Suizidalität: Diagnostik und Therapie [1 ed.] 9783896449047, 9783896731869

Der Umgang mit Suizidalität, Suizidversuchen und erfolgtem Suizid stellt einen Kernbereich psychiatrischen und psychothe

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German Pages 120 [121] Year 2003

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Suizidalität: Diagnostik und Therapie [1 ed.]
 9783896449047, 9783896731869

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Peter Hartwich Š Steffen Haas (Hrsg.)

Suizidalität Diagnostik und Therapie

Mit Beiträgen von: H. Bauer, M. Dümpelmann, M. Grube, P. Hartwich, F. Langegger, K. Maurer, B. Pflug, B. Schneider, J. Wenke

Verlag Wissenschaft & Praxis

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 3-89673-186-6

© Verlag Wissenschaft & Praxis

Dr. Brauner GmbH 2003 D-75447 Sternenfels, Nußbaumweg 6 Tel. 07045/930093 Fax 07045/930094

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Inhalt Autoren ....................................................................................6 Vorwort....................................................................................7 PETER HARTWICH Einführung: Suizide in der psychiatrischen Klinik......................9 BURKHARD PFLUG Affektive Erkrankungen und Suizidalität..................................21 MICHAEL DÜMPELMANN Suizidalität bei schizophrenen Psychosen – funktionale und therapeutische Aspekte..................................37 KONRAD MAURER, BARBARA SCHNEIDER Suizidalität im Alter ................................................................51 MICHAEL GRUBE Welche Bedeutung haben fremdaggressive Handlungen für die Prädiktion von Suizidalität und Selbstverletzungen in der akut-psychiatrischen Aufnahmesituation?......................65 BARBARA SCHNEIDER Risikofaktoren für Suizid.........................................................83 HANS BAUER, JENS WENKE Konsiliarpsychiatrie und Suizidalität .....................................107 PETER HARTWICH, FLORIAN LANGEGGER Supervision bei Suizidalität und erfolgtem Suizid..................117

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Autoren BAUER, HANS, Dr.med., Oberarzt, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Klinikum der Universität, HeinrichHoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt a. M. DÜMPELMANN, MICHAEL, Dr.med., Leiter des Funktionsbereiches Klinische Psycho- und Soziotherapie des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Tiefenbrunn, Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Göttingen GRUBE, MICHAEL, Dr.med., Oberarzt, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Städtische Kliniken, Gotenstr. 6 - 8, 65929 Frankfurt a. M. HARTWICH, PETER, Prof. Dr. med., Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Städtische Kliniken, Gotenstr. 6 – 8, 65929 Frankfurt a. M. LANGEGGER, FLORIAN, Dr. med., em. Direktor der Klinik am Zürichberg, Zürich MAURER, KONRAD, Prof. Dr. med., Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I, Klinikum der Universität, Heinrich-Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt a. M. PFLUG, BURKHARD, Prof. Dr. med., Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Klinikum der Universität, Heinrich-Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt a. M. SCHNEIDER, BARBARA, Dr.med., Oberärztin, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I, Klinikum der Universität, HeinrichHoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt a. M. WENKE, JENS, Dr.med., Oberarzt, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Markus-Krankenhaus, Wilhelm-Epstein-Str. 2, 60431 Frankfurt a. M.

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Vorwort Der Umgang mit Suizidalität, Suizidversuchen und erfolgtem Suizid gehört für alle in der Psychiatrie Tätigen zum Kerngebiet von Diagnostik und Therapie. Die überarbeiteten Beiträge des 8. Frankfurter Psychiatrie-Symposions widmen sich dieser Thematik und sind in dem vorliegenden Buch zusammengefasst. Namhafte Fachleute aus Wissenschaft und Praxis haben zu verschiedenen Aspekten Stellung genommen: Suizidalität bei schizophrenen und affektiven Psychosen, Suizidalität in der psychiatrischen Klinik, Suizidalität im Alter, Risikofaktoren beim Suizid und der Verknüpfung fremdaggressiver Handlungen mit suizidalem oder selbstverletzendem Verhalten. Besonders hervorzuheben ist, dass zu den Themen Konsiliarpsychiatrie und Suizidalität sowie Supervision bei Suizidalität und erfolgtem Suizid zwei Workshopberichte vorliegen, die neben der Wissensstoffvermittlung auch die emotionale Bearbeitung der belastenden Thematik für den Leser zugänglich machen.

Michael Grube

PETER HARTWICH

Einführung: Suizide in der psychiatrischen Klinik Zur Einführung in das Thema seien wesentliche Kernprobleme, die in der Begegnung mit Suizidalität und Suizid in unseren Berufsgruppen auftreten, angesprochen. Wir gebrauchen nicht den Begriff "Selbstmord", da man mit Mord automatisch den § 211 StGB assoziiert, in dem heimtückisches Verhalten und niedrige Beweggründe angeführt werden. Stattdessen sprechen wir in unseren Fächern von Selbsttötung und Suizid. Theoretische Erwägungen über Suizidalität und Suizid können sich von dem, was wir in der täglichen praktischen Erfahrung mit Patienten erleben, erheblich unterscheiden. Infolgedessen sei hier zunächst von Fallbeispielen ausgegangen:

1. Beispiel Eine 54-jährige Frau leidet an einer seit 25 Jahren bestehenden chronischen bipolaren affektiven Störung. Gelegentlich kommt es zu schweren manischen Auslenkungen, die mit wochenlang anhaltenden depressiven Verstimmungszuständen abwechseln, welche klinisch behandelt werden müssen. Neben der Psychose leidet sie an einer Multiplen Sklerose mit zunehmender zerebraler Beeinträchtigung, die sich in Form von kognitiven Defiziten, sphärischer Vergröberung und rascher Progredienz bemerkbar macht. In früheren Jahren war die Patientin eine leidenschaftliche Hobbyjägerin. Vor einigen Jahren wurde sie geschieden und der inzwischen erwachsen gewordene Sohn geht aus dem Haus. Bei dem derzeitigen stationären Aufenthalt überwiegt ein depressivdysphorisches Mischbild, welches im Rahmen der stationären

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Therapie gerade kompensiert war, als sie einen Suizid begeht. Hierzu geht sie ohne Absprache von Station nach Hause und erschießt sich dort mit einem ihrer Revolver, den sie sich aus der Jägerzeit aufbewahrt hatte. Nach dem Ereignis erfahren wir, dass sie zuvor schon Abschied von Freunden und Angehörigen, insbesondere dem Sohn, genommen hatte. Diese Personen hatten uns nicht informiert, sondern ihre Suizidentscheidung hingenommen. Was ist hieraus zu entnehmen?

Zu Fall I Allgemeines Höhere Suizidrate bei Komorbidität (Psychose + MS, M. Parkinson, Chorea Huntington, AIDS )

Die subjektive Seite der Patientin • • • •

Langer Entscheidungsprozess Diskrepanzerleben Zunehmende Abhängigkeit Aktive persönliche Handlung

1.1 Allgemeines Unter allgemeiner Betrachtung und unter Hinzuziehung epidemiologischer Erkenntnisse wird hier die höhere Suizidrate der Komorbidität von Psychose und organischen Erkrankungen, wie z. B. Multiple Sklerose, Parkinson, Chorea Huntington und AIDS, bestätigt. Es handelt sich dabei um organische Erkrankungszustände, bei denen subjektiv und in vielen Fällen auch objektiv keine

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Verbesserung, sondern im weiteren Verlauf eher eine Progredienz der Pathologie zu erwarten ist. 1.2 Die subjektive Seite der Patientin Es besteht hier schon jahrelang eine quälende Verzweiflung. Über Wochen und Monate hat ein langer Entscheidungsprozess stattgefunden. Die Patientin leidet unter dem hohen Diskrepanzerleben zwischen vormals fester Beziehung zum Ehemann, einem anspruchsvollen Beruf, gesunder Schaffenskraft einerseits und dem jetzigen Verlust der persönlich wertvollen Bindungen einschließlich der Angst vor weiterem zerebralen Zerfall, akzentuiert durch die Psychose andererseits. Aus unserer Sicht beendigt sie im Suizid das Nicht-Hinnehmen-Können der zunehmenden Abhängigkeit durch eine eigene Entscheidung und letzte aktive persönliche Handlung. 1.3 Wie geht es dem Behandlerteam? Bei denen, die sich während der stationären Aufenthalte und auch in der ambulanten Behandlung im Intervall intensiv mit der Patientin beschäftigten, sich auf sie eingelassen haben und ihr helfen wollten, macht sich eine ohnmächtige Betroffenheit breit. In der Besprechung werden schließlich die vorher nur ansatzweise gedachten Gedanken laut, ob man nicht genügend getan, versagt habe? Auch taucht die Frage auf, ob es wirklich ihr echter Wille gewesen sei? Wie oft wurde im Team erlebt, dass eine solche Entscheidung nicht eine ganze ist, sondern ambivalente Zustände durchläuft. Auch kommen wir in der Teambesprechung nicht an der Schuldfrage vorbei. Sind wir schuld, die Familie, die Gesellschaft? Und in vielen Fällen beschleicht uns auch die Furcht vor einem juristischen Nachspiel.

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Noch zu Fall I Wie geht es dem Behandlerteam? • • • • •

Betroffenheit, Ohnmacht Habe ich versagt? Habe ich nicht genügend getan? Frage der Schuld Gibt es ein juristisches Nachspiel?

2. Beispiel Ein 48-jähriger Theologe wird von der Ehefrau gebracht, er leidet an einer Phase einer schweren endogenen Depression. Im Rahmen seiner Antriebslosigkeit, der Tagesschwankungen, des Interessenverlustes, der tief depressiven Verstimmung und seiner Entscheidungsambivalenz kann er nicht mehr predigen. Da ihm auch alle Werte- und Bindungsgefühle verloren gegangen sind, kann er auch nicht mehr glauben. Das ist für ihn so schrecklich, daß die ohnehin bestehende Suizidalität manifest wird. Ein Gespräch mit dem Klinikseelsorger vertieft seine Qual und hilft ihm nicht in seinen Selbstzweifeln aufgrund des Verlustes seiner Glaubensfähigkeit. Er pendelt in einen nihilistischen Wahn hinein. Er will nicht bleiben, sieht in seiner psychiatrischen Behandlung keinen Sinn und erkennt seinen Zustand nicht als Krankheit an.

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Fall II Schwere depressive Episode F32.2, schwere endogene Depression • • • • • • • •

Antriebshemmung Interessenverlust tief verzweifelte Verstimmung Tagesschwankungen Entscheidungsambivalenz Verlust der Glaubensfähigkeit Suizidalität keine Krankheitseinsicht

Ganz allgemein kann gesagt werden, dass dieser Fall die höhere Suizidalität der Depressiven bestätigt und auch zeigt, dass Suizidalität durch alle Berufsgruppen geht. 2.1 Wie geht es den Behandlern? Hier besteht Suizidgefahr bei einem Menschen, dessen Willensbestimmung krankhaft verändert ist. Die Gefahr ist außerordentlich groß. Würde er nach Hause gehen, wären seine Angehörigen überfordert. Er braucht also Hilfe gegen seinen derzeitigen Willen. Der Behandler kommt in einen Konflikt: Führt er einen Gerichtsbeschluss zur Zwangsunterbringung herbei, so wird dieser in seiner Gemeinde so bekannte und geachtete Mann erhebliche berufliche und soziale Nachteile haben können. Es ist häufig, dass man aus diesen Gründen bei höher gestellten Persönlichkeiten aus der Wirtschaft, der Verwaltung, der Politik oder umliegenden Universitäten geneigt ist, den Patienten vor sozialer Rufschädigung zu schützen. Hierzu muß man sich aber fragen: wovor schützen? Vor

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den Folgen einer Zwangseinweisung und Behandlung in der Psychiatrie oder vor dem Suizid? Gegen den massiven Druck der Umgebung und des Patienten muß sich der Psychiater entscheiden, den Patienten vor sich selber zu schützen, eine gerichtliche Einweisung zu erwirken und ihn ohne Freiwilligkeit zu behandeln. Der Psychiater übernimmt damit eine ungeliebte und ungeschützte Rolle, denn es geht hier um das hohe Rechtsgut der Freiheit des Individuums. Er kann diese Rolle nicht an den einweisenden Richter delegieren, denn nur der Psychiater kann das Ausmaß der Suizidalität und die psychopathologischen Voraussetzungen für die freie Willensbekundung begutachten. Im vorliegenden Fall war der Patient nach vierwöchiger Fachbehandlung rekompensiert, wieder guter Dinge und dankbar, dass wir das Prinzip der Realität gegen seine krankhafte Überzeugung gestellt hatten.

Weiter zu Fall II Wie geht es den Behandlern? • Hohe Suizidgefahr bewirkt Angstgefühle, Konflikt: • Therapie gegen die Überzeugung des Patienten? • Zwangsunterbringung führt zu beruflichen und sozialen Nachteilen • Massiver Druck der Umgebung, dem Pat. keinen Zwang anzutun • Hohes Rechtsgut der Freiheit des Individuums • Unbeliebte Entscheidung für die Behandlung, Erwirken einer gerichtlichen Einweisung

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3. Beispiel Eine 45-jährige Patientin, die in der Jugend vom 11. bis zum 17. Lebensjahr vom Stiefvater mißbraucht worden war, fällt bei Entdeckung einer Herzerkrankung ihres 14 Jahre älteren Ehemannes in depressive Zustände mit paranoiden Auslenkungen. Der Ehemann wird erfolgreich behandelt, sie leidet aber weiterhin in wechselndem Ausmaß an Somatisierungsstörungen und Verstimmungen. Sie äußert ihrem Mann gegenüber immer wieder suizidale Gedanken, so dass er sie nicht mehr aus den Augen lässt. Auf diese Weise sichert sie sich ihre Objektbeziehung. In ihrer Befürchtung, auf Dauer nicht ernst genommen zu werden, wendet sie sich an eine Institution, die sich "Gesellschaft für das humane Sterben" nennt. Sie bekommt Unterlagen zugeschickt, aus denen sie Handlungsanweisungen zum Suizid entnehmen kann. Sie verschafft sich eine von der Gesellschaft vorgeschlagene Substanz, nimmt sie ein, wird aber wie durch Zufall aufgrund besonders günstiger Umstände doch noch gerettet. Eine wochenlange Behandlung im Zustand der Bewusstlosigkeit auf einer Intensivstation bleibt ihr aber nicht erspart. Danach rekompensiert sie. Die Objektbindung in Form einer kontinuierlichen Umsorgung durch den Ehemann wird noch fester. Sechs Jahre später verstirbt der Ehemann. Einige Monate später nimmt sie jene Substanz erneut ein und kann diesmal nicht mehr gerettet werden.

