltung der »inneren Linie« dem einen oder anderen Sinne zuvorgekommen.«339 Die Nachricht, daß die Verleger die Herausgabe monatelang bewußt hinausgezögert hatten, nahm Krämer erstaunlich gelassen hin; die Rechtfertigungsversuche Claassens jedenfalls akzeptierte er.340

»Bei Kriegsende immerhin aufzuweisen« Frappierend allerdings ist die Wendung, die sich am Sommer 1944 verlagsintern mit der erneuten Planung der Herausgabe dieses Romans vollzog. Bereits im Juni 1944, als Claassen sich bedankte, daß Krämer seine »traurigen Eröffnungen so freundschaftlich aufgenommen«341 hatte, erwähnte der Verleger Papieranträge für eine Neuauflage von Jacobs Jahr, auf die allerdings noch keine Reaktionen erfolgt seien. Einige Wochen später beschrieb der Autor, der das Ende des Krieges erwartete und offensichtlich zumindest für Italien mit einer russischen Besatzung rechnete,342 unverhüllt die Vorbereitungen für die Neuauflage als taktisches Kalkül – mit Blick auf die Nachkriegszeit: »Den ›Jacob‹ aber sollte man zu drucken versuchen. Er könnte bei Kriegsende einige Bedeutung gewinnen, z. B. auch für Sie und mich. Er wäre dann immerhin ›aufzuweisen‹. Was meinen Sie zu diesem Gesichtspunkt?«343 In keinem seiner Briefe nahm Claassen in der Folge direkt Bezug auf solche Erwägungen. Gleichwohl setzte er in den Monaten danach viel Mühe daran, die Neuauflage gerade dieses Buches zu forcieren. Im August 1944 versprach er, den Jacob neu zu drucken, er wolle »alles tun, um den Schaden, der mich sehr bedrückt hat, wieder gutzumachen,344 und noch Ende Dezember 1944, zu einer Zeit, in der er für andere Bücher mit keiner Papierzuteilung mehr rechnete, war, höchst sibyllinisch, von der »Wahrscheinlichkeit« die Rede, die »aktuell geworden« sei, daß Jacobs Jahr »in Bälde gedruckt« werden könne: »Ich drücke mich etwas geschraubt aus, da ich immer noch fürchte, es könnte etwas dazwischenkommen«345, entschuldigte sich Claassen. Krämer jedenfalls sprach zu beider Beruhigung die Vermutung aus, die »Bedenken«, die sie »seinerzeit« gehabt hätten, dürfe man »vielleicht fallen lassen«346. Tatsächlich muß es Claassen noch gelungen sein, an Papier heranzukommen. Allein wegen des Kohlenersparniszwangs, hieß es in einem Brief vom Ende Januar 1945, kön339 Claassen an Krämer, 17.3.1944 (Auslassung in: In Büchern denken, S. 261). 340 »Was Sie zum ›Jacob‹ sagen, ist ungefähr dasselbe, was ich schon immer dachte – ich habe auch Ihnen gegenüber keinen Hehl daraus gemacht. Trotzdem hätte ich [es] für meine Person gewagt – aber hier kann ich nur von meiner Person sprechen.« (Krämer an Claassen, 23.5.1944) – Dieses Bekenntnis deckt sich mit Krämers späterer Erinnerung an seine Motive, wie er sie im Vorwort 1977 nannte: »Diente dieses Buch dem Durchmogeln? War das nicht kalkulierter Selbstmord? Vielleicht aus Ekel vor so viel erlebter Schande?« (Vorwort 1977 zu »Jacobs Jahr«, in: Jacobs Jahr (1978), S. 6) 341 Claassen an Krämer, 17.6.1944. 342 »Über meine italienischen Eindrücke mag ich heute nichts sagen. Vielleicht dies, daß durchweg die höhere Gesellschaft resigniert den Bolschewismus erwartet (und ihm gute Seiten abzugewinnen versucht).« (Krämer an Claassen, 23.5.1944) 343 Krämer an Claassen, 11.7.1944. 344 Claassen an Krämer, 30.9.1944. 345 Claassen an Krämer, 28.12.1944. 346 Krämer an Claassen, 9.1.1945.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren ne das Buch nun doch nicht zur Druckerei.347 Daß der Druckauftrag für Jacobs Jahr, den Claassen noch nach Leipzig gegeben hatte, vor dem Hintergrund der allgemeinen Auflösungserscheinungen bereits jenseits des offiziellen Genehmigungsverfahrens erfolgte, kann nur vermutet werden. Zu einem greifbaren Erfolg führten Claassens Bemühungen jedenfalls nicht mehr.348 Innerhalb des beschriebenen Wahrnehmungswandels vor dem Hintergrund der literaturpolitischen Zuspitzung im Frühjahr 1943 ist die Entscheidung der Verleger zu sehen, den Roman zunächst nicht herauszugeben: obwohl gerade er, wie wohl kaum ein anderer, ihren eigenen Ansprüchen entsprochen haben mag. Jene »versteckte Aktualität«, die Claassen und Goverts in der Verlagskorrespondenz häufiger als Orientierungsrahmen für ihre Verlagsarbeit benannt haben, erschien ihnen in diesem Falle schließlich als um einige Grade zu leicht erkennbar. Letztlich dominierte jene Vorsicht, die die Gefahr einer Exponierung in jeglicher Hinsicht von Autoren und Verlegern möglichst gering hielt. Die Veröffentlichung des Roman-Erstlings Rudolf Krämer-Badonis fiel dieser Vorsicht zum Opfer.

»Jacob« als Entlastungszeuge Nachzutragen bleibt, in welchem Maße Krämers Roman unter den Bedingungen der alliierten Besatzung nach 1945 die Chance bot, zur politischen Entlastung des Autors herangezogen zu werden. Die Möglichkeit, Jacobs Jahr durch eine politisch schlüssige Interpretation taktisch genau so zu instrumentalisieren, wie Krämer es im Sommer 1944 bereits angekündigt hatte, wurde in der Tat genutzt. In seinem Gutachten über den politischen Gehalt des »Jacob«349, das Claassen im Oktober 1945 Krämer für sein Entnazifizierungsverfahren übersandte, hat der Verleger eine solche direkt auf den Zeithintergrund des Dritten Reichs bezogene Lesart des Romans als »fast zwingend« und von Autor wie Verlag intendiert beschrieben. Nicht nur als Dokument des weitverbreiteten Legitimationsbedürfnisses ist es interessant, sondern auch und gerade aufgrund der darin enthaltenen logischen Leerstellen und Vagheiten, die den Schwierigkeiten bei der Beschreibung einer lediglich möglichen Lesart als notwendige Interpretation entsprechen. Der Autor habe sich in dieser »Art Erziehungsroman« auf den Ausschnitt eines Jahres beschränkt, in dem er »die entscheidende Entwicklung eines heutigen jungen Menschen zwischen den geistigen und politischen Kräften der Zeit mit einer erstaunlichen Unausweichlichkeit vor Augen« geführt habe, schrieb Claassen im Oktober 1945. »Auf-

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347 Claassen an Krämer, 27.1.1945. 348 Im September 1945, noch vor der Lizenzvergabe für seinen Nachkriegsverlag, schrieb Claassen an Krämer, er habe in Leipzig noch ausreichend Papier gehabt: »[...] ich gab infolgedessen dort Auftrag, Ihr Buch ›Jacobs Jahr‹ neu zu drucken. Ob und wann das geschieht, wann ich die Auflage erhalte, steht dahin.« (Claassen an Krämer, 4.9.1945). – Jahre später resümierte Claassen den Herstellungsprozeß dieses Buches: Er habe »das große Pech gehabt, daß das Buch zweimal zu Grunde ging, einmal durch Brand, einmal nach dem Krieg durch Beschlagnahme der rohen Bogen.« (Claassen an Krämer, 19.10.1951) 349 Claassen: Gutachten über den politischen Gehalt des »Jacob«: Bemerkungen des H. Goverts Verlags zu dem von ihm veröffentlichten Roman von Rudolf Krämer »Jacobs Jahr« (20.10.1945) – Cl.A./Krämer-Badoni.

