Schleiermachers Wissenschaftslehre als Entwurf einer prozessualen Metaphysik in semiotischer Perspektive: Triadizität im Werden [Reprint 2020 ed.] 3110170167, 9783110170160

Schleiermachers Wissenschaftslehre wird in dieser Untersuchung als eine universale Prinzipienlehre und formale Strukturt

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Schleiermachers Wissenschaftslehre als Entwurf einer prozessualen Metaphysik in semiotischer Perspektive: Triadizität im Werden [Reprint 2020 ed.]
 3110170167, 9783110170160

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Johannes Michael Dittmer Schleiermachers Wissenschaftslehre als Entwurf einer prozessualen Metaphysik in semiotischer Perspektive

Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von O. Bayer • W. Härle • H.-P. Müller

Band 113

W G_ DE

Walter de Gruyter • Berlin • New York 2001

Johannes Michael Dittmer

Schleiermachers Wissenschaftslehre als Entwurf einer prozessualen Metaphysik in semiotischer Perspektive Triadizität im Werden

w DE

Cl Walter de Gruyter • Berlin • New York

2001

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

D 16

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Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Emheitsaufnahme

Dittmer, Johannes Michael: Schleiermachers Wissenschaftslehre als Kntwurf einer prozessualen Metaphysik in semiotischer Perspektive : Triadizität im Werden / Johannes Michael Dittmer. — Berlin ; New York : de Gruyter, 2001 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 113) Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1999/2000 ISBN 3-11-017016-7

© Copyright 2001 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Kinspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Vorwort Die vorliegende Arbeit bildet die geringfügig geänderte und um ein Register erweiterte Fassung einer Dissertation, die im Wintersemester 1999/ 2000 von der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg angenommen und im Herbst 2000 mit dem Ruprecht-KarlsPreis der Stiftung Universität Heidelberg ausgezeichnet worden ist. Zu Beginn seiner Vorlesung Das Leben Jesu beschreibt Schleiermacher die generelle Duplizität des Verhältnisses des Einzelnen zum Gesamtleben. Zum „Einfluß des gemeinsamen Lebens auf den Einzelnen" schreibt er: „[...] der Einzelne wird nur in und durch das gemeinsame Leben, und es ist das ein festes nicht zu alterierendes Verhältnis, und jeder einzelne Mensch ist in seiner Entwicklung schon zugleich ein Resultat von dem gemeinsamen Leben". 1 Diese Einsicht erinnert an die christliche Grundüberzeugung, daß alles Handeln eines Einzelnen auf Voraussetzungen beruht, die ihm geschenkt worden sind (cf. 1. Kor. 4,7). Deshalb soll an dieser Stelle einigen ausgewählten Personen und Institutionen Dank gesagt werden, denen die vorliegende Untersuchung auf verschiedenste Weise viel verdankt. Mein herzlicher Dank gebührt vor allem meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Wilfried Härle, der diese Arbeit mit sachkundiger Kritik begleitet, gefördert und begutachtet hat. Während meiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in Marburg hat er mir einen großen Freiraum gewährt und mir Diskussionsforen in Gestalt von Doktorandenkolloquien, Sozietäten und dem Graduiertenkolleg des .Theologischen Arbeitskreises Pfullingen' (TAP) eröffnet. Bei alledem hat er mir sowohl in inhaltlicher wie auch in methodischer Hinsicht die Möglichkeit gegeben, neue und unkonventionelle Lösungswege zu beschreiten. Ich möchte weiterhin Herrn Prof. Dr. Dr. Michael Welker Dank sagen. Er hat nicht nur durch seine eigenen Arbeiten zu einer Vertiefung meiner Wahrnehmung von Texten Schleiermachers beigetragen. Ganz herzlich danke ich ihm auch für die Erstellung des Korreferates und seine anregende und ermutigende Kritik. Im Rückblick auf die Entstehung der Arbeit sind besonders drei Diskussionszusammenhänge zu nennen, die prägenden Einfluß auf die Entwicklung hatten und die ich hier erwähnen möchte.

1

LJ 8.

VI

Vorwort

Es sind dies einmal der .Systematisch-Theologische Arbeitskreis Marburg' (STAK) mit Dr. Christiane Braungart, Dr. Gudrun Neebe, Cornelia Otto, Dr. Eberhard Pausch und Dr. Sigurd Rink, dem ich manche wissenschaftliche Anregung und Zuspruch verdanke. Dann diverse intradisziplinäre Arbeitsgruppen in Marburg zu den Denkansätzen und Philosophien von C.S. Peirce und F.D.E. Schleiermacher mit Frank Miege, Matthias Mißfeld und Dr. habil. Martin Pöttner. Die Fragestellungen und Einsichten aus diesen Diskussionen sind für die inhaltliche Profilierung der vorliegenden Untersuchung in weit höherem Maße bestimmend geworden, als dies im Text unmittelbar erkennbar wird. Für die Intensität, die Geduld und die Sachkunde, mit der ich in diesen wie in anderen Zusammenhängen zahlreiche Einzelfragen ebenso wie grundsätzlichere Entscheidungen mit Dr. habil. Martin Pöttner und Frank Miege gewinnbringend und weiterführend erörtern konnte, möchte ich ihnen nachdrücklich danken. Schließlich ist hier das von Prof. Dr. W. Härle initiierte interdisziplinäre Forschungsprojekt .Relationale dynamische Erkenntnistheorie und Ontologie' (REO) zu nennen. Manche der in diesem Zusammenhang entwickelten Gedanken und Modelle weisen deshalb nicht zufällig eine große Nähe zu den nachfolgenden Ausführungen auf. Hingewiesen sei an dieser Stelle auf die Dokumentation hierzu (Im Kontinuum, hg. v. Wilfried Härle, Marburg 1999, MThSt 54). Für ihre fachkundige wie tatkräftige Unterstützung bei der Literaturbeschaffung während meiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Assistent in Wuppertal möchte ich Frau Tanja Lindemann und Frau Seiina Piccinini Dank sagen. Frau Anne Kathrin Redecker gilt mein großer Dank für die Gründlichkeit und Sorgfalt, mit der sie mich bei der mühevollen Arbeit der Kontrolle der Zitate unterstützt hat. Meinem Vater, Klaus Dittmer, danke ich herzlich für seine tatkräftige Unterstützung bei der Beseitigung von orthographischen Fehlern. Für die Verleihung des Ruprecht-Karls-Preises 2000 der Stiftung Universität Heidelberg möchte ich mich ganz herzlich bei den dafür Verantwortlichen sowie der Stiftung Universität Heidelberg bedanken. Darüber hinaus gilt mein Dank den Herausgebern für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Theologische Bibliothek Töpelmann und Herrn Wolfram Burckhardt für die Erstellung der Druckvorlage und des Registers. Für die Gewährung von Druckkostenzuschüssen, die das Erscheinen der Untersuchung gefördert haben, danke ich besonders der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie ferner der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und der Georg Strecker-Stiftung. Meinen Eltern, Hannelore und Klaus Dittmer, sage ich Dank für alle Unterstützung, die ich durch sie in der Vergangenheit erfahren habe. Schließlich danke ich meiner Frau, Cornelia Otto, die mir Raum für meine wissenschaftliche Arbeit gewährt und mich bei der Entstehung dieser

Vorwort

VII

Arbeit geduldig begleitet und ermutigt hat. Gewidmet sei das Buch unserem Sohn Jan-Ulrich, der mich auf ganz eigene Weise die Wahrheit der Schleiermacherschen Einsicht erfahren ließ, derzufolge „kein Ding als Einheit anders als in der Totalität seiner Relationen zu verstehen ist", wobei „diese sich aber anders gestalten müssen, je nachdem die Position des Menschen gegen die Natur eine andere ist". 2 Nidda-Ulfa, am Reformationstag 2 0 0 0

2

PhE 309, § 201.

Johannes Michael Dittmer

Inhaltsverzeichnis Vorwort

V

Einleitung I Zu Themenstellung und Vorgehen II Zur Einordnung in den Kontext der Forschungslage . . II.A Zu Methode und Methodologie II.B Zur Bestimmtheit des Interpretationsansatzes II.B.l Schleiermacher und Piaton II.B.2 Schleiermacher und die Frühromantik II.C Zur Theorieanlage und ihren Grundrelationen II.C.l Zur Fragestellung II.C.2 Einige typische Lösungsansätze II.D Ertrag

1 1 8 10 13 16 30 44 60 60 68

1.

Versuch einer Annäherung

71

1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.3.1 1.1.3.2 1.1.4 1.1.4.1 1.1.4.2 1.1.4.2.1

Schleiermachers Rekurs auf Piaton Die Wissenschaftssystematik Die Form der philosophischen Darstellung Die Dialektik Die Dialektik als Einheit von Logik und Metaphysik . . Die Dialektik als Kunstlehre Die Dialektik und der Kern der Philosophie (Sophist) . Das Sein als Drittes inmitten relativer Gegensätze . . . . Das Verhältnis oberster Gattungen und Begriffe Transformation einer Viergliedrigkeit in eine Dreigliedrigkeit Korrespondenz von Seinsbereichen und Erkenntnisbereichen Weitere Unterscheidungen Bedeutung des iterativen Moments Verhältnis von Einheit und Vielheit Ansätze einer Theorie von Relationen

1.1.4.2.2 1.1.4.2.3 1.1.4.2.4 1.1.4.2.5 1.1.4.2.6

73 79 81 84 84 87 99 100 106 107 109 109 112 112 116

X

1.1.5 1.1.5.1 1.1.5.2 1.1.5.3 1.1.5.3.1 1.1.5.3.2 1.1.5.3.3 1.1.5.3.4 1.1.6 1.1.6.1 1.1.6.2 1.1.6.3 1.1.7 1.1.7.1 1.1.7.2 1.1.7.3 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.2.1 1.2.2.2 1.2.2.3 1.2.3 1.2.3.1 1.2.3.1.1 1.2.3.1.2 1.2.3.1.3 1.2.3.2 1.2.3.2.1 1.2.3.2.2 1.2.3.2.3 1.2.3.2.4

Inhaltsverzeichnis

Der weiterführende Beitrag des Philebos Das dialektische Verfahren als Untersuchungsmethode Eine Modifikation der Relationentheorie Zur Kategorienproblematik Referenzproblem in philosophiehistorischer Perspektive Ansätze zur Problemlösung und zur Relationentheorie Schleiermachers Rezeption dieser Elemente Schleiermachers Überlegungen zum Kategorienproblem Piatons Dialog Timaios und die Naturphilosophie . . . . Die Bedeutung und die Wirkung der Naturphilosophie des Timaios Die Wiederentdeckung Piatons durch Schelling Schleiermachers Rezeption von Elementen aus Piatons Timaios Ertrag Zur Theorie der Relationen Zur Bestimmung von Seiendem und Wissen Zum Kategorienproblem

123 124 127 129 130 133 136 144 149 150 159 169 171 172 173 176

Schleiermachers Rekurs auf Denkfiguren der zeitgenössischen Naturphilosophie und -Wissenschaft . .

180

Methodische Vorbemerkungen Die zeitgenössische Diskussionslage Grundsätzliches Schleiermachers mathematisch-naturwissenschaftliche Kenntnisse Grundsätzliche Tendenzen der Forschungslage Drei ausgewählte Diskussionspartner Animalischer Magnetismus oder Mesmerismus: Franz Anton Mesmer und Karl Christian Wolfart . . . . Methodische Vorbemerkungen Biographische Bezugspunkte zwischen Schleiermacher und dem Mesmerismus . Sachliche Relevanz einzelner Elemente Philosophische Naturwissenschaft und Naturgeschichte: Henrich Steffens Historische und sachliche Bezüge zwischen Steffens und Schleiermacher Steffens Grundzüge und Schleiermachers Dialektik . . . Generierung einer dynamischen Struktur mittels polarer Begriffspaare Potenziertes Erkennen als Iterierung von Verkettungen

180 186 186 194 199 201 201 201 203 206 209 209 215 223 229

Inhaltsverzeichnis

1.2.3.3 1.2.3.3.1 1.2.3.3.2 1.2.3.3.3 1.2.3.3.4 1.2.3.4 1.2.3.4.1 1.2.3.4.2 1.2.3.4.3 1.2.3.4.4 1.2.3.4.5 1.2.3.4.6 1.2.3.4.7 1.2.4 2. 2.1 2.2

XI

Elektrochemie, Elektromagnetismus und Galvanismus: Johann Wilhelm Ritter 234 Ritter und Schleiermacher in historischer Hinsicht . . . . 236 Wissenschaftsgeschichtlicher Hintergrund der Überlegungen Ritters 239 Ritters theoretisches und terminologisches Instrumentarium 255 Hieroglyphen und das Bild der Ellipse bzw. zweier sich kreuzender Ellipsen 262 Oszillation als universales kosmisches Prinzip: Eine semiotische Auffassung vom Wesen und Wirken der Natur 275 Selbstmächtigkeit der Sprache 278 Universalität von Sprache und Zeichen 279 Unhintergehbarkeit von Sprach- und Zeichenbezügen . 279 Ritter, Hertz und die moderne Physik 280 Sprache und Bewußtsein 290 Wirklichkeit als sprachlicher Prozeß 291 Einheit der elementaren Hieroglyphen der Natur 292 Ertrag 297 Ansätze und Grundzüge des Entwurfs einer Wissenschaftslehre

307

Vorbemerkungen zur Aufgabe und zur Terminologie . . 307 Negativ-kritischer Teil: Determinanten einer Wissenschaftslehre 317 2.2.1 Präzisierung und Problematisierung des Vorhabens . . . 318 2.2.2 Die Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaft 322 2.2.3 Zwischenergebnis 327 2.3 Positiv-konstruktiver Teil: Von der Kritik zum methodischen Verfahren 329 2.3.1 Das Phänomen der Lehnsätze 331 2.3.1.1 Grundsätzliche Beobachtungen 331 2.3.1.2 Drei charakteristische Merkmale 336 2.3.1.2.1 Ort 336 2.3.1.2.2 Lehncharakter 337 2.3.1.2.3 Funktion 338 2.3.1.3 Generierung von Interdependenzebenen 339

XII

2.3.2 2.3.2.1 2.3.2.2 2.3.2.3 2.3.2.4 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.2.1 2.4.2.2 2.4.2.3 2.4.2.4 2.4.2.5 2.4.2.6 2.4.2.7 2.4.3 2.4.4 2.4.4.1 2.4.4.2 2.4.4.3 2.4.4.4 2.4.5 2.4.5.1 2.4.5.2 2.4.5.3 2.4.5.4 2.5 3. 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2

Inhaltsverzeichnis

Grundzüge des Verfahrens für die Darstellung Bedingungen für die vollkommene Darstellung einer Wissenschaft Bedingungen und Verfahren für einen unvollkommenen Anfang Heuristische Methode und kritisches Verfahren Dialektik als Einheit von Metaphysik und Logik Grundzüge des Entwurfs einer Wissenschaftslehre: Von der Verfahrensfrage zur Darstellung Generierung eines Gesamtgefüges über Iterationen . . . . Relationalst von relativ entgegengesetzten Polen . . . . Verhältnis von Wissen und Sein Höchstes Wissen und höchstes Sein Relation als Bezeichnungsrelation mit Darstellungsfunktion Verhältnis von Ausdruck, Darstellung und Zeichen . . . Gegensätzlichkeit als Bedingung der Bezeichnungsrelation Gegensatz von Besonderem und Allgemeinem Bezogenheit von Sein und Sollen oder Naturgesetz und Sittengesetz Verhältnis von Dialektik und Ethik, Sitte und Wissen . Totalität des Wissens und Idee der Welt Gegensätze und höchster Gegensatz Dingliches und geistiges Sein als Natur und Vernunft . Organismus als reinstes Bild des höchsten Seins Welt als Begriff der höchsten Einheit endlichen Seins . Funktion und Problematik des Gegensatzes Spezifizierung zweier Gegensatztypen Verhältnis der beiden Gegensatztypen Charakteristische Momente der Gegensatzbestimmungen Problem der Sprachnot Ertrag

343

429 437 440

Schleiermachers Wissenschaftslehre in semiotischer Perspektive > .

449

Einleitende Vorbemerkungen Dichotomie, Trichotomie und Triadizität Relationenlogik und Kategorienlehre Zeichenbegriff und Zeichenkonzeption

449 453 453 464

343 344 345 361 366 370 371 371 373 376 381 385 387 390 397 416 417 418 421 422 424 425 427

Inhaltsverzeichnis

3.3 3.3.1 3.3.1.1 3.3.1.2 3.3.1.3 3.3.1.4 3.3.2 3.3.2.1 3.3.2.2 3.3.2.3 3.3.2.4 3.3.3 3.3.3.1 3.3.3.2 3.3.3.3 3.3.3.4 3.4 3.4.1 3.4.1.1 3.4.1.2 3.4.1.3 3.4.2 3.4.2.1 3.4.2.2 3.4.2.3 3.5 Resümee

Das Verstehen als unendliche Aufgabe Die drei Grundentscheidungen der Hermeneutik Singularität vs. Pluralität Universalität vs. Partikularität Kunstcharakter vs. Kunstlosigkeit Die Zeitlichkeit von Zeichenprozessen Hermeneutik als Kunstlehre Der Textbefund Der Begründungszusammenhang Die Konsequenzen Das Ergebnis Der unendliche Prozeß der Semiose Die Triadizität des Zeichenkonzepts Die Unendlichkeit der Semiose Die Dichotomie der Objekte und die Trichotomie der Interpretanten Die Relativität des Wissens Religion und die Universalisierung von Textualität . . . Zum Zusammenhang von Textualität und Kontinuum Die Vorstellung eines Zeichen-Kontinuums Der Mensch als Text oder komplexes Zeichen Der Vollzug der Menschwerdung über Texte Die Religiöse Dimension der universalen Semiose . . . . Religiöses Interesse und hermeneutische Theorie Hermeneutische Aufgabe und religiöses Interesse Sprache, Gattungsbewußtsein und religiöses Bewußtsein Ertrag

Verzeichnis der Abkürzungen, Siglen und der verwendeten Literatur 1 2 2.1 2.2 2.3 3 3.1 3.2 4

XIII

469 471 471 474 477 482 494 494 496 498 500 504 504 506 507 510 517 517 518 524 530 538 541 551 554 565 581

593

Allgemeine Hinweise 593 Hinweise zur Zitationsweise und zur Gestaltung des Literaturverzeichnisses 595 Hinweise zum Verfahren der Verweisung und Belegung 595 Hinweise zur Zitation 596 Hinweise zur Titelaufnahme 597 Primärliteratur 598 Auswahl- und Gesamtausgaben und ihre Siglen 598 Einzelne Schriften, Texte oder Werke und ihre Siglen 598 Sekundärliteratur 605

Namensregister Sachregister

665 673

„In unserm Leibe sehen wir die Vergangenheit heimisch seyn und walten, in unserer Seele fühlen wir uns an eine unbestimmte Z u k u n f t verrathen, und das frische Leben erblasst in dem ängstlichen Schweben zwischen beiden." 1

Einleitung I Zu Themenstellung und Vorgehen Der Mathematikhistoriker Albert C. Lewis kommt im Blick auf die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zu dem Schluß: „it was the best of times in many ways for new, revolutionary, ideas in mathematics, while also the worst of times from the point of view of the reception, propagation and growth of some of these ideas".2 Es scheint so, als ob Lewis' Urteil 1 2

H. Steffens (1806) XIII. A.C. Lewis (1981) 246. Cf. sachlich ganz ähnlich, wenn auch konkreter und mit stärkerem Focus auf Grassmanns .Ausdehnungslehre' A.C. Lewis (1977) 104. Diese Feststellung findet sich in einer seiner Studien über die Beziehungen zwischen F.D.E Schleiermacher und Hermann Grassmann, dem Mitbegründer der modernen Mathematik und ihrer wissenschaftlichen Grundlegung. Lewis hat darin Art, Intensität und Umfang der Anregung und Prägung Grassmanns durch Schleiermacher aufgezeigt. Cf. hierzu neben A.C. Lewis (1981) auch ders. (1977) bes. 104-120 und ders. (1975). „But the essence of Grassmann's philosophy appears to have its origin in Schleiermacher's Dialektik", die 1839 erschienen von Grassmann 1840 rezipiert wurde (A.C. Lewis [1977] 104; z.T. Hv. i.O.). Eine besondere Rolle spielt Lewis zufolge dabei „the .heuristic' scientific method" (A.C. Lewis [1977] 104), worüber sich für Lewis eine - von ihm wiederholt explizit festgehaltene - Beziehung zwischen der .Dialektik' und den .Grundlinien' ergibt, in welcher das heuristische Verfahren von Schleiermacher - mit nachdrücklichem Verweis auf Piaton - erstmals eingehend unter diesem Namen vorgestellt wird. „It [sc. die Dialektik] represents a mature expression of Schleiermacher's early work Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803)." (A.C. Lewis [1981] 248; i.O. z.T. Hv.; cf. auch ders. [1977] 110-112 sowie eingehender Kap. 2.3.2.3 v.U.) Schleiermachers .Grundlinien' (1803) und Grassmanns .Ausdehnungslehre' (1862) sind nicht nur mehrere Topoi sachlich-inhaltlicher Art (wie z.B. das heuristische Verfahren) oder die beide Arbeiten leitende Absicht einer wissenschaftlichen Behandlung, Begründung und Grundlegung einer einzelnen, besonderen wissenschaftlichen Disziplin (Ethik bzw. Mathematik) gemeinsam, sondern - aus ähnlichen Gründen - teilen sie offensichtlich auch hinsichtlich ihrer Rezeptionsgeschichte ein gemeinsames Schicksal; sie bleiben lange Zeit wegen angeblicher Unlesbarkeit, schwieriger Ausdrucksweise und undurchsichtiger Gliederung ungelesen und unbeachtet. Cf. zu zeitgenössischen Urteilen über Grassmanns .Ausdehnungslehre' A.C. Lewis (1977) 104 und Anm. 1-3; zur Beurteilung der .Grundlinien' (GKS) cf. G. Scholtz (1984) 100; A. Arndt (1996a) 1170-1172 (mit zahlreichen Einzelnachweisen). Zur Auflösung der in v.U. für die Primärliteratur verwendeten Siglett cf. Abschnitt 3 des Abkürzungs- und Literaturverzeichnisses. Die Ergebnisse der Lewisschen Analyse der Beziehung Schleiermacher - Grassmann kann, obwohl sie unmittelbar zunächst eine ganz andere Zielrichtung aufweist, insgesamt als eine Bestätigung der in v.U. auf anderem Wege herausgearbeiteten Charakteristika des Schleiermacherschen Denkens gelten. Cf. hierbei auch die Charakterisierung polarer Gegensätze bei Lewis (cf. hierzu auch weiter unten in diesem Kapitel unter II.C). Zu Bedeutung und Rolle der zeitgenössischen mathematischen Theoriebildung für Schleiermachers eigene Theorieentwicklung cf. I. Mädler (1997) 199-295.

2

Einleitung

gerade auch in der Duplizität seiner Ausrichtung - ebenso für Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher bzw. seine theologischen, philosophischen und pädagogischen Ideen Gültigkeit beanspruchen könnte. So mehren sich in jüngster Zeit Stimmen, welche Schleiermachers Oeuvre einerseits ein sowohl innovatives wie eigenständiges Profil attestieren, und andererseits gleichzeitig einräumen oder konstatieren, daß das Erkennen des - in Anlehnung an Schleiermachers eigene Terminologie - genial3 zu nennenden Zuges seines Werkes das vorläufige Ende einer Phase des Vergessens markiert4 oder mit einer deutlichen und bewußt vollzogenen Abkehr von einem z.T. weit verbreiteten Verständnis von Schleiermacher einhergeht, welches ihm bzw. den von ihm überlieferten Texten nicht gerecht wird. 5 So schreibt Heino Falcke: „Es gehört zur Tiefe und Größe seines Denkens, daß es sich heutigem Fragen immer wieder überraschend nahe erweist." 6 Und Michael Welker kann jüngst im Hinblick auf Schleiermachers Denkansatz von einem „originellen und auch heute noch ,bahnbrechend' zu nennenden denkerischen Ansatz" sprechen, dessen Theoriekonfiguration „einem mit modernen Theorien halbwegs vertrauten Menschen tatsächlich die Sprache verschlagen kann". 7 In ähnlicher Weise spricht beispielsweise auch Ingolf Hübner von einem „offenen und durchaus modernen Charakter" im Hinblick auf Schleiermachers Denken.8 Diese Aufzählung läßt sich fortsetzen. Macht sich diese gewandelte Wahrnehmung zunächst an einzelnen Schriften oder Textkomplexen 9 Schleier3

4 5 6

7 8

9

Cf. hinsichtlich Schleiermachers Verständnis des Begriffs des „genialische[n]" die Ausführungen innerhalb des Einleitungsteiles der .Hermeneutik', wonach auf der grammatischen Seite „das klassische" dasjenige ist, „was am meisten produktiv ist und am wenigsten wiederholend", während auf der psychologischen Seite „das originelle" dasjenige ist, „was am meisten eigentümlich ist und am wenigsten gemein" (HL 18 bzw. HF 83, § 11.2; i.O. z.T. Hv.). „Absolut ist aber nur die Identität von beiden, das genialische oder urbildliche", wobei Schleiermacher hinzufügt, daß das „klassische aber ... nicht vorübergehend sein sondern die folgenden Produktionen bestimmen [muß]. Eben so das originelle. Aber auch das absolute (Maximum) darf nicht frei davon sein, bestimmt worden zu sein durch früheres und allgemeineres" (HL 18 bzw. HF 83, § 11.23; i.O. z.T. Hv.). So beispielsweise H. Falcke, wenn er konzediert, daß „Schleiermachers eigenprofilierter und [...] gewichtiger Beitrag fast völlig in Vergessenheit blieb" (H. Falcke [1976] 3). Hierin spiegelt sich der zweite Teil des o.g. Lewisschen Urteils. H. Falcke (1976) 3. In diesem Beitrag nimmt Falcke Ergebnisse früherer Arbeiten (ders. [1958] und ders. [1961]) in zusammenfassender und zuspitzender Weise auf. Er wählt zur Charakterisierung des Schleiermacherschen Theorieansatzes programmatisch den Begriff der Evolution: „Schleiermachers Denken stellt sich dar als Philosophie und Theologie der Evolution." (H. Falcke [1976] 11) M. Welker (1996) 393. I. Hübner (1997) 3. Hübner betont dabei die Momente der Fragilität und Fragmentarität, wenn er sagt, daß „das angestrebte Gleichgewicht theoretischer und empirischer Momente von Schleiermacher nicht nur als gefährdeter, sondern auch immer wieder als verfehlter Zustand angesehen wird" (ebd. 3). Cf. im Blick auf die .Ethik' bzw. Schleiermachers Entwürfe zu einer .Philosophischen Ethik' M. Welker (1983) und hinsichtlich der .Hermeneutik' R. Daube-Schackat (1981)

Zu Themenstellung und Vorgehen

3

machers fest, so weitet sich der Blick zunehmend und erfaßt auch die Schleiermachersche Konzeption von ,Theologie'10. Auf dem Hintergrund der durch die Moderne und die Postmoderne (oder sog. Nachmoderne) bestimmten Problemlagen sind es die Momente der unauflöslichen Pluralität von Perspektiven in Einheit mit der unhintergehbaren Perspektivität allen Darstellens und Erkennens, in deren Zusammenhang Schleiermachers Denken oft eine besondere Würdigung und Wertschätzung zuteil wird. Während bis Mitte der achziger Jahre eine Wende in der Rezeptionsgeschichte Schleiermachers auf der Grundlage der Wahrnehmung seiner Arbeiten aus der Zeit seiner Hallenser und dann auch besonders seiner Berliner Lehrzeit sich abzeichnet, stützen sich ähnlich lautende Urteile nun zunehmend auch auf die - inzwischen im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe (KGA) z.T. erstmals überhaupt veröffentlichten - frühen Arbeiten, Studien und Entwürfe Schleiermachers.11 Letztgenannte beschäftigen sich - bei unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen - vornehmlich mit einzelnen Aspekten einer ethischen Theorie, die von einer bemerkenswerten Komplexität und einer ausgeprägten sozialtheoretischen Orientierung gekennzeichnet ist.12 Eine in der Rezeptionsgeschichte besonders des

10

11

12

und ders. (1985) sowie (1987a); sowie M. Pöttner, der in seinem im engeren Sinn der .Hermeneutik' gewidmeten Beitrag (ders. [1990]) auch die .Ethik' thematisiert (cf. ebd. 133 und Anm. 10). Cf. hier neben H. Luther, der in seinem Beitrag (ders. [1987]) speziell die .Praktische Theologie' in den Blick nimmt, auch M. Pöttner (1992) und I.U. Dalferth (1991). Während der Beitrag Pöttners die bei Schleiermacher stärker implizit als explizit manifeste semiotische Theorieanlage rekonstruiert, arbeitet Dalferth Grundzüge der Theologiekonzeption Schleiermachers als wesentliche Elemente einer Theorie heraus, welche der Pluralität der modernen Gesellschaft, der Einsicht in die Irreversibilität der Vielfalt und damit auch der Unüberwindlichkeit der Partikularität auch in der Theologie Rechnung trägt: „Die Konsequenzen dieses Sachverhalts für die Bestimmung des Wesens und der Funktion der Theologie sind bislang noch wenig bedacht. Der vorliegende Traktat nimmt diese Aufgabe in Angriff." (I.U. Dalferth [1991] 5) Ausdrücklich an Schleiermacher (neben B. Lonergan) anknüpfend, ihn aufnehmend und weiterführend schlägt Dalferth als „Weg, der unter den Bedingungen der Moderne verheißungsvoller erscheint", vor, Theologie „nicht primär nach dem Paradigma neuzeitlicher theoretischer Wissenschaft, sondern nach dem einer praktischen Kunst oder Methode zu entwerfen" (ebd. 14 und 5). Das Programm einer Theologie als Vermittlung bzw. als „Methode" (cf. ebd. 5 und 14) wird von Dalferth dann näher bestimmt als „Kunst der Kombination" bzw. „kombinatorischen Theologie" (ebd. 18f; Hv. i.O). Das einer solchen Theologiekonzeption zugrundeliegende Verständnis von Wissenschaft ist nicht nur kompatibel mit Überlegungen von C.S. Peirce, A.N. Whitehead und C. Hartshorne, wie Dalferth explizit ausführt (cf. ebd. 17), sondern auch anschlußfähig an solche H. Luthers (cf. H. Luther [1987]). Diese frühen Arbeiten, Entwürfe und Skizzen finden sich in KGA 1/1 und KGA 1/2. Cf. hierzu neben den ausführlichen und informativen historischen Einführungen von G. Meckenstock (KGA 1/1, XVII-LXXXIII und KGA 1/2, IX-LXXXVII) auch die - mittelbar und unmittelbar - auf edierte Texte (zur Sittenlehre bzw. zu Fragen der Ethik) bezugnehmenden Beiträge von G. Meckenstock (1985a); ders. (1985b) und ders. (1988); B. Oberdorfer (1995) und ders. (1996) sowie auch M. Welker (1996). Dies wird z.B. auch von M. Welker (1983) und ders. (1996); B. Oberdorfer (1995) und ders. (1996); mit anderer Schwerpunktsetzung T. Berben (1998) betont. Steht - verein-

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Einleitung

philosophischen Gesamtwerks sich vollziehende Verschiebung in der Dominantsetzung von der .Dialektik' hin zur ,Ethik' wird damit zwar nicht eingeleitet - denn diese Verschiebung hat schon vorher stattgefunden - , gleichwohl wird sie dadurch zusätzlich gestützt. 13 In der zeitlichen und damit auch literarischen Abfolge von Arbeiten läßt sich dabei durchaus eine Entwicklung ablesen, welche durch eine stetige Zunahme von theorieintern verarbeiteten Problemlagen gekennzeichnet ist. 14 Eine nähere vergleichende Betrachtung läßt erkennen, wie auffällig ähnlich die die Theorieentwicklung bestimmenden Determinanten und jene, welche die Theorieanlage selber auszeichnen, sind. 15 Es ist ferner bemerkenswert, zu facht gesagt (und ohne damit jeweils die nicht-akzentuierten Aspekte für die jeweils andere Gruppe zu leugnen) - bei den vorgenannten Autoren stärker das spannungsvolle, sich wechselseitig bedingende Gegenüber von Individualität und Sozialität im Vordergrund, wird von H. Falcke in erster Linie auf den prozessual-evolutionären Grundzug abgehoben (bei gleichzeitiger Priorisierung des Moments von Sozialität und Öffentlichkeit). Cf. H. Falcke (1958) und ders. (1961), deren Ergebnisse in knapper, gebündelter und leicht zugänglicher Form in H. Falcke (1976) vorgestellt werden. Das Merkmal einer deutlichen Präsenz des sozialtheoretischen Aspekts teilt Grassmanns Philosophie mit Schleiermachers philosophischem wie theologischem und pädagogischem Denken. Darauf hat schon A.C. Lewis aufmerksam gemacht, wenn er mit Blick auf Grassmanns .Ausdehnungslehre' (ders. [1862]) und Schleiermachers GKS und DJ schreibt, „Grassmann's emphasis on what modern observers would regard as ,externals' to mathematics" korrespondiere „Schleiermacher's emphasis on mathematics as resulting from creations by individuals and the implication from this that mathematics is a social creation as well as a collection of knowledge" (A.C. Lewis [1981] 248). Indem Lewis diese Verknüpfung von Sachverhalten als „an example of a typical GrassmannSchleiermacher dilemma" vorstellt und selbiges näher als eine notwendige Balance „between abstract results and concrete instances of creation and learning" bestimmt (ebd. 248), schlägt er deutlich eine Brücke zu der durch polare Gegensätze gekennzeichneten Theorieanlage, zu dem heuristische Methode genannten Verfahren und zu dem geschichtlichen Verstehen von etwas als Verstehen desselben in u.a. seinem Gewordensein (cf. ebd. 251). Hinsichtlich der Unmöglichkeit, einen allgemein anerkannten und festen Ausgangspunkt voraussetzen zu können bzw. der Nötigung, immer nur mit angenommenen, hypothetisch geltenden Ausgangspunkten arbeiten zu müssen, cf. Schleiermachers Bestimmungen der heuristische Methode (dazu eingehender u.a. 2.3.2.3 v.U.) mit den Ausführungen und methodologischen Überlegungen bei H. Grassmann (1862) 811. Hiermit soll keineswegs schon einer bestimmten Art und Weise der Zuordnung von Sitte und Wissen sowie von .Ethik' und .Dialektik' das Wort geredet werden. Das zwischen beiden bestehende Verhältnis ist äußerst komplex und vielschichtig (cf. hierzu Abschnitt 2.4.3 V.U.). Dies wird für die Arbeiten Schleiermachers ab 1799 in einer sowohl das Eigenprofil der Texte sichtbar machenden als auch durch große systematische Kraft gezeichneten Weise bei M. Welker (1983) geleistet. Hier bildet die Sozialform der „freien Geselligkeit" bzw. die „Theorie des geselligen Betragens" den Ausgangspunkt. Für die Texte vor 1799 - mit Blick auf die Geselligkeitstheorie als vorläufigen Endpunkt der Entwicklung cf. die Untersuchung von B. Oberdorfer (1995). Die Terminologie Falckes aufnehmend kann hier in Hinsicht auf die Theorieentwicklung Schleiermachers von einer Evolution der Ethik Schleiermachers selber gesprochen werden. Hier könnten z.B. die Stichworte Übergang, Zwischenstellung, Vermittlung genannt werden.

Z u Themenstellung und Vorgehen

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welch frühem Zeitpunkt - durch wen auch immer angeregt, beeinflußt und mitveranlaßt - zahlreiche, später erst in expliziter Weise umgesetzte und verarbeitete Bestimmungsmomente schon latent vorhanden oder keimhaft angelegt sind. Es liegt insbesondere angesichts des hohen Maßes an sachlich-inhaltlicher Konsistenz und an Kohärenz gerade auch in diachroner Hinsicht nahe, nach den leitenden Prinzipien für Schleiermachers Theoriegestaltung und Theorieanlage und nach seinem Theorierahmen in grundsätzlich-formaler Hinsicht zu fragen. Diese Fragehinsicht drängt sich nicht nur aus Gründen der möglichen oder faktischen Anschlußfähigkeit von Schleiermachers Theoriebildung an gegenwärtige Problemlagen auf, sondern auch einfach schon deshalb, weil es - aus welchen Gründen auch immer - keine Publikationen oder auch nur Manuksripte Schleiermachers gibt, welche die genannten Gesichtspunkte eigenständig und selbständig direkt thematisieren und behandeln. 16 Wenn in v.U. der Schwerpunkt der Betrachtung auf Art und Gestalt von elementaren Strukturen gelegt wird, geschieht dies auch in der begründeten Erwartung, von hier aus einen Zugang zu der für Schleiermacher leitenden Systemstruktur und Systemarchitektur zu gewinnen. Wenn dabei angenommen wird, daß von dieser vielleicht sehr formal erscheinenden Perspektive aus schließlich ein Beitrag zum Verständnis von Schleiermachers Arbeiten zu gewinnen ist, so ist diese Herangehensweise nicht grundsätzlich neu.' 7 Gerade unter Berücksichtigung der Eigentümlichkeit und Differenz zu damaligen zeitgenössischen Rahmentheorien erscheint die Nötigung zur Entwicklung einer Rahmentheorie in Gestalt des Entwurfs einer Metaphysik nur plausibel unter der Voraussetzung des faktischen Ungenügens der bis dato vorgelegten Lösungsansätze. In der abendländischen Geschichte gibt es eine dominierende Traditionslinie, welche in I. Kant einen Kulminationspunkt gefunden hat. In dieser werden diese Fragen unter dem Namen Kategorien und Kategorienproblem thematisiert. 18 Gleich-

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So konstatiert z.B. M . Welker, „daß wir die Entwicklungsgesetze seines [sc. Schleiermachers] Denkens noch nicht genau erfaßt haben und daß Schleiermacher selbst seine komplexe Rahmentheorie nicht zur Publikationsreife bringen konnte" (M. Welker [1996] 393). Spätere Ausführungen v.U. vorwegnehmend kann erwogen werden, ob nicht sachliche, systemimmanente Gründe dafür geltend gemacht werden können, daß es Schleiermacher nicht so ohne weiteres möglich gewesen ist, das, was für ihn die Funktion einer Rahmentheorie besitzt, in die Form einer Schrift oder einer Publikation zu bringen. In Aufnahme und Weiterführung des Dictums von C.H. Ratschow, demzufolge „Aufbaufragen [...] eine behandelte .Sache' nach ihren sie tragenden Stützen oder nach ihrem Strukturprinzip [zeigen]", weshalb „Aufbaufragen signifikativ für das Ganze einer behandelten .Sache' [sind]", kann gesagt werden, daß Entscheidungen auf der Ebene der Theoriearchitektur und der Rahmentheorie Entscheidungen auf der Ebene materialer Einzelfragen in gewissem Maße prädeterminieren (C.H. Ratschow [1982] 193). Dies bildet den Hintergrund dafür, daß in Kap. 1 von Kategorien, Kategorienproblematik und Kategorienlehre die Rede ist, obwohl Schleiermacher diese Begriffe in dem dort

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Einleitung

wohl muß festgestellt werden, daß das Kategorienproblem in der abendländischen Geschichte umstritten ist und uneinheitlich bestimmt wird. Der von Kant vorgeschlagenen Lösung - einschließlich der ihr folgenden Tradition - folgt Schleiermacher nicht. Gleichwohl reagiert Schleiermachers Entwurf auf die mit Kant gestellte Problemlage, näherhin auf bestimmte Lösungsansätze Kants, die in der Folgezeit mehr und mehr als äußerst unbefriedigend und zunehmend unplausibel erscheinen. Er sieht sich zur Entwicklung einer von Kant in entscheidender Weise abweichenden Antwort um so mehr genötigt, als die Lösung Kants bzw. die Kantische Metaphysik nicht nur eine Vielzahl von Folgeproblemen impliziert, sondern insbesondere auch Religion und das Reden von Gott bzw. die religiöse Rede in einen problematischen Raum verweist. Stark verkürzend läßt sich demgegenüber eine Traditionslinie von Piaton über Aristoteles zu Schleiermacher und C.S. Peirce ziehen, in welcher die Kategorien nicht subjektorientiert bzw. primär oder ausschließlich subjektrelativ gefaßt werden.19 Daß Schleiermacher nicht einfach einem der von seinen Zeitgenossen J.G. Fichte, F.W. Schelling oder G.W.F. Hegel eingeschlagenen Wege folgt, wird insbesondere auch in der neueren Schleiermacherforschung zutreffend erkannt. Die Feststellung dieser Differenzen allein kann aber nicht befriedigen, solange noch nicht hinreichend deutlich ist, worin sie ihren Grund haben. Nun werden in den Texten Schleiermachers explizit und nachdrücklich Gründe geltend gemacht, warum er hier und da, in diesem und jenem, Kant, Fichte, Schelling oder Hegel nicht folgen kann. Es läßt sich zeigen, daß die Vielzahl der hier zur Sprache kommenden Gesichtspunkte auch - oder sogar im wesentlichen - auf eine Differenz auf der Ebene des zugrundegelegten, wenn auch nicht immer so klar explizierten, Theorierahmens zurückzuführen ist, in welchem sich die Theorieanlage darstellt. Dies wäre ein Argument dafür, daß Schleiermacher auf eine (vor-)gegebene Problemlage reagiert und dabei - im Unterschied zu seinen Vorgängern und Zeitgenossen - zur Vermeidung der traditionellen Aporien und Einseitigkeiten die Notwendigkeit für diesen völligen Neueinsatz auf der Ebene des Theorierahmens sieht. Dieser Theorierahmen wird in den Texten Schleiermachers unter verschiedenen Bezeichnungen angesprochen, häufig als „ Wissenschaftslehre" - beispielsweise in den für die Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Schelling einschlägigen .Grundlinien' (GKS). Sie repräsentiert diejenige näher genannten Kontext nicht verwendet. Da dies evtl. mißverständlich oder sogar irreführend sein kann, wird hier ausdrücklich darauf hingewiesen. Einen ersten Eindruck der Vielgestaltigkeit der Verwendungsweisen des Kategorienbegriffs vermitteln die Beiträge in dem von D. Koch und K. Bort herausgegebenen Sammelband (1990). Es wird hier versucht, den für Kants Konzeption leitenden Grunddual von „absolut unerkennbarem Ding an sich" und „Erfahrung" wegen der ihm inhärierenden Problematik zu vermeiden.

Z u Themenstellung und Vorgehen

7

wissenschaftliche Disziplin, welche die Grundlage aller anderen wissenschaftlichen Disziplinen bildet und die konsequenterweise die Anlage und die Gestalt der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen bestimmt. In ihr sind auch die grundlegenden Bestimmungen des Realitätskonzepts formuliert. Im Zusammenhang des Realitätskonzepts geht es um die allgemeinsten Elemente von Denken und Sein. Die von Schleiermacher z.T. als „Wissenschaftslehre" angesprochene Realitätskonzeption wird in dieser Arbeit näher bestimmt als Entwurf einer prozeßorientierten Metaphysik in semiotischer Perspektive. Die vorliegende Untersuchung zielt auf eine Rekonstruktion und Explikation desselben, womit ganz wesentlich auch Fragen der Theorieanlage berührt werden. Nicht zuletzt von hier aus ist für die gesamte Darstellung das Interesse leitend, eine Interpretation von Schleiermachers Arbeiten vorzulegen, die ihnen insgesamt als einem komplexen, in sich differenzierten organischen Zusammenhang gerecht wird. Die Ergebnisse der - Texte aus mehr oder weniger allen Zeiträumen von Schleiermachers literarischer Wirksamkeit mittelbar oder unmittelbar berücksichtigenden - Untersuchung legen den Schluß nahe, daß ungeachtet aller terminologischen und sachlichen Inkongruenzen und Inkohärenzen im Detail traditionelle Epochen- oder Phaseneinteilungen in z.B. einen sog.,frühen' und einen sog. .späten oder reifen4 Schleiermacher nicht nur nicht notwendig sind, sondern ganz fallen gelassen werden sollten, sofern mit ihnen mehr als nur eine formale chronologische Einteilung intendiert ist. Die Schleiermachersche Idee des Keimentschlusses sowie - verbunden damit - das Modell der Genese eines Sachverhalts im Ausgang von einem Keimentschluß20 über Meditation und

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Sachlich, wenn auch noch nicht terminologisch, findet sich das Element des Keimentschlusses oder Keimentwurfs in einem Brief Schleiermachers an Gaß vom 16.11.1805 (BrG 35). Im Kontext der psychologischen Auslegung innerhalb der Hermeneutik begegnet der Terminus Keimentschluß direkt (cf. hierzu HL 160.168f bzw. H F 189.196f) neben Äquivalenten und sachlichen Umschreibungen (cf. dazu bes. HL 147.153.157 bzw. H F 170.183.186). In HL 157 bzw. H F 186 spricht Schleiermacher nebeneinander von dem „wahrefn], innere[n] Keim" sowie dem „Entschluß". In diesem Verwendungszusammenhang scheint sich die Rede vom „Keim" eher auf das Werk, die Rede vom „Entschluß" eher auf das „Leben des Verfassers" zu beziehen. Beides markiert aber nicht verschiedene Sachverhalte, sondern nur verschiedene Perspektiven auf einen Sachverhalt, nämlich die vorauszusetzende ursprüngliche Einheit. Das Moment des ersten Keims spielt deshalb nicht zufällig gerade auch im Zusammenhang der Kunsttheorie eine Rolle. Cf. hierzu z.B. ÄO 150f. Mit der Rede vom Keim verbindet sich die Vorstellung eines organischen Wachstumsprozesses, wobei einmal das Moment des Wachstums betont werden kann, ein anderes Mal das Moment des kontinuierlichen Zusammenhangs. Die Vorstellung des Keimes durchzieht dann aber auch weite Teile der übrigen Schriften Schleiermachers. Beispielsweise sei hier die Ethik erwähnt, wo sich im Zusammenhang des Bildes sich schneidender Sphären auch die Rede vom Keim bzw. den Keimen findet: „Da der ethische Prozeß nirgends absolut anfängt und jeder Einzelne sich in einem sittlichen Verhältniß findet, welches die Keime aller anderen in sich schließt, auch bei

Einleitung

8

Komposition hin zu einer Gesamtheit, einem organischen Ganzen, stehen im Hintergrund der Gliederung dieser Arbeit. Diese Betrachtungsweise ist für Schleiermacher nicht nur im Hinblick auf Texte im engeren Sinne leitend, sondern diese Betrachtung gilt u.a. auch für sein eigenes Leben. 21 Das ermöglicht die begründete Anwendung der Grundsätze der Hermeneutikkonzeption Schleiermachers auf sein Werk und auch auf sein Leben. In Entsprechung dazu erfolgt in dieser Arbeit in einem ersten Schritt (Kap. 1) in Gestalt eines historischen Rekurses eine Skizze von etwas, was den Status von Wahrscheinlichem besitzt. In einem zweiten Schritt (Kap. 2) wird die zuvor divinatorisch bzw. abduktiv gewonnene Hypothese einer kritischen Überprüfung und Bewährung an einem ausgewählten Textkorpus von Schleiermacher unterzogen. Schließlich wird in einem dritten Schritt (Kap. 3) das Ergebnis unter Einbeziehung eines präziseren und differenzierteren Begriffsapparates kritisch rekonstruiert und terminologisch weiterentwickelt. Zuvor wird in einem weiteren Schritt (Abschnitt II) sowohl die Fragestellung als auch der hier gewählte Lösungsansatz vermittels einer Einzeichnung und In-Beziehung-Setzung zur Forschungsdiskussion zu präzisieren versucht. Dabei werden zahlreiche einschlägige Beiträge der Sekundärliteratur herangezogen. 22

II

Zur Einordnung in den Kontext der Forschungslage

In mindestens dreierlei Hinsicht stellt sich die Frage nach einer partiellen, selektiven und gezielten Thematisierung des Forschungsstands hier an diesem Ort. Z u m einen findet in der v.U. eine explizite Auseinanderset-

21 22

Stiftung neuer Verhältnisse ein unbewußtes vorangeht, so ist jedes auch ursprüngliche Handeln immer ein Anknüpfen." (PhE 4 1 0 , § 2 8 ) Sehr deutlich begegnen beide Momente (des Wachstums und des kontinuierlichen Zusammenhangs) innerhalb der ,Kurzen Darstellung' (cf. KD 11, § 2 6 in Verbindung mit KD 35f, §§ 8 1 - 8 4 ; sachlich ähnlich K D 70f, § 186). Eine Brücke zwischen der Rede vom Keim und der von der Darstellung einer Idee bilden KD 14, § 3 4 und KD 120, § 3 1 3 . Cf. hierzu neben der Hermeneutik AMÜ (bes. 2 1 2 - 2 1 5 ) auch LJ (bes. 7-14). Daß bei allen genannten Gesichtspunkten - entsprechend der Zirkularität allen Redens und Verstehens - dann nicht nur vor Abschluß, sondern bereits vor Beginn der Darstellung immer schon die Ergebnisse derselben vorausgesetzt und in Anspruch genommen werden, sei hier ausdrücklich festgehalten. Diese Prolepse sowie die aus ihr resultierenden Wiederholungen sind in gewisser Weise und zu einem bestimmten M a ß aber letztlich unvermeidlich. Hinsichtlich Literatur- und Forschungsberichten sei auf folgende Beiträge hingewiesen: H. Mulert (1933) und (1934); H.-J. Birkner (1960) und (1976); H.-G. Geyer (1961); T . Schulze (1961); C. Senft (1962); W . Schmied-Kowarzik (1970); H. Graß (1974); W . Hinrichs (1977); M . Josuttis (1986); A. Takamori (1989); G.R. Schmidt (1990); M . Trowitzsch (1990); M . Moxter (1994). Eine eingehende und umfassende Würdigung der entsprechenden Arbeiten und Forschungsbeiträge unter besonderer Berücksichtigung des für die v.U. leitenden Focus muß schon des Umfangs wegen einer eigenen Veröffentlichung vorbehalten bleiben.

Zur Einordnung in den Kontext der Forschungslage

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zung mit Positionen der Sekundärliteratur statt. Ihre Behandlung und Darstellung wird durch die „Auslagerung" einzelner Erörterungen u.U. entlastet und gewinnt an Übersichtlichkeit. Dann erscheint eine eigenständige Betrachtung der Forschung und der Sekundärliteratur jedenfalls dort nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten, wo nicht oder nicht in erster Linie einzelne Positionen um ihrer selbst willen bzw. wegen ihrer einzelnen materialen Gehalte zur Diskussion stehen, sondern wo es in erster Linie um bestimmte Tendenzen und Gruppierungen von Positionen oder um übergreifende Beobachtungen geht. Eine Verortung der hier vorgelegten Position innerhalb dieses - vielleicht auch nur vage abgesteckten und strukturierten - Feldes ist für das Verständnis der entwickelten Position hilfreich. Schließlich bedarf es - gerade angesichts der Tatsache einer zunehmenden Zahl von vorliegenden Arbeiten zum Ganzen oder zu Teilen von Schleiermachers Oeuvre - einer Art Apologie: Warum und weshalb wird denn hier die Zahl der Bücher über Schleiermacher noch weiter um eines vermehrt? Diese Apologetik, deren andere Seite die Polemik darstellt, hat vom Autor auch sich selbst gegenüber als seinem ersten Leser zu erfolgen und nicht nur oder nicht in erster Linie den Leserinnen und Lesern gegenüber - quasi als Akt verhüllter Selbstverteidigung des Verfassers, der von seinen Lesern auf die Frage, ob sein Buch ganz oder doch ziemlich überflüssig sei, im voraus wenigstens ein non liquet erbittet. Von diesen drei genannten Gesichtspunkten haben der erste und dritte grundsätzlich für jede Untersuchung Gültigkeit. Im vorliegenden Falle ist - von der Art der gewählten Themenstellung und dem Zuschnitt der Untersuchung her - auch der zweite Gesichtspunkt von Belang, insofern hierbei methodische und methodologische Fragen von erheblichem Gewicht zu bedenken sind, besonders die Frage nach einem sachgemäßen Interpretationskontext bzw. Verstehenshorizont. Durch ihn werden in ganz erheblicher Weise, wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen bzw. in verschiedener Hinsicht, die Möglichkeiten des vereinfacht gesagt „ZurGeltung-Kommens" des Textes und seiner kommunikativen Absicht determiniert. Für die Auslegung von Schleiermachers Schriften werden traditionell die unterschiedlichsten Kontexte 23 in Anschlag gebracht. Zweifel gegenüber der Angemessenheit dieser Kontexte im Blick auf Schleiermachers Theorie gebietet nicht allein die explizite und implizite Kritik Schleiermachers an diesen Positionen. Schon zu seinen Lebzeiten findet sich Schleiermacher im Blick auf Entscheidungen inhaltlicher und

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Der Begriff „Kontext" wird hier bewußt noch sehr unbestimmt gefaßt, so daß hierunter durchaus nicht nur unterschiedliche Prägungen (z.B. etwa durch Kant, Fichte, Romantik, Pietismus, Spinozismus und Pantheismus, Rationalismus etc.) in eher materialer Hinsicht begriffen werden können, sondern auch solche eher grundsätzlicher oder eher formaler Art (z.B. Philosoph, Theologe oder dynamisch, statisch).