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Zu Fall III Allgemeines • Erhöhte Suizidalität bei Borderline-PS und Mißbrauchsvorgeschichte (WALLER, 1993) • Unrealistische Forderungen in der Beziehungsdynamik • Unverhältnismäßige Reaktionen bei drohendem Objektverlust (KELLEHER et al. 2000) • Chronische Suizidalität (KIND, GIERNALCZYK 2000)

3.1 Allgemeines Wie Waller 1993 ausführt, besteht eine erhöhte Suizidgefährung mit gewaltsamer Note bei Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typ, bei denen gleichzeitig eine Mißbrauchsvorgeschichte vorliegt. Aus psychodynamischer Sicht ist es eindrucksvoll, welch unrealistische Forderungen hinsichtlich der Beziehungsdynamik bestehen und wie unverhältnismäßig die Reaktionen bei drohendem Objektverlust sind (Kelleher et al. 2000). Es bestand eine jahrelange Suizidalität, die schließlich manifest wurde, also um einen Fall einer chronischen Suizidalität, wie sie von Kind und Giernalczyk (2000) beschrieben wurde.

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Noch zu Fall III Die Gesellschaften, die Sterbehilfe betreiben, fragen nicht nach einer krankhaften Veränderung des Motivationsgefüges und der Willensbildung, nicht nach Diagnose und nicht nach psychodynamischen Zusammenhängen.

3.2 Speziell Die Gesellschaft, die Sterbehilfe betreibt, fragt nicht nach einem krankhaft veränderten Motivationsgefüge der Willensbildung, nicht nach der Diagnose und auch nicht nach den psychodynamischen Zusammenhängen.

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Weiter zu Fall III Reaktionen und Gegenübertragung • Offener Ärger bei den Angehörigen • Ohnmacht und Schuldgefühle, späterer Ärger beim Behandlerteam • Die Wut- und Schuldprojektion der Patientin • Behandler: Projizieren oder Reflektieren (Supervision)

3.3 Reaktionen und Gegenübertragung bei den Mitgliedern des Behandlerteams Ähnlich wie bei den nächsten Angehörigen, die aus Verärgerung über die Patientin das Erbe ausgeschlagen hatten, kam es auch hier zu Gefühlen von Ohnmacht und später von Ärger. Man konnte bei dieser Patientin noch so viel tun, sich noch so sehr einsetzen, nie war es genug. Die innewohnende Wut der Borderline-Patientin ist durch diese Handlung bei den Behandlern angekommen, sie nehmen die Wut in sich auf. Bei den hier vorliegenden Wut- und Schuldgefühlen, die sich miteinander vermischen, wird ganz offensichtlich eine Projektion benötigt. Bei den Angehörigen ist zu beobachten, dass sie die unerträglichen Gefühle auf die Gesundheitsdienste und psychiatrischen Institutionen projizieren. Gelegentlich werden dazu öffentliche Medien und die Justiz benutzt. Die Behandler projizieren in diesem Fall ihren Zorn auf die oben genannte Gesellschaft für humanes Sterben oder sie haben Gelegenheit, ihre Emotionen in der Supervision zu reflektieren.

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Es werden drei typische Beispiele vorgelegt, die jeweils ein hohes Suizidrisiko beinhalten und damit für die Behandler eine Extremsituation darstellen. Verantwortlichkeit, Akzeptanz, schnelles Eingreifen und auch Respekt vor der Entscheidung eines Suizidalen ist geboten. Klar wird eine Differenzierung des Verhaltens und Erlebens gefordert. Die Entscheidung, ob es sich wirklich um eine freie Willensbestimmung handelt oder ob krankhafte psychopathologische Einflüsse – in diesem Fall psychotisches Erleben – auf die Motivationsstruktur des Betroffenen Einfluß nehmen, ist eine Herausforderung an den psychiatrisch Erfahrenen. Sicherlich gibt es neben vielen eindeutigen Zuordnungen auch einige Grenzfälle, die die hohe Komplexität der Motivationsstrukturkomponenten des suizidalen Menschen abbilden. Trotz der in solchen Fällen bestehenden Unsicherheitsrelation bedarf das praktische Handeln eine möglichst eindeutige Zuordnung.

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Literatur Kelleher, M. J., Keeley, H. S., Chambers, D., Corcoran, P. (2000): Suizid. In: Helmchen, H. et al. (eds.) Psychiatrie der Gegenwart, Bd. 6. Springer: Berlin-Heidelberg-New York Kind, J., Giernalczyk, T. (2000): Chronische Suizidalität als Regulativ pathologischer Objektbeziehungen. Z. Krankenhauspsychiatrie 11, 102-106 Waler, G. (1993): Sexual abuse and eating disorders: borderline personality disorders as a mediating factor. Br. J. Psychiatry 162: 771-775.

BURKHARD PFLUG

Affektive Erkrankungen und Suizidalität Der Suizid ist die nur dem Menschen gegebene Möglichkeit der Vernichtung seiner Selbst und erscheint als letzter Akt einer Problemlösung auf dem Niveau des Handelns, nachdem andere Bewältigungs- und Abwehrmechanismen versagen. Wenn man von Suizidalität spricht, wird in der Regel an solche Handlungen wie Selbstmord und Selbstmordversuch, also intendierter und riskierter Suizid gedacht. Deren Häufigkeit, als Ziffer angegeben, die sich auf 100.000 Mitglieder der Bevölkerung bezieht, dient der Beantwortung der Frage, welche Krankheiten, Belastungen und Situationen mit einem bestimmten Suizidrisiko verbunden sind. Suizidalität bedeutet jedoch auch, daß man Gedanken an einen selbstbewirkten Tod mitberücksichtigt, Gedanken, die zunächst von Ferne sich einstellen, sich später aufdrängen und bis hin zur überwertigen Idee im Vordergrund des Bewußtseins stehen können. Paykel und Mitarbeiter haben 720 repräsentativ ausgewählte Bewohner von New Heaven/Connecticut über ihre Einstellung zum Leben und zum Tod befragt. Die Ergebnisse waren überraschend: 11,5 % hatten irgendwann in ihrem Leben einmal geglaubt, es lohne sich nicht, weiterzuleben; 8,2 % hatten gewünscht, sie wären tot, 4,8 % hatten daran gedacht, sich das Leben zu nehmen; 2,6 % ernstlich daran gedacht; 1,1 % hatten sogar einen Selbstmordversuch unternommen. Nach Achtè (1978) haben etwa 12 % einer Kontrollgruppe suizidale Gedanken angegeben, doppelt so viele Frauen als Männer. Bei Paykel wiesen die Befragten, die Suizidtendenzen angaben, häufiger neurotische Symptome auf als die übrigen. Sie klagten außerdem häufiger über Mangel an sozialen Kontakten als die anderen Befragten.

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Bei depressiven Patienten sind suizidale Gedanken besonders häufig. Anläßlich einer eigenen Therapiestudie (1973) waren sie in einer Gruppe von 94 endogen-depressiven Patienten (mono- und bipolar) bei 61 % und in einer Gruppe von 22 neurotischen Depressiven, den heutigen Dysthymien, bei 64 % ausgeprägt. Auch nach weiteren Untersuchungen (Miles 1977, Whitlock 1977) ergibt sich hinsichtlich der suizidalen Gedanken, daß es keinen Unterschied macht, ob es sich um endogen depressive oder um reaktiv depressive Patienten handelt. Wolfersdorf und Mitarbeiter schätzen den Anteil suizidaler Patienten an der Gesamtbelegung einer Depressionsstation auf 50 bis 60 %. Depressive Erkrankungen allgemein gehören damit zu den wichtigsten Risikofaktoren suizidaler Handlungen. Man schätzt, daß bis zu 60 % aller an Suizid Verstorbenen depressiv erkrankt waren. Das Erkennen depressiver Verstimmungen, die Kenntnis der inneren und äußeren Situation des Patienten sowie bestimmter Merkmale, die ein Suizidrisiko ansteigen lassen, schließlich adäquates Handeln, sind die Ebenen, die im Hinblick auf die Suizidalität im folgenden angesprochen werden sollen. Bedrücktsein, Traurigsein ist eine im affektiven Spektrum gegebene Stimmungsqualität, oft als eine Reaktion auf eine Situation hin ohne Krankheitswert, wobei es sich um vitale Schwankungen oder Verlusterlebnisse innerer und äußerer Natur handeln kann. Eine Phase der Reifung, der Auseinandersetzung oder Bewältigung kann damit einhergehen. Wann spreche ich aber von einer Depression als Krankheit? Für die Betrachtung psychischer Krankheiten hilft uns der Begriff "Kompensation" weiter. Dieses heuristische Schema kann auch für das Krisenmodell (Bedeutung äußerer Belastungsfaktoren) herangezogen werden.

Abbildung 1: heuristisches Schema zum Krankheitsbegriff

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Der Krankheitsbegriff schließt den einer psychophysischen Kompensationsfähigkeit ein. Gelingt diese auf Belastungen verschiedenster Art und in verschiedensten Bereichen nicht mehr, dann empfindet der Mensch sich als krank. Die Kompensationsfähigkeit besitzt ein Optimum, dieses bedeutet Wohlbefinden im kritischen Umgang mit sich und der Umgebung, gleichsam ein Befinden im Gleichgewicht. Stets strebt die Persönlichkeit danach, dieses Gleichgewicht zu erzielen, verwendet darauf mehr oder weniger Mühe, ist dabei mehr oder weniger kreativ und findet in diesem dynamischen Prozeß seine Selbstverwirklichung. Für die Depression als Erkrankung gilt hier, daß der Mensch nicht mehr fähig ist, ohne weiteres mit der Verstimmung fertig zu werden. Diese schiebt sich so in den Vordergrund, daß umgekehrt Erleben und Verhalten im Dienst dieses negativen Affektes stehen. Beispiel eines 45-jährigen Patienten, der sich durch Sprung vor den Zug suizidierte. Er war Sohn eines Oberstudienrates, der sich suizidierte als er selbst 10 Jahre alt gewesen sei. Zuvor sei sein Vater eineinhalb Jahre in einer psychiatrischen Klinik behandelt worden. Er selbst habe gehört, daß sein Vater an einer endogenen Depression gelitten habe. Damals habe seine Mutter ihm nicht erlaubt, seinen Vater regelmäßig zu besuchen. Nach dem Tod seines Vaters habe er sich um so mehr an seine Mutter gebunden. Ihren Erziehungsstil beschrieb er als problematisch, sie habe ihn immer mit Liebesentzug bestraft, wenn er nicht ihren Wünschen entsprochen habe. Er studierte nach Abschluß des Abiturs das Fach Biologie und arbeitete in einer entsprechenden Stellung einer Firma. Er war verheiratet, hatte zwei Kinder im Alter von 8 bis 10 Jahren. Es war seine erste stationäre Aufnahme. Primärpersönlich bezeichnete er sich als einen sehr genauen, ordnungsliebenden, ruhigen und zurückgezogen lebenden Menschen, er leide sehr unter seiner eigenen Unsicherheit und dem Gefühl, seinen eigenen und den fremden Ansprüchen nicht zu genügen. All diese Züge hätten sich seit einem halben Jahr erheblich verschärft. Er sei

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damals in der Nacht mit einer Angstattacke aufgewacht, er habe das Gefühl gehabt, nichts mehr zu können und nichts mehr zu leisten. Er habe daraufhin mit massiver körperlicher Angst reagiert. So habe er ein Kribbeln in den Beinen verspürt, habe sich wie versteinert gefühlt, es habe sich ein Druck auf die Brust gelegt und er habe das Gefühl gehabt, nicht mehr atmen zu können. In den folgenden Wochen seien massive Konzentrationsstörungen hinzugetreten, welche es ihm unmöglich machten, seine Arbeit wieder aufzunehmen. Lesen sei immer sein Hobby gewesen, seine letzte Entspannungsquelle, auch dieses könne er nicht mehr. Inzwischen leide er an dem Gefühl einer generalisierten Angst, welche er nicht mehr los werde. Er selbst redete von der Angst vor der Angst, er müsse ständig über dieses Gefühl nachgrübeln, es sei wie ein Zwang. Auch das Schlafen sei ein großes Problem geworden. Er habe Probleme mit dem Einschlafen, grübele sehr viel. Mehrmals in der Nacht erwache er, habe dann Probleme, erneut wieder einzuschlafen. Spätestens um 3 oder 4 Uhr nachts könne er nicht mehr weiterschlafen, läge wach im Bett. Er berichtete, daß er seine Gedanken regelrecht sezieren könne. Er bezeichnet sich als einen urproblematischen Patienten, der jede Therapie "aushebeln" könne. So sei es ihm auch nicht möglich, an Entspannungstherapien teilzunehmen, da es für ihn nicht möglich sei, zu entspannen. Unter einer thymoleptischen Behandlung im Rahmen eines stationären Behandlungskonzeptes kam es zu einer deutlichen Besserung seines Befindens. Nach einem verlängerten Wochenende fand ein depressiver Einbruch statt, bei welchem er auf eine Umsetzung der antidepressiven Medikation drängte. Nach einer erneuten Besserung des ängstlich-agitiert-depressiven Zustandes konnten Belastungserprobungen mit Wochenendbeurlaubungen erfolgreich stattfinden. Nach dem letzten Wochenende kehrte er erneut in einer depressiven Stimmung zurück und beklagte das Gefühl, daß er sich jedes Mal dann, wenn es ihm gut gehe, ein Bein stelle, daß er diese Zustände nicht zulassen könne. Er selbst suchte als Biolo-

