Die Logik als Wissenschaftslehre [Reprint 2019 ed.] 9783111455945, 9783111088556

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Die Logik als Wissenschaftslehre [Reprint 2019 ed.]
 9783111455945, 9783111088556

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
I. Der Glaube
II. Die Erkenntniss
III. Das Wissen

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Die Logik als

Wissenschaftslehre dargestellt

von

Dr. Leopold George, o r d e n t l i c h e m P r o f e s s o r d e r P h i l o s o p h i e an d e r U n i v e r s i l ä t z u G r e i f s w a l d .

Berlin, Druck und Verlag von G e o r g

1868.

Reimer.

Den Manen seines verklärten Lehrers

Friedrich

Schleiermacher

zu seinem hundertsten Geburtstage

in t i e f s t e r Verehrung und

Dankbarkeit

gewidmet

vom

Verfasser.

Y o r w o r t. Xrendelenburg hat gewiss ein sehr wahres und zeitgemässes Wort gesprochen, wenn er, gegenüber der Zerfahrenheit in den heutigen Bestrebungen auf dem Gebiete der Philosophie, in dem Vorworte zur zweiten Auflage seiner logischen Untersuchungen ausruft: „Die Philosophie wird nicht eher die alte Macht wiedererreichen, als bis sie Bestand gewinnt, und sie wird nicht eher zum Bestände gelangen, als bis sie auf dieselbe Weise wächst, wie die anderen Wissenschaften wachsen, bis sie sich stetig entwickelt, indem sie nicht in jedem Kopfe neu ansetzt und wieder absetzt, sondern geschichtlich die Probleme aufnimmt und weiter führt." Aber wenn er sodann es als ein deutsches Vorurtheil bezeichnet, als müsse jeder Philosoph auf eigne Hand beginnen, jeder sein ureignes Princip haben, jeder einen nach einer besonderen Formel geschliffenen Spiegel, um die Welt darin aufzufangen, so können wir uns dies doch nur im Zusammenhange mit dem Vorigen in dem Sinne aneignen, dass dadurch dem gegenwärtigen unruhigen Haschen nach neuen Principien und dem Mangel an

vi

Vorwort.

Stetigkeit gegenüber getreten werden soll.

Andrerseits

theilt das deutsche Volk dieses sogenannte Vorurtheil doch mit dem griechischen,

dessen Philosophen

auch

jeder ein eigenes Princip aufgestellt haben, und es liegt gerade darin der besondere Vorzug,

der beide Völker

zu den auserwählten Trägern der philosophischen Ent.wickelung gemacht hat.

Ist einmal die Philosophie die

Wissenschaft der Principien, so liegt ihr Fortschritt auch nothwendig in der Entdeckung neuer, und es fördert der allein wahrhaft die Philosophie, dem es gelingt, der Welt einen neuen Spiegel vorzuhalten, wenn er nur so geschliffen ist, dass er nicht Zerrbilder von ihr zurückwirft, sondern vielmehr eine klarere und umfassendere Anschauung derselben gestattet.

Dann hebt das Auf-

finden neuer und höherer Gesichtspunkte die Stetigkeit in ihrer Entwickelung nicht auf, und wie die Welt, die von ihnen aus betrachtet wird, ein und dieselbe ist, so findet

der Kundige

in

allen von ihr aufgenommenen

Bildern auch dieselbe wieder.

Ausserdem ist glücklicher

Weise durch die höhere Macht der geschichtlichen Entwickelung selbst dafür gesorgt, dass Niemand allzuweit aus dem Gedankenkreise seiner Zeit heraustreten kann und dass Jeder, wenn er auch neu anzusetzen scheint, doch immer nur unbewusst, spinnt, Je

den Faden etwas weiter

den die Geschichte mit sicherer Hand festhält.

bewusster

Hand leiten

dagegen lässt,

der Einzelne

sich von

dieser

die Errungenschaften der früheren

Zeiten sich aneignet und mit diesem fest begründeten Besitz seinen bestimmten Standpunkt einnimmt,

desto

mehr wird er fördernd in die Entwickelung eingreifen.

VII

Vorwort.

Wenn andrerseits so manche Stimmen laut geworden sind, welche fordern, dass man wieder zu Kant zurückkehren und von ihm lernen müsse,

so ist das ge-

wiss ebenso richtig, inwiefern er noch immer die unversiegbare Quelle ist,

aus welcher wir auch heut zu

Tage zu schöpfen haben und inwiefern die Probleme, die er der Wissenschaft gestellt, noch immer ihrer vollen Lösung harren, aber wenn man damit meint, dass man seine Nachfolger beiseite lassen und ihre

Gedan-

kenproduktionen als blosse Ausartungen ignoriren dürfe, so wäre dies mindestens sehr ungeschichtlich

gedacht.

Jeder von ihnen wollte ja nur die Consequenzen seines Vorgängers ziehen, und wenn sie dadurch nach verschiedenen Seiten hin in einseitige Richtungen hineingetrieben wurden, so liegt das ebensosehr in der Natur einer jeden

geschichtlichen

Entwickelung,

welche

allmälich

alles das, was in dem Princip als Keim angelegt ist, in den mannigfaltigsten Erscheinungen zu Tage fördert, um den ganzen darin enthaltenen Reichthum zu offenbaren.

Um so mehr aber kommt es dann darauf an,

dass sich ein Auge findet, welches die von einem Punkt ausgegangenen zerstreuten Lichtstrahlen wieder in einem Punkte vereinigt,

damit der ursprüngliche Gegenstand

klar und deutlich in einem scharf ausgeprägten Bilde sich wieder erkennen lasse. Als ich vor nunmehr sechsundzwanzig Jahren mit meiner kleinen Schrift über Princip und Methode der Philosophie zuerst auf diesem Gebiet vor die Oeffentlichkeit trat,

suchte ich zu zeigen,

käme,

weiteren Fortschritt

einen

wie es darauf anin

der Erkenntniss

vin

Vorwort.

durch die Vermittelung der entgegengesetzten Bestrebungen Hegels und Schleiermachers zu gewinnen, und ich bezeichnete damit in bestimmter und bewusster Weise den Standpunkt, Entwickelung

von welchem aus ich fördernd in die

der Philosophie

einzugreifen

gedachte.

Noch heute stehe ich mit gleicher Ueberzeugung fest auf demselben Standpunkte, dem nämlichen Ziele zugewandt, das ich damals ins Auge fasste und in meinen nachfolgenden Schriften weiter verfolgte, um zunächst die psychologische Grundlage zu gewinnen, auf welcher nach

meiner Ansicht

ruhen muss.

eine

richtige

Erkenntnisslehre

Es lag in Kant ebensosehr ein realistisches

als ein idealistisches Princip, durch deren Combination er die früheren einseitigen Richtungen des Empirismus und Rationalismus

bekämpfte und überwand.

Wenn

seine Nachfolger wiederum einseitig das eine oder das andere betonten und weiter entwickelten, so verliessen sie damit auch wieder den hohen, umfassenden Standpunkt, welchen Kant eingenommen hatte und es galt, denselben wieder zu gewinnen.

Inzwischen haben viele

Andere auf dasselbe Ziel hingearbeitet, aber mehr eklektisch eine Vermittelung erstrebt.

Die Wissenschaftslehre,

welche ich hiemit der Oeffentlichkeit übergebe,

stellt

sich nun mit voller Entschiedenheit auf diesen Standpunkt, indem sie dem idealen wie dem realen Princip die gleiche Berechtigung einräumt und damit zugleich der empirischen wie der rationalen Erkenntniss die gebührende Stelle in der Wissenschaft vindicirt.

Es giebt

aber nur einen Weg zur Wahrheit und nur ein und dieselbe Methode der Erkenntniss für alle Wissenschaften,

Vorwort.

IX

welche diese selbst instinktmässig in dem Ringen mit ihrem Inhalt befolgen und ausbilden; die WisSenschaftslehre soll dieses Werden der Wissenschaft in bewusster Weise darlegen, indem sie auf die Art, wie diese sich thatsächlich gestaltet, eingeht und darin den Gesetzen nachspürt, nach denen sie durch ihre mannigfaltigen Stadien hindurch sich entwickeln muss. Hier zeigt sich denn, wie alle die Versuche, welche die Philosophie seit Baco und Cartesius gemacht hat, um in das Wesen der Wissenschaft einzudringen, jeder auf seinem Standpunkte, wohl begründet und berechtigt gewesen sind und alle auf dasselbe Ziel hinführen, so dass wir keine von den Errungenschaften des Denkens wegzuwerfen brauchen, sondern uns derselben vielmehr als eines festen Bestandes und wohl erworbenen Besitzes erfreuen dürfen. Die Philosophie hat sich zu allen Zeiten stetig entwickelt und es gehört nur ein tieferer Blick dazu, um in der Geschichte derselben trotz des fortwährenden Streites der Ansichten überall den continuirlichen Faden herauszufinden, aber nirgends liegt der innige Zusammenhang in der fortschreitenden Entwickelung klarer zu Tage als in der Zeit, welche sie seit dem Wiederaufleben der Wissenschaften durchgemacht hat, und wenn es unserer Wissenschaftslehre gelungen sein sollte, wie sie es sich hat angelegen sein lassen, diese Ueberzeugung zu fördern und zu kräftigen, so würde der Verfasser darin einen ganz besonderen Gewinn sehen; denn nur dadurch kann das Vertrauen zu der Philosophie wieder erstarken und sie die Stellung von Neuem

I

Vorwort.

erlangen, die ihr gebührt und die sie leider in unseren Tagen mit durch ihre eigne Schuld verloren hat. Diese Stellung aber, welche die Philosophie zu den übrigen Wissenschaften einzunehmen hat, ihr bestimmt und richtig anzuweisen war das Ziel, welches unsere Wissenschaftslehre sich vorzugsweise gesteckt hat, und wenn sie dieselbe einnimmt und sich wahrt, so wird es ihr und allen übrigen Wissenschaften zum Segen gereichen. G r e i f s w a l d , den 31. März 1868. L. George.

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.

Seile

Einleitung

1

I. D e r G l a u b e 1. Die Meinung 2. Das Vertrauen 3. Die Gewissheit 4. Die Vermuthung 5. Die Wahrscheinlichkeit 6. Die Ueberzeugung 7. Die Ahnung 8. Der Zweifel 9. Die Wahrheit 10. Die Unwahrheit, Irrthum, W a h n , Aberglauben und Unglauben II. D i e B r k e n n t n i s s 1. Die Subjektvorstellung 2. Die Prädikatvorstellung 3. Das Urtheil 4. Das Induktionsverfahren 5. Das Deduktionsverfahren 6. Der Begriff 7. Das Princip 8. Die Methode 9. Das System

. . . .

48 56 65 82 98 109 121 134 144 167 184 220 230 260 278 307 340 388 419 437 473

xn

Inhalt.

III. D a s W i s s e n 1. Die Entdeckung 2. Die Beobachtung 3. Die Erfahrung 4. Die Hypothese 5. Die Analogie 6. Das Experiment 7. Die Theorie 8. Die Praxis 9. Das philosophische oder spekulative Wissen

Seile

482 488 496 514 527 544 557 581 601 624

Einleitung Es giebt wohl keine Wissenschaft, welche in dem Laufe der Zeiten eine so verschiedene Behandlung erfahren und demgemäss auch einen so verschiedenen Inhalt in sich aufgenommen hat, als die Summe der Erkenntniss, die man unter dem Namen der L o g i k zu befassen pflegt. Am engsten ist ihr Feld begrenzt, wenn sie mit voller Entschiedenheit die Rücksicht auf jeglichen Inhalt der Erkenntniss von sich ausschliesst und als rein f o r m a l e Logik einzig und allein die Gesetze des Denkens in den drei Formen des Begriffs, Urtheils und Schlusses entwickeln will. Sie steht hier noch ganz auf dem Standpunkt der Beschreibung, mit welchem in der Tliat jede Wissenschaft beginnt, und indem sie die gegebenen Formen der Erkenntniss darstellt, betrachtet sie das Denken als das Instrument derselben, welches richtig- angewandt zu einem wirklichen Wissen führen inuss. Aber niemals ist das Instrument gleichgültig gegen den Stoff, den es bearbeiten soll, und so macht sich denn auch dabei von vorn herein der Zweifel geltend, ob das Denken überhaupt als eine rein geistige Thätigkeit im Stande sei uns über das Wesen der materiellen Dinge irgend welchen Aufschluss zu gewähren. Die formale Logik kann diese Frage nicht beantworten und weist sie bestimmt von sich ab, indem sie sich mit der unbefangenen Vorstellung begnügt, dass das Denken ein Abbild der Wirklichkeit erzeugt, ohne zu entscheiden, wie weit beide mit einander übereinstimmen. Aber ist einmal der Zweifel geweckt, so lässt er sich nicht so einfach abweisen ohne gründlich über(¡t'oriii', Loijik a l s WissensoliuHsL

1

2

Einleitung.

wunden zu werden, und dies kann nur geschehen, indem auf den Inhalt der Erkenntniss die gebührende Rücksicht genommen wird. Da tritt nun in der schroffsten Weise jener formalen Behandlung der Logik die sogenannte s p e k u l a t i v e entgegen, welche den Anspruch macht mit dem reinen Denken den ganzen Inhalt der Erkenntniss zu erzeugen. Nur auf diese Weise glaubt sie das höchste Problem des Wissens, welches vollkommene Uebereinstimmung zwischen der Erkenntniss und ihrem Inhalte verlangt, vollständig zu lösen, und sie schlägt jenen Zweifel nieder, indem sie von vorn herein die Identität zwischen Denken und Sein nachzuweisen versucht. Damit zieht sie natürlich den ganzen Inhalt der Erkenntniss nach ihren allgemeinsten Formen in die Logik hinein, und diese wird, während sie sonst nur als Vorbereitung und Organon für die Philosophie erschien, nicht nur die höchste philosophische Wissenschaft sondern eigentlich in der That die ganze Philosophie selbst. Zwischen diesen entgegengesetzten Behandlungsweisen der Logik giebt es nun eine grosse Anzahl von Darstellungen, welche, unbefriedigt von dem rein formalen Standpunkt, dem Erkenntnissprobleme selbst näher treten und die Möglichkeit des Wissens zu begreifen suchen, ohne doch auf jenen spekulativen Standpunkt einzugehen, den sie ebensosehr für einen verwerflichen erklären, und das ist in der That die Lage der Sache in der Gegenwart, in welcher eine W i s s e n s c h a f t s l e h r e angestrebt wird, die nachweisen soll, wie durch die Wechselwirkung zwischen dem Denken und Sein ein wirkliches Wissen zu Stande kommt, oder, was dasselbe ist, wie das Denken zum Wissen wild, womit die eigentliche Aufgabe der Logik in der kürzesten und bestimmtesten Weise bezeichnet wird. Seit der Erneuerung der Wissenschaften ist die Lösung dieses Problems das Ziel der Philosophie gewesen, und es wurde zunächst dieselbe nach zwei ganz entgegengesetzten Eichtungen hin versucht, welche parallel neben einander hergingen. Die von Baco ausgehende empirische Richtung bestand darauf, dass ein wirkliches Wissen nur durch strenge Hingabe an die Thatsachen vermittelst der unbefangenen Beobachtung gewonnen werden könne, die von Cartesius ausgehende rationalistische Richtung wollte nur das Denken selbst als das allergewisseste gelten lassen und erklärte das, was klar und deutlich gedacht werde, für das Wahre, woraus natürlich folgte, dass alle Wahrheit sich

3

Einleitung.

durch reine Ableitung aus der Vernunft ohne alle Rücksicht auf die Erfahrung zu bewähren habe.

Aber beide Richtungen

er-

wiesen sich in ihrer Entwickelung als einseitig und als unfähig eine wahre Wissenschaft zu begründen; die empiristische Richtung löste sich auf in den Humeschen Skepticismus, welcher die Unmöglichkeit

auf dem W e g e der Erfahrung den strengen An-

forderungen des Wissens wirklich zu genügen schlagend nachwies und sich beschied dieselben auf das bescheidenere Maass einer

grösseren

drücken, vornherein

die

oder

geringeren

rationalistische

Wahrscheinlichkeit

Richtung

scheiterte

herabzu-

an der

von

für sie zur Unmöglichkeit gewordenen Aufgabe die

materielle Welt zu begreifen und namentlich an dem Versuche die thatsächliche Wechselwirkung Verhältniss zur Aussenwelt

von Leib und Seele und ihr

zu erklären.

Da

ergriff K a n t

seinem unsterblichen Hauptwerk d e r K r i t i k d e r r e i n e n nunft

energischer das

Grundproblem,

die

in

Ver-

Bedingungen

der

Wissenschaft zu untersuchen und die Grenzen der Erkenntniss auszumessen, und wurde damit der grosse Wendepunkt in der Entwickelung der neueren Philosophie überhaupt und der eigentliche Begründer der Wissenschaftslehre

insbesondere.

Kant hat es gelernt die Einseitigkeit der beiden vorangegangenen

Richtungen

zu vermeiden

und ist überzeugt

davon,

dass das Wissen nur aus einer Combination derselben hervorgehen könne.

Es ist ihm ebenso gewiss, dass wir die Existenz

der Gegenstände nur vermittelst der Erfahrung erfassen, w i e es ihm auf der anderen Seite feststeht, dass die empirische Erkenntniss die strengen Forderungen

der Wissenschaft in Beziehung

auf Nothvvendigkeit und Allgemeingültigkeit ihrer Urtheile nicht zu befriedigen im Stande ist und dass es dazu einer apriorischen Ableitung derselben aus der reinen Vernunft bedarf, wie sich dies thatsächlich in der mathematischen

Wissenschaft bewährt,

die eben deshalb jenen Anforderungen anerkannter Massen am vollständigsten genügt.

Ihm beruht daher das Wissen durchaus

auf dem Zusammenwirken von sinnlicher Empfindung und reinem Denken; j e n e giebt den Inhalt her, dieses die Form; ohne entsprechende Empfindung ist das Denken leer, ohne Denken

ist

die blosse Empfindung blind, die chaotische Masse der mannigfaltigen Eindrücke

muss erst durch die Kraft des Denkens ge-

orduet, in gesetzmässiger Weise gesondert und zur Einheit verknüpft werden.

Es kann daher unser Wissen nicht durch die 1*

4

Einleitung.

blosse Einwirkung der Dinge auf uns erklärt werden, sondern es kommt immer von Seiten unserer Seele ein innerer Faktor hinzu, durch welchen sie sich d a s Gegebene selbsttätig aneignet und es dadurch erst zu einem wahren und dauernden Besitze gestaltet. So ist unsere sinnliehe Auffassung selbst schon an die ihr eigentümlichen und angebornen Formen von Raum und Zeit gebunden, durch welche die Seele die in ihr durch die Dinge entstehenden Empfindungen neben und nach einander ordnet und sie dadurch erst zu wirklichen Anschauungen macht. An dem so gewonnenen Stoff werden dann durch das D e n k e n nach gewissen ihm selbst angehörigen Normen Beziehungen aufgesucht, das Mannigfaltige zur Einheit verknüpft und so das geordnete Ganze der Erkenntniss erzeugt, welches den Inhalt der Erfahrungswissenschaften bildet. Diese Arten der Verknüpfung, an welche das menschliche Denken durch seine eigene Natur gebunden ist, geben die zwölf Kategorien, die den zwölf Urtheilsformen entsprechen, in denen unser Denken sich vollzieht. Sie sind mit den beiden Formen der Anschauung das a priori Feststehende, Notwendige und Allgemeingültige in unserer Erkenntniss, nach welchem sich der wechselnde Inhalt derselben richten muss, und man sieht ein, wie Mathematik und Naturwissenschaft als reine Erkenntnisse möglich sind. Freilich aber folgt auch ebenso aus diesen Voraussetzungen, dass das Gebiet des Uebersinnlichen, für welches es keine entsprechenden Anschauungen giebt, der Erkenntniss völlig entrückt ist, dass die Vernunftideen einer Seele, einer intelligiblen Welt und eines Gottes uns Uber die Realität derselben keinen Aufschluss gewähren können und dass selbst in Beziehung auf die in die Sinne fallenden Gegenstände eine Ergrlindung des Dinges an sich schlechthin unmöglich ist, indem die von uns hinzugebrächten Formen der Anschauung von Raum und Zeit sich nie davon trennen lassen und also auch nur die Erscheinung derselben uns zugänglich wird. War nun einerseits durch diese Untersuchungen Kant's eine gewisse Einsicht in die Möglichkeit einer Wissenschaft durch das Zusammenwirken von sinnlicher Empfindung und reinem Denken angebahnt, so waren doch andrerseits die Grenzen unseres Wissens so eng gezogen, dass der Geist für immer auf die Lösung der höchsten und wichtigsten Probleme völlig verziehten sollte und doch nicht einmal das innerhalb dieser Schranken übrig bleibende Gebiet gegen allen Zweifel sicher gestellt sah.

Einleitung.

5

Sind nämlich sinnliche Empfindung und Denken, wie Kant annimmt, ihrer Natur nach völlig disparat, so ist nicht einzusehen, wie überhaupt ein Zusammenwirken beider möglich sei, wie die Formen unserer Anschauung und unseres Denkens auf ein Sein Anwendung finden können, in welchem gar nichts ihnen entsprechendes sich vorfindet, und wie die von den Dingen an sich herrührenden Eindrücke in unser denkendes Bewusstsein aufgenommen werden sollen, wenn in ihnen gar nicht solche den Kategorien adäquate Beziehungen enthalten sind, durch welche wir sie allein zu denken vermögen. Dadurch wird das Ding an sich selbst problematisch und die von Kant mit voller Entschiedenheit festgehaltene Erscheinung realer Gegenstände löst sich in bedenklicher Weise in einen leeren Schein auf. Soll daher die Wahrheit unserer Erkenntniss gerettet werden, so ist es unumgänglich nothwendig nachzuweisen, dass die Formen unseres Denkens den Formen des Seins wirklich adäquat sind und dass wir die Dinge in unseren Begriffen und Urtheilen grade ebenso sondern und verknüpfen, wie sie in der Wirklichkeit gesondert und verknüpft sind. Da bieten sich denn nur zwei Möglichkeiten dar; entweder sind Denken und Sein in Wahrheit völlig identisch und ihre Differenz ist nur ein Schein, der dem im Denken Ungeübten wohl begegnet aber vor der tieferen Einsicht verschwindet, oder die Differenz besteht zwar, aber sie ist keine absolute sondern es liegt ihr eine ursprüngliche Einheit zum Grunde, welche nur nachgewiesen zu werden braucht um die Möglichkeit einer Uebereinstimmung zwischen den Formen des Seius und des Denkens begreiflich zu finden. In dem ersteren Falle ist die idealistische Auffassung die allein wahre und das reine Denken behält Recht, während der Schein eines Seins ausser dem Denken in der verworrenen und unklaren sinnlichen Empfindung wurzelt, die deshalb bei der wahren Erkenntniss völlig beseitigt werden muss, in dem andereu Falle wird die idealistische Auffassung mit der realistischen vermittelt werden, die sinnliche Anschauung behält neben dein Denken ihre volle Bedeutung und nur durch eine fortwährende Wechselwirkung beider kann das Wissen erwartet werden; in dem ersten Fall versteht es sich von selbst, dass die Kategorien des Denkens auch die des Seins sind, und die Logik geht in diesen metaphysischen Nachweis auf und wird vollständig zur Metaphysik, in dem andereu Falle gilt es einerseits die ursprüngliche Einheit

6

Einleitung.

in der -Differenz von Denken und Sein nachzuweisen und damit die Möglichkeit der Wissenschaft überhaupt zu begreifen, andrerseits die, richtige Methode der Erkenntniss, durch welche auf jener Grundlage eine wirkliche Uebereinstimmung zwischen Denken und Sein erreicht wird, darzulegen; und so zertheilt sich die Aufgabe der Wissenschaftslehre in einen metaphysischen und einen logischen Theil, welche aber auf das Engste zusammengehören, da nur durch diese Untersuchungen nach beiden Richtungen hin das Problem der Wissenschaft zu lösen ist. Der eine Weg ist zunächst von Fichte betreten und von Hegel weiter verfolgt worden, den anderen hat Schleiermacher vorgezeichnet und Trendelenburg durchgeführt, beide aber sind Consequenzen aus Kant'schen Grundanschauungen. Betont man die eine Voraussetzung, von welcher Kant ausgeht, dass nur synthetische Urtheile a priori eine nothwendige und allgemein gültige Erkenntniss zu geben vermögeu, während jede auf der sinnlichen Empfindung beruhende Erfahrung eine zufällige bleibt, so ergiebt sich auch folgerichtig, dass unser wahres Wissen nur so weit reicht, als wir es a priori zu construiren im Stande sind, und besteht zwischen dem Inhalt der Empfindung und den Formen des Denkens gar keine Uebereinstimmung, so wird es unbegreiflich, wie wir Uberhaupt von jenem ein Bewusstsein haben können, und das Ding an sich bleibt nicht allein völlig unerkennbar, sonderu wir vermögen auch nicht einmal zu sagen, worauf die Annahme seiner Realität in der That noch beruht. Gilt dagegen die andere Voraussetzung, dass die Formen der Anschauung und des Denkens an sich leer sind und erst einer Erfüllung durch den Inhalt der Empfindung bedürfen, j a dass wir nur durch die letztere zu der Anerkennung realer Gegenstände ausser uns gelangen, während das reine Denken uns Uber die wirkliche Existenz des Gedachten niemals einen Aufschluss zu geben vermag, so gehört die Empfindung und die auf sie gegründete Erfahrung als ein unentbehrlicher Faktor zu unserem Wissen, und es hilft uns für dasselbe nichts, wenn die N o t wendigkeit und Allgemeingültigkeit nur unseren Denkformen und den daraus abgeleiteten Combinationen nicht aber auch zugleich dem Inhalte der Erfahrung zukommt. Hier liegt der Widerspruch zu Tage, der, wenn er bestehen bleibt, das Wissen unmöglich macht, also auch nothwendig zu einer Lösung hintreibt. Folgen wir der ersten Voraussetzung, so muss unser Wissen allein auf

Einleitung.

7

dem reinen Denken begründet werden und es entsteht die Aufgabe nachzuweisen, dass das wahrhaft gedachte auch wirklich ist, j a dass nur in dem Denken wahre Realität besteht, die Sinnlichkeit den Schein hervorbringt und das Ding an sich diesem augehört, wo dann das Aeusserste geleistet wird, wenn wir uns zugleich von der Ursache dieses Scheines zu überzeugen vermögen; folgen wir der andern Voraussetzung, so kann das Wissen nur auf einer Combination von sinnlicher Wahrnehmung und Denken beruhen, aber dann müss auch nachgewiesen werden, dass ein Zusammenhang zwischen Empfindung und Denken besteht und dass die allein dem letzteren angerühmte Nothwendigkeit und AllgemeingUltigkeit auch der Erfahrung zukommt, indem die sinnlichen Eindrücke von Thatsachen, die in vollkommener Gesetzmässigkeit erfolgen, herrühren. Es war natürlich, dass der erste Weg zuerst eingeschlagen wurde, denn es drehte sich j a die ganze Kritik der reinen Vernunft um die Frage, ob synthetische Urtheile a priori möglich seien und der eigentliche Fund derselben gipfelte in dem Ausspruch, dass die Erfahrung sich nach den Gesetzen des Denkens richten müsse. Was war also folgerichtiger, als dass man das Ding an sich, welches die vollkommene Erkenntniss hemmte und von welchem doch schlechterdings nichts auszusagen war, als den letzten Rest einer noch nicht völlig überwundenen alten Anschauung zu beseitigen strebte? So glaubte daher F i c h t e nur die Consequenzen aus den Kantischen Voraussetzungen zu ziehen, wenn er es unternahm, aus dem selbstbewussten Ich vermittelst einer neu erfundenen Methode die von jenem nur thatsächlich aufgenommenen Kategorien des Denkens und Formen der Anschauung förmlich abzuleiten und den Schein einer dem Denken sich aufdrängenden von ihm verschiedenen Aussenwelt als einen in der Natur des Denkens selbst begründeten aufzuzeigen, womit eine W i s s e n s c h a f t s l e h r e gefunden war, welche zu ihrer Aufstellung keines anderen Werkzeuges als des reinen Denkens bedurfte. Aber die unbegreiflichen Schranken, welche Fichte einzuführen sich genöthigt sah um an ihnen die freie Thätigkeit des denkenden Ich's sich reflektiren und so eine scheinbare Objektivität zurückspiegeln zu lassen, waren nur eine Wiederherstellung des leidigen Dinges an sich in veränderter Form und mussten den in jugendlicher Begeisterung kühn unternommenen Bau in seinen Grundfesten erschüttern. Eine Wissenschaft von

8

Einleitung.

der Natur war mit diesen Mitteln nicht zu erreichen und Fichte hat nie den Versuch zu einer solchen gewagt; aber es war auch damit nicht zu begreifen, wie die thatsächlich vorhandene Erkenntniss derselben, die doch nicht gänzlich wegzuleugnen war für wie unvollkommen man sie auch ansehen mochte, überhaupt zu erklären sei. Ausserdem konnte er für seine Ethik die Erscheinungswelt nicht ganz entbehren, denn die an sich unbegreiflichen Schranken sollten grade hier ihre Begreiflichkeit 'finden, aber wenn er das, was er von ihr gebrauchte, aus der Vernunft zu construiren versuchte, so muss dieser Versuch als ein völlig misslungener bezeichnet werden. H e g e l ' s Verdienst ist es den von Fichte angeregten Gedanken in seiner ganzen Consequenz durchgeführt zu haben. Er unterzog sich dem kühnen Unternehmen mit Beiseitesetzung jeglicher Erfahrung durch seine dialektische Methode das ganze System des Wissens zu deduciren und so thatsächlich den Beweis zu liefern, dass das reine Denken dies zu leisten im Stande sei. Ausgehend von dem Begriff des Seins, welcher nach Abstraktion von allem empirischen Inhalt als der letzte Rest von welchem nicht mehr abstrahirt werden könne übrig blieb, entwickelte er zunächst das ganze System der Kategorien, als deren letzte sich die absolute Idee selbst ergab, und damit hoffte er nachgewiesen zu haben, dass Denken und Sein identisch seien. Unter diesen Kategorien befanden sich auch die bisher nur als subjektive Operationen des Denkens geltenden Formen, Begriif, Urtheil und Schluss • in allen ihren Modifikationen, sie mussten demgemäss als eben so viele Formen des objektiven Seins und Denkens angesehen werden, und es war nunmehr begreiflich, wie unser Denken von Statten gehen und zur vollen Erkenntniss führen kann, da nicht die geringste Spur eines heterogenen Inhalts zurückbleibt und das subjektive Denken nur den im Sein enthaltenen objektiven Gedanken nachzugehen braucht. So war an Stelle der formalen eine spekulative Logik geschaffen, und diese fiel mit der bisher gesonderten Metaphysik gänzlich zusammen, da Denken und Sein sich völlig deckten. Aber damit hielt Hegel seine Aufgabe nicht für beendigt, er leitete nun auch aus der Idee die Philosophie der Natur und des Geistes ab und führte diese bis zum Begriff des absoluten Wissens fort, so dass endlich das stolze Gebäude der Wissenschaft in allen Theilen ausgebaut vorlag. Man konnte freilich

Einleitung.

9

bei der zum Theil verwegenen Construktion der Natur sich eines bedenklichen Kopfschütteins nicht enthalten, aber das durfte mit der Sprödigkeit des Stoffs entschuldigt werden, der sich noch nicht überall den Gesetzen des Denkens gleichmässig unterwarf; weit bedenklicher war es schon, dass gewisse Begriffe,. wie Mechanismus, Chemismus, Leben, Erkennen, die Idee des Wahren und Guten, in der Logik vorweggenommen waren und hernach doch in der Natur- und Geistesphilosophie noch einmal wiederholt werden-mussten, was sich mit der strengen dialektischen Methode, die jedem Begriff seine feste Stellung in dem System anweisen sollte, nicht recht zu vertragen schien. Entweder war die Methode nicht mit voller Sicherheit angewendet oder die Begriffe wurden an verschiedenen Stellen in verschiedenem Sinne genommen. Desselben Gedankens konnte man sich nicht erwehren bei der Beziehung des subjektiven Denkens zu dem objektiven, der Ausdruck schien in einem nur metaphorischen und deshalb irreführenden Sinn gebraucht, wenn man sich vorstellen sollte, wie das Denken den Gedanken des Seins nachgeht mit welchen dieses sich selber denkt, und doch liegt darin die ganze Grundidee des Systems ausgesprochen. Wie aber steht es mit dem an die Spitze gestellten Verlangen, dass weil die Philosophie voraussetzungslos zu beginnen habe, aller in dem bisherigen Denken und in der Erfahrung gewonnene Inhalt vergessen und verworfen werden müsse, um mit dem reinen Denken gänzlich von vorn anzufangen? Schleiermacher hat in seiner Dialektik mit Recht darauf hingewiesen, dass diese Forderung schlechterdings nicht zu realisiren sei; geht doch mit der Entleerung von allem Inhalt das Denken selbst verloren, und wie es an der Reflexion über ein mannigfaltiges Material von Gegenständen von Jugend auf geübt wird und nur allmälich daran erstarken k a n n , so hält es die gewonnene Kraft auch nur fest in Verbindung mit dem erlernten Wissen und in dem fortwährenden Gebrauch der im Gedächtniss reproducirten Vorstellungen. Aber man kann zweifeln, ob, trotz der scharfen in dieser Beziehung von ihm immer gebrauchten Ausdrücke, doch diese Forderung bei Hegel wirklich so ernst oder in dem eigentlichen Sinne, zu welchem diese Ausdrücke berechtigen, gemeint gewesen sei. Sinnliche Empfindung und Anschauung sind j a auch nach ihm die n o t w e n d i g e n Vorstufen in der Entwickelung des denkenden Geistes, und wie nach seiner Betrachtungsweise die niederen

10

Einleitung.

Momente in den höheren als einseitige zwar aufgehoben aber ihrem Inhalte nach aufbewahrt sind, so muss dies auch bei dem Denken seine Geltung finden. So hat denn auch Trendelenburg in seiner scharfen Kritik der Hegeischen Methode ihr hinreichend nachgewiesen, dass die sinnliche Anschauung immer im Hintergrunde steht und bei der fortschreitenden Produktion der Begriffe mit in dieselbe einfliesst. Endlich kann man Hegel zugeben, dass wenn das menschliche Denken, wie er meint, mit dem absoluten und schöpferischen Denken Gottes identisch wäre und dieser in dem Philosophen erst zum Bewusstsein über sich selbst käme, jenes auch im Stande sein mtisste das ganze Wissen aus sich selbst zu produciren, aber die Schranken unserer endlichen immer im Werden begriffenen Erkenntniss erinnern uns nur zu sehr daran, dass dieses stolze Bewusstsein ein eitles ist, und dass wir nur mit Hülfe der Erfahrung in der thatsächlichen Welt als der Schöpfung Gottes den darin niedergelegten ewigen Gedanken immer mehr nachzudenken berufen sind. Dies führt hinüber zu dem anderen Wege die Aufgabe zu lösen, welchen zunächst S c h l e i e r m a c h e r in seiner Dialektik betrat. Das Wissen ist ihm dasjenige Denken, welches vorgestellt wird als einem Sein entsprechend und zugleich mit der Nothwendigkeit, dass es von allen Denkfähigen auf dieselbe Weise producirt werde. Denken und Sein ist für uns ein ursprünglicher aber aufzulösender Gegensatz, der erst im Wissen zur Identität gebracht werden soll, wir besitzen ihn als einen solchen unmittelbar in unserem Selbstbewusstsein, indem wir Denken und Gedachtes zugleich sind, und wir haben unser Leben nur im Zusammenstimmen beider. Wären nun Denken und Sein schlechthin incommensurabel, so wäre ein Wissen nicht möglich, es muss also eine Uber den Gegensatz hinausliegende Einheit geben, welche beide mit einander verbindet. Andrerseits kann es ein Wissen nur geben, wenn die organische Funktion, vermöge deren das Sein auf unser Denken einwirkt und die intellektuelle Funktion, vermöge deren die Mannigfaltigkeit der Empfindung zur Einheit verknüpft wird, zusammenstimmen und beide für alle Denkfähigen dieselben sind. Daraus ergiebt sich für die Dialektik als die Kunst der richtigen Gesprächftihrung, die den Streit in dem unvollkommenen Denken schlichten soll, die doppelte Aufgabe, jene über den Gegensätzen schwebende Einheit nachzuweisen und die Gesetze für die richtige Verknüpfung

Einleitung.

11

im Denken aufzustellen, damit die Ueberzeugung entstehen könne, dass wir in unserem Denken das Gedachte gerade ebenso verknüpfen, wie die Dinge in der Wirklichkeit verknüpft sind. Es sondert sich daher ein transcendentaler und ein technischer Theil, von welchen jener überwiegend metaphysischer Natur die Principien des Wissens untersucht, dieser mehr der formalen Logik entsprechend die Regeln fiir die Hervorbringung des Wissens zu seinem Gegenstande hat. Aber die Lösung der so gestellten Aufgabe wird in bedenklicher Weise getrübt durch das Resultat, dass jene gesuchte über die Gegensätze von Denken und Sein hinausliegende Einheit, welche nichts anderes als die Gottheit selbst ist, zwar schlechthin postulirt werden müsse, aber doch niemals Gegenstand des Wissens selbst werden könne, da dieses seiner Natur nach stets in der einen Seite des Gegensatzes versire und über diese Schranke sich nicht zu erheben vermöge, j a dass jene Einheit zwar als der transcendentale Ausgangspunkt alles Wissens in jedem Akte desselben mitenthalten sei, aber dass doch bei allem Fortschritt der Erkenntniss niemals auch nur die geringste Annäherung zu einem Wissen von ihr stattfinde. Dadurch wird die ganze Möglichkeit des Wissens selbst wieder problematisch; denn ist das, worauf der einzige Grund unseres Wissens beruht, niemals selbst ein gewusstes, so wird damit der Skeptiker nicht überwunden, welcher die Rcalisirbarkeit der Wissenschaft überhaupt leugnet, um derentwillen diese transcendentale Einheit postulirt wird an die er ebenso wenig glaubt. Ebenso stellt es nun auch auf der anderen Seite mit dem Gegensatz zwischen organischer und intellektueller Funktion, zwischen sinnlicher Empfindung und Denken. Das Wissen fordert eine Uebereinstimmung beider, aber wie dieselbe zu Stande komme und überhaupt nur denkbar sei, wird nirgends zur Anschauung gebracht. Schleiermacher beweist sich stark darin, jede Einseitigkeit vermeidend, die Bedingungen klar hinzustellen, unter denen allein ein Wissen möglich ist, aber den, der gerade in dieser Vereinigung diametral gegenüberstehender Gegensätze eine unlösbare Schwierigkeit findet und deshalb an der Realisirung der Erkenntniss verzweifelt, belehrt er nicht, indem er ihm nicht die Mittel an die Hand giebt, das Geforderte zu vollziehen. Hier greifen nun die logischen Untersuchungen T r e n d e l e nb u r g ' s fördernd ein, indem sie die Einheit, welche Denken und

12

Einleitung.

Sein mit einander verbindet, wirklich

zur Anschauung bringen

und damit die Möglichkeit des Wissens begreiflich machen.

Er

findet dieselbe in der B e w e g u n g , welche ebenso sehr einerseits alle Naturprocesse

in der äusseren Welt erzeugt und alle Ge-

staltung der Materie bedingt, als sie andrerseits die Operationen des Denkens beherrscht und eine innere Gedankenwelt schafft, die das Gegenbild von jener

darstellt.

Hier

zeigt sie sich zu-

nächst in der construktiven Thätigkeit der Anschauung, in dem Kaume des Gedankens Punkte

und Linien

welche

verzeichnet

und so die Bilder entwirft, die sie mit den von der Aussenwelt dargebotenen zur Deckung bringt; sie offenbart sich aber ebenso auch in der unterscheidenden und verbindenden Thätigkeit des Verstandes, welche lebendig vorgestellt auf die Bewegung zurückgeführt werden muss.

So hat es denn keine Schwierigkeit mehr

Kaum und Zeit ebenso objektiv in der realen Welt aus der Bewegung abzuleiten als sie in der des Gedankens durch die Anschauung entstehen zu lassen, und wir dürfen nunmehr mit Kant sie für a priori erzeugte Formen der Anschauung, welche unser Denken selbthätig

auf die Dinge anwendet, anerkennen,

ohne

deshalb in den Zweifel zu verfallen, als ob ihnen in der Aussenwelt gar nichts entspräche. In gleicher W e i s e verhält es sich auch mit den Kategorien; Trendelenburg weist sie als notbwendige gung nach, welche nicht minder

Produkte

der Bewe-

der äusseren Welt eingeprägt

sind als sie der Thätigkeit des Gedankens angehören.

Ist auf

diese Weise ein fester Grund gelegt, welcher gegen die Skepsis schlitzt und das Zustandekommen des Wissens sicher stellt, so lässt sich darauf auch weiter fortbauen und es gilt nunmehr die eigenthümlichen Formen des Denkens aufzusuchen, durch welche die Aufgabe der Erkenntniss wirklich gelöst wird, mit der Zuversicht, dass die Formen und Verknüpfungen des Denkens den Formen und Verknüpfungen des Seins völlig entsprechen. hier zerfällt die Theorie

Auch

der Wissenschaft in einen metaphysi-

schen Theil, welcher das Verhältniss des Denkens zu dem Sein behandelt und in dem beiden gemeinsamen Princip der Bewegung die Möglichkeit der Erkenntniss nachweist, und in einen formal logischen, der die Methode des Denkens darstellt, durch welche die wirkliche Erkenntniss erreicht wird, aber beide sind organisch mit einander vereinigt

durch

den

gemeinsamen

die

ganze Untersuchung beherrschenden Gesichtspunkt, dass es sich

Einleitung.

13

darum handelt ein Wissen zu erzeugen, in welchem der Gegensatz zwischen Denken und Sein zur Einheit vermittelt wird. Die grossartig angelegte und mit bewunderungswerther Schärfe und Klarheit durchgeführte Untersuchung zeigt jedoch zwei verwundbare Stellen, deren Schwäche der Verfasser sich selbst wohl bewusst ist und die er keinesweges verhehlt. Die eine liegt in dem Begriff1 der Materie, welche in der realen Welt die Voraussetzung der Bewegung ist. Mag selbst zugegeben werden, was doch noch sehr dein Streite unterliegt, dass die in ihr wirksamen Kräfte die der Attraktion und Repulsion sind und dass diese unter den Begriff der Bewegung fallen, so weisen sie doch immer wieder auf etwas hin, was angezogen und abgestossen wird, und es bleibt so, wie Trendelenburg selbst zugesteht, ein letzter Rest übrig, der aus der Bewegung nicht begriffen werden kann sondern ihr vorangeht. Aehnlich verhält es sich aber auch mit Raum und Zeit und allen den Kategorien, die von Trendelenburg aus der Bewegung abgeleitet werden; sie sind nicht erst, wie er die Sache fasst, Produkte derselben, sondern liegen schon in ihr als ihre nothwendigen Voraussetzungen, so dass sie natürlich auch durch Zergliederung in ihr gefunden werden können. Es bleibt richtig, dass, worauf er einen grossen Nachdruck legt, diese Zergliederung selbst wieder auf die Bewegung zurückführt, aber wie die Bewegung überhaupt durch eine Gegenbevvegung aufgehoben weiden kann, so geschieht es auch hier in dieser analytischen Operation des Denkens. Darin liegt die Möglichkeit, dass wir, die wir freilich selbst überall mitten in der Bewegung stehen, doch Uber dieselbe hinauszugehen und von ihr zu abstrahireu vermögen. Bewegung ist Ortsveränderung und besteht schlechthin darin, dass das Bewegte seinen früheren Ort verlässt und in einer bestimmten Richtung einen anderen Ort erreicht; denken wir uns aber einen Raum mit gasartiger Materie erfüllt, so expandirt sich dieselbe zwar nach allen Richtungen, aber Ortsveränderung findet nicht statt, denn es giebt darin noch gar keinen Ort, da der Raum gleichmassig erfüllt ist und kein Theil von dem andern sich unterscheidet. Es vertauscht daher auch kein Theil mit dem andern seinen Ort, indem jeder auf alle andern wirkt und von ihnen auch wieder dieselbe Gegenwirkung erfährt'). Es hat allerdings ') S. meine Kritik der bisherigen T h e o r i e n der Materie in der Z e i t s c h r i f t f. P h i l o s o p h i e und p h i l o s o p h i s c h e Kritik 1856. X X T X . S.998". vgl. S. 132 ff.

14

Einleitung.

seine Schwierigkeit den Begriff der Expansion sich in dieser Reinheit ohne die wirkliche Bewegung zu denken, weil man gewohnt ist, die beiden ganz verschiedenen Vorstellungen von Raum und Ort mit einander zu verwechseln, aber j e mehr man sie auseinanderhält, desto leichter begreift man, dass Expansion nicht Repulsion ist, und dass sie daher auch ohne alle Bewegung im eigentlichen Sinne als Orts Veränderung gedacht werden kann und muss. Es ist ferner ebenso gewiss, dass wir den Raum nur erfassen, indem wir ihn mit der Anschauung durchfliegen, aber er folgt unserer Bewegung nicht und nöthigt diese immer wieder zu ihm zurückzukehren und ihn, in dem alles sich bewegt, als das unbewegte vor aller Bewegung Bestehende gelten zu lassen. Die Zahl erscheint zwar auf den ersten Anblick als ein Produkt der Bewegung, indem wir Einheiten zu Einheiten hinzufügen und sie so innerlich erzeugen, aber objektiv liegt sie immer schon in der Bewegung und ist das sie beherrschende Mass. Wo Gleichgewicht stattfindet giebt es keine Bewegung, sie entsteht erst mit der Aufhebung desselben, und das setzt quantitative Unterschiede voraus. In der gleichmässigen Bewegung giebt es keine Diskretion, sie muss eine Hemmung erfahren, wenn sie die diskrete Grösse hervorbringen soll, und diese Hemmung kann nicht aus der blossen Bewegung selbst stammen, sondern gründet sich schon auf den verschiedenen Grad und die Zahlenverhältnisse in ihr. Ebensowenig vermögen wir anzuerkennen, dass die Begriffe Werden, Veränderung, Thätigkeit erst durch die Bewegung eine reale Anschauung gewinnen. Wie sie als Vorstellungen schlechterdings allgemeiner sind als die Bewegung, die eben als Ortsveränderung nur eine besondere Art derselben ist, so können wir auch in der Wirklichkeit sie wohl davon trennen und müssen behaupten, dass sie ihr als Bedingungen vorangehen. Denken wir uns z. B. einen Raum mit einem Volumen Sauerstoff und zwei Volumen Wasserstoff erfüllt, so findet durch die chemische Vereinigung beider Gase eine Verdichtung statt, die Expansivkraft ist geringer geworden, die früheren Gase haben sich in Wasserdunst verwandelt und doch ist keine Ortsveränderung eingetreten, denn der neue Stoff erfüllt ebenso gut wie die früheren gleichmässig den ganzen Raum, so dass kein Theil desselben seine Stellung gewechselt hat, vorausgesetzt dass man nicht zu der

15

Einleitung.

atomistischen Theorie seine Zuflucht nimmt, die j a aber T r e n delenburg ebensogut verwirft und seiner Grundanschauung gemäss nothwendig verwerfen inuss. Der andere Punkt, bei welchem das Princip der Bewegung unzulänglich erscheint, liegt in dem Z w e c k b e g r i f f .