4.3 Der »europäische Horizont«: Anspruch und Widersprüche fallen mußte, daß der Roman sowohl im Aufbau wie in den Details bewußt etwa den Charakter des Schlüsselromans übernahm. Das war für die Wirkung des Buches eine gewisse Hemmung, entsprach aber bei dem heiklen Charakter des Themas genau der wirklichen politischen Situation.« In dem Buch werde »ein verschworener Kreis von Leuten« geschildert, deren »Zusammenspiel, Fassade, eigentliche Absicht, Moral fast zwingend die Vorstellung einer Art SS vermittelte. In die Schlingen dieses Kreises gerät zuerst naiv und nicht verstehend, zum Schluß aber das unheimliche Gebilde durchschauend der junge Held Jacob, der dadurch vor die Entscheidung seines Lebens gestellt wird.«350 Claassens Schilderung ihrer Motive bei der Annahme dieses Romans gibt eine Selbsteinschätzung ihrer Arbeit unter der Diktatur in nuce. Als sie sich entschlossen hätten, das Buch zu veröffentlichen, seien sie von dem Gefühl geleitet worden, »nicht nur ein ungewöhnlich begabtes Stück Prosa zu veröffentlichen, sondern auch politisch vielen Lesern, die eines solchen Anschauungsunterrichtes bedürfen, Hilfestellung zu leisten. Gerade die Neutralisierung der Sphäre, das Unausgesprochene des Gemeinten, mußte eine Wirkung im Sinne geistiger und politischer Besinnung zur Folge haben. Wir waren überzeugt, mit diesem Werk auf höherer Ebene und mit bestem Niveau ein Buch herauszugeben, das den niederziehenden, demoralisierenden Tendenzen des NaziRegimes Widerpart leistete.« Die Werbung habe daher »ausschließlich den literarischen Charakter des Buches«351 betont. Daß der Roman auf dem Buchmarkt gar nicht erschienen war, blieb in Claassens Gutachten unerwähnt. Seinen Zweck erfüllte das Schreiben allemal.352

4.3

Der »europäische Horizont«: Anspruch und Widersprüche

4.3 Der »europäische Horizont«: Anspruch und Widersprüche Die Gewichtsverschiebungen innerhalb des Gesamtprofils des Verlags in den Kriegsjahren zu Ungunsten der Übersetzungen sowohl innerhalb des belletristischen wie auch des kulturwissenschaftlichen Programms, die mit einem spürbaren Niveauverlust einhergingen, offenbarten das Scheitern des Konzepts der »Weltoffenheit«, mit dem Claassen und Goverts auch unter den Bedingungen des Krieges an einem Austausch mit den europäischen Kulturnationen festzuhalten versuchten. Weiterhin bemühten sie sich, dem deutschen Lesepublikum ausländische Bücher in Übersetzungen vorzulegen und die Werke ihrer deutschen Autoren für Übersetzungen ins Ausland zu vermitteln. Als fortschreitender Prozeß läßt sich beschreiben, wie die Verleger mit ihrem ursprünglichen Bildungskonzept angesichts der rigider werdenden literaturpolitischen Vorgaben in die Defensive gerieten. Deutlich wird dies bereits an den verlagsinternen Diskussionen um das verwirklichte Programm der Übersetzungen innerhalb der kulturgeschichtlichen 350 Claassen: Gutachten. 351 Claassen: Gutachten. 352 Laut Spruchkammerbescheid des Rheingaukreises vom 6.12.1946 wurde Krämer »in vollem Umfang« entlastet und als »Mitläufer« eingestuft. – Eine Abschrift des Gutachtens, das, ergänzt um Aussagen weiterer Zeugen, zu Krämers vollständiger Entlastung führte, ist im Cl.A. erhalten. Seine Mitgliedschaft in der NSDAP zwischen 1933 und 1945 und in der SA von 1933 – 1938 wurde als »nur nominell« gewertet.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren Sparte, das für das Selbstverständnis der Verleger von besonderer Bedeutung war. Aus den Vorworten und der Werbung wird dieses Selbstverständnis in Rückzugspositionen erkennbar. Bei der verstärkten Suche nach Übersetzungsliteratur, besonders auch und gerade für das belletristische Programm, die auch kleinere europäische Literaturen mit in den Blick geraten ließ, erwies sich das Festhalten an der Vorstellung von einem »Austausch mit dem geistigen Europa« als Illusion. Nur noch im Gefolge des Siegeszugs der Deutschen Wehrmacht hatten die Vermittlungsbemühungen um Übersetzungen der eigenen Produktion ins Ausland Chancen auf Verwirklichung.

4.3.1 »Weltoffenheit« im Krieg: Ein Bildungskonzept in der Defensive Das summarische Verbot der Veröffentlichung von Werken französischer und englischer noch lebender Autoren im Dezember 1939, das zumindest im Bereich der Belletristik zunächst vergleichsweise rigoros angewandt wurde, hatte für den H. Goverts Verlag, ebenso wie für die anderen reichsdeutschen Verlage, den Zwang zu einer einschneidenden Umorientierung bedeutet. Quantitativ betrachtet stellen die Übersetzungen, die in den Kriegsjahren als Erstauflagen im Programm Belletristik und kulturhistorisch-wissenschaftliche Werke noch erschienen, ein recht schmales Angebot dar: Es waren sechs Romane – davon je zwei aus dem Norwegischen und Italienischen und je einer aus dem Dänischen und dem Schwedischen – und vier Werke im kulturhistorischwissenschaftlichen Bereich: zwei aus dem Französischen und je eins aus dem Schwedischen und dem Italienischen. Damit verschoben sich innerhalb der ausländischen Belletristik die Gewichtungen auf die Literatur derjenigen europäischen Länder, die im Krieg auf Seiten des Deutschen Reichs standen oder früh besetzt worden waren.353 Der Trend war von den literaturpolitischen Vorgaben des Propagandaminsteriums bestimmt und der HGV teilte diese Änderung der Orientierung mit einer Vielzahl bürgerlicher Verlage. Die kulturhistorisch-wissenschaftlichen Titel signalisierten jedoch eine andere Gewichtung. Im Herbst 1940 kamen als Übersetzung aus dem Schwedischen Knut Hagbergs Carl Linnaeus und als Übertragung aus dem Französischen das Werk von Pauline de Pange über August Wilhelm Schlegel und Madame de Staël heraus;354 im Verlauf des Jahres 1943 von Louis de Broglie Ergebnisse der Neuen Physik. T. II aus dem Französischen und Massimo Bontempellis Italienischen Profile aus dem Italienischen.355 Zählt

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353 Wenn man allerdings jene Vorkriegsromane mit in den Blick nimmt, die noch in Neuauflagen erschienen – wie die beiden älteren Romane Duuns, die als »flämischer Roman« präsentierte »Frau Orpha« der Belgierin Marie Gevers und der amerikanische Klassiker »Billy Budd« sowie, bis zum Sommer 1941, Margaret Mitchells »Vom Winde verweht« – verschiebt sich das Gesamtbild, wenn auch nur geringfügig. 354 Knut Hagberg: Carl Linnaeus. Ein großes Leben aus dem Barock (1940). (Nr. 34); Pauline Gräfin de Pange: August Wilhelm Schlegel und Frau von Staël. Eine schicksalhafte Begegnung (1940). (Nr. 38) 355 Louis de Broglie: Die Elementarteilchen. Individualität und Wechselwirkung. Ergebnisse der Neuen Physik. T. II (1943). (Nr. 54); Massimo Bontempelli: Italienische Profile. Acht Reden (1943). (Nr. 53)