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Einleitung

konzeptioneller Art Unverständnis und Kritik ausgesetzt, wobei sich und das ist hier entscheidend - die Kritik auffallend häufig an Punkten festmacht, welche von Schleiermacher in seinen Schriften nachdrücklich und wiederholt abgelehnt werden, d.h. daß sich die Kritik auf Positionen bezieht, die Schleiermacher gar nicht vertreten oder sogar ausdrücklich zurückgewiesen hat. Vielmehr gibt das im Falle Schleiermachers sehr deutliche und auffällige Vorhandensein gegenläufiger, unvereinbarer und widersprechender Interpretationen ebenso Anlaß zur kritischen Prüfung der vorausgesetzten Interpretationsparadigmen wie die z.T. darauf reagierenden Versuche der Einführung einer Binnendifferenzierung zwischen verschiedenen Entwicklungsphasen und Perioden in Schleiermachers Denken. Es ist ferner bemerkenswert, daß in der Literatur eine Divergenz hinsichtlich derjenigen Disziplin zu konstatieren ist, welche als übergeordnet und leitend sowohl für die Gesamtanlage des Systems wie für das Verständnis aller anderen Disziplinen geltend gemacht wird. Auf dem Hintergrund der Einsicht in die faktische Wirkungsmächtigkeit von explizit wie implizit vorausgesetzten Interpretationsrahmen und der ihnen eignenden Eigendynamik legt sich eine Beschäftigung mit den jeweils vorausgesetzten und dem bei bzw. für Schleiermacher als adäquat vorauszusetzenden Interpretationsrahmen nahe. Die Problematik des adäquaten Interpretationshorizonts kann einmal in eher formaler Hinsicht 24 (A), dann in eher materialer Hinsicht (B) betrachtet werden. Schließlich kann sie in einer eher formalen, die Struktur der Theorieanlage beleuchtenden Weise (C), in den Blick genommen werden. II.A

Zu Methode und

Methodologie

Ein gleichermaßen differenzierter wie pointierter Beitrag in methodischer Hinsicht ist von G. Wobbermin (1933) vorgelegt worden. Insofern hier die Frage der Methode selber thematisch wird, hat die Untersuchung den Status einer auch methodologischen Untersuchung. Als solche ist sie in thematischer Hinsicht als eine Art Vorläufer der Abhandlung von H.-J. Birkner (1974) anzusehen. 25 Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die Art und Weise der Rezeption Schleiermachers durch Vertreter „der sog. dialektischen Theologie", namentlich „Karl Barth und Emil Brunner". 26 Die Untersuchung durchzieht der Nachweis, daß für die Beurtei24 25

26

Dabei sind eher methodisch-methodologische Gesichtspunkte leitend. In ähnlichem oder vielleicht noch stärkerem Maße wie der Beitrag von Birkner ist auch der von Wobbermin in der Schleiermacherforschung in nur sehr geringem Maße rezipiert und wirksam geworden. Für Wobbermin ist erkennbar, daß für sie „Schi, als der Verderber und Irreführer der theologischen Arbeit [gilt]. Die radikale Abwendung von Schi, gehört demgemäß zum Programm ihrer eigenen theologischen Denkweise, zum Programm der .dialektischen Theologie.'" (G. Wobbermin [1933] 30) Die von Wobbermin in diesem Zusammenhang

Zur Einordnung in den Kontext der Forschungslage

11

lung S c h l e i e r m a c h e r s d u r c h B a r t h und B r u n n e r v o n v o r n e h e r e i n eine spezifische, als „petitio principii" w i r k s a m e I n t e r p r e t a t i o n m a ß g e b l i c h ist, w o b e i m e t h o d i s c h zu beanstanden ist, d a ß diese V o r a u s s e t z u n g „einfach als petitio principii i m m e r v o n n e u e m geltend g e m a c h t " w i r d u n d nirgends d e r V e r s u c h einer ernsthaften Prüfung und B e w ä h r u n g dieser V o r aussetzung u n t e r n o m m e n wird. 2 7 Inhaltlich kulminiert dieser kritikwürdige m e t h o d i s c h e A n s a t z in einer bestimmten A r t und W e i s e der Verhältnisb e s t i m m u n g v o n Schleiermachers religiösen und theologischen Ü b e r l e g u n gen zu seinen philosophisch-spekulativen. 2 8

herausgearbeitete Funktionalisierung von Schleiermacher im Sinne des Aufbaus einer Antithese zum Zweck der Profilierung der eigenen Position hat in analoger Weise Birkner (1961) am Beispiel des Gegenübers von natürlicher Theologie und Offenbarungstheologie aufgewiesen. „Fragt man nach der Funktion der natürlichen Theologie, so ergibt sich eine grobe theologiegeschichtliche Epochenteilung von selbst, und zwar danach, ob die natürliche Theologie als Gegenstand einer Thesis oder als Gegenstand der Antithesis auftaucht. Die Scheide- und Wendestelle bildet der deutsche Idealismus, [...] vor allem [...] Kant und Schleiermacher [...]" (H.-J. Birkner [1961] 280; i.O. z.T. Hv.) Birkner weist die unterschiedliche inhaltliche Besetzung des Begriffs „natürliche Theologie" in den jeweiligen Verwendungszusammenhängen nach, denn in „der deutschen protestantischen Theologie nach Kant und Schleiermacher kommt die natürliche Theologie prononciert nur noch als Gegenstand der Bestreitung vor" (ebd. 280; i.O. z.T. Hv.). Für Schleiermacher konstatiert Birkner dabei als „Funktion der Bestreitung der natürlichen Religion und Theologie" die „Selbstunterscheidung von der Aufklärung" (ebd. 288; Hv. JD). Gleichwohl wird Schleiermacher merkwürdigerweise „noch zweimal der Gegenstand einer heftigen Polemik" (ebd. 288). Denn Schleiermacher wird u.a. von Albrecht Ritsehl der Vorwurf gemacht, er betreibe natürliche Theologie. Damit bekommt der Begriff eine neue Funktion, er wird zu „eine[r] Art Ketzername", was „unschwer an der Art und Weise, wie der Begriff in der Argumentation verwandt wird", erkennbar wird (ebd. 288; Hv. JD). Diese polemische Verwendung ist charakterisiert durch die Loslösung des Begriffs von einem bestimmten Phänomen. Für Ritsehl konstatiert Birkner ebenfalls die Funktion der „Selbstunterscheidung [...] von der gesamten vorhergegangenen Theologiegeschichte" und „von den Kollegen" (ebd. 290; Hv. JD). Dieser Vorwurf trifft dann wieder den ehemals Verwerfenden, nämlich Ritsehl selber, in dem Urteil u.a. Karl Barths. Birkner spricht in diesem Zusammenhang von einer „ironischen Vergeltung", die die Theologiegeschichte übt: Ritschis Schüler, (darunter besonders Karl Barth) haben ihm, der „es als einen Ruhmestitel seiner Theologie betrachtet (hatte), als erster das Verhängnisvolle der natürlichen Theologie erkannt zu haben", selber wieder der natürlichen Theologie bezichtigt (ebd. 291). Auch für den sich „als der entschiedenste Bestreiter der natürlichen Theologie" verstehenden Barth hat diese Polemik „die Funktion einer Selbstunterscheidung des eigenen theologischen Wollens von dem aller Jahrhunderte seit der Reformation" und „von den eigenen Zeitgenossen" (ebd. 291f; Hv. JD). 27

28

G. Wobbermin [1933] 31. Wobbermin deckt ein solches problematisches methodisches Vorgehen dann auch bei Verfassern auf, welche die Schleiermacherkritik Barths und Brunners zum Gegenstand ihrer eigenen, dabei eher material-inhaltlich ansetzenden Kritik machen. Cf. G. Wobbermin (1933) 34f. Innerhalb der Argumentation Wobbermins wird eine Unterscheidung wichtig: die zwischen dem von Schleiermacher „beabsichtigten und grundsätzlich befürworteten Verhältnis" und dem „tatsächlich vorliegenden" (ebd. 35) bzw. die zwischen der Intention und der Durchführung, wobei letztere häufig mangelhaft ist (cf. ebd. 46f).

12

Einleitung

In modifizierter Form wird dieses Gegenüber von Birkner rund 40 Jahre später zum Ausgangspunkt einer Abhandlung gemacht. Diese gleichermaßen scharfsinnige wie in ihrer Bedeutung weitreichende Arbeit29 erörtert am Beispiel der Frage des Verhältnisses von Theologie und Philosophie die Problematik des Verhältnisses von Deute- und Systembegriffen eher grundsätzlich. Ausgehend von der Feststellung, daß der Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Philosophie im Werk Schleiermachers innerhalb der Sekundärliteratur zentrale Bedeutung zugemessen wird und daß diese Frage auch „zu gegensätzlichen Interpretationen stimuliert, daß sie jedenfalls weit davon entfernt ist, eindeutig und abschließend erledigt zu sein" (ebd. 7), verfolgt Birkner diese Deutungsalternativen am Beispiel von K. Barth, E. Troeltsch, P. Tillich und W. Dilthey. Am Beispiel von G. Wobbermin, W. Bender und D.F. Strauß entfaltet er eine Schematisierung und Typisierung von Zuordnungsmodellen30 für die „unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Thesen, die hier aufgetreten sind" (ebd. 13), um anschließend an der Interpretationsgeschichte der Reden zu zeigen, daß die ganz überwiegende Mehrzahl der Interpretationen in den „von ihnen vorausgesetzte[n] Deutealternative[n]" eine der wesentlichen Pointen der Schleiermacherschen (Theologie-) Konzeption gerade verfehlt (ebd. 23). „Man braucht das Alternativschema von Philosophie oder Theologie nur einmal versuchsweise auf die genannten Dokumente anzuwenden, um seine Unbrauchbarkeit zu erkennen." (ebd. 24) Der im Blick auf die ,Reden' gewonnene Ertrag der Kritik lautet dann wie folgt: „Die Frage, ob die Reden ein theologisches oder ein philosophisches Konzept entwickeln, ist also nicht sinnvoll zu beantworten, da jede der beiden möglichen Antworten dann falsch ist, wenn sie als Alternative zu der anderen gedacht wird." (ebd. 25). Diese Kritik mündet dann in einen konstruktiven Neuansatz für die Schleiermacher-Interpretation, der im Rekurs auf das „Konzept einer Philosophischen Theologie" bei Schleiermacher sowie seine funktionale Wesens- und Aufgabenbestimmung am Beispiel der ,Kurzen Darstellung' sowie der .Glaubenslehre' (ChG/ChG2) dargestellt und begründet wird (ebd. 26). Eine einge-

29

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H.-J. Birkner (1974). In dieser subsumiert Birkner die in o.g. Abhandlung zum Tragen kommende Position Wobbermins unter die Vertreter einer Unabhängigkeitsthese (cf. H.J. Birkner [1974] 14f). Diese Einordnung trifft Wobbermins methodischen Grundsatz aber nicht in seiner Gänze. Denn Wobbermin erkennt durchaus ein Moment des Zusammenhangs und der Zusammenstimmung, ohne dadurch zum Vertreter einer Abhängigkeitsthese zu werden, wenn er an einem „Ausgleich und Zusammenklang" festhält (cf. G. Wobbermin [1933] 42). Er betont dabei aber, daß dieser Zusammenklang „für das Endziel erwartet werden, ihm aber auch vorbehalten bleiben [soll]" (ebd. 42). Wobbermins Position weist durchaus einen Konvergenzpunkt auf, doch hat dieser den Status einer regulativen Idee. Birkner unterscheidet hier drei Typen der Interpretation: Unabhängigkeit, Abhängigkeit und Vermittlung (H.-J. Birkner [1974] 13-18).

Z u r Einordnung in den Kontext der Forschungslage

13

hende Explikation dieser Überlegungen im Blick auf Schleiermachers „Philosophische Theologie" unter besonderer Berücksichtigung des historischen Kontextes hat M. Rössler (1994) vorgelegt. 31 II.B

Zur Bestimmtheit des

Interpretationsansatzes

Der Rekurs auf Piaton, bes. auf seine Relationentheorie, Naturphilosophie und Kosmologie einerseits, sowie auf die Naturphilosophie und Naturwissenschaft der Frühromantik andererseits, erscheint im Blick auf das Anliegen einer Klärung von für Schleiermachers Realitätskonzept und seiner Theorieanlage grundlegenden Strukturen auf den ersten Blick zweifellos ungewöhnlich und deshalb erklärungsbedürftig. Dies gilt nicht nur für die Auswahl der beiden Referenzkontexte an sich, sondern auch für die gezielte Kombination beider. Eingangs werden Auswahl und Vorgehen im Rahmen einer sich eher an historisch-biographische Überlegungen anschließenden Argumentation plausibel zu machen versucht. Eine zumindest ähnliche Auswahl legt sich auch bei einer biographieunabhängigeren Betrachtung nahe. Daß beide Herangehensweisen in ihren Ergebnissen korrelieren, ist vermutlich nicht zufällig, sondern durch die Sache bedingt. 32 Es ist zu Beginn auch festgestellt worden, daß Schleiermacher einerseits zwar mit dichotomischen Schemata und mit über Duale organisierten Begriffspaaren arbeitet, 33 andererseits aber durch die spezifische Weise seines Operierens mit ihnen, diese in ihrer zu geringen Komplexität gerade zu überwinden versucht. Trotz der offensichtlichen Erfolgsgeschichte die-

Hinzuweisen ist hier ferner auf die umfangreiche und außerordentlich fundierte Arbeit von R . Stalder (1969), in der aus römisch-katholischer Perspektive die Fragestellung der Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie unter dem Titelstichwort „Fundamentaltheologie" aufgenommen wird. Im übertragenen Sinne findet hier der Grundsatz aus Schleiermachers Hermeneutik Anwendung, demzufolge die „absolute Lösung der Aufgabe" diejenige bildet, „wenn jede Seite für sich so behandelt wird, daß die Behandlung der andern keine Änderung im Resultat hervorbringt, oder, wenn jede Seite für sich behandelt die andere völlig ersetzt, die aber ebensoweit auch für sich behandelt werden muß" (HL 15 bzw. HF 80, § 8). Im einzelnen kann das nur durch die Gesamtargumentation v.U. nachgewiesen werden. Eine erste Orientierung der Argumentationsrichtung bieten die im Text folgenden Überlegungen. Einen nicht unwesentlichen Anteil an der Etablierung dieser dichotomischen Schemata und dualen Einteilungen hat René Descartes mit seiner Unterscheidung zwischen res cogitans und res extensa, in deren Folge es - vereinfacht gesagt - zu einer tendenziellen Trennung der Wirklichkeit in Natur und Geist kam. In diesem Zusammenhang wird häufig von einem „ontologischen Dualismus" gesprochen. Diese Trennung spiegelt sich innerhalb von Kants Erkenntnistheorie und Wissenschaftsphilosophie in der zwischen Subjektivität und Objektivität bestehenden Diastase. Cf. hierzu auch E. Rudolph ( 1 9 8 6 a ) 5. Aufgenommen und weitergeführt wurden diese Auffassung und diese Denkform u.a. auch von der klassischen Naturwissenschaft, speziell der Physik.

14

Einleitung

ses Theorieansatzes wird schon sehr früh Kritik an einzelnen Stufen der skizzierten Entwicklungslinie laut. Das Bemühen Schleiermachers steht insofern nicht isoliert, sondern bildet ein Glied innerhalb einer langen Reihe von Kritikern eines an Dualen orientierten Theorieansatzes. Z u diesen Kritikern 34 gehören Vertreter des Deutschen Idealismus und der frühromantischen Naturphilosophie ebenso wie Schleiermacher und Peirce. Hier sind ferner - wenn nicht unmittelbar, so doch wenigstens mittelbar - auch die moderne Physik, speziell die Relativitätstheorie und Quantentheorie 3 5 sowie evolutionistische Theorieansätze, z.B. in der Biologie, zu erwähnen. 3 6

Insofern sich diese - in aufeinanderfolgenden Stufen - an u.a. der durch Descartes aufgeworfenen Problemlage abarbeiten, entsteht nicht selten die Situation, daß die Kritiker selber unmittelbar Gegenstand der Kritik werden - und das von ihnen Kritisierte mittelbar Gegenstand der Kritik von Dritten. Beispielsweise sei hier die Notwendigkeit der Aufgabe der in der Folge des Descartschen ontologischen Dualismus in der Erkenntnistheorie der klassischen Physik als unstrittig angenommenen Auffassung von der Unabhängigkeit des beobachtenden Subjekts vom beobachteten Objekt genannt. Die verstärkt Fuß fassenden und relativistisch, dynamisch und prozessual ausgerichteten Ansätze widersprechen vergleichsweise statisch und dual bzw. dualistisch geprägten Modellen. In der neueren interdisziplinären Diskussion dieser Problemkreise ist - gänzlich unabhängig von Schleiermacher - zweierlei erkennbar: Zum einen richtet sich das Interesse zunehmend auf jene zeitgenössischen naturphilosophischen Theorieansätze, mit denen sich traditionell eine Kritik des ontologischen Dualismus verbindet (E. Rudolph macht neben Schelling Leibniz, Husserl und Whitehead als „Positionen der Philosophiegeschichte [geltend], die für verschiedene Weisen der Kritik an Descartes typisch und repräsentativ sind" [E. Rudolph {1986a) 5]). Dann wird i.R. von Forschungstagungen zu diversen Problemfeldern wiederholt die Relevanz der antiken Naturphilosophie, Kosmologie und Metaphysik für die moderne Diskussion konstatiert (cf. z.B. E. Rudolph [1982], ferner ders. [1986a] 6f). Der griechisch-antiken Tradition, speziell Piatons Kosmologie und Naturphilosophie verdanken aber auch die zeitgenössischen Ansätze von Schelling und Leibniz, ebenso wie derjenige von Whitehead wesentliche Impulse und grundlegende Einsichten. Auf Schelling wird weiter unten im Zusammenhang des Kontextes der Naturphilosophie noch ausführlicher eingegangen. Im Blick auf eine ebenfalls an späterer Stelle erfolgende Aufnahme eines möglichen Einflusses von Leibniz auf Schleiermacher ist festzuhalten, daß Leibniz mit seiner Theoriealternative in Gestalt der Monadologie anders als andere Kritiker von Descartes - , nicht dem Schema von Subjektivität als fundamentum inconcussum absolutum veritatis verhaftet ist, sondern einen grundsätzlich anderen Ausgangs- bzw. Ansatzpunkt wählt. Dabei ist im Blick auf die vorgelegte Schleiermacher-Interpretation zweierlei relevant: Zum einen ist es die Bestimmung des Charakters der Perzeption als Relation der Vielheit zur Einheit, zum anderen sind es die Vorstellung der Kontinuität bzw. eines kontinuierlichen Übergangs und die Voraussetzung eines (raum-zeitlichen) Kontinuums. Zu eingehenderer Kritik des Cartesianismus durch Leibniz und seiner Naturphilosophie cf. E. Rudolph (1986b). Einen wesentlichen Kulminationspunkt der Arbeiten A.N. Whiteheads stellt die Erarbeitung eines naturphilosophischen Entwurfs in Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der neueren naturwissenschaftlichen Forschung - einschließlich der Relativitätstheorie - dar. Eine eingehendere Behandlung und Berücksichtigung der Arbeiten Whiteheads läge von der Thematik her nahe, muß hier aber aus Gründen des Umfangs wie der Gesamtanlage der

Z u r Einordnung in den Kontext der Forschungslage

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Die Tatsache, daß in den Arbeiten der beiden skizzierten Forschungsrichtungen die Arbeiten Schleiermachers als des Vertreters einer Position, welche um eine Überwindung von Dualismen in Erkenntnistheorie und Ontologie bemüht ist, 37 entweder überhaupt nicht oder nur marginal Berücksichtigung finden, ist weniger problematisch als die Tatsache eines signifikanten Ausfalls einer konstruktiven und produktiven Aufnahme der zeitgenössischen und gegenwärtigen Forschungsdiskussion in diesen Bereichen innerhalb der Schleiermacher-Forschung selber. In v.U. soll deshalb wenigstens in Ansätzen der Versuch unternommen werden, die aufgezeigten Entwicklungen, welche in engem Zusammenhang mit Fragestellungen stehen, welche auch den Gegenstand von Arbeiten Schleiermachers bilden, für das Verständnis Schleiermachers fruchtbar zu machen. Arbeit unterbleiben (im Blick auf eine einführende Gesamtdarstellung sei hier verwiesen auf die Darstellung M . Hampe [1998]). Von der Themenstellung v.U. her erfolgt eine Focussierung auf Texte solcher Autoren, deren unmittelbarer oder auch nur mittelbarer Rezipient Schleiermacher wenigstens potentiell sein konnte. Während der Beitrag von M . Welker (1985b) eine gelungene Einführung sowie Darstellung von Whiteheads relativistischer Kosmologie bietet, behandelt seine Untersuchung (M. Welker [1981]) Whiteheads Kosmologie in theologischer Perspektive. Der relationale und relativistische Zug von Whiteheads Theorieansatz ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Im Blick auf den hier verhandelten Zusammenhang ist auf wenigstens die zwei folgenden Beiträge hinzuweisen: P. Keller (1986) versucht in seinem thematisch an Whiteheads Theorie von Raum und Zeit anknüpfenden Beitrag, eine Verbindung von Whiteheads Interpretation der Relativitätstheorie und seiner Kritik an Descartes herzustellen, während sich der Beitrag von R. Wiehl (1967) auf das Zeitproblem konzentriert. Im einzelnen läßt sich hier ein Geflecht von wechselseitigen Bezugnahmen und unmittelbaren wie auch mittelbaren Verweisen und Abhängigkeiten nachweisen. Dabei ist z.B. auf die Rezeption von Leibniz durch Schelling zu verweisen, welche die Untersuchung von E. Rudolph (1993) zum Gegenstand hat. Neben Piaton fungierte auch die Vorstellung eines Organismus bzw. einer organischen Einheit als Vermittlungsfigur zwischen Renaissance und Frühromantik (sowie z.T. Antike). Gleichzeitig kann Leibniz für die Organismusauffassung als Vermittlungsinstanz zwischen Renaissancephilosophie einerseits und Frühromantik sowie Idealismus andererseits angesehen werden. Dieser Zusammenhang ist es, welcher u.a. in der Untersuchung von K. Gloy (1996) plausibel gemacht und im einzelnen aufgewiesen wird. Verbindungen zwischen Renaissancephilosophie (hier bes. Marsilio Ficino), Piaton bzw. Piatons .Timaios' und Leibniz' Monadologie und Phänomenologie der Kraft andererseits werden u.a. bei E. Cassierer (1927) sowie E. Rudolph (1994) gezogen. Die grundsätzliche Loslösung von einem traditionellen Schema von Subjektivität verbindet Whitehead (und Peirce) mit Leibniz. So hebt auch M . Welker die Andersartigkeit von Whiteheads „Theorie der Subjektivität" hervor, welche seines Erachtens „zu den wichtigsten neuen Errungenschaften von Whiteheads Kosmologie gehört" (M. Welker [1985b] 297). 37

Anders aber z.B. H. Falcke (1976) bes. 4f. Falcke präsentiert Schleiermachers Ansatz in diesem Zusammenhang als eine Theorie der Vermittlung. Ähnlich auch J . Clayton (1985). Während bei Clayton die Betonung des Moments der Vermittlung dominiert, sind für Falcke die Momente des Werdens und des Prozesses leitend: „Die Lösung der Kantschen Antinomie der praktischen Vernunft findet Schleiermacher in einer evolutionären teleologischen Weltsicht. Die Einheit von Sollen und Sein ist im Werden, im Prozeß und Progreß. Sie ist immer zugleich gegeben und aufgegeben." (H. Falcke [ 1 9 7 6 ] 11)

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Einleitung

II.B.l

Schleiermacher

und Piaton

Im Blick auf Piaton ist hier zunächst die Arbeit von G.-A. Krapf zu erwähnen.38 Ausgehend von der Einsicht in die Schlüsselfunktion bestimmter Theorieelemente Schleiermachers wird deren Beitrag als Weichenstellung für das Gesamtverständnis seines Ansatzes thematisiert. Im Durchgang durch die an Schelling und Kant orientierten Interpretationen Schleiermachers von Brunner und Süskind sowie Dilthey und G. Wehrung (ebd. 1-6) weist Krapf ihr Ungenügen auf, ohne gleichzeitig die Tatsache eines starken Einflusses von Kant und Schelling auf Schleiermacher zu negieren. Dabei wird danach gefragt, „to what extent Schleiermacher himself points us toward a different direction when he speaks about Kant and speculative idealism or about the intentions of his own work" (ebd. 7). Nach dem von Krapf selbst geltend gemachten methodischen Grundsatz für eine sachgemäße Interpretation ist zum einen „the work of the thinker itself" zu berücksichtigen, zum anderen „the context to which it belongs" (ebd. 16). Einer (besonders bis Mitte der sechziger Jahre des 20. Jhdts. anzutreffenden) Focussierung auf die ,Reden' und die .Glaubenslehre' Schleiermachers setzt Krapf die Focussierung auf die ,Dialektik' von 1822 als geeigneten Ausgangspunkt für das Verständnis der anderen Arbeiten Schleiermachers entgegen. Während der programmatischen Entschränkung einer auf die .Reden' und die .Glaubenslehre' Schleiermachers beschränkten Betrachtung zuzustimmen ist, kann der Priorisierung der .Dialektik' als hermeneutischem Ausgangspunkt in der von Krapf vorgeschlagenen Form so uneingeschränkt nicht gefolgt werden, wenn dieser schreibt, daß „Schleiermacher's work culminated in his Dialektik and, more precisely, in his Dialektik as drafted in 1822" (ebd. 19). Von der Dialektikkonzeption Schleiermachers von 1822 her legt sich für Krapf dann Piaton als geeigneter Verstehenskontext nahe. „If one fastens one's attention on Schleiermacher's Dialektik, then one begins to see that, although he is quite conscious of living in the period of German idealism, he nevertheless has access to sources that are not generally accessible to his time. It is Plato's philosophy - the spirit of his dialectic [...] which are bound up with this kind of dialectic - which forms the ground on which Schleiermacher stands." (ebd. 21f) Auf dem Weg über die Frage eines sachgemäßen Interpretationsrahmens für Schleiermacher in der Focussierung auf Piaton bzw. auf seine Philosophie befindet man sich auf einem Feld der Auseinandersetzung, welches mit „Schleiermacher und Piaton" betitelt wird. Dabei sind es etwas vereinfachend gesagt - letztlich zwei Diskurszusammenhänge, welche unter diesem Titel firmieren. (1) Ein erster behandelt (eher) die Übersetzung und Interpretation Piatons durch Schleiermacher in philo38

G.-A. Krapf (1953).

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sophiehistorischer und philologischer Hinsicht. Dabei geht es um die Frage, ob und inwiefern diese auch heute noch als zutreffend und den Texten adäquat gelten können. Dieser an einer adäquaten Piatoninterpretation orientierte Diskurs interessiert hier nur sekundär. (2) Ein anderer, davon zu unterscheidender, wenn auch nicht völlig zu trennender, behandelt die Beziehung Schleiermachers zu Piaton. Leitend ist dabei die Frage nach dem Verhältnis der Philosophie Piatons zu der Schleiermachers, näherhin der Beitrag Piatons für Schleiermachers eigene Position. Dieser Zusammenhang steht hier im Vordergrund des Interesses. Dabei müssen zwei Aspekte unterschieden werden: 39 Einmal die Frage nach der faktischen Beeinflussung und Prägung Schleiermachers durch Piaton bzw. durch platonisches Gedankengut (2.1). Dann die Frage, inwiefern und inwieweit Schleiermachers Arbeiten zu Piaton Schleiermachers eigene Position zu erhellen vermögen bzw. inwiefern Schleiermachers eigene Position sich darin ausspricht und wie diese dann näher zu bestimmen ist (2.2). In v.U. liegt der Focus deutlich auf der letztgenannten Fragehinsicht, welche im Hinblick auf die Beantwortung der Frage nach dem adäquaten Interpretationsrahmen den größten Beitrag leisten kann. Sie ist mit erstgenanntem Aspekt aber insofern eng verbunden, als hier - in erstgenannter Fragehinsicht - immer schon Annahmen bezüglich dessen gemacht werden müssen, was denn Schleiermacher überhaupt als Piaton bzw. platonisches Gedankengut vor Augen stand. Damit wird der zuvor erwähnte Zusammenhang der Frage des sachgemäßen Interpretations- und Verstehensrahmens für Schleiermacher berührt. 40 In den letzten Jahren sind - besonders im Zusammenhang eines Wiederauflebens der Kontroverse um eine esoterische oder ungeschriebene Lehre Piatons - nicht nur zu dem ersten der o.g. Diskussionskontexte (1) zahlreiche Beiträge erschienen. 41 Auch der zweite Zusammenhang (2) schlug sich Im Blick darauf, diese beiden Aspekte oder Fragehinsichten nicht zu vermischen, sondern methodisch ausdrücklich zu unterscheiden und getrennt zu beantworten, hat sich besonders A. Arndt in seinen Arbeiten (1996a und 1996b) Verdienste erworben. Denn wenn es so ist, daß eine bestimmte Piatonrezeption bzw. ein bestimmtes Piatonverständnis Schleiermacher nachweislich in seinen Anschauungen prägte, dann erfordert dies eine entsprechende Berücksichtigung im Blick auf die Wahl des Verstehenskontextes. O b dieses Piatonverständnis Schleiermachers dabei eher eine approximative Näherung an den „authentischen Piaton" darstellt oder eher eine Schleiermachersche „Projektion", spielt für diesen Zusammenhang keine Rolle. In dieser bewegten Situation versucht der 1996 von T. Kobusch und B. Mojsisch herausgegebene Sammelband eine Bilanz des Ertrags der vergangenen, dabei besonders der jüngeren Forschung zu ziehen und die Aufgaben der zukünftigen Arbeit zu formulieren. Er orientiert sich dabei primär an den einzelnen Dialogen, erst sekundär an bestimmten Problemlagen. Die Frage einer ungeschriebenen oder esoterischen Lehre Piatons stellt dabei eine unter anderen dar. Direkt und unmittelbar thematisch ist sie im Beitrag von H. Krämer (1996), während der Beitrag von T.A. Szlezäk (1996a) unmittelbar der Frage von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Zusammenhang des ,Phaidros* nachgeht. Im gleichen Jahr ist von M. Hoffmann und M.v. Perger (1996) ein am aktuellen Forschungs-

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Einleitung

in zahlreichen Arbeiten nieder. 42 Ob die Edition der Einleitungen Schleiermachers zu seiner Übersetzung der Dialoge dabei eher als (Mit-)Auslöser zu begreifen ist oder ob nicht umgekehrt diese gerade Folge und Niederschlag der sich zunehmend Bahn brechenden Einsicht in die Interdependenz zwischen Piaton bzw. Schleiermachers Piatonauffassung und Schleiermachers eigener Philosophie darstellt, kann hier offen bleiben. Frühere Arbeiten heben überwiegend das Moment der Sokratik oder der platonischen Dialektik als dialogische Gesprächsführung bei Schleiermacher hervor, welche sie bei Piaton präfiguriert sehen. 43 Demgegenüber verfolgen die Arbeiten von Krapf und Birkner weniger eine Perspektive möglicher oder faktischer Einflußquellen als vielmehr die Perspektive eines adäquaten Verstehensrahmens. 4 4 Wenn dies zunächst auch nur einen Wechsel in der Akzentsetzung der Fragerichtung darstellt, so erweitert sich damit letztlich doch auch die Blickrichtung zugunsten von eher formalen, die Systemarchitektur betref-

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stand orientierter Literaturbericht zu dieser Thematik erschienen, während der Beitrag von K. Oehler (1965), in welchem klassische Positionen und ihre Vertreter berücksichtigt sind, einen guten, ebenso knappen wie pointierten Überblick über die Forschungsdiskussion bis 1 9 6 5 bietet. An dem Wiederaufleben der Diskussion der Frage der ungeschriebenen Lehre Piatons haben besonderen Anteil die Arbeiten der sog. „Tübinger Schule", näherhin T . A. Szlezäk (1985) und (1993). Die in seinen Arbeiten geäußerten Ansichten und z.T. kühnen, einem gewissen - in der Folge von Schleiermacher gewachsenem - Forschungskonsens z.T. deutlich widersprechenden Thesen, sehen sich dabei zunehmender Kritik ausgesetzt. Cf. hierzu die Beiträge von G. Figal (1994), J . Jantzen (1988), P.M. Steiner (1996a), W . Wieland (1994). In einer sich z.T. nachdrücklich auf einen Beitrag Gadamers ( 1 9 6 4 ) beziehenden Überlegung zu dem Motiv für Piatons Reserve gegenüber einer schriftlichen Darstellung seiner Lehre kommt Oehler zu einem Ergebnis, welches im Blick auf Schleiermacher äußerst interessant ist, auch wenn Oehler in diesem Zusammenhang Schleiermacher nicht explizit erwähnt. Gerade weil Piaton sich der Unhintergehbarkeit der perspektivischen Gebrochenheit und der geschichtlichen Relativität seines Systems bewußt ist, dieses „deshalb für ihn nur etwas Hypothetisches, nichts Fertiges, Endgültiges, Abgeschlossenes" repräsentiert, erscheint ihm eine schriftliche Fixierung des Schematismus der Grundprinzipien nicht geboten (K. Oehler [1965] 4 0 6 ) . In dem Maße, wie K. Oehler und H.-G. Gadamer Schleiermacher gegenüber in der Frage der Annahme einer „ungeschriebenen Lehre" oder „indirekten Überlieferung" Piatons divergieren, so konvergieren sie im Blick auf die Begründung ihrer jeweiligen Positionen. Es ergibt sich so das Bild, daß, während sich einerseits zunehmend eine in einem einzelnen Punkt Schleiermacher widersprechende Auffassung Bahn bricht, es andererseits z.T. zu einer Wiederaneigung von sich als plausibel und weiterführend erweisenden Einsichten Schleiermachers kommt (nicht so bei T.A. Szlezäk [1985]; [1993]; [1996a]). Namentlich A. Arndt (1996a), (1996b); R. Bubner (1995a), (1995ba) sowie E. Herms (1992). Cf. z.B. H.-G. Gadamer (1969); W. Hinrichs (1985); F. Kaulbach (1959) und (1968); H. Kimmerle (1985); U. Kliebisch (1981); B. Liebrucks (1964); R.A. Lipsius (1869); R . Odebrecht (1942a) und (1942b); K. Pohl (1954) und (1955); H.-R. Reuter (1979); H.J . Rothert (1970); mittelbar auch W . Schmied-Kowarzik (1985); T. Schulze (1955) und (1985); H.-W. Schütte (1985); F. Wagner (1974); G. Wehrung (1920). Beides widerspricht sich nicht im strengen Sinne, sondern repräsentiert unterschiedliche Akzentsetzungen. Hier sind auch die Beiträge M . Potepa (1985) und bes. (1996) zu nennen.

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fenden Gesichtspunkten. Damit wird die nachfolgend unter (3) erörterte Frage berührt, welchem Theorieelement, welchem Theorieteil oder welcher Disziplin die grundlegende und das Ganze fundierende Rolle zukommt. Während bei dem Rekurs auf Piaton mit dem Ziel eines besseren Verständnisses von Schleiermacher Krapf materialiter den Systemteil der .Dialektik' in den Vordergrund rückt, ist es bei E. Herms 4 5 die ,Ethik' Schleiermachers, welche es in erster Linie zu verstehen gilt. Dabei ist hervorzuheben, daß Herms sich bei seiner Verstehensbemühung einleitend explizit auf die Hermeneutik Schleiermachers bezieht bzw. es sich zur Aufgabe macht, seinem Verstehenszugang zu Schleiermacher die hermeneutischen Grundsätze desselben zugrundezulegen. 46 Hinsichtlich des Standes der bisherigen Forschung spricht Herms von einer „Konzentration auf das Verhältnis

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E. Herms (1992). Leider werden diese in deutlicher Verkürzung - und damit die sachliche Pointe tendenziell verfehlend wiedergegeben. Herms bezieht sich ausdrücklich auf die „,psychologischein] Interpretation'" bei Schleiermacher (Herms [1992] 3). Innerhalb der hermeneutischen Konzeption stellt diese eine Seite der Interpretation dar, deren andere die „.grammatische Interpretation'" ist. Bei Herms ist nun aber weder von der grammatischen Interpretation die Rede, noch wird die psychologische Interpretation als (nur) eine von zwei konstitutiven Seiten vorgestellt. Wenn Herms schreibt „dieser [sc. Text] ist verstanden, wenn er begriffen ist; begriffe^ als Darstellung der Einsichten seines Urhebers und insofern als Produkt von dessen symbolisierender Tätigkeit", erscheint dies als alleinige und damit hinreichende Bestimmung (ebd. 5). In der allgemeinen Einleitung zur Hermeneutik heißt es hinsichtlich der Duplizität der konstitutiven Bezüge einer Rede in § 5: „Wie jede Rede eine zwiefache Beziehung hat, auf die Gesammtheit der Sprache und auf das gesammte Denken ihres Urhebers: so besteht auch alles Verstehen aus den zwei Momenten, die Rede zu verstehen als herausgenommen aus der Sprache, und sie zu verstehen als Thatsache im Denkenden" (HL 11 bzw. HF 77). Für das Verstehen gilt nach § 6 (HL 13 bzw. HF 79) dann: es „ist nur ein Ineinandersein dieser beiden Momente, (des grammatischen und psychologischen)". Dabei ist zu beachten, daß beide einander gleichgeordnet sind (cf. HL 13 bzw. HF 79). Nach Schleiermacher gilt dann in Umkehrung - entsprechend der Duplizität der konstitutiven Bezüge - , daß wenn ein Text nur als Darstellung der Einsichten seines Urhebers verstanden ist, er gerade nicht verstanden ist: „1. Die Rede ist auch als Thatsache des Geistes nicht verstanden wenn sie nicht als Sprachbezeichnung verstanden ist [...] 2. Sie ist auch als Modification der Sprache nicht verstanden wenn sie nicht als Thatsache des Geistes verstanden ist" (HL 13 bzw. HF 79). Es stellt eine Verkürzung und Verfehlung der Schleiermacherschen Hermeneutik dar, wenn Herms unter Berufung auf Schleiermacher das Verstehen einer sprachlichen Äußerung mit der Erfassung der Autorintention identifiziert, wenn er mit Verweis auf Schleiermacher schreibt, „daß es beim Verstehen einer sprachlichen Äußerung auf die Erfassung der intentio auctoris ankomme" (Herms [1992] 3). Ferner ist darauf hinzuweisen, daß die synonyme Verwendung von intentio auctoris und psychologischer Interpretation bei Herms problematisch ist, denn beides ist bei Schleiermacher nicht einfach identisch, bzw. die psychologische Seite der Interpretation bei Schleiermacher geht gerade nicht einfach in der intentio auctoris auf. Dies wird in der summarischen Charakter habenden vierfachen Formel des Verstehens nachweislich deutlich. In dieser werden - wie bei Schleiermacher so oft - zwei (relative) Gegensätze miteinander verschränkt. In § 18 (HL 31f bzw. HF 93) heißt es: „Die Kunst kann ihre Regeln nur aus einer positiven Formel entwickeln und diese ist das geschichtliche und divinatorische (profetische),

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Schleiermachers zu den Häuptern der Transzendentalphilosophie" und konstatiert, daß „sich die Forschung [bisher] überwiegend mit der Bedeutung der Lektüre von Kant, Fichte und darüber hinaus Schelling für die Genese von Schleiermachers Grundeinsichten beschäftigt" 47 hat. Sachlich konvergiert sein Urteil dabei mit den von Krapf geäußerten Einsichten dahingehend, daß das „Einzige sichere Ergebnis aller dieser Bemühungen [das] ist, daß Schleiermacher jedenfalls nicht einfach wie Kant, Fichte, Schelling, geschweige denn Hegel gedacht hat. Offen aber ist nach wie vor die Frage, wie er selbst nun gedacht hat." 4 8 Ganz ähnlich wie Krapf will auch Herms ergänzend - und damit letztlich auch korrigierend - gegenüber der bisherigen Forschung 49 nichts „anderes als einen Hinweis auf diesen grundlegenden und bleibenden, bis in die reife Schaffenszeit dauernden Einfluß von Schleiermachers Plato- und Aristoteleslektüre für seine ethische Theorie [...] geben" 50 . Wenn Herms hinsichtlich Schleiermachers „eigene[m] Denkweg" in Anschlag bringt, daß „vor und neben den Vertretern des Kritizismus Autoren der klassischen Tradition einen maßgeblichen und bleibenden Einfluß genommen haben" 51 , verbindet ihn dies mit Krapf. Herms hat dabei verdienstvollerweise auch auf die Bedeutung der Einlei-

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objective und subjective Nachconstruiren der gegebenen Rede." Während die psychologische Seite der Interpretation die Momente des geschichtlichen und divinatorischen Nachkonstruierens umfaßt, entspricht die intentio auctoris allenfalls dem Moment der geschichtlichen Nachkonstruktion. Diese alleine unterschreitet bzw. verfehlt in gravierender Weise den bei Schleiermacher vorhandenen Grad an Komplexität des Verstehens. Dem folgenden, eigens der Hermeneutik Schleiermachers gewidmeten Abschnitt teilweise vorgreifend, sei hier hinsichtlich intentio auctoris und intentio operis verwiesen auf U. Eco (1992) 148-152. Dem Zusammenhang zwischen der Piatonübersetzung Schleiermachers sowie seiner Hermeneutikkonzeption widmet sich der Beitrag von W. Virmond ([1984] 225f), welcher auch besonders die am Autor orientierte Seite der „technischen Interpretation" behandelt, diese dabei aber immer im Zusammenhang mit der Seite der „grammatischen Interpretation" begreift. Von daher wendet er sich auch ausdrücklich gegen die im Gefolge von Dilthey und Kimmerle sich etablierende Unterscheidung und Trennung zwischen einer „frühen", sprachorientierten „Sir«fei«rhermeneutik" und einer „späten", am Autor bzw. der Genese orientierten „Produktionshermeneutik", „denn stets hat Schleiermacher beides als zwei Seiten einer Sache behandelt" (W. Virmond [1984] 231, Anm. 18). Die Komplexität und der sachliche Gehalt des Schleiermacherschen Hermeneutikkonzepts sind nicht nur äußerst treffend erfaßt, sondern auch prägnant und konzise dargestellt in dem höcht lesenswerten Beitrag von M. Pöttner (1990), der in der Erhellung der grundlegenden Struktur auch von vielen nach ihm erschienenen, umfangreicheren Arbeiten bis dato nicht eingeholt ist. E. Herms (1992) 4. E. Herms (1992) 4. Andere Arbeiten, welche das Verhältnis Schleiermacher und Piaton - wenn auch unter z.T. anderer Perspektive - betrachten, sind z.B. A. Arndt (1996b); F. Christ (1985); H.J. Gadamer (1969); J. Jantzen (1996); G.-A. Krapf (1953); G. Moretto (1984); G. Scholtz (1985); P.M. Steiner (1996a); W. Virmond (1984); N. Vorsmann (1968). Nicht aufgeführt sind hier Arbeiten, in welchen Schleiermacher im Zusammenhang der Frage der sog. „ungeschriebenen Lehre" behandelt wird. E. Herms (1992) 5. E. Herms (1992) 5.

Z u r E i n o r d n u n g in den Kontext der Forschungslage

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tungen und Kommentierungen Schleiermachers zu den Übersetzungen der Dialoge Piatons als literarischen Niederschlag dieses Einflusses neben den .Grundlinien' (GKS) hingewiesen. Dem Mangel einer verfügbaren und zuverlässigen Textgrundlage ist aber erst 1996 durch die von P. M. Steiner besorgte Edition (ÜPhP) - wenigstens teilweise - abgeholfen worden. Von Krapf unterscheidet Herms die Herausarbeitung einer zweifachen - z.T. bei Schleiermacher schon explizit markierten - Differenzierung. Herms macht zum einen - besonders im Blick auf die GKS - deutlich, daß die Zustimmung zu Piaton bzw. zustimmende Aufnahme von Piaton sich auf die Seite der „sachgemäßen Form" der Ethik bezieht.52 Davon ist die eher materiale Seite der „inhaltlichen Bestimmungen" zu unterscheiden, welche sich verbindet mit einer ausdrücklichen Begrenzung der positiven Bezugnahme Schleiermachers auf Piaton.53 Unmittelbar damit hängt die andere Differenzierung zusammen, derzufolge Schleiermachers scheinbar durchgehende, geradezu auffällig positive Würdigung Piatons - besonders im Kontext der Platoneinleitungen - in spezifischer Weise „gebrochen" wird durch eine Kritik Piatons im Blick auf materiale ethische Bestimmungen. In diesen Punkten verbindet sich die Kritik an Piaton mit einer positiven Aufnahme von Elementen, welche sich nach Herms bei Aristoteles wiederfinden. 54 Detailliert durchgeführt findet sich bei Herms 52 53

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Cf. E. Herms (1992) 5f und 19 sowie GKS lOf. Cf. E. Herms (1992) 6. Wenn sich die Unterscheidung dieser beiden Perspektiven auch schon in Schleiermachers GKS explizit und wiederholt findet, so hat sie doch E. Herms hier erstmalig in der Literatur hinsichtlich einer positiven Bezugnahme auf Piaton im Sinne einer Begrenzung, nämlich Beschränkung derselben auf die formale Seite, hervorgehoben. Auf das Vorhandensein dieses Moments einer Sachkritik auch Piaton gegenüber bei Schleiermacher aufmerksam gemacht zu haben, bleibt ein Verdienst von Herms, wenn er schreibt, daß „diese inhaltliche Piatonkritik genau die Stelle bezeichnet, an der Schleiermachers eigene inhaltliche Bestimmung des Sittlichen de facto Grundeinsichten der praktischen Philosophie des Aristoteles aufgreift; und daß also die durchgehende negative Kritik, die dieser Autor 1803 erfährt, tatsächlich nur Mängel der Form betrifft und nicht ausschließt, daß Schleiermacher sich an die inhaltlichen Bestimmungen des .Sittlichen' bei Aristoteles unter Umständen genauer anschließen konnte als an die platonischen" (Herms [1992] 6). Im Blick auf das Verhältnis Schleiermacher - Piaton darf dann aber umgekehrt auch die Einschränkung dieser Kritik (bzw. der positiven Bezugnahme auf Aristoteles) nicht aus den Augen verloren werden. Sie begegnet nur in einer Einleitung (sc. der letzten, zum ,Staat') und bezieht sich zudem ausdrücklich nicht auf die sachgemäße Form, sondern nur auf den materialen Inhalt. Daß bei Herms demgegenüber die allgemeine Einleitung sowie andere, z.B. die zum .Sophistes', völlig zurücktreten, mag dem besonderen, den Artikel leitenden Erkenntnisinteresse geschuldet sein und kann insofern für diesen Zweck als berechtigt angesehen werden. Dennoch ist daran zu erinnern, daß die in beiden Texten geäußerten Zu- und Einordnungen Schleiermachers explizit auch in der Einleitung in den .Staat' als nach wie vor gültig festgehalten werden. Cf. die Äußerungen zur Zentralstellung des .Sophistes' in PWE III, 26f. Ferner erfolgt eine explizite Identifizierung der von Schleiermacher positiv aufgenommenen inhaltlichen Gehalte mit der Position von Aristoteles, wie sie von Herms in Anschlag gebracht wird, bei Schleiermacher gerade nicht.

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Einleitung

seinem Focus auf die Ethik entsprechend - der Aufweis von Beziehungen, Affinitäten und Parallelen zwischen Piatons und Schleiermachers Ethik sowie den Differenzen gegenüber Entwürfen im Gefolge von Kant,55 womit aber weder der Gehalt der GKS noch letztlich die Tendenz der Dialogeinleitungen Schleiermachers sachlich „ausgeschöpft" werden. So treffend und richtig das Resümee von Herms ist,56 so läßt es doch Fragen offen oder gänzlich unberührt: Ist die Ethik die einzige Disziplin, in welcher Schleiermacher Piaton folgt?57 Gibt es tieferliegendere, disziplinunspezifischere Gründe für die Zuwendung Schleiermachers zu Piaton? Es handelt sich hierbei um Fragen, welche von den GKS und den Platoneinleitungen her beantwortbar sind bzw. darin beantwortet werden. Die GKS lassen deutlich erkennen, daß sich hinter der im Vordergrund stehenden Frage nach einer wissenschaftlichen Begründung der Ethik die grundsätzlichere Frage nach der Entstehung, Begründung und dem Zusammenhang von Wissen und Wissenschaft verbirgt.58 Gerade hier liegt für Schleiermacher die in seinen Augen unerreichte Leistungsfähigkeit Piatons - auch gegenüber Spinoza,59 namentlich für die Begrün55

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Cf. hierzu besonders E. Herms (1992) 7-19. Im Ergebnis darf Piaton nicht nur hinsichtlich seiner Andeutungen im Blick auf die Idee des Guten „also mit Fug und Recht als Quelle der diesbezüglichen eigenen Einsichten Schleiermachers gelten", sondern auch bei dem Begriff der Tugend sowie besonders auch bei dem des Höchsten Gutes, wobei Herms treffend der sachlichen Bedeutung des Begriffs der Darstellung (sc. als explicans des explicandums Höchstes Gut) Rechnung trägt (E. Herms [1992] 14). Im Blick auf das Moment der thematischen Vollständigkeit „verdichtet sich" nach Herms „der Eindruck von der Vorbildlichkeit der platonischen Ethikkonzeption für Schleiermacher" (E. Herms [1992] 18). „Soweit unsere Übersicht. Sie zeigt: alle Momente des Begriffs der sachgemäßen Form der wissenschaftlichen Ethik findet Schleiermacher bei Plato erfüllt. Und zwar nicht nur faktisch, sondern in einer für ihn selbst unverkennbar vorbildlichen Gestalt. Wenn also Schleiermachers Arbeit an der deutschen Platoausgabe die Gründlichkeit seiner Platostudien belegt, so beweisen die Grundlinien, daß von diesen Studien auch eine grundlegende Inspiration für seine eigene Konzeption der wissenschaftlichen Ethik ausging." (E. Herms [1992] 19) Eine Focussierung der Ethik ergibt sich für Herms im Kontext der Platoneinleitungen vermutlich auch durch seine überaus starke Gewichtung, ja annähernd ausschließliche Konzentration auf Schleiermachers Einleitung in den ,Staat'. Dies tritt nicht nur in der Einleitung und am Ende des dritten Buchs zutage, sondern auch bes. im Anhang „Vom Stil der bisherigen Sittenlehre" (GKS 334-340) und dem „Beschluß" (GKS 341-346). Völlig zutreffend hält Herms - im Unterschied zu einem großen Teil der Schleiermacherliteratur - fest, daß neben Piaton Spinoza in den .Grundlinien' ein besonderer Rang zukommt. Dabei ist aber fraglich, ob „diese [sc. Piaton und Spinoza] auch durchgehend und ausnahmslos mit positiven Noten versehen werden" (E. Herms [1992] 6). Streng genommen kann man das für Schleiermacher nur von Piaton sagen. Der von Herms vorgenommenen parataktischen Verhältnisbestimmung zwischen Piaton und Spinoza hinsichtlich der Wertschätzung durch Schleiermacher kann hier nicht gefolgt werden. Cf. zur Bedeutung Spinozas - in Weiterführung und Modifikation der Auseinandersetzung Schleiermachers mit Kant - G. Meckenstock (1988), H. Mulert (1923) sowie KGA 1/1, LXXV-LXXXIII.

Z u r E i n o r d n u n g in den Kontext der Forschungslage

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dung und den Zusammenhang aller Wissenschaften und für das sachgemäße wissenschaftliche Verfahren. Aber selbst bei einer Konzentration auf die Ethik drängen sich diese Fragen auf. Für Schleiermachers eigene Ethik ist konstitutiv die „kritisches Verfahren" genannte Methode. In ihr spiegelt sich das in den GKS sog. „heuristische" Verfahren, 60 welches einen entscheidenden Differenzpunkt gegenüber den „Vertretern des Kritizismus" 61 markiert. Die andere Seite des damit gestellten Problems wird in den GKS zu Beginn mittels der Frage nach dem Zusammenhang der Teile eines Systems und nach der höchsten Instanz, wovon diese Teile abgeleitet werden, angesprochen.62 Später redet Schleiermacher hier auch vom höchsten Wissen und von der Wissenschaftslehre.63 Auf diesen Zusammenhang bezieht sich auch der von Schleiermacher noch in der Einleitung zum Staat als „Kern" des Platonischen Gesamtwerks bezeichnete Dialog ,Sophist'. 64 Diese Linie wird dann auch in der v.U. weiter verfolgt. Das Moment einer Sachkritik Schleiermachers an Piaton hat auch der Beitrag von W. Schultz zum Gegenstand, in welchem der „Begriff des Unendlichen" in das Zentrum der Untersuchung rückt. 65 Als einem sich durch die Schriften Schleiermachers hindurchziehenden Begriff räumt Schultz ihm eine Schlüsselfunktion ein. Hierin ist Schultz ebenso zuzustimmen wie hinsichtlich der Feststellung, daß von Schleiermacher auch sachkritische Momente gegenüber Piaton (und anderen griechischen Denkern66) geltend gemacht werden. In der Sache zielt die Argumentation von Schultz auf eine bei Schleiermacher gegenüber dem griechischen Denken veränderten Bewertung des Unendlichen. Hier kann - ungeachtet gewisser Probleme mit der Argumentation von Schultz67 - die für das Schleier60 61 62 63 64 65

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Cf. GKS 338-340. E. Herms (1992) 5. Cf. GKS 5-16. Cf. GKS 19-29. Cf. PWE III, 27. W. Schultz (1968b) 263 und öfter. Der Beitrag von W. Schultz versucht „durch eine Untersuchung der wichtigsten Textstellen in den Reden und Monologen festzustellen, was Schleiermacher mit dem Sachverhalt des Unendlichen gemeint hat, und wie in diesem Verstehen seine Nähe bzw. Ferne zum griechischen Ethos Ausdruck gewinnt" (W. Schultz [1968b] 265). Die von Schultz ins Auge gefaßte Differenz ist dabei weniger eine zwischen Schleiermacher und Piaton oder Piaton und Aristoteles (wie beispielsweise in der Untersuchung von E. Herms [1992]), sondern eine zwischen Schleiermacher und dem Denken der griechischen Antike insgesamt. Gerade im Hinblick auf Schleiermachers Interpretation der Werke Piatons bzw. der Rekonstruktion seines Denkens erscheint die von Schultz zugrundegelegte, stark dual organisierte Teilung bzw. Gegenüberstellung zwischen einer wesentlich negativen (im griechischen Denken) und einer wesentlich positiven (im Denken Schleiermachers) Wertung der Unendlichkeit problematisch. Schultz bezieht sich ausdrücklich auf eine „allgemeine Übereinstimmung", welche heute (darüber) herrscht (ebd. 263), ohne daß er diese aber näher bestimmt. In der Schleiermacherschen Platonrezeption erscheint das Gegenüber von Bestimmtem und Unbestimmtem, Begrenztem und Unbegrenztem differenzierter und komplexer als die von Schultz vorausgesetzte Zuordnung von Unendlichkeit mit

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Einleitung

machersche Denken in methodischer und methodologischer Hinsicht große Bedeutung des Unendlichen festgehalten werden.68 chaotischer „Unbestimmtheit" sowie von Vollkommenheit mit „Begrenztheit" (ebd. 263). Das Bestehen einer gewissen Spannung zwischen Schleiermacher und seinem eigenen Interpretationsansatz bemerkt Schultz und hält sie ausdrücklich fest, wenn er schreibt, es sei beachtenswert „daß Schleiermacher in seiner Abhandlung [sc. der Akademieabhandlung .Über Anaximandros' vom 11.11.1811, cf. SW III/2, 171-206] gar nicht die Frage kommt, ob eine positive Wertung des Unendlichen griechisch oder ungriechisch sei" (W. Schultz [1968b] 263). Tatsächlich entzieht sich die Bestimmung der Bedeutung des Unendlichen bei Schleiermacher dem alternativen Deuteschema „positiv oder negativ", welches darüberhinaus eher an Bewertungen als an Funktionsbestimmungen orientiert zu sein scheint. Nicht unerwähnt bleiben soll hier, daß der von Schultz als Beleg für seine These wiedergegebene Textauszug aus einem auf Anfang September 1803 zu datierenden Brief Schleiermachers an Reimer in seinem Ausschnittcharakter die Aussageintention Schleiermachers verfehlt bzw. stark verzerrt. Der von Schultz ohne genaue Quellenangabe zitierte Satzteil findet sich in Br III, 360, wo Schleiermacher schreibt: „Meine Lust zum Plato wächst täglich ohnerachtet mir auch die Schwierigkeiten näher kommen, und ich fühle bestimmt daß es das nützlichste ist was ich thun kann. Es ist nicht nur am Plato selbst gar Vieles aufzuklären, sondern der Plato ist auch der rechte Schriftsteller um überhaupt das Verstehen anschaulich zu machen, worin doch die Leute sehr zurück sind. Ich selbst gewinne sehr dabei daß mir meine Einstimmungen und Abweichungen von Plato immer klarer werden, und so wird auch dasselbe Vergleichen in Absicht auf die Kunst und den Styl ein besondrer Gewinn für die Keime meiner Dialogen, wenn aus diesen noch etwas wird." Ein anderes von Schultz in diesem Zusammenhang angeführtes Zitat (PhE 167; cf. W. Schultz [1968b] 263) stellt keinen Beleg für die Kritik Schleiermachers an der griechischen Philosophie dar, sondern belegt die aus der Irrationalität der Sprachen sich ergebende Irrationalität der einzelnen Philosophien gegeneinander. Der von Schultz geäußerte Hinweis auf eine in der Literatur zumeist marginalisierte kritische Perspektive Schleiermachers auf Piaton wird damit keineswegs hinfällig, nur ist das von Schultz beigebrachte Zitat als Beleg dafür weniger geeignet. Schultz erkennt dabei zutreffend sowohl die Oszillation als allgemeines und universales Grundgesetz des Lebens, wie er auch neben Leibniz und Spinoza auf Nicolaus von Cues als Vertreter einer positiven Auffassung des Unendlichen verweist. Die Funktion des Cusaners - in der Vermittlung durch Giordano Bruno - für die das Denken Schleiermachers bestimmenden Elemente ist in der Literatur fast völlig übersehen worden. Eingehend beschäftigt sich damit der Beitrag von W. Sommer (1970). In einem anderen Beitrag wird das Moment der Unendlichkeit in Form der „unendlichen Bewegung" im Zusammenhang der Hermeneutik Schleiermachers erörtert (cf. W. Schultz [1968a]). Hierbei bemüht sich Schultz um den Aufweis von Parallelen zwischen Schleiermacher und Leibniz, wobei Schultz auch hier auf das Moment der Oszillation als der „Urformel alles endlichen Lebens" hinweist (cf. ebd. 27ff). Neben dem „Gesetz der oszillierenden Gegensätzlichkeit" wird von Schultz als zweiter Grund der „unendlichen Bewegung der Hermeneutik" das „Prinzip der freien Geselligkeit" geltend gemacht, welchem nach Schultz „bisher wenig Beachtung geschenkt worden [ist]" (ebd. 31f). Der .Hermeneutik' Schleiermachers ist auch die Arbeit von W. Schultz (1953) gewidmet, die aber entscheidend darunter leidet, in ihrer Interpretation sich zu eng und zu unkritisch an die Lesart Diltheys anzuschließen, so daß sie trotz vieler zutreffender Einzelbeobachtungen die ,Hermeneutik' Schleiermachers unter dem Vorzeichen „pantheistische[r] Mystik" und romantischer „Kongenialitätslehre" als psychologisierend und „platonisch-idealistischpantheistisch" fundiert versteht bzw. mißversteht (ebd. 169.171.173). Die Annahme dieser Voraussetzungen im Blick auf die Hermeneutik gelten in der neueren Schleiermacherforschung als widerlegt. In der Arbeit von W. Sommer (1970) werden die auch von Schultz genannten Theorieelemente (Oszillation, Unabgeschlossenheit, Unendlichkeit) aufgenommen und gleichzeitig damit ein Pantheismusvorwurf widerlegt.