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ge das Erklärungsmodell, daß der Spiegel des Antidepressivums zu niedrig sei und erhoffte sich eine erneute Stabilisierung unter einer Erhöhung der medikamentösen Dosis. In Einzelgesprächen thematisierte er, daß er bereits sein ganzes Leben lang sich sehr unsicher gefühlt habe, redete selbst von einer erhöhten Angstbereitschaft. Insbesondere bemerke er zusätzlich ein Ansteigen körperlicher Symptome. So habe er wieder dieses Kribbeln in den Beinen, welches von unten nach oben steige. Danach stelle sich immer wieder dann das Gefühl ein, daß es in seinen Ohren rausche. Er müsse sich dann darauf konzentrieren, komme davon nicht mehr los. Als besonders schlimm empfinde er das Gefühl, daß diese Depression in seinen Genen stecke. Egal, was man in Zukunft machen würde, er würde dieses nie wieder los werden. Er entwerte sich dadurch ständig, habe das Gefühl, überhaupt nichts mehr wert zu sein, grübelt und quält sich mit dem Gedanken, niemals mehr gesund zu werden, er sieht keinerlei Hoffnung mehr. Er hatte sich dann vorgenommen, mit seinen zwei Kindern auf den Weihnachtsmarkt zu gehen und sein Wochenende zu Hause zu verbringen. Geplant und besprochen war eine Lithium-Therapie, der der Patient dann sehr hoffnungsvoll entgegen sah. Am Nachmittag des Tages der Beurlaubung, nachdem in zwei ausführlichen Gesprächen es keine Anzeichen und Anhaltspunkte für Suizidalität gab, warf er sich vor die Straßenbahn und verstarb. Der Zustand eines Menschen während einer depressiven Erkrankung entspricht dem einer dynamischen Einengung in Richtung Trauer und Angst, wie ihn Ringel (1953) im präsuizidalen Syndrom beschrieben hat. Es entsteht hierbei ein starrer Ablauf der Apperzeptionen und Assoziationen von fixierten und damit gleichbleibend wiederkehrenden falschen Verhaltensmustern, die die negativen Affekte verstärken und eine Reduktion der Bewältigungsmechanismen bewirken. Der Depressive, der in einem solchen Zustand sich zurückzieht, unansprechbar wird, ist in höchstem Maße suizidgefährdet. Es

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sind gerade die kommunikativen Bezüge, die als Kriterium der Suizidgefahr herangezogen werden müssen. Diese teilen sich bereits im ärztlichen Gespräch mit und eine in diesem Rahmen zustande kommende Bindung ist der wichtigste Bestandteil der Therapie der Suizidalität. Wenn man so will, ist der Suizid Scheitern an Kommunikation. Depression als Signal an die Umwelt, welches Hilflosigkeit, Ausweglosigkeit, innere Vereinsamung, Überforderung, Selbstwertverlust, Kränkung, Enttäuschung, Angst, Schuld bedeuten kann, führt ohne Antwort zur weiteren sozialen Isolation. Wir wissen, daß Menschen mit Kontaktstörungen und Bindungsschwäche – hier auch im Hinblick auf die Suizidalität Jugendlicher – besonders gefährdet sind, vor allem besteht bei ihnen die Gefahr der Wiederholung von Suizidversuchen. Vielfach zeigen die Phantasien suizidaler Patienten, daß sie eigentlich nicht sterben wollen, sondern so nicht weiterleben können. Es ist die Verneinung des Leidens, nicht des Genusses, den man wohl will, aber nicht haben kann (Schopenhauer 1891). Dies gilt vor allem für depressive Patienten im Rahmen neurotischer Entwicklungen. Daß man dabei Hilfe erwartet, spiegelt der hohe Prozentsatz (über 50 %) von Patienten wieder, die vor dem Suizid den Arzt aufgesucht haben (Ringel 1972). 40 bis 50 % von diesen Patienten haben innerhalb des letzten Monats, 20 bis 25 % sogar nur eine Woche vor der Ausführung des Entschlusses aus irgendeinem Grunde den Arzt aufgesucht (Achtè 1975). Für eine erhöhte Suizidgefahr sprechen folgende Merkmale (nach Pöldinger 1968, 1982, Kielholz 1974): A. Eigentliche Suizidthematik und Suizidhinweise 1. Eigene frühere Suizidversuche und Suizidhinweise 2. Vorkommen von Suiziden in der Familie oder Umgebung (Suggestivwirkung) 3. Direkte oder indirekte Suiziddrohungen

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4. Äußerung konkreter Vorstellungen über die Durchführung oder Vorbereitungshandlungen 5. "Unheimliche Ruhe" nach vorheriger Suizidthematik und Unruhe 6. Selbstvernichtungs-, Sturz- und Katastrophenträume B. Krankheitsgepräge 1. Ängstlich-agitiertes Gepräge 2. Langdauernde Schlafstörungen 3. Affekt- und Aggressionshemmung 4. Beginn oder Abklingen depressiver Phasen, Mischzustände 5. Biologische Krisenzeiten (Pubertät, Gravidität, Puaperium, Klimakterium) 6. Schwere Schuld- und Insuffizienzgefühle 7. Unheilbare Krankheiten oder Krankheitswahn 8. Alkoholismus und Toxikomanie C. Umweltbeziehungen 1. Familiäre Zerrüttung in der Kindheit (broken-home) 2. Fehlen oder Verlust mitmenschlicher Kontakte (Vereinsamung, Entwurzelung, Liebesenttäuschung) 3. Berufliche und finanzielle Schwierigkeiten 4. Fehlen eines Aufgabenbereiches und Lebenszieles 5. Fehlen oder Verlust tragfähiger religiöser Bindungen In der eigenen Analyse von Suiziden bei depressiven Erkrankungen, darin enthalten zwei Patientinnen mit gemeinsam ausgeführtem Suizid in einem Hotelzimmer nach Anleitung, ein Patient mit einer endogenen Depression bei dem sich zuvor die Ehefrau suizidierte und einer Patientin, die im Alter von 41 Jahren in schwerer depressiver Verzweiflung einen erweiterten Suizidversuch ausübte, bei dem sie ihre 11-jährige Tochter mit dem Beil verletz-

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te, schließlich im Alter von 73 Jahren nach mehreren schweren depressiven Phasen inklusive einer Lithiumintoxikation sich suizidierte, spielten in erster Linie Beziehungsproblematik, Schuldgefühle und Agitiertheit (vor allem auch Klagen über innere Unruhe) eine große Rolle. Der Abschiedsbrief der zuletzt genannten Patientin mit dem erweiterten Suizid zeigt die verzweifelte Situation in der sie sich befand auch vom Schriftbild her, und den Verlust ihres Selbstwertes. Die Patientin hatte ihren Suizid nach Anleitung durchgeführt, die sie sich aus einem Buch "Der sanfte Tod" abgeschrieben hatte.

Abbildung 2: Abschiedsbrief

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Abbildung 3: Suizidanleitung

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Wenn man über die Suizidalität bei affektiven Störungen spricht, ist es vorstellbar, daß auch neben manisch-depressiven Mischzuständen Patienten in einer Manie eine suizidale Handlung ausführen können, insbesondere wenn sie auf einen längeren Verlauf zurückblicken und sich in einem Zustand befinden, in dem sie sich extrem wohlfühlen und wissen, daß ein Absturz zu befürchten sei. Es gibt eine Untersuchung über die Suizidalität von Patienten mit manischen und gemischt manisch-depressiven Zuständen (Dilsaver et al. 1994). In einer Kohorte von 93 Patienten, die wegen einer primären Manie behandelt worden waren, fand sich ein Patient, der während der Manie suizidal war; im Kontrast dazu zeigte etwa die Hälfte von den 44 Patienten mit depressiv-manischen Mischzuständen Suizidalität (in der SADS-Skala). Zur Frage von Suizidalität in der Manie möchte ich Ihnen die Mitteilung einer Kollegin schildern (Hamberger 2001): "Bergtour, hinter dem Bergführer, Matthias und dessen Freundin. Matthias in beginnendem manischen Schub, was man aber damals nicht so recht realisierte (später viele nur manische Phasen, eine Cousine von ihm schwer manisch-depressiv, suizidiert). In einem steilen Schneehang kurz vor dem Gipfel sagt Freundin von Matthias plötzlich: ich mag nicht mehr. Ja, sollen wir umkehren fragt der Führer. Dezidiertes Ja von der Freundin. Der Führer wundert sich, sie wirkte nicht erschöpft und schafft den Abgang zur Hütte leicht. Dem Führer schwante was; nach etwa zwei Tagen fragte er Matthias: hast Du etwa "die Laune" gehabt, hinunter zu gumpen ? Ja, er habe so gedacht, er könnte einen Satz machen und dann wäre "Sense". Die Freundin müsse das gespürt haben ..." Die Geschichte zeigt, hier am Beispiel einer Manie, wie wichtig die Beziehung ist um die Situation des anderen einzuschätzen. Natürlich wird auch die Frage aufgeworfen welche Bedeutung z. B. Unfällen bei manischen Patienten zukommt.

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Die beste Suizidprophylaxe ist ein guter persönlicher Kontakt des behandelnden Arztes zu seinem Patienten. Das offene Gespräch bietet die Möglichkeit, den Zustand des Patienten einzuschätzen und Angst und Depression zu kontrollieren. Zuhören, Verständnis und Sicherheit geben, damit auch dem Patienten offene Äußerungen seiner Aggressivität erleichtern, sind hierbei entscheidende Faktoren. Explizit ist darauf hinzuweisen, daß die Hoffnung, die ein Patient in der Depression nicht haben kann, vikariierend vom Therapeuten glaubhaft übernommen wird. In vielen Fällen kann man allein durch Vereinbaren des nächsten Gesprächstermins dem Patienten einen akuten Halt vermitteln und Zeit gewinnen. Dieser Termin sollte individuell die richtige Distanz haben, einmal nicht zu weit entfernt, damit der Patient ihn als konkretes Ziel einhalten kann, aber auch nicht zu dicht, vor allem wenn es sich um Patienten handelt, die aus einem Bindungshunger heraus ein Maximum an Eigenverantwortung abzugeben versuchen. Die adäquate Behandlung der jeweils zugunde liegenden depressiven Erkrankung mittels Psychopharmaka muß deren Wirkungsprofil (dämpfend oder aktivierend) und Potenz als Suizidmittel berücksichtigen – also begrenzte Rezeptur bzw. kontrollierte medikamentöse Einstellung. Man sollte versuchen, Angehörige und Bezugspersonen in die Betreuung einzubeziehen. Unter Umständen sind soziale Hilfen zu finden und zu vermitteln, die besondere Bedeutung beim Krisenmodell spielen. Nach einem gerade durchgeführten Suizidversuch muß der Patient in den meisten Fällen in eine Klinik (Chirurgie, Intensivstation, Psychiatrie) eingewiesen werden. Möglichst sofort nach dem Suizidversuch bzw. der Wiedererlangung des Bewußtseins sollte die Nachbehandlung beginnen, da dieser Zeitpunkt die fruchtbarste Möglichkeit zur Herstellung eines therapeutischen Kontaktes bietet. Die psychotherapeutischen Aspekte der Behandlung reichen von der Unterstützung einer kathartischen Funktion des Suizidversuches über Hilfen zur Distanzierung, Bearbeitung von Konflikten

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bis zur tiefgreifenden psychotherapeutischen Behandlung neurotischer Persönlichkeitsstörungen. Bei schweren depressiven Syndromen ist eine intensive stationäre psychiatrische Behandlung erforderlich. Ebenfalls ist diese notwendig, wenn eine akute Suizidgefahr besteht und ambulant eine konsequente direkte Beobachtung und engmaschige Betreuung nicht möglich ist. Die Suizidalität ist ein Zustand in ganz verschieden gearteten Notlagen individueller menschlicher Existenz. Sie zu klären, um sowohl in der akuten Krisensituation adäquat helfen zu können als auch einen Teil zur Prophylaxe beizutragen, ist Problem ärztlichen Handelns und allgemein Aufgabe menschlichen Miteinanderseins.

