Schizophrene Erkrankungen: Prophylaxe, Diagnostik und Therapie [1 ed.] 9783896444271, 9783896734273

Dieses Buch richtet sich an Ärzte, Psychologen, Sozialpädagogen, Sozialarbeiter, Pflegemitarbeiter und Angehörige andere

138 18 2MB

German Pages 208 [209] Year 2007

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Schizophrene Erkrankungen: Prophylaxe, Diagnostik und Therapie [1 ed.]
 9783896444271, 9783896734273

Citation preview

Peter Hartwich Š Arnd Barocka (Hrsg.)

Schizophrene Erkrankungen Prophylaxe, Diagnostik und Therapie

Verlag Wissenschaft & Praxis

Peter Hartwich Š Arnd Barocka (Hrsg.)

Schizophrene Erkrankungen Prophylaxe, Diagnostik und Therapie

Mit Beiträgen von: A. Barocka, M. Grube, P. Hartwich, J. Klosterkötter, K. Maurer, F. Pfeffer, F. Poustka, D. Prvulovic, S. Ruhrmann, S. Schlegel, F. Schultze-Lutter, S. Völker, P. Wagner, G. Wiedemann

Verlag Wissenschaft & Praxis

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN-13 978-3-89673-427-3 ISBN-10 3-89673-427-X

© Verlag Wissenschaft & Praxis

Dr. Brauner GmbH 2007 D-75447 Sternenfels, Nußbaumweg 6 Tel. 07045/930093 Fax 07045/930094 [email protected], www.verlagwp.de

Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Wichtiger Hinweis − Produkthaftung: Der Verlag kann für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen keine Gewähr übernehmen. Da trotz sorgfältiger Bearbeitung menschliche Irrtümer und Druckfehler nie gänzlich auszuschließen sind, müssen alle Angaben zu Dosierungen und Applikationen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Printed in Germany

5

Vorwort Eine Medline-Umfrage mit dem ausschließlichen Stichwort „Schizophrenie“ erbrachte für 1995 eine Zahl von 1639 englischen Artikeln in medizinischen Zeitschriften, 2005 lag die Zahl bereits bei 2995. Diese in allen Fachrichtungen zu beobachtende Explosion medizinischen Wissens erfordert ein in bestimmten Abständen erfolgendes Innehalten und Sichten der Informationsflut und die selbstkritische Frage: Wo stehen wir heute? Das ist der Zweck dieses Buches. Es ist nicht für die Ewigkeit gedacht, sondern soll dem an der Problematik Interessierten die Gelegenheit geben, sich über die Fortschritte der Schizophrenieforschung in unserer jeweiligen Dekade anwendungsbezogen zu orientieren. Folgende Themenschwerpunkte schienen uns dabei besonders Erfolg versprechend: der gegenwärtige Stand der Früherkennung und die sich daraus ableitenden prophylaktischen und therapeutischen Konsequenzen; die Psychotherapien, insbesondere die psychodynamischen Behandlungsverfahren, daneben die neueren kognitiven Therapien von Wahn und Halluzinationen und schließlich die Fortschritte in der Pharmakotherapie, hier vor allem die atypischen Neuroleptika und Depotneuroleptika. Therapeutische Aspekte müssen natürlich auch in ein theoretisches Rahmenkonzept eingebunden sein. Dies geschieht einerseits in den betreffenden Kapiteln selbst – wie etwa in der Darstellung der Beziehung von Psychopathologie und Frühintervention oder der Beziehung von Psychodynamik und psychodynamischer Therapie. Darüber hinaus vermittelt ein Kapitel zu den neurobiologischen Grundlagen bei der Schizophrenie eine theoretische Einführung in ein Gebiet, dessen Dimensionen sich gerade erst zu erschließen beginnen. Wichtig in diesem Zusammenhang schien uns auch die Darstellung der Schizophrenie im Jugendalter, das ja weiterhin das Alter der typischen Erstmanifestation ist. Schließlich sind einige klinische Spezialfragen in diesem Band vertreten wie die postpartale Psychose und die unter Umständen dabei erforderliche gemeinsame stationäre Behandlung von Mutter und Kind, der Umgang mit schwierigen Verläufen und die Fallsupervision. Schizophrene Erkrankungen stellen weiterhin eine der großen Herausforderungen für die Psychiatrie dar. Sie sind eine schwere Last für Betroffene und Angehörige und verursachen erhebliche volkswirtschaftliche Schäden. Es ist

6

VORWORT

zu hoffen, dass die in diesem Band dargestellten Fortschritte dazu beitragen, diese Last zu erleichtern. Noch mehr hoffen wir, dass in einem ähnlichen Band, der vielleicht in zehn Jahren erscheint, diese Linie des Fortschritts weitergeführt werden kann. Peter Hartwich und Arnd Barocka

7

Inhalt AUTOREN ..................................................................................................... 9 JOACHIM KLOSTERKÖTTER, FRAUKE SCHULTZE-LUTTER, STEPHAN RUHRMANN Früherkennung und Frühbehandlung der Schizophrenie .......................... 11 PETER HARTWICH Psychodynamisch/somatopsychodynamisch orientierte Therapieverfahren bei Schizophrenen....................................................... 33 GEORG WIEDEMANN Kognitive Verhaltenstherapie bei Psychosen: Evidenz anhand bisheriger Studien ........................................................... 99 ARND BAROCKA Kognitive Therapie von Wahn und Stimmen........................................... 111 FRITZ POUSTKA Schizophrene Psychosen: Unterschiede im Jugendalter gegenüber dem Erwachsenenalter........................................................... 127 DAVID PRVULOVIC, KONRAD MAURER Neurobiologische Grundlagen der Prophylaxe, Diagnostik und Therapie schizophrener Psychosen .................................................. 137 FELIX PFEFFER Aktuelle Strategien der Psycho-Pharmakotherapie schizophrener Psychosen aus klinischer Sicht......................................... 151 PETER HARTWICH, SIEGFRIED VÖLKER Fallsupervision psychodynamischer Therapie bei schizophrener Psychose.................................................................... 175

8

INHALT

MICHAEL GRUBE Mutter-Kind-Behandlung bei postpartalen Psychosen.............................. 183 PETER WAGNER, SABINE SCHLEGEL Workshop: Kritische Diskussion schwieriger Therapieverläufe in der Gemeindepsychiatrie.................................................................... 201

9

Autoren Barocka, Arnd, Prof. Dr. med., Ärztlicher Direktor, Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie I, Klinik Hohe Mark, Friedländer Str. 2, 61440 Oberursel Grube, Michael, Dr. med., Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie-Psychosomatik, Städtische Kliniken, Gotenstr. 6-8, 65929 Frankfurt am Main-Höchst Hartwich, Peter, Prof. Dr. med., Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie-Psychosomatik, Städtische Kliniken, Gotenstr. 6-8, 65929 Frankfurt am Main-Höchst Klosterkötter, Joachim, Prof. Dr. med., Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität zu Köln, Kerpener Str. 62, 50924 Köln Maurer, Konrad, Prof. Dr. med., Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der J.W.-Goethe-Universität Frankfurt am Main, Heinrich-Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt am Main Pfeffer, Felix, Dr. med., Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie-Psychosomatik, Städtische Kliniken, Gotenstr. 6-8, 65929 Frankfurt am Main-Höchst Poustka, Fritz, Prof. Dr. med., Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Klinikum der J.W.Goethe-Universität Frankfurt am Main, Deutschordenstr. 50, 60590 Frankfurt am Main Prvulovic, David, Dr. med., Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der J.W.-Goethe-Universität Frankfurt am Main, Heinrich-Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt am Main Ruhrmann, Stephan, Dr. med., Oberarzt der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität zu Köln, Kerpener Str. 62, 50924 Köln Schlegel, Sabine, Prof. Dr. med., Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Markus-Krankenhaus, WilhelmEpstein-Str. 2, 60431 Frankfurt am Main

10

AUTOREN

Schultze-Lutter, Frauke, Dr. phil., Dipl.-Psychologin, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität zu Köln, Kerpener Str. 62, 50924 Köln Völker, Siegfried, Dr. med., Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalyse, Uhlandstr. 58, 60314 Frankfurt am Main Wagner, Peter, Dr. med., Oberarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Markus-Krankenhaus, Wilhelm-Epstein-Str. 2, 60431 Frankfurt am Main Wiedemann, Georg, Prof. Dr. med., Oberarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der J.W.-GoetheUniversität Frankfurt am Main, Heinrich-Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt am Main

11

JOACHIM KLOSTERKÖTTER, FRAUKE SCHULTZE-LUTTER, STEPHAN RUHRMANN

Früherkennung und Frühbehandlung der Schizophrenie Zielsetzung Früherkennung schizophrener Patienten Da ersten schizophrenen Episoden in der Mehrzahl der Fälle eine initiale Prodromalphase vorangeht (Häfner et al. 2002) und eine Vielzahl von Studien auf eine positive Korrelation der Dauer der unbehandelten Psychose (DUP) mit verschiedenen Indikatoren eines negativen Behandlungsergebnisses bzw. Krankheitsverlaufs hinweisen (Norman & Malla 2001), sind eine Früherkennung schizophrener Psychosen vor dem Auftreten des ersten psychotischen Symptoms und eine damit einhergehende Frühintervention gut begründete und aussichtsreiche Zielsetzungen. Mit diesen wird die Erwartung verknüpft, die für ungünstige Krankheitsverläufe verantwortlichen psychologischen, sozialen und biologischen Funktionseinbrüche (Pantelis et al. 2003) zu reduzieren und den Krankheitsverlauf möglicherweise durchgreifend zu verbessern. Vor allem in den 1990er-Jahren fanden sich in unterschiedlichen Arbeiten Zusammenhänge zwischen der Dauer der unbehandelten ersten Psychose und • einer verzögerten und unvollständigen Remission der Symptomatik (Birchwood & Macmillan 1993, Johnstone et al. 1986, Loebel et al. 1992, McGorry et al. 1996), • einer längeren stationären Behandlungsbedürftigkeit und einem höheren Rückfallrisiko (Helgason 1990), • einer geringeren Compliance, einer höheren Belastung der Familie und einem erhöhten Expressed Emotion-Niveau (Brown & Birtwistle 1998, Stirling et al. 1991, 1993), • einem erhöhten Komorbiditäts- und Suizidrisiko (Addington & Addington 1998, Addington et al. 1998, Hambrecht & Häfner 1996, Koreen et al. 1993, Strakowski et al. 1995),

12

KLOSTERKÖTTER Š SCHULTZE-LUTTER Š RUHRMANN

• einer größeren Belastung der Arbeits- und Ausbildungssituation und einem geringeren globalen Funktionsniveau (Bottlender et al. 2002, Johnstone et al. 1990, Larsen et al. 1996), • einem schwächeren supportiven sozialen Netzwerk (Larsen et al. 1998), • erhöhtem Substanzmissbrauch und delinquentem Verhalten (Humphreys et al. 1992), • möglichen zerebralen pathophysiologischen Veränderungen (Lieberman et al. 1990, Wyatt 1991) und • höheren Behandlungs- und Folgekosten (Genduso & Haley 1997, McGorry & Edwards, 1997, Williams & Dickson 1995). Allerdings ist die Studienlage zu diesen Ergebnissen nicht ganz eindeutig, und insbesondere neuere Studien konnten frühere Ergebnisse nicht oder nur teilweise replizieren (Craig et al. 2000, Haas et al. 1998, Ho et al. 2000, Robinson et al. 1999). Auch Studien, die den Zusammenhang von DUP und neuropsychologischen Defiziten bzw. Gehirnstrukturveränderungen untersuchten, konnten einen solchen nicht nachweisen (Hoff et al. 2000, Norman et al. 2001). Jedoch wurde vor kurzem eine prospektive Studie (Pantelis et al. 2001, 2003) veröffentlicht, in der im Bereich der grauen Substanz Veränderungen bereits in der Zeit vor der ersten psychotischen Episode nachgewiesen wurden. Eine weitere Reduktion der grauen Substanz fand sich zudem nach der psychotischen Erstepisode. Insgesamt scheint damit die bisherige Datenlage für die Notwendigkeit einer möglichst frühzeitigen Intervention zu sprechen (McGlashan & Johannessen 1996, Norman & Malla 2001). Erste Ergebnisse zu möglichen Ursachen einer langen DUP weisen dabei auf eine Beziehung mit mangelnder Krankheitseinsicht, sozialer Isolation und erhaltenen Bewältigungsstrategien hin, die dazu beitragen, etwaige Besorgnis über die psychische Verfassung bei dem Betroffenen und seinen Bezugspersonen zu reduzieren (Drake et al. 2000). Darüber hinaus stand eine längere DUP auch bedingt mit einem schwächeren sozialen Netzwerk, stärkerer Abhängigkeit von der Familie und einem kritischen Familienklima, mit sozialen und beruflichen Funktionseinbußen sowie mit einem schleichenden Beginn und einer längeren Prodromalphase in Zusammenhang (Bottlender et al. 2002, Kalla et al. 2002).

FRÜHERKENNUNG UND FRÜHBEHANDLUNG DER SCHIZOPHRENIE

13

Frühverlauf schizophrener Erkrankungen – Mannheimer ABC-Studie Der Verlauf schizophrener Erkrankungen wurde in einer groß angelegten repräsentativen multizentrischen Studie – der Mannheimer Age, Beginning, Course-Studie – untersucht (Häfner et al. 2002). Sie zeigte, dass zwischen dem Beginn der psychotischen Symptomatik, dem Zeitpunkt an dem die Diagnose gestellt werden kann, und der tatsächlichen Diagnosestellung, in der Regel mehr als ein Jahr vergeht, in dem die Patienten unbehandelt bleiben (s. Abb. 1). Die Studie machte außerdem deutlich, dass zusätzlich in etwa einem Drittel der Fälle mit schizophrener Erstmanifestation eine initiale Prodromalphase von durchschnittlich fünf Jahren nachweisbar ist, in der bereits erste unspezifische und negative Symptome auftreten, so dass die durchschnittliche Dauer der unbehandelten Erkrankung bei diesen Patienten bei etwa 6,3 Jahren liegt (s. Abb. 1).

Frühverlauf schizophrener Erstepisoden - Mannheimer ABC-Studie Alter

29,0

24,2

Zeitdauer

2 Monate

Psychotische Vorphase

Prodromalphase

30,1

30,3

1,1 Jahre

5,0 Jahre

Auftreten sozialer Defizite

erstes Anzeichen einer psychischen Störung (unspezifisches / negatives Symptom)

Maximum erstes der positives Symptom Positivsymptomatik (mod. nach Häfner et al., 1995)

Abbildung 1: Mannheimer ABC-Studie

positive Symptome negative und unspezifische Symptome

Ersthospitalisierung

14

KLOSTERKÖTTER Š SCHULTZE-LUTTER Š RUHRMANN

Hierbei fanden sich als häufigste erste Anzeichen der Störung in 14 bis 22% der Fälle Konzentrations- und subjektive Denkstörungen, Antriebsverlust und Verlangsamung, vermindertes Selbstvertrauen und vermehrtes Sich-Sorgen sowie erhöhte Ängstlichkeit, depressive Verstimmtheit und Unruhe im Sinne einer Veränderung gegenüber der prämorbiden Phase (Häfner et al. 2002). In der Frühphase des initialen Prodroms scheinen dabei nach der prospektiven Cologne Early Recognition-Studie (Klosterkötter et al. 2001) vor allem die selbst wahrgenommenen Informationsverarbeitungsstörungen (z.B. Gedankeninterferenzen, Gedankendrängen, Störung der rezeptiven und expressiven Sprache, Eigenbeziehungstendenz, visuelle und akustische Wahrnehmungsveränderungen), wie sie mit der Bonner Skala für die Beurteilung von Basissymptomen – BSABS (Gross et al. 1987) erfasst werden, eine gute Vorhersage zu erlauben. Erste soziale Defizite – insbesondere hinsichtlich eines Beschäftigungsverhältnisses, fester Partnerschaften und Führen eines eigenen Haushalts – waren in der ABC-Studie bereits etwa ein Jahr vor dem Auftreten des ersten psychotischen Symptoms in der Prodromalphase retrospektiv feststellbar (Häfner et al. 1995, s. Abb.1). Offensichtlich kommt es kurz vor der ersten psychotischen Phase zu einem erheblicher Einbruch der sozialen Leistungsfähigkeiten, der in den Anfangsjahren der Erkrankung dramatisch ist und dann im späteren Verlauf oft ein Plateau erreicht (an der Heiden & Häfner 2000). Aufgrund der vorhandenen, zumeist auch selbst wahrgenommenen Beschwerden und den frühen Einbußen in der sozialen und beruflichen Entwicklung besteht bereits während der oft langjährigen initialen Prodromalphase für die Patienten und ihre Familien eine deutliche Belastung. Diese führt zumindest bei einem Teil der Betroffenen dazu, dass bereits zu diesem Zeitpunkt (semi-)professionelle Hilfe gesucht wird (Addington et al. 2002), verdeutlicht zugleich die Notwendigkeit der zumindest Symptomorientierten Behandlung dieser Gruppe (Norman & Malla 2001) und eröffnet die Chance für eine frühzeitige Erkennung einer beginnenden Psychose anhand spezifischer Symptome.

FRÜHERKENNUNG UND FRÜHBEHANDLUNG DER SCHIZOPHRENIE

15

Früherkennung von beginnenden Psychosen Welches sind nun spezifische Merkmale mit prädiktiver Aussagekraft? Im alten DSM-III/-R (APA 1980, 1987) war bereits einmal der Versuch unternommen worden, Prodromalsymptome einer Schizophrenie zu definieren. Die Melbourner Arbeitsgruppe um Patrick D. McGorry führte hierzu zahlreiche Untersuchungen zur Reliabilität und Validität dieser neun Symptome durch (Jackson et al. 1994, 1995, 1996, McGorry et al. 1995), aus denen sie den Schluss zog, dass die Streichung der DSM-III-R-Prodromalkriterien bei der Erstellung des DSM-IV (APA 1994) berechtigt gewesen sei, da trotz bestehender Unklarheit über deren Validität die Erfassung zumindest bei Patienten mit schizophrener Erstmanifestation nur relativ unreliabel erfolgen könne. Aufgrund der unzweifelhaft bei den meisten schizophrenen Ersterkrankungen vorangehenden, lang andauernden Prodromalphase solle vielmehr statt der bisherigen beobachtbaren Prodromalsymptome nach einer alternativen Konzeptualisierung von Prodromen gesucht werden (Jackson et al. 1996). Die meisten der verschiedenen, auf diesem Gebiet tätigen Arbeitsgruppen gingen bis vor kurzem noch davon aus, dass Psychose-prädiktive Symptome erst im späteren Verlauf des Prodroms auftreten und bereits eine phänomenologische Ähnlichkeit mit psychotischen Symptomen aufweisen. In Übereinstimmung mit den von der Melbourner Gruppe definierten Kriterien (Phillips et al. 2000) werden heute attenuierte (abgeschwächte) psychotische Symptome (APS) und kurzzeitig vorhandene, spontan remittierende psychotische Symptome (brief limited intermittent psychotic symptoms, BLIPS) sowie Kombinationen aus Risikofaktoren, wie einer familiären Belastung oder einer schizotypen Persönlichkeitsstörung, und einem signifikanten Absinken des globalen Funktionsniveaus für die Definition eines initialen Prodroms herangezogen, wobei deren Operationalisierung aber vielfach variiert (Schultze-Lutter, in press). Transiente psychotische Symptome (BLIPS) Unter transiente psychotische Symptome fallen Wahnideen, Halluzinationen oder formale Denkstörungen, die nur vorübergehend und nicht länger als eine Woche vorhanden sind und spontan remittieren. Damit unterscheiden sie sich nicht phänomenologisch, sondern nur hinsichtlich ihrer Dauer von psychotischen Symptomen, die für die Diagnose einer manifesten Psychose herangezogen werden (Phillips et al. 2000).

16

KLOSTERKÖTTER Š SCHULTZE-LUTTER Š RUHRMANN

Attenuierte psychotische Symptome (APS) Abgeschwächte psychotische Symptome sind angelehnt an die revidierten DSM-IV-Kriterien einer schizotypischen Persönlichkeitsstörung und umfassen Beziehungsideen, eigentümliche Vorstellungen oder magisches Denken, ungewöhnliche Wahrnehmungserlebnisse, eine eigenartige Denk- und Sprechweise sowie paranoide Ideen. Damit ähnelt diese Symptomatik bereits den Symptomen der ersten psychotischen Episode und tritt am Ende der initialen Prodromalphase auf (s. Abb. 2). Dies bestätigen auch erste Ergebnisse prospektiver Studien mit einer durchschnittlichen Übergangsrate in eine Psychose von 36,7% innerhalb eines Jahres nach Studieneinschluss bei Personen, die weitgehend aufgrund von APS eingeschlossen wurden und an keiner speziellen antipsychotischen Intervention – atypische neuroleptische Medikation oder kognitive Psychotherapie – teilnahmen (Schultze-Lutter, 2004).

Psychoseentwicklung Früherkennung und -intervention

erste psychotische Episode Klimax

Beginn

initiale

psychotische

Prodromalphase

Vorphase

Zeit Risikofaktoren

Prodromalsymptome

uncharakteristische Prodromalsymptome ohne diagnostische Effizienz

charakteristische Prodromalsymptome mit diagnostischer Effizienz

Frühsymptome attenuierte psychotische Symptome

transiente psychotische Symptome

Abbildung 2: Psychoseentwicklung

charakteristische psychotische Symptome

FRÜHERKENNUNG UND FRÜHBEHANDLUNG DER SCHIZOPHRENIE

17

Frühe selbst wahrgenommene, spezifische Symptome Das Basissymptom-Konzept wurde in den 1960er-Jahren von Gerd Huber (Huber 1966, 1986) entwickelt. Es hat seinen Ursprung in der Beobachtung von Defizienzen, die schon Jahre oder Jahrzehnte vor der ersten akuten Episode sowie im Vorfeld schizophrener Rezidive als auch postpsychotisch und intrapsychotisch bei fluktuierender akut-psychotischer Symptomatik auftreten, von den Betroffenen selbst wahrgenommen und (retrospektiv) berichtet werden (Huber 1997, Huber, Gross & Schüttler 1979, Huber et al. 1980). Diese milden, meist subklinischen, aber nichtsdestotrotz häufig starken Beschwerdedruck verursachenden Selbstwahrnehmungen von Störungen des Antriebs, des Affekts, der Denk- und Sprachprozesse, der Wahrnehmung, der Propriozeption, der Motorik und zentral-vegetativer Funktionen wurden von Huber unter dem Terminus technicus Basissymptome beschrieben und in der prospektiven Cologne Early Recognition, CER-Studie auf ihre Vorhersagefähigkeit für schizophrene Psychosen untersucht (Klosterkötter et al. 2001). Dabei gelang es, 160 von 385 Patienten, die zum Zeitpunkt der Erstuntersuchung noch niemals psychotische Symptome gezeigt hatten und sich weder in ihrer Psychopathologie noch in ihren soziodemographischen Merkmalen von der Gesamtstichprobe unterschieden, im Durchschnitt 9,6 Jahre später auf die zwischenzeitliche Ausbildung einer Schizophrenie hin nach zu untersuchen. 79 Patienten (49,4%) hatten im Katamneseintervall nach einer durchschnittlichen Prodromalphase von 5,6 (±5,1) Jahren und durchschnittlich 1,9 (±2,5) Jahre nach der Erstuntersuchung eine schizophrene Erkrankung entwickelt, nur zwei von ihnen hatten bei der Erstuntersuchung kein Basissymptom berichtet. Insgesamt zeigten zehn Basissymptome aus dem Bereich der Informationsverarbeitungsstörungen eine für diagnostisch relevante Symptome als ausreichend anzusehende Häufigkeit (Andreasen & Flaum 1991) bei der Erstuntersuchung von mindestens 25%, Spezifitäten von 0,85 und höher, eine positive prädiktive Stärke von mindestens 0,70 und darüber hinaus falsch-positive Vorhersageraten von unter 7,5% (Klosterkötter et al. 2001). Basissymptome waren: Gedankeninterferenz, -perseveration, -drängen und -blockierung, Störung der rezeptiven Sprache, Störung der Diskriminierung von Vorstellungen und Wahrnehmungen bzw. Phantasieinhalten und Erinnerungen, Eigenbeziehungstendenz, Derealisation, optische und akustische Wahrnehmungsstörungen. Damit erscheinen auch diese sich phänomenologisch von psychotischen Symptomen gut unterscheidbaren und bereits früh auftretenden Symptome gut für eine Früherkennung schizophrener Psychosen bereits relativ zu Beginn des Prodroms geeignet (s. Abb. 2).

18

KLOSTERKÖTTER Š SCHULTZE-LUTTER Š RUHRMANN

Risikofaktoren und Funktionseinbußen Zur Erfassung einer Gruppe von Personen mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung einer manifesten Psychose aber ohne Ausbildung einer Psychose-ähnlichen Symptomatik wurde zudem eine Kombination von Vorliegen eines bekannten Risikofaktors und einer kürzlichen, deutlichen Verschlechterung in der psychischen Verfassung und dem globalen Funktionsniveau vorgeschlagen (Phillips et al. 2000). Dabei scheinen nach bisherigem Kenntnisstand insbesondere schizophrene Erkrankungen in der Familie, eine schizotypische Persönlichkeitsstörung, Geburtskomplikationen sowie neurobiologische Auffälligkeiten auf ein erhöhtes Erkrankungsrisiko hinzuweisen und werden als so genannte Vulnerabilitätsindikatoren angesehen (McGlashan & Johannessen 1996).

Frühintervention bei beginnenden Psychosen Nicht nur in der Früherkennung, sondern auch bei Studien zur Frühbehandlung sind die durch die Melbourner Arbeitsgruppe definierten Kriterien von APS, BLIPS und Kombination von Risikofaktor und Funktionseinbußen international bisher richtungweisend. Vor kurzem wurden die ersten kontrollierten Interventionsstudien mit diesen Einschlusskriterien zu atypischen Neuroleptika und/oder kognitivverhaltenstherapeutischer Intervention an der „Personal Assessment and Crisis Evaluation (PACE) Clinic“ in Melbourne (McGorry et al. 2002), der PRIME-Gruppe in Nordamerika (McGlashan et al. 2003, Woods et al. in press) und in Manchester, England, abgeschlossen (Morrison et al. 2002). Darüber hinaus wird in der New Yorker „Recognition and Prevention (RAP) Program and Clinic at Hillside Hospital” vorwiegend Olanzapin in einem offenen klinischen Behandlungsversuch unter weitgehender Berücksichtigung der Melbourner Kriterien erprobt. In der randomisierten kontrollierten PACE-Studie (McGorry et al. 2002) erhielten die Hochrisikopatienten eine spezifische kognitive Psychotherapie sowie Risperidon in kleinen bis mittleren Dosierungen (durchschnittlich 1,3 mg). Eine Kontrollgruppe erhielt dagegen ausschließlich eine supportive Psychotherapie in Form eines nicht-spezifischen Clinical Managements. Bei Bedarf waren auch je nach Symptomatik Antidepressiva und Benzodiazepine zugelassen. Die Patienten wurden zunächst für sechs Monate behandelt, dann wurde die Behandlung eingestellt und es erfolgte nur eine Betreuung

FRÜHERKENNUNG UND FRÜHBEHANDLUNG DER SCHIZOPHRENIE

19

über weitere sechs Monate. Die Ergebnisse sind in Tabelle 1 abgebildet. Dabei zeigte sich nach dem 6-monatigen Behandlungszeitraum zunächst ein deutlicher Unterschied zwischen der Experimentalgruppe und der Kontrollgruppe: Während von den 28 Individuen der Kontrollgruppe zehn eine psychotische Erstmanifestation ausbildeten, entwickelten in der spezifisch behandelten Gruppe nur drei von 31 Personen eine Psychose. Dieses viel versprechende Ergebnis wurde allerdings dadurch abgeschwächt, dass im weiteren Beobachtungsverlauf drei weitere Personen aus der Interventionsgruppe eine Psychose entwickelten. Eine detailliertere Analyse zeigte dennoch nach dem 12-Monats-Zeitraum einen klaren signifikanten Gruppenunterschied, wenn nur diejenigen Personen betrachtet werden, die in diesem 6-monatigen Behandlungszeitraum hinsichtlich der Medikation kompliant waren. Aus dieser Gruppe von 14 voll komplianten Personen erkrankte nur einer, während bei den weiteren fünf psychotisch gewordenen Personen der Interventionsgruppe keine oder nur eine partielle Medikamenteneinnahme erfolgt war (s. Tab. 1). Das Ergebnis der Veröffentlichung wird allerdings dadurch limitiert, dass eine Unterscheidung zwischen dem Effekt der medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlung kaum zu treffen ist. Zudem wurde die Kontrollgruppe sehr viel besser und intensiver betreut als es sonst in diesem Bereich üblich ist. Außerdem besteht guter Grund für die Annahme, dass eine Behandlung über einen längeren Zeitraum, bis ein bestimmter Risikozeitraum überschritten ist, durchaus sinnvoll sein könnte. Diese Einschränkungen der als erste Pilotstudie zu wertenden Untersuchung sollen jetzt in neueren Studien ausgeglichen werden. Auch die 8-wöchigen Zwischenergebnisse der multizentrischen PRIMEStudie (Woods et al. in press), einer doppel-blinden, Plazebo-kontrollierten Interventionsstudie mit variablen Dosierungen von Olanzapin zwischen 5 und 15 mg täglich zeigten bereits eine signifikante symptomatische Verbesserung der mit Olanzapin behandelten Gruppe im Vergleich zur Gruppe mit Placebo, wobei allerdings auch eine signifikant höhere Gewichtszunahme in der Medikamentengruppe zu verzeichnen war. Kein signifikanter Gruppenunterschied hinsichtlich der Übergangsraten in eine Psychose nach 12 Monaten fand sich bei einem Vergleich von Hochrisikopatienten, die eine kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlung oder eine Standardbehandlung erhielten (Morrison et al. 2002).

20

KLOSTERKÖTTER Š SCHULTZE-LUTTER Š RUHRMANN

Tabelle 1: Definition des psychosefernen Prodroms (early intial prodromal state, EIPS) und des psychosenahen Prodroms (late initial prodromal state, LIPS) Kriterien eines psychosefernen Prodroms (EIPS): I. Basissymptome: a. Mindestens eines der folgenden Symptome: - Gedankeninterferenz - Zwangähnliches Perseverieren bestimmter Bewusstseininhalte - Gedankendrängen, Gedankenjagen - Gedankenblockierung - Störung der rezeptiven Sprache - Störung der Diskriminierung von Vorstellungen und Wahrnehmungen, Phantasieinhalten und Erinnerungen - Eigenbeziehungstendenz (”Subjektzentrismus”) - Derealisation - Optische Wahrnehmungsstörungen - Akustische Wahrnehmungsstörungen b. Mehrfaches Auftreten über einen Zeitraum von mindestens einer Woche II. Psychischer Funktionsverlust und Risikofaktoren ('state-trait'): a. Reduktion des GAF-M-Scores (Global Assessment of Functioning gemäß DSM-IV) um mindestens 30 Punkte über mindestens einen Monat plus b. Mindestens ein erstgradiger Angehöriger mit Lebenszeitdiagnose einer Schizophrenie oder prä- und perinatale Komplikationen Kriterien eines psychosenahen Prodroms (LIPS): I. Attenuierte psychotische Symptome (APS): a. Mindestens eines der folgenden Symptome: - Beziehungsideen - Eigentümliche Vorstellungen oder magisches Denken - Ungewöhnliche Wahrnehmungserlebnisse - Eigenartige Denk- und Sprechweise - Paranoide Ideen b. Mehrfaches Auftreten über einen Zeitraum von mindestens einer Woche II. Brief Limited Intermittent Psychotic Symptoms (BLIPS): a. Mindestens eines der folgenden Symptome - Halluzinationen - Wahn - Formale Denkstörungen b. Dauer der BLIPS weniger als 7 Tage und nicht häufiger als 2 mal pro Woche in 1 Monat c. Spontane Remission

FRÜHERKENNUNG UND FRÜHBEHANDLUNG DER SCHIZOPHRENIE

21

Ein anderer Frühinterventionsansatz wird von Tsuang et al. (1999) basierend auf dem Schizotaxie-Konzept verfolgt und bei erstgradigen Verwandten schizophrener Patienten herangezogen, die bereits Negativsymptome aufweisen. Anhand von vier Fallbeispielen berichteten sie über einen günstigen Effekt von Risperidon (0,25-1/2 mg/die) auf Negativsymptome und neuropsychologische Defizite in dieser Gruppe mit erhöhtem Psychoserisiko (Tsuang et al. 1999).

Projektverbund „Früherkennung und Frühintervention“ des Kompetenznetzes Schizophrenie Im Jahre 2000 startete mit Fördermitteln des Bundesministeriums für Forschung und Technologie in Deutschland das groß angelegte „Kompetenznetz Schizophrenie“ (KNS, www.kompetenznetz-schizophrenie.de), das u.a. den Projektverbund „Früherkennung und Frühintervention“ und ein übergreifendes Projekt zur umfangreichen Öffentlichkeitsarbeit und Aufklärung, das so genannte Awareness-Projekt, beinhaltet (s. Abb. 3). Ziele des Awareness-Projekts im Rahmen des Projektverbunds I sind die Wissensvermittlung über Prodromalsymptome und weiteren Indikatoren für ein erhöhtes Psychoserisiko sowie über mögliche Unterstützung, Behandlung und Hilfsangebote, die Schulung insbesondere in der Primär- und psychiatrischen Versorgung tätigen Personen in der frühen Erkennung von Prodromalsymptomen und Risikofaktoren und die Schulung in der angemessenen Kommunikation mit Risikopersonen und deren Familien sowie der Vermittlung von individuellen Frühbehandlungsangeboten. Damit soll eine Verbesserung der Zuweisungswege für Risikopersonen, eine Erhöhung der Anzahl der Zuweisungen von Risikopersonen und eine Verkürzung der Dauer der unbehandelten Erkrankung bei den zugewiesenen Risikopersonen bewirkt werden.

22

KLOSTERKÖTTER Š SCHULTZE-LUTTER Š RUHRMANN

Projektverbund “Früherkennung und Frühintervention” Gesamtprogramm Start Awareness-Programm, Checklistenverteilung an Adressaten, Übermittlung Checklistenrisikopersonen an Früherkennungszentren

Beratung & Beobachtung

Anwendung Früherkennungsinventar in den Zentren, erwartete Rekrutierung von 1.250 Risikopersonen in psychosefernen Prodromen über zweieinhalb Jahre, Follow-up über zweieinhalb Jahre 1. Kontrollgruppe CM

Risikosteigerung?

Ja

Nein: Follow-up

Neurobiologie

Anwendung Früherkennungsinventar in den Zentren, erwartete Rekrutierung von ca. 650 Risikopersonen in psychosenahen Prodromen über drei Jahre, Follow-up über zwei Jahre

Psychosenahes Prodrom? (=Outcome 1)

Ende Awareness-Programm, Prä-/Post-Vergleiche hinsichtlich Zuweisung (Wege, Anzahl, Dauer)

1. Kontrollgruppe PT

Auftreten einer Psychose (=Outcome 2)

Ja 2. ME+PT

2. PT+CM

Neurobiologie

Nein: Follow-up

Neurobiologie

Neurobiologie

CM = Clinical Management; PT = Psychotherapie; ME = Medikation

Abbildung 3: Projektverbund „Früherkennung und Frühintervention“

Die Hauptziele in den KNS-Projekten zur Früherkennung und -intervention sind neben der Entwicklung eines evaluierten Instrumentes zur Abschätzung des individuellen Psychoserisikos die Entwicklung von Leitlinien zur präventiven Frühintervention bei Personen mit einem erhöhten Psychoserisiko sowie der Nachweis von potenziellen Vulnerabilitätsindikatoren und funktionellen Hirnabweichungen, die den Beginn einer schizophrenen Erkrankung anzeigen könnten. In Zusammenarbeit mit dem AwarenessProjekt werden hierbei Informationsmaterialien und eine als erstes grobes Vorscreening von der Mannheimer Arbeitsgruppe um Heinz Häfner entwickelte Checkliste an Schulen, Beratungsstellen, Hausarztpraxen und psychiatrische und psychotherapeutische Praxen versandt, um so Patienten mit Risikofaktoren zu identifizieren und diese in den Früherkennungszentren untersuchen, beraten und ggf. einem der beiden phasenspezifischen Therapieangebote zuführen zu können. Die Mannheimer Arbeitsgruppe erarbeitete auch das in der detaillierten Diagnostik zur Anwendung kommende Früherkennungsinstrument, das „Early Recognition Instrument based on the Instrument for the Retrospective Assessment of the Onset of Schizophrenia, ERIraos“.