Z u r Einordnung in den Kontext der Forschungslage

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Eine stärkere Betonung der Bedeutung von Aristoteles für Schleiermacher wird von A. Arndt geltend gemacht, besonders im Blick auf Schleiermachers Studienzeit in Halle (1787-1890), wenn gleichwohl auch er die Auffassung vertritt, daß eine Beschäftigung Schleiermachers mit Piaton schon für die Zeit seines Schulbesuchs in Niesky (1783-1785) angenommen werden muß. 69 Rein historisch gesehen liegt somit vor der vertieften und gezielten Beschäftigung Schleiermachers mit Piaton - beginnend etwa ab 1798 im Zusammenhang des Symphilosophierens mit F. Schlegel - eine eher durch die Beschäftigung mit Aristoteles geprägte Periode.70 Arndt gewichtet ferner den Einfluß von Kant und Aristoteles deutlich stärker als den von Piaton71 und verweist auf den Anteil Schle69 70

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Cf. A. Arndt (1996a) 1178 sowie KGA V/1, XXVIII. Cf. eingehender hierzu A. Arndt (1996a) 1178-1180. Über die Bedeutung für Schleiermachers Denken ist damit noch nichts ausgesagt. So schreibt Schleiermacher sogar im Blick auf Piaton in einem Brief an H. Herz vom 10.08.1802 rückblickend: „Wie wenig habe ich den Piaton, als ich ihn zuerst auf Universitäten las, im Ganzen verstanden, daß mir oft wohl nur ein dunkler Schimmer vorschwebte" (Br I, 328). Wenn Schleiermacher fortfährt, indem er schreibt, „und wie habe ich ihn dennoch schon damals geliebt und bewundert", so tut er das, weil es ihm ein „Beispiel" dafür ist, daß und wie das „Prophetische im Menschen und [...] das Beste in ihm von Ahndungen ausgeht" (ebd. 328). Cf. A. Arndt (1996a) 1181 und 1192. So schreibt Arndt (dabei auf den zuvorgenannten Brief an H. Herz bezugnehmend): „daraus [sc. daß er damals Piaton mit gleichem Eifer wie Kant studiert hat] kann jedoch nicht geschlossen werden, daß Piaton einen vergleichbaren Einfluß auf Schleiermacher gehabt habe, wie er sich in bezug auf Kant belegen läßt" (A. Arndt [1996a] 1181). Unabhängig davon, wie man in dieser Sache entscheidet, ist es aber äußerst problematisch, sich zur Begründung der hier von Arndt favorisierten Position auf die zuvor genannte Briefstelle zu berufen. Denn diese sagt - unter Berücksichtigung des textpragmatischen Kontextes - genau das Gegenteil. Von Schleiermacher werden seine Piaton- und Kantstudien ja gerade explizit als „Beispiele]" für die Bedeutung von „Ahndungen" bzw. des „Prophetische[n]a angeführt (Br I 328). Im Blick auf Piaton äußert sich Schleiermacher dahingehend, daß er wohl schon früh den Wert von Piaton ahndete, ihn aber erst später genauer erkannte und gänzlich verstand. Im Blick auf Kant verhält es sich (entsprechend der Struktur des Prophetischen oder einer Ahndung) ganz parallel - nur mit gegenläufigem Ergebnis. So fährt Schleiermacher fort, indem er sagt, „und wie habe ich über Kant, den ich damals auch etwa mit ebensoviel Glück und Kraft studirte, ganz dasselbe Gefühl gehabt von seiner Halbheit, seinen Verwirrungen, seinem Nichtverstehen Anderer und seiner selbst, wie jezt bei der reifsten Einsicht" (Br I, 328). Es ist richtig, daß Schleiermacher demzufolge Kant ebenso intensiv studiert hat wie Piaton, aber die reife Einsicht meint hier gerade nicht eine positive Wertschätzung, sondern ist im Argumentationsduktus zu verstehen als Einsicht in eben jenes, was sich ihm zuvor nur ahndungsweise, als Gefühl aufgedrängt hat. Auch hier ist ja die Aussage einer Kontinuität zwischen erster Ahndung von Kants „Halbheit, [...] Verwirrungen, [...] Nichtverstehen Anderer und seiner selbst" und dem Inhalt von Schleiermachers reifer „Einsicht" intendiert. Die Paraphrase der Kant betreffenden Äußerung Schleiermachers durch Arndt verfehlt gerade diese Pointe, wenn er schreibt, daß Schleiermacher „in diesem Zusammenhang [zwar] auch [sagt], er habe Piaton mit gleichem Eifer wie Kant studiert und ebensowenig wie diesen verstanden" (A. Arndt [1996a] 1181). So wie er trotz oder wegen seines intensiven Kantstudiums schon damals (nur) ein „Gefühl [...] von seiner Halbheit [gehabt]" hat, so jetzt später eine klare „Einsicht" in dieselbe Halbheit. Nur wenn die Pointe so bestimmt wird, lassen sich die angeführten Beispiele als Beispiele

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Einleitung

gels 72 , der diesem sowohl hinsichtlich der Idee eines Übersetzungsprojekts als auch hinsichtlich hermeneutisch-philologischer Überlegungen zukommt. So kommt Arndt hinsichtlich der Frage einer sachlichen Bedeutung von Piatons Philosophie für die Schleiermachers zu dem Resultat, daß einerseits „diese Frage [...] von der Forschung bisher noch nicht umfassend zum Gegenstand gemacht worden [ist]" und andererseits „Schleiermacher selbst [...] sich [...] hierzu nicht bestimmt geäußert [hat]". 7 3 Demgegenüber werden - über die Arbeit von Krapf hinaus - in unterschiedlichen Untersuchungen in höherem Maße sachliche Bezüge und Abhängigkeiten behauptet und aufgewiesen. 74 Dabei treten in den Beiträgen von H.-G. Gadamer, G. Moretto, K. Pohl, K.-H. Schäfer und G. Scholtz das Thema Dialektik sowie der Dialog .Sophistes' auffällig in den Vordergrund. 7 5 Am deutlichsten und profiliertesten erscheint dies bei G. Scholtz 76 , welcher ebenfalls auf geringe Resonanz dieser Frage in der Forschung bzw. der Literatur und auf Probleme hinsichtlich der Quellenlage verweist. 77 Der erste Gesichtspunkt ist wohl auch der Grund dafür, warum die - besonders hinsichtlich der Themenbereiche Dialektik, Wissenschaftslehre und ,Sophistes' beobachtbare - Konvergenz zwischen Ergebnissen der an der Philosophie Piatons orientierten Forschung einerseits und der an der Piatonrezeption und Piatoninterpretation Schleiermachers orientierten Forschung andererseits nicht so deutlich artikuliert wird. Selbst wenn man hier im Blick auf den Einfluß Piatons zurückhal-

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für die Bedeutung und den Wert des „Prophetischen" begreifen. Ein ganz ähnliches Mißverständis liegt vor, wenn G. Meckenstock auf diese Briefstelle verweist und schreibt, Schleiermacher „schwächt" hier „den Wandel in seinem Verhältnis zu Kant zu stark a b " (G. Meckenstock [1988] 2 2 0 , Anm. 6). Der von Meckenstock zutreffend erkannte und beschriebene Überbietungsanspruch Schleiermachers gegenüber Kant wird durch diese Briefstelle also nicht eingeschränkt oder abgeschwächt, sondern gerade aufrechterhalten und bestärkt. Der Gesamtduktus der Argumentation Meckenstocks wird durch diese Stelle letztlich gestützt und nicht - wie Meckenstock meint - punktuell in Frage gestellt. Cf. A. Arndt (1996a) 1 1 8 1 - 1 1 8 4 , 1190 und 1192. Darauf weist Arndt zu Recht hin. Cf. zur Bedeutung F. Schlegels für Schleiermachers Piatonverständnis auch die Arbeiten von J . Körner (1928); H. Patsch (1966a) und (1982) sowie H. Birus (1980). Eine Untersuchung zu der Beziehung zwischen Schleiermachers Piatoninterpretation und seiner Hermeneutikkonzeption hat W . Virmond (1984) vorgelegt, worin auch die Momente Organismus, Keimentschluß und Ahndung Berücksichtigung finden. A. Arndt (1996a) 1 1 9 2 . Cf. H.-G. Gadamer (1969); G. Moretto (1984); K. Pohl (1954) und (1955); K.-H. Schäfer ( 1 9 6 5 ) bes. 14-17; G. Scholtz (1984) und (1985); J . Schurr (1975) bes. 2 7 - 1 6 7 ; W . Virmond (1984); N. Vorsmann (1968). Daneben bildet die Pädagogik bzw. Erziehungstheorie einen Leitgesichtspunkt der Betrachtung bei Vorsmann und Schurr. Bei dem Beitrag von Virmond ist besonders der Aspekt der Hermeneutik Schleiermachers leitend bei der Analyse des Verhältnisses zwischen Piaton und Schleiermacher. G. Scholtz (1985), aber auch schon ders. (1984) 98ff. Nicht unbedeutend ist diese Blickrichtung bei K. Pohl (1954) bes. 1-37. „Allerdings fehlt bisher eine ausführliche Studie zu diesem Sachverhalt. Es gibt freilich nur wenig Quellen zu Schleiermachers Piaton-Auffassung [ . . . ] " (G. Scholtz [ 1 9 8 4 ] 97.

Zur Einordnung in den Kontext der Forschungslage

27

tender urteilt 78 , wonach vieles „eher für die These [spricht], hier habe eine systematisch interessierte Interpretation stattgefunden", gilt, daß diese Interpretation gerade dann „in vielem eher für Schleiermacher als für Piaton erhellend" 79 ist. In einem anderen Zusammenhang wird von Arndt einerseits - in Zurückweisung der Möglichkeit, aus Schleiermachers Selbstaussagen entsprechende Schlußfolgerungen zu ziehen - ein bestimmender Einfluß Piatons auf Schleiermacher in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht explizit verneint. 80 Andererseits hebt er gleichzeitig den möglichen heuristischen Wert von Schleiermachers Piatoninterpretation für das Verständnis von Schleiermacher hervor.81 Eben diese primär am Verständnis Schleiermachers bzw. seiner Texte interessierte Fragehinsicht ist es, die entsprechend der Anlage und dem Interesse der v.U. primär im Vordergrund steht. Wenn Arndt abschließend in seinem Beitrag resümiert, daß indessen „hierüber [sc. der Erhellung Schleiermachers durch seine Piatoninterpretation] das letzte Wort der Forschung noch nicht gesprochen" 82 ist, so soll mit v.U. auch ein Beitrag dazu - wenn auch gewiß nicht ein „letztes Wort" - geleistet werden. Mit der so gestellten Frage nach einem Verstehen Schleiermachers ist die Frage nach einer adäquaten Rahmentheorie für Schleiermacher unmittelbar berührt. Während sich bei der bisherigen Betrachtung des Themenbereichs Piaton aus der Perspektive der Schleiermacher-Forschung ungeachtet aller sonstigen inhaltlichen Divergenzen eine gewisse Konvergenz hinsichtlich der Frage nach dem Theorierahmen und dem heuristischen Wert der Piatoninterpretation Schleiermachers für das Verständnis abzeichnet, lassen sich auch aus der Perspektive der Platon-Forschung bestimmte hervortretende Punkte beobachten, welche manche der o.g. Überlegungen stützen und darüberhinaus in inhaltlicher Hinsicht einen Beitrag zu den oben angeschnittenen Fragen leisten können. Als einer der in diesem Zusammenhang interessanten - weil im Blick auf die Interpretation Schleiermachers ertragreichen - Gesichtspunkte ist Piatons Entwicklung einer Theorie von Relationen zu nennen. Es kann gezeigt werden, daß für 78

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So beispielsweise A. Arndt, wenn er schreibt, daß die „Tatsache, daß in der Entwicklung seines [sc. Schleiermachers] eigenständigen philosophischen Standpunktes aus dem Bereich der Antike eher aristotelische als platonische Einflüsse spürbar sind [...], läßt vermuten, daß der Einfluß Piatons auf die Formierung seines Systems eher gering zu veranschlagen ist" (A. Arndt [1996a] 1192). A. Arndt (1996a) 1192. Cf. A. Arndt (1996b) VII. Diese Negation etwas abschwächend und einschränkend äußert er an späterer Stelle des gleichen Beitrags die Vermutung, daß der Einfluß Piatons „eher gering" sei und räumt ein, „daß dann im Einzelnen Elemente der platonischen Tradition in die Darstellung eingehen und als theoretische Mittel benutzt werden", wobei sich „die - insgesamt eher spärlichen - systematischen Bezugnahmen auf Piaton" auf die .Dialektik' Schleiermachers konzentrieren (ebd. XXII). Cf. A. Arndt [1996b] XXII. A. Arndt (1996a) 1192.

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Einleitung

Platon eine solche Theorie ansatzweise vorauszusetzen ist. Dies ist von Schleiermacher offensichtlich wenn nicht entdeckt, so doch gesehen worden. Dieser Sachverhalt wurde nach Schleiermacher dann (insbesondere zum Ende des 19. Jahrhunderts hin) auch von anderen Autoren (entgegen z.T. weit verbreiteter Vorurteile83) erkannt und formuliert,84 und jüngst 83

B. Russell ist der bekannteste Vertreter einer Kritik, die in ihrem Kern dahingehend zusammenzufassen ist, daß sie Platon vorwirft, daß er Relationen und Relativbegriffe nicht richtig verstanden habe: „I do not think that Plato's logical objections to the reality of sensible particulars will bear examination. [...] Plato is perpetually getting into trouble through not understanding relative terms. [...] Such troubles are among the infantile diseases of philosophy." (B. Russell [1961] 143). In der Folge haben sich dieser Auffassung auch Alfred North Whitehead, Francis MacDonald Conford, George Santayana u.a. angeschlossen. Es ist hier nicht der Ort einer detaillierten Auseinandersetzung mit dieser o.g. Auffassung. Ihr ist mehrfach in überzeugender und plausibler Weise widersprochen worden. Während sie von M . Erler ([1992] bes. 5 7 8 - 5 8 1 ) relativiert worden ist, hat ihr E. Scheibe schon 1 9 6 7 ausdrücklich widersprochen ([1967] bes. 28-34). Eine bewußte Widerlegung der von Russell, Whitehead, Conford und Santayana (mit diversen Nuancierungen) geteilten Auffassung, daß Platon Relationen entweder vernachlässigt, nicht verstanden oder auch einfach nicht für überhaupt real gehalten habe, hat C. Cavarnos (1975) vorgelegt, wobei er sowohl die Texte Piatons, auf die sich die o.g. Kritiker stützen, bearbeitet, als auch die Argumentation von Russell u.a. selber thematisiert. Wie die v.U. verfolgt auch Cavarnos mit seiner Arbeit erklärtermaßen nicht nur ein historisches Interesse. C. Cavarnos' Untersuchung kommt im Ergebnis zu Feststellungen, welche sich mit unabhängig davon gewonnenen Beobachtungen und Überzeugungen in v.U. überschneiden: „Plato distinguishes between relational and non-relational characteristics, and discusses various kinds of relations and our knowledge of relations." (C. Cavarnos [1975] 37) „It is true that Plato did not treat the subject of relations systematically. He did not write a treatise on relations, or devote a separate dialogue to them. [...] Plato has not neglected relations. He deals with them in many places in his works, and often shows subtlety and insight into the subject." (ebd. 38). Dies erklärt den unzweifelhaften Tatbestand, daß sich an zahlreichen Stellen in Piatons Werken „the term .relation' (to pros alio)" überhaupt nicht findet (ebd. 38; i.O. z.T. Hv.). Cavarnos stellt - gegen Confords - weiterhin fest, daß „ Plato distinguishes relations from intrinsic properties" und erklärt „Plato's conception of relation as an attribute of the referent", wobei er aber darauf drängt, hier zu unterscheiden zwischen „the ,being' of a relation and its .essence'" (ebd. 38). In letztgenanntem Punkt überzeugt die Argumentation von Cavarnos nicht gänzlich. Insgesamt wird die hier vertretene Auffassung durch die Arbeiten von M . Erler sowie besonders von C. Cavarnos und E. Scheibe gestützt. Letzterer führt die Auseinandersetzung um das o.g. Vorurteil eher indirekt und ohne namentliche Nennung seines Gegenübers, wenn er die These vertritt, „daß Platon auf dem Gebiet der Relativbegriffe nicht als Ignorant zu gelten hat, sondern Probleme diskutiert, die heute weder als uninteressant, noch als gelöst angesehen werden können" (E. Scheibe [ 1 9 6 7 ] 33f).

84

Beispielsweise sei hier W . Kamiah genannt, der in seiner dem .Sophistes' gewidmeten Abhandlung schreibt (W. Kamiah [1963] 38): „Durch sein Untersuchungsziel also wird er veranlaßt, sich hier einmal nicht nur mit sachhaltigen Begriffen, sondern auch mit Relationen zu befassen - und nicht zuletzt dieser Umstand ist es, der dem Text Soph. 2 5 1 - 2 6 4 neuerdings die Vorliebe logisch interessierter Interpreten eingebracht hat." Schon 1 8 9 7 erschien die eindrucksvolle, immer noch lesenswerte Arbeit von W. Lutoslawski, die Ursprung und Entwicklung von Piatons Logik zum Gegenstand hat und welche den .Sophistes' im Kapitel „New Theory of Science" eingehender behandelt (W. Lutoslawski [1897] 416-441).

Z u r Einordnung in den K o n t e x t der Forschungslage

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im Anschluß an den .Parmenides', den ,Phaidon' und den ,Sophistes' erneut wieder aufgegriffen.85 Piatons Theorie von Relationen hat grundlegende Bedeutung nicht nur für Schleiermachers Piatoninterpretation, sondern vor allem für die Gestalt des in Schleiermachers Texten zur Darstellung gelangenden Denkens. Die bei Piaton angelegten Ansätze zu einer solchen Theorie gilt es deshalb, näher zu betrachten im Blick auf ihre Vorläufer und Parallelen in anderen Dialogen Piatons und im Blick auf die für sie charakteristischen Termini, ergänzt durch eine Betrachtung der Perspektive Schleiermachers auf diese Ansätze. Wenn die hierbei in Anschlag zu bringenden Elemente mit den von Schleiermacher für Piaton geltend gemachten Elementen korrelieren, läßt sich einerseits die Emphase der Bezugnahme Schleiermachers auf Piaton erklären, andererseits wird dadurch ein Licht auf Schleiermachers eigene Theoriebildung geworfen, wie sie sich in seiner .Dialektik' und

Hiervon zeugt eine anhaltende, besonders im amerikanischen Raum geführte Kontroverse von Ende der sechziger bis Mitte der achziger Jahre dieses Jahrhunderts. Von den zahlreichen Beiträgen der unterschiedlichen Teilnehmer dieses Gesprächs seien nur die folgenden (in Auswahl) genannt: H.-N. Castañeda (1972) und (1978); M . Matthen (1982) und (1984); M . McPherran (1983a), (1983b), (1984) E. Scheibe (1967). Ausgehend von einer Passage im .Phaidon' (102a-d) beschäftigt sich E. Scheibe mit dem Problem der Relativbegriffe und der Relationsbegriffe bei Piaton, wobei er dann die Textbasis für die Betrachtung erweitert. In der auf Piaton bezogenen Argumentation von Scheibe treten vier Elemente hervor, welche - auch im Blick auf Schleiermacher bemerkenswert sind: das Moment des Kreuzens „des Aufeinander-Bezogenseins mit anderen Unterscheidungen [...], ohne Verwirrung zu stiften" (E. Scheibe [1967] 39), das Moment der Teilhabebeziehung, (cf. ebd. 43-45), der Zusammenhang zwischen einem Operieren mit Gegensätzen und mit Relativa (cf. ebd. 45) sowie dasjenige der modernen Relationenlogik - in Verbindung mit einer Orientierung an einer Theorie der Prädikation (cf. ebd. 2 9 und 44). Ebenfalls ausgehend von der o.g. Passage des .Phaidon' stellt H.-N. Castañeda mit programmatischem Anspruch eine Theorie von Relationen vor (H.-N. Castañeda [1972]); später erfolgt eine Präzisierung und Modifizierung (ders. [1978]). Hervorzuheben ist hier die Tatsache, daß Castañeda zufolge bei Piaton eine solche Theorie vorhanden ist, welche näher bestimmt ist durch das Merkmal der Irreduzibilität von Relationen auf Relate. Charakteristische Merkmale sind Castañeda zufolge ferner die Elemente der Approximation und der Teilhabe bzw. Partizipation. Demgegenüber hat M . Matthen in seinem Beitrag (1982) z.T. Korrekturen angemeldet. Interessanterweise hebt er ebenfalls die Momente von Teilhabe und Gegensatzbestimmungen (cf. ebd. 94) hervor - und führt im Blick auf monadische und dyadische Prädikate eine Differenzierung ein - in Anlehnung an die Vorstellung von offenen Stellen oder Valenzen. Die Darstellung Castandedas erfuhr durch den Beitrag von M . L . McPherran (1983b) eine Bestätigung. Indem McPherran die Theorieentwicklung erweitert durch eine Analyse des .Parmenides' (bes. .Parmenides' 133a-135a), kommt es zu einer Vertiefung und einer Abrundung (cf. M.L. McPherran [1983b] 149 und 151) der von Castandeda vorgestellten Theorie. Es erfolgten dann in Folge Erwiderungen von M . McPherran (1983a), M . Matthen (1984). Letzterer unterscheidet dann im Blick auf Matthen zwischen „either a binary or a triadic relation" (M. Matthen [1984] 305), d.h. zwischen zwei- und dreistelligen Relationen, während M . McPherran in seinem Beitrag (1984) eine unterschiedliche Akzentsetzung zwischen seiner Position und der von Castañeda herausarbeitet.

30

Einleitung

besonders in der Einleitung in die .Philosophische Ethik' niederschlägt. Im Ergebnis erfährt die hier für Schleiermacher vorgelegte Interpretation Piatons eine Bestätigung. Nun ist die Platon-Forschung selber unleugbar von deutlichen Kontroversen und Gegensätzen gezeichnet, welche hier nachzuzeichnen nicht der Ort ist. Dessen eingedenk kann aber dennoch festgehalten werden, daß von einzelnen Linien abgesehen - sich auch jüngere und gegenwärtig dominierende Interpretationsrichtungen und Forschungskreise an Schleiermachers methodologische und methodische Grundsatzüberlegungen anschließen und seine Interpretation grundsätzlich teilen.86 Dies betrifft eher den Gesamtzugang, hermeneutische Prinzipien und auch übergreifende Kompositionsgesichtspunkte und schließt so wenig eine kritische und z.T. deutlich ablehnende Haltung gegenüber einzelnen Gesichtspunkten aus wie Detailfragen und zeitliche Einordnungen. II.B.2

Schleiermacher

und die

Frühromantik

In traditionsgeschichtlicher Hinsicht spielt innerhalb der SchleiermacherLiteratur der Lebens-, Arbeits- und Denkzusammenhang der (Früh-)Romantik eine nicht unerhebliche Rolle. Angesichts einer erneuten „Offenheit der gegenwärtigen Romantik-Diskussion" 87 hat jeder Versuch einer Festlegung hier zwangsläufig fragmentarischen und heuristischen Charakter. Innerhalb dieses Themenfeldes konzentrieren sich die Beiträge auf bestimmte Schriften und damit letztlich auf einen bestimmten Zeitraum im Wirken Schleiermachers. Es handelt sich hierbei neben den ,Lucindebriefen' insbesondere um die .Reden' 88 , die .Monologen' 89 und die .Weihnachtsfeier' 90 . Die dabei mehr oder weniger selbstverständlich vorgenommene enge Kopplung von in einem bestimmten Zeitraum verfertigten Texten mit inhaltlichen und konzeptionellen Gesichtspunkten ist nicht unproblematisch, weil sie äußerst weitreichend und sehr voraussetzungsvoll ist. Sie unterstellt nicht nur, daß Schleiermachers Denken mehr oder weniger deutliche Brüche und Zäsuren aufweist, durch welche mehrere Phasen hinreichend bestimmt unterschieden werden können, z.B. eine 86

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Dies kann in Form eines expliziten Verweises auf Schleiermacher geschehen oder aber in dem Vorliegen einer mit Schleiermachers Anschauungen übereinstimmenden Position, ohne daß in dieser selber ausdrücklich eine Beziehung zu Schleiermachers Interpretation hergestellt wird. H. Patsch (1986) VII. Cf. z.B. die umfangreiche Monographie von K. Nowak (1986), die den Schwerpunkt ganz deutlich auf die .Reden' und deren Einordnung in den frühromantischen Kontext legt. Cf. hier E.H.U. Quapp (1991). Cf. hierzu neben E.H.U. Quapp (1978) auch W. Sommer (1973); H. Patsch (1985b) und (1991b).

Z u r Einordnung in den Kontext der Forschungslage

31

romantische Frühphase bzw. eine frühe romantische Phase, eine mittlere (Hallische) Phase und eine späte (Berliner) Phase der Reifezeit bzw. eine reife Spätphase. Sie unterstellt häufig auch, daß einzelne Schriften diesen Phasen zugeordnet werden können. 91 Wenn es auch unstrittig ist, daß Schleiermachers Terminologie uneinheitlich ist und die Begriffssemantik einzelner Schriften und Abhandlungen deutlich variiert, so ist damit noch keineswegs auch schon eine Differenz hinsichtlich des materialen Gehalts bestimmter Problemlösungen oder Problemlösungsansätze erwiesen. Noch viel weniger können daraus Schlußfolgerungen hinsichtlich grundsätzlicher Merkmale seines Denkens abgeleitet werden. 9 2 Gleichzeitig konzentrieren sich die Beiträge deutlich auf die Frage der Abhängigkeiten in persönlicher und besonders literarischer Hinsicht zwischen Schleiermacher und Schlegel. 93 Nach H. Patsch wurde Schleiermacher durch „die Begegnung mit Friedrich Schlegel [...] ein .Romantiker'". 9 4 In diesem Zusammenhang hat neben dem Projekt der Piatonübersetzung auch die Hermeneutik Schleiermachers besondere Aufmerksamkeit auf sich gezo-

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Eine gewisse Ausnahme scheint hier, wenn auch implizit, H. Patsch zu bilden. Auch er unterscheidet explizit einen „mittleren (Hallenser) Schleiermacher" von einem „späten (Berliner) Schleiermacher" (H. Patsch [1986] 3). Indem er aber das Moment der Kontinuität zwischen diesen Phasen sehr deutlich betont, widersteht er der Tendenz, hier eine einfache, lineare Aufwärtsentwicklung zu postulieren. Patsch spricht zwar auch von einer „romantische[n] Epoche Schleiermachers" - was als Ausdruck einer Diskontinuität dieser Epoche von anderen, späteren verstanden werden könnte - , doch wird an der Art der Ausführungen deutlich, daß die diese Epoche auszeichnende spezifische Bestimmtheit gerade auch in den anderen, späteren Epochen präsent und wirksam ist (H. Patsch [1986] 3).

92

An diesen entscheidet sich erst die Frage nach einer dominierenden Kontinuität (oder Diskontinuität) innerhalb eines Werkzusammenhangs. Gelänge es nachzuweisen, daß es schon in z.B. den ,Reden' begegnende Stil- und Denkfiguren sind, welche dann auch wieder bzw. auch noch in z.B. der zweiten Auflage der .Kurzen Darstellung' oder den .Sendschreiben an Lücke' begegnen, dann wäre dies ein schwerwiegendes Argument gegen eine häufig begegnende Einteilung in unterschiedliche Entwicklungsphasen. Die Möglichkeit und der Nutzen von zeitlichen Einteilungen soll mit diesen Überlegungen keineswegs grundsätzlich bestritten werden. Problematisiert wird nur die mit einer zeitlichen Einteilung häufig implizit einhergehende Unterstellung von mehr oder weniger schwerwiegenden Diskontinuitäten in gedanklicher Hinsicht. In Verbindung mit einer Doppeldeutigkeit des Begriffs der Reife kommt es unversehens zu einer Abwertung der frühen Phasen der Jugend oder Un-reifezeit. Selbst für den Fall, daß jemand in der Zeitphase des Alters grundsätzlich anders bzw. anderes gedacht und geäußert hat, ist damit die Frage, welchen Überlegungen (aus welcher Zeitphase) aus gegenwärtiger Perspektive ein höheres M a ß an Plausibilität und Leistungsfähigkeit zuzuschreiben ist, noch keineswegs beantwortet.

93

Cf. hier die Arbeiten von H. Stock (1930) und H. Patsch (1986). H. Patsch (1986) 1. Gleichwohl bestimmt F. Schlegel dieses Verhältnis geradezu umgekehrt, wenn er Schleiermacher neben Goethe, Fichte und Novalis zu den äußeren Grenzpunkten der ihn bildenden Einflußsphäre zählt (cf. F. Schlegel [1981] 4 4 2 , Nr. 2 2 3 ) . H. Patsch spricht in diesem Zusammenhang von einer „nur dialektisch zu beantwortende^] Frage nach dem Verhältnis Schleiermachers zu seinen romantischen Zeitgenossen" (H. Patsch [ 1 9 8 6 ] 1).

94

32

Einleitung

gen. 95 Die an der Frage des Verhältnisses Schleiermachers zu Vertretern der romantischen Bewegung orientierten Beiträge sind dabei ganz überwiegend literaturwissenschaftlich oder theologisch ausgerichtet, wobei bei letzteren auch wieder eine literaturwissenschaftliche Perspektive leitend ist.96 Eine Berücksichtigung des gerade auch für die Romantik charakteristischen und wesentlichen Bereichs der naturkundlichen und naturwissenschaftlichen Forschungen und Denkmodelle fällt aber fast völlig aus. 97 Nur am Rande gestreift wird innerhalb dieses Problemzusammenhangs das Gebiet der zeitgenössischen Medizin in einem Beitrag von K. Nowak, der sich mit der Zeit der Tätigkeit Schleiermachers an der Berliner Charité beschäftigt, wobei auch hier die Betrachtung des Bereichs der Medizin in engstem Zusammenhang mit den .Reden' erfolgt. 98 Auch wenn deshalb die Eigendynamik der jeweiligen Wissenschaft nur sehr begrenzt zum Tragen kommen kann, ist die Nennung und hermeneutische Fruchtbarmachung dieses Sachverhalts zu würdigen. 99 95

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98

99

Cf. hierzu z.B. J . Körner (1928); H. Patsch (1966a); H. Dierkes (1990); E. Behler (1993); A. Arndt (1993) und (1996a) 1 2 6 9 - 1 2 7 9 , bes. 1274f. Eine entsprechende Situierung von Schleiermachers Sprachtheorie nimmt auch M . Frank vor. Im Blick auf das Theorem der Divination cf. ders. (1978); im Blick auf das Phänomen des Stils cf. ders. (1992) 7 - 4 8 und 4 9 - 8 5 . Franks Versuch einer umfassenden Darstellung von Schleiermachers Hermeneutik im Konfliktfeld von strukturalistischer und existentialer Hermeneutik widmet sich nicht zufällig in ihrem ersten Satz dem - romantischen Verständnis zufolge - Kunstcharakter der Auslegung (cf. ders. [1985a] 9). An anderer Stelle spricht Frank von einer fast vergessenen Einsicht, „zu der Schleiermachers Sprachtheorie den Zugang wieder zu eröffenen vermag", um fortfahrend festzustellen, daß „deren Wirkungsgeschichte sie so gründlich verstellt hat wie wenige Texte der theoretischen Romantik" (M. Frank [1980] 32). Es liegen zahlreiche Einzeluntersuchungen zum Verhältnis zwischen Schleiermacher und einzelnen Vertretern der Jenaer und Berliner Romantikerkreise sowie ihres engeren Umfeldes vor. Cf. z.B. neben der sich explizit als eine „literaturgeschichtliche Studie" (cf. den Untertitel) verstehenden Arbeit von K. Nowak (1986) im Blick auf Bettina von Arnim die Beiträge von E. Moltmann-Wendel (1971), H. Patsch (1985b) und (1985c); im Blick auf Novalis und Goethe W. Sommer (1973) und H. Scholz (1913). Eine Nennung und Diskussion von in diesen Zusammenhang gehörigen Beiträgen erfolgt deshalb nicht an dieser Stelle. Die Auseinandersetzung kann und muß sich mehr oder weniger ausschließlich auf die Diskussion innerhalb des der (zeitgenössischen) naturwissenschaftlichen Forschung gewidmeten Unterabschnitts beschränken. K. Nowak (1985). Völlig zutreffend bemerkt Nowak, daß die .Reden' durchzogen sind von zahlreichen medizinischen Fachtermini (cf. K. Nowak [1985] 4 0 6 - 4 0 8 ) . Zur medizinischen Forschung und den leitenden naturphilosophischen Konzepten der Medizin im Zeitalter der Romantik cf. die Beiträge K.E. Rothschuh (1978) und ders. (1981). Zweierlei wird für Nowak an der Verwendung der medizinischen Fachsprache erkennbar bzw. aus ihr ableitbar. Zum einen ist es die Tatsache der Nicht-Verleugbarkeit einer „beruflichen Milieuprägung". Obwohl Schleiermacher offensichtlich Rückschlüsse auf seine Profession vermeiden will, werden solche von ihm ermöglicht. In den .Reden' gibt er zwar zu Beginn einen Hinweis auf seine pastorale Existenz, wenn er sagt, auch er sei „ein Mitglied dieses Ordens" (R 190, 19f/4). Dabei läßt er aber explizit keine direkten Angaben folgen, aus denen erkennbar würde, in welchem Zusammenhang er seinen Beruf ausübt. Er läßt auf sein „freiwilliges Geständniß" den Wunsch folgen, daß seine Sprache ihn nicht verraten möge (R 190,22/4). Dann - und hierauf liegt bei Nowak der Akzent - erkennt Nowak in der „Verwendung von Begriffen und Bildern aus Schulmedizin und

Z u r Einordnung in den K o n t e x t der Forschungslage

33

Während Schleiermacher in seinem Verhältnis zu Piaton und zur sog. Deutschen Romantik geradezu klassische Themen innerhalb der Sekundärliteratur darstellen, markiert die Frage nach den Beziehungen zwischen Schleiermacher und der romantischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft100 ein Gebiet, auf dem sich die Forschung bisher noch nicht in vergleichbarer Weise betätigt hat. 101 Ein solch hohes Maß von Zurückhai-

100

101

Psychiatrie" mehr als nur Illustration, nämlich eine bestimmte „Redestrategie" (K. Nowak [1985] 4 0 8 ) . Nach Nowak bedient sich Schleiermacher hier verbreiteter und bekannter zeitgenössischer Vorstellungen und Bilder zum Zweck der Explikation seiner Geselligkeitstheorie (cf. ebd. 4 0 8 ) . In v.U. werden die Begriffe Naturphilosophie, und Naturwissenschaft bewußt nicht in sehr deutlich voneinander abgesetzter Weise, sondern eher parallel verwendet, um sowohl der faktischen Verschränkung (bzw. der Noch-nicht-Trennung) beider Forschungsrichtungen zur Zeit um 1 8 0 0 , als auch der erklärten Programmabsicht (sc. u.a. der Überwindung der Diastase zwischen Natur und Geschichte) Rechnung zu tragen. Für die in Kapitel 1.2 eingehender behandelten Repräsentanten (Mesmer, Ritter, Steffens) ist kennzeichnend, daß spekulative und empirische oder experimentelle Zugangsweisen integrale Bestandteile eines organischen Zusammenhangs bilden. Eine stärkere Ausdifferenzierung beider (in der jetzt vorfindlichen Form) markiert ja ein späteres Stadium ihrer Entwicklung, wobei Naturphilosophie überwiegend als spekulativ, Naturwissenschaft überwiegend als empirisch verfahrend vorgestellt wird. Die Belegung von J . W . Ritter mit dem Begriff Naturphilosoph in bewußter Abgrenzung und Entgegensetzung zu dem Begriff Naturwissenschaftler wäre unsachgemäß, weil unzutreffend. Wenn H. Krings (1981) explizit für eine deutliche Unterscheidung zwischen Naturwissenschaft und Naturphilosophie plädiert, so geschieht dies im Zusammenhang mit dem berechtigten Bemühen um eine Binnendifferenzierung innerhalb des Bereichs romantischer Naturphilosophie und Naturwissenschaft. Auch Krings hält ausdrücklich fest: „Gleichwohl stehen Naturwissenschaft und Naturphilosophie in einem wissenschaftlichen Bezug zueinander." (ebd. 73). Mit der Handhabung der o.g. Unterscheidung zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft als Leitunterscheidung ist aber noch ein weiteres Problem verbunden. Dieses besteht darin, daß es um 1800 tatsächlich weitaus mehr Differenzen oder Gegensätze in diesem Bereich gibt, als daß sie allesamt einfach unter einen subsumiert oder gar mit einem Gegensatz identifiziert werden könnten. Hinsichtlich des Verhältnisses von Erfahrung und Spekulation ist hier das Gegenüber von Cartesischer Physik oder System-Rationalismus und Positivismus zu nennen. Eine „mittlere" Position nimmt dabei der empirische Rationalismus ein. Damit im Zusammenhang - ohne schon einfach damit identisch zu sein - steht das Gegenüber von Deduktion und Hypothesenbildung einerseits und Induktion andererseits. Weitere Gegenüber werden stichwortartig durch immaterielle vs. materielle Auffassung der Imponderabilien, dynamische/ dynamistische vs. mechanistische sowie organische vs. atomistische Naturauffassung markiert. Nach all dem Genannten wäre hier evtl. die Verwendung des Begriffs „Naturforschung" als Oberbegriff einer in mehrfacher Hinsicht gegliederten Matrix von Differenzierungen zu erwägen. De facto wird dieser Terminus in der Literatur häufig synonym mit „Naturwissenschaft" verwendet. Das Problem einer bleibenden Spannung zwischen System- und Analysebegriffen wird sich aber letztlich nicht gänzlich vermeiden oder umgehen lassen. Hier werden deshalb beide Begriffe nebeneinander verwendet. Dieser Aspekt bleibt auch innerhalb von Diltheys sonst sehr umfänglicher und ausführlicher Schleiermacher-Darstellung vergleichsweise skizzenhaft und fragmentarisch (cf. W . Dilthey [1966] II/l, 4 4 9 - 4 6 0 ) . Cf. allgemeiner auch die Arbeit von U. Hasler (1982) sowie spezieller zu Schleiermacher T.H. Curran (1994) 2 6 - 2 2 . Letzterer berücksichtigt die galvanische Säule, die Figur der Ellipse wie auch die der asymptotischen Annäherung und verweist zurecht auf das Gebiet der Galvanik und (Elektro-) Chemie, ohne dabei aber Steffens oder Ritter zu erwähnen.

34

Einleitung

tung gegenüber dieser Perspektive102 läßt sich aber sachlich keineswegs rechtfertigen, sondern erweist sich bei näherem Hinsehen sogar als gänzlich unvertretbar. 103 Die Vernachlässigung der naturwissenschaftlichen Bezugskontexte scheint dabei aber kein Spezifikum der Schleiermacherforschung zu bilden,104 sondern erweist sich auch als typisches Merkmal 102

H. Krings kann im Blick auf die weitaus intensiver bearbeitete Naturphilosophie Schellings sogar noch 1 9 9 4 sagen, daß deren „Quellen" und „Ursprünge" „im einzelnen noch wenig erforscht" seien (H. Krings [1994] 151). Die Erarbeitung eines naturwissenschaftlichen Kontextes gerade aus der Perspektive der Philosophie oder Theologie scheint eine gewisse Schwierigkeit darzustellen. So muß Krings feststellen, daß „der naturwissenschaftliche Unterricht an der Universität Tübingen" im Blick auf Schellings Naturphilosophie „erst neuerdings ins Blickfeld [tritt], nachdem er lange als marginal beiseite gelassen worden ist" (H. Krings [1994] 152). Es handelt sich hier also keineswegs um ein schleiermacherspezifisches Problem, wiewohl das Desiderat einer naturphilosophische Ergebnisse und Fragestellungen integrierenden Forschung bei Schleiermacher besonders gravierend zutage tritt.

103

So schreibt Dilthey ([1966] I I / l , 4 5 1 ) zwar, daß es „unmöglich [ist], das System Schleiermachers darzustellen, ohne dabei von der Naturphilosophie und deren historischem Werte auszugehen. Denn auf der Wahrheit dieser Naturphilosophie ist Schleiermachers System gegründet. [...] Soll nun also Schleiermachers systematisches Denken in der Wurzel verstanden werden, so ist von der Naturphilosophie [...] auszugehen". Von dem insgesamt 7 8 7 Textseiten des zweiten Bandes entfallen dabei aber dann nur etwas mehr als neun Seiten auf die Behandlung der „Physik [Naturphilosophie]" (cf. ebd. 4 5 1 - 4 6 0 ) . Dieser Tatbestand schmälert aber keineswegs den Wert und die Gültigkeit von Diltheys o.g. Einsicht. Er erklärt sich z.T. aus der Tatsache, daß - so Dilthey - „Schleiermacher [...] keine Physik ausgearbeitet [hat]. Diese Lücke seines Systems empfand er sehr wohl; sie konnte nur ergänzt werden durch ein System der Naturphilosophie, das mit seinen Prinzipien übereinstimmte" (W. Dilthey [1966] I I / l , 4 5 1 ) . Im Blick auf diese Ergänzung verweist Dilthey auf H. Steffens - und akzentuiert die Differenz zu Schelling deutlich, wenn er schreibt: „Das [sc. System der Naturphilosophie] von Schelling war ein solches [sc. ein mit Schleiermachers Prinzipien übereinstimmendes] nicht" (ebd. 4 5 1 ) . Mit dieser Negation sind wohl eher zwischen Schleiermacher und Schelling in diesem Punkt bleibende Differenzen zu verstehen, als daß hier ein strenger Gegensatz formuliert wird. Während H. Süskind einen Einfluß Schellings erst deutlich nach 1 8 0 0 einräumt (cf. H. Süskind [1909], bes. 5-18), plädiert E. Herms hier für einen früheren Zeitpunkt (cf. E. Herms [1974], bes. 2 5 6 - 2 5 8 ) . Cf. hierzu unter besonderer Berücksichtigung der Schellingschen Naturphilosophie auch U. Hasler (1982), bes. 69-88. Unstrittig ist - bei allen Differenzen in zeitlicher Hinsicht-, daß H. Steffens eine wesentliche Vermittlungsfunktion zukommt. Dem widerstreitet nicht die Tatsache, daß die Steffensche Position sich zunehmend in Differenz zur Schellingschen entwickelt. Dieses wird von U. Hasler nicht so deutlich festgehalten, wiewohl er eine deutliche Kritik Schleiermachers an Schelling einräumt (cf. U. Hasler [1982] 73 und Anm. 16).

104

Diese Feststellung gilt allgemein jedenfalls bis zum Ende der achziger bzw. Beginn der neunziger Jahre dieses Jahrhunderts u.a. auch für die Philosophie und die Literaturwissenschaft (ausgenommen jene Themenbereiche, wo dieser Bezug von der Sache unmittelbar erzwungen wird, z.B. bei Schellings Philosophie). In den beiden letztgenannten Bereichen scheint sich aber seit dem genannten Zeitpunkt eine gewisse Veränderung abzuzeichnen. Darauf verweisen nicht nur eine Zunahme entsprechend thematisch orientierter Publikationen, sondern auch eine Zunahme von entsprechenden Tagungen und Symposien. Hierbei ist neben einer eingehenderen Behandlung der zeitgenössischen Naturphilosphie zunehmend auch das Interesse an einer Auseinandersetzung mit den Entwicklungen der modernen Physik zu beobachten. In diesem Zusammenhang sei auf

Zur Einordnung in den Kontext der Forschungslage

35

den Beitrag von E. Rudoph und I.-O. Stamatescu (1994) verwiesen, sowie - mit stärkerer Focussierung Schellings und unter Einbeziehung von Theorieansätzen der Chaosforschung und von selbstorganisierenden Systemen - auf den Beitrag von R. Schulz (1993). Daß sich gerade auch durch die in diesem Jahrhundert gewonnenen Einsichten im Rahmen der modernen Physik (sowie neuerdings auch der Neurobiologie und Neurophysiologie) eine grundsätzlich veränderte Gesprächssituation ergibt hat, ist Konsens unter der Mehrzahl der Vf. Beide genannten Aspekte oder Fragehinsichten sind zu unterscheiden, obgleich sie in der Durchführung oft nicht zu trennen sind. Gerade in ihrer Unterschiedenheit erhöhen sie aber möglicherweise die Sensibilität für z.B. zwischen naturphilosophischen Konzeptionen des 18. Jahrhunderts und der modernen Physik des 20. Jahrhunderts bestehenden Analogien und strukturellen Parallelen. Dies gilt vornehmlich für diejenige Ebene, welche hier im Vordergrund des Interesses liegt: die Ebene des vorausgesetzten bzw. vorauszusetzenden Theorierahmens und/oder Paradigmas sowie der damit verbundenen Grundlagenfragen in methodischer, methodologischer, ontologischer und epistemischer Hinsicht. Im Unterschied zur Schleiermacherforschung kommt es im Kontext des neueren Diskurses zur Philosophie des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts - auch über Schelling hinausgehend - zunehmend zu einer Einbeziehung der zeitgenössischen naturphilosophischen Forschungen und Strömungen. Cf. hierzu neben H. Berg/D. Germann (1977) z.B. S. Dietzsch (1990), bes. 98-138, W. Förster (1988c), C. Jamme (1988) und F.W. Kantzenbach (1988). Während sich der Beitrag von W. Schmied-Kowarzik (1993) mit der Entstehung von Schellings Naturphilosophie beschäftigt, behandelt den sich darin durchziehenden Begriff der organischen Entwicklung der Beitrag von C. Warnke (1993). Traditionell steht - nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen sachlichen und persönlichen Verbindungen - besonders die Epoche der Romantik im Mittelpunkt eines entsprechend ausgerichteten Forschungsinteresses. Cf. hierzu H.A.M. Snelders (1973); D. v. Engelhardt (1988); S. Dietzsch (1993); H.-U. Lammel (1993) sowie P. Lenning (1993). Einen Vorläufer hatte diese sich in jüngster Zeit andeutende Entwicklung für kurze Zeit Mitte der zwanziger Jahre. Aus dieser Zeit stammt auch der von C. Bernoulli/H. Kern (1926) hg. Sammelband. Eine - wenn auch zunächst nur kurz währende - Wende in der Verhältnisbestimmung von Theologie und Naturwissenschaften konstatiert auch J. Track für die Zeit ab 1920, wofür er mehrere Gründe geltend macht: „die Krisis des Fortschrittsglaubens, das neue Selbstverständnis der Naturwissenschaften und die Differenzierung von geschichtlicher Ausdrucksform und Glaubensinhalt in der Theologie" (J. Track [1975] 108). Hinsichtlich der Analyse der geschichtlichen Entwicklung des Verhältnisses sowie der sich im 20. Jahrhundert erfolgten Veränderungen der Determinanten ist der Beitrag von Track immer noch lesenswert. Neuerdings ist von O. Bayer ein Beitrag zur Frage der Verhältnisbestimmung von Theologie und Naturwissenschaften vorgelegt worden, welcher im Kern der Argumentation an der Differenz von Erzählung und Erklärung orientiert ist - gleichlautend mit dem Titel des Beitrags (O. Bayer [1997] 1). Bayer ist zuzustimmen im Blick auf die Aufgabenstellung, nämlich der „Suche nach einer sachgemäßen Art der Bezugnahme", sowohl hinsichtlich ihrer konkreten Bestimmung als auch der Ernsthaftigkeit der Frage (O. Bayer [1997] 1). Zu bejahen ist auch Bayers Ablehnung eines „schiedlichfriedlichen Nebeneinander^]", einer reinen Reproduktion naturwissenschaftlichen Wissens in theologischer Terminologie oder einer Behauptung einer „prinzipiellen Unvereinbarkeit" (ebd. 1). Es kann ihm aber nicht in seiner z.T. deutlich verkürzenden und z.T. von Polemik gezeichneten Bestimmung des Feldes von möglichen Lösungsansätzen gefolgt werden, wenn es z.B. zu Beginn seiner Erörterungen heißt: „Soll der Bezug durch den Aufweis von Analogien, von Entsprechungen hergestellt werden - etwa von strukturellen Entsprechungen zwischen trinitarischem Denken, das dem Relationsgefüge von Vater, Sohn und Geist nachdenkt, einerseits und einer relationalen Struktur der Weltwirklichkeit andererseits? Wer einmal anfängt, auf diese Weise theologisch zu verfahren,

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Einleitung

der Mehrzahl der theologischen Beiträge seit Schleiermacher. 105 So plädiert W . D . Wetzeis zu Beginn seiner Arbeit über J . W . Ritter dafür, „sich mit einem vorwiegend unliterarischen Aspekt der deutschen Romantik"

,05

kann Vieles. Denn Vieles entspricht Vielem" (ebd. 1). Nicht nur, daß Bayers Prämissen hier eine Begründung vermissen lassen und der Plausibilität entbehren, sie schließen darüberhinaus der Tendenz nach einen Diskurs auf bzw. über die o.g. Ebene von Rahmentheorien und Paradigmen aus. Obgleich der Rekurs auf die Auseinandersetzung zwischen Hamann und Kant um eine „Kinderpyhsik" oder kindgemäße „Naturlehre" vom Ansatz her als diskutabel und in einzelnen Ergebnissen z.T. äußerst fruchtbar erweist, muß gefragt werden, ob die von Bayer gewählte Prämisse zutreffend ist, daß die Frage der Verantwortung für Forschungszwecke reduzierbar ist auf „die [Verantwortung, die] letztlich nur vom Einzelnen wahrgenommen werden kann" (ebd. 3). Die dadurch schon vom Ansatz her bestimmte Ausrichtung auf die Frage der Verantwortung ist ferner nur ein Aspekt unter anderen, wie z.B. schon in der Darstellung von Track deutlich wird (cf. J . Track [1975] 112-119). Von hier aus läßt sich die o.g. Thematik des Theorierahmens nur sehr schwer wieder einholen. Ob dieser restriktive Ansatz einer Ausblendung der Entwicklungen der modernen Physik des 20. Jahrhunderts bei Bayer geschuldet ist, kann zumindest erwogen werden. Auffälligerweise finden sich nicht nur Verweise auf Modelle der klassischen Physik, sondern auch das zitierte Selbstverständnis entspricht demjenigen der Physik des 17.-19. Jahrhunderts. Die mit der Relativitätstheorie und der Quantentheorie einhergehenden Brüche im physikalischen Weltbild des 2 0 . Jahrhunderts bleiben bei Bayer unerwähnt und unberücksichtigt. Interessant und weiterführend sind dagegen die Überlegungen Bayers in den Abschnitten VII und VIII (mit den Titeln „Vernünfte und Einfälle" und „Posie und Physik"; cf. O. Bayer [1997] 10-13). Sie berühren sachlich die in v.U. vorgestellten Gedanken zum vorläufigen und hypothetischen Status von Aussagen sowie zu J.W. Ritters Programm einer „Physik als Kunst". Einen an der veränderten Erkenntnissituation in den Naturwissenschaften und in der Mathematik des 2 0 . Jahrhunderts orientierten Beitrag zum Gespräch zwischen Naturwissenschaft und Theologie bildet die Untersuchung von U. Kropac (1999). Die Wahrnehmung Schleiermachers ist hier aber deutlich gebrochen und bestimmt durch die Dissertation von Heinrich Scholz zum Verhältnis von Christentum und Wissenschaft in Schleiermachers Glaubenslehre (cf. ebd. 302 sowie H. Scholz [1911]). Das in Schleiermachers Oeuvre, enthaltende Potential wird dabei nur zum Teil ausgeschöpft. Wobei Schleiermacher - ebenso wie E. Wölfel - aus dieser Reihe ausdrücklich auszunehmen sind. Es läßt sich demgegenüber eine erkennbare, wenn auch wirkungsgeschichtlich marginale, gegenläufige Reihe von Schleiermacher über K. Heim bis E. Wölfel feststellen: Für Schleiermacher kann u.a. (cf. hierzu die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 1.2) auf SL 3 4 5 , 1 3 - 3 4 7 , 1 8 und SL 3 5 0 , 2 9 - 3 5 1 , 1 2 aus dem Jahr 1829 verwiesen werden. Karl Heim fordert noch annähernd 80 Jahre später (H. Timm [1968] 25; Brief vom 11. Februar 1906): „Wir müssen jetzt ganz neue Wege suchen [...], wenn nicht der ungeheure Riß zwischen der nur unter sich verkehrenden Theologie und der Welt der Mediziner und Naturwissenschaftler über kurz oder lang zu einer Katastrophe führen soll. Eine Riesenarbeit ist zu tun, um den schon seit hundert Jahren verlorenen Anschluß wieder einzuholen, ehe es zu spät ist." Rund 90 Jahre später kommentiert E. Wölfel dieses Votum Heims mit den Worten (E. Wölfel [1994] 2 0 6 , 34): „Das gilt cum grano salis auch noch heute." Denn die Theologie hat Wölfel zufolge „aufs Ganze gesehen dem Gang der Naturwissenschaft und ihren weltbildlich relevanten Ergebnissen nicht die erforderliche Aufmerksamkeit geschenkt" (ebd. 2 0 6 , 28f). Genau besehen ist hier zwischen zwei Aspekten, einmal der Erörterung des Verhältnisses von Theologie und Naturwissenschaft sowie ferner der bewußten Rezeption von relevanten Ergebnissen und Theorierahmenwechseln in den Naturwissenschaften durch die Theologie zu unterscheiden. In E. Wölfel (1981) werden beide Aspekte unter dem Thema „Welt als Schöpfung" miteinander verknüpft.