4.3 Der »europäische Horizont«: Anspruch und Widersprüche man des weiteren jene Vorkriegsbücher hinzu, die noch in Neuauflagen erschienen, wie die Elisabeth-Biographie des englischen Historikers John Ernest Neale und den ersten Band der Ergebnisse der Neuen Physik von Louis de Broglie, vervollständigt sich das Bild dieses Bereichs, so wie es sich dem zeitgenössischen Leser in den Kriegsjahren bot, auf insgesamt drei französische Werke, ein englisches, ein italienisches und ein schwedisches. Am ehesten noch in dieser kulturhistorisch-wissenschaftlichen Reihe war den Verlegern somit eine Fortsetzung des Vorkriegsprogramms möglich und damit ein Festhalten am eigenen Anspruch: mit wenigen als grundlegend erachteten Werken aus dem europäischen Ausland gewissermaßen Bausteine zu legen für eine umfassende Bildung, als deren Grundlage die gemeinsame europäische Kulturgeschichte angesehen wurde. Bereits zwischen 1935 und 1939 hatte ein solches Programm weder im Thematischen noch in Bezug auf die Herkunftsländer der Autoren auf Repräsentativität abzielen können; es scheint bereits in diesen ersten Verlagsjahren sich fast zufällig zusammengefügt zu haben. A priori aber war ein solches Vorhaben auf Offenheit gegenüber allen, besonders den größeren Kulturnationen Europas angewiesen. Ganz allgemein war die Diskrepanz zwischen Planung und Verwirklichung auf dem Gebiet der Übersetzungsliteratur in den Kriegsjahren besonders groß; die Zahl der tatsächlich erschienenen Bücher läßt nicht im Ansatz erahnen, wie viele vergebliche Bemühungen dahinterstanden. Gerade im Bereich der Übersetzungsliteratur erwies sich, viel deutlicher noch als im Bereich der deutschsprachigen Literatur, in welche Aporien ein Verlag verstrickt war, der ein weltoffenes Bildungsprogramm zu verwirklichen suchte. Während die Deutsche Wehrmacht gegen fast alle Länder Europas einen Krieg führte, der die politische, wirtschaftliche und kulturelle Vormachtstellung Großdeutschlands zum Ziel hatte, versuchten Claassen und Goverts einen geistigen Austausch mit verschiedenen Nationen Europas fortzusetzen, der diese politische Gegenwart weitestgehend ignorierte. Das programmatische Ziel, selbst wenn es nur noch als Konzept einer exemplarischen Stellvertretung anvisiert werden konnte, ließ sich nicht einmal im Ansatz einlösen. Worum es Claassen und Goverts nur noch gehen konnte, war, den Weg »nach Europa« offenzuhalten. Sie wollten den Anspruch auf eine exemplarische Qualität einzelner Übersetzungen verteidigen, demonstrativ wurde diesen ein Stellvertretercharakter zugewiesen; innerhalb des Verlags erschienen sie als Koordinaten in einem europäischen Bezugssystem. Gerade in der Vereinzelung der Veröffentlichungen bis 1945 scheint der programmatische Charakter dieses Bereichs auf. Unter eben diesem Blickwinkel der Weltoffenheit, der de facto nur noch ein Offenhalten unter Aufsicht und mit Zugeständnissen war, auf Kosten auch von Qualitätsansprüchen, ließ sich jedes Buch nutzen: Es widersprach in den Augen der Verleger wie vieler Leser, allein weil es als Übersetzung aus dem Ausland herauskam, dem nationalsozialistischen Wahn von einer deutschen Vorherrschaft auf allen Gebieten. Die offizielle Literaturpolitik, die die Absicht verfolgte, den deutschen Buchexport zu fördern, ließ zu diesem Zweck auch wechselseitige Kontakte zu. Die staatlichen Vorgaben und der verlegerische Anspruch, die Gemeinsamkeit der kulturellen Vergangenheit mit den europäischen Nationen zu dokumentieren, markieren das Spannungsfeld, in dem die verlagsinternen Entscheidungen fielen. Es fällt auf, daß in den Verlagsanzeigen im Börsenblatt, in denen die kulturhistorisch-wissenschaftlichen Monographien angekündigt wurden, gar nicht mehr darauf hingewiesen wurde, daß es sich um Übersetzungen handelte. Vermutlich lag dieser Selbstbeschränkung eine interne Anweisung zugrunde. Daß in der Werbung während

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren der Kriegsjahre allerdings auch auf den Begriff »Europa« verzichtet wurde, läßt sich als Indiz für das Bemühen der Verleger um Distanz zu der offiziell proklamierten EuropaIdeologie, die eine deutsche Vormachtstellung implizierte, verstehen. Den Verlegern mag die Verwendung des Wortes »Europa« als Hinweis auf einen bestimmten Bildungshorizont damit als desavouiert erschienen sein.356 Weiterhin aber, wie schon in den Jahren zuvor, waren es die den Monographien vorangestellten Vorworte, mit denen die Verleger, wenn auch bedeutend vorsichtiger, die Motivation, die sie bei der Publikation geleitet hatte, zum Ausdruck brachten. Nur noch verhalten allerdings wurde darin auf das verbindende Moment einer gemeinsamen geistesgeschichtlichen Tradition Bezug genommen: auf den wechselseitigen Einfluß in der Philosophie- und Literaturgeschichte vergangener Jahrhunderte und auf Beispiele gelebter Verständigung, die damit Vorbildcharakter gewannen. Nur noch indirekt wurde auf den geistigen Ertrag solch eines Austauschs zwischen Vertretern verschiedener Nationen hingewiesen, besonders auch im gemeinsamen Bemühen um wissenschaftliche Erkenntnis. Die Werbung setzte allerdings z. T. andere Akzente.

Knud Hagbergs »Carl Linnaeus« In der Biographie des schwedischen Naturforschers Carl Linné, verfaßt von Knut Hagberg, einem zeitgenössischen schwedischen Literaturkritiker, wurde die Motivation für die deutsche Ausgabe noch am wenigsten explizit gemacht. Im Herbst 1940 unter dem Titel Carl Linnaeus. Ein großes Leben aus dem Barock erschienen und im Börsenblatt als »Meisterbiographie des größten nordischen Naturforschers«357 annonciert, setzte dieses Buch die Reihe von Biographien bedeutender historischer Persönlichkeiten fort, wie sie mit der Knigges, Elisabeth I., August Strindbergs und des Abts Benedikt begonnen worden war. Claassen bat den Autor, den er auf seiner Reise nach Skandinavien im Januar 1940 in Stockholm persönlich kennengelernt hatte, um ein anderes Vorwort, »in dem die Bedeutung von Linnaeus für die europäische und deutsche Geistesgeschichte stärker hervorgehoben«358 werden sollte. Da von Hagberg eine solche Ergänzung seines Manuskripts nicht zu bekommen war,359 beschränkten sich die Verleger schließlich auf die Übersetzung der »Praeambel«360 des Autors. Lediglich in einem Satz wird darin die Biographie gerechtfertigt mit der »Bedeutung, die der Name Carl Linnaeus im schwedischen Volksbewußtsein und für die europäische Geistesgeschichte besitzt«361.

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356 Vgl. Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 196. 357 Börsenblatt 197 (1940) 259, S. 5343. – Aus der Anzeige geht weder hervor, daß es sich um eine Übertragung aus dem Schwedischen handelt, noch wird die Übersetzerin Thyra Dohrenburg genannt. 358 Claassen an Hagberg, 6.3.1940. 359 Hagberg an Claassen, 4.6.1940: »[...] wir sind wohl doch schon alte Freunde; Sie müssen längst im Bilde sein über meinen faulen und nachlässigen Charakter. Jedenfalls versteh ich nicht Ihre letzten Karten.« (In Büchern denken, S. 172) 360 Hagberg: Praeambel. In: Carl Linnaeus, S. 5f. 361 Hagberg: Praeambel, S. 5.