Es ist das

grosse Verdienst Trendelenburg's tiberall

philosophi-

in seiner

schen Anschauung grade diesen Begriff recht betont zu haben, indem er demselben die ihm zukommende dominirende Stellung gegenüber der Kausalität wiederverschafft hat, aber

das führt

auch nothwendig zu der Anerkennung, dass das Denken nicht von der Bewegung sondern umgekehrt diese von dem Denken beherrscht wird. Richtungen

Es hilft nichts, dass in der die

der Bewegung

zur Einheit des Zwecks

Kraft selbst wieder ein Analogon der Bewegung

zerstreuten lenkenden

nachgewiesen

wird, denn dies beweist nur, dass wir mit unserem Denken überall in der Bewegung stehend, auch dieser Thätigkeit nur mit Hlilfe der Bewegung

nachzukommen

des

Geistes

im Stande

sind,

aber wir vermögen nicht zu begreifen, wie das alle Bewegung bedingende Princip selbst nur Bewegung sein soll und das bei Aristoteles ungelöste Problem des unbewegten Bewegers

bleibt

auch hier ungelöst. W i e auf der einen Seite in der Materie, und wir müssen hinzusetzen auch in den Kategorien, ein Sein vor der Bewegung zurückbleibt, so geht auf der anderen Seite in dem Zweck das Denken

Uber die Bewegung

hinaus und nur zwischen

Grenzpunkten behält die Bewegung Herrschaft, so jedoch, scheint.

ihre

volle

beiden

ungeschmälerte

dass sie immer durch jene bedingt er-

So vermögen wir denn auch nicht uns zu überzeugen,

dass in der Bewegung das gemeinsame metaphysische

Princip

des Seins und des Denkens aufgezeigt sei, aber das hindert nicht anzuerkennen, dass für uns, die wir mit unserem Denken mitten in die Bewegung hineingestellt sind, sie doch die Vermittelung abgiebt, um in das Sein einzudringen und analytisch und synthetisch sogar über sie hinauszugehen.

Wir

unterschreiben

mit

voller Ueberzeugung den Satz Trendelenburg's, dass es für uns Menschen kein reines Denken giebt, und dass es sich selbst tödtet, wenn es sich von der Welt der Anschauung lossagt, aber

wir

betonen es doch auch mit ihm, dass das Denken nicht in-dem Strudel der Bewegung untergehen, sondern Uber dieselbe Ubergreifend sie beherrschen soll, und darin liegt die Anerkennung

16

Einleitung.

dass es, wie sehr es auch die Anschauung nicht entbehren kann, doch auch sie überragt. Wir eignen uns daher aus den betreffenden Untersuchungen zunächst das Resultat an, dass für die Theorie der Wissenschaft in der Bewegung das vermittelnde Glied liegt, durch welches unser Denken in die gegebene Welt eindringt, und dass hier der Hebel eingesetzt werden muss um die Schätze des Wissens zu Tage zu fordern, wobei wir es vorläufig dahin gestellt sein lassen, wie weit das gesammte System der Wissenschaft im Stande ist, den Gegensatz von Sein und Denken vollständig zu vermitteln. In der Bewegung, welche die Welt gestaltet, liegen die Kategorien schon ebenso wie in der Denkthätigkeit, welche dieselben auf die Gegenstände anwendet, und eben deshalb ist sie im Stande vermittelst derselben die gegenständliche Welt in adäquater Weise zu erkennen. Die Bewegung der Aussenwelt, von welcher alle Gestaltung in ihr herrlihrt, offenbart sich uns zunächst durch ihre Einwirkung auf unsere Sinnesorgane, denn jede sinnliche Empfindung ist die Folge von Reizungen unserer sensibelen Nerven, die auf vorangegangene Bewegungen in den Aussendingen als ihre Ursachen zurückgeführt werden müssen '). Licht, Schall, Wärme, Geschmack und Geruch beruhen ebenso gut auf Bewegungen in den kleinsten Massentheilchen wie das Gefühl, welches durch eine Berührung getroffen wird, und reduciren sich zuletzt auf eine bestimmte Anzahl von regelmässig erfolgenden Berührungen der Sinnesnerven, deren Schnelligkeit die Differenz der Empfindungen begründet. Wird hier durch den Sinn unmittelbar die in den Dingen stattfindende Bewegung empfunden, so dienen diese kleinsten Bewegungen dann selbst wieder dazu, um mittelbar auch die Produkte der gestaltenden Bewegung in der Materie uns nahe zu bringen, indem die Differenzen in der Zusammensetzung und Anordnung der kleinsten Moleküle auf diese Undulationen modificirend einwirken und dadurch ihr Dasein verrathen. Wir sehen nicht unmittelbar die Gegenstände sondern nur das Licht, das von ihrer Oberfläche reflektirt wird, aber weil die anders gestaltete Oberfläche dasselbe darauffallende Licht anders zurückstrahlt, so offenbaren sich auch darin die Differenzen in der Art und Weise der Gestaltung. So gewinnen daher die Sinne im Allgemeinen die Bedeutung, dass sie uns vermöge der ver') George, die iuuf Sinue, Berl. 1846.

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Einleitung.

schiedenen Bewegung, die von den Dingen ausgeht, Überhaupt von den Differenzen in dem Sein Kunde geben, und das Specifische in den Empfindungen verschwindet oder tritt zurück gegen die Aufgabe, die durch die Bewegung entstandenen Unterschiede in der Gestaltung der Dinge uns durch Unterschiede in der Bewegung ihrer kleinsten Massentheile, welcher Art sie auch in den verschiedenen Empfindungen sein möge, kenntlich zu machen, wobei die an sich für das Specifische der Empfindung völlig unvertretbaren Sinne in dieser Beziehung sich gegenseitig unterstützen und völlig durcheinander vertreten können. Dies ist der Grund, weshalb der an Feinheit und Schärfe alle andern Uberragende Sinn des Gesichts für die Erkenntniss so sehr in den Vordergrund tritt, indem die unmittelbar nur den andern zugänglichen Differenzen, dadurch dass sie sichtbar gemacht werden, einer genaueren Messung sich unterwerfen. So wird die unmittelbar nur dem Gefühl erkennbare Wärme durch ihre ausdehnende Kraft dem Gesicht offenbar, und die chemische Differenz der Stoffe, die dem Geschmack und Geruch näher liegt, wird durch Reaktionen, die verschiedene Farben erzeugen, dem Auge erkennbar gemacht und dadurch einer sicherern Schätzung zugeführt. So kommt es in der That dahin, dass wir zuletzt in Betreff wissenschaftlicher Erkenntniss, uns eigentlich nur auf unser Auge verlassen, indem wir darauf vertrauen alle Unterschiede in dem Sein auf irgend eine Weise sichtbar zu machen; aber immer ergänzen sich die verschiedenen Sinne dabei, indem wir durch die eine oder die andere Empfindung zuerst auf Differenzen in dem Sein und Geschehen aufmerksam werden, und die dem einen Sinn verborgen bleibenden Unterschiede durch den andern aufzufassen im Stande sind. Aber in welchem Verhältniss steht nun zu diesen Empfindungen das Denken? In der Beantwortung dieser Frage gehen die Ansichten weit auseinander und die cmpiristische und rationalistische Auffassung bilden einen graden Gegensatz. Leitet man alles Wissen von der Erfahrung ab, so ist man auch geneigt der sinnlichen Empfindung den Vorrang zuzuerkennen und das Denken als schlechthin abhängig von jener zu befrachten. Die Wahrnehmung giebt uns nach dieser Ansicht das wirkliche und treue Abbild des Gegenstandes, die Vorstellung ist nur die zurückgebliebene Spur der Empfindung, die uns freilich den Vortheil gewährt die Bilder auch noch nach dem Verschwinden des urU torge, Logik als Wisseiisclial'tsl.

2

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Einleitung.

sprünglichen E i n d r u c k s festzuhalten und mit ihnen weiter zu operiren, aber sie verblasst auch immer mehr und vermag au Wahrheit und Lebendigkeit mit der ersten Empfindung nicht zu wetteifern. So liegt denn auch in der letzteren das eigentliche und wahre W i s s e n , welches verloren geht, wenn sich nicht die Gelegenheit bietet es immer wieder von Neuem aufzufrischen; das D e n k e n dringt nicht etwa tiefer in die Wahrheit ein, sondern seine ganze Thätigkeit dient dem Gedächtniss und wenn es die Bilder v e r k n ü p f t , vergleicht, ordnet und classificirt, so sind das nur ebenso viele Hiilfsinittel, die ihm wohl das Festhalten erleichtern, die a b e r grade immer auf Kosten der Wahrheit angewendet werden, weil sie stets darauf ausgehen au die Stelle des wirklichen Z u s a m m e n h a n g s künstliche .Sonderlingen und Verknüpfungen zu setzen und durch Abstraktion den mannigfaltigen schwer zu beherrschenden Iuhalt los zu werden. G;mz anders gestaltet sich die Sache, wenn wir der a n d e r n Ansicht folgen, nach welcher das Denken die einzige Quelle alles Wissens ist. Aus ihr iiiesst zunächst die Gewissheit unseres eigenen Seins und danach erst mittelbar auch die aller übrigen Gegenstände; was klar und deutlich gedacht wird ist wahr, aus ursprünglich angeboinen Begriffen muss alles Uebrige sich ableiten l a s s e n , und w a s sich auf diese Art durch klare Schlussf o l g e n m g e n nicht beweisen lüsst, k a n n auch auf strenge Wahrheit und Allgemeingiltigkeit nicht Anspruch machen. Dagegen gewährt alle sinnliche W a h r n e h m u n g nur eine verworrene Masse von Bildern, die wohl dem D e n k e n Stoff und Gelegenheit für seine Thätigkeit bieten können, a b e r an denen doch dieses selbständig und nach eigenen Gesetzen seine Kraft übt, um sie zu entwirren und zu einer k l a r e n Erkenntniss zu gestalten. So weit aber beide Auffassungen auseinander gehen mögen, darin stimmen sie doch iiberein, dass sie Denken und sinnliche Empfindung für dasselbe e r k l ä r e n , der Unterschied liegt nur darin, wie dem einen oder der a n d e r e n die Herrschaft zugeschrieben wird. Aul' der einen Seite erscheint das Denken als eine schwache und ahgeblasste Empfindung, auf der andern die Empfindung als ein verworrenes D e n k e n , und j e d e r Thcil beruft sich auf die Erfolge, welche seine Ansicht der Wissenschaft gewährt. Für die empiristische Anschauung sprechen die unermesslichen Fortschritte, welche die Naturwissenschaften gemacht haben, seitdem man in ihnen allein der Beobachtung unbedingtes

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Einleitung.

Vertrauen beweist und sich von allen aprioristisclien Constructionen fernhält, für die rationalistische Auffassung streitet die Evidenz der Mathematik, die nur das durch das Denken streng Erwieseue anerkennt, und das ganze Gebiet des Geistigen und Uebersinnlichen, welches der sinnlichen Wahrnehmung- unzugänglich ist. So scheint denn der Streit am besten beigelegt, wenn beide Ansichten sich in die Welt thcilen, und der einen die Natur, der anderen der Geist als ausschliessliche Douiaine zufällt. Aber der Vertrag ist nur eine vorübergehende Waffenruhe und jeder Theil sieht das ihm entfremdete Gebiet als einen ihm widerfahrenen Raub an, den er wieder zurück zu erobern bemüht ist. Steht nach der einen Ansicht fest, dass das Denken nur fortdauernde schwache Empfindung ist, so ist auch das Denken ebensogut wie die Empfindung eine Funktion des Leibes und die materialistische Anschauung muss auch das ganze Gebiet des Geistigen sich zu unterwerfen bestrebt sein; ist nach der andern Auffassung die sinnliche Empfindung nur verworrenes Denken, so kann diese die Anhäufung des Erfalirungsstoffs eine Weile getrost mitansehen, indem sie darin nur eine Beute erkennt, die ihr doch endlich zufallen muss, und die von der entgegengesetzten Seite selbst in Anspruch genommene Hülfe der Mathematik, die in das dunkle Gewirr der Thatsachen Licht hineinzubringen versucht, ist für sie eine zweideutige Unterstützung, welche sie allmälich in die Gewalt des Gegners bringen muss. Ehe wir uns aber für die eine oder andre Ansicht entscheiden, ist zu untersuchen, ob nicht beide vielleicht einseitig sind und beide ihre Berechtigung behaupten können, wenn sie es nur aufgeben sich gegenseitig auszuscliliesscn. Dann könnte es sich leicht herausstellen, dass gerade die Behauptung in der sie übereinstimmen, (lass Denken und sinnliche Empfindung ein und dasselbe sei, das eigentlich Falsche ist, und vielmehr die berechtigten Ansprüche, welche sie geltend machen, ihre Begründung in der difl'crenten Natur beider finden. Die Consequenz der empiristischen Ansicht ist die, dass wenn das Denken nur fortdauernde soll wache Empfindung ist, es ebenso wie die sinnlichen Eindrücke nur von aussen her gewirkt wird und alle Selbsttätigkeit in ihm nur Schein ist; darin ist aber möglicher Weise das Denken zu gering geschätzt, und es darf mit Recht den Anspruch geltend machen, als selbstständig wirkender Faktor mit in Rechnung gezogen zu ^Verden. Die rationalistische Ansicht leitet alles Wissen von der 2*

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Einleitung.

produktiven Kraft des Denkens ab und würde sich glücklich schätzen, wenn sie des verwirrenden Einflusses der sinnlichen Empfindung ganz Uberhoben wäre, den sie consequenter Weise nur als eine von der unglückseligen Verbindung des Geistes mit dem materiellen Leibe herrührende Schranke betrachten kann; darin denkt sie aber von der sinnlichen Empfindung vielleicht zu geiing und übersieht die grossen Vortheile, die das Denken aus der Verbindung mit ihr zieht. Ehe wir daher weiter fortschreiten können, wird es nöthig sein das Verhältniss des Denkens zu der siunlichen Empfindung aufzuklären, um daraus den Beitrag, den sie beide für das Wissen liefern, genauer zu bestimmen. Die einpiristische Auffassung ist zunächst die populärere, der gewöhnlichen Fassungskraft näher liegende, denn es hat etwas Einleuchtendes, dass demjenigen, welchem von Kindheit an ein Sinn mangelt, auch ein entsprechendes Stück in der Weltanschauung fehlt, und dass dem, der später ihn verliert, auch die Erinnerung an das durch ihn Wahrgenommene sich allmälich abschwächt und zuletzt ganz verloren geht. Aber so verlockend nun die Folgerung ist, dass bei dem gänzlichen Mangel aller Sinne, auch die Welt völlig für uns verschwinden, und mit der Entziehung des gesammteu Stoffs auch das Denken völlig aufhören mü8ste, so ist sie doch eine oberflächliche und bei genauerer Untersuchung unwahre, und die daraus für die Natur des Wissens gezogenen Schlüsse sind voreilig und ungültig. Man würde seiner Sache nicht so sicher sein, wenn man nicht von vorn herein die Kraft der sinnlichen Empfindung überschätzte und ihr vieles beilegte, was gerade erst durch die eingreifende Thätigkeit des Denkens gewonnen wird. Man bildet sich ein, man brauche nur die Augen zu öffnen und die ganze Aussenwelt liege soweit unser Blick reicht auch sogleich klar vor uns und gehe, sofern nur unsere Aufmerksamkeit darauf gerichtet ist, auch ohne weiteres in unser Bewusstsein ein, aber damit täuscht man sich sehr, es hat einer laugen Uebung des Denkens bedurft, um aus den empfangenen Eindrücken die uns bekannten Dinge dieser Welt zu gestalten und das Urtheil fliesst immer unbemerkt ein, wo wir nur unseren Sinnen die Erkenntnis» zu verdanken scheinen. Bei jedem Eindruck, den die Gegenstände auf unsere Sinnesorgane machen, empfinden wir nur den veränderten Zustand unsrer sensiblen Nerven, nicht den Gegenstand selbst, von vvel-

Einleitung.

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cbem er herrührt, es ist schon ein Akt des Denkens, durch welchen wir zu dem Urtheil veranlasst werden, dass die Ursache dieser Veränderung nicht in uns selbst liegt, sondern in etwas ausser uns Existirendem gesucht werden muss. Beim Geschmack und Geruch ist dies unmittelbar deutlich und man hat zu allen Zeiten die Subjektivität der ihnen entsprechenden Empfindungen gefühlt. Weniger klar erscheint es schon bei dem Gehör, da hier die gewöhnliche Ansicht dem Organ bereits die Wahrnehmung der Richtung und Entfernung des Schalls zuschreibt, wenn es auch Uber die sonstige Natur des tönenden Gegenstandes nichts auszusagen vermag, aber ein geringes Nachdenken lässt uns doch erkennen, dass die Entfernung nur aus der grösseren oder geringeren Intensität und Deutlichkeit der Töne im Vergleich mit der Stärke, wie wir sie von bekannten Gegenständen in der Nähe zu hören gewohnt sind, erschlossen werden kann, und dass ebenso die Richtung, von welcher das Geräusch herkommt, nur beurtheilt wird aus der Verschiedenheit des Eindrucks, den es auf beide Ohren macht, besonders wenn wir den Kopf nach verschiedenen Seiten hinwenden. Am meisten aber lassen wir uns täuschen durch das Auge und den sogenannten Tastsinn, durch welche die wahren Gegenstände, ihr Ort, ihre Lage, Entfernung, Grösse und Gestalt so unmittelbar gegeben sein sollen, dass man diese Sinne als die eigentlich gegenständlichen zu bezeichnen pflegt und ihnen einen grossen Vorrang vor den übrigen einräumt, indem man meint, dass sie eigentlich dazu dienen uns die Kenntniss der objektiven Welt zu verschaffen und dass mit ihrer Hülfe erst die durch die anderen Organe gewonnenen Empfindungen auf die rechten Dinge als ebenso viele ihnen zukommende Eigenschaften bezogen werden können. Dies veranlasste schon Locke zu seiner bekannten Unterscheidung von p r i m ä r e n und s e k u n d ä r e n Qualitäten, von denen die letzteren, wie Farbe, Schall, Wärme, Geschmack und Geruch rein subjektiver Natur sein sollen, die ersteren aber, wozu er Ausdehnung, Solidität, Gestalt, Beweglichkeit, Zahl rechnet, den Dingen an sich zukämen, aber grade darin irrt er vollkommen, dass er auch diese auf Sensationen zurückführt, während sie doch reine Produkte des Denkens sind. Bei dem Gesichtssinn überzeugt man sich bald, dass wir unmittelbar nur Farben empfinden und das Versetzen der Bilder nach Aussen erst auf einem Scliluss beruht. Es gehört eine lange Ucbiuig des Urtheils dazu, bis wir

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Einleitung.

L a g e , E n t f e r n u n g , Grösse uncl Gestalt der gesehenen Gegenstände richtig zu schätzen lernen, und wir irren uns vielfach, wo uns die Mittel zur Beurtheilung abgehen. Wie sollten wir auch den Ort des entfernten Fixsterns durch den Lichteindruck bestimmen, da der von ihm ausgehende Strahl J a h r e gebraucht, um in unser Auge zu g e l a n g e n ? Empfunden wird er doch erst in dem Moment, wo er die Netzhaut trifft, und diese Empfindung w ä r e grade dieselbe gewesen, wenn der Lichtstrahl auch in der nächsten Nähe seinen Ursprung gehabt hätte. So bleibt mau denn endlich bei dem Tastsinn allein stehen und glaubt in diesem den sicheren Haltpunkt für die Wahrnehmung der objektiven Verhältnisse in der gegenständlichen Welt gefunden zu haben. liier liegt die Quelle aller Verwirrungen und Irrthiimer, aber zugleich auch das Mittel zur Autlösung derselben für den, der sich die Mühe giebt den Knäuel zu entwickeln und die F ä d e n klar hinzulegen. Es drängt sich dem Nachdenken bald auf, dass in dem Namen Tastsinn sehr verschiedenartiges vereinigt ist. Er wird gewöhnlich vorzugsweise in die Fingerspitzen verlegt, aber m a n überzeugt sich leicht, dass dasselbe Gefühl, welches wir in ihnen besitzen, über die ganze Hautoberlläche iu grösserer oder geringerer S t ä r k e und Feinheit verbreitet ist, und dass der Grad dieser Feinheit allein von der Menge der in der Haut endigenden sensiblen Nervenfasern abhängt. Die dadurch gewonnene Empiindung ist allein das Gefühl der Berührung und der Temperatur-Differenzen, das« Tasten dagegen eine Handlung von unserer Seite, welche Bewegung und Muskelanstrengung voraussetzt, aus welcher dann auf die Grösse des vorhandenen Widerstandes geschlossen wird. Diese Bemerkung hat daher zu einer schärferen Unterscheidung Veranlassung - gegeben, indem man den Sinn in zwei verschiedene spaltete und den einen mit dem Namen des Gefühls- oder Hautsinnes bezeichnete, den andern d a g e g e n Muskelsinn nannte. D e r erstere erschien nun wieder in seiner rein subjektiven N a t u r , in den anderen flüchtete sich als in ihr letztes Asyl die W a h r n e h m u n g der objektiven Dinge, denn m a n tastet die Solidität, die Ausdehnung, die Gestalt. So hartnäckig ist die einmal vorgefasste Meinung, dass es eine sinnliche Empfindung sein müsse, auf welche sich die Erkenntniss der objektiven Welt gründet, dass sie vor dem Andringen der Wissenschaft nur Schritt vor Schritt das in der populären Vorstellung besessene Terrain aufgiebt, um nun noch in einer

Einleitung.

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letzten scheinbar sicheren Festung sich zu vertheidigen. Aber auch diese äusserste Position ist unhaltbar geworden. Ist nicht der Ausdruck M u s k e l s i n n ein offenbarer Widerspruch, nachdem uns die Physiologie zwischen sensiblen und motorischen Nervenfasern zu unterscheiden gelehrt hat? Jene leiten centripetal die von Aussen .empfangenen Reize von den peripherischen Enden nach den Centraltheilen hin und erzeugen so Empfindungen, diese leiten centrifugal die von den Centraltheilen ausgehenden Heizungen nach den peripherischen Enden hin und erzeugen durch Muskelkontraktionen Bewegungen. Wäge ich daher einen Stein mit der Hand, so fühle ich die Berührung und die Temperatur desselben durch die in der Haut verbreiteten sensiblen Nerven, aber von der 8chwerc empfinden diese nichts, sondern in die motorischen Nerven muss von Innen heraus eine Heizung ausgehen, damit die dadurch von uns hervorgebrachte Kontraktion der Muskeln der herabdrückenden Bewegung Widerstand entgegensetze, und die dazu erforderliche Kraft ist für uns das Mass für die Schwere des Körpers. Beurtheile ich das Gewicht des vor mir liegenden Gegenstandes, den ich aufheben will, falsch, so entspricht der von mir in die motorischen Nerven hineingelegte Heiz nicht dem Widerstande und ich muss die Anstrengung verstärken oder abschwächen bis icli zu dein Punkte gelange, wo eben beide Kräfte im Gleichgewicht sind, und das giebt mir dann den Massstab für die richtige Schätzung an die Hand. Wo bleibt da noch die sinnliche Empfindung, die uns berechtigte von einem Muskel-Sinn zu reden, ein Ausdruck, der nur dazu angethan ist die Verwirrung aufrecht zu erhalten und der Empfindung zuzuschreiben, was gar nicht in ihrer Funktion liejitV Ganz ebenso aber steht es mit der Solidität. Ich strecke O

meinen Arm aus, bis mir etwa eine äussere Schranke entgegentritt, welche die weitere freie Bewegung hemmt, dabei erhalte icli freilich zugleich das Gefühl der Berührung und vielleicht auch das der Kälte oder Wärme, aber das hat mit der Schranke der Bewegung nichts zu tliun; ich verdoppele die Anstrengung meiner Muskeln und der Widerstand weicht zurück, und ich messe daher an der in sie hineingelegten Kraft, ob der Widerstand grösser oder geringer, der Körper hart oder weich, fest oder flüssig ist. Ich taste an den Grenzen dieses Widerstandes entlang, und Ubertrage nun die von meiner bewegten Hand selbst gezogene Linie auf den Körper und beurtheile danach seine

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Einleitung.

Gestalt. W o ist hier Überall die sinnliche Empfindung? Sie fliesst freilich bei der Berührung gleichzeitig mit ein und in diesem Zusammentreffen liegt die Ursache der gewöhnlichen Begriffsverwirrung, aber wir haben nun gelernt, dass die durch das Tasten erworbene Erkenntniss der Dinge mit j e n e m Gefühl auch nicht im Entferntesten etwas zu thun hat. Aber trotz des völlig einleuchtenden Verhältnisses ergiebt man sich doch noch nicht; man hält an der Möglichkeit fest, dass durch die Muskelkontraktionen selbst Zerrungen sensibler Nervenfasern erfolgen und so also mit j e d e r Bewegung zugleich Empfindungen verbunden seien, auf die doch wieder zuletzt die eigentliche Erkenntniss zurückführe. Aber nachdem wir nunmehr den grossen Unterschied zwischen dem Tasten und Gefühl kennen gelernt haben, sollte damit etwas gewonnen sein, dass man ihn sich wieder durch ein Zurückgreifen auf die Empfindung verwischen lässt, oder wäre es auch nur wahrscheinlich, dass nachdem sich die subjektive Natur aller Empfindungen, so weit wir sie deutlich verfolgen können, gleichmässig bewährt hat, dies Erkennen des Gegenständlichen aber sich durch eine physiologisch völlig verschiedene Funktion des Organismus erklärt, doch dabei die sinnliche Empfindung auf eine uns verborgene Weise mitwirken soll und wir von unserer eigenen Bewegung, die nur auf einen Reiz von den Centraltheilcn aus erfolgen k a n n , doch erst wieder vermittelst der Empfindung wie von aussen her eine Kenntnis» erlangen müssen? Wird es nicht als ein im höchsten Grade befriedigendes Resultat erscheinen, dass eine so bedeutende Differenz in der Auffassung der Dinge auch auf einer ebenso bedeutenden physiologischen Differenz sich gründet? Aber wir müssen diesen für unsere Aufgabe überaus wichtigen Punkt noch weiter verfolgen, um jeden möglichen Zweifel zu heben und das Resultat unserer Untersuchung in seiner ganzen Schärfe festzustellen. E s ist auf den ersten Blick klar, dass wir nicht in die Ferne hinein zu empfinden vermögen, sondern der Eindruck erst stattfinden k a n n , sobald der Reiz den Nerven trifft; aber es scheint unbedenklich anzunehmen, dass durch die peripherische Reizung unserer Nerven die Empfindung wenigstens den Ort an dem eigenen Körper zu constatiren vermöge, welcher von der Affektion betroffen worden ist, dass wir unmittelbar durch sie wissen, dass wir mit dem Auge sehen, mit dem Ohre hören, an dieser oder

Einleitung.

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jener Stelle der Hautoberfläche eine Berührung erfahren, und so nimmt man denn auch ziemlich allgemein an, dass wir durch die Empfindung selbst die Ausdehnung und Gestalt unseres Leibes und seiner einzelnen Theile auffassen. Aber auch dies ist eine arge Täuschung, welche durch die Natur der sensiblen Nerven leicht widerlegt wird und durch bekannte Thatsachen als solche aufgezeigt werden kann. Die peripherischen Nerven haben nur die Funktion die empfangenen Eindrücke zum Gehirn zu leiten, ftir die Empfindung ist es vollkommen gleichgültig, wo in dem ganzen Verlauf derselben die ursprüngliche Reizung stattgefunden hat, und folglich kann sie den Ausgangspunkt derselben in den peripherischen Theilen des Körpers ebenso wenig angeben als sie den Ort des entfernten Gegenstandes zu bestimmen vermag, mit welchem der leitende Licht- oder Schallstrahl uns in Verbindung setzt. Wir wissen daher auch vermittelst der sensiblen Nerven nichts von der Ausdehnung und Gestaltung unseres Leibes, sondern müssen zu dieser Kenntnis» auf irgend eine andre Weise gelangen, und erst, wenn wir sie besitzen, verlegt unser Urtheil die Empfindung an die bekannte Stelle, indem wir den Schluss machen, dass weil der bestimmte Nerv gewöhnlich nur von dieser aus gereizt werden kann, auch dort die Heizung stattgefunden haben müsse. Wenn an einer verschlossenen Hausthür sich der Zug zu einer in unserem Zimmer angebrachten Glocke befindet, so scbliessen wir bei dem Vernehmen des Schalls mit Recht, dass Jemand dort geschellt haben müsse und der Ton der Glocke verbindet sich gevvohnheitsgemäss so innig mit dieser Vorstellung, dass uns der Schluss selbst nicht mehr zum Bewusstsein kommt. Hören wir den Ton einer Glocke in einem fremden Zimmer, wo uns die Lage des leitenden Drahtes unbekannt ist, so ist uns auch jedes Mittel für die Beurtheilung des Ortes, von welchem aus das Tönen veranlasst ist, abgeschnitten. Ebenso täuscht uns aber auch in dem ersteren Fall unser Urtheil, wenn das Haus etwa offen ist und Jemand an irgend einer anderen Stelle den leitenden Draht in Bewegung setzt, und ungeachtet einer solchen einmal gemachten Erfahrung setzen wir doch, eben weil sie ungewöhnlich ist, in anderen Fällen unseren früheren Schluss unbedenklich fort. Gerade so verhält es sich auch mit der Leitung der sensiblen Nerven; wir verlegen einen Schmerz, der seine Veranlassung in einer Reizung nahe dem centralen Ende des Nerven hat, an das peripherische Ende des-

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Einleitung.

selben, und erst nach dem Tode wird vielleicht der w a h r e Ort der Reizung durch die Section ermittelt; der im bewusstlosen Zustande Operirte glaubt beim Erwachen d a s aniputirte Bein noch vollkommen zu besitzen und ist aufs Höchste überrascht, wenn ihm gesagt wird, dass die Operation bereits vollzogen sei, und nnch lange nachher fühlt er die Schmerzen mit der grössten Deutlichkeit iu dem bestimmten Gliede, von dem er doch weiss, dass es nicht mehr vorhanden ist. Wie aber kommen wir zu der Kcnntniss von unserem eigenen Leibe und seinen einzelnen Theilen, wenn uns die Empfindung darüber schlechterdings keinen Aufschlnss zu geben v e r m a g ? Es geschieht auf eine doppelte Weise, und die auf die motorischen Nerven zurückzuführenden Muskelbewegungen sind in beiden Beziehungen das einzig wirksame. Wir betasten einmal den eigenen Körper wie einen fremden Gegenstand und gelangen so zu der Kcnntniss seiner Gestalt, wie bei jedem anderen Dinge. Aber das würde wohl zu der Vorstellung seiner räumlichen Ausdehnung führen, aber nicht zu der Einsieht, dass es u n s e r Leib ist, den wir betasten. Aber der bewegte Ann folgt dem innern Impulse, er bewegt sich, weil ich in die betreffenden Bewegungsnerven den Reiz dazu hineinlege, und deshalb erscheint mir das bewegte Glied als das mehlige und der ganze Körper als mein Leib. Darum habe ich auch von der Lage meiner Glieder und der Ausdehnung meines Körpers da das deutlichste Bewusstscin, wo er am meisten einer unterschiedenen Bewegung fällig und am feinsten artikulirt ist, die Gelenke leisten der freien Bewegung Widerstand, und indem sie dieselbe beschränken, bestimmen sie sie zugleich. Die so gewonnenen P u n k t e geben dann gewissennassen die festen Merkzeichen für die Umrisse des Leibes ab, zwischen welchen die weiteren verbindenden Linien aus der durch das Tasten und den Anblick erworbenen gegenständlichen Erkcnntniss ergänzt werden, und damit ist uns die Vorstellung über die Lage unserer Körpertheile immer gegenwärtig, so dass sich nun die Lokalisirung der Empfindungen leicht daran anschliesseu kann. Dies geht so früh von Statten und wird uns so zur Gewohnheit, dass wir den Schluss nicht mehr beachten, wodurch das ganze Verhältniss erst möglich wird. Aber immer bleibt doch das bestehen, dass unser lokales Bewusstsein bei den gegliederten Theilen des Körpers ein schärferes ist, indem wir weit mehr die Ausbreitung unserer Finger als die der Hand,

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weit mehr die der Arme, der Flisse, des Kopfes und der an ihm beweglichen Theile als des Rumpfes erkennen. Man versuche es nur die Theile des Körpers in eine absolute Ruhe zu versetzen, so wird m a n , so schwer dies auch gelingt und so wenig man sich von der Erinnerung an die Lage in welche man die Glieder versetzt h a t , losmachen k a n n , doch bald erkennen, wie wenig wir von der Ausbreitung und Gestalt des Leibes etwas merken, und wie unsicher die Lokalisirung wird, während bei der geringsten Bewegung, j a schon bei der blossen Intention zu einer solchen das B e w u ß t s e i n derselben deutlich heraustritt. Nach diesen Erörterungen kann es nun wohl keinem Zweifel mehr unterliegen, dass die ganze gegenständliche Erkcnntniss nicht nur der Dinge ausser uns, sondern auch unseres eigenen Leibes allein auf den motorischen Nerven beruht, während die sinnliche Empfindung uns allein die veränderten Zustände unseres Ichs anzeigt, die folglich auch ganz unserer Seele angehören, da wir von der räumlichen Ausbreitung des Leibes durch sie nicht das geringste erkennen. Eist durch den Widerstand, den unsere freien von innen hervorgehenden Bewegungen erfahren, drängt sich uns eine Aussenwelt auf, von der wir zunächst unseren eigenen Körper und dann durch seine Vermittelung auch die übrigen Gegenstände erkennen. Wie könnte es in der T h a t auch anders sein? Die sinnliche Empfindung hat j a grade den Zweck uns mit der Aussenwelt in Verbindung zu setzen, in dem Akt der Empfindung sind die Dinge mit uns eins, wie könnte also in derselben Funktion die Möglichkeit liegen, sie von uns zu unterscheiden? Durch die eigene freie Bewegung dagegen vermögen wir uns von den Dingen zu trennen, unseren Ort in den Umgebungen beliebig zu wählen und damit unser Verhältniss zu diesen und den davon ausgehenden Empfindungen fortwährend zu wechseln, und damit erst geht uns die objektive Welt in ihren räumlichen und örtlichen Unterschieden auf. Dem Hier des Ich entspricht ein Dort in der Aussenwelt, zu weichein das Ich sich hinbewegt, die von diesem beschriebene Bewegung wird das Mass für die Entfernung und Gestalt der Dinge und die damit zeitlich zusammenfallende Empfindung wird nunmehr auf sie als eine Eigenschaft derselben Übertragen. Wir werden uns bewusst, dass diese Empfindungen nicht wie die freien Bewegungen von uns selbst ausgehen, denn wir haben keine Macht Uber sie, wir finden uns in ihnen verschieden afficirt, j e nachdem

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unsere Stellung zu den Dingen wechselt, und darin liegt fllr uns die Notwendigkeit sie auf diese zu beziehen und als von ihnen ausgehend zu betrachten. So wird die Wechselwirkung zwischen der Empfindung und Bewegung eingeleitet, jene bringt uns die Dinge durch ihre Einwirkung auf uns nahe, diese trennt sie durch unsere Einwirkung auf sie von uns und von einander und versetzt damit die in uns vorgehenden und wechselnden Empfindungen an die richtige Stelle, von der sie allein ausgegangen sein können. Das Tasten ist daher kein besonderer Sinn, sondern eine von uns ausgehende Bewegung, durch welche wir das Empfundene an seinen bestimmten Ort versetzen. Es wird nun deutlich, wie das Auffassen der Differenzen in den Dingen um so besser von Statten gehen wird, je enger sich jenes Tasten an eine entsprechende Empfindung anknüpft und uns so die Gelegenheit bietet das Empfundene an die richtige Stelle zu versetzen. Deshalb ist die tastende Hand ein so vortreffliches Werkzeug, weil sich mit der ausserordentlichen Gliederung und Beweglichkeit zugleich in den Fingerspitzen ein so feines Gefühl verbindet. Ihr schliesst sieh das tastende Auge au, welches in der eigenen Beweglichkeit und in der des Kopfes, an dein es befestigt ist, sich nicht minder als ein ausgezeichnetes Tastorgan beweist, das vor jenem den Vorzug voraus hat in die grösste Ferne zu reichen und dabei durch die feinste Empfindlichkeit der Netzhaut für die Farbendifferenzen unterstützt zu werden. Als Tastinstruinent gleicht es der Ilp,nd vollkommen; wir fixiren einen bestimmten Punkt, indem wir die Augenaxen darauf richten, wir gehen an den Grenzen der Gegenstäude entlang, die uns durch die Farbenunterschiede bezeichnet werden und Ubertragen so -die von unserem Auge beschriebenen Linien auf die Gestalt der Dinge, wir messen die Grösse derselben an dem Winkel, den die Augenachsen machen müssen, um von einem Endpunkt zu dem andern zu gelangen, wir messen die Entfernung an der grösseren oder geringeren Convergenz der beiden in dem tixirten Punkte sich schneidenden Augenachsen, und so tritt uns Ort, Grösse und Gestalt des gesehenen Gegenstandes aus der Tastbewegung entgegen, wie bei der tastenden Hand. Der Unterschied besteht allein darin, dass der von dem Gegenstande ausgehende Lichtstrahl uns mit diesem in Verbindung setzen muss, gleichsam wie wir mit einem Stabe in der Hand ein entferntes

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Objekt, zu dein wir nicht gelangen können, ebensogut zu tasten vermögen, wobei natürlich die Voraussetzung zum Grunde liegt, dass dieser Lichtstrahl ein grader ist, welcher die Richtung der Augenachsen fortsetzt, so dass wir getäuscht werden, wo derselbe durch ein dazwischen liegendes Medium gebrochen wird. Auch das Ohr tastet, wenn es durch die Bewegung des Kopfes sich nach der Richtung wendet, wo es den gehörten Ton am stärksten vernimmt und danach die Lage des tönenden Gegenstandes abmisst, das Geruchsorgan tastet, wenn es die Nase den riechendcn Substanzen näher bringt, oder sptirend den mit den Riechstoffen imprägnirten Luftschichten nachgeht, die Zunge tastet nicht minder, wenn sie kostend sich selbst den schmeckenden Gegenständen annähert oder sie vermittelst der Hand nach einander zur Prüfung erhält. Aber diese Sinne können mit den andern nicht wetteifern, weil die Beweglichkeit ihrer Organe dem tastenden Auge und der Hand so ausserordentlich nachsteht und die von ihnen empfundenen Differenzen in den Dingen keine so bestimmte räumliche Abgrenzung besitzen als bei diesen. Ziehen wir nun aus allen diesen Betrachtungen das Resultat, so ergiebt sich leicht, dass das Tasten eine von uns selbst ausgehende Handlung ist, die sich auf die Muskelbewegung zurückführen lässt und die sich mit allen Sinnen gleichmässig verbindet, um die Empfindung zu lokalisiren und den Ort zu ermitteln, von welchem dieselbe ausgeht. Durch das Tasten wird uns der eigentliche Gegenstand erst gegeben, auf den wir die Empfindung beziehen müssen, und dem sie daher als eine ihr entsprechende Eigenschaft beigelegt wird. J e beweglicher das Organ ist und j e mehr es die feineren Unterschiede an den Dingen fixirend sich an den bestimmten Ort versetzen k a n n , desto mehr unterscheidet es auch räumlich die Dinge nach diesen empfundenen Differenzen, und d a Auge und Hand es darin allen anderen Sinnen zuvorthun, so erhalten wir auch durch sie so vorzugsweise den Eindruck einer gegenständlichen Welt-. Bei (1er tastenden Hand sind diese Bewegungen so augenscheinlich und sie setzen uns mit den berührten Dingen in so unmittelbare Bezieh u n g , dass es nicht mehr auffallen kann, dass man sie schon bei der oberflächlichsten Betrachtung als Tastorgan erkennt, bei dem Auge sind dagegen diese Bewegungen so unmerklich und n u r durch die lange Hebung in dem fortwährenden Gebrauch so fein ausgebildet, dass wir sie erst durch eine eingehendere

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Aiialyse zu erkennen vermögen. Grade aber aus der engen Verbindung und Wechselwirkung zwischen Empfindung und Bewegung und dem steten Zusammenfallen derselben in der Zeit wird es erklärlich, wie man beides erst bei genauerer Reflexion zu unterscheiden im Stande ist und ohne diese sich einbildet unmittelbar durch die Empfindung den Ort, von dem sie ausgegangen ist, zu erkeunen, indem man die allniälich sich ausbildende Hebung in dem Urtheil, das auf jene Bewegungen sich stützt, ganz übersieht. Nachdem so deutlich geworden, wie das Herausversetzen des Empfundenen an seinen bestimmten Ort unsere eigene That ist, zu der wir genöthigt werden durch den Widerstand, den die Dinge unserer freien Bewegung entgegensetzen, und der unser Urtheil veranlasst Dinge ausser uns anzunehmen, auf welche die entsprechenden Empfindungen, über die wir nicht frei verfügen können, bezogen werden müssen, so liegt uns ob, die Bedeutung dieser freien Bewegungen und damit die Funktion der motorischen Nerven, auf denen sie sich gründet, für unsere Erkenntniss der Aussenwelt noch weiter zu verfolgen. Das Urtheil ist offenbar ein Akt unseres Denkens und dieses gehört wieder unserem Bewusstsein an, sollte also nicht zwischen diesem und der Funktion der motorischen Nerven ein näherer Zusammenhang bestellen, da unser Urlheil über die gegenständliche Welt zuletzt ganz von diesen freien Bewegungen abhängig ist, sollten wir uns nicht zu dem Schlüsse getrieben fühlen, dass das d e n k e n d e B e w u s s t s e i n ebensogut an den m o t o r i s c h e n Nerven ein leibliches Organ besitzt, wie die E m p f i n d u n g an den s e n s i b l e n , und dass die Seele nur durch diese mit der Aussenwelt in Verbindung stellt und sie zu denken und zu empfinden vermag? Das Bewusstsein tritt zunächst in dem Gegensatz des subjektiven und objektiven Bewusstseins heraus, und dieser Gegensatz entsteht doch zuerst dadurch, dass das Ich durch die freie leibliche Bewegung sich von der Aussenwelt zu trennen und seinen Ort darin beliebig zu wählen vermag. Es wird sich seiner selbst darin bewusst, dass die Organe seines eigenen Leibes inneren Impulsen gehorchen und dass es ausserhalb Schranken für seine Thätigkeit findet, Uber die es nicht zu gebieten vermag. Hier findet das Fichte'sche Ich und Nicht -ich seine Stelle, denn jenes muss sich sagen, dass wo es diese Hemmungen erfährt, es nicht ist und nicht sein k a n n , und weiter weiss es auch in

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der T h a t von der Aussemveit noch nichts. Gegenstände erkennt es erst in dieser chaotischen Masse des Widerstandes, indem es durch eigene Kraftanstrengung vermittelst derselben freien Bewegung diesen theilweise durchbricht und so einzelne Objekte erzeugt, worauf dann die tastende Hand mit dem tastenden Auge wetteifert, um den Ort, die Grösse und die Gestalt solcher Dinge zu ermessen. Hiemit beginnt die H e r r s c h a f t des Ichs auch über die Aussenwelt, indem es überall in dieselbe eindringt, den Widerstand Uberwältigt, sich au Orte versetzt, wo es früher nicht sein k o n n t e , und so allniälich m e r k t , dass es mir von ihm abhängt, wie und wo es seine gestaltende Kraft ausüben will. Nur da, wo es den Widerstand nicht zu brechen und die Dinge nicht zu verschieben vermag, sieht es sich genöthigt noch Gegenständliches zu setzen und die Aussenwelt zerfällt ihm d a h e r in die Summe dieser einzelnen Dinge. Aber .auch diese wieder verfallen, bei vergrösserter K r a f t a n s t r e n g u n g einer neuen Theilung, die gesonderten uud nach dem Willen des Ichs gestalteten Objekte werden, in seiner Hand uud durch seine K r a f t bewegt, Werkzeuge zur Fortsetzung der Trennung und gewissermassen verlängerte Organe seines Leibes, denen es sein Leben einhaucht und damit seine eigene Kraft verstärkt. Die Macht des Selbstbewusstseins wächst in dem Masse, als es die Schranken der Aussenwelt besiegt uud den W i d e r s t a n d selbst in seine Gewalt bringt, um die ursprüngliche Massenhaftigkeit der Aussenwelt bis in ihre Atome zu zerlegen. Kommt diese Zerkleinerung fast der Vernichtung gleich, so besinnt sich das Ich auf sich selbst; wie weit es auch die T r e n n u n g vollziehe, es bleibt doch immer noch Widerstand, die Relativität- desselben drängt sich ihm auf, es waren zusammenhangende Ganze, die mit grösserer oder geringerer Kraft der Theilung sich widersetzten, und es achtet nun selbst auf den feineren Zusammenhang, der seiner stürmischen Trennungslust entging. So erscheint, nun die Welt als eine Gruppiruug von Gegenständen, die sich zu einer bestimmten Unterordnung von Theileu unter entsprechende Ganze gestaltet, und damit ist der Thätigkeit der R e f l e x i o n , die das Getheilte verknüpft und das Verknüpfte sondert, ein weites Feld geöffnet. Man sieht leicht, wie bei diesem ganzen Processe eine enge Verbindung und Wechselwirkung zwischen dem Selbstbewusstsein und dem gegenständlichen Bewusstsein stattfindet. In der trennenden Thätigkeit überwiegt das Ich, in der verknüpfenden

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sieht es sich bestimmt, geleitet, genöthigt durch den Widerstand; aber es kann nicht sondern ohne auf den Widerstand Rücksicht zu nehmen und danach seine trennende Kraft einzurichten, es kann nicht verknüpfen ohne die relative Gewalt des Widerstandes an der versuchten Trennung zu messen. Auf diese Weise wird nun in der That auch der ursprüngliche Gegensatz zwischen dem Ich und dem Nicht-ich, dem subjektiven ßewusstsein und der objektiven Welt ausgeglichen und vermittelt. Das Ich zieht sicli aus dem Leibe in die Seele zurück, indem der Leib selbst als ein ihr ursprünglich angehöriger Organismus erscheint, dessen bewegliche Theile ihren Impulsen willig gehorchen, aber doch durch ihre Tastbarkeit und die Schranken der Bewegung sich als der objektiven Aussenwelt angehörig dokumentiren; die ursprünglich nur widerstehende Objektivität wird allmälich der Macht des Ichs unterworfen und ihre Widerstandskraft zu gehorsamen Werkzeugen des Ichs umgewandelt, welche sich den Organen des Leibes anfügen. So gelangt die gegenständliche Welt in den Besitz der Seele als eine Erweiterung ihres Selbstbewusstseins, indem sie sich der Dinge als der Summe der inneren Impulse bewusst wird, mit denen sie ihren Widerstand allmälich überwunden und sie sich zu eigen gemacht hat, denen aber auch dieser Widerstand als die bestimmende Gewalt anhaftet. Dadurch vereinigt sich in der Reflexion das subjektive und objektive Bewusstsein, es reflektirt das Ich über sich selbst und die Objekte, es wird sich seiner Herrschaft Uber sie immer mehr bewusst, j e mehr es sie in der von ihm gemachten Sonderung und Verknüpfung in sich aufnimmt, oder sich in seiner freien Thätigkeit aus ihnen herauszieht. So unterscheidet sich das reflektirte Selbstbewusstsein in immer grösserer Klarheit von dem ursprünglich noch dunklen und schwachen, und erweckt so den Schein, als ob dem Kinde, das zuerst Ich sagen lernt, nun erst ein Selbstbewusstsein entstanden, während dies doch in den frühesten Sonderungen sich schon wirksam bewies und jetzt nur ihm selbst als ein Objekt entgegentritt. Hier aber ist der Ort einiges über das Gedächtniss zu sagen, welches bei diesen Operationen des reflektirenden Bewusstseins immer gleich mitthätig i s t ' ) . Diejenige Ansicht, welche unser ganzes Wissen von den Dingen auf die sinnliche Empfindung ') Vgl. mein Lehrli. d. Psychologie 8.281 fi'.