Z u r Einordnung in den Kontext der Forschungslage

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zu beschäftigen. Er verfolgt dabei das Ziel, zu zeigen, „daß mit dem Terminus Romantik nicht nur eine Literaturperiode 106 bezeichnet ist, sondern allgemein eine neue Art des Welt- und Selbstverständnisses 107 , die auch und besonders einen neuen Typus des Naturwissenschaftlers prägt e " 1 0 8 - und gleichzeitig wiederum selber durch diesen geprägt wurde. 1 0 9 Inzwischen sind aber die Zeichen, die einen Wandel indizieren, unübersehbar geworden, so daß H. Weder konstatieren kann: „Wenn nicht alles täuscht, steht der Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie an der Schwelle zu einer großen Blütezeit." 110 Weder fährt dann - gleichermaßen einschränkend wie programmatisch - fort: „Und selbst wenn dies nicht zutreffen sollte, verlangt die gegenwärtige Konstellation eine sorgfältige theologische Reflexion der Möglichkeiten solcher Zusammen-

106 107

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1,0

Für einen ersten an einzelnen Personen orientierten Überblick cf. B.v. Wiese (Hg.) (1971). In diesem Zusammenhang ist bei der Charakterisierung der Bezeichnung Romantik als einer historischen oder literarischen Ortsbestimmung auf einen Aspekt hinzuweisen, der das Phänomen Romantik als im Hinblick auf Problemlagen der (Nach-)Moderne anschlußfähig erscheinen läßt. Die Romantik genannte Bewegung wird dabei als eine geistesgeschichtliche Richtung begriffen, die durch eine überschwengliche, verklärende und harmonisierende Sicht von Wirklichkeit gerade nicht zutreffend beschrieben ist worin die hier vertretene Auffassung z.T. deutlich abweicht von entsprechenden, landläufig vertretenen Auffassungen. Es wird demgegenüber in der Romantik vielmehr das Phänomen einer Verdichtung eines europäischen Krisenbewußtseins erkannt, welches sich in verschiedenen kulturellen Sphären niederschlägt. Damit verbindet sich die leitende Überzeugung, daß die pejorative Ausgrenzung von Irregulärem nicht mehr so ohne weiteres gelingt. D.h., in der Romantik artikuliert sich einerseits ein von ihr wahrgenommener Bruch einer Weltordnung, andererseits ein sich als Kulturkritik verstehendes Krisenbewußtsein, das durch die Überzeugung einer prinzipiell immer möglichen Gegenwart von Mißlingen und Scheitern geprägt ist. Indem sich in ihm das Wissen um die Abgründigkeit, Unverfügbarkeit und Schicksalhaftigkeit der Existenz ausspricht, wendet es sich implizit gegen ein einliniges, naives Erfolgsdenken. Häufig begegnende Darstellungen in Gestalt von idyllischen Überzeichnungen sind von hier aus schlüssig als Funktion der Artikulation dieser Krisenszenarien zu begreifen. Entscheidend für die rechte Lokalisierung dieses Topos ist die Einsicht in die Verbindung dieser gegenwartskritischen Sicht mit der Vision eines idealen Endpunktes i.S. einer regulativen Idee. In einem weiteren Sinn ist die Exposition dieser Krise als eine Funktion der Verfolgung dieser regulativen Idee anzusehen. Das durch das Motiv der Integration gekennzeichnete Ziel geht aus auf die Schaffung eines neuen, zukünftigen Zustands, von woher die Zeichnung der Krise gewissermaßen als Propädeutikum eines offenen Prozesses erscheint. Mit der Propagierung des Endes verbindet sich die Hoffnung auf einen Neubeginn. Charakteristisch ist dabei darüberhinaus, daß die Vermittlungsaufgabe in diesem Licht als eine prinzipiell nicht abgeschlossene Aufgabe begegnet. Es ist zu erwägen, ob hierbei die Rezeption des Cambridge-Platonismus, in dem sich diese Figur präfiguriert findet, Anteil hat. W.D. Wetzeis (1973) VII. Unter den übrigen, wenn auch nur sehr wenigen Monographien zu J . W . Ritter, ragt diese, einen umfangreichen bibliographischen Teil enthaltende Arbeit deutlich heraus. Cf. eingehender zur Thematik naturwissenschaftlicher Bezüge innerhalb der Frühromantik die Arbeiten von Helmut Schanze (1966), Peter Kapitza (1968) sowie H.A.M. Snelders (1973). J . Audretsch/H. Weder (1999) 14.

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Einleitung

arbeit."111 Vorsichtiger und deutlich zurückhaltender urteilt E. Wölfel, wenn er hinsichtlich der „Entwicklung der Beziehungen von Theologie und Naturwissenschaft" davon spricht, daß „bei Fortdauer tiefgreifender Gegensätze der Weltdeutung [...] im öffentlichen Bewußtsein eine Entspannung, wo nicht offene Gesprächssituation [...] festzustellen" ist.112 Der mit dieser Perspektive angedeuteten Richtung wird hier einige Schritte weit gefolgt. Dies geschieht nicht deshalb, weil einige Formulierungen, Bilder und Wendungen in Schleiermachers Texten nun auch noch in ihrem historischen Kontext verortet und in ihrer Genese begriffen werden sollen. Vielmehr geht es darum, zweierlei zu zeigen: Einmal, daß diese Wendungen berechtigterweise als Indiz113 dafür gelten können, daß Schleiermacher - z.T. auch durch seine persönliche Lebenssituation mitveranlaßt - schon spätestens 1802/03 in engem Kontakt und intensivem Austausch mit Gedanken der zeitgenössischen Naturphilosophie in ihren unterschiedlichen Spielarten114 steht (wobei Schleiermacher hier vermutlich eher rezeptiv tätig ist)115. Dieser Kontakt schlägt sich in einzelnen 111

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J. Audretsch/H. Weder (1999) 14. J. Audretsch zufolge ist die gegenwärtige Konstellation u.a. auch dadurch bestimmt: „Wenn Theologie die naturwissenschaftlich und technisch orientierten Skeptiker nicht erreicht, dann verpaßt sie den modernen Menschen." (J. Audretsch/H. Weder [1999] 30) Zu berücksichtigen sind hier ferner die Tatsache eines Ausfalls der Reflexion auf die Grundlagen der gegenwärtig bestimmenden naturwissenschaftlichen Denkweisen sowie eine Situation der Inkompatibilität von dominierendem naturwissenschaftlichem Weltbild einerseits und aktuellem Stand der Wissenschaft andererseits. Das bei der überwiegenden Zahl der Menschen leitende Weltbild ist „irgendwo im Bereich des ausgehenden 19. Jahrhunderts stehengeblieben: bei der Vorstellung, das Universum sei ein riesiges, gesetzmäßig ablaufendes Uhrwerk" (J. Audretsch/H. Weder [1999] 9). E. Wölfel (1994) 206, 21-24; i.O. z.T. Hv. Cf. hierzu auch die Beiträge in W. Härle/M. Marquardt/W. Nethöfel (Hg.) (1992), bes. C. Schwöbel (1992). Hinzuweisen ist hier auch auf die im Anschluß an die Arbeiten des Philosophen und Mathematikers A.N. Whitehead sich besonders im angelsächsischen Sprachraum etablierte Prozeßtheologie, die auch von E. Wölfel als herausragendes Beispiel für das Beschreiten unkonventioneller Wege bei der theologischen Rezeption naturwissenschaftlicher Ergebnisse genannt wird (cf. E. Wölfel [1981] 9). Zu Whiteheads Prozeßphilosophie und -theologie cf. auch M. Welker (1981) und ders. (1985b). Die Tatsache, daß in einem bestimmten Text, z.B. „A", Begriffe vorkommen, die von anderen in anderen Texten ebenfalls - und darüberhinaus zeitlich früher - verwendet wurden, berechtigt keineswegs zu der Annahme, daß diese Begriffen in dem Text „A" in eben dem Sinn verwendet werden, wie in den Vergleichstexten. Ob und wie bestimmte, in Vergleichstexten mit den Begriffen verbundene Vorstellungen und Gedanken ebenfalls im Text „A" in latenter oder aktualisierter Form präsent sind, muß dann allererst noch gezeigt werden. Hingewiesen sei hier auf die für den weiteren Verlauf der Diskussion relevante Kritik seitens des sog. frühromantischen Flügels an den später wirkungsmächtiger gewordenen empirischen und spekulativen Richtungen. Cf. hierzu D.v. Engelhardt (1978a); ders. (1988); H.A.M. Snelders (1978). Damit soll nicht ausgeschlossen werden, daß Schleiermacher in diesen Zusammenhängen nicht auch eher produktiv (statt rezeptiv) auftreten konnte. Ob in diesen Fällen dann eher Laien und weniger Fachvertreter sein Gegenüber bildeten, muß an dieser Stelle offen bleiben. Dies scheint beispielsweise bei seinem Bruder Johann Carl Schleiermacher und Hendrik Steffens weniger eindeutig zu sein als bei Henriette Herz. So führt Schleier-

Z u r Einordnung in den Kontext der Forschungslage

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Wendungen nieder, die auf den zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs in den Bereichen Elektrophysik, Elektrochemie und Galvanik verweisen, und insbesondere darin, daß in diesem Bereich der Naturphilosophie Modelle und Denkstrukturen entwickelt werden, die auch Schleiermacher teilt, die er sich aneignet und die sich folglich auch in seinen Texten finden, weil er in ihnen ein adäquateres Instrumentarium zur Wahrnehmung und Beschreibung von Realität sieht.116 In einem zweiten Schritt wird die Frage gestellt, welche Berührungspunkte zwischen der damaligen zeitgenössischen naturphilosophischen Modellbildung und der gegenwärtigen Theorieentwicklung der Naturwissenschaften, insbes. der modernen Physik, bestehen und inwiefern es von der Schleiermacherschen Theorieanlage her hierzu Anknüpfungspunkte gibt. Dies geschieht letztlich in der Absicht, einen Beitrag zu einer von E. Wölfel formulierten Aufgabenstellung zu leisten, derzufolge „vor allem weitere, zupackende Theoriebildung nötig [ist]".117 In durchaus engem sachlich-fachlichem Zusammenhang des naturkundlich-naturwissenschaftlichen Interesses - nicht nur innerhalb des frühromantischen Kreises - steht der Bereich der Mathematik.118 Schleiermachers Neigungen in dieser Richtung, sein Interesse an Mathematik und entsprechende Studien, welche ein beachtliches fachwissenschaftliches Niveau erreichen, lassen sich schon sehr früh belegen. Gleichwohl ist auch in dieser Hinsicht ein fast völliger Ausfall von Forschungsarbeiten oder eingehenderen Untersuchungen zu konstatieren. Dies ist erstaunlich,119

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macher Henriette Herz in die Ergebnisse der neueren naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Forschungen ein. Cf. hierzu auch den Brief Schleiermachers an seine Schwester vom 30.05.1798 (BR 2 [473] 321, 90-95). Der Versuch starrer, einliniger Zuschreibungen und Zuordnungen dürfte in vielen Fällen der großen Bedeutung des Moments der Wechselseitigkeit in dem dialogischen Prozeß nicht hinreichend gerecht werden. Wenn für einen diesbezüglichen Nachweis die Rekurrenz bestimmter Begriffe und Formulierungen auch ein nicht geringes Motiv darstellt, bildet sie demgegenüber aber weder ein notwendiges noch ein hinreichendes Kriterium. E. Wölfel (1981) 8. Hinsichtlich des Vorgehens der Theologie ist Wölfel zufolge dazu „ein konsequent geführtes und durchgehaltenes Gespräch mit den Ergebnissen und den Problemen der naturwissenschaftlichen Weltbetrachtung [zu] führen. Allein so, und das heißt für den Theologien vielerorts auf neuen Wegen, gelangen wir auch zu neuen Ufern in der Durchdringung der großen Probleme" (ebd. 8f). Es ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, daß die beiden Disziplinen Mathematik und Physik zu der damaligen Zeit erst begannen, sich deutlicher gegeneinander auszudifferenzieren und zu sich zu trennen. Führende Fachvertreter bildeten gleichsam eine Personalunion. So auch T. Hübner (1994) 52, der auf die zeitgenössische Rede von einer „mathematischen Physik" hinweist (ebd. 52; cf. hierzu eingehender auch Kapitel 3.3.1.4 V.U.). Dieser Tatbestand ist andererseits insofern weniger überraschend, als der „Knoten der Geschichte [...] anders auseinander gegangen [ist]", als er nach Schleiermachers Vision eines „idealen Verlaufs] wissenschaftlicher Entwicklung" hätte auseinander gehen sollen (I. Mädler [1997] 230, die hier wohl auf SL 345, 13 - 352, 19, bes. SL 347, 8-10 anspielt).

40

Einleitung

nicht nur angesichts der großen Bedeutung der Mathematik für Schleiermacher, die sich in biographischer Hinsicht in intensiven Studien und brieflichen Selbstzeugnissen spiegelt, 120 sondern auch und vielmehr angesichts der Tatsache, daß Schleiermacher sich durchgängig einer ganzen Anzahl mathematischer Fachtermini bedient, sowie ferner der der Mathematik eingeräumten Stellung innerhalb von Schleiermachers System der Wissenschaften 121 . Als eine bemerkenswerte Ausnahme hiervon darf die jüngst erschienene Untersuchung von I. Mädler ( 1 9 9 7 ) gelten. Erwähnung verdient hier ferner die Arbeit von T. Hübner ( 1 9 9 4 ) , obwohl sie nicht Schleiermacher unmittelbar und explizit zum Thema hat, sondern A.v. Harnack, genauer: die Christologie innerhalb seiner Vorlesungen

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Cf. hierzu im einzelnen die bei I. Mädler (1997) 1 9 9 - 2 8 5 , bes. 2 2 5 - 2 3 5 nachgewiesenen Belege. Innerhalb des Schleiermacherschen Systems stehen sich Dialektik bzw. das Transzendente und Mathematik bzw. das Mathematische insofern komplementär gegenüber, als erstgenanntes die „Beziehung auf die absolute Einheit" darstellt, während letzteres die Beziehung „auf die unendliche unbestimmte Vielheit" repräsentiert (PhE 6 2 6 , § 4 1 ; cf. ähnlich auch PhE 2 9 5 , §§ 123f; 2 9 6 , §§ 126f; 2 9 7 , § 132; 3 4 8 , § 150; 4 9 7 f , § 5 0 ; 5 4 0 f , § 76; ferner auch PhE 2 5 1 f , §§ 5 3 - 5 5 ; PhE 645f). Daß hierbei die Art der Perspektive in formaler Hinsicht im Vordergrund steht, erhellt deutlicher in dem „allgemeine[n] Kanon für alle Wissenschaften" (DO 4 6 4 , § 3 4 6 ; i.O. Hv.), wo es heißt: „In jedem Wissen ist nur so viel wahres und der Idee nach durchdrungenes Wissen, als darin Dialektik und Mathematik ist. Nämlich Dialektik in dem Maße, wie es der spekulativen Form, und Mathematik in dem Maße, wie es der empirischen Form angehört. Beides läßt sich nicht trennen, wenn wir nicht das Wissen selbst verlieren wollen." In einer anderen Fassung der Dialektik heißt es innerhalb des technischen oder formalen Teils (im Unterabschnitt zum architektonischen Verfahren [DJ 3 0 9 , §§ 344-346]): „Die Idee des Wissens unter der isolirten Form des allgemeinen ist die Dialektik." „Die Idee des Wissens unter der isolirten Form des besonderen ist die Mathematik." „In jedem realen Denken ist daher so viel Wissenschaft als darin ist Dialektik und Mathematik." Cf. hierzu auch die anmerkungsweise mitgeteilten Zusätze aus späteren Fassungen der ,Dialektik' (DJ 3 0 9 3 1 2 ; ferner DAa 66 und DAb 1 4 . 2 5 . 9 0 . 9 7 und bes. 115f.). Während Schleiermacher auf der einen Seite durchgängig und einheitlich von Mathematik oder dem Mathematischen spricht, kann seine Terminologie andererseits zwischen Dialektik, dem Transzendentalen und dem Transzendenten alterieren. An dieser Stelle kann nur auf den Sachverhalt hingewiesen werden, ohne den Gründen dafür im Einzelnen nachzugehen. I. Mädler hat darauf hingewiesen, daß Hermann Grassmann, ein Schüler Schleiermachers und Hörer seiner .Dialektik'-Vorlesungen, „eine wissenschaftstheoretische Grundlegung der höheren Mathematik entworfen [hat]", die in formaler Hinsicht einen dem Schleiermacherschen Gliederungsprinzip des Quadrupels analogen Aufbau aufweist (I. Mädler [ 1 9 9 7 ] 2 2 6 ; cf. H. Grassmann [1862]). Der Mathematiker Albert C. Lewis h a t - i n Anknüpfung an die Arbeiten von H. Grassmann - die Überzeugung vertreten, daß Schleiermachers Dialektikentwurf mittelbar einen Beitrag lieferte zur Begründung der modernen Mathematik (cf. dazu eingehender A.C. Lewis (1975) sowie ders. (1977) und (1981). Diese innerhalb der mathematikgeschichtlichen Forschung gemeinhin bekannte Zusammenhänge in den philosophisch-theologischen Diskurs der Schleiermacherforschung eingebracht zu haben, stellt ein Verdienst I. Mädlers dar (cf. I. Mädler [1997] 2 2 7 sowie auch ebd. Anm. 74 und 75). Zu Schleiermachers Zuordnung von Mathematik und Dialektik aus mathematischer Perspektive cf. A.C. Lewis (1977) 1 1 8 - 1 2 0 , ders. (1981).

Z u r Einordnung in den K o n t e x t der Forschungslage

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über das Wesen des Christentums. 1 2 2 Die von T . Hübner im Anschluß an H a r n a c k behandelten mathematischen oder naturwissenschaftlichen Assoziationen, Begriffe und Modelle werden bemerkenswerterweise aber auch (schon) von Schleiermacher - in ganz ähnlicher Weise, nämlich in methodischer und methodologischer Hinsicht - herangezogen. Hübners Arbeit beschäftigt sich in weiten Teilen mit der schon in Harnacks erster Vorlesung begegnenden Rede von einer vollständigen Induktion. 1 2 3 Die Klärung der Bedeutung dieses Bildes, näherhin dieser Methodenassoziation bildet für Hübner den hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis von H a r n a c k s Vorlesungen insgesamt und besonders für die sich in ihnen aussprechende Christologie. 1 2 4 Die Frage sachlicher Übereinstimmungen zwischen H a r n a c k und Schleiermacher in diesem Punkt bildet weder ein erklärtes noch ein faktisches Erkenntnisinteresse Hübners. Gleichwohl konstatiert er in wesentlichen Punkten nicht nur eine bewußte Anlehnung Harnacks an Schleiermacher, 1 2 5 sondern er erkennt auch, daß Schleiermacher in mindestens einem Punkt nicht nur seiner Zeit, namentlich Goethe und Hegel, sondern sogar auch noch H a r n a c k .voraus' ist, indem Schleiermacher das Verdienst zukommt, die Begriffsbildung dahingehend erweitert zu haben, daß der Begriff „Vollständigkeit" weniger (nur) eine Quantität als vielmehr eine Qualität bezeichnet. 126

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Cf. A.v. Harnack (1900). Das Aufmerksamwerden auf die von ihrem Titel her für Schleiermacher zunächst nicht relevant erscheinende Arbeit von T . Hübner verdankt der Vf. einem Hinweis I. Mädlers. Harnack zufolge ist ein vollständiges Verstehen einer Sache, z.B. der christlichen Religion „nur auf Grund einer vollständigen Induktion, die sich über ihre gesamte Geschichte erstrecken muß", möglich (A.v. Harnack [1900] 7). In ähnlicher Weise kommt der Klärung und Bestimmung einer Methodenassoziation Schleiermachers in der Untersuchung Mädlers (1997) eine Schlüsselfunktion zu für die Bestimmung des religiösen Stils im Hinblick auf eine Verhältnisbestimmung von Kirche und moderner Kunst. Hübner vermerkt eine Anspielung auf Aussagen sowie eine Aufnahme von Formulierungen aus Schleiermachers SL in Harnacks Vorwort zur fünften Auflage von 1 9 0 1 . Cf. dazu im einzelnen T . Hübner (1994) 2 1 und Anm. 2 1 sowie ebd. 2 9 3 . Der Text von Harnacks Vorwort zur fünften Auflage findet sich wegen seiner schwierigen Zugänglichkeit wiederabgedruckt bei T . Hübner (1994) 347f; Paginierung im Original VI-V. In dieser Vorrede von 1901 unterstreicht Harnack - dabei den Untertitel seiner Vorlesungen noch einmal aufnehmend - die Weite und Offenheit des von ihm intendierten Adressatenkreises, indem er schreibt, daß das Buch von Anbeginn an Studierende aller Fakultäten gerichtet ist. Cf. D O 3 4 8 - 3 5 1 , bes. 3 4 9 ; DJ 2 0 0 - 2 3 2 , §§ 2 5 5 - 2 7 7 , bes. 2 2 0 - 2 2 7 , § 2 6 7 - 2 7 2 ; DJ Beil. B 3 4 9 - 3 5 1 sowie T . Hübner (1994) 29f.81 und 180-183. Diesen Sachverhalt hat auch E. Hirsch gesehen, wenn er zu Schleiermachers .Dialektik* - u.a. in Abgrenzung zu derjenigen Fichtes bzw. seiner .Wissenschaftslehre' - festhält: „Dieser zweite Teil (sc. der Dialektik], den man kurz Methodenlehre nennen kann, fällt aus einer allgemeinen geistesgeschichtlichen Darstellung heraus. Er handelt von Begriffsbildung, Urteilsbildung, Heuristik und Architektonik des Wissens und zeigt Schleiermachers geniale Witterung für die

weitere Entwicklung des allgemeinen Denkens: der Übergang von Logik zu Methoden-

lehre ist in den philosophischen Bestrebungen mit dem fortschreitenden 19. Jahrhundert

42

Einleitung

Die durch Sach- und Quellenkenntnis überzeugende Arbeit von Mädler versucht, - an Schleiermacher orientiert und an ihm sich orientierend einen Beitrag zu leisten zur theologischen Urteilsbildung im Blick auf die Frage des Verhältnisses von Kirche und bildender Kunst der Moderne. In der auf den ersten Blick ebenfalls thematisch scheinbar gänzlich anders gelagerten, nämlich nicht mathematisch ausgerichteten Untersuchung widmet Mädler den von Schleiermacher verwendeten mathematischen Termini und den dahinter stehenden mathematischen Modellen und Theorien, namentlich dem mathematischen Funktionsbegriff und der Hyperbelfunktion ein relativ umfangreiches Kapitel.127 Auf diesem Hintergrund lassen sich - trotz einer thematisch anderen Orientierung - zwischen der v.U. und der Arbeit von Mädler hinsichtlich des methodischen Vorgehens Parallelen konstatieren und hinsichtlich des (mittelbaren) erkenntnisleitenden Interesses in gewisser Weise auch Berührungspunkte aufweisen. Während die Arbeit Mädlers auf den Bruch reagiert, den das „einst fruchtbare Verhältnis zwischen Kirche und bildender Kunst [...] mit dem Aufkommen der Moderne [...] erfahren [hat]", und einen an Schleiermacher orientierten „Beitrag zur theologischen Urteilsbildung in der Streitsache Kirche und bildende Kunst der Moderne" leistet, bestimmt sie ein zentrales, mittelbares Ziel v.U. als Erhellung der Denkstruktur Schleiermachers und der formalen Gestalt seines Theoriesystems.128 Mädlers Untersuchung kann als Beleg dafür gelesen werden, daß die Vermutung, daß sich die Beschäftigung mit der mathematischen Dimension seiner Arbeiten lohnt, indem sich „von hier aus wichtige Einsichten für die Struktur seines Denkens erschließen lassen", sachlich begründet ist.129 Mädlers Vorgehen ist in methodischer und methodologischer Hinsicht durch sechs Merkmale geprägt, welche sich in starker Vereinfachung

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mehr und mehr eigentümlich geworden." (E. Hirsch [1964b] 285; Hv. JD) Ob die von Hübner im Anschluß an Hirsch erfolgte Deutung von Schleiermachers erweiterter Begriffsbildung im einzelnen zutreffend ist, oder ob es hier zu einer unzulässigen Marginalisierung der von Schleiermacher wiederholt und nachdrücklich festgehaltenen Momente der Unendlichkeit der Aufgabe und der Relativität, Fallibilität und Vorläufigkeit der Ergebnisse kommt, kann an dieser Stelle offenbleiben; cf. auch Kapitel 3.3.1.4 dieser Arbeit. Cf. unter der Überschrift „5. Einheit in Bewegung. Der mathematische Funktionsbegriff als Schlüssel zum Verständnis eines theologischen Konstitutivums" I. Mädler (1997) 199295. I. Mädler (1997) VII. So schreibt Mädler, daß die „folgenden mathematischen beziehungsweise mathematikgeschichtlichen Exkurse [...] denn auch nur soweit ausgedehnt werden [sollen], als sie unerläßlich sind, die im Zusammenhang des religiösen Stils in der Kunst gesuchte Begrifflichkeit Schleiermachers im Sinne einer relativen Einheit in der Vielheit präzise bestimmen zu können. Aus dieser mathematischen Perspektive sind jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit [...] wesentliche Einsichten zu Schleiermachers Denkstruktur sowie zu seinem philosophischen und theologischen System im Ganzen zu erwarten" (I. Mädler [1997] 227f). I. Mädler (1997) 226; Hv. JD.

Z u r E i n o r d n u n g in den Kontext der Forschungslage

43

stichwortartig wie folgt beschreiben lassen: (1) Rekurs auf Schleiermachers System der Wissenschaften und die Gestalt seiner Theorieanlage, wobei (2) eine starke Beachtung des formalen Bereichs der Modellbildung in Verbindung mit (3) einer gezielten Berücksichtigung des Bereichs mathematischer Begriffs- und Modellbildung bei Schleiermacher zu beobachten ist. Weiter sind hier (4) die Überzeugung einer dominierenden Kontinuität - z.B. hinsichtlich Schleiermachers Beschäftigung mit Mathematik und mathematischen Fragestellungen - des Schleiermacherschen Denkens sowie (5) die Präsenz der leitenden Fragestellung der Verhältnisbestimmung von Vielheit und Einheit im Zusammenhang (6) des Bemühens um die gedanklich-modellhafte Erfassung von Bewegung und Prozessualität130 zu nennen. In diesen Merkmalen sowie den in ihnen zum Ausdruck kommenden Verfahrensentscheidungen ähneln sich v.U. und Kapitel 5 der Arbeit von Mädler. 131 Wenn Mädler sich im Verlauf des Versuchs der Beantwortung der Frage nach der Bestimmung des religiösen Stils in der Kunst (im Horizont des Bemühens um einen Beitrag zur theologischen Urteilsbildung in der Streitsache Kirche und bildende Kunst der Moderne), in der Folge der Zuwendung zu den mathematischen Fundamenten und Hintergründen Schleiermachers nicht nur nachdrücklich und begründet zu der Einsicht genötigt sieht, daß Schleiermacher „ein exzellenter Mathematiker gewesen ist, der an der Grundlagenforschung seiner Zeit Anteil genommen hat", 132 sondern diese Einsicht auch konsequent fruchtbar macht für die

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Präziser: es geht Schleiermacher um „die Möglichkeit zur Darstellung dynamischer Prozesse", d.h. von Verläufen mit - z.T. progressiv - wechselndem Änderungsverhalten wechselseitig korrelierter Größen (I. Mädler [1997] 244f; cf. dazu insgesamt ebd. 243252, wo auch der Zusammenhang zum Problem der Irrationalität bzw. Inkommensurabilität und zum Funktionsbegriff der Analysis deutlich wird). Z u m Funktionsbegriff der Analysis im Gefolge von Leonard Euler cf. H. Heuser (1981) 635-685. Dies ist um bemerkenswerter, als die Arbeit Mädlers zu einem Zeitpunkt erschien, als die Abfassung v.U. mehr oder weniger abgeschlossen war. Cf. im Blick auf die zuvor genannten sechs Punkte I. Mädler (1997) 199-295, bes. 216-240 und 296. Anstelle des Bereichs der Mathematik tritt in v.U. u.a. derjenige der Naturphilosophie bzw. der Naturwissenschaft. I. Mädler (1997) 226. Darauf verweisen u.a. zahlreiche biographische Hinweise und „ein bislang unveröffentlichtes geometrisches Studienheft" (ebd. 226). In einem Brief Schleiermachers an Brinckmann vom 08. August 1789, heißt es, „ich freue mich schon auf die schwersten Rechnungen im Euler - sie werden mir eine Kleinigkeit seyn und wenn mir nicht die Funktion irgend einer krummen Linie meine Heiterkeit wieder gibt, so ist sie für heute verloren" (BR 1 [121] 147, 121-124 bzw. BR IV 25). I. Mädler hat im Blick auf diese Passage festgehalten, daß es sich „bei den von ihm [sc. Schleiermacher] erwähnten Rechnungen Leonard Eulers, den sogenanten Funktionen krummer Linien, (...) um die Einführung der Bewegung in Arithmetik und Geometrie [handelt], aus der sich ein eigener mathematischer Zweig entwickelte, Analysis beziehungsweise Kalkulus, der auch als höhere oder transzendente Mathematik bezeichnet werden konnte", die im Kontext der Entwicklung der Differential- und Integralrechnung im Gefolge von Newton und Leibniz steht (I. Mädler [1997] 226).

44

Einleitung

Klärung der leitenden Fragestellung, dann bildet die Antwort auf die Frage nach der Gestalt von Schleiermachers Theorieanlage und nach der formalen Struktur von Schleiermachers Theoriearchitektur - hier besonders aus der Perspektive seiner mathematischen Studien - den entscheidenden „Schlüssel" für die leitende Fragestellung sowie für weitere Einsichten und Folgerungen. 133 Es scheint offensichtlich nicht möglich, diesen „Themenkreis" auszulassen oder zu umgehen - relativ unabhängig von der einzelnen konkreten, jeweils unmittelbar interessierenden Fragestellung - , will man nicht bewußt von vorneherein auf ein hohes Maß an Plausibilität der vorgelegten Deutungen verzichten. Eben diese „Schlüsselstellung" ist es, die eine eigene Betrachtung dieses „Themenkreises" rechtfertigt. II. C

Zur Theorieanlage und ihren

Grundrelationen

Es sind aber nicht nur die eingangs im Zusammenhang der Rezeption Schleiermachers genannten Einzelbeobachtungen, welche eine Betrachtung der Ebene der Theorieanlage bzw. Theoriearchitektur angezeigt sein lassen, wobei es nur einige wenige Untersuchungen sind, welche diese im wörtlichen Sinn - grundlegende Ebene ausdrücklich und direkt zum Thema haben. 134 Diese Analysehinsicht klingt darüberhinaus - wenn auch überwiegend implizit und indirekt bzw. als Frage oder Fragehorizont zahlreich in Arbeiten und Beiträgen an, welche gerade ganz andersartigen, nämlich einzelnen konkreten und z.T. speziellen materialen thematischen Aspekten gewidmet sind. Innerhalb besonders der jüngeren Schleiermacher-Literatur scheint eine Perspektive Raum zu greifen, bei welcher wenn auch in den meisten Fällen implizit und indirekt - zunehmend der Gesichtspunkt der Theorieanlage bzw. der Theoriearchitektur in den Vordergrund rückt. 135 Diese Perspektive verbindet sich u.a. mit den folgenden drei Problemkreisen: 136 133

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Dies gilt unmittelbar im Hinblick auf die Bestimmung des religiösen Stils und mittelbar für die Streitsache Kirche und bildende Kunst der Moderne. Nach Mädler läßt sich dieser Theorierahmen erst auf dem Hintergrund und im Rekurs auf die mathematische Theoriebildung der mathematischen Analysis, speziell der Funktionentheorie sachgerecht erfassen. Diese Arbeiten sind dabei aber keineswegs ausschließlich oder auch nur überwiegend durch die hier eingangs geltend gemachten Beobachtungsgesichtspunkte motiviert. Wobei an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen werden soll, daß diese Feststellung hier unabhängig davon getroffen wird, ob der Zusammenhang zwischen dem gewählten einzelnen konkreten thematischen Schwerpunkt und der hier focussierten fundamentalen Theorieebene von den jeweiligen Verfasserinnen und Verfassern auch in dieser Weise bewußt zum Ausdruck gebracht oder überhaupt so wahrgenommen wird. Von der leitenden Fragestellung der v.U. her und aus Raumgründen kann hier nur eine exemplarische Illustration der oben geäußerten Beobachtung gegeben werden. Die Auswahl der Gesichtspunkte ist weder notwendig noch erschöpfend. Entscheidend ist vielmehr nur ihr typischer Charakter.

Zur Einordnung in den Kontext der Forschungsiage

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(1) Häufig begegnet der Versuch, anhand einzelner materialer Themenbereiche (z.B. Dialektik oder Ethik) die Stellung Schleiermachers zu profilieren, wobei z.T. die Sonderstellung Schleiermachers bzw. seine Originalität (z.B. im Kontext der Philosophie des Deutschen Idealismus) aufzuweisen, versucht wird. 137 W.H. Plegers138 Versuch einer Gesamtdarstellung von Schleiermachers Philosophie in einer geordneten Folge von einzelnen thematischen Aspekten durchzieht das Bemühen, Schleiermachers Philosophie leitmotivisch als eine „Philosophie der Praxis" zu charakterisieren bzw. als eine solche zu identifizieren.139 Im Hintergrund steht für Pleger dabei nicht nur das Interesse, der „praktischen Philosophie" wieder einen „ihr angemessenen Platz in der Philosophie" zukommen zu lassen,140 sondern auch den „Zusammenhang sichtbar" werden zu lassen, der „die scheinbar heterogenen Teile seines Werkes zu einer Einheit verbindet", weil Pleger zufolge die „vielfältigen Aspekte des Werkes Schleiermachers [...] bislang in der Regel nur getrennt zur Kenntnis genommen und untersucht worden [sind]".141 Während mit der Suche nach einem einheitlichen Interpretationsansatz der Gesichtspunkt der Theorieanlage bei Pleger nur sehr indirekt und implizit berührt wird, 142 137

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Hierunter fallen mit Blick auf den Idealismus und die zeitgenössische Philosophie u.a. die Beiträge A. Arndt (1984a); ders. (1985); ders. (1992) und ders. (1993); K. Bärthlein (1966); H.-G. Gadamer (1968a); ders. (1968c) und ders. (1969); R.-P. Horstmann (1995); F. Kaulbach (1959) und ders. (1968); H. Kimmerle (1960); G. Meckenstock (1992); H. Patsch (1966a) und ders. (1991a); K. Pohl (1955); M. Potepa (1985); ders. (1988) und ders. (1996); J. Rachold (1984); R. W. Schulte (1920); J.S. Weiland (1984). Hinsichtlich Piaton und der platonischen Dialektik cf. u.a. die Beiträge A. Arndt (1991) und ders. (1996b); K. Bärthlein (1966a); E. Herms (1992); R. Odebrecht (1942a); K. Pohl (1954) und ders. (1955); W. Schultz (1968b); S. Sorrentino (1991a) und ders. (1991b) N. Vorsmann (1968). Es ließen sich hier noch weitere Zuordnungslisten aufstellen; davon wird hier aber abgesehen. W.H. Pleger (1988). Diese Arbeit stellt eine nur geringfügig veränderte Fassung der Arbeit H. Pleger (1975) dar. Während überwiegend die Gliederung und (Unter-)überschriften beibehalten wurden, findet sich an den Stellen, wo in der Fassung (1975) von einer „Theorie der Subjektivität" die Rede ist, in der Fassung (1988) zumeist die Rede von „Anthropologie". W.H. Pleger (1988) 3.5.10 und öfter. „Sie [Schleiermachers Philosophie] ist Philosophie aus der Perspektive und im Interesse der Praxis. [...] Der Begriff Praxis bietet den Leitfaden, der sich durch alle philosophischen Schriften Schleiermachers zieht und von dem her sein eigener philosophischer Ansatz deutlich wird." (ebd. 3) W.H. Pleger (1988) 1. Wenn Pleger weiter scheibt, daß der „Begriff Praxis [...] sowohl den Leitfaden für seine praktische Philosophie im engeren Sinne, [...] als auch seiner theoretischen Philosophie, [...] [bildet]", dann kann und muß daraus geschlossen werden, daß Pleger Schleiermachers Philosophie als eine Form der praktischen Philosophie im weiteren Sinne begreift (ebd. 5). W.H. Pleger (1988) 3f. In der von Pleger vorgelegten Interpretation werden zwei Momente besonders akzentuiert bzw. kommen sachgemäß zum Tragen. Es sind dies die Momente von Prozessualität und wechselseitiger Bedingtheit (cf. 4f.7), wobei Pleger diesen Prozeß unter „naturphilosophischem Aspekt" durchaus treffend als .Evolutionsprozeß der Natur'" anspricht (ebd. 17). Gleichwohl vermag seine Darstellung insgesamt sowohl vom Ansatz als auch

46

Einleitung

tritt er in einem Beitrag von Herms deutlicher hervor, welcher auf eine Profilierung der Position Schleiermachers unter dem Aspekt des Begriffs Weltanschauung zielt. 143 Die Bearbeitung des Themas bei Herms macht deutlich, daß die Differenzen Schleiermachers im Blick auf den Begriff Weltanschauung gegenüber sowohl Kant wie auch gegenüber zeitgenössischen idealistischen Entwürfen durch entsprechende Entscheidungen auf grundlegender Ebene veranlaßt sind. 144 In ihnen drückt sich das Bestreben aus, Einseitigkeiten zu vermeiden und mehrdimensionale Spannungsverhältnisse nach einer Seite aufzulösen. 145 Die von Herms angeführten Differenzen verweisen auf mindestens drei auf der Ebene der Theorieanlage liegende Momente: Kopräsenz zweier irreduzibler und in Wechselwirkung zueinander stehender Pole, Prozeß- und Werdecharakter der Einheit beider Pole, Relativität aller geschichtlich gegebenen Formen von Symbolisierungen. (2) Ein zweiter Problemkreis wird durch die Stichworte Subjektivität, Reflexivität und Selbstbewußtsein markiert. 1 4 6 Programmatisch wird dievon der Durchführung her nicht recht zu überzeugen. Weil der Zentralbegriff „Praxis" unbestimmt gelassen wird, bleibt unklar, was sowohl mit „Praxis" als auch mit „Philosophie der Praxis" genau gemeint ist. So richtig es ferner ist, den Gesichtspunkt der „Praxis" hervorzuheben, so problematisch ist es andererseits, wenn er in einer Weise priorisiert wird, daß daraus Vereinseitigungen folgen. Es kann erwogen werden, ob sich - quasi als Folge eines Systemzwanges - , von hier aus bei Pleger die Ausblendung der sog. transzendentalen Seite gegenüber der sog. technischen Seite der .Dialektik' ergibt (cf. ebd. 4 . 1 0 und 144-177). Letztlich scheint Pleger der - auf den technischen Teil reduzierten .Dialektik' die systembegründende und systemsteuernde Rolle zuzuweisen (cf. ebd. 4f.9f), wobei er gleichzeitig die .Ethik' als die umfassendste Disziplin - weil die Bereiche der theoretischen und der praktischen Vernunft einschließend - charakterisiert (cf. ebd. 7.13). Der Versuch eines Ausgleichs der Begründungsansprüche (cf. ebd. 22) bzw. einer differenzierten In-Beziehung-Setzung beider Disziplinen unterbleibt ebenso wie eine Problemanzeige oder Problemlösungsversuchshinweise (z.B. E. Herms [1976]). 143

E. Herms (1977b). Diese von Herms schon 1 9 7 7 öffentlich vorgetragene Untersuchung ist 1 9 8 2 erstmals in einem Sammelband erschienen. In ihr arbeitet Herms im Zusammenhang eines Vergleichs des Weltanschauungsbegriffs bei Schleiermacher und A. Ritsehl u.a. die Schleiermachersche Rezeption des Kantischen Begriffs von Weltanschauung heraus, um daran anschließend die von Schleiermacher demgegenüber vorgenommenen Modifikationen zu bestimmen, wobei Schleiermachers Ausgangspunkt nach Herms „zwei bei Kant ungelöste Probleme" bilden, die Schleiermacher „in einem selbständigen Ansatz" löst - und darin deutlich von Fichte, Schelling und Hegel abweicht (E. Herms [1977b] 126). Zu den Unterschieden der Schleiermacherschen Fassung des Weltanschauungsbegriffs von den idealistischen Konzeptionen cf. ebd. 132f.

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Cf. ebd. 126 - 132. Herms unterscheidet hierzu Subjekt, Gehalt bzw. Thema, Form und Ziel von Weltanschauung. Cf. dazu .Dialektik', transzendentaler Teil (DJ 5 2 - 7 2 , §§ 9 9 - 1 2 7 , bes. 5 5 - 5 7 , § 107) sowie insbesondere die Eingangs- und Schlußteile der .Grundlinien' (GKS 19-38 und 3 3 4 3 4 6 ) . Herms nennt hier die Vermeidung der Abwege „des Idealismus als auch [...] des Empirizismus" (E. Herms [1977b] 131). Er ist mit erstgenanntem Problemkreis mittelbar sachlich verbunden, insofern es möglich ist, zu fragen, ob sich Schleiermachers Eigenständigkeit und Originalität innerhalb des Feldes des Deutschen Idealismus u.U. gerade durch die im Hinblick auf den zweiten Problemkreis eingenommene Position begründet. Es liegen zahlreiche Literaturbeiträge

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Z u r Einordnung in den Kontext der Forschungslage

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ser Zusammenhang von D. Henrich und H. Wagner zum Ausdruck gebracht, wenn sie festhalten, daß auch das „gegenwärtige philosophische Bewußtsein" am „Thema .Subjektivität'" festgehalten hat, und daß an „ihrem Ursprung und in ihrer Geschichte [...] die Transzendentalphilosophie Theorie der Subjektivität gewesen [ist]. Im entfalteten Begriff des Subjekts suchte sie den Grund alles möglichen Wissens".147 Die zuvor genannten Stichworte können den Ausgangspunkt der Argumentation bilden, wie z.B. bei M. Frank, oder ihren Zielpunkt, wie z.B. bei Herms.148 Dieser fragt in seiner Untersuchung in bezug auf eine ausgewählte zeitgenössische Zeichenkonzeption (von C.W. Morris), „nach deren eigener theologischer Relevanz".149 Herms stellt darin mit Blick auf die Konstitutionsproblematik ausdrücklich die Frage nach den für die Einführung eines allgemeinen Zeichenbegriffs notwendigen Konstitutionsbedingungen.150 Entscheidend wird dabei die Tatsache, daß „die Einführungsakte [...] selbst Zeichenprozesse [sind] und [...] damit unter den durch sie erst einzuführenden Klassenbegriff [fallen]".151 Damit stellt sich die „Gewinnnng des allgemeinen Zeichenbegriffs" nach Herms „als der ausgezeichnete Fall von Sprachgewinnung dar, in welchem die elementare Prädikation selber Exemplar ihres Prädikators ist", den Herms auch als „ein, wenn nicht der Fall prädikativer Se/fcsfexplikation von Realem" ansprechen kann.152 Als vorläufiges Ergebnis stellt Herms fest, daß „der allgemeine Zeichenbegriff die selbstexplikative Struktur seiner eigenen Konstitution mit in seinen Gehalt aufnehmen [muß]" und infolgedessen „die Struktur einer Semiose überhaupt als die Struktur einer zur Explikation des eigenen Wesens fähigen Instanz", d.h. „als die Struktur eines Selbstes" beschreiben [muß]".153 Von hier aus stößt Herms auf den „für Sub-

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vor, in denen beide Fragehinsichten eng verknüpft werden, bzw. in denen die Beantwortung der einen (z.B. zweiten) Fragehinsicht das Leitmotiv für die Art und Weise der Beantwortung der anderen (z.B. ersten) Fragehinsicht abgibt. Cf. hierzu A. Arndt (1992); ders. (1993); K. Cramer (1985); J . Dierken (1992); ders. (1994); G. Ebeling (1973); Elster (1880); R.-P. Horstmann (1995); H. Kimmerle (1960); H. Knudsen (1987); D. Korsch (1993); H.-W. Schütte (1985); W. Schultz (1937); S. Sorrentino (1985); ders. (1991a). Zur philosophischen und - jedenfalls explizit - nicht auf Schleiermacher bezogenen Diskussion cf. K. Cramer (1996); D. Henrich (1966); ders. (1967); ders. (1970); W.v. Reijen (1988). D. Henrich/H. Wagner (Hg.) (1966) Vorw., o.S.; Hv. J D . M . Frank (1996); E. Herms (1978c). E. Herms (1978c) 165. Cf. E. Herms (1978c) 1 7 4 - 1 8 1 . E. Herms (1978c) 178; cf. auch ebd. 180. Im Falle der Zeichentheorie bzw. des Zeichenbegriffs als Grundbegriff besteht nach Herms eine Besonderheit hinsichtlich seiner Einführung. Denn wenn „die Akte, durch welche der universale Zeichenbegriff eingeführt wird, selber als Zeichenprozesse tt zu begreifen sind, dann sind „alle an der Einführung dieses Ausdrucks beteiligten Instanzen selber Elemente der durch den einzuführenden Ausdruck umschriebenen Klasse von Vorkommnissen" (ebd. 178). Ebd. 180f. Ebd. 181.

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Einleitung

jektivität unverzichtbaren Sachverhalt der Reflexivität" als einen, der „für sinnhafte Wirklichkeit überhaupt konstitutiv ist" und der nach Herms von einer allgemeinen Zeichentheorie offenzulegen ist.154 Insofern diese zuletzt genannte Problematik bei Herms sich als unmittelbare Konsequenz der Einführung eines allgemeinen Zeichenbegriffs aufdrängt, welcher die grundlegendste Ebene religiöser und wissenschaftlicher Kommunikation berührt155, verweist diese Problematik auf die Frage nach Theorieform und Theorieanlage.156 Bei dem Versuch von Frank, gegenüber Tendenzen einer naturalistischen Reduktion des Selbstbewußtseins die Irreduzibilität von Subjektivität zu begründen und festzuhalten, erscheint der vorläufige Endpunkt der Hermsschen Argumentation umgekehrt als Ausgangspunkt. 157 Frank stellt gleich zu Beginn klar, daß ungeachtet der Anerkennung der Wichtigkeit des Selbstbewußtseins, dieses inzwischen nicht mehr mit einem „verwegenen Begründungsanspruch" verknüpft ist.158 Für Frank verbindet sich diese kritische bzw. limitierende Auffassung gegenüber dem Selbstbewußtsein ursprünglich mit den „skeptischen Frühromantikerfn]", unter die auch Schleiermacher zu rechnen ist.159 Ist diese - von Frank eher beiläufig gemachte - Feststellung sachlich richtig und auch für Schleiermacher zutreffend, 160 hat das für die Schleiermacher-Interpretation weitreichende Folgen.161 Dies bedeutet die Infragestellung einer nicht geringen 154 155 156

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Ebd. 182. Cf. Ebd. 186-188. Bei Herms wird dieser Konnex hergestellt durch seine Thematisierung des Relationsbegriffs und des Verweises auf die Relationenlogik unter namentlicher Nennung von C.S. Peirce (cf. ebd. 183f). Die den möglichen semiotischen Charakter der Reflexivität und den weitreichenden Unterschied in der Struktur der Zeichenkonzeptionen von C.W. Morris und C.S. Peirce betreffenden Fragen werden an anderer Stelle dieser Arbeit aufgenommen (cf. Abschnitt 3.2 v.U.), so daß hier darauf nicht eingegangen wird. M. Frank (1996). Die Auffassung, derzufolge das Selbstbewußtsein „ein unbezweifelbares Prinzip", „das ,fundamentum inconcussum'" bildet, aus dem deduktiv alles übrige abzuleiten ist, stellt nach Frank ein Charakteristikum der Neuzeit dar, welches „heute eigentlich nicht mehr vertreten (wird)" (M. Frank [1996] 66). Ebd. 66. Frank nennt hier namentlich überhaupt nur diese Bewegung - und keine einzelnen Vertreter. Zur Einordnung der Frühromantik bei Frank cf. auch M. Frank (1988c). Damit soll aber hier noch nichts über die Adäquatheit oder Nicht-Adäquatheit von M. Frank's Schleiermacher-Interpretation insgesamt ausgesagt sein. In einem früheren, stärker auf Schleiermacher focussierten Beitrag (1986a) stellt Frank Schleiermachers Beitrag als Prototyp eines Lösungsmodells (in Form einer sog. „hermeneutische[n] Konzeption von Individualität" [cf. ebd. 116-131]) dar, welches auf die Kritik von „egologische[n] und nicht-egologische[n], am Reflexions-Modell und an der Idee einer nicht-relationalen Vertrautheit-mit-sich orientierte[n] - Theorien von Subjektivität und Selbstbewußtsein" konstruktiv zu reagieren versucht. Als eine entscheidende und weiterzuführende Einsicht muß dabei die Feststellung der „aus dem Scheitern des bewußtseinstheoretischen Ansatzes" veranlaßten und motivierten „sprachphilosophische[n] Orientierung" Schleiermachers gewertet werden, welche für Frank „Schleier-

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Z a h l von traditionellen Interpretationen, nämlich von all jenen, die Schleiermachers T e x t e auf der Grundlage bzw. im Kontext jener subjektivitäts- bzw. selbstbewußtseinstheoretischen oder reflexionslogischen Ansätze zu begreifen versuchen, weil und insofern die Prämisse der sog. „.Krise des Subjekts'" Schleiermacher an dem „Gebrauch einer Reihe von Argumentationsstrategien, wie sie typisch sind für die idealistische Philosophie", hindert. 1 6 2 Ist auch hier die Frage der Theorieform vergleichsweise implizit und indirekt angesprochen, erfolgt dies deutlicher und direkter in der Arbeit von Herms. 1 6 3 I. Dalferth ( 1 9 9 4 ) behandelt unter dem Titel „Subjektivität und Glaub e " die Problematik der Verwendung der philosophischen Kategorie der Subjektivität im Kontext der Theologie. Dalferth beschäftigt sich in seinem - sich durch hohe Differenziertheit und große Klarheit auszeichnenden - Beitrag eingehend mit den mit der philosophischen Kategorie Subjektivität selber mitgesetzten Schwierigkeiten. In seiner Auseinandersetzung mit den Positionen von u.a. Schleiermacher, Frank, Henrich und H e r m s arbeitet er sorgfältig die Differenzen heraus zwischen einerseits der Position Schleiermachers, wie sie sich ihm aufgrund des Textbefundes darmachers Originalität" ausmacht (M. Frank [1986a] H ö f ) . Für einen differenzierteren Argumentations- und Begründungszusammenhang cf. ders. (1984). Darin werden von Frank die folgenden Elemente zutreffend fest: die Unausweichlichkeit eines zeichenvermittelten Umwegs-, der unhintergehbar hypothetische Charakters einer Sinnzuschreibung; der Status einer regulativen Idee (bezogen auf die sog. Einheit der Bedeutung); das Verständnis von Intertextualität auf dem Hintergrund eines Kontinuums (M. Frank [1984] 1 9 7 . 2 0 3 . 2 0 5 . 2 0 9 . 2 1 1 ) . Ob sich die eingangs geäußerten Einsichten Franks - mittelbar oder unmittelbar - de facto z.T. auch kritisch gegen von ihm selber im weiteren Verlauf der Argumentation geäußerte Überlegungen und Annahmen richten (hier bes. die Art und Weise der krassen Gegenüberstellung und ansatzweisen Trennung von Physischem und Psychischem sowie von Philosophie und Naturwissenschaften, verbunden mit einer zu wenig kritischen Beurteilung der „alten erkenntnistheoretischen Reserven des Idealismus" [M. Frank {1996} 89f]), kann hier offen bleiben. Vergleichbares gilt hinsichtlich der Rolle des Individuellen bzw. der Individualität bei Frank im Kontext seiner Untersuchung (1986a). Hierbei ist aber auch der Gesprächskontext M . Franks bzw. sein Gegenüber zu berücksichtigen: Der Beitrag M . Franks (1986a), der auch in den unterschiedlich umfangreichen, gekürzten Fassungen (1988a) und (1988b) vorliegt, wie auch sein Beitrag ( 1 9 8 6 b ) sind gezeichnet von einer engagierten und kritischen Auseinandersetzung mit postmodernen, strukturalistischen und existential-phänomenologischen Positionen, welche ausdrücklich als Bemühung um eine „Verteidigung von Subjektivität", Individualität und des Subjekts begriffen werden möchte ([1986b] 2). 162

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M . Frank (1980) 19. Neben den Arbeiten, welche Schleiermachers Texte auf dem Hintergrund eines solchen Theorierahmens interpretieren - und damit implizit eine Schleiermachersche Subjektivitäts- oder Selbstbewußtseinstheorie voraussetzen gibt es darüberhinaus auch Beiträge, welche eine solche Schleiermachersche Subjektivitäts- oder Selbstbewußtseinstheorie in erster Linie zum Gegenstand haben. Cf. K. Cramer (1985); G. Ebeling (1972); C. Keller-Wentorf (1984a) und (1984b); D. Lange (1980) und (1991); R . Leuze (1985); G. Moretto (1991); R. Odebrecht (1934); F. Wagner (1984) und (1985). E. Herms (1978c).