4.3 Der »europäische Horizont«: Anspruch und Widersprüche

Der Anspruch auf wissenschaftliches Niveau: »August Wilhelm Schlegel und Frau von Staël« Anders als bei dem Buch Hagbergs, dessen Rechte die Verleger bereits nach Kriegsbeginn erworben hatten, reichten die Planungen für das ebenfalls im Herbst 1940 erschienene Werk der Französin Pauline Gräfin de Pange über August Wilhelm Schlegel und Frau von Staël in die Vorkriegszeit zurück. Die umfangreiche Darstellung dieser Beziehung, im Untertitel mit romanhaftem Anklang als schicksalhafte Begegnung bezeichnet, ist eine Mischung aus Erzählung und Präsentation unveröffentlichter Briefe Schlegels. Die Ausstattung mit Stammtafeln, einem umfangreichen Personenregister und einem Literaturverzeichnis erweckte den Eindruck, auch wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen. Willy Grabert, der den Verlegern im Oktober 1938 die französische Ausgabe übersandte und ihnen gleichzeitig die Übersetzung antrug, kümmerte sich um die Verhandlungen mit dem französischen Verlag Edition Albert. Im Übersetzungsantrag an das Propagandaministerium, datiert vom 20.12.1938, hatten Claassen und Goverts ihre programmatische Entscheidung noch engagiert und vergleichsweise deutlich begründet.362 Sie entsprach in ihrer Argumentationsstrategie der seit 1938 offiziell geförderten sogenannten »Verständigungsliteratur«. Mit Nachdruck wiesen sie darauf hin, »daß hier an einem hervorragenden Beispiel gezeigt wird, wie Freundschaft zwischen zwei bedeutenden Persönlichkeiten zweier verschiedener Völker entstehen und bis zum Tode des einen Partners dauern kann, obwohl beide glühende Patrioten sind.«363 Änderungen am Originalmanuskript waren zu diesem Zeitpunkt längst zur Gewohnheit geworden; bereits in ihrem Antrag wiesen die Verleger auf ihre Bereitschaft zur freiwilligen Selbstzensur hin.364 »Die Stellen, an denen die Verfasserin im Hinblick auf die gegenwärtige Lage ein persönliches Urteil fällt, werden ausgelassen, da sie nicht zum unmittelbaren Verständnis des Buches gehören.«365 Die Genehmigung des Propagandaministeriums lag Mitte Februar 1940 vor. Es sei ihnen »nur auferlegt worden, durchgehend die Namen nichtarischer Literaturkritiker zu streichen«366, teilte Landahl dem Übersetzer lakonisch mit. 362 Der Einschätzung Graberts, daß die Verleger nicht notwendigerweise vor Vertragsabschluß um Genehmigung bitten müßten (Grabert an Claassen, 25.11.1938), hatte Claassen umgehend widersprochen: Abschlüsse mit dem Ausland seien »in jedem Fall genehmigungspflichtig« (Claassen an Grabert, 30.11.1938). Goverts informierte den Übersetzer detailliert über die neuen Vorschriften: Dem Antrag an das Propagandaministerium müßten zwei Anlagen beigefügt werden: »1. Inhaltsübersicht; 2. Begründete Stellungnahme, aus welcher die kulturpolitische Absicht des Verlags ersichtlich ist unter Berücksichtigung der Fragen, ob das Werk eine Einführung in den Lebenskreis einer anderen Nation oder eine Diskussionsgrundlage bietet, bezw. unterhaltende oder belehrende Funktion erfüllt; 3. kurze Stellungnahme zu dem ausländischen Autor unter Berücksichtigung der Frage seiner arischen Abstammung und seiner literarischen Bedeutung.« (14.12.1938). 363 HGV an RSK, 20.12.1938. (Entwurf im Cl.A.) 364 HGV an RSK, 20.12.1938. Solche möglicherweise erforderlichen Änderungen seien nur geringfügig. 365 HGV an RSK, 20.12,1938. – Am selben Tag informierte Landahl den Übersetzer, er wolle die Stellen doch wörtlich wiedergeben; in den Richtlinien des Präsidenten der RSK sei das ausdrücklich vorgeschrieben. (Landahl an Grabert, 20.12.1939) 366 Landahl an Grabert, 19.2.1940. – Alle als jüdisch geltenden Literaturhistoriker und Editoren wurden aus der Bibliographie entfernt.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren

Abb. 10: Anzeige des H. Goverts Verlags aus Börsenblatt 107 (1940) 259, S. 5342

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Die Versuche der Verleger seit März 1940, dem Werk durch das Vorwort einer wissenschaftlichen Kapazität in der Romantikforschung wie Ricarda Huch oder Richard Benz

4.3 Der »europäische Horizont«: Anspruch und Widersprüche eine größere Reputation zu geben, schlugen fehl, mit der Folge, daß die Verleger dieses Vorwort selbst schrieben.367 Claassen erläuterte ihre Beweggründe: Sie hätten es »aus der besonderen Situation des Krieges, die ein Auslieferungsverbot für deutsche Ausgaben von Büchern lebender französischer Autoren mit sich brachte, für richtig [gehalten], das Vorwort einem anderen als dem Herausgeber anzuvertrauen, um dem Buch nach außen eine weitere Stütze zu geben.«368 Sicher glaubten Claassen und Goverts, mit einem eigenen Vorwort möglichen Kritikpunkten von Vornherein begegnen zu können. Ricarda Huch, renommierte Autorin einer zweibändigen bereits um die Jahrhundertwende erschienenen Romantikstudie,369 hatte sich von Goverts’ werbenden Worten nicht beeindrucken lassen.370 Mit überschwenglichen Komplimenten hatte er sie um ein Vorwort gebeten. Die bereits 76jährige Wissenschaftlerin, die im April 1933 aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschieden war und an der Fortführung ihrer Deutschen Geschichte arbeitete,371 versagte sich jedoch einer Mitarbeit. Ihre Beschäftigung mit der Romantik liege so lange zurück, daß sie sich »ganz neu einarbeiten«372 müßte, beschied sie die Verleger. Auch der Literaturhistoriker Richard Benz, der zur jüngeren Generation der Romantikforscher in Deutschland zählte,373 verweigerte sich: vor allem wegen seiner Bedenken angesichts der seiner Meinung nach mangelnden wissenschaftlichen Fundiertheit der Ausgabe. Seine Kritik zielte nicht nur auf den Umfang der Quellenbasis374 und auf deren Qualität;375 er äußerte sich auch skeptisch hinsichtlich der »geistigen Ergiebigkeit«376 einer solchen Darstellung. Benz begründete seine Ablehnung weiterhin mit philologischen Bedenken; er könne sich damit »nicht identifizieren«. Wenige Tage nach Beginn der Westoffensive der Deutschen Wehrmacht schien in seiner Ablehnung aber auch die Skepsis gegenüber einer gleichwertigen Dar-