23

FRÜHERKENNUNG UND FRÜHBEHANDLUNG DER SCHIZOPHRENIE

In Erweiterung der internationalen Forschung wird im KNS-Projektverbund zur Früherkennung und -intervention zwischen einem psychosenahen und einem psychosefernen Prodrom unterschieden (s. Abb. 2 und Tab. 2). Während sich die Definition des psychosenahen Prodroms über APS und BLIPS eng an die international gebräuchlichen Definitionskriterien der Melbourner PACE-Gruppe anlehnt, stützt sich die Definition des psychosefernen Prodroms auf die Ergebnisse der CER-Studie und umfasst zudem die auch in den Melbourner Kriterien enthaltene symptomatisch unspezifische Risikogruppe mit der Kombination von Risikofaktor und Funktionseinbußen (Tab. 2). Hierbei wurden im KNS die genetische Belastung und Geburts- und Schwangerschaftskomplikationen als Risikofaktoren definiert. Tabelle 2: Ergebnisse der Melbourner Pilotstudie mit Risperidon Nach 6-monatiger Behandlung Intervention

Anzahl

Übergänge in Psychosen

Nach 6-monatigem Follow-up (12-monatiger Studiendauer)

Signifikanz Anzahl Übergänge in Signifikanz Psychosen

Anzahl (%) NSI

28

10 (35,7%)

SI

31

3 (9,7%)

SI-NP

17

SI-F

14

Anzahl (%) 28

10 (35,7%)

31

6 (19,4%)

2 (11,8%)

17

5 (29,4%)

1 (7,1%)

14

1 (7,1%)

vs. NSI

vs. NSI

NSI: SI:

Nicht-spezifisches Klinisches Management, Antidepressiva und Benzodiazepine nach Bedarf Spezifische kognitive Psychotherapie und Risperidon (mittlere Dosis 1,3 mg), Antidepressiva und Benzodiazepine nach Bedarf SI-NP: Nicht oder nur partiell kompliant mit der neuroleptischen Medikation SI-F: Voll kompliant mit der neuroleptischen Medikation

Ergeben sich in der anfänglichen umfassenden diagnostischen Untersuchung keine Hinweise auf ein erhöhtes Psychoserisiko, erfolgt eine ausführliche Beratung. Ergeben sich jedoch bereits Hinweise auf ein psychosefernes Prodrom, so dass nach den bisherigen Studienergebnissen (Klosterkötter et al. 2001) damit zu rechnen ist, dass innerhalb von zwei bis drei Jahren eine psychotische Erstmanifestation auftritt, wird den Ratsuchenden die Teilnahme an einer Symptom-orientierten psychologischen Interventionsstudie angeboten. Hierbei wird eine 12-monatige multimodale psychologische Intervention bestehend aus Einzeltherapie mit Psychoedukation sowie Symptom- und Stressmanagement, Gruppentherapie mit Training sozialer

24

KLOSTERKÖTTER Š SCHULTZE-LUTTER Š RUHRMANN

Kompetenzen und von Problemlösefertigkeiten, kognitivem, Computergestütztem Training und Beratung der Familien und Bezugspersonen mit einem unspezifischen klinischen Management verglichen. Sind die Patienten bereits in einem psychosenahen Prodrom – berichten also bereits über APS/BLIPS, wird den Betroffenen angeboten, an einer pharmakologischen Interventionsstudie teilzunehmen. Hierbei wird eine alleinige supportive psychologische Intervention mit ihrer Kombination mit einer Pharmakotherapie mit dem niedrig dosierten atypischen Neuroleptika Amisulprid über zwei Jahre verglichen. Die supportive Intervention beinhaltet dabei stützende Gespräche mit Betroffenen und ggf. Angehörigen, psychoedukative Aspekte sowie psychologische Kriseninterventionen. Der Einsatz eines atypischen Neuroleptikums in dieser Hilfe suchenden Patientengruppe mit attenuierten und transienten psychotischen Symptomen scheint durch die vorliegenden Ergebnisse zu einer neuroleptischen Intervention der Melbourner PACE- und der PRIME-Gruppe gerechtfertigt. Darüber hinaus wird hiervon auch eine Einsparung von Kosten und von Neuroleptika im Langzeitverlauf erwartet. Hierzu wird mit der Dosierung auf einem sehr niedrigen Niveau unterhalb der klinisch üblichen Dosierung bei manifester schizophrener Psychose begonnen und entsprechend dem Symptomverlauf aufdosiert, wodurch ein flexibles Eingehen auf die Problematik über die Dosierung erfolgt. Dieses Vorgehen soll für den Patienten transparent sein und so zur Förderung seiner Medikamentenkomplianz beitragen. Damit sich diese Strategie langfristig bewähren kann, wird sie über einen langen Zeitraum günstige Effekte auf die Kognition, Depressivität, Negativsymptomatik, Affektsschwankungen usw. erzielen müssen.

Zwischenergebnisse der pharmakologischen Interventionsstudie Mittlerweile liegen erste Ergebnisse der pharmakologischen Interventionsstudie bei psychosenahen Prodromen vor. In die die ersten 12 Wochen umfassende Zwischenanalyse gingen die ersten 15 Patienten ein, die in die Behandlungsgruppe mit Amisulprid und supportivem Clinical Management eingeschlossen wurden. Hierbei handelte es sich um 11 Männer und 4 Frauen im Alter von durchschnittlich 25,1 (±4,9) Jahren. Ziel dieser Zwischenauswertung war eine Machbarkeitsprüfung des Studiendesigns sowie eine Prüfung der Tolerierung der Behandlung von Seiten der Patienten. Drei Patienten (20%) beendeten die Studienteilnahme während dieser ers-

FRÜHERKENNUNG UND FRÜHBEHANDLUNG DER SCHIZOPHRENIE

25

ten 12 Wochen: Zwei brachen den Kontakt nach acht Behandlungswochen ab, ein weiterer entschloss sich nach dreiwöchiger Behandlung zu einer Fortsetzung der medikamentösen Behandlung im stationären Rahmen in der Nähe seines Elternhauses, das für eine weitere Studienteilnahme zu weit entfernt lag. Damit zeigten sich das Studiendesign und der Behandlungsansatz insgesamt als machbar und tolerierbar.

80 APS Gesamtwert

70

p < 0,01

PANSS-P

60 50

PANSS-N

40

p < 0,05

PANSS-G

30 p < 0,01

20

MADRS

p < 0,05

10

p < 0,05

0

p < 0,01

Baseline

GAF 12 Wochen

Abbildung 4

Wie aus Abbildung 4 zu ersehen ist, sanken die Gesamtmittelwerte der attenuierten positiven Symptome (APS) sowie der PANSS-Subskalen „Positivskala“, „Negativskala“ und „Skala der Generellen Psychopathologie“ und das Ausmaß an Depressivität, gemessen an der MontgomeryAsberg-Depression-Rating-Scale (MADRS), signifikant im zwölfwöchigen Behandlungszeitraum ab, während das globale Funktionsniveau (GAF) signifikant zunahm. Dabei wurde für die drei ausgeschiedenen Patienten bei der Analyse der Daten die letzte Beobachtung in die zwölfte Woche fortgeschrieben. Die Amisulprid-Dosierung lag im Mittel bei 204 ± 136 mg und im Median bei 200 mg.

26

KLOSTERKÖTTER Š SCHULTZE-LUTTER Š RUHRMANN

Diese ersten Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Einsatz von atypischen Neuroleptika in dieser frühen Phase der Erkrankung viel versprechend zu sein scheint. Obwohl die Datenlage abschließend noch nicht zu beurteilen ist, stimmen die Zwischenauswertungen des Projektverbunds „Früherkennung und Frühintervention“ des Kompetenznetzes Schizophrenie und die vorliegenden Ergebnisse internationaler Studien jedoch optimistisch.

Ethische und rechtliche Fragen In der Öffentlichkeit und auch von vielen Angehörigen wird eine medikamentöse Behandlung von Personen mit Hinweisen auf das Vorliegen eines erhöhten Psychoserisikos im Vorfeld der Erkrankung oftmals sehr kritisch beurteilt. Es ist daher noch einmal zu betonen, dass es hierbei nicht um den Versuch einer Primärintervention geht, sondern um eine indizierte und selektive Sekundärprävention bei Personen, die von sich aus wegen psychischer Beschwerden Hilfe suchen. Die Ziele des KNS-Projektverbunds I zur Früherkennung und -intervention liegen daher in erster Linie in einer Verbesserung der aktuellen Symptomatik und einer Vermeidung sozialer Behinderungen, darüber hinaus aber auch in der Prävention oder zumindest Verzögerung und Abschwächung erster psychotischer Episoden. Dabei ist die Befähigung zum „informed consent“ Voraussetzung für den Einschluss in die Interventionsstudien. Nach den vorliegenden Studienergebnissen stellen die verwandten Einschlusskriterien zudem ein hohes Risiko und eine niedrige Rate ( 6), schwere Depression, die mit Hilfe des PANSS-Items G6 > 6 festgestellt wurde, eine noch vorhandene extrapyramidalmotorische Symptomatik von mindestens moderater Intensität, die durch eine antipsychotische Medikation verursacht wurde, ein Alter unter 18 oder über 55 Jahre, eine organische Störung, die mit dem zentralen Nervensystem interferiert (andere als Schizophrenie), ein Verbal-IQ < 80, die Diagnose eines Substanzmissbrauchs oder einer Substanzabhängigkeit gemäß DSM IV/SCID-I als primäres klinisches Problem einschließlich der Absicht, eine Behandlung des Substanzmissbrauchs bzw. -abhängigkeit einzuleiten sowie eine Reisezeit zum Studienzentrum von mehr als einer Stunde.

KOGNITIVE VERHALTENSTHERAPIE BEI PSYCHOSEN

107

Der erste Studienarm besteht in einer kognitiven Verhaltenstherapie mit Wissensvermittlung über Minussymptome und ihre Behandlung, individueller Problemanalyse, Durchführung gezielter Maßnahmen zur Aktivitätsänderung, zum Umgang mit Belastungen und zur Erkennung und zum Ausdruck von Gefühlen sowie einer Einladung der Angehörigen zu einer Angehörigengruppe. Der zweite Studienarm enthält eine kognitive Remediation. Diese beinhaltet ein Training zur Verbesserung der kognitiven Funktionen sowie Übungen und Gespräche mit dem Ziel, die Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen sowie das planende Handeln und Denken zu verbessern. Ein Teil dieses Trainings findet dabei am Computer statt. Die Leistungen in diesen Trainingsbereichen haben sich für die spätere Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz und im sozialen Leben in verschiedenen Untersuchungen als bedeutsam erwiesen. Pro Studienzentrum sollen 66 Patienten in die Studie eingeschlossen werden, so dass insgesamt 198 Patienten aufgenommen werden können. Beide Behandlungsmodalitäten bestehen aus 20 Sitzungen (á 50 Minuten) über 9 Monate. In den ersten 7 Behandlungswochen werden wöchentliche Sitzungen stattfinden, danach 14-täglich. Die Outcome-Kriterien werden monatlich für 12 Monate nach Studieneinschluss erhoben. Informationen über die Studie und die Therapieformen sind in Frankfurt erhältlich über Frau Dr. Dipl.-Psych. Jutta Herrlich, Ltd. Psychologin, Tel.: 069/ 6301 5841, Fax 069/ 6301 5936 (Sekretariat, Frau Schickedanz), E-Mail: [email protected], Herrn Dipl.-Psych. M. Ruch, Klinikum der J.-W.-Goethe-Universität Frankfurt am Main, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Abteilung Klinische Psychologie, Heinrich-Hoffmann-Straße 10, 60528 Frankfurt am Main, Telefon: 069-6301 5005, E-Mail: [email protected], Frau Dipl.-Psych. S. Kossow, Klinikum der J.-W.-Goethe-Universität Frankfurt am Main, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Abteilung Klinische Psychologie, Heinrich-Hoffmann-Straße 10, 60528 Frankfurt am Main, Tel.: 069/ 6301 6772, E-Mail: [email protected], und Herrn Prof. Dr. Georg Wiedemann, Ltd. Oberarzt, Klinikum der Johann Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt/Main, Zentrum der Psychiatrie und Psychotherapie, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Heinrich-Hoffmann Str. 10, 60528 Frankfurt am Main, Tel.: 069/ 6301

108

WIEDEMANN

5997 (Sekretariat, Frau Schickedanz), Fax 069/ 6301 5936 (Sekretariat, Frau Schickedanz), E-Mail: [email protected]. In den beiden Zentren in Tübingen und Düsseldorf sind die Ansprechpartner Herr Priv.-Doz. Dipl.-Psych. Dr. Stefan Klingberg in Tübingen, und Herr Priv.-Doz. Dipl.-Psych. Dr. Wolfgang Wölwer in Düsseldorf. Unabhängig vom Ausgang dieser neueren Untersuchungen kann jedoch für die kognitive Verhaltenstherapie bei psychotischen Erkrankungen zusammenfassend festgestellt werden, dass Meta-Analysen zeigen, dass kognitivverhaltenstherapeutische Interventionen positive Effekte auf eine Reihe von Zielkriterien haben. Daher können die Clinical practice recommendations von NICE am Schluss beispielhaft aufgeführt werden: • Kognitiv-verhaltenstherapeutische Therapie sollte als Behandlungsoption für Patienten mit schizophrener Symptomatik angeboten werden. • Kognitive Verhaltenstherapie sollte insbesondere für Menschen mit medikamentös behandlungsresistenter Schizophrenie, insbesondere bei persistierenden psychotischen Symptomen, angeboten werden. • Kognitive Verhaltenstherapie kann auch zur Verbesserung der Einsicht und zur Verbesserung der Therapiecompliance eingesetzt werden. • Längere Behandlungen mit kognitiver Verhaltenstherapie sind signifikant wirksamer als kürzere. Letztere können depressive Symptome verbessern, aber nur bedingt psychotische. Eine adäquate kognitive Verhaltenstherapie, die Verbesserungen in psychotischer Symptomatik bewirken soll, sollte mindestens 6 Monate über mindestens 10 Sitzungen durchgeführt werden.

KOGNITIVE VERHALTENSTHERAPIE BEI PSYCHOSEN

109

Literatur American Psychiatric Association (2004) Practice Guideline for the Treatment of Patients With Schizophrenia, Second Edition. American Journal of Psychiatry, 161 (Suppl.). Bach, P. and Hayes, S. C. (2002) The use of acceptance and commitment therapy to prevent the rehospitalization of psychotic patients: a randomized controlled trial. J.Consult.Clin.Psychol., 70, 1129-1139. Buchkremer, G., Klingberg, S., Holle, R., et al. (1997) Psychoeducational psychotherapy for schizophrenic patients and their key relatives or care-givers: results of a 2year follow-up. Acta Psychiatrica Scandinavica, 96, 483-491. Bustillo, J., Lauriello, J., Horan, W., et al. (2001) The psychosocial treatment of schizophrenia: an update. American Journal of Psychiatry, 158, 163-175 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie Psychotherapie und Nervenheilkunde (2006) Behandlungsleitlinie Schizophrenie, Redaktion: Gaebel W, Falkai P. Darmstadt: Steinkopff. Gumley, A., O'Grady, M., McNay, L., et al. (2003) Early intervention for relapse in schizophrenia: results of a 12-month randomized controlled trial of cognitive behavioural therapy. Psychological Medicine, 33, 419-431. Gumley, A., O'Grady, M., McNay, L., et al. (2003) Early intervention for relapse in schizophrenia: results of a 12-month randomized controlled trial of cognitive behavioural therapy. Psychological Medicine, 33, 419-431. Herz, M. I., Lamberti, S, Mintz, J., et al. (2000) A program for relapse prevention in schizophrenia. A controlled study. Archives of General Psychiatry, 57, 277-283. Hogarty, G. E., Kornblith, S. J., Greenwald, D., et al.(1997) Three-year trials of personal therapy among schizophrenic patients living with or independent of family, I: Description of study and effects on relapse rates. American Journal of Psychiatry, 154, 1504-1513. Jones, C., Cormac, I., Silveira da Mota Neto, J. I., et al.(2006) Cognitive behaviour therapy for schizophrenia. Cochrane.Database.Syst.Rev., CD000524. Kuipers E, Garety P, Fowler D, Dunn G, Bebbington P, Freeman D, Hadley C (1997) London-East Anglia randomised controlled trial of cognitive-behavioural therapy for psychosis .1. Effects of the treatment phase. Brit J Psychiat 171: 319-327. National Institute for Clinical Excellence (2006) Schizophrenia. Core interventions in the treatment and management of schizophrenia in primary and secondary care. London: National Institute for Clinical Excellence. Pharoah, F. M., Mari, J. J., Streiner, D. L. (2003) Family intervention for schizophrenia (Cochrane Review). Oxford: The Cochrane Library, Issue 1, Update Software.

110

WIEDEMANN

Pilling, S, Bebbington, P., Kuipers, E., et al. (2002a) Psychological treatments in schizophrenia: II. Meta-analysis of randomized controlled trials of social skills training and cognitive remediation. Psychological Medicine, 32, 783-791. Pilling, S, Bebbington, P., Kuipers, E., et al. (2002b) Psychological treatments in schizophrenia: I. Meta-analysis of family intervention and cognitive behaviour therapy. Psychological Medicine, 32, 763-782. Pitschel-Walz, G., Leucht, S., Bäuml, J., et al. (2001) The Effect of Family Interventions on Relapse and Rehospitalization in Schizophrenia – A Meta-Analysis. Schizophrenia Bulletin, 27, 73-92. Rector, N. A. and Beck, A. T. (2001) Cognitive behavioural therapy for schizophrenia: an empirical review. Journal of Nervous and Mental Disease, 189, 278-287. Sensky T, Turkington D, Kingdon D, Scott JL, Scott J, Siddle R, O'Carroll M, Barnes TR (2000) A randomized controlled trial of cognitive-behavioural therapy for persistent symptoms in schizophrenia resistant to medication. Arch Gen Psychiat 57: 165-172. Tarrier N, Wykes T (2004) Is there evidence that cognitive behaviour therapy is an effective treatment for schizophrenia? A cautious or cautionary tale? Behav Res Ther 42: 1377-1401. Tarrier N, Yusupoff L, Kinney C, McCarthy E, Gledhill A, Haddock G, Morris J (1998) Randomised controlled trial of intensive cognitive behaviour therapy for patients with chronic schizophrenia. Brit med J 317: 303-307. Turkington, D., Kingdon, D., and Turner, T. (2002) Effectiveness of a brief cognitivebehavioural therapy intervention in the treatment of schizophrenia. British Journal of Psychiatry, 180, 523-527. Zimmermann G, Favrod J, Trieu VH, Pomini V (2005) The effect of cognitive behavioural treatment on the positive symptoms of schizophrenia spectrum disorders: A meta-analysis. Schiz Res 77: 1-9.

111

ARND BAROCKA

Kognitive Therapie von Wahn und Stimmen Einleitung Eine Reihe von kontrollierten Studien hat in den vergangenen Jahren therapeutische Effekte einer kognitiven Therapie auf Wahnsymptomatik und auf die Symptomatik akustischer Halluzinationen (Stimmen) nachgewiesen (Wiedemann in diesem Band)). In diesem Beitrag geht es darum, die Planung einer derartigen Therapie, den Einsatz der Ziel führenden Interventionen und Instrumente sowie ihren Ablauf in einer für Therapeuten nachvollziehbaren Weise darzustellen, mit dem Ziel, dass diese Techniken bei der Behandlung von Psychose-Patienten eine weitere Verbreitung als bisher finden können. Entsprechend soll ohne weitere Vorreden sofort mit einer Falldarstellung begonnen werden.

Fallbeispiel 1 Mysteriöse Anrufe von Bankmitarbeitern Eine 58-jährige Patientin war von ihrem Nervenarzt und ihrer Familie mühsam zur stationären Behandlung überredet worden. Sie kam mit Angst und geringer Therapiemotivation, letztlich ihren Angehörigen zuliebe. Die Beschwerden bestanden seit etwa 4 Jahren und verursachten viel Leid in der Familie. Es handelte sich um eine Großfamilie: in einem Haus lebten die Patientin und ihr Mann, ihre erwachsene Tochter und deren Freund und ein erwachsener Sohn. Der Ehemann war, beruflich bedingt, oft auf Reisen. Während einer derartigen Abwesenheit ihres Ehemannes erhielt die Patientin nun vor vier Jahren den Anruf eines Mitarbeiters ihrer Bank. Dieser habe gesagt, es gäbe ein Sicherheitsproblem mit ihrer Bankkarte. Es sei nötig, die Geheimzahl zu ändern und er habe sie gebeten, ihm diese Geheimzahl mitzuteilen. Dies tat die Patientin vernünftigerweise nicht, war aber in der Folge doch sehr beunruhigt, fühlte sie sich doch als Opfer eines kriminellen Übergriffs. Nach Rückkehr des Ehemannes erkundigten sich beide bei der

112

BAROCKA

entsprechenden Bank, die weder von dem Anruf noch von dem Mitarbeiter etwas wusste. Dies verstärkte den Verdacht, es habe sich um eine kriminelle Aktion gehandelt. In der Folge fühlte die Patientin sich nicht mehr sicher in ihrem Haus, konnte schlecht schlafen und wurde unruhig. Wenn sie allein war, hörte sie immer häufiger Stimmen fremder Männer, die sich über sie unterhielten. Wie so etwas möglich war, konnte sich die Patientin zunächst nicht erklären. Schließlich entwickelte sie die Vorstellung, dass sie abgehört wurde. Die fremden Männer wussten nämlich immer jeweils, was sie kurz vorher gesagt hatte. Die Abhöranlage sei aber technisch insofern defekt gewesen, als sie nicht nur abgehört wurde, sondern auch ihrerseits die Gespräche ihrer Peiniger hören konnte, ohne dass diese etwas davon wussten. Diese wiederum waren sogar über ihre Gedanken informiert. Akustische Halluzinationen in Form von kommentierenden Stimmen waren also mit den Phänomenen der Gedankenausbreitung und des Verfolgungswahns verbunden. Nachts, wenn sie allein war, fürchtete die Patientin sich oft und hörte eigentümliche Geräusche im Haus. Die Bedeutung dieser Geräusche wurde ihr nach einer gewissen Zeit klar: offenbar schlich sich der Lebensgefährte ihrer Tochter aus dem Haus. Offensichtlich hatte er ein Verhältnis mit der Nachbarin. Diese Annahme wurde bestätigt durch das freche, unverschämte Verhalten sowohl des jungen Mannes als auch der Nachbarin ihr gegenüber. Beide blickten sie bei Begegnungen herausfordernd und machten schnippische, hintergründige Bemerkungen, deren Sinn sich leicht als provozierende Anspielungen auf dieses Verhältnis erklären ließ. Ihre Tochter wollte davon nichts hören und erklärte sie für verrückt. Die Patientin fühlte sich zunehmend einsam in ihrer Lage. Niemand glaubte ihr. Auch die Verfolgungen durch kriminelle Bankbetrüger nahm ihr niemand wirklich ab, so dass sie zunehmend verzweifelt und des Lebens überdrüssig wurde. Aus Sicht der Patientin war eine derartige Situation nicht durch Psychotherapie zu beheben. Die stationäre Aufnahme in der psychiatrischen Klinik erschien ihr als eine zusätzliche Kränkung, da sie die Annahme, sie sei „verrückt“ ja nur bestätigte. Einigkeit ließ sich aber schnell über ihre affektive Problematik herstellen. Die Patientin war depressiv, unruhig, verzweifelt, fühlte sich von der Familie allein gelassen und dachte an Suizid als möglichen Ausweg.

KOGNITIVE THERAPIE VON WAHN UND STIMMEN

113

Zur Psychotherapie Eine gewisse Entaktualisierung ist Voraussetzung für die Psychotherapie. Die Patientin war bei der Aufnahme besonnen und absprachefähig. Sie war in der Lage, sich in den Stationsablauf einer offenen psychiatrischen Station zu integrieren. Eine solche Entaktualisierung kann in vielen Fällen erst durch antipsychotische Medikation erreicht werden. In diesem Fall kam die Patientin unmediziert. Sie hatte, aus ihrer Sicht mit vernünftigen Gründen, eine antipsychotische Medikation abgelehnt. Zum Therapieverlauf Eine erste Überraschung bestand darin, dass die Patientin bezüglich ihrer Wahninhalte alles andere als verschlossen war. Im Gegenteil hatte man den Eindruck, dass sie sich seit langem verständnisvolle Zuhörer wünschte. Schließlich hatte sie sich auf ihrem Leidensweg sehr einsam gefühlt. Begrenzender Faktor für den Gesprächskontakt war deshalb nicht die Gesprächsbereitschaft der Patientin, sondern die zeitliche Kapazität des therapeutischen Teams. Die Patientin wollte länger und ausführlicher über ihre Probleme sprechen, als es seitens der Therapeuten möglich war. Eine Hürde musste allerdings unbedingt genommen werden, die sich in der Frage äußerte: „Glauben Sie mir überhaupt?“. Diese Frage bringt Therapeuten immer in eine schwierige Situation, da jede zunächst möglich scheinende Antwort sich auf den weiteren Therapieverlauf schädigend auswirken kann. Die Patientin mit der Unwahrscheinlichkeit ihrer Vorstellungen zu konfrontieren, würde die Beziehung belasten und den Eindruck, unverstanden zu sein, verstärken. Aber auch ein Eingehen auf die Wahninhalte ist nicht zu empfehlen, da es einerseits die Symptomatik verstärken und andererseits den Therapeuten in unauflösliche Widersprüche führen würde letztlich mit dem Endpunkt der folie à deux. In dieser Situation besteht die einzige Möglichkeit darin, sich nüchtern Rechenschaft über die Grenzen der eigenen Erkenntnismöglichkeiten abzulegen. Der Therapeut darf weder die auf Anmutungen und teilweise auch Denkfehlern basierenden Vorstellungen der Patienten ungeprüft übernehmen, noch aufgrund eines diagnostischen Etiketts („wahnhafte Störung, Psychose“) oder aufgrund des stationären Settings die Aussagen der Patientin von vornherein für unglaubwürdig halten. Die einzige Rettung in dieser zwischenmenschlich äußerst delikaten Situation ist eine unvoreingenommene, experimentelle, gewissermaßen naturwissenschaftliche Haltung des

114

BAROCKA

Therapeuten. Von vornherein sollte er nichts ausschließen, sondern durch geduldiges Fragen die Zusammenhänge darstellen und zwischen Fakten und Fiktionen differenzieren. Diese therapeutische Haltung ist typisch für die kognitive Verhaltenstherapie und sie bezieht auch die Patienten mit ein. Das Experiment ist ein gemeinsames Experiment. Die unvoreingenommene Haltung ist eine gemeinsame Haltung und Therapeut und Patient machen sich gemeinsam auf den Weg, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen.

Das kognitive ABC-Modell Um dies zu tun, ist es zunächst erforderlich, die Patienten über einige Grundtatsachen der Wahrnehmungspsychologie und kognitiven Psychologie aufzuklären. Diese Grundtatsachen werden nach Aaron Beck auch als ABC-Modell bezeichnet. A steht dabei für das auslösende Ereignis, das man sich als ein objektives auch von unbeteiligten Beobachtern zu bestätigendes Ereignis vorstellen muss. C sind die Konsequenzen (engl. consequences), die dieses Ereignis im Betroffenen auslöst. Die Konsequenzen können emotional, körperlich oder im Verhalten des Betroffenen vorkommen. Auslösendes Ereignis und Konsequenzen werden uns vom Patienten üblicherweise auch als prominente Eckpunkte des Gesamtgeschehens dargestellt. Dabei wird aber häufig ein wichtiger kognitiver Zwischenschritt vergessen, nämlich dass B, die Bedeutung (engl. belief), die das auslösende Ereignis im Wahrnehmungshorizont des Betroffenen annimmt. Belief bedeutet eigentlich „Glaube“, so dass nicht so sehr das Ereignis, sondern das, was ich in Bezug auf das Ereignis glaube, zu den Konsequenzen führt. Kognitionspsychologisch handelt es sich um innere Bilder, Gedanken, Annahmen, häufig basierend auf früheren Erfahrungen oder anderen Einflussfaktoren auf die aktuelle Deutung, die ich dem Geschehen gebe. Es leuchtet unmittelbar ein, dass ein derartiges „B“, d.h. Bedeutung und Glauben, sich entscheidend auf die innere Verarbeitung und die emotionalen und verhaltensmäßigen Konsequenzen beim Betroffenen auswirken. Gerade im Bereich der Wahnpsychopathologie lässt sich dieses ABC-Modell nun ausgezeichnet anwenden. A und B entsprechen nämlich genau der zweigliedrigen Struktur der Wahnwahrnehmung, wie sie bereits Kurt Schneider beschrieben hat, ohne den Konsequenzen auf der emotionalen und behavioralen Ebene besondere Bedeutung beizumessen; diese dürften ihm ohnehin als selbstverständlich gegeben erschienen sein.

KOGNITIVE THERAPIE VON WAHN UND STIMMEN

115

Im Folgenden sollen einige häufig vorkommende Wahninhalte, die formal dem Konzept der Wahnwahrnehmung entsprechen, als Beispiel dienen. Ein Auto hupt vor dem Haus (A). „Sie kommen, um mich umzubringen“ (B). Der Patient empfindet Furcht, er flüchtet aus der Wohnung (C). Auf der Krankenstation geht ein Arzt vorbei. Er geht aufrecht und hält den Kopf hoch (A). „Er zeigt mir, dass er etwas Besseres ist“ (B). Der Patient empfindet Scham, er zieht sich schweigend in sein Zimmer zurück (C). Der Vater einer Patientin veranlasst gegen ihren Willen die stationäre Aufnahme (A). „Das ist nicht mein Vater. Das ist ein Alien“ (B). Die Patientin empfindet Schrecken und Aggression (C). Im Fernsehen erzählt ein Schauspieler, dass er bald Vater eines Kindes wird (A). „Ich bin schwanger von ihm“ (B). Die Patientin empfindet Freude (C). Für die Therapie ist nun wichtig, dass es sehr leicht möglich ist, Einigkeit über die „As“ und die „Cs“, die auslösenden Situationen und die emotionalen und verhaltensmäßigen Konsequenzen herzustellen. Wenn es zu Uneinigkeit kommt, liegt dies meistens im Bereich der „Bs“, d.h. im Bereich des Glaubens und der Bedeutungszuschreibungen. Hier muss nun mit großer Vorsicht, sokratisch und ergebnisoffen von Seiten des Therapeuten argumentiert werden. Durch vorsichtiges Fragen und kognitive Techniken, die im Folgenden weiter beschrieben werden, kann man Mögliches und Unmögliches differenzieren. Die experimentelle Grundhaltung des Therapeuten wie des Patienten besagt: Wir schließen nichts aus. Wir fragen nach den Fakten.

Behandlung komplexer Syndrome Meistens wird es sich um komplexe Syndrome handeln, bei denen die Wahnsymptomatik mit comorbiden Ängsten und Depressionen einhergeht. Wie bei jeder anderen kognitiven Therapie wird man auch hier mit dem Aufbau einer förderlichen therapeutischen Beziehung beginnen. Dazu hilft es, die Symptome zu normalisieren und dann – wie immer – ein gemeinsames Störungsmodell zu formulieren. Hilfreich kann es auch sein, zunächst comorbide Angst- und Depressionssyndrome zu behandeln. Spezielle Techniken für Wahn und Halluzination, insbesondere, wenn es darum geht, diese in ihren Auswirkungen zu reduzieren und in ihrer Bedeutung für den Patienten zu erschüttern, wird man erst später anwenden. Empathie, Echtheit und andere Therapeutenvariablen, die Voraussetzung jeder Art von

116

BAROCKA

Psychotherapie sind, sind auch bei der Behandlung von Wahn und Halluzinationen erforderlich. Hinzu kommt als wünschenswertes Therapeutenmerkmal die Erfahrung mit psychotischem Erleben. Psychotisches Erleben kann bizarr und schockierend sein und bei der Mitwelt heftige emotionale Reaktionen auslösen. Psychopathologische Kenntnisse und Erfahrung mit genetischen und verlaufsdynamischen Aspekten psychotischen Erlebens sind deshalb erforderlich, um dem Therapeuten die notwendige Kaltblütigkeit und Bewegungsfreiheit in der psychotischen Welt zu sichern. Von besonderer Bedeutung ist weiterhin für den Therapeuten die Fähigkeit, sehr genau zu formulieren, d.h. – wie bei der Interpretation eines literarischen Textes – „genau am Text zu bleiben“, sich in jedem Detail an das zu halten, was vom Patienten wirklich gesagt wurde und auf undisziplinierte Interpretationen und Anmutungen zu verzichten, die sich anhand des Gesagten nicht beweisen lassen. Schließlich hat der Therapeut, wie schon eingangs erwähnt, sowohl die Konfrontation als auch die Kollusion mit dem „belief system“ des Patienten zu vermeiden. Stattdessen wird er eine respektvolle Haltung des „we agree to differ“ annehmen. Aus diesem Grunde wird zugunsten der therapeutischen Beziehung auch immer wieder ein „taktischer Rückzug“ von Seiten des Therapeuten notwendig sein. Der Therapeut versucht solche Aussagen zu identifizieren, über die sich Einigkeit herstellen lässt, und hält sich mit anderen Aussagen zurück. Das bedeutet, dass der Patient ein hohes Maß an Kontrolle über den Gesprächsverlauf behält. Notwendig ist es für den Therapeuten auch, zunächst einmal Unverständlichkeit zu ertragen. Er kann davon ausgehen, dass vieles, was zunächst unverständlich erscheint, mit besserer Kenntnis des Patienten, seiner Biografie und seiner aktuellen Lebensumstände verständlich werden wird. Hilfreich für die therapeutische Beziehung sind schließlich die üblichen Maßnahmen der Beziehungspflege wie Freundlichkeit, Annahme, Wertschätzung und Interesse für die Person des Patienten. Auch die initiale und im Verlauf der Behandlung mehrfach wiederholte Erklärung des kognitiven Modells (ABC) dient, zusammen mit positiven gemeinsamen Erfahrungen mit diesem Modell, zur Festigung der therapeutischen Beziehung. Symptome normalisieren Psychologisches Interesse an der psychotischen Welt kann unangenehme Folgen für die therapeutische Beziehung haben. Der Patient fühlt sich vielleicht als Forschungsobjekt behandelt, spürt von Seiten des Therapeuten

KOGNITIVE THERAPIE VON WAHN UND STIMMEN

117

eine unübersteigbare Fremdheit und ist möglicherweise beunruhigt über das Ausmaß seiner Abnormität. Als Gegenmaßnahme kann die Normalisierung psychopathologischer Phänomene für die Haltung des Therapeuten und für die Beziehung zwischen Therapeut und Patient förderlich sein. Daneben kann sie den Patienten selbst sehr entlasten. Unter Normalisierung versteht man den Nachweis, dass ein psychopathologischer Tatbestand auch in der gesunden Bevölkerung, der so genannten „Normalbevölkerung“ in nicht unerheblichem Maße vorhanden ist. Natürlich wird man dabei begrifflich nicht immer allzu streng vorgehen, doch gibt es ja in Tat immer wieder fließende Übergänge. So ist beispielsweise der Glaube an „übernatürliche Phänomene“ auch in der Normalbevölkerung weit verbreitet (Tabelle 1) wobei unter übernatürlichen Phänomenen ein Spektrum verstanden wird, das von der Telepathie bis zur Schwarzen Magie reicht. Darüber hinaus wirkt es normalisierend, wenn man sich bewusst macht, dass auch Personen, die nicht die Diagnose einer psychischen Krankheit erhalten, unter Stress zum Teil massive psychologische Reaktionen an den Tag legen. Wahninhalte in Frage stellen Das Infragestellen von Wahninhalten gilt in wichtigen psychopathologischen Schulen bis heute als verlorene Liebesmühe. Der Wahn ist hier ja geradezu definiert als ein gedanklicher Inhalt, der einer objektiven Argumentation nicht zugänglich ist. Diese Definition, die aus Epochen stammt, in denen schwere Krankheitsbilder mit massiver Kommunikationsstörung die Regel waren, kann Therapeuten und Patienten, die Erfahrung der gemeinsamen experimentellen Haltung verstellen. In der Tat ist es nämlich so, dass paranoide Patienten häufig ausgesprochen rational argumentieren. Es ist schon lange bekannt, dass gerade die Wahnarbeit, die Systematisierung der zunächst unverbundenen wahnhaften Anmutungen, sich sehr genau an logische Regeln hält, wenn auch die Prämissen dann außerhalb der objektiven Nachprüfbarkeit liegen. Jedenfalls sind paranoide Patienten auf einer Vernunftebene gut zu erreichen und in vielen Fällen froh, endlich einmal in ein Gespräch über ihre Erlebniswelt eintreten zu können. Einige Techniken, mit denen man Wahninhalte in Frage stellen kann, werden im Folgenden einzeln besprochen: Ausleuchten der Peripherie, Sokratischer Dialog, abgestufte Realitätstestung, Gedankenketten-Bilden und Kernannahmen hinter dem Wahn suchen.