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Einleitung

stellt (und der er in seiner eigenen Position ein Stück weit folgt), u n d d e n Positionen v o n F r a n k und H e r m s andererseits, welche - w e n n a u c h in deutlich unterschiedlicher W e i s e - in weiten Teilen S c h l e i e r m a c h e r für sich in A n s p r u c h n e h m e n b z w . sich a u s d r ü c k l i c h als I n t e r p r e t a t i o n v o n und in w e i t g e h e n d e r Ü b e r e i n s t i m m u n g mit - S c h l e i e r m a c h e r s Position begreifen. Ausgehend v o n der B e o b a c h t u n g einer „Krise der Subjektivit ä t " innerhalb der „zeitgenössische[n] K u l t u r " einerseits u n d „ e i n e m auffälligen D r a n g zur S u b j e k t i v i t ä t " i n n e r h a l b des , , t h e o l o g i s c h e [ n ] D e n k e n [ s ] und R e d e n [ s ] " andererseits 1 6 4 gibt Dalferth eine vorläufige B e s t i m m u n g des Theoriebegriffs Subjektivität. 1 6 5 W e n n D a l f e r t h a u c h - in a u s d r ü c k l i c h e r E n t s p r e c h u n g zur E n t s t e h u n g s g e s c h i c h t e des P r o b l e m s „ d a s Subjektivitätsproblem im H o r i z o n t erkenntnistheoretischer F r a g e s t e l l u n g e n l o z i e r t " , i n d e m er „ S u b j e k t i v i t ä t " b e s t i m m t als „ S e l b s t t h e m a t i s i e r u n g s f ä h i g k e i t " , folgt er d o c h nicht der allgemeinen T e n d e n z , d a r a u s „ p r o b l e m a t i s c h e F o l g e r u n g e n " im Blick a u f das „ . S e l b s t " ' abzuleiten. 1 6 6 In d e r kritischen Auseinandersetzung mit den zwei m a ß g e b l i c h e n A r g u m e n t e n , die d e r L e g i t i m a t i o n der „ A n n a h m e eines solchen fundam e n t a l e n subjektiven S a c h v e r h a l t s " 1 6 7 dienen, 1 6 8 w e r d e n diese A r g u m e n t e sorgfältig widerlegt. 1 6 9 Letztlich resultieren sie für Dalferth in einer fal-

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I. Dalferth (1994a) 18; i.O. z.T. Hv. „,Subjektivität'" bezeichnet demnach „die Struktur einer Instanz [...], die fähig ist, sich selbst - im Medium des Bewußtseins (Vorstellungen) oder der Sprache (Kommunikation) - zu thematisieren" (I. Dalferth [1994a] 21; i.O. Hv.). Die Instanzen, die diese Struktur besitzen und durch sie charakterisiert sind, werden „Subjekte" genannt. Ebd. 22. Ebd. 22. „Das Selbst wird dann als fundamentaler subjektiver Sachverhalt, als cartesianische Gewißheit oder unmittelbare Selbstvertrautheit bestimmt." (Ebd. 22) Es handelt sich hierbei um das sog. wahrheitstheoretische Argument, welches der Sache nach u.a. bei M. Frank begegnet, und das sog. bewußtseinstheoretische Argument: „Das wahrheitstheoretische Argument unterstellt, daß eine Proposition wie ,Ich bin hungrig' wahrheitsgemäß nur geäußert werden kann, wenn ich hungrig bin [...] Subjektive Aussagen können nur wahr sein, weil und insofern es subjektive Sachverhalte gibt", die sich dadurch auszeichnen, daß sie „irrtumsimmun und wesentlich wahr sind", weshalb es für deren Erklärung „einer besonderen (subjektivitätsphilosophischen) Theorie" bedarf (I. Dalferth [1994a] 22f). Das „von Fichte über Sartre bis zu Henrich und Frank" gebrauchte „bewußtseinstheoretischen Argument" zielt auf den Nachweis des nicht nur kontingenten, sondern logisch notwendigen Status subjektiver Sachverhalte, „weil wir kein Bewußtsein von etwas haben können, ohne eine präp[r]ositionale, nicht weiter analysierbare subjektive Gewißheit von uns selbst vorauszusetzen" (I. Dalferth [1994a] 23). Cf. I. Dalferth (1994a) 24-29. Neben einer deutlichen Kritik an der Position M. Franks (1988) erfolgt hier eine positive Aufnahme einzelner Gedanken von H.N. Castañeda (1991), N. Luhmann (1990) und A.N. Whitehead (1933), (1960) und (1979). Dalferth weist dabei u.a. auf zwei problematische Punkte hin. Zum einen, daß die „subjektivitätsphilosophische Tradition der Neuzeit [...] zur Vermeidung eines infiniten Regresses ein nicht-iterierbare[s] unmittelbares Selbstbewußtsein als fundamentales Implikat allen Bewußtseins postuliert", sodann, daß der „philosophische Rekurs auf Subjektivität und Selbstbewußtsein [...] Begründungsabsicht [hat]" (I. Dalferth [1994a] 23, Anm. 10 und 25, Anm. 17; i.O. Hv.).

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sehen Problemstellung, wodurch wiederum inadäquate Lösungsalternativen zwingend nahelegt werden. 170 Dalferth plädiert deshalb gegen Frank nicht nur für einen Wechsel in der Erklärung, sondern für einen solchen schon in der Charakterisierung von Subjektivität und hält fest, daß „Schleiermacher, den Frank zu rekonstruieren beansprucht, [...] deutlich anders argumentiert als Sartre, dem Frank folgt. Nicht erst die Erklärung, sondern schon die Beschreibung des Phänomens, das subjektivitätstheoretisch zu erklären gesucht wird, ist daher problematisch. Daß es Subjekte mit der Struktur .Subjektivität' gibt, heißt deshalb keineswegs, daß es einen unhintergehbaren Sachverhalt geben muß, der allein subjektivitätstheoretisch erhellt und erklärt werden kann". 1 7 1 Dalferth zeigt, daß entgegen der weitverbreiteten Auffassung, Subjektivität sei etwas, was bei „epistemischen Sachverhalten immer schon in Anspruch genommen werden muß", - es sich bei dem sog. ,„präreflexiven Selbstbewußtsein' [...] um ein Konstrukt" im Kontext der Frage der Zurechnung von Wissen handelt. 172 Erweist sich „diese erschlossene Voraussetzung aber [als] Artefakt des theoretischen Zugriffs" und nicht als ein gerade „unabhängig davon gegebenes Faktum, dann ist es irreführend, sie als .ursprüngliches Phänomen', als .unmittelbare ... Bekanntschaft von Subjekten mit sich' zu charakterisieren"; dies gilt insbesondere dann, „wenn unsere tatsächlich stattfindenden Wissens-, Erkenntnis- und Bewußtseinsprozesse anders analysiert und erklärt werden können". 1 7 3 Mit Dalferth kann dann festgehalten werden, daß Subjektivität eine komplexe Struktur darstellt, in welcher die Fähigkeiten „Freiheit, Rationalität, Reflexivität, Sozialität und Zeichengebrauch f...] impliziert sind", und die ferner „nur in problematischer Abstraktion von ihren konkreten Vollzugsmomenten als transzendentale Grundstruktur, i.e. als Bedingungsstruktur der Möglichkeit von [...] bestimmt werden kann, da sie für sich betrachtet überhaupt kein Phänomen und schon gar kein .ursprüngliches Phänomen' ist". 1 7 4 Es lassen sich im Anschluß an Dalferth drei Ergebnisse, die sich aus der Geschichte des philosophischen Subjektivitätsproblems ergeben haben,

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Denn „nur im Horizont begründungs- bzw. erklärungstheoretischen Denkens ergibt sich aus diesen Alternativen ein argumentativer Zwang" bzw. „argumentative Alternativen, die das falsch gestellte Problem theoretischer Letztbegründung bzw. Letzterklärung von Erkenntnis signalisieren" (I. Dalferth [1994a] 26). Dieser Zwang „legt sich aber überhaupt nur dann nahe, wenn man wie Frank nach dem nicht mehr hinterfragbaren Fundament epistemischer Gewißheit fragt, das Problem der Subjektivität also ausschließlich oder vorzüglich im epistemischen Kontext thematisiert" (ebd. 26).

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I. Dalferth (1994a) 29f. I. Dalferth (1994a) 29. I. Dalferth (1994a) 2 9 . Dalferth bezieht sich hier auf M . Frank und N. Luhmann ( 1 9 9 0 ) . I. Dalferth (1994a) 30f und Anm. 4 0 . Dalferth verweist hier auf A.N. Whitehead's Diktum einer „fallacy of misplaced concreteness" (A.N. Whitehead [1979] 7). Zu einer detaillierten Darstellung der Merkmale von mit dieser Struktur ausgezeichneten SubjektInstanzen cf. I. Dalferth (1994a) 30f.

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formulieren, welche für die in v.U. verfolgte Fragestellung von Relevanz sind: Zum einen (1) ist es die infolge des gewählten erkenntnistheoretischen Ausgangspunktes eingeführte grundsätzliche Unterscheidung im Zusammenhang der Ausbildung des modernen Subjektbegriffs, wie sie besonders bei Descartes im Bemühen um die Gewinnung einer unerschütterliche Gewißheit gewährenden Instanz deutlich wird. Es handelt sich bei dieser Unterscheidung um die „Fundamentaldifferenz zwischen erkennender und erkennbarer Realität, zwischen Subjekt und Objekt", zwischen „einer Instanz, die als res cogitans von den res extensae, den Gegenständen in Raum und Zeit, prinzipiell unterschieden und diesen gegenüber das primär Gegebene ist". 1 7 5 Die Einführung dieser epistemologischen Fundamentaldifferenz zieht dann (2) weitreichende Konsequenzen auf unterschiedlichen Ebenen nach sich, welche sich insgesamt unter den Stichworten Subjektivierung und Dualisierung zusammenfassen lassen: Dualisierung der Welt (res cogitantes und res extensae), der Erkenntnisoperationen sowie der Vernunftprinzipien und Subjektivierung der Wahrnehmung (einschließlich einer Dualisierung von Gegenständen [Ding an sich] einerseits und Wahrnehmung von Gegenständen andererseits) sowie der Vernunftprinzipien. 176 Die ontologische und erkenntnistheoretische Dualisierung setzt eine Reihe weiterer Dualismen i.S. von rigiden Entgegensetzungen, Spaltungen und Trennungen aus sich heraus, 177 welche im weiteren Verlauf ihrer Wirkungsgeschichte eine problematische Eigendynamik entwickeln. Schließlich (3) ist als Folge der skizzierten Entwicklung festzuhalten, daß die im Sinne eines begründungstheoretischen Konzepts begriffene Subjektivitätstheorie ihrerseits selber in eine „Krise" gerät. Es ist demnach weniger die Struktur selber, sondern die von ihr beanspruchte oder ihr zugewiesene gewißheitsfundierende Funktion, die fraglich wird: „Sie [sc. die Subjektivität] kann nicht leisten, was sie zu leisten versucht und auch leisten müßte, wenn ihr begründungstheoretisch tatsächlich die funda-

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I. Dalferth [1994a] 32; i.O. z.T. Hv. Cf. hierzu im einzelnen die gleichermaßen kenntnisreiche wie knappe, „Grundlinen der philosophischen Genese und Diskussion des Subjektivitätsproblems" betitelte Skizze Dalferths (cf. I. Dalferth [1994a] 32-35). Dalferth nennt hier beispielsweise „Natur und Geist, Ereignis und Handlung, Gesetz und Freiheit, Natur und Kultur, Prozeß und Geschichte" (I. Dalferth [1994a] 33). Dalferth spricht davon, daß das für die Neuzeit charakteristische und folgenreiche Moment darin besteht, daß eine „Reihe von Dualismen erzeugt" wird (ebd. 33; cf. hierzu auch D. Henrich [1967], ferner ders. [1966] und [1970]). Das Entscheidende dieser Bestimmung ist allererst dann erfaßt, wenn gesehen wird, daß es hierbei weniger die Etablierung von Zweitheiten, Dualen oder Gegensätzen an sich, sondern vielmehr die Tatsache, daß zahlreiche Polaritäten und Gegensätze als strikte Duale im Sinne von Kontradiktionen begriffen werden. Diese spezifische Qualität eines strengen Gegensatzes bzw. einer Kontradiktion muß hier bei der Rede von „Dualismen" immer mitgedacht werden.

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mentale Rolle zukommen sollte, die ihr ein wesentlicher Strang der neuzeitlichen Philosophie zugesprochen hat." 1 7 8 Die drei genannten Problemkomplexe bilden u.a. Kulminationspunkte der Auseinandersetzung Schleiermachers mit der ihm vorgegebenen Tradition und seines Bemühens um Entwicklung von leistungsfähigeren Lösungskonzepten, d.h. von gedanklichen Modellen, welche die mit den o.g. Ansätzen verbundenen Einseitigkeiten und Aporien vermeiden. Diese Auseinandersetzung durchzieht in jeweils unterschiedlicher Intensität und mit wechselnder Akzentsetzung Schleiermachers Arbeiten. 179 Neben der ,Glaubenslehre' Schleiermachers, die als schon klassischer Belegtext für Schleiermachers Einsicht in die Grundaporie der Subjektivität gelten kann, und der .Dialektik' 180 sind hier auch die ,Grundlinien', die Entwürfe einer .Philosophischen Ethik', Passagen der .Hermeneutik' und Schleiermachers .Spinozastudien' zu nennen. 181 Dabei bewahren stärker als die beiden erstgenannten die letztgenannten Texte vor dem Mißverständnis, Schleiermacher habe letztlich doch wieder eine - in welcher Form auch immer modifizierte Form einer Subjektivitätstheorie restituiert und damit erneut eine vom Ansatz her transzendentalphilosophische Theoriestruktur etabliert. Schleiermachers Distanz demgegenüber manifestiert sich u.a. auch in dem Verzicht, „aus dem Scheitern subjektivitätstheoretischer Begründungsversuche theologisch Kapital [zu] schlagen", 1 8 2 was innerhalb der Theologie seit rund 3 0 0 Jahren durchaus en vogue ist. 183 Es wird hierbei 178

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I. Dalferth (1994a) 35. Für Dalferth verhalten sich dabei der Ausgangspunkt der Entwicklung in der vorneuzeitlichen Philosophie und dieser vorläufige Endpunkt spiegelbildlich zueinander. Wird zunächst „das Subjekt nur als ein Weltgegenstand unter anderen in das ontologische Gefüge der Welt eingebunden" betrachtet, „so wird die Welt jetzt ganz in das Selbst einbezogen, insofern dieses die Welt zusammen mit sich selbst erst hervorbringt" (I. Dalferth [1994a] 34). Explizit wird von Dalferth hinsichtlich der Realisierung der Einsicht in die durch eine Grundaporie gezeichnete neuzeitliche Krise der Subjektivität neben Kierkegaard bes. Schleiermacher genannt. Cf. ChG 2 I 2 3 - 3 0 , § 4 . Hierauf verweisen - wenn auch in unterschiedlicher Zielrichtung - I. Dalferth (1994a) 35 Anm. 4 8 und M . Frank (1980) 18-21. Zu nennen sind hier gerade auch mit Blick auf den erstgenannten Problemkreis - auch ChG 2 I 14-23, § 3; ChG 2 I 3 0 - 4 1 , § 5; ChG I 2 6 - 4 0 , §§ 8-11 und D O 2 8 7 - 2 9 6 . Cf. DAa und DAb; DJ; D O ; GKS; PhE (bes. die verschiedenen Fassungen einer „Allgemeine[n] Einleitung" PhE 2 4 3 - 2 5 9 , §§ 1-107; 4 8 5 - 5 1 1 , §§ 1-123; 5 1 5 - 5 5 7 , §§ 1-122); die sog. „Schlußbetrachtung" der Hermeneutik (HL 7 - 4 0 bzw. H F 7 5 - 9 9 sowie HL 2 6 0 2 6 2 bzw. HF 2 3 4 - 2 3 6 ) ; DIE 6 4 - 6 9 , bes. 68f (hierzu schreibt Dilthey [ebd. 68], daß „die Entwicklung der eigenen Theorie Schleiermachers" innerhalb der ,Spinozismus' genannten Abhandlung „besonders in zwei Untersuchungen über Individualität und über Personalität hervor" tritt); Spin, bes. 5 3 8 , 3 2 - 545, 2 8 und 5 4 7 , 3 0 - 5 5 4 , 16; sowie GPh 2833 1 1 und H. Mulert (1923). I. Dalferth (1994a) 36. Dalferth zufolge „war und ist" das Scheitern des begründungstheoretisch verstandenen Subjektivitätskonzepts „Weihnachtsgeläut in den Ohren vieler Theologen", indem sie nämlich das im Scheitern offenkundig werdende Defizit „als exzellenten Anknüpfungspunkt für Fundierungsversuche der Theologie" aufgreifen (I. Dalferth [1994a] 35f).

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die Interpretation der Einsicht in das zwangsläufige Nicht-Gelingen einer Selbstbegründung als Einsicht in die eigene Geschöpflichkeit und ihre Transzendenzabhängigkeit vorgeschlagen oder nahegelegt. 184 Mit Dalferth können dabei zwei Weisen des Rekurses auf die Subjektivitätskategorie unterschieden werden, indem diese als „Begründungskategorie" oder als „Aneignungskategorie" geltend gemacht wird; während sie im ersten Fall zur Glaubensbegründung dient, steht sie im zweiten Fall im Dienst der Explikation des Aneignungsvorgangs. 185 Im Falle der funktionalen Verwendung der Subjektivitätskategorie als Deutungs- bzw. als Explikationsmodell sind wiederum zwei Möglichkeiten zu unterscheiden, nämlich ob dabei eine spezifisch religiöse Deutung des „Abhängigkeitsgefühls" als (nur) möglich oder ob sie als zwingend angenommen wird. Für Schleiermacher kann hinsichtlich der skizzierten möglichen Optionen festgehalten werden, daß er der Subjektivität weder den Status einer Begründungsinstanz einräumt noch eine religiöse Deutung des Bewußtseins von „Transzendenzabhängigkeit" oder von dem „Mitgesetztsein eines Anderen" als unvermeidlich ansieht. Tatsächlich interpretiert Schleiermacher dieses „Mitgesetztsein eines Anderen" auch religiös, nämlich mit dem „Wort ,Gott'". 1 8 6 Diese Deutung stellt aber für Schleiermacher gerade eine nur mögliche, aber keine zwingende Option dar. 1 8 7

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Wenn die dabei verfolgte Argumentation von Dalferth auch in Anlehnung an Kierkegaards ,Krankheit zum Tode' skizziert wird, so läßt sich diese in ihrer Typik doch als ein verallgemeinerungsfähiges Muster begreifen. Zu den einzelnen Argumentationsschritten cf. I. Dalferth (1994a) 36. Cf. I. Dalferth (1994a) 38f. Über seine Kritik an dem Interesse der Theologen gegenüber „der begründungstheoretisch gefaßten Subjektivitätsthematik" hinaus stellt Dalfert ferner kritisch fest, daß ungeachtet der Tatsache, daß „sich die Theologie der Subjektivitätsthematik auch aus anderen als aus begründungstheoretischen Interessen zuwenden kann", es sich auch in den Fällen, wo „sie nur zur Explikation und Selbstaufklärung des Glaubens" herangezogen wird, es „kaum zu vermeiden [ist], ihre begründungstheoretische Vergangenheit mit ins Spiel zu bringen" (I. Dalferth [1994a] 3 8 f und Anm. 58). Cf. ChG 2 I 2 4 , § 4.1 Anm. a sowie auch ChG I 3 1 , § 9.1 und ChG 2 I 2 8 , § 4 . 4 Anm. a. Neben der von Schleiermacher in seiner ,Glaubenslehre' explizit markierten logischen Priorität des Abhängigkeitsgefühls gegenüber einem Wissen um Gott (cf. ChG 2 I 2 8 - 3 0 , § 4 . 4 und ChG I 3 2 , 3 8 - 3 3 , 4 , § 9.3 Zusatz), ist auf die Erläuterung des § 5 der .Kurzen Darstellung" zu verweisen, wonach die Theologie für eine zu einer gewissen Größe und Differenziertheit gelangten Glaubensgemeinschaft ggf. faktisch notwendig werden kann, keinesfalls aber logisch notwendig sein darf (cf. KD 2f, § 5; zur Erklärung der Entstehung von Theologie über quantitative Parameter cf. KD l f , §§ 2 und 4). Den - von Schleiermacher gerade nicht behaupteten - Charakter von Unvermeidlichkeit oder Notwendigkeit gewönne die religiöse Deutung des Sachverhalts der Unvermeidlichkeit des Scheiterns aller Selbstbegründungsversuche des Subjekts - wie Dalferth zeigt - erst unter der Voraussetzung weiterer, selber sehr voraussetzungsvoller Zusatzannahmen bzw. argumentativer Prämissen. Es müßte dazu nämlich plausibel gemacht werden, daß die Grundstruktur menschlicher Existenz durch mindestens zwei Momente gekennzeichnet ist, nämlich einerseits „das dabei Gedeutete, also die Subjektivitätsstruktur und die aus ihr begründungstheoretisch gewinnbare Einsicht, sich nicht selbst gesetzt zu haben", sowie darüberhinaus „die Unerläßlichkeit, sich zu diesem Sachverhalt

Z u r Einordnung in den Kontext der Forschungslage

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Dieser so interpretierten Struktur kann auch infolgedessen keine Begründungsfunktion zugewiesen werden. Dalferths Skizze liegt ein Stufenmodell von drei Entscheidungs-Ebenen oder -Schritten zugrunde. Auf keiner Ebene ist eine Entscheidung zugunsten der Subjektivität bzw. Subjektivitätsthematik zwingend und noch viel weniger von Folgeproblemen frei. Eine auf äußerst fruchtbare Weise verknüpfte Behandlung beider zuvor genannten Problemfelder findet sich u.a. auch in der Untersuchung von M . Potepa. 188 Potepa begründet die Feststellung einer „philosophischen Originalität" Schleiermachers und seiner „Sonderstellung" innerhalb des Deutschen Idealismus zunächst mit der Vermeidung von zwei einander entgegengesetzten - und infolgedessen einseitigen - Extrempositionen. 189 Dies verbindet er mit der Einsicht in den nicht absoluten, sondern relativen Charakter von Gegensätzen bei Schleiermacher. Potepa bezieht dies in qualifizierter Weise auf das bei Schleiermacher häufig anzutreffende Moment des Werdens von etwas bzw. den Prozeßcharakter - ergänzt durch das der Wechselseitigkeit. 190 Er beschreibt eine sich daraus ergebende und Schleiermachers Texte durchziehende Vorstellung sachgemäß als ein „sich selbst organisierendes und zweckmäßiges dynamisches System", als „eine Art Organismus". 191

188 189 1.0

1.1

deutend zu verhalten" (I. Dalferth [1994a] 37). In seiner kritischen Analyse von E. Herms' Konzeptualisierung von Theologie als einer Erfahrungswissenschaft i.S. einer selbständigen wissenschaftlichen Disziplin (cf. E. Herms [1978a] und [1978c]; ferner auch ders. [1978b] und [1979] zum Begriff „theologischer Kompetenz") arbeitet Dalferth eine Anzahl weiterer - weder selbstverständlicher noch unproblematischer - Zusatzannahmen" heraus (cf. I. Dalferth [1994a] 3 7 - 3 9 und Anm. 57). M . Potepa (1996). Cf. ebd. 1 - 1 6 . 1 2 9 - 1 5 8 und 2 0 3 - 2 1 4 . Cf. M . Potepa (1996) 1-16. In einem anderen Zusammenhang, nämlich im Blick auf die Theoriekonzeption von N. Luhmann, wird von M . Welker die Eigenschaft des Erhalts der Kontinuität (und darin auch der Identität) eines Systems gerade unter der Bedingung einer Variabilität von Außenbedingungen hervorgehoben und gewürdigt. Dabei wird von Welker hinsichtlich der Grundbegriffe „System" und „Umwelt" bei Luhmann - entgegen zahlreichen verkürzenden und entstellenden Simplifizierungen in der Literatur - zutreffend festgehalten: „Ein System ist allenfalls als ein relativer Ruhezustand im Verhältnis zu seiner Umwelt aufzufassen, eine relative Konstanz, die gerade nicht auf Offenheit, Flexibilität und Wandlungsbereitschaft in der Reaktion auf die sich wandelnde Umwelt verzichten kann. System und Umwelt, das sind unterscheidbare und doch aufeinander bezogene Bewegungs- und Aggregatzustände." (M. Welker [1985a] 96) Eben diese - hier von Welker im Blick auf einen Grundbegriff-Dual bei Luhmann akzentuierten - Momente (von R e l a t i o n a l s t und Wechselseitigkeit) ähneln deutlich denjenigen, welche von u.a. Potepa auch für Schleiermacher geltend gemacht werden. Mit dieser Feststellung soll keine Aussage über weiterreichende Parallelen oder Überschneidungen der Theoriekonzepte von Schleiermacher und Luhmann gemacht werden. M . Potepa (1996) 2. Es ist diese präzise Wahrnehmung von in Texten Schleiermachers enthaltenen leitenden Vorstellungen in Verbindung mit ihrer sachgerechten Verknüpfung und In-Beziehung-Setzung, welche Potepa zu einer ganzen Reihe sachhaltiger, interessanter und weiterführender Überlegungen und Deutungen führt, welche in dieser Kombination in der Schleiermacherliteratur zuvor noch nicht begegnet sind. Hierdurch zeichnet sich die Untersuchung von Potepa in besonderer Weise aus. Von der Sache her zwar

56

Einleitung

Während mit der Bestimmung von Schleiermachers Anliegen als Versuch der Vermeidung von Einseitigkeiten und der Abwehr von Verabsolutierungen von Partialperspektiven ein Punkt des Konsenses zwischen den Interpretationen von Herms und Potepa markiert wird, besteht zwischen beiden hinsichtlich der Frage, ob es sich bei Schleiermacher um einen Vertreter eines Reflexionsmodells, einer Selbstbewußtseinstheorie handelt, oder ob diese umgekehrt bei ihm gerade unter dem Vorbehalt der Kritik und der Negation stehen (weil sie für Schleiermacher als gescheitert zu gelten haben), ein erheblicher Dissens. Potepa kommt - in manchen einzelnen Punkten übereinstimmend mit Frank - zu dem Ergebnis: „Schleiermacher war der erste Philosoph, der aus dem Scheitern des Reflexionsmodells des Selbstbewußtseins für die Hermeneutik wichtige Konsequenzen gezogen hat". 1 9 2 Potepa erkennt, daß Schleiermacher, ohne

1,2

begründet, gleichwohl zeitlich zufällig berühren sich Überlegungen und Einsichten des Vf. der v.U. mit derjenigen Potepas. Überraschenderweise konvergieren die unabhängig voneinander - und z.T. auch auf unterschiedlichen Wegen - gewonnenen Untersuchungsergebnisse. Anders als M . Potepa ([1996] 208f), der im Gefolge von M . Franks Zuordnung von grammatischer Interpretation und Verstehen des Allgemeinen einerseits und psychologischer Interpretation bzw. Divination und Verstehen des Eigentümlichen andererseits (M. Frank [1977] 3 9 - 5 7 ; [1980] 22f; [1985a] 1 0 f . l 5 6 - 1 8 5 ) , eine vergleichsweise stabile Zuordnung von Identität und Dialektik sowie Grammatik einerseits und von Individualität und Hermeneutik sowie Rhetorik andererseits vornimmt bzw. für Schleiermacher voraussetzt, wird hier davon ausgegangen, daß nach Schleiermacher die Hermeneutik (ebenso wie die Rhetorik) sowohl dem Moment der Individualität als auch dem Moment der Identität in der Sprache Rechnung trägt bzw. dieses in jener repräsentiert wird. Eben dies kommt (auch) gerade in der Textpassage zum Ausdruck, auf die Potepa - in Aufnahme von Frank - verweist (PhE 9 7 - 9 9 bzw. HF 3 6 1 - 3 6 3 ) : Zwischen beiden Seiten muß eine „beständige Oszillation" bestehen, damit sich die Identität ausbildet, welche nicht einfach gegeben ist. Wegen der unaufhebbaren „Irrationalität" der Sprachen kann sich ihr nur in einem Verfahren der „Approximation" genähert werden. Die Maxime der Nicht-Mechanisierbarkeit des Verstehens bezieht sich bei Schleiermacher gerade nicht nur auf die Seite der Abduktion bzw. der Divination (gegen M . Frank [ 1 9 8 4 ] 2 1 0 f ) , sondern auch auf die Seite des geschichtlichen Verstehens - und damit der Komparation. Die von Schleiermacher geforderte, dem Kunstcharakter korrespondierende „strengere Praxis" läßt sich nicht auf das Moment der Individualität reduzieren bzw. aus ihm begründen (gegen M . Frank [1992] 74, Anm. 48), sondern resultiert unmittelbar aus dem Charakter der Unendlichkeit (cf. H L 15f bzw. HF 80f, § 9 und H L 30 bzw. H F 9 2 , § 16). So markiert das Moment des Divinatorischen bzw. Prophetischen in der sog. „positiven Formel" (HL 3 1 f bzw. HF 93f, § 18) auch nicht die Differenz zwischen Allgemeinem und Individuellem, sondern zwischen der Dimension der Vergangenheit und der der Zukunft, wobei auch hier wieder von Schleiermacher ausdrücklich das Moment der Unendlichkeit („der Vergangenheit und Zukunft") geltend gemacht wird. Gleichwohl bestimmt Frank den Interpretationsprozeß im Sinne Schleiermachers zutreffend als „unabschließbare Aufgabe" und versieht ihn - im Rekurs auf Derrida - sogar mit dem Prädikat unendlich (M. Frank [1984] 205f). M . Potepa (1996) 2 0 3 , der hiermit Gedanken M . Franks aufnimmt, welche dieser anhand von Schleiermachers ,Dialektik' und .Glaubenslehre' gewinnt und exemplifiziert (cf. M . Frank [1980] 18). In eine ähnliche Richtung weisen Überlegungen von P. Ricoeur im Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit der Phänomenologie (cf. P. Ricoeur [1987] 2 4 4 - 2 5 3 ) . Zu Parallelen zwischen Schleiermacher, Gadamer und Ricoeur in dieser Hinsicht cf. auch M . Frank (1985a) 134-144.

Zur Einordnung in den Kontext der Forschungslage

57

den Begriff des Subjekts aufzugeben, die „Konzeption des sich vermittels der Reflexion selbstbegründenden Subjekts" ablehnt. 1 9 3 In der Konsequenz des „Scheiterns des Reflexionsmodells des Subjekts" findet sich bei Schleiermacher eine stärkere Betonung von Sprach- 1 9 4 , allgemeiner: Zeichenprozessen in enger Verbindung mit einem konsequenten Wechsel der Theorieanlage und des Theorierahmens, 1 9 5 welcher nun in der Lage ist, Relativität, Pluralität und Multiperspektivität nicht nur zulassen, sondern auch qualifiziert rekonstruieren und befördern zu können. 1 9 6 Dieser erzwingt dann auch Veränderungen im Blick auf die Bestimmung von in engem Zusammenhang damit stehenden Disziplinen, beispielsweise der Hermeneutik und der Dialektik. 1 9 7

193 194

M. Potepa (1996) 204. M. Potepa (1996) 203. Gerade dies ermöglicht unter Einbeziehung des Prinzips der Wechselseitigkeit die Einholung des offenen, prozessualen Charakters auf der Theorieebene. So heißt es bei Potepa: „Die Sprache ist etwas ständig Offenes, Unvollendetes, weil jede nächste Aussage die Sprache modifiziert, indem sie ihren Sinn mitschöpft" (M. Potepa [1996] 206). An anderer Stelle heißt es, daß die „Relation des Sprachsystems zur konkreten Sprachverwendung [...] nicht auf der Unterordnung [beruht], weil die individuelle Sprachverwendung die Sphäre der Bedeutung der Sprache auf eine in der Sprachstruktur nicht voraussehbare Weise erweitert", insofern „das sprachliche System ein unstabiles, .geschichtlich nicht abgeschlossenes'" System darstellt (ebd. 209). Grundgelegt sind diese Überlegungen bei Schleiermacher u.a. in seiner Hermeneutik. Cf. H L 1116 bzw. HF 77-81, §§ 5-9. Die in der Bewegung der Sprache begründete Offenheit und Unabgeschlossenheit des Verstehensprozesses bei Schleiermacher wird auch von M. Frank zutreffend erkannt, der darin prägend u.a. auch für M. Potepa wirkt (cf. M. Frank [1984] 205f). Zur Parallele von Schleiermachers Auffassung zu dem, was Saussure „parasemisches System" nennt, cf. M. Frank (1980) 27f und M. Potepa (1996) 209 und Anm. 25.

195

D.h., ohne nach einem „Umweg" über die Zeichenhaftigkeit von Prozessen diese dann doch wieder zu hintergehen und ein transzendentalphilosophisches Modell einer Subjektivitätstheorie zu etablieren. Der Umweg bliebe so dann letztlich doch ein Weg zu einem Theorierahmen, der erklärtermaßen verlassen oder aufgebeben werden soll. So tendenziell E. Herms (1978c). Es sind gerade ja die Einsichten und Folgerungen Schleiermachers im Blick auf die Subjekttheorie und das Reflexionsparadigma, welche dann vermittels ihrer sprachtheoretischen Implikationen zu Theorieansätzen führen, welche für den von Frank intendierten „Dialog zwischen strukturalistischen und sprachanalytisch-hermeneutischen Positionen" allererst so geeignet und fruchtbar erscheinen (M. Frank [1980] 14). Tatsächlich liegt bei M. Frank ein - als solcher nicht explizit thematisierter - Wechsel in der Theorieebene vor - und damit implizit auch ein Exempel für die hier leitende Annahme, daß es bei manchen Problemstellungen angezeigt ist, die Lösung nicht auf der vordergründig naheliegenden gleichen Ebene zu suchen, sondern auf einer gewissermaßen vorausliegenden Ebene.

196

Diese erscheinen nicht mehr nur und primär als Äußerungen von Subjekten, sondern treten auch und gerade im Blick auf den Aspekt ihrer subjektkonstitutiven Relevanz hervor. In diesem Zusammenhang kommen dann auch die dynamischen und regulativen Aspekte des Subjektbegriffs zur Geltung. Cf. hierzu eingehender Ausführungen in Kapitel 3.4 dieser Arbeit, in dem der hier angeschnittene Problemzusammenhang wieder aufgegriffen und in ausgewählten Hinsichten vertieft wird. Cf. M. Potepa (1996) 203-214. Für Schleiermacher konstatiert Potepa das Vorliegen

197

58

Einleitung

(3) Am unmittelbarsten stehen mit Fragen der Theorieanlage und der Theorieform jene Arbeiten in Verbindung, welche die in den Texten Schleiermachers begegnenden elementaren Strukturen in Gestalt von Dualen, Gegensätzen und Polaritäten zum Thema haben. 1 9 8 Schon bei Dilthey hat sich - wenn auch noch vergleichsweise vage - diese Einsicht Ausdruck verliehen, wenn er Schleiermachers Position mit Begriffen zu bestimmen versucht, denen die Vorstellung von der Verbindung oder Synthese zweier entgegengesetzter Seiten oder Perspektiven zugrundeliegt, oder die auf eine Verhältnisbestimmung, eine In-Beziehung-Setzung oder eine Bindung von Gegensätzen abzielen; Dilthey nimmt dabei eine gewisse Anregung Schleiermachers durch Spinoza an. 1 9 9 Auf das Vorliegen des Merkmals polarer Gegensätze bei Schleiermacher ist auch von Seiten des Mathematikhistorikers A.C. Lewis hingewiesen worden, der zudem eine gerade auch hinsichtlich Schleiermacher überaus treffende Charakterisierung polarer Gegensätze gegeben hat. 2 0 0 Während I. Hübner darauf hingewiesen hat, daß für Schleiermacher „die Vorstellung einer Struktur polarer Gegensätze" im wahrsten Sinne des Wortes grundlegend ist, ist von C. Braungart auf die Tatsache hingewiesen worden, daß das Operieren Schleiermachers mit polaren Gegensätzen einen „typischen" und

1,8 199

200

einer Denkfigur, welche Potepa zufolge „sich in ähnlicher Weise bei Gadamer findet" (M. Potepa [1996] 2 0 3 ) . Die damit behauptete Ähnlichkeit Gadamers mit Schleiermacher schränkt Potepa aber sogleich ein und präzisiert den Unterschied gegenüber Schleiermacher (cf. ebd. 2 0 3 - 2 0 6 ) . Im Kern treffen sich die vom Vf. zuvor im Blick auf Frank gemachten Einschränkungen mit denen Potepas. So stellt Potepa im Blick auf Gadamer fest, daß er zwar „das idealistische .Subjekt' durch die .Tradition' [ersetzt]", gerade dadurch „aber dennoch die idealistische Reflexionsstruktur aufrecht [hält]", so daß „letztendlich [...] Gadamer im Grunde idealistischer als Schleiermacher [bleibt]" (ebd. 204). Zu den hierfür einschlägigen Beiträgen und Positionen cf. den Abschnitt II.C.2 v.U. Cf. W . Dilthey (1870) 3 2 3 f sowie ders. (1966) 5 1 . 5 3 - 5 5 . 64 und öfter. Es lassen sich die folgenden Momente festhalten, welche Dilthey zufolge sich daraus ergeben: die Zweiseitigkeit, die Relativität, das unendliche Fortschreiten bzw. den unendlichen Prozeß der Entwicklung sowie das Sich-Annähern an etwas (ohne es letztlich zu erreichen). Lewis spricht in einer Untersuchung von „the polar contrasts in the Grassmann-Schleiermacher dialectical philosophy" (A.C. Lewis [1981] 249). „Such contrasts are characterized by the following: (i) the One and the Many appear in some aspect in each contrast, for example, general and particular, continous and discrete, and equal and different; (ii) relativism - each of two opposite qualities depends on the other for its definition and is not to be thought of as describing a pure existent which has this quality alone; (iii) nonresolution - the essence of reality is represented by the tension between contrasting elements rather than by their synthesis or resolution; and (iv) the contrasts are used as the determinants of concepts and of the species-genus relationships between those concepts." (A.C. Lewis [1981] 2 4 9 ) Interessanterweise hebt Lewis in diesem Zusammenhang auch das Element der Nicht-Erreichbarkeit von Vollständigkeit in Einheit mit der Unvollständigkeit (im strengen Sinne) von Begriffen hervor (cf. ebd. 2 5 0 ) , wobei er hier wie auch bei der Charakterisierung von polaren Gegensätzen sich zunächst unmittelbar auf Grassmanns .Ausdehnungslehre' (H. Grassmann [1862]) bezieht, gleichwohl Schleiermacher z.T. implizit mitmeint oder ihn z.T. explizit in seine Beurteilung einschließt.

Zur Einordnung in den Kontext der Forschungslage

59

„wesentlichen" Grundzug seines Denkens repräsentiert.201 Daß ein sachgemäßes Verständnis dieses Phänomens bei Schleiermacher einen, wenn nicht den Schlüssel zum Verständnis seiner Texte bietet, ist vergleichsweise unstrittig. Gleichwohl werden die Fragen, wie sich dieses Verständnis konkret gestaltet bzw. wie dieser Schlüssel nun beschaffen ist, was er an Perspektiven erschließt und welche Schlußfolgerungen daraus zu ziehen sind, sehr unterschiedlich beantwortet. 202 Diesem Problemkreis wird sich nachfolgend genähert. 201

202

I. Hübner (1997) 2 und C. Braungart (1998) 11 f. Unter Berücksichtigung der Prozessualität und der Fragilität des erreichten Standes des angestrebten Gleichgewichts, kann aber nicht gesagt werden, daß „deren Einheit nicht erst [...] vermittelt [wird], sondern unmittelbar vorauszusetzen ist" (I. Hübner [1997] 2; Hv. JD). Die hier angesprochene Einheit wird vielmehr einerseits hypothetisch vorausgesetzt, andererseits muß sie sich geschichtlich allererst realisieren. Cf. hierzu auch Abschnitt 2.3.2.3 v.U. Neben den Arbeiten A. Reble (1935) und ders. (1936), M. Nealeigh (1991) sowie J. Hoffmeyer (1996), auf die weiter unten näher eingegangen wird, sind hier noch die folgenden Beiträge zu nennen: J. Clayton (1985) und W. Schultz (1962a) und (1962b). Die Untersuchung Claytons konzentriert sich programmatisch auf die Theologie. In ihr versucht er, bestimmte Beobachtungen zu verdichten und zu einem theologischen Programm zu verknüpfen: Theologie als Vermittlungstheologie, näherhin Theologie als Vermittlung von „Glauben und Wissen", von „geschichtlichem Christentum" und „zeitgenössischer Kultur", von „Verstand und Gefühl", von „Philosophie und Theologie" (ebd. 899f). Mit dieser Zuordnung gibt Clayton zu verstehen, daß er Schleiermacher als Anreger für eine über Troeltsch zu Tillich führende Reihe von Vermittlungstheologen bzw. Vermittlungstheologien verstanden wissen möchte (cf. hierzu ders. [1980] 34-86; zur Problematik einer Vermittlungstheologie im Zusammenhang der Methode der Korrelation cf. auch A. Bernet-Strahm [1982]; J. P. Clayton [1974] und ders. [1978]; I. Henel [1968]; M. Repp [1982]; J. Ringleben [1975]; P. Schwanz [1973] und P. Tillich [1968]). Es geht Clayton dabei erklärtermaßen um eine Explikation und Präsentation dessen, was Clayton zufolge innerhalb der Menge von Schleiermachers Beiträgen zur Theologie den wichtigsten und herausragendsten Beitrag zum Handwerk des Theologen darstellt (cf. J. Clayton [1985] 899). Clayton macht dabei neben der aus dem Vertragsrecht entlehnten Rede vom „.Vertrag'" oder der „vertraglichen Vereinbarung" insbesondere „auf die Metapher der Oszillation zwischen zwei Polen im elektrischen Strom" aufmerksam, wobei er letztgenannte zutreffend - wenn auch relativ unspezifisch - innerhalb des Bereichs der Physik lokalisiert (cf. ebd. 905). Die eingangs genannte Begrenzung wird von ihm dann aber eingezogen, wenn er die Feststellung trifft: „Der metaphorische Gebrauch von polarer Oszillation durchzieht fast das Ganze von Schleiermachers Schriften, sowohl das der philosophischen als auch das der theologischen" (ebd. 905). Es zeichnet Claytons Interpretation aus, daß er diese Vorstellung - im Rekurs auf das .Sendschreiben an Lücke' (SL) - nicht nur zutreffend im Zusammenhang der zeitgenössischen Naturwissenschaft und romantischen Naturphilosophie, speziell der elektrogalvanischen Versuche Voltas und Galvanis, sowie der Forschungen von Ritter und Steffens (bes. im Zusammenhang der Elektrizität) lokalisiert und diesen Kontext in die Deutung einzubeziehen versucht, sondern daß er darüberhinaus erkennt, daß sich in diesen Formulierungen Schleiermachers Nachdenken über „die Struktur der Relationen" ihren Niederschlag findet (cf. ebd. 908-912). In diesem Zusammenhang erwähnt Clayton neben Ritter und Steffens auch Schleiermachers Kollegen an der Berliner Universität und der Akademie, Paul Ermann (cf. ebd. 911). Interessant und weiterführend ist dabei die nur vage und eher beiläufig gemachte Feststellung Claytons, daß das Operieren mit nur zwei Instanzen oder Polen für ein gelingendes Modell von Vermittlung nicht ausreicht, sondern daß es neben diesen

60

Einleitung

II.C.l

Zur Fragestellung

Von der Art der Fragestellung her reiht sich die v.U. in einen schon bestehenden Diskussions- und Forschungszusammenhang ein. Gleichwohl sind die Literatur- und Forschungsbeiträge, welche ausdrücklich und in erster Linie nicht einzelnen Schriften Schleiermachers oder eher materialen Themen oder Problemzusammenhängen gewidmet sind, sondern sich mit der eher formalen Dimension eines Gesamtwerks beschäftigen - insbesondere der Struktur des in ihm zum Ausdruck kommenden Denkens -, von geringer Anzahl. Ihre Legitimität und ihr Profil bezieht v.U. innerhalb des Forschungszusammenhangs letztlich weniger durch die Art der Fragestellung als vielmehr durch die Art und Weise ihrer Beantwortung, wobei sich auch hier die Berechtigung der Annahme einer grundsätzlichen Wechselseitigkeit zwischen beidem erweist. Es liegt nahe, ausgewählte Beiträge der Schleiermacher-Literatur daraufhin zu befragen, ob und inwieweit sich aus den in ihnen zur Sprache kommenden Schwierigkeiten mit jeweils vorausgesetzten Interpretationsrahmen und Analysehinsichten implizit oder explizit Hinweise auf einen adäquateren Theorierahmen finden. Daß dabei auf die Differenz zwischen zwei- und dreistelligen - bzw. präziser zwischen dyadischen und triadischen - Relationen ein entsprechend großes Gewicht gelegt wird, erklärt sich aus den grundlegenden Differenzen zwischen den Systemarchitekturen, welche auf dyadischen Relationen aufbauen, und denen, welche auf triadischen Relationen aufbauen. II.C.l

Einige typische

Lösungsansätze

Innerhalb der Beiträge, welche die Schleiermachersche Denkstruktur und die sich in seinen Werken spiegelnde Theorieanlage thematisieren und problematisieren, zeigt sich ein gewisser Konsens. Jedenfalls läßt sich beiden notwendigen Voraussetzungen noch eines dritten Elements, der „Interaktion" zwischen ihnen, bedarf (cf. ebd. 913). Diese Einsicht bildet bei Clayton den Abschluß bzw. das Ergebnis der Betrachtung des Phänomens der Rede von polarer Oszillation bei Schleiermacher (cf. ebd. 912-915). Es gilt nun, es nicht bei der Konstatierung eines „Dilemmas" zu belassen (cf. ebd. 914f), sondern diesen Punkt gerade zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen zu machen. Dabei wird dann auch der Frage nachzugehen sein, ob es ausreicht, statt von zwei nun von drei Elementen auszugehen, oder ob es nicht gleichzeitig auch einer Bestimmung der spezifischen Struktur oder Relation dieser - nun drei - Elemente bedarf, damit es hier zu im Grundsatz weiterführenden Lösungen kommt. Auch W . Schultz nimmt in seinen Beiträgen das Prinzip der polaren Gegensätze - in Verbindung mit der Figur der Oszillation und dem Moment der Unendlichkeit - auf (cf. W . Schultz [1962a] 3 5 1 ; ders. [1962b] 2 5 5 sowie auch ders. [1968b] 2 6 5 . Oszillation bzw. oszillierende Bewegung wird dabei von Schultz als ein allgemeines Naturgesetz vorgestellt (cf. ders. [1962b] 2 5 5 . ) In enger Verbindung mit dem Gedanken der Organizität bildet die Vorstellung der Oszillation für Schultz dabei eine Antithese zu u.a. der Vorstellung des Mechanischen bzw. des Mechanismus.

Zur Einordnung in den Kontext der Forschungslage

61

b e o b a c h t e n , d a ß die g a n z überwiegende M e h r z a h l der Beiträge D u a l e in den V o r d e r g r u n d r ü c k t . W e n n diese dabei d a n n a u c h n o c h einmal in spezifischer W e i s e akzentuiert w e r d e n , dominieren in j e d e m Falle zweistellige F i g u r e n u n d M o d e l l e . ( 1 ) Als frühe „ K l a s s i k e r " der U n t e r s u c h u n g v o n Schleiermachers D e n k struktur k ö n n e n die A r b e i t e n v o n A . Reble gelten. 2 0 3 Die v o n R e b l e in seinem Beitrag ( 1 9 3 6 ) geltend g e m a c h t e n C h a r a k t e r i s t i k a sind fast ausn a h m s l o s solcher A r t , d a ß ihnen ein Dual zugrundeliegt. 2 0 4 D r e i v o n R e b l e n a m h a f t g e m a c h t e M o m e n t e fügen sich dagegen nicht so schlüssig in das v o n ihm allgemein als dialektisches Denken o d e r Dialektik a n g e s p r o -

203

Der Beitrag A. Reble (1936) kann dabei als eine pointierte Zusammenfassung der umfangreicheren Untersuchung A. Reble (1935) gelten. Während letztere den Titel „Schleiermachers Kulturphilosophie " trägt, spricht die erstgenannte (spätere und kürzere) Veröffentlichung im Titel von Denkstruktur. In beiden Arbeiten stehen die philosophischen Überlegungen und Arbeiten Schleiermachers im Vordergrund. Wenn sie sich explizit in die „Denkformenforschung in der deutschen Philosophie unserer Tage" einreiht, dann geschieht dies nicht zuletzt auch als Reaktion auf den „weitgehende[n] Mangel an Übereinstimmung der Schleiermacher-Interpretationenwelche als Ausdruck der Schwierigkeit begriffen werden, Schleiermachers Gedanken eindeutig zu fassen (A. Reble [1936] 254). Reble grenzt sein Arbeits- und Forschungsvorhaben dabei von Untersuchungen, welche primär einzelne Texte zum Gegenstand haben, ab. Es geht ihm darum, „über sich in der Tat vielfach wandelnde Einzelfragen und über die Gliederung nach .Perioden' hinweg zu dem Kern einer einheitlichen und durchgängigen Denkhaltung bei Schleiermacher vorzudringen, sie in ihrer Struktur exakt zu fassen und die philosophische Systematik wiederum als eine Auswirkung der Denkstruktur zu verstehen" (A. Reble [1936] 254f; Hv. JD). Während einerseits die Fragestellung Rebles insbesondere in den vergangenen Jahren offensichtlich (neue) Aktualität gewinnt, wird die (Wieder-) Aufnahme dieser Fragestellung nicht von einer Kenntnisnahme der Beiträge Rebles bzw. einem explizitem Verweis auf sie begleitet. So findet sich z.B. in den beiden neueren Beiträgen von M. Nealeigh (1991) und J. Hoffmeyer (1996) - trotz zahlreicher Parallelen und Übereinstimmungen - keine explizite Bezugnahme auf A. Reble, was letztlich eher für die von ihnen gewonnenen Ergebnisse spricht.

204

Die nachfolgend genannten Seitenzahlen beziehen sich alle auf die Arbeit Rebles von 1936. Sind Bestimmungen wie „Mischung" (cf. 257.259.266) und „[chemische] Bindung" (257.259) noch offen für mehr als zweistellige Relationen, so gilt dies nicht mehr für die Rede von einer „Vereinigung der entgegengesetzten Attribute" (256; i.O. z.T. Hv.), von einer „Entgegensetzung" (cf. 264f.271), von „Polarität" oder einem „polaren Zusammenspiel" (cf. 257.260.264-266.272) oder einer „paarige[n] Entsprechung" (265). Besonders klar ist hier die Rede von einem Prinzip der Dichotomie (cf. 265-267). Dieses kann sich dann auch in einer zyklischen, kreisenden Bewegung, einer Zirkulation in Gestalt einer Ellipse manifestieren (cf. 257.259-261.263.266-269.271). Ebenso vollzieht sich ein Pendeln oder Schwingen zwischen zwei „polar gelagerten Modi", wobei Reble hier auch den Begriff der Oszillation verwendet (cf. 257.259f.262.268). Das DichotomiePrinzip kann sich konsequenterweise nicht nur in einer Ellipse (mit zwei Brennpunkten) oder einem Gegensatz (mit zwei Seiten oder Relaten) realisieren, sondern auch in einer Potenzierung dieser Dualität in Gestalt einer Kreuzung von zwei Ellipsen bzw. zwei Gegensätzen (cf. 268). Durch die Betonung des zyklischen Moments und der Fassung der Pole als „sich gegenseitig bedingende Korrelate", wird die Dichotomie als eine nicht strikte (im Sinne eines Dualismus) qualifiziert. Dafür spricht auch die Rede von einem „Kontinuum" bei Reble (cf. 266).