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Vorwort des Verlags. In: August Wilhelm Schlegel und Frau von Staël, S. 7 – 10. Claassen an Grabert, 23.1.1941. Huch: Blütezeit der Romantik (1899); Ausbreitung und Verfall der Romantik (1902). Goverts an Ricarda Huch, 20.3.1940 (Cl.A./de Pange): »Ihnen verdankt Deutschland das gültige Bild der Romantik. Sie haben uns vor Jahrzehnten eine völlig neue Einstellung zu dieser in ihrer Bedeutung für unsere Geistesgeschichte so lange verkannten Epoche gegeben, die nicht wieder zu erschüttern gewesen ist.« Vgl. Ricarda Huch. 1864 – 1947. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs (1994), bes. S. 333 – 394. Ricarda Huch an den HGV, 22.3.1940. »Ihnen verdankt Deutschland während der letzten Jahre die wichtigsten Veröffentlichungen über die Romantik.« (Goverts an Benz, 29.3.1940 – Cl.A./de Pange) – 1937 war bei Reclam Richard Benz’ Studie »Deutsche Romantik. Geschichte einer Bewegung« erschienen. So verwies er auf Joseph Körner in Prag, dem ein weiterer Fund von Briefen Schlegels in Coppet geglückt sei; sie lägen in zwei großen Bänden vor; »um der Sache willen« wolle er diesen Hinweis, wenn er auch eher ein philologisches Problem berühre, »nicht unterschlagen«. (Benz an HGV, 8.4.1940) Er äußerte die Vermutung, daß die deutschen Briefe vorher ins Französische übertragen und dann rückübersetzt worden seien (Benz an HGV, 8.4.1940). Benz an HGV, 22.4.1940. – Gleichzeitig verwies er auf eine andere wissenschaftliche Verwertung der Briefe, bei der das Gewicht auf A. W. Schlegel liege.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren stellung des Deutschen und der Französin durch: Für die Einleitung hielt er eine Interpretation des menschlichen Bildes Schlegels für unabdingbar.377 Den Nachweis der Bedeutsamkeit dieser Veröffentlichung mußten die Verleger nunmehr selbst besorgen. Bereits der Übersetzer allerdings hatte im Mai 1939 mit seiner Kritik am Original nicht zurückgehalten: Das Buch könne man wohl »halbwissenschaftlich«378 nennen; es enthalte viele Mißverständnisse, Flüchtigkeiten und Fehler. Tatsächlich scheinen Claassen und Goverts es nach den kritischen Kommentaren Richard Benz’ für ratsam gehalten zu haben, bei der Präsentation dieses Werks eine andere Akzentuierung vorzunehmen.379 Worauf es ihnen ankam, war gleich zu Beginn des vierseitigen Vorworts pointiert formuliert. Die Verbindung August Wilhelm Schlegels mit Frau von Staël stelle »eine der vielen, für beide Teile fruchtbaren Auseinandersetzungen deutschen und französischen Geistes dar«380. Das Buch biete »nicht nur einen wichtigen neuen Beitrag zur Romantik, sondern zugleich ein höchst aufschlußreiches menschliches Dokument und ein großes Zeitbild vom Kampf Europas gegen Napoleon.«381 In solcher Pointierung auf das »Menschliche« bot sich eine Rückzugsposition. In der Werbung schien von einem möglichen wissenschaftlichen Anspruch gänzlich Abstand ge nommen, wenn das Werk als »ergreifender Erlebnisbericht« und als »Roman einer Epoche«382 charakterisiert wurde. In eben solchen Kategorien wurde das Buch dann auch in verschiedenen Besprechungen gewürdigt: Es lese sich »fast wie ein fesselnder Roman«383, hieß es im Resumée einer Sammelrezension über Neue Forschung zur deutschen Romantik II: »Alles in allem: für die Auseinandersetzungen des deutschen und des französischen Geistes im 19. Jahrhundert ist diese Vermittlerrolle A.W. Schlegels in Coppet unendlich wichtig und eben deshalb diese Darstellung bedeutsam, auch wenn sie zunächst mehr das Menschliche in diesem merkwürdigen Verhältnis dokumentarisch aufklärt.«384 Der Berichterstatter in der Literatur lobte zwar den »umfangreichen und kenntnissicheren Gesamtbericht«, in den die Briefe gestellt seien, kritisierte aber gleichzeitig die Vermischung der Ansprüche, wodurch das Werk »nur bedingt als ›wissenschaftliche‹ Quelle gewertet« werden könne.385 Im Februar 1943 erschien in der amerikanischen Fachzeitschrift The Germanic Review eine Rezension des emigrierten Romanisten Oskar Seidlin.386 Zwar zeigte auch er

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377 So Benz an den HGV, 14.5.1940. 378 Grabert an Goverts, 1.5.1939. 379 Am Schluß des ausführlichen Vorworts wurde gleichwohl die wissenschaftliche Dignität und Unangreifbarkeit herausgestellt: Der »wissenschaftliche Apparat« sei »mit allen Mitteln deutscher Editionstechnik überprüft« worden, so daß dieses »bedeutsame Zeugnis deutscher Geistesgeschichte« nunmehr »in einer allen Ansprüchen genügenden Form« vorliege (Vorwort des Verlags, S. 10). 380 Vorwort des Verlags, S. 7. 381 Vorwort des Verlags, S. 10. 382 Börsenblatt 107 (1940) 259, S. 5342. 383 Karl Justus Obenauer: Neue Forschung zur deutschen Romantik II, S. 197. 384 Obenauer, S. 198. 385 Grolmann: August Wilhelm Schlegel und Frau von Staël. In: Die Literatur, 43 (1941) 2, S. 252. 386 Oskar Seidlin: Book Review Pauline de Pange. In: The Germanic Review, XVIII (1943) 1, p. 76f.

4.3 Der »europäische Horizont«: Anspruch und Widersprüche sich enttäuscht von der Quellenbasis,387 doch er lobte begeistert die äußerst lebendige biographische Darstellung, die kenntnisreiche Präsentation der Atmosphäre von Coppet und das Buch als Ganzes »as a mirror of the political life in the Napoleonic era«. Nicht nur die Übersetzung von Willy Grabert, auch die Edition war in seinen Augen hervorragend: »Edited with expert scolarship and astounding knowledge, this collection of letters cannot go unnoticed by anyone interested in German and French Romanticism or by any historian looking for material to illustrate the last years of the Naoleonic empire.«388 Seidlins Rezension, erschienen nach Kriegseintritt der USA in den Krieg, ist ein Beleg dafür, daß Veröffentlichungen im Deutschen Reich mit wissenschaftlichem Anspruch in den Kreisen der wissenschaftlichen Emigration zur Kenntnis genommen wurden.389

Broglies »Elementarteilchen« Der zweite Band der Ergebnisse der Neuen Physik des französischen Physikers Louis de Broglie, der mit der Entdeckung der Wellenmechanik einen grundlegenden Beitrag zur Atomphysik geleistet und dafür 1929 den Nobelpreis und 1938 die Planck-Medaille erhalten hatte, steht für den gelungenen Austausch wissenschaftlicher Grundlagenforschung zwischen Deutschland und Frankreich auch in den Kriegsjahren. Mit dieser Aufsatzsammlung des renommierten französischen Forschers gelang es Claassen und Goverts am überzeugendsten, ihren Anspruch auf hohes wissenschaftliches Niveau zu verwirklichen. Mit einer zweiten und dritten Auflage im Jahre 1944 brachte es dieser Titel auf insgesamt 16.000 Exemplare. Eingeleitet wurde das Buch von gleich zwei Vorworten: Das erste hatte der junge Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker, das zweite der Autor selbst für die deutsche Ausgabe verfaßt. Im Vergleich mit den Vorworten zu de Broglie’s Licht und Materie vom Frühjahr 1939, in denen die Zusammenarbeit zwischen den beiden Nationen auch und gerade auf wissenschaftlichem Gebiet beschworen worden war (vgl. Kap. 3.3.3.), erweisen sich beide als Rückzugspositionen. Weizsäcker beschränkte sich auf die Würdigung der wissenschaftlichen Leistung de Broglie’s, sprach von dem »Dank, den wir ihm schulden«, und strich die anhaltende Wirkung des im Frühjahr 1939 im HGV erschienen ersten Bandes heraus, der »mehr als fast alle anderen gleichgerichteten Versuche dazu beigetragen« habe, das Verständnis für die moderne Physik in breite Kreise zu tragen.«390 Wenn ein emphatisches Bekenntnis zur Zusammenarbeit nicht mehr möglich