118

BAROCKA

Ausleuchten der Peripherie Hier geht es um die Details des Wahns. Es ist erforderlich, sich nicht auf Andeutungen einzulassen. Vielmehr sollen die Einzelheiten genau, konkret und nachvollziehbar dargestellt werden. Der Therapeut will es ganz genau wissen: „Wie funktioniert so eine Abhöranlage?“. „Was kostet eine derartige Überwachung?“. „Wie viele Personen sind erforderlich, um die Überwachung durchzuführen?“ Allein durch diese Vergegenwärtigung der Einzelheiten wird in manchen Fällen bereits die Unmöglichkeit des Vorgestellten deutlich. Zumindest kann es sein, dass der Wahninhalt mit weniger Überzeugungskraft vorgetragen wird. Als Nebeneffekt entsteht ein besseres Verständnis für die Vorstellungen des Patienten. Sokratischer Dialog Der Sokratische Dialog ist keine manipulative Argumentationstechnik. Zu einer Korrektur von Annahmen kann er beim Gegenüber nur dann führen, wenn dessen ursprüngliche Annahme tatsächlich unzutreffend war. Im anderen Fall müsste die Annahme des anderen durch die sokratische Fragetechnik bestätigt werden. Diese geht nämlich zunächst einmal voraussetzungsfrei davon aus, dass die Annahmen des Gegenübers stimmen. In einem nächsten Schritt werden die logischen Konsequenzen aus dieser Annahme entwickelt. Ursprünglich falsche Annahmen können von diesen logischen Konsequenzen dann ad absurdum geführt. Dies gilt selbstverständlich nicht für ursprünglich richtige Annahmen. Entscheidend ist also für den sokratischen Dialog, dass die Annahmen des Anderen Ausgangspunkt gemeinsamer Überlegungen sind. „Wenn Ihre Annahme stimmt, welche Schlüsse ziehen Sie daraus?“. „Wenn Ihre Annahme sich als falsch herausstellt, wie würde Ihr Leben sich verändern?“ Abgestufte Realitätstestung Bei der abgestuften Realitätstestung versucht man gedankliche Inhalte der Patienten durch ein Verhaltensexperiment zu überprüfen. Eine Patientin fühlt sich von einem Mann verfolgt, der oft vor dem Haus steht. Die Patientin ist der Meinung, der Mann sei ein Detektiv, der sie überwacht. Er sei von ihrer früheren Firma, bei der sie vor einem halben Jahr gekündigt hat, geschickt worden. Die Patientin fühlt sich von dem Mann bedroht und auch in diffuser Weise sexuell belästigt. Eine mögliche Realitätstestung

KOGNITIVE THERAPIE VON WAHN UND STIMMEN

119

würde darin bestehen, dass die Patientin den Mann einmal anspricht und in einem Gespräch etwas mehr über ihn erfährt. Dazu sieht sie sich aber wegen ihrer großen Ängste nicht in der Lage. Das Experiment lässt sich aber durch Hinzuziehen einer Hilfsperson modifizieren: Eine Freundin, ein Praktikant der Klinik oder evt. der Therapeut selbst begleiten die Patientin und führen das Gespräch mit dem Mann. Auf diese Weise ist es möglich, seine Harmlosigkeit zu demonstrieren. Gedankenketten (Chaining) und Kernannahmen Die Bildung von Gedankenketten ist eine sehr schöne Möglichkeit, um Kernannahmen hinter dem Wahn zu erkennen. Sie ist durchaus mit der sokratischen Methode verwandt. Hierfür ein Beispiel aus dem Lehrbuch von Chadwick, Birchwood und Trower: F: Die Nachbarn spionieren bei Ihnen. Warum tun sie das? A: Sie wollen wissen, ob ich allein zuhause bin. F: Warum wollen sie das wissen? A: Sie wollen dann kommen und mich bestrafen. Sie hassen mich, weil sie denken, dass ich böse bin. F: Und was ist, wenn die Nachbarn sie wirklich für böse halten? A: Dann fühle ich mich furchtbar, dann würde ich mich hassen. F: Wenn die Nachbarn sie so einschätzen, hassen sie sich. Und wie würden sie sich denn selber einschätzen? A: Ich würde mich hassen. Sie haben dann Recht. Ich bin böse. Es folgt noch ein weiteres Beispiel aus Chadwick, Birchwood und Trower F: Wenn Sie Christus sind, was bedeutet das für Sie? A: Dass ich ganz allein bin. In diesem Fall haben die Gedankenketten nicht eine logische oder sachliche Unmöglichkeit zutage gebracht, sondern eine Kernannahme. Die Kernannahme ist so etwas wie ein Lebensmotto oder eine Kernaussage zur Lebenswelt des Patienten. Im ersten Fall lautet diese Aussage: „Ich bin böse“, im zweiten Fall: „Ich bin völlig allein“. Diese Aussagen erlauben sehr viel besser als die bizarren, konkretistischen oder kindlichen Aussagen der Wahnsymptomatik eine mitmenschliche Reaktion. Ein Mensch, der sich für böse oder einsam erklärt, ist uns deutlich näher als jemand, der sich von

120

BAROCKA

Nachbarn verfolgt fühlt oder für Christus hält. Es spricht auch einiges für die Vorstellung, dass die affektive Tönung der Kernannahme letztlich die Grundlage für die Wahndynamik darstellt. Aus diesem Grund ist der Einstieg in eine Diskussion über derartige Kernannahmen Beweis dafür, dass die Therapie in eine fruchtbare Phase eingetreten ist. Therapieverlauf, Fallbeispiel 1 (Fortsetzung) Wie ging es mit der Patientin weiter, die in ihrem Haus von Bankbetrügern und der sexuellen Untreue des Schwiegersohns gequält wurde? Insgesamt dauerte die stationäre Therapie fünf Wochen, in denen nur Teilziele einer Besserung erreicht werden konnten. Immerhin hatte sich die Patientin vorher noch nie auf eine intensive Therapie eingelassen, so dass wir diese fünf Wochen schon als einen gewissen Fortschritt sahen. Wir interpretierten ihre persönliche Situation vor dem Hintergrund einer „empty nest“-Problematik. Zwar lebte die Großfamilie noch in einem Haus, doch hatte die Patientin ihre zentrale Rolle als Mutter, die sich um alles kümmert, verloren. Der Ehemann war dienstlich bedingt häufig auf Reisen. Die erwachsenen Kinder gingen, auch im „Mehr-Generationen-Haus“, eigene Wege. Die daraus resultierende Einsamkeit entsprach genau dem Gefühl, das die Patientin als Folge ihrer kognitiven Einsamkeit (der Wahnsymptomatik) thematisierte. Immerhin war sie nach einer Woche stationärer Behandlung bereit, eine neuroleptische Therapie mit zunächst 4, später 3 mg Risperidon täglich zu akzeptieren. Ihre Depression war bei Entlassung deutlich gebessert. In Bezug auf den Wahn war sie durchaus bereit, die Inhalte in Frage zu stellen, war aber nicht eindeutig distanziert. Jedoch war sie bereit, ja sogar interessiert daran, weiterhin ambulante Therapie beim Nervenarzt in Anspruch zu nehmen.

Fallbeispiel 2: Stimmen beherrschen einen Menschen Eine 34-jährige Frau wurde wegen einer bereits seit etwa drei Monaten bestehenden schweren depressiven Symptomatik stationär aufgenommen. Hinzu kamen akustische Halluzinationen. Eine psychopharmakologische Therapie mit Antidepressiva und Neuroleptika und eine ambulante Psychotherapie hatten bisher keine Remission bewirkt. Die Patientin war verheiratet und hatte drei Kinder.

KOGNITIVE THERAPIE VON WAHN UND STIMMEN

121

Sie neigte zu Selbstverletzungen, wobei sie sich an rauen Hauswänden die Haut der Unterarme aufschürfte. Sie war ausgesprochen lebensmüde. Eine auswärtige Universitätsklinik hatte die Diagnose einer schizoaffektiven Psychose gestellt. Die Stimmen hatten sich seit Beginn im 12. Lebensjahr nicht verändert. Sie waren wieder erkennbare Personen mit eigenem Charakter, ähnlich den Personen eines Theaterstücks: ein Vernünftiger; ein Brutaler; ein schreiendes Kind; eine Frau, die das Kind schlagen will; eine Frau, die das Kind beschützt. Zur Psychotherapie Auch in dieser Therapie war es erforderlich, zunächst einmal die unspezifischen Erfordernisse jeder kognitiven Psychotherapie zu gewährleisten: Beziehungsaufbau, Entwicklung eines gemeinsamen Störungsmodells, antidepressive und Angst mindernde Interventionen. Diese wichtigen Elemente der Psychotherapie sollen hier aus didaktischen Gründen übersprungen werden. Wir wollen uns sofort dem zentralen Angriffspunkt bei der Behandlung von Stimmen zuwenden. Dieser zentrale Angriffspunkt sind, entsprechend dem kognitiven ABC-Modell, die „beliefs“, d.h. die Glaubensannahmen, die die Patientin hinsichtlich ihrer Bedeutung in sich aufrechterhielt. Von folgenden Aussagen über ihre Stimmen war die Patientin überzeugt: Es sind selbständige Wesen, die in ihrem Gehirn leben. Sie sind bösartig und werden sie eines Tages umbringen. Sie muss ihnen gehorchen. Sie sind allmächtig und allwissend. Es leuchtet unmittelbar ein, dass die Vorstellung, derartige Parasiten oder Dämonen im eigenen Gehirn zu haben, für jeden Menschen ebenso ängstigend wie deprimierend sein muss. Darüber hinaus war der sehr intelligenten Patientin ihre Diagnose bekannt. Sie hatte dementsprechend von sich das Selbstbild eines abnormen und gewissermaßen monströsen Wesens entwickelt, das sie zusätzlich deprimierte und in ihrem mitmenschlichen Kontakt behinderte. Beispielsweise hatte sie es nicht gewagt, ihrem Ehemann von der Symptomatik der akustischen Halluzinationen zu erzählen. Auch bei dieser Patientin brachte die Normalisierung der Halluzinationen (Tabelle 2) eine gewisse Entlastung. Die Patientin war teilweise erleichtert, hatte allerdings Zweifel, ob sie den Aussagen des Therapeuten vertrauen konnte bzw. ob dieser die Aussagen nicht nur zu ihrer Beruhigung machte. Es war also zusätzlich nötig, der Patientin Fotokopien von Lehrbüchern

122

BAROCKA

oder andere Literatur vorzulegen, die sie dann immer noch sehr zögernd akzeptierte. Auch akustische Halluzinationen (Stimmen) lassen sich nach dem kognitiven ABC-Modell analysieren. Die Stimme sagt: „Bring dich um!“ (A). „Die Stimme hat Macht. Ich muss ihr gehorchen“ (B). Die Patientin empfindet Angst, sie flieht aus dem Raum (C). Ähnlich wie bei der Wahnsymptomatik ist es also nicht das auslösende Ereignis (die Stimme), dessen Dignität in Frage steht, ebenso wenig wie die emotionalen und verhaltensmäßigen Konsequenzen. Der Ansatz des therapeutischen Veränderungsprozesses ist auch hier im Bereich des „belief“ zu sehen. Sind die Stimmen allmächtig? Patientin: Die Stimmen fordern mich zum Selbstmord auf. Therapeut: Haben Sie ihnen denn gehorcht? Patientin: Nein, bisher nicht. Aber es hat mich sehr angestrengt, Widerstand zu leisten. Und irgendwann werde ich nachgeben müssen. Das ist nur eine Frage der Zeit. Therapeut: Seit wann hören Sie die Stimmen? Patientin: Seit 22 Jahren. Therapeut: Und seit 22 Jahren schaffen die Stimmen es nicht, Sie zum Selbstmord zu bringen. So mächtig sind sie also gar nicht. Kontrolle über die Stimmen erlangen Ein wichtiges Erfolgserlebnis für den Patienten und damit ein therapeutischer Fortschritt entsteht dann, wenn er sich den Stimmen nicht mehr unkontrolliert ausgeliefert fühlt. In vielen Fällen denken die Patienten, die Stimmen hätten Macht über sie und könnten mit ihnen tun, was sie wollten. Umgekehrt sind die Patienten davon überzeugt, dass sie selbst auf die Stimmen keinerlei Einfluss haben. Dies entspricht aber nicht der Realität. Bekannt ist zum Beispiel das Phänomen der Interferenz: Während eines Gesprächs mit anderen Personen werden die Stimmen unterdrückt, d.h. sie werden leiser oder verschwinden. Umgekehrt gibt es so genannte „Reflexhalluzinationen“. Dies bedeutet, dass bestimmte Geräusche, wie das Rau-

KOGNITIVE THERAPIE VON WAHN UND STIMMEN

123

schen eines Wasserhahns, Stimmen induzieren oder verstärken. Durch Abstellen des Wasserhahnes lässt sich diese Induktion wieder aufheben. Folgendes Gedankenexperiment hilft Patienten, Kontrolle über ihre Stimmen zu erhalten: Ich stelle mir ein Radio vor. Ich sehe dieses Radio deutlich vor meinen Augen. Ich sehe mir den Lautstärkeregler an. Nun drehe ich den Lautstärkeregler zunächst nach oben. Die Stimmen werden lauter. Als nächstes drehe ich den Lautstärkeregler nach unten. Jetzt werden die Stimmen leiser. Bei einigen Patienten kann ich die Lautstärke der Stimmen gegenüber dem Ausgangswert noch verringern, ja die Stimmen sogar abschalten. Aber selbst wenn die Patienten die Stimmen nur lauter und bis zum Ausgangswert wieder zurückstellen können, erleben sie, dass sie Kontrolle über die Stimmen haben. Stimmen in die Therapie einbeziehen Es ist möglich, Stimmen direkt anzusprechen, damit in die Therapie einzubeziehen und einen Beitrag zur Integration der Stimmen in die Persönlichkeit des Patienten zu leisten. Bei einer Visite musste der Patientin die Bitte nach einer Wochenendbeurlaubung aus organisatorischen Gründen abgeschlagen werden. Sie wirkte emotional unbeteiligt. Auf die Frage, ob sie diese Entscheidung akzeptieren könne, antwortete sie: Ja, selbstverständlich. Aber auf die Frage, was in diesem Moment ihre Stimmen sagten, antwortete sie, dass die Stimmen empört seien, schimpften und sich über die Ungerechtigkeit beschwerten. Der Gedanke, dass die Stimmen wichtige emotionale Inhalte zum Ausdruck brächten, die ansonsten in der Kommunikation der Patientin keinen Platz finden, veränderte – allerdings über einen längeren Zeitraum – die Selbstwahrnehmung der Patientin. Sind die Stimmen allwissend? Die folgende Intervention stammt aus einem späteren Therapieabschnitt: Therapeut: Sie meinen, die Stimmen sind allwissend? Patientin: Ja. Therapeut: Fragen Sie sie bitte, wie die Hauptstadt von Sierra Leone heißt. Patientin: Sie wissen es nicht (lacht), weil ich es auch nicht weiß.

124

BAROCKA

Therapieverlauf Die Patientin war bei der stationären Aufnahme in unserer Klinik bereits drei Monate schwer depressiv gewesen. Die stationäre Therapie bei uns dauerte dann auch über fünf Monate. Zwischenzeitlich musste sie auf der beschützten Aufnahmestation untergebracht werden, weil Selbstverletzungs- und Suizidimpulse sehr stark waren. Die medikamentöse Therapie mit Neuroleptika, SSRI und Venlafaxin war wirkungslos. Unter Lithium und Tranylcypromin kam es zu einem deutlichen Ansprechen der depressiven Symptomatik. Insbesondere die depressive Stimmung bildete sich vollständig zurück, während Antriebsmangel und geringe Spontaneität bei der Entlassung noch vorhanden waren. Bemerkenswerterweise kam es aber in den letzten vier Wochen des stationären Aufenthaltes auch zu einer vollständigen Remission der Stimmen. Da diese die Patientin 22 Jahre gequält hatten, betrachtete auch sie selbst dieses Ergebnis als sehr positiv.

Schlussbemerkung Die beiden hier dargestellten Fallgeschichten können natürlich nicht die gesamte Vielfalt der kognitiven Therapie psychotischer Symptome (Wahn und Stimmen) abbilden. Ergänzende Informationen kann man in guten Lehrbüchern finden. Es ging eher darum, anhand von Beispielen aus der Praxis zu zeigen, dass kognitive Therapie bei diesen Symptomen durchaus funktionieren kann. Psychopathologische Kenntnisse seitens des Therapeuten sollten nicht dazu führen, dass er die distanzierte Haltung eines Ethnologen einnimmt, der in exotischen Regionen bizarre Sonderentwicklungen des Menschseins beobachtet. Im Gegenteil kann uns die Psychopathologie dazu verhelfen, eine Haltung des „nihil humanum me alienum puto“ (nichts Menschliches ist mir fremd) einzunehmen. Durch Kenntnisse der kognitiven Psychologie ergänzt, können auf diese Weise durchaus befriedigende therapeutische Beziehungen und natürlich auch therapeutische Ergebnisse die Folge sein. Der vorliegende Beitrag will hierzu ermutigen.

125

KOGNITIVE THERAPIE VON WAHN UND STIMMEN

Tabelle 1: Glaube an übernatürliche Phänomene in der Normalbevölkerung (Gallup, U.S.A. 1989)

• • • • •

Schwarze Magie Teufel Horoskope Geister Telepathie

10% 21% 23% >25% >50%

2005 Klinik Hohe Mark, Oberursel und Frankfurt am Main

18

Tabelle 2: Halluzinationen treten in der „Normalbevölkerung“ auf bei (n. Kingdon und Turkington 2005):

• • • • • •

Schlafentzug Sensorischer Deprivation Fieber Tod eines Angehörigen Religiöser Trance Im Halbschlaf 2005 Klinik Hohe Mark, Oberursel und Frankfurt am Main

31

126

BAROCKA

Literatur Blankenburg W (Hrsg.): Wahn und Perspektivität. Ferdinand Enke Verlag Stuttgart 1991 Chadwick P, Birchwood M, Trower P. Cognitive Therapy for Delusions and Voices. John Wiley & Sons, Chichester etc. 1996 Frith CD: The cognitive neuropsychology of schizophrenia. Erlbaum (UK), Taylor & Francis; Hove 1992 Kingdon DG, Turkington D: Cognitive Therapy of Schizophrenia. The Guilford Press, New York, London 2005 Krausz M, Naber D (Hrsg.): Integrative Schizophrenietherapie. Karger, Basel etc. 2000 Wykes T, Tarrier N, Lewis S (Eds.): Outcome and Innovation in Psychological Treatment of Schizophrenia. John Wiley & Sons, Chichester etc. 1998

127

FRITZ POUSTKA

Schizophrene Psychosen: Unterschiede im Jugendalter gegenüber dem Erwachsenenalter Schizophrene Psychosen kommen vor dem 10. Lebensjahr extrem selten vor. Ein Beginn mit der adoleszenten Entwicklung ist allerdings nicht selten. Bei einer Wahrscheinlichkeit, dass 41% aller Psychosen als Schizophrene diagnostiziert werden, liegt nach Gillberg et al. 1986, die Häufigkeit einer schizophrenen Psychose im Alter von 13 Lebensjahren bei 0,9/10.000, im Alter von 18 Lebensjahren bei 17,6/10.000. Die meisten Studien geben ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis an. Zwischen dem 15.-20. Lebensjahr beginnen etwa 15% aller schizophrenen Psychosen; diese Daten stützen sich aber meist auf retrospektive Erhebungen (Angst, 1988). Die psychopathologischen Erscheinungsformen unterscheiden sich dabei nicht grundsätzlich in Bezug auf die verschiedenen Lebensalter und zeigen eine Kontinuität bei Beginn in der Kindheit/Adoleszenz mit der Erscheinungsform im Erwachsenenalter

Besonderheiten bei frühem Beginn Ein früher Beginn zeigt aber einen höheren Schwerrgrad und höhere genetische Wahrscheinlichkeit (Hollis, 1994) und die Prognose ist deutlich schlechter als im Erwachsenenalter. Dies bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit eines schwierigeren Verlaufes und einer Verschlechterung der Prognose geringer abhängig ist von der Psychopathologie selbst, sondern eher von der Beeinträchtigung vor und während des Verlaufs wegen der Störung der psychosozialen Entwicklung (Häfner und Nowotny, 1995, Schmidt und Blanz, 1995) mit Behinderung Freundschaften und später Partnerschaften eingehen zu können und ferner gleichzeitig in der schulischen wie auch beruflichen Ausbildung ein bedeutsames Handicap zu erleiden. Hollis (2000) und andere berichten deshalb auch von einer hohen Rate von Wiederaufnahmen (relativ unabhängig von der Psychopathologie, obwohl altersabhängig hebephrene Verläufe am häufigsten in der Adoleszenz beginnen (paranoide hingegen im Erwachsenenalter). Je früher der Beginn der Psychose auftritt, desto desorganisierter

128

POUSTKA

sind die kognitiven Strukturen, desto mehr negative Symptome treten auf und ein paranoider Wahn kommt seltener vor und ist weniger systematisiert. Da Defizitsymptome der Erkrankung oft lange voraus gehen (etwa ¾ der Jugendlichen zeigen diese bis zu 4 Jahre vor Ausbruch der produktiven Symptomatik) (Häfner und Nowotny, 1995), werden Jugendliche in Ihrer Entwicklung während einer bedeutsamen Zeit zu Erwachsenen in ihrer sozialen und kognitiven Anforderungen Entwicklung nachhaltig beeinträchtigt. Diese Defizite mit Konzentrationsstörung, Abstumpfung des Affekts, Isolation, depressiver und ängstlicher Verstimmung, argwöhnischer Haltung u. a. sind für die Prognose wesentlich und besonders schwierig zu behandeln. Die Prodromi sind durch ungewöhnliche Gedanken, exzentrisches Verhalten, wechselnden Affekt, bizarre Wahrnehmungen gekennzeichnet (Häfner & Nowotny, 1995); sog. „Partielle Symptome“ mit multidimensionaler Beeinträchtigung (Jacobson & Rapoport, 1995) treten bei einer Reihe von Jugendlichen auf und können nicht sicher bewertet werden, ihre Bedeutung bei stärkerer familiärer Belastung ist unklar. Dabei tragen negative Symptome am meisten zur aufgeklärten Symptomvarianz bei. Sie assoziieren höher mit schizophrenen als mit affektiven Psychosen und im Gegensatz zu positiven kommt den negativen Symptomen eine höhere Spezifität zu (Hollis, 1994). Negative Symptome und kognitive Defizite haben offenbar eine fundamentale Bedeutung i. S. Bleulers

Neuere Untersuchungen zum Verlauf von schizophrenen Psychosen im jungen Alter Die folgenden Untersuchungen aus den Jahren 2000-2005 belegen in etwas unterschiedlicher Weise eine generell schlechtere Prognose bei frühem Beginn. In der Mannheimer Nachuntersuchung von Schmidt MH, Blanz B, Dippe A, Koppe T, Lay B. 2000 wurde eine Kohorte von 118 schizophrenen Patienten, Alter: 11-17 Jahre (Mittel 16), 7.2 Jahre nach Beginn der 1. Behandlung nachuntersucht: • 16.5% waren selbständig • 17.5% lebten von eigenem Arbeitseinkommen • 44% zeigten eine Behinderung der Arbeitsfähigkeit • 51.6% waren finanziell von Eltern, 31% von öffentlicher Hand abhängig.

SCHIZOPRHENE PSYCHOSEN: UNTERSCHIEDE JUGENDALTER – ERWACHSENENALTER

129

Die Funktionseinschränkung korreliert negativ mit der sozialen Kompetenz, dem Grad der positiven und negativen Symptome bei Entlassung aus der ersten Behandlungsepisode und der Anzahl der Krankheitsepisoden während des Beobachtungszeitraums. Nach einer schwedischen 10-Jahres Katamnese (Jarbin H, Ott Y, Von Knorring AL. 2003) über 81 Patienten mit einem Altersbereich von 5-18 Jahren zeigen sich folgende Ergebnisse: • Beginn der Erkrankung im Mittel mit 15.6 Jahre (Bereich: 11.8-17.7) • Pat mit Schizophrenie oder schizoaffektiver Psychose: • 8.9% lebten und waren finanziell unabhängig (bei affektiven Psychosen: 16.5%) • 75% zeigten einen schlechten oder sehr schlechten Verlauf (26%) • 48% arbeitslos (10%) • 42% ohne soziale Kontakte (7%) • 85% waren berentet (35%) Zudem war die schlechte Prognose mit einer positiven familiären Belastung mit einer non-affektiven Psychose assoziiert. In einer weiteren deutschen Untersuchung von Fleischhaker C, Schulz E, Tepper K, Martin M., Hennighausen K und Remschmidt H. (2005) wurden 101 Patienten nach einem mittleren Katamnesenzeitraum von 26 Jahre nachuntersucht. Die Patienten waren zum Zeitpunkt der ersten Hospitalisierung im Mittel 16.5 Jahre alt. • Anzahl der Hospitalisierungen im Schnitt: 4 • Negativsymptomatik zeigte sich in 32.8% der Nachuntersuchten als schwerwiegend, in 34.9% als mild bzw. in 32% als minimal • 39% hatten zudem schwere oder moderate depressive Symptome • 29.5% hatten keinen Schulabschluss (3% im Vergleich zur Normalbevölkerung dieses Alters) • 60.0% Schulabschluss mit Schuljahrgang 9/10 (69%) • 10.5% Gymnasium (28%) • 65% hatten eine Entwicklungsverzögerung oder -retardierung; 63% internalisierende Symptome, 29% externalisierende. Die besten Prädiktoren für einen schwerwiegenden Verlauf war das Ausmaß der prämorbiden Entwicklungsverzögerung (Ausmaß der prämorbiden Introvertiertheit und Zurückgezogenheit)

130

POUSTKA

28.7% hatten Arbeit (nicht beschützt) 14.9% arbeiteten an einer beschützten Arbeitsstelle 37.9% arbeiteten in einer rehabilitativen Institution 18.4% waren ohne Arbeit 84.2% hatten keinen Partner (14.2% mit Partner davon 5.7% verheiratet) • 6% verübten Suizid Insgesamt bedeutet dies nach dieser Studie, dass 42% mit gravierenden Problemen der funktionellen Adaptation an das tägliche Leben zu kämpfen hatten, 38.3% mit erheblichen Problemen und nur 19.8% gut angepasst waren. In fast allen Vergleichen zeigten die männlichen Nachuntersuchten größere Probleme als die weiblichen Probanden. • • • • •

Die Gruppe in Essen (Röpcke & Eggers 2005) untersuchte 55 Patienten (47 aufgefunden, 39 untersuchbar) mit Beginn der Erkrankung im 16. Lj. (SD 1.5) und einer Nachuntersuchungszeit von 15.4 Jahre (Bereich: 10-21 Jahre): • 85% davon waren mindestens einmal wieder hospitalisiert Nach der Beurteilung der Psychopathologie zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung waren • 8% vollremittiert (GSI =/< 2), 56% hatten moderate Symptome (GSI 3-5) und 36% schwerwiegende (GSI 6-8). • Die sozialen Funktionen waren in 51% schwer oder sehr schwer (GAS < 51); (12% prämorbid) beeinträchtigt • 23% hatten eine Berufsausbildung mit Abschluss; 69% waren ohne jede Berufsausbildung; 2 Patienten standen im Studium; 1 Pat. war als ungelernter Arbeiter beschäftigt • 20% waren regelmäßig beschäftigt: 36% in einer Werkstätte, 5% in klinischer Rehabilitation und 31% ohne jede Arbeit • Nach finanzieller und sozialer Situation zeigte sich folgendes Bild: 69% bezogen eine soziale Unterstützung, 23% hatten ein reguläres Einkommen (davon waren 3 berentet und 3 Männer von 6 und 4 Frauen von 6 waren verheiratet und lebten im Haushalt), 69% lebten alleine ohne Partner. 12 Patienten (5 m/7 w) lebten mit Partner oder Familie (7). Nur Frauen (insgesamt 5) hatten eigene Nachkommen.

SCHIZOPRHENE PSYCHOSEN: UNTERSCHIEDE JUGENDALTER – ERWACHSENENALTER

131

In dieser Untersuchung waren die besten Prädiktoren für einen schwerwiegenden Verlauf: • Schleichender Verlauf: 22/25 (70%) • 58% der Varianzaufklärung bezog sich allein auf die Psychopathologie mit negativer und positiver Symptomatik nach den Untersuchungsergebnissen mit Hilfe der PANSS. • Geschlecht, die Dauer der 1. Behandlung und keine Behandlung hatten keinen Einfluss auf die soziale Prognose! In Bezug auf das kurzzeitige Schicksal Jugendlicher mit einer schizophrenen Psychose gibt die Untersuchung in London Auskunft (MaudsleyVerlaufsstudie, Hollis, 1999): • 12 % waren bei der Entlassung voll remittiert • Zur vollen Remission kam es meist in den ersten 3 Monaten • Wenn nach 6 Monaten keine Remission erfolgte, war die spätere Remission nur in 15 % der Fälle zu erkennen. Daraus leitete diese Studie ab, dass der Verlauf in den ersten 6 Monaten einen wertvollen bzw. den besten prognostischen Indikator angibt. Dabei waren die Prodromi bei frühem Beginn typischerweise schleichend mit sozialem Rückzug, Lernproblemen, uncharakteristischem, ungewöhnlichem Verhalten, das etwa ein Jahr vor Auftreten der positiven Symptome zu erkennen war. Wenn man diese neueren Untersuchungen zusammenfasst, dann kann man davon ausgehen, dass die Prognose im Jugendalter bedeutend schlechter ist als die im Erwachsenenalter. Nach den Arbeiten von Lay et al. 2000; Jarbin et al. 2003; Fleischhacker et al 2005; und Röpcke et al. 2005 sind in einem längeren Verlauf nur ca. 20% mit guter Anpassungsleistung zu erwarten. Dagegen wird bei Erwachsenen mit einer schizophrenen Psychose eine Wiederherstellung in 56% der Fälle erwartet (Huber et al. 1979, an der Heiden et al. 1995; Mason et al. 1996; Harrison et al. 2001); wenn auch die soziale Behinderung in einem hohen Prozentsatz deutlich wird (Wiersma et al., 2000).

132

POUSTKA

Ursachen der Prognoseunterschiede Da sich die Psychopathologie nicht grundsätzlich unterscheidet (es gibt eine etwas höhere Anzahl hebephrener Verläufe unter Jugendlichen wie einleitend angeführt), scheint die Prognose nicht davon abhängig zu sein. Es ist daher eher davon auszugehen, dass die Prognose von der Beeinträchtigung vor und während des Verlaufs wegen der Störung der psychosozialen Entwicklung (Häfner und Nowotny, 1995, Schmidt und Blanz, 1995) abhängt. Gerade in der Zeit der körperlichen und sozialen Entwicklung ist es wichtig belastbare Freundschaften eingehen zu können. Sie spielen eine große Rolle für die Ausbildung der Selbstständigkeit, der inneren Autonomie und des Selbstvertrauens in die eigenen Fähigkeiten, um mehr und mehr unabhängig von den Eltern oder anderen Autoritäten zu werden. Dies ist auch die Vorbedingung zur reifen Fähigkeit Partnerschaften eingehen zu können. Die mit den Defizitsymptomen einhergehenden sozialen wie auch kognitiven Schwierigkeiten behindern Jugendliche mit einer Psychose auch in ihrer schulischen wie beruflichen Ausbildung ernsthaft. Die relativ hohe Rate von Wiederaufnahmen birgt außerdem die Gefahr, dass der Ausbildungsweg durch die Basisstörungen grundsätzlich beeinträchtigt werden kann und die Wiedereingliederung zeitliche und funktionelle Einschränkungen verursacht, die oft nicht mehr völlig aufgeholt werden können.Die Defizite bei Patienten mit psychotischer Erkrankung sind auf mehrere Weise deutlich: So ist neuropsychologisch gesehen der initiale kognitive Prozess um aktiv Informationen zu behalten (Fähigkeit eine internale Repräsentation komplexer Objekte auszuformen) beeinträchtigt, ebenso wie die Pezeption von Reizen, insbesondere, wenn Reize nicht mehr präsentiert werden; es kommen frühe stabile Defizite des Arbeitsgedächtnisses schon in der ersten Episode und im Verlauf hinzu (Mathes et al. 2005).Während also dem Grad der Desorganisation und der negativen Symptomausbildung eine schlechte, insbesondere wegen der unabgeschlossenen Entwicklung eine besondere Rolle im Jugendalter zukommt, sind affektive Symptome therapeutisch eher besser zu bewältigen. Positive Symptome haben vergleichsweise eine geringe Bedeutung. Weitere Merkmale tragen ebenfalls zur Beeinträchtigung der Prognose bei, nämlich der Grad der prämorbiden Beeinträchtigung: So leiden nach Hollis, 1999, Nicholson et al. 2000, Jones et al. 1994, 20% der Betroffenen prämorbid an Sprachstörungen, 30%, an Lesestörung, 36% an Störung der Blasenkontrolle und 20% an Entwicklungsverzögerung der Sprache oder Motorik und zwar umso häufiger, je früher die Störung beginnt: 50% bei Beginn vor dem 12. Lj./10 % bei Beginn im Erwachsenenal-

SCHIZOPRHENE PSYCHOSEN: UNTERSCHIEDE JUGENDALTER – ERWACHSENENALTER

133

ter. Rund 1/3 leidet an sozialer Isolierung und, worauf auch insbesondere Hollis 2000 oder Arsanov 1994, hinwiesen, psychotische Jungendliche hatten, verglichen mit der altersmäßig vergleichbaren Bevölkerung, ein prämorbid deutlich niedrigeres intellektuelles Leistungsvermögen. Wenn man die ungünstigeren prognostischen Faktoren zusammenfasst, so erscheint die Prognose Jugendlicher dann schlechter zu sein, wenn eine prämorbide soziale und kognitive Beeinträchtigung ausgeprägt diagnostizierbar ist, es zu einer prolongierten ersten Episode kam, eine psychotische Störung lange nicht behandelt wurde und insbesondere beides, nämlich eine prämorbide Symptomatik und negative Symptome zusammen ausgeprägt vorkommen. Auch die Mortalität bei Jugendlichen ist höher als bei Ersterkrankung im Erwachsenenalter und zwar ca. 12-fach höher als der Erwartungswert (~8,5%, vor allem unter männlichen Patienten). Als ätiologische Risikofaktoren gelten Komplikationen während der Schwangerschaft und perinatal und zwar eher bei Fällen vor der Pubertät („Very Early Onset“ - VOE) und zwar doppelt so häufig bei „Early Onset“ EO) (in der Adoleszenz) als bei normalen Kontrollen. Dies spricht dafür, dass die Prognose desto schlechter wird, je früher die Psychose beginnt. In bildgebenden Verfahren (MRT) konnte Pantelis (2005) vor und nach Ausbruch der Psychose bei Hochrisikoprobanden Volumenverminderungen im Längsschnitt der medialen temporalen Region (Hippocampus, Entorhinal, inferior frontal, Gyrus fusiforme) erkennen. In einer eigenen Untersuchung (Härtling et al., 2002) war u.a. eine Vergrößerung des CSF-Raumes, des Hippocampus bei jugendl. Pat. gegenüber Erwachsenen und einer normalen Vergleichsgruppe festgestellt worden. Weiters wiesen 6 von 15 bzw. 11 von 15 dieser Patienten eine deutliche bis fragliche zentrale Erweiterung der Seitenventrikel und/oder eine periphere Atrophie auf (also in ca. 60%; gegenüber bei Erwachsenen in 30%). 3 Patienten wiesen eine Septumzyste und einer ein Cavum vergae auf, ein Befund der eher selten im Erwachsenenalter gesehen wird.