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Suizidalität bei schizophrenen Psychosen – funktionale und therapeutische Aspekte1 Einführung Was können Psychotherapeuten zur Behandlung von Suizidalität bei psychotischen Menschen beisteuern? Darauf eine knappe Antwort: sie sollen die Wege der Entwicklung verständlich und kommunizierbar machen, die – das ist der funktionale Aspekt – zur Suizidalität hin führten, wie auch die, die von ihr weg führen – das ist der therapeutische Aspekt. Dazu möchte ich Beiträge aus der psychoanalytischen Psychotherapie von Psychosen vorstellen, die sich auch zur Anwendung in der Psychiatrie eignen (Mentzos 1991, Benedetti 1991; Dümpelmann 2000). Funktionale wie auch therapeutische Aspekte psychotischer Suizidalität sind eng mit Kommunikation und Verständigung verbunden. Das gilt zunächst für die Beziehung zwischen Patient und Behandler: jede Therapie einer suizidalen Krise, die mehr als Verhinderung autodestruktiven Handelns sein will, steht und fällt damit, die im Einzelfall für die Suizidalität relevanten Beweggründe im Kontakt mit den Patienten erkennen und zum Gegenstand der Behandlung machen zu können. Suizide, gerade auch bei Psychosen, werden erwogen, geplant oder durchgeführt, wenn ein Mensch sich selbst und sein Leben als sinnlos wahrnimmt, als unerträglich bewertet und keine Hoffung mehr auf Beziehungen setzt. Bei Psychosen kommt aber noch ein weiterer, fundamentaler Aspekt von Kommunikation und 1

Überarbeitete und erweiterte Version eines Vortrags vom 8.Frankfurter Psychiatrie-Symposion am 30.11.2001

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Verständigung ins Spiel: bei psychotischen Störungen geht die Selbst-verständlichkeit der Person verloren, die Fähigkeit, sich selbst und die äussere Welt differenziert wahrzunehmen und in gewohnten Symbolen abzubilden. Damit geht auch verloren, sich anderen Menschen verständlich zu machen. Die Wahrnehmung von "Selbst" und "Welt" wird radikal anders interpretiert und in magischen Bildern konstruiert. Das wird häufig als seelischer Tod empfunden und ist zugleich ein Beziehungsverlust: die Patienten erleben sich sozial isoliert, weil sie aus dem common sense zwischenmenschlicher Verständigung und Interaktion heraus gefallen sind. Die Störung der Fähigkeit zur symbolischen Wahrnehmung und Kommunikation sind dabei zentral (Benedetti 1991, 2002). Psychotische Suizide folgen seltener gewohnten Schuld- oder Verlustkonflikten, sondern beenden meistens die Existenz eines beschämend und nicht mehr zu Beziehungen tauglich erlebten Ich. Diese Dynamik der Suizidalität bei psychotischen Menschen lässt sich als Beitrag zum generellen Verständnis des Suizidproblems verstehen: Die gravierende Veränderung dieser existenziellen psychischen Fähigkeiten wird erfasst und als so unerträglich erlebt, dass das "gesunde" Ich den Rest vernichtet (Benedetti, 1991). Dann wird mit dem Bad des physischen Lebens das Kind des psychischen Lebens ausgeschüttet, das weder intrapsychisch-reflexiv erfasst noch in Beziehungen kommuniziert werden kann.

Psychose und Suizidalität – eine Wechselwirkung Schizophrene Menschen töten sich außerordentlich häufig selber (Flechtner et al., 1997). Fast alle beschäftigen sich zumindest in Gedanken mit Suizid. Sehr viele begehen Suizidversuche (Scharfetter 1986). Andere leben Jahre lang in apokalyptischen Wahnwelten, in denen Gedanken und Phantasien von Tod, Absterben, Vergiftung und Verstrahlung die Hauptrollen spielen. Damit werden sie oft steinalt.

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Zu diesen scheinbar paradoxen Verhältnissen zwei Fallskizzen aus meiner Arbeit: während meiner Facharztausbildung behandelte ich einen jungen Mann, der sich unter dem Einfluss fremder Personen wähnte und von der Unsicherheit gequält war, ob er deren Einflüssen oder seinen eigenen Entscheidungen folgen sollte. Zusammen hatten wir gegen seine extreme Selbstunsicherheit, die ihn zutiefst kränkte, das Ritual entwickelt, dass er täglich vor dem Mittagessen für 10 Minuten meine Meinung einholte. Das hatte die Funktion, seine Selbstwahrnehmung und seine Orientierung zu verstärken, was lange so glückte. Einmal war nach einer stressigen Oberarztvisite noch viel zu tun und ich bat ihn etwas genervt darum, unser Gespräch um ein paar Minuten aufzuschieben. 3 Stunden später war er tot. Er hatte sofort nach der Ankündigung meiner Verspätung die Station verlassen und sich kurz danach auf dem Dachboden seines Elternhauses erhängt. Ein ganz anderer Fall: Ein Patient, der im Rahmen einer paranoidhalluzinatorischen Psychose vor der Aufnahme in Tiefenbrunn zwei Suizidversuche unternommen hatte, kam zur Einzeltherapie zu mir und erzählte mir Stunden lang von der Sinnlosigkeit seines Lebens und von seinem definitiven Entschluß, dem nach der Entlassung definitiv ein Ende zu setzen. Dieses Thema hielt er eisern durch. Ich bewertete sein Verhalten zwar auch als Inszenierung von Schutz und Abstand von mir, zumal die Behandlung gut in Gang kam. Aber ich hatte auch weiter Angst, er könnte wirklich "Schluss machen". Später erfuhr ich, dass diese Angst nicht zutreffend war. Während der Behandlung bei mir hatte er sich in eine Mitpatientin verliebt, ein Kind gezeugt und mit seiner Partnerin die gemeinsame Zukunft geplant, die er später auch realisierte. Auf den ersten Blick sind diese Verläufe widersprüchlich und verwirrend. Ist die Kombination von Psychose und Suizidalität eine Art Todeskandidatur, hat sie keine besondere Bedeutung oder kann sie sogar protektive Wirkungen haben? Zur dieser Verwirrung trägt bei, dass es nicht selten Psychosen gibt, die antisuizidal wirken (Dümpelmann 2000). Nach depressiven oder anderen

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Syndromen mit Suizidalität kommt es nicht selten zum Ausbruch einer Psychose und zugleich zur Abnahme, manchmal sogar zum Verschwinden der Suizidalität. Vor dem Ausbruch akuter Psychosen lassen sich solche Verläufe sehr oft beobachten (Conrad 1992). Impressiv formuliert: die Psychose kann den Suizid "machen", aber auch die Suizidalität die Psychose. Diese Verhältnisse sprechen nicht für einen linear-kausalen Zusammenhang, etwa nach dem Muster, dass mehr Psychose mehr Suizidgefahr bewirkt, sondern lassen eher eine komplexe Wechselwirkung annehmen, wobei die beteiligten Faktoren sich unterschiedlich beeinflussen können. Dann bekommt aber die Frage Bedeutung, welche Bedingungen neben der Relation "Psychose – Suizid" die Richtung innerhalb dieser Wechselwirkung steuern. Was gibt den Ausschlag, wenn bei Psychosen ein Suizid droht? Was ist wirksam, wenn psychotische Zustände Suizidalität dämpfen und als Option gegen eine suizidale Eskalation toleriert werden? Wichtigen Aufschluss dazu liefert die Tatsache, dass psychotische Menschen sich besonders häufig in Behandlung selbst töten. In stationärer Behandlung begehen Schizophrene im Vergleich mit anderen Krankheitsgruppen, auch mit schweren Depressionen, die meisten Suizide (Giebeler u. Brenner 1997). Auch bei sehr aufwendiger ambulanter Versorgung werden ausserordentlich hohe Suizidraten beschrieben (Flechtner et al. 1997). Dass schizophrene Menschen sich besonders oft in Behandlungen und trotz dieser Behandlungen umbringen oder das versuchen, ist alarmierend. Dieser empirische Befund fokussiert auf die Qualität der therapeutischen Beziehung zu suizidalen Psychotikern und lässt nach den Risiken, aber auch nach den Chancen solcher Beziehungen fragen. Was ist in Beziehungen, gerade auch in therapeutischen, schädlich und was nützlich? Wir denken oft so, als würde ein besonderes Suizidrisiko eng mit einem bestimmten Krankheitsbild zusammenhängen. Das ist eine von unseren ge-

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lernten Krankheitstheorien geleitete Reduktion. Wie am Beispiel depressiver Störungen gezeigt werden konnte, entscheidet keineswegs das diagnostizierte Krankheitsbild über das im Einzelfall gegebene Suizidrisiko. Entscheidend sind hierbei Faktoren, die die Qualität des therapeutischen Kontakts in krisenhaften Situationen ausmachen (Bronisch 2001). Mein therapeutischer Kontakt zu den beiden oben erwähnten Patienten unterschied sich gravierend: der junge Mann, der sich direkt nach der frustrierenden Interaktion mit mir umbrachte, war seit wenigen Wochen erstmals psychotisch und erstmalig in Behandlung. Er litt extrem unter seiner Erkrankung. Ich selber war damals wenig erfahren und noch nicht psychotherapeutisch ausgebildet. Ich strengte mich zwar sehr für ihn an, aber er strengte auch mich sehr an, was er sicher spürte. Beides, seine Erkrankung, aber auch dieser Kontakt zwischen uns verunsicherten ihn und labilisierten sein Selbstgefühl. Ganz anders war es beim zweiten Patienten: er hatte nach mehreren Psychosen mit psychiatrischer wie auch mit psychotherapeutischer Behandlung Erfahrungen gesammelt. Ich war zu diesem Zeitpunkt viel versierter im Umgang mit psychotischen Menschen, auch mit ihrer Suizidalität. Mir war möglich, mich auf sein Verhalten einzulassen und es als Abgrenzung anzuerkennen, als Schutz vor mir und Dämpfung der Angst vor meinem Einfluss. Wir hatten uns auf Grenzen zwischen uns geeinigt, was ihm Mut machte, verlässlich zu mir zu kommen. Suizidalität und Suizid "sind" nicht nur absolute und finale Zustände, sondern "ereignen" sich zwischen Menschen und lassen sich als existentielle Interaktionsform dieser Patienten in der Begegnung mit uns interpretieren, mit der sie auch auf unser Beziehungsangebot antworten und den Kontakt mit uns regulieren. Dieses Risiko kann nicht allein den Patienten und dem jeweiligen Krankheitsbild zugeschrieben werden. Auch statistisches Wissen hilft bei der Einschätzung des konkreten Suizidrisikos im Einzelfall nicht weiter, wenn wir mit Szenarien von Apokalypse, Tod und

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Untergang konfrontiert sind und unsere Antwort auf dieses Angebot des Patienten gefragt ist. Die Qualität unseres therapeutischen Verhaltens entscheidet dann wesentlich über den weiteren Verlauf. Welche Position wir in der Begegnung mit psychotischen Suizidalen finden und einnehmen können, hängt von unserem Verständnis für die Psychodynamik der Suizidalität ab: können wir verstehen, nachempfinden und aushalten, dass Psychosen als seelischer Tod erlebt und zum Anlass genommen werden, auch das "ganze" Leben zu beenden?

Tod im Leben/Leben im Tod – zur Psychodynamik psychotischer Suizidalität Was sollten wir also wissen und berücksichtigen, wenn wir mit suizidalen Psychotikern zusammen arbeiten? Von Benedetti stammen zwei Begriffe, die wesentliche psychodynamische Perspektiven zu dieser Thematik erfassbar machen und deren Nähe zu klinischen Phänomenen Anwendungen in der therapeutischen Praxis ermöglichen: die "Todeslandschaft" (1991) und die "krankhafte Symbolbildung" (1989). Dazu möchte ich von zwei weiteren Fällen berichten. Ein 22-jähriger Patient kam nach 5 Suizidversuchen zu uns und berichtete im Erstkontakt charmant und fast stolz davon, dass er schwarze Magie betreibe und sich selbst wie auch andere Menschen oft tot erlebe. Er litt unter permanenten Erlebnissen von Steuerung und Beeinflussung durch andere, die seine Gedanken denken und seine Gefühle fühlen konnten. Er hörte dauernd die schimpfenden Stimmen seiner Eltern. Dass er Personen seiner Aussenwelt totwähnte und totdachte, funktionierte aber auch wie eine Barriere gegen Zustände von Fusion und verschwimmender Identität. In der Behandlung war er noch lange fasziniert vom Tod und dichtete ihn auf vielen Seiten seines Tagebuchs schwärmerisch als Erlöser an, etwa mit der Zeile "Lieber Tod, gib mir deinen Segen!".

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Dieser Patient, als Kind gravierend traumatisiert, war in seiner Fähigkeit, sich selbst und besonders sich in Beziehungen sicher und abgegrenzt zu erleben, erheblich beeinträchtigt. Wahn und Halluzinationen, besonders intensiv in dichten und mobilisierenden Beziehungen auftretend, zeigten den Verlust der Subjekt-ObjektDifferenzierung an (Mentzos 1991). Er fühlte sich dann überrannt, schutzlos und zudem auch noch unfähig, das mit eigener Kraft zu verhindern und sich abzugrenzen. Diese Schwäche, das ohnmächtige Ausgeliefert-Sein und die wie eine Okkupation erlebte Bestimmung durch Personen der Außenwelt waren eine narzisstische Katastrophe für ihn. Solche Zustände werden unter extremer Angst als Auslöschung und Untergang der eigenen Identität und der individuellen Existenz erlebt. Darüber hinaus kommt es bei Psychosen zu einer hochgradig maladaptiven Verarbeitung mit einer Verschlechterung der "Abwehr" im allerweitesten Sinn (Dümpelmann 2000). Neben den Ich-Funktionen der Affektregulierung und des Denkens ist davon besonders die Fähigkeit zur symbolischen Wahrnehmung und zur Kommunikation mit Symbolen betroffen. Die Patienten können sich schließlich kein Bild mehr von sich und "ihrer" Welt mehr machen, was als Auslöschung der eigenen Person erlebt und mit den Mitteln der Psychose etwa in Bildern von Weltuntergang, apokalyptischen Katastrophen oder als abgestorbener Körper ausgedrückt wird. Dabei treten oft extreme Verdichtungen kontradiktorischer Inhalte auf, z. B. von Leben und Tod, Liebe und Hass, Leere und Fülle. Solche Szenarien nennt Benedetti bildhaft "Todeslandschaften". Diese inneren Bilder beschreibten nicht analog, sondern umspielen anamorphotisch den anders nicht mehr kommunizierbaren Zustand des psychischen Systems. Die magisch-konkretistischen Konstruktionen psychischer Wirklichkeit in Psychosen, so düster und schrecklich sie meist sind, zeigen oft eine bizarre Ästhetik und können faszinieren. Die Fähigkeit Schizophrener, solche privaten Erlebniswelten zu konstruieren und oft erstaunlich lange darin zu verharren, entspricht keinem einzelnen Abwehrvorgang, sondern ist ein kom-