387 »The collection of letters, however, does not fulfill our eager expectations. They offer little in the line of literary interest.« (Seidlin, p. 76.) 388 Seidlin, p. 77. 389 Das beschriebene Emigrantenschicksal forderte Seidlin zum Vergleich heraus: »Of course, for us who have been witnesses of a much more ruthless dictatorship, Mme. de Staël’s life hardly represents the stark tragedy of an intellectual émegré. The hardships which are played up and complained about so pointedly throughout the book seem to us rather small and bearable as compared to persecutions of intellectuals to which we have grown accustomed. But Schlegel’s letter from Bernadotte’s camp, the reports on his close participation in an observation of the Wars of Liberation, make as thrilling reading today as they must have made at the time when they were written.« (Seidlin, p. 77) 390 Vorwort C. F. v. Weizsäcker. In: de Broglie: Elementarteilchen, S. 7.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren erschien, so sind die lobenden Worte Weizsäckers in ihrer Sachlichkeit, ebenso die konsequente Aussparung aller politischen Bezüge, um so auffälliger. Broglie’s Einleitung,391 die zunächst einen Inhaltsüberblick über die verschiedenen Aufsätze bot, mündete hingegen in einen direkten Bezug auf die zeitgenössische Situation im besetzten Frankreich. Seine Einschätzung der Rolle Frankreichs »im Europa von morgen« glich in ihrem resignativen Pathos einem stolzen Abgesang auf die politische wie kulturelle Eigenständigkeit seines Landes. »Wir kennen nicht die Rolle, die Frankreich im Europa von morgen zufallen wird. Aber wir wissen, es wird sie erhobenen Hauptes auf sich nehmen müssen, getragen von der Erinnerung an seine ruhmreiche Geschichte und die großen Männer, die es im Laufe der Geschichte hervorgebracht hat, und im stolzen Bewußtsein, einen nicht abschätzbaren Beitrag zur geistigen und materiellen Zivilisation der modernen Welt geleistet zu haben.«392 In der Veröffentlichung des H. Goverts Verlags erschien dieses Vorwort gleichsam als Kapitulationserklärung eines französischen Wissenschaftlers, der damit die politische und kulturelle Neuordnung unter deutscher Regie als Faktum anerkannte.393 Immerhin als indirekter Kommentar dazu war von Weizsäckers Einleitung lesbar.

Bontempellis »Italienische Profile« Während sich die Verleger mit den drei anderen Übersetzungen ihres kulturhistorischwissenschaftlichen Programms vorbehaltlos zu identifizieren schienen, nahm die einzige Übertragung aus dem Italienischen in dieser Hinsicht eine Sonderrolle ein. Unter dem Titel Italienische Profile erschienen 1943 acht Reden des italienischen Essayisten Massimo Bontempelli, die dieser als Mitglied der Italienischen Akademie in den Jahren zwischen 1937 und 1942 »bei repräsentativen Anlässen«394 gehalten hatte. Es handelt sich um Würdigungen von Werk und Leben bedeutender Gestalten der italienischen Geistes- und Kulturgeschichte, u. a. Galilei, Leopardi, Verdi und d’Annunzio. Der Herausgeber Egon Vietta bestimmte in seinem Vorwort als »geistesgeschichtliche Technik« des Autors ein »Sichabsetzen von der Zeit, kurz gesagt: die Distanzierung«, und als geistigen Standort »eine tiefe Ehrfurcht vor dem Geist und vor der Würde des Menschen«395. Bontempellis Gedanken, so Vietta, zielten »zum europäischen Parkett«; sie kreisten um den »modernen Menschen«, den »metaphysisch bedrohten, glaubenslosen

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391 Vorwort Louis de Broglie. In: de Broglie: Die Elementarteilchen, S. 15 392 Vorwort, S. 15. 393 Eine Hoffnung auf Änderung dieser politischen Situation hatte de Broglie in vorsichtiger Metaphorik an den Schluß des Vortrags über das Leben Ampères gesetzt: »In den gegenwärtigen Zeitläuften, in denen alles die Franzosen zur Sammlung aufruft, ist es heilsam für sie, über solche Beiträge nachzusinnen. Wenn wir unsere Gedanken auf sie hinlenken, sehen wir plötzlich die großen Gestalten der glorreichen Vergangenheit Frankreichs vor uns auftauchen, als wollten sie uns zur Hoffnung auf einen neuen Frühling und zur Arbeit aufrufen.« (de Broglie: Die Elementarteilchen, S. 267) 394 Egon Vietta: Bemerkungen zum Essayisten Massimo Bontempelli. In: Bontempelli: Italienische Profile, S. 5 – 13; hier: S. 8. 395 Vietta: Bemerkungen, S. 10.

4.3 Der »europäische Horizont«: Anspruch und Widersprüche Menschen«. Es sei der »verborgene Auftrag« dieser Essays, den verschütteten »Glauben an den Menschen«396 wiederzugewinnen. Nicht erst bei einem heutigen Leser hinterläßt diese Sammlung einen zwiespältigen Eindruck. Schon während der Übertragung ins Deutsche hatte der Übersetzer Hanns Studniczka von »Pseudophilosophie«397 gesprochen, und auch Claassen räumte ein, der Text sei »ein merkwürdiges Konglomerat von klugen Feststellungen und abstrusen Mißverständnissen«398. Als auffällige Ausnahme von dem sonst stets uneingeschränkt positiven Tenor der Einleitungen zu den Büchern dieser Sparte sind Formulierungen im Vorwort Viettas zu registrieren, die die positive Würdigung der philosophischen Bemühungen Bontempellis wieder einschränkten, wenn von den »schillernden und oszillierenden Gedankenketten« die Rede ist, »die, wenn auch nicht immer überzeugend auf die Hierarchie der bleibenden Werte abgestimmt, in einer universalen Schau« verankert seien. »Mancher Vergleich überschreitet in seiner südlichen Rhetorik das rechte Maß.«399 Es steht zu vermuten, daß diese ungewöhnliche Distanzierung auf Claassens Einspruch hin zurückzuführen ist, der im November 1942 heftige Bedenken an Viettas erstem Entwurf geäußert und ihn als »allzu hymnisch«400 kritisiert hatte. Die Veröffentlichung dieses Buches mit seinen nebulösen Bemühungen um eine »metaphysische Ortsbestimmung unserer Zeitkonstellation«401 illustriert die Schwierigkeiten bei der Präsentation eines zeitgenössischen italienischen Essayisten, der im faschistischen Italien bei öffentlichen Anlässen Vorträge zur italienischen Geistesgeschichte hielt. Im Sommer 1943 lagen die Italienischen Profile zur Auslieferung bereit. Unter dem Eindruck der Landung der Alliierten auf Sizilien und Mussolinis Rücktritt und Verhaftung erfolgte die hastige Auslieferung.

4.3.2 Der Austausch mit dem »geistigen Europa« als Vision: Auf der Suche nach Übersetzungsliteratur Der Tagespolitik und damit auch dem Kriegsgeschehen zum Trotz versuchten Claassen und Goverts, auf eine »Normalität« zu bestehen, die Gleichberechtigung unterstellte: Sie bemühten sich, ihre schon bestehenden Verbindungen ins Ausland wie selbstverständlich fortzuführen und im bürgerlichen Rahmen »normale« geschäftliche und private Kontakte zu anderen Verlagen und Autoren im Ausland aufzubauen. Ihre Vorstel396 Vietta, S. 11f. 397 Studniczka an Claassen, 1.9.1942. – Auf seine Bitte um den »Schutz der Anonymität« als Übersetzer – je länger er an der Übersetzung sitze, desto stärker würden seine Bedenken – wollte Claassen nicht eingehen. Studniczka wurde als Übersetzer genannt. 398 Claassen an Studniczka, 3.3.1943. – In den Diskussionen zwischen Claassen, Studniczka und Vietta versuchte Vietta die Gründe für die unterschiedlichen Bewertungen vage zu benennen: Studniczka gehöre eben mehr zu der Gruppe, die »vom alten und klassischen Italien ausgeht, während mich gerade die neuen Gesichtspunkte an Bontempelli gereizt haben.« (Vietta an Claassen, 14.9.1942) 399 Vietta: Bemerkungen zum Essayisten Massimo Bontempelli, S. 9. 400 So Claassen an Vietta, 4.11.1942. 401 Vietta: Bemerkungen zum Essayisten Massimo Bontempelli, S. 9.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren lung, es müßte weiterhin möglich sein, die politische Gegenwart dabei weitestgehend zu ignorieren, erwies sich gerade in diesem Bereich zunehmend als Illusion. Zu offiziellen Vermittlungshilfen für ausländische Literatur wie den im Deutschen Wochendienst veröffentlichten Vorschlagslisten des Propagandaministeriums402 hielten sie Distanz. Sie versuchten weiterhin, so lange es irgend möglich war, sich auf privater Ebene über ausländische Literatur zu informieren, die für eine Übersetzung infrage kam, und auch auf diesem Wege die Voraussetzungen für ein Abkommen zu erzielen. Diese informellen Kommunikationswege ins Ausland, die sich nur unvollständig rekonstruieren lassen, waren wesentlicher Bestandteil der Verlagsplanungen in den Kriegsjahren. Auffällig dabei war die Suche nach Alternativen zu Frankreich und England und damit nach Auswegen aus der erzwungenen Einengung; Chancen schienen die kleineren europäischen Literaturen zu bieten, besonders die Skandinaviens, Spaniens oder auch Südosteuropas.