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zurückführt, ist auch geneigt die Wiedererinnerung als ein Verharren der Empfindung und als Spuren der ursprünglichen Eindrücke im Gehirn zu erklären, und sie hat dann daran für ihre Ansicht ein wichtiges Hülfsmittel, wenn es auch die Thatsache selbst nicht zu begreifen und zu einer irgend wie klaren Anschauung zu bringen vermag. J e mehr man dagegen dies versucht, desto entschiedener wird die Thatsache des Gedächtnisses ein Beweis für die entgegengesetzte Auffassung, denn auch bei der oberflächlichsten Untersuchung drängt sich die von der Empfindung ganz verschiedene Natur desselben dem Beobachtenden auf'. Die ganze Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung beruht darauf, dass sie uns das, was ausser uns ist und geschieht, nahe bringen soll; ein jedes Nachbild, welches über den Moment des dasselbe wirklich erzeugenden Reizes hinaus dauert, ist, wie die Erfahrung lehrt, ein Mangel des Organs, welcher den folgenden Eindruck stört und die reine Auffassung desselben unmöglich macht, der daher auch von der Natur auf eine bewunderungswürdige Weise vermieden oder auf die engsten Schranken zurückgeführt ist. Wollten wir uns also vorstellen, dass sie um das Gedächtniss möglich zu machen, doch ein Verharren der Empfindungen zugegeben hätte, so wäre das ein unerträglicher Widerspruch, und wir könnten nicht begreifen, wie die im Gehirn aufgespeicherten Spuren sich nicht gegenseitig vollständig verwischen müssten, da doch die zuleitenden Nerven die Empfindungen nur an denselben Ort zu bringen vermöchten. Aber die Wiedererinnerving ist auch nicht ein Wiederauftauchen der Empfindung, sondern das stärkste Gedächtniss vermag wohl die Vorstellung über das Wahrgenommene wieder hervorzurufen, nicht aber die entschwundene Empfindung selbst von Neuem hervorzuzaubern. Die Vorstellung aber ist von der Reflexion abhängig, die wir bei der wirklichen Empfindung über das Wahrgenommene gemacht haben, und die Sonderungen und Verknüpfungen, die wir damals zu machen unterliessen oder auf die wir nicht geführt wurden, können wir nicht nachträglich an dem vermeintlich verharrenden Bilde vollziehen, sondern sie sind uns mit dem Verschwinden der Wahrnehmung unwiederbringlich verloren. Wir erinnern uns nur des bei dem ursprünglichen Eindrucke Gedachten, indem wir die von der Reflexion angestellten Sonderungen und Verknüpfungen wiederholen. Wie diese aber eine freie That des Ichs waren, so steht auch diese Wiederholung (¡curgc,

l.ogik

Wissrnsclmllsl.

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in unserem freien Belieben und die Kraft des Gedächtnisses besteht grade in der Herrschaft über diese Reproduktion, in der wir von jeder Vorstellung, in der wir uns eben finden, auf frühere Vorstellungen zurückzugehen vermögen, mögen sie nun von wirklich Erfahrenem herrühren oder in freier Weise durch unser eignes Denken erzeugt sein. Der in dem Gedächtniss uns zu Gebote stehende Besitz ist daher nicht ein todter Schatz von Eindrücken, sondern die lebendige Thätigkeit des Bewusstseins, welche das von ihr producirte auch in jedem Augenblick wieder zu reproduciren vermag, so dass jede Erklärung der Wiedererinnerung durch zurückgebliebene Spuren stets an diesem üiithsel scheitern muss, wie das im Gehirn niedergelegte von Neuem flüssig gemacht werden soll, um es ins Bewusstsein zurückzubringen, wobei doch immer die Thätigkeit des Bewusstseins wieder zu Hülfe gerufen werden mlisste, die grade erst dadurch erklärt werden soll. Welches aber sind die Mittel, deren sicli das Gedächtniss bedient, um zu dieser Herrschaft über die Vorstellungen zu gelangen V Wir machen die tägliche Erfahrung, dass alles, was in sich oder mit anderem vielfach verknüpft ist, mit der grossesten Leichtigkeit reproducirt wird, während das Vereinzelte sich sehr schwor festhält und erst durch künstlich geschaffene Verknüpfungen imprimirt werden nmss. Diese Verbiuduugen sind eben so viele Fäden, an denen das Bewusstsein von einer Keil exion zur andern übergeht, sobald sie im Verlauf ihrer Thätigkeit auf diesen Zusammenhang geführt wird. Aber mit der dadurch gewonnenen Leichtigkeit der Reproduktion werden auf der andern Seite oft Verwechselungen des Verwandten herbeigeführt, wenn diese nicht durch bestimmte Sonderungen vermieden werden, und so erscheinen hier die beiden Grundthätigkeiten der Reflexion wieder, und das Gedächtniss ist nichts anderes als eine Uebung in denselben, welche durch öftere Wiederholung solcher Verknüpfungen und Sonderungen erworben wird und eine wunderbare Schnelligkeit und Sicherheit der Reproduktion erzeugt, die aber eben so schnell auch wieder verloren geht, wenn wir nicht auf die betreifenden Gedankenverbindungen zurückkommen, zumal wo diese mehr zufälliger und künstlicher Natur gewesen sind. So werden nun die in unserem Bewusstsein gebildeten Reflexionen durch das Gedächtniss befestigt und als ein mehr oder

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weniger sicherer Besitz beherrscht; sie geben ein Netz verknüpfter und gesonderter Vorstellungen, in denen sich dieselbe trennende und verbindende Thätigkeit fortwährend umherbewegt, um es mit neuen F ä d e n zu bereichern und darin bestimmte Gestalten hineinzuweben. Das ist das Reich des Denkens, in welchem ebenso die Reflexion immer neue Bildungen schafft, wie sie die alteu Vorstellungen im Gedächtniss festhält und, wie der Name richtig besagt, des frliher Gedachten gedenkt. Treten wir dann mit diesen uns zum Eigenthum gewordenen Vorstellungen an neue Gegenstände heran, so werden die Sonderungen und V e r k n ü p f u n g e n , zu welchen die in ihnen vorhandenen Differenzen Veranlassung g e b e h , nach den uns geläufigen Reflexionen leicht vollzogen und es gewinnt deu Anschein, als ob wir durch die sinnliche W a h r n e h m u n g selbst unmittelbar die Gegenstände und die an ihnen zu unterscheidenden Beziehungen auffassten, während sie doch nur das Material liefert zu den Operationen des Bewusstseins. auf die wir wegen der darin erlangten Uebung kaum noch achten. Deshalb gehen wir aber auch nur mit den schon gewohnten Reflexionen d a r a n , und was wir nach diesen nicht zu sondern und zn verknüpfen gelernt haben, tritt von den Dingen auch nicht in unser Bewusstsein ein. Im Ganzen aber sind diese Operationen bei den gewöhnlichen Mensehen ziemlich oberflächlich und dringen weder bei der Sonderung des Einzelnen noch bei der Auffassung des Zusammenhanges weiter ein, als das Mass der allgemeinen Bildung, an dem sie mehr oder weniger Theil h a b e n , reicht. Die Wissenschaft dagegen setzt diese Thätigkeit nach beiden Richtungen hin ausserordentlich weiter fort und es ist daher nicht zu verwundern, dass die mit ihr Vertrauten mit einem Blick sogleich die ihnen bekannten Beziehungen an Gegenständen auffinden, welche dem Laien gänzlich verborgen bleiben, wenn er auch noch so sehr seine Aufmerksamkeit auf sie richtet, weil er auf die dazu n o t w e n digen Reflexionen nicht kommt, während er sie eben so leicht anstellt, wenn er von jenen dazu angeleitet wird. Aber selbst in der Wissenschaft sind es die Gedankenblitze einzelner hervorragender Geister, welche zu ganz neuen Combinationen f ü h r e n , zu denen vor ihnen Keiner gelangt w a r , und die doch hernach, wenn sie einmal gemacht worden sind, so einfach und evident erscheinen, dass man sich verwundert, wie sie nicht schon längst von Jedem haben gefunden werden müssen. Wäre freilich

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die Vorstellung von dem Gegenstande eine reine Folge des sinnlichen Eindrucks, so müsste die Sache noch weit wunderbarer erscheinen, denn wie J e d e r auf der Netzhaut, dasselbe Bild emp f ä n g t , so mlisste auch die dadurch gewonnene Vorstellung für J e d e n dieselbe sein. Bei einem uns völlig bekannten Gegenstande, bei dem unsere Bildung hinreicht, um die daran nach dem Mass unserer gewohnten Reflexion sich auldrängenden Beziehungen einzusehen, kann der Schein leicht onlstehen, als brauchten wir nur die Augen zu öflneu, um mit dem empfangenen Eindruck auch sogleich die ihm entsprechende Vorstellung zu gewinnen; ist aber der Gegenstand mehr oder w e n i g e r n e u und unbekannt, so treten uns zwar die gewohnten Sonderungen sogleich entgegen, aber die dadurch selbst bedingten Beziehungen sind uns Anfangs ein Käthsel und fordern unser Nachdenken heraus, dessen Anstrengung wir jetzt recht gut bemerken, indem wir unsern ganzen Besitz von Vorstellungen vergleichend durchlaufen und bald diese bald j e n e Conibination versuchen aber auch wieder fallen lassen, bis es uns endlich entweder gelingt, doli Gegenstand mit einem grösseren oder geringeren Gefühl der Befriedigung zu bewältigen oder bis wir genüthigt werden, von demselben abzulassen, indem wir einsehen dass die uns gegebenen Mittel der Reflexion dazu nicht ausreichen. Nach diesen Betrachtungen begreifen wir nun leicht die Einseitigkeit der beiden entgegengesetzten Anffassungsweisen, von denen die eine alles Wissen von der Erfahrung abhängig machend, das Denken für eine schwache nachwirkende Empfindung erklärt, die andere das Wissen mit dem klaren Denken ideutificirend die Empfindung für ein blosses verworrenes Denken ausgiebt. Grade in dem worin beide Ansichten übereinstimmen irren sie am meisten, während sie in dem, was sie gegeneinander behaupt e n , theilweise liceht- behalten. Die wirkliche Welt wird uns durch die sinnliche Empfindung nahe gebracht und die in ihr gegebenen Unterschiede stellen unserm Denken die Aufgaben, die es zu lösen hat, aber die Vorstellungen sind nicht eine sich von selbst verstehende Folge der E i n d r ü c k e , so dass auch sie wie diese von den Dingen erzeugt w ü r d e n , sondern es ist eine selbständige Thüfigkeit unserer S e e l e , mit welcher sie das ihr Dargebotene sich aneignet und es frei nach den von ihr geschaffenen Combinationen sich auslegt. Empfindung und Bewusstsein sind zwei entgegengesetzte Funktionen der Seele; in der ersteren

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verhält sie sich aufnehmend, indem sie die von den Dingen ausgehenden Wirkungen, libcr welche sie nicht verfügen k a n n , emp f ä n g t , in der andern tritt sie selbstthätig a u f , indem sie die Dinge frei zu gestalten sucht und nur durch den Widerstand, den diese ihrer freien Thätigkeit entgegensetzen, sich leiten und bestimmen lässt, um ihn allmälich immer mehr der Herrschaft des bewussten Denkens zu unterwerfen. Damit stimmen auch die leiblichen Werkzeuge liberein, deren sie nach beiden Richtungen hin bedarf, um mit der gegenständlichen Welt in Verbindung zu sein. Die sensiblen Nerven empfangen ihre Reize von Aussen her und führen sie der Seele zu, die motorischen Nerven empfangen ihre Reize von der Seele aus und setzen sie in Bewegungen um, welche sich an dem Widerstande der Dinge messen und ihn schliesslich überwinden, j e n e sind Organe der Empfindung, diese Organe des werdenden Bewusstseins. Beides sind Bewegungen, die in der Seele ihren Vereinigungspunkt find e n , und die auch in der Organisation des Leibes an bestimmten Punkten nahe aneinander gelegt sind, um ihre Wechselwirkung um so mehr zu erleichtern, aber es sind Bewegungen entgegengesetzter N a t u r , die mit einander in Conflikt treten müssen, um sicli zuletzt friedlich in dem Resultat des Wissens zu vereinigen, mit welchem das Denken als Sieger aus dem K a m p f e hervorgeht. Die Empfindungen beruhen auf schwingenden Bewegungen, durch welche sich die die materiellen Dinge gestaltende Bewegung zuletzt in den kleinsten Massentheilchen abspiegelt, und ihre Bedeutung für unser Wissen gründet sich darauf, dass dieselben Gesetze, welche in der Bildung der Dinge wirksam sind, auch in diesen kleinsten Undulationen der Materie n a c h w i r k e n , so dass j e d e r Unterschied in der Anordnung der Moleküle auch in diesen Wellenbewegungen sich offenbart. Unser denkendes Bewusstsein dagegen geht analysirend und combinirend diesen Differenzen nach, bis es ihm gelingt, den gestaltenden Bewegungen auf die Spur zu kommen, und damit die Dinge selbst zu erzeugen und nach seinein Willen gestaltend zu beherrschen. Diese Bewegung und Gegenbewegung, in welche das Denken empfangend und erzeugend durch seine leibliche Organisation mitten hineingestellt ist, bildet daher den Ausgangspunkt des ganzen Erkcnutnissproeesses. Wir haben von dem, was wir selbst thun, ein unmittelbares Bewusstsein, und mittelbar erken-

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nen wir auch die Objekte an dem Widerstände, den sie unserer Tkätigkeit entgegenstellen, indem wir diesen wiederum messen a n der K r a f t , die wir anwenden müssen um ihn zu besiegen; ganz aber haben wir sie nur erkannt, wenn wir sie durch unsere Thätigkeit selbst hervorzubringen im Stande sind und sie nun wieder unmittelbar als ein Produkt unseres D e n k e n s wissen. Aber die Bewegung, in die wir als Theil dieser Welt hineingestellt sind, ist nicht der Ursprung der Weltbildung; wie wir durch unser Denken dahin gelangen die Dinge nachzubilden, so ist überhaupt die Welt das Produkt eines schöpferischen Denkens, dem wir nur nachzudenken haben, und wie wir, nach dem Masse als wir wissen, die Bewegung beherscheu, so beherscht auch ein ursprüngliches Wissen die ganze Weltbewegung und ist das absolute prius zu ihr. Wir dagegen miniren unserer Stellung gemäss von der Mitte aus und unsere Thätigkeit ist eine riiekschreitende und fortschreitende, indem wir den Process, durch welchen wir selbst geworden sind, denkend zergliedern und mit den dadurch erworbenen Mitteln selbständig producirend in ihn eingreifen. Deshalb ist wohl die Bewegung für uns der Ausgangspunkt, aber in der Bewegung liegen selbst schon vorausgehende Momente, durch welche sie bedingt wird und die wir durch eine eindringende Analyse gewinnen müssen. Zunächst treten uns als solche Zeit und Ort, Kaum und Materie entgegen, die weil sie iu j e d e r Bewegung liegen, ebensowohl in den Dingen enthalten sein müssen, als in der von unserem Denken beherschtcn eigenen Bewegung. Daruni messen wir die Zeit in den Dingen an der Zeit unserer Bewegungen, und den Kaum an den durch unsere Bewegung beschriebenen Räumen, wir erkennen den Widerstand der Materie an unserer entgegenstehenden Kraft und versetzen die Dinge an den Ort, a n welchen wir uns selbst mit unserer Bewegung versetzen. Vermöchten wir, durch die Herrschaft Uber unsere B e w e g u n g , dieselbe nicht anzuhalten, zu beschleunigen und zu h e m m e n , wir würden nie etwas von Zeit und Ort, von Kaum und Materie erfahren, nicht die Bewegung an sich, sondern das von uns beliebig in sie hineingelegte Mass verschafft uns jene Vorstellungen. Ebenso steht es aber auch mit den noch weiter zurückliegenden allgemeineren Kategorion, sie liegen in der B e w e g u n g , und deshalb erkennen wir sie durch sie, indem wir unsere eigene Bewegung nach ihnen modifieiren, und daraus auch die Modifi-

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kationen der Dinge begreifen. Weil wir durch unsere Bewegungen Wirkungen erzeugen und uns selbst als die Ursache unserer Bewegungen erkennen, Ubertragen wir die Causalität auch auf die entgegenwirkenden Dinge, weil wir unsere Bewegung verstärken und vermindern, übertragen wir die quantitativen Verhältnisse auch auf die Grösse des Widerstandes, den wir zu überwinden haben. So geht uns an den zeitweisen Hemmungen unserer eigenen Bewegung die Zahl auf, die wir nun auch auf die durch unsere Bewegung unterschiedenen Dinge anwenden. Mit der Bewegung sind also auch alle diese Momente der Bewegung bis zu den allgemeinsten Kategorien hin den Dingen und dem die Bewegung beherrschenden Denken gemein, und bilden den ganzen Apparat von Werkzeugen, mit welchem das letztere seine Minirungsarbeiten beginnt, um die reichen Schätze, die in der Welt verborgen liegen, zu Tage zu fördern. Nach diesen vorbereitenden Untersuchungen liegt nun die Möglichkeit klar vor, wie durch eine Wechselwirkung zwischen Empfindung und denkendem Bewusstsein das Wissen zu Stande kommen kann, zugleich aber übersehen wir damit auch den Entwickelungsgang in der Gcschiclite der neueren Philosophie, die ihre ganze Kraft an die Lösung des Erkcnntnissproblems gesetzt hat. Jedes System hat seinen Antheil au dieser Lösung, indem es dieselbe von verschiedenen Seiten aus in Angriff" nahm, aber jedes war darin maugelliaft, dass es alles von dem einen einseitigen Gesichtspunkte aus erklären wollte und für den entgegenstehenden kein unbefangenes Urtheil mitbrachte. Die empiristische Auffassung hat darin Kccht, dass uns die thatsächlich gegebene Welt allein durch die sinnliche Wahrnehmung aufgeschlossen werden kann und dass unser Denken den in den Dingen verwirklichten Gesetzen gehorsam nachgehen inuss, um sie zu erkennen und dadurch zu beherschen, aber sie verkannte, dass das Denken eine freie selbständige Thätigkeit ist, und dass die den Dingen einwohnenden Gesetze ihnen von einem schöpferischen Denken beigelegt sind, dem das menschliche selbst, wie weit es auch unter ihm stehe, doch immer verwandt bleibt. Die rationalistische Ansicht hat Hecht, wenn sie in unserer Erkenntniss das selbstbewusste Ich für das ursprünglichste erklärt und dem aufklärenden Denken die ganze Arbeit zuschreibt, welchem gegenüber die sinnliche Empfindung nur eine verworrene Masse chaotischen Stoffs giebt; aber in ihrem Vertrauen auf die Klar-

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heit des Denkens verkannte sie die Bedeutung dieses sinnlichen Stoffs, der ihm die harten und spröden Thatsachen bringen muss, an dem es erst allmälich seine Kraft übt, um ihn endlich zu überwinden. So übersah sie, dass weil die Empfindung ohne das Denken verworren ist, sie nothwendig etwas anderes sein muss als dieses, und dass gerade in dieser Verschiedenheit ihre Unentbehrlichkeit flir die Erkenntnis» liegt; j e mehr sie aber mit gutem Recht die Freiheit und Selbständigkeit des Denkens gegenüber der Sinnlichkeit betonte, desto mehr musste ihr entgehen, dass auch das Denken völlig unabhängig von der sinnlichen Empfindung, an dem von ihm beherschten Muskelsystem ein leibliches Organ besitzt, ohne welches es mit den Dingen nicht in Berührung kommen kann, und vorgeblich mühte sie sich ab das Problem der Wechselwirkung zwischen Leib und Seele zu begreifen, nachdem sie eine unüberwindliche Kluft zwischen ihnen befestigt hatte. Beide Richtungen machten die in ihnen liegenden Conscquenzen durch und suchten die Schwierigkeiten durch verschiedene Modifikationen der Grundansicht nach Möglichkeit zu überwinden, aber sie mussten scheitern, so lange sie ihren einseitigen Gesichtspunkt nicht aufgaben. Da kam der grosse Kant, welcher zuerst bemerkte, dass Empfindung und Denken nicht dasselbe ist, und dass beiden für die Erkenntniss eine verschiedene aber gleich nothwendige Funktion zukommt. Mit dem Satz, dass die Empfindung uns die thatsächliche Welt giebt, aber das Denken sie sich selbständig aneignen muss, dass die Erfahruug ohne Denken blind, das Denken ohne Erfahrung leer ist, hatte er den Punkt bezeichnet, wo die Lösung des Problems allein angegriffen werden konnte, aber flir das völlige Gelingen fehlten ihm noch die Mittel. Mit genialem Blick sah er, dass die Seele selbständig Baum und Zeit mit den Kategorien in die Betrachtung der Dinge hinein legt, aber es entging ihm noch das leibliche Organ, dessen sie sich dabei bedient; er war noch zu sehr daran gewöhnt, die immaterielle Seele schroff dem materiellen Leibe gegenüberzustellen, und obgleich seine Grundanschauiuig auf die engste Vermittelung beider hinwies, so konnte er doch nicht umhin beide so viel als möglich auseinander zu halten. Deshalb vermochte er auf die Bewegung als das verbindende Glied nicht zu kommen und musste auf die Ableitung der F o r men der Anschauung und der Kategorien von vorn herein ver-

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ziehten. In der Unterscheidung beider lag die richtige Ahnung, dass Zeit und Rauoi der Sinnlichkeit näher liegen als die allgemeineren Kategorien des Denkens, aber beide musste er als thatsächlich gegebene der Seele angeborne Formen behandeln, und die natürliche Folge davon war, dass sie den Objekten fremdartig blieben und die Bemühung das Ding an sich zu ergreifen als eine vergebliche erschien, indem uns immer nur seine Erscheinung zugänglich werden kann. Mit Recht hielt er j e n e für die a priori dem Denken beiwohnenden Formen, von denen die ganze Nothwendigkeit und Allgemeingültigkeit unserer Erkenntniss abhängig ist, aber er irrte darin, wenn er sie den Dingen ohne weiteres absprach, da sie ihnen eben so gut zukommen und in ihrer gesetzmässigen Verknüpfung eben so sehr die Nothwendigkeit liegt, als wir durch unser gesetzmässiges Denken sie darin erkennen. War nun so durch die Bemühungen Kants die selbständige Thätigkeit des Denkens wieder zu der rechten Geltung gelangt, so war es natürlich, dass die idealistische Richtung von Neuem ihre Schwingen zu einem kühnen Fluge erhob und das Denken seiner Kraft vertrauend das ganze Sein aus sich selbst zu construiren unternahm, die Warnungen der Kritik nicht beachtend, welche der Vernunft ihre Grenzen vorgezeichnet hatte. Hatte Kant auch noch so sehr das theoretische Denken auf die Erfahrung beschränkt und die Wichtigkeit der Empfindung für dieselbe hervorgehoben, welche Bedeutung konnte dem Dinge an sich noch beiwohnen, wenn ihm alles das schlechterdings abging, was das Denken aus eignem Antriebe hineinlegt? Dieser Vernachlässigung gegenüber hatte Fichte Recht, wenn er das Ich zum Ausgangspunkt der ganzen Erkenntniss machte, ihm alles Sein vindicirte und die Welt als blosses Nicht-Ich behandelte, was es j a in der That für das beginnende Bewusstsein ist, nur darin täuschte er sich, dass er die objektive Macht dieser Schranken nicht erkannte, und sie nur für solche, die das Ich sich selbst gesetzt hätte, hielt. Nicht minder hatte unter solchen Voraussetzungen Hegel Recht, wenn er es unternahm, was Kant schon hätte thun müssen aber zu versuchen sich nicht getraut hatte, die in dem Denken liegenden Kategorien auch aus dem Denken abzuleiten, und wenn dies der dialektischen Methode gelang, so mochte er auch hoffen mit diesem Werkzeug versehen, die ganze Welt aus solchen Bausteinen aufzubauen, und dabei

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der Beihülfe der auf sinnlicher Empfindung gestützten Erfahrung gänzlich entrathen zu können. Das Werk hätte vor sich gehen mögen, wenn das Denken, wie er meinte, das absolute selbst gewesen wäre und sich schöpferisch hätte geriren können, aber das menschliche ist als ein Theil der Welt in sie selbst und ihre Schranken hineingestellt und ihm nur die Aufgabe geworden, dem göttlichen Denken nachzudenken, und Uber diesen Irrthum beachtete er es nicht, dass er eigentlich doch nur den Mörtel gebrauchte, um die der Erfahrung abgeborgten Bausteine zusammenzufügen und sie, so viel die ihnen anhaftende Gestalt es etwa ahnen liess, zu einem mehr oder minder erträglich geordneten Gebäude zu verwenden. Denn ist es auch richtig, dass die Kategorien dem Denken a priori einwohnen, so müssen sie doch erst durch einen harten Kampf mit den Thatsachen, denen sie ebenso einwohnen, ihm zum Bewusstsein gebracht werden, und erst mit der Erfahrung wächst auch die Uebung in dem richtigen Gebrauch dieser Formen. So war es denn nach dieser Abirrung von dem durch Kant vorgezeichneten Wege ein grosses Verdienst Schleiermachers, wenn er wieder auf die richtige Bahn einlenkte und die N o t wendigkeit des Zusammenwirkens von Empfindung und Denken, von organischer und intellektueller Funktion hervorhob, damit wir lernen im Denken die Begriffe eben so zu verknüpfen, wie die Dinge im Sein verknüpft sind. Dabei lässt er in der entschiedensten Weise der Selbstthätigkeit der Vernunft wie der uns mit der Aussenwelt verbindenden Wahrnehmung Gerechtigkeit widerfahren, die Begriffe liegen in der Vernunft aber auf eine zeitlose Weise als lebendige Kraft, und sie entwickeln sich erst zu wirklichen Begriffen auf Veranlassung der organischen Funktion. Es fehlte ihm jedoch noch das verbindende Glied zwischen beiden Funktionen und er wusste sich in dieser Beziehung nur darauf zu berufen, dass uns tatsächlich im Selbstbewusstsein das Denken nicht anders gegeben ist als geknüpft an ein Sein. Um daher die Möglichkeit des Wissens zu begreifen, musste er appelliren an die transcendente Einheit aller Gegensätze, nach welcher die Gottheit eben so wohl der Welt wie dem Denken als treibende Kraft einwohnt, ohne doch von diesem j e weder in sich noch in der Welt erkannt zu werden. Schleiermacher sah noch nicht, dass auch die intellektuelle Funktion an der von ihr beherschten Bewegung ein eigenes Organ besitzt,

Einleitung.

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welches sie mit der organischen Funktion vermittelt, und deshalb blieben ihm beide, so sehr er sie zu vereinigen strebte, doch als ausser einander parallel hinlaufende und nicht iu einander greifende Thätigkeiten bestehen. Es ist wunderbar, mit welcher Genialität Schleiermacher, trotz dieses Mangels, die an die Erkenntniss zu stellenden Forderungen vorgezeichnet und jede Einseitigkeit nach der einen oder andern Richtung zu vermeiden gewusst hat, aber wie dieselben erfüllt werden sollen, niusste dennoch unklar bleiben, so lange jene vermittelnde Einheit nicht entdeckt war. Trendelenburg entdeckt sie in der Bewegung und thut damit den letzten grossen Schritt, welcher für die Lösung des Problems zu machen war. Sie ist ihm jene ursprüngliche Einheit von Sein und Erkennen, welche, indem sie der Grund von Allem ist, nicht aus einem andern sondern nur aus sich selbst erkannt werden kann, das Allgemeinste und Einfachste, das jeder Definition unzugänglich ist und nur als treibende Kraft im Sein und im Denken angeschaut werden kann. Sie erzeugt Raum und Zeit und alle Kategorien in der äusseren und in der inneren Gedankenwelt, und es wird nun begreiflieh, wie das Denken seine ihm a priori zukommenden Deukforinen in dem Sein wiederfinden und damit dasselbe nachbildend erkennen wie vorbildend gestalten kann. Aber in dieser Fassung liegt noch ein unaufgeklärter Widerspruch verborgen. Trendelenburg sagt selbst'), gäbe es noch eine allgemeinere Thätigkeit, als die g e suchte. so würde diese übergreifend bedingen und begründen und die gesuchte Thätigkeit würde aufhören, dem Begriff einer ursprünglichen Verniitfelung zu entsprechen; und doch sieht er in dem Verlauf seiner Untersuchungen sich genütliigt, in der Kategorie des Zwecks dieses Ucl ergreifen des Denkens über die Bewegung anzuerkennen. Die transcendente Gottheit ist nicht mehr bewegt, sondern ein mit seinem Denken die Bewegung bchcrschender Geist und dieses Beherschendc niuss mehr als Bewegung sein. Darum ist die Bewegung nicht die u r s p r ü n g l i c h e Einheit von Denken und Sein, sondern nur für unser Denken, die wir mitten in die bewegte Welt 1 ineingesfellt sind, ist sie das Vermittelnde, wodurch wir das gestaltete Sein erfassen und auf dasselbe wirken. Darum können wir nicht anerLugi&chu IJutcrBUclmugci 1, lo9.

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Einleitung.

kennen, dass Raum und Zeit und alle Kategorien Produkte der Bewegung sind, sondern umgekehrt ist sie ein Produkt aus ihnen und erst weil sie ihr in bestimmtem Masse von einem ursprünglichen Denken her schon anhaften, geht sie in der gesetzmässigen Bestimmtheit vor sich. Ebenso beachtet Trendelenburg nicht genug, dass die in dem Sein uns entgegentretende Bewegung eine in bestimmten Richtungen gegebene ist, während die von uns ausgehende eine freie von unserem Denken ursprünglich schon gerichtete und beherschte ist, wodurch ihr die Möglichkeit gegeben ist, selbst tibergreifend in jene wirksam zu sein, und theilweise producirend und schöpferisch aufzutreten. Hier aber liegt nun der eigentlich entscheidende Punkt. Trendelenburg findet in der Bewegung den gemeinsamen Ausgangspunkt für das Sein wie flir das Denken, aber beide gehen ihm doch ähnlich wie bei Schleiermacher nur parallel nebeneinander her,, und so sehr er sich auch bemüht das Eingreifen derselben in einander anschaulich zu machen, so wird es doch nicht recht begreiflich. „Dieselbe Bewegung gehört dem Denken an, ireilich nicht in der Weise dieselbe, dass der Punkt in der Bewegung des Denkens den entsprechenden Punkt der Bewegung in der Natur äusserlicli deckt. Dennoch muss es ein G e g e n b i l d derselben Bewegung sein; denn wie käme sie sonst zum Bewusstsein')? — Der innere Raum, in welchem die Vorstellung g l e i c h s a m zeichnet, entsteht für den Gedanken nur durch die construktive Bewegung — aber es muss unerörtert bleiben, wie sich der Raum des Gedankens die erste That der sich regenden innern Anschauung wie eine eigne Welt des Bildes, im Gegensatze der gemeinsamen wirklichen, hervorarbeiten kann. — Unterscheidung und Verbindung in dem Bereiche des Denkens führt lebeudig vorgestellt auf die Bewegung, — aber die Bewegung im Räume des Gedankens bleibt immer nur ein Gegenbild der Bewegung im äussern Räume." Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass es sich hier nur um eine bildliche Zusammenstellung handelt, so sehr auch Trendelenburg dagegen protestirt, wenn man es für eine blosse Analogie der Sprache halten wollte. Immer noch hält er die äussere sinnliche Bewegung und die innere bewusste zu sehr auseinander, denn er sieht nicht das l e i b l i c h e O r g a n , das den Punkt in der Bewegung des Denkeus

') Logische Unters. I, 142 ff.

Einleitung:.

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mit dem entsprechenden Punkt der Bewegung in der Natur äusserlich zur Deckung bringt. Der alte Gegensatz von Leib und Seele ist noch zu mächtig, als dass er eine volle Vermittelung durch die wirkliche Bewegung vertrüge, und darum bleibt das Metaphorische als ein Trennendes darin zurück. Erst wenn man den Gegensatz der sensiblen und motorischen Nerven recht ins Auge fasst und bedenkt wie beide die leiblichen Organe der Seele sind, mit welchen sie entweder empfindend die äussere Welt in sieh aufnimmt oder frei thätig auf sie einwirkt, ist die Vermittelung zwischen dem Denken und Sein durch die Bewegung wirklich vollzogen und wir begreifen, wie das Denken durch die Beherschung der eigenen Bewegungsorgane in die äussere B e w e g u n g eingreifend und übergreifend sie sich aneignen und gestalten k a n n . Hiemit ist nun das Verhältuiss des menschlichen Denkens zu dein göttlichen klar festgestellt und die A u f g a b e , die j e n e m in Beziehung auf dieses geworden, deutlich bezeichnet. Die Welt ist als die Schöpfung Gottes das Organ durch welches er zu dem menschlichen Denken spricht und dieses soll sich die darin offenbaren Ideen des göttlichen Denkens a n e i g n e n , aber wie der Mensch als ein beschränkter Theil der Welt mitten in die Bewegung an einen bestimmten Ort hineingestellt ist, so vermag er dies nur durch den ihm zukommenden Organismus, durch welchen er mit dieser Welt in bestimmter Weise z u s a m menhängt, während sein denkender Geist dem göttlichen ebenbildlich sie zu beherschen bestimmt ist. Deshalb handhabt die Seele die in der Bewegung liegenden Kategorien in freier Weise, indem sie Zeit und Ort wählt, die Bewegungen nach Zahl und Mass hemmt und beschleunigt und die ganze Causalität in ihre Gewalt bringt. Das menschliche Denken lernt an den in der Welt, niedergelegten Ideen Gottes und gebraucht dazu die ihm selber einwohnenden K a t e g o r i e n , deren es sich mit fortschreitender Hebung immer mehr bewusst wird. Denn wie j e d e s Lernen eine S e l b s t t ä t i g k e i t von Seiten des Lernenden voraussetzt, und Niemand lernt, was er nicht, selbst producirt, so beschränkt sich auch die Thätigkeit des Lehrenden d a r a u f , dass er den Schüler darin unterweist, wie er die ihm schon beiwohnenden Vorstellungen zu verknüpfen und zu sondern hat. Die Dinge in der Welt aber sind in gesetzmässiger Weise verknüpft und gesondert, und der Widerstand, den sie unserer freien Thätig-

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Einleitung.

keit entgegensetzt, wenn sie dieselbe in anderer Weise verknüpfen und sondern will, ist das Zuchtmittel, unter welchem unsere Gedankenproduktion steht. Selbst der Autodidakt lernt nur, i n dem er seine Vorstellungen bald so bald so verknüpft und in diesen Combiuationen so lange abwechselt, bis sie dem Stoft', den er sich aneignen will, vollständig entsprechen, aber er verliert oft viel Zeit d a r ü b e r , indem er bei dem Errathen der ihm rätliselhaften Verknüpfungen im Ungewissen umhertappt und die schon gefundenen Lösungen wieder verwerfen muss, w ä h r e n d er diesen Verlust sich erspart hätte, wenn er sich eines guten Leib rers hätte bedienen können. Aber diese scheinbar verlorene Krai'tanstrengung kommt ihm doch wieder zu Gute, indem seine Kenntnisse nicht, wie es bei den Andern häufig zu geschehen pflegt, nur äusserlich angeeignete sondern selbstthätig erworbene sind und deshalb auch eine grössere ¡Sicherheit und Klarheit besitzen, wenn sie zuletzt wirklich das Richtige treffen. Die Entwickelung der menschlichen Erkenutniss im Grossen und Ganzen schwankt wie j e d e Erkennt niss zwischen der eines Autodidakten und eines Schülers, denn der Unterschied ist in der T h a t nur ein relativer, da j e d e r Fortschritt Uber das Ueberlieferte hinaus die Natur des Autodidakten au sich trägt. Die E r f a h r u n g s e r kenntniss ist überwiegend die eines Schülers, welcher mit seinem Denken einen gegebenen Stoff' sich aneignet, indem er aufmerksam dem darin vorgezeichneten Zusammenhang folgt, auf die Unterschiede m e r k t , und sich so in einem ruhigen Fortschritt u n terrichten lässt, die spekulative Erkenntniss gleicht mehr der Entwickelung des Autodidakten, welcher die selbst gemachten Conibinationen häufig wieder verwerfen muss, um dann durch das Misslingen weiser geworden das Werk ganz von Neuem zu beginnen; aber der Erstere k a n n nicht fortschreiten ohne selbstthätig zu comhiniren und der Andere kann nicht zu dem Richtigen gelangen, wenn er die Resultate seiner Combinationen nicht an den entsprechenden Stoff hält, um sich der Uebereinstimmung mit demselben zu versichern. Hiermit ist nun der Gang vorgezeichnet, welchen das D e n ken zu nehmen hat um zum Wissen zu gelangen. Sinnliche Wahrnehmung und denkendes Bewusstsein entwickeln sich im Verkehr mit der Aussenwelt abwechselnd und stehen in der lebendigsten Wechselwirkung mit einander, ohne dass der A n theil der einzelnen Thätigkeiten dabei deutlich erkannt w ü r d e ;

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Einleitung.

die Wissenschaftslehre bat diesen E n t w i c k e l u n g s g a n g systematisch darzulegen,

indem

sie die Stufen in demselben k l a r nachweist.

E n t w e d e r nämlich beginnt dieser P r o c e s s mit der sinnlichen E m pfindung und das D e n k e n

eignet sich das Wahrgenommene an

und gestaltet daraus die gegenständliche Welt, oder das D e n k e n beginnt mit seinen eignen Combinationen und versucht dieselben a u f den ihm durch die sinnliche Empfindung dargebotenen anzuwenden, ersteren

Den

W e g bezeichnen wir mit dem Ausdruck G l a u b e ,

wel-

cher a u f die W a h r h e i t hängt.

Stoff

um zu sehen wie weit er ihnen entspricht.

dass

das

Denken

gerichtet ist, mit

der

indem Alles davon

Aneignung

des

ab-

Empfunde-

nen zugleich d a s Bewusstsein seiner Uebereinstimmung mit dem S e i n e r l a n g e ; der andere W e g führt zum E r k e n n e n , indem d a s D e n k e n hier sich bewusst ist in dem Empfundenen nur das ihm schon B e k a n n t e wiederzufinden und das Resultat dieser T h ä t i g keit ist die K l a r h e i t , mit welcher das D e n k e n den verworrenen Stoff auflöst.

Dieser Glaube an die W a h r h e i t und diese K l a r -

heit des E i k e n n e n s müssen sich dann gegenseitig

durchdringen,

und es beginnt hier dieselbe Wechselwirkung, indem das W a h r e auch zur klaren E r k e n n t n i s s gebracht und das E r k a n n t e mit dem Glauben

an

gewusst wird.

die Wahrheit angeeignet und damit erst Somit wird die Logik in drei Theilc

welche G l a u b e n ,

Erkennen

Momenten zu verfolgen haben.

und W i s s e n

wirklich zerfallen,

in ihren einzelnen

I. Der Glaube. In der sinnlichen Empfindung erscheint die Welt als ein thatsächlich Gegebenes, dem wir uns denkend hinzugeben haben, um es in unser Bewusstsein aufzunehmen. Wir vermögen Uber die Empfindungen nichts, sondern erhalten sie schlechterdings j e nach der Stellung, in der wir uns zu den Dingen befinden, durch die Einwirkung derselben auf unsere Sinnesorgane, und unser Denken soll weder etwas hinzuthun noch hinwegnehmen, sondern sie sich so aneignen, wie sie wirklich find. Diese Hingebung des Denkens an das Empfundene ist nun eben der G l a u b e , oder das Bewusstsein, dass unser Denken dem wirklichen Sein entspricht. Wir haben ihn nur im Denken, aber er ist stets ein Produkt aus der Empfindung und dem denkenden Bewusstsein, welches aus der Umsetzung des Empfundenen in Gedanken entsteht und damit zugleich das Bewusstsein von der Uebereinstimmung beider erzeugt. Ueberall, wo wir glauben, denken wir, dass unsere Vorstellungen zusammenfallen mit der Wirklichkeit, die uns in der Empfindung entgegentritt. Aber unsere bisherigen Untersuchungen haben uns schon darüber belehrt, dass es ein grosses Missverständniss wäre, wenn wir meinten durch die Empfindungen selbst schon Gegenstände wahrzunehmen, wir haben sie nur als wechselnde Zustände unserer Seele, in denen die Dinge, vermöge ihrer Einwirkung auf uns, «ins geworden sind mit unserer Seele, und gerade erst das Denken ist es, welches uns nöthigt, die Ursache unserer Empfindungen ausser uns zu suchen und somit das Empfundene nach Aussen zu versetzen, jedem seinen bestimmten Ort anzuweisen und so Gegenstände vorzustellen, von denen diese Wahrnehmungen herrühren. Hier beginnt daher schon der Glaube mit der Beziehung der Empiin-

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I. Der Glaube.

dung auf einen Ort ausser uns und wir erkennen dies am besten an d e r Möglichkeit der T ä u s c h u n g , die dabei eintreten kann. Die blitzartigen Erscheinungen, welche das k r a n k e Auge d u r c h zucken, dürfen nicht auf etwas ausser uns bezogen werden, die Nachbilder hell leuchtender Gegenstände, die aucli in dem von ihnen abgewendeten Organ verharren, können den falschen Glaubon an das Vorhandensein eines wirklichen Gegenstandes erzeugen, d a s Sausen und Klingen in den Ohren den Schein eines objektiven Geräusches ausser uns erzeugen. Darum glaubt nicht etwa nur der Irre bei seinen Hallucinationen wirkliche Objekte wahrzunehmen, sondern j e d e Beziehung der Empfindung auf ein Objekt ausser uns, ist ein Glaube, der sich von j e n e m nur durch die Wahrheit unterscheidet, und wir mlissen uns dessen stets bewusst bleiben, dass wir alles, w a s wir sehen, nur zu sehen glauben. Wir haben uns freilich so gewöhnt, den Glauben als einen niedrigeren Standpunkt des Wissens anzusehen, bei welchem uns immer der Gedanke an eine mögliche Täuschung entgegentritt, dass wir nur da, wo wir eine wirkliche voraussetzen oder die Sachc noch als ungewiss hinstellen, uns dieses Ausdrucks zu bedienen pflegen. Aber dies ist doch nur eine Nachwirkung der irrigen Ansicht, als ob die sinnliche Wahrnehmung uns unmittelbar die Gegenstände an die Hand gebe. Bedarf es j e d o c h liberall, wo wir das Wahrgenommene ins Bewusstsein aufnehmen und es objektiviren, des Denkens, so bedarf es auch Uberall des Bewusstseins, dass dieses Denken der Wirklichkeit entspricht und also ein wahres ist, und der festeste und sicherste Glaube, der mit voller Gewissheit und Uebcrzeuguug von der Wahrheit das Vorgestellte festhält, bleibt immer ein Glaube, und auch das höchste und vollendetste Wissen kann desselben nicht entbehren, sondern es ist nur ein wahres, in wiefern es den Glauben an die Wahrheit in sich enthält. Es gellt schon daraus hervor, wie dieser Glaube verschiedene Stufen haben wird, in denen er sich allmülich entwickelt. J e n e s Bewusstsein von der rebereinstinimung unserer Vorstellungen mit der Wirklichkeit, welches unser Denken fortwährend begleitet, besitzt verschiedene Grade der Sicherheit und es wird eben unsere Aufgabe sein den Weg zu untersuchen, welchen diese Entwickelung n e h m e n muss um zur vollendeten Wahrheit zu gelangen. Die bisherige Logik behandelt gewöhnlich nur Ci-oigr,

I . n y i k ;ils W i s s e n s c l m l t s l .