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plexes Verarbeitungsmuster. Nicht nur ein einzelnes neues Symbol wird zum Stellvertreter eines abgewehrten Inhalts, sondern die ganze "Grammatik" der Symbolisierung, mit der Psychisches repräsentiert wird, ist gravierend verändert. Hartwich spricht deswegen von "Parakonstruktion" (1999), Bischof von "medialer", umspielender im Gegensatz zu "figuraler", trennscharfer Abbildung (1996). Aus "Ich habe Angst." wird etwa "Ich bin eine Leiche." und aus "Sie irritieren und verunsichern mich! " wird "Ich bin verstrahlt und Sie stecken dahinter!". Der Verlust der Fähigkeit zur gewohnten symbolischen Kommunikation ist für die Einschätzung psychotischer Suizidalität von grosser Bedeutung. In den resultierenden Todeslandschaften drückt sich das Erleben des Untergangs der psychischen Existenz aus, der Tod im Leben. Die Vorstellung, tot und/oder in einer toten Umgebung zu sein, ist aber auch eine Extremform von Selbstschutz, ultimative Distanzierung von stimulierenden Beziehungen und Dämpfung aller verzweifelten und womöglich trügerischen Hoffnung auf Besserung. In der Kasuistik des Patienten, der totdachte und totwähnte, lässt sich dieser Aspekt psychotischer Suizidalität zeigen: Er war Anlaß einer kurzen Ehe, in der es dauernd Streit gab. Seine Mutter nahm ihn als Baby zu ihren zahlreichen Affairen mit. Er wollte oft nicht essen. Sie fütterte ihn, bis er alles gegessen hatte, was bis zu 8 Stunden dauern konnte. Nach dem Auszug des Vaters zog er zu ihr ins Ehebett. Aus dem flog er mit 14 Jahren wieder heraus, nachdem er seiner Mutter gestanden hatte, eine Freundin und somit ausserhalb ihres Betts ein eigenes Liebesleben zu haben. Er hatte erfahren, dass greifbarer Kontakt und Nähe zu seiner Mutter damit zusammen fiel, sich völlig ihrer intimen Tyrannei und ihrer Parentifizierung unterwerfen zu müssen. Tat er das nicht, gab es kein Essen. Der Volksmund sagt dazu "Friß oder Stirb!". Im psychotischen Erleben permanenter Fremdsteuerung taucht dieser Beziehungsmodus wieder auf, im Totdenken und Totwähnen die dazu gehörigen Gefühle von Ohnmacht und Destruktivität. Deren

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affektive Brisanz wird im Wahn dissoziiert und dadurch gedämpft. Kennt man die individuelle Vorgeschichte, wird das paradoxe Gedicht, wo der Tod seinen Segen geben soll, verständlich. Die Verbindung zur wichtigsten Bezugsperson und der Verlust des Selbst, Liebe und Tod, sind als deckungsgleich erfahren worden. Dieser existenzielle Konflikt war unerträglich und bekam keine "normalen" Worte, sondern tauchte verdichtet als Beziehung zwischen Toten auf. Frühe Erfahrungen wie in diesem Fall werden internalisiert und später in Interaktionen eingesetzt: mit Bildern vom Tod werden Wünsche nach Liebe und Nähe extrem negativiert, weil diese Wünsche massive Ängste vor Erlebnissen von Fusion und Verlust der Autonomie des Ich machen. Sind aber in dieser Perspektive die Grenzen zwischen Liebe und Leben auf der einen und dem Tod auf der anderen Seite aufgehoben und wird so Liebe mit Tod gleichgesetzt, kann das auch in umgekehrter Richtung verlaufen: der Tod und Bilder vom Tod maskieren Wünsche nach Leben und Beziehung. Für die Behandlung suizidaler Psychotiker ist das Ausschlag gebend: wahnhafte Szenen von Tod und Suizidalität verweisen oft – wenn auch in Wahn und Halluzinationen verrätselt und entstellt – auf unbewusste Wünsche nach Beziehung und Kontakt. Dazu eine weitere Fallskizze: Eine junge Frau, einziges Kind fanatisch-religiöser Eltern und von ihnen streng überwacht, brannte kurz vor dem Abitur durch und reiste in der Welt herum. Da erst lernte sie ihre Sexualität und einige Männer kennen. Zwischen den Reisen kam sie immer wieder zurück ins Elternhaus, wo es schreckliche Vorwürfe und Streit gab. Nach solchen Auseinandersetzungen und unter schlimmen Schuldgefühlen war es zu zwei Suizidversuchen gekommen. Am Ende der letzten Reise entwikkelte die Patientin eine katatone Psychose und kam als Notfall in die Psychiatrie. Nach dem Abklingen der motorischen Symptome schilderte sie, dass sie auf der Heimfahrt zunächst starke Suizidimpulse gespürt hätte, die dann aufgehört hätten. Auf der letzten

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Station vor der Rückreise zu den Eltern hätte sie Unterricht bei einem farbigen Tänzer genommen, der ihre Leidenschaft angestachelt hätte. Seine teuflische Kraft würde nun ihre Bewegungen und ihre Psyche lenken. Sie selber sei innerlich "vertrocknet" und "versiegt" und hätte in ihrem Körper eine "faule, schwarze Frucht". Noch viel deutlicher als im vorigen Fall wird hier eine erotische Beziehung psychotisch negativiert und als leblose konkrete Materie wieder gegeben, gerade auch die "faule, schwarze Frucht", das Phantasieprodukt der Schwangerschaft vom farbigen Tänzer. Der antisuizidale Effekt dieser Psychose zeigt sich allein schon im zeitlichen Ablauf der klinischen Phänomene: Ein unlösbarer Konflikt wird in konkreter "schwarzer" Poesie metaphorisiert. Statt eines "Gartens der Lüste" wird im Wahn ein "Garten des Todes" konstruiert. Zu einer weiteren suizidalen Krise kam es dann nicht. Für Behandlungen lässt sich aus solchen Verläufen ableiten, dass psychotische Bilder vom Sterben und vom Tod extreme Fälle negativer Intimität (Steimer-Krause 1996) darstellen und nicht allein ein alarmierendes Nebenprodukt im Sinne eines Suizidalitätsmarkers sind. Als ins Negative gewendete Intimität enthalten sie ein zwar stark entstelltes Beziehungsangebot, das aber auch therapeutischen Zugang eröffnet. Das Auftreten von Todeslandschaften ist keine negative therapeutische Reaktion, sondern zeigt, dass Wünsche nach Kontakt und Beziehung nur sehr indirekt und verschlüsselt formuliert werden können. Der Dichter Artaud nannte die Psychose einen vorweg genommenen Suizid (zit. nach Benedetti 1991). Das unterstreicht noch einmal die suizidale Brisanz von Psychosen. Wenn wir aber für die psychotischen Konstruktionen der Todeslandschaften Verständnis aufbringen und uns in sie einfühlen können, steigen die Chancen, dass es beim vorweg genommenen Suizid bleibt, bei der psychotischen Negativierung der eigenen Person und ihres Umfelds. Wenn die Patient spüren, dass man ihre inneren Untergangsszenarien "in Beziehung setzt", ihnen Interesse entgegen

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bringt, sie als Moratorium akzeptiert und nicht nur als Alarmzeichen bewertet, ist die Gefahr reduziert, dass sie sich – meist einmal mehr – ausgegrenzt erleben. Auch für schizophrene Suizidale gilt der schlichte Satz, dass es die beste Medizin gegen eine schlussendlich vollzogene Selbsttötung ist, in Kontakt und in Beziehung zu sein und zu bleiben. Das Konzept der Todeslandschaften liefert dafür sehr wichtige therapeutische Ansatzpunkte. Das Bemühen um Verständnis für die Inhalte der psychotischen Symptomatik ist erst einmal ein Signal an die Patienten, dass ihr Denken und Phantasieren nicht nur als Defizit bewertet und zur diagnostischen Typisierung gebraucht wird. Darüber hinaus finden erfahrene Behandler in der individuellen Metaphorik von Tod und Untergang Hinweise zu wesentlichen Konflikten und Entwicklungsstörungen, die Basis für eine Krisenintervention wie auch für eine weiter führende psychotherapeutische Behandlung sein können.

Zusammenfassung Zwischen Psychose und Suizidalität/Suizid kann keine lineare Relation, etwa nach dem Muster: je psychotischer, desto mehr suizidgefährdet, nachgewiesen werden. Suizidalität und Suizidhandlungen treten bei psychotischen Krankheitsbildern häufig auf. Psychosen wirken aber oft auch antisuizidal: sie dämpfen Affekte und destruktive Impulse und können so das Suizidrisiko verringern. Diese Verhältnisse entsprechen einer Wechselwirkung. Unter den Faktoren, die die Richtung innerhalb dieser Wechselwirkung von psychotischen Zuständen auf das Suizidrisiko und umgekehrt bestimmen, hat die Qualität der therapeutischen Beziehung herausragende Bedeutung. Die Verständigung mit suizidalen Psychotikern ist für die psychotherapeutische Behandlung eine sehr wichtige Aufgabe und oft eine Herausforderung. Zu leisten ist, den Patienten zu vermitteln,

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dass therapeutischer Kontakt "geht" und gleichzeitig ihre Verletzlichkeit beachtet wird. Das Konzept der "Todeslandschaften" (Benedetti 1991) liefert dazu einen wichtigen Beitrag, zum theoretischen Verständnis wie auch für die therapeutische Praxis. Im Zentrum dieses Konzepts stehen die Fähigkeit zur Symbolisierung und ihre für Psychosen typischen regressiven Veränderungen. Die Fähigkeit zur Symbolisierung wird als Grundlage der Selbstwahrnehmung und der sozialen Kommunikation angesehen. An der Symbolisierungsstörung lässt sich therapeutisch ansetzen und durch klarifizierendes Intervenieren (Mentzos 1991) und gemeinsames Handeln lassen sich gemeinsame, Reflexion, Differenzierung und Kommunikation ermöglichende Symbole entwickeln. Dann können die Patienten erleben, dass ihre Bilder von sich selbst und ihrer äusseren Welt auf Resonanz und Antwort treffen, und erfahren, dass sie nicht isoliert und allein sind, sondern in Interaktion. Nicht Aggression und Destruktivität allein machen Psychotiker suizidal, sondern vor allem, dass sie sich nicht mehr gut verständigen und sich selbst nicht mehr in Beziehung erleben können. Die Behandler sind allerdings stark gefordert: Sie sollen die Todespoesie aufgreifen, ohne den Blick auf konkrete Gefährdungen zu verlieren, und müssen mit der Verwirrung fertig werden, dass Erlebnisse und Worte vom Tod, mit dem kein Mensch Selbsterfahrung hat, eine seelische vita minima geradezu schützen.

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KONRAD MAURER, BARBARA SCHNEIDER

Suizidalität im Alter Einführung Die Lebenserwartung des Menschen hat sich in den letzten 100 Jahren nahezu verdoppelt. Infolge der Zunahme der mittleren Lebenserwartung ist der Anteil der über 65-Jährigen erheblich größer geworden. Mit steigendem Lebensalter nimmt die Prävalenz von Erkrankungen zu, die mit einem erhöhten Suizidrisiko einher gehen. Bei der Bearbeitung des Themas "Suizidalität im Alter" fällt jedoch ein eklatantes Mißverhältnis zwischen der erhöhten Suizidgefährdung im Alter und der geringen Beachtung der Alterssuizidalität im medizinischen Schrifttum auf. Suizidales Verhalten bei Älteren wird besonders häufig unterschätzt. Oft werden Suizide im Alter nicht erkannt und als Todesursache bei alten Menschen Unfall oder natürlicher Tod angenommen. Vor allem bei unklaren Unfällen im Straßenverkehr oder bei häuslichen Unfällen wird häufig angenommen, daß die ältere Person plötzlich und nicht vorhersehbar erkrankte. Nicht selten wird Tod durch Suizid aus Angst vor Schande oder aus Versicherungsgründen verschwiegen. Die Gründe für die Vernachlässigung der Alterssuizidalität liegen nach Erlemeier (1992) unter anderem darin, daß Probleme alter Menschen in der Forschung generell über lange Zeit vernachlässigt wurden, die Motive und Begleitumstände suizidaler Handlungen im Alter wegen ihrer hohen Letalität nur sehr schwierig zu erforschen sind, Suizide im Alter verständlicher, sozial akzeptierter und weniger normabweichend erscheinen und präventive und therapeutische Hilfen im Alter als relativ nutzlos, in der Vergangenheit sogar als kontraindiziert angesehen wurden. Der ausschlaggebende Faktor scheint aber die Tendenz zu sein, suizidales

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Verhalten bei Älteren zu rationalisieren: Suizid im Alter wird häufig als eine Art Bilanzziehung eingeschätzt, d. h. als eine Handlung aus relativ "rationaler" Einsicht, daß das Leben nichts mehr wert sei und der Entschluß zu sterben, wohl abgewogen sei. Hagenbuchner (1967) und Schadewaldt (1977) stellen heraus, daß es in vielen Kulturen früher üblich war, die Alten zu töten, oder daß diese es für natürlich hielten, sich selbst das Leben zu nehmen, um die letzte Pflicht an ihrer Gemeinschaft – den anderen nicht zur Last zu fallen – zu erfüllen. So fehlt im Alter zunehmend die suizidhemmende Wirkung der sozialen Norm, der Selbstmord erscheint verständlich und akzeptabel.