134

POUSTKA

Zusammenfassung Gegenüber einer Erkrankung im Erwachsenenalter weisen Jugendliche mit einer schizophrenen Psychose eine deutlich schwierigere Prognose auf. Ursachen dafür liegen darin, dass Jugendliche von frühen Defiziten besonders betroffen sind; insbesondere durch die Beeinträchtigung in ihrer Ausbildungssituation und in sozialen Defiziten, die in diesem Alter besonders bedeutungsvoll sind im Streben nach Verselbständigung. Der Verlauf ist mitunter sehr variabel und Rückfälle kommen häufig vor. Eine frühe Minussymptomatik zu erfassen und zu behandeln ist derzeit schwer möglich. Dagegen kommt es aus mannigfaltigen Gründen oft vor, dass auch Psychosen längere Zeit sich einer Behandlung entziehen. Ungleich in früheren Jahren konsumieren heutzutage fast alle Jugendliche mit beginnender Psychose – insbesondere in den vorausgehenden Zeiten der schon deutlichen Minussymptomatik – Drogen (von Cannabis „aufwärts“; Dervaux et al. 2003; Hambrecht et al.2000). Dies mag auch zu Schwierigkeiten in einer notwendigen intensiven und frühen Behandlung beitragen und damit die Prognose weiter verschlechtern.

Korrespondenzadresse: Univ.-Professor Dr. Fritz Poustka Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters J.W.Goethe Universität Frankfurt Deutschordenstrasse 50 D-60590 Frankfurt/M. Tel.: +49 69 6301.5408 Fax: +49 69 6301.5843 Email: mailto:[email protected] http://www.kgu.de/zpsy/kinderpsychiatrie/

SCHIZOPRHENE PSYCHOSEN: UNTERSCHIEDE JUGENDALTER – ERWACHSENENALTER

135

Literatur an der Heiden W, Krumm B, Muller S, Weber I, Biehl H, Schafer M. The Mannheim long-term study of schizophrenia. Initial results of follow-up of the illness over 14 years after initial inpatient treatment Nervenarzt. 1995, 66, 11, 820-827. Angst J. European long-term follow up studies of schizophrenia. Schizophr Bull. 1988; 14, 4, 501-513. Asarnow, J.R., Tompson, M.C., and Goldstein, M.J. Childhoodonset schizophrenia: A follow-up study. Schizophrenia Bulletin, 20(4):599-617, 1994. Ergebnisse struktureller MRT-Untersuchungen an jugendlichen Schizophrenen F. Härtling, O. Weiffenbach, M. Gabriel, R. Tepest, C. Gorriz, W. Maier, P. Falkai, F. Zanella, F. Poustka Härtling et al., 2002 XXVII Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Berlin,Abstract Fleischhaker C, Schulz E, Tepper K, Martin M, Hennighausen K, Remschmidt H. Longterm course of adolescent schizophrenia. Schizophr Bull. 2005, 3, 769-780 Gillberg C. Wahlstrom J., Forsman A., Hellgren L., Gillberg J.C. (1986) Teenage psychosis: epidemiology, classification and reduced optimality in the pre-, peri- and neonatal periods. J. Child Psychol Psychiat. 27, 87-98 Hafner H, Nowotny B. (1995) Epidemiology of early-onset schizophrenia. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci. 245(2):80-92. Harrison G, Hopper K, Craig T, Laska E, Siegel C, Wanderling J, Dube KC, Ganev K, Giel R, an der Heiden W, Holmberg SK, Janca A, Lee PW, Leon CA, Malhotra S, Marsella AJ, Nakane Y, Sartorius N, Shen Y, Skoda C, Thara R, Tsirkin SJ, Varma VK, Walsh D, Wiersma D. Recovery from psychotic illness: a 15- and 25-year international follow-up study. Br J Psychiatry. 2001, 17, 506-517 Hollies C. Adult Outcomes of Child- and Adolescent-Onset Schizophrenia: Diagnostic Stability and Predictive Validity. Am J Psychiatry 2000; 157, 1652-1659 Hollies C., Schizophrenia and allied disorders. In: M. Rutter & E. Taylor (Eds.) Cild an Adolescent Psychiatry, 4th Edition, S. 612- 635, 1999 Huber G, Gross G, Schuttler R. Schizophrenia. Clinical course and social psychiatric long term examinations of schizophrenic patients hospitalized in Bonn from 1945-1959 Monogr Gesamtgeb Psychiatr Psychiatry Ser. 1979;21:1-399. Jacobsen LK, Rapoport JL. Research update: childhood-onset schizophrenia: implications of clinical and neurobiological research. J Child Psychol Psychiatry. 1998, 39, 1, 101-113 Jarbin H., Ott Y., von Knorring A-L., Adult Outcome of Social Function in AdolescentOnset Schizophrenia and Affective Psychosis J. Am. Acad. Child Adolesc. Psychiatry, 2003, 42 (2), 176-183.

136

POUSTKA

Jones P, Rodgers B, Murray R, Marmot M. Child development risk factors for adult schizophrenia in the British 1946 birth cohort. Lancet. 1994, 344, 8934, 1398-1402. Lay B, Blanz B, Hartmann M, Schmidt MH. The psychosocial outcome of adolescentonset schizophrenia: a 12-year follow-up. Schizophr Bull. 2000, 26, 4, 801-816. Lay B, Blanz B, Hartmann M, Schmidt MH. The psychosocial outcome of adolescentonset schizophrenia: a 12-year follow-up. Schizophr Bull. 2000, 26 (4), 801-816 Mason P, Harrison G, Glazebrook C, Medley I, Croudace T. The course of schizophrenia over 13 years. A report from the International Study on Schizophrenia (ISoS) coordinated by the World Health Organization. Br J Psychiatry. 1996, 169, 5, 580-586. Nicolson R, Lenane M, Singaracharlu S, Malaspina D, Giedd JN, Hamburger SD, Gochman P, Bedwell J, Thaker GK, Fernandez T, Wudarsky M, Hommer DW, Rapoport JL. Premorbid speech and language impairments in childhood-onset schizophrenia: association with risk factors. Am J Psychiatry. 2000, 157, 5, 794-800. Pantelis C, Yucel M, Wood SJ, Velakoulis D, Sun D, Berger G, Stuart GW, Yung A, Phillips L, McGorry PD. Structural brain imaging evidence for multiple pathological processes at different stages of brain development in schizophrenia. Schizophr Bull. 2005, 31, 3, 672-696 Röpcke B. & Eggers Ch. Early-onset schizophrenia. Eur Child Adolesc Psychiatry (2005) 14, 6, 341-350 Schmidt MH., Blanz B., Dippe·A., Koppe T., Lay B. Course of patients diagnosed as having schizophrenia during first episode occurring under age 18 years. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci (2004) 245, 93-100, 1995 Wiersma D, Wanderling J, Dragomirecka E, Ganev K, Harrison G, An der Heiden W, Nienhuis FJ, Walsh D. Social disability in schizophrenia: its development and prediction over 15 years in incidence cohorts in six European centres. Psychol Med. 2000, 30, 5, 1155-1167 Wood SJ, Proffitt TM, Stuart GW, Buchanan JA, Velakoulis D, Brewer WJ, McGorry PD, Pantelis C. Early processing deficits in object working memory in first-episode schizophreniform psychosis and established schizophrenia. Psychol Med. 2005, 35, 7, 1053-1062 Dervaux A, Laqueille X, Bourdel MC, Leborgne MH, Olie JP, Loo H, Krebs MO. Cannabis and schizophrenia: demographic and clinical correlates. Encephale. 2003, 29, 1, 11-17 Hambrecht M, Hafner H. Cannabis, vulnerability, and the onset of schizophrenia: an epidemiological perspective. Aust N Z J Psychiatry. 2000, 34, 3, 468-475

137

DAVID PRVULOVIC, KONRAD MAURER

Neurobiologische Grundlagen der Prophylaxe, Diagnostik und Therapie schizophrener Psychosen Einleitung Die Schizophrenie gehört zu den psychischen Erkrankungen, die aufgrund der Häufigkeit ihres Auftretens (geschätzte Gesamtprävalenz weltweit: 1%) sowie aufgrund des häufig stigmatisierenden und schwer beeinträchtigenden Krankheitsverlaufs besondere Beachtung in der neurobiologischen Forschung der vergangenen Jahrzehnte gefunden haben. Klinisch ist die Schizophrenie durch so genannte „Positivsymptome“ (Wahrnehmungsstörungen, inhaltliche und formale Denkstörungen) sowie durch „Negativ“- oder „Defizit-Symptome“ (Störung von kognitiven Funktionen, Antrieb, Motivation und Emotionalität sowie sozialer Rückzug und Verwahrlosung) gekennzeichnet. Es wurde bislang eine Reihe von genetischen Faktoren gefunden, die mit dem Ausbruch einer Schizophrenie positiv assoziiert sind. Diese Assoziationen sind nicht sehr stark ausgeprägt und erklären für sich alleine nur einen bescheidenen Teil der Gesamtvarianz – insbesondere gibt es kein „Einzelgen“, dessen Nachweis eine zuverlässige Prognose erlauben würde. Die immensen Fortschritte in den letzten Jahren im Bereich der strukturellen und funktionellen Bildgebung, der Molekularbiologie und der Neurophysiologie haben dennoch unser Verständnis über die der Schizophrenie zugrunde liegenden pathologischen Prozesse und die sie bedingenden genetischen und Umweltfaktoren wesentlich erweitert und verfeinert. Obwohl unser Wissen an vielen Stellen noch lückenhaft ist, konnten dank der modernen Methoden in den letzten Jahren entscheidende molekulare und funktionelle Prozesse entschlüsselt werden, deren Verständnis in Zukunft die Grundlage bilden könnte für die Entwicklung sensitiver Früherkennungsmethoden sowie effektiver Behandlungsansätze. Je besser es gelingen sollte, die Ergebnisse der neurobiologischen Forschung therapeutisch umzusetzen, umso höher wäre der zu erwartende positive Effekt auf die Lebensqualität der betroffenen Patienten, und es wäre eine realistische Hoffnung, die Betroffenen deutlich besser als bislang in die normalen Prozesse des persönlichen und beruflichen Alltags integrieren zu können.

138

PRVULOVIC Š MAURER

Ist die Schizophrenie eine entwicklungsbedingte oder eine neurodegenerative Erkrankung? Es ist selbstverständlich anzunehmen, dass eine derart schwerwiegende psychische Erkrankung und die mit ihr verbundenen kognitiven, emotionalen und motivationalen Defizite mit einer Beeinträchtigung normaler neuronaler Prozesse im zentralen Nervensystem einhergehen. Die entscheidende Frage lautet aber: erkrankt ein an sich normal entwickeltes und ausgereiftes Gehirn und entstehen erst danach die bekannten Symptome der Schizophrenie (= Neurodegeneration) oder haben schon während der Ausreifung und Entwicklung des Gehirns pathologische Prozesse stattgefunden, die ein späteres Auftreten der Schizophrenie bedingen (= Entwicklungsstörung)? Erstaunlicherweise haben neuroanatomische Studien ergeben, dass Gehirne von schizophren erkrankten Patienten weder einen Verlust von kortikalen Neuronen noch eine Gliose oder andere „klassische“ zelluläre Anzeichen neuronaler Degeneration aufweisen (Pakkenberg et al., 1993; Selemon et al.,1998), weswegen sich nach derzeitigem Wissensstand die Schizophrenie auch nicht ohne weiteres in die Gruppe der neurodegenerativen Erkrankungen einreihen lässt, auch wenn manche longitudinale Untersuchung im Verlauf eine beschleunigte Volumenabnahme in diversen Hirnarealen bei der Schizophrenie gefunden hat. Andererseits wurden zahlreiche Hinweise gefunden, die für den Ablauf erheblicher pathologischer Abweichungen während der prä- und neonatalen Hirnreifung sprechen. Dazu gehören eine verringerte Größe von Neuronen, eine abnormal erhöhte „Packungsdichte“ von Nervenzellen sowie Abweichungen in der räumlichen Anordnung (Arnold, 1999). Bedeutsam ist der Fund, dass Schizophreniepatienten eine bis zu 50%ige Reduktion von Reelin aufweisen, einem Glykoprotein, dass als „Stopp“-Signal bei Migrationsprozessen während der neuronalen Entwicklung dient (Curran et al., 1998; Guidotti et al., 2000). Reelin reguliert die Positionierung sowie die Trophik verschiedener Nervenzelltypen (Pyramidenzellen, Purkinjezellen, Interneurone). Beim Erwachsenen wird Reelin insbesondere von GABAergen Zellen gebildet. Bezeichnenderweise ist (u.a.) die GABA-erge Neurotransmission bei der Schizophrenie beeinträchtigt. Es wurde die Hypothese formuliert, dass ein Mangel an hemmender GABAerger Transmission zu einer Enthemmung exzitatorischer glutamaterger Transmission führen könnte, was einen wesentlichen Schutz von Nervenzellen vor exzitatorischer

NEUROBIOLOGISCHE GRUNDLAGEN DER PROPHYLAXE, DIAGNOSTIK UND THERAPIE 139

und damit toxischer Überstimulation reduzieren würde (Abi-Saab et al., 2001). Weitere Studien zeigen weiterhin deutliche Abnormalitäten in der Organisation von Axonen, Dendriten sowie von Faserverbindungen der weißen Hirnsubstanz, was die Grundlage bilden könnte für eine fehlerhafte Konvektivität zwischen verschiedenen Hirnregionen, einschließlich des Limbischen Systems und frontaler und temporaler kortikaler Areale (Lim et al., 1999). Weitere Hinweise für eine ontogenetische Ursache der Schizophrenie finden sich in morphometrischen Studien, in denen die kortikale Dicke und das Volumen verschiedener Hirnareale vermessen und auf ihre Symmetrie hin untersucht wurden. Eine besonders interessante Region ist das so genannte Planum temporale (PT), welches den posterioren superioren Anteil des Gyrus temporalis superior (STG) im Schläfenlappen bezeichnet. Das PT weist normalerweise eine ausgeprägte Asymmetrie bei gesunden Menschen auf, wobei das PT der linken Hemisphäre stets signifikant größer als das rechte ist. Diese Asymmetrie ist bei Schizophreniepatienten nicht nur aufgehoben sondern sogar ins Gegenteil verkehrt (re. > li.) (Barta et al., 1997). Das PT ist ein heteromodales neokortikales Assoziationsareal, welches mit Sprachfunktionen in Verbindung gebracht wird. Die normale Entwicklung der physiologischen Asymmetrie findet ontogenetisch bereits um die 30. Schwangerschaftswoche statt, sodass man die Ursachen der bei der Schizophrenie beobachteten Verkehrung dieser Asymmetrie zumindest zum Teil bereits in frühen Entwicklungsphasen vermuten kann. Auch zytoarchitektonische Veränderungen im entorhinalen Cortex von schizophrenen Patienten sprechen für eine frühe Störung in der Ontogenese (Beckmann, 1999).

Zerebrale Bildgebung bei der Schizophrenie und ihre Bedeutung für Diagnostik und Therapie Waren die ersten morphometrischen Untersuchungen des Gehirns noch auf die Entnahme und die manuelle Untersuchung von Hirngewebe verstorbener Patienten angewiesen (post-mortem-Studien), hat die Entwicklung der modernen Bildgebung die Untersuchung des menschlichen Gehirns geradezu revolutioniert: sie ermöglichte es erstmalig, nicht nur in vivo, sondern auch nichtinvasiv die Struktur und die Funktion des Gehirns zu messen. Bereits seit drei Jahrzehnten wird die auf Röntgentechnik beruhende Computertomographie in der klinischen Diagnostik eingesetzt, seit nunmehr rund zwei Jahrzehnten auch die Kernspintomographie (MRT). Durch diese

140

PRVULOVIC Š MAURER

Schnittbildverfahren ist es erstmals möglich geworden, pathologische Veränderungen einzelner Bereiche des Gehirns zu erfassen, was in der klinischen Diagnostik (z.B. Nachweis von Raumforderungen etc) von großer Relevanz ist. Mit zunehmender Verbesserung der räumlichen Auflösung (bis hin zum Sub-Millimeter-Bereich) werden aus diesen Schnittbilddaten Strukturen quantitativ vermessen und dienen dem Nachweis von strukturellen Veränderungen wie sie etwa bei verschiedenen Hirnerkrankungen vorkommen. In den letzten Jahren sind verstärkt Methoden zur Rekonstruktion von Oberflächen und Volumina entwickelt worden. Diese Rekonstruktionen können mit ausgefeilten statistischen Methoden ausgewertet werden und so auch subtile interindividuelle Abweichungen der Form, der Oberfläche oder der Größe (Volumen) ermittelt werden (z.B. voxel based morphometry, displacement mapping etc.). Mit Hilfe nuklearmedizinischer Verfahren (SPECT/PET) können durch den Einsatz unterschiedlicher Tracersubstanzen funktionelle Parameter, wie etwa der regionale Blutfluss, der regionale Glukosemetabolismus oder aber die Verfügbarkeit von bestimmten Rezeptoren quantitativ bestimmt werden und damit die lokale und regionale Funktionalität des Gehirns bestimmt werden. Ganz besonderer Beliebtheit erfreut sich in diesem Zusammenhang derzeit die so genannte funktionelle MRT (fMRT), die nicht nur auf die Applikation von radioaktiven Markersubstanzen verzichtet und dadurch besonders schonend für den Patienten ist, sondern durch ihre sehr gute räumliche und gute zeitliche Auflösung sehr gut für die Untersuchung kognitiver Prozesse geeignet ist. Zusammengenommen bieten diese bildgebenden Verfahren die Möglichkeit, physiologische Parameter zu erfassen und deren Veränderung bei verschiedenen pathologischen Zuständen oder Erkrankungen des Gehirns nachzuweisen. Die Möglichkeit, zu jedem beliebigen Zeitpunkt während des Krankheitsverlaufs Messungen durchzuführen, ist von besonderem Wert für das Verständnis der Erkrankung. So haben neuere MRT-Untersuchungen bei ersterkrankten Schizophreniepatienten ergeben, dass bereits im (klinisch manifesten) Initialstadium eine Reihe struktureller Hirnveränderungen vorliegen. Dazu gehören eine Reduktion des kortikalen Volumens im Temporallappen (insbesondere im STG sowie im Hippocampusbereich), eine Reduktion der präfrontalen grauen Substanz, eine Reduktion des Gesamthirnvolumens, eine Vergrößerung der Seitenventrikel und des dritten Ventrikels sowie eine Volumenreduktion des Thalamus (Fannon et al., 2000; Ettinger et al., 2001; Hirayasu et al., 2001). Der besondere Wert dieser Befunde liegt darin, dass sie morphologische Veränderungen beschreiben, die offenbar sehr früh im

NEUROBIOLOGISCHE GRUNDLAGEN DER PROPHYLAXE, DIAGNOSTIK UND THERAPIE 141

Krankheitsverlauf auftreten und sehr wahrscheinlich der klinischen Manifestation der Schizophrenie auch vorausgehen. Ebenfalls von Bedeutung ist der Umstand, dass die beobachteten Hirnveränderungen keinesfalls durch sekundäre Mechanismen, wie etwa chronische neuroleptische Medikation oder eine durch die Schizophrenie bedingte Verschlechterung der Lebensumstände (z.B. Mangelernährung etc.) bedingt sein können und deshalb als ein direktes neurobiologisches Korrelat der Schizophrenie betrachtet werden können. Eine besonders interessante Neuentwicklung im Bereich der strukturellen Bildgebung ist das so genannte Diffusion Tensor Imaging (DTI). Hierbei gelingt es über eine aufwändige Messung der Diffusion von Wassermolekülen im Gehirn die strukturelle Integrität von gerichteten Faserbahnen und Faserbündeln zu bestimmen. Ein Beispiel dafür, wie das DTI einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis grundlegender pathologischer Prozesse im Gehirn schizophrener Patienten leisten kann, liefert eine kürzlich durchgeführte Studie von Hubl et al (2003). Auditorische Halluzinationen sind ein häufiges Symptome bei der Schizophrenie (Prävalenz ca. 60%). In dieser Arbeit wurde mit Hilfe des DTI die Integrität von Fasertrakten der weißen Substanz untersucht bei schizophrenen Patienten mit Halluzinationen, solchen ohne Halluzinationen sowie bei gesunden Kontrollprobanden. Im Mittelpunkt des Interesses stand dabei der Faszikulus arcuatus, der unter anderem Verbindungsfasern zwischen frontalen Sprachproduktionsarealen (Broca) und temporalen Perzeptionsarealen beinhaltet. Der Faszikulus arcuatus wird in zwei Teile unterteilt: 1.) In einen medialen Teil, der längere Faserbündel enthält, die den lateralen frontalen Cortex mit dem dorsolateralen Parietal- und Temporalcortex verbinden, und 2.) in einen lateralen Teil, der hauptsächlich sog. U-Fasern enthält, die den frontoprietalen, parietooccipitalen und parietotemporalen Cortex jeweils verbinden. Die Fasern dieses Anteils haben ihren Ursprung im präfrontalen Cortex (hauptsächlich im Broca-Areal) und projizieren unter anderem in das Wernicke-Areal. Über diesen lateralen Pfad werden Wechselwirkungen zwischen frontalen Sprachproduktionsarealen und nachgeschalteten Sprachperzeptionsarealen vermittelt. Die Studie ergab, dass Patienten mit Halluzinationen eine höhere Direktionalität des lateralen Anteils des Fasciculus arcuatus aufweisen und eine verminderte Integrität des medialen Anteils. Eine abnorme Verbindung zwischen Sprach- und Hörarealen ist auch deswegen plausibel, da die Inhalte der akustischen Halluzinationen von schizophrenen Patienten häufig mit

142

PRVULOVIC Š MAURER

den inneren Gedanken korrespondieren. Manchmal wird dies auch als „Gedankenlautwerden“ beschrieben. Somit kann man den Schluss ziehen, dass eine abnorm hohe Fortleitung innerer Sprache hin zu akustischen Wahrnehmungsarealen zu einem Eindruck führt, als höre man diese Gedanken oder Stimmen tatsächlich als von außen kommend. Dazu ergänzend passen Ergebnisse von funktionellen MRT-Studien, die ergeben haben, dass bei schizophrenen Patienten die primäre Hörrinde (Gyrus von Heschl, HG) während auditorischer Halluzinationsphasen abnorm aktiv ist (Dierks et al., 1999; van de Ven et al., submitted). Normalerweise ist HG nur bei realer auditorischer Stimulation aktiv, also dann, wenn ein reales Schallereignis zu einem Höreindruck führt. Wie andere Studien zeigten, ist es nicht möglich, durch willentliche Vorstellungskraft ein Hörerlebnis zu imaginieren, welches zu einer solchen Aktivierung in der primären Hörrinde führen würde. Daraus folgt, dass die Aktivität in HG exklusiv für das reale Hörerleben zuständig ist. Aus diesem Grunde stellen die auditorischen Halluzinationen offenbar ein absolut realitätsidentisches Hörerlebnis dar, dessen sich die Betroffenen nicht erwehren können und welches von realen, externen Schallereignissen hinsichtlich dessen „Realität“ nicht unterschieden werden kann. Zusätzlich zur primären Hörrinde sind während der Halluzinationsphasen auch Sprachareale aktiviert, ebenso wie Areale, die für Gedächtnisfunktionen (Hippocampus) und emotionale Verarbeitung (Amygdala) verantwortlich sind. Aus diesen Befunden läst sich das neuronale Korrelat herleiten für eine komplexe auditorische Fehlwahrnehmung, gepaart mit Gedächtnisassoziationen und emotionaler Reaktion. Genau dies entspricht auch der klinischen Beobachtung, dass schizophrene Patienten häufig Stimmen hören, die ihnen aus der Vergangenheit bekannt sind (abnormer Abruf von Gedächtnisinhalten) und mit erheblicher emotionaler (häufig: Angst) Reaktion einhergehen. Diese Befunde haben keineswegs nur akademischen Wert sondern bilden die Grundlage für die Entwicklung spezifischer therapeutischer Ansätze. Durch die Kenntnis der an der auditorischen Halluzination wesentlich beteiligten Hirnstrukturen ist es möglich, therapeutische Maßnahmen auf eben jene Strukturen zu fokussieren. Dies erfolgt bereits mit gutem Erfolg in Form der so genannten transkraniellen Magnetstimulation (TMS). Hierbei handelt es sich um ein modernes, nichtinvasives Verfahren, bei dem über eine Spulenkonstruktion kurze Magnetimpulse erzeugt werden. Sind diese Magnetimpulse ausreichend stark, können sie durch die Schädeldecke bis hinein zur Hirnrinde reichen und dort entweder zu einer lokalen Steigerung der hirnelektrischen Aktivität (Stimulation) oder zu ihrer Hemmung (Inhibi-

NEUROBIOLOGISCHE GRUNDLAGEN DER PROPHYLAXE, DIAGNOSTIK UND THERAPIE 143

tion) führen. Welcher Effekt erzeugt wird, hängt maßgeblich von der Frequenz der applizierten Magnetimpulse ab. Als Grundregel gilt, dass niedrige Frequenzen (1 Hz und kleiner) zu einer Hemmung führen, während höhere Frequenzen (üblicherweise 10 Hz und mehr) stimulierend wirken. Es konnte gezeigt werden, dass die Applikation von niedrig-frequenter (=hemmender) TMS über den entsprechenden temporalen Arealen bereits nach wenigen Tagen zu einer nachhaltigen Reduktion auditorischer Halluzinationen bei therapieresistenten Patienten (z.B. Poulet et al., 2005) führen kann. Die Anwendung von TMS erfreut sich aktuell hoher Popularität und entsprechend viele Studien werden derzeit weltweit hierzu durchgeführt.

Schizophrenie: Neurotransmitter, Rezeptoren und ihre Rolle für Therapie und Prophylaxe Ausgehend vom dramatischen therapeutischen Fortschritt, der durch die Einführung der Neuroleptika in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bei der Behandlung schizophrener Psychosen erzielt wurde, ist ein zentrales Krankheitsmodell der Schizophrenie rund um den kleinsten gemeinsamen Nenner der bisherigen Neuroleptika entwickelt worden: der Blockade von D2-Rezeptoren. Daraus entstand die so genannte „DopaminHypothese“. Die Dopamin-Hypothese der antipsychotischen Medikation geht auf die frühe Beobachtung zurück, dass Antipsychotika den Umsatz von Dopamin im Gehirn verändern. Dies führte zur Entdeckung des sog. „neuroleptischen Rezeptors“, der heute als der D2-Rezeptor bekannt ist und die mechanistische Grundlage der Dopaminhypothese der Antipsychotika darstellt. In zahlreichen Neuroimaging-Studien mit SPECT konnte neuerdings nachgewiesen werden, dass das Ausmaß der Besetzung (und damit der Blockade) des D2-Rezeptors ganz maßgeblich an der antipsychotischen Wirkung der Neuroleptika (und deren Nebenwirkungen) beteiligt ist. Hinweise für eine entscheidende Rolle des Dopamins in der Entstehung und Unterhaltung der Psychose ergaben sich aus der Beobachtung, dass Psychostimulantien, die die Freisetzung von Dopamin triggern, Psychosen „de novo“ induzieren bzw. zu einer Verschlechterung bestehender psychotischer Symptome bei bereits erkrankten Patienten führen können. Der bislang beste Beweis für die Dopamin-Hypothese der Psychose ergab sich aber aus Neuroimaging-Studien, die gezeigt haben, dass an Schizophrenie erkrankte Patienten während der Psychose eine erhöhte Stimulus-induzierte

144

PRVULOVIC Š MAURER

Ausschüttung von Dopamin sowie eine erhöhte Dopaminkonzentration im synaptischen Spalt aufweisen (z.B. Reith, 1994; Hietala et al., 1995). Die Erhöhung der dopaminergen Transmission ist daher am ehesten durch eine präsynaptische Dysregulation bedingt. Die pathophysiologische Bedeutung dieses Befunds für das Entstehen der Psychose wird aktuell dahingehend gedeutet (Kapur, 2003), dass Dopamin an der Vermittlung von motivationaler Bedeutungshaftigkeit („Salienz“) innerer und äußerer Reize entscheidend beteiligt ist: Die neuronale Repräsentanz von Objekten oder Zuständen erlangt erst durch Dopamin-vermittelte Prozesse ihre motivationale Bedeutung. Auf diese Weise kann der Organismus seine Bemühungen auf die relevanten Dinge und Aktionen beschränken. Ist die dopaminerge Transmission insbesondere im mesolimbischen System aber durch ein Übermaß an Dopamin pathologisch gesteigert, können nun alle möglichen Eindrücke von innen und außen eine abnorme Bedeutungshaftigkeit erlangen, die ihnen unter normalen Umständen gar nicht zustehen würde. Auf diese Weise können bereits kleinste – ansonsten belanglose – Vorkommnisse in der Psychose abnorme Bedeutungen annehmen, die dann in einen paranoiden Kontext gesetzt werden. Diese pathologische Entwicklung setzt offenbar bereits vor der eigentlichen klinischen Manifestation der schizophrenen Psychose ein und führt in der Prodromalphase zu einer von vielen Patienten berichteten erhöhten Irritierbarkeit, übermäßigen Ablenkbarkeit und einer ungewöhnlich intensiven Wahrnehmung sensorischer Reize, was oft auch als „Reizüberflutung“ bezeichnet wird. Das Verständnis dieser Phänomene, die noch vor der Erstmanifestation einer akuten Psychose zu beobachten sind, ist für die Prophylaxe der Exazerbation einer Psychose von immenser Bedeutung: Sowohl verhaltens- und soziotherapeutische (z.B. Stressbewältigung, Reduktion von Belastungen, Anpassung der schulischen/beruflichen Anforderungen, Reizabschirmung) als auch pharmakotherapeutische Maßnahmen, die den genannten pathologischen Veränderungen des Dopaminstoffwechsels Rechnung tragen, können dazu beitragen, dass eine Exazerbation hinausgeschoben wird und der Krankheitsverlauf insgesamt positiv beeinflusst wird. Das Dopamin-Modell der Psychose hat insbesondere vor dem Hintergrund der großen Entität „Schizophrenie“, die über die akute Psychose weit hinausgeht, einige bedeutsame Modifikationen und Ergänzungen erfahren. So geriet in den vergangenen Jahren zunehmend das Verhältnis der Aktivierung von D1- zu D2-Rezeptoren in den Mittelpunkt der Forschung. Dabei ging man von der Beobachtung aus, dass Schizophreniepatienten und ihre

NEUROBIOLOGISCHE GRUNDLAGEN DER PROPHYLAXE, DIAGNOSTIK UND THERAPIE 145

nicht erkrankten Zwillingsgeschwister bei kognitiven Aufgaben (z.B. Arbeitsgedächtnisaufgaben) eine im Vergleich zu gesunden Kontrollen deutlich höhere Variabilität und eine erhöhte Ineffizienz der gemessenen kortikalen Aktivitätsparameter aufwiesen (z.B. Callicott et al., 2000; Callicott et al., 2003). Mit erhöhter Ineffizienz ist gemeint, dass die Betroffenen mehr Hirnareale rekrutieren bzw. diese stärker aktivieren müssen als Kontrollpersonen, um die gleiche Aufgabenleistung zu erbringen. Ist die Aufgabe so schwer, dass die Betroffenen eine signifikant schlechtere Aufgabenleistung erbringen im Vergleich zur Kontrollgruppe, ist in der Summe meist eine Minderaktivierung der zuständigen Hirnareale zu beobachten. Da Areale des Frontalhirns in wesentlichem Ausmaß an Arbeitsgedächtnisprozessen beteiligt sind, offenbaren sich die Aktivitätsunterschiede bei den populären und oft angewandten Arbeitsgedächtnisuntersuchungen („n-back“-task; „delayed match-to-sample“) zwischen Patienten und Gesunden auch hauptsächlich in präfrontalen Arealen, weswegen man in diesem Zusammenhang oft von „Hypofrontalität“ (= zu wenig frontale Aktivität) bzw. „Hyperfrontalität“ (= Übermaß an präfrontaler Aktivität) spricht. Es wird vermutet, dass bei der Schizophrenie die Aktivierung in lokalen Netzwerken, deren Summe zur Gesamtaktivität beiträgt, suboptimal gesteuert wird, bzw. instabil und „unfokussiert“ abläuft. Weitere Hinweise hierfür finden sich in elektrophysiologischen Studien, die ein erniedrigtes „Signal-zu-Rausch-Verhältnis“ elektrischer Hirnaktivitätsmuster (signal-to-noise-ratio/SNR) bei schizophrenen Patienten und ihren Zwillingsgeschwistern zeigen (Winterer et al., 2000). Das vermehrte „Hintergrundrauschen“ macht sich auch bei basalen Gestaltwahrnehmungsprozessen bemerkbar, deren Leistung bei schizophrenen Patienten nicht nur reduziert ist sondern auch mit einer reduzierten Synchronisation synaptischer Netzwerkaktivität einhergeht (Uhlhaas et al., 2006). Die molekulare Grundlage dieses Phänomens findet eine gute Erklärung in der bereits beschriebenen Dysregulation der dopaminergen Transmission. Dem Dopamin wird eine entscheidende Rolle in der Stabilisierung lokaler kortikaler Aktivierungsfelder zugeschrieben. Ob sich eine lokale Nezwerkaktivität ausbildet und wie lange diese aktiviert bleibt, hängt vom Zusammenspiel exzitatorischer glutamaterger sowie inhibitorischer GABA-erger Erregungsweiterleitung innerhalb dieses Netzwerks ab. Dopamin kann beide Systeme modulieren und ist deshalb ein entscheidender „vermittelnder“ Faktor für die Stabilisierung lokaler Netzwerkaktivität. Besonders wichtig ist dies etwa bei Arbeitsgedächtnisprozessen, bei denen eine herausgebildete Netzwerkaktivität über einen längeren Zeitraum stabil gehalten und gegenüber Distraktoren geschützt werden muss. Diese Rolle kommt in besonde-

146

PRVULOVIC Š MAURER

rem Maße dem Dopamin zu. Während eine Stimulation von D2-Rezeptoren eine kurze, phasische Erhöhung der Erregbarkeit von Interneuronen nach sich zieht, führt die Stimulation über D1-Rezeptoren zu einem verzögerten, aber länger anhaltenden, tonischen Effekt. Ein Übermaß an postsynaptischer D2-Stimulation und ein gleichzeitiger (relativer) Mangel an D1vermittelter Transmission könnte die Grundlage für die oben genannte Instabilität und Ineffizienz lokaler Netzwerke bei Schizophreniepatienten darstellen ebenso wie für eine reduzierte Konzentration und Arbeitsgedächtnisleistung sowie für eine erhöhte Ablenkbarkeit (Winterer, 2004). Als therapeutische Konsequenz würde daraus folgen, dass die zum Einsatz kommenden antipsychotischen Substanzen nicht nur einfach D2-Rezeptoren blockieren müssten sondern gleichzeitig auch ein physiologisches Verhältnis zwischen der Aktivität von D2- und D1-Rezeptoren fördern sollten, was bei einigen neueren atypischen Antipsychotika in unterschiedlichem Ausmaß der Fall zu sein scheint. Weitere potentielle therapeutische Ansätze liegen in einer Beeinflussung von NMDA-Rezeptoren. Glutamat ist das physiologische Substrat von NMDA-Rezeptoren. Eine NMDA-Rezeptor-Blockade führt unter anderem zu einer reduzierten D1-vermittelten Transmission und kann schizophrenieartige Symptome auslösen, während NMDA-Stimulation hingegen eine verstärkte Rekrutierung von D1-Rezeptoren zur synaptischen Membran hin bewirkt (Pei et al., 2004). Obwohl es bislang keine Hinweise gibt für eine direkte Beeinträchtigung von NMDA-Rezeptoren bei der Schizophrenie, so ist doch eine Vielzahl subtiler genetischer Anomalien bei schizophrenen Patienten gefunden worden, die sich indirekt negativ auf die Funktion der NMDA-Rezeptoren und darüber auch auf die Funktion der D1-Rezeptoren auswirken (Moghaddam, 2003). Eine positive Beeinflussung der glutamatergen, NMDA-Rezeptor-vermittelten Transmission wäre demnach ein guter Kandidat um insbesondere kognitive und Negativsymptome bei der Schizophrenie positiv zu beeinflussen. Erste Hinweise hierfür gibt es bereits: So führte die Gabe von Piracetam, einer Substanz, die im Tierversuch bei gealterten Tieren die reduzierte Dichte von kortikalen NMDA-Rezeptoren normalisieren kann, bei schizophrenen Patienten zu einer besseren Reduktion von Negativsymptomen (Noorbala et al., 1999). Inwiefern verschiedene 5-HT-Rezeptoren eine Rolle spielen bei der Entstehung der Schizophrenie ist noch weitgehend unklar. Hinweise für eine Beteiligung liegen aber vor durch die Assoziation von bestimmten Polymorphismen des 5-HT2-Rezeptors mit der Schizophrenie sowie durch die

NEUROBIOLOGISCHE GRUNDLAGEN DER PROPHYLAXE, DIAGNOSTIK UND THERAPIE 147

enorme Bedeutung des serotonergen Systems für eine normale Entwicklung des ZNS in der Ontogenese. Zahlreiche moderne Atypika weisen zudem eine hohe Affinität zu 5-HT2-Rezeptoren auf, was sich günstig auf das Nebenwirkungsprofil (insbesondere auf extrapyramidalmotorische Symptome) der entsprechenden Substanzen auswirken soll. Da es aber auch Atypika gibt, die überhaupt keine Affinität zu 5-HT2-Rezeptoren aufweisen (z.B. Amisulprid), scheint der serotonerge Wirkungspfad zumindest keine notwendige Bedingung für die antipsychotische Wirkung zu sein.