4

50

I. Der Glaube.

das Erkennen, und j e mehr sie sich in aller Schärfe der Bedeutung dieses Ausdrucks bewusst w i r d , desto mehr entschlägt sie sich alles Eingehens auf j e n e wichtigste Frage. Die strenge formale Logik erklärt daher auf das Bestimmteste, dass es sich in ihr gar nicht 11111 den Inhalt der Erkenntniss handle, sondern rein um die Form. Sie verzichtet damit auf die Untersuchung der Wahrheit des Gedachten und will allein in ihre Betrachtung ziehen, wie richtig gedacht werden müsse, als ob allein davon das Wissen abhängig wäre. Bei dieser Anschauung kann man aber die Sache zwiefach ansehen, j e nachdem man von den bekannten entgegengesetzten Grundansichten über die Natur des Wissens ausgeht. Entweder nämlich denkt man sich die Wahrheit als eine unmittelbar mit der Wahrnehmung verbundene und die denkende Erkenntniss ist nur die Zergliederung derselben, die einen rein formalen Werth hat gegenüber dem von j e n e r gegebenen I n h a l t , oder die wirkliche Erkenntniss trägt unmittelbar in sich das Gepräge der Wahrheit, indem das klar und richtig Gedachte auch gewiss das W a h r e ist. Da darf man sicli dann nicht wundern, wie der Begriff des Glaubens, der für uns den ersten Haupttheil der Wissenschaftslehre bilden soll, gänzlich vernachlässigt wird und wie man noch weniger sich berufen fühlt auf die besonderen Momente und Entwickclungsstufen desselben einzugehen. Ist nämlich die Wahrnehmung die unmittelbare Quelle aller Wahrheit, so ist von einem Glauben gar keine Rede und es giebt g a r keine verschiedenen Stufen derselben, sondern man stellt einfach die Forderung hin, die Sinne offen zu halten und sich der Einwirkung der Dinge hinzugeben, indem man meint, dass dann die Wahrheit schon von selbst sich ergeben werde. Der Glaube gilt d a dieser sinnlichen Wahrheit gegenüber nur als das Produkt des unberech tigten, selbständig auftretenden Denkens, welches ohne auf die Erfahrung Rücksicht zu nehmen, sich Vorstellungen tiber die Dinge bildet, die keine Realität besitzen und deren daher der auf das Wissen gerichtete sich gänzlich zu enthalten hat. Was wir sehen, brauchen wir nicht mehr bloss zu glauben und wo wir wissen, findet der Glaube keine Stelle mehr. Ganz ähnlich stellt sich die Sache, wenn man das Wissen als das Produkt der denkenden Erkenntniss hinstellt, nur dass man zu demselben Resultat auf einem anderen Wege gelangt. Ist nämlich nur das klar gedachte und bewiesene w a h r , so gilt

51

I. Der Glaube.

es auch für das wirkliche Wissen nur diesen W e g der Ableitung aus dem reinen Denken zu betreten, j e d e Einmischung der verworrenen W a h r n e h m u n g abzuweisen und die Resultate des Denkens selbst im Widerspruch mit der irreleitenden E r f a h r u n g festzuhalten. Da erscheint dann der Glaube als ein u n k l a r e s , der eigentlichen Gründe sich noch nicht bewusstes Denken, welches, anstatt die eigne Einsicht zu suchen, sich fremder Auctorität hingiebt u n d , anstatt sich die Verhältnisse vollkommen deutlich zu machen,, mit einer oberflächlichen Betrachtung und verworrenen Anschauung begnügt. Wer den Beweis zu führen versteht, dass die Summe der Winkel in jedem Dreieck zwei Rechte bet r ä g t , braucht es nicht mehr zu glauben, sondern er weiss es, und so schliesst auch hier das Wissen den Glauben aus. Wie sollte danach die Lehre von der Erkenntniss das Bedürfniss fühlen, näher in die verschiedeneu Abarten des Glaubens einzugehen, welche wohl für das gewöhnliche Leben eine gewisse Bedeutung haben und deshalb auch in der Sprache des Umgangs ausgeprägt sind, aber in der Wissenschaft keine Stelle beanspruchen können? Beide Grundrichtungen, so verschieden sie auch sonst sein mögen, stimmen daher in der Verwerfung des Glaubens überein, und man begreift, wie er in einer L o g i k , die von solchen Voraussetzungen ausgeht, keine Beachtung finden kann. Die enipiristische Auffassung betrachtet ihn als ein unbefugtes Denken, welches sich der Erfahrung als der einzigen Quelle der Wahrheit überhebeu will, die rationalistische Richtung sieht ihn als den unvollkommenen Standpunkt des gemeinen Bewusstseins au, welches aus Mangel an eigener Erkenntniss, fremder Auktorität v e r t r a u t , beiden ist er leere Meinung, die selbst in dem Fall, wo sie das Richtige trifft, dies nur dem Zufall zu verdanken hat, und erst durch das w irkliche Wissen zur Wahrheit werden kann. Nur auf dem religiösen Standpunkt hat der Glaube seine Bedeutung gewonnen, und man hat sich zu allen Zeiten bemüht, sein Verhältniss zum Erkennen und Wissen in der eingehendsten Weise zu erörtern. Aber grade, weil dies immer nur im A u sehluss au die sonst verbreiteten Ansichten über die Beziehungen j e u e r Begriffe geschehen konnte, haben auch diese Betrachtungen nie zu einem richtigen und klaren Abschluss gelangen können. J e weniger der Glaube in der gewöhnlichen Logik eine Stelle fand, desto mehr musste es so erscheinen, als ob für die Theologie eine besondere Erkenntnissquelle Geltung habe, die mit 4*

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T. D e r G l a u b e .

den Gesetzen des g e w ö h n l i c h e n D e n k e n s in gav keiner Verbind u n g stelle. Die G e g e n s t ä n d e des religiösen Bewusstseins sind Ubersinnlicher Natur, sie g e h e n über alle sinnliche W a h r n e h m u n g h i n a u s u n d sind nur d e m D e n k e n z u g ä n g l i c h , u n d so blieb flir sie nur d e r G l a u b e Übrig; a b e r es lag auch n a h e , dass wenn die sinnliche "Wahrnehmung sonst als die einzige Quelle des W i s s e n s a n g e s e h e n w u r d e , auch dieser G l a u b e nicht als ein Wissen gelten k o n n t e , s o n d e r n in dein Sinne d e r Meinung gefasst w u r d e , mit der m a n sich eben befriedigen musste, wenn m a n nicht j e d e m Aufschluss über diese höchsten den menschlichen Geist am meisten intcressircnden G e g e n s t ä n d e völlig entsagen wollte. Auf d e r a n d e r e n Seite erschien die Religion als eine thatsüchlieh g e g e b e n e h ö h e r e O f f e n b a r u n g , welche Uber das gewöhnliche E r k e n n e n h i n a u s g i n g und nicht als ein P r o d u k t des auf a n d e r e n Gebieten g e l t e n d e n menschlichen D e n k e n s a n g e s e h e n w e r d e n k o n n t e ; hier musste m a n sich einer f r e m d e n Auktorität beugen, w e n n man nicht .der S e g n u n g e n der Religion sich gänzlich verlustig machen wollte. Aber j e mehr m a n sich gewöhnt hatte dasAYissen g a n z und g a r mit der E r k e n n t n i s s zu identificiren, um so weniger konnte man die religiösen Vorstellungen als ein Wissen betrachten, sondern musste sie auch hier als einen Glauben b e z e i c h n e n , dem m a n nur deshalb mit grösserem A'ertrauen sich willig hingab, weil er als auf einer göttlichen Auktorität ber u h e n d sich darstellte. Aber nach beiden Seiten hin kam man mit der einmal vorgel'assten Ansicht über d a s A'erhältniss des Wissens zur W a h r h e i t in einen bedenklichen Widerspruch und es konnte nicht ausbleiben, d a s s der Zweifel immer im Hinterg r ü n d e lauerte und zu g e l e g e n e r Zeit mit grösserer oder gering e r e r Offenheit a n den T a g trat. Man f a n d sich auf der einen Seite damit a b , d a s s der religiöse Glaube eine Sphäre für sich bilde, die man von den Gebieten des erfahrungstnässigen Wissens so fern wie möglich halten m ü s s e , um sich wenigstens in diesen freie H a n d zu verschaffen und sie g e g e n die Eingriffe von j e n e m zu schützen, es übrigens dem eignen ßewusstsein eines J e d e n überlassend, wieviel er sich d a v o n aneignen wolle. Andrerseits nahm man -von Seiten des E i k e n n e n s doch soviel in An-. Spruch, dass w e n n m a n auch z u g a b , wie die Offenbarungen der Religion auf göttlicher Auktorität beruhten und deshalb g e g l a u b t werden niiissten, sie doch auch wie j e d e a n d e r e Vorstellung dem E r k e n n e n zugänglich gemacht werden könnten, und indem m a n

I. Der Glaube.

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meinte, dass sie um vollständige Wahrheit zu werden des Beweises bedürften, bemühte man sich, diesen nach den g e w ö h n lichen Gesetzen des Denkens zu führen. Blieb dann dieser hinter den Glaubenssätzen zurück oder gerieth g a r mit denselben in einen offenbaren Widerspruch, so blieb auch hier nur der verzweifelte Ausweg, neben der theologischen Wahrheit eine philosuphische anzunehmen, die sich nicht deckten und von denen man die erstere dem Gewissen eines J e d e n tiberlicss. Aber die Theologie konnte die Anwendung der sonst in den übrigen Gebieten geltenden Vorstellungen Uber das Verbältniss des Glaubens zu dem Wissen auf das religiöse Dogma nicht anerkennen, ohne dasselbe dem Zweifel Preis zu geben; sie musste für den religiösen Glauben die volle Gewissheit in Anspruch nehmen und durfte auch die Wahrheit desselben von der Anerkennung durch den denkenden Verstand nicht abhängig machen lassen. So gelangte sie zu der vollkommen richtigen Einsicht, dass in religiösen Dingen alle Wahrheit auf dem Glauben b e ruhe, und dass die Erkenntniss zwar die Glaubenssätze klar zu machen im Stande sei, a b e r zu der innern Gewissheit und Ueberzeugung nicht das Geringste liinzuthuc. Dies w a r im Allgemeinen die Anschauung der alten Kirchenlehrer wie der Scholastiker des Mittelalters, und sie hat auch in die neuere Philosophie ihren Eingang g e f u n d e n , indem bei K a n t , F i c h t e , Jacobi der Glaube au das Uebersinnliche und die Gottheit in diesem eminenten Sinne einer über jeglichen Zweifel erhabenen Gewissheit genommen wird. Aber immer blieb dabei der Gegensatz zwischen .Glauben und Wissen bestehen, und wenn das eine dem anderen nicht übergeordnet wurde, so konnte man sie nur neben einander hergehen lassen und das ganze Gebiet der Erkenntniss in diese zwiefache Sphäre zertheilen, so dass das Unendliche und die Beziehungen zu ihm dem G l a u b e n , die endlichen Dinge dem Wissen anheimfielen. Aber damit w a r immer noch keine Klarheit erreicht. War die Anwendbarkeit von dem gewöhnlichen Begriff des Glaubens auf den religiösen einmal aufgefasst, so musste auch der Unterschied zwischen beiden näher festgestellt werden. Die Ungewissheit haftete dem ersteren als ein charakteristisches ihn allein vom Wissen unterscheidendes Merkmal an, die Gewissheit dagegen sollte gerade dem religiösen Glauben zukommen, und er dennoch von dem Wissen unterschieden werden, darin lag eine

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I. Der Glaube.

schwer zu lösende Verwirrung der Begriffe, die nothwendig darauf führen musste, den Unterschied auf eine ganz verschiedene Erkenntnissquelle in dem menschlichen Geiste zurückzuführen. Der Glaube im gewöhnlichen Sinne wie das Wissen wurde auf das Denken und als Organ desselben auf die Vernunft bezogen, der religiöse Glaube durfte also nicht als ein Produkt des Denkens und der Vernunft gefasst werden, er erschien als etwas Uebervernünitiges, unmittelbar dem Geiste Eingeflösstes, und damit schlechthin Mysteriöses, von dem man sich keine Rechenschaft geben konnte, weil es psychologisch nicht nachzuweisen war. Man durfte an die enge Verknüpfung des Religiösen mit der Sittlichkeit denken und an das Gewissen als ein demselben ¡ingehöriges analoges Organ erinnern, aber dem widerstand wieder, dass die Glaubenssätze doch in Vorstellungen gefasst waren, die in dem Denken wurzelten. Man begreift daher, mit welcher Befriedigung es aufgenommen werden rnusste, als Schleiennacher in dem G e f ü h l das Wort gefunden zu haben schien, mit welchem auch psychologisch dem religiösen Glauben seine Stellung in dem menschlichen Geiste angewiesen war. Die Frömmigkeit sollte weder ein Wissen noch ein Thun sein, sondern ein Indifferenzzustand beider in dem reinen und unmittelbaren Selbstbewusstsein, welcher abwechselnd in das eine oder das andere überzugchen im Stande war und sich als schlechthiniges Abhängigkeitsgefühl dokumentirte. Damit war denn auch der Punkt bestimmt bezeichnet, von welchem aus der religiöse Glaube seine Sicherheit zu erhalten und der Uebergang desselben in das Wissen vermöge des rcflektircnden Bewusstseins ermöglicht schien, ohne dass durch dieses ihm irgend ein Zuwachs an Wahrheit zu Tlieil wurde, die er vielmehr durch das unmittelbare Selbstbewusstsein in sich trägt. Aber man musste Anstoss nehmen an dem Ausdruck Gefühl, es erschien der Objektivität und Erhabenheit des Gegenstandes gegenüber zu niedrig, zu unbestimmt und zu subjektiv, das Selbstbewusstsein war doch immer Bewussteein und dieses konnte man sich nicht anders als denkend vorstellen, und wenn es sich davon unterschied, so konnte der Unterschied nur in der Unentwickeltheit und in dem Mangel an Klarheit bestehen, wie er thatsächlich auf allen andern Gebieten das deutliche Denken begleitet und hier als Gefühl bezeichnet wird. So war zwar ein Wort gefunden, an welches das zu Erklärende angeknüpft werden konnte, aber es war

I. Der Glaube.

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unfassbar und erinnerte gar zu sehr an jene Unbestimmtheit und Unsicherheit, die dem Glauben in dem gewöhnlichen Sinne anhängt, und die doch grade auf diesem Gebiete eliminirt werden sollte. So liegt die Sache noch jetzt in derselben Unklarheit und trägt dazu bei, das religiöse Gebiet entweder dem Zweifel Preis zu geben, oder es als ein abgesondertes und unnahbares anzusehen, in welchem die Gesetze der gewöhnlichen Logik keine Geltung mehr haben. Ein neues Licht muss die Frage dagegen bekommen, wenn wir dem Glauben auch in allen übrigen Gebieten des Wissens sein Recht vindiciren und das, was bisher nur als dem religiösen Glauben zukommend ausgesprochen ist, demselben überhaupt beilegen, dass er die einzige Quelle der Wahrheit im Wissen ist und der Erkenntniss nur zukommt dieselbe aufzuklären. Besteht aber der Glaube nur in der Aneignung des thatsächlich Gegebenen durch das denkende Bewusstsein, so wird auch umgekehrt dem Denken sein Recht auf dem religiösen Gebiete gewahrt und es bedarf hier keines besonderen Organs und keiner besonderen Gesetze des Denkens, die nicht auch in allen übrigen Theilen des Wissens ihre Anwendung fänden. Hienach hat also unser erster Haupttheil der Logik, welcher die Entwickelung der verschiedenen Momente des Glaubens zur Darstellung bringen soll, die wichtige Aufgabe, nicht nur den Streit zwischen den entgegenstehenden Grundansichten Uber die Quelle des Wissens zu schlichten, sondern auch die Unklarheit über die Stellung des religiösen Gebiets zu den übrigen aufzuhellen. Es handelt sich dabei um Tliatsachen, die nicht durch das Denken erzeugt werden, sondern ihm gegeben sind und nur von ihm durchdruugen und angeeignet werden sollen mit dem Bewusstsein der Uebereinstimmung. Was ist Wahrheit im weitesten und ausgedehntesten Sinne des AVorts und wie gelangen wir zu ihr durch die Thätigkeit unseres Denkens, das ist die grosse Frage, welche hier ihre Erledigung finden soll, und mit ihrer Lösung gedenken wir auch den verschiedenen Ansprüchen gerecht zu werden, welche in den streitenden Ansichten sich geltend machen, indem wir sie auf das richtige Mass zurückführen, in welchem sie wirklich berechtigt sind, oder indem wir die Missverständnisse aufzeigen, aus denen sie entsprungen sind.

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I, 1. D i e Meinung.

].

Die

Meinung.

Der erste und deshalb noch niedrigste Standpunkt des Glaubens ist die M e i n u n g . Sie beginnt damit, dass irgend eine Empfindung, welche unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, durch das denkende Bevvusstsein erfasst und von anderen unterschieden wird. J n j e d e m Moment werden unsere Sinnesorgane von einer Menge von Eindrücken getroffen, aber das wenigste davon tritt in unser Bewusstsein, es bedarf einer selbständigen Thätigkeit von unserer Seite, um uns das Empfundene anzueignen, und diese ist immer schon ein Denken, so wenig wir uns dessen auch bewusst werden. E s liegt darin ein doppelter F a k t o r , einmal die Aufmerksamkeit, welche durch die Stärke der Empfindung oder den darin hervortretenden Unterschied angeregt wird und durch welche das E m p f u n d e n e sich erst in eine bestimmte Wahrnehmung verwandelt, und das D e n k e n , welches sich der Wahrnehmung in ihrer Differenz von anderen Wahrnehmungen bewusst wird und sie zu einer Vorstellung ausprägt. Beide Faktoren bedingen und erregen sich gegenseitig, indem entweder die Aufmerksamkeit, durch den Eindruck hervorgerufen, die Vorstellung nach sich zieht oder das in einer bestimmten Vorstellung© begrif© fene Bewusstsein die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Empfindung richtet, in welchem Fall sogar die relativ schwächere mit grösserer Bestimmtheit wahrgenommen wird. Stellen wir uns nun auf diese Weise das Empfundene vor, so entsteht daraus eine Meinung über das Wahrgenommene, in welcher Empfindung und Denken so zusammenfallen, dass erst eine genauere Reflexion beides zu scheiden vermag. Schon dass wir das Empfundene diesem oder j e n e m Sinn zuschreiben, ist ein Akt des D e n k e n s ; wir meinen zu sehen oder zu hören, zu riechen oder zu schmecken, und dass dies erst auf einer Meinung beruht, zeigt sicli am deutlichsten d a , wo die Sinnesorgane näher zusammenliegen und ihre Unterscheidung für uns schwieriger wird. Es begegnet uns oft und eingehendere Untersuchungen und Experimente haben es noch klarer herausgestellt, dass wir Vieles dem Geschmack beimessen, was in der That auf den Geruchssinn zurückzuführen ist. Alle auf die Zunge gebrachten Gegenstände reizen vermöge des Zusammenhanges der Mundhöhle mit der der Nase zugleich das Geschmacks- und Gerucbsorgan, und

T, 1. D i e M e i n u n g .

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so wird die Gesammtempfinduiig auf den Geschmack bezogen, weil wir diesem zunächst das Objekt zufuhren, und uns der gleichzeitigen Einwirkung auf den benachbarten Sinn nicht bewusst werden. Eben darauf beruht auch j e n e oben schon berührte Verwechselung zwischen dem Gefühl und Tastsinn, wo es sicli nach unseren Erörterungen nicht einmal um eine falsche Vereinigung verschiedener Sinneseindriicke sondern um die Verwirrung der an sich weit unterschiedencren Muskelbewcgmigcn mit einer Empfindung handelt. Weit bedeutender ist die Thätigkeit des D e n k e n s , wenn es nun weiter gilt innerhalb desselben Sinnes die verschiedenen Empfindungen von einander zu trennen, und sie in ihrer Bestimmtheit sich vorzustellen. Hier kommt es darauf an zu vergleichen, die Grade der Aehnlichkeit und Unähnlichkeit zu messen, dasselbe auf Reihen z u b r i n g e n , die Stellung einer j e d e n Empfindung in dieser Reihe dem Gedächtniss einzuprägen und damit bei Gelegenheit einer W a h r n e h m u n g sich derselben bestimmt bewusst zu werden. Dies erfordert eine ausserordentliche U c b u n g , die wir von Jugend auf anstellen, und j e mehr uns dazu eine Veranlassung geboten wird oder j e mehr wir durch einen inneren Antrieb unsere Anstrengung darauf richten, desto weiter bringen wir es darin. Das ist der Grund, weshalb wir bei den verschiedenen Sinnen schon im Allgemeinen durchschnittlich eine grössere oder geringere Vollkommenheit darin erlangen und der durch seine Beschäftigung auf einen bestimmten Sinn angewiesene noch eine grössere Virtuosität in diesem erreicht, und durchaus mit Unrecht wird der Mangel in der Kraft der Unterscheidung auf die Natur der sinnlichen Empfindung selbst bezogen. Auf der niedrigsten Stufe steht dieses Unterscheidungsvermögen unseres Bcwusstseins bei dem sonst gerade sehr scharfen Geruchssinn, vielleicht zum Theil wegen der so eben berührten Vermischung seiner Eindrücke mit denen des Geschmacks, aber wohl mehr noch wegen des mangelnden Interesses an solchen Unterscheidungen. Wir werden uns der Mannigfaltigkeit der Gerüche wohl bewusst, und in dieser Beziehung übertrifft er eigentlich alle a n d e r e n , aber es fehlt das bestimmte Mass in der Vergleicliung des Aehnlichen und Unähnlichen, es bleiben verworrene Gesammtempfindungen, die wir nicht auf Reihen zu bringen verm ö g e n , und deshalb fehlen in allen Sprachen allgemeine Ausdrücke für solche Reihen, denen sich die besonderen Nuancen

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I , 1. D i e

Meinung.

in der Vorstellung unterordnen. Dem Gedäclitniss prägt sich wohl eine unbestimmte Erinnerung an den Eindruck ein, den dieser oder j e n e r Gegenstand auf uns gemacht hat und wenn wir uns selbst über eine neue Empfindung aufklären oder einem Andern eine Mittheilung darüber machen wollen, rufen wir uns den Geruch eines andern Gegenstandes zurück, mit dem er etwa sich vergleichen lasse, ohne doch bestimmt angeben zu können, worin wirklich die Aehnlichkeit und der Unterschied besteht, j a wenn wir zuweilen solche allgemeineren Ausdrücke wählen und von einem slisslichen oder sauren Geruch reden, so sind diese eben dem Geschmack entlehnt. Weit bestimmter ist daher die Unterscheidung unseres Bewusstseins bei diesem letzteren Sinn, wo die Vorstellungen des Süssen und Sauren, des Bittren und Salzigen schon auf solche Vorstellungsreihen deuten, in denen das Denken, bei der Vergleichung des Mannigfaltigen, sich gemeinsamer Gesichtspunkte bewusst wird und daran den Grad der Unterschiede misst, aber dennoch bleibt eine grosse Anzahl von Geschmackseindrücken namentlich in der grossen Masse des Gewiirzigen zurück, die wir nicht in derselben Weise aufzulösen vermögen und bei denen wir uus ganz in derselben Weise wie beim Geruch darauf beschränken, an den Gegenstand zu erinnern, der einen ähnlichen Eindruck auf uns gemacht hat. Bei dem Gefühl und dem Gehör sind die Wärme und die musikalischen Töne unserem Bewusstsein immer scliqn als Reihen gegeben, deren Grade wir mehr oder minder deutlich unterscheiden und nur die verschiedenen Formen der Berührung und die unbestimmteren Geräusche bleiben als weniger auflösbare zurück; aber die Fähigkeit des gewöhnlichen Bewusstseins reicht doch nur bis zur Auffassung des Relativen und der bestimmte Grad wird noch nicht im Getlächtniss festgehalten. Erst der Musiker gelangt durch lange darauf gerichtete Uebung dahin, den bestimmten Ton sich fest einzuprägen und ihn in aller Schärfe bestimmt angeben zu können, ohne erst die Vergleichung einer Stimmgabel zu Hülfe zu nehmen. Bei dem Gesicht endlich erreicht die Fähigkeit der Unterscheidung den höchsten Grad, und weil J e d e r in einem gewissen Sinne die Ilauptfarben kennt, so merken wir gar nicht darauf, dass wir doch auch dies erst durch eine lange Uebung gelernt haben. Das Kind unterscheidet die Farben noch nicht und verwechselt sie anfangs häutig, aber es wird schon früh dazu an-

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gewiesen und alle unsere durch die F a r b e nur zu unterscheidenden Umgebungen fordern beständig die Vergleichung heraus. Es kommt hinzu, dass die N a t u r im Allgemeinen uns schon reinere Farben liefert und die unbestimmten Mischungen im Ganzen seltener sind, dass diese F a r b e n in schroffer Weise von einander abstechen, und die dazwischen liegenden Nuancen weniger häufig vertreten sind, und so prägen sich diese, die wir eben deshalb als Hauptfarben bezeichnen, schon früh der Vorstellung ein. Sehen wir aber auf den Grad der Ilnterscheidiingsfähigkeit, so ist dieser doch bei verschiedenen Personen ein g a r verschiedener, und was so häufig auf einen Mangel des Orgaus geschoben wird, muss gewiss in den meisten F ä l l e n , ganz ebenso wie beim Gehör, mit grösseren» Hecht auf Rechnung einer mangelnden Uebung gesetzt werden. Denn wenn wir darauf achten, wie bei den rohen Völkern der Sinn für feinere Farbenunterschiede fehlt, und wie von dem Maler die schärfere Sonderung derselben erst sehr allmälich gewonnen wird, so können wir daraus leicht begreifen, wie auch in der Masse der Menschen in dieser Beziehung die Differenz sehr gross ist, j e nachdem Mangel an Interesse oder an Beobachtungsgabe der E n t w i c k l u n g des Bewusstseins hinderlich in den W e g treten. Dass nun bei allen diesen Vergleichungen das reflektirende Denken thätig ist, welches die in den Empfindungen für Jeden gleichmässig enthaltenen Unterschiede mit grösserer oder geringerer Klarheit zum Bewusstsein bringt und danach in mehr oder minder bestimmte Vorstellungen umsetzt, bedarf keiner weiteren Erörterung, so wenig dies auch in der gewöhnlichen Anschauung liegt, und daher auch die gebräuchliche Ausdrucksweise dem sehr stark widerstrebt. Hierauf gründen sich die sogenannten subjektiven F a r b e n e r s c h e i n u n g e n , die keineswegs, wie man die Sache gewöhnlich darstellt, subjektive Empfindungen sind, die in dein Organ selbst ihre Ursache h a b e n , sondern alle auf dem Contrast beruhen und daher der vergleichenden Reflexion angehören. Dasselbe Grau erscheint uns neben oder nach einem Dunkleren heller, neben oder nach einem Helleren d u n k l e r , indem wir in der Vorstellung das bestimmte Mass nicht festhalten, sondern nur ein relatives a n l e g e n , und so kehrt sich in dem Nachbilde des Fensterkreuzes das Verhältniss des Hellen und Dunklen u m , sobald wir das Auge davon ab auf eine weisse W a n d richten. Aus demselben Grunde erscheint uns neben oder

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I, 1. D i e M e i n u n g .

nach der Betrachtung einer intensiven F a r b e das Grau in der complementaren, und wir meinen mit voller Bestimmtheit eine Farbe zu sehen, die in der Wirklichkeit gar nicht vorhanden ist, nur weil vermöge desselben Contrastes das indifferente aus alleu F a r b e n gemischte G r a u , neben dem intensiven Ruth für weniger roth und daher für grün gehalten-wird.- Dasselbe gilt aber nicht minder für alle Zusammenstellungen von F a r b e n und der Maler liisst sich nicht allein dadurch in der Wahl derselben bestimmen, sondern er sorgt auch bei seiner Arbeit dafür, dass er die Leinwand so schnell wie möglich mit den beabsichtigten F a r b e n bedeckt, weil er wohl weiss, dass wenn er einen Theil des Gemäldes fertig malen wollte, seine Arbeit vergeblich gewesen sein würde, weil durch das Hinzutreten der neuen Farben die früheren so vollkommen verändert erscheinen, dass sie nun nicht mehr die beabsichtigte W i r k u n g hervorbringen. Dies beweisst zur Geniige, wie im Allgemeinen die Schätzung der gesehenen Farbenunterschiede nur bis zu einem gewissen Grade eine bestimmte ist und wie die Meinung über dieselben immer zugleich von der sich darbietenden Vergleichung abhängig bleibt. Daran sehliesst sieh nun weiter die Versetzung des Wahrgenommenen in eine gewisse Richtung und an einen Itcstimmten Ort und die Verknüpfung desselben mit einem Gegenstande, von welchem wir glauben, dass der Reiz zu der Empfindung ursprünglich ausgegangen sei. Wir lokalisiren den Schmerz in dem bestimmten Theil des Körpers, von wo aus wir gewohnt sind ihn vermittelst dieser Nerven zu empfangen, wir glauben den Schall in dieser Richtung zu vernehmen, weil dieses Ohr ihn stärker empfindet als das andre, wir versetzen das Gesehene in die Verlängerung der Augenachsen, aber unsere Meinung w ird getäuscht, wenn der Lichtstrahl seinen Lauf in grader Linie , wie wir uns einbildeten, nicht bewahrt h a t , sondern durch ein brechendes Medium oder durch einen Spiegel von seinem Wege abgelenkt worden ist. In dieser Weise vereinigt nun das rcflektirende Bewusstsein die verschiedenen W a h r n e h m u n g e n in bestimmten Ortpunkten und vertheilt sie auf die besonderen G e g e n s t ä n d e , die sich ihm in den schärfer a u s g e p r ä g t e n Grenzen eines bestimmten Widerstandes für die T a s t b e w e g u n g e n und der daran g e k n ü p f t e n Farben aussondern, Hier nimmt nun die Meinung einen neuen Anlauf und es wird um so wichtiger, sich der dabei geübten Thätigkeit des

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Denkens recht bevrusst zu worden. E s beginnt nun recht augenscheinlich j e n e s Scheiden und Verknüpfen der Reflexion, durch welches- die Gegenstände fixirt und für unsere Vorstellung mit einem bestimmten Inhalte erfüllt werden. Der Gegenstand ist zunächst j e n e r umgrenzte Iiaum, der unserer darauf eindringenden freien Bewegung einen Widerstand entgegensetzt, und die Empfindungen, die von ihm herzukommen scheinen, werden ihm als ebensoviele ihm zukommende Eigenschaften beigelegt. Wir wurden aber nicht wissen, wie wir ihn abzugrenzen haben, wenn wir nicht versucht hätten, ihn gegen seine Umgebungen zu verschieben oder seine eigne Fortbewegung erfahren hätten, und so bestimmt unsere Erinnerung daran bei j e d e r neuen W a h r n e h mung die Vorstellung von dem Gegenstande. Wir sondern den Baum, der in der Erde feststeht, sobald wir ihn aus derselben ausgegraben gesehen haben, ebenso wie den ¡Stuhl, den wir von der Diele aufnehmen, als einen Gegenstand für sich, und halten den Polypenstock ebensogut für e i n T h i e r , wie die Schnecke, die ihr Haus mit sich fortschleppt. Aber diese Sonderung lässt sich nun an den so fixirten Dingen selbst wiederholen, j e nachdem die Colüision und der dadurch bedingte Widerstand Unterschiede zeigt, verschiedene F a r b e n mit bestimmten Grenzen an ihnen hervortreten und die Theile derselben Sache gegeneinander sich als verschiebbar erweisen. Das wird dann als Theilvorstellung in die Anschauung des Ganzen aufgenommen und damit die Meinung Uber den Gegenstand erweitert und bestimmter festgestellt. Diese Sonderangen der einzelnen Gegenstände und des an ihnen zu Unterscheidenden sind zunächst äusserst oberflächlich und beziehen sich nur auf d a s , was sieh von selbst trennt oder von uns mit der geringsten Kraftanstrcngung getrennt w e r d e n k a n n , sie dringen nicht in das Innere der Dinge ein und unifassen nur die äusscrlichsten, roh entworfenen Grenzlinien, so dass alle nur irgend feinere De tails gar nicht in die Vorstellung eingehen. Man unterscheidet bei einer Blume etwa die F a r b e und die gröbsten Umrisse in ihrer Gesamnitheit, aber die genauere Gestalt und Zahl der Blumenblätter, des Kelches, der Staubfäden, des Pistills und ihre Anheftung auf dein Fruchtknoten wird nicht beachtet, man prägt sich allenfalls den äusseren Habitus der Bäume, Zweige und Blätter ein, aber die gröbsten morphologischen Unterschiede, auf welche schon der erste Unterricht

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in der Botanik hinweist, kommen bei der gewöhnlichen Betrachtung gar nicht zum BeVusstsein. Aber j e leichter diese Unterscheidungen gemacht werden, desto mehr setzen sie sich in der Meinung fest, werden in der Sprache fixirt, von Jugend auf a n geeignet, bei jeder Wahrnehmung wiederholt, und man darf sich nicht wundern, wenn nun Jeder glaubt, dass die Dinge auch in der Wirklichkeit ebenso gesondert und verknlipft sind, wie man sie zu sondern und zu verknüpfen gewohnt ist, und wenn Keinem auch nur einfällt, dass es sich liier um eine blosse Meinung handelt und dass man die Dinge nicht einfach so sieht, wie man sie zu sehen meint. Es ist daher das Charakteristische dieses ersten Standpunktes des Glaubens, dass die Welt in eine Masse einzelner Gegenstände zerlegt und in dieser Vereinzelung als ein blosses Aggregat von Dingen betrachtet wird, denen das, was sich daran oberflächlich unterscheiden lässt, als Eigenschaft oder Theil zukommt. Und freilich lassen sich diese Sonderungen auch gewöhnlich nur festhalten, so lange diese erste oberflächliche Anschauung fortdauert, sobald man nur etwas mehr in das Innere eindringt, wird man wieder genöthigt zu verbinden, was man vorher streng geschieden hatte. Wir trennen im gemeinen Leben die Blätter von den Zweigen, die Aeste von dem Stamm, der lebendige Organismus des thierischen Körpers zerfällt in eine Anzahl von Gliedern, und es kommt uns nicht zum Bewusstsein, dass die Gewebe in einander verlaufen, die Gefässbündel von dem Zweige in das Blatt, von dem Stamm in die Aeste eintreten, die Nerven und Gefässe von gewissen Centren aus sich in alle Glieder verzweigen, und so eine Verbindung herstellen, welche die ursprüngliche scharfe Scheidung völlig unmöglich macht. Hiermit tritt denn auch die andere Eigentümlichkeit der Meinung klar hervor, sie ist nicht nur oberflächlich, sondern auch mehr oder minder willkürlich. Da die Aneignung des Wahrgenommenen auf der freien selbständigen Thätigkeit des Denkens beruht, so vollzieht ein Jeder die Sonderungen und Verknüpfungen in anderer Weise, j e nachdem er durch einen inneren Antrieb oder durch seine mehr oder minder fortgeschrittene Kenntniss des Gegenstandes darauf geführt wird. Die Meinung ist daher eine rein subjektive, nur diesem Denkenden zukommende; weil er aber keine andere kennt und auch selbst auf keine andere kommen kann, hält er sie für

I, 1. Die Meinung.

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die einzig mögliche und schliesst sich einseitig in ihr ab, indem er glaubt, dass auch jeder Andre dieselbe haben müsse. Ist der Gegenstand ein sehr einfacher, in seinen Grenzen streng umschriebener, so ist auch die Differenz in der Betrachtungsweise eine geringere, sobald sich aber die Möglichkeit verschiedener Combinationen mehrt, so tritt auch j e n e um so stärker hervor. Eine einfache gerade Linie lässt kaum mannigfaltige Ansichten zu, und doch bedarf es bereits der vergleichenden Reflexion auf Richtung und Grösse, bei denen immer schon differente Gesichtspunkte obwalten können. Ein in ein Dreieck beschriebenen Kreis, bei welchem ich mir Radien nach den Berührungspunkten gezogen und den Mittelpunkt des Kreises mit den Ecken des Dreiecks durch grade Linien verbunden denke, erlaubt eine unzählige Menge von Sonderuugen und Verknüpfungen, von denen die, welche den geometrischen Satz nicht kennen, bald diese bald jene vornehmen, ohne grade auf die anderen möglichen geführt zu werden. Der Eine sieht darin vielleicht nur Linien, die sich nach allen Richtungen hin durchkreuzen, der Andere Dreiecke, die aneinander gelegt sind, der Eine erkennt das Verhältnis» der ¡Seiten des äusseren Dreiecks zu dein Kreise und sieht darin ein um den Kreis beschriebenes Dreieck, der Andere betrachtet den Kreis als einen in das Dreieck verzeichneten, der Eine bemerkt Congruenz der entsprechenden Dreiecke, der Andre sieht darin nur die Rechtwinklichkeit derselben oder die Gleichheit dieses und jenes Winkels, während der mit der Sache Vertraute in einem Blicke alle Verhältnisse zugleich übersieht. Springt dies 1iun bei einer relativ so einfachen Figur Jedem klar in die Augen, so findet dasselbe in noch weit ausgedehnterem Masse bei dem geringsten Gegenstande der Natur statt, wo der m ö g lichen Combinationen sich unendliche darbieten, und doch wird es in der gewöhnlichen Vorstellung so wenig bemerkt, dass Jeder glaubt, wenn er den in der ¡Sprache dafür festgestellten Ausdruck nennt, mlissten auch alle Anderen dasselbe dabei meinen. Bei der Oberflächlichkeit und Willkür, die wir bisher betont haben, könnte es nun scheinen, als ob die Meinung eine schlechthin unwahre Vorstellung sei, mit welcher sich das Wissen gar nicht abzugeben habe, und das ist auch die gewöhnliche Ansicht, die man von ihr zu hegen pflegt. Stellte sich nur bei näherer Betrachtung nicht heraus, dass wir, um zur Wahrheit zu gelangen, diesen ersten Standpunkt schlechterdings nicht umgehen

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I,

1. D i e

Meinung.

können, j a dass, wie weit wir auch fortschreiten mögen, derselbe uns nicht wieder verloren geht, sondern die Meinung zwar an Sicherheit und Objektivität gewinnt, aber doch immer dabei auch Meinung bleibt. Indem ich aus der Masse der sich mir aufdrängenden Wahrnehmungen dieses bestimmte Objekt aussondere, eigne ich es mir erst im Bewusstsein an, und indem ich auf dasselbe hinweisend oder es von seiner Stelle rückend sage: ich meine diesen Gegenstand, fixirc ich ihn für mich und für Andere als ein Objekt fernerer Betrachtung, und das ist die grosse viel zu wenig beachtete Bedeutung, welche diesem ersten Akte des Denkens gegenüber der sinnlichen Empfindung zukommt. Sie stellt den Gegenstand hin und macht ihn gradezu erst zu einem solchen; um so nothwendiger aber ist es auch sich bewusst zu bleiben, dass es nur eine vorläufige Meinung ist, in welcher Ich, als dieser Denkende, nach dem Mass meines Yorstellens diesen Gegenstand, wie er sich gerade in diesem Moment mir zeigt, in Gedanken festhalte, wobei es völlig offen bleibt, ob er im nächsten Moment sich möglicher Weise anders darstellen könne und ein Anderer sich ihn auch ganz anders vorstellt, weil sein Denken ihn darauf geführt hat, andre Sonderungen und Verknüpfungen daran vorzunehmen. Unter diesem Vorbehalt behält dann auch die Meinung ihre vollkommene Richtigkeit, ich mag sie später vielleicht modificiren müssen, ohne sie doch vollständig aufzugeben. Wenn ich den Gegenstand so oder so ausgesondert und dies oder das an ihm unterschieden h a b e , so gaben doch die Differenzen in der sinnlichen Wahrnehmung dazu die Veranlassung und ich habe mich derselben denkend bemächtigt, und wenn der Eine anders als der Andre verknüpft, so sind doch auch eben diese verschiedenen Beziehungen und Gesichtspunkte möglich, und es ist gerade für den Fortschritt der Betrachtung von der grössten Wichtigkeit, dass der Eine auf C'ombinationen geführt wird, auf welche der Andre nicht gekommen ist, sobald nur irgendwie ein Mittel zur Ausgleichung der differenten Ansichten sicli darbietet. Dies liegt nun freilich nicht im Bereich der Meinung, die in ihrer einseitigen Betrachtungsweise sich abschliesst, und wir werden damit vielmehr auf einen zweiten, gerade entgegengesetzten Standpunkt des Glaubens hingewiesen.

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I, 2. Das Vertrauen.

2. Das V e r t r a u e n . Das Ding, welches wir ursprünglich fixirt haben, bleibt bei der weiteren Betrachtung nicht dasselbe, es zeigt allmälich oder plötzlich mehr oder weniger tief eingreifende Veränderungen, die entweder diese oder jene Eigenschaft oder den ganzen Complex derselben alteriren. Wir können daher auch die frühere Meinung nicht festhalten, sondern müssen die stattgehabten Veränderungen in unsere Vorstellung von dein Dinge mit aufnehmen. Der Gegenstand ist j a nicht bloss dieses Nebeneinander in einem bestimmten Moment unterschiedener Merkmale, soudern ebenso gut diese Folge von Erscheinungen, die wir in seinem Bereich vor sich gehen sehen. Wollen wir aber von wirklichen Veränderungen sprechen, so setzt das voraus, dass es derselbe Gegenstand ist, an dem die Veränderung eingetreten ist, und dass er auch nach diesem Wechsel trotz der eingetretenen Veränderung derselbe geblieben ist. Es ist daher der Glaube an die Continuität des Gegenstandes in dem Wechsel der veränderlichen Momente, auf welchen überhaupt die Vorstellung von der Veränderung sich gründet, und das Mass der Wahrheit, welches wir diesem Glauben beimessen, bildet das V e r t r a u e n , mit welchem wir uns demselben hingeben und an ihm festhalten. Wir gebrauchen den Ausdruck gewöhnlich nur in dem Verkehr der Persönlichkeiten und überwiegend in einem sittlichen Sinne, indem wir damit den Glauben an die Wahrhaftigkeit und Redlichkeit eines Andern bezeichnen, aber es liegt demselben doch dieselbe allgemeine Bedeutung zum Grunde, der Glaube an die Idendität in dem Anderssein, indem wir uns vorstellen, dass der Andre nichts anderes aussagt als er denkt, und dass er in seinen Handlungen es mit uns ebenso gut meint, wie mit sich selbst. Es. tritt uns dieses Vertrauen zu einer andern Person aber deshalb deutlich entgegen, weil es hier offenbar ist, dass wir die Gedanken eines Andern selbst nur denkend zu erreichen vermögen und die Erfahrung, dass unser Vertrauen häufig getäuscht wird, lässt es nicht zweifelhaft, dass wir es mit einem Glauben zu thun haben. Wenn wir dalier in dem Verkehr mit den Dingen diesen Ausdruck nicht anzuwenden pflegen, so kommt dies nur daher, weil wir gewohnt sind, die beobachteten Veränderungen unmittelbar auf die Wahrnehmungen zurückzuführen und ihnen eine unbeCi'Drgi;,

Logik

;ils U i s s u n s c l i i i l t s l ,

F)

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I, 2. Das Vertrauen.

dingte Wahrheit zuzuschreiben, ohne zu merken, dass dies selbst schon ein Vertrauen und vielleicht ein völlig unberechtigtes involvirt. Diese Berechtigung haben wir daher erst zu prüfen, und damit die Grenzen festzustellen, in denen wir es hegen dürfen, wenn wir sicher sein wollen, in der Wahrheit zu bleiben. Man hat freilich die Möglichkeit der Veränderung überhaupt bestritten, indem man einen unauflöslichen Widerspruch darin gefunden hat, dass ein Ding zugleich dasselbe bleiben und doch auch veränderlich sein solle, und Herbart hat diesen Widerspruch nur dadurch lösen zu können geglaubt, dass er dem wahrhaft Realen die Veränderlichkeit absprach und dieselbe in die Beziehungen verlegte, welche das Denken bei der Verknüpfung dieses Realen selbständig hineinbringt, ohne dass diese in der Wirklichkeit existirt. Es ist dies, gegenüber der oberflächlichen Ansicht, welche das Auffassen der Veränderungen der unmittelbaren Wahrnehmung zuschreibt, das andere Extrem, welches sicli der dabei stattfindenden Thätigkeit des Denkens wohl bewusst wird, aber zwischen ihm und dem wirklichen ¡Sein eine Scheidewand befestigt, welche jede wahre Erkenntniss unmöglich macht. Das Vertrauen, die Art, wie wir die Dinge mit einander verknüpfen, stimme auch mit der wirklichen Verknüpfung derselben überein, ist danach ein eiteles, und alles unser Wissen verharret auf dem Standpunkt der Meinung, die die Gesammtheit des Seins in eine Mannigfaltigkeit von einzelnen Gegenständen zertheilt und sie in dieser starren Vereinzelung unveränderlich festhält. Darum langt auch die Herbart'sche Vorstellung bei einer unzähligen Menge schlechthin einfacher und untheilbarer Monaden an, die er als das eigentlich Reale bezeichnet, zwischen denen selbst keine Art von Zusammenhang besteht, und die daher auch von uns schlechthin unerkennbar sind, weil alle unsre Erkenntniss nur die Beziehungen betrifft, zu denen sie allerdings Veranlassung geben, die aber doch nur von uns gemacht werden und daher auch nur für unser Denken existiren. Wollten wir dieser skeptischen Ansicht, welche die Wahrheit alles unseres Wissens untergräbt, gründlich entgegentreten, so bedürfte es einer weitläufigen metaphysischen Auseinandersetzung Uber die Relativität von Einheit und Vielheit, Einfachheit und Mannigfaltigkeit, Identität und Unterschied, Zusammenhang und Fürsichsein, für wclche hier nicht der Ort ist und in

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I, 2. Das Vertrauen.