Begriffsbestimmung Suizidalität läßt sich definieren als Summe aller Denk- und Verhaltensweisen eines Menschen oder einer Gruppe, die, in Gedanken oder durch Handlung, aktiv oder passiv durch Unterlassen oder Handelnlassen, den eigenen Tod anstrebt bzw. diesen in Kauf nimmt. Suizidalität gilt grundsätzlich als menschliches Verhalten und nicht als Krankheit per se, das jedoch häufiger in psychosozialen Krisen und bei psychischer Erkrankung zu beobachten ist. Suizidalität umfaßt als Oberbegriff nicht nur manifeste Suizidhandlungen, also Suizide und Suizidversuche, sondern auch Suizidgedanken und -ankündigungen; ferner fallen darunter auch noch sogenannte Suizidäquivalente (verdeckte Suizide), wie z. B. ungeklärte Unfälle, Mißachtung ärztlicher Verordnungen und Anweisungen, Verweigerung von lebenserhaltenden Medikamenten, selbstgefährdendes Verhalten, nicht moderates Essen und/ oder Vermeiden oder Verweigerung von Essen und Trinken (Erlemeier 1992). Dieses indirekte selbstdestruktive Verhalten wird auch als "suizidale Erosion" (Miller 1978) und als "stiller Suizid" (Simon 1989) bezeichnet. Solches indirekte suizidale Verhalten ist bei Älteren wesentlich häufiger als bewußtes selbstschädigendes

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Verhalten und kommt öfter bei Frauen als bei Männern vor (Osgood et al. 1991). Etwa 20 % aller älteren Menschen empfinden das Lebens nicht lebenswert oder wollen sterben (Kirby et al. 1997, Linden und Barnow 1997). Linden und Barnow (1997) wiesen darauf hin, daß nur in wenigen Fällen Suizidgedanken älterer Menschen nicht mit einer psychiatrischen Erkrankung assoziiert waren und Suizidgedanken fast immer gleichzeitig mit anderen bedeutsamen psychischen Symptomen vorkamen. Suizidgedanken im Alter wurden mit verschiedenen psychischen Störungen in Zusammenhang gebracht wie Depression (Forsell et al. 1997) und Demenz (Draper et al. 1998).

Suizidversuche Bei den über 65-Jährigen kommen auf einen Selbstmordversuch zwei geglückte Selbsttötungen, während bis zum 25. Lebensjahr auf einen Selbstmordversuch nur 0,05 Selbstmorde kommen. Suizidversuche sind bei älteren Frauen viermal seltener als bei jungen Frauen und bei älteren Männern dreimal seltener als bei jüngeren Männern (Schmidtke et al. 1992). Ältere Suizidopfer haben seltener früher Suizidversuche gemacht als jüngere Suizidopfer und Suizidversuche werden häufiger bei den "jungen Alten" und besonders bei Frauen beobachtet (McIntosh et al. 1994). Die Suizidversuchsraten alter Menschen weisen in verschiedenen Ländern erhebliche Unterschiede auf: Anfang der 90er Jahre wurden im Jahr pro 100000 Einwohner in Guipuzcoa (Spanien) 32,3 Suizidversuche bei Älteren, in Stockholm dagegen 116,9 beobachtet (De Leo et al. 2001). Die Zuverlässigkeit der Erfassung von Suizidversuchen ist allerdings noch problematischer als die von Suiziden: man muß von einer hohen Dunkelziffer ausgehen, da Suizidversuche nicht meldepflichtig sind und in der Regel nur bei Inanspruchnahme psychiatrischer Behandlungseinrichtungen registriert werden.

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Für die Ernsthaftigkeit der Suizide in hohem Lebensalter sprechen die Wahl der Suizidmethode und die Umstände der Suizidhandlung: Ältere verwenden häufiger "harte Methoden" wie Erhängen, Sturz in die Tiefe, Erschießen und Ertrinken (McIntosh 1995), führen Suizide meistens zu Hause in Einsamkeit durch und hinterlassen seltener Abschiedsbriefe, die jedoch mehr klare Absicht, Reflexion und emotionale Distanz enthüllen (Shah und De 1998). Die Ernsthaftigkeit der Suizidabsicht in Verbindung mit einem starken Sterbewunsch und einer höheren vitalen Gefährdung führen im hohen Alter zu einer höheren Letalität von Suizidhandlungen.

Epidemiologie International steigen die Suizidraten mit zunehmendem Lebensalter an (Abb. 1).

Suizidrate pro 100000 70 Einwohner 60

Suizidraten nach Alter und Geschlecht (1995, Daten aus 105 Ländern)

50 40 30 20 10 0

5 - 14

15 - 24 25 - 34 35 - 44 45 - 54 55 - 64 65 - 74

75 +

Männer

0,9

14,2

18,9

24,9

27,6

33,3

41

66,9

Frauen

0,5

12

12,6

11,6

12,4

16,4

22,1

29,7

Altersgruppe

Abbildung 1

SUIZIDALITÄT IM ALTER

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Vor allem in einigen europäischen Ländern sind die Suizidraten gegenüber der internationalen Suizidrate erhöht (Tab. 1, Tab. 2). Die Unterschiede in den verschiedenen Ländern lassen sich nicht allein durch Unterschiede in der Registrierung der Todesursachen erklären. Allerdings gibt es aus vielen afrikanischen, asiatischen und amerikanischen Ländern leider keine Daten. Tab. 1: Länder mit gegenüber der internationalen Suizidrate erhöhten Suizidraten bei alten Männern Land

Jahr

China – ländliche Gebiete Ungarn Luxemburg Estland Kuba Slowenien Kroatien Bulgarien Lettland Yugoslawien Litauen Frankreich China Rußland Österreich Belarus Tschechien Schweiz Kasachstan Uruguay Dänemark Ukraine Deutschland Republik Moldau Finnland Republik Korea

1998 1999 1997 1999 1996 1999 1999 1999 1999 1990 1999 1997 1998 1998 1999 1999 1999 1996 1999 1990 1996 1999 1998 1999 1998 1997

Männer Männer Altersgipfel Männer 65-74 Jahre > 75Jahre (Jahre) 103,2 170,0 >75 82,0 162,7 >75 (19,2) 131,6 >75 70,1 119,2 >75 62,6 113,2 >75 87,4 107,6 >75 98,8 104,5 >75 43,3 99,1 >75 65,2 98,1 >75 56,5 97,3 >75 90,7 90,4 45-54 (39,3) 88,2 >75 49,4 88,0 >75 88,4 88,0 45-54 54,1 85,8 >75 87,2 85,5 55-64 (38,6) 85,0 >75 47,4 80,2 >75 80,8 73,0 65-74 (29,2) 71,2 >75 (34,5) 70,8 >75 80,0 70,4 55-64 (31,6) 68,3 >75 59,7 (27,7) 55-64 44,0 (65,9) >75 43,9 (66,8) >75

(x) Suizidrate nicht erhöht gegenüber der internationalen Suizidrate dieser Altersgruppe

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Tab. 2 Länder mit gegenüber der internationalen Suizidrate erhöhten Suizidraten bei alten Frauen Land

Jahr

China – ländliche Gebiete Saint Lucia China Ungarn Singapur Estland China –Hongkong Japan Rußland Yugoslawien Lettland Litauen Kuba Kroatien

1998 1995 1998 1999 1998 1999 1996 1997 1998 1990 1999 1999 1996 1999

Frauen Frauen Altersgipfel Frauen (Jahre) 65-74 Jahre > 75Jahre 77,3 104,4 >75 38,5 62,5 >75 42,0 62,4 >75 25,6 48,5 >75 31,3 47,5 >75 (16,7) 39,4 >75 23,0 33,8 >75 (18,7) 33,2 >75 (19,2) 32,3 >75 23,7 32,3 >75 (21,8) 31,6 >75 22,3 30,4 >75 26,0 (27,3) >75 32,2 (27,9) 65-74

(x) Suizidrate nicht erhöht gegenüber der internationalen Suizidrate dieser Altersgruppe

Die Gruppe der alten Menschen ist nicht nur diejenige Gruppe mit dem höchsten Suizidrisiko verglichen mit jüngeren Altersgruppen, sie ist auch die einzige Gruppe, die nicht von dem globalen Trend rückläufiger Suizidraten profitiert, der seit Mitte der 80er Jahre auch in Deutschland zu beobachten ist. Pritchard (1996) fand bei einer Analyse der Daten von 1974 bis 1992, daß es in den meisten industrialisierten Ländern zu einer Abnahme der Suizidraten in der Altersgruppe der 65 bis 74 Jahre alten Menschen kam, jedoch die Suizidraten bei den über 75-Jährigen anstiegen, besonders bei den Männern. Die deutlichsten Zuwachsraten in den letzten 30 Jahren zeigten die über 75 Jahre alten Männer in Irland, Norwegen, Italien, Österreich, Polen und Ungarn. In angelsächsischen Ländern, besonders in USA, Australien und Neuseeland nahmen Suizide bei Älteren ab, besonders bei weißen Männern (De Leo 1999). In Deutschland steigen die Suizidraten bei den 75- bis 80-jährigen Männern, bei den 80 bis 85 Jahre

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alten Männern und Frauen und bei den über 85-jährigen Männern weiter an. Die Suizidrate bei über 75 Jahre alten Männern ist bis um das 10fache (Portugal) und bei über 75 Jahre alten Frauen bis um das 11fache (Ungarn) höher als bei den jeweils 15 bis 24 Jahre alten Männern bzw. Frauen; in Deutschland beträgt das Verhältnis der Suizidraten der entsprechenden Altersgruppen bei Männern 6,2:1 und bei Frauen 7,5:1. Die höheren Suizidraten alter Männer als Frauen (Abb. 1) stehen im Kontrast zur objektiv schlechteren psychophysischen Gesundheit der älteren Frauen, die durch längeres Leben, Armut, Witwenschaft und Verlassenwerden geprägt ist. Jedoch gibt es Faktoren, die bei älteren Frauen suizidprotektiv sind; dazu zählen höhere Anpassungsfähigkeit, besseres soziales Netzwerk, höhere Selbstgenügsamkeit bei Alltagsaktivitäten und Gefühl des Gebrauchtwerdens durch Beziehung zu Kindern und Enkelkindern.

Risikofaktoren für Suizid bei Älteren Die meisten Angaben über Risikofaktoren für Suizid bei Älteren sind aus kontrollierten Studien mit der Methodik der "psychologischen Autopsie" bekannt. Bei älteren Suizidopfern ist es jedoch oft schwierig, valide Information zu erhalten, insbesondere dann, wenn ältere Suizidopfer sozial isoliert waren oder jüngere Informanten keine ausreichende Information über das jüngere Lebensalter des/der Toten liefern können. Alter allein ist per se ein Risikofaktor für Suizid (Vogel und Wolfersdorf 1989). Daneben gibt es eine Vielzahl weiterer Risikofaktoren: 1. Biologische Faktoren: Bis zum heutigen Tag gibt es keine Untersuchungen über die Bedeutung biologischer Faktoren bei Suizid in höherem Lebensalter. Kenntnisse zu Suiziden generell und zum Altersprozeß können

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jedoch Hinweise auf die Rolle biologischer Faktoren beim Alterssuizid geben. Studien zum Alterungsprozeß des Gehirns zeigen Veränderungen in den Neurotransmittersystemen, z. B. eine Verminderung des Dopamin- und Noradrenalingehalts in einigen Hirnregionen und eine Zunahme von Monoaminoxidasespiegeln. Mehrere Studien fanden eine inverse Korrelation zwischen Alter und Serotonin in verschiedenen Hirnregionen (z. B. Meltzer et al. 1998, Abb. 2). Die größere Vulnerabilität gegenüber suizidalem Verhalten im Alter hängt möglicherweise von defekten kompensatorischen Mechanismen der verschiedenen Neurotransmittersysteme ab. Beeinträchtigte Regulation der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse und Alterationen der circadianen Rhythmen – beides häufig bei Älteren – spielen wahrscheinlich ebenfalls eine Rolle bei der Induktion suizidalen Verhaltens (Steffens und Blazer 1999).

Abb. 2: Rezeptorimaging bei Älteren – Serotoninsystem (Meltzer et al., 1998)

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2. Psychische Erkrankung Psychische Erkrankungen sind der wichtigste Risikofaktor für Suizid im Alter. Ca. 80 % der älteren Suizidopfer leiden an einer psychischen Erkrankung. Die Mehrheit der älteren Suizidopfer hat Depression (50 - 87 %), besonders die "alten Alten"; bipolare affektive Störungen sind in höherem Lebensalter selten (Shah und De 1998). Alkohol- und Substanzkonsum spielen mit zunehmendem Lebensalter eine immer geringere Rolle. Alkoholabusus und -abhängigkeit kommen bei bis zu 44 % aller älteren Suizidopfer und häufiger als bei der Allgemeinbevölkerung dieses Alters vor (Shah und De 1998). Conwell et al. (1996) fanden, daß Alkoholabhängigkeit häufiger bei jüngeren alten Suizidopfern auftritt und oft eine Komorbidität mit Depression besteht. Bei älteren Suizidopfern wird häufiger eine Schizophrenie (bis 8 %) als bei gleichaltrigen Kontrollpersonen diagnostiziert (Waern et al. 2002). Dementielle Syndrome spielen praktisch keine Rolle bei Suiziden im Alter (Schneider et al. 2001). Persönlichkeitsstörungen sind bei älteren Suizidopfern viel seltener als bei jüngeren (z. B. Henriksson et al. 1995). 3. Körperliche Erkrankungen Im höheren Lebensalter gewinnen körperliche Erkrankungen als Risikofaktor für Suizid zunehmend an Bedeutung: 65 % der älteren Menschen leiden an einer schweren körperlichen Erkrankung zum Zeitpunkt ihres Suizids (Shah und De 1998). Krebs in der Lebensgeschichte haben ältere Suizidopfer häufiger als Gleichaltrige, die infolge natürlichen Todes oder durch Unfall verstorben sind (Grabbe et al. 1997). 62,5 % bis 85 % der Suizidopfer mit Krebserkrankungen leiden jedoch an einer psychischen Erkrankung nach DSM-IV, vor allem an Depression und Angsterkrankungen (Conwell et al. 1990). Dabei ist jedoch nicht klar, ob die psychischen Veränderungen durch die körperliche Erkrankung per

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se, durch Metastasen oder durch Nebenwirkungen der Medikamente getriggert werden. In höherem Lebensalter erhöht nicht nur die manifeste körperliche Erkrankung, sondern auch Angst vor körperlicher Erkrankung das Suizidrisiko (De Leo et al. 1999). 4. Lebensbedingungen und -ereignisse Lebensbedingungen und Lebensereignisse sind ebenfalls Risikofaktoren für Suizid im Alter. Bei den Lebensereignissen sind vor allem Verlusterlebnisse durch Tod nahestehender Personen erwähnenswert; beispielsweise haben Witwer in den ersten sechs Monaten nach dem Tod der Partnerin eine besonders hohes Suizidrisiko (McIntosh 1995). Objektiv feststellbare Defizite an Sozialkontakten und Gefühle von Vereinsamung und fehlender sozialer Unterstützung sind ebenfalls mit Suizid im Alter assoziiert. Bis zu 50 % aller älteren Suizidopfer, vor allem Frauen, leben alleine und sind einsam (Shah und De 1998). Nach Ansicht einiger Autoren (z. B. McIntosh et al. 1994) ist Suizid bei Älteren Ausdruck einer narzißtischen Krise, die von einer Unfähigkeit herrührt, kleinere alltägliche Mißgeschicke zu tolerieren. Bei älteren Heimbewohnern manifestiert sich suizidales Verhalten am häufigsten in Einrichtungen mit häufigem Wechsel des Personals (Shah und De 1998). Erwartete oder kürzlich erfolgte Heimeinweisung war häufig der entscheidende Faktor, der zu der suizidalen Handlung führte, besonders bei verheirateten Suizidopfern (Shah und De 1998).