Zusammenfassung Die Erforschung der neurobiologischen Grundlagen der Schizophrenie kann unser Verständnis über die Ursachen und Zusammenhänge gestörter physiologischer Prozesse im zentralen Nervensystem verbessern. Zur Individualdiagnostik und Früherkennung tragen solche Ergebnisse noch nicht wesentlich bei, denn dafür ist die individuelle Varibilität der gemessenen Parameter noch zu hoch. Ein Verständnis der pathologischen Prozesse ist aber eine wesentliche Voraussetzung, um die phänomenologische Beschreibung von Symptomen bei der Schizophrenie um eine präzise Erfassung gestörter zerebraler Funktionen zu ergänzen. Auf diese Weise erwachsen neue Möglichkeiten, therapeutische Ansätze gezielt auf solche gestörten Funktionen auszurichten – sei es auf molekulargenetischer, pharmakologischer oder neurophysiologischer Ebene. Damit könnten Defizite gezielt angegangen werden und unerwünschte Wirkungen auf andere Systeme gering gehalten werden. Wenn man annimmt, dass es bereits prä- und neonatal zu pathologischen Entwicklungsprozessen kommt, die den späteren Ausbruch der Schizophrenie begünstigen oder bedingen, so ist als Ausblick zu wünschen, dass aussagekräftige prädisponierende biologische Faktoren gefunden und diagnostisch erfassbar gemacht werden, sodass im Individualfall angemessene protektive, Förder- und andere therapeutische Maßnahmen so früh wie möglich vor der klinischen Exazerbation eingeleitet werden können, um so der pathologischen „Weichenstellung“ bestmöglich entgegenzuwirken und die Langzeitprognose positiv zu beeinflussen. Auf pharmakologischer Seite ist eine möglichst gezielte Beeinflussung erwünscht, die das gestörte physiologische Gleichgewicht zwischen verschiedenen Rezeptorsystemen und ihren Subtypen auszugleichen versucht. Besonders viel versprechend im Hinblick auf kognitive und Defizitsymptome sind dabei Ansätze, die die gestörte Regulation zwischen glutamatergem und dopaminergem System verbessern können.

148

PRVULOVIC Š MAURER

Literatur Abi-Saab, et al. (2001). Targeting the glutamate system. Current Issues in the Psychopharmacology of Schizophrenia, Breier, A., Tran, P.V., Herrera, J.M., Tollefson, G.D. and Bymaster, F.P., Eds. (Lippincott, Williams & Wilkins Healthcare, Philadelphia), pp. 304-332. Arnold, S.E. (1999). Neurodevelopmental abnormalities in schizophrenia: Insights from neuropathology. Dev. Psychopathol.; 11, 439-456. Barta, P.E., et al. (1997). Planum temporale asymmetry reversal in schizophrenia: Replication and relationship to grey matter abnormalities. Am J Psychiatry; 154: 611-667. Beckmann, H. (1999). Developmental malformations in cerebral structures of schizophrenic patients. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci.; 249 Suppl.4: 44-47. Callicott, J.H. et al. (2000). Physiological dysfunction of the dorsolateral prefrontal cortex in schizophrenia revisited. Cereb. Cortex; 10, 1078-1092. Callicott, J.H. et al. (2003) Complexity of prefrontal cortical dysfunction in schizophrenia: more than up or down. Am. J. Psychiatry; 160, 2209-2215. Curran, T. and D’Arcangelo, G. (1998). Role of reelin in the control of brain development. Brain Res. Brain Res. Rev.; 26, 285-294. Dierks, T., et al. (1999). Activation of Heschl’s gyrus during auditory hallucinations. Neuron; 22, 615-621. Ettinger, U., et al. (2001). Magnetic resonance imaging of the thalamus in first-episode psychosis. Am. J. Psychiatry; 158, 116-118. Fannon, D., Chitnis, X., Doku, V. et al. (2000). Features of structural brain abnormality detected in first-episode psychosis. Am. J. Psychiatry 157, 1829-1834. Guidotti, A., Auta, J., Davis, J.M. et al. (2000). Decrease in reelin and glutamic acid decarboxylase 67 (GAD67) expression in schizophrenia and bipolar disorder: A postmortem brain study. Arch. Gen. Psychiatry 57; 1061-1069. Hirayasu, Y., et al. (2001). Prefrontal gray matter volume reduction in first episode schizophrenia. Cereb Cortex ; 11, 374-381. Hietala J, et al. (1995). Presynaptic dopamine function in striatum of neuroleptic-naive schizophrenic patients. Lancet; 346, 1130-1131. Hubl, D., et al. (2004). Pathways that make voices: White matter changes in auditory hallucinations. Arch Gen Psychiatry; 61, 658-668. Kapur S. (2003). Psychosis as a State of Aberrant Salience: A Framework Linking Biology, Phenomenology, and Pharmacology in Schizophrenia. Am J Psychiatry; 160, 13-23. Lim, K.O., et al. (1999). Compromised white matter tract integrity in schizophrenia inferred from diffusion tensor imaging. Arch. Gen. Psychiatry; 56, 367-374.

NEUROBIOLOGISCHE GRUNDLAGEN DER PROPHYLAXE, DIAGNOSTIK UND THERAPIE 149

Moghaddam, B. (2003). Bringing order to the glutamate chaos in schizophrenia. Neuron; 40, 881-884. Noorbala, A., et al. (1999). Piracetam in the treatment of schizophrenia: implications for the glutamate hypothesis of schizophrenia. J Clin Pharm Ther; 24, 369-374. Pakkenberg, B. (1993). Total nerve cell number in neocortex in chronic schizophrenics and controls estimated using optical disectors. Biol. Psychiatry; 34, 768-772. Pei, L. et al. (2004). Regulation of dopamine D1 receptor function by physical interaction with the NMDA receptors. J. Neurosci; 24, 1149-1158. Poulet, E., et al. (2005). Slow transcranial magnetic stimulation can rapidly reduce resistant auditory hallucinations in schizophrenia. Biol. Psychiatry; 57, 188-191. Reith J, et al. (1994). Elevated dopa decarboxylase activity in living brain of patients with psychosis. Proc Natl Acad Sci USA; 91:11651-11654. Selemon, L.D., et al. (1998). Elevated neuronal density in prefrontal area 46 in brains from schizophrenic patients: application of a three-dimensional, stereologic counting method. J. Comp. Neurol.; 392, 402-412. Uhlhaas, P., et al. (2006). Dysfunctional long-range coordination of neural activity during Gestlt perception in schizophrenia. J. Neurosci.; 26; 8168-8175. Van de Ven, V., et al. Exploring functional connectivity of auditory verbal hallucinations in schizophrenia. Submitted. Winterer, G., et al. (2000). Schizophrenia: reduced signal-to-noise ratio and impaired phase-locking during information processing. Clin. Neurophysiol; 111, 837-849. Winterer G, Weinberger, R. (2004). Genes, dopamine and cortical signal-to-noise ratio in schizophrenia. Trends in Neurosci; 27, 683-690.

151

FELIX PFEFFER

Aktuelle Strategien der Psycho-Pharmakotherapie schizophrener Psychosen aus klinischer Sicht Ziel dieses Beitrages ist es, eine Übersicht über die aktuelle Psychopharmakotherapie schizophrener Psychosen zu geben, wobei praxisrelevante Aspekte im Vordergrund stehen sollen. Die folgende Darstellung setzt bestimmte Schwerpunkte und kann nicht den Anspruch erheben, das Thema der medikamentösen Behandlung schizophrener Psychosen vollständig abzuhandeln. Schizophrene Psychosen werden überwiegend mit Neuroleptika behandelt. Auch Benzodiazepine, stimmungsstabilisierende Medikamente (sog. Mood stabilizer) und Antidepressiva werden gelegentlich eingesetzt. Während die Indikationsstellung für eine adjuvante Behandlung mit Benzodiazepinen noch recht unkompliziert erscheint, ist die Frage der Behandlung mit stimmungsstabilisierenden Medikamenten oder Antidepressiva schwieriger zu beantworten, sie wird auch teilweise kontrovers behandelt. Dem Rahmen dieser Abhandlung entsprechend geht es primär um die Behandlung mit den eigentlichen antipsychotisch wirksamen Medikamenten, den Neuroleptika.

Wie wirken Neuroleptika? Neuroleptika sind antipsychotisch wirksame Medikamente. Auf psychopathologischer Ebene ist der antipsychotische Effekt der Neuroleptika empirisch gesichert. Auf biochemischer Ebene ist bekannt, dass Neuroleptika Neurotransmitterabläufe beeinflussen, sie wirken vorwiegend rezeptorantagonistisch. Der Rezeptorantagonismus im dopaminergen Bereich, und hier insbesondere am D2-Rezeptor, ist dabei von besonderer Bedeutung. Wie durch die atypischen Neuroletika sehr deutlich wurde, können jedoch auch andere Transmittersysteme für einen antipsychotischen Effekt eine Rolle spielen, so vor allem das serotonerge System. Allein aus dem Rezeptorprofil einer neuroleptischen Substanz lässt sich ihr antipsychotischer Effekt klinisch nicht zuverlässig ableiten. Eine Korrelation von Neurotransmitterwirkungen und psychopathologischer Ebene ist derzeit nur grob und lückenhaft möglich.

152

PFEFFER

Typische und atypische Neuroleptika Die Unterscheidung zwischen typischen und atypischen Neuroleptika ist eine klinische. Atypische Neuroleptika weisen im Unterschied zu typischen Neuroleptika eine vergleichsweise geringe Inzidenz für extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen auf (Naber, Lambert et al., 2000). Für den Unterschied in der Auslösung solcher motorischer Phänomene lassen sich Erklärungen auf der Neurotransmitterebene heranziehen. Für die älteren typischen Neuroleptika gilt, dass mit höherer antipsychotischer Potenz die Dopaminrezeptorblockade (insbesondere am D2-Rezeptor) zunehmend in den Vordergrund tritt; hochpotente typische Neuroleptika sind starke Dopaminrezeptorantagonisten. Bei den meist jüngeren atypischen Neuroleptika wird das dopaminerge System überwiegend spezifischer moduliert, und es kommt auch bei den meisten Präparaten zu einer besonderen Modulation des serotonergen Systems. Die parallele Blockade von Dopamin- und Serotoninrezeptoren gilt für die Wirkung der meisten atypischen Neuroleptika als bedeutsam, sie kommt aber auch bei manchen typischen Neuroleptika vor (z. B. Flupentixol).

Positive Wirkungen der Neuroleptika auf psychopathologischer Ebene Der antipsychotische Effekt von Neuroleptika hat auf psychopathologischer Ebene folgende positiven Auswirkungen: Das Ich wird gefestigt durch eine verbesserte Integration psychischer Funktionen. • Pathologische Gedankenabläufe werden wieder in Ordnung gebracht. • Psychotische Angst wird gelöst, und die Stimmungslage wird ausgeglichener. • Das psychische Energieniveau (der Antrieb) wird normalisiert. • Autismus wird überwunden, und die allgemeine Beziehungsfähigkeit wird gebessert. • Erregungszustände und psychotische Anspannung werden gedämpft. • Wahnerleben wird aufgelöst, und Halluzinationen werden beseitigt. • Katatone Zustände werden überwunden.

AKTUELLE STRATEGIEN DER PSYCHO-PHARMAKOTHERAPIE SCHIZOPHRENER PSYCHOSEN 153

Die positive klinische Wirkung der neuroleptischen Behandlung ist somit erheblich. Wie ist es in Anbetracht dessen möglich, dass die Wirkung von Neuroleptika dennoch so häufig nicht positiv erlebt wird?

Gründe für eine negativ erlebte Neuroleptikatherapie Auf psychopathologischer Ebene werden die häufig dämpfende Wirkung der Neuroleptika, auch wenn sie nur diskret ist, und ein damit verbundener Vitalitätsverlust als störend erlebt. Die antipsychotische Wirkung der Neuroleptika lässt sich wesentlich durch die Blockade pathologischer Abläufe im Gehirn erklären. Es erscheint jedoch auch nahe liegend, dass nicht nur pathologische Abläufe durch Neuroleptika blockiert werden. Eine möglichst spezifische Blockade der krankhaften Abläufe war und ist Ziel weiterer medikamentöser Entwicklungen. Neuroleptika bewirken in vielen Fällen einen (sehr unterschiedlich ausgeprägten) Vitalitätsverlust, es ist aber zu beachten, dass eine neuroleptische Medikation durchaus auch die Vitalität von Patienten positiv beeinflussen kann. Ein vorstellbarer Mechanismus ist hier die Überwindung von psychotischen Hemmungen bzw. Blockaden durch die neuroleptische Therapie. Insbesondere atypische Neuroleptika wirken sich häufig günstig auf die Vitalität von Patienten aus. Auf psychodynamischer Ebene ist für ein negatives Erleben der Neuroleptikatherapie relevant, dass die neuroleptische Medikation die Realität der Erkrankung konkret macht. Durch kontinuierliche Medikamenteneinnahme wird das „krank Sein“ immer wieder augenfällig. Weiterhin ist zu beachten, dass die Aufgabe einer psychotischen Welt und die Wiederherstellung eines adäquaten Realitätsbezuges von Patienten nicht selten nicht gewünscht werden. Weiterhin können somatische Nebenwirkungen einem positiven Erleben einer Neuroleptikatherapie im Wege stehen. Relevantere somatische Nebenwirkungen sind keine stets vorhandenen Komplikationen einer Neuroleptikatherapie, sie können aber durchaus ein erhebliches Ausmaß annehmen und für den Patienten eine schwerwiegende Belastung darstellen Die Berücksichtigung der Gründe für eine negativ erlebte Neuroleptikatherapie ist für den klinisch tätigen Psychiater außerordentlich wichtig. Sie schafft die Voraussetzung für ein medikamentöses Regime, das die Verbesserung psychopathologischer Parameter, die subjektive Befindlichkeit und die körperliche Verfassung des Patienten gleichermaßen im Auge behält.

154

PFEFFER

Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass eine gute antipsychotische Medikation im Einzelfall sehr individuell ausgestaltet erfolgen muss.

Übersicht gängiger Neuroleptika Für eine neuroleptische Therapie stehen uns derzeit eine Menge von Präparaten zur Verfügung. Die im Folgenden dargestellte Auflistung von Präparaten ist einerseits nach ihrer chemischen Struktur und andererseits nach ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der typischen oder atypischen Neuroleptika eingeteilt. Anmerkung: Eingeklammert hinter dem Wirkstoff findet sich jeweils der Handelsname des Erstanbieters. TYPISCHE NEUROLEPTIKA Butyrophenone:

Benperidol (Glianimon) Haloperidol (Haldol) Bromperidol (Impromen) Pipamperon (Dipiperon) Melperon (Eunerpan)

Diphenylbutylpiperidine:

Fluspirilen (Imap) Pimozid (Orap)

Trizyklische Neuroleptika: Phenothiazine: Fluphenazin (Lyogen) Perphenazin (Decentan) Perazin (Taxilan) Thioridazin (Melleril) Levomepromazin (Neurocil) Promethazin (Atosil) Thioxantene: Flupentixol (Fluanxol) Zuclopentixol (Ciatyl-Z) Chlorprothixen (Truxal) Andere trizyklische Neuroleptika: Prothipendyl (Dominal)

AKTUELLE STRATEGIEN DER PSYCHO-PHARMAKOTHERAPIE SCHIZOPHRENER PSYCHOSEN 155

ATYPISCHE NEUROLEPTIKA Fortsetzung Andere trizyklische Neuroleptika:

Clozapin (Leponex) Olanzapin (Zyprexa) Quetiapin (Seroquel) Zotepin (Nipolept)

Benzamide:

Amisulprid (Solian) Sulpirid (Dogmatil)

Benzisoxazolpiperidin:

Risperidon (Risperdal)

Benzisothiazylpiperazin:

Ziprasidon (Zeldox)

Dichlorphenyl-Piperazinyl-Chiloninon: Aripiprazol (Abilify) Aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten chemischen Gruppe allein kann die Wirkweise eines Neuroleptikums nicht eindeutig abgeleitet werden. So gehören sowohl das hochpotente und wenig sedierende Haloperidol als auch das niedrigpotente und gut sedierende Pipamperon zur Gruppe der Butyrophenone. Im Hinblick auf Überempfindlichkeitsreaktionen ist jedoch für den Präparatewechsel die Zugehörigkeit des problematischen Präparates zu einer bestimmten chemischen Gruppe durchaus relevant, es sollte auf ein Präparat einer anderen chemischen Gruppe gewechselt werden. Die am meisten toxischen Präparate gehören zur Gruppe der trizyklischen Neuroleptika, so das Phenothiazin Thioridazin und das Atypikum Clozapin. Typische Neuroleptika werden nach ihrer antipsychotischen Potenz in hoch-, mittel- und niedrigpotente Präparate unterschieden. Mit abnehmender Potenz steigt im Allgemeinen das sedierende Potential. Als hochpotent gelten Benperidol, Haloperidol, Bromperidol, Fluphenazin, Perphenazin, Flupentixol und Fluspirilen. Als mittelpotent werden Zuclopentixol und Perazin eingestuft, und als niedrigpotent werden Thioridazin, Levomepromazin, Chlorprothixen, Pipamperon, Melperon und Promethazin angesehen. Insbesondere bei den als mittelpotent eingestuften Präparaten kann durch höhere Dosierung in manchen Fällen eine den hochpotenten Präparaten vergleichbare antipsychotische Wirkstärke erreicht werden. Es ist zu beachten, dass eine festgelegte höhere Potenz nicht immer auch eine bessere antipsychotische Wirksamkeit bedeutet. Zum Beispiel kann das als mittelpo-

156

PFEFFER

tent eingestufte Zuclopenthixol im Einzelfall wirksamer sein als das als hochpotent eingestufte Haloperidol. Für atypische Neuroleptika gibt es keine vergleichbare Einteilung nach ihrer Potenz in eher antipsychotische und eher sedierende Präparate.

Erwünschte und unerwünschte Wirkungen von Neuroleptika Im Hinblick auf erwünschte Wirkungen ist festzustellen, dass grundsätzlich jedes Neuroleptikum in der Lage ist, alle Komponenten des psychotischen Erlebens zu reduzieren. Typische und atypische Neuroleptika wirken sowohl auf produktive als auch auf residuale Symptomatik. Der Schwerpunkt der klinischen Wirkung ist jedoch bei den verschiedenen Präparaten teilweise durchaus unterschiedlich. Atypische Neuroleptika zeigen unstrittig besondere Stärken im Bereich residualer Symptomatik, während hochpotente typische Neuroleptika im Bereich produktiver Symptomatik tendenziell wirksamer zu sein scheinen. Die Annahme der eher besseren Wirksamkeit der hochpotenten typischen Neuroleptika bei produktiv-psychotischer Symptomatik basiert auf klinischen Eindrücken, Ergebnis größerer kontrollierter Studien ist dies nicht. Dass wir hierzu keine entsprechenden kontrollierten Studien vorliegen haben, könnte unter anderem daran liegen, dass schwerst akut kranke Patienten in Pflichtversorgungskliniken zu wenig in entsprechenden Studien berücksichtigt wurden. Für die Behandlung eines konkreten Patienten ist relevant, dass die individuelle Reaktion auf einzelne Neuroleptika sowohl bezüglich erwünschter als auch bezüglich unerwünschter Effekte oft recht verschieden ist. In Ihren Nebenwirkungen unterscheiden sich einzelne Präparate eher deutlicher als in ihren erwünschten Wirkungen. Das Verhältnis von erwünschten zu unerwünschten Wirkungen ist nun für die neuroleptische Therapie im Einzelfall elementar. Somatische Nebenwirkungen verdienen besondere Beachtung. Sie können den Erfolg erwünschter antipsychotischer Effekte beträchtlich relativieren. Nur manchmal ist bei störenden Nebenwirkungen eine Dosisreduktion möglich und ausreichend. Die Vielfalt der verfügbaren Neuroleptika ermöglicht in vielen Fällen die Umgehung relevanter Nebenwirkungen durch Präparatewechsel. Die Kenntnis, unter welchen Präparaten welche Nebenwirkungen in welchem Ausmaß auftreten, ist von hoher klinischer Relevanz.

AKTUELLE STRATEGIEN DER PSYCHO-PHARMAKOTHERAPIE SCHIZOPHRENER PSYCHOSEN 157

Wichtigste somatische Nebenwirkungen Die wichtigsten somatischen Nebenwirkungen lassen sich in folgende Punkte einteilen, die im Weiteren gesondert behandelt werden sollen: • extrapyramidalmotorische Störungen (EPS) • Gewichtszunahme mit Komplikationen • Hyperprolaktinämie-bedingte Nebenwirkungen, insbesondere Osteoporose-Induktion • sexuelle Dysfunktion • kardiozirkulatorische Störungen • Blutbildveränderungen • weitere Nebenwirkungen Extrapyramidalmotorische Störungen (EPS) EPS sind die bekanntesten Nebenwirkungen von Neuroleptika. Sie werden in der Regel als ziemlich beeinträchtigend erlebt. Die negativen Auswirkungen auch von diskreteren EPS auf die Lebensqualität von Patienten werden nicht so selten unterschätzt. Zu den EPS zählen 1) Frühdyskinesien: Sie treten innerhalb der ersten Behandlungstage auf und betreffen besonders häufig die Muskulatur von Schlund, Nacken, Gesicht und Augen. Anticholinergika (z.B. Biperiden) sind wirksame Gegenmittel. 2) Parkinsonoid: Es handelt sich hierbei um ein Neuroleptika-induziertes Parkinson-Syndrom, das meist innerhalb der ersten Behandlungswochen auftritt. Anticholinergika sind wirksame Gegenmittel, ihr Effekt ist aber teilweise begrenzt. 3) Akathisie: Diese Neuroleptika-induzierte Sitzunruhe beginnt in den ersten Behandlungswochen häufig mit etwas Verzögerung und ist nicht einfach zu behandeln. Anticholinergika zeigen oft keine befriedigende Wirkung. Betablocker können versucht werden. Die hierbei auch empfohlenen Benzodiazepine sind keine unproblematische Behandlungsoption (Suchtentwicklung, Reaktions- und Konzentrationsdefizite).

158

PFEFFER

4) Spätdyskinesien: Es handelt sich um Hyperkinesien, die vor allem im Bereich der orofazialen Muskulatur und im Bereich der Fingermuskulatur auffallen, aber auch andere Muskelgruppen betreffen können. Ihr Ausmaß variiert beträchtlich. Diskrete Formen dominieren, es kann aber auch zu äußerst entstellenden und funktionell beeinträchtigenden Formen kommen. Spätdyskinesien können nach längerer, meist mehrjähriger neuroleptischer Behandlung auftreten. Ihre Inzidenz nimmt mit zunehmender Behandlungsdauer zu. Nach langjähriger Gabe von typischen Neuroleptika wird eine Häufigkeit von etwa 20 % angenommen (Berger, 2004). Die insgesamt über längere Zeiträume verabreichte Neuroleptikamenge spielt eine Rolle (Möller, Laux et al., 2003). Spätdyskinesien gelten als teilweise irreversibel (eventuell zu circa 50%) und sind deswegen besonders zu beachten. Sie sind gegebenenfalls mit Tiaprid zu beeinflussen. Im Hinblick auf die Entstehung von EPS sind besonders problematisch hochpotente typische Neuroleptika, etwas weniger mittelpotente typische Neuroleptika. Unter den atypischen Neuroleptika sind EPS zwar insgesamt deutlich seltener, kommen jedoch auch vor. Bei den Atypika sehen wir am häufigsten EPS unter Risperidon und Amisulprid. Besonders günstig im Hinblick auf das EPS-Risiko sind Clozapin und Quetiapin. Unter Clozapin werden fast keine EPS beobachtet. Bei bereits aufgetretenen Spätdyskinesien bietet eine Umstellung auf Clozapin die Chance einer Rückbildung (Louza und Bassitt, 2005), auf jeden Fall tritt man hiermit einer weiteren Progredienz entgegen. Quetiapin kommt dem Clozapin im Hinblick auf EPSFreiheit zwar nahe, erscheint ihm aber nicht ganz gleichwertig zu sein. Bezüglich einer Behandlung von EPS mit Anticholinergika ist darauf hinzuweisen, dass hierdurch zwar die akuten Symptome gebessert werden können und auch ein Parkinsonoid längerfristig unterdrückt werden kann, das Risiko von Spätdyskinesien wird hierdurch aber nicht reduziert. Es wird angenommen, dass frühe EPS mit einem deutlich erhöhten Risiko für Spätdyskinesien korrelieren (Cunningham Owens, 1999). Gewichtszunahme mit Komplikationen Das Problem der Gewichtszunahme fällt in der Regel nicht so früh auf wie das Problem der EPS. Eine erhebliche Gewichtszunahme als Begleiterscheinung einer neuroleptischen Therapie hat sich jedoch in den letzten Jahren als eine weitere häufige und gravierende Nebenwirkung herausgestellt, die neben subjektiven Beeinträchtigungen des Patienten auch teils

AKTUELLE STRATEGIEN DER PSYCHO-PHARMAKOTHERAPIE SCHIZOPHRENER PSYCHOSEN 159

beträchtliche somatische Risiken in sich birgt. Beträchtliche Veränderungen der Körperfülle unter neuroleptischer Therapie sind in ihrer Bedeutung für das subjektive Erleben der betroffenen Patienten bisher eher unterschätzt worden. Die somatischen Komplikationen, die mit einer deutlichen Gewichtszunahme unter Neuroleptikatherapie einhergehen, zeichnen sich zunehmend deutlicher ab. Eine solche Gewichtszunahme kann zu Dyslipidämie und Hyperglykämie führen, es kann sich das Vollbild eines metabolischen Syndroms herausbilden (abdominale Adipositas, Dyslipidämie, Hyperglykämie und arterielle Hypertonie). Damit erhöht sich das Arterioskleroserisiko mit den entsprechenden Komplikationsmöglichkeiten beträchtlich. Die Induktion eines Diabetes mellitus Typ II als Komplikation einer beträchtlichen Gewichtszunahme unter Neuroleptikatherapie ist ein besonderes Problem, insbesondere im Hinblick auf mögliche Spätfolgen wie Angiopathie, Nephropathie, Neuropathie und Retinopathie. In diesem Zusammenhang relevant ist auch, dass die bezüglich Gewichtszunahme problematischsten Neuroleptika auch eine erhöhte Inzidenz von Diabetes mellitus Typ II ohne Gewichtszunahme aufweisen. Direkte Effekte der entsprechenden Präparate auf das Pankreas könnten hier eine Rolle spielen (Newcomer, 2005). Es ist weiterhin anzunehmen, dass eine beträchtliche Neuroleptikainduzierte Gewichtszunahme die Inzidenz klinisch relevanter Arthrosen erhöht (insbesondere Cox- und Gonarthrose). Außerdem wurde unter massiver Neuroleptika-induzierter Gewichtszunahme die Ausbildung eines Schlaf-Apnoe-Syndromes beobachtet. Hier komplizieren die Effekte des unerholsamen Schlafes das klinische Bild der primären Erkrankung. Im Hinblick auf Gewichtszunahme sind die problematischsten Pharmaka mit Abstand Olanzapin und Clozapin. Unter diesen beiden Präparaten besteht auch das höchste Risiko der Entwicklung eines Diabetes mellitus Typ II (Cohen, 2004). In vielen Übersichten wird Clozapin als noch stärker gewichtsinduzierend beschrieben. Dieser Effekt könnte damit zusammenhängen, dass die mit Clozapin behandelten Patienten in der Regel schwerer krank sind als die mit Olanzapin behandelten Patienten und schon aus diesem Grund mit der Appetitregulation größere Schwierigkeiten haben. Wir haben bezüglich der Gewichtsproblematik von Olanzapin einen noch ungünstigeren Eindruck gewonnen als von Clozapin. In einer prospektiven Doppelblindstudie (Lindenmayer, Czobor et al., 2003) findet sich dieser Eindruck wieder. Die Herstellerfirma des Olanzapinpräparates Zyprexa (Lil-

160

PFEFFER

ly) sieht Indizien dafür, dass unter der Velotab-Darreichungsform die gefürchteten Gewichtszunahmen deutlich geringer ausfallen als unter der konventionellen Tablettenform. Eine kleine Studie wird diesbezüglich angeführt (De Haan, Van Amelsvoort et al., 2004). Eine direkte Beeinflussung des gastrointestinalen Systems durch die konventionellen Tabletten wird hier als Ursache betrachtet, die durch eine orale Resorption zu umgehen sei. Inwieweit sich dies erhärten lässt, werden klinische Erfahrung und Studien zeigen. Kaum problematisch bezüglich Gewichtszunahme sind die Präparate Aripiprazol und Ziprasidon. Zwischen Olanzapin und Clozapin einerseits und Aripiprazol und Ziprasidon andererseits bewegen sich mit abnehmender Tendenz Risperidon und Quetiapin (Nasrallah und Newcomer, 2004. Sussman, 2003). Unter den Typika sind die hochpotenten Präparate eher weniger, die niedrigpotenten Präparate dagegen teilweise deutlich stärker gewichtsinduzierend. Eine deutliche Gewichtszunahme bereits in den ersten Behandlungswochen weist auf eine kritische Gewichtsentwicklung im weiteren Verlauf der Behandlung hin (Kinon, Kaiser et al., 2005). Anfangs wöchentliche Gewichtskontrollen sind hilfreich, solche Trends zu erkennen und entsprechend gegenzusteuern. Körperliche Betätigung und spezielle diätetische Maßnahmen sind zwar grundsätzlich sinnvoll, aber in der Realität oft schlecht umzusetzen. Zeichnet sich eine rasche Gewichtszunahme ab, ist eine medikamentöse Umstellung ernsthaft zu erwägen. Hyperprolaktinämie-bedingte Nebenwirkungen, insbesondere Osteoporose-Induktion Zyklusstörungen, Galaktorrhoe und Libidoverlust in Zusammenhang mit einer Hyperprolaktinämie unter Neuroleptikatherapie sind gut bekannte Phänomene (Marder, Essock et al., 2004). Weniger klar ist die Auswirkung von Neuroleptika-bedingten Hyperprolaktinämien auf das Risiko einer Osteoporoseinduktion. Die Osteoporoseproblematik hat dadurch nochmals besondere Brisanz bekommen, dass mit Amisulprid und Risperidon zwei neuere atypische Neuroleptika auf den Markt gekommen sind, die den Prolaktinspiegel noch wesentlich stärker erhöhen können als dies bei den hochpotenten typischen Neuroleptika der Fall ist (O´Keane und Meaney, 2005). Mittelpotente Neuroleptika erhöhen den Prolaktinspiegel in der Regel etwas weniger als hochpotente Neuroleptika. Nur minimale oder sogar gar keine Prolaktinspiegelerhöhungen sind unter Clozapin zu verzeichnen

AKTUELLE STRATEGIEN DER PSYCHO-PHARMAKOTHERAPIE SCHIZOPHRENER PSYCHOSEN 161

(Melkersson, 2005), fast so gut diesbezüglich ist Quetiapin. Relativ wenig Prolaktinspiegelerhöhungen sind unter Ziprasidon und Olanzapin zu verzeichnen, günstig erscheint diesbezüglich auch Aripiprazol. Bei beträchtlichen, längerfristigen Prolaktinspiegelerhöhungen unter Neuroleptika ist grundsätzlich eine Osteoporoseinduktion zu befürchten (Meaney, Smith et al., 2004). Zu beachten ist hierbei jedoch die multifaktorielle Genese der Osteoporose, sie wird auch begünstigt durch so genannte Lifestyle-Faktoren wie Bewegungsmangel und Rauchen, die bei schizophrenen Patienten sehr häufig vorkommen. Schizophrene Patienten haben ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Osteoporose (Lean und De Smedt, 2004). Die konkrete Rolle der Neuroleptika, insbesondere der besonders stark Prolaktinspiegel-erhöhenden neueren Atypika Amisulprid und Risperidon, ist hier noch nicht näher geklärt. Nahe liegend erscheint, dass sich viel bewegende und nicht rauchende Patienten sehr viel weniger gefährdet sein werden als stark antriebsarme, rauchende Patienten. Sexuelle Dysfunktion Eine sexuelle Dysfunktion kommt unter Neuroleptikatherapie nicht selten vor. Sexuelle Dysfunktionen sind eher wenig beachtete Nebenwirkungen einer neuroleptischen Therapie, die aber ein durchaus häufiger Grund für einen Therapieabbruch darstellen. Als Ursachen hierfür anzusehen sind insbesondere ausgeprägtere vegetative Nebenwirkungen, eine Hyperprolaktinämie-Induktion und antidopaminerge Effekte der neuroleptischen Medikation. Als besonders ungünstig bezüglich der Problematik der sexuellen Dysfunktion haben sich zahlreiche typische Neuroleptika, insbesondere Thioridazin, herausgestellt (Fortier, Trudel et al., 2000). Auch Risperidon scheint eine deutlich erhöhte Inzidenz sexueller Dysfunktionen aufzuweisen (Knegtering, Lambers et al., 2000). Eher vorteilhaft sind hier Quetiapin (Knegtering, Castelein et al., 2004. Montejo Gonzales, Rico-Villademoros et al., 2005) und möglicherweise auch Aripiprazol und Ziprasidon. Unter den Typika könnte Zuclopentixol mit einem geringeren Risiko sexueller Dysfunktionen versehen sein. Einige Patienten, die wir von Haloperidol auf Zuclopentixol umstellten, berichteten über deutliche Verbesserungen im sexuellen Bereich.