Betreff welcher ich auf die Entwickelung dieser Begriffe in meinem System der Metaphysik (Berlin 1844) verweise. Herbart hält sie, als sich widersprechend, schroff auseinander und kommt dadurch zu jenen Consequenzen, die alles wirkliche Geschehen unmöglich machen und unsere Vorstellungen davon zu einem leeren Schein herabsetzen, und wenn dann doch, um auch nur die Möglichkeit eines solchen Scheins zu erklären, von einem Gehen und Kommen der Realen gesprochen wird, aus welchem unser Denken die Veranlassung zu dieser Verknüpfung veränderlicher Dinge hernimmt, so ist das ein Mangel an Folgerichtigkeit, da j e d e Bewegung nothwendig Ortsveränderung ist, und daher denselben Widerspruch in sich enthalten müsste, ein Mangel der nur dadurch verdeckt wird, dass Ort und Zeit selbst als von unserem Denken geschaffene Beziehungen angesehen werden, wo man dann aber wieder nicht einsieht, was eigentlich der Inhalt des in jener Bewegung offenbar Geschehenden sein soll. Wir lassen daher jene principiellen Bedenken hier bei Seite, und eignen uns aus den betreffenden Untersuchungen Herbarts nur das als das allerdings Richtige an, dass bei der Auffassung der Veränderungen das Denken eine wichtige Rolle spielt, indem wir es zugleich unternehmen darzulegen, worauf sich das Vertrauen zu der Objektivität und Wahrheit dieser Veränderungen gründet. Wir müssen zunächst stets im Auge behalten, dass es sich handelt um die Veränderungen eines gemeinten Gegenstandes, den wir selbst durch unsere Sonderungen und Verknüpfungen uns gebildet haben auf Grundlage von Wahrnehmungen, die von einem bestimmten Orte ausgingen und von einem zusammenhängenden Widerstände, den wir nicht zu überwinden vermochten. Die Veränderungen können also auch nur vorgehen in diesem Zusammenhange, in welchem Mannigfaltiges mit einander verknüpft ist, und sie beziehen sich nur auf veränderte Wahrnehmungen, die von demselben Orte ausgehen, und auf veräuderte Verhältnisse und Beziehungen in diesem Zusammenhange. D a mit löst sich der scheinbare Widerspruch, der in dem veränderlichen Dinge zu liegen scheint; denn nicht in demselben Sinn bleibt der Gegenstand derselbe, in welchem er sich auch verändert, sondern es ist die Verknüpfung des Mannigfaltigen in ihm, welche eine andre wird, ohne dass dadurch die Continuität in ihm aufgehoben würde. Unser ganzes Vertrauen gründet sich daher 5*

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I, 2. Das Vertrauen.

auf diesen conti nuirlichen Zusammenhang, und wo wir dessen nicht sicher sind, wäre auch das Vertrauen ein eitles und unwahres. Hiebei treten nun sinnliche Empfindung und denkendes Bewusstsein in eine so lebendige Wechselwirkung und greifen so innig in einander ein, dass es kaum möglich wird die einzelnen Momente scharf zu sondern und ihre Bedeutung zur rechten Anerkennung zu bringen. Wir halten das Auge fest auf den Gegenstand gerichtet und bekommen von demselben Ort aus andere Eindrücke als vorher; hätten wir dasselbe auch nur einen Moment abgewendet, so könnten wir gar nicht wissen, ob nicht ein -ganz andrer Gegenstand die Stelle des früheren eingenommen hat, und wir würden nicht mehr zu dem Vertrauen berechtigt sein, dass die Veränderung an demselben Gegenstand stattgefunden habe, sondern nur, dass an demselben Ort eine Veränderung des Gegenstandes selbst eingetreten sei. Aber jenes Fixiren derselben Stelle ist meine eigne von meinem denkenden Bewusstsein abhängige That, und wenn ich mir nicht der Identität und Continuität meines Bewusstseins klar bevvusst wäre, so wäre wieder mein Vertrauen eitel. Man traut daher dem Berauschten und Wahnsinnigen nicht, wenn er glaubt etwas gesehen zu haben, weil ihnen eben dies wichtigste Erforderniss zu einer richtigen Beobachtung abgeht. Die zweite Forderung aber besteht in der völligen Hingabe des Denkenden an die veränderte E m pfindung, die er sich nur aneignen soll, ohne in seiner Vorstellung etwas hinzuzuthun oder hinwegzunehmen; so wie seine eignen freien Gedankencombinationen sich mit der Wahrnehmung durchkreuzen und verwirren, wie dies gar häufig zu geschehen pflegt, ist die Beobachtung unrein, und davon kann doch auch wieder nur das Bewusstsein sich selbst Kechenscliaft geben. Aber die veränderte Empfindung selbst wird auch nur im Bewusstsein constatirt und es ist eine ganz oberflächliche Ansicht, wenn man die Veränderung zu sehen glaubt; wir werden uns der Veränderung bewusst, indem wir den Eindruck in diesem Moment mit dem früheren vergleichen, der nun nicht mehr als Empfindung sondern als Vorstellung des Empfundenen existirt, wie sie im Gedächtniss festgehalten wird. Für die Schätzuug des Unterschiedes bedarf es eines Massstabes, der gleichfalls nur in unserem Bewusstsein liegt und von der gewonnenen Uebung in der Reflexion abhängig ist. Wo die Differenzen zu klein sind oder zu allmälich erfolgen, merken wir sie gar nicht,

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und wo sie wiederum zu gross sind, schätzen wir den Grad derselben nicht mehr richtig, wenn wir nicht eine hinlängliche Uebung in der Anlegung des Massstabes erlangt haben. Dass die Stimme allmälich detonirt, kommt dem Ungeübten gar nicht zum Bewusstsein, und während er vielleicht nahe liegende Intervalle ganz gut trifft, vermag er ferner liegende nicht mehr rein anzugeben oder die Grösse derselben in dem was er hört genau zu bestimmen. Kurz in allen Beziehungen tritt uns entgegen, wie das Auffassen der Veränderungen auf einem Vertrauen in die Kraft, Bestimmtheit und Treue unserer Vorstellungen und vergleichenden Reflexionen beruht. Auf der andern Seite aber gründet sich das Vertrauen auf den Zusammenhang, der in den Veränderungen selbst liegt und sie für unser Bewusstsein mit einander verknüpft. Der Gegenstand nimmt eine andere Farbe, einen andern Geschmack oder Geruch an, aber es bleibt doch Farbe, Geschmack und Geruch und die Veränderung findet nur gradweise innerhalb derselben Sphäre statt; die Cohäsion wird dichter oder lockerer, er zieht sich zusammen oder dehnt sich aus, die Theile verschieben sich gegeneinander oder lassen sich mit grösserer oder geringerer Leichtigkeit gegen einander verschieben, immer bleibt trotz aller dieser Veränderungen in ihnen ein Identisches zurück, welches das Verschiedenartige mit einander verbindet, und je mehr der allmäliche liebergang aus dem einen Zustand in den andern aufgefasst wird, desto grösser ist das Vertrauen in die Continuität der Veränderung und die Objektivität des Zusammenhanges. Verschwindet mir der fixirte Gegenstand plötzlich und an die Stelle desselben tritt ein in allen Beziehungen völlig verschiedener, in welchem ich das Werden des einen aus *dem andern nicht mehr verfolgen kann, so entsteht in mir die Vorstellung eines Zaubers und das Vertrauen in die Beobachtung ist dahin, indem ich beides in meinem Denken nicht mehr zu verknüpfen im Stande bin. Diesen Eindruck machen die Kunststücke des Taschenspielers und ihr Unterhaltendes beruht auf dem Kontrast zwischen dem Vertrauen, dass wir den Gegenstand vollkommen fixirt im Auge behalten und doch die Veränderungen nicht mit einander zu verbinden vermögen. Aber dasselbe begegnet uns auch bei der Betrachtung gewöhnlicher Gegenstände, an denen wir Veränderungen auftreten sehen, die wir als solche nicht zu fassen im Stande sind. Wir erkennen das Wachsen der Pflan-

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I, 2. Das Vertrauen.

zen, die Entwickelung der Knospen und das Aufbrechen derselben, aber plötzlich sind Blätter da, ohne dass wir ihre Entstehung haben verfolgen können, und wir müssen uns sagen, dass hier Zwischenglieder fehlen, die unserer Wahrnehmung entgangen sind. Erst wenn wir die Zergliederung der Pflanze vervollständigen und das Wachsthum der Zellen und die Bildung der Qewebe in ihrer ganzen Continuität kennen lernen, gewinnen wir das Vertrauen in die richtige Auffassung der Veränderungen. Die Sicherheit des Vertrauens lag Anfangs ganz in der Fixirung des Gegenstandes, an dem wir die Veränderungen vorgehen sehen, aber das eben erwähnte Beispiel zeigt schon, wie der Mangel in der Continuität der Veränderungen uns eine Veranlassung wird, den gemeinten Gegenstand selbst zu verändern. Er war j a nur eine vorläufige vielleicht sehr oberflächliche Verknüpfung eines Mannigfaltigen, das sich hier an einem bestimmten Ort zusammenfand. Um die Continuität in dem Wachsthum der Pflanze festzustellen, müssen wir sie in ihre Zellen zerlegen uud es ist das Wachsen dieser und nicht der ganzen Pflanze, was wir wahrnehmen. Erst wenn wir wiederum constatiren, dass dieses selbst erst durch das Zusammensein der Zellen und durch die gegenseitige Mittheilung des Zelleuinhalts möglich ist, ist auch hier die Continuität wieder hergestellt, uud die Berechtigung gewonnen, von der Pflanze als e i n e m Gegenstande zu sprechen, welche wächst als ein Produkt ihrer Zellenvermehrung und der dadurch bewirkten Gestaltung. Wo getrennte Entwickelungsreihen von Veränderungen, so weit wir sie zu verfolgen vermögen, stets von einander getrennt bleiben, löst sich die Einheit des gemeinten Gegenstandes auf, bis der Zusammenhang zwischen ihnen auf irgend eine Weise wieder aufgefunden wird. Nur das was aus einander w i r d ist dasselbe, und allein die Continuität iu den Veränderungen bedingt die Continuität des Gegenstandes. Wenn Jemand zu einer ganz andern Beschäftigung singt, so findet kein Zusammenhang zwischen beiden Thätigkeiten statt und erst in der Seele desselben sind sie mit einander verknüpft, aber wenn wir ein ganzes Orchester dasselbe Stück spielen hören, so verbinden wir die Töne, obgleich sie von ganz verschiedenen Personen ausgehen, vollständig mit einander, und gerade um deswillen betrachten wir auch die getrennten Personen als einen zusammengehörigen Chor. Auf diese Weise tritt nun das Vertrauen auf die Continuität

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des Werdens der sondernden Meinung gegenüber und corrigirt die scharfen Unterscheidungen, mit welchen diese beginnt. Die heterogensten Gestalten müssen vereinigt werden, weil sie sich nur als verschiedene Entwickelungsstufen desselben Dinges herausstellen; nicht nur Raupe, Puppe und Schmetterling ergeben sich so als Modifikationen desselben Insekts, sondern die neuere Forschung hat Thiere mit einander verbinden müssen, welche die frühere Ansicht in ganz getrennte Klassen versetzt hatte. Selbst das räumlich fern von einander liegende muss durch unser Denken auf einander bezogen werden, weil es durch seine Genesis in Zusammenhang steht, wie z. B. der Feldstein, den die Meinung mit dem Acker auf dem er gefunden wird zusammenbringt, seiner Entstehung nach dem fernen Gebirge angehört. In dieser Verknüpfung des Verschiedenartigen und Getrennten geht nun aber die Betrachtung immer weiter und steigert sich zu dem Vertrauen auf einen immer grösseren Zusammenhang, in welchen die Dinge vermöge ihres Werdens gebracht werden müssen, und die Vereinzelung derselben in ihrem starren Fürsichsein geht darüber mehr und mehr verloren und weicht dem Flusse der Dinge, in dem die scheinbar festen Grenzen verschwinden. Ist die ganze Reihe der Pflanzen, die sich aus den Samen oder Stecklingen einer Mutterpflanze erzeugen, nicht die einfache Fortsetzung derselben, so weit sich auch jene von einander entfernen, und gehört die ganze Nachkommenschaft eines Thieres nicht immer noch diesem an, so dass es darin fortlebt, selbst wenn es schon längst vermodert ist? Die Darwinsche Theorie über die Entstehung der Arten ist ein Produkt dieses Vertrauens in die Continuität der Entwickelung, sie gründet sich auf den Züchtungsprocess, durch welchen wir feststehende Modifikationen in den Thierformen sich bilden sehen, und soweit hat sie ihre unbestreitbare Wahrheit, aber die wirkliche Continuität der Beobachtung reisst für die früheren Bildungen ab, ein Schluss aus der Analogie tritt an ihre Stelle und das ist die Ursache des mangelnden Vertrauens, mit welchem sie aufgenommen wird. So verwandelt das Denken die ursprünglich gesonderten Dinge in der That in continuirlich wirkende Bildungsprocesse, die sich mannigfach durchkreuzen und mit einander verknüpfen, und die von der Meinung festgehaltenen Gegenstände erscheinen nur als momentane Produkte von jenen, die in ihrer äusseren

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Gestaltung kürzere oder längere Zeit andauern mögen, so lange dieselben wirkenden Umstände vorhanden sind, die aber bei genauerer Betrachtung einer fortwährenden Veränderung unterliegen. So ist in der neueren Wissenschaft alles, was früher feststand, beweglich geworden, und der grosse Gedanke der Entwi'ckelungsgeschichte hat sich in ihr eingebürgert und die grössten Umwälzungen hervorgebracht. Die Chemie sieht überall nur Verbindungen und Zersetzungen der Stoffe, die Physik hat die früheren Imponderabilien in Undulationen verwandelt, die Botanik achtet nur auf den Zellenbildungsproi ess, aus dem die ganze Mannigfaltigkeit der Pflanzen sich aufbaut, die Physiologie lässt alle diese Processe zusammenwirken, um daraus den fortwährend sich erneuernden lebendigen Organismus zu erklären. Ueberall erkennen wir den Sieg des Vertrauens Uber die ursprüngliche Meinung, welche da Zusammenhang herstellt, wo diese nur Vereinzeltes und Getrenntes sah. Dieses Vertrauen beruht aber auf der völligen Hingabe des Denkens an die Wahrnehmung. Wir haben bisher die Thätigkeit der vergleichenden Reflexion hervorgehoben, weil sie in der gewöhnlichen Ansicht viel zu sehr vernachlässigt wird, aber die Objektivität und Wahrheit des ganzen Verfahrens hängt doch davon ab, dass allen Combinationen des Denkens wirklich Wahrnehmungen zum Grunde liegen, und dass die beobachteten Veränderungen auch wirklich dem Gegenstande zukommen. Hier drängt sich nun noch eine andre Betrachtung auf, welche nicht ausser Acht gelassen werden darf. In dem Verlauf der Beobachtung ändert sich nicht allein der Gegenstand, sondern auch unser Denken über ihn; die erste Meinung hatte ihn vielleicht nur in seinen äusseren Umrissen erfasst, j e mehr wir ihn aber anschauen, desto mehr unterscheiden wir an ihm neue Einzelheiten und werden dadurch auf neue Beziehungen und Combinationen geführt. Da treten dann leicht Verwechselungen ein, indem wir das, was wir nun erst bemerken, für eine in dem Gegenstand selbst eingetretene Veränderung halten. Wir betrachten eine Fensterscheibe und finden nachher darin einen Sprung, wer will entscheiden, ob derselbe jetzt erst entstanden, oder ob er schon vorher dagewesen und uur von uns nicht wahrgenommen worden ist? Es ist offenbar, dass wir darüber nur sicher sein können, wenn wir die dazu nöthigen Combinationen schon vorher angestellt haben und nun vertrauen dürfen, dass

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wenn wir trotz dieser an der betreffenden Stelle nichts bemerkt baben, das nunmehr Wahrgenommene auch erst jetzt geschehen sein könne. Es handelt sich daher bei jeder Constatirung einer objektiven Veränderung um eine Vergleichung des früher schon Unterschiedenen mit dem, was wir bei der ferneren Wahrnehmung zu unterscheiden vermögen. Wir dürfen uns aber nicht verhehlen, wie schwierig dies in vielen Fällen ist. Den Sprung in der Fensterscheibe hätten wir allenfalls bemerken müssen, wenn wir darauf reflektirten, aber derselbe kann in einem andern Gegenstande so fein sein, dass er auch der geschärftesten Aufmerksamkeit entgeht und erst dann hervortritt, wenn er sich noch mehr erweitert hat. So geht es aber mit den meisten Veränderungen, ihr erstes Eintreten ist ein so unmerkliches, dass wir selten den Anfang derselben wahrzunehmen im Stande sind und sie erst entdecken, wenn sie weitere Fortschritte gemacht haben. Wir müssen uns daher stets offen erhalten, dass eine jetzt beobachtete Veränderung möglicher Weise schon vorher dagewesen oder wenigstens schon begonnen habe, ehe sie von uns erkannt wird, um uns vor der Täuschuug zu bewahren, dass das, was wir jetzt erst bemerken, auch jetzt erst sich ereignet habe. Das Vertrauen zu der richtigen Auffassung des objektiven Thatbestandes wächst aber, je mehr wir in die Aussonderung des Details eindringen. Das was die gewöhnliche Meinung immer nur in den äusseren Umrissen erfasst, wird in seine näheren und ferneren Bestandteile zerlegt, bis wir zu dem gelangen, was für unsere Mittel nicht mehr theilbar ist. Es wird das Mikroskop zu Hülfe genommen, es werden chemische Reagentien angewendet, die das ursprünglich homogen Gefärbte in einem andern Lichte erscheinen lassen und so noch zur Entdeckung von Unterschieden fuhren die vorher nicht sichtbar waren, es werden allerlei Methoden ausgedacht, welche das noch trennen, woran das noch so geschickt geführte Messer nicht mehr heranreicht, und so eröffnet sich uns in dem kleinsten Raum eine neue Welt, von der die gewöhnliche Meinung nichts ahnt und damit zugleich ein Reichthum von Mitteln, um die hier und mittelbar durch sie in der grossen Welt stattfindenden Veränderungen festzustellen. Was in der letzteren erst als vollendetes Produkt auftritt, bereitet sich hier im Kleinen vor und zeigt hier schon die lebhaftesten Verwandlungen, während sie im Grossen noch völlig

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unbemerkbar sind. So haben die feinen histologischen Untersuchungen erst einen Aufschluss Uber die Lebenserscheinungen gegeben und die Fortschritte der pathologischen Anatomie eine Einsicht in die Entstehung der krankhaften Processe gewährt und wir dürfen vertrauen, dass je mehr diese noch jungen Wissenschaften sich weiter entwickeln, vieles, was bisher gänzlich unklar bleiben musste, sich völlig lichten wird. Gerade die Mikroskopie zeigt uns aber wieder recht deutlich, wie man erst sehen lernen muss und welche grosse Rolle das Denken dabei spielt. Die Dinge mUssen in die feinsten Schnitte nach verschiedenen Richtungen hin zerlegt werden und das Gesehene muss wiederum in der Vorstellung combinirt und richtig gedeutet werden, die Einstellung des Objekts wird leise verändert, uin trotz der Feinheit der Schnitte das höher oder tiefer liegende zu sondern, der Schatten wird beachtet, um Tiefen von Erhabenheiten zu unterscheiden, gerade wie wir es in freilich weit gröberer Weise im Grossen auch machen, ohne dass wir es merken, weil wir von Jugend auf daran gewöhnt sind. Bei allen diesen Zerlegungen ist es aber wieder die Continuität, welche das zergliedernde Messer leitet. Während der Anfänger wild das Zusammenhängende durchschneidet, präparirt der erfahrene Anatom in der geschicktesten und saubersten Weise sein Objekt bis in die letzten und feinsten Verzweigungen hinein, und wo das Messer allein nicht mehr ausreicht, sucht er durch Maceration deu Zerfall der Gewebe vorzubereiten oder durch geeignete Reageutien die Consistenz derselben zu erhöhen. So steigert er seine Ausdauer und seine Mittel, um nur nicht die Continuität in dem Verlauf der feinsten Fasern und Elemente zu verlieren und sie bis zu ihrem Ende zu verfolgen. Denn allein diese Continuität ist es, auf welche sich das Vertrauen in die Identität des untersuchten Gegenstandes gründet und durch welche die Veränderungen, die er in seinem Verlauf erleidet, sicher constatirt werden können. Wo der Zusammenhang unterbrochen ist, wird er vielleicht durch einen Schluss ergänzt, aber die Sicherheit in dem Vertrauen ist dahin. Wird nun so durch die fortgesetzte Sonderung und die Beachtung des darin bestehenden Zusammenhangs die Kenntniss der Gegenstände vermehrt und die Veränderungen, die darin zeitlich und örtlich stattfinden, immer mehr festgestellt, so ist es doch klar, dass wir nie das absolute Vertrauen gewinnen können, den

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Gegenstand vollständig erforscht zu haben. Zeit und Raum sind ins Unendliche theilbar und der Zusammenhang der Dinge e r streckt sich ins Unendliche, nach beiden Seiten hin sind der Wahrnehmung Grenzen gesteckt und wir dürfen nicht meinen, dass wo wir nichts mehr zu unterscheiden vermögen, auch nichts mehr zu unterscheiden sei. Die Auffindung der Zellen hat uns das Wachsthum der Pflanzen gelehrt, aber das Wachsthum der Zellen bleibt uns verborgen, weil wir nicht mit unseren Zerlegungen weiter vorzudringen im Stande sind. Die Bildung der K r i stalle ist uns noch mehr verborgen, weil wir die Zusammenlagerung der Moleküle mit den stärksten Vergrösserungen unserer Mikroskope nicht zu erreichen vermögen, und es bleibt uns nur das Vertrauen, auf die noch grössere Vervollkommnung unserer bisherigen Hülfsmittel oder auf die Entdeckung neuer. So erzeugt das Vertrauen auf das schon Gewonnene ein neues Vertrauen auf zukünftige Leistungen, und dieses ermuthigt die Anstrengungen des denkenden Geistes und hält sie bei ihrem Mis lingen aufrecht, aber es bleibt immer ein gradweises, welches sich wohl dem Ziele der Wahrheit immer mehr annähert, ohne es doch j e vollkommen zu erreichen. Diese Relativität hängt dem Vertrauen an, aber sie ist nicht ein Mangel, sondern ein Vorzug, den sie vor der Meinung voraus hat. Ihr Objekt ist die unendliche Continuität in den unendlichen Veränderungen, wie sollte nicht der Weg, der zur Auffassung derselben führt, ein unendlicher sein? Die Meinung ist bald fertig mit den von ihr ausgesonderten vereinzelten Gegenständen und sie schliesst sich schnell darin ab, ihr ist die Welt eine Summe vereinzelter Gegenstände, und was sie nicht sieht, ist für sie überhaupt nicht vorhanden, die weitere Beobachtung erst erweitert diese Welt und mit dem steigenden Vertrauen zu ihrem Zusammenhange wird sie ein unendlich sich verzweigender continuirlicher Process des Werdens, aus dem die einzelnen Gegenstände als seine zeitweisen Produkte erst ihre Erklärung finden. Steht Jemand dann noch fest auf dem Standpunkt der Meinung, so kann diese Veränderlichkeit der Gegenstände ihn verwirren, indem sie ihm den festen Boden unter den Füssen zu entziehen scheint, und in dem Flusse aller Dinge drängt sich ihm die skeptische Frage auf, ob dann überhaupt noch von einer Sicherheit und einem Bleibenden in der Erkenntniss geredet werden könne. Das Vertrauen aber gründet sich auf die Continuität in den Veränderungen und es erzeugt auch das Vertrauen

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auf die Continuität des Fortschritts im Wissen. Mag auch vieles uns noch verborgen bleiben und mag auch selbst der Zusammenhang in unserer Erkenntniss vielfach unterbrochen sein und das Fortschreiten in ihr durch die Unzulänglichkeit der Mittel und das Nachlassen der Anstrengungen zeitweise gehemmt oder durch den sich einschleichenden Irrthum verdunkelt werden, es bleibt das Vertrauen in den Fortschritt und die Möglichkeit an das Gewonnene wieder anzuknüpfen und den zerrissenen Faden von Neuem aufzunehmen. Bei der Meinung konnte man glauben zu s e h e n , während man nur zu sehen meint, und man hält allein an dem vermeintlich Gesehenen fest, als wäre es schon die volle Wahrheit, dieses Vertrauen aber, wie es gegründet ist auf dem Denken, ist auch zugleich das in die Macht des denkenden Geistes, welcher allein die in der Zeit fortwährend verschwindenden Wahrnehmungen festzuhalten und zu verknüpfen vermag, um sie zu einem continuirliclien Ganzen zu gestalten, und so greift das vertrauende Denken selbst hinüber in das, was es noch nicht sieht, immer in der bestimmten Hoffnung es erkennbar zu machen. Hier aber ist der Punkt, wo noch eine andre für unseren Standpunkt wichtige Betrachtung eingreift. Aller Fortschritt in der Wissenschaft wäre unmöglich oder auf das geringste Mass beschränkt, wenn das von Einem Beobachtete nicht übertragbar wäre auf Andre, wenn jeder Einzelne immer wieder von Neuem anfangen müsste und nicht die gewonnenen Resultate der Wissenschaft von Generation zu Generation durch Mittheilung fortgepflanzt werden könnten. Die unendliche Theilung der Welt erfordert auch eine unendliche Theilung der Arbeit, und der unendliche Zusammenhang ist nur allmälich durch eine Continuität in der Ueberlieferung zu erreichen; nur der Geist der gesammten Menschheit ist der Totalität der Thatsachen gewachsen und darf vertrauen durch gemeinsame Anstrengung sich dem Ziele der Wahrheit zu nähern. Diese Uebertragbarkeit ist aber rein eine Sache des Vertrauens, und beruht auf denselben Verhältnissen, auf welche die Auffassung der objektiven Veränderungen in der Aussenwelt sich gründet. Wir können weder die Empfindungen noch die Gedanken des Andern uns unmittelbar aneignen, sondern sie müssen uns vermittelt werden durch Handlungen, in denen jene ihren Ausdruck finden. Nun ist das hauptsächlichste Verständigungsmittel, die Sprache, nichts anderes als ein Bildungsprocess in Tönen, in welchem die Entwickelung des Denkens

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Hand in Hand gelit mit den Modifikationen der Laute, so dass alle Differenzen in den Vorstellungen auch Unterschiede in den Lautverbindungen hervorrufen, und der Zusammenhang der Menschen in ihrem Verkehr bildet das Mittel d e r Ausgleichung, auf welchem das Vertrauen beruht, dass Jeder mit denselben Ausdrücken auch gleiche Vorstellungen verbindet. Diese Ausgleichung selbst ist aber wiederum nur möglich durch die gleiche Beziehung der Vorstellungen zu den unigebenden Dingen. Wir weisen dem Kinde die Gegenstände auf und sprechen dabei das bezeichnende Wort aus, und wenn es dann dasselbe bei den gleichen Gegenständen wiederholt, so vertrauen wir, dass es dann auch mit derselben Bezeichnung denselben Sinn verbindet. Auf diese Weise scheinen wir uns aber in einem vollständigen Cirkel zu bewegen, aus welchem kein Ausgang möglich ist, und unser Vertrauen scheint ein durchaus eitles zu sein. I n der That hat sich auch die Skepsis dieser Betrachtung bemächtigt und daraus die völlige Unübertragbarkeit der Empfindungen und Gedanken abgeleitet. Um überzeugt zu sein, dass Jemand denselben Gegenstand meint und bei demselben dasselbe denkt, bedarf es der Identität des Worts, und dass er bei dem Wort wieder dasselbe sich vorstellt, hängt ab von der Uebeizeugung, dass er den damit bezeichneten Gegenstand in derselben Weise denkt, und so kommt es immer auf ein Vertrauen hinaus, dass der Andre dasselbe denkt, während doch die Identität des Denkens erst durch die Identität des Worts und des Gegenstandes vermittelt werden soll. Wer will behaupten, dass wenn Jemand mit mir dieselbe Farbe wahrnimmt und sie auch mit demselben Worte als blau bezeichnet, wirklich dabei auch dieselbe Empfindung habe wie ich, während er vielleicht seit dem Anfange unserer gegenseitigen Mittheilung darüber bei dem Gebrauch desselben Ausdrucks gerade immer denselben Eindruck gehabt hat, den ich mit Gelb bezeichnen würde. Aehnlich verhält es sich mit der Vorstellung; denn da der Gegenstand die allerverscliicdenartigsten Combinationen und Reflexionen zulässt, so kann ich niemals sicher sein, dass wenn Jemand den aufgezeigten Gegenstand in derselben Weise benennt, er auch wirklich sich dasselbe dabei denkt. D i e s e s Bedenken hat seine Richtigkeit, so lange wir auf dem Standpunkt der Meinung stehen, und wir haben damals recht betont, dass gleichwie dieselbe nur den vereinzelten Gegenstand wie er ihr in diesem Momente erscheint sich aneignet, so auch die Meinung nur

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diesem einzelnen Denkenden angehört, keinen Anspruch auf Allgeineingliltigkeit machen kann und in der That völlig unUbertragbar ist. Aber das Vertrauen beruht auf der Constatirung der Identität in dem Anderssein und der Unterschiede in dem Identischen, und so dürfen wir erwarten, dass es auch bei der Ausgleichung des Denkens verschiedener Persönlichkeiten sich bewähren wird. Schon die einfache Thatsache, dass wir im Stande gewesen sind, wirklich vorkommende Differenzen in der Empfindung bei der Wahrnehmung desselben Gegenstandes nachzuweisen, kann uns darüber belehren, dass jenes Vertrauen nicht eine eitle Voraussetzung ist, die wir gar nicht zu prüfen vermöchten, denn sonst wäre es völlig unmöglich gewesen auch nur irgend wie hinter jene Unterschiede zu kommen und das Mass derselben festzustellen. Man hat dabei die Methode befolgt, dass man verschieden gefärbte Papierschnitzel in eine solche Reihe bringt oder von Auderen bringen lässt, dass sie einen ganz allmälichen Uebergang von einer Farbennliance zur andern bilden, und wenn nun alle in der Anordnung übereinstimmen, so kann man sicher sein, dass keine Differenz in der Empfindung vorhanden ist, wo aber der Eine verschiedene Farben für gleich erklärt oder umgekehrt oder wo die Anordnung verschieden ausfallt, tritt die Differenz zu Tage. Das Vertrauen zu der entscheidenden Beweiskraft des Veisuches gründet sich auf die Continuität des Ueberganges in der Reihe aller Farbenunterschiede; während die einzelne Farbe eine Prüfung nicht zuliess, wird sie erreicht durch die Verbindung der Farben, in welcher wir den Grad und die Folge der Veränderungen auffassen müssen. Desselben Mittels aber bedienen wir uns auch um die Differenz in den Vorstellungen und in dem Gebrauch der sie bezeichnenden Ausdrücke auszugleichen und eine Verständigung über sie herbeizuführen. Wir verwandeln den betreffenden Gegenstand in eine Reihe von Veränderungen und können nun sicher sein, dass Alle, die denselben mit ihrem Denken folgen, auch dieselbe Vorstellung von ihm gewinnen müssen. Schon das Hinweisen und Aufzeigen ist eine solche Operation, durch welche wir ihn von seinen Umgebungen lostrennen; sodann zerlegen wir ihn immer weiter in seine Bestandtheile oder setzen ihn daraus wieder zusammen, und wo dieses selbst nicht angeht, bedienen wir uns einer Zeichnung und lassen daraus den Gegenstand allmälich vor den Augen

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Vieler entstehen, mit dem vollkommenen Vertrauen, dass Jeder, der die Entwickelung des Bildes verfolgt, auch nun die Vorstellung, die der Zeichnende selbst davon bat, sich angeeignet haben müsse. Die letzte und vollkommenste Verständigung findet aber erst Statt, wenn Alle die wirkliche Entwickelung des Gegenstandes selbst von seinem einfachsten Ursprünge an durch alle Veränderungen, die er in dem Verlauf seines Bestehens erleidet, sich zu eigen gemacht haben, und so liegt in der Continuität seines Werdens auch das Mittel, eine Uebereinstimmung in den Vorstellungen herbeizuführen, und das Vertrauen in der einen Beziehung bildet auch den Grund für das Vertrauen in der andern. Es ist offenbar und bedarf hier keiner weitläuftigen Auseinandersetzung, wie damit die Ausgleichung in der Sprache gleichen Schritt hält. Dasselbe Wort hat thatsächlich eine ganz verschiedene Bedeutung und wird von verschiedenen Personen noch weit mehr als wir gewöhnlich meinen, trotz der Uebereinstimmung im Grossen und Ganzen, in einem sehr verschiedeneu Sinne gebraucht, je nach dem der Eine mehr, der Andre weniger hineinlegt und das Hineingelegte so oder so combinirt, aber in welcher Bedeutung es gebraucht wird, erhellt aus dem Zusammenhange der Rede, und je mehr wir es in einem verschiedenen Zusammenhange gebrauchen lernen, und uns desselben in der Mittheilung bedienen, desto mehr wird dadurch das Verständniss und die Ausgleichung gefördert. Dies geht so unbewusst, namentlich in dem Gebrauch der Muttersprache vor sich, dass wir z. B. synonyme Ausdrucke in der Anwendung ganz richtig unterscheiden, ohne doch den Unterschied klar angeben zu können, was einen deutlichen Beweis dafür abgiebt, dass wir ihn wohl in der Verbindung heraus fühlen, aber für sich allein ihn nicht zu bestimmen vermögen und das Synonyme für gleichbedeutend halten. Deutlicher tritt die Sache freilich bei der Erlernung fremder Sprachen heraus und es liegt das Bildende derselben zum Theil in der Anstrengung des Denkens, welche erfordert wird, um die in ihnen liegenden Differenzen auszugleichen. Es liegt liier der Unterschied der Sprachen nicht nur in der Verschiedenheit der Laute, die zu einem Wort vereinigt, nunmehr denselben Sinn hätten, wie die des entsprechenden Ausdrucks in der andern , sondern die einfache Betrachtung des Lexikons genügt, um uns zu Uberzeugen, dass die Wörter sich keinesweges decken,

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sondern dasselbe Wort in der Satzverbindung sehr verschiedene Bedeutungen erhält, die in der andern nur durch andre Wörter wiedergegeben werden können. Das geht auf Unterschiede in dem die Sprache bildenden Denken zurück, welches die Vorstellungen in anderer Weise verknüpft und sondert, so dass die eine Gedankenbeziehungen da heraus findet, wo die andre nur schroffe Unterschiede wahrnimmt, und feinere Nuancen unterscheidet, wo die andre nur Gleichartiges erblickt. Nun ist der Sprachbilduugsprocess ebenso ein iiiessender, wie der Denkprocess selbst, dem er entspricht, wenn auch der Stoff, in welchem er arbeitet, von zäherer Natur ist, und daher kommt es, dass dieselben Wortformen im Verlauf dieser Bildung einen ganz andern Sinn erhalten, indem die Verknüpfung im Denken eine andre geworden ist. Dies zeigt sich namentlich in der Entwickelung der wissenschaftlichen Sprache, welche der des gemeinen Bewusstseins immer um einen bedeutenden Schritt voraus ist, und in ihrer Veränderlichkeit Uberhaupt einen weit grösseren Exponenten besitzt. Der einzelne Gelehrte hat auf ihre Ausbildung einen weit grösseren Einfluss, als dies in der Umgangssprache möglich ist; je bedeutender seine Leistungen auf irgend einem Gebiete des Wissens sind, desto mehr wird er genöthigt, die bisher gebräuchlichen Ausdrücke den veränderten Vorstellungen gemäss in einer andern Bedeutung zu nehmen oder für sie eine ganz neue Terminologie einzuführen, um das an die alteu Bezeichnungen sieb knüpfende Missverständniss zu vermeiden. Finden dann die Kesultate seiner Forschungen eine allgemeinere Anerkennung, so Uberträgt sich diese auch auf die neuen Bezeichnungen und sein Einfluss reisst die Andern so lauge mit sich fort, bis etwa eine neue Auktorität neue Veränderungen bringt. Dagegen erhebt sich dann die wunderliche Klage der Laien über den Mangel an Verständniss, wovon sie die Schuld den Gelehrten beimessen, die sich in der gewöhnlichen Sprache nicht auszudrücken verständen oder wohl gar etwas darin suchten, sich durch Bildung einer neuen Sprache von dem gemeinen Haufen abzusondern, während doch diese Scheidung in der Entwickelung des Denkens naturgemäss begründet ist, wenngleich auch auf der andern Seite nicht geleugnet werden darf, dass diese Klagen zum Theil ihre Berechtigung haben, wenn die Willkür der Einzelnen die Continuität der Entwickelung zu gewaltsam unterbricht. Unzählige Bäche und Kanäle leiten dann den

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Strom der wissenschaftlichen Sprachbildung allmälich auch in die Umgangssprache hinein, indem die allgemeine Bildung sich die Resultate des wissenschaftlichen Denkens aneignet und die populäre Darstellung eine Brücke zwischen beiden herstellt. Wie sehr aber doch die wissenschaftliche Sprache die eigentliche Verständigung fördert, geht daraus hervor, dass in ihr die Differenz der fremden Sprachen auf ein Minimum reducirt wird und die Uebertragung von wissenschaftlichen Werken aus der einen in die andre lange nicht mit jenen Schwierigkeiten verknüpft ist, die sich bei andern Produktionen bis zur völligen Unübertragbarkeit steigern können, vorausgesetzt, dass der wissenschaftliche Verkehr zwischen verschiedenen Völkern ein reger ist und sie sich auf demselben Niveau des Fortschritts erhalten. Auf diese Weise Ubersehen wir nun erst ganz die grosse Bedeutung, welche der Standpunkt des Vertrauens für die Entwicklung der Wahrheit hat. Es hebt einerseits die Differenz zwischen dem gegenständlichen Sein und dem Denken, andrerseits die zwischen den denkenden Persönlichkeiten selbst auf und beide Entwickelungen gehen Hand in Hand und bedingen sich gegenseitig. Beide bilden Reihen von Processen, in deren Continuität das Mass des Vertrauens ruht, mit welchem wir in dem Anderssein die Identität anerkennen, und je mehr wir sie in Fluss bringen, desto mehr zieht der Fortschritt in der einen Richtung den Fortschritt in der andern nach sich. Auf der einen Seite dringen wir immer tiefer in den Zusammenhang der Dinge und in den Process ihres Werdens ein und damit wächst auch die Möglichkeit der Verständigung über die wahrgenommenen Veränderungen und das Vertrauen, dass Jeder der ihnen mit Aufmerksamkeit folgt, dasselbe dabei denken müsse, auf der andern Seite wird durch die Mittheilbarkeit der Wahrnehmungen die Arbeit getheilt, die Sinne Aller kommen Allen zu gut, und die Continuität der wissenschaftlichen Ueberlieferung macht den Fortschritt darin erst möglich. Was der Eine nicht sieht, sieht der Andre, die Beobachtungen ergänzen und berichtigen sich, in dem lebendigen wissenschaftlichen Verkehr liegt die Controle für die Untersuchungen des Einzelnen und das Vertrauen in die eignen Resultate wächst mit der gewonnenen Uebereinstimmung. Aber freilich müssen wir immer dabei festhalten, dass es seiner Natur nach ebenso veränderlich ist, wie die Processe, mit denen es zu thun hat und auf die es sich gründet, so dass es trotz des ü i - o r g e , I . o i k ;ils W i > s e i i s c l i a l t s l .

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I, 3. Die Gewissheit.

Fortschrittes, der sich darin kund giebt, doch den Charakter der Relativität nicht verliert, j a dass der Faden der Continuität häufig reisst, und selbst das schon gewonnene Vertrauen sich wieder vermindert. Der Glaube an die Auktorität hervorragender Forscher lässt auch einseitige oder ganz falsche Beobachtungen mit gleichem Vertrauen hinnehmen und beherrscht so in der nachtheiligsten Weise oft ganze Operationen, ohne dass neue berichtigende Untersuchungen angestellt werden. Wenn diese dann von andrer Seite und vielleicht von andern Gesichtspunkten aus aufgenommen werden, so entstehen streitende Ansichten, welche jeder Vereinigung zu widerstreben scheinen, und das Vertrauen geräth in ein Schwanken, welches dem Zweifel Thür und Thor öffnet. Nur die fortschreitende Beobachtung, welche das Falsche ausscheidet, den Irrthum berichtigt; das Streitende vereinigt und die zerrissene Continuität wiederherstellt, kann auch hier das Vertrauen aufs Neue wieder beleben und den Zweifel an dem Fortschritt in der Wahrheit überwinden.