Suizidprävention Suizidprävention wird in Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention gegliedert.

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1. Primärprävention Primäre Suizidprävention richtet sich an Menschen, die gegenwärtig nicht suizidal sind, und soll deren Suizidrisiko in Zukunft mindern. Im Alter zielt die Primärprävention auf eine Verbesserung der Lebensqualität, zum Beispiel durch Verbesserung der ökonomischen Situation, Verbesserung der körperlichen und seelischen Gesundheit und Aufbau eines sozialen Netzwerks mit Möglichkeiten, Kontakte zu Gleichaltrigen zu knüpfen. Kontakte zu Gleichaltrigen sind im Alter besonders wichtig, da sich in den letzten Jahrzehnten die familiären Strukturen rapide verändert haben. 2. Sekundärprävention Sekundäre Suizidprävention richtet sich an suizidale Menschen. Bei der Sekundärprävention handelt es sich in erster Linie um Krisenintervention. Da nur Wenige der älteren suizidalen Menschen ihrer Umgebung von ihren Suizidgedanken berichten und leicht zugängliche Hilfsangebote wie Telefonhelplines kaum von Älteren wahrgenommen werden, ist es besonders wichtig, Suizidabsichten zu identifizieren. Sekundäre Suizidprävention können alle Berufsgruppen leisten, die Zugang zum Patienten haben; sie sollten frühe und atypische Symptome erkennen können und suizidale Patienten einer adäquaten psychiatrischen Behandlung zuführen. Neben der medikamentösen Therapie beinhaltet die Sekundärprävention psychotherapeutische Interventionen wie kognitive und interpersonelle Therapie. Bei älteren Suizidalen sollten große Aufmerksamkeit auf das Vorhandensein körperlicher Erkrankungen gelegt, chronische Schmerzen behandelt, Ängste angesprochen und persönliche Ressourcen analysiert werden. Leider werden ältere suizidale Männer häufiger "unterdiagnostiziert" und "unterbehandelt" als Frauen (Haste et al. 1998) und die zur Verfügung stehenden Hilfsprogramme zeigen bei Frauen eine bessere Wirkung als bei Männern (De Leo et al. 1995).

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3. Tertiärprävention Tertiärprävention soll Angehörige nach dem Verlust des Suizidopfers unterstützen. Tertiärprävention richtet sich einerseits an die Gruppe der Kinder, Schwiegerkinder und Enkelkinder und andererseits an die Lebenspartner, Geschwister und Freunde. Die zweite Gruppe – vorab Partner/in – ist nach dem Tod eines Angehörigen durch Suizid besonders suizidgefährdet. Zur Tertiärprävention gehören neben der Krisenintervention, (Gruppen)Psychotherapie und Pharmakotherapie sowie die Teilnahme an Selbsthilfegruppen.

Schlußfolgerung Die Zahl der Studien zum Thema Suizidalität ist in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich gestiegen. Jedoch gibt es weiterhin nur wenige genaue Analysen zur Suizidalität im höheren Lebensalter. Die vorliegenden epidemiologischen Studien zur Alterssuizidalität belegen eine Reihe von Risikofaktoren, deren relative Gewichtung und Interdependenz aber noch weitgehend unerforscht sind. Identifizierte Risikofaktoren, wie körperliche und seelische Erkrankung, sind im höheren Lebensalter häufig; daher ist die interessierende Frage, warum einige Menschen mit diesen Problemen Suizid begehen und andere nicht. In der Literatur finden sich so gut wie keine Theorieansätze, die die Besonderheiten der Alterssuizidalität überzeugend erklären können. Tiefenpsychologische Ansätze blenden überindividuelle, gesellschaftlich bedingte Einflüsse weitgehend aus und versuchen, suizidales Geschehen aus intrapsychischen Konflikten und neurotisch zugespitzten Krisen zu erklären. Soziologische Erklärungsversuche greifen meist zu weit: sie verweisen auf Faktoren wie Desintegration, gesellschaftliche Abwertung und Funktionsverluste im Alter, die potentiell als suizidogene Belastungen wirksam werden können.

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MICHAEL GRUBE

Welche Bedeutung haben fremdaggressive Handlungen für die Prädiktion von Suizidalität und Selbstverletzungen in der akutpsychiatrischen Aufnahmesituation? Einleitung Autoaggressives Verhalten stellt in Psychiatrie und Psychotherapie eine schwerwiegende Problematik dar. Psychiatrische Erkrankungen führen insgesamt zu einem erhöhten Risiko autoaggressiver Verhaltensweisen. Schon früh wurde ein "aggressives Potential" postuliert, was sich unter bestimmten Bedingungen entweder als Autoaggression manifestieren könne oder unter anderen Bedingungen zur Fremdaggression würde [27]. In zahlreichen Untersuchungen wurde versucht, die Parameter zu beschreiben, die entweder die autoaggressive oder die fremdaggressive Manifestation begünstigen [11, 21, 31]. Nicht immer wurden hierbei suizidale Handlungen von selbstverletzenden Verhaltensweisen abgegrenzt [5, 26, 29]. Einschränkend ist bei den meisten der bisherigen Untersuchungsansätze anzumerken, daß keine direkten Verhaltensbeobachtungen der fremd- oder autoaggressiven Qualität erfolgten, sondern versucht wurde, durch psychometrische Erhebungen z. B. Motivationsstrukturen oder Bewältigungsstile suizidaler oder aggressiver Patienten zu erfassen [22]. Viele Untersuchungen fanden an nicht psychiatrischen Risikopopulationen wie beispielsweise Strafgefangenen oder delinquenten Jugendlichen statt [3, 8]. Meistens wurden Selbstratings zur Erhebung der Aggressionsanamnese durchgeführt, mit der Möglichkeit, daß sich die Untersuchten im Sinne des sozial Erwünschten darstellen [15]. Häufig wurde Auto- und

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GRUBE

Fremdaggressivität als trait-, weniger als state-Variable betrachtet [17]. Gemeinsamkeiten der suizidalen oder fremdaggressiven Subgruppen wurden indirekt über Korrelationen z. B. zu niedrigen 5-Hydroxyindol-essigsäurekonzentrationen im Liquor (serotoninerges System) oder genetischen Faktoren postuliert [4, 18].

Eigene Untersuchung Aufgrund der Bedeutung, die sowohl Suizidalität und Selbstverletzungen aber auch fremdaggressive Verhaltensweisen für die stationäre psychiatrische Behandlung – insbesondere in der Aufnahmesituation – haben, entschlossen wir uns zu einer systematischen Untersuchung. Hierbei sollten zwei zentrale Hypothesen überprüft werden: H1 Die Analyse fremdaggressiver Verhaltensweisen kann zur Diagnostik von Suizidalität beitragen. H2 Die Analyse fremdaggressiver Verhaltensweisen kann zur Diagnostik von Selbstverletzung beitragen.

Methodik Zur Erfassung der auto- und fremdaggressiven Verhaltensweisen haben wir den drei Begriffen Suizidalität, Selbstverletzung sowie Fremdaggressivität 9 unterschiedliche distinkt zu beobachtende und leicht zu erfassende Verhaltensweisen zugeordnet:

WELCHE BEDEUTUNG HABEN FREMDAGGRESSIVE HANDLUNGEN FÜR DIE PRÄDIKTION VON SUIZIDALITÄT UND SELBSTVERLETZUNGEN ?

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Suizidalität Suizidversuch Parasuizidale Handlungen Verbale Suizidäußerungen Selbstverletzung Selbstverletzung Fremdaggressivität Schwere Körperverletzung Körperverletzung Beschädigung fremder Sachen Beschädigung eigener Sachen Verbale Aggression Gereiztheit und Gespanntheit sowie Drohgebärden haben wir unter verbaler Aggression subsumiert; zu parasuizidalen Handlungen zählten wir solche Suizidversuche, die nicht wirklich darauf abzielten, den Tod herbeizuführen, sondern vielmehr als Versuch gelten konnten, unaushaltbar erscheinende Verhältnisse zu beeinflussen. Um zu vermeiden, daß das Gefährdungspotential von parasuizidalen Handlungen unterschätzt wird, haben wir bei einigen Analysen Suizidversuche und parasuizidale Handlungen zu "Suizidhandlungen" zusammengefaßt. Als Selbstverletzungen galten für uns jene den eigenen Körper schädigenden Handlungen, die zu Verletzungen führen aber nicht durch eine suizidale Absicht intendiert sind. Schwere Körperverletzungen sind für uns jene Angriffe auf andere Personen, die mit Waffen durchgeführt werden. Um die Intensität der Fremdaggressivität zu beschreiben, gewichteten wir die fremdaggressiven Variablen wie folgt:

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GRUBE

Schwere Körperverletzung, Körperverletzung = 3 Beschädigung fremder und eigener Sachen = 2 Verbal aggressive Äußerung = 1 Der Summenscore über die gewichteten fremdaggressiven Variablen diente uns als Maß für die Intensität der Fremdaggressivität. Wir haben eine repräsentative Gruppe von 521 konsekutiv aufgenommenen Patienten innerhalb eines Tertials im Hinblick auf fremd- und autoaggressives Verhalten untersucht. Hierbei stand ein Nosologie-übergreifender Ansatz im Mittelpunkt, da bei allen psychiatrischen Erkrankungen fremd- oder autoaggressive Verhaltensweisen auftreten können. In der Annahme, daß die Kulmination der Akuität zum Aufnahmezeitpunkt zur Entschleierung von Fremdaggressivität, Selbstverletzungen und Suizidalität führt, erfolgte die Erhebung aller auto- und fremdaggressiven Verhaltensweisen (einzeln und in Kombinationen) drei Stunden vor und drei Stunden nach der Aufnahme. Der Schweregrad der Erkrankungen wurde mittels der Clinical Global Impressions Scale eingeschätzt [21]. Erhoben wurde zusätzlich die Anzahl der Patienten, die sich auf eine stationäre Krisenintervention von mindestens einer Woche Dauer eingelassen haben. Zufallskritische Berechnungen wurden für nominal- oder ordinalskalierte Daten durchgeführt.

Untersuchte Gruppe Von den 521 stationär aufgenommenen Patienten, die sukzessive innerhalb eines Tertials zur Aufnahme gekommen waren, litten 192 (36,9 %) an Suchterkrankungen, 166 (31,8 %) an Schizophrenien, 71 (13,6 %) an Depressionen, 49 (9,4 %) an hirnorganischen Psychosyndromen oder Demenz, bei 43 (8,2 %) lagen Neurosen oder Persönlichkeitsstörungen vor. 283 (54,3 %) Patienten hatten sich auf eine einwöchige Krisenintervention eingelassen, 261 (50,1 %) Patienten waren innerhalb

WELCHE BEDEUTUNG HABEN FREMDAGGRESSIVE HANDLUNGEN FÜR DIE PRÄDIKTION VON SUIZIDALITÄT UND SELBSTVERLETZUNGEN ?