62

Einleitung

chene Gesamtbild. Es handelt sich hier um das methodische Mittel der Approximation, den Gedanken der unendlichen Annäherung und ein dynamisches Moment. 205 Aufschlußreich ist hierbei zweierlei: Einmal, daß Reble diese Momente jeweils nur einmal nennt, und zwar ganz zum Schluß seines Beitrags. Dann, daß Reble offensichtlich eine gewisse Spannung zwischen diesen drei Charakteristika und den von ihm zuvor geltend gemachten Elementen wahrnimmt und thematisiert. 206 Nachdrücklich wendet sich Reble aber dagegen, daß die von ihm namhaft gemachten drei Elemente das zuvor gewonnene Ergebnis ernsthaft in Frage stellen.207 Es ist nicht nur sachlich richtig, diese drei Momente festzuhalten, sondern es ist auch positiv zu würdigen, daß Reble sie trotz der durch sie provozierten Spannungen im Blick auf seine vorherigen Ausführungen nicht verschweigt. Dennoch bleibt der Befund unbefriedigend, insofern Reble diese Momente, besonders das der Dynamik, letztlich nicht fruchtbar macht bzw. für die Gesamtinterpretation Schleiermachers letztlich nicht fruchtbar machen kann. 208 Es stellt sich hier die Frage, ob hier entweder die beobachtete und konstatierte Spannung auf einem Irrtum beruht, oder ob eine der für die Spannung konstitutiven beiden Seiten fehlerhaft oder zumindest unangemessen bestimmt ist.209 Bevor dieser Frage weiter nachgegangen wird, soll ein Beitrag neueren Datums zu der Fragestellung grundlegender Strukturmuster bei Schleiermacher in den Blick genommen werden. (2) Ganz ähnlich wie Reble, wenn auch ohne explizite Erwähnung seiner Arbeiten, rückt auch der zunächst stärker epistemologisch ausgerichtete Beitrag von M. Nealeigh eine duale bzw. dipolare Struktur in den Vordergrund und wendet sich - ausgehend von epistemologischen und 205 206 207

208

209

Cf. A. Reble (1936) 272. Es ist zu erwägen, ob zwischen den zwei Gesichtspunkten ein sachlicher Zusammenhang besteht. Dabei ist es bes. das „dynamische[s] Moment in Schleiermachers System", welches nach Reble offensichtlich „der Dialektik ihr Gewicht [nimmt]" (A. Reble [1936] 272). „Trotzdem verändert er [sc. der Gedanke der unendlichen Annäherung] die tatsächliche Struktur der Systematik durchaus nicht." (ebd. 272) Die Spannung läßt sich nur dadurch lösen, daß man die Berührungspunkte zwischen der vorherigen, an Dualen orientierten Interpretation und den drei zuletzt genannten Gesichtspunkten so gering wie möglich zu halten versucht und eine Verhältnisbestimmung primär negativ vornimmt: „So ändert sich zwar die Wertung; der dialektische Aufbau seines Systems, die Form seines Denkens selbst, seine Art, die Begriffe zu bestimmen, zu ordnen und zu verknüpfen, - das alles bleibt völlig unberührt davon." (A. Reble [1936] 272; Hv. JD) Konkret hieße das, daß unter der Voraussetzung, daß hier in den Schleiermacherschen Texten selber keine gravierende Inkonsistenz vorliegt, entweder die von Reble zuletzt genannten Charakteristika (Approximation, unendliche Annäherung und Dynamik) oder die zuvor geltend gemachten, an Dualen orientierten Bestimmungen, aus einer Fehldeutung Schleiermachers resultieren.

Zur Einordnung in den Kontext der Forschungslage

63

methodischen Fragen - ausdrücklich Überlegungen formaler und methodologischer Art zu. 210 Veranlaßt durch K. Barth, R. Williams und nicht zuletzt Schleiermachers .Dialektik', unternimmt Nealeigh den Versuch einer Applikation der „dipolar theory of Charles Hartshorne" bzw. „the dipolar model of Charles Hartshorne's process thought" auf „Schleiermacher's fundamental method" mit dem Ziel, über die Erfassung dieses Teilaspekts ein adäquateres Verständnis seines gesamten Denkens und besonders seines theologischen Systems zu erreichen.211 Bemerkenswert ist nicht nur die Tatsache, daß Nealeigh für die inhaltliche Bestimmtheit des dipolaren Modells in Anlehnung an Hartshorne neben Schelling Piaton in Anschlag bringt, sondern daß er darüber hinaus auch zahlreiche, hier für Schleiermacher geltend gemachte, Charakteristika im Kontext von ihm als Methode begriffenen Dipolarität verorten kann. 212 Von daher erweist sich seine Vermutung, „that the dipolar model can provide the framework needed to clarify and organize the structure and content of Schleiermacher's complex epistemological system", in gewissen Grenzen durchaus als berechtigt. Die gemachte Einschränkung bezieht sich hierbei auf solche Merkmale wie Prozessualität, Unendlichkeit, auf die Momente Dynamik und Approximation. Auffällig ist, daß es sich bei Reble um mehr oder weniger die gleichen Gesichtspunkte handelt, welche auch bei Nealeigh bei der Vorstellung des dipolaren Modells und der weiteren, sich be2,0 211

212

Cf. M. Nealeigh (1991) 174. M. Nealeigh (1991) 174f. Hier deutet sich ein sich durch den Beitrag hindurchziehendes Problem an. Während Nealeigh nämlich einerseits ausdrücklich von erkenntnistheoretischen Fragestellungen ausgeht und methodologische Überlegungen anstellt, wobei der .Dialektik' eine besondere Rolle zukommt, verweist er andererseits auf theologische Diskussionszusammenhänge und Klärungsabsichten innerhalb des theologischen Systems. Insofern beide Sachzusammenhänge bei Schleiermacher keineswegs getrennt sind, erscheint eine gleichzeitige, eng verknüpfte Erörterung beider nicht grundsätzlich als systemwidrig oder unsachgemäß. Insofern Schleiermacher seine Auffassung von Theologie aber nachdrücklich abgrenzt von rationalistischen und spekulativen Konzeptionen und er Theologie als eine positive Wissenschaft entwirft, ist die Erörterung von erkenntnistheoretischen Fragen im Kontext z.B. der,Dialektik' als einer realen Wissenschaft deutlich zu unterscheiden von spezifisch theologischen Problemen. Diese für Schleiermacher ganz wesentliche Unterscheidung (cf. SL 316,6-321,33; 328,3-28; 332,16-335,12; 341,21342,14; 348,11-351,12; 359,15-361,14; 370,20-377,28; 387,8-391,20) scheint bei Nealeigh nicht hinreichend deutlich und konsequent durchgehalten zu werden - auch und gerade in den Zusammenhängen, wo er Argumentationszusammenhänge aus der .Dialektik' unmittelbar als theologische Beiträge behandelt. Wenn Nealeigh auch innerhalb der Theologie auf einer fundamentalen, konzeptionellen Ebene nach Lösungen sucht, ist dies völlig zutreffend, nur darf dies nicht primär als eine spezifisch theol. Entscheidung verstanden werden. Leitend ist dabei die Vorstellung von einem Ganzen und seinen Teilen, welche dann als nur relativ entgegengesetzte Aspektuierungen begriffen werden können - bei gleichzeitigem Festhalten einer wechselseitigen Abhängigkeit beider Pole voneinander (cf. M. Nealeigh [1991] 175-178). „Both contradiction and dualism are avoided in a proper understanding of the relationship between the poles" oder „contraries" (ebd. 177 und 178).

64

Einleitung

sonders auf die .Dialektik' stützenden Darstellung, deutlich unterrepräsentiert bleiben. Wenn Nealeigh neben der dominierenden Semantik von Dipolarität und Dichotomie an einzelnen Stellen auch von „process", „polar dynamic" und „oscillation" spricht,213 so ändert dies nicht wesentlich das Ergebnis.214 Diese drei Momente z.B. begegnen nicht nur äußerst selten explizit im Text von Nealeigh, sondern sie lassen sich auch nur schwer mit dem Gesagten vermitteln und in Ausgleich bringen, viel weniger ergeben sie sich schlüssig als notwendige Konsequenz aus seinen Darlegungen. Dies gilt besonders für die Passagen, in denen Nealeigh sachlich durchaus zu Recht - im Blick auf Schleiermacher vom Kontinuum und von einer infiniten Anzahl von möglichen Bestimmungen spricht.215 In dem Beitrag von Nealeigh besteht ferner eine gewisse Unausgewogenheit. Während einerseits zahlreiche Theorieelemente zutreffend erkannt und bestimmt werden, 216 können andere nicht hinreichend plausibel gemacht werden oder fügen sich nicht organisch in den zuvor skizzierten Zusammenhang. Es drängt sich von daher der Verdacht auf, daß der gewählte, an einem Dual orientierte und damit letztlich zweistellig gedachte Interpretationsrahmen auch im Beitrag von Nealeigh für dieses Ungenügen verantwortlich zeichnet. Wenn Nealeigh viele für Schleiermacher wesentliche Gesichtspunkte erkennt und zur Sprache bringt, so lassen sich dennoch bestimmte Momente, zu denen besonders auch der dynamische Charakter bzw. Dynamik und Prozessualität gehören, in diesem Rahmen offensichtlich nicht spannungslos in den dargestellten Gesamtzusammenhang einfügen.217 Sie erscheinen tendenziell marginalisiert und sekundär. 218 Demgegenüber scheint bei entsprechend sensibili-

213 214

215 216

217

218

M . Nealeigh (1991) 178. Cf. 187.192 und 196. So sind die Momente Dynamik und Prozeß schon von ihrer Art nur äußerst schwer mit den zahlreichen, prinzipiell gleichartigen Skizzen, die demgegenüber viel eher eine gewisse Statik nahelegen, vermittelbar. Vergleichsweise gut wird durch sie die Relativität eines Gegensatzes und die Konstruktion eines mittleren Bereichs einer Mischung zwischen zwei Polen veranschaulicht. Leider wird dagegen an keiner Stelle auf den nicht unwichtigen, bei Schleiermacher zu findenden Gedanken einer Iterierung dieser Schemata, hingewiesen. Cf. M. Nealeigh (1991) 193. Hier kann auch auf die Verbindung von Erkenntnistheorie und Ontologie (cf. ebd. 190), die Relativität von Denken und Wissen (cf. ebd. 195) sowie auf das Verhältnis beid- bzw. wechselseitiger Korrelation (cf. ebd. 199) verwiesen werden. Auffällig ist, daß innerhalb des kurzen Schlußabschnitts, in welchem von Dynamik und dynamischer Beziehung die Rede ist, sich kein einziger Quellenverweis findet, obwohl in dem Beitrag sonst zahlreiche Quellennachweise aufgeführt sind. Das argumentative Ziel dieses Beitrags nimmt aber auch weniger ein dynamisches, prozessuales Moment in den Blick als den Versuch, nachzuweisen, daß Schleiermachers Theoriebildung - z.T. im Unterschied zu Descartes und Kant - primär durch Konjunktion und Polarität gekennzeichnet ist, und nicht primär durch Disjunktion und strikte Dichotomie (cf. ebd. 181f). So ist es in diesem Zusammenhang keineswegs unbedeutend, daß Nealeigh ganz zum

Zur Einordnung in den Kontext der Forschungslage

65

sierter L e k t ü r e v o n z . B . Schleiermachers Brief an F . H . J a c o b i ( B r J ) g e r a d e d a r a u f der A k z e n t sehr viel deutlicher zu liegen als a u f der schlichten T a t s a c h e des V o r h a n d e n s e i n s einer Polarität. Die g e n a n n t e n B e o b a c h t u n g e n lassen sich als Indizien dafür begreifen, d a ß eine letztlich nur duale o d e r zweistellige R e l a t i o n sich nicht eignet zur E r f a s s u n g und Beschreib u n g der D e n k s t r u k t u r Schleiermachers und der Gestalt seiner T h e o r i e a n lage.219 ( 3 ) Dieser Schluß w i r d in A n s ä t z e n a u c h d u r c h den Beitrag v o n J . H o f f m e y e r nahegelegt, für den - g a n z anlog zu R e b l e - die B e o b a c h t u n g des V o r h a n d e n s e i n s v o n relativen und fließenden G e g e n s ä t z e n b z w . die R e l a t i v i e r u n g a b s o l u t e r Gegensätze und die A b w e i s u n g eines strengen D u a l i s m u s bei Schleiermacher, verbunden mit der D o m i n a n z v o n K o n j u n k t i o n e n gegenüber exklusiven Disjunktionen, den A u s g a n g s p u n k t bild e n . 2 2 0 I n n e r h a l b dieser C h a r a k t e r i s t i k a e r k e n n t H o f f m e y e r eine sich d u r c h z i e h e n d e p o l a r e Struktur b z w . die W i r k s a m k e i t zweipoliger Schem a t a . Interessant u n d weiterführend ist die spezifische A r t u n d W e i s e der Qualifizierung u n d N ä h e r b e s t i m m u n g dieser zweistelligen Struktur insofern, als sich v o n hier aus A n s a t z p u n k t e für einen Ü b e r g a n g v o n e i n e m zweistelligen zu e i n e m dreistelligen Schema e r g e b e n . 2 2 1 D a b e i w i r d v o n

219

220 221

Schluß seines Beitrags schreibt, „i'f can be concluded [...] that Schleiermacher's system possesses the dynamism necessary to insure its compatibility with dipolar theory" (M. Nealeigh [1991] 200; Hv. JD). Nealeigh thematisiert den Aspekt der Dynamik nicht nur erst im letzten Abschnitt seines gesamten Beitrags, sondern die Thematisierung dieses Aspekts hat explizit den Status einer Schlußfolgerung bzw. Konklusion aus „considering the interaction of its polar aspects" (ebd. 200). Wenn Nealeigh abschließend konstatiert, „the conjunction of the poles implied in his system requires that they be dynamically related", so wird dies hier einfach behauptet und erscheint eher additiv hinzugefügt als organisch entwickelt (cf. die einleitende Wendung: „In addition" [ebd. 200]). Die genannten Beobachtungen und besonders auch die bei Reble und Nealeigh begegnenden Spannungen einfach im Sinne einer Disqualifizierung ihrer Beiträge zu verstehen, bedeutet ein grobes Mißverständnis der kommunikativen Absicht der hier vorliegenden Darstellung. Cf. J. Hoffmeyer (1996) 458f. Es handelt sich hier in dieser Hinsicht nur um Ansätze, weil Hoffmeyer in seinen Überlegungen explizit letztlich an einem dualen bzw. zweipoligen Schema als grundlegender Struktur festhält, auch wenn er implizit den Übergang zu komplexeren, nämlich dreistelligen Schemata vorbereitet und in gewisser Weise auch vollzogen hat. Dem widerspricht nicht die Tatsache, daß bei Hoffmeyer an zwei Stellen explizit von einem dreistelligen Verhältnis die Rede ist (cf. J. Hoffmeyer [1996] 459). Weil und insofern er hier ausdrücklich von einem dreistelligen Verhältnis spricht, weist sein Beitrag über die anderen Arbeiten, auf die er ausdrücklich Bezug nimmt, hinaus. Diese operieren explizit ebenfalls nur mit letztlich zweistelligen Relationen oder Polaritäten bzw. (di-)polaren Strukturen (cf. R.R. Williams [1978], R. Osculati [1980], J. Wallhauser [1991], M. Nealeigh [1991] und S. Briggs [1992]). Weil er dieses dreistellige Verhältnis an beiden Stellen als Implikat einer (zweistelligen) Polarität begreift, verläßt Hoffmeyer letztlich nicht ein grundlegend an zweistelligen Relationen orientiertes Paradigma. Cf. hierzu auch die folgende Darstellung. Daß er im Zusammenhang einer Erörterung der Gestalt der Anlage des (theologischen) Systems bei Schleiermacher eine höherstellige Relationsform

66

Einleitung

H o f f m e y e r ein a n zweistelligen R e l a t i o n e n o d e r zweipoligen S c h e m a t a o r i e n t i e r t e s M o d e l l a b e r letztlich nicht v e r l a s s e n . 2 2 2 S o r e p r ä s e n t i e r t H o f f m e y e r s Beitrag in weiten Teilen die E x p l i k a t i o n einer dreifach differenzierten T h e s e , die sich in allen ihren Teilen grundlegend a n einer Z w e i p o l i g k e i t orientiert. 2 2 3 D a s a r g u m e n t a t i v e Interesse H o f f m e y e r s liegt darin, n a c h z u w e i s e n , d a ß sich in Schleiermachers Theoriebildung das Bewußtsein v o n M u l t i perspektivität, Selbstreferentialität und Polyzentrizität niedergeschlagen h a t . 2 2 4 W e n n H o f f m e y e r die F r a g e n a c h einer Z w e i - o d e r Dreistelligkeit der S c h e m a t a a u c h n u r berührt, so lassen sich seine A u s f ü h r u n g e n ents p r e c h e n d e x t r a p o l i e r e n . 2 2 5 I m Z u s a m m e n h a n g seiner zweiten Teilthese hält H o f f m e y e r fest, d a ß Schleiermacher sich nicht ausschließlich z w e i p o liger S c h e m a t a bedient. Offen bleibt dabei, o b die v o n S c h l e i e r m a c h e r d a n n zugrundegelegten, k o m p l e x e r e n , weil mehrstelligeren Verhältnisse,

überhaupt ins Gespräch bringt, zeichnet seinen Beitrag dagegen vor anderen aus. Ähnlich wie derjenige von M. Nealeigh stellt auch J. Hoffmeyer (1996) von der Themen- und der Fragestellung her ausdrücklich die Theologie in den Vordergrund (cf. den Titel seines Beitrags: „Schleiermacher und die Relativierung zweipoliger Schemata in der Theologie" [ebd. 457]), während gleichzeitig eine Disziplin, die den Status einer realen Wissenschaft hat, seine faktische Referenz darstellt. Es handelt sich hier konkret um die Einleitungspassagen der .Philosophischen Ethik' in ihren unterschiedlichen Fassungen (cf. zur expliziten Hervorhebung dieses Sachverhalts ebd. 457, Anm. 1; 458, Anm. 8; 459, Anm. 11; 462, Anm. 21). Es ist von hier aus zu erwägen, ob nicht auch Hoffmeyer in den Einleitungspassagen der Entwürfe Schleiermachers zur philosophischen Ethik Gehalte erkennt, die über den unmittelbaren Kontext der Ethikbegründung hinausreichen und grundsätzliche Fragen der Begründung, Anlage und Darstellung von Wissenschaften betreffen. Wenn sich Hoffmeyer auch nicht in so grundsätzlicher Hinsicht zu seiner Textbzw. Quellenauswahl explizit äußert, so ist eine partielle Konvergenz zu den in der v.U. zu Schleiermachers Wissenschaftslehre herangezogenen Texten unabweisbar. 222

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Ob sich der Eindruck einer gewissen Inkonsequenz aus der Perspektive der hier v.U. eher einstellt, als er sich u.U. aus dem Duktus der Untersuchung Hoffmeyers ergibt, könnte seinen Grund in dem anders geprägten Kommunikationszusammenhang und dem infolgedessen anders akzentuierten Argumentationsziel haben. Diese These ergibt sich aus einem bestimmten Verständis der Themenformulierung „Schleiermacher und die Relativierung zweipoliger Schemata in der Theologie" (J. Hoffmeyer [1996] 457; Hv. JD). Im Anschluß an ein Verständnis des Genitivs (hier primär als „genitivus obiectivus") formuliert Hoffmeyer die von ihm vertretene These, „daß Schleiermacher trotz seiner Vorliebe für zweipolige Schemata zentralen Versuchungen des zweipoligen Denkens nicht nachgibt: 1) der Versuchung, grundlegende Polaritäten absolut zu setzen; 2) der Versuchung, ausschließlich die zweipolige Form zu verwenden; 3) der Versuchung, die Pluralität auf eine endgültige Zweipoligkeit zurückzuführen" (J. Hoffmeyer [1996] 459). In dieser Hinsicht berühren sich die Schleiermacher-Interpretationen J. Hoffmeyers (1996), M. Welkers (1983) und z.T. I. Dalferths (1991), auf die Hoffmeyer auch explizit Bezug nimmt (cf. ebd. 462, Anm. 24 und ebd. 463, Anm. 29). Diese Möglichkeit spricht nicht gegen seinen Beitrag, sondern kann und muß als ein nicht geringes Argument für ihn gewertet werden. Während die dritte Teilthese hierfür nichts austrägt, da sie die Vorstellung von Zweipoligkeit überhaupt nicht verläßt, sind die ersten beiden Teilthesen Hoffmeyers hierfür deutlich anschlußfähiger.

Zur Einordnung in den Kontext der Forschungslage

67

wieder auf zweistellige rückführbar sind, oder ob hier ein prinzipiell anderes, höher-wertiges226 Schema zugrundegelegt wird. Unklar bleibt im Zusammenhang seiner ersten Teilthese auch, was mit ,,interpretative[m] Ort" gemeint ist.227 Eine Verknüpfung der beiden ersten Teilthesen kann - in Verbindung mit dem Festhalten des Moments der Gleichzeitigkeit von Polarität und Interpretation - die Grundlage eines dreistelligen oder dreipoligen Schemas bilden, bei der (abweichend von Hoffmeyer) nicht „jede Polarität ein dreistelliges Verhältnis impliziert", sondern jede grundlegende Relation die Gestalt eines dreistelligen Verhältnisses aufweist, wobei dieses dann näher als (genuin) triadisches zu bestimmen ist.228 Eine solche Relation ist einerseits auch durch die Gleichzeitigkeit ihrer Relate gekennzeichnet, wobei andererseits eines der drei Relate die Relation zwischen den beiden anderen Relaten darstellt.229 Unvereinbar mit einer solchen Extrapolation der Überlegungen Hoffmeyers wäre dann aber der Gedanke, daß ein dreistelliges Verhältnis ein Implikat jeder Polarität bildet. Das Umgekehrte muß dagegen durchaus als Möglichkeit angenommen werden, nämlich daß ein dreistelliges Verhältnis ein oder mehrere zweistellige Verhältnisse impliziert.230

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230

Wertigkeit wird hier im Sinne chemischer Wertigkeit verstanden, d.h. sie ist ein quantitatives Maß für die Anzahl von Valenzen und hat keine unmittelbar qualitative Bedeutung. Cf. zum Verständnis der Polaritäts-Schemata aus der Perspektive chemischer Bindungen H. Süskind (1909) 114ff sowie besonders A. Reble (1936) 257. Dieser Verstehenskontext muß auch für Schleiermacher vorausgesetzt werden. J. Hoffmeyer (1996) 459. Nur hier kann die zuvor Implikation genannte Verhältnisbestimmung adäquat zum Tragen kommen. In diesem Sinne könnte dann eine Überlegung Hoffmeyers dahingehend weitergeführt und näher bestimmt werden, daß es in ihr um die Entfaltung eines dreistelligen - und nicht nur eines zweistelligen oder zweipoligen - Relationsmusters geht. Damit würde quasi „mit Hoffmeyer - gegen Hoffmeyer" argumentiert. Wobei es sich bei letzteren dann um Abstraktionen oder degenerierte Formen eines ursprünglich dreistelligen Verhältnisses handelt. Zu modifizieren wäre dann auch die Aussage Hoffmeyers, daß „die zweipolige Interpretation auf den interpretativen Ort selber" angewendet wird (ebd. 459). Das Moment der Selbstreferentialität, welches Hoffmeyer hier einzuholen versucht, müßte dann - und könnte erst dann - für die dreistellige Relation als Ganze gelten. Eine Selbstbezüglichkeit einer zweipoligen Relation läßt sich ebenso schwer denken wie die einer „zweipolige[n] Interpretation" (ebd. 459). Es ließe sich zeigen, daß die von Hoffmeyer - völlig zutreffend - für Schleiermachers Theoriebildung geltend gemachten Charakteristika von Mulitperspektivität, Selbstreferentialität und Polyzentrizität unter der Voraussetzung eines in dem zuvor angedeuteten Sinne deutlich besser darstellen und plausibel machen lassen. Aus Gründen des hier zur Verfügung stehenden Raums und des gewählten Themenschwerpunkts muß von einem Nachweis hierfür an dieser Stelle abgesehen werden.

68

Einleitung

II.D

Ertrag

Als Ergebnis der Durchsicht ausgewählter Beiträge der Sekundärliteratur ist festzuhalten, daß die ganz überwiegende Mehrzahl der Autoren einer zweistelligen Relationsform als elementarer Systemstruktur verhaftet ist. Diese dyadische Grundrelation kann dann in begriffssemantischer Hinsicht in unterschiedlicher Weise, z.B. als Dual bzw. Dualität, Polarität, DiPolarität, Zweistelligkeit angesprochen werden. Dieser Befund bleibt aber unbefriedigend, soweit sich die Texte Schleiermachers mit den daraus sich ergebenden Schemata offensichlich nur eingeschränkt adäquat und spannungsarm interpretieren lassen. In einem Fall wird deshalb eine ausschließliche Zweistelligkeit verlassen zugunsten einem höherkomplexen, namentlich dreistelligem Relationsgefüge. Nicht befriedigend erscheint aber hier der Versuch, diese höherkomplexen Formen als Implikate von weniger komplexen Formen zu begreifen. Es drängt sich von hier aus die Vermutung auf, daß Schleiermachers Lösungsansätze und Schleiermachers Theorieanlage de facto nur über eine höher als zweistellige Grundrelation einholbar sind. Gleichzeitig ist unverkennbar, daß Schleiermacher von seiner Oberflächensemantik her dualen oder zweistelligen Schemata verpflichtet ist. Es stellt sich daher die Frage, ob es eine Möglichkeit gibt, beide Bestimmungen zusammenzudenken. Plausibel wäre dies nur unter der Bedingung, daß die zweistelligen Schemata aus dreistelligen abgeleitet erscheinen. Es ergibt sich von hier aus die Konsequenz, hypothetisch von einer dreistelligen Grundrelation auszugehen und die zweistelligen als davon abgeleitet oder als Abstraktionen davon zu betrachten. Solange man die dreistelligen Schemata von zweistelligen oder zweipoligen/dipolaren Schemata herleitet, bleibt man letztgenannten verhaftet. Es legt sich für die hier folgende Untersuchung deshalb nahe, den Versuch zu unternehmen, den zuvor skizzierten, umgekehrten Weg zu beschreiten. Dies geschieht, obwohl Schleiermacher von seiner Oberflächensemantik her auch ein duales Grundmuster als leitendes und grundlegendes Schema nahelegt. Es geschieht gerade deshalb, weil viele Gedanken und Gesichtspunkte einer Theorieanlage Schleiermachers überhaupt nur auf einer - implizit vorausgesetzten - dreistelligen Grundrelation vorstellbar und entwickelbar erscheinen. Vorgreifend wird als zu explizierende und zu bewährende Hypothese behauptet 231 , daß hinter dem Operieren mit vordergründig dichotomischen Schemata das Interesse steht, höherkomplexe - auf trichotomischen Relationen basierende - Strukturen zu generieren. Dahinter verbirgt sich etwas, was von Schleiermacher u.a. „ Wissenschaftslehre"' genannt wird. 232 231 232

Hierbei handelt es sich bewußtermaßen um eine extreme Verkürzung und Vereinfachung. Zum Titelstichwort „Wissenschaftslehre" und dem darin enthaltenen Programm cf. bes. die Abschnitte 2.2.2 und 2.3.2.4 v.U.

Z u r Einordnung in den K o n t e x t der Forschungslage

69

Das damit angesprochene Sachproblem ist das der Konstitution von Realität bzw. das einer adäquaten Realitätskonzeption und einer sachgemäßen, ihr entsprechenden Theorieanlage233. Zum Schluß sei ein Hinweis zur Rezeption erlaubt. Es wird in der Anlage und der Art und Weise der Darstellung innerhalb v.U. versucht, den hier im folgenden dargelegten Grundsätzen Schleiermachers für die Darstellung einer einzelnen besonderen Wissenschaft in Ansätzen Rechnung zu tragen. D.h. - anderem vorgreifend - , daß etwas sowohl in seinem Gewordensein verstanden als auch in seinem Werden dargestellt werden muß, weshalb jeder konkreten Darstellung eine gewisse Vorläufigkeit und ein gewisser Mangel an Bestimmtheit eignet. Für die Darstellung folgt daraus u.a., daß Schleiermachers Theorieansatz nicht einfach für sich abschließend dargestellt werden kann, sondern daß es einer Mehrzahl von perspektivisch unterschiedenen Zugängen bedarf, welche allesamt immer nur einen relativen Grad von Bestimmtheit aufweisen. Die Darstellung ist folglich irreduzibel mit einem gewissen Maß an Unbestimmtheit behaftet. Ferner können dann auch Ergebnisse nicht abschließend präsentiert werden. Es bedarf vielmehr des Versuchs, sie in einem mehrdimensionalen Prozeß auszumitteln.234 Den Leserinnen und Lesern muß deshalb zugemutet werden, sich in eine längere Gedankenbewegung hineinnehmen zu lassen, innerhalb derer Elemente gradueller Unbestimmtheit sowie Momente von Vagheit aus prinzipiellen Gründen unvermeidlich sind.

233

234

Die Begriffe Theorieanlage und Theoriearchitektur sowie Rahmentheorie und Theorierahmen werden hier synonym verwendet, wobei sich ersteres in letzterem spiegelt. Cf. hierzu Abschnitt I der Einleitung v.U. Den Leserinnen und Lesern wird dabei die Möglichkeit gegeben, nicht nur die Rezeptionsgeschichte Schleiermachers partiell mitverfolgen zu können, sondern anhand von in der Literatur bisher kaum berücksichtigtem Quellenmaterial andere und neue Aspekte an Schleiermacher zu entdecken, welche in Richtung eines mehrdimensionalen Interpretations- und Lebensprozesses führen.

1.

Versuch einer Annäherung

Im Rekurs auf zwei Diskussionskontexte Schleiermachers werden in diesem ersten Kapitel Grundzüge von Schleiermachers Realitätskonzeption eruiert und entwickelt, um sie dann im weiteren Verlauf der Arbeit zu überprüfen und zu bewähren und ggf. zu modifizieren und zu korrigieren. Die in diesem Kapitel vollzogene Betrachtung versucht, die Bildungsgeschichte Schleiermachers als einen engeren, auf den ersten Blick eher biographischen Kontext 1 , ferner explizite Bezugnahmen, Verweise und Berufungen auf naturphilosophische Fragestellungen und Einsichten als einen weiteren, eher an Sachinteressen ausgerichteten Kontext 2 zu berücksichtigen. Innerhalb der Bildungsgeschichte Schleiermachers nimmt Piaton eine besondere, hervorragende Stellung ein. Der Bezug zu Piaton ist dabei ein mehrfacher und auf verschiedenen Ebenen angesiedelt. Neben dem umfangreichen und langwierigen Projekt der Piatonübersetzung sind es - quasi vermittelt und indirekt - auch seine Überlegungen und Arbeiten zur Methodik der Übersetzung, zur Hermeneutik, zur Dialektik und zur Geschichte der Philosophie, welche ihn immer wieder zu einer Beschäftigung mit Piatons Dialogen führen. Leitend für diese Untersuchung ist - gewissermaßen in schleiermacherexterner 3 Perspektive - die Vermutung, daß u.a gerade auch der Rekurs auf Piaton bzw. auf Schleiermachers Piatondeutung einen für die Interpretation Schleiermachers klärenden und sachlich weiterführenden Gewinn zu erbringen vermag. Piaton wird dabei nicht nur als ein Kontext neben

Dabei soll gerade nicht ausgeschlossen werden, daß auch für den ersten, engeren Kontext Sachbezüge ausgemacht werden können, wie sich im Verlauf der Untersuchung zeigen wird. Im Gegenzug können auch hier biographische Zusammenhänge aufgezeigt werden. Die oben namhaft gemachte Differenz von einerseits einer eher biographischen und andererseits einer eher sachlichen Betrachtungsweise ist somit gerade nicht im Sinne einer rigiden Unterscheidung zweier Bereiche, sondern vielmehr als an dem jeweiligen „Einstiegspunkt" orientierte Aspektuierung zweier perspektivischer Zugänge zu verstehen, welche dann im weiteren Verlauf zunehmend diffundieren. Die Kennzeichnung „extern" bezieht sich hier nicht auf die Heranziehung des Kontextes eines Werks zur Interpretation desselben, sondern auf die Tatsache, daß sich die unmittelbar folgenden Überlegungen auf die Geschichte der Interpretation von Schleiermachers Werken beziehen und sich nicht aus von Schleiermacher selbst erhobenen Grundsätzen ableiten. Zu diesen gehört dann natürlich auch die Maxime, daß die Berücksichtigung des Kontextes konstitutiv für das Verstehen eines Werks ist.

72

Versuch einer Annäherung

anderen möglichen und naheliegenden Kontexten (wie z.B. Fichte, Schelling oder Hegel im Zusammenhang des Deutschen Idealismus) angesehen, sondern als der im Vergleich dazu gerade sehr viel adäquatere Verstehenskontext. 4 Während diese Vermutung hinsichtlich Piaton mit berechtigtem Anspruch auf Plausibilität in der Literatur schon einmal ausgearbeitet wurde 5 - wenn auch mit anderem Akzent als dies hier erfolgt - , so stellt eine eingehendere Berücksichtigung des naturwissenschaftlich-naturphilosophischen Kontextes unter dieser Fragehinsicht bis dato ein Desiderat dar. Daß Piatons naturphilosophischem Dialog .Timaios' gerade innerhalb der zeitgenössischen naturphilosophischen Diskussion klassischer Rang zukommt, ist mehr als nur eine historische Zufälligkeit. Durch den Rekurs auf Piaton und die zeitgenössische Naturphilosophie, besonders in der durch J.W. Ritter und H. Steffens repräsentierten Gestalt, werden unterschiedliche, miteinander kompatible und konvergierende, wenn auch nicht einfach miteinander identische Systemkomponenten freigelegt und akzentuiert. Die zu bewährende Arbeitshypothese lautet dann: Unter Rekurs auf die gewählten Verstehens- und Interpretationskontexte (Piaton und zeitgenössische Naturphilosophie) lassen sich die Texte Schleiermachers konziser und widerspruchsfreier begreifen.6 Hinter dem sich in den Texten begegnenden Operieren mit Dichotomien läßt sich der Versuch Schleiermachers, eine komplexer (trichotomisch) strukturierte Theorieanlage zu entfalten, erkennen. Diese steht im Blick auf den gewählten Lösungsansatz in mehr oder weniger deutlicher sachlicher Diskontinuität 7 sowohl zu Kant als auch zu den zeitgenössischen Theorien innerhalb des sog. Deutschen Idealismus, wie sie in der Folge Kants beispielsweise von Fichte, Schelling und Hegel vorgelegt werden.

4

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Damit werden Beeinflussungen durch andere Philosophen weder marginalisiert noch überhaupt geleugnet. Festgehalten wird durch diese Focussierung allein die Schlüsselrolle der genannten Referenzen in hermeneutischer Hinsicht im Blick auf die Theorieanlage. Dies hat überzeugend G.-A. Krapf in seiner Arbeit nachgewiesen, welche „the problem of an adequate interpretation of Schleiermacher" zum Gegenstand hatte und angesichts der Tatsache, daß Schleiermacher „usually (has) been interpreted in terms of German idealism - critical and speculative zu dem Ergebnis führte, „this approach has failed to understand his work als a unity" und „that Schleiermacher can be interpreted more adequately if he is read in the light of Plato" (G.-A. Krapf [1953] II). Im Blick auf Piaton hat Krapf dies so formuliert: „If it can really be shown that Schleiermacher can be understood better in terms of Plato rather than in terms of his immediate philosophical contemporaries, then a new appreciation for his work may arise. If it can be shown [...] that he is rooted rather in Plato, an Archimedian point lying beyond his immediate era, then his work may begin to bear new fruits, philosophically as well as theologically." (G.-A. Krapf [1953] 22) Dies gilt es festzuhalten, gerade im Blick auf den - bei isolierter Betrachtung der Begriffssemantik - sich nahelegenden Eindruck einer Kontinuität.

Schleiermachers Rekurs auf Piaton

1.1

73

Schleiermachers Rekurs auf Piaton

Wenn die Frage nach der Bedeutung Piatons - in der Wahrnehmung Schleiermachers - für Schleiermachers eigene Theoriebildung gestellt wird, soll diese Frage zuvor gerechtfertigt und im Anschluß daran zugespitzt und eingegrenzt werden. Eine Beantwortung erfolgt bewußt und gezielt unter Rekurs auf von Schleiermacher selbst erhobene Maßstäbe und damit in gewissermaßen schleiermacherinterner Perspektive. Nach Schleiermachers eigenen Grundsätzen, welche er innerhalb seiner Philosophiegeschichtsvorlesungen vortrug, besteht ein enges Wechselverhältnis zwischen der jeweiligen philosophischen Anschauung und der Geschichte der Philosophie. 8 In der Einleitung einer der Vorlesungen heißt es: „Denn wer die Geschichte der Philosophie vorträgt, muß die Philosophie besizen [...], und wer die Philosophie besizen will, muß sie historisch verstehn." 9 Diese Forderung des historischen Verstehens bildet für Schleiermacher nun keine Besonderheit, welche nur im Hinblick auf die Philosophie gilt. Das historische Verstehen oder geschichtliche Begreifen 10 bezeichnet nämlich für Schleiermacher genau diejenige ausgezeichnete Weise des wissenschaftlichen Verständnisses eines Phänomens unter geschichtlichen Bedingungen, 1 1 welche er in anderen Zusammenhängen als „ geschichtliche [s] 8

'

10 11

Cf. zu dieser Fragestellung grundsätzlich die Arbeiten von Lutz Geldsetzer (1968) sowie Karlfried Gründer (Hg.) (1990). GPh 15. Cf. auch die Einleitung des Herausgebers H. Ritter, ebd. 10 sowie Dilthey (1966) II/l, 38f. Ganz ähnlich argumentiert auch K. Gloy im Blick auf den Charakter ihrer eigenen Untersuchung (1981), welche eine systematische und nicht eine historische sein will, wenn sie schreibt, daß „die scharfe Abgrenzung von Systematischem und Historischem nirgends mißlicher [ist] als in der Philosophie, enthält doch jedes .System' bereits ein gut Teil .Geschichte'" (K. Gloy [1981] lOf) - und umgekehrt, wäre hier sachgemäß zu ergänzen. Cf. PhE 518, § 1, Anm. 1; PhE 490, S§ 16.18 sowie PhE 245, § 4, Anm. 1. Es ist zu vermuten, daß diese starke Betonung des Geschichtlichen bzw. Historischen bei Schleiermacher - wie es besonders in der frühen Phase seiner literarischen Wirksamkeit in z.T. umfangreichen philosophiegeschichtlichen Partien niederschlägt durch seinen Hallenser Philosophielehrer Johann August Eberhard mitveranlaßt und angeregt ist (cf. J.A. Eberhard [1786] und [1788]). In diesem Zusammenhang ist auch auf eine frühe Abhandlung Schleiermachers zum Geschichtsunterricht hinzuweisen, welche in der Forschung bisher kaum Beachtung gefunden hat (AGU; cf. auch die Erwähnung in DIE 63f). Da hier nicht der Ort für eine eingehendere Behandlung ist, sei an dieser Stelle zur Entwicklung der ethischen Theoriebildung Schleiermachers bis 1799 und die Bedeutung J.A. Eberhards bzw. der Halleschen Schulphilosophie auf die umfangreiche Untersuchung von B. Oberdorfer (1995) sowie auch E. Herms (1974) bes. 121.136.196.200.256. 261-266; S. Jordan (1998); G. Meckenstock (1988) bes. 13-14.21-27.42-43.50-58.66.85. 115.146; K. Nowak (1991) und G. Scholtz (1995) 65-92 verwiesen. Es ist in Aufnahme und Weiterführung der Überlegungen von Oberdorfer zu erwägen, ob auf Eberhard neben Schleiermachers Wertschätzung der Antike und seinem philosophiehistorischen Interesse auch Anregungen zurückgehen, welche auf eine Überwindung von Dualisierungen zugunsten relativer Gegensätze, auf die Verbindung entgegengesetzter Pole und auf Mischungsverhältnisse abzielen, ohne daß sich diese Momente selber schon bei Eberhard in einer bei Schleiermacher begegnenden Gestalt finden.

74

Versuch einer Annäherung

Erkennen" 1 2 , als „heuristische" Methode 1 3 oder als „kritisches Verfahren" 1 4 ansprechen kann. 1 5 Es geht dabei um ein zirkuläres Verfahren, welches unter Bezugnahme auf vorläufige Bestimmungen regulativer Ideen versucht, sich einer vollkommenen Lösung der Aufgabe anzunähern. Diese läßt sich vorläufig allgemein als Beziehung von Einheit auf Vielheit bestimmen. Gerade weil es um eine Darstellung der Totalität eines lebendigen Organismus geht, ist die Aufgabe eine unendliche bzw. unabschließbare, verbunden mit einer charakteristischen Offenheit. 16 Auf dieses Verfahren, das in den .Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre' (GKS) und in der Einleitung in die philosophische Ethik (PhE) skizziert ist, und das für alle Darstellungen einer Wissenschaft, die Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, gilt, bezieht sich Schleiermacher also hier in den Einleitungen innerhalb seiner Philosophiegeschichtsvorlesungen zur Antike und zur Neuzeit. 17 Jedenfalls hinsichtlich der gestellten Aufgabe zeigt sich eine deutliche Übereinstimmung zwischen diesen Texten. 1 8 Sachlich ist mit der spezifischen Art der Akzentuierung 12 13 14 15

16

17 18

PhE 5 2 4 , § 19; cf. PhE 5 2 3 , § 18. GKS 338f. PhE 5 2 3 f , §S 18ff; cf. PhE 5 0 7 , S 101; PhE 2 5 3 , S 64. Den Zusammenhang zwischen Schleiermachers .Hermeneutik' und dem historischen Erklären erörtert Mario Longo (1994) 2 2 3 - 2 2 9 . Die Aufgaben des Verstehens und der geschichtlichen Erklärung sind unabschließbar. Bei beiden spielt das Moment der Unendlichkeit eine Rolle. Longo bemerkt und benennt diesen o.g. Zusammenhang, obwohl er in der Charakterisierung von Schleiermachers .Hermeneutik' das Spezifische derselben in dem Programm einer „allgemeinen" oder „philosophischen]" Hermeneutik ausmacht (cf. ebd. 2 2 5 ) . Sachgemäßer - und von seiner Beobachtung aus naheliegender - wäre es gewesen, die Konzeptualisierung der Hermeneutik als Kunstlehre bzw. der Fassung des Verstehens als Kunst hierfür in Anschlag zu bringen. Denn genau diese korrespondieren dem Moment der Unendlichkeit und der Unabschließbarkeit. Dieser Zusammenhang wird auch von M . Longo (1994) zutreffend erkannt und formuliert (cf. ebd., 2 2 9 - 2 3 8 ) . Wenn M . Longo in diesem Zusammenhang darauf verweist, daß „die sprachliche Form der philosophischen Untersuchung nicht äußerlich [ist]", dann ist hier - wenn auch fast eher beiläufig - der tieferliegende Begründungszusammenhang genannt, wenn auch noch mit einer gewissen Engführung, weil das hier im Kontext der Rede vom „Prozeß des Denkens" für sprachliche Zeichen geltend gemachte Merkmal charakteristisch ist für Zeichen allgemein (M. Longo [1994] 2 3 8 ) . Von hier aus bestehen zahlreiche Beziehungen zu Piatons .Kratylos', worauf an dieser Stelle nur hingewiesen werden soll. An späterer Stelle wird darauf eingehender eingegangen. Cf. GPh 15-22 (Antike) und 1 4 5 - 1 5 3 (Neuzeit). Während die Texte der Einleitungen zur .Ethik' ab 1 8 1 3 (bis 1816/17) datieren, stammt die zitierte Stelle aus der Vorlesung über .Geschichte der Philosophie' von 1 8 1 2 . Die sachliche Übereinstimmung besteht nicht nur punktuell, sondern sie erstreckt sich über einen relativ weiten Zeitraum von mindestens 14 Jahren (1803 - 1817). Es kann hier offen bleiben, inwiefern der zu Beginn angeführte Grundsatz innerhalb der Philosophiegeschichtsvorlesungen auch realisert und umgesetzt wird. M . Longo (1994) bezieht sich im Rahmen seines Versuchs der Einordnung von Schleiermachers Gedanken zur Philosophiegeschichtsschreibung in die Entwicklungsgeschichte historiographischer Theorien ausschließlich auf die o.g. Textpassagen innerhalb der Philosophiegeschichts-Vorlesungen Schleiermachers und läßt dabei die (z.T. deutlich älteren) sachlichen Parallelen in der PhE und den GKS ungenannt und unberücksichtigt.

Schleiermachers Rekurs auf Piaton

75

von Geschichtlichkeit eine zweifache Frontstellung markiert - gegen radikale Skepsis oder „den Punkt allgemeinen Zweifels" 1 9 und gegen Anschauungen, wie Schleiermacher sie von Fichte und Hegel vertreten sah. 2 0 Von hier aus kann die Frage nach der Bedeutung von Gestalten aus der Philosophiegeschichte i.allg. und Piatons i.bes. für die Entfaltung von Schleiermachers eigener Theoriebildung sowohl als legitim als auch in Übereinstimmung mit Schleiermachers eigenem Selbstverständnis gelten. Ein solches Vorhaben ist hinsichtlich Piaton aber nicht nur möglich und legitim, sondern naheliegend und drängt sich geradezu auf. Zur Begründung hierfür könnte auf die zahlreichen expliziten Bezugnahmen auf Piaton verwiesen werden, wie sie sich insbesondere in den .Grundlinien' und den unterschiedlichen Fassungen der Einleitung der .Dialektik' finden. Ebenso könnte Schleiermachers intensive Auseinandersetzung und Beschäftigung mit Piaton geltend gemacht werden - sei es nun im Zusammenhang seiner philosophiehistorischen Arbeiten 21 oder viel eher noch im Zusammenhang seiner Piatonübersetzung, welche ihn während eines Großteils seiner öffentlichen (akademischen) Wirksamkeit begleitet 22 . Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß Schleiermacher - eigenen Aussagen zufolge - Piaton als seinen bedeutendsten philosophischen Lehrer betrachtet. 2 3 So schreibt er an seinen Freund C. G. von Brinckmann: „Es 19 20

21

22

23

PhE 5 2 5 , § 2 3 . Erl. Zum einen wird hier mit der Behauptung der Möglichkeit einer Konvergenz von Vielheit und Einheit implizit die gegenteilige Ansicht negiert. Im Blick auf den Verlauf innerhalb der Zeit wird hier wohl sachgemäßer von Konvergenz gesprochen als von „Koinzidenz" (so M. Longo [1994] 231). Andererseits wird mit der Behauptung des prinzipiellen Nichtgegehenseins der Identität beider die Auffassung abgelehnt, als wäre diese Identität operationalisierbar gegeben, so daß sich aus ihr deduktiv Schlüsse ableiten lassen. Indem Schleiermacher beide Seiten festhält, beschreibt er eine offene und spannungsvolle Position. Diese Charakteristik macht auch M. Longo (1994) geltend, wenn er in diesem Zusammenhang davon spricht, daß die „Philosophie [...] gerade in der Spannung des auf die Wahrheit Gerichtetseins [besteht], nicht darin, sie ganz zu besitzen" (ebd. 238). Neben der Philosophiegeschichtsvorlesung (GPh), deren Fragmente von H. Ritter auf der Basis des Entwurfs von 1812 im Rahmen der Ausgabe „Sämmtliche Werke" ediert worden sind, ist hier auf Akademieabhandlungen und Vorträge zu verweisen (cf. SW III/ 2 und 3 sowie auch G. Scholtz [1984] 90-93). Die Anregung zu dem Projekt einer gemeinsamen Piatonübersetzung erfolgte durch F. Schlegel im Jahre 1798, der erste Band erschien 1804; der dritte und letzte 1828. Cf. G. Scholtz (1984) 95; W. Dilthey (1966) II/2, 678-683 sowie ders. (1970) 1/2, 37-75. In Anlehnung an Schleiermachers Bestimmung der Figur eines „Kirchenfürsten", in welchem religiöses Interesse und wissenschaftlicher Geist in höchstem Maße repräsentiert sind (cf. KD 3f, § 9), darf Piaton in der Darstellung Schleiermachers vielleicht als Philosophenkünstler bezeichnet werden, wenn er sagt: „In Piaton war Besonnenheit und Begeisterung zugleich [...]" (GPh 97) In seiner Ästhetik bestimmt Schleiermacher die Kunst als „die Identität der Begeisterung [...] und der Besonnenheit"; beide bilden die Voraussetzung für jegliches Kunstwerk (ÄO 31). Cf. zur Verbindung von „Philosoph" und „Künstler" hinsichtlich Piaton PWE 1/1, 14 - sowie ferner zu den Momenten Besonnenheit und religiöses Interesse KD 5, § 12; KD 99f, § 257ff und KD 103, § 267. Zum Gesamtbereich Antike Philosophie im allgemeinen und Piaton im besonderen in der Perspektive Schleiermachers cf. einführend G. Scholtz (1984) 93-100.

76

Schleiermachers Rekurs auf Piaton

giebt gar keinen Schriftsteller, der so auf mich gewirkt, und mich in das Allerheiligste nicht nur der Philosophie, sondern des Menschen überhaupt so eingeweiht hätte, als dieser göttliche Mann [sc. Piaton; JD], und dafür möchte ich ihm gern einen recht würdigen Dank bringen." 2 4 Daß infolgedessen Schleiermachers Interpretation der Platon-Dialoge und sein eigenes Denken in vielfältiger Weise miteinander verschlungen sind, nimmt nicht wunder. 2 5 So wie sich die Focussierung Piatons auf dem Hintergrund der skizzierten Zusammenhänge vergleichsweise leicht plausibel machen läßt, scheint - wenn auch weniger deutlich - vieles dafür zu sprechen, daß auch Spinoza eine vergleichbare Berücksichtigung in dieser Untersuchung findet. 26 Die Lektüre der genannten .Grundlinen' scheint - zumindest auf den ersten Blick - eine gewisse Parallelität und Gleichordnung von Piaton und Spinoza in der Art und Weise der Bezugnahme Schleiermachers auf beide nahezulegen. 27 Bei näherer Betrachtung erscheint die Bewertung von Spinoza differenzierter, wobei sich die Verhältnisbestimmung zu Piaton

24

Br IV 7 2 f vom 09. Juni 1 8 0 0 . Schleiermacher spielt hier auf seine Piatonübersetzung an, welche er als Dankesgabe darbringen will. In diesem Zusammenhang heißt es unmittelbar zuvor: „Was für Studien werde ich noch machen müssen, um Schlegels würdiger Genosse im Uebersezen des Plato zu sein ! [...] So begeistert ich von dem ganzen Unternehmen bin, so viel heilige Ehrfurcht habe ich auch, und nie würde ich es mir verzeihen, wenn ich hier etwas Mittelmäßiges machte." Cf. zur Bewertung der Bedeutung des Piaton für Schleiermacher GPh 1 4 7 und P W E I I / 2 , 9 0 , wo die Anwendung des Bildes des Heiligtums in der Anwendung auf Piaton fortgesetzt und hinsichtlich eines einzelnen Dialogs weitergeführt wird, wenn Schleiermacher davon spricht, daß „sich hier [sc. dem ,Sophistes'] fast zuerst in den Schriften des Piaton das innerste Heiligthum der Philosophie rein philosophisch aufschliesst".

25

So auch ausdrücklich G. Scholtz (1984) 9 7 und 100. So hat sich Schleiermacher nachweislich schon sehr früh vergleichsweise eingehend mit Spinoza beschäftigt. Cf. hierzu neben der entsprechenden Passage innerhalb seiner Philosophiegeschichte (GPh 2 7 5 - 2 8 2 ) und BR 3 (256) 3 4 4 , 1-4; (265) 3 5 4 , 1 4 f die literarischen Zeugnisse bzw. die Manuskripte „Kurze Darstellung des spinozistischen Systems", „Spinozismus" und „Über dasjenige in Jacobis Briefen und Realismus, was den Spinoza nicht betrifft, und besonders über seine eigene Philosophie": DIE 6 4 - 6 9 (enthält Auszüge des ersten sowie eine Zusammenfassung des zweiten Textes), GPh 2 8 3 - 3 1 1 (enthält das erstgenannte Manuskript vollständig) sowie Spin. Eine erste gedruckte wenn auch nur unvollständige - Wiedergabe des zweiten Manuskripts erfolgt in dem Beitrag von H. Mulert (1923) 2 9 8 - 3 1 1 . Cf. einführend KGA 1/1, L X X V - L X X X I I I sowie H. Mulert (1923) 2 9 5 - 2 9 8 u. 3 1 2 - 3 1 6 und G. Meckenstock (1988) bes. 1-23 und 181233.

26

27

So werden in den .Grundlinien' bei annähernd zwei Drittel der namentlichen Nennungen von Piaton und Spinoza beide in engstem Zusammenhang bzw. explizit miteinander genannt. Zugrundegelegt wird hier nicht die - wenig aussagekräftige - absolute Anzahl der jew. Namensnennungen, sondern die jew. Zahl von Textabschnitten bzw. Seiten, in denen die Namen erwähnt werden. In 18 von 30 (Piaton) bzw. 32 (Spinoza) Zusammenhängen werden beide zusammen genannt. So erscheinen beispielsweise auch in dem den Grundlinien gewidmeten Teil der Darstellung von G. Scholtz (1984) regelmäßig beide durch die Konjuktion „und" verbunden („Piaton und Spinoza") sowie „Kant und Fichte" gegenübergestellt und entgegengesetzt (cf. ebd. 102f).

Die Wissenschaftssystematik

77

letztlich von einer Parataxe hin zur Hypotaxe zuungunsten Spinozas verschiebt. 2 8 Mindestens drei Aussagereihen lassen sich herausarbeiten: (1) Gleichermaßen auffällig wie zahlreich sind Textpassagen innerhalb der GKS, in denen allgemein die Überlegenheit des ethischen Systems von Spinoza gegenüber anderen Entwürfen ausdrücklich festgehalten wird. 2 9 (2) Daneben finden sich zahlreiche Stellen, in denen betont Piaton und Spinoza zusammen von der Gesamtheit aller übrigen Systeme und ethischen Entwürfe abgehoben werden. (3) Die Zusammenordnung und Gleichordnung beider gegenüber anderen koinzidiert häufig mit dem Festhalten einer perspektivischen Differenz oder Komplementarität zwischen beiden. 3 0 Diese Parallelität in sachlicher Hinsicht verschiebt sich letztlich zu einer deutlichen Subordination Spinozas gegenüber Piaton hinsichtlich der Leistungsfähigkeit ihrer jeweiligen Sittenlehren. 31 Damit

19

Es handelt sich hierbei - unter der Voraussetzung einer typisierenden Betrachtungsweise - um drei sich durch den Text von Anbeginn an hindurchziehende Arten von Beurteilungen. So schreibt Schleiermacher in GKS 163: „Kein Ethiker aber ist [...] so sehr zu loben als Spinoza [ . . . ] " Cf. auch GKS 4 9 . 1 6 1 . 1 8 9 . 1 9 1 . 1 9 4 . 1 9 7 . 2 3 8 f und 294ff. In besonderer Weise richtet sich die Kritik dabei - explizit wie implizit - gegen Fichtes System. Cf. zur Kritik Schleiermachers an Fichte im Zusammenhang mit Kant und Spinoza G. Meckenstock (1988) bes. 4 - 9 . 1 8 9 - 1 9 3 . 2 2 2 - 2 3 0 und 1, wo es heißt: „Der Lobeserhebung Spinozas korrespondiert die verschlüsselte, aber leicht entschlüsselbare Verurteilung Fichtes." Die Geltendmachung einer Schwäche bei Spinoza gegenüber anderen Entwürfen findet sich in GKS 2 2 3 .