162

PFEFFER

Kardiozirkulatorische Störungen Unter den kardiozirkulatorischen Nebenwirkungen von Neuroleptika sind insbesondere orthostatische Dysregulationen und QTc-Zeit-Veränderungen zu beachten. Orthostatische Dysregulationen unter Neuroleptikatherapie sind nicht selten. Insbesondere bei Patienten mit Arteriosklerose sind dabei ernsthafte Durchblutungsstörungen zu befürchten, Stürze mit Frakturen können vorkommen. Eine bestehende antihypertensive Medikation kann zu kritischen additiven Effekten führen. In erster Linie sind niedrigpotente Neuroleptika, Clozapin und Risperidon mit dem Problem der orthostatischen Dysregulation behaftet. Dieses Problem verliert jedoch in vielen Fällen nach einer Anpassungsphase an Bedeutung. Selten, aber unter Umständen besonders gefährlich sind Herzrhythmusstörungen unter Neuroleptikatherapie. Unter Thioridazin und Pimozid ist es offenbar aufgrund von ventrikulären Arrhythmien in der Folge einer erheblichen OTc-Zeit- Verlängerung (Torsade de pointes) zu Todesfällen gekommen (Benkert und Hippius, 2005). Auch Ziprasidon hat einen etwas ausgeprägteren QTc-Zeit-verlängernden Effekt. Unter Clozapin kann es in sehr seltenen Fällen zu gefährlichen Karditiden kommen (Merrill, Dec et al., 2005). Häufig sind unter Clozapin einfache Herzfrequenzbeschleunigungen, die ggfs. mit einem Betablocker zu behandeln sind. Vor allem bei Gabe von Thioridazin, Pimozid und Clozapin sind EKGKontrollen zu empfehlen, in bestimmten Fällen aber auch bei Gabe von anderen Neuroleptika (kardiale Vorschädigung, Hochdosistherapie, mögliche Interaktionen mit anderen Medikamenten insbesondere im Hinblick auf QTc-Zeit-Veränderungen). Blutbildveränderungen Kritische Blutbildveränderungen, insbesondere ausgeprägtere Neutropenien, sind eine seltene, aber besonders gefürchtete Komplikation einer Neuroleptikatherapie. Am häufigsten wurden Agranulozytosen bisher unter Clozapin beobachtet, sie können aber auch unter anderen Neuroleptika vorkommen, insbesondere unter Perazin und Thioridazin (King und Wager, 1998. Grohmann, Schmidt et al., 1989). Nicht nur unter Clozapin, sondern auch unter Perazin und Thioridazin sollten engmaschigere Blutbildkontrol-

AKTUELLE STRATEGIEN DER PSYCHO-PHARMAKOTHERAPIE SCHIZOPHRENER PSYCHOSEN 163

len durchgeführt werden, anfangs wöchentlich. Relativ sicher bezüglich Blutbildveränderungen sind Butyrophenone wie Haloperidol und Benperidol und das Benzamid Amisulprid. Weitere Nebenwirkungen Nicht alle möglichen Nebenwirkungen von Neuroleptika können in diesem Zusammenhang aufgeführt werden. Konkret angeführt seien an dieser Stelle noch das maligne neuroleptische Syndrom und anticholinerge Nebenwirkungen. Das maligne neuroleptische Syndrom (MNS) ist eine seltene, aber gefürchtete Komplikation, die möglicherweise im Rahmen einer Therapie mit allen Neuroleptika vorkommen kann, gehäuft jedoch offenbar bei hochpotenten typischen Neuroleptika. Psychoorganische Alteration, vegetative Auffälligkeiten, Muskelsteifigkeit und CK-Erhöhung prägen das klinische Bild. Die Früherkennung ist wichtig zur Vermeidung von vitaler Gefährdung. Nach einer Pause der neuroleptischen Medikation sollte auf ein atypisches Neuroleptikum mit möglichst geringer Inzidenz von EPS umgestellt werden. Anticholinerge Nebenwirkungen stellen sich unter anderem dar als Mundtrockenheit, Akkomodationsstörungen, Obstipation und Miktionsstörungen, auch als psychoorganische Alteration von eher diskreten kognitiven Störungen bis hin zum anticholinergen Delir. Eine positive Seite einer anticholinergen Wirkkomponente dagegen liegt in einer möglichen Milderung von EPS. Besonders anticholinerg wirksam sind Clozapin, Promethazin, Levomepromazin, Thioridazin und Olanzapin. Bewertung der Nebenwirkungen einer Neuroleptikatherapie aus klinisch-praktischer Sicht Auf mögliche somatische Nebenwirkungen einer Neuroleptikatherapie ist recht ausführlich eingegangen worden. Die Kenntnis von solchen Nebenwirkungen ist die Voraussetzung ihrer frühzeitigen Entdeckung, was eine entscheidende Voraussetzung zur Vermeidung relevanterer Komplikationen bedeutet. Für den Kliniker ist es wichtig, auch die späten Komplikationen einer Neuroleptikatherapie im Auge zu behalten. Hier sind nicht nur Spätdyskinesien, sondern unter anderem auch Diabetes mellitus und Osteoporose mit entsprechenden Komplikationen zu beachten.

164

PFEFFER

Nebenwirkungen sind häufig dosisabhängig. Eine signifikante Dosisreduktion, die zur befriedigenden Beseitigung der Nebenwirkungen führt, ist jedoch im Hinblick auf die erforderliche Wirkung nur manchmal möglich. Sehr wichtig für die Praxis ist, dass relevante Nebenwirkungen oft durch Präparatewechsel umgangen werden können. Zum Beispiel sind manche Patienten empfindlich bezüglich EPS unter Flupentixol, nicht aber bezüglich Gewichtszunahme unter Olanzapin, bei anderen Patienten ist es umgekehrt. Die Vielfalt der verfügbaren Präparate ermöglicht es meistens, den individuellen Empfindlichkeiten der Patienten bezüglich bestimmter Nebenwirkungen Rechnung zu tragen und solche Präparate auszuwählen, mit denen Nebenwirkungen bei ausreichender Wirkung vermieden oder zumindest in einem passablen Rahmen gehalten werden können. Sollten Nebenwirkungen nicht vermieden werden können, ist es immer wieder wichtig, der Beeinträchtigung durch Nebenwirkungen die Entlastungen durch die therapeutische Wirkung entgegen zu halten. Bei übermäßiger Kritik an Nebenwirkungen wird die Zeit, in der es noch keine Neuroleptika gab, mit ihren Auswirkungen auf das Leben schizophrener Patienten allzu leicht vergessen; unbeeinflusstes subjektives Leiden, progredienter Verlauf der Erkrankung und ständige Verwahrung in Anstalten waren die Folgen. Mit der Neuroleptikaära konnten erhebliche Befindlichkeitsverbesserungen der Patienten erreicht werden, die Integration in der Gemeinde wurde die Regel. Die Wiederherstellung eines ausreichenden Realitätsbezuges durch neuroleptische Therapie ermöglicht weitergehende psychound soziotherapeutische Maßnahmen.

Neuroleptische Differentialtherapie in bestimmten klinischen Situationen Grundsätzlich gilt, dass es stets eine individuelle Auswahl eines Neuroleptikums für einen bestimmten Patienten geben sollte, die sich an seinem konkreten klinischen Bild, seinem körperlichen Zustand, Vorerfahrungen mit Medikation und besonderen Bedürfnissen orientiert. Ein günstiges Verhältnis von erwünschten und unerwünschten Wirkungen ist für die Auswahl eines bestimmten Neuroleptikums für einen bestimmten Patienten in einer bestimmten Situation entscheidend. Dennoch lassen sich im Hinblick auf spezielle klinische Situationen grundsätzliche allgemeine Präferenzen formulieren.

AKTUELLE STRATEGIEN DER PSYCHO-PHARMAKOTHERAPIE SCHIZOPHRENER PSYCHOSEN 165

Vorbemerkt sei hier, dass kontrollierte Studien sich überwiegend auf schizophrene Erkrankungen allgemein beziehen. Eine speziellere Betrachtung in solchen Studien geht in der Regel nur auf so genannte positive und so genannte negative Symptome ein. Im Folgenden soll auf speziellere klinische Situationen eingegangen werden, wobei in die therapeutischen Schlussfolgerungen neben Studienergebnissen die klinische Erfahrung einer Pflichtversorgungsklinik wesentlich eingeflossen ist. Floride paranoid-halluzinatorische Symptomatik mit Anspannung Bei einer floriden paranoid-halluzinatorischen Symptomatik mit deutlicher Anspannung und der Gefahr von Erregungszuständen halten wir typische Neuroleptika in der Regel für die Mittel der ersten Wahl. Die Kombination eines hochpotenten Neuroleptikums mit einem niedrigpotenten Neuroleptikum ist oft sinnvoll (z. B. Haloperidol plus Promethazin). Alternativ ist auch die Kombination eines hochpotenten Neuroleptikums mit einem Benzodiazepin bewährt (z. B. Haloperidol plus Diazepam). In dieser klinischen Situation steht die Ausschaltung von Gefährdungsmomenten im Vordergrund. Eine bewährte, sichere und möglichst rasch einsetzende Wirkung der Medikation ist gefordert. Sie dient der Sicherheit von betroffenem Patienten, Mitpatienten und Klinikpersonal und trägt dazu bei, Fixierungen vermeiden zu können. Hier haben wir atypische Neuroleptika oft als weniger verlässlich erlebt. Das EPS-Risiko spielt in dieser Situation eine untergeordnete Rolle und kann durch gleichzeitige Gabe niedrigpotenter Neuroleptika mit deutlicher anticholinerger Wirkkomponente reduziert werden (z. B. Promethazin, Levomepromazin). In dieser Situation ist weiterhin höchst relevant, dass hochpotente Butyrophenone (z. B. Haloperidol) relativ sicher sind bei Verdacht auf begleitende Drogeneffekte, eine häufige Problematik in Aufnahmesituationen in Kliniken. Bezüglich der Verabreichung als intramuskuläre Injektion ist dagegen bei dem atypischen Neuroleptikum Olanzapin bereits bei therapeutischer Kombination mit Benzodiazepinen Vorsicht geboten, so dass es als Alternative zu typischen Neuroleptika im Fall einer Notwendigkeit einer Injektion in unklaren Aufnahmesituationen häufig gar nicht in Frage kommt.

166

PFEFFER

Floride katatone Symptomatik Eine floride katatone Symptomatik ist grundsätzlich riskant, sowohl die Ausbildung einer potentiell tödlichen perniziösen Verlaufsform als auch raptusartige Erregungszustände sind zu befürchten. Auch hier kommt es auf eine bewährte, sichere und möglichst rasch einsetzende neuroleptische Wirkung an. Typische hochpotente Neuroleptika erfüllen diese Kriterien, sie sollten in dieser Situation mit Benzodiazepinen kombiniert werden, da die Anxiolyse hier von besonderer Bedeutung ist; bewährt ist in dieser Indikation Lorazepam. Die Gabe von typischen Neuroleptika kann jedoch zum Problem einer Amalgamierung von genuiner katatoner Symptomatik mit EPS führen. Unter den atypischen Neuroleptika ist in dieser Situation insbesondere an Clozapin zu denken (Lausberg und Hellweg, 1998); es kann als potentestes atypisches Neuroleptikum angesehen werden (Davis, Chen et al., 2003) und induziert gar nicht oder kaum EPS. In Anbetracht der beträchtlichen krankheitsimmanenten Gefahren steht das seltene Risiko einer Agranulozytoseinduktion hierbei im Hintergrund. Sollte eine suffiziente medikamentöse Behandlung nicht möglich sein oder mit intolerablen Nebenwirkungen verbunden sein, kann in dieser Situation auch Elektrokrampftherapie notwendig werden. Mildere paranoid-halluzinatorische Symptomatik/ Hebephren-desorganisierte Symptomatik In diesen klinischen Situationen steht für die medikamentöse Behandlung im Vordergrund, dass der betroffene Patient die neuroleptische Therapie positiv erleben kann. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für eine längerfristige Compliance. Die Vermeidung von unerwünschten Begleiteffekten der neuroleptischen Medikation bekommt somit einen zentralen Stellenwert. Freilich ist ein ausreichender antipsychotischer Effekt der Medikation auch notwendig. Im Falle einer unzureichenden Wirkung kann es passieren, dass der Patient keinen ausreichenden Grund für die weitere Einnahme der betreffenden Medikation sieht. Weiterhin ist zu beachten, dass eine anhaltende psychotische Symptomatik selbst einen traumatischen Effekt auf den Patienten haben kann. Das auszuwählende Neuroleptikum soll also einerseits möglichst nebenwirkungsarm sein, andererseits aber auch über eine ausreichende Wirkpotenz verfügen. Mittel der ersten Wahl sind hier atypische Neuroleptika mit ihrer relativ geringen Inzidenz von EPS; sie haben auch in der Regel günstigere Wirkun-

AKTUELLE STRATEGIEN DER PSYCHO-PHARMAKOTHERAPIE SCHIZOPHRENER PSYCHOSEN 167

gen auf Stimmung, Antriebsdefizit und kognitive Störungen (Falkai und Pajonk, 2003. Schmauß, 2002). In erster Linie seien hier die Präparate Risperidon, Olanzapin, Amisulprid, Quetiapin, Ziprasidon und Aripiprazol genannt. Clozapin ist aufgrund seines höheren Toxizitätspotentials nur dann in dieser Indikation anzuwenden, wenn sich andere Präparate als nicht ausreichend wirksam erweisen oder wenn EPS auch unter anderen Atypika sich als intolerabel herausstellen. Zotepin und Sulpirid werden hier unter den Atypika nicht näher aufgeführt, weil sie nach unserer Einschätzung in der Praxis nach Einführung der moderneren Atypika weniger gebräuchlich geworden sind, vermutlich wegen eines in der Regel eher ungünstigen Wirkungs-Nebenwirkungsquotienten. Durchaus in Betracht kommen in dieser Indikation aber auch typische Neuroleptika, insbesondere dann, wenn atypische Neuroleptika wie Risperidon, Olanzapin, Amisulprid, Quetiapin, Ziprasidon und Aripiprazol nicht ausreichend wirksam erscheinen oder wenn gute Erfahrungen mit typischen Präparaten gemacht worden sind bei Fehlen von EPS. Unter den Typika sehen wir als in dieser Indikation bewährt vor allem Flupentixol und Bromperidol an. Auf die derzeit besonders gängigen und in dieser Situation besonders geeigneten atypischen Neuroleptika Risperidon, Olanzapin, Amisulprid, Quetiapin, Ziprasidon und Aripiprazol sei an dieser Stelle etwas näher eingegangen. Die etwas älteren Atypika Risperidon, Olanzapin und Amisulprid Die positive Wirkung von Risperidon und Olanzapin ist durch Studien besonders gut belegt. Gute Erfahrungen haben wir auch mit Amisulprid gemacht. In einer Metaanalyse zeichnete sich eine besonders gute Wirksamkeit dieser drei Substanzen ab (Davis, Chen et al., 2003). Risperidon ist relativ stark antipsychotisch wirksam. Seine Inzidenz von EPS ist jedoch besonders im oberen Dosisbereich vergleichsweise erhöht, und es besteht unter Risperidon eine ausgeprägte Hyperprolaktinämieinduktion. Olanzapin hat ein gewisses sedierendes Potential, das anxiolytisch gut nutzbar ist, und es bewirkt eher selten EPS. Problematisch ist allerdings die häufige und teilweise erhebliche Gewichtszunahme mit eventuellen Komplikationen.

168

PFEFFER

Amisulprid sediert kaum und weist nur sehr wenige Kreislaufeffekte auf. Es hat jedoch eine erhöhte Inzidenz von EPS besonders im oberen Dosisbereich und führt zu teilweise sehr ausgeprägten Prolaktinerhöhungen. Die neueren Atypika Quetiapin, Ziprasidon und Aripiprazol Quetiapin ist ein zunehmend bewährtes Präparat. Möglicherweise ist es etwas schwächer antipsychotisch wirksam als Risperidon und Olanzapin (Davis, Chen et al., 2003). Es ist eher wenig sedierend. Vorteilhaft ist, dass es kaum zu EPS und kaum zu Prolaktinerhöhung führt. Mit Ziprasidon und Aripiprazol gibt es bisher noch weniger Erfahrungen. Die neuroleptische Potenz dieser beiden Präparate liegt vermutlich ähnlich wie bei Quetiapin. Unter Ziprasidon und Aripiprazol kommt es kaum zu Sedierung. Günstig ist, dass Ziprasidon und Aripiprazol kaum Probleme mit Hyperprolaktinämie und Gewichtszunahme bewirken. Zu beachten ist bei Ziprasidon, dass es zu einer etwas deutlicheren QTc-Zeit-Verlängerung führt. Unter Aripiprazol sind gehäuft Zustände von Bewegungsunruhe aufgefallen. Residualsymptomatik und Simplexsymptomatik In der Behandlung von Residualzuständen und Simplex-Symptomatik haben sich atypische Neuroleptika besonders bewährt (Falkai und Pajonk, 2003. Schmauß, 2002). „Milde“ bzw. nebenwirkungsarme Präparate wie Quetiapin, Ziprasidon und Aripiprazol erscheinen hier in erster Linie geeignet. Daneben ist auch an die atypischen Neuroleptika Amisulprid, Olanzapin und Risperidon zu denken, insbesondere in niedriger Dosierung; bei diesen drei Präparaten besteht jedoch eine etwas größere Nebenwirkungsproblematik. Unter den typischen Neuroleptika kommt hier vor allem Flupentixol in Betracht, dem auch atypische Eigenschaften zugeschrieben werden („partiell atypisch“)(Gattaz, Diehl et al., 2004). Flupentixol bietet aufgrund seiner hohen Wirkpotenz bei erheblicher Exazerbationsgefahr Vorteile. Rezidivprophylaxe Grundsätzlich bietet sich für die Rezidivprophylaxe ein bei dem jeweiligen Patienten bewährtes Präparat in möglichst niedriger, aber noch ausreichender Dosierung an. Die Unterschreitung üblicher Mindestdosierungen geht mit einem beträchtlichen Rückfallrisiko einher. Ist zunächst bei schwerer

AKTUELLE STRATEGIEN DER PSYCHO-PHARMAKOTHERAPIE SCHIZOPHRENER PSYCHOSEN 169

psychotischer Symptomatik ein typisches Neuroleptikum verabreicht worden, kann eventuell nach ausreichender Stabilisierung auf ein atypisches Neuroleptikum umgesetzt werden. Vor allem bei schlechter Compliance sind Depotpräparate sinnvoll. Zur Verfügung stehen Risperidon, Flupentixol, Zuclopenthixol, Fluphenazin, Perphenazin, Haloperidol und Fluspirilen. Therapierefraktäre Symptomatik Sowohl bei therapierefraktärer produktiver als auch bei therapierefraktärer residualer Symptomatik nimmt Clozapin eine herausragende Stellung ein (König und Kaschka, 2000. Naber, Lambert et al., 2000. Narendran, Young et al, 2003). In solchen Fällen sind primär morbogene Risken in der Regel schwerwiegender als die Risiken der erhöhten Toxizität des Clozapins, deren wichtigste kurz genannt seien: 1) Zu einer Agranulozytose kommt es in circa einem Prozent der mit Clozapin behandelten Fälle, am häufigsten in den ersten achtzehn Behandlungswochen (Naber, Haasen et al., 2000); nach diesem Zeitraum ist das Risiko einer Agranulozytose bereits deutlich geringer; bei gut aufgeklärten Patienten und regelmäßig durchgeführten Blutbildkontrollen ist die Letalität als sehr gering einzustufen. 2) Sehr selten, aber sehr gefährlich ist die Clozapin-induzierte Karditis (Merrill, Dec et al., 2005); sie ist von der häufigen einfachen Clozapin-bedingten Tachykardie abzugrenzen, die mit Betablockern behandelt werden kann; EKGKontrollen sind zu empfehlen. 3) Vor allem im Hochdosisbereich besteht eine erhöhte Inzidenz zerebraler Krampfanfälle; in kritischen Fällen kann eine Kombinationsbehandlung mit Valproat dieser Gefahr entgegenwirken. Die keineswegs zu unterschätzenden Risiken einer Behandlung mit Clozapin lassen sich durch sorgfältige Überwachung wesentlich reduzieren. Dem verbleibenden Restrisiko stehen deutliche Verbesserungen auf psychopathologischer Seite entgegen. Besonders relevant ist in diesem Zusammenhang der gesicherte antisuizidale Effekt des Clozapins (Naber, Haasen et al., 2000), was in diesem Indikationsbereich außerordentlich wertvoll ist. Bei zwar deutlicher, aber immer noch unbefriedigender Wirkung von Clozapin kann eine Kombination mit Amisulprid versucht werden (Zink, Knopf et al., 2004). Diese Kombination führt häufig zu einer weiteren klinischen Besserung. Die kombinierte Behandlung mit Clozapin und Amisulprid kann auch eine Dosiseinsparung von Clozapin ermöglichen (Croissant, Hermann et al., 2005). Damit können Toxizitätsrisken gesenkt werden und die subjektive Verträglichkeit des Clozapins deutlich gebessert werden.

170

PFEFFER

Stellung der Psychopharmakotherapie innerhalb des Gesamtbehandlungskonzeptes Die Psychopharmakotherapie ist eine entscheidende und unverzichtbare Grundlage in der Therapie schizophrener Psychosen. Sie sollte jedoch nicht die einzige therapeutische Maßnahme sein. Eine Ergänzung durch psychound soziotherapeutische Maßnahmen ist bereits in hochakuten Krankheitsstadien wichtig. Im Verbund mit einer wirksamen neuroleptischen Medikation beeinflussen eine gute Arzt-Patient-Beziehung und ein stützendes therapeutisches Milieu den Krankheitsverlauf von Anfang an günstig. Wechselbeziehungen zwischen pharmako-, psycho- und soziotherapeutischen Maßnahmen sind zu beachten. Eine wirksame Pharmakotherapie ermöglicht weiterreichende psycho- und soziotherapeutische Maßnahmen, und psycho- und soziotherapeutische Maßnahmen können sich günstig auf die Einstellung zur eigenen Erkrankung und damit auch auf die medikamentöse Compliance auswirken. Es wird deutlich, dass eine mehrdimensionale Behandlung auch zu einer Optimierung der Psychopharmakotherapie beiträgt.

AKTUELLE STRATEGIEN DER PSYCHO-PHARMAKOTHERAPIE SCHIZOPHRENER PSYCHOSEN 171

Literatur Benkert O, Hippius H (2005) Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie. 5. Auflage. Springer, Heidelberg Berger M (Hrsg.) (2004) Psychische Erkrankungen. Klinik und Therapie. 2. Auflage. Urban & Fischer, München Cohen D (2004) Atypical Antipsychotics and New Onset Diabetes mellitus An Overview of the Literature. Pharmacopsychiatry 37: 1-11 Croissant B, Hermann D, Olbrich R (2005) Reduction of Side Effects by Combining Clozapine with Amisulpride: Case Report and Short Review of ClozapineInduced Hypersalivation. Pharmacopsychiatry 38: 38-39 Cunningham Owens D (1999) A Guide to the Extrapyramidal Side-Effects of Antipsychotic Drugs. Cambridge University Press Davis JM, Chen N, Glick ID (2003) A Meta-analysis of the Efficacy of Second-Generation Antipsychotics. Archives of General Psychiatry 60: 553-564 De Haan L, Van Amelsvoort T, Rosien K, Linszen D (2004) Weight loss after switching from conventional olanzapine tablets to orally disintegrating olanzapine tablets. Psychopharmacology 175: 389-390 Falkai P, Pajonk FG (Hrsg.) (2003) Psychotische Störungen. Systematische Therapie mit modernen Neuroleptika. Thieme, Stuttgart Fortier P, Trudel G, Mottard JP, Piche L (2000) The Influence of Schizophrenia and Standard or Atypical Neuroleptics on Sexual and Sociosexual Functioning: A Review. Sexuality and Disability 18: 85-104 Gattaz WF, Diehl A, Geuppert MS, Hubrich P et al. (2004) Olanzapine versus Flupenthixol in the Treatment of Inpatients with Schizophrenia: A Randomized Double-Blind Trial. Pharmacopsychiatry 37: 279-285 Grohmann R, Schmidt LG, Spiess-Kiefer C, Ruther E (1989) Agranulocytosis and significant leucopenia with neuroleptic drugs: results from the AMUP program. Psychopharmacology 99 Suppl: S109-S112 Kinon BJ, Kaiser CJ, Ahmed S, Rotelli MD et al. (2005) Association Between Early and Rapid Weight Gain and Change in Weight Over One Year of Olanzapine Therapy in Patients with Schizophrenia and Related Disorders. Journal of Clinical Psychopharmacology 25: 255-258 King DJ, Wager E (1998) Haematological safety of antipsychotic drugs. Journal of psychopharmacology 12: 283-288 Knegtering H, Lambers PA, Prakken G, Ten Brink C (2000) Serum prolactin levels and sexual dysfunctions in antipsychotic medication, such as risperidone: A review. Acta Neuropsychiatrica 12: 19-26

172

PFEFFER

Knegtering R, Castelein S, Bous H, van der Linde J et al. (2004) A Randomized OpenLabel Study of the Impact of Quetiapine Versus Risperidone on Sexual Functioning. Journal of Clinical Psychopharmacology 24: 56-61 König F, Kaschka WP (Hrsg.) (2000) Interaktionen und Wirkmechanismen ausgewählter Psychopharmaka. Thieme, Stuttgart Lausberg H, Hellweg R (1998) „Katatones Dilemma“ Therapie mit Lorazepam und Clozapin. Nervenarzt 69: 818-822 Lean M, De Smedt G (2004) Schizophrenia and osteoporosis. International Clinica Psychopharmacology 19: 31-35 Lindenmayer JP, Czobor P, Volavka J, Citrome L et al. (2003) Changes in Glucose and Cholesterol Levels in Patients With Schizophrenia Treated With Typical or Atypical Antipsychotics. American Journal of Psychiatry 160: 290-296 Louza MR, Bassitt DP (2005) Maintenance Treatment of Severe Tardive Dyskinesia With Clozapine 5 Years’ Follow-up. Journal of Clinical Psychopharmacology 25: 180-182 Marder SR, Essock SM, Miller AL, Buchanan RW et al. (2004) Physical Health Monitoring of Patients With Schizophrenia. American Journal of Psychiatry 161: 1334-1349 Meaney AM, Smith S, Howes OD, O´Brien M et al. (2004) Effects of long-term prolactin-raising antipsychotic medication on bone mineral density in patients with schizophrenia. British Journal of Psychiatry 184: 503-508 Melkersson K (2005) Differences in Prolactin Elevation and Related Symptoms of Atypical Antipsychotics in Schizophrenic Patients. Journal of Clinical Psychiatry 66: 761-767 Merrill DB, Dec GW, Goff DC (2005) Adverse Cardiac Effects Associated With Clozapine. Journal of Clinical Psychopharmacology 25: 32-41 Möller HJ, Laux G, Kapfhammer HP (Hrsg.) (2003) Psychiatrie und Psychotherapie 2.Auflage. Springer, Berlin-Heidelberg Montejo Gonzales AL, Rico-Villademoros F, Tafalla M, Majadas S (2005) A 6-Month Prospective Observational Study on the Effects of Quetiapine on Sexual Functioning. Journal of Clinical Psychopharmacology 25: 533-538 Naber D, Haasen C, Perro C (2000) Clozapin: Das erste atypische Antipsychotikum. Birkhäuser, Basel, Boston, Berlin Naber D, Lambert M, Krausz M, Haasen C (Hrsg) (2000) Atypische Neuroleptika in der Behandlung schizophrener Patienten. 2.Auflage. Uni-Med-Verlag, Bremen Narendran R, Young CM, Pristach CA, Pato MT et al.(2003) Efficacy of Clozapine in the Treatment of Atypical Antipsychotic Refractory Schizophrenia: A Pilot Study. Journal of Clinical Psychopharmacology 23: 103-104

AKTUELLE STRATEGIEN DER PSYCHO-PHARMAKOTHERAPIE SCHIZOPHRENER PSYCHOSEN 173

Nasrallah HA, Newcomer JW (2004) Atypical Antipsychotics and Metabolic Dysregulation Evaluating the Risk/Benefit Equation and Improving the Standard of Care. Journal of Clinical Psychopharmacology 24, Supplement 1: S7-S14 Newcomer JW (2005) Second-Generation (Atypical) Antipsychotics and Metabolic Effects A Comprehensive Literature Review. CNS Drugs 19, Supplement 1: 1-93 O´Keane V, Meaney AM (2005) Antipsychotic Drugs A New Risk Factor for Osteoporosis in Young Women With Schizophrenia? Journal of Clinical Psychopharmacology 25: 26-31 Schmauß M (2002) Schizophrenie – Pathogenese, Diagnostik und Therapie. Uni-Med Verlag, Bremen Sussman N (2003) The Implications of Weight Changes with Antipsychotic Treatment. Journal of Clinical Psychopharmacology 23, Supplement 1: S21-S26 Zink M, Knopf U, Henn F, Thome J (2004) Combination of Clozapine and Amisulpride in Treatment-Resistant Schizophrenia – Case Reports and Review of the Literature. Pharmacopsychiatry 37: 26-31

175

PETER HARTWICH, SIEGFRIED VÖLKER

Fallsupervision psychodynamischer Therapie bei schizophrener Psychose Supervisionsgruppen stellen einen Interaktionsraum her, in dem medizinisch-psychotherapeutisches Erfahrungswissen organisiert werden kann. Das aus der klinischen psychoanalytischen Arbeit gewachsene Konzept der Supervisionsgruppe hat den Bezugsrahmen der Psychoanalyse während der letzten Jahrzehnte weit überschritten und sich teilweise sogar als eigenständige Kompetenz in psychologischen, sozialpädagogischen und auch sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen etabliert. Für die klinische Arbeit im psychiatrisch-psychotherapeutischen und im psychosomatischen Raum ist aber weiterhin der psychoanalytische Bezug am längsten erprobt und für den empathisch verstehenden Zugang zur Therapeut-Patienten-Beziehung unerlässlich. Im aktuellen universitären psychiatrischen Diskurs herrschen neurobiologische Sichtweisen verbunden mit lerntheoretischen psychotherapeutischen Modellen vor. So erscheint die psychoanalytisch begründete Psychosentherapie mit ihren Ergebnissen, welche sich in den letzten 20 Jahren klarer systematisch auf die Psychiatrie bezogen im deutschsprachigen Raum organisiert haben, als randständiges Phänomen. Dies entspricht aber nicht dem starken Interesse, welches der analytischen Psychosentherapie im Versorgungsbereich entgegen gebracht wird. Jeder in psychiatrischen Institutionen oder im ambulanten Bereich arbeitende Mensch erlebt in der Begegnung mit psychotischen Patienten die unmittelbare Herausforderung, sich in die Erlebniswelt dieser Menschen einzufühlen und über die Grenzen objektivierender Diagnostik und damit verbundener Behandlungskonventionen hinauszugehen. Unter dieser Zielsetzung gilt es, die Möglichkeiten und Grenzen der Einfühlbarkeit systematisch zu begreifen. Dabei tritt die Vermittlung theoretischen Wissens in den Hintergrund zugunsten der Thematisierung praktischer Behandlungsfälle in der Supervision; es können einzelne Patienten oder Patienten in Gruppen sein. Gegenstand dieser Arbeit ist die Art des Umgangs innerhalb der Beziehung zwischen Patient und Therapeut; diese ist möglicherweise mitgeformt von der Persönlichkeit des Behandlers. In der Supervision geht es darum, diese Anteile des Therapeuten, die in seiner Handlungsweise inhalt- und formgebend auf den psychotherapeutischen Prozess mit einwirken, bewusstseins-

176

HARTWICH Š VÖLKER

fähig zu machen. Dieser gegenstandsgebundene Anteil, in welchem bestimmte psychopathologische Symptome (Abwehrmechanismen, Fixierungen, Parakonstruktionen etc.) des Patienten mit bestimmten unbewussten Verhaltensweisen, Einstellungen, Persönlichkeitseigenschaften, Abwehrformen und Gegenübertragungen des Therapeuten interagieren, kann nicht alleine rational begriffen werden, sondern muss größtenteils in der Supervision erfahren, aufgedeckt und bewusst gemacht werden. Wir sehen hier eine Überlappung des theoretisch akzentuierten Lernprozesses mit der Selbsterfahrung. Naturgemäß geraten bei der Supervision unbewusste Anteile, die sich in der speziellen Beziehung zum Patienten konstelliert haben, in den Blickpunkt. Ebenso natürlich ist es, dass die unbewussten Anteile des Therapeuten subjektiv ambivalent erfahren werden: nämlich einerseits mit Neugier und als therapeutische Hilfe und andererseits mit Ängstlichkeit, manchmal Gekränktsein und gelegentlich Ärger. Der natürliche Schutz des Betroffenen wird sich im Widerstand manifestieren. Diesen wichtigen zentralen Vorgang gilt es in der Supervision zu erfahren.

Die Gruppe Die Mitglieder der Gruppe kamen aus unterschiedlichen Versorgungsbereichen und hatten praktisch alle Vorerfahrungen mit Psychosekranken. Neben Ärzten und Psychologen aus Institutionen waren niedergelassene Psychiater, psychologische Psychotherapeuten und Ärzte für psychotherapeutische Medizin zu dieser Supervision gekommen. Vereinzelt kannten sich manche Teilnehmer aus gemeinsamer Supervisionsarbeit. Die Mehrheit kannte sich nicht.

Der Fall Eine langjährig niedergelassene psychiatrische Kollegin, die überwiegend psychotherapeutisch arbeitet, stellte den Behandlungsfall eines jetzt 46 Jahre alten Patienten vor, der erstmals 1995 zu ihr in Therapie gekommen war. Er war unehelich geboren und erlebte erst in der Präpubertät einen als hart beschriebenen Stiefvater. Zur Mutter hatte er eine enge Beziehung und sie unterstützte ihn auch nach seiner Ersterkrankung in den folgenden Jahren. Er hatte Abitur und zum Zeitpunkt der ersten Behandlung waren 6 Semester eines Volkswirtschaftsstudiums absolviert. Die Kollegin lernte ihn kennen, nachdem er 9 Monate stationär in der forensischen Abteilung eines psychi-

FALLSUPERVISION PSYCHODYNAMISCHER THERAPIE BEI SCHIZOPHRENER PSYCHOSE

177

atrischen Landeskrankenhauses behandelt worden war. Er hatte während der Erkrankung seine frühere Lebensgefährtin brutal zusammengeschlagen, so dass diese in der Folge der Verletzungen seit Jahren in einem Pflegeheim leben muss. Eine psychotische Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis war vordiagnostiziert. Die Kollegin beschrieb, dass sie eine eindeutig produktive Symptomatik bei dem Patienten nicht erleben konnte, aber Selbstunsicherheit sowie Getriebenheit und Entfremdungserleben. Der Patient habe Angst gemacht und so habe er auch keinen Psychotherapeuten gefunden und sei bei ihr gelandet. Er habe in ihr widersprüchliche Gefühle ausgelöst, wobei sie neben Angst vor seiner Impulsivität auch Sympathie für ihn empfand. Während der ersten Sitzungen sei der Pat. solchermaßen getrieben gewesen, dass er alle 10 Minuten aufstehen musste um vor ihrem Behandlungsraum eine Zigarette zu rauchen. Sie habe dann einmal gemeinsam mit ihm auf dem Balkon geraucht, worauf sich die Beziehungssituation deutlich entspannte. In der Folge stellte sich eine langjährige Psychotherapiesituation her, wobei die Kollegin auch über weite Strecken die medikamentöse Behandlung mit Neuroleptika führte, weil der Patient keine weitere Behandlungsbeziehung akzeptierte. Mit Hilfe der langjährigen Behandlung war der Patient über Jahre ohne floride psychotische Symptomatik und hatte eine relative soziale Stabilisierung erreicht und in unterschiedlichen Tätigkeiten sein Geld verdient. Zuletzt hatte er jahrelang als Fahrer und allseitig verwendbare Hilfskraft in einem großen Automobilbetrieb gearbeitet bis es zu einer erneuten Akuterkrankung kam und die Kollegin noch einmal die psychotherapeutische Behandlung aufnahm, nachdem sie ihn bereits längere Zeit mit Sprechstundengesprächen behandelt hatte. Als Grund für die Vorstellung in der Supervisionsgruppe gab die Kollegin an, sie erlebe sich so eng eingebunden und auch vom Patienten festgehalten, dass sie keine Entwicklung hin zu einer Ablösung und angemessenen Eigenständigkeit des Patienten sehen könne.