Berater Allein für skandinavische Literatur verfügten Claassen und Goverts über eine kontinuierliche Beratung durch eine freie Mitarbeiterin: Kyra Dohrenburg-Jakstein, in der Korrespondenz häufiger als »unsere skandinavische Lektorin«403 bezeichnet, übersetzte für den HGV die Linnaeus-Biographie aus dem Schwedischen und prüfte regelmäßig norwegische und schwedische Manuskripte. Angebote oder Empfehlungen für norwegische Literatur erhielten die Verleger in den ersten Kriegsjahren über die Literarische Agentur Moe, die über die Rechte Olav Duuns verfügte. Hier arbeitete der aus Deutschland geflohene Max Tau; die persönlichen Kontakte zu ihm bildeten die Grundlage für die Vermittlungsbemühungen. Nach Schweden bestanden, vermutlich zunächst auf Bermann Fischers Empfehlung hin, direkte Kontakte zum Verlag Bonnier. Wolfheinrich von der Mülbe fungierte u. a. als Berater für dänische Literatur. In der zweiten Hälfte des Krieges bemühten sich die Verleger offensichtlich um eine Intensivierung ihrer Kontakte nach Italien. Egon Fritz Vietta, der eine Stelle im Auswärtigen Amt innehatte, seit 1942 zudem Herausgeber der in Hamburg erscheinenden Zeitschrift Italien war und somit über offizielle Kontakte zum Propagandaministerium wie auch nach Italien verfügte, machte Claassen auf jüngere italienische Autoren aufmerksam. Erst in den letzten Kriegsjahren fanden die Verleger in Horst Rüdiger, der als junger Lektor in Bologna lebte und für die Übertragung einer Boccaccio-Biographie gewonnen worden war, einen kompetenten, mit der zeitgenössischen italienischen Literatur vertrauten Berater.404 Die bestehenden Verlagskontakte des HGV nach Großbritannien brachen ab. Vereinzelt wurden den Verlegern bis 1941 über die Literarische Agentur Moe in Norwegen noch

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402 Vgl. Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 200 sowie Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«, S. 285 –288. 403 So Goverts an die Literarische Agentur Moe, 23.10.1940. 404 Zuvor hatten – neben der in Italien lebenden Schwester der Mutter Eugen Claassens, Gertrud Kühl-Claassen, sowie Claassens Schwester Hertha Schmuijlow – vereinzelt Wolfheinrich von der Mülbe und Hans Studniczka, die als Übersetzer für den HGV tätig waren, Vorschläge von dritter Seite geprüft.

4.3 Der »europäische Horizont«: Anspruch und Widersprüche amerikanische Titel angeboten; zu Vertragsabschlüssen allerdings kam es nicht mehr. Aufgrund der unklaren Situation der Veröffentlichungschancen für zeitgenössische französische Literatur prüften die Verleger, nachdem mit der Besetzung Frankreichs der Kontakt zu Richard Moering zunächst abgebrochen war, vergleichsweise wenige Titel. Hans Hennecke, der den zu Beginn des Krieges fertig vorliegenden zweiten Romans Claire Sainte-Solines405 übertragen hatte, scheint Richard Moerings Rolle als Berater für die folgenden Jahre übernommen zu haben. Die Überlegungen im letzten Kriegsjahr, als sich Goverts brieflich offensichtlich besonders intensiv mit Paul Bourdin406 über die Genehmigungschancen für einzelne französische Autoren und Bücher austauschte, führten allerdings zu keinen greifbaren Ergebnissen mehr. Eine gewichtige Rolle bei der Suche der Verleger nach Übersetzungsliteratur bekam in den letzten Kriegsjahren Emil Charlet,407 der als Übersetzer nicht nur für die skandinavischen Sprachen, sondern auch für Französisch und Holländisch in einer schwer durchschaubaren Beziehung zur RSK und zum Auswärtigen Amt in der Schweiz lebte,408 zu Verlagen in Dänemark, Schweden, Finnland und Holland Verbindung hielt und diese Kontakte für private Vermittlungen nutzte. Aus den Verlagsunterlagen geht nicht eindeutig hervor, ob Claassen und Goverts bekannt war, daß Charlet diese Rolle mit ausdrücklicher Genehmigung und Förderung des Propagandaministeriums ausübte; die Vermutung liegt allerdings nahe.409 Gerade auf diesem Gebiet der zunehmend mit größerer Vorsicht vorgenommenen Sondierungen für die Veröffentlichungschancen ausländischer Literatur ist nur wenig dokumentiert; lediglich Annäherungen an die Realität der Verlagsarbeit sind möglich.

405 Claire Sainte-Soline: Zwischen Morgen und Abend. Roman (1939). (Nr. 28) 406 Bourdin hatte im ersten Verlagsjahr das Kochbuch Boulestins »Merkur in der Küche« übersetzt. 407 Die Rolle Emil Charlets (Jg. 1878), Lektor verschiedener Verlage, Journalist und Übersetzer aus den nordischen Sprachen, dem Holländischen und Französischen, ist im Rahmen dieser Arbeit nur in Ansätzen zu klären gewesen. Auf seine Tätigkeit im Ersten Weltkrieg bei der Spionageabwehr berief er sich dezidiert. – Vgl. dazu: Emil Charlet: Lebenslauf, 15.3.1938 (BDC/RSK-Akte Charlet) Aus seiner Tätigkeit als »Korrektor für Fremdsprachliches in der Parteidruckerei Müller & Sohn« seit 1934 und als Lektor und Übersetzer in dem NS-Verlag Holle & Co. seit 1936 zog er folgendes Fazit: »Daß ich als 58jähriger, nach Jahren des Abstiegs obendrein, diese Möglichkeit hatte und habe, gehört auch zu den Wundern dieser an Wundern überreichen Zeit. Meine Einstellung zum Nationalsozialismus, dessen Sieg allein den frohen Umschwung auf allen Gebieten bewirkt hat, ergibt sich daraus von selbst.« 408 In einem Brief an die RSK im Sommer 1939 hatte sich Charlet, nachdem er aus »sachlichen und moralischen Gründen« seine Arbeit beim NS-Verlag beendet hatte, »für Lektoratstätigkeit und Übersetzungen […] in Erinnerung gebracht« – für den Fall, daß »eine Vakanz durch die R.S.K. besetzt werden« solle. (Charlet an die RSK, 12.6.1939) 409 Ein gesonderter Briefwechsel mit Emil Charlet ist im Cl.A. nicht erhalten. Er wird in den letzten Kriegstagen vernichtet worden sein.