30

So heißt es schon zu Beginn der .Grundlinien' (GKS 34f): „Zwei nur sind noch übrig, von denen gerühmt werden kann, daß sie eine Ableitung der Ethik ebenfalls versucht haben, Piaton nämlich unter den Alten, unter den Neueren aber Spinoza. Beide fast so sehr einander entgegengesetzt, als Meister der höheren Wissenschaft es nur sein dürfen, haben doch unter manchem andern auch dieses Unternehmen, ja zum Teil auch die Art der Ausführung miteinander gemein. Beide nämlich kommen darin überein [ . . . ] " An späterer Stelle (GKS 108) schreibt Schleiermacher: „Wie also alle Fehler [...] in den Systemen der Tätigkeit [...] in den Darstellungen des Piaton und des Spinoza am besten vermieden werden, dieses erhellt aus dem bisherigen zur Genüge." Cf. auch GKS 6 8 f . 1 1 3 . 1 6 0 . 2 4 5 f und 2 6 9 f . Eine Exklusivität beider spricht sich auch in GKS 2 9 0 f aus, wo Schleiermacher schreibt, „daß auch hier wieder nur Piaton und Spinoza mit einigen richtigen Andeutungen übrigbleiben". Einmalig ist die sich in der Folge dieses Argumentationszusammenhangs findende explizite Vorzugstellung des Spinoza gegenüber Piaton, wenn es heißt, daß „er [sc. Spinoza] hier noch den Vorzug vor Platon verdient". Diese ist aber ausdrücklich nur auf einen Aspekt begrenzt. Die perspektivische Differenz begegnet auch deutlich in GKS 73f, wo es heißt: „So hat unstreitig Piaton bei seiner Weltanschauung zuerst das höchste Gut des Menschen gefunden, [...] und dann erst [...] die Regel des Verfahrens hierzu; Spinoza hingegen bei der seinigen zuerst das Gesetz [...] und hieraus erst das höchste Gut [...] Und so stehen beide Ideen in durchgängiger Wechselbeziehung, [...] das Früher oder Später ist jetzt noch und für uns durchaus zufällig." Cf. auch GKS 4 7 . 5 8 f . 9 5 . 1 lOf. In GKS 2 3 2 heißt es: „Gänzlich aber haben sich von diesen vier Formen unter allen, welche die Sittenlehre nach dem Begriff der Tugend behandelt haben, nur zweie losgemacht, Piaton nämlich und Spinoza, jeder auf seine eigene Art."

31

So kann Schleiermacher im Anschluß an die Darstellung und Kritik Spinozas schreiben (GKS 37): „Diese [sc. die zuvor genannten] Mängel nun sind es, welche den Gegensatz zwischen ihm [sc. Spinoza] und Piaton am augenscheinlichsten bezeichnen." Während in

78

Schleiermachers Rekurs auf Piaton

wird eine deutliche Differenz zwischen beiden markiert, welche dann nicht wieder eingezogen wird. 32 So ist es auch ganz konsequent, wenn im Blick auf den Stil der Sittenlehre bzw. auf die Methode Spinoza zwar den Höhepunkt der dogmatischen Methode markiert, diese aber durch die heuristische überboten wird, deren „einziger Meister" Piaton ist.33 Die Frage nach den Beziehungen zwischen Piaton (bzw. Schleiermachers Platon-Deutung) und Schleiermacher wird hier aber nicht allgemein und grundsätzlich bearbeitet.34 Zweierlei ist jedenfalls nicht beabsichtigt: (1) Eine Klärung der Frage, ob und inwiefern Schleiermachers Platon-Interpretation35 „angemessen" war, d.h. im gegenwärtigen Kontext, ob und inwiefern sie vom Standpunkt der gegenwärtigen Platon-Forschung aus als zutreffend und angemessen gelten kann,36 ferner (2) das Vorhaben einer genetisch orientierten, tendenziell vollständigen Beschreibung der Aufnahme von als platonisch geltenden Begriffen und Gedanken im Werk Schleiermachers. Das hier verfolgte Ziel ist demgegenüber deutlich begrenzter. Die Frage wird hier in erster Linie wegen der Klärung und Profilierung der in den verhandelten Texten Schleiermachers artikulierten Gedanken aufgeworfen. Gerade weil hier letztlich immer die angemessene Interpretation Schleiermachers (genitivus objectivus) im Vordergrund steht, wird im Blick auf den weiteren Verlauf dieses Kapitels von der in anderer Hinsicht gewiß berechtigten Unterscheidung zwischen Platon(s Dialogen) und Schleiermachers Deutung von Platon(s Dialogen) bewußt abstrahiert.37

32

33 34 35

36

37

GKS 270 davon die Rede ist, daß „Piaton sich eines Vorzuges rühmt, und denselben Spinoza entbehren muß", heißt es an anderer Stelle: „Weit allen andern voraus ist also [...] wieder Piaton [...]" (GKS 287) In anderen Agrumentationszusammenhängen wird Spinoza vor anderen Philosophen ausgezeichnet, um dann hinsichtlich der Sittenlehre von Piaton überboten zu werden (GKS 177f): „Und auch hier zeichnet sich wiederum aus Spinoza, welcher [...] dieselben Fehler vermeidet und den Fehler des Nichtgebrauchs [sc. des Begriffs der Güter] nicht vermehrt durch den Mißbrauch [...]. Am reinsten aber nicht nur von Fehlern, sondern auch am vollständigsten findet sich dieser Begriff, wenngleich auch nur unentwickelt, in der Sittenlehre des Piaton." (Cf. ebd. 91f.l66 und 309) Cf. GKS 334-340. Eine eingehende Untersuchung der Beziehung zwischen Schleiermachers Platon-Interpretätion und seiner eigenen Philosophie steht bis dato noch aus. Quellen für Schleiermachers eigene Platon-Interpretation stellen neben seiner Übersetzung (PWÜ) samt Anmerkungen seine Einleitungen (PWE) sowie das entsprechende Kapitel in der Philosophiegeschichte dar. Ferner sind einzelne Abhandlungen und Akademievorträge heranzuziehen. Darunter sind hervorzuheben APAH und AWSPh. Dabei ist es nicht nur so, daß erst diese Frage Gegenstand eingehender Studien sein könnte, sondern schon bezüglich der dabei immer schon in Anspruch genommenen Voraussetzungen, was denn eine „angemessene" Interpretation sei, ob und inwiefern man von einem „rechten Verstehen" eines Textes sprechen kann, gibt es keinen Konsens. Die so gezogene Differenz ist sicherlich insofern abstrakt, als sich nicht Piatos Dialoge und Schleiermachers Interpretation derselben gegenüberstehen. De facto steht letztere einer - mehr oder weniger - strukturierten Vielheit von Interpretationen gegenüber, welche hinsichtlich bestimmter Aspekte und Fragestellungen vorläufig ein gewisses -

Die Wissenschaftssystematik

79

Ausgehend von der Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes, nämlich der Wissenschaftslehre als Entwurf einer evolutionären Metaphysik, legen sich die folgenden vier Themenkomplexe nahe: 3 8 (1) Die Wissenschaftssystematik mit ihrer Einteilung in Physik, Ethik und Dialektik [ 1 . 1 . 1 ] . (2) Die F o r m der philosophischen Darstellung samt zugrundeliegendem wissenschaftlichen Verfahren (heuristische Methode, kritisches Verfahren) [ 1 . 1 . 2 ] . (3) Die Konzeption von Dialektik sowie die Verknüpfung von Metaphysik/Ontologie und Logik [ 1 . 1 . 3 ] . (4) Das auf diversen Ebenen und in unterschiedlichen Zusammenhängen auftauchende Relationenproblem sowie die Relativität und Relationalität von Gegensätzen [ 1 . 1 . 4 und 1 . 1 . 5 ] 3 9 .

1.1.1

Die

Wissenschaftssystematik

Schleiermacher folgt in seiner Wahl der Gestalt eines Systemaufrisses der ihm durch die Beschäftigung mit der Philosophiegeschichte bekannten antiken bzw. klassischen Dreiteilung in die Hauptgebiete Dialektik, Ethik und Physik. 40 Schleiermacher weist Piaton die Rolle des ersten Urhebers dieser Triplizität zu 41 und spricht Xenokrates, einem Schüler Piatons, der größeres oder geringeres - M a ß an Einheitlichkeit erreicht hat. Wenn im folgenden auf Piaton verwiesen wird, ist damit - wenn nicht einfach ein Zitat einer Dialogpassage folgt oder ausdrücklich etwas anderes vermerkt ist - Schleiermachers Lesart und Interpretation Piatons gemeint. Ganz ähnlich begründet K.H. Schäfer seinen Rekurs auf Piaton und Schleiermachers Piatonverständnis nicht mit dem Bemühen „um ein möglichst adäquates Piatonverständnis", sondern mit dem Bemühen „um die Erhellung der Strukturen der philosophischen Konzeption Schleiermachers" (K.-H. Schäfer [1965] 14). 38

39

40

41

Die nachstehende Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, wie sie selber - wenn auch nicht beliebig - so doch relativ willkürlich ist. Daß es zwischen den genannten Gesichtspunkten teilweise Beziehungen, Abhängigkeiten und Überschneidungen gibt, widerspricht aber nicht der heuristischen Funktion, welche die Aufzählung hier nur haben soll. Diese Betrachtung bezieht sich in besonderer Weise auf die Dialoge .Sophistes' und ,Philebos\ Die Gründe dafür werden im Verlaufe der folgenden Argumentation dargelegt. E. Hirsch zufolge „bildete sich damals in Schleiermachers Geiste, unter dem Einfluß der Griechen, die von ihm dann lebenslänglich festgehaltne Dreiteilung der systematischen Philosophie in Dialektik, Ethik und Physik aus. Die Dialektik stellt die letzten, höchsten Prinzipien des Wissens dar und gewinnt so die für alles Wissen und alle Wissenschaft gültigen Begriffe und Regeln des Denkens [...]. Die [...] Physik bietet die allgemeinen Prinzipien der Naturerkenntnis [...]. Die Ethik muß nach diesem Aufriß dann zum geistigen Sein sich ebenso verhalten wie die Physik zum dinglichen. Sie hat die Vernunft in ihrem tätigen Zusammensein mit der Natur zum Gegenstande. Sie [...] entspricht somit dem, was wir heute Geistes- oder Kulturphilosophie im allgemeinsten Sinne nennen" [(1964a) 543f|. Cf. H.-J. Birkner (1964) 31; R. Fischer (1973) 6; G. Scholtz (1984) 93f. „Hier aber muß man zunächst dabei stehen bleiben, was der nachsokratischen Philosophie von Piaton an eigenthümlich und seit dieser Zeit allen eigentlich sokratischen Schulen gemein ist, das sei das Zusammensein und Ineinandergreifen dieser drei Disciplinen, Dialektik Physik Ethik. Dieser Unterschied trennt die Zeiten sehr bestimmt." (AWSPh 2 9 8 )

80

Schleiermachers Rekurs auf Piaton

diese Disziplineneinteilung als erster expressis verbis in dieser Form aufgestellt hat 42 , die Urheberschaft ausdrücklich ab. 43 Diese Triplizität ergibt sich für Piaton nach Schleiermacher in formaler Hinsicht aus der Verbindung zweier Polaritäten bzw. Duale, nämlich „Einheit und Totalität" sowie „Physik44 und Ethik". 4S Mindestens ebenso wichtig wie diese Dreiheit ist Schleiermacher das Moment des ,,Ineinandersein[s] aller Disciplinen" 46 und damit des Übergangs zwischen diesen drei Bereichen. Während es ja denkbar wäre, jede Disziplin für sich darzustellen, „ist doch fast keine seiner [sc. Piatons] Schriften auf eine dieser Disciplinen besonders beschränkt. Sondern weil er ihre wesentliche Einheit und ihr gemeinschaftliches Gesez für das grössere hielt und dem vorzüglich nachstrebte: so sind die verschiedenen Aufgaben überall mannigfaltig unter einander verschlungen"47. Wegen der Übersichtlichkeit der Darstellung

42 43

44

45

46 47

Cf. PWE Vi, 9; GPh 98 und F. Ueberweg (1871) 129. „Daß aber einige das Sondern und Zusammenfassen dieser Wissenschaften auch dem Piaton noch absprechen und erst dem Xenokrates zuschreiben, und meinen, Aristoteles schon sei wieder davon abgewichen, dies beruht nach meiner Meinung auf einem Mißverstand, den jedoch nachzuweisen hier zu weit führen würde." (AWSPh 298) Insbesondere hinsichtlich der Einbeziehung der Physik und ihrer konstitutiven Rolle für das Ganze kann sich Schleiermacher zu Recht auf Piaton berufen. Schleiermachers Insistieren auf dem gleichzeitigen Festhalten beider Disziplinen (Ethik und Physik) tritt in seiner Kritik der Entwürfe von Kant, Fichte und Schelling in den ,Grundlinien' ebenso hervor (cf. GKS 316f und 342ff) wie in seinen wissenschaftlichen Tagebüchern (cf. KGA 1/2, 39,5-8, Nr. 173; ebd. 130,5-9, Nr. 49; KGA 1/3,297,20 - 2 9 8 , 7, Nr. 58; ebd. 300, 4-15, Nr. 71; ebd. 318,22f, Nr. 141; ebd. 319,17-21, Nr. 145 und ebd. 320,11-16, Nr. 149 [bildet vermutlich die Vorlage für GKS 344f]; cf. ferner besonders zur Mathematik KGA 1/2,24, 4-9, Nr. 80f; ebd. 77, 4-6, Nr. 1; KGA 1/3, 298, 1-5, Nr. 63). Der explizite Verweis auf die Physik zieht sich durch alle seine Werke, auch wenn kritisch einzuräumen ist, daß Schleiermacher den Anspruch einer annähernden Symmetrie in der Behandlung von Ethik und Physik (cf. z.B. PhE 550, § 109) - entsprechend ihrer wechselseitigen Verwiesenheit - sowohl im Blick auf die von ihm selber bearbeiteten Wissenschaftsgebiete wie auch im Blick auf die Ausarbeitung einzelner Disziplinen - nicht eingelöst hat. Eine in dieser Hinsicht selbstkritische Perspektive spricht sich dann auch wohl in der Forderung aus, daß „jede speculative Philosophie [...] eine Ethik und Physik wenigstens machen wollen [muß], wenn sie auch jede schon vorhandene nur für Empirie oder Doxosophie erklärt" (DAb 11, $ 58; Hv. JD). GPh 98. Cf. GPh 17f. In materialer Hinsicht läßt sich diese Triplizität als Integration von drei historisch vorfindlichen Elementen oder Dualen begreifen. So kann Schleiermacher einmal davon sprechen, daß bei den Pythagoräern die Ethik, bei den Ioniern die Physik und bei den Eleaten die Dialektik dominierte (cf. GPh 98), während es an anderer Stelle Kombinationen von Ethik oder Physik mit Dialektik sind, „denn der Sokratismus geht durch und läßt sich in kein einzelnes Fach einsperren" (GPh 98); - wobei hier „diese Disciplinen theils ganz getrennt vorhanden, theils ohne gehörige Sonderung und ohne bestimmtes Verhältniß ihr Inhalt unter einander gemischt" waren (AWSPh 298). GPh 98; Hv. JD. Cf. auch die Formulierungen „Zusammensein" und „Ineinandergreifen" in AWSP 289 und 289. PWE 1/1,9. Dieses Element wird von Schleiermacher nicht nur im Rahmen der allgemeinen Einleitung zur Übersetzung der Werke Piatons positiv hervorgehoben. Eine positive Aufnahme des „Ineinanderseins aller Disciplinen" findet sich auch im entsprechenden

Die F o r m der philosophischen Darstellung

81

behandelt Schleiermacher diese einzelnen Disziplinen aber in ihrer relativen Eigenständigkeit nacheinander, wenn auch nicht ohne stetige Querverweise.48 Im Hintergrund sieht Schleiermacher bei Piaton das Bestreben eines geschichtlichen Verstehens, d.h. des Verstehens einer einzelnen, besonderen Sache gerade in ihren Bezügen zum Ganzen. Das bedeutet aber, daß letztlich auch das nicht ausdrücklich Genannte mitbegriffen sein muß.49 Es ist oben schon deutlich geworden, daß eben jene Gesichtspunkte auch wesentliche Anliegen Schleiermachers im Blick auf seine eigene Theorieanlage repräsentieren.50 Schließlich weisen Schleiermachers Werke ebenfalls durchgängig explizite Bezugnahmen in Form von Verweisen oder Entlehnungen auf andere Disziplinen auf.51 Diesem soeben skizzierten Anliegen trägt die Form der philosophischen Darstellung Rechnung, von der nun die Rede ist. 1.1.2

Die Form der philosophischen

Darstellung

Auch diesbezüglich findet sich ein bei Schleiermacher begegnendes Moment bei Piaton präfiguriert. Wenn Schleiermacher in seiner Einleitung drei ,,übliche[n] Formen der philosophischen Mittheilung" 52 vorstellt, nämlich die „systematische", die „fragmentarische" und schließlich die „dialogische Behandlung" als „Kunstform" 53 , so sind diese drei Formen nicht einfach identisch mit den in den .Grundlinien' vorgestellten „drei Verschiedenheiten des Stils in Darstellungen der Sittenlehre" 54 , doch sind die Affinitäten zwischen beiden Einteilungen, insbesondere die zwischen der dritten, sog. heuristischen „Methode", von der Schleiermacher sagt,

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52 53 54

Abschnitt seiner Philosophiegeschichte: „Alles bei Piaton in einem gewissen Maaß vorgestellt. Nichts ganz abgesondert für sich allein. Physik geht [...] in Ethik aus, Ethik geht überall auf Physik zurükk. Beide stüzen sich auf die Dialektik, welche wiederum nirgend anders vorhanden ist, als in Verbindung mit einem von beiden realen Zwekken." (GPh 98). Cf. GPh 1 7 f f . l 0 3 f sowie 108. Cf. so schwerpunktmäßig zur Dialektik GPh 98-103, zur Physik GPh 1 0 3 - 1 0 8 , sowie zur Ethik GPh 1 0 8 - 1 1 1 . O b die Voranstellung der Dialektik sich aus einer auch bei aller wechselseitigen Bezogenheit bestehenden gewissen Vorrangstellung erklärt, kann erwogen werden. Cf. GPh 15ff. Cf. auch die Ausführungen Schleiermachers in seiner Dialektik, in der wiederholt vor einer „Isolierung" einzelner Teile, Bereiche oder Perspektiven gewarnt wird (DAa 3.5f, 1. und 3. Stunde). Wenn Schleiermacher im Hinblick auf Piaton folgert, „jenes Ineinandersein aller Disciplinen erschwert die Darstellung" (GPh 98), so hat sich diese Einschätzung die Mehrzahl der Schleiermacher-Interpreten im Hinblick auf Schleiermacher selber mehr oder weniger ausdrücklich zu eigen gemacht. PWE 1/1, 8. PWE 1/1, 8f; cf. GPh 17f. GKS 3 3 4 . Cf. dazu insgesamt den Anhang „Vom Stil der bisherigen Sittenlehre" GKS 334-340.

82

Schleiermachers Rekurs auf Piaton

daß sie nur bei Piaton wirklich zur Darstellung gelangte,55 und der dritten Weise philosophischer Mitteilung, der sog. „dialogische[n] Behandlung" 56 bzw. „dialogische[n] Form" 5 7 unübersehbar.58 Dies betrifft insbesondere das Charakteristikum der Prozessualität59 sowie die Momente der Produktivität60 und der strengen Relationalität61. Die jeweiligen Erläuterungen und Begründungen von Piaton - in der Lesart Schleiermachers - und von Schleiermacher selbst weisen deutliche Parallelen auf. Diese treten besonders deutlich zwischen Passagen der Philosophiegeschichte und Passagen der .Grundlinien'62 sowie der Einleitung in die philosophische Ethik' 63 hervor. In beiden Fällen werden sowohl in Schleiermachers eigenen Entwürfen wie in seiner Darstellung Piatons die Momente der Utiabgeschlossenheit und des hypothetischen Charakters akzentuiert.64

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Cf. GKS 338ff sowie den Verweis Schleiermachers auf die beiden Gegensätze, „welche Piaton immer im Auge hat", und die er zu vermeiden gedenkt, innerhalb der Einleitung in den .Kratylos', welcher nach Schleiermacher für den ,Sophistes' „unmittelbar vorbereitend ist" (PWEII/2,11 und 13f). Das Gegenüber bezeichnet Schleiermacher im Rekurs auf den .Kratylos' sachlich ganz analog (wenn auch z.T. in anderer Terminologie) einmal als „skeptisch", näherhin „alles in unauflöslicher Verwirrung" darstellend, und dann als „dogmatisch". Beide Wege sind nach Piaton in der Perspektive Schleiermachers Abwege. Cf. PWE II/2, l l f sowie zum Verhältnis des ,Kratylos' und des ,Sophistes' in der Einleitung zum .Sophistes' PWE II/2, 97, wo Schleiermacher explizit auf den .Kratylos' verweist. PWE 1/1, 9. Cf. PWE 1/1, 10 und 15. Schleiermacher kann auch hier von einer Methode sprechen, nämlich der sokratischen. Cf. PWE 1/1, ISf. Cf. hierzu auch den Gesichtspunkt Nr. 3 bzw. die Anlage der Dialektik als Kunstlehre der Gesprächsführung. Cf. die Rede von einer „lebendigen Wechselwirkung" oder einer „fortschreitende[n] Wechselwirkung" (PWE 1/1, 15). Cf. die Anregung zu eigener Produktivität und Selbsttätigkeit (PWE 1/1, 13f.l6). Cf. PWE 1/1, 13f.l7. Cf. bes. GKS 338f mit PWE Vi, 14, wo Schleiermacher davon spricht, daß es im Gegenüber „zu jener zerlegenden Darstellung" hier darum geht, „nicht die einzelnen Meinungen etwa sondern die einzelnen Werke, in ihre[m] natürlichen Zusammenhang" darzustellen, „damit, indem jedes Gespräch nicht nur als ein Ganzes für sich, sondern auch in seinem Zusammenhange mit den übrigen begriffen wird". Cf. hierzu bes. GKS 338-345 mit GPh 15ff.98.102f. Cf. hierzu bes. PhE 532f, §§ 17-21 mit GPh 104f. „Von dem Verhältniß aber dieses Werdens zu dem Sein kann in dem factischen Bewußtsein keine reine Erkenntniß vorkommen, sondern nur eine wahrscheinliche Rede, weil nämlich die mittheilbare Erkenntniß selbst in der Form des werdenden befangen ist. Darum erscheint auch das Verhältniß selbst als ein Werden und seine Darstellung kann nur die Form der kosmopoiia haben." (GPh 104f) „Die Mannigfaltigkeit dieser unvollkommenen Darstellungen erzeugt ein jede Wissenschaft in ihrem Werden begleitendes kritisches Verfahren, welches sucht, [...] schon im Werden der Wissenschaft ihre Vollkommenheit aufzufinden. [...] Dieses geschichtliche Erkennen durch das kritische Verfahren ist aber ebenfalls nie vollkommen gegeben, sondern nur im Werden begriffen. [...] Die gegenwärtige Darstellung der Ethik soll [...] diese Wissenschaft [...] hinstellen [...] ableitend von einem angenommenen höchsten Wissen." (PhE 523f, §§ 18-21. Cf. hierzu auch GKS 20)

Die Form der philosophischen Darstellung

83

Neben dem genannten hypothetischen Moment ist für das kritische Verfahren konstitutiv das vergleichende Gegeneinanderhalten der einzelnen unvollkommenen Elemente, um die ihnen unvermeidlich anhaftende Einseitigkeit - und damit Unvollkommenheit - auszugleichen bzw. zu relativieren. Dieses komparative Moment klingt ebenfalls in dem Zusammenhang des o.g. Zitats an, wenn davon die Rede ist, daß dieses kritische Verfahren sein Ziel zu erreichen sucht, „indem es diese Gestaltungen [sc. die Vielzahl der unvollkommenen Elemente] in nothwendigen Bezug auf einander bringt". 65 Die von Piaton in der Perspektive Schleiermachers favorisierte Methode bewegt sich der Sache nach in einem Mittelfeld zwischen zwei Extremen. Die Darstellung dieser Methode erfolgt ebenfalls in Auseinandersetzung und im Gegenüber zu diesen einen Gegensatz markierenden Extremen. Schleiermacher kann - wie oben schon z.T. deutlich geworden ist - im Blick auf beide genannten Gesichtspunkte als ein treuer Schüler Piatons gelten.66 Hinsichtlich der Platondarstellung innerhalb der Philosophiegeschichte wie auch in der Einleitung in den ,Kratylos' 67 ist zweierlei bemerkenswert: Einmal, daß Schleiermacher hier den vorläufigen, hypothetischen Charakter der Erkenntnis begründet sein läßt durch die Sprachgebundenheit bzw. allgemeiner durch die Zeichengebundenheit von Mitteilung und Erkenntnis. Dieses Moment wird von Schleiermacher insbesondere in seiner .Dialektik' und in seiner ,Hermeneutik' aufgenommen. Dann, daß hier - d.h. in Schleiermachers Sicht von Piaton - nicht nur Relata als im Werden begriffen gedacht werden, sondern auch Relationen selbst.6S Was das für die Darstellung eines solchen Verhältnisses bedeutet, kann zureichend erst auf der Basis einer Näherbestimmung dessen, was in diesem Zusammenhang „kosmopoiia" und „mythisch" 69 bedeuten, geklärt werden.

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PhE 523, § 18. Cf. ergänzend PhE 523(, §§ 18 Erl., 19 Erl. und 20 Erl. Explizit als „Vergleich" wird dieses Moment genannt in der Einleitung Schleiermachers zum ,Kratylos' (PWE II/2, 9). In den Texten Schleiermachers begegnet dieses Moment als Komparation - im Gegenüber zum bei Schleiermacher sog. prophetischen Moment oder der Divination, welche das heuristische Moment repräsentiert. Das der heuristischen Methode in den GKS bzw. dem kritischen Verfahren in der PhE vergleichbare methodische Verfahren begegnet bei Piaton u.a. im .Philebos'. Cf. PWE II/2, 3-16. Cf. den letzten Satz des oben zitierten Satzes aus der Philosophiegeschichte; GPh 104f. Dies gewinnt besonders dann Plausibilität, wenn berücksichtigt wird, daß Schleiermacher für Piaton (schon) das Verständnis der Sprache als ein „System[e]" voraussetzt, in welchem sich alle Elemente fortwährend neu bestimmen (PWE II/2, 9). Wenn man „den unaufhörlichen Fluss aller Dinge" anerkennt, dann läßt sich dieses dann auch als lebendiger Organismus begreifen (PWE II/2, 12). Schleiermacher fährt (GPh 105) fort mit dem Satz: „Daher nun alle Naturbeschreibung rein mythisch ist." Cf. zum Mythischen sowie zum - in der Zeit - unmöglichen „Aussprechen der absoluten Einheit" GPh 98. Das Mythische erscheint hier als eine - unter den Bedingungen von Zeit und Geschichte und damit von Unvollkommenheit - notwendige Sprachform. Es ist in diesem Zusammenhang zu erwägen, ob nicht bei kosmopoiia

84

Schleiermachers Rekurs auf Piaton

1.1.3 1.1.3.1

Die

Dialektik

Die Dialektik als Einheit von Logik und Metaphysik

Zunächst ist hier der ausdrückliche Rekurs Schleiermachers auf Piaton im Zusammenhang der programmatischen Verbindung von Logik und Metaphysik - als von zwei Bestandteilen der Dialektik - festzuhalten. 70 Diese Forderung, die Schleiermacher bei den Alten, bes. bei Piaton, erfüllt sieht und sich in bezug auf seine eigene Theoriebildung zu eigen macht, stellt deshalb nur einen Sonderfall des vorgenannten Gesichtspunkts dar, weil auch hier ein wesentliches Motiv das Bestreben bildet, Trennungen zu vermeiden - konkret, daß nicht „diese beiden Teile der Dialektik isoliert" dargestellt werden. 71 Dies schafft allererst die Voraussetzung für die Möglichkeit von Übergängen zwischen Ethik, Physik und Dialektik. Der Zusammenhang, in dem sich der Verweis auf Piaton als Referenz bei Schleiermacher findet, wirft auch einen Blick auf den textpragmatischen Kontext. Dieser bestimmt sich als spezifische Auseinandersetzung mit I.

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als Form der Darstellung eines selbst im Werden begriffenen Verhältnisses dem Moment der Regelhaftigkeit tragende Bedeutung zukommt. Wenn dies zuträfe, wäre das Moment des Mythischen auch - oder sogar in erster Linie - als im wörtlichen Sinne Sprachregelung zu begreifen. Diese Überlegungen können an dieser Stelle nur angedeutet, nicht aber weiter vertieft werden. Cf. eingehender dazu den Beitrag von F. Christ (1985). Festzuhalten ist hier aber in jedem Fall die Tatsache, daß mythisches Reden bei Schleiermacher nicht einfach nur - wenn überhaupt - als ein pädagogisches Mittel oder eine bestimmte Form der Exemplifikation betrachtet wird, sondern vielmehr als ein eher verhüllendes Sprechen. Der nachdrückliche Verweis Schleiermachers auf die mythische Rede ist hier als Chiffrierung des Moments einer unauflöslichen Vagheit zu verstehen. Cf. hierzu eingehender R. Wiehl (1979). Dieses Moment wird von Schleiermachers Ansatz her stärker geltend gemacht als von Piaton her. Sachlich entscheidend ist hier die Antwort auf die Frage, woher sich die Richtigkeit von Abduktionen jeweils erweist. Während sie bei Piaton durch die Anamnesis bzw. die Schau der Ideen beantwortet wird, steht bei Schleiermacher die göttliche Offenbarung an deren Stelle. Für diese ist nun aber die Einbeziehung sinnlicher Momente konstitutiv. D.h. hier gewährleistet Offenbarung die Kohärenz des Prozesses, sie tut dies aber nicht in einer infalliblen Weise. Dies hat Konsequenzen für das zwischen Wahrnehmung, Vorstellung und Gedanke bzw. Wissen bestehende Verhältnis. Nach allem bisher Gesagten kann dieses nach Schleiermacher kein einlinig-lineares sein. Cf. in diesem Zusammenhang auch die Übersetzung Schleiermachers von .Sophistes' 263d. Cf. DAa 6, 3. Stunde. Nach Graeser „ist das dialektische Denken [sc. Piatons, bes. im ,Sophistes'] sowohl logische Grundlagenforschung als auch Ontologie im eminenten Sinn" (A. Graeser [1983] 166). Der Aspekt der wesentlichen Zusammengehörigkeit von Logik und Metaphysik bei Piaton wird in einem späteren Zusammenhang erneut aufgegriffen und eingehender erörtert, ebenso die Seite der Dialektik, welche Metaphysik oder Wissenschaft genannt wird. DAa 6, 3. Stunde. Einen Überblick über neuzeitliche Metaphysikentwürfe im Anschluß an Aristoteles bietet M. Baum (1992b). Die Zusammengehörigkeit der Elemente Logik und Ontologie wird auch von J. Jantzen im Blick auf Piatons Metaphysik festgehalten, wobei er - ganz ähnlich wie K. Bärthlein ([1984] 21-69) - die Ideenlehre nicht im Sinne einer „rigiden Zweiweltenlehre oder einer Seinsstufungstheorie" begreift (J. Jantzen [1992] 640, 24; zu Ontologie und Logik cf. ebd. 641ff, 48ff).

Die Dialektik

85

Kant, insbesondere die Zurückweisung einer in seinem Gefolge etablierten Trennung von „Kunst" und „Wissenschaft", von „Prinzipien, auf denen" und solchen, „nach denen man die Wissenschaft konstruiere". 7 2 Gleichzeitig verweist die spezifische Art der Konzeption der Prinzipienlehre, wie sie von Schleiermacher für Piaton geltend gemacht wird, gerade im Blick auf die Verknüpfung von göttlicher Vernunft und menschlicher Erkenntnis auf den Renaissancephilosophen Cusanus bzw. Nikolaus von Kues. 7 3 Zwischen ihm und Schleiermacher lassen sich eine Vielzahl interessanter Parallelen aufweisen. 7 4 Diese beziehen sich sowohl auf das „Bemühen um eine Erneuerung des Denkens im umfassenden Sinne" als auch auf die Mitte ihres Denkens, ihre „Denkstruktur", deren Bestimmungsmomente in der Figur einer „unendlichen Oszillation" kulminieren. 7 5

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DAa 5f, 2 . Stunde. Dort heißt es weiter: „Mit den höchsten Prinzipien des Wissens ist zugleich die Art gesetzt, wie man es im Einzelnen anschaut und das Einzelne draus produziert. Freilich wird man die eigentlichen Prinzipien der Konstruktion von den bloß technischen Regeln unterscheiden können; aber dies zugegeben, findet kein Gegensatz weiter statt, wenn nicht die Kenntnis eine rein negative sein soll. Das Höchste und Allgemeinste des Wissens also und die Prinzipien des Philosophierens selbst sind dasselbe. [...] Konstitutive und regulative Prinzipien lassen sich also nicht mit Kant unterscheiden." Den Charakter einer „Prinzipienlehre" macht auch J . Jantzen geltend, wobei er dabei namentlich ausschließlich den .Philebos' in Anschlag bringt, während die überwiegende Mehrzahl der Forschungsbeiträge hierfür ausschließlich den .Sophistes' namhaft macht (cf. J . Jantzen [1992] 6 4 3 f , 48ff). Nach der hier vorgelegten Interpretation rekurriert Schleiermacher im Blick auf eine Prinzipienlehre bei Piaton schwerpunktmäßig auf die Dialoge .Sophistes', .Philebos' und .Timaios'. Die sachliche Verbindung von .Philebos' und .Timaios' wird auch von J . Jantzen festgestellt, der dabei ausdrücklich auf die Rezeption beider Dialoge im Deutschen Idealismus, namentlich durch Schelling, hinweist. Wenn er schreibt, daß Plato im ,Philebos' „aus dem Grundproblem von Eins und Vielem eine Prinzipienlehre [entwickelt]", dann nimmt er damit de facto auch den .Sophistes' in Anspruch - auch wenn er diesen namentlich in diesem Zusammenhang nicht explizit erwähnt (ebd. 6 4 3 , 49f).

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Auf die Rolle der Renaissance-Philosophie im Blick auf die Rezeption und Tradition von Piaton, speziell des Dialogs .Timaios', wird weiter unten eingegangen. Cf. hierzu den Beitrag von W. Sommer (1970), der in seinem Rekurs auf Cusanus letztlich auf eine Erhellung der für Schleiermacher zentralen Problemstellungen abzielt. Neben Leibniz macht Sommer insbesondere J . G . Hamann als jemanden geltend, in dessen Denken „der echte cusanische Geist" wirksam ist (ebd. 87). Wie bei Hamann, so ist auch bei Schleiermacher Cusanus anonym, d.h. in der Vermittlung durch Giordano Bruno, wirksam. Wegweisend ist der Cusaner im Blick auf die im zweiten Abschnitt dieses Kapitels erörterten Zusammenhänge besonders auch durch die Beschäftigung mit dem Problem des Unendlichen in Gestalt des unendlich Großen und Kleinen. Daneben ist auf den hohen Mathematisierungsgrad seiner Denk- und Ausdrucksformen hinzuweisen. Zur Rezeption von Cusanus cf. einführend E. Cassirer (1927).

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W.Sommer (1970) 87.93 und 97; Hv. J D . Berührungspunkte bzw. Gemeinsamkeiten stellt das „sich nur in Relationen vollziehende Denken" dar, was seinen Grund in der „durchgängigen Proportionalität des endlichen Seienden" hat (ebd. 89). Einen zweiten Bereich markieren hier die Stichworte Unendlichkeit, Unbestimmbarkeit und Unabgeschlossenheit. Auf Seiten Schleiermachers könnte hier noch das Stichwort Irrationalität hinzugefügt werden. Einen dritten Bereich stellt der Teilhabe-Gedanke in Verbindung mit dem der Relativität dar. Zur „unendlichen Oszillation" cf. cf. ebd. 95-97.

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Schleiermachers Rekurs auf Piaton

Wenn zuvor durchgängig auf Piaton verwiesen wurde, so muß hier präzisierend hinzugefügt werden, daß - nicht nur in der Perspektive Schleiermachers - Piaton in vieler Hinsicht als Erbe von Sokrates gilt. Der Begründer einer neuen Epoche ist Sokrates. Er markiert die Zeitenwende, weil bei ihm das für die folgende Periode Charakteristische angelegt ist. Die Durchführung und Ausarbeitung dieser Keime stellt dann das Verdienst Piatons dar. Schleiermacher behandelt die Frage der Bewertung und Einordnung des Sokrates nicht nur im Rahmen seiner Philosophiegeschichte, sondern widmet ihr auch eine eigene Akademieabhandlung. 76 Inhaltlich bestimmt sich dieser eine neue Periode einleitende Keim als das „Erwachen [...] der Idee des Wissens". 7 7 Schleiermacher benennt in diesem Zusammenhang die beiden - auch für seine eigene Dialektikkonzeption leitenden - Merkmale, nämlich „daß das Wissen in allen wahren Gedanken dasselbe sei" und „daß alles Wissen Ein Ganzes bilde". 7 8 Darum ist Sokrates „der eigentliche Urheber der Dialektik", wobei „nicht geläugnet werden [soll], daß Eukleides und Piaton auch diese Wissenschaft erst weiter ausgebildet haben, aber in ihren ersten Grundzügen hat Sokrates sie offenbar auf eine besonnene Weise als Wissenschaft besessen und als Kunst ausgeübt". 7 9 Folgende Merkmale sind es, welche von Schleiermacher in diesem Zusammenhang im Blick auf die Dialektik genannt werden: Dialektik ist sowohl Wissenschaft als auch Kunst(lehre). Neben einer bestimmten Ansicht vom Charakter des Wissens 80 eignet ihr ein bestimmtes methodisches Verfahren 81 . Das Bestreben nach einer „sichern Methode" 8 2

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Cf. GPh 8 0 - 8 5 sowie die Abhandlung „Ueber den Werth des Sokrates als Philosophen" aus dem Jahr 1 8 1 5 (AWSPh). AWSPh 3 0 0 . Dies bestimmt „den Mittelpunkt des sokratischen Wesens" als auch den „philosophischen Gehalt des Sokrates" (ebd. 301f). Eine „wahre Idee des Wissens" (ebd.302) gibt es „nur vermöge einer richtigeren Vorstellung vom Wissen und vermöge eines darauf beruhenden richtigeren Verfahrens" (ebd. 300). AWSPh 3 0 1 . AWSPh 3 0 3 . Dazu gehört sowohl die Vorstellung der Einheit und Ganzheit des Wissens. Wesentlich für die sokratische Idee des Wissens ist dabei, „daß jedes nur mit dem andern zugleich und mit seinem Verhältnis zu allem kann gewußt werden" (AWSPh 305). Diese Bestimmungen weisen überaus deutliche Affinitäten zu den Bestimmungen Schleiermachers im Anhang und Beschluß seiner GKS auf. Cf. GKS 3 3 4 - 3 4 6 . Von Sokrates wird „diese Kunst richtiger Begriffsbildung und Begriffsverknüpfung gelehrt" (AWSPh 304). Wegen des Kunstcharakters wird die Unterweisung darin „vom Sokrates nicht abgesondert betrieben", sondern im Zusammenhang mit konkreten Anwendungsfällen (ebd. 304). Zur Behandlung methodisch-methodologischer Fragen bei Schleiermacher cf. die Abschnitte 2.3.2.3. und 2.4.2.6 v.U. „Diese Methode nun ist aufgestellt in den beiden Aufgaben welche Piaton im Phaidros als die beiden Hauptsäze der dialektischen Kunst angiebt, nämlich zu wissen, wie man richtig vieles zur Einheit zusammenfasse und eine große Einheit auch wieder ihrer Natur gemäß in mannigfaltiges theile, und dann zu wissen welche Begriffe sich mit welchen verknüpfen lassen und welche nicht." (AWSPh 3 0 3 )

Die Dialektik

87

findet sich bei Piaton zuerst im ,Phaidros' - und dann vertieft im .Sophistes' und ,Philebos'83. 1.1.3.2

Die Dialektik als Kunstlehre

An dieser Stelle soll die formale Seite der Dialektik oder die Logik in den Blick genommen werden, d.h. die Dialektik als Kunst(lehre). Im jetzigen Zusammenhang interessiert nur, ob und inwieweit Schleiermacher seine Auffassung von der Dialektik sowie von dem Verhältnis zwischen Reden/ Sprechen und Denken explizit auf die Überlieferung Piatons zurückführt. Ein Blick in die entsprechenden Passagen seiner Philosophiegeschichte84 läßt erkennen, daß Schleiermacher im Hinblick auf die Dialektik sowohl ihren Charakter als einer Kunstlehre, als auch die Verknüpfung von Denken, Sprechen und Erkennen bei den „Alten" bzw. „Piaton" vorgeprägt sieht.85 Das ermöglicht es ihm, bei seinen eigenen Entwürfen zu einer Dialektik sich auf Piaton zu berufen. In Schleiermachers Dialektikkonzeption sind unterschiedliche Momente verbunden und verknüpft. Interessant ist, daß Schleiermacher bei seiner Darstellung Piatons unterschiedliche Momente akzentuieren kann, die wiederum in einem hohen Maß den Momenten entsprechen, die von ihm im Blick auf seine eigenen Entwürfe akzentuiert werden.86 Der Kunstlehrencharakter findet sich in

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Ein expliziter Verweis auf den ,Sophistes' und den .Philebos' findet sich in der Akademieabhandlung Schleiermachers nicht. Dies hat aber weniger sachlich-inhaltliche Gründe, sondern ist eine Konsequenz der für diese Akademieabhandlung maßgeblichen Schwerpunktsetzung. Es geht ihr ja nicht um eine Darstellung Piatons. Vielmehr handelt sie von der Einordnung und Beurteilung des Sokrates, wobei dabei dann dem ,Phaidros' als erstem der Dialoge Piatons eine Schlüsselrolle insofern zukommt, als er quasi das „Scharnier" von Sokrates zu Piaton bildet. Der .Phaidros' ist auch der einzige Dialog Piatons, der in der AWSPh explizit genannt wird. Die Fortsetzung der im .Phaidros' begonnenen Begründung der Dialektik im ,Sophistes' und ,Philebos' belegen die entsprechenden Einleitungen Schleiermachers zu den Übersetzungen dieser Dialoge. Cf. neben den in der allgemeinen Einleitung enthaltenen Hinweisen (PWE 1/1, 5-36) eingehender PWE VI, 3 7 - 5 6 ; 1V2, 85-98; II/3, 83-92. Auf die andere, Kunst(-Iehre) oder Logik genannte Seite der .Dialektik' wird nachfolgend nur soweit eingegangen, wie es für den Fortgang der Argumentation erforderlich ist. Nach Schleiermacher ist auf platonischer Seite neben dem .Phaidros' bes. der .Sophistes' zu nennen. So auch K. Pohl (1954) 1-37. Zum .Philebos' cf. einführend P. Gardeya (1993).

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Cf. GPh 9 8 - 1 0 3 . Das wird auch von K.-H. Schäfer (1965) bes. 13-17 betont. Dem korrespondiert die Beobachtung, daß Schleiermacher relativ frei mit überlieferten und etablierten Bezeichnungen für eine Prinzipienlehre oder Grundlagenwissenschaft umgehen kann. Cf. hierzu DJ 5 9 4 bzw. D O 2 8 . Schleiermacher kann bei der Übernahme von Bezeichnungen gleichzeitig deutlich fundamentale sachlich-inhaltliche Differenzen markieren (DJ 5 9 4 ; i.O. z.T. Hv.): „Wobei wir uns allerdings vorbehalten müssen in dem Gebiet des reinen Denkens, wie wir es in Zusammenhang mit dem übrigen sezen, dennoch untergeordnete Gegensäze nachzuweisen, und vielleicht auch sie mit ähnlichen Ausdrükken zu bezeichnen, wiewol dieselben sofern sie mehr bedeuten sollen abgewiesen worden sind. Zweitens aber sagen wir uns eben so von dem Verfahren aller derer los,

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Schleiermachers Rekurs auf Piaton

seiner Philosophiegeschichte (von 1812) sowohl direkt als auch indirekt - vermittelst des sokratischen bzw. dialogischen Moments oder des Elements des Werdens. Gegenüber der Betonung des Moments des „ n o t wendigen Zusammenhangs alles Erkennens" tritt er dort aber doch eher zurück. Dieser Beobachtung entspricht auch die nach Schleiermacher bei Piaton gegebene relative Vorordnung der Dialektik vor Ethik und Physik mit der Begründung, daß in ihr das entfaltet und entwickelt werde, was in Ethik und Physik immer schon vorausgesetzt wird. 87 Die Affinitäten zu Schleiermachers erstem eigenen Dialektikentwurf (von 1811) sind somit alles andere als zufällig. Gegenüber den Momenten der Prinzipien des Wissens und seiner Einheit tritt in der Akademieabhandlung über Sokrates von 1815 das Moment der Kunst(-lehre) deutlich stärker hervor. 88 Das ermöglicht aber gleichzeitig, den auch von Schleiermacher ausdrücklich festgehaltenen und im Laufe der Zeit stärker akzentuierten Kunst- bzw. Kunstlehrencharakter der Dialektik mit Blick auf Piaton plausibel zu machen. 89 Schleiermachers Auffassung der Dialektik als Kunstlehre bzw. techne läßt sich aber noch früher - im Zusammenhang mit Piaton - belegen, nämlich in seiner Einleitung zum .Kratylos'90. Damit läßt sich die für Schleiermacher so charakteristische und von den Entwürfen eines Fichte, Schelling oder Hegel spezifisch abweichende Dialektikkonzeption schon sehr früh aufweisen. 91 Sie läßt sich mit dem sprachtheoretisch begründeten Kunstlehrencharakter jedenfalls auch bis mindestens 1832 nachweisen, wie die letzte Fassung der Einleitung in die ,Dialektik' zeigt.92 Diese Auffassung artikuliert sich in den frühen Texten nicht nur unter Verweis auf Piaton, sondern explizit als Scheiermachers Auffassung von Piaton selber.93 Wichtig für die Interpretation Schleiermachers ist hierbei nun die Tatsache, daß Schleiermacher auch schon für Piaton als den entscheidenden Grund für die Art und Weise seiner (sc. Piatons) Dialektikkonzeption

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welche, indem sie einen Inbegriff von Säzen aufstellen, der das wesentliche des Wissens so enthalten soll, daß das weitere sich daraus entwikkeln läßt, mögen sie ihn nun Wissenschaftslehre nennen oder Logik oder Metaphysik oder Naturphilosophie oder wie sonst immer [...]." Es ist zu erwägen, ob die hier deutlich werdende Freiheit im Blick auf Bezeichnungen die Kehrseite des Problems des Fehlens einer letztlich adäquaten Bezeichnung darstellt. Cf. GPh 98.103. Cf. AWSPh. Cf. z.B. die ,Dialektik' in der Fassung von 1822 (DO). Cf. PWEII/2, 6.9.14. Das läßt auch den von Schleiermacher ausdrücklich festgehaltenen und im Laufe der Zeit zunehmend akzentuierte Kunst- bzw. Kunstlehrencharakter plausibel erscheinen. Cf. zur Sache DJ 594 bzw. DO 28 und 42-44. Cf. DO 1-44 bzw. DJ Beil. F 568-610 bzw. DAb 117-151 sowie A. Arndt (1988) XXIIIXXV. Zum Verhältnis von Schleiermachers Dialektikkonzeption zu Piaton hinsichtlich der Definition und der Methode cf. B. Weiß (1880) 75-84.

Die Dialektik

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ein bestimmtes Verständnis von Sprache geltend macht 94 . Es finden sich somit zwei Linien bei Piaton angelegt, welche Schleiermacher nicht nur aufnimmt, sondern darüberhinaus in kohärenter Weise zu verbinden sucht. Diese Verknüpfung und Integration in einem größeren Zusammenhang findet sich so bei Piaton nicht, bei ihm stehen die beiden Linien noch unverbunden nebeneinander.95 Wenn diese Beziehungen bzw. die Möglichkeit, solche Beziehungen aufzuweisen, nicht einfach nur als zufällig betrachtet werden, legt das die Vermutung nahe, daß es hier spezifische Übereinstimmungen in den die jeweiligen Gesamtsysteme in entscheidender Weise bestimmenden Systemkomponenten gibt. Weil diese in Frage stehenden Elemente in der Dialektik aller Voraussicht nach am deutlichsten zur Darstellung gelangen, wird vornehmlich die Dialektik in den Blick genommen. 96 Nach Schleiermacher ist der für die Themenbereiche Dialektik sowie Sprache, Denken und Erkennen in bevorzugter Weise zu berücksichtigende Dialog der .Kratylos'. 97 Dieser hat vorbereitenden Charakter im Blick auf den .Sophistes'.98 Dem .Sophistes' und dem seine Argumentation weiterführenden .Philebos' kommen in ihrer Interpretation durch Schleiermacher ein besonderer Rang zu.99 In Schleiermachers Einteilung

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Cf. zur Betonung der Sprachgebundenheit des Wissens und Erkennens schon im ,Kratylos' durch Schleiermacher PWE U/2,6f.10.13f. Zur Dialogizität und zur Sokratik bei Schleiermacher cf. R. Odebrecht (1942a) und (1942b). Die eine - eher wissenschaftssystematisch ausgerichtete - Linie weist in der Folge der Focussierung des Zusammenhangs des Erkennens eine gewisse Tendenz zur Subordination von Ethik und Physik unter die Dialektik auf. Die andere - eher sprachtheoretisch orientierte - Linie akzentuiert stärker den Kunst(lehren)charakter der Dialektik. Dabei ist gerade nicht ausgeschlossen, daß die entsprechenden Elemente sich auch in anderen Disziplinen niederschlagen. Cf. hierzu Schleiermachers Einleitung PWE II/2, 5-16. An dieser Stelle soll auch auf die zwischen der Einleitung Schleiermachers zu diesem Dialog und seiner Abhandlung über den Stil (AS/ASEn) bestehenden Beziehungen hinsichtlich des Sprachverständnisses hingewiesen werden, ohne diese hier eingehender betrachten zu können. Zum .Kratylos' und der in ihm enthaltenen sprachphilosophischen und sprachtheoretischen Überlegungen cf. J. Derbolav (1953), (1962) und (1972). Die Arbeit von Derbolav (1972) enthält einen umfangreichen bibliographischen Teil zur Kratylosforschung der vergangenen 150 Jahre. Zur Verbindung von Denken und Sprechen als Gemeinsamkeit und Ausgangspunkt zur Überwindung der Trennung einer Welt der Wahrnehmung von einer Welt des Denkens und Wissens cf. den sich zunächst mit Heraklit und Parmenides beschäftigenden Beitrag von W.J. Verdenius (1967). Zu diesem Gegenüber cf. auch den Beitrag von P.J. Bicknell (1967). Verdenius betont die Bedeutung von Sprache und Sprechen für Denken und Sein, zieht im Verlaufe seiner Argumentation Linien zum platonischen ,Timaios' aus und schließt mit der Feststellung zweier konstitutiver Prinzipien, Zweiheit und - als Einheit zweier gegensätzlicher Momente - Mischung (cf. ebd. 112-117). Dies verweist auf den .Philebos', dessen Zusammenhang mit dem Dialog,Parmenides' Gegenstand der Renaissance-Rezeption Piatons ist. Cf. PWE II/2, 13f. Die Gründe dafür werden im weiteren Verlauf der Darlegungen deutlich. Beide sind sich ferner in vieler Hinsicht (Thema, Darstellungsstil, Komposition, Methode) ähnlich.