Der Verlauf und Gruppenprozess Anfänglich reagierte die Gruppe verzögert, wie mit furchtsamer Vorsicht auf die Schilderung des Falles. Sie schien eingeschüchtert vom Verlust der Impulskontrolle beim Patienten in dessen Akuterkrankung. Dann kamen eher verdeckte Reaktionen von Erschrecken und Distanzierung, aber auch offensive, eingreifende Ratschläge zur möglichen Änderung der Pharma-

178

HARTWICH Š VÖLKER

kotherapie. Mit dieser Eröffnung des verbalen Austauschs in der Gruppe begann eine intensivere Beteiligung der Teilnehmer, die ihr Erstaunen und auch Unbehagen über die große Nähe zwischen Behandlerin und Patient gleich in der Anfangsphase der Therapie zum Ausdruck brachten. Die Verunsicherung über den Verlust der objektivierenden Position des therapeutischen Abstands, die jeder in der Begegnung mit psychotischen Patienten kennt, rief Fragen nach der korrekten therapeutischen Haltung hervor. Diese Äußerungen in der Gruppe wurden von der Behandlerin als eigene Fragestellungen bestätigt. Nach der ersten mehr unorganisierten Annäherung an die Patientengeschichte zeigte die Gruppe im Weiteren eine recht typische Reaktion. Ein organisierendes Prinzip der Gruppe wurde wirksam, vergleichbar einer mütterlichen Reaktion auf ein übermüdetes zunehmend emotional chaotisch aktives Kleinkind, dessen organisierende Ich-Fähigkeiten nicht mehr zur Verfügung stehen. Eine solche Dynamik stellt zugleich ein typisches Geschehen in Gruppen dar und bildet in der speziellen Auseinandersetzung mit psychotischem Erleben einen wichtigen Schritt zur Wiederherstellung von Kohärenz, sozusagen stellvertretend für den zu dieser Leistung nicht mehr fähigen Patienten. Mit Betonung stellten die Gruppenmitglieder die Möglichkeiten des Patienten heraus besonders im Bereich seiner Bindungsfähigkeit, die Konstanz in der Beziehung zum fürsorglichen Primärobjekt. Mit rekonstruierender Tendenz wurde nachgefragt bei der Behandlerin und Gegenübertragungsbilder einer supportiven Beziehung wurden erkennbar. Die massive Spannung zwischen Intelligenzbegabung des Patienten und seinem Scheitern im Studium wurde einfühlend nachvollzogen und die mit dem Scheitern verbundene bedeutsame narzisstische Wunde in seiner psychosozialen Entwicklung erkannt. In dieser fürsorglichen Rekonstruktion schien er eher wie ein Neurosepatient, der sich bei intensiver Bearbeitung seiner Konflikte gut entwickeln könnte. Das entwickelte Bild erzeugte aber auch eine zunehmende Spannung in der Gruppe, da es in scharfem Kontrast zu der schweren Dekompensation des Patienten stand. Der Kontrollverlust in der Liebesbeziehung (brutales Zusammenschlagen der Lebensgefährtin) wurde gegen das zu gute Bild in der fürsorglichen Gegenübertragung gestellt, das als mütterliches Desiderat für die gute Entwicklung des Sohnes erkennbar wurde. Die gespaltenen Selbstbilder des Patienten waren jetzt im Gruppenprozess präsent, welche letztlich in der psychotischen Fragmentierung regressiv geendet waren. Die Spannung zwischen unangemessenen Selbstidealen und realer Abhängigkeit in Beziehungen zu weiblichen Objekten wurde vorstellbar. Die schwe-

FALLSUPERVISION PSYCHODYNAMISCHER THERAPIE BEI SCHIZOPHRENER PSYCHOSE

179

re Körperverletzung an der Freundin geschah in der Entwicklung der Trennung dieser Beziehung, wie die behandelnde Kollegin bestätigte. Trennungen aus einer für ihn lebenswichtigen Beziehung erzeugen Vernichtungsängste, deren er sich intrapsychisch nicht mehr erwehren kann. Mehrere Gruppenmitglieder erkannten sofort die Wiederholung dieses grundsätzlichen Dilemmas in der therapeutischen Beziehung. Erschrecken wurde jetzt klarer verbalisiert und die Behandlerin konnte offener über ihren Konflikt zwischen massiven Schuldgefühlen verbunden mit der Angst unabkömmlich sein zu müssen und andererseits dem Wunsch nach Entwicklung und Individuation für den Patienten sprechen, der aber Begrenzung und Trennung beinhaltet. Das Dilemma der Behandlungsbeziehung könnte so formuliert werden: Will ich den Patienten zu Eigenständigkeit bringen, dann mache ich ihn möglicherweise wieder akut psychotisch krank. Real war er auch erneut psychotisch erkrankt in der Trennungsperspektive des therapeutischen Prozesses. Dieses Dilemma stellt sich häufiger bei Behandlungen in der Endphase, ist aber auch regelhaft in Therapien mit psychotischen Patienten zu beobachten. In diesem Dilemma war es während der Behandlung zu einer Denkblockade bei der Therapeutin gekommen, so dass ihr in der realen Verwicklung mit dem Patienten ein probeweises Problemlösungsdenken nicht mehr gelingen konnte. Hier übernahm die Gruppe vorübergehend diese Funktion. Nachdem der behandelnden Kollegin wesentliche emotionale Unterstützung ausgedrückt worden war, begannen einzelne Mitglieder das Thema des fehlenden hilfreichen Vaterbildes zur Sprache zu bringen. Der Mangel des realen Erlebens eines Dritten in der frühen Kindheit bis in das Schulalter wurde gesehen und damit das Fehlen eines unterstützenden männlichen Objekts für die Abgrenzung in der ambivalent symbiotischen Beziehung mit der Mutter. Die Folge ist eine Labilisierung der Ich-Grenzen, die in Trennungskonflikten bei diesem Patienten zu massiver Ich-Regression und Fragmentierung führt. Das Bild des harten Stiefvaters der Pubertät blieb eine äußerliche Bedrohung und half nicht zur Identifikation und damit Stabilisierung einer solchen Objektrepräsentanz. Nachfragend wurde diese Beziehungskonstellation rekonstruiert in der Gruppe. Probeweise dachten dann die Mitglieder der Gruppe über Möglichkeiten der Begegnung mit einem hilfreichen männlichen Objekt nach in Person eines anderen Therapeuten, der die jetzt erschöpfte „mütterliche” Therapeutin entlasten könnte. Die Behandlerin nahm erleichtert diese Möglichkeitsbilder an, zumal sie auch durch den Rahmen der Richtlinienpsychotherapie an eine äußere Grenze in der Psychotherapie gestoßen ist. Eine Trennung ohne endgültigen Verlust

180

HARTWICH Š VÖLKER

der Beziehung wurde so von der Gruppe vorformuliert. Dabei ging es nicht um eine einfache Verweisung des Patienten an einen anderen Therapeuten, sondern um den gestalteten Abschied und die Überlegung, wie das Bild des hilfreichen mütterlichen Objekts erhalten werden kann trotz heftiger innerer Bewegungen, die von Vernichtungsangst auf beiden Seiten der Beziehung bestimmt ist. Im Gruppenprozess ruft die Falldarstellung eines Mitglieds typischerweise bei den anderen Gruppenteilnehmern unterschiedliche Resonanzen in Form von Nachfragen, bestätigenden wie auch ablehnenden Kommentaren, diagnostischen oder Behandlungsvorschlägen etc. hervor. Die mit diesen Äußerungen verbundenen affektiven Reaktionen weisen die Resonanzen nicht nur als bewusste rationale Auseinandersetzung aus, sondern lassen sich verstehen als Repräsentanzen unterschiedlicher Aspekte von Gegenübertragung, welche durch die Person des Vortragenden und seine Falldarstellung hervorgerufen wurden. So können die verschiedenen Reaktionen der Gruppenteilnehmer nützlich werden für ein szenisches Verstehen der von dem Patienten hervorgerufenen Beziehungsgestaltung mit dem Therapeuten. Im speziellen Fall der Supervision für Behandlungen mit psychotischen Patienten zeigen die unterschiedlichen Resonanzen häufig desintegrierte Fragmente von Selbst- und Objektbildern, welche im Beziehungsgeschehen der Therapie dem Behandler nicht direkt sichtbar sind. Je nach Grad der restitutiven Entwicklung des psychotisch Betroffenen kann dieser den Behandler unmittelbar nonverbal einbeziehen in sein Erleben von desintegrierendem Überwältigtsein in konflikthaften Interaktionen. Diese Konflikte drehen sich im Kern um die schwierige Selbst-Objekt-Differenzierung, d.h. um Störungen im Individuationsprozess. Daraus resultiert in den Interaktionen ein vielfältiges Bedrohungserleben, das keine Ausdrucksgestalt in der mitmenschlichen Symbolwelt finden kann. Die Störungen in den Dimensionen der Ich-/Selbstgrenzen, der Identität, der Kohärenz, der Vitalität und der IchAktivität lassen sich als präsymbolische Affektmuster bzw. Interaktionsmuster in Annäherung fassen unter Bezug auf die Säuglingsforschung und die psychodynamische Entwicklungspsychologie. Dabei gilt aber die Warnung von Scharfetter, dass eine „volle empathisch-identifikatorische Einsicht … eine Illusion“ bleibt. Im kontinuierlichen psychotherapeutischen Prozess, soweit ein solcher zustande kommt, ist der Therapeut oft „einäugig” und bleibt auf einzelne Fragmente oder seine persönliche Fragmentsammlung fixiert. Auch kann es

FALLSUPERVISION PSYCHODYNAMISCHER THERAPIE BEI SCHIZOPHRENER PSYCHOSE

181

zu wechselseitiger Verwirrung in der Interaktion Therapeut-Patient kommen, die der hohen Affektintensität geschuldet ist, wenn der Psychosebetroffene in eine emotional bedeutsame Nähe mit dem Therapeuten gerät, welche aber zugleich Voraussetzung für das Behandlungsgeschehen ist. Das Verhalten der Patienten erscheint dabei unvermittelt und schroff, so dass Fremdheit in der Begegnung erlebt wird und oft extreme Haltungen im Therapeuten erzeugt werden als Gegenübertragungsreaktion. Hier liegt gerade die Kompetenz des Psychosetherapeuten, bei genügender Reflexion der Gegenübertragung mit diesen Affektquantitäten und damit verbundenen Verhaltensweisen modulierend umgehen zu können. Damit wird sozusagen die Basis der psychotherapeutischen Behandlung gelegt. Die Supervisionsgruppe kann hier amplifizieren helfen und Wahrnehmungsentwicklung öffnen. Der Versuch einer Erfahrung des Innenlebens eines psychotisch betroffenen Menschen stellt immer in besonderer Weise die Frage nach der Aufrechterhaltung der Position eines zugleich notwendigen objektiven Beobachters bzw. Behandlers. Anders als in der üblichen Behandlung von neurotischen Patienten sind wir entweder mit einer hohen Affektladung der Beziehungssituation konfrontiert oder mit Zuständen erschreckender Leere. Damit verbunden sein kann eine Beeinträchtigung im Urteilsvermögen des Behandlers zu verschiedenen Zeiten im Therapieprozess.

182

HARTWICH Š VÖLKER

Literatur Hartwich, P.: Supervision. In: Lexikon der Psychiatrie (Hrsg. C. Müller) 2. Auflage Springer, Berlin-Heidelberg-New York 1986 Scharfetter, C.: Schizophrene Menschen 2. Auflage, München, Weinheim 1986

183

MICHAEL GRUBE

Mutter-Kind-Behandlung bei postpartalen Psychosen Einleitung Schon im Corpus Hippocraticum, einer Sammlung der in der Zeit vom 6. Jh. v. Chr. bis 1. Jh. n. Chr. von verschiedenen Autoren verfassten 63 Schriften der griechischen Medizin, fanden die psychiatrischen Störungen nach Niederkunft und im Wochenbett Erwähnung. Der portugiesische Mediziner Esteban Rodrigo de Castro beschrieb bereits 1617 anhand von Falldarstellungen psychische Störungen des Wochenbetts in seiner Schrift: „De melancholica, mania, delirio, et epilepsia puerperarum“ (20). Im Jahr 1858 widmete Louis Victor Marcé eine Monographie den psychiatrischen Störungen in Schwangerschaft, Wochenbett und Stillzeit (27). Auch in deutschsprachigen Ländern steigt inzwischen das Interesse an postpartalen psychiatrischen Störungen, insbesondere gefördert durch zwei Fachgesellschaften (Marcé-Gesellschaft für perinatale Psychiatrie e.V., Gesellschaft für die psychische Gesundheit von Frauen). Synonym werden die Begriffe „Wochenbettpsychose“, „Kindbettpsychose“ und „Puerperalpsychose“ gebraucht (32). Sie beziehen sich auf das Auftreten einer innerhalb der ersten sechs Wochen nach der Entbindung auftretenden Psychose unabhängig von Psychopathologie und Ätiologie. Manche Autoren grenzen hiervon die „Laktationspsychose“ ab, die in der Zeit von sechs Wochen nach der Geburt bis zum Ende des ersten Jahres gerechnet wird. Letztere Unterscheidung wird bei den Begriffen „postpartale Psychose“ oder „Postpartumpsychose“ aufgegeben. Der Begriff „peripartale Psychose“ erweitert den zeitlichen Bezug zum Geburtstermin noch stärker als die vorher genannten Begriffe. Daneben ist auch der Begriff „postnatale Psychose“ in Gebrauch, hier wird die Perspektive von der Mutter (partus = Geburt) zur Perspektive aus Sicht des Kindes (neonatus = Neugeborenes) verschoben. In der offiziellen ICD-10-GM-Version von 2005 wird unter der Ziffer F 53.1 eine „schwere psychische und Verhaltensstörung im Wochenbett, andernorts nicht klassifiziert“ aufgeführt und als Beispiel die „Puerperalpsychose ohne nähere Angaben“ genannt. In der DSM-IV-Klassifikation fehlt eine eigene Rubrik für postpartale Psychosen. Stattdessen kann für die kurze psychotische Störung

184

GRUBE

(DSM-IV: 298.8) bzw. für folgende affektive Störungen: Depressive, manische oder gemischte Episode bei Bipolar 1 oder Bipolar 2-Störung, sowie der majoren Depression (DSM-IV: 296) eine Zusatzkodierung „mit postpartalem Beginn“ vorgenommen werden, wenn die genannten Störungen innerhalb von vier Wochen nach einer Entbindung aufgetreten sind. Darüber hinaus werden Psychosen, die sich postpartal zum ersten Mal manifestieren und vorbestehende Psychosen, die im Wochenbett erneut exazerbieren, in der Literatur unter postpartaler Psychose subsumiert. Wir wollen im Folgenden versuchen, durch Darstellung der Epidemiologie, der Psychopathologie, der Ätiologie, des Verlaufs und der Therapie zu vermitteln, welche (heterogenen) Krankheitsbilder sich hinter dem Begriff der „postpartalen Psychosen“ verbergen. Darüber hinaus soll eine Darstellung eigener Daten erfolgen, die sich auf wissenschaftlich begleitete Verläufe von Mutter-KindBehandlungen bezieht.

Zur Epidemiologie postpartaler Psychosen Die Geburt eines Kindes ist für viele Frauen eines der eindrucksvollsten Erlebnisse. Das Wochenbett stellt im Gegensatz zur Schwangerschaft eine Zeit erhöhter Vulnerabilität für psychiatrische Störungen dar; die psychischen Anforderungen der Mutterschaft (und in geringerem Umfang auch der Vaterschaft) sind beim Menschen relativ störbarer als bei anderen Säugern, möglicherweise weil sie weniger instinktgebunden sind. Ca. 25-50 Prozent der Frauen erleben in den ersten zwei bis fünf Tagen nach der Entbindung den so genannten „Baby-Blues“, eine kurz dauernde affektive Störung mit affektiver Labilität, teilweise depressivem Herabgestimmtsein, Gereiztheit und auch manchmal mit subeuphorischen Auslenkungen. In der Majorität der Fälle klingt diese Symptomatik ohne Behandlung ab. Ausgeprägtere Formen können in postpartale depressive Störungen übergehen, die jedoch keinen psychotischen Charakter haben müssen. Die Prävalenz dieser Störung soll bei ca. 10 bis 15 Prozent liegen (22, 38). Allerdings sind in zwei aktuellen Untersuchungen mit einer auf einem strukturierten klinischen Interview beruhenden Diagnosestellung, die gegenüber einem Fragebogen-gestützten Design von einer klinisch orientierten, engeren Depressionsdefinition ausgehen, etwas niedrigere Prävalenzraten – zumindest im Süddeutschen Raum – erhoben worden (34, 53). Die postpartalen Psychosen mit einer Prävalenz von ein bis zwei von tausend Frauen (0,1-0,2%) stellen die seltensten psychiatrischen Auffälligkeiten im Wochenbett dar (22, 38). Laut Statistischem Bundesamt (2004) wurden im Jahre 2003 etwa

MUTTER-KIND-BEHANDLUNG BEI POSTPARTALEN PSYCHOSEN

185

715.290 Kinder geboren. Bei einer Prävalenzrate von ein bis zwei Promille würde dies bedeuten, dass die zu erwartende Anzahl postpartaler Psychosen bundesweit zwischen ca. 715 und 1430 erkrankter Frauen läge. Laut Krankenhausstatistik des statistischen Bundesamtes gab es im Jahr 2000 allerdings nur 251 mit einer F53-Diagnose aus dem Krankenhaus entlassene vollstationäre Patientinnen.

Psychopathologie und nosologische Zuordnung In der Vergangenheit waren akute hirnorganische klinische Bilder wie Fieberdelirien etc. („Kindbettfieber“) recht häufig zu beobachten. Zumindest in den westlichen Industrienationen spielen diese organischen postpartalen Psychosen seit Einführung der Antibiotikabehandlung von WochenbettInfektionen praktisch nur noch eine untergeordnete Rolle. Hirnorganisch getönte postpartale Psychosen können jedoch nach starken Blutverlusten unter der Geburt ab und zu auftreten. Bei einem Vergleich psychopathologischer Variablen von 58 postpartalen Psychosen mit 52 Psychosen von jungen Frauen, die ohne Zusammenhang zum Wochenbett standen, stellte sich in etwa einem Viertel der psychopathologischen Variablen Unterschiede heraus: Postpartal erkrankte Frauen wiesen mehr manische Symptome, oneiroides Erleben und Verworrenheit auf, während die Gruppe, deren Psychoseausbruch nicht in Zusammenhang mit der Entbindung stand, mehr schizophrene Symptome zeigte. Bezogen auf die ResearchDiagnostic-Criteria (RDC) zeigte sich, dass nur 5 der 58 postpartalen Psychosen die RDC-Kriterien von Schizophrenie erfüllten. Die meisten postpartalen Psychosen wurden als schizomanische oder schizodepressive Episoden klassifiziert (6). Darüber hinaus wurde versucht, postpartale Psychosen nach der Leonhard’schen nosologischen Zuordnung zu beschreiben. Hierbei war ein hoher Anteil (19 von 42 postpartalen Psychosen) als zykloide Psychosen identifizierbar, neben vier weiteren psychopathologischen Prägnanztypen. Somit bestätigt sich innerhalb des differenzierten Leonhard’schen Klassifikationssystems ebenfalls die Heterogenität postpartaler Psychosen (24, 26). Häufige Initialsymptome postpartaler Psychosen sind Angst, Unruhe, depressive Verstimmung, Schlafstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, katatone Erregungszustände, Wahnvorstellungen und Halluzinationen (42). Von 119 Frauen, die an einer schweren postpartalen Psychose litten, zeigten 57 Prozent Symptome einer affektiven Psychose, 18 Prozent Symptome einer schizoaffektiven Psychose, 12 Prozent Symptome einer schizophreniformen Psychose, 4 Prozent Symptome einer kurzen reaktiven

186

GRUBE

Psychose und 9 Prozent schizophrene Symptome. Von den Patientinnen mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Spektrum zeigten viele die Symptomatik zykloider Psychosen sowie Zeichen von Verworrenheit. Patientinnen mit frühem Beginn der Symptomatik (innerhalb von zwei Wochen nach Entbindung) zeigten häufiger manische Symptome, Symptome von zykloiden Psychosen, oneiroide Zustände und Verworrenheitsanzeichen (43, 44, 45, 46). Der Eindruck, dass postpartale Psychosen keine nosologische Entität darstellen, wird unterstützt durch eine Studie an 636 Frauen einer psychiatrischen Inanspruchnahmeklientel: 15 von diesen litten an postpartalen Psychosen, 11 an affektiven Psychosen sowie vier an schizophreniformen Psychosen. Bei fünf Patientinnen manifestierten sich katatone Symptome (23). Neben der psychopathologischen und nosologischen Heterogenität und einer im Vergleich zu den klarer definierten nonpostpartalen Psychosependants zu beobachtenden Atypizität der Psychopathologie (oneiroide und hirnorganisch getönte Querschnittssymptomatik) besteht jedoch im Kern eine grundlegende Gemeinsamkeit, die bei fast allen postpartal psychotisch erkrankten Frauen zu beobachten ist: Es handelt sich um eine schwere Beziehungsstörung dem Kind gegenüber und daraus entstehende Schuldgefühle, da die betroffenen Frauen nicht ihrer eigenen Erwartung an sich selbst als Mutter entsprechen. Dieses Kernsymptom kann negative Effekte auf die Qualität der Mutter-Kind-Beziehung, das Bindungsverhalten sowie auf die kognitive und emotionale Entwicklung des Kindes haben (17, 31). In seltenen Fällen kann die Beziehungsstörung zum Kind so ausgeprägt sein, dass z.B. bei Vorliegen eines depressiv bedingten nihilistischen Wahns dieser auf das Kind übertragen wird und es zu einem erweiterten Suizid kommt. Auch bei schizophreniformen oder schizophrenen postpartalen Psychosen der Mütter können sich – ebenfalls selten (1:50.000) – Infantizide ereignen, insbesondere dann, wenn das Kind im Zentrum des Wahnerlebens steht (7, 30, 50). Um diesem Risiko zu begegnen ist eine Früherkennung postpartaler Psychosen wichtig. Darüber hinaus bedarf es spezieller therapeutischer Angebote z.B. in Mutter-KindBehandlungseinheiten, die die Versorgungs- und Erziehungsfähigkeit erkrankter Mütter fördern (siehe auch: „Therapie“). Die forensischpsychiatrische Beurteilung eines von der Mutter überlebten erweiterten Suizidversuchs oder eines Infantizids richtet sich nach den Vorschriften der Paragraphen 20 und 21 des Strafgesetzbuches (Schuldunfähigkeit, erheblich verminderte Schuldfähigkeit).

MUTTER-KIND-BEHANDLUNG BEI POSTPARTALEN PSYCHOSEN

187

Auslöser und Ätiologie Aus den Ergebnissen, dass eine gleich bleibende Inzidenzrate für postpartale Psychosen unabhängig von kulturellen und ethnischen Besonderheiten gefunden wurde, ist auf eine endogene Ätiologie dieser Psychosen geschlossen worden, die durch die physiologischen Umstände der Geburt getriggert werden (21). So wird eine Sensitivitätserhöhung im dopaminergen System durch postpartalen „Östrogen-Entzug“ diskutiert (54). Auslösende Faktoren können hierbei in der Länge des Geburtsverlaufs sowie in einer Geburt während der Nachtstunden gesehen werden (48). Darüber hinaus werden der Erstgebärendenstatus, genetische Prädisposition und die abrupten hormonellen Veränderungen als Auslöser genannt (46). In Einzelfallbeschreibungen wird die zeitliche Nähe zwischen postpartaler Psychose und postpartaler Thyreoiditis herausgestellt (5). Darüber hinaus kann eine postpartale Psychose verstärkt oder sogar ausgelöst werden durch höhere Dosen von Bromocriptin, einem D2-Rezeptor-Agonist, der u.a. zum Abstillen eingesetzt wird (37). Ein erhöhtes Risiko, postpartale Psychosen zu entwickeln, haben insbesondere Frauen mit einer positiven Familienanamnese für psychiatrische Störungen sowie bei eigenen psychiatrischen Vorerkrankungen (38). Zu folgenden Faktoren wurde in einer prospektiven Studie kein Zusammenhang zu einem erhöhten Risiko, postpartale Psychosen zu entwickeln, festgestellt: Materielle Probleme, zwischenmenschliche Schwierigkeiten, geringe Unterstützung während der Schwangerschaft, negative Einstellung der Frau zur Schwangerschaft oder gesundheitliche Einschränkungen durch die Schwangerschaft (28).

Verlauf Frauen mit einer bestehenden Psychoseerkrankung haben ein hohes Risiko im Wochenbett eine erneute Episode dieser Erkrankung zu erfahren. Insbesondere bei vorbestehenden affektiven Psychosen ist die Wahrscheinlichkeit nach einer Entbindung eine erneute affektpsychotische Episode zu entwickeln gegenüber Frauen, die nicht entbunden haben, etwa verdoppelt (19). Darüber hinaus ist eine deutliche Risikoerhöhung für postpartale Psychosen gegeben, wenn nach einmaliger postpartaler Psychose erneute Schwangerschaften erfolgen. Bei Frauen mit einer postpartalen Erstmanifestation einer psychotischen Episode ist in der Folge von einem erhöhten Risiko psychotischer Episoden unabhängig von Schwangerschaft und Wo-

188

GRUBE

chenbett auszugehen (39). Generell verlaufen jedoch Psychosen, die ausschließlich postpartalen Charakter haben, günstiger und mit weniger Residualsymptomatik als Psychosen, deren Auslösung und Rezidiv nicht an das Wochenbett gebunden sind (3, 36). Neben dem Wochenbett wird das Klimakterium als Zeitraum hervorgehoben, in welchem häufig Rückfälle ehemaliger postpartaler Psychosen zu erwarten sind (41, 42), manchmal verschlechtert sich der psychopathologische Zustand zyklusabhängig im Rahmen der bekannten prämenstruellen hormonellen Schwankungen. Insgesamt ist herauszustellen, dass der Verlauf der psychopathologisch heterogenen postpartalen Psychosen – möglicherweise auch aufgrund der vorherrschenden affektiv psychotischen sowie schizoaffektiven Bilder – als besser einzuschätzen ist als bei schizophrenen Psychosen (3). Im Allgemeinen soll eine Frühmanifestation postpartaler Psychosen innerhalb der ersten 14 Tage nach Entbindung stärker mit einem affektpsychotischen Verlauf korrelieren, während eine spätere Manifestation zu einem stärker schizophreniform geprägten Verlauf disponieren soll.

Therapie Im Grundsatz ist die psychopharmakologische Behandlung bestehender akuter postpartaler Psychosen – je nach syndromatischer Zuordnung – ähnlich den vergleichbaren psychotischen Episoden ohne Zusammenhang zum Wochenbett (49). Je nach eingesetztem Medikament und bei entsprechenden Dosierungen ist Abstillen in Erwägung zu ziehen. Aufgrund der dargestellten Kenntnisse über den Verlauf postpartaler Psychosen und der hohen Rezidivwahrscheinlichkeit bei erneuter Entbindung, kann es sinnvoll sein, im Wochenbett eine prophylaktische Behandlung der Mutter zu beginnen, auch wenn noch keine Symptome eines Psychoserezidivs zu erkennen sind, demgegenüber die individuelle Rückfallwahrscheinlichkeit bei der betroffenen Frau jedoch sehr hoch erscheint, um einer Trennung von Mutter und Kind vorzubeugen. Stellt sich gegen die Erwartung kein Rückfall ein, kann die Medikation beginnend etwa in der sechsten Woche postpartum vorsichtig reduziert werden. Dies sollte in gynäkologisch-fachärztlicher Zusammenarbeit erfolgen. Da die meisten postpartalen Psychosen schwerwiegende psychiatrische Erkrankungen darstellen, wird in vielen Fällen eine stationäre Behandlung erforderlich sein. Bei psychotischen Depressionen kann auch der Einsatz von Schlafentzug eine effektive Ergänzung der psychopharmakologischen Therapie sein (51). In Großbritannien und den USA wird bei endogen wirkenden depressiven postpartalen Psychosen

MUTTER-KIND-BEHANDLUNG BEI POSTPARTALEN PSYCHOSEN

189

nicht selten auch Elektrokrampftherapie vorgeschlagen. Ob sich in der Behandlung postpartaler Psychosen die Anwendung von Östrogenen oder anderen Hormonen durchsetzen wird, bleibt abzuwarten (2, 4). Bei stärkerer affektpsychotischer Betonung im Verlauf sollte der Einsatz von MoodStabilizern wie Lithium, Carbamazepin oder Valproinsäure in Erwägung gezogen werden. Sobald die psychische Stabilität der Mutter es erlaubt, ist auf eine Behandlung in Mutter-Kind-Einheiten hinzuwirken (13, 14, 15), eine Behandlungsform, die in England und Australien sowie inzwischen in Frankreich nahezu als Standardbehandlung postpartaler psychotisch erkrankter Frauen etabliert ist. Diese hat den Vorteil, dass der Kontakt zum Kind so schnell wie möglich wiederhergestellt wird oder – bei günstigem Verlauf – von Anfang an beibehalten wird und Gegenstand der therapeutischen Bemühungen wird (8, 18, 29, 34, 52). Wichtig in diesem Behandlungssetting ist allerdings, dass ausreichend erfahrene Pflegepersonen, am besten einige Kinderkrankenschwestern im Behandlungsteam sind, die eine separate Versorgung des Kindes dann übernehmen können, wenn die Mutter krankheits- oder therapiebedingt trotz Anleitung und Unterstützung nicht dazu in der Lage ist (siehe Tab. 1). Neben den allgemeinen Aspekten der Psychosen-Psychotherapie (16) wird – zum Teil durch audiovisuelle Verfahren unterstützt – die Interaktion zwischen Mutter und Kind bearbeitet. Im geschützten Rahmen einer stationären Mutter-Kind-Einrichtung kann die Versorgungs- und Erziehungsfähigkeit der Mutter sowie die supportive Funktion der Familie und des sozialen Umfelds mit hoher Validität eingeschätzt werden. Hierbei sind die männlichen Partner postpartal psychotisch erkrankter Frauen mit einzubeziehen (10, 11, 12): • Es ist bekannt, dass die Prävalenzrate von postpartaler psychiatrischer Morbidität bei Männern höher ist, wenn die korrespondierende Frau postpartal erkrankt ist. In einer französischen Untersuchung war die Prävalenzrate männlicher psychiatrischer Störungen bei Frauen in Mutter-Kind-Behandlung bei ca. 22 Prozent (8). • Es zeigte sich, dass schizophrene Mütter überzufällig häufig bessere Versorgungsqualitäten bezüglich ihrer Säuglinge entwickelten, wenn sie in supportiven partnerschaftlichen Beziehungen lebten und der männliche Partner nicht ebenfalls an einer psychiatrischen Erkrankung litt (1). • Von Bedeutung ist darüber hinaus der negative Effekt von väterlichen psychischen Störungen auf die emotionale Entwicklung der Kinder (25) sowie der spezifische und andauernde negative Effekt väterlicher De-

190

GRUBE

pression auf die frühe emotionale Entwicklung und das Verhaltensrepertoire von Kindern (33). In jüngster Zeit konnte bei einer Gruppe von im achtzehnten Lebensmonat untersuchten Kleinkindern gezeigt werden, dass bereits antenataler Stress, am häufigsten hervorgerufen durch Partnerschaftsprobleme während der Schwangerschaft, der intrauterin über die mütterlichen Stresshormone wie z. B. Cortisol auf das noch ungeborene Kind einwirkte, zu den späteren, im achtzehnten Lebensmonat beobachteten Entwicklungsverzögerungen und emotionalen Veränderungen, vor allem Überängstlichkeit, führen konnte (9).

• Trennungszeiten von Mutter und Kind werden reduziert • Förderung der mütterlichen Identität durch weitgehenden Verbleib in der Mutterrolle • Kinderversorgung während der individuellen Therapiezeiten der Mutter oder bei etwaiger Dekompensation der Mutter durch Fachpersonal sichergestellt • Bindung des Kindes an die Mutter als wichtigste Bezugsperson bleibt weitestgehend erhalten • Mutter-Kind-Interaktion als zentraler Gegenstand von Diagnostik und Therapie unter Zuhilfenahme von audiovisuellen Verfahren (gezieltes Video feed back) • Erweiterung von Diagnostik und Therapie auf Mutter-Vater-KindInteraktion • Unterstützung der Mutter im Erlernen oder Aufrechterhalten der alltäglichen Versorgung des Kindes • Valide Beurteilung der Versorgungs- und Erziehungsfähigkeit der Mutter sowie des regulativen Potentials des Mutter-Kind-Systems • Gute Einschätzungsmöglichkeit der familiären, väterlichen und sonstigen sozialen Unterstützungsressourcen • Bearbeitung vorübergehender oder endgültiger Trennung der Mutter vom Kind Tab. 1: Vorteile der gemeinsamen Behandlung von postpartal psychotisch erkrankten Müttern und ihren Kindern in einer Mutter-Kind Einrichtung.

MUTTER-KIND-BEHANDLUNG BEI POSTPARTALEN PSYCHOSEN

191

In vielen Fällen – selbst bei anfangs ausgeprägten postpartalen Psychosen – wird mit diesem auch den Partner einbeziehenden Konzept ein guter Therapieerfolg erreicht und die Hauptverantwortung für das Kind kann bei der Mutter verbleiben. Manchmal ist jedoch das Jugendamt einzubeziehen und als ultima ratio eine Unterbringung des Kindes z.B. in eine Pflegefamilie unumgänglich, wenn trotz aller Bemühungen eine ausreichende Rekompensation der Mutter nicht gelingt.

Eigene empirische Daten Insgesamt waren 55 Frauen in stationärer Mutter-Kind-Behandlung. Neben den Frauen wurden die männlichen Partner untersucht. Bis auf sechs Männer konnten sich alle anderen 49 Männer zur Teilnahme an der Untersuchung entschließen. Es zeigte sich jedoch, dass bei den nicht untersuchten Männern relativ kürzere Beziehungen zu den Frauen, niedrigere soziale Schichtzugehörigkeit und ein höheres Alter der Kinder gegeben waren. Die ICD-Diagnosen der Frauen waren 17 Schizophrenien, 20 Depressionen, 6 Suchterkrankungen und 12 Anpassungs- und Persönlichkeitsstörungen. In der Gruppe der männlichen Partner wurde eine Cluster-Analyse durchgeführt, in die die Variablen „supportiver Mann“, „Vorliegen einer psychiatrischen Erkrankung“, „Schweregrad der psychiatrischen Erkrankung“, „Ausmaß der Einschränkung sozialer Verhaltensweisen“, „Unterstützungserleben der Frauen“ und „Ich-Stärke“ einbezogen wurden. Bezogen auf die Cluster-Koeffizienten ergab sich eine 2-Cluster-Lösung; die Cluster können inhaltlich als „Benefitmänner“ bzw. „Risikomänner“ benannt werden. Ausführliche Beschreibungen der Methodik und standardisierten Erhebung der o.g. Variablen finden sich anderenorts (10, 11, 12). Betrachtet man die korrigierten Residuen (Abweichung der realen Verteilung von der erwarteten Verteilung) verschiedener Merkmale im Bezug auf die unterschiedlichen Diagnosekategorien der Frauen, die sich in stationärer Mutter-Kind-Behandlung befanden, dann ergibt sich folgendes Bild (siehe Tabelle 2):

192

GRUBE

Schizophrenie Präpartale Erstmanifestation

Depression Sucht

3,6

-4,3

Beziehung kurz

1,3

Benefitmänner

-1,2

Unterstützung von Großeltern Kinderversorgung zu Hause

Anpassungs- u. Persönlichkeitsstörungen

df Chi²

p

2,2

,6

3 25,649 ,000

-1,5

2,6

-1,6

6 13,018 ,043

1,6

-3,3

1,6

3 14,527 ,002

1,2

1,4

-2,7

-,9

3

-1,2

2,8

-4,1

1,1

3 22,004 ,000

9,468 ,024

Tab. 2: Verteilung der korrigierten Residuen bezüglich verschiedener Variablen auf die Diagnosekategorien von Frauen, die sich in stationärer Mutter-Kind-Behandlung befanden.