3. Die G e w i s s h e i t . Die Meinung hatte den einzelnen Gegenstand zunächst fixirt, wie er mir in diesem Moment erschienen war, aber zu dem Gegenstande gehören auch alle die Veränderungen, welche er in dem Verlauf seines Daseins erleidet und die ich an ihm zu unterscheiden im Stande biu, und erst wenn ich das Vertrauen haben kann, sie vollständig aufgefasst zu haben, bin ich gewiss den Gegenstand ganz zu kennen. Die G e w i s s h e i t ist daher ein neuer höherer Standpunkt des Glaubens, auf welchem wir uns der vollkommenen Uebereinstimmung unseres Denkens mit den Thatsachen und dem Verlauf ihrer Entwickelung bewusst werden. Sie gründet sich auf eine Wechselwirkung zwischen Meinung und Vertrauen, indem die erstere durch das letztere rektificirt wird, und wir können sie daher bezeichnen als das Vertrauen in die richtige Meinung. Wird diese Entwickelung der Sache übersehen, so kommt man gar leicht zu jener falschen Auffassung, welche Glauben und Gewissheit gegenüberstellt, indem sie jenen mit der blossen Meinung, diese mit Wissen identificirt und daher behauptet, was gewiss sei, wisse man und brauche es nicht mehr zu glauben. Aber dadurch, dass das Vertrauen hinzukommt,

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hört die Meinung nicht anf eine solche zu sein, und die Sicherheit, welche ihr in der Gewissheit zukommt, hat sie doch nur von dem Vertrauen, mit welchem wir sie nun in unserem Denken unerschütterlich festhalten. Auch nach der gewöhnlichen Ansicht gründet sich die Gewissheit gegenüber der flüchtigen Meinung auf die genauere Untersuchung der Thatsachen, und die dadurch erreichte Gewissheit hängt doch immer wieder ab von dem Vertrauen, welches wir zu der richtigen Führung derselben und der dadurch gewonnenen Ansicht hegen. Das Vertrauen war nun zunächst mit der Meinung dadurch verknüpft, dass es dieser von mir gemeinte Gegenstand ist, den ich in meinem Denken fixirt behalte und an welchem ich die Veränderungen vor sich gehen sehe; damit entstand das Vertrauen, dass es derselbe Gegenstand ist, dem dieser Wechsel zukommt und dass er trotz dieser Veränderungen derselbe bleibt. Aber damit haftet auch diesen Veränderungen immer dieser Gegenstand an, nur er zeigt unter diesen Umständen gerade diese Erscheinungen, während jeder andre sich unter denselben anders verhält. Der Wechsel ist nicht ein zufälliger und regelloser, sondern er erfolgt in einer beständigen und gesetzmässigen Continuität im Verhältniss zu den bestimmten Umgebungen und Bedingungen, in denen der Gegenstand sich befindet und in die er versetzt wird, so dass er mit ihnen auf das Innigste zusammenhängt. Gerade diese bestimmte Folge und dieses bestimmte Verhältniss in seinen Veränderungen ist es, worin sich die Identität des Gegenstandes erhält und trotz aller Modifikationen in der Erscheinung das Wesen dasselbe bleibt. Wenn daher auch das Ding bei der fortgesetzten Betrachtung sich in Reihen von Veränderungen auflöst, so geht es doch damit nicht verloren, sondern es verharrt in ihnen und hat in ihnen sein Bestehen. Wir können daher nun auch die Betrachtung umkehren und behaupten, wenn irgend ein Gegenstand unter denselben Umständen immer dieselben Veränderungen zeigt, so ist es derselbe Gegenstand, denn die Identität desselben ist geknüpft an die Identität seiner Veränderungen. Die gewöhnliche Prüfung hält sich freilich dabei an die äussern in die Augen fallenden Eigenschaften, aber sie verräth damit den Standpunkt der noch oberflächlichen Meinung, will sie genauer sein und sich von der wirklichen Identität vergewissern, so zerlegt und analysirt sie ihn bis in die kleinsten Bestandteile und nimmt Prttfungsmittel zur Hand, durch 6*

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welche sie Veränderungen an ihm hervorbringt und danach die eigentliche Natur desselben bestimmt. Der vergoldete Schmuck sieht ebenso aus wie der ächte, aber wir reiben auf dem Wetzstein die dttnne oberflächliche Schicht ab und lassen nun Salpetersäure darauf wirken und der Unterschied tritt deutlich zu Tage. Umgekehrt, wer die Natur des Schnees nicht kennt, würde ihn nicht für Wasser halten, sobald er geschmolzen ist, wird die Identität mit demselben leicht erkannt. Wiederum wird vieles von dem gemeinen Mann filr Wasser gehalten, was in der That weit davon entfernt ist es zu sein, und das gewöhnliche Quellwasser selbst enthält so viele verschiedene fremde Bestandteile, dass erst der Chemiker durch die genaueste Untersuchung die Qualität desselben festzustellen vermag. Die Gewissheit wurzelt also darin, dass wir die Identität des Gegenstandes an der Identität der Veränderungen prüfen, die er unter bestimmten Bedingungen erleidet. Hiermit ist das betrachtete Objekt offenbar zu einem a l l g e m e i n e n geworden; die Meinung hielt das Ding in seinem vereinzelten Fürsichsein fest, das Vertrauen verfolgte die besonderen ihm eigenthümlichen Veränderungen in ihrem Zusammenhange und in ihren Beziehungen zu den übrigen Dingen, die Gewissheit erkennt das Ding als ein allgemeines an und betrachtet es nur als die Continuität dieser Veränderungen. Was aus einander wird und in derselben Weise sich entwickelt ist dasselbe, mag es auch äusserlich betrachtet noch so verschieden erscheinen, das ist der Gedanke, auf welchem alle Gewissheit beruht. Die einzelnen bisher von der Meinung getrennten Dinge werden durch die gemeinsame Entwickelung mit einander verknüpft zu einzelnen Stadien derselben und stellen sich nur noch dar als momentane Zustände des wahren Dinges, welches unter veränderten Bedingungen diese oder jene besondere Gestalt annehmen kann. Mag das Wasser fest, flüssig oder dampfförmig sein, es bleibt immer Wasser, mag dasselbe Insekt mir als Ei, Raupe, Puppe oder Schmetterling begegnen, es bleibt immer dasselbe Insekt, und die Eier, die es legt, geben wieder dasselbe Thier, denn sie sind nur die Fortsetzung desselben Lebensprocesses, der jenes erzeugt hat und sich in der neuen Brut erhält. Hiemit treten wir nun freilich einer sehr verbreiteten Ansicht entgegen, welche dem Allgemeinen keine Realität einräumen will und indem sie davon ausgeht, dass nur das Einzelne wahrhaft

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sei, jenem allein eine Bedeutung fllr den Verstand beilegt, als dessen Produkt es sich erweise. Aber hier zeigen sich recht klar die Consequenzen der gewöhnlichen oberflächlichen Betrachtungsweise. Man thut so, als ob das Einzelne unmittelbar wahrgenommen werde, während das Allgemeine erst durch das verknüpfende Denken entsteht, und man merkt nicht, dass bei der Aussonderung des Einzelnen der Verstand ebensogut thätig ist wie bei der Verknüpfung des Allgemeinen; man achtet auf die Willkür, welche allerdings häufig bei der Bildung der allgemeinen Begriffe obwaltet, aber man vergisst die Willkür, die noch in weit höherem Masse bei der Scheidung des Einzelnen stattfindet. Ueberall ist ein Allgemeines, wo wir im Wechsel ein Bleibendes, im Anderssein ein Identisches finden, und da Alles an der Veränderung Theil hat, so giebt es kein Einzelnes, das nicht zugleich ein Allgemeines, und auch kein Allgemeines, das nicht in andrer Beziehung selbst wieder ein Einzelnes wäre. Allgemeinheit und Besonderheit erweisen sich als schlechthin relative Begriffe, wie weit wir auch die Sonderung treiben mögen, wir kommen immer wieder noch auf einen Zusammenhang von Theilen, in welchen der Wechsel sich findet, und wie weit wir nach der andern Richtung den Zusammenhang verfolgen, wir treffen immer noch auf Unterschiede, so dass jedes Allgemeine ein Besonderes ist im Vergleich mit dem noch höheren Allgemeinen und jedes Einzelne wiederum noch ein Allgemeines im Vergleich mit dem unter ihm enthaltenen Besonderen. Die Consequenz von der Leugnung des Allgemeinen ist die Leugnung alles Zusammenhangs und alles Werdens in der Welt, sie endigt in der Annahme von Atomen, die allein das Reale darstellen und als das schlechthin Starre und für sich Seiende aller Veränderung Trotz bieten sollen, während das Denken erst alle die Verknüpfungen hineinbringt, in welchen wir die Dinge anschauen, wobei man freilich nicht begreift, wie es zu diesen Beziehungen einen Anhalt fände, wenn er in der Realität gar nicht gegeben wäre. Die gewöhnliche Ansicht zieht jene Consequenzen nicht, und wie sollte Bie dieselben ziehen, da dieses schlechthin Einzelne der Atome am allerwenigsten in die Wahrnehmung fällt? Sie steht vielmehr völlig auf dem naiven Standpunkt der Meinung, welche das von ihr zufällig ausgesonderte Einzelne unbefangen für das in der Wirklichkeit ebenso Getrennte hält, und obgleich

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sie dabei nicht umhin kann, auch Veränderungen daran und somit auch Zusammenhang mit den Umgebungen zuzugeben, doch sich -in ihrer einmal gefassten Ansicht nicht stören lässt und den Widerspruch nicht merkt, den sie damit an sich selbst begeht. Ihr einmal gefasstes Vorurtheil gegen die Realität des Allgemeinen lässt dieses nicht zu, so sehr es sich auch von allen Seiten her ihr aufdrängt, j a sie wendet überall die allgemeinen Ausdrücke an, und findet dann wohl gar eineu beklagenswertheu Mangel darin, dass unser Denken und Vorstellen einmal nicht Uber das Allgemeine hinaus kann und sich deshalb notgedrungen mit demselben begnügen inuss. Dieses Stück Eisen ist freilich nur ein Theil des allgemeinen Vorraths in der Erde, von dem es genommen ist, wie dieses Gefäss voll Wasser, das ich eben geschöpft habe, und da dringt sich denn wohl die Vorstellung auf, dass bei allen blossen Stoffen sich das Einzelne dem Allgemeinen unterordnet. Aber dieser Baum ist doch ein einzelnes Individuum, welches vollkommen für sich besteht und mit dem Allgemeinen nichts zu thun hat, wenn ich auch hinterher die Bäume von einem ähnlichen Aussehen zu einem allgemeinen Artbegriffe vereinige. Trotzdem dass dieser Baum aus einem Samenkorn entstanden ist, neue Zweige bekommt, Blätter und Aeste verliert und wiedergewinnt, blliht und Früchte bekommt, aus denen wieder dieselben Bäume entstehen, erkennt man das Allgemeine darin nicht an, es muss erst die Wissenschaft kommen und aufzeigen, dass dieser Baum, wie jeder Polypenstock, eine ganze Kolonie von Individuen ist, die nur von dem Stamm getrennt zu werden brauchen, um in die rechten Bedingungen versetzt, ebensogut ihren Lebensprocess fortzusetzen, wie die in den abgefallenen Früchten enthaltenen Samen. Diese Erkenntniss führt denn dahin, dass sich hier und da schon Stimmen vernehmen lassen, welche in dem Pflanzen- wie in dem Thierreich nur der Zelle ein individuelles Leben zuschreiben wollen, als ob nicht hier dasselbe sich wiederholen würde, wenn die Wissenschaft dahin gelangt, sie in ihre weiteren Bestaudtheile zu zerlegen; und auch jetzt schon ist sie ein Allgemeines gegenüber den Veränderungen, die sie im Verlauf ihres Lebensprocesses erfährt. Ihr gegenüber aber hat der Organismus der Pflanze und des Thiers und die sich in den einzelnen Organismen reproducirende Art dieselbe Berechtigung auf die Anerkennung ihrer Realität und es wird nicht mehr lange dauern, dass auch weiter

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hinauf die Anerkennung der Realität der Gattungen, Ordnungen und Klassen sich Geltung verschaffen wird, je mehr die so fruchtbare Idee der Entwicklungsgeschichte, welche jetzt Überall in die Naturwissenschaften eingeführt ist, sich weiter Bahn brechen und alle in ihr liegenden Consequenzen ziehen wird. Die Gewissheit steht und fallt mit der Allgemeinheit, denn sie beruht auf der Identität des Gegenstandes mit der Identität seiner Veränderungen, in denen er sein Bestehen hat; nur das Allgemeine ist gewiss und mit der Gewissheit fällt zusammen der Glaube au die Wahrheit und Realität des Allgemeinen. Giebt es nur ein Allgemeines in unserem Verstände, so giebt es auch keine Continuität und kein Werden in den Dingen, sondern aller Zusammenbang ist nur ein vermeintlicher willkürlich von uns hineingedachter, alle Aussicht auf Wahrheit ist eitel und wir müssen uns an der blossen Meinung genügen lassen, aber dann muss man auch die Consequenz anerkennen, dass in der Meinung tiber das vereinzelte Dasein mehr Wahrheit liegt als in der Gewissheit über das Allgemeine. Das Vertrauen in die richtige Beobachtung der Veränderungen und des Zusammenhangs weist eine solche Vorstellung zurück und sichert uns den Glauben an das Allgemeine, dem nicht nur Realität Uberhaupt, sondern eine weit grössere als dem Einzelnen zukommt. Sind wir erst darüber zur Gewissheit gelangt, wie das einzelne Dasein in dem Verlauf der Frocesse entsteht und sich allmälich modificirt, so ist es klar, wie dasselbe zu momentanen, vergänglichen Zuständen und Stadien in der Entwickelung herabsinkt, wogegen das Allgemeine als das Bleibende auch das Realere wird, von dem jenes erst seine Realität ableitet; es war eher als das Einzelne entstand und es erhält sich in dem Wechsel der Gestaltung und überdauert die einzelne Modiiikation, so dass es erst mit dem Untergange aller davon abgeleiteten Einzelwesen untergeht. Aber der Begriff der Entwickelung weist nun noch auf eine andre Seite in dem Allgemeinen hin, welche gewöhnlich gar nicht recht beachtet wird und noch weniger zur Anerkennung kommt, als die bisher betrachtete. Der Entwickelungsprocess hat nicht nur eine Vergangenheit, in welcher er das Getrennte zu einer continuirlichen Einheit des Werdens verknüpft, sondern ebensosehr auch eine Zukunft, in welcher er auf eine die ganze Gestaltung beherrschende Einheit hinweist. Der Allgemeinheit des Grundes steht die des Zweckes gegenüber, und es gilt nicht

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I, 3. Die Gewissheit.

nur der Satz als gewiss, dass das was geworden ist, mit dem identisch ist, aus dem es geworden, sondern auch nicht minder der andre, dass es identisch ist mit dem, zu welchem es wird. Im gewöhnlichen Leben erkennen wir diese Allgemeinheit sehr wohl, wenn wir die einzelnen dem gleichen Zwecke dienenden Geräthe unter dem allgemeinen Begriffe des Hausgeräthes zusammenfassen, mögen sie auch sonst auf eine sehr verschiedene Entstehung zurückweisen, aber hier verknüpft sich der Zweck mit der Willkür des Menschen und wir scheinen uns in derselben Sphäre eines subjektiven die Dinge verknüpfenden Denkens zu befinden. Aber auch hier tritt uns der Zusammenhang zwischen der Realität des Zweckbegriffs und der fortschreitenden Gewissheit entgegen. Der keimende Samen wird zu einer Pflanze, das Eichen entwickelt sich zu einem Thiere, in ihnen erkennen wir erst, was das ursprünglich noch nicht zu unterscheidende wirklich ist, und erst mit dem ganzen Kreislauf aller der Veränderungen, welche die Entwickelung durchmacht, haben wir die wahre Natur des Gegenstandes begriffen. Der Zweck des Samens ist die Pflanze, der Zweck der Pflanze die Fortpflanzung der Art durch den Samen. Damit aber die Pflanze werde, bedarf sie des Bodens und der Luit, in denen sie steht und aus denen sie ihre Nahrung zieht, und damit des ganzen Bildungsprocesses der Erdrinde, bedarf sie der Wärme und des Lichtes, die ihr die Sonne spendet, und so gehört alles dies mit hinein in den Yegetationsprocess des Pflanzenreichs und es ist ein Unverstand, wenn man die Entwickelung auch nur einer Zelle aus jenem Zusammenhang herausreissen will. Das Thier wiederum kann nur leben, wenn die Pflanze ihm diejenigen Stoffe bereitet hat, aus denen es sich ernährt und seinen ganzen Organismus aufbaut, und die Pflanzenbildung ist daher eine Vorbedingung der Thierbildung. So greift ein Entwickelungsprocess in den andern und setzt sich in ihm fort, der eine vermittelt den andern und erreicht in ihm seinen Zweck. Wir verfolgen hier diese Untersuchungen Uber den Zweckbegriff vorläufig nicht weiter, weil wir später doch noch wieder auf sie zurückkommen müssen, aber so viel geht aus ihnen schon hervor, dass die teleologische Betrachtung nicht etwa eine müssige Spekulation ist, die allein der denkenden Reflexion angehört, sondern dass sie ebensogut in das Gebiet des Thatsächlichen gehört, wie der Causalzusammenhang, j a mit diesem auf

I, 3. Die Gewissheit.

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das Allerinnigste verknüpft ist. Es hat mit ihr gerade dieselbe Bewandtniss, wie mit der Realität des Allgemeinen Uberhaupt. Deshalb weil die Verknüpfungen in den allgemeinen Begriffen vielfach willkürlich gemacht werden, regt sich der Zweifel dagegen und man verwirft sie ganz, deshalb weil man sieht, wie häufig in spielender Weise der Zweckbegriff angewandt ist, um damit eine wohlfeile Erklärung der Erscheinungen zu geben, verweist man ihn völlig aus der Wissenschaft und beraubt sich damit des wichtigsten Gesichtspunktes in der Betrachtung der Dinge. Hat nicht dieselbe Willkür auch ebensosehr in der Aufstellung des Causalzusaromenhanges geherrscht und hat man das Recht, um des Missbraucbs willen, dem gerade die besten Dinge am meisten ausgesetzt sind, die Sache selbst zu verwerfen? Um so wichtiger wird es den richtigen Gebrauch festzustellen und unsere Untersuchung soll eben lehren, wie die Realität des Allgemeinen und des Zweckbegriffs mit der Gewissheit aufs Engste verbunden ist. Dazu gehört aber, dass er nicht bloss in die Dinge hineingedacht werde, sondern als ein Thatsächliches aus der Beobachtung derselben hervorgehe. Man hat das Zweckmässige in der Natur für ein Spiel des Zufalls erklärt und damit denselben aus der Wirklichkeit zu eliminiren geglaubt, aber dies selbst zugegeben, wird damit die Thatsache selbst wegdisputirt? Wie die Atome sich auf ihrem Wege begegnen, werden die chemischen Processe eingeleitet, aus denen zuletzt der lebendige Organismus hervorgeht, aber gehorcht die Bewegung nicht den Gesetzen des Causalzusainmenhangs und ist der Zweck auf einem andern Wege zu erreichen, als auf dem der strengen Causalität? Es liegt etwas Widersinniges darin, die Ursachen anzuerkennen und das Produkt derselben zu verwerfen, rückwärtsgehend alle die mannigfaltigen Kräfte aufzusuchen, die zusammenwirken müssen, um einen Organismus zu bilden, und sich in der Betrachtung derselben zu zerstreuen und dagegen die gewonnene Einheit, in der sie zusammentreffen und für welche sie die Vorbedingungen bilden, zu vernachlässigen. Das ist offenbar nur die Nachwirkung der vereinzelnden Meinung, die kein Vertrauen fassen kann zu der Continuität des Zusammenhangs, die die Stoffatome als die letzten und eigentlichen Dinge starr auseinander hält und das Geschehen und die Veränderung nur äusserlich daran bringt, ohne dass sie selbst davon afficirt würden. Wie sie ein Produkt der Meinung

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I, 3. Die Oewiasheit.

sind, so hält sie sich auch an ihnen fest als an ihrem letzten Ankergrund. Aber sind die Processe, welche sie mit einander verknüpfen, nicht ein Reales und ist das Vertrauen, welches wir in den Zusammenhang haben und auf welches alle N o t w e n d i g keit sich erst gründet, ein eitles? Ist es nicht die Schuld der Meinung, dass sie den Zusammenhang da zerreisst, wo er sich der genaueren Beobachtung offenbar aufdrängt. Die Meinung kann freilich den Zweck nicht erreichen, weil er nicht in der Vereinzelung sondern j n der Einheit des Vereinzelten liegt, aber die Gewissheit, dass die Continuität des Zusammenhangs nirgends unterbrochen ist und dass die mannigfaltigen zusammenhangenden Processe in ihren Produkten sich vereinigen, zieht auch die unumstössliche Gewissheit des Zwecks nach sich. Was ist der Zweck anders als das Ziel einer Entwickelungsreihe, das mit derselben Notwendigkeit und Gesetzmässigkeit erfolgt, wie jedes Glied innerhalb derselben. Dass mau ihn nicht anerkennen will, hat seinen Grund in dem falschen Vorurtheil, welches mit dein Zweck immer die Vorstellung der Willkür verknüpft, die unseren menschlichen Zwecken anhaftet und darum auch auf die Naturbetrachtung Ubertragen wird, sobald sie den teleologischen Charakter annimmt. Aber damit haben wir es hier zunächst wenigstens noch gar nicht zu thun, sondern es handelt sich um die Thatsäehlichkeit der Zweckmässigkeit, die der exakten Beobachtung zugäuglich ist, und gar nichts mit möglicher Weise falschen Schlüssen zu thun hat. Dass aus diesem bestimmten Samen dieser bestimmte Bauin wird, ist eine unumstössliche Thatsache und damit ist es ebenso unumstösslich gewiss, dass er den Zweck hat, dieser Baum zu werden; dass das Thierreich den Pflanzenbildungsprocess zur notwendigen Voraussetzung hat, ist eine gewisse Thatsache und wer sie einmal sich angeeignet hat, kann nicht mehr leugnen, dass das Thier der Zweck der Pflanzenbildung ist. Die Zweckmässigkeit aller Theile eines bestimmten Organismus in ihrer Beziehung zum Ganzen ist ein Produkt des Zusammenwirkens aller der Processe, durch welche er sich bildet, aber wir sind noch nicht weit genug in der Wissenschaft, um daraus alles Einzelne zu erklären; darum mangelt hier auch die Gewissheit und wenn dann die Phantasie ergänzend hinzutritt und an dem fertigen Produkt die Harmonie in den verschiedenen Verrichtungen der Organe bewundert, so kann sie vielfach fehl greifen, weil ihr der Zusammenhang,

I,

3. D i e

Gewissheit.

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in dem alles so geworden ist, nicht einleuchtet, und die vermutkpte Zweckmässigkeit bleibt der Entwickelung fremd. Erst wenn die strenge Beobachtung die Continuität zwischen dem Verschiedenartigen herstellt, die vermittelnden Glieder in der Genesis des Einzelnen aufweist und so die thatsächliche Verknüpfung in dem Werden zum ßewusstsein bringt, wird auch die wahre Einsicht und das richtige Urtlieil in Betreff der thatsächliclien Zweckmässigkeit gewonnen. Durch diese Betrachtung tritt uns nun erst die wahre Natur des Allgemeinen in ihrer vollen Klarheit entgegen und damit ist zugleich auch ihre Beziehung zu der Gewissheit erschöpft. Was denselben Grund hat und was zu demselben Zweck führt, ist dasselbe, und zwischen beiden liegt die ganze Mannigfaltigkeit und Verschiedenartigkeit seiner Entwickelung. Die Gewissheit liegt in der beobachteten Continuität des Werdens, welche die getrennten Momente und Phasen der Entwickelung mit einander verknüpft, und erst, wenn wir den Grund und Zweck eines Gegenstandes anzugeben vermögen, sind wir Uber ihn zur Gewissheit gelangt. Nach beiden Richtungen hin zeigt sich aber die Relativität des Allgemeinen; der gemeinsame Grund, durch welchen verschiedenartige Reihen von Thatsachen mit einander verknüpft sind, führt selbst wieder auf einen noch allgemeineren Grund zurück, und das, worin sich verschiedene Entwickelungsreihen als in ihrem gemeinsamen Zwecke vereinen, wird selbst wieder ein Mittel zu einem noch höheren Zwecke. ¡So ordnet sich das Besondere in verschiedenen Gruppen und Graden der Verwandtschaft dem Allgemeinen unter und gerade in der richtigen Vorstellung über das bestimmte Verhältniss, in welchem jedes Einzelne zu dem Ganzen der Entwickelung steht, liegt die Gewissheit. Das Allgemeine ist nicht eine Abstraktion, bei welcher wir von den Verschiedenheiten absehen, um sie zu vergessen, sondern grade umgekehrt eine recht concrete Anschauung, in welcher wir die ganze reiche Mannigfaltigkeit der Veränderungen festhalten als den wahren Inhalt der Entwickelung; es verknüpft das Einzelne, indem wir die Gewissheit erlangen, dass das in der Meinung getrennte nur Modifikationen desselben Dinges sind, aber es giebt uns zugleich auch die Einsicht, dass diese Modifikationen nicht ein gesetzloses und zufalliges Anderswerden sind, in denen es nicht» Bleibendes giebt, sondern dass sie die nothvvendige Entwickelung eines und desselben Gegenstandes

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I, 3. Die Gewissheit.

darstellen, der diesen Veränderungen ihren bestimmten Charakter und ihren regelmässigen Verlauf einprägt. Es geht also in der Allgemeinheit das Einzelne nicht verloren und das Allgemeine erscheint selbst wieder als ein Einzelnes, grade ebenso wie in der Gewissheit die Meinung nicht verworfen, sondern nur berichtigt wird und so ihre rechte Stellung innerhalb der Wahrheit erhält. Kommt nun aber, wie wir gesehen haben, der Allgemeinheit, welche das Objekt der Gewissheit ist, stets die Relativität zu, so wird dasselbe nicht minder auch von der Gewissheit gelten, und es ist offenbar, dass von einer absoluten Gewissheit niemals die Rede sein kann. Wie sie aus der Verknüpfung und Wechselwirkung von Meinung und Vertrauen hervorgeht, so theilt sie auch mit dem letzteren den Charakter der Veränderlichkeit, nur dass diese ebenfalls nicht ein regelloses Auf- und Abwogen von Wahrheit und Unwahrheit ist, sondern mit dem Bewusstsein eines sicheren Fortschritts in der Wahrheit verknüpft bleibt. Auch darin zeigt sich ein Nachklang der Eigenthümlichkeiten beider. Die Meinung schliesst sich in sich ab und ist leicht mit ihrem Gegenstande fertig, sie glaubt ihn im ersten Anlaufe der Betrachtung erobert zu haben und hält sich des Besitzes sicher, das Vertrauen gewinnt mit der Einsicht in die Veränderlichkeit des Gegenstandes auch die Vorstellung von der Unermesslichkeit der Aufgabe und es gehört eben die ganze Kraft des Vertrauens dazu, um nicht davor zurückzuschrecken, sondern in dem Hinblick auf die schon erreichten Resultate auch die Zuversicht für das fernere Gelingen zu bewahren. Die Gewissheit besitzt das Bewusstsein des Fortschritts und darin einerseits eine Sicherheit in Beziehung auf das, was fertig und abgethan ist, andrerseits eine bestimmte Aussicht auf das Ziel, welches noch vor uns liegt und zu dessen Erreichung die Mittel mehr oder minder schon gegeben sind. Die Gewissheit ist eine werdende sich der absoluten Wahrheit immer nur annähernde und der Grad derselben drückt das Verhältniss aus, in welchem das Erreichte zu dem noch zu Erreichenden steht, deshalb ist mit jeder Gewissheit immer noch Ungewissheit verknüpft, aber sie beziehen sich nicht auf dasselbe und heben sich nicht gegenseitig auf. Ja es wächst offenbar mit der sicher fortschreitenden Gewissheit auch eben so sicher die Ungewissheit und je mehr Jemand schon weiss, desto mehr wird in ihm das Bewusstsein angeregt von dem, was er

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noch nicht weiss. J e mehr Jemand noch auf dem Standpunkt der blossen Meinung steht, desto weniger entsteht in ihm der Gedanke, dass es ausser dem, was in seiner Vorstellung liegt, noch etwas anderes giebt, sobald er aber eine Einsicht in den Zusammenhang der Dinge gewinnt, erweitert sich sein Blick, die Aufgaben und Ziele mehren sich und damit stellt sich auch die Gewissheit der Schranken ein, welche an den abgebrochenen Fäden die Grenzen unseres Wissens deutlich erkennt, aber auch ebenso sehr Uber diese Schranken hinaus die Ziele voranschaut, wo sie sich wieder vereinigen mllssen. Diese die Gewissheit begleitende Ungewissheit ist nicht jene skeptische, welche um des noch nicht Erkannten willen auch das schon Erkannte wieder ungewiss macht, und deshalb an der Möglichkeit der Wahrheit überhaupt verzweifelt, sondern sie verbindet sich mit der Gewissheit, dass das, was mit unseren jetzigen Mitteln noch unerreichbar ist, künftighin durch die Fortschritte unseres Wissens werde erreicht werden. Noch weniger aber ist die Ungewissheit mit dem Irrthuni zu verwechseln, denn jene ist nur das Bewusstsein des Nichtwissens, dieser der Glaube an ein Wissen, welches in der That nicht vorhanden ist. Jene begleitet stets das werdende Wissen, aber sie macht das ungestörte Fortschreiten in demselben möglich, dieser hemmt den Fortgang, und das Falsche, welches er hineinbringt, muss erst wieder eliminirt werden. Diese Betrachtungen sind nun auch geeignet, den Zweifel gegen die Möglichkeit der Gewissheit zu widerlegen, welcher von dem Wechsel der Ansichten in dem Verlauf der Geschichte der Wissenschaften hergenommen wird. Bei einer oberflächlichen Betrachtung drängt sich Jedem die Thatsache auf, dass das, was zu einer bestimmten Zeit völlig gewiss und allgemein anerkannt war, in einem späteren Zeitalter wieder dem Streit unterlag und verworfen werden musste. Da ist es dann begreiflich, wie mit einer solchen Beobachtung Uberhaupt das Vertrauen in die Möglichkeit der Gewissheit erschüttert wird und der Glaube an einen wirklichen Fortschritt im WTissen wankt; aber um so wichtiger wird es, diesen Wechsel näher ins Auge zu fassen und ihn auf sein rechtes Mass zurckzuftihren. Niemand kann den Fortschritt im Allgemeinen leugnen, aber Niemand sollte auch so verblendet sein, einen ungetrübten Fortschritt behaupten zu wollen. Der Irrthum greift immer hemmend ein und bedingt Rückschritte, welche oft auf lange Zeiträume schon gewonnene Wahrheiten

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I, 3. Die Gewissheit.

wieder verdunkeln und vergessen machen können. An die Stelle der wahren Verknüpfungen treten falsche Combinationen und diese wuchern dann weiter fort und erzeugen neue Irrthümer. Aber diese sich einmischende Unwahrheit, auf welche wir später noch genauer einzugehen haben werden, ist doch immer nur an der Wahrheit und so sehr sie dieselbe zeitweise zurückdrängen und corrumpiren kann, so wird sie doch mit dem fortschreitenden Wissen als solche erkannt, und um so schneller wieder entfernt, j e lebendiger die Entwickelung in demselben ist. Oft aber wird mit dem daran hangenden Irrthum auch die in den verschiedenen Ansichten liegende Wahrheit verkannt und auf diese Weise die Continuität in dem fortschreitenden Wissen verleugnet, die doch selbst bei der stärksten Trübung niemals ganz verloren geht. Der blosse Wechsel der Meinungen ist nämlich an sich noch keinesweges ein Zeichen der Unwahrheit, sondern er kommt als ein naturgeniässer iu der Entwickelung des Wissens stets vor und hebt die Gewissheit des Fortschritts nicht auf, sondern befestigt sie vielmehr. Der Streit der Ansichten beruht auf der Einseitigkeit der Meinung und sie haftet der werdenden Gewissheit unausbleiblich an; sie kann zu einem Irrthum werden, aber sie ist an sich noch kein Irrthum. Je reicher ein Gegenstand an Inhalt und an Beziehungen ist, desto verschiedenartigere Gesichtspunkte giebt es für seine Betrachtung und desto weiter können die Ansichten Uber ihn auseinander gehen, obgleich sie alle von ihrem Gesichtspunkt aus völlig richtig sind. Achte man nur darauf, wie durchaus verschieden dieselbe Gegend erscheint, j e nachdem wir sie von diesem oder jenem Punkte, von dieser oder einer anderen Höhe aus betrachten, und wie schwer es uns wird, Bilder, die in dieser Weise von verschiedenen Standorten aus aufgenommen sind, auf denselben uns völlig bekannten Gegenstand zu beziehen, und man wird inne werden, wie dasselbe auch ebensogut bei der wissenschaftlichen Beobachtung stattfinden miiss. Der Streit entsteht aus der Divergenz der Gesichtspunkte, welche die Anerkennung der Identität des Gegenstandes bei der Verschiedenheit der Ansichten unmöglich macht. Erst wenn die erweiterte E r forschung hinter den Grund der Verschiedenheit kommt und so die streitenden Ansichten vereinigt, wird die höhere Gewissheit gewonnen, welche nunmehr jeder der auseinander gehenden Meinungen ihre richtige Stellung in der Betrachtung des Ganzen a n -

I, 3. D i e Gewisaheit.

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zuweisen vermag. Sie ist erst möglich geworden auf Grundlage der vorangegangenen Ansichten, welche auf die verschiedenen möglichen Gesichtspunkte aufmerksam gemacht haben, auf die der denkende Geist erst allmälich geführt wird, und gerade der Streit bereitet sie erst vor. Die eine Einseitigkeit regt die a n dere an und reizt sie zu der vollen Entwickelung ihrer Consequenzen, bis sie sich allmälich begegnen und dann ein umfassenderer Blick zu der Einsicht gelangt, dass das, worüber so lange gestritten worden ist, derselbe Gegenstand ist und die scheinbar unvereinbaren Ansichten sich nicht widersprechen sondern ergänzen. Das giebt erst das Gefühl der Sicherheit und Gewissheit, dass die nun gewonnene Einsicht einen höhern Standpunkt des Wissens bezeichnet, in welchem sich der Fortschritt darin kund giebt, dass die getrennten Ansichten sich mit Leichtigkeit in das erlangte Resultat einordnen lassen. Hiemit findet denn auch das häufig dem Missverständniss ausgesetzte Problem seine Erledigung, welches für die Gewissheit eine allgemeine Uebereinstimmung aller Denkfähigen fordert. E s ist offenbar, dass die Bestätigung unserer Beobachtungen und Ansichten die Gewissheit steigert, die Bestreitung derselben das in sie gesetzte Vertrauen abschwächt, und deshalb legen wir ein so grosses Gewicht auf die allgemeine Meinung; aber dies kann nicht den Sinn haben, als müsse man die Stimmen zählen und der Ansicht, für welche sich die Majorität entscheidet, beitreten. Die Stimme eines Widersprechenden fällt oft schwerer in die Wageschale als die Zustimmung Tausender und die Reformen gehen immer von Einzelnen aus und ergreifen erst allmälich die Masse. Nur die Wissenden haben in der Wissenschaft ein Stimmrecht und auch ihre Stimmen müssen nicht gezählt, sondern gewogen werden. Welches aber ist das Gewicht, nach welchem hier gemessen wird? E s bildet sich in dem wissenschaftlichen Verkehr ebensogut eine öffentliche Meinung heraus und dieselbe folgt den Stimmführern, die durch ihre Leistungen sich eine Berechtigung für die Auktoiität, die man ihnen willig einräumt, erworben haben. Aber so gross auch das Vertrauen zu ihnen sein mag, zur Gewissheit reicht es nicht aus. Die ungeprüft von ihnen hingenommenen Ansichten sind oft einseitige und irrige und prägeil der Wissenschaft für viele Generationen ihren einseitigen Standpunkt auf, während eine andre der Wahrheit näher stehende Ansicht schwer zur Geltung gelangt. Nicht also d a s , was gilt,

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I, 3. Die ßewissheit.

ist darum schon gewiss, sondern wir dürfen nur vertrauen, dass das, was gewiss ist, sich auch Bahn brechen werde, selbst wenn es auch dabei die grössten Schwierigkeiten zu Uberwinden hat. Die Gewissheit hat ihr Kriterium in sich selbst und ist nicht von der äusserlichen Anerkennung abhängig-, siegründet sich darauf, dass die andern Ansichten in ihr sich ausgleichen und darin ihre rechte Würdigung erhalten, dass der Grund, auf welchem die Irrthümer beruhen, erkannt wird und so alle abweichenden Ansichten ihre Erklärung finden. Weiss dann der, welcher so seiner selbst gewiss geworden ist, dies Verhältniss auch den Andern klar zu machen, so kann er auch gewiss sein, dieselben von der Richtigkeit seiner Ansicht zu Uberzeugen und die allgemeine Anerkennung wird nicht ausbleiben. Auch hier zeigt sich also derselbe Charakter der Allgemeinheit und die Uebereinstimmung in dem Denken der Wissenden ist völlig angemessen der Gewissheit von der Uebereinstimmung des Denkens mit den Thatsachen. Die Allgemeinheit schliesst das Anderssein nicht aus sondern ein, sie beherscht das Verschiedenartige als eine Contiuuität von Veränderungen, an welche die Identität des Gegenstandes gebunden ist. Habe ich durch eine Reihe von Prüfungen festgestellt, dass zwei Dinge von derselben Art sind, so wird meine Ansicht dadurch nicht widerlegt, dass sich bei einer neuen vielleicht bisher noch nicht bekannten Prüfung eine Verschiedenartigkeit ergiebt und ich darf deshalb an den früheren Resultaten des Wissens nicht irre werden, weil ich mir vorstellen kann, dass die fortschreitende Wissenschaft immer noch weitere Prüfungsmittel entdecken wird, wodurch vieles, was bisher fltr dasselbe gehalten werden musste, in seinen Unterschieden erkannt wird. Alle diese Fortschritte vermehren nur meine Einsicht, dass das Gleichartige auch diese Modifikationen erträgt, und dass auch sie zu der Anschauung des allgemeinen Gegenstandes gehören. Da j a das Allgemeine seiner Natur nach ein Verhältnissmässiges und Gradweises ist, so reicht unsere Gewissheit Uber das Wesen der Dinge allerdings nur so weit als unsere Prüfungsmittel eben reichen, und wir können damit sicher sein, dass so weit wir dadurch einen Zusammenhang constatiren können, er auch in der That besteht, und das lässt vollkommen Raum für die spätere Feststellung der Unterschiede. Ganz ebenso aber verhält es sich auch mit der zeitweisen Uebereinstimmung in den Ansichten und den nachher eintretenden Modifikationen.

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I, 3. D i e Gewissheit.

Was zu einer bestimmten Zeit gegolten hat, hat darum flir die Folgezeit seine Geltung nicht verloren, weil es bei der fortschreitenden Erkenntniss hat modificirt werden müssen; es war d a mals die Zusammenfassung der zu jener Zeit möglichen Anschauungen, und die Späteren stehen auf den Schultern der Früheren, ohne welche sie zu ihrer gereifteren Ansicht nicht gelangt wären. Mag auch in der Entwickelung der Wissenschaft die Continuität oft sich verbergen, sie ist immer vorhanden und die Geschichte hat die Aufgabe sie in ein klares Licht zu stellen, um das Zutrauen zu der Macht der Gewissheit zu retten und es vor dem daran nagenden Zweifel sicher zu stellen. Keiner Wissenschaft ist dieser Skepticismus verderblicher geworden als der Philosophie, und die mangelhafte Behandlung ihrer Geschichte trägt daran die bedeutendste Schuld. J e umfassender ihre Aufgaben sind, desto mehr lassen sie die verschiedenartigsten G e sichtspunkte zu, und je bestimmter sie auf eine allgemeine Anerkennung ihrer Resultate Anspruch macht, desto greller erscheint der Widerspruch, der in dem Streit ihrer Vertreter zu Tage kommt. Für den Uneingeweihten ist ihre Geschichte ein Wechsel willkürlicher sich gegenseitig aufhebender Meinungen und Jeder nimmt sich höchstens aus allen Systemen das was ihm das Gewisseste zu sein scheint heraus, für den Einsichtigen ist der Zusammenhang klar, und mögen auch die perspektivischen Linien, die der Gegenstand nach den verschiedenen Gesichtspunkten bildet, sich noch so sehr gegen einander verschieben, er erkennt ihn doch in den mannigfaltigen Bildern wieder und es wird ihm nicht einfallen, ein Stück des einen Bildes mit dem eines andern zusammenkleben zu wollen. Wie die Dinge der Welt in verschiedene Gruppen und Kreise zerfallen, in denen bestimmte Entwickelungsprocesse sich verzweigen und die gesonderten Theile sich wiederum einem allgemeineren Zusammenhange und allgemeineren Entwickelungsphasen unterordnen, so bildet auch die Geschichte der Wissenschaften ähnliche Gruppen, in denen gewisse Anschauungsweisen ihren Kreislauf durchmachen und die Modifikationen, die in ihnen als mögliche angelegt sind ; mit mehr oder weniger Consequenz sich ausbilden, bis dann ein anderer Gesichtspunkt entdeckt wird, der nun in der Entwickelung einen Knoten- und Wendepunkt bildet und in gleicher Weise die aus ihm sich ergebenden Folgerungen zieht. Erst mit der fortschreitenden Erkenntniss ergeben sich Ü e u r g e , I.ngik

Wissiiiischattsl.

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I, 3. D i e Gewissheit.

die neuen Probleme, von denen die Früheren nichts ahnten, und mit den klar erfassten neuen Aufgaben entstehen auch wieder erst die neuen Gesichtspunkte, die in neuen Systemen ihre theilweise Lösung erfahren oder auf tiefere Untersuchungen nach andern Richtungen hinweisen. So gestaltet sich der Fortschritt ganz bestimmt; die einzelnen Systeme sind verschiedene Phasen der Entwickelung, sie ordnen sich den grösseren Kreisen ein, die in ihrem Zusammenhang bestimmte Richtungen repräsentiren und das wiederholt sich in einem immer allgemeineren Zusammenhang. Die Epochen und Perioden in der Geschichte mit ihren untergeordneten Tlieilen fallen mit diesen Entwickelungsknoten zusammen und sie sind für den Einsichtigen, der diesem Entw i c k l u n g s g ä n g e zu folgen vermag, das sichere Kennzeichen des Fortschritts. Nichts ist verderblicher für die richtige Behandlung der Geschichte als die Meinung, die Fragen, welche uns jetzt beschäftigen, seien auch schon die der Vorzeit gewesen und wir könnten uus für ihre Beantwortung unmittelbar bei ihnen Raths erholen, oder es käme darauf an zu ermitteln, wie sie sich darüber ausgesprochen haben würden; wer mit dieser Ansicht an die Gcschichte herantritt, kann den Fortschritt in ihr gar nicht wahrnehmen, denn eben grade darin liegt e r , dass die frühere Zeit sie noch gar nicht zu stellen im Stande war und daher auch keine Antwort für sie bereit hatte. Der Gegenstand wird mit der fortschreitenden Erkenntniss selbst ein andrer und die Gesichtspunkte, aus denen er betrachtet werden niuss, werden erst mit der Zeit gewonnen, und wie dies der Identität des Gegenstandes keinen Abbruch tliut, so wiederholen sich auch in der Betrachtung die allgemeinen Gesichtspunkte und gewähren den Schein, als seien die neuen Systeme nur neue Auflagen der alten und als kehre die Geschichte immer wieder in ihren Anfang zurück, während die neue ähnliche Gestaltung neben der Identität doch auch die Verschiedenartigkeit an sich trägt und darin den Fortschritt der Entwickelung beurkundet.

4. Die V e r m u t h u n g . Die bisherigen Momente des Glaubens betrafen allein die Constatirung der Thatsachen. Ausgehend von den einzelnen Gegenständen gelangten wir zu der Gewissheit eines unendlichen Zusammenhanges in einander greifender Bildungsprocesse, als

I, 4. Die Vermuthung.

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deren vorübergehende und wechselnde Produkte die einzelnen Dinge erscheinen. Wir finden nun in diesen allgemeinen Thatsachen neben dem Uebereinstiminenden viel Veränderliches und dies führt das Denken darauf, beides von einander zu sondern, in dem Wechsel das Bleibende, an dem Identischen das Veränderliche aufzusuchen, und so in das bunte Gewirr der verschiedenartigen Erscheinungen eine bestimmte Ordnung hineinzubringen. Das Gleiche kann aber offenbar nur unter gleichen Umständen eintreten, das Veränderliche dagegen setzt veränderte Umstände voraus; wir nennen das Gemeinsame in dem Zusammenhange der Dinge, aus welchem immer dieselben Wirkungen hervorgehen, den G r u n d einer Erscheinung, das Wechselnde darin, aus dem sich nur die Veränderungen in den Thatsachen erklären lassen, die B e d i n g u n g e n der Erscheinung, und unsere Aufgabe wird es daher sein nach beiden Richtungen hiu, die in den Dingen thätigen Processe zu verfolgen. Damit werden wir die thatsächliche Gewissheit, welche das Allgemeine sucht, in der doppelton Beziehung fördern, die in diesem liegt, indem wir kennen lernen, wie der gemeinsame Grund, in besondere Bedingungen versetzt, diese bestimmten Gruppen von Thatsachen erzeugt, die wir eben deshalb als zusammenhangende zu betrachten genöthigt sind. Das eine Verfahren, welches die Erscheinungen auf ihren wahren Grund zurückführt, bezeichnen wir als den Weg der V e r m u t h u n g , das andere, welches die Bedingungen aufsucht, unter denen allein eine Veränderung in ihnen erfolgen kann, wird die W a h r s c h e i n l i c h k e i t ergeben und unsere weitere Untersuchung wird diese Bezeichnungen rechtfertigen, die mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch vollkommen übereinstimmen, wenn man sich desselben im gewöhnlichen Leben auch nicht mit der vollen Schärfe bewusst ist. Darüber kann keiu Bedenken obwalten, dass Vermuthung uud Wahrscheinlichkeit Momente des Glaubens sind, nur ihre Stellung zur Gewissheit wird fast immer verkannt. Man ist gewohnt, sie als Zwischenstufen zwischen der Meinung und Gewissheit zu betrachten, bei denen man sich wohl der Gründe seiner Meinung bewusst ist, aber nicht in einem hinreichenden Grade, um sie als Gewissheit aussprechen zu können. Indem man nun dabei zwar der Wahrscheinlichkeit einen höheren Grad der Gewissheit zuschreibt als der blossen Vermuthung, bleibt es doch bei einem unbestimmten Gefühl, worin der Unterschied 7*

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I , 4. Die Vermuthung.

eigentlich liege und man gebraucht beide Ausdrücke mit einem gewissen richtigen Instinkt, verwechselt sie aber auch häufig mit einander.

Dabei wirken denn alle die oberflächlichen und f a l -

schen Vorstellungen über das Verhältniss der sinnlichen Wahrnehmung und des Denkens zum Wissen mit verworrene

Vorstellungen

und bilden

über die Bedeutung,

Momenten des Glaubens beizulegen habe.

ganz

die man jenen

Ist man geneigt

der

sinnlichen Wahrnehmung eine unmittelbare Gewissheit zuzuschreiben, so erscheinen Vermuthung und Wahrscheinlichkeit als reine Combinationen des Denkens, denen man als unberechtigten Eindringlingen lieber ganz den Zugang den möchte;

zur Wissenschaft abschnei-

will man auf der andern Seite allein dem Denken

ein Recht in der Erkenntniss einräumen, wissheit in die vollständige Begründung

so setzt man die Geund räumt der Vermu-

thung und Wahrscheinlichkeit in der eigentlichen auch keine Bedeutung ein,

Wissenschaft

sondern verweist sie in das Gebiet

des Lebens und in das der verworrenen Erfahrung, auf welchem nun einmal eine vollkommene Gewissheit nicht zu erreichen ist. So werden sie von beiden Seiten als Stiefkinder behandelt, die in dem Hause der Wissenschaft zu keiner rechten Anerkennung gelangen. Um so wichtiger muss es daher für uns sein, den Standpunkt, welchen

sie für die Gewinnung der Wahrheit behaupten,

darzulegen,

klar

und ihnen dadurch ihre Berechtigung in der Ent-

wiekelung des Wissens wieder zu verschaffen.

Unsere bisherigen

Untersuchungen haben bereits zur Genüge dargethan, wie für die Erlangung der thatsächlichen Gewissheit

die innigste

Wechsel-

wirkung zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und dem Denken nothwendig ist, dasselbe wird sich auch für die Vermuthung und die Wahrscheinlichkeit ergeben und damit die Besorgniss durchaus wegfallen, als ob sie auf leeren Einbildungen des Denkens sich gründeten, die der besonnenen Beobachtung der Thatsachen vorgreifen könnten. dass die Erkenntniss

Es wird sich vielmehr klar herausstellen, der Gründe

und Bedingungen der That-

sachen nur auf diesem W e g e möglich ist und dass wir es dabei niemals Uber die Vermuthung und Wahrscheinlichkeit hinausbringen können;

aber darin Hegt keinesweges ein Mangel, sondern

diese Standpunkte des Glaubens sind vollkommen dem Objekte, dem sie nachtrachten,

angemessen.

Schon in der gewöhnlichen

Ansicht liegt die richtige Ahnung, dass sie Stufen der werdenden

T, 4. Die Vermuthnng.