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4 Verlagsarbeit in den Kriegsjahren

Reisen und persönliche Kontakte ins Ausland Den wenigen Reisen ins Ausland, die Claassen und Goverts in den Kriegsjahren noch unternehmen konnten, kam bei ihrer Suche nach ausländischer Literatur eine wichtige Rolle zu. Schon in den Jahren zuvor waren Wunsch und Anspruch der Verleger, viel zu reisen und zu ausländischen Verlegern wie Autoren persönlichen Kontakt zu pflegen, nur in Ansätzen zu verwirklichen gewesen. Auslandsreisen waren genehmigungspflichtig und gleichzeitig auch von Devisenbewilligungen abhängig. So war Claassens letzter Versuch im Frühjahr 1939, eine Reiseerlaubnis nach Italien zu erhalten, bereits mit dem Hinweis auf Devisenmangel abgelehnt worden.410 Während des Krieges bemühte er sich nicht mehr darum. Eine Zurückhaltung bei Auslandsreisen scheinen Claassen wie Goverts zu dieser Zeit auch als eine Frage der persönlichen Integrität angesehen zu haben; zumindest waren sie auch in dieser Hinsicht um persönliche Distanz zum Kriegsgeschehen bestrebt. Daß er während des Krieges nicht mehr nach Frankreich gereist war, erklärte Claassen Jahre später mit politisch-moralischen Hemmungen: »[...] während der gesamten Besatzungszeit scheute ich mich hinzugehen«.411 Seit 1935 war er nicht mehr in Frankreich gewesen.412 Allerdings beantragten die Verleger, besonders Goverts, regelmäßig Reisen in die beiden einzigen während des Krieges neutralen Staaten: in die Schweiz und nach Schweden. Goverts gelang es, seine zunächst stets privat begründeten Besuchsreisen zu seiner Mutter nach Vaduz/Liechtenstein zum Ausbau von Informationskontakten zu nutzen, besonders zu dem Schweizer Schriftsteller und Literaturkritiker Carl Seelig413 und zu dem jungen Autor Werner Helwig. Bis in die letzten Kriegsmonate hinein bemühte sich der HGV um Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Schweizer Verlagen. Mit Fortschreiten des Krieges hatten sich die Schwerpunkte der nationalsozialistischen Kulturpolitik gegenüber dem Ausland verschoben. Bereits im April 1940 hatte Wilhelm Haegert in einem Börsenblatt-Artikel ausgeführt, der deutsche Buchhandel habe »vor allem in diesem Kriege die Pflicht, sein ganzes Augenmerk auf das Exportgeschäft zur richten und durch die Ausnutzung und Anknüpfung von Beziehungen dem deutschen Buch und damit der deutschen Kultur den Weg ins Ausland zu öffnen.«414 Besonders im letzten Kriegsjahr, nach Ausgabe der Parole vom »totalen Krieg«, wurden die Kontakte ins neutrale Ausland vom nationalsozialistischen Regime auch aus Prestigegründen nicht nur wohlwollend unterstützt, sondern geradezu mit Nachdruck gefördert. Claassens letzte Auslandsreise nach Beginn des Krieges gegen Polen, Frankreich und England hatte nach Skandinavien geführt. Anfang des Jahres 1940, vier Monate vor dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Dänemark und Norwegen, erhielt der Verleger eine dreiwöchige Reisegenehmigung, in deren Verlauf er sich vor allem in Nor-

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410 Seit 1935 sei er nicht mehr in Rom gewesen, während er sich »sonst eigentlich fast jedes Jahr« dort einige Wochen aufgehalten habe. (Claassen an Barth, 18.4.1939) 411 Claassen an Hausenstein, 11.7.1950. 412 Von dem ernüchterten Bericht Walter Lennigs von seinen Erfahrungen in Frankreich und besonders Paris im Sommer 1943 fühlte Claassen sich bestätigt: »Mein Instinkt hat mich schon lange gewarnt, diese Stätten alter Anregungen aufzusuchen.« (Claassen an Lennig, 30.6.1943) 413 Carl Seelig (1894 – 1962) – Vgl. Weinzierl: Carl Seelig. Schriftsteller. 414 Haegert: Schrifttum und Buchhandel im Krieg. In: Börsenblatt 107 (1940) 904, S. 151.

4.3 Der »europäische Horizont«: Anspruch und Widersprüche wegen um eine Vertiefung ihrer bereits bestehenden Kontakte zur Literarischen Agentur Thallaug & Moe bemühte und in Schweden das Verlagshaus Bonnier besuchte.415

»Als Hamburger Verlag sind wir den skandinavischen Ländern am nächsten«: Kontakte nach Norwegen Während in den Vorkriegsjahren Übersetzungsliteratur aus dem skandinavischen Sprachraum, bis auf die Übernahme Olav Duuns, im Verlagsprogramm keine Rolle gespielt hatte,416 suchten Claassen und Goverts bereits in den ersten Wochen nach Beginn des Krieges ihre bestehenden Kontakte zu den beiden Teilhabern der Literarischen Agentur Thallaug & Moe in Oslo, die die Rechte Olav Duuns vertraten, zu intensivieren. Wiederholt stellte Goverts einen Besuch der deutschen Verleger in Oslo in Aussicht, »um überhaupt unsere Zusammenarbeit zu verstärken – denn als Hamburger Verlag sind wir den skandinavischen Ländern am nächsten.«417 Mochte Goverts’ Begründung auch etwas banal klingen, die Bereitschaft zu einer engeren Zusammenarbeit war zu diesem Zeitpunkt offensichtlich auf beiden Seiten vorhanden. Treibende Kraft für das Engagement der Norweger war sicherlich Max Tau, der den Verlegern die Übernahme des Duun’schen Werks von Cassirer vermittelt hatte.418 Für die deutschen Verleger bot diese Beziehung angesichts der ungeklärten Situation für englische und französische Übersetzungen eine Chance, die sie nutzen wollten. Bereits Mitte September hatte Moe angekündigt, den deutschen Verlegern würden bald »die wichtigsten norwegischen Neuerscheinungen [...] mit Gutachtenhinweis zugehen«419. Nach Claassens Besuch im Januar 1940 erhielten die Verleger eine größere 415 »Die Tage hier waren sehr fruchtbar und anregend, auch für den Verlag.« – Als »Reise in die Vergangenheit« hatte Claassen die Kontakte in Norwegen zu den Verlegern Nygaard und Norli wahrgenommen und genossen: »Hier wohnt das alte Europa noch dicht beieinander.« Er fand die Atmosphäre »auch menschlich sehr interessant. Die Björnson und Ibsen sind hier noch lebendig. Die Wirkungen und Maßstäbe ganz anders als bei uns (noch quasi 19. Jahrhundert, trotz amerikanischer Neuheit).« (Claassen an Hilde Claassen aus Stockholm, 26.1.1940) 416 Das wird sicherlich auch in den fehlenden Kontakten begründet gewesen sein; dennoch mag zunächst, als der Zugang zur französischen und englischsprachigen Literatur noch frei war, eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der »›Mode‹ nordische Literatur«, die generell von der nationalsozialistischen Kulturpolitik aus rassischen Gründen hofiert wurde, mitgespielt haben. 417 Daß nicht Goverts, sondern Claassen die Reisegenehmigung erhielt, mag seinen Grund in der militärischen »Reaktivierung« Goverts’ gehabt haben. 418 Der Brief Max Taus an den »lieben Freund Go« direkt nach Beginn der Kriegshandlungen zeugt von einem Gefühl tiefer Verbundenheit: »Sie wissen daß wir alle hier Ihnen freundschaftlich zugetan sind, aber Sie müssen wissen, daß unsre Gedanken mit Ihnen sind, und daß wir immer verbunden bleiben.« (Tau an Goverts, 12.9.1939) – Der Brief, geschrieben auf einem Briefbogen von Thallaug & Moe, ist nur mit »Max« unterzeichnet. Es ist auffällig, daß in der Korrespondenz niemals der volle Name des 1938 aus Deutschland geflüchteten Max Tau auftaucht; stets ist von dem »Oslo