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Schleiermachers Rekurs auf Piaton

und Anordnung bilden die Dialoge ,Sophistes' und .Politikos' 100 - neben ,Theaitetos', .Phaidon' und ,Philebos' - die Hauptwerke der zweiten Abteilung, welche „die Erklärung des Wissens und des wissenden Handelns" zum überwiegenden Gegenstand haben.101 Kein anderer Dialog Piatons ist von solcher Relevanz für Schleiermacher wie der ,Sophistes'. So auffällig wie die positive Bezugnahme auf Piaton bzw. auf seine Dialoge ist, 102 so bemerkenswert ist die Hervorhebung des ,Sophistes'103 innerhalb der Gesamtheit platonischer Dialoge durch Schleiermacher.104 Sucht man einen Kulminationspunkt für Strukturmomente, auf die sich Schleiermacher im Hinblick auf Piaton bezieht, so sind solche aufgrund der Äußerungen und Bewertungen Schleiermachers am ehesten hier zu vermuten. Aus diesem Grund wird dieser Gesichtspunkt in v.U. auch hinsichtlich Schleiermachers eigener Theorieanlage als Keimentschluß in Anschlag gebracht. Dies erfordert neben einer Berücksichtigung der Stellung des einzelnen Dialogs im Gesamtzusammenhang der übrigen die Berücksichtigung der (äußeren) Form des Dialogs. Diese ist deshalb nicht irrelevant, weil nach Schleiermacher im Blick auf die platonischen Dialoge Form und Inhalt aufs engste miteinander verbunden sind, eines nicht vom andern zu trennen ist. 105 Die Gesichtspunkte Form und Aufbau des einzelnen Dialogs

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Diese beiden waren nach Schleiermacher Teile einer von Piaton ursprünglich geplanten Trilogie (.Sophistes' - .Staatsmann' - .Philosoph'), welche aber nie vollständig ausgearbeitet wurde. Hinsichtlich des dritten Teils, des .Philosophen', blieb es bei der Ankündigung. Cf. PWE II/2, 88 und 172. PWE 1/1, 36. Schleiermacher spricht von ihnen als dem „Mittelpunkt der zweiten Periode platonischer Werkbildung" (PWE II/2, 179) in formaler und inhaltlicher Hinsicht. Die Übergänge zwischen den Dialogen und zwischen den Abteilungen sind - wie Schleiermacher immer wieder betont - fließend. Cf. PWE 1/1, 35f. Zu der Differenz zwischen Einzelerkenntnis und Erkenntnis als Totalität (entsprechend der Differenz von aletheis doxai und episteme) unter bes. Berücksichtigung des .Theaitetos' cf. den Beitrag von J . Sprute (1968), in dem Bedeutung und Reichweite des Totalitätsgedankens dargestellt werden. Cf. H.-G. Gadamer (1968c) sowie ders. (1969). Cf.hierzu besonders die Einleitung Schleiermachers zu diesem Dialog (PWE II/2, 87-98). So auch G. Scholtz (1984) 9 8 - 1 0 0 ; G. Scholtz (1985) 8 4 9 - 8 5 2 . In der Näherbestimmung des (Kerns des) .Sophistes' kulminiert die quasi-religiöse Terminologie, welche Schleiermacher im Blick auf die Kennzeichnung der Bedeutung Piatons für ihn verwendet. Cf. hierzu die Rede vom „innerste[n] Heiligthum der Philosophie" (PWE II/2, 90) bezüglich des .Sophistes' sowie die Rede von „heilige[r] Ehrfurcht" und vom „Allerheiligste[n] [...] der Philosophie" (Br IV 72f) im Blick auf Piaton. Die hermeneutischen Konsequenzen aus dieser Einsicht hat Schleiermacher dann auch in seiner allgemeinen Einleitung der Piatonübersetzung ausgeführt (cf. PWE 1/1, 5-36). Diesem von Schleiermacher in dieser Deutlichkeit erstmals eingeführten methodischen Grundsatz sind ihm dann in der Forschung viele gefolgt (Dies schließt die sich aus diesen Grundsätzen ergebenden Folgerungen hinsichtlich der Anordnung und Abfolge der Dialoge, namentlich des Phaidros gerade nicht ein). So kann H. Krämer in einem Literaturbericht zusammenfassend davon sprechen, daß „Schleiermacher und Schlegel [...] zumindest im kontinentalen Raum faktisch bis heute als unangreifbare Autoritäten behandelt und ihre Platonbilder fraglos und wie selbstverständlich als sakrosankt und kanonisch unterstellt" werden (H. Krämer [1994] 2). Die bei Krämer mehr oder weniger deutliche

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einerseits wie des Gesamtwerks andererseits korrespondieren in der Perspektive Schleiermachers einander. So konstatiert Schleiermacher das Vorliegen einer kunstvollen Komposition für den ,Sophistes4 wie auch für Piatons Gesamtwerk, welche sich an der Idee eines Organismus orientiert.106 Der - auch im Aufbau anderer Werke Schleiermachers begegnende - Gedanke einer an der Idee eines lebenden Organismus orientierten Struktur läßt sich dabei sogar auf Piaton zurückführen.107 Die Verwendung des Modells eines Organismus stellt allerdings kein für Schleiermacher exkluKritik kann hier unberücksichtigt bleiben. Sie resultiert aus einer fiktiven Festlegung Schleiermachers auf „den Zauber des romantischen Paradigmas" (ebd. 3), trifft Schleiermachers Piatondeutung aber gerade nicht, wie jüngst P. M . Steiner (1996a) in einer scharfsinnigen und brillanten Analyse dargelegt hat. Krämer postuliert zunächst - im Anschluß an Kuhn - ein „romantisches Paradigma". Dieses sieht er repräsentiert durch Schleiermacher und Schlegel. Für diese glaubt er, diverse „Dogmen" ausmachen zu können, so z.B. einen romantischen „Infinitismus", um dann kritisch festzustellen: „Die bislang fraglos als Standards tradierten und als kongenial gefeierten romantischen Programme geraten damit ins Zwielicht geschichtlicher Kontingenz und verlieren gleichsam ihre hermeneutische Unschuld." (H. Krämer [1994] 3) Die Auffassung, daß Schleiermachers Einleitungen „nicht der Platon-Auffassung, an der sich Autoren wie Konrad Gaiser, Hans J . Krämer und Thomas A. Szlezäk als an ihrer Gegenposition orientieren", entsprechen, wird auch von W . Wieland (1994) vertreten. 106

Dabei kann sich diese leitende Idee in unterschiedlicher Weise konkretisieren, indem sie in einer Mehrzahl von Ordnungsmodellen Gestalt annimmt. Der Zusammenhang zwischen dem für die Anlage und Gliederung der Dialoge maßgeblichen „organologischen Denkmodell", dem Gedanken eines sich entwickelnden Keims und dem hermeneutischen Grundsatz der Interdependenz von Teil und Ganzem ist Gegenstand des Beitrags von W. Virmond ([1984] 229). Hinsichtlich der in der allgemeinen Einleitung Schleiermachers zu seiner Piatonübersetzung vorgestellten Binnendifferenzierung der einzelnen Abteilungen bezieht sich Virmond besonders auf den von Schleiermacher „technische Interpretation" genannten Teil innerhalb der Hermeneutik. Die Abfassung beider Texte (allgemeine Einleitung der Dialogübersetzung und erster Hermeneutikentwurf) liegen zeitlich ganz nahe beieinander (um 1804/05). Cf. HL 148-155 und 2 0 0 - 2 1 8 bzw. HF 1 7 8 - 1 8 5 und 2 0 9 - 2 2 5 sowie W . Virmond (1984) bes. 230f; cf. zur Quellenlage hinsichtlich des ersten Hermeneutikentwurfs von 1804/05 W. Virmond (1985) sowie HK 7 1 - 7 0 . 1 1 1 - 1 2 0 und 7 0 - 7 6 . Eine eingehendere Einordnung und Darstellung der technischen Interpretation unter Berücksichtigung der wechselnden Terminologie Schleiermachers erfolgt im Beitrag von H. Birus (1985).

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So läßt Piaton im .Phaidros' (Phaidros 264c) Sokrates sagen: „Aber dieses, glaube ich, wirst du doch auch behaupten, dass eine Rede wie ein lebendes Wesen müsse gebaut sein und ihren eigentümlichen Körper haben, so dass sie weder ohne Kopf ist, noch ohne Fuss, sondern eine Mitte hat und Enden, die gegen einander und gegen das Ganze in einem schikklichen Verhältniss gearbeitet sind." (PWÜ 1/1, 97f) Schleiermacher paraphrasiert diese Textstelle im Rahmen seiner Einleitung zur Übersetzung des Dialogs ,Phaidros', wenn er im Blick auf das „Werk" [sc. des .Phaidros'] davon spricht, „dass es wie ein lebendiges Wesen gebildet sein und einen dem Geiste angemessenen Körper mit verhältnissmässigen Theilen haben müsse" (PWE 1/1, 40). Schleiermacher hat sich innerhalb der ersten Auflage der KD zur Darstellung des Zusammenhangs und der Interdependenz der drei theologischen Teildisziplinen der Metaphorik eines Baumes mit seiner „Wurzel", seiner „Krone" und seinem „eigentlichen Körper" bedient (cf. KD] 7 - 9 , §§ 2 6 . 3 1 und 36). Präzise bezieht sich diese Metaphorik nicht auf die Theologie, sondern auf die Anordnung des theologischen Studiums (cf. KD 1 8, § 31 und 9, § 36; KD 11, § 28; Enz 2 7 , § 28). Schleiermacher hat sich dann - zur

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Schleiermachers Rekurs auf Piaton

siv charakteristisches Merkmal dar, sondern ist typisch für eine Vielzahl von Vertretern des Idealismus, der Romantik und der zeitgenössischen Naturphilosophie.108 Zum Durchbruch verhalf dem Modell des Organismus, welches weniger eine Metapher darstellt, sondern eher ein Paradigma markiert, besonders die Naturphilosophie des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wobei auch hier Piaton, insbesondere Piatons .Timaios' 109 eine Schlüsselrolle zukommt. In textpragmatischer Hinsicht ist damit gerade im Kontext der Thematisierung von Ganzheiten oder Totalitäten ein deutlich antimechanistischer Impetus verbunden.110 Minimierung von Mißverständnissen - in der zweiten Auflage der KD teilweise von dieser Metaphorik gelöst. In der Sache hat sich demgegenüber nichts geändert. Die Rede von der „historische[n] Theologie" als dem „eigentliche[n] Körper des theologischen Studiums" hat er aber beibehalten (cf. KD 11, § 2 8 und Enz 27, § 28). Daß Schleiermacher sich z.B. innerhalb seiner .Kurzen Darstellung' sowohl an die im .Phaidros' begegnende Denkfigur als auch an die gewählte Terminologie sehr deutlich anschließt, kann als ein Indiz für das Bestehen eines starken sachlichen Zusammenhangs zwischen Piaton und Schleiermacher gewertet werden.

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Das organologische Strukturmodell als Gliederungsprinzp bei Schleiermacher ist nur in dem Beitrag von W . Virmond (1984) auf Piaton bezogen worden - aber da auch nur auf Schleiermachers Gliederung und Anordnung der Dialoge Piatons. Auch wenn in der Literatur hinsichtlich der in der KD gebrauchten Metaphorik nicht auf Piatons .Phaidros' verwiesen wird, so ist doch die in diesem Denkmodell mitgesetzte Dynamik erkannt worden (so z.B. bei H.-J. Birkner [1985] 108 und [1986] 69f). Demgegenüber wird bei O. Bayer (1994) in dem entsprechenden Abschnitt seiner Darstellung Schleiermachers sowohl die Pointe der Interdependenz der Disziplinen verfehlt als auch der ausdrückliche Bezug der Metapher auf das Studium der Theologie einfach schlechthin ignoriert (cf. O. Bayer [1994] 496-499). Warum Bayer sich in diesem Zusammenhang bei seiner Darstellung ausschließlich auf den Text der ersten Auflage der KD stützt, bleibt ebenso unklar. Cf. hier beispielsweise Schellings .Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums' von 1802 (Vortrag) bzw. 1803 (Veröffentlichung). Schleiermacher nimmt in seiner Rezension dieser Schrift auch gerade dieses Moment positiv auf. Cf. RzMAS bes. 580f. Ein deutliches Indiz dafür stellt z.B. auch Schellings Manuskript .Timaeus' (1794) dar. Cf. hierzu den Beitrag von H. Krings (1994). Cf. zur Entdeckung und Aneignung Piatons durch Schelling und Schleiermacher die Beiträge von R. Bubner (1995a) und (1995ba), in denen ebenfalls der .Timaios' (bzw. der Kommentar Schellings dazu) eingehend Berücksichtigung findet (cf. dort jeweils bes. den Abschnitt V). Dies wird auch von Michael Moxter (1992) betont (ebd. 139), der hier gegenüber Piaton stärker Aristoteles in Anschlag bringt, während er gleichzeitig ebenfalls auf die Schlüsselrolle „der Naturphilosophie des späten 18. Jahrhunderts" verweist (ebd. 139). Ob diese eher an Aristoteles orientierte Bewertung stärker dem Focus seiner Arbeit geschuldet ist, kann hier offenbleiben. Gleichwohl läßt auch er die Geschichte der Organismustheorien mit Piaton beginnen (cf. ebd. 138-140). Im Blick auf den „Hintergrund derjenigen zeitgenössischen Theorien", welche zugleich „Schleiermachers Verwendung der Begriffe .organisch', .organisierend' und .Organismus' erhellt", wird hier auf auf die Ausführungen bei Michael Moxter verwiesen ([1992] 137; cf. ebd. 137-176). Ungeachtet möglicher Verschiebungen der Bedeutung von der Antike bis zur Neuzeit, welche von Moxter namhaft gemacht werden, ist es interessanterweise gerade das antimechanistische Moment, welches Schleiermacher sowohl für sich selber im Begriff der Kunst bzw. der Kunstlehre oder Technik festhält, als auch schon für Piaton geltend macht. Bei Schleiermacher begegnet die Opposition „kunstmäßig vs. mechanisch" häufig. Cf. z.B. PTh 17.25-32; im Falle der .Hermeneutik' wird das mechanische bzw. nicht-kunstmäßige Verfahren durch die

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Sehr vereinfacht kann man vielleicht sagen, daß Piatons Gesamtwerk, seine drei Abteilungen und Werkgruppen sowie die einzelnen Dialoge eine komplexe, verschachtelte Struktur aufweisen, welche als fortwährende Iteration von dyadischen Relationen beschreibbar ist.111 Nach Schleiermacher gliedert sich Piatons Gesamtwerk in drei Abteilungen: vorbereitende (a), mittlere oder untersuchende (b) und weiterführende (c) Werke. 112 Dieses Einteilungsprinzip findet dann wiederum innerhalb der Gruppe der Hauptschriften Anwendung. 113 Aus welchem Grund kann davon gesprochen werden, daß in der von Schleiermacher gegebenen Darstellung die offensichtlich durchgängig dreigliedrigen Einteilungsschemata durch die Iteration von zweistelligen Relationen generiert werden? Die Bezeichnungen für die Einteilungsgründe variieren bzw. sind dabei uneinheitlich und wechselnd. Trotz einer gewissen Uneindeutigkeit in den Texten, vor allem einem Schwanken zwischen drei „Modellen" 114 ,

111

112

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„laxere Praxis" im Unterschied zur „strengere[n] Praxis" bezeichnet (HL 29f bzw. HF 92, §§ 15f) Demzufolge liegen für Schleiermacher die Begriffe „kunstmäßig", „technisch" und „organisch" bedeutungsmäßig sehr eng beieinander. Von Relevanz ist in diesem Zusammenhang das Moment der Selbstorganisation bzw. der Autopoiesis. Dies gilt insofern, als nach Schleiermacher Piatons Gesamtwerk (mit seinen drei Abteilungen) sich zu der zweiten, mittleren Abteilung ebenso verhält, wie diese mittlere Abteilung zu dem Dialog .Sophistes'. Die Relation desselben als Ganzes zu seinen Teilen entspricht dann wiederum derjenigen zwischen dem äußeren Rahmen und dem inneren Teil als Ganzem sowie derjenigen zwischen dem Rahmen des inneren Teils und dem Kern des inneren Teils. Drei Abteilungen des Gesamtwerks : zweite Abteilung :: Dialoge der zweiten Abteilung : .Sophistes'. .Sophistes' als Ganzer : Teilen des .Sophistes' :: äußerer Teil/Rahmen des .Sophistes': innerer Teil/Rahmen des .Sophistes':: innerer Teil/Rahmen bzw. Schale des inneren Teils des .Sophistes' : Kern des inneren Teils bzw. Mitte des .Sophistes'. Cf. PWE 1/1, 5-36 sowie II/2, 87-98. Diese dreigliedrige Einteilung wird verknüpft mit einer weiteren dreigliedrigen Einteilung in Hauptschriften, Nebenwerke und Gelegenheitsschriften. Damit ergibt sich eine Matrix mit neun Feldern. De facto sind hier aber nur die Hauptschriften von Belang, so daß diese zweite Einteilung in der weiteren Erörterung unberücksichtigt bleiben kann. Aus der Gruppe der Nebenwerke ist einzig der .Kratylos' noch von größerer Bedeutung. Daß der .Kratylos' sachlich für Schleiermacher einerseits von hoher Relevanz ist, andererseits gleichzeitig unter die Nebenwerke gezählt wird, erstaunt, besonders weil nach Schleiermacher „die Sprache das Kunstwerkzeug des Dialektikers ist" (PWE II/2, 6). Während die Erörterung „der Natur der Sprache" im .Kratylos' Fragment bleibt, „diese Sache nur angelegt, gar nicht zu Ende gebracht erscheint", wird „das Verhältniss der Sprache zur Erkenntniss" zum dominierenden Thema im Verlauf des Dialogs (PWE II/2, 10). Ebendies erlaubt es, den .Kratylos', obwohl „der unmittelbare Gegenstand nur so unvollständig behandelt" wird, dennoch als „ein eignes Ganzes" zu betrachten. Die überraschende Zuordnung des .Kratylos' zu den Nebenwerken läßt sich nur aus der gegenüber dem .Sophistes' vorbereitenden Stellung des .Kratylos' erklären (cf. hierzu PWE II/2, 13f). Demgegenüber erscheint Schleiermacher die im .Kratylos' enthaltende Weiterführung gegenüber dem .Theaitetos' zurückzutreten (cf. ebd. 12f). Unter Berücksichtigung der o.g. Differenzierung in Hauptschriften, Nebenwerke und Gelegenheitsschriften ergibt sich eine dreifach-dreigliedrige Einteilung. Diese Modelle werden bei Schleiermacher als solche so explizit nicht eigens vorgestellt. Sie werden hier aus den Schleiermacherschen Texten der Dialogeinleitungen in Anleh-

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Schleiermachers Rekurs auf Piaton

läßt sich zweierlei festhalten: Zum einen, daß die Einteilungsbegriffe weniger bestimmte, fixierte „Felder" oder „Positionen" bezeichnen, sondern eher Relationen oder Verhältnisse zwischen zwei Dialogen oder Dialoggruppen und damit Perspektiven zum Ausdruck bringen.115 Zum anderen ist eine Privilegierung der Mitte (b) bzw. des zweiten der drei Elemente des jeweiligen Einteilungsschemas - mehr oder weniger deutlich - erkennbar. Die Vorstellung eines stetig in einer Richtung verlaufenden linearen Progresses wird deutlich gebrochen zugunsten der eines zyklischspiralförmigen Oszillationsprozesses zwischen verschiedenen, nicht eindeutig und endgültig fixierten Punkten. 116 Diese Tendenz ist bei dem einen Modell, welches hier „Schale-Kern-Modell" 117 genannt wird, strukturbedingt etwas stärker als bei den anderen, „Ganzes-Teil-Modell" 118 und

115

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118

nung an gewisse charakteristische Termini gewissermaßen „herauspräpariert". Die implizit vorausgesetzten Modelle sind dabei an einer jeweils leitenden Semantik zur Beschreibung des Verhältnisses von Dialogen bzw. Dialoggruppen erkennbar. Die Kennzeichnung eines Dialogs als vorbereitend erfordert notwendig die Ergänzung im Blick auf welchen anderen Dialog dieses Verhältnis besteht, ebenso bei der Kennzeichnung als weiterführend. Etwas, z.B. (b), was (a) weiterführt, kann im Blick auf (c) als vorbereitend charakterisiert werden. Dieser Zug wird durch die entsprechende Textstelle im .Phaidros' bzw. Schleiermachers Übersetzung derselben besonders betont. Der Körper bildet die „Mitte" und wird gewissermaßen gerahmt von den beiden „Enden" in Gestalt von „Kopf" und „Fuss" (PWE V 1, 98). Man muß sich hier eine um die Mitte kreisende, besser: sprialförmige Bewegung vorstellen. Der Akzent liegt dabei also gerade nicht auf dem letzten „Ende" in Gestalt des Kopfes - wie eine einlinige Betrachtung nahelegen könnte, welche dann aber die bei Piaton wie Schleiermacher angelegte Komplexität nicht erfaßt. Ein solches Mißverständnis liegt ganz offensichtlich bei O. Bayer vor, welcher meint, daß Schleiermachers Ausführungen in Gestalt von KD 3, §§ 6f „im Blick auf zwei ihrer entscheidenden Momente kritisiert werden" müssen. Hinsichtlich § 6 glaubt er einen „transzendentaldialektische[n] Aufweis" ergänzen zu müssen, wofür aber weder eine Begründung noch entsprechende Textbelege bei Schleiermacher namhaft gemacht werden. Bayer behauptet dann weiter, daß die „mit dieser [sc. O. Bayers] Version des § 6 vorgebrachte Kritik [...] Schleiermachers Theologiebegriff in dessen transzendentalphilosophischer Verwurzelung [betrifft], die bei Schleiermacher ja von der positiven Bestimmung der Theologie durch ihren Praxisbezug unberührt bleibt: Zwar wirkt die .Wurzel' auf die Spitze, die ,Krone', nicht aber die Krone auf die Wurzel" (O. Bayer [1994] 497). Das hier Behauptete wird aber nicht nur durch den Text der KD nicht gedeckt, vielmehr stehen derselben KD. l l f , §§ 2 7 - 2 9 sowie Enz 2 6 - 3 0 , §§ 2 7 - 2 9 explizit entgegen. Diese Ausführungen fügen sich sachlich wie terminologisch in den Zusammenhang von .Phaidros' 2 6 4 c , wodurch sie noch an Profil gewinnen. Hier wird darauf hingewiesen, daß diese Passage im .Phaidros' in der Schleiermacher-Literatur bis dato noch ebensowenig für entsprechende Gedanken und Überlegungen innerhalb Schleiermachers Schriften, beispielsweise der KD (cf. hier auch KD 3, § 7), fruchtbar gemacht worden ist, wie der Dialog .Timaios'. Eine eingehendere Verfolgung dieser Zusammenhänge kann hier nicht erfolgen. Schleiermacher spricht an manchen Stellen davon, daß bestimmte Dialoge einen äußeren Rahmen oder eine Schale (a, c) für einen inneren Kern (b) bilden, welcher eine Mittelstellung zwischen a und c einnimmt. Insbesondere im Zusammenhang der Erörterung des Verhältnisses einzelner Abteilungen zum Gesamtwerk und dem einzelner Dialoge innerhalb einer Abteilung als Ganzer findet die Leitdifferenz von einem Ganzem und einem Teil desselben Anwendung.

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„Voraussetzung-Folge-Modell" 119 genannten. Alle drei lassen sich scheinbar - unter Berücksichtigung der in ihnen vorausgesetzten Dynamik - auf einen Dual, mithin eine auf der Ebene der Semantik spezifizierbare Leitdifferenz, reduzieren, auch wenn drei Elemente in ihnen vorkommen. 120 Im Blick auf die in den Schleiermacherschen Texten auf der Ebene der Semantik sich manifestierende Spannung in Gestalt des Wechsels zwischen verschiedenen in der Beschreibung implizit vorausgesetzten Ordnungsmodellen (die ja weder einfach identisch miteinander sind noch sich nahtlos ineinander überführen oder verknüpfen lassen), ist zu erwägen, ob diese nur aus einer mangelnden sprachlich-stilistischen Durcharbeitung des Textes resultieren, oder ob sie nicht ein Indiz für ein tieferliegendes Sachproblem darstellen. Schleiermachers Einteilung der Dialoge aus der Gruppe der Hauptschriften nach den drei Abteilungen sowie innerhalb derselben versucht, nachfolgende Aufstellung überblickartig zu veranschaulichen:121 ABTEILUNG/UNTERGLIEDERUNG

vorbereitend ergänzend

(a) elementarisch vorbereitend für (b)

Phaidros, Protagoras Parmenides

(b) untersuchend Mitte, Zwischenraum weiterführend für (a), vorbereitend für (c)

Theaitet

(c) darstellend weiterführend

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122

von (b)

Mitte

weiterführend,

Sophist, Politikos Gastmahl, Philebos, (Staatsmann) Phaidon 122

Politeia, Timaios (Staat)

Kritias

An anderen Stellen spricht Schleiermacher davon, daß ein Dialog (a) einen anderen (b) vorbereitet. Letzterer bzw. vorbereiteter (b) steht zu einem anderen (c) in einem solchen Verhältnis, daß er (b) diesen (c) wiederum vorbereitet. Letzterer (c) ist damit für (b) in gleicher Weise ergänzend und weiterführend, wie dieser (b) für (a). Durch den - semantisch erzeugten - Focus auf das zweite Element (b) wird die in dieser Bewegung liegende Tendenz zu einer Fortschreibung dieser Folge in eigentümlicher Weise gehrochen. Charakteristisch sind hierfür Begriffe wie „Mitte" oder „Zwischenraum". (a) ist vorbereitend für (b) bzw. (b) ist weiterführend für (a), (b) ist vorbereitend für (c) bzw. (c) ist weiterführend für (b). Bei dem „Schale-Kern-Modell" handelt es sich um die Dyade, welche von der Einheit der Elemente a und c (Schale) einerseits und dem Element b (Kern) andererseits gebildet wird. Bei dem „Grund-Folge-Modell" ist es letztlich die Dyade von vorbereitend und weiterführend, mit dem sich das Einteilungsschema rekonstruieren läßt, indem sich das die Folge von a repräsentierende Element b wiederum als Grund von c begreifen läßt bzw. umgekehrt das Element c von Element b vorbereitet wird, während wiederum das Element b von a vorbereitet wird. Diese Übersicht findet sich so bzw. in dieser Form nicht bei Schleiermacher. Sie wurde hier erstellt anhand der von Schleiermacher innerhalb seiner Einleitungen zu den Übersetzungen der Dialoge genannten Zuordnungen zwischen einzelnen Dialogen. Die angekündigte Trilogie Sophist-Staatsmann-Philosoph erscheint Schleiermacher aus

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Schleiermachers Rekurs auf Piaton

Die o.g. Tendenz spiegelt sich nicht nur auf der Ebene des Verhältnisses der Abteilungen oder innerhalb einer einzelnen Abteilung, 123 sondern sie bildet auch die Signatur der Komposition eines einzelnen Dialogs. Überhaupt stellt die Art und Weise der Beschreibung des Verhältnisses des .Staatsmanns' zum .Sophistes' 124 wie auch die Beschreibung des Aufbaus des .Sophistes' durch Schleiermacher eine Exemplifikation eben jener Grundsätze und Strukturelemente dar, welche nach Schleiermacher insbesondere im ,Sophistes' und im .Philebos' materialiter entwickelt und dargelegt werden. Nach Schleiermacher wird im ,Sophistes' ein innerer Teil von einem äußeren Teil gerahmt. Nimmt man den von Schleiermacher sog. „inneren an sich mehr philosophischen Theil des Gespräches" näher in den Blick, so läßt sich innerhalb dessen, was zunächst als innerer Teil erscheint, erneut unterscheiden zwischen einem (inneren) Rahmen und einem (inneren) Kern. Dabei „zeigen sich seine [sc. die des inneren Teils] Verhältnisse denen des Ganzen [sc. des .Sophistes'] auffallend ähnlich". 1 2 5 Während die Einleitung Schleiermachers zum .Sophistes' nahe-

der Perspektive von eigens vorliegenden Textkorpora „zwar gewiss unvollendet geblieben"; „für den aber der es auf eine freiere Weise betrachtet [ist sie] nur schöner und herrlicher vollendet worden" durch die beiden Dialoge .Gastmahl' und .Phaidon', „in welchen beiden zusammengenommen Piaton uns ein Bild des Philosophen darstellt in der Person des Sokrates, und zwar zeige er ihn im Phaidon [...] wie er im Tode erscheint, in unserem Gastmahl aber [...] wie er gelebt [hat]" (PWE II/2, 2 5 1 ; cf. auch die weiteren Ausführungen [ebd. 2 5 2 ] , in denen betont wird, daß beide [Gastmahl und Phaidon] ein Ganzes bilden). 123 124

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Cf. zum den .Sophisten' als Kern aller übrigen Dialoge PWE III, 2 7 . Cf. PWE I I / 2 , 1 7 1 f . l 7 8 f sowie 1 7 4 f . l 7 7 . Der unausgeführt gebliebene Dialog .Philosoph' - als dritter Teil der Trilogie - wird von Schleiermacher „als die Einheit des Dialektikers und des Staatsmannes" bestimmt (PWE II/2, 14). Die zwischen beiden bestehende Ähnlichkeit ist dahingehend zu präzisieren, daß sie „als Gegenstükke" (cf. PWE 11/2,171 und 178) zu begreifen sind. Sie sind deshalb gerade nicht zu einem Gespräch zusammenzufassen. Konkret folgt die Verhältnisbestimmung der beiden Dialoge dem Modell eines relativen Gegensatzes, bei der jede Seite ein Minimum der anderen mitumschließt: „Wiewol auch hierin unser Gespräch [sc. der .Staatsmann'] sich dem Sophisten wieder nähert, indem es neben dem vortrefflichen [als dem unmittelbaren Gegenstand der Darstellung des .Staatsmanns'] doch auch zugleich das verwerfliche [als dem unmittelbaren Gegenstand der Darstellung des .Sophisten'] mit grossem Fleiss ableitet und auszeichnet, wie in dem Sophisten auch neben der Ausführung des verwerflichen zugleich auch auf das vortreffliche nämlich den Philosophen wenigstens hingedeutet wird". PWE II/2, 1 7 1 . Der Gegensatz besteht in einem Mehr-oder-Weniger. PWE II/2, 90. Die nachstehende Übersicht soll einen Eindruck des kompositorischen Aufbaus des .Sophistes' nach Schleiermacher vermitteln (cf. PWE II/2, 85-90). Schleiermacher nennt in der innerhalb seiner Einleitung dargebotenen Einteilung nur Themen- und Problembereiche aber keine Textabschnittsnummern. Solche werden hier zum Zwecke der besseren Orientierung hinzugefügt. Schleiermachers Bestimmung der Gliederung beginnt mit der Abhebung der beiden „Enden" von einem von ihnen umschlossenen Mittelbereich. Dazu unterscheidet er zunächst „zwei ganz verschiedenartige Massen", wobei die äußere einen Rahmen für die innere bildet (PWE II/2, 87). Während erstere auf „das Wesen und die richtige Erklärung des Sophisten" zielt, redet die andere „von dem Seienden und Nichtseienden", um „die Gemeinschaft der Begriffe zu bestimmen" (ebd. 87). Schleier-

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legt, daß dieser als alleiniger „Kern" der Gesamtheit der Dialoge angesehen werden kann, läßt die Einleitung Schleiermachers in den .Philebos'126 erkennen, daß es in Gestalt des ,Philebos' auch für den ,Sophistes' gewissermaßen eine weiterführende Fortsetzung im Gesamtzusammenhang der Dialoge Piatons gibt.127 Dieser Dialog ist, wenn er auch zeitlich später128 als der ,Sophistes' anzusetzen ist, nach Schleiermacher dem .Sophistes' „in seinen großen Zügen ausnehmend ähnlich"129. Schleiermacher macht für beide zunächst formale Parallelen - Anlage und Aufbau betreffend geltend130, bevor er auf eine beiden gemeinsame, ähnlich gelagerte Promacher spricht hier auch von „Einfassung und Schale" einerseits und „Mitte" andererseits (ebd. 88). Ebendies Verhältnis wiederholt sich dann noch einmal in dem „inneren an sich mehr philosophischen Theil des Gespräches", denn betrachtet man ihn allein, „so zeigen sich seine Verhältnisse denen des Ganzen auffallend ähnlich" (ebd. 90). Im Blick auf dieses Innere des Inneren kann Schleiermacher wieder von „Mitte", aber auch von „Kern" sprechen (ebd. 90.92). So ergibt sich folgender, an konzentrische Kreise erinnernder Aufbau: äußerer Teil bzw. Rahmen des Ganzen (216a-236c und 264c-268d); innerer Rahmen bzw. Rahmen des inneren Teils (236d-250e und 260a-264b); innerer Kern bzw. Kern des inneren Teils (251-259e): äußerer Teil:

innerer Teil:

Rahmen

äußerer innerer [ innerer Kern

In diesem Gefüge spiegelt sich in gewisser Weise das Verhältnis des ,Sophistes' zu den anderen Dialogen der zweiten Abteilung (deren Mittelpunkt er bildet) und das des zweiten Teils der Dialoge zur Gesamtheit des Werks überhaupt. Im Blick auf den .Sophistes' kommt dem K. Dürr ([1945] 166-170) sachlich recht nahe, wenn dieser auch zunächst nur zwischen zwei Teilen unterscheidet, einem „äußeren" und einem „inneren", wobei er den inneren Teil dann noch einmal in fünf Abschnitte gliedert. Der dritte Abschnitt über die Aufgabe der Dialektik bildet somit auch bei ihm die Mitte des inneren Teils (ebd. 167). Dürr verweist dabei wie Schleiermacher auf den zwischen den einzelnen Teilen bestehenden sachlichen Zusammenhang. Die zwei bzw. drei Textkomplexe sind nämlich weder voneinander isolierbar (z.B. im Sinne eines bloß äußerlichen Rahmens gegenüber einem allein wesentlichen Kern) noch in einseitiger Weise funktionalisierbar (z.B. im Sinne einer Mittel-Zweck-Beziehung): „Allein [...] ist doch auch dieses Aeussere mit diesem Inneren auf das genaueste verbunden, und letzteres selbst würde ohne jenes nicht in seinem vollen Lichte erscheinen." (PWE II/2, 88). 126 127

128

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Cf. PWE II/3, 85-92. Auffällig ist die zwischen den jeweiligen Einleitungen bestehende Unausgewogenheit hinsichtlich expliziter wechselseitiger Verweise. Während sich in der Einleitung zum .Sophistes' keine ausdrücklichen Vorverweise auf den .Philebos' finden, ist die Auseinandersetzung mit dem .Sophistes' innerhalb der Einleitung in den ,Philebos' überaus deutlich. Der,Sophistes' wird nicht nur insgesamt fünfmal erwähnt, sondern die Konturierung des .Philebos' erfolgt in direkter Anlehnung an den .Sophistes'. Der .Sophistes' findet nach Schleiermacher im .Philebos' seine - weniger indirekt ausgesprochene und anschaulichere - „Ergänzung" und Fortsetzung. Cf. PWE II/3, 86f und 90. PWE II/3, 85. Wie im .Sophistes' wird nach Schleiermacher auch hier neben dem angekündigten - den .Theaitetos' und den .Gorgias' weiterführenden - Thema, nämlich der vergleichenden Bewertung von Lust und Erkenntnis, noch ein weiteres Thema behandelt, welches sich bei näherer Betrachtung als „Kern des Ganzen" erweist (PWE II/3, 85): „Hiernächst aber

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Schleiermachers Rekurs auf Piaton

blemstellung hinweist, die Art und Weise des gewordenen Seins als Ergebnis einer Mischung, innerhalb derer es nur ein „Mehr und Minder" gibt.131 Die gemeinsame Betrachtung des ,Sophistes' und des .Philebos' 132 kann somit zur Präzisierung - d.h. ggf. auch zur Ausdifferenzierung dessen beitragen, wovon es bei Schleiermacher heißt, „dass hier [sc. dem .Philebos'] doch wirklich dieselbe Sache von einer andern Seite angesehen wird, und also auch anderer Ausdrükke bedarf"133. Die zwischen ,Sophistes' und .Philebos' differierende Terminologie hat nach Schleiermacher wohl auch den sachlichen Zusammenhang beider Dialoge tendenziell verdeckt.134 Das Bestreben (inzwischen wieder) getrennte Momente zusammenzudenken bzw. als zwei perspektivisch unterschiedene, aber sachlich zusammengehörige Seiten zu begreifen, zeigt sich auch in der programmatischen Verknüpfung von Metaphysik/Ontologie und Logik. Mit der in seiner Dialektik explizit geäußerten Forderung, diese beiden Disziplinen

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möge jeder auf die Bauart des Ganzen, und wie der Zusammenhang unterbrochen und wieder aufgenommen wird, Acht haben, um dadurch auch das, was noch ausser dem offenbar angekündigten gesagt werden soll, wol ins Auge zu fassen; gerade wie wir bei dem Sophisten ermahnen mussten, dem unser Gespräch in seinen grossen Zügen ausnehmend ähnlich ist. [...] Allein genauer betrachtet sieht man, dass manches wichtige und bedeutende zwischen eingeschoben ist, [...] und dies erregt sogleich den Verdacht, dass jene gleich anfangs hingestellte Frage keineswegs die einzige, ja vielleicht nicht einmal die Haupttendenz des Gespräches sei." (PWE II/3, 85f) Hervorzuheben ist das beiden gleichermaßen charakteristische Moment, daß in die Behandlung von etwas - „mitten in jene sich eindrängend" - die Behandlung von etwas anderem „zwischen eingeschoben ist" (PWE II/2, 87 und PWE II/3, 86). Cf. PWE II/3, 87f und 90. In dieser Hinsicht bereitet nach Schleiermacher der .Philebos' den ,Staat' wie den .Timaios' vor (cf. PWE II/3, 89f). Beachtenswert ist hier ferner die explizite Erwähnung von .Sophistes', .Philebos', .Timaios' und ihres gegenseitigen Verhältnisses in Schleiermachers .Geschichte der Philosophie' (cf. GPh 98 und 107f). Auch von daher scheint das hier gewählte - von einer stärker isolierten Betrachtung des Sophistes (präziser: einer den .Philebos' nicht in die Interpretation des .Sophistes' einbeziehende Betrachtung) abweichende - Vorgehen gerechtfertigt. Näherhin handelt es sich um eine Einbeziehung des .Philebos' in die Betrachtung des .Sophistes'. PWE II/3, 87. Namentlich macht Schleiermacher hier einerseits die Vermeidung des im .Sophistes' häufig begegnenden Begriffs des „Nichtseienden" sowie die - auf den .Timaios' verweisende - Nähe zuf „Sprache der Pythagoreer" geltend (cf. PWE II/3, 87). Ohne den nachfolgenden Ausführungen zu stark vorzugreifen, wird der beiden Dialogen gemeinsame Sachzusammenhang hiermit in Schleiermachers eigenen Worten wiedergegeben (cf. hierzu auch PWE II/2,90ff): „Nämlich wie dort [sc. im .Sophistes'] von der Vorstellung ausgehend das nothwendige Ineinander des Fliessenden und Stehenden in der Erkenntnis gezeigt wird, und eben desselbengleichen das nothwendige Ineinander des Seins und Erkennens in demjenigen, welches das Höchste und Ursprüngliche ist: eben so wird hier [sc. im .Philebos'], von demselben Punkt ausgehend, die Art und Weise des gewordenen Seins näher untersucht, und der Ursprung dessen was in ihm das Fliessende ist und das Beharrliche." (PWE II/3, 86) Von hier aus ließe sich die Differenz vorläufig als eine solche der Perspektiven festhalten. Diese wären einmal durch die Dominanz des Erkennens bzw. der Form, dann durch die Dominanz des gewordenen Seins bzw. der Materie gekennzeichnet.

Die Dialektik und der Kern der Philosophie (Sophist)

99

entgegen einer langen, bis zu Schleiermacher wirkmächtigen Tradition als zusammengehörig zu betrachten, beruft sich Schleiermacher auf Piaton, den er auch explizit in Anschlag bringt.135 1.1.4

Die Dialektik und der Kern der Philosophie

(Sophist)

Nachfolgend geht es um eine Klärung der Rolle der Überlegungen Piatos zur Frage der möglichen Gemeinschaft von Begriffen, der Relationsbegriffe und seiner Dialektikkonzeption, wie sie sich besonders in dem Dialog .Sophistes' artikulieren, für die Entfaltung von Schleiermachers eigener Position.136 Schleiermachers Hochschätzung des .Sophistes' ist in erster Linie (wenn auch aus den o.g. Gründen nicht ausschließlich) veranlaßt durch den inneren Teil des Dialogs, insbesondere dessen Kern. In ihm zentriert sich sein Interesse an Piaton deshalb, weil er in ihm den hernteneutischen Schlüssel nicht nur für die Philosophie Piatons zu erkennen glaubt, sondern darüber hinaus auch den zur Philosophie allgemein137: „Wer müsste aber nicht [...] gerade hierin den edelsten und köstlichsten Kern des Ganzen um so gewisser erkennen, als sich hier fast zuerst in den Schriften des Piaton das innerste Heiligthum der Philosophie rein philosophisch aufschliesst".138 Schleiermacher fährt dann weiter fort 139 , indem er dieses „innerste Heiligthum" näher bestimmt: „Denn in dem Lauf der Untersuchung über das Nichtseiende [sc. als dem inneren Rahmen] entsteht, gerade wie sie selbst als ein höheres in der über den Sophisten [sc. als dem Rahmen des Ganzen bzw. äußeren Rahmen] entstanden war, die Frage über die Gemeinschaft der Begriffe, von welcher alles wirkliche Denken und alles Leben der Wissenschaft abhängt [sc. als dem inneren Kern]; und es eröffnet sich auf das bestimmteste die Anschauung von dem Leben des Seienden und von dem nothwendigen Eins- und Ineinander sein

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139

Cf. DAa 5f, 3. Stunde. In diesem Zusammenhang soll auf die überaus gründliche und gehaltvolle, wenn auch kurze Arbeit zur Platon-Rezeption Schleiermachers (mit dem Focus auf dem ,Sophistes') von G. Scholtz (1985) verwiesen werden, die auch im folgenden herangezogen wird. Sie enthält auch zahlreiche Verweise auf ältere Literatur. Cf. G. Scholtz (1985) 850. PWE II/2, 90. Schleiermacher kann aber auch den Dialog .Sophistes' als Zentrum im wörtlichen Sinne der Gesamtheit der Dialoge Piatons ansprechen, wenn es innerhalb der Einleitung in den ,Staat' im Zusammenhang einer „Erklärung dessen, was man unter Philosophiren zu verstehen hat" heißt, daß Piaton dazu „doch sichtlich alles voraussezt, was wir aus den Gesprächen kennen, als deren Kern der Sophist anzusehen ist" (PWE III/ 1, 26f). Das zuvor erwähnte, sich an der Differnz von Kern und Schale orientierende Schleiermachersche Aufbau- und Gliederungsschema der Dialoge Piatons erscheint hier bis zum .Staat' kontinuierlich beibehalten und konsequent durchgeführt. Das folgende bezieht sich in erster Linie auf den sog. inneren, „an sich mehr philosophischein] Theil" (PWE II/2, 87; cf. dazu PWE II/2, 90ff). Der ihn rahmende äußere Teil hat eine Erklärung und Wesensbestimmung des Sophisten zum Gegenstand.

100

Schleiermachers Rekurs auf Piaton

des Seins und des Erkennens. Größeres aber giebt es nirgends auf dem Gebiete der Philosophie" .140 Den hier in der Einleitung zum ,Sophistes' gegebenen Bestimmungen entsprechen in weiten Teilen die Ausführungen Schleiermachers über die Dialektik Piatons in Schleiermachers Philosophiegeschichte141 und seiner Akademieabhandlung über Sokrates142. In dieser wird die Dialektik als die formale Seite der Philosophie - und damit als der Spiegel der realen Philosophie - einmal bestimmt als der notwendige „Zusammenhang alles Erkennens", dann als Abbildung der „Einheit des Seins und Erkennens" und als das „heuristische Princip der absoluten Einheit"143. Nachfolgend wird der sog. innere Teil dieses Dialogs näher in den Blick genommen, wobei wir um der Übersichtlichkeit der Darstellung willen der Unterscheidung zwischen Rahmen und Kern innerhalb des inneren Teils Rechnung tragen144. Gleichwohl hängen diese beiden Textkomplexe sachlich aufs engste zusammen. Die Behandlung der Frage des Wesens des Nichtseienden wird zwar innerhalb der Einleitung in den ,Sophistes' abgehoben von der Behandlung der Frage nach der Gemeinschaft der Begriffe145, aber in textpragmatischer Hinsicht, d.h. im Blick auf die von Schleiermacher für Piaton in Anschlag gebrachte argumentative Funktion - nämlich die Widerlegung der sog. sophistischen Antilogien - , wird in der Regel auf die beiden genannten Gesichtspunkte gemeinsam rekurriert.146 Schleiermacher kann deshalb auch seine Skizze des inneren Kerns und des inneren Rahmens mit folgenden Worten vorläufig beschließen: „Dass also hier in der That das Wesen aller wahren Philosophie ausgesprochen ist, bedarf für den, welcher dessen überhaupt empfänglich ist, keiner weiteren Erörterung."147 1.1.4.1

Das Sein als Drittes inmitten relativer Gegensätze

Den Rahmen des inneren Teils bzw. den inneren Rahmen bildet eine Untersuchung über das Nichtseiende, die in gewisser Weise als ein Beitrag Piatons zur Ontologie gelesen werden kann148, wobei sich Schleiermachers Piatonauffassung z.T. auf eine durch Diogenes Laertius inaugurierte Tradition bezieht149. Im Blick auf Schleiermacher ist hier das Bestreben Piatons ho 141 142 143 144 145 146 147 148 149

p w E

II/2) 9 0 ; H v

jD

GPh 9 7 - 1 1 1 , bes. 98-104. AWSPh. GPh,102f Daraus resultieren die hier gewählten Begriffe „innerer Rahmen" und „innerer Kern". Cf. PWE II/2, 87.90. Cf. GPh lOOf; PWE II/2, 90-95. PWE II/2, 91; Hv. JD. Cf. PWE II/2, 87f. sowie auch G. Scholtz (1985) 8 5 0 - 8 5 2 . Diogenes Laertius hat in ,Leben und Meinungen berühmter Philosophen', welches das einzige vollständige philosophiegeschichtliche Werk des Altertums darstellt, dem Dialog den Titel „Sophistes oder über das Seiende" gegeben (D. Laertius [1921] III, 58). Die naheliegende Vermutung, daß Schleiermacher Diogenes Laertius, insbesondere seine o.g.

Die Dialektik und der Kern der Philosophie (Sophist)

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hervorzuheben, die zeitgenössischen, einseitigen Seinsbegriffe bzw. Seinsbestimmungen (nämlich die der Herakliteer als der sog. Materialisten einerseits, und der Eleaten bzw. Anaxagoreer als der sog. Ideenfreunde andererseits) zu vermeiden, welche einen konträren Gegensatz markieren. 150 Das Gegenüber Piatons wird durch eine zweifache Polarität gebildet, nämlich einmal die zwischen Sein als Prozeß und Prozeßlosigkeit151, dann die zwischen Sein als Einem und Vielem 152 . Piaton löst nach Schleiermacher diese Ausschließlichkeiten auf, indem er darauf drängt, das Sein nicht entweder ausschließlich mit Prozeßlosigkeit oder ausschließlich mit Prozeß zu identifizieren. Das Sein bildet für Piaton ein Drittes, welches beide Bestimmungen als relativen Gegensatz umfaßt. 153 Die spezifische Art der Verknüpfung jeweils beider Momente einer solchen Polarität wird in der Sicht Schleiermachers bestimmt als ein „Durchdringen der Gegensäze" 154 . Piaton erreicht dies durch die Bestimmung des Nichtseins als Verschiedenheit.155 Der häufige Rekurs auf unterschiedliche Formen von Gegensätzen, deren charakteristische Differenzen für den hier erörterten Zusammenhang wesentlich sind, rechtfertigt ein grundsätzlicheres Eingehen auf subkonträre, konträre und kontradiktorische Gegensätze. Die Betrachtung unterschiedlicher Gegensatzformen hat ihren Ort in der Logik. 156

150

151

152 153

154 155

156

Schrift „De vitis, dogmatibus et apophthegmatibus clarorum philosophorum", gekannt hat, wird gestützt durch die inzwischen edierten und publizierten Frühschriften Schleiermachers, worunter sich eine Abschrift samt textkritischer Erörterungen (von vermutlich 1793) zu Laertius findet (cf. KGA 1/1, LXVI-LXVIII und 4 7 3 - 4 8 5 ) . Cf. .Sophistes' 2 3 3 - 2 5 0 . Schleiermachers entsprechendes Urteil in seiner .Philosophiegeschichte' (GPh 104) lautet: „Darum ist er [sc. Piaton] auch von ihrer Einseitigkeit frei." Cf. dazu auch K. Bärthlein (1966) 83-85. Cf. das Gegenüber von Herakliteern (sog. Materialisten) und Eleaten bzw. Anaxagoreern (sog. Ideenfreunden). Zum Logosbegriff bei Heraklit im Gegenüber zu Parmenides cf. W . J . Verdenius (1967). Cf. das Gegenüber von sog. Monisten und Pluralisten. Cf. .Sophistes' 250f-c. In der „Erweiterung und Korrektur der einseitigen, zu engen Seinsbegriffe der Vorgänger durch die Theorie von der Verflechtung der obersten, durch alles Seiende hindurchgehenden Gattungen" erblickt K. Bärthlein (1966, 8 4 , Anm. 19) „das Hauptanliegen Piatons in diesem Dialog". PWE 11/2,91. Wenn G. Scholtz ([1985] 852) meint, daß Schleiermacher in der Argumentation Piatons „eine Art spekulativer Theologie" entdecken zu können glaubt, muß hier angemerkt werden, daß Schleiermacher dies so nicht ausdrücklich sagt - vielleicht auch, weil ein dabei vorauszusetzender Theologiebegriff ein gänzlich anderer wäre bzw. sein müßte als der, den er im Rahmen seiner Enzyklopädie bzw. Kurzen Darstellung zu entwickeln versuchte. Unabhängig davon sind die religiösen Konnotationen in der Ausdrucksweise Schleiermachers hier sicher nicht zu leugnen. Hinzuweisen ist hier auch auf die Rede von Gott als dem terminus ad quem (im Gegenüber zu der von Welt als dem terminus a quo) innerhalb Schleiermachers .Dialektik' (cf. D O 2 9 7 - 3 1 4 , bes. 3 0 2 - 3 0 7 und dazu M . Potepa [1996] 1 2 9 - 1 5 9 , bes. 145-150). Zu Piatons Gegenüber von Sein und Nicht-Sein im .Sophistes' cf. auch den Beitrag von J . Malcolm (1967). Vermittels einer gewissen Formalisierung läßt sich die erreichbare Präzision hinsichtlich der Analyse wie der Darstellung im Vergleich zur traditionellen Logik erheblich steigern.

102

Schleiermachers Rekurs auf Piaton

Eine gute Übersicht bietet das sog. logische Quadrat, dessen Eckpunkte durch die Verschränkung von je zwei Urteilsarten der Gesichtspunkte der Quantität und der Qualität gebildet werden.157 Die Seiten und Diagonalen zwischen jeweils zwei Eckpunkten repräsentieren dann jeweils kontradiktorische, konträre, subkonträre und subalterne Verhältnisse. Zur Formulierung der vier Grundformen der Verschränkung der beiden o.g. Urteilsarten innerhalb der symbolischen Logik bedarf es über die Aussagenlogik hinausgehend der Prädikatenlogik.158 Mit dem von ihr bereitgestellten Instrumentarium lassen sich zwei äquivalente logische Quadrate notieLetztere umfaßt traditionell die drei Bereiche: Begriffs-, Urteils- und Schlußlehre. Einen guten Ein- und Überblick zur traditionellen Logik bieten W . Härle (1982) 6 0 - 8 9 u. 2 6 0 f ; R . Jonas (1900) 1-20 und H. Schupp (1970). Im Zusammenhang der stark formalisierten Form der Logik wird allgemein von moderner oder symbolischer Logik gesprochen. Diese gliedert sich in die Aussagenlogik bzw. das Aussagenkalkül, die Prädikatenlogik, ferner die Modallogik und die deontische Logik, wobei die genannten Kalkülformen nicht einfach nebeneinander stehen, sondern - in der genannten Reihenfolge - aufeinander aufbauen. Für unsere Zwecke sind primär die beiden erstgenannten Kalkülformen relevant. Cf. hierzu einführend das Werk von T . G. Bücher (1987) und besonders die Darstellung von W . Härle (1982) 90-129, welchem hier auch in der weiteren Darstellung gefolgt wird. Aus der Verknüpfung des Gegenübers von universellen und partikulären Urteilen mit dem von bejahenden und verneinenden ergibt sich eine vierfeldrige Matrix:

bejahend

verneinend

universell

universell-bejahend

universell-verneinend

partikulär

partikulär-bejahend

partikulär-verneinend

Eine Darstellung derselben samt einer Darstellung des logischen Quadrats, der die Notation der klassischen Logik zugrundeliegt, findet sich bei W . Härle (1982) 8 3 . 8 5 :

universell |

bejahend* *

universell verneinend

konträr • kon-

kon-

subaltern

subaltern risch

partikular bejahend •*•

subkonträr

partikular verneinend

Neben dem logischen Quadrat bzw. Viereck gibt es noch ein semiotisches Quadrat bzw. Viereck. Cf. zu diesem W . Egger (1989) 99f und 109 (mit weiterführender Literatur). Während es für das logische Viereck charakteristisch ist, mit Quantifikationen zu arbeiten, sind solche beim semiotischen Viereck nicht erforderlich. Diese setzt die Aussagenlogik voraus, erweitert und differenziert aber deren Instrumentarium durch die Einführung von u.a. Quantifikatoren bzw. Quantoren, näherhin des Existenz- und des All-Operators. Cf. hierzu näher W . Härle (1982) 104f. Abweichend von der üblichen Schreibweise werden aus drucktechnischen Gründen in v.U. der Existenzoperator bzw. -quantor durch das Zeichen E und der Alloperator bzw. -quantor durch das Zeichen A wiedergegeben. Mittels diverser Äquivalenzbeziehungen, die den Status von Theoremen haben, lassen sich Aussagen mit einem All-Operator in solche mit einem Existenz-Operator umformen und umgekehrt. Cf. hierzu eingehender W . Härle (1982) 107f.

Die Dialektik und der Kern der Philosophie (Sophist)

103

ren. 1 5 9 Wichtig und weiterführend ist dann weiter die (schon) mit der Aussagenlogik gegebene Möglichkeit der näheren und exakteren Bestimmung von der Funktion und der Bedeutung von Junktoren und Operatoren über Wahrheitswertverteilungen innerhalb von sog. Wahrheitswerttabellen. 1 6 0 So wie sich innerhalb der Aussagenlogik mit diesen Wahrheitswerttabellen neben dem Negations-Operator die Junktoren Konjunktion, Disjunktion, Implikation und Äquivalenz definieren lassen, so ist dies dann auch innerhalb der Prädikatenlogik für die o.g. Verhältnisse innerhalb des logischen Quadrats möglich. 1 6 1 Es lassen sich damit nicht nur die Differenzen zwischen den einzelnen Gegensatzarten präziser und anschaulicher bestimmen, auch ihre Beziehnungen zueinander und untereinander treten eher zutage. 1 6 2 Der Exklusor wie auch der Rejektor bezeichnen zwei Verteilungen, mit deren Hilfe sich jeweils - allein über Verknüpfungen von Exklusor bzw. Rejektor und Negation - alle anderen Verteilungen erzeugen lassen. Es können also alle anderen Verteilungen auf sowohl den Exklusor oder den Rejektor (jeweils in Verbindung mit der Negation)

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Eines der Quadrate wird über den Existenz-Operator generiert, das andere über den AllOperator. Zur Notation der Axiome, mit denen sich die beiden Darstellungen ineinander überführen lassen, und zur Darstellung der Quadrate cf. W. Härle (1982) 107f.255f. Cf. zu Wahrheitswertverteilungen und -tabellen i.R. der Aussagenlogik W . Härle (1982) 95-100. Präziser müßte man sagen, daß es in logischer Hinsicht zwischen einer bestimmten Anzahl (n) von Aussagen eine genau bestimmte Anzahl von möglichen Beziehungen gibt. Diese Anzahl ergibt sich als das Quadrat einer Potenz, deren Basis den Betrag „Zwei" aufweist und deren Exponent n ist. So ergibt sich beispielsweise für zwei Aussagen der Wert 16, für drei Aussagen sind es 2 7 mögliche Beziehungen. Jede der möglichen Beziehungen ist durch die ihr eigene Wahrheitswertverteilung definiert. Diesen durch ihre Wahrheitswertverteilung definierten Beziehungen wurden dann bestimmte - zum Teil schon eingeführte - Bezeichnungen zugeordnet. Eine komplette 16-spaltige Wahrheitswerttabelle für die Gesamtheit der zwischen zwei Aussagen möglichen Beziehungen findet sich bei W. Härle (1982) 97. Für einige ausgewählte Beziehungen, wie sie zwischen (mindestens) zwei Aussagen bestehen können, soll nachstehend die Wahrheitswertverteilung angegeben werden:

Bezeichnung des Verhältnisses

w w

w f

f w

f f

Konjunktion negierte Konjunktion

w f

i

w

f w

w

Disjunktion negierte Disjunktion

w f

w f

w f

f w

kontradiktorisch negiert kontradiktorisch

f w

w f

w f

f w

konträr negiert konträr

f w

w f

w f

w f

subkonträr negiert subkonträr

w f

w f

w f

f w

P