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Gewissheit sind, wenn man sie aber der letzteren gegenüberstellt, so liegt darin nur die falsche Voraussetzung, die wir schon a b gewiesen haben, als ob die Gewissheit selbst j e eine absolute sein könne. Auch sie bleibt immer nur eine werdende, der Wahrheit sich allmälich annähernde, und so hat sie vor der Vermuthung uiid Wahrscheinlichkeit nichts voraus, denn auch diese bilden einen Process, in welchem das Bewusstsein der Wahrheit ein continuirlich fortschreitendes ist. Ihre richtige Stellung zu der Gewissheit ist daher die, dass sie dieselbe nach verschiedenen Richtungen hin suchen, und wie sich in jener Meinung und Vertrauen mit einander combiniren, so ist dies nicht minder auch mit ihnen der Fall, indem stufenweise das Vertrauen in die Richtigkeit der Meinung wächst, so dass wir, wenn wir sie nur recht handhaben, niemals aus der werdenden Gewissheit herausfallen. Wenden wir uns nun zunächst zu der V e r m u t h u n g , so ist sie also auf die Auffindung des Grundes in den Erscheinungen gerichtet. Jede Thatsache ist ein Produkt vieler zusammenwirkender Umstände, es gilt also aus dem der Beobachtung zugänglichen Zusammenhange der Dinge die wirksamen Umstände von den indifferenten zu sondern und so die eigentlichen Bedingungungen der Thatsache zu ermitteln. Unter diesen Bedingungen sind nun solche, welche stets vorhanden sein mllssen, wenn die Erscheinung Uberhaupt stattfinden soll, während andere nur modificirend auf sie einwirken. Es entsteht also die Aufgabe auch hier wieder zu sondern und zuletzt denjenigen herauszufinden, der schlechthin für die Entstehung der Thatsache der entscheidende ist und daher auch für die Entwickelung derselben als der ursprünglichste angesehen werden inuss, und diesen nennen wir den Grund der Erscheinung, während die übrigen Umstände nur die Veränderungen des Grundes bedingen und also im e n geren Sinne des Worts als Bedingungen der ganzen Erscheinung in ihrem wechselnden Verlauf auftreten. Es muss also die ganze Untersuchung darauf hinauslaufen, dieselbe Thatsache unter recht wechselnden Umständen aufzufinden, um so die Gelegenheit zu gewinnen, die bloss zufälligen und völlig unwirksamen oder nur modificirenden ¡abziehen zu können und in den gemeinsamen dem wahren Grunde der Erscheinung immer näher zu kommen. Die Gewissheit des ganzen Verfahrens gründet sich darauf, dass d a s s e l b e auch nur auf d i e s e l b e Weise gewirkt sein könne,

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I, 4. Die Vermuthung.

und wo daher dieselbe Erscheinung unter verschiedenen Umständen auftritt, auch nur in dem ihnen Gemeinsamen der währe Grund gesucht werden dürfe. Dies ist ein reiner, in sich selbst klarer Gedanke, der hier als leitendes Princip der ganzen Betrachtung zum Grunde gelegt wird, nach welchem die zu beobachtenden Thatsachen erst aufgesucht werden müssen und der daher auch die ganze Methode der Untersuchung beherscht. Zunächst wird man nur gewiss sein können, dass der Grund der Erscheinung in all§n dieselbe begleitenden Umständen enthalten sei, man wird daher auch diese auf das Genaueste und in dem weitesten Urnfange untersuchen müssen; findet man dann dieselbe Thatsachc unter andern Umständen wieder, so wird man das Ungleichartige in denselben abziehen können und wieder gewiss sein, dass in dem übrig bleibenden Rest der gleichen Umstände der Grund liegen müsse, und dies Verfahren wird man so lauge fortsetzen, bis sich der Kreis des Gemeinsamen auf ein letztes Residuum verengt hat, in welchem man nun mit der höchsten Gewissheit den eigentlichen Grund vermuthen kann. Es ergiebt sich leicht, dass dieser Weg zu den Ursachen der Thatsachen zu gelangen häufig ein sehr langwieriger sein wird, und doch ist er dei einzige, auf welchem man sichere Resultate zu erreichen im Stande ist. Dass die gewöhnliche Art aus der häutigen Folge zweier Erscheinungen auf einen Causalzusannuenhang zwischen ihnen zu schliessen ein Fehlschluss ist, darf seit Huine als anerkannt vorausgesetzt werden, weun man auch im gemeinen Leben und selbst in der Wissenschaft noch gar häufig in diesen Fehler verfällt. Denn jener Umstand kann ein ganz zufällig die Erscheinung begleitender sein, und selbst wenn er in einem gewissen Zusammenhang mit ihr steht, so dass darin das häutige Zusammentreffen der Thatsachen seine Erklärung findet, so kann dieser doch ein so entfernter, durch mannigfache Zwischenumstände vermittelter sein, dass er als der eigentliche Grund keinesweges gelten kann. Sein einmaliges Fehlen wiegt das sonstige immerwährende Vorkommen desselben auf und zwingt uns von der vermutheten Wirkung gänzlich abzusehen. Die darauf gegründete Vermuthung war daher eine falsche und gewährt nie eine Sicherheit, da eine einzige Beobachtung in dem entgegengesetzten Sinne sie zu vernichten im Stande ist. Der richtigen Vermuthung haftet dieser Mangel nicht an; sie beruht gerade auf der sicheren Voraussetzung, dass wenn ein Umstand

I, 4. Die Yermnthnng.

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fehlen kann und dennoch die Erscheinung besteht, jener zu dem Vorhandensein derselben nichts beiträgt. Aber deshalb kann die wahre Vermuthung auch nicht auf e i n e Beobachtung sich stützen, sondern sie verlangt eine grosse Reihe von Beobachtungen, die so eingerichtet sein müssen, dass die Umstände, unter denen die Thatsache stattfindet, so viel wie möglich wechseln, um auf diesem Wege der wahren Ursache immer näher zu kommen. So ist sie ein furtschreitender Process, bei welchem man nach jeder Eliminiruug der veränderlichen Umstände zu einer immer grösseren Gewissheit gelangt, aber auch in dem ganzen Verlauf des Processes immer gewiss ist auf dem richtigen Wege zu dem Ziele zu sein. Es bestätigt sich daher, dass die Vermuthung der Standpunkt der werdenden Gewissheit ist. Dieselbe ist im Anfange der Beobachtung ein Minimum; es ist allerdings sicher, dass die Erscheinung ein Produkt der Gesammtheit der sie begleitenden Umstände ist, aber es bleibt völlig ungewiss, durch welchen unter ihnen sie eigentlich bewirkt sei; diese Ungewissheit nimmt in dem Masse ab, als in dem Wechsel derselben die zufälligen sich abziehen lassen und der Kreis der gemeinsamen, in denen der wahre Grund vermuthet werden kann, sich in immer engere Schranken zusammenzieht, bis endlich in dem zuletzt übrig bleibenden die Vermuthung die höchste Gewissheit erreicht. Aber auch hier müssen wir immer noch bei dem Gedanken stehen bleiben, dass in diesem letzten Umstand wohl der Grund enthalten sein müsse, aber in einer Gestalt, die möglicher Weise selbst noch veränderlich ist und von der sich daher immer noch Unwesentliches könne abziehen lassen, wenn es uns nur gelingt, sie auf eine noch einfachere Form zurückzuführen. Zu einem völligen Abschluss gelangt man daher auf diesem Wege nie» sondern die Vermuthung theilt mit der Gewissheit die Eigentümlichkeit, dass sie immer nur in stäter Annäherung zu ihrem Ziele begriffen ist. Die Langwierigkeit des Processes hängt nun offenbar davon ab, wie leicht wir im Stande sind, dieselbe Erscheinung unter recht wechselnden Umständen aufzufinden, indem dadurch die Aussonderung der unwesentlichen erst möglich wird. Die Reflexion wird sich also gerade darauf zu richten haben, nicht nur die Erscheinung selbst zu beobachten, sondern sie unter recht veränderten Bedingungen aufzusuchen, da nur dadurch der Zweck

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I, 4. Die Vermuthung.

erreicht werden kann. In der Natur aber ist der Zusammenhang der Thatsachen gewöhnlich ein höchst complicirter und es gelingt selten sie aus den allgemeinen alle Erscheinungen begleitenden Umständen herauszunehmen. Wir vermögen aber durch unsere eigene Thätigkeit nachzuhelfen, indem wir die zu untersuchende Thatsache in andere Bedingungen versetzen, oder von dem Reste der Umstände, unter welchen wir sie stets erfolgen sehen, allmälich einen nach dem andern künstlich ausschliessen und auf diese Weise schneller zum Ziele gelangen. Diese Thätigkeit ist rein durch die denkende Betrachtung bedingt und es wird dadurch erst recht k l a r , welche grosse Bedeutung ihr bei dein ganzen Process zuzuschreiben ist. Freilich sind es immer Wahrnehmungen, welche das Material für die Untersuchung liefern, und das Denken muss sich ganz denselben hingeben, um stets in dem Glauben an die Uebereinstimmung mit den Thatsachen verharren zu können, aber die Ordnung derselben wird eine Sache der Reflexion; um die wahre Verknüpfung derselben einzusehen, müssen die zufälligen Verbindungen, in denen sie uns entgegentreten, gelöst, die dadurch eintretenden Folgen constatirt, das Gemeinsame in dem Wechselnden verglichen werden. Die veränderlichen Thatsachen in ihrem bunten Durcheinander erregen nicht mehr unser Interesse, sondern der Blick bleibt geheftet auf die eine zu untersuchende Erscheinung, sie soll in dem Gewirre der Thatsachen überall, wo sie sich findet, herausgesucht werden, und die Veränderlichkeit in den Uniständen, unter denen sie erfolgt, dient nur dazu, um dadurch den wahren Grund derselben zu ermitteln. Hiermit tritt nun auch das Verhältniss, in welchem der Process der Vermuthung zu der Meinung und dem Vertrauen als den Momenten der Gewissheit steht, deutlich heraus. Die Meinung betraf den vorläufig aus seinen Umgebungen ausgesonderten Gegenstand, die weitere Betrachtung der an ihm vorgehenden Veränderungen Hess in ihm mit Gewissheit ein Produkt mannigfaltiger Bildungsprocesse erkennen, durch welche er mit seineu Umgebungen in vielfacher Wechselwirkung steht, und durch welche die jedesmalige Erscheinungsweise desselben bedingt ist. W a s an ihm sich verändert ist also nicht der Gegenstand selbst sondern seine Beziehungen zu den Dingen ausser ihm; diese müssen so viel wie möglich von ihm getrennt werden, um den Gegenstand rein zu erhalten und dazu verhilft uns die Betrach-

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I, 4. Die Vermuthung.

tung der wechselnden

Umstände.

Sobald

wir dahin gelangen,

den Grund einer Erscheinung aufzufinden, haben wir das an dem Gegenstande erreicht, was ihn ursprünglich erzeugt hat und was so lange fortdauert, als er selbst besteht.

Denn der Grund einer

Thatsache liegt nicht etwa ausser ihr, sondern bildet ihr innerstes Wesen, er wird durch die darauf einwirkenden Bedingungen modificirt und kann dadurch verdeckt und verdunkelt

werden,

aber er verharrt in diesen Modifikationen und bleibt das eigentlich Wirksame in der ganzen Erscheinung.

So ist z. B. die ur-

sprüngliche Keimzelle der Gruud des ganzen Vegetationsprocesses der Pflanze und der Organisation des Thieres,

sie wird er-

nährt, theilt sich und erzeugt neue Zellen, bildet daraus die verschiedenen Gewebe und Organe, in denen sie nicht mehr wiedererkannt werden würde, aber das Ganze bleibt ein Zellenbildungsprocess,

in welchem die Eigentümlichkeit

der

ursprünglichen

Zelle fortwirkt und den ganzen Entwickelungsprocess

bedingt.

Der Grund ist daher der eigentlich gemeinte Gegenstand;

die

Meinung, die diesen zuerst erfasste, hat ihn schon mitten in seiner Entwickelung angetroffen, und wie sie nachher erkennt, dass er sich fortwährend verändert und darin die Geschichte seines Bestehens hat,

so muss sie auch rückwärts diese Entwickclungs-

geschichte verfolgen bis zu ihrem Ursprünge und da findet sie den Grund als den ersten Anfang der Thatsache.

Diesen Grund

aber erreichen wir auf dem W e g e der Vermuthung, die

Erscheinung

unter

den

wechselnden Umständen

indem

wir

verfolgen

und nun vertrauen dürfen, dass das Veränderliche an ihnen nicht der Grund des Identischen an ihr

sein könne.

Mit voller Ge-

wissheit ziehen wir es ab und j e mehr wir auf diese Weise den Kreis derjenigen Umstände verengern, in denen der wahre Grund enthalten sein muss, desto mehr wächst das Vertrauen, dass wir uns demselben annähern. eine Meinung,

So ist die Vermuthung allerdings selbst

aber eine immer

mehr rektificirte, j e mehr wir

der Sache auf den Grund kommen, und die gesteigerte Gewissheit,

die sie damit erlangt,

hängt ab von dem Vertrauen,

welchem wir daran festhalten.

Die

mit

vorläufige Meinung erfasste

den Gegenstand als einen einzelnen in seinem momentanen Zustande, die Gewissheit suchte,

den allgemeinen Gegenstand als

das in den Veränderungen Identische, dies aber ist der Grund, der unter den wechselnden Bedingungen sich fortwährend verändernd,

doch

in

de1'

ganzen Entwickelung

derselbe

bleibt.

10G

I, 4. Die Vermuthung.

Sobald wir ihn erkannt haben, vermögen wir auch die Verwandtschaft der Thatsachen richtig zu schätzen; denn was auf denselben Grund zurückgeführt werden kann, ist in der That seinein innersten Wesen nach dasselbe, indem die Veränderungen in seiner Erscheinung nur von den veränderlichen Umständen herrühren können, in welche er versetzt wird. Auf diese Weise schliesst sich nun die Vermuthung schon sehr früh an die Meinung au. und weil wir von Jugend auf gewöhnt werden, die dazu gehörigen Operationen zu machen, so kommen uns dieselben gar nicht mehr zum Bewusstsein, sondern wir behandeln das Vermuthete wie unmittelbar gegebene Thatsachen. Das erste Beziehen der Wahrnehmung auf einen Gegenstand ausser uns ist bereits ein Akt der Vermuthung, indem wilden Grund der Empfindung an diese bestimmte Stelle versetzen. Sie gründet sich darauf, dass der Eindruck verschwindet, sobald wir das betreffende Organ schliessen oder von dem Gegenstände abwenden. Schätzen wir die Entfernung eines nahen Objekts, so verändern wir die Stellung der beiden Augenaxen so lange, bis wir durch die vollkommene Deckung der beiden Bilder das deutlichste Bild gewinnen und nun aus dem Neigungswinkel auf die Lage des gesehenen Gegenstandes schliessen. Ist der Gegenstand weiter entfernt, so dass die Differenzen in diesem Winkel unmerklich werden, so verändern wir selbst unsere Stellung zu ihm und betrachten ihn von verschiedenen Standpunkten aus, um durch den Wechsel der Projektion zu den davor und dahinter liegenden Objekten ihre gegenseitige Lage zu bestimmen. Immer handelt es sich um eine Vermuthung, welche aus den veränderten Umständen das in ihnen Bleibende herausnimmt. Selbst das zur höchsten Sicherheit gesteigerte Verfahren des Feldmessers und Astronomen gründet sich auf denselben Operationen, indem er nur die Winkel der verschiedenen Visirungslinien, die in dem zu bestimmenden Punkte zusammentreffen und die Grundlinie des dadurch entstehenden Dreiecks aufs Genaueste misst und daraus auch die anderen Seiten berechnet. Die Vermuthungen des gewöhnlichen Lebens bleiben aber meistentheils auf dem halben Wege des Processes stehen und erreichen nicht den wirklichen Grund der Erscheinungen, sondern dieser verhüllt sich in einem Complex von Umständen, die sich auch schon bei oberflächlicher Betrachtung aus dem mannigfaltigen Wechsel der Thatsachen als die gleichbleibenden herausscheiden und in denen

I, 4. Die Yermuthung.

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wohl der wahre Grund enthalten ist, ohne dass er selbst doch als solcher erkannt würde. Erst die genauer forschende Wissenschaft schreitet dazu fort, mit Bewusstsein dieselbe Erscheinung unter immer veränderten Bedingungen aufzusuchen oder in solche absichtlich zu versetzen, um so immer mehr das unwesentliche in den begleitenden Umständen abzuziehen und dem eigentlichen Grunde auf die ¡Spur zu kommen. Daher geschieht es nun auch, dass in der gewöhnlichen Ansicht dieselbe Erscheinung oft auf viele ganz verschiedenartige Gründe zurückgeführt wird, indem man sieh auf die Erfahrung beruft, welche deutlich zeige, dass dasselbe in der Natur auf die allermannigfaltigste Art bewirkt werde. Dies ist immer ein sicheres Zeichen, dass der Process noch nicht zu Ende geführt worden ist, indem der wahre Grund sich noch in der verschiedenen Gestaltung der Ursachen verbirgt. Man gelangt leicht zu der Einsicht, wenn man die verschiedenen Arten der Saiteninstrumente übersieht, dass die Ursache des Tönens in der schwingenden Bewegung der Saiten liegt und dass der ganze übrige wechselnde Apparat nur zur Befestigung derselben, zur Verstärkung des Tones durch Resonanz, zur Erzeugung der schwingenden Bewegung dient, die dann ebensogut durch den Bogen oder durch die Finger, wie vermittelst der Tasten hervorgebracht werden kann. Bei den Saiten aber bleibt man stehen und wenn man nicht wüsste, dass auch auf andere Weise Töne erzeugt werden könnten, würde man sich vollständig dabei beruhigen, dass sie der eigentliche Grund derselben seien. Aber es giebt auch Blasinstrumente und die menschliche Stimme ist selbst ein solches; hier wird der Ton in ganz abweichender Weise durch die Schwingung einer Luftsäule hervorgerufen und bleibt man wiederum dabei stehen, so beruhigt man sich bei der Ansicht, dass die musikalischen Töne auf diese beiden Arten entstehen können. Aber die wissenschaftliche Ansicht geht einen Schritt weiter, indem sie gerade aus der Verschiedenartigkeit dieser Ursachen den Schluss zieht, dass das Material, an welchem die schwingende Bewegung erzielt wird, dabei das völlig gleichgültige ist und dass nur in der letzteren selbst der Grund des Tönens gesucht werden müsse. Aber dieses Vorurtheil, dass dieselbe Erscheinung durch viele verschiedenartige Ursachen erzeugt werden könne, herscht nicht nur in der gewöhnlichen Meinung, sondern es dringt auch

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I, 4. Die Vermutlrang.

in die Wissenschaft ein und macht sich hier häufig in der allerseltsamsten Weise geltend. Man betrachtet es als das Zeichen einer die Erfahrung Uberfliegenden Spekulation, wenn der Grundsatz aufgestellt wird, dass dasselbe auch immer nur auf dieselbe Art gewirkt werden könne, und verspottet diejenigen welche ihm huldigen mit der hochtönenden Phrase, dass man einen gar zu beschränkten Begriff von der Natur habe, wenn man meine, dass sie bei dem reichen Schatze ihrer Mittel darauf angewiesen sein sollte, dieselbe Erscheinung immer in derselben Weise zu wiederholen. Die ganze Gewissheit und Wahrheit in dem Process, der zur Auffindung des Grundes fuhrt, beruhte auf diesem Grundsatz, und es ist ein fast unbegreiflicher Widerspruch, wenn selbst diejenigen, welche das entwickelte Verfahren als das allein richtige für die Wissenschaft anerkennen und es selbst fortwährend ausüben, doch sich gegen denselben auflehnen, sobald er in seiner Consequenz scharf ausgesprochen wird. E s liegt dem immer eine Unklarheit Uber das Verhältniss des Identischen zu dem Verschiedenartigen zu Grunde und eine Befangenheit in dein, was die bisherige Erfahruug geleistet hat, die den Blick auf das, was sie noch leisten muss, trübt. Darin zeigt sich, wie die Wissenschaft sich nur relativ von der gewöhnlichen Meinung unterscheidet, indem das Vertrauen zu den aufgestellten Verinuthungen nur eben so weit reicht, als die Beobachtung der veränderlichen Umstände sie zur Aussonderung der unwesentlichen geführt hat, während darüber hinaus man es ungewiss lässt, ob die verschiedenartigen Ursachen, bei denen man vorläufig eben stehen bleiben muss, zu einem gemeinsamen einfacheren Grund führen werden oder nicht. Diese Zurückhaltung könnte nun als ein Zeichen der Besonnenheit erscheinen, mit welcher die Wissenschaft nie Uber die Grenze der gegebenen Erfahrung hinausgehen will, aber dabei schiebt sich nun eine irreführende Verwechselung unter. Der Grundsatz selbst, dass dieselbe Erscheinung, soweit sie dieselbe ist, auch immer nur in derselben Weise gewirkt werden könne, ist das Gewisseste, was man sich denken kann, und die ganze Sicherheit des Verfahrens beruht auf ihm. Hat man zu ihm kein Vertrauen, so hat man kein Recht, es auch nur zu beginnen und man muss an der Entdeckung der Ursachen überhaupt verzweifeln; die Ungewissheit liegt nur darin, was in den verschiedenen Ursachen, auf welche man zuletzt durch die Beobachtung geführt wird, der wahre gemeinsame Grund sei und

I, 4. Die Vermuthnng.

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hier hat man ein Recht, jede voreilige Vermuthung, die nicht auf einer wirklichen Erfahrung begründet ist, abzuweisen, und sich besonnen an den Thatsachen zu halten. Aber anstatt zu sagen, wir kennen bis jetzt nur verschiedenartige Ursachen für ein und dieselbe Erscheinung, diese aber können eben deshalb die wahren noch nicht sein und wir müssen darin einen Antrieb finden, den Process so lange fortzusetzen, bis wir auf den gemeinsamen wahren Grund gekommen sind, beruhigt man sich bei ihnen, sieht sie schon mit voller Gewissheit als die wahren an und verleugnet damit das ganze Princip des Verfahrens, durch welches mau selbst doch erst zu diesen Resultaten gelangt ist. Freilich hat die Natur über einen Schatz der mannigfaltigsten und reichsten Mittel zu gebieten, aber es heischt auch in derselben die strengste Ordnung und Gesetzmässigkeit und dazu gehört es, dass wenn sie auch die Thatsachen auf die verschiedenste Weise hervorzubringen scheint, in dem Verschiedenartigen selbst der identische Grund als das eigentlich Wirksame sich verhüllt, und wenn so oft der Gedanke ausgesprochen wird, dass die Natur ihre Erzeugnisse immer auf dem einfachsten Wege herstellt, so ist dies nur ein andrer Ausdruck für den von uns vertheidigten Grundsatz, aus welchem er mit Notwendigkeit folgt, indem der einfachste Weg eben jede andere Möglichkeit ausschliesst als die, vvejche in dem einen schlechthin nothwendigen Grunde liegt. ¡Setzt man die Möglichkeit, dass dasselbe durch verschiedene Ursachen bewirkt werden könne, so hebt man damit überhaupt die Nothwendigkeit auf, denn sie besteht eben darin, dass eine Ursache immer nur dieselbe Wirkung und dieselbe Wirkung immer nur ein uud dieselbe Ursache haben kann.

5. Die

Wahrscheinlichkeit.

Der Grund einer Erscheinung ist die Erscheinung selbst herausgelöst aus dem wechselnden Zusammenhange der zufälligen sie begleitenden Umstände; aber alle diese Umstände wirken doch mehr oder minder modificirend auf die Erscheinung ein und bedingen so die Veränderungen, welche an ihr im Verlauf ihres Bestehens hervortreten. Es entsteht daraus die neue Aufgabe, alle die Veränderungen darzulegen, welche dieselbe Thatsache überhaupt erfahren kann, und damit zugleich die Bedin-

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I, 5. Die Wahrscheinlichkeit.

gungen kennen zu lernen, unter welchen sie dieselben erfährt. Diese Untersuchung gründet sich daher offenbar auf den e n t gegengesetzten Gedanken, dass j e d e Veränderung in einer Erscheinung auch eine entsprechende Veränderung in den begleitenden Umständen voraussetzt. Die Veränderungen aber entsprechen nur dann wahrhaft den Bedingungen, wenn das Mass der Verschiedenheit in jenen dem Masse der Verschiedenheit in diesen gleich ist, oder wenn die Veränderungen den dieselbe bewirkenden Bedingungen völlig proportional sind. Das Verfahren wird also zunächst damit beginnen, dass wir sowohl die Veränderungen, welche an der zu untersuchenden Erscheinung statt finden können, aufsuchen, als auch alle die Veränderungen, welche in den begleitenden Umständen eingetreten sind, constatiren, sodann diese auf Reihen bringen, in welchen der Grad der Veränderung gemessen werden kann, und endlich diese unter einander vergleichen und das gegenseitige Verhältniss bestimmen. Daraus ergiebt sich ebenso ein Process des Denkens, welcher die ganze Beobachtung auf ein bestimmtes Ziel hinleitet, und mit der höchsten Gewissheit endet, dass wir die wahren Bedingungen für die Veränderung der Thatsachen aufgefunden haben. Diesen Process nennen wir die W a h r s c h e i n l i c h k e i t und der Grad derselben hängt ab von dem Grade der Uebereinstimmung, welcher zwischen der Keilie der Veränderungen und der der Bedingungen stattfindet. Wir machen z. B. die Erfahrung, dass verschiedene Saiten, wenn sie angeschlagen werden, verschiedene Töne hervorbringen. Soll die Verschiedenheit in beiden Beziehungen vergleichbar gemacht werden, so müssen zuvörderst die verschiedenen Töne auf eine Skala gebracht werden, in welcher die Höhe derselben stätig zunimmt. Zugleich bemerken wir nun, dass die Verschiedenheit der Saiten etwa in ihrer verschiedenen Länge besteht uud da sich auch diese auf eine Reihe bringen lässt, so ergiebt sich bald, dass die Höhe der Töne mit der Länge der Saiten continuirlich abnimmt, und dass also die Verschiedenheit in der Länge der Saiten die Bedingung für die Verschiedenheit der Tonhöhe ist. Aber die Saiten zeigen noch andere Unterschiede, welche ebenso auf die Veränderung der Tonhöhe einwirken, es kommt dabei auf die Dicke derselben, auf das Mass ihrer Spannung, auf den Stoff aus welchem sie gemacht, sind an, die Höhe der Töne nimmt zu in dem umgekehrten Verhältniss mit der Grösse des

I, 5. Die Wahrscheinlichkeit.

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Durchmessers, in gradem mit der Quadratwurzel der spannenden Gewichte, im umgekehrten mit der Quadratwurzel der Dichtigkeit der Stoffe, und damit haben wir erst die Gesammtheit der Bedingungen erschöpft, von welchen die Verschiedenheiten in der Tonhöhe abhängig sind. Das eben gegebene Beispiel, so einfach es ist, zeigt doch schon hinlänglich die Schwierigkeiten, auf welche das Verfahren bei der Untersuchung der Bedingungen stösst, es leitet uns aber zugleich aucli auf den Weg, wie wir dieselben zu überwinden haben. Die verschiedenen Bedingungen compliciren sich mit einander und verdunkeln sich dadurch gegenseitig; es kommt darauf an, sie zu trennen und so eine bestimmte Ordnuug in die Beobachtung hineinzubringen, durch welche erst sichere Resultate erzielt werden können. Um zu erreichen, da:ss die Reihe der Veränderungen mit einer bestimmten Reihe von Bedingungen in Einklang steht, müssen alle Übrigen Umstände gleich sein, damit wir gewiss sein können, dass die Veränderung in ihnen auch die wahre Ursache von jenen ist, und dass das in ihnen Wirksame nicht durch andere Reihen von Bedingungen durchkreuzt wird. Wir müssen dieselben Saiten, von gleicher Dicke und gleicher Spannung betrachten, um zu erfahren, wie die Länge derselben auf die Tonhöhe einwirkt, und so abgesondert auch die andern Eigenschaften, um so allmälich die verschiedeneu Umstände und das Mass ihrer Einwirkung zu übersehen. Der Process der Wahrscheinlichkeit wird daher zunächst mit der Voraussetzung beginnen, dass wenn in irgend einer Erscheinung eine Veränderung eintritt, die Bedingung irgendwie in einer Veränderung der begleitenden Umstände Hegen müsse. Wechselt nun hierin vieles zugleich, so wird es keinen sichern Anhalt geben, um daraus das eigentlich Wirksame herauszugreifen, sondern man wird sich mit jener unbestimmten Wahrscheinlichkeit begnügen müssen; wechselt aber nur ein Umstand, so wird dieser die wahrscheinliche Bedingung jener Veränderung sein. Die weitere Prüfung wird nun darauf gerichtet sein, ob neue Veränderungen der Erscheinung in derselben Richtung auch mit Veränderungen in der aufgefundenen Bedingung zusammentreffen, und wenn die daraus entstehenden Reihen sich völlig entsprechen und in ihren gradweisen Unterschieden dasselbe Verhältniss bewahren, so wird die Wahrscheinlichkeit wachsen und zu einer immer höheren Gewissheit werden. Selten aber

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I, 5. Die Wahrscheinlichkeit.

gestaltet sich die Sache so einfach, sondern es wechseln mannigfache Umstände zugleich, oder wenn auch die Thatsache, von der die Veränderung abhängig ist, leicht sich zu erkennen giebt, so ist sie doch selbst in sich ein Vielfaches und es bleibt ungewiss, was daran das die Erscheinung Bedingende sei. Auch hier gilt es wieder, das Mass der Veränderungen zu consiatiren und die wechselnde Erscheinung selbst mit den verschiedenen Graden der Veränderung in diesen oder jenen Umständen, diesen oder jenen Eigenschaften des die Veränderung erzeugenden Gegenstandes zusammenzuhalten und aus dieser Vergleichung eine bestimmte Proportionalität zu constatiren. Hier tritt nun aber gewöhnlich der Fall ein, dass die Reihen der veränderlichen Erscheinungen und der ihnen entsprechenden Bedingungen nicht dasselbe Verhältniss bewahren, sondern selbst wieder Abweichungen in den im Allgemeinen übereinstimmenden Reihen eintreten. Dies weist auf andere die Erscheinung complicirende Bedingungen hin, die wir als Störungen zu bezeichnen pflegen, und es gilt dann in ähnlicher Weise diese Modifikationen innerhalb der Veränderungen selbst wieder auf solche Reihen zu bringen, bis man sich allmälich der ganzen Masse der einwirkenden Bedingungen versichert hat. Es ergiebt sich hieraus eine gewisse Unterordnung der Bedingungen unter einander, indem eine Hauptbedingung die Veränderlichkeit der Erscheinung beherscht, andere dagegen auf diese selbst wieder mehr oder minder modificirend einwirken, und so also nach und nach in Rechnung gezogen werden müssen. Auch hier ist daher wieder der Grad der Veränderungen das Entscheidende und j e geringer das Mass der Abweichungen im Verhältniss zu der Einwirkung der Hauptbedingung ist, desto leichter wird es, diese zuerst herauszufinden, und dann auch die andern in die Betrachtung aufzunehmen, bis die Erscheinung ihre völlig genügende Erklärung aus den so ermittelten Bedingungen findet. Dies ist z. B. die in der Astronomie mit so glücklichem Erfolge angewandte Methode; für die frühe und sichere Entwickelung dieser Wissenschaft ist der Umstand von grosser Bedeutung gewesen, dass die Bahnen der Gestirne bei ihrer grossen Entfernung von uns in ihrer regelmässigen Gestaltung uns deutlich entgegentreten und dagegen die Störungen als geringfügige zunächst völlig zu vernachlässigende erscheinen, so dass daher die Abhängigkeit derselben von dem Centraikörper verhältnissmässig

I,

5. D i e

113

Wahrscheinlichkeit.

leicht zu erkennen war, und als bei verbesserten Messungsmethoden allmälich immer mehr Abweichungen zwischen den beobachteten Stellungen der Planeten und den berechneten hervortraten, nun auch die Einwirkung der störenden Himmelskörper allmälich mit in die Rechnung aufgenommen wurden. Bleibt dann zuletzt noch ein Rest von Veränderlichkeit übrig, der durch die Summe der eingeführten Bedingungen nicht erklärt wird, so wird es wiederum wahrscheinlich, dass dieser in den noch übrigen Umständen seine Ursache findet und da dieselben dann sehr reducirt sind, so wird es um so leichter, die letzte Bedingung darin aufzusuchen. So hat z. B. Encke bei dem nach ihm benannten Kometen von kurzer Umlaufszeit aus der sich ergebenden regelmässigen Abkürzung derselben, nach der genauesten Berücksichtigung aller sonst möglichen Störungen durch die in der Nähe vorhandenen Weltkörper, die Bedingung derselben nur in dem einzig noch übrigbleibenden Widerstande des Aethers finden können und dadurch die Existenz und Wirkung desselben wahrscheinlich gemacht, und in ähnlicher Weise beruht die glänzende Entdeckung des Neptun durch Leverrier auf dem Umstände, dass die Nichtübereinstimmung der Rechnung mit dem beobachteten Orte des Saturn auf die Störungen eines noch unbekannten Weltkörpers ausserhalb der bis dahin erforschten Grenzen des Planetensystems hinwies. Weit schwieriger gestaltet sich die Sache, wo die regelmässigen von der Hauptbedingung abhängigen Veränderungen durch eine Menge von Nebenbedingungen so sehr alterirt werden, dass ihre Wirkungen sich gegenseitig aufheben und als ihr letztes Produkt ein scheinbar regelloser Wechsel hervortritt, wie dies z. B. bei der Vcrtheilung der Wärme auf der Erdoberfläche und den Veränderungen der Temperatur an einem bestimmten Orte auf ihr der Fall ist. Die zum Sprüchwort gewordene Unbeständigkeit des Wetters schien aller wissenschaftlichen Untersuchung zu spotten und dass die Wissenschaft der Meteorologie noch so neu ist, liegt in diesen hier besonders schwierigen Complikationen. Um zu sichern Resultaten zu gelangen, gab es auch da kein andres Mittel, als die verschiedenen Einflüsse zu sondern, sie auf entsprechende Reihen zu bringen und damit die wechselnden Erscheinungen zu vergleichen. In dieser Beziehung hat es sich besonders v o r t e i l h a f t erwiesen, aus einer grossen Reihe zu bestimmten Zeiten angestellter Beobachtungen mittlere Wertlie zu c. oigv, Logik als Wisscusclialisl.

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I,

5. D i e

Wahrscheinlichkeit.

berechnen, um so die innerhalb gewisser Zeiträume auftretenden Schwankungen zunächst zu eliminiren uud dadurcli eine feste Grundlage gleichmässigc-r Reihen von Bedingungen zu gewinnen, durch welche sich hernach die wieder auf diese inodificirend einwirkenden Einflüsse allmälich ermitteln Hessen. So bestimmt man die mittlere Temperatur des Tages, der Monate, des Jahres eines Ortes und erhält dann aus dem Mittel langjähriger Beobachtungen eine Normaltemperatur für die verschiedenen Zeiten, mit denen dann erst die einzelnen Abweichungen vergleichbar werden. Man verbindet dann wieder diejenigen Oerter auf der Erde, welche eine gleiche mittlere Jahres- oder Monatstemperatur besitzen durch Linien und gewinnt so eine Einsicht, wie die in der Stellung der Sonne und ihren senkrecht, oder mehr oder minder schräg auffallenden Strahlen liegende Hauptbedingung für die verschiedene Wärmevertheilung auf der Erde durch eleu Einfluss der Erhebung des Landes, den Unterschied von Land und Meer, die Einwirkung der Meeresströmungen verändert wird. Ist man im Stande, die auf eine Erscheinung einwirkenden Bedingungen künstlich zu sondern, so wird dadurch der langwierige Process bedeutend abgekürzt und das ganze Verfahren ausserordentlich erleichtert. Wir bringen dann selbständig die zu untersuchende Thatsache in diejenige Bedingung, von der es schon in einem gewissen Sinne wahrscheinlich ist, dass sie verändernd einwirke, und indem wir alle übrigen Umstünde gleich machen, variiren wir jene nach den verschiedenen Graden ihrer Reihe, und wenn diesen dann die Grade der dadurch eintiefenden Veränderungen vollständig proportional sind, so ist damit ihr bedingender Einfluss mit Gewissheit festgestellt. Man führt dann nach und nach auch die übrigen Bedingungen ein, indem man die sonstigen Umstände wieder gleich macht, und prüft sie iu ähnlicher Weise, so dass man auf diese Art immer vollständiger das Mass der modificirenden Einflüsse übersieht, liier tritt dann die anordnende und leitende Thätigkeit des Denkens wieder deutlich hervor, welche die Natur nöthigt, auf die in bestimmter Form an sie gestellten Fragen eine bestimmte Antwort zu geben, und grade diese richtige Fragestellung ist es, auf welcher die Sicherheit des ganzen Verfahrens beruht. Indem ich unter völlig gleichen Umständen nur die eine Reihe der Bedingungen in ihren gradweisen Modifikationen einführe, wird die Natur gezwungen durch die nun eintretenden Veränderungen zu

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I, 5. D i e Wahrscheinlichkeit.

antworten und sobald diese letzteren in entsprechendem Masse erfolgen, sind wir gewiss die wahren Bedingungen aufgefunden zu haben. Erfolgen sie nicht oder nicht in demselben Verhältniss, so muss die Frage in anderer Weise gestellt werden, bis wir zu dem gewünschten Resultate gelangen. Die sich gegenseitig complicirenden Bedingungen können mannigfaltiger Art sein, sie reduciren sich aber zuletzt alle auf einen Gegensatz, indem sie entweder die Erscheinung fördern oder hemmen, ihre Einwirkung entweder im graden oder umgekehrten Verhältniss zu der Reihe der dadurch hervorgebrachten Veränderungen steht. Die Attraktion der Körper wird bedingt durch die Grösse der Massen und durch ihre Entfernung, sie nimmt zu in dem graden Verhältniss jener und in dem umgekehrten des Quadrats der Entfernungen; die Wärme dehnt die Körper a u s , die Cohäsion wirkt ihr entgegen, deshalb ist nur bei den gasförmigen Stoffen die Ausdehnung derselben wirklich den darauf einwirkenden Wärmegraden proportional, während bei den festen und flüssigen diese Verhältnissmässigkeit nur innerhalb gewisser Grenzen stattfindet. Die verschiedenen in gleichartiger Richtung wirkenden Bedingungen sind offenbar nur Modifikationen eines in ihnen Gemeinsamen, sie bewirken im Grunde dasselbe nur in einem verschiedenen Masse, und alle Unterschiede in ihnen sind nur die quantitativen des Mehr und Minder. Die hemmenden aber wirken entgegen und führen auf einen Gegensatz, welcher die eigentliche Ursache der Veränderung ist. Ihn aufzufinden muss das Ziel der ganzen Untersuchung sein, indem aus ihm erst die Möglichkeit dos ganzen bedingenden Einflusses erklärlich wird. Dasselbe bleibt unter denselben Bedingungen nothwendig dasselbe, soll es ein anderes werden, so müssen auch die Bedingungen andere werden, und j e mehr sie andere werden, desto mehr wird auch das durch sie hervorgebrachte ein anderes sein. Der Gegensatz aber ist nichts weiter als das Maximum des Andersseins und die quantitativen Unterschiede in den Veränderungen drücken nur die Relativität aus, in welcher die entgegengesetzten Bedingungen in verschiedenem Grade auf einander einwirken, und die bestimmte Thatsache als das Produkt ihrer Wechselwirkung hervorbringen. So lange dies Ziel nicht erreicht ist, bilden Bedingendes und Bedingtes Reihen, die parallel nebeneinander herlaufen, und in denen allerdings Wirkendes und Wirkung thatsächlich einauder proportional erscheinen, aber man 8*

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I, 5. Die Wahrscheinlichkeit.

sieht nicht ein, wie das Eine auf das Andere einzuwirken vermöge und wie die Wirkung notliwendig durch jene Bedingung hervorgebracht werde. Sobald aber der Gegensatz heraustritt, ist jene Einsicht gewonnen, und wenn sich der ganze Unterschied in jenen Gegensatz auflöst, so fallt alles Disparate fort, was für unser Denken die Ursache und Wirkung auseinander hält. Wir können z. B. durch die reine Beobachtung der Thatsaclien gewiss sein, dass die Wärme die Körper ausdehnt, wir benutzen sogar die Proportionalität in beiden Keihen dazu, um die Wärmegrade durch die Grade der Ausdehnung zu messen, aber welcher Zusammenhang besteht für unsere denkende Einsicht zwischen der Ausdehnung der Körper und der Wärme? Wir müssen die Thatsache als solche anerkennen, ohne sie uns erklären zu können, und wir beruhigen uns allerdings vorläufig dabei, ohne dass doch unser Denken dadurch befriedigt wäre. Sobald dagegen die Wärme sich als schwingende Bewegung erweist, welche die kleinsten Massentheilchen von einander entfernt und der Cohäslon in den Körpern entgegenwirkt, so ist das Verständniss vollkommen da, und das Denken findet sich in dem befriedigendsten Einklänge mit der Erscheinung. Hierin liegt nun auch das Wesen der Wahrscheinlichkeit in ihrem Verhältuiss zur Gewissheit; beides sind Processe, in welchen wir die werdende Thatsache in allen ihren möglichen Veränderungen verfolgen, aber das Eigentümliche der Wahrscheinlichkeit liegt in der besonderen Anordnung der Untersuchung, nach welcher wir die Veränderungen in den Thatsaclien auf Reihen bringen und die Proportionalität zwischen ihnen und den begleitenden Umständen ermessen und dadurch die Gewissheit des Zusammenhanges zwischen den Thatsaclien und ihren Bedingungen ermitteln. Der Grad der Gewissheit in der Wahrscheinlichkeit wächst in dem Masse als die Iteiheu der bedingenden Umstände und der dadurch bewirkten Veränderungen in ihrem ganzen Verlauf dasselbe Verhältniss beibehalten und allmälich das abgesondert wird, was durch seine Complikation Unregelmässigkeit herbeiführt. J e mehr wir uns auf diese Weise dann den wahren Bedingungen nähern, desto mehr versehwindet auch das Verwirrende, welches fllr das Denken die Einfachheit der Beziehung verbirgt, desto mehr tritt der Gegensatz zwischen dem Bedingenden und Bedingten heraus und diese wachsende Einsicht in die Möglichkeit der Einwirkung bildet den Grad der

I, 5. Die Wahrscheinlichkeit.

117

Wahrscheinlichkeit, mit welchem das Denken beide Reihen verknüpft. Die Thatsachen als solche können gewiss sein, aber es mangelt ihnen vollständig das Yerständniss Uber den Zusammenhang, in welchem die begleitenden Veränderungen in ihnen zu einander stehen, die mit Einsicht verbundene Gewissheit Uber die gegenseitige Bedingtheit derselben bildet eben die Wahrscheinlichkeit und mit ihr wird erst die höhere Gewissheit über den Zusammenhang der vereinzelten Thatsachen gewonnen. Die immer zunehmende Wahrscheinlichkeit ist daher selbst die zunehmende Gewissheit in der bestimmten Richtung, nach welcher sich das Denken der Bedingtheit der Thatsachen durch einander bewusst wird. Der Antheil, welchen sinnliche Wahrnehmung und Denken an diesem Resultate haben, leuchtet ein. Jene liefert den thatsächlichen Stoff, dem das Denken sich hingeben muss und an dem es nichts willkürlich ändern darf, aber die Anordnung desselben gehört ihm an, und das Princip,. nach welchem es die Thatsachen in Beziehung setzt und prüft, ist ihm eigenthüinlich. Dass es in sich begleitenden Thatsachen, deren Veränderungen proportional erfolgen, ein Verhältniss gegenseitiger Bedingung auffasst und dass es mit der Gewinnung des Gegensatzes zwischen dem, was wirkt, und dem, worauf es wirkt, seine Einsicht in den Zusammenhang befriedigt erklärt, kann ihm die sinnliche Wahrnehmung nicht geben, sondern es ist seine eigne selbständige That, mit welcher es in den thatsächlichen Zusammenhang eindringt. Es muss die Thatsachen genau darauf ansehen, ob sie eine solche Verhältnissmässigkeit wirklich zeigen, es darf nicht darüber wegschlüpfen, wenn die gesetzmässige Verkettung sich unterbrochen zeigt und Abweichungen von der Regel sich herausstellen, und so muss es die Wahrnehmung überall achten und anerkennen, aber das Denken leitet das wahrnehmende Auge auf die Reihen in den Veränderungen, es misst die Proportionalität in ihnen, es sondert das die einfachen Verhältnisse Complicirende ab und bringt so Licht und Ordnung in die verworrene Masse der Erscheinungen. Die Gewissheit der Einsicht in die wahren und wirklichen Bedingungen gründet sich daher hier in derselben Weise auf das Vertrauen, mit welchem das Denken den Veränderungen und den wahrgenommenen Thatsachen nachgeht, aber es hängt nicht mehr vom Zufall a b , ob es in dem unerniessliclien Flusse diese oder jene Wellenbewegung herausgreift, sondern seine ganze Aufmerksamkeit ist ge-

118

I, 5. Die Wahrscheinlichkeit.

richtet auf das Auffassen des Verhältnissmässigen und das Ausscheiden des Beziehungslosen, und die so gewonnene eigenthümliche Richtung der Reflexion, die zur Erkenntniss des sich gegenseitig Bedingenden führt, ist eben das Besondere in dem Standpunkt des Glaubens, den wir mit dem Ausdruck der Wahrscheinlichkeit bezeichnen; wir glauben an die Wahrheit der aulgefundenen Bedingungen, so lange j e d e neue Wahrnehmung uns die Proportionalität bestätigt, und wir glauben au s i e , weil die so fortwährend bestätigte uns eine wirkliche Einsicht in den Causalzusammenliang der Thatsachen gewährt. Aber freilich hängt auch hier der Gewissheit und dem in ihr liegenden Vertrauen immer noch die schon oben bemerkte mit der Relativität dieses Standpunktes nothwendig verknüpfte Ungewissheit an, ohne dass deshalb etwas Unwahres oder Falsches in das ganze Verfahren hineinzukommen braucht. Wir prüfen die Proportionalität der Reihen, aber dieselben liegen unserer Beobachtung nie ganz vollständig vor, sondern nieistentheils sind es einzelne Glieder der Kette,. zwischen welclicn die Mittelglieder fehlen, und selbst wenn sie noch so vollständig bekannt sind, so bleibt es doch immer ungewiss, ob über die beobachteten Grenzen hinaus auch noch die Proportionalität fortbesteht. Täglich lehrt die Erfahrung, dass Gesetze, die man zu voreilig als allgemeingültig aufgestellt hatte, bei genauerer Beobachtung sich nur in ganz bestimmten Grenzen bewähren, über welche hinaus früher unbekannte und oft ganz bedeutende Abweichungen sich herausstellen. Dies ist dann nicht ein Beweis, dass die frühere Annahme eine falsche nunmehr völlig aufzugebende gewesen sei, sondern es zeigt nur, dass die eigentlichen Bedingungen noch nicht in ihrer vollen Reinheit erfasst sind, und dass die wahren Verhältnisse noch durch concurrirende Nebeneinflüsse getrübt werden, so dass es einer fortgesetzten Untersuchung bedarf um dieselben allmälich auszuscheiden. Was das Vertrauen und die Gewissheit zu einem immer nur Relativen machte, das war die unendliche Mannigfaltigkeit der Veränderungen, welche der Gegenstand erleiden konnte, diese Unendlichkeit in der Möglichkeit der Veränderungen bleibt auch hier bestehen, denn die Reihen selbst gestatten nach beiden Richtungen hin eine Fortsetzung ins Unbestimmte, aber darin besteht doch der Fortschritt, dass die unbestimmte Mannigfaltigkeit verschwunden ist, die Vielheit der Unterschiede sich in den bestimmten Reihen ordnet und

I,

5. D i e

119

Wahrscheinlichkeit.

zu rein gradweisen Unterschieden

wird,

bei denen mit einem

Gliede der Reihe auch die ganze übrige Reihe gegeben ist. sen wir z. B. die Töne

an und für sich auf,

Fas-

ehe wir uns der

Skala bewusst geworden sind, so erscheinen sie uns ganz ebenso wie etwa die Farben als eine unbestimmte Mannigfaltigkeit specifisch unterschiedener Eindrücke, haben wir sie in der bestimmten Reihefolge nach Höhe und T i e f e geordnet,

so wissen wir

ganz gewiss, dass j e d e r auch bis jetzt uns noch unbekannte T o n sich von den andern doch nur durch die bestimmte Höhe unterscheiden könne.