• Bei Patientinnen mit postpartalen Psychosen überwiegen signifikant diejenigen, bei denen eine präpartale Erstmanifestation bestanden hat. In der untersuchten Gruppe finden sich wenige Frauen, deren schizophreniforme oder schizophrene Erstmanifestation postpartal stattgefunden hat. • Bei depressiven Erkrankungen sind die Verhältnisse genau umgekehrt, die meisten depressiven Störungen bei Frauen, die sich in Mutter-KindBehandlung befinden, manifestieren sich postpartal zum ersten Mal. Bei Suchterkrankungen ergeben sich ebenfalls überzufällig häufige präpartale Erstmanifestationen. • Im Vergleich zu den anderen diagnostischen Kategorien haben schizophren erkrankte Frauen, die in Mutter-Kind-Behandlung sind, eine Neigung zu kürzeren Beziehungen, allerdings nicht so stark ausgeprägt, wie suchterkrankte Frauen. Depressiv erkrankte Frauen und Frauen mit Anpassungs- und Persönlichkeitsstörungs-Diagnose neigen im Vergleich zu schizophren oder süchtig erkrankten Frauen eher zu längeren Beziehungen. • Schizophren erkrankte Patientinnen sind überzufällig seltener mit „Benefitmännern“ verheiratet oder in einer eheähnlichen Beziehung lebend, allerdings ist der Anteil der Beziehungen zu „Benefitmännern“ in der Gruppe von Frauen mit Suchterkrankungen noch wesentlich niedriger. Dem gegenüber gehen depressiv erkrankte Frauen bzw. Frauen mit Anpassungs- und Persönlichkeitsstörungs-Diagnose eher Beziehungen mit „Benefitmännern“ ein.

MUTTER-KIND-BEHANDLUNG BEI POSTPARTALEN PSYCHOSEN

193

• Hinsichtlich der Unterstützung der Frauen durch die eigenen Eltern (Großeltern des Kindes) haben Patientinnen mit schizophrenen Psychosen eher günstigere Unterstützungsverhältnisse, vergleichbar mit depressiv erkrankten Frauen. Bei Müttern mit Suchterkrankungen findet sich der niedrigste Anteil großelterlicher Unterstützung. • Dennoch ist der Anteil von Frauen mit postpartal exazerbierten oder erstmanifestierten schizophrenen Psychosen, die die Kinderversorgung zu Hause (mit Unterstützung von Großeltern) selbst übernehmen können bei 12 von 17, also bei etwa zwei Dritteln und damit etwas geringer als der Erwartungswert in der schizophren erkrankten Untergruppe und deutlich geringer, als in der Gruppe der depressiv erkrankten Frauen. Besonders wenige Kinder werden von suchtkranken Frauen zu Hause versorgt (siehe Abbildung 1).

30

25

20

20

15 12

10

11

Kindervers. zu Hause 5

5

5

nein ja

0

S s.

e ni

er .P

e hr

n io ss

-u p. An

re ep

op

t ch Su

D

z hi Sc

t.

Abb. 1: Häufigkeit der Kinderversorgung zu Hause bezogen auf die diagnostischen Gruppierungen.

194

GRUBE

• Aufgrund der besonderen Bedeutung der Frage, welche anderen Variablen für die Möglichkeit der Kinderversorgung zu Hause von Bedeutung sind, wurde eine logistische Regressionsanalyse berechnet (siehe Tabelle 3). Es bestätigte sich, dass „Unterstützung durch die Großeltern“ gefolgt von „Beziehung zu einem Benefitmann“ – allerdings statistisch nur als Trend in die Signifikanz – einen positiven Einfluss auf die Möglichkeit der Kinderversorgung zu Hause hat, während die „Diagnose Schizophrenie“ einen negativen Einfluss darstellt. Da die Varianzaufklärung dieser Berechnung 58,8 Prozent beträgt, kann davon ausgegangen werden, dass relevante Variablen erfasst worden sind. Logistische Regressionsanalyse: Kinderversorgung zu Hause (R²=,585)

Schizophrenie Benefitmann Unterstützung durch Großeltern Konstante

Beta

SE

Wald

df

Sig.

-3,297

1,486

4,925

1

,026

2,294

1,191

3,712

1

,054

4,507

1,752

6,618

1

,010

-2,152

1,662

1,677

1

,195

Tab. 3: Variablen, die für die Kinderversorgung zu Hause von Bedeutung sind.

• Darüber hinaus ist der Aufnahmezeitpunkt bei postpartal rezidivierten oder ersterkrankten schizophrenen Frauen gegenüber den anderen Diagnosegruppen hochsignifikant etwa 24 Tage früher. Hier spielt wahrscheinlich die Qualität der psychischen Erkrankung und deren Ausprägungsgrad eine entscheidende Rolle: Frauen mit florider postpartal induzierter schizophrener Symptomatik, die einen Säugling zu versorgen haben, werden wahrscheinlich wesentlich früher einer stationären Mutter-Kind-Behandlung zugewiesen, als Frauen mit anderen, weniger schwerwiegend erscheinenden psychiatrischen Erkrankungen. Dies bedeutet nicht, dass nicht schizophrene postpartale Erkrankungsmanifestationen für das Wohl des Kindes weniger gefährlich wären, als schizophrene Krankheitsmanifestationen. Möglicherweise spiegeln unsere Daten eher die subjektiven Zuweisungsmodalitäten der einweisenden Kollegen bzw. Institutionen wieder (siehe Abbildung 2).

MUTTER-KIND-BEHANDLUNG BEI POSTPARTALEN PSYCHOSEN

195

Überlebensfunktionen 1,2 1,0 ,8 ,6

Kum. Überleben

,4 ,2

Schizophrenie 0,0

ja nein

-,2 -100

0

100

200

300

Aufnahmezeitpunkt (Tage nach Entbindung)

Abb. 2: Kaplan Meier Überlebenskurve für den Aufnahmezeitpunkt (Schizophrenie vs. andere Diagnosen: im Mittel 30 vs. 6 Tage nach Entbindung; Log Rank Test: 15,35 df1; p = ,0001).

• Patientinnen mit postpartalen schizophrenen Erkrankungsbildern werden ca. sechs Wochen länger in stationärer Mutter-Kind-Therapie behandelt, als die übrigen Diagnosegruppen (siehe Abbildung 3). Hierin spiegelt sich evtl. die bei schizophren postpartal erkrankten Frauen größere Schwierigkeit wider, von Seiten des Behandlungsteams eine Kinderversorgung zu Hause durch die zwar remittierte aber schizophren erkrankte Patientin zu befürworten. Derartige Entscheidungsschwierigkeiten ergeben sich bei suchtkranken Patientinnen seltener, da aus dem Schweregrad der Suchterkrankung mit häufig depravierten Verläufen leider öfter und klarer gegen den Fortbestand der Erziehungsfähigkeit entschieden werden muss; bei primär depressiven oder im weitesten Sinne neurotisch erkrankten Patientinnen mit Anpassungs- und Persönlichkeitsstörungen werden häufiger und schneller Beurteilungen zu Gunsten weiter bestehender Erziehungsfähigkeit getroffen.

196

GRUBE

18,0 17,0 16,8

16,0

Mittelwert von Verweildauer (Wochen)

15,0 14,0 13,0 12,0 11,0 10,9

10,0 9,0 8,0 7,0 6,0 5,0 4,0 3,0 2,0 1,0

nein

ja

Schizophrenie

Abb. 3: Stationäre Verweildauern, deren Verteilung nicht signifikant von der Normalverteilung abweicht (Kolmogorov Smirnov Anpassungstest: p = ,426; Schizophrenie vs. andere Diagnosen: 16,8 vs. 10,9 Wochen; F = 6,300; p = ,015).

Zusammenfassend kann – trotz bestehender methodischer Einschränkungen – für die von uns untersuchte Gruppe von Frauen mit postpartalen schizophreniformen oder schizophrenen Psychosen gesagt werden, dass diese relativ früh nach Entbindung aufgenommen werden, eine relativ lange Verweildauer benötigen, eine hohe Anzahl von Beziehungen zu Risikomännern eingehen, durchschnittlich häufig Hilfe von den Großeltern besteht und ca. zwei Drittel der betroffenen schizophren erkrankten Mütter ihre Kinder nach Entlassung zu Hause betreuen können. Hinsichtlich ihrer psychosozialen Risiken bzw. Chancen befinden sich diese Frauen zwischen suchterkrankten Müttern einerseits und depressiven oder anpassungs- und persönlichkeitsgestörten Patientinnen andererseits.

Kontaktadresse Dr. med. Michael Grube Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an den Städtischen Kliniken Frankfurt-H.

Lehrkrankenhaus der Universität Frankfurt Gotenstr. 6-8, 65929 Frankfurt E-Mail: [email protected]

MUTTER-KIND-BEHANDLUNG BEI POSTPARTALEN PSYCHOSEN

197

Literatur 1.

2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.

Abel KM, Webb RT, Salmon MP, Wan MW, Appleby L. Prevalence and predictors of parenting outcomes in a cohort of mothers with schizophrenia admitted for joint mother and baby psychiatric care in England. J Clin Psychiatry 2005; 66: 781-789 Ahokas A, Aito M, Turiainen S. Association between oestradiol and puerperal psychosis. Acta Psychiatr Scand 2000; 101: 167-169 Bagedahl-Strindlund M, Ruppert S. Parapartum mental illness: a long-term followup study. Psychopathology 1998; 31: 250-259 Bergemann N, Riecher-Rössler. Estrogene effects in psychiatric disorders. WienNew York: Springer 2004 Bokhari R, Bhatara VS, Bandettini F, McMillin JM. Postpartum psychosis and postpartum thyroiditis. Psychoneuroendocrinology 1998; 23: 643-650 Brockington IF, Cernik KF, Schofield EM, Downing AR, Francis AF, Keelan C. Puerperal psychosis: phenomena and diagnosis. Arch Gen Psychiatry 1981; 38: 829-833 Chandra PS, Venkatasubrmanian G, Thomas T. Infanticidal ideas and infanticidal behavior in Indian women with severe postpartum psychiatric disorders. J Nerv Ment Dis 2002; 190: 457-461 Glangeaud-Freudenthal NM. Mother-Baby psychiatric units (MBUs): national data collection in France and in Belgium (1999-2000). Arch Women Ment Health 2004; 7: 59-64 Glover V, O’Connor TG, Bergman K. Effects of antenatal sterss/anxiety on the child – implications for psychiatry. Europ Psychiatry 2006; 21 suppl. 1: 41 Grube M. Peripartale psychiatrische Erkrankung – Unterstützung durch Männer? Eine erste Annäherung. Nervenarzt 2004; 75: 483-488 Grube M. Inpatient treatment of women with postpartal psychiatric disorders – the role of the men. Arch Women Mental Health 2005; 8: 163-170 Grube M. Die Rolle der männlichen Partner peripartal psychisch erkrankter Frauen. In: Turmes L. (Hrsg.) Gender Mainstreaming im psychiatrischen Fachkrankenhaus: eine erste Annäherung. Dortmund: Psychogenverlag, 2005 Hartmann HP. Mutter-Kind-Behandlung in der Psychiatrie. Teil I: Übersicht über bisherige Erfahrungen. Psychiatr Prax 1997; 24: 56-60 Hartmann HP. Mutter-Kind-Behandlung in der Psychiatrie. Teil II: Eigene Erfahrungen – Behandlungskonzepte und besondere Probleme. Psychiatr Prax 1997; 24: 172-177 Hartmann HP. Mutter-Kind-Behandlung in der Psychiatrie. Teil III: Eigene Erfahrungen – Praktische Durchführung und Diskussion. Psychiatr Prax 1997; 24: 281-285 Hartwich P, Grube M. Psychosen-Psychotherapie: Psychodynamisches Handeln in Klinik und Praxis. Darmstadt: Steinkopf, 2003 Hipwell AE, Goosens FA, Melhuish EC, Kumar R. Severe maternal psychopathology and infant-mother attachment. Dev Psychopathol 2000; 12: 157-175

198

GRUBE

18. Hornstein C, De Marco A, Rave E, Schenk S, Wortmann-Fleischer S, Schwarz M. Die Behandlung psychotischer Mütter in einer Mutter-Kind-Einheit. Psychodyn Psychother 2003; 2: 113-121 19. Howard LM, Goss C, Leese M, Appleby L, Thornicroft G. The psychosocial outcome of pregnancy in women with psychotic disorders. Schizophr Res 2004; 71: 49-60 20. Kapfhammer HP. Psychische Störungen im Wochenbett. In: Möller HJ, Laux G, Kapfhammer KP (Hrsg.) Psychiatrie und Psychotherapie. Berlin-Heidelberg-New York: Springer, 2004: 1472-1487 21. Kumar R. Postnatal mental illness : a transcultural perspective. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 1994 ; 29 : 250-264 22. Kumpf-Tonsch A, Schmid-Siegel B, Klier CM, Muzik M, Lenz G. Versorgungsstrukturen für Frauen mit postpartalen psychischen Störungen – Eine Bestandsaufnahme für Österreich. Wien Klin Wochenschr 2001; 113: 641-646 23. Lai JY, Huang TL. Catatonic features noted in patients with post-partum mental illness. Psychiatry Clin Neurosci 2004; 58: 157-162 24. Lanczik M, Fritze J, Beckmann H. Puerperal and cycloid psychoses. Results of a retrospective study. Psychopathology 1990 ; 23 : 220-227 25. Lenz A. Kinder psychisch kranker Eltern. 2005; Hogrefe Verlag, Göttingen 26. Leonhardt K. Aufteilung der endogenen Psychosen und ihre differenzierte Ätiologie. Berlin, Akademie Verlag, 1986 27. Marcé LV. Traité de la folie des femes enceintes. Paris, L’Harmattan (1858), 2002 28. McNeill TF. A prospective study of postpartum psychoses in a high risk group. 4: Relationship to life situation and experience of pregnancy. Acta psychiatr Scand 1988; 77: 645-653 29. Milgrom J, Burrows GD, Snellen M, Stamboulakis W, Burrows K. Psychiatric illness in women: a review of the function of a specialist mother-baby unit. Aust N Z J Psychiatry 1998; 32: 680-686 30. Miller LJ. Psychotic denial of pregnancy: phenomenology and clinical management. Hosp Community Psychiatry 1990; 1233-1237 31. Murray L, Cooper P, Hipwell A. Mental health of parents caring for infants. Arch Women Ment Health 2003; Suppl 2: 71-77 32. Peters UH. Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie. MünchenWien-Baltimore, Urban & Schwarzenberg, 1990 33. Ramchandani P, Stein A, Evans J, O’Connor TG. Paternal depression in the postnatal period and child development: a prospective population study. Lancet 2005; 365: 2201-2205 34. Reck C, Hunt A, Fuchs T, Weiss R, Noon A, Moehler E, Downing G, Tronick EZ, Mundt C. Interactive regulation of affect in postpartum depressed mothers and their infants: an overview. Psychopathology 2004; 37: 272-280 35. Reck C. Persönliche Mitteilung über eine epidemiologische Studie zur Prävalenz postpartaler Depressionen an der psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg. 2005 36. Reed P, Sermin N, Appleby L, Faragher B. A comparison of clinical response to electroconvulsive therapy in puerperal and non-puerperal psychoses. J Affect Disord 1999; 54: 255-260

MUTTER-KIND-BEHANDLUNG BEI POSTPARTALEN PSYCHOSEN

199

37. Reeves RR, Pinkovsky HB. Postpartum psychosis induced by bromocriptine and pseudoephedrine. J Fam Pract 1997; 45: 164-166 38. Riecher-Rössler A. Psychiatrische Störungen und Erkrankungen nach der Geburt. Fortschr Neurol Psychiatr 1997; 65: 97-107 39. Robling SA, Paykel ES, Dunn VJ, Abbott R, Katona C. Long-term outcome of severe puerperal psychiatric illness: a 23 year follow-up study. Psychol Med 2000; 30: 1263-1271 40. Rohde A, Marneros, A. Psychosen im Wochenbett: Symptomatik, Verlauf und Langzeitprognose. Geburtshilfe Frauenheilkd 1993; 53: 800-810 41. Rohde A, Marneros, A. Postpartum psychoses: onset and long-term course. Psychopathology 1993; 26: 203-209 42. Rohde A, Marneros, A. Zur Prognose der Wochenbettpsychosen: Verlauf und Ausgang nach durchschnittlich 26 Jahren. Nervenarzt 1993; 64: 175-180 43. Schöpf J, Rust B. Follow-up and family study of postpartum psychoses. Part I: Overview. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 1994; 244: 101-111 44. Schöpf J, Rust B. Follow-up and family study of postpartum psychoses. Part II: Early versus late onset postpartum psychoses. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 1994; 244: 135-137 45. Schöpf J, Rust B. Follow-up and family study of postpartum psychoses. Part III: Characteristics of psychoses occurring exclusively in relation to childbirth. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 1994; 244: 138-140 46. Schöpf J, Rust B. Follow-up and family study of postpartum psychoses. Part IV: Schizophreniform psychoses and brief reactive psychoses – lack of nosological relation to schizophrenia. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 1994; 244: 141-144 47. Sharma V, Smith A, Khan M. The relationship between duration of labour, time of delivery, and puerperal psychosis. J Affect Disord 2004; 83: 215-220 48. Sharma V, Mazmanian D. Sleep loss and postpartum psychosis. Bipolar Disord 2003; 5: 98-105 49. Sharma V. Pharmacotherapy of postpartum psychosis. Expert Opin Pharmacother 2003; 4: 1651-1658 50. Spinelli MG. Maternal infanticide associated with mental illness: prevention and the promise of saved lives. Am J Psychiatry 2004; 161: 1548-1557 51. Strouse TB, Szuba MB, Baxter LR. Response to sleep deprivation in three women with postpartum psychosis. J Clin Psychiatry 1992; 53: 204-206 52. Turmes L. Die Behandlung postpartaler psychischer Störungen: Ergebnisse der 2Jahres Katamnese der Mutter-Kind-Einheit des LWL. In: Turmes L (Hrsg.) Das psychiatrische Fachkrankenhaus des 21. Jahrhunderts. Dortmund: Psychogenverlag, 2003: 78-87 53. Von Ballestrem CL, Strauss M, Kächele H (2005) Contribution to the epidemiology of postnatal depression in Germany – implications for the utilization of treatment. Arch Women Ment Health 8: 29-35 54. Wieck A. Endocrine aspects of postnatal mental disorders. Baillieres Clin Obstet Gynaekol 1989; 3: 857-877

201

PETER WAGNER, SABINE SCHLEGEL

Workshop: Kritische Diskussion schwieriger Therapieverläufe in der Gemeindepsychiatrie Einführung Die Langzeitbehandlung chronisch kranker Patienten beansprucht stationäre Einrichtungen und ausserklinische komplementäre Hilfesysteme gleichermaßen (Rössler und Salize 1996, Armbruster et al. 2006). Ziel des angebotenen Workshops war zum einen die Darstellung der erreichten Versorgung im Zusammenwirken der verschiedenen Institutionen, zum anderen aber auch vor allem deren (bisherige) Grenzen in der Versorgung schwieriger Patienten. Die gemeindepsychiatrische Versorgung der Stadt Frankfurt am Main ist in vier Sektoren aufgeteilt, die sich an der Zuständigkeit der Sozialstationen orientieren. Jedem Sektor ist eine pflichtversorgende und gemeindenahe Klinik zugeordnet, sowie jeweils ein Trägerverein für komplementäre Therapieangebote wie Tagesstätten oder Wohnheime. In dem Workshop wurden die Fallgeschichten von chronisch kranken Patienten vorgestellt. Parallel hierzu wurden graphische Arbeiten psychisch kranker Künstler – entstanden in den Jahren 1850 bis 1910 – aus der Sammlung Prinzhorn, Heidelberg projiziert, um die vorgetragenen Krankengeschichten zu visualisieren und den historischen Kontext psychiatrischer Krankenversorgung aufzuspannen. Im Anschluss an jede Präsentation war Raum für Diskussion. Ausgewählt wurden zur Publikation die beiden Kasuistiken, die am lebhaftesten diskutiert wurden. Fall 1: Männlicher Patient mit chronischer paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie, bei Erstaufnahme 45 Jahre alt. Die stationäre Erstaufnahme im Markus Krankenhaus erfolgte durch das Ordnungsamt der Stadt Frankfurt bei Fremdaggression nach dem Hessischen Freiheitsentzugsgesetz (HFEG). Psychiatrische Vorgeschichte bis 1998: 1982 stationäre Erstbehandlung nach einer Belastungssituation im Rahmen seines Hochschulstudiums. Bis

202

WAGNER Š SCHLEGEL

1984 vier weitere stationäre Aufenthalte, Abbruch der Berufstätigkeit als Bauingenieur. Bis 1998 mindestens 12 stationäre Aufnahmen mit einer kumulierten Behandlungsdauer von über 2 Jahren in verschiedenen psychiatrischen Kliniken in- und außerhalb Frankfurts. Insgesamt sind mindestens sechs Suizidversuche dokumentiert. 1990 erfolgte die Aufnahme in das betreute Wohnprogramm eines Frankfurter Trägervereins, zunächst in einer Wohngemeinschaft, ab 1993 im betreuten Einzelwohnen. Wichtige stationäre Aufenthalte nach 1998 und Status der psychozialen Versorgung in Stichworten 1998: Entlassung mit Depotmedikation zu niedergelassenem Nervenarzt, Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung, Betreutes Wohnen, Beschäftigung in Reha-Werkstatt. 2001: Aufnahme wegen fremdaggressiven Verhaltens. Anregung einer Unterbringung wird durch das Frankfurter Amtsgericht abgelehnt. Nachbetreuungsstrukturen bleiben formal bestehen, werden jedoch vom Patienten im Rahmen fehlender Krankheits- und Behandlungseinsicht abgelehnt. 2001: (drei Wochen später): Erneute Einweisung nach HFEG, folgend mehrwöchiger Aufenthalt mit deutlicher Zustandsverbesserung des Patienten. Nach Entlassung wird die Weiterbeschäftigung von der Reha-Werkstatt abgelehnt. Gründe: Überforderung der Betreuungsstrukturen bei Einschüchterung der dort beschäftigten Klienten während der vorangegangenen floriden Phase. Nachbetreuung ansonsten wie bei Voraufenthalt. 2002: Erstmalig in der Therapieempfehlung nach Entlassung keine Depotmedikation auf Wunsch des Patienten, weiter Carbamazepin und orale neuroleptische Medikation. Ansonsten Nachbetreuung wie bei Voraufenthalt, vorbehandelnder Nervenarzt wird nicht mehr aufgesucht. 2003: Zunächst freiwillige Aufnahme, im stationären Verlauf Fremdaggression gegen Mitarbeiter der Klinik durch Faustschlag in das Gesicht. Die hinzugezogene Polizei lehnt die Unterbringung nach HFEG ab, es folgt dann die disziplinarische Entlassung, welche nur unter Mitwirkung der Polizei möglich ist. Am Folgetag Wiederaufnahme des

KRITISCHE DISKUSSION SCHWIERIGER THERAPIEVERLÄUFE IN DER GEMEINDEPSYCHIATRIE 203

Patienten unter Behandlungsvertrag auf freiwilliger Basis, nach etwa 2 Wochen Selbstentlassung während Ausgang. Keine sichere ambulante Nachbetreuung. Weiter bestehen gesetzliche Betreuung und Betreutes Wohnen. 2003: (fünf Monate später): Dreimonatiger Aufenthalt, erstmals beendet mit tagesklinischer Behandlung (zwei Wochen Dauer). Während des stationären Aufenthalts Bearbeitung eines Behandlungsvertrags, der allerdings bei Ambivalenz des Patienten nicht komplettiert und abgeschlossen werden kann. Nachbetreuung durch Institutsambulanz der Klinik, erstmalig Einsatz eines atypischen Depotneuroleptikums. Betreutes Wohnen wird bei grenzverletzendem Verhalten des Patienten durch Trägerverein aufgekündigt. Weiter bestehen gesetzliche Betreuung und ärztliche Nachsorge, die der Patient auch über eine Dauer von 22 Monaten ohne Unterbrechung einer stationären Intervention wahrnimmt. Im Herbst 2005 kommt es jedoch bei schwindender Behandlungseinsicht zu wachsendem Widerstand gegen die psychopharmakologische Behandlung und letztlich Abbruch. Zehn Wochen später erfolgt die stationäre Wiederaufnahme. Zusammenfassung der Diskussion aus dem Plenum Bemerkenswert an dieser Fallgeschichte ist die hohe Belastung der verschiedenen Hilfesysteme durch einen Behandlungsfall. Der Patient gehört zweifelsohne zu den psychiatrisch Schwerstkranken, nicht zuletzt deswegen, weil eine konsistente Behandlungs- oder gar Krankheitseinsicht über einen längeren Zeitraum hinweg nicht aufgebaut werden konnte. Eine Diskutantin sieht eine erhebliche Kränkung des Selbstbildes des Patienten, der – krankheitsbedingt – sein ursprüngliches Lebens- und Berufsziel aufgeben musste und diese Kränkung nun auf das psychiatrische Hilfesystem projiziert, als behandlungserschwerend. Schließlich muss das einschüchternde und bedrohliche Auftreten mit raptusartig auftretender Fremdaggression in den Akutphasen des Patienten genannt werden. So ist es einerseits nachvollziehbar, dass im Laufe des jahrelangen Beobachtungszeitraums alle involvierten Strukturen zu irgendeinem Zeitpunkt den Behandlungsauftrag (zumindest vorübergehend) zurückgegeben haben: Die Werkstatt verweist auf die noch bestehende Einschüchterung des Um-

204

WAGNER Š SCHLEGEL

felds zur Begründung der Ablehnung der Wiederaufnahme, der Mitarbeiter des Trägervereins auf ein nicht zu tolerierendes Fehlverhalten während einer ansonsten weitgehend stabilen Phase zur Begründung der Aufkündigung des Betreuten Wohnens und auch die Klinik sieht zunächst nur noch das Mittel der disziplinarischen Entlassung nach Ablehnung der Unterbringung durch die Polizei (2003), obwohl es unmittelbar darauf zur Wiederaufnahme der stationären Behandlung kommt. Andererseits bleibt die Frage, wie der Auftrag einer gemeindepsychiatrischen Versorgung bei diesem Patienten eingelöst werden kann. Eine Antwort hierauf muss sich sowohl an seinen Bedürfnissen orientieren (Thornicroft und Tansella 2005) als auch für alle Beteiligten verbindlich sein. Als Forum, um diese Antwort mit dem Betroffenen und den beteiligten Einrichtungen zu entwickeln, wird eine Hilfeplankonferenz unter Nutzung eines individuellen Behandlungs- und Rehabilitationsplans vorgeschlagen. Auch nach dem Einsatz dieses seit 2005 in Frankfurt etablierten Instruments wird dennoch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein enormes Spannungsfeld zwischen Hilfebedürftigkeit des Patienten einerseits und Überforderung, bzw. Sprengen eines Hilfesystems bestehen bleiben. Daher bleibt nur der Weg klar benannter Konsequenzen im Umgang mit dem Patienten, ohne dass es zum faktischen Rückzug aus der bestehenden Pflichtversorgung (weder im stationären noch im komplementären Bereich) kommen darf. Fall 2: Männlicher Patient mit chronisch paranoid halluzinatorischer Schizophrenie, zum Zeitpunkt der Aufnahme 38 Jahre alt. Der Patient wurde im Dezember 2003 nach § 10 HFEG wegen Fremdaggression in die Klinik eingewiesen. Nach Angaben der Familie waren erste Anzeichen einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis offenbar bereits 2001 zu erkennen gewesen. In seinem Herkunftsland Äthiopien erfolgte damals die initiale stationäre Behandlung unter Einsatz von Zwangsmaßnahmen. Nachdem der Patient zwischenzeitlich seinen Brüdern nach Deutschland gefolgt war, kam es zu zwei weiteren stationären Behandlungen, die trotz hochdosierter neuroleptischer Medikation nur eine unvollständige Rückbildung des Wahnerlebens bei offenbar schon chronifizierter Erkrankung zeigten.

KRITISCHE DISKUSSION SCHWIERIGER THERAPIEVERLÄUFE IN DER GEMEINDEPSYCHIATRIE 205

Wichtige Punkte im stationären Verlauf Nach der 19. Woche stationärer Behandlung persistieren weiterhin quälende Verfolgungsideen. Der bisherige Einsatz typischer und atypischer Neuroleptika führte trotz ausreichender Dosierung und Behandlungsdauer nicht zu signifikanter Symptomreduktion. Überlegungen betreffend Clozapin oder EKT bei unzureichender Wirksamkeit hochdosierter konventioneller und atypischer neuroleptischer Medikation scheitern an der Ablehnung des Patienten. Ab der 28. Woche verbleibt der Patient freiwillig in Behandlung. Er ist weiter wahnhaft, affektiv gedrückt. Zu diesem Zeitpunkt entsteht wieder Kontakt zum Bruder; während eines Ausgangs mit diesem kommt es jedoch zu massiven Ängsten und Beziehungserleben. Eine Änderung der bestehenden Medikation lehnt er ab. Ab der 29. Woche wird bei ausbleibender Änderung des Befunds immer wieder die Frage einer weiteren Versorgung gestellt. Der Patient lehnt sämtliche Vorschläge ab. 44. Woche: Es kommt zur Räumung der Wohnung, nachdem das Sozialamt die Mietzahlung eingestellt hat. 47. Woche: Nach mühevollen Überzeugungsversuchen akzeptiert der Patient für alle überraschend Clozapin (nach sorgfältiger Aufklärung und Zustimmung des gesetzlichen Betreuers). 60. Woche: Nach langsamer Aufdosierung von Clozapin leichtgradige Befundbesserung. Der Patient ist in der Lage, für kurze Ausgänge die Station zu verlassen. Die Verfolgungsideen persistieren bei verminderter Dynamik. Alle Vorschläge bezüglich Wohnheimen – teilweise durch Mitarbeiter der jeweiligen Einrichtungen persönlich vorgestellt – lehnt er ab. Regelhaft Verschlechterung nach Akutaufnahmen neuer Mitpatienten; eine interne Verlegung auf eine andere Station wird vom Patienten ebenfalls nicht gewünscht. 68. Woche: Der Betreuer beantragt die geschlossene Heimunterbringung. Eine Änderung des Befundes ist seit mindestens 8 Wochen nicht mehr zu verzeichnen. 72. Woche: Ein Heimplatz mit Möglichkeit der geschlossenen Unterbringung ist nur weit außerhalb Frankfurts zu finden.

206

WAGNER Š SCHLEGEL

Nach 86 Wochen stationärer Therapie Verlegung in Begleitung von Mitarbeitern des Ordnungsamts und der Betreuungsstelle in ein Heim im Odenwald zur geschlossenen Unterbringung nach BGB. Zusammenfassung der Diskussion aus dem Plenum Nach 86 Wochen psychiatrisch intensiver multiprofessioneller stationärer Behandlung unter Einsatz verschiedenster neuroleptischer Medikation, eingeschlossen Mehrfachkombination mit Clozapin bei Therapieresistenz, konnte der Patient schließlich in ein Heim mit der Möglichkeit zur geschlossenen Unterbringung verlegt werden. Dieser Verlauf erschien in mehrfacher Hinsicht diskussionswürdig: Erstens demonstriert diese Krankengeschichte, dass es auch unter Ausnutzung moderner psychopharmakologischer und –therapeutischer Optionen refraktäre Verläufe mit persistierenden Positiv- und Negativsymptomen gibt. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass der Patient zu keinem Zeitpunkt versuchte, dass stationäre Behandlungssetting hinter sich zu lassen, obwohl keinerlei Krankheitseinsicht bestand. Im Gegenteil nahm er die Klinik als eine Art Schutzraum wahr, jenseits dessen eine Existenz nicht vorstellbar war. Zu diskutieren war dabei durchaus, ob er nicht – auch nach einer Behandlungsdauer von nahezu zwei Jahren – im Krankenhaus hätte bleiben können und sollen. Neben der Tatsache, dass dies mit den Aufgaben und Zielen einer Akutklinik nicht ohne weiteres vereinbar ist, sprach gegen dieses Vorgehen vor allem die Beobachtung des therapeutischen Teams, dass der Patient durch Neuaufnahmen erheblich irritiert wurde und sich sein Zustand dann regelmäßig krisenhaft verschlechterte. Zweitens war ausgesprochen problematisch, dass nach der vormundschaftsrichterlichen Genehmigung der geschlossenen Unterbringung überhaupt keine Einrichtung innerhalb der Kommune Frankfurt zur Verfügung stand, um diesen Patienten aufzunehmen, so dass weit in die Peripherie ausgewichen werden musste. In diesem konkreten Fall war insbesondere die räumliche Distanz zu den in Frankfurt lebenden Geschwistern als ungünstig zu bewerten. Hier klafft eine deutliche Versorgungslücke für chronisch kranke Patienten, die nicht freiwillig in einem Wohnheim zu integrieren sind, aber bei bestehender Selbstgefährdung nicht ohne dauerhafte Heimstruktur bleiben können. Sicherlich muss die im Rahmen der Psychiatriereform betriebene Auflösung der ehemals als einzige Versorgungsform im Übermaß vorhandenen „Lang-

KRITISCHE DISKUSSION SCHWIERIGER THERAPIEVERLÄUFE IN DER GEMEINDEPSYCHIATRIE 207

zeitstationen“ unbedingt unterstützt und begrüßt werden. Zu fragen bleibt dennoch, wie diese – relativ kleine – Gruppe schwer erkrankter Patienten, zu denen der vorgestellte Patient gehört, adäquat versorgt werden kann.

Schlussbemerkung Gerade Patienten mit chronischen Erkrankungen wie Schizophrenien sind vielfach über Jahre bis Jahrzehnte im Versorgungssystem, so dass diese Therapieverläufe besonders geeignet erscheinen, um Probleme an den Nahtstellen zwischen stationärer (Langle und Mayenberger 2000) und ambulanter Versorgung kritisch zu diskutieren. An den Diskussionen um die besprochenen Kasuistiken wurde deutlich, dass hier durchaus Verbesserungsbedarf gesehen wird.

208

WAGNER Š SCHLEGEL

Literatur Armbruster J, Schulte-Kemna G, Widmaier-Berthold C. Kommunale Steuerung und Vernetzung im Gemeindepsychiatrischen Verbund. Bonn: Psychiatrie Verlag, 2006 Langle G, Mayenberger M. [Role of the clinic in follow-up of schizophrenic illnesses] Die Rolle der Klinik im Verlauf schizophrener Erkrankungen. Gesundheitswesen 2000; 62(1): 9-14 Rössler W, Salize HJ. Die psychiatrische Versorgung chronisch psychisch Kranker – Daten, Fakten, Analysen. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 1996 Thornicroft G, Tansella M. Growing recognition of the importance of service user involvement in mental health service planning and evaluation. Epidemiol Psichiatr Soc 2005; 14(1): 1-3