Als Berzelius die

Chemie einführte,

elektrische

Theorie in

die

ordnete er die Elemente nach ihrem elektro-

positiven und negativen Verhalten gegeneinander in eine bestimmte Reihe,

und darüber verschwanden alle die übrigen specifischen

Unterschiede

der verschiedeneu Stoffe

als gleichgültig

für

die

Verwandtschaft der Körper und ihr Vermögen, engere oder losere Verbindungen

mit einander einzugehen.

Indem man

aber

bei

einem solchen Verfahren zugleich die Bedingungen, unter denen jene Veränderungen erfolgen, in einer Reihe erhält, so wird damit die Beobachtung der Umstände, unter welchen j e n e vor sich gehen, um so mehr vereinfacht, und aus dem unbestimmten und zufälligen Probiren

wird eine regelmässige

bestimmten Richtungen.

Untersuchung nach

Je grösser die Wahrscheinlichkeit wird,

dass wir die möglichen Veränderungen

und ihre

Bedingungen

in den bestimmten Reihen übersehen, desto mehr liegt die ganze Totalität der möglichen Erscheinungen unserem Blicke v o r , und wir vermögen zu behaupten,

dass es überhaupt nur zwei Mög-

lichkeiten giebt, indem wenn die eine Bedingung eintritt das Eine, wenn die entgegengesetzte eintritt, das Entgegengesetzte erfolgen muss.

Dieses Reduciren aller möglichen Fälle auf zwei entge-

gengesetzte, wirklichen

von denen einer unter allen Umständen sich vermuss,

dieses

Entweder-Oder

ist so recht die cha-

rakteristische Eigentümlichkeit der Wahrscheinlichkeit,

in wel-

cher ebenso die darin liegende Gewissheit als die ihr anhaftende Ungewissheit

zur

weit, dass wir,

klaren

Anschauung

gelangt.

Jene

geht

weun wir die Bedingungen genau kennen,

so die

ihnen entsprechende Erscheinung genau vorherzusagen im Stande sind, aber wo dieselben nicht vollkommen messbar vorliegen, ist die Möglichkeit gegeben, was

wir

erwartet

haben,

dass immer uur das

dass das gerade Gegentheil von dem, erfolgt.

Die

Gewissheit steht fest,

eine oder das andere geschehen kann,

je

120

I, 5. Die Wahrscheinlichkeit.

nachdem die Bedingungen dazu vorhanden sind; so lange aber diese nicht hinreichend bekannt sind, bleibt deshalb die Gewissheit eine bedingte, welche ein Schwanken nach beiden Richtungen hin übrig lässt, und gerade darin liegt es, dass das Eintreten einer bestimmten Thatsache nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann, deren Grad von dem richtigen Vorhersehen der möglicher Weise eintretenden Bedingungen abhängig bleibt. So geht die Wahrscheinlichkeit auf die Zukunft, während die Verinuthung in die Vergangenheit zurückblickt und so gebrauchen wir in der That auch beide Ausdrücke im gewöhnlichen Leben, wenn auch nicht mit klarem Bewusstsein und vollständiger Cousequcnz. Ich vermuthe, dass dies der Grund einer bestimmten Thatsache gewesen sei, es ist mir wahrscheinlich, dass diese oder jene Thatsache eintreten werde, weil ich die Bedingungen nieine vorhersehen zu können, welche das Eintreten derselben nothwendig machen, jedoch mit der Beschränkung, dass auch die entgegengesetzte Möglichkeit übrig bleibt, wenn wider Erwarten etwa andere Umstände sich geltend machen. Wahrscheinlichkeit stützt sich hier auf Wahrscheinlichkeit, indem eine Bedingung wiederum von unzähligen anderen abhängig ist und wir niemals sicher entscheiden können, ob nicht entferntere Bedingungen störend eingreifen und das, was wir aus den näheren mit Wahrscheinlichkeit vorhersagen zu können glauben, vereiteln. Daher ist alle Rechnung auf die Zukunft immer nur mit Wahrscheinlichkeit verknüpft, die um so geringer wird, j e mannigfaltiger und wechselnder die Bedingungen sind und j e weniger wir diese in ihrem ganzen Umfange zu bestimmen im Stande sind. Die Wetterprophezeihungen werden in unseren Breiten immer eine höchst missliche Sache bleiben, während unter den Tropen, wo die Bedingungen weit constantere sind, die gewöhnlichen Veränderungen mit ungemeiner Präcision eintreffen. Die Gewissheit hat das für sich, dass sie nur die gegenwärtige Thatsache zu beobachten hat, der für die Thatsache zu vermuthende Grund existirt nicht mehr in derselben Weise, wenn die letztere eingetreten ist und das mit Wahrscheinlichkeit aus den bekannten Bedingungen zu erwartende Ereigniss besteht noch nicht, darin liegt die Unsicherheit, welche Verinuthung und Wahrscheinlichkeit der Gewissheit gegenüber zu haben scheinen; aber der scharfe Unterschied ist doch nur ein Schein. Wie die Gegenwart in dem

I, 6. Die Ueberzeuguug.

121

Strome der Zeit immer sogleich zur Vergangenheit wird und die Zukunft hervorbringt, so bleibt auch die Vergangenheit in der Gegenwart und die Zukunft liegt schon in ihr, und in der gleichen Weise kann die gegenwärtige Erscheinung nicht mit voller Sicherheit beobachtet werden, ohne den Zusammenhang mit der Vergangenheit und der Zukunft zu constatlren, und die Gewissheit der Gegenwart hängt also mehr oder minder von der Vermuthung und der Wahrscheinlichkeit des vor- und rückwärts liegenden Causalzusammenhanges ab. Denn Niemand kann die nach einander auftretenden Thatsaclien richtig verknüpfen, wenn er nicht ihre Begründung kennt, und deshalb ist der scheinbar objektivste Bericht immer doch durch Vermuthungen über die Verbindung des Thatsächlichen tingirt; auf der andern Seite wird nur der zum Beobachten des Thatsächlichen recht geschickt sein, der schon weiss, was er nach den bekannten Bedingungen zu erwarten hat und danach seine Aufmerksamkeit einzurichten im Staude ist. Der Grund und die Bedingungen machen die Thatsache, wie sollte Jemand sie richtig auffassen, wenn er jene nicht kennt, und deshalb geben Vermuthung und Wahrscheinlichkeit zusammen erst die volle Gewissheit.

6. D i e U e b e r z e u g u u g . Dies führt zu einem neuen Standpunkt des Glaubens, welcher in der Entwickelung der AVahrheit eine hervorragende Bedeutung hat. Kennen wir nämlich den Grund und die Bedingungen einer Thatsache, so vermögen wir uns dieselbe vollständig zu erklären, und daraus entsteht die U e b e r z e u g u n g , in welcher sich das Denken seinem Gegenstande gegenüber erst vollkommen befriedigt fühlt, indem es in der Tliat völlig eins mit ihm geworden ist. Die Thatsache ist nicht nur ganz durchsichtig für das Denken, sondern dieses beherscht sie auch durchaus, indem es sie beliebig hervorzubringen und nach Gefallen zu verändern im Stande ist. Diese Macht des Denkens über das gegenständliche Sein ist in angestrengter Arbeit an den Dingen errungen worden und wir haben dem allmälichen Wachsen derselben bei jedem neuen Standpunkt zugesehen; dennoch überrascht sie uns fast in der Grösse und Ausdehnung, welche sie in der Ueberzeugung wie plötzlich erreicht. In dieser Beziehung ist es besonders

122

I, 6. Die Ueberzeugung.

wichtig, den Unterschied hervorzuheben, welcher zwischen ihr und der Gewissheit besteht. Die letztere wird nur gewonnen mit der vollkommenen Hingabe des Denkens an die Thatsache, und es steht vor dieser, sich der Wirklichkeit unterordnend, ohne auch nur das geringste Verständniss darüber zu besitzen, wie sie möglich sei. Jetzt sind wir mit der Auffindung des Grundes und der Bedingungen einer Erscheinung in die geheime Werkstätte eingedrungen, in welcher sie erzeugt wird, und haben es den werdenden Thatsachen selbst abgelernt, wie wir sie selbständig hervorzubringen vermögen. J a noch mehr, wir erzeugen nicht nur das, was wirklich vorhanden ist und dessen genetische Eutwickelung wir belauscht haben, indem wir nur nachahmen was wir gesellen, sondern wir produciren selbst ganz neue Gegenstände, welche die Natur als solche nicht liefert, indem wir die gewonnene Einsicht benutzen, um die Bedingungen so weit abzuändern, dass dadurch andere, wenn auch ähnliche Thatsachen hervorgehen. Hieflir liefert namentlich die Chemie die überraschendsten und grossartigsten Beispiele, indem sie eine Menge von ganz neuen Verbindungen herstellt, welche in der Natur nicht vorhanden sind, sondern allein auf neue Conibinationen des Denkens sich gründen, die dieses gemäss dem aus den Beobachtungen Gewonnenen anstellt. Diese Macht des Denkens liegt in der Auffindung des G e s e t z e s , welches eine ganze Klasse von Erscheinungen unter eine allgemeine Formel bringt, der sich die Totalität des Einzelnen unterordnet. Diese Formel ist der einfache Ausdruck für das bestimmte Verhältniss der Bedingungen, aus denen ganze Reihen von Thatsachen hervorgehen, j e nachdem verschiedene Zahlenwerthe in sie eingeführt werden. Damit übersehen wir natürlich die Totalität der Erscheinungen, welche auf jene Bedingungen zurückzuführen sind, und während die Wirklichkeit immer nur einzelne Thatsachen aus solchen Reihen producirt, vermögen wir dann künstlich die Lücken durch Herstellung der fehlenden auszufüllen. Was alle diese Erscheinungen unter einander verbindet, ist der gemeinsame Grund, aus welchem sie hervorgehen, wogegen der Unterschied in den Bedingungen die Verschiedenheit der Thatsachen hervorbringt und das Mass an die Hand giebt, nach welchem diese zu beurtheilen ist. Wir siud danach im Stande, den gemeinsamen Grund in die verschiedenen Bedingungen zu versetzen und können so selbständig die Tliat-

I, 6. Die Ueberzeugung.

12.3

Sachen modificiren und sie beliebig unseren Zwecken gemäss erzeugen und gestalten. Nichts kann uns unerwartet kommen, weil wir immer schon vorbereitet sind auf alle jene Möglichkeiten die etwa eintreten möchten, und das schärft uusern Blick so, dass wir nunmehr erst mit dein Gefühl der vollsten Sicherheit die Erscheinungeu betrachten, indem in unserem Denken die Combinationen schon vollzogen sind, welche zur Auffassung der Gegenstände nothwendig sind, und wir gewissermassen die Thatsachcn in unserem Bewusslsein schon vorconstruirt haben, ehe sie wirklich unserem Gesichtskreis erscheinen. Ist das nun in fler That die Macht des Denkens, wenn es sich im Besitze des Gesetzes der Erscheinungeu findet, so ist es nicht wunderbar, wenn damit Ueberzeugung verbunden ist, aber es fragt sich nur, wie das ISewusstsein eigentlich zu diesem Gefühl der Sicherheit gelange, dass das, was ihm als Gesetz erscheint, auch wirklich das wahre in den Dingen wirksame sei. Vorbereitet sind wir allerdings darauf durch unsere bisherigen Untersuchungen: denn der Process der Vermuthung hat uns dem wahren Grunde der Erscheinungen nahe gebracht, wenn nicht schon wirklich darauf geführt, die Wahrscheinlichkeit hat uns die Reihen der Bedingungen kennen gelehrt, welche mehr oder minder verändernd auf die Thatsachen einwirken, aber Vermuthung und Wahrscheinlichkeit sind noch himmelweit verschieden von wirklicher wahrer Ueberzeugung. Hier grade scheint der Stein des Anstosses zu liegen, an welchem schon so viele Betrachtungen über die Möglichkeit eines wahren Wissens gescheitert sind, hier soll der gewaltige Sprung vollführt werden. welcher die der Wahrscheinlichkeit immer noch anhaftende Ungewissheit weit hinter sich lässt, und mit einem Male uns eine Aussicht auf ein vollkommenes Wissen eröffnet, von welcher wir bisher sehr weit entfernt waren. Freilich das haben wir schon immer betont, dass Vermuthung und Wahrscheinlichkeit, wenn sie nur richtig geübt werden, immer auf Gewissheit Anspruch machen dürfen, und dass das, was wir auf diesem Wege an Wissen gewonnen, nicht wieder ungewiss werden darf und später zurückgenommen zu werden braucht, aber das mussten wir anerkennen, dass in diesen Processen zwar unser Denken sich_der Wahrheit immer mehr annähert, aber dass wir nie vollständig sicher sein können, den wahren Grund und die wirklichen Bedingungen vollständig erreicht zu haben, sondern dass auch der

124

I, 6. D i e Ueberzeugung.

höchsten Gewissheit immer noch Ungewissheit anhaftet. J a wir mussten uns gestehen, dass es überhaupt in der Natur und in dem Wesen der Gewissheit liege, immer nur eine werdende zu sein, die in der normalen Entwickelung des Wissens stetig zunimmt, aber doch niemals aufhört, eine relative und gradweise zu sein, womit es denn vollständig zusammenstimmte, dass wir grade in der Vermuthung und Wahrscheinlichkeit die beiden verschiedenartigen Wege fanden, auf denen die Gewissheit fortschreitet und sich allmälich immer mehr der Thatsachen und der Art, wie sie zu Stande kommen, bemächtigt. Ganz anders verhält es sich aber in dieser Beziehung mit" der Ueberzeugung; sie hat etwas abschliessendes, jede Ungewissheit entfernendes, und deshalb findet sich auch in ihr nichts Gradweises und Relatives, sondern entweder besitzen wir sie ganz oder wir haben sie noch gar nicht. Blitzartig tritt sie mit ihrer ganzen Helligkeit und Gewalt ein, und hat in der That in ihrem Entstehen etwas Wunderbares. Die sicherste Vermuthung, und wäre sie auch mit dem höchsten Grade der Gewissheit verknüpft, gewährt noch keine Ueberzeugung und die grösste Wahrscheinlichkeit, wäre sie auch der Wahrheit noch so nahe, ist immer noch von der Ueberzeugung fern, j a wir mögen mit der Vermuthung und der Wahrscheinlichkeit auch die volle Wahrheit selbst schon erreicht haben, aber wir wissen es nicht ohne die Ueberzeugung. Ruhte die Bewährung des Gesetzes, wie man gewöhnlich meint, wirklich nur auf der Anzahl der vielen beobachteten Fälle, aus denen man es abgeleitet hat, und stammte die Ueberzeugung nur daraus, dass man es überall, wo man es nun zur selbständigen Herstellung der Thatsachen angewandt hat, auch wirklich bestätigt findet, so befände man sich doch immer nur noch auf dein Standpunkte der Wahrscheinlichkeit und die darauf gegründete Ueberzeugung wäre eine trügerische und eine reine Verwechselung, deren Unhaltbarkeit sich bei der ersten, wenn auch vielleicht nur scheinbaren Ausuahme sogleich herausstellen würde. Im gewöhnlichen Leben und selbst in der Wissenschaft nimmt mau es freilich damit nicht so genau und es giebt sich Vieles für Ueberzeugung aus, was ernstlich betrachtet nur auf Verniutlning und Wahrscheinlichkeit beruht, aber für uns hat die Frage eine tiefere Bedeutung, da von ihrer strengen Entscheidung das ganze Problem abhängig ist, ob es wirklich für unser Wissen

I, 6. Die Ueberzeugung.

125

W a h r h e i t giebt, oder ob wir uns nur im günstigsten Falle mit einer hoben Wahrscheinlichkeit zu begnügen haben. Was gerade der Vermuthung wie der Wahrscheinlichkeit noch fehlt, ist die Ueberzeugung und darum kann weder die eine noch die andere, mögen sie an sich auch noch so gewiss sein, diese uns geben; aber was keine von beiden für sich allein zu leisten im Stande ist, wild vielleicht durch die Vereinigung beider möglich. Es giebt ein ganz analoges Verhältniss, welches die vorliegende Aufgabe und ihre Lösung zu verdeutlichen recht geeignet ist. Wollen wir die Entfernung eines Gegenstandes, zu dem wir auf directem Wege nicht gelangen können, messen, so visiren wir von verschiedenen Orten aus auf denselben, bestimmen aus der bekannten Grundlinie des dadurch entstehenden Dreiecks und den beiden anliegenden Winkeln trigonometrisch die andern Seiten und finden somit die gesuchte Entfernung. Bei jeder einzelnen Visirung erkennen wir nur die Richtung, in welcher der Gegenstand liegt, der Ort dagegen, welchen er in derselben einnimmt, bleibt völlig unbestimmt; da aber die beiden Visirungslinien sich nur in dem einen Punkte schneiden, an dem der Gegenstand sich befindet, so ist durch beide Richtungen der Ort desselben mit der vollkommensten Genauigkeit gegeben. Ganz ebenso verhält es sich mit den beiden Processen der Vermuthung und der Wahrscheinlichkeit; jeder nähert sich von verschiedenen Seiten her dem Gegenstande, aber wir wissen nicht, ob wir ihn schon erreicht haben, treffen aber beide in demselben Resultate zusammen, so können wir nunmehr sicher sein, den richtigen Punkt getroffen zu haben, das eine Verfahren bestätigt das andere, und aus der blossen Vermuthung und Wahrscheinlichkeit wird durch ihre Uebereinstimmung mit einem Schlage die vollständigste Ueberzeugung. Der Process der Vermuthung ist, wenn er richtig angestellt wird, dessen gewiss, dass in dem Reste der gemeinsamen Umstände, welcher nach Abzug der wechselnden und deshalb flir die Wirkung indifferenten übrig bleibt, der wahre Grund enthalten sei, nur das kann man auf diesem AVege nicht ausmachen, was in diesem Rest, der immer noch eine Mannigfaltigkeit von Bedingungen in sich schliesst, der eigentlich wirksame Grund sei, und was noch davon als unwesentlich sich abziehen lasse. Deshalb ist die Vermuthung zwar immer in der Richtung auf den wahren Grund, aber es bleibt unentschieden, ob er schon wirklich erreicht sei, oder ob wir

126

I, G. Die Uel>(irze\igun£.

den Process der Vergleichung noch weiter fortsetzen müssen, um durch Aufsuchung derselben Erscheinung unter noch andern Verhältnissen die den wahren Grund immer noch verdeckenden Hüllen gänzlich abzustreifen. Der Process der Wahrscheinlichkeit ist so weit sicher, dass in dem Masse, als eine Proportionalität zwischen den Reihen der veränderlichen Thatsachen und denen der begleitenden Umstände besteht, auch eine Bedingtheit der einen durch die andern vorausgesetzt werden darf, aber es bleibt stets ungewiss, ob die in gewissen Grenzen beobachtete Proportionalität auch über diese hinaus noch statthabe, und ob daher die vermeintlichen Bedingungen die wirklich reinen seien oder diese sich nicht vielmehr in einein Aggregat zum Theil sich unterstützender, zum Theil sich hemmender zum Theil gänzlich indifferenter Umstände verberge. Auch hier ist die Wahrscheinlichkeit wohl auf die wahren Bedingungen gerichtet und nähert sich ihnen auch immer mehr, j e mehr die Proportionalität zwischen Bedingtem und Bedingendem in den weitesten Grenzen sich fortwährend bestätigt, aber für die Ueberzeugung nun wirklich die wahren und reinen Bedingungen aufgefunden zu haben genügt die auf diesem Wege zu erreichende Gewissheit ebeuso wenig. Findet sich nun aber, dass das Gemeinsame in der aufgefundenen Reihe der Umstände, durch deren gradweise Veränderungen die Veränderungen in den dadurch hervorgebrachten Thatsachen bedingt werden, zugleich auch der durch die Verniuthung aufgefundene gemeinsame Grund der Thatsachen ist, so können wir nunmehr durch die auf zwei ganz verschiedenen Wegen gewonnene Uebereinstimmung in den liesultateu sicher sein, den wahren Grund und die reinen Bedingungen erreicht zu haben. Der wahre Grund einer Erscheinung ist in seiuen quantitativen Differenzen auch das die gradweiseu Veränderungen derselben Bedingende, und dies einlache aus den coniplicirten Umständen herausgefundene Resultat schliesst die gesuchte Gewissheit ab und gewährt zugleich die bestimmte Einsieht, wie die beobachteten Thatsachen von Statten gehen können, und damit die gesuchte Ueberzeugung, welche den ganzen Vorgang dem denkenden Bewusstsein vollständig enthüllt. Ein Heispiel wird das dabei beobachtete Verfahren hinlänglich aufklären. Ein Klavier ist ein ziemlich complicirter Mechanismus, bei welchem wir anfangs nicht wissen, was jeder Theil desselben zu dem Tönen des Instruments beiträgt; die Yen;!ei-

T, 6. D i e Ueberzeugung.

127

ehung mit anderen Saiteninstrumenten fuhrt zu der gewiss ganz richtigen Verinuthung, dass das Anschlagen der Saiten der ihnen allen gemeinsame Grund des Tönens sei, und wenn wir keine anderen musikalischen Instrumente als diese kennten, so müssten wir uns dabei wohl beruhigen. Auf der andern Seite führt die weitere Beobachtung darauf, dass die verschiedene Höhe der Töne von der Länge der Saiten abhängig ist, aber sie wird eben so sehr aucli bedingt durch die Dicke derselben, die Dichtigkeit, die Spannung, und alle diese Verhältnisse compliciren sich gegenseitig. Dadurch, dass wir alle diese Reihen gesondert und ihren Einiluss auf die Veränderung des Tönens bestimmt haben, sind wir zwar in dem Process der Wahrscheinlichkeit weit vorgerückt, aber es bleibt doch noch völlig unklar, in welcher Beziehung alle diese Verhältnisse der Saiten zu der Ursache ihres Tönens stehen. D a kommt uns die Vergleichung der Saiteninstrumente mit den Blascinstrumenten zur Hülfe; sie lässt uns nun auch noch von der besonderen Natur des in Bewegung gesetzten Stoffes abseilen und es bleibt als das Gemeinsame bei beiden nur die schwingende Bewegung selbst übrig; die die Höhe der Töne bedingenden Verhältnisse der Saiten und der entsprechenden Luftsäule redlichen sich andrerseits nunmehr alle auf die dadurch erzeugte Schnelligkeit der Schwingungen und das Resultat ist also dieses, dass in allen Instrumenten die Ursache des Tönens die schwingende Bewegung, für die Veränderung in der Höhe und Tiefe der Töne die Schnelligkeit der Schwingungen das Bedingende sei, und damit ist die volle Ueberzeugung gewonnen, dass wir nunmehr das wahre Gesetz für die Erzeugung der Töne gefunden haben. Wird nun in der That erst durch das Zusammenstimmen des vermutheten Grundes und der wahrscheinlicher. Bedingungen die Ueberzeugung gewonnen, so ist doch auch schon vorher, ehe dieses Ziel erreicht wird, eine gewisse Wechselwirkung zwischen beiden Processen, wodurch sie sich gegenseitig fördern. Die Erklärung der Erscheinungen schreitet fort, indem man bald darauf ausgeht, unter den verschiedenen einwirkenden Umständen den genieinsamen Grund aufzufinden, bald wieder die differenten Wirkungen desselben auf Reihen gebracht werden, so dass ihre Proportionalität sieh prüfen lässt. Sehe ich in einem Theekessel das Wasser kochen, so ist das eine sehr complicirte Erscheinung, deren Ursachen und Bedingungen sirh nicht so leicht einsehen

128

I, 6. Die Ueberzeugung.

lassen. Allerdings merkt man bald, dass das Feuer die Ursache aller der dabei vorkommenden Erscheinungen ist, aber dieses selbst ist wieder ein sehr zusammengesetztes Phänomen; ich beobachte, dass j e mehr ich Holz anlege und hineinblase, desto lebhafter das Feuer brennt und desto leichter das Wasser kocht. Aber was ist damit für eine Einsicht gewonnen, welche Beziehung besteht zwischen dem Feuer, dem Holze und dem Anblasen; die Beobachtung ist richtig, die Wahrscheinlichkeit Uber den Zusammenhang der Bedingungen mit der Erscheinung liegt in der Proportionalität offen da, aber erklären lässt es sich noch nicht. Das Feuer verzehrt das Holz, das Holz nährt das Feuer, auf diesem Standpunkt blieb die Frage lange Zeit stehen, erst als die Chemie das Wesen des Verbrennungsprocesses in der gemeinschaftlichen Ursache der Verbindung des Sauerstoffes mit einem brennbaren Körper aufzeigte, war der Anstoss zu einem neuen Fortschritte in der Erklärung gegeben. Das Anblasen ist stärkeres Zuführen des in der Luft enthaltenen Sauerstoffes, die Holzfaser besteht aus einem Kohlenwasserstoff, von welchem der letztere sich mit dem Sauerstoff verbindet, während die dadurch erzeugte Hitze die darin enthaltene Kohle gliilit und so das Leuchten der Flamme erzeugt. Woher aber stammt die Wärme und wie kann sie die Kohle glühen? Die Ursache derselben ist die chemische Verbindung selbst, die nur bei einer hohen Temperatur vor sich geht, in dem Masse aber als sie erfolgt, Wärme frei macht und dadurch den chemischen Process unterhält, so lange noch Stoff zur Verbrennung vorhanden ist. Aber immer noch fehlt der letzte Schlussstein für die Ueberzeugung. Da tritt die Vermuthung auf, dass die gemeinschaftliche Ursache aller Wärmeproduktion, mag sie durch Stoss oder Keiben, durch Elektricität oder durch eine chemische Verbindung erfolgen, die schwingende Bewegung ist, und mit einem Male ist die vollständige Einsicht in den ganzen complicirten Zusammenhang der Erscheinung gegeben; die chemische Verbindung kann nur vor sich gehen bei einer lebhaften Bewegung der kleinsten Wassertheilchen, die Wärme ist selbst schwingende Bewegung wie das Licht, und so vermittelt sie die früher völlig disparaten Erscheinungen. Wissen wir aber, was das Feuer ist, so klären sich nunmehr auch alle übrigen bei dem Kochen des Wassers auftretenden Thatsachen auf. Wir sehen in demselben Blasen sich bilden und immer lebhafter aufsteigen; diese sind nichts

129

I, 6. Die Ueberzeugung.

anderes als Wasserdampf, in welchen sich allmälich der ganze Vorrath des Wassers verwandelt. Was bewirkt nun diese Veränderung und worin besteht sie? Ist es das Leuchten der Flamme oder die Wärme, welche das Wasser in Dampf umwandelt? Jenes kann fehlen und die Erscheinung dauert fort, j e mehr aber die Hitze zunimmt, desto schneller erfolgt jene Umwandlung. Nun aber weiss ich, dass die Wärme alle Körper ausdehnt, dies erläutert mir die Veränderung, welche das Wasser erleidet, der Dampf ist nur der Zustand der grösseren Ausdehnung des Wassers, sobald ich ihn condensire, erscheint wieder der flüssige Aggregationszustand, weshalb auch das Kochen bei einem vermehrten Druck der Atmosphäre gehemmt wird. Aber noch bleibt die Frage übrig, wie die Wärme die Körper ausdehnen könne; so lange die Wärme noch als ein Stoff angesehen wird, der dem Körper mitgetheilt wird, kann ich aus der Proportionalität zwischen ihrer Zufuhr und der erfolgenden Ausdehnung gewiss sein, dass sie diese bedingt, aber Uberzeugt bin ich noch nicht, weil mir jede Beziehung zwischen diesen völlig disparaten Thatsachen fehlt. Nun aber kommt die Vermuthung hinzu, dass die Wärme nichts als schwingende Bewegung der kleinsten Masscntheilchen sei, und plötzlich geht mir das Licht auf, welches ihre Beziehung zu der Ausdehnung der Körper vermittelt. AVir haben gesehen, wie gross die Macht ist, welche das Denken in der Ueberzeugung über die Thatsachen erlangt, indem es mit der Einsicht in ihren Grund und in ihre Bedingungen dieselben nicht nur vollständig zu erklären, sondern auch vorlicraisugen und dem Gesetz gemäss zu erzeugen und beliebig zu modifieiren vermag, aber es zeigt sich nun auch weiter, wie bei der Gewinnung der Ueberzeugung das Denken das allein Wirksame ist. Schon bei der Vermuthung und der Wahrscheinlichkeit wurde die Macht und Herschaft des Denkens bei der ganzen Anordnung des Processes offenbar; denn das Auffinden des gemeinschaftlichen Grundes aus der Mannigfaltigkeit der Umstände gründete sich auf dem Gedanken, dass dasselbe auch nur durch dasselbe gewirkt werden könne, und das Aufsuchen der Bedingungen einer Erscheinung beruhte auf dem Gedanken, dass jede Veränderung in ihr nur durch eine völlig entsprechende Veränderung in den Bedingungen möglich sei, und diese Gedanken leiteten die ganze Beobachtung, um in den wechselnden Umständen das Gemeinsame aufzusuchen und das Verschiedenartige Lu¿ik uls Wissenschai'lsl.

Q

130

T, 6. Pií> Ufberzonpiing.

auf Reihen zu bringen. In dem einen Fall war die ganze Betrachtung darauf gerichtet, die gleiche Erscheinung unter recht wechselnden Umständen aufzufinden, um recht viel Unwesentliches abzuziehen und den Rest, in welchem der Grund verborgen sein musste, in recht enge Grenzen zusammenzuziehen; in dem andern Falle galt es die Umstände, unter welchen die veränderliche Erscheinung auftrat, in allen andern Beziehungen recht gleichartig zu machen, um allein die veränderliche Reihe der Umstände in ihrer weitesten Ausdehnung zu prüfen, von welcher mit Wahrscheinlichkeit die Veränderung der Erscheinung sich abhängig zeigte. So dirigirte das Denken nach beiden Richtungen hin die ganze Untersuchung und schloss alles aus, was verwirrend oder indifferent für dieselbe war, aber die Gewissheit ihrer Ergebnisse hing doch immer davon ab, wie das Denken, nachdem es das Verfahren angeordnet hatte, die dabei sich ergebenden Thatsachen sprechen Hess und sich denselben hingab, ohne seinerseits etwas Fremdartiges hinzuzuthun oder etwas Wesentliches auszulassen, tío dominirte immer noch das T a t s ä c h liche, wenn auch die Beobachtung desselben nicht mehr dem Zufall anheimfiel, wie die Thatsachen hier oder dort gerade eintreten, wo es einem Beschauenden einfällt, sie zu betrachten, sondern der leitenden Direktion des reflektirenden Denkens nach einer bestimmten ltegel sich unterwarf und dieser gemäss die Thatsachen mit Absicht und Vorbedacht aufsuchte. Das Eigent ü m l i c h e der Ueberzeugung beruht dagegen ganz auf dem Denken, welches zwar die Resultate der Vermuthung und Wahrscheinlichkeit sich aneignet, und deshalb auch an sie und das Thatsächliche in ihm gebunden bleibt, aber sie sich doch nur so weit aneignet, als es beide in einer Einheit zusainrnenzuschliesseu im Stande ist und dadurch eine vollkommene Einsicht in den Zusammenhang erlangt. Hier bleibt daher auch, so weit die Ueberzeugung reicht, tür das Denken kein starrer undurchsichtiger Stoff' zurück, sondern das Verständniss des Gesetzes der Thatsache ist ein reiner Akt des Denkens, an welchem die sinnliche Wahrnehmung nur noch als eine Erinnerung haftet, als das n o t wendige Mittel, durch welches wir allerdings nur zu dem Ziele gelangt sind, aber das jetzt in die vollkommene Einsicht des Denkens aufgeht. Allein auf diesem Akte des Denkens beruht es daher auch, dass das Bewusstsein in der Ueberzeugung mit voller Befriedigung abschliesst und nicht mehr danach strebt,

I, 6. Die Ueberzeugung.

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den Process der Vermuthung oder der Wahrscheinlichkeit noch weiter fortzusetzen und noch andere Gründe oder Bedingungen aufzusuchen. Ebenso wenig aber kann der Gedanke aufkommen, dass das aufgefundene Gesetz irgendwie Ausnahmen erleiden und damit die Ueberzeugung wieder wankend werden könne. Darin liegt eben der Unterschied zwischen wirklichen mit Ueberzeugung verknüpften Gesetzen und solchen nur noch auf Wahrscheinlichkeit beruhenden empirischen Regeln, in denen eine thatsächliche Bedingtheit in gewissen Grenzen gegeben ist, ohne dass eine wirkliche Einsicht damit verknüpft wäre. So ist z. B. das Mariotte'sche Gesetz in Beziehung auf die Expansivkraft der Gase nichts anderes als ein Ausdruck des klaren Verhältnisses von Druck und Expansivkraft selbst, und darin liegt die überzeugende Gewalt desselben; als daher durch die neueren Untersuchungen von Regnault und Magnus sich herausstellte, dass die Gase nicht schlechthin demselben unterworfen wären, sondern dass in g e wissen Grenzen die wirkliche Beobachtung Abweichungen nachweise, so führte dies nicht etwa dazu die Gültigkeit des Mariotte'schen Gesetzes anzuzweifeln, sondern die Ueberzeugung ging vielmehr dahin, dass in diesen Grenzen die Gase nicht mehr die volle Expansivkraft und daher auch nicht mehr den vollständigen Gaszustand besässen, wie sich denn in der That die Abweichungen ganz besonders bei den nicht permanenten Gasen und auch bei ihnen wiederum vorzugsweise in der Nähe des Uebergangs zu dem flüssigen Aggregatzustande zeigten. So lange noch wirkliche Ausnahmen von der Regel vorkommen, ist dies immer ein sicheres Zeichen, dass der wahre Grund und die wirklichen Bedingungen sich immer noch unter einer fremdartigen Hülle verbergen und dabei hätte noch keine wirkliche Ueberzeugung, sondern nur Vermuthung und Wahrscheinlichkeit vorhanden sein sollen, weil dabei keine Einsicht in den wahren Zusammenhang stattfinden konnte. Wie sehr nun die Ueberzeugung die Gewissheit abschliesst und jede Ungewissheit in Betreif der Thatsachen entfernt, das ergiebt sich vorzüglich aus dem eigenthtimlichen Verhältniss, in welchem sie zu der Meinung und zu dem Vertrauen als den Momenten der Gewissheit steht. Die Meinung sonderte zunächst die Gegenstände aus, wie sie momentan und örtlich sich leicht von einander trennen lassen, und es ergiebt sich ihr daraus eine grosse Mannigfaltigkeit verschiedenartiger Objekte nach Gestalt 9*

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I, 6. Die Ueberzen»ung.

und Eigenschaften. Je mehr aber die Entwicklung der Dinge und die dabei stattfindenden Veränderungen derselben wahrgenommen werden, desto mehr vereinfacht sich diese Mannigfaltigkeit, indem die verschiedenen Dinge nur als modificirte Zustände desselben Gegenstandes heraustreten. Aber bei diesen Beobachtungen sind wir so lange auf den Zufall angewiesen, als wir noch nicht das Gesetz der Erscheinungen kennen. Es bleibt ungewiss, welcher unter diesen wechselnden Zuständen der wahre gemeinte Gegenstand sei und welche Eigenschaften desselben vielmehr auf Rechnung der umgebenden Umstände gesetzt werden mlissen. Kennen wir aber den Grund und die Bedingungen einer Erscheinung, so lässt sich die Sonderung bestimmt vollziehen. Der Grund ist die einfachste Form, in welcher die Erscheinung auftritt, und alle Veränderungen, welche sie erleidet, sind zu erklären aus der Einwirkung der bekannten Bedingungen. Deshalb sind denn auch alle Gegenstände, die auf denselben Grund zurückgefithrt werden können, sie mögen sonst in ihrer Gestalt und in ihren Eigenschaften noch so sehr verschieden sein, nur Modifikationen desselben Gegenstandes und alle Zweifel gegen die Realität des Allgemeinen müssen dagegen verstummen, indem in dem Gesetz die bestimmte Richtschnur gefunden ist für den Zusammenhang dcr.Thatsachen und die richtige Beurtheilung der einzelnen Erscheinung. Das Gesetz ist einmal nothwendig allgemein und jede Erscheinung, die unter dasselbe fallt, nur eiu Fall aus dem Zusammenhange des Ganzen, es wäre ein absoluter Widerspruch von der Richtigkeit des Gesetzes überzeugt zu sein und doch die Allgemeinheit des durch sie bestimmten Objektes leugnen zu wollen, und darum spukt auch überall da nur die Opposition gegen die Realität des Allgemeinen, wo es noch nicht gelungen ist, die einzelnen Thatsachen auf das in ihnen herschende Gesetz zurückzuführen. Ebenso aber ist aus der Betrachtung der wechselnden Veränderungen alle Ungewisshcit und Unbestimmtheit entfernt. In dem Gesetz sind sie auf Reihen gebracht, in welchen wir den allmälichen Uebergang derselben in einander Ubersehen und indem alle Verschiedenheit dadurch zu einer gradweisen wird, so sind mit einer auch alle übrigen gegeben. Mit vollem Vertrauen beobachten wir nun die wechselnden Erscheinungen, indem wir Uberzeugt sein dürfen, dass in ihnen nichts Unerwartetes mehr vorkommen kann, und j e mehr wir vollständig vorher wiesen, welche Erscheinungen bei etwa veränderten Bedingungen ein-

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treten können, mit desto grösserer Aufmerksamkeit und Zuversicht sehen wir denselben entgegen und vermögen sie auf das bestimmteste zu constatiren. An die Stelle ungewisser Schätzung nach dem sinnlichen Eindruck tritt Mass und Zahl und die Sicherheit der Rechnung, und wo uns die Gewissheit noch mangelt, können wir sie uns in jedem Augenblick verschaffen, iudein wir nur den Gegenstand in die entsprechenden Bedingungen zu versetzen brauchen, um die daraus sich ergebenden Folgen festzustellen. So wird es offenbar, wie erst mit der Kenntniss des Gesetzes, nach welchem gewisse Thatsachen erfolgen, eine sichere Beobachtung derselben möglieh ist. Die mit Ueberzeugung verknüpfte Meinung und das auf Ueberzeugung beruhende Vertrauen bilden eine ganz andere Grundlage der Gewissheit, als die ursprüngliche völlig unvorbereitete Betrachtung der uns neu entgegentretenden Gegenstände mit ihren wechselnden Veränderungen zu gewähren im Stande ist. Auf diese Weise muss nun das Verhältniss, in welchem die Ueberzeugung zu den vorangegangenen Monienten des Glaubens steht, vollkommen deutlich geworden sein. Sie ist die höchste Form desselben, in welchem das Denken das vollkommenste Bewusstsein seiner Uebereinstimmung mit der Wirklichkeit besitzt, aber sie hört darum nicht auf, ein Glaube zu sein und beweist also hinlänglich, wie die Wahrheit eine Sache des Glaubens ist. Nur muss man freilich den Glauben nicht in dem niedrigen Sinne der blossen Meinung nehmen, sondern in dem hier entwickelten, in welchem er Gewissheit und Ueberzeugung in sich schliesst. Sie sind die Hauptpfeiler, auf welche alle Wahrheit sich gründet, indem die Gewissheit die Uebereinstimmung des Denkens mit dem thatsächlichen Verlauf, die Ueberzeugung die Einsicht in den gesetzmässigen Zusammenhang gewährt, wie er auf der Uebereinstimmung des gefundenen Grundes und der Bedingungen beruht. In der ersteren zwingt mich die auf der Einwirkung des Gegenstandes beruhende sinnliche Wahrnehmung zu diesem Denken und drängt mir damit die Gewissheit des Resultates auf, in der andern gebe ich frei meine Zustimmung, weil das mit vollem Verständnis den gesetzliehen Zusammenhang durchdringende Denken die Möglichkeit des Geschehens einsieht. So ist die Ueberzeugung allerdings, wie sie auch gewöhnlich erklärt wird, die begründete Gewissheit, aber nicht etwa in dem Sinne, als ob zu der Thatsache subjektive rein aus dem Denken stam-

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I, 7. Die Ahnnng.

mende Gründe hinzukämen, die dann das darauf gegründete Wissen dem blossen Glauben entzögen und in eine höhere Sphäre versetzten, sondern es sind die den Thatsachen selbst mühsam abgerungenen objektiven Ursachen und Bedingungen, welche dem Glauben ebensogut die Ueberzeugung allmälich abnöthigen, die diese aber gern zugesteht, sobald sie ihm zuletzt in einer solchen Form entgegengebracht werden, dass das Denken sich völlig damit in Uebereinstimmung erklären kann. So beruht denn einerseits die Ueberzeugung auf der werdenden Gewissheit, als deren Wege wir die Vermuthung und Wahrscheinlichkeit erkannt haben, andrerseits schliesst sie die Gewissheit zur Wahrheit ab, und wirkt so ihrerseits auf deren Momente, die Meinung und das Vertrauen, zurück, indem sie die der werdenden Gewissheit immer noch anhaftende Ungewissheit beseitigt.

7. D i e A h n u n g . Die Ueberzeugung schliesst allerdings die werdende Gewissheit ab, indem sie eine bestimmte Klasse von Erscheinungen auf ihren Grund und ihre Bedingungen zurückführt und in dem daraus sich ergebenden Gesetz alle Fälle beherscht. Sie ist damit nicht mehr eine blosse Annäherung an die Wahrheit, sondern diese selbst ist vollständig erreicht und es hat den Anschein, als ob wir mit diesem Resultat unsere Aufgabe gelöst hätten. Gewissheit und Ueberzeugung ist das Höchste, was das Denken gegenüber dem Sein beanspruchen kann und in ihrer gegenseitigen Durchdringung muss wohl das Ziel zu suchen sein, welches das Wissen nach dieser Seite hin anstrebt. Aber mag auch diese Klasse der Erscheinungen damit hinlänglich erforscht sein, die Untersuchung fördert, j e mehr sie in die Dinge eindringt, immer neue Thatsachen ans Licht, welche wiederum der Erklärung harr e n , und die aufgefundenen Ursachen und Bedingungen haben selbst wieder ihre entfernteren Gründe und Bedingungen , aus denen sie gesetzmässig erfolgen. Auf diese Weise werden wir von Neuem in einen Process hineingeworfen, in welchem grade die schon gewonnene Wahrheit auf neue Probleme hinweist und das gesteigerte Wissen eine unermessliche Perspektive eröffnet auf das, was wir noch nicht wissen. Hier beginnt das unbegrenzte Gebiet der A h n u n g , welche einen neuen wichtigen Standpunkt des Glaubens bezeichnet, der,

I, 7. Diu Ahnuug.

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indem er g r a d e auf die innige Wechselwirkung zwischen G e wissheit und Ueberzeugung sich gründet, nicht etwa die gewonnenen Resultate wieder ungewiss macht, sondern auf Grund derselben das Gebiet des Wissens über die bisher unbekannten Grenzen erweitert. J e beschränkter unser Wissen ist, desto mehr können wir meinen zu wissen, indem die Schranken, die uns überall umgeben, nicht in unser Bewusstsein fallen, j e mehr dagegen unser Wissen fortschreitet, desto mehr hängt es durch unzählige Fäden mit noch unbekannten Gegenständen zusammen, von welchen wir früher keine Ahnung hatten, und von denen uns diese erst aufgeht durch die Gewissheit und Ueberzeugung von ihrem nothvveudigen Vorhandensein, indem d a s , w a s wir schon kennen, auf sie mit Sicherheit hinweist. D a s wahre Wissen macht demüthig und bescheiden, weil es uns in dem höchsten Masse das Bewusstsein aufdrängt, wie wenig wir bei aller unserer Erkenntniss noch wissen, j a wie recht eigentlich, j e mächtiger die Fortschritte des Wissens s i n d , dieses selbst abnimmt im Verhältniss zu dem, was uns in dem Ahnen an ungelösten Problemen aufsteigt; aber es ist auch weit entfernt von der Muthlosigkeit des Skepticismus, welcher um der immer wieder sich erneuernden Aufgaben willen an der Möglichkeit eines wahren Wissens Uberhaupt verzweifelt, indem mit der Gevvissheit und Ueberzeugung von der schon gewonnenen Wahrheit auch das Vertrauen zu der künftig zu gewinnenden wächst. Denn dieselbe Beziehung, welche uns ahnend auf die noch unbekannte Thatsache hinweist, gewährt uns auch den Angriffspunkt für ihre Erforschung, indem sie die Mittel an die Hand giebt, durch Verknüpfung derselben mit dem schon Bekannten d a s Unbekannte zu eliminiren. Die Ahnung ist daher keine nebelhafte Vorstellung, welche da, wo das Wissen aufhört, im Finstern tappt oder den leeren Kaum mit phantastischen Einbildungen erfüllt, sondern sie hat einen gewissen und sicheren Boden unter ihren Füssen, auf welchem sie fortschreitet, und die auf den bekannten Gesetzen beruhende Ueberzeuguug trägt ihr die Fackel voran, damit sie auf ihrem Wege die Richtung nicht verfehlt, die consequent verfolgt sie zum richtigen Ziele führen muss. Darum ist sie ein nicht zu verachtendes Werkzeug der Wissenschaft und ein unerlässlichcr Standpunkt, den j e d e s Wissen durchzumachen hat, um zur Wahrheit zu gelangen. Ihr eigentliches Objekt ist der Z u s a m -

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m e n h a n g aller Dinge, und je tiefer sie denselben in dem schon Bekannten erfasst, desto mehr cri'ffnet sieh auch vermöge dieser Verknüpfung aller Dinge die Aussicht von dem Bekannten auf das Unbekannte und bald steht die Brücke da, mittelst deren wir die Kluft überschreiten, die uns bisher von dem geheii missvollen Dunkel und den darin verborgenen Gestalten trennte. Der Weg, welchen die Ahnung geht, gründet sich auf den Oedanken, dass Thatsachen, welche denselben Gesetzen f