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der normalen Dienstzeit zur Aufnahme gekommen, 222 (42,6 %) Patienten waren weiblichen Geschlechts und 113 (21,7 %) wurden initial für zunächst 24 Stunden nach Landesunterbringungsgesetz (§10 Hessisches Freiheitsentzugsgesetz) eingewiesen. Im Mittel waren die Pat. 44,6 Jahre alt bei einer range von 16 - 89 Jahren. Der Mittelwert der Schweregradeinteilung der Erkrankungen (CGI) lag bei 5,67 (SD: 0,77), der Median bei 6 ("Patient ist schwer krank") mit einem Minimum von 4 und einem Maximum von 7. Bei der Verteilung ergab sich gegenüber der Normalverteilung eine Rechtsverschiebung zugunsten der schwerer Erkrankten. 223 Patienten (42,8 %) wiesen mindestens eine fremd- oder autoaggressive Qualität auf, wobei der Test auf Binomialverteilung zugunsten der nicht-aggressiven Patienten signifikant wurde. Insgesamt zählten wir 404 aggressive Handlungen, davon waren 213 fremd- und 191 autoaggressiv. 122 Patienten (23,4 %) zeigten eine aggressive Handlung, 54 Patienten (10,4 %) wiesen zwei und immerhin 47 Patienten (9,0 %) 3 bis 7 aggressive Handlungen auf. Es ergaben sich 1,81 aggressive Handlungen pro Patient mit aggressivem Verhalten. Von 101 Patienten, die fremdaggressives Verhalten zeigten, wiesen 35 (34,7 %) auch autoaggressive Verhaltensweisen auf [28]. Eine vollständige Zuordnung der Kombinationen der insgesamt neun suizidalen, selbstverletzenden und alloaggressiven Variablen war mit 45 von 511 rechnerisch möglichen Kombinationen erfolgt (Clusterzentrenanalyse). Hinsichtlich der Schweregradbeurteilung des Krankheitsbildes in Abhängigkeit von der Anzahl der Aggressivitätsvariablen ergab sich im Kruskal-Wallis-Test keine Signifikanz zwischen den Gruppen. Hochsignifikante Einflüsse auf die Inanspruchnahme einer mindestens einwöchigen Krisenintervention kamen bei sechs der neun aggressiven Variablen zustande, nach Adjustierung des Alphasignifikanzniveaus nach Bonferroni waren es insbesondere die Merkmale Körperverletzung (odds-ratio: 2,818; χ²df1=8,951;

70

GRUBE

p=.003), Beschädigung eigener Sachen (odds-ratio: 3,032; χ²df1=7,877; p=.005) und Suizidversuche (odds-ratio: 16,098; χ²df1=12,482; p=.000). Die beschriebene auto- und fremdaggressiven Problematik war überzufällig häufig (odds-ratio: 2,194; χ²df1=19,15; p=.000; 95 % K.I. o.r.: 1,539 – 3,126) und intensiv (χ²df9=29,05; p=.001) außerhalb der normalen Dienstzeiten zu beobachten, was eine besondere Belastung der Institutionen darstellt. Die Relevanz der beschriebenen auto- und alloaggressiven Problematik wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, daß mit einer oddsratio von 2,194 das Auftreten von Aggressionsvariablen außerhalb der normalen Dienstzeit etwa verdoppelt war. Auch wenn das Verhältnis der normalen Dienstzeit zu außerhalb der normalen Dienstzeit wie 1 : 4,363 ist, dann ist die Verschiebung des Auftretens aggressiver, vor allem besonders ausgeprägt aggressiver Verhaltensweisen in die Zeiträume außerhalb der normalen Dienstzeit dennoch von hoher Bedeutung, da die meisten akutpsychiatrischen Institutionen eine reduzierte Personalausstattung für die Notfallversorgung nachts sowie an Wochenenden und an Feiertagen vorhalten.

Ergebnisse Zur ersten Hypothese: Betrachtet man die Verteilung der Suizidversuche auf die Intensität der Fremdaggressivität, so fällt auf, daß bei höherer Intensität der Fremdaggressivität signifikant die Häufigkeit von Suizidversuchen abnimmt (χ²df6=17,658; p=.007). In der binären logistischen Regression für Suizidhandlungen ergab sich ein Trend in die Signifikanz für die Gesamtheit der Modellkoeffizienten. Die Betrachtung der einzelnen Regressionskoeffizienten zeigt, daß die Variable verbale Aggression den höchsten Regressionskoeffizienten trägt, allerdings mit einem negativen

WELCHE BEDEUTUNG HABEN FREMDAGGRESSIVE HANDLUNGEN FÜR DIE PRÄDIKTION VON SUIZIDALITÄT UND SELBSTVERLETZUNGEN ?

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Vorzeichen. Für diese Einzelvariable ergab sich ein Trend in die Signifikanz. In diesem mathematischen Vorhersagemodell hatte die Variable verbale Aggression eine um den Faktor 2/3 das Risiko des Auftretens von Suizidhandlungen vermindernden Effekt (oddsratio: 0,286). Es wurde eine richtige Vorhersage von Suizidhandlungen in 89,6 % der Fälle erreicht, die Varianzaufklärung war mit 3,9 % allerdings recht niedrig (siehe Tab. 1). Tabelle 1: Logistische Regression: SUIZIDVERSUCHE

Regressionskoeffizient Stand. B Fehler SCHKV KV FRSA EISA VEAG Konstante

,778 -1,151 1,189 ,851 -1,252 -2,111

1,285 ,853 ,840 ,757 ,696 ,155

Wald

,367 1,823 2,004 1,263 3,234 184,633

df

1 1 1 1 1 1

Sig.

,545 ,177 ,157 ,261 ,072 ,000

Exp(B)

2,178 ,316 3,283 2,342 ,286 ,121

Omnibustests der Koeffizienten: SUIZIDVERSUCHE

Schritt Block Modell

Chi-quadrat 10,094 10,094 10,094

df 5 5 5

sig. ,073 ,073 ,073

Modellzusammenfassung: SUIZIDVERSUCHE -2 Log-Likelihood

Cox & Snell-R-quadrat

Nagelkerke’s R-quadrat

336,916

,019

,039

Legende: SCHKV: Schwere Körperverletzung KV: Körperverletzung FRSA: Beschädigung fremder Sachen EISA: Beschädigung eigener Sachen VEAG: Verbale Aggressivität

95.0 %-KonfidenzIntervall EXP(B) ,175 ,059 ,633 ,531 ,073

27,045 1,682 17,019 10,337 1,119

72

GRUBE

Nur bei depressiven Patienten waren die Zusammenhänge eindeutig: diese Untergruppe zeigte kaum Fremdaggressivität (χ²df1=16,69; p=.000; odds ratio: 0,051; 95 % CI o.r.: 0,007 – 0,371), dafür aber ausgeprägt mehr Suizidversuche (χ²df1=13,94; p=.002 Fisher Yates Exact Test; odds ratio: 5,161 ; 95 % K.I. o.r.: 1,999 – 13,329). Für verbale Suizidäußerungen ließen sich keine signifikanten oder einen Trend in die Signifikanz aufweisenden Verteilungen mit den fremdaggressiven Variablen berechnen. Auch ergaben sich weder aussagekräftige odds-ratios noch verwertbare mathematische Vorhersagemodelle z. B. in der logistischen Regressionsanalyse. Zur zweiten Hypothese: Bei der Verteilung der Fremdaggressivitätsintensität auf die Gruppe Selbstverletzung vs. Nichtselbstverletzung fiel auf, daß hier beim Vorliegen von Selbstverletzungen ein signifikant häufigeres Vorliegen von höherintensiver Alloaggressivität zu beobachten war (χ²df6=33,875; p=.007). Das Vorliegen von Handlungsfremdaggressivität (Anwesenheit der Variablen: Schwere Körperverletzung, Körperverletzung, Aggression gegen fremde oder eigene Sachen) erhöhte das Risiko des gleichzeitigen Vorliegens von Selbstverletzungen etwa um den Faktor 5 (odds-ratio: 5,298). Dieses Ergebnis ist hochsignifikant (χ²df1=15,88; p=.001 Fisher Yates Exact Test). Im Vorhersagemodell von Selbstverletzungen (binäre logistische Regression) erreichte die Gesamtheit der Koeffizienten einen hochsignifikanten Wert. Bei der Betrachtung der einzelnen Variablen wurde bei der Variable Körperverletzung der höchste Regressionskoeffizient berechnet. Dieser wurde ebenfalls signifikant und hatte in dem Vorhersagemodell eine odds-ratio von 4,639, was etwa einer Risikoverfünffachung für das gleichzeitige Auftreten von Selbstverletzungen bedeutet. Bei einer richtigen Vorhersage

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von 96,0 % lag hier die Aufklärung der Gesamtvarianz bei 12,3 % (siehe Tab. 2). Tabelle 2: Logistische Regression: SELBSTVERLETZUNGEN Regressionskoeffizient B SCHKV ,395 KV 1,535 FRSA 1,102 EISA ,241 VEAG -,107 Konstante -3,664

Stand. Fehler 1,242 ,670 ,805 ,774 ,716 ,302

Wald ,101 5,248 1,875 ,097 ,022 147,222

df Sig. Exp(B) 1 1 1 1 1 1

,751 ,022 ,171 ,755 ,881 ,000

1,484 4,639 3,010 1,273 ,899 ,026

95.0 %-Konfidenz-Intervall EXP(B) ,130 16,945 1,248 17,244 ,622 14,576 ,279 5,801 ,221 3,654

Omnibustests der Koeffizienten: SELBSTVERLETZUNGEN

Schritt Block Modell

Chi-quadrat 18,744 18,744 18,744

df 5 5 5

sig. ,002 ,002 ,002

Modellzusammenfassung: SELBSTVERLETZUNGEN -2 Log-Likelihood 157,269

Cox & Snell-R-quadrat ,035

Nagelkerke’s R-quadrat ,123

Legende: SCHKV: Schwere Körperverletzung KV: Körperverletzung FRSA: Beschädigung fremder Sachen EISA: Beschädigung eigener Sachen VEAG: Verbale Aggressivität

Aufgrund des hochsignifikanten Zusammenhangs der fremdaggressiven Variablen mit Selbstverletzungen war es statthaft, eine Diskriminanzanalyse zu berechnen. Der Gleichheitstest der Gruppenmittelwerte zeigte für alle fremdaggressiven Einzelvariablen hochsignifikante Verteilungsunterschiede mit Ausnahme der Variable schwere Körperverletzung, die nur einen Trend in die Si-

74

GRUBE

gnifikanz aufwies. Durch das Diskriminationsfunktionskoeffizientenmodell wurde Wilks’ Lambda hochsignifikant reduziert, die kanonische Korrelation lag bei .250. Innerhalb der Gruppe der standardisierten kanonischen Diskriminanzfunktionskoeffizienten erreichte die Variable Körperverletzung den höchsten Wert, sie trug also am stärksten zur Unterteilung der Gruppen mit Selbstverletzung vs. ohne Selbstverletzung bei. Es wurde eine richtige Vorhersage von 86,6 % der Fälle erreicht, bei einer Sensitivität von 0,43 und einer Spezifität von 0,88 (siehe Tab. 3). Tabelle 3: Standardisierte kanonische Diskriminanzfunktionskoeffizienten: SELBSTVERLETZUNGEN / AGGRESSIVE VARIABLEN SCHKV KV FRSA EISA VEAG

,104 ,702 ,531 ,084 -,161

Diskriminanzanalyse: Eigenwerte SELBSTVERLETZUNGEN / AGGRESSIVE VARIABLEN Eigenwert ,067

% Varianz 100,0

Kanonische Korrelation ,250

Wilks’ Lambda Diskriminanzanalyse: SELBSTVERLETZUNGEN / AGGRESSIVE VARIABLEN Wilks’-Lambda Chi-quadrat df Signifikanz ,937 33,431 1 ,000

Legende: SCHKV: Schwere Körperverletzung KV: Körperverletzung FRSA: Beschädigung fremder Sachen EISA: Beschädigung eigener Sachen VEAG: Verbale Aggressivität

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Mittels multidimensionaler Skalierung lassen sich die Beziehungen zwischen den fremd- und autoaggressiven Variablen über die Berechnung euklidischer Distanzen im dreidimensionalen Raum graphisch darstellen (siehe Abb. 1).

2,0 verb 1,5

veag

1,0 kv

,5 0,0

frsa eisa

-,5

schkv selbst

-1,0 4

suizhand 3

2

1

0

-1

-,5

0,0

,5

1,0

Abbildung1: Lage der prädiktiven fremdaggressiven Einzelvariablen für Suizidhandlungen und Selbstverletzungen im dreidimensionalen Raum mittels multidimensionaler Skalierung

Um den prädiktiven Wert der Variable Körperverletzung noch besser abschätzen zu können, berechneten wir eine weitere Diskriminanzanalyse unter Einbezug aller anderen Variablen, die in einem signifikanten Zusammenhang zu Selbstverletzungen stehen wie: Aufnahme während der normalen Dienstzeit (χ²df1=4,055; p=.044; o.r.: 0,384; 95 % K.I.: 0,147 – 1,007), Diagnose Schizophrenie (χ²df1=4,548; p=.033; o.r.: 0,230; 95 % K.I.: 0,053 – 0,999), Diagnose Neurose und Persönlichkeitsstörung (χ²df1=7,322; p=.021 Fisher Yates Exact Test; o.r.: 3,910; 95 % K.I.: 1,357 – 11,271) sowie niedriges Alter (χ²df1=4,055; p=.044; o.r.: 2,602; 95 % K.I.: 0,993 – 6,815). Es zeigte sich, daß

76

GRUBE

im Vergleich mit den genannten anderen Variablen der Diskriminationsfunktionskoeffizient für Körperverletzung am größten war, gefolgt von der diagnostischen Kategorie Neurosen und Persönlichkeitsstörungen (siehe Tab. 4). Es wurde eine nur gering verminderte richtige Vorhersage von 84,8 % der Fälle erreicht, bei einem deutlichen Anstieg der Vorhersage von richtig positiven Zuordnungen (Sensitivität) von 0,62 bei gering verminderter Spezifität von 0,86. Tabelle 4: Standardisierte kanonische Diskriminanzfunktionskoeffizienten: SELBSTVERLETZUNGEN / ANDERE VARIABLEN NORDIE SCHIZ NEUPST KV NIALT

-,232 -,311 ,381 ,771 ,272

Diskriminanzanalyse: Eigenwerte SELBSTVERLETZUNGEN / ANDERE VARIABLEN Eigenwert % Varianz Kanonische Korrelation ,084 100,0 ,278 Wilks’ Lambda Diskriminanzanalyse: SELBSTVERLETZUNGEN / ANDERE VARIABLEN Wilks’-Lambda Chi-quadrat df Signifikanz ,923 41,466 5 ,000 Legende: NORDIE: SCHIZ: NEUPS: KV: NIALT:

Aufnahme innerhalb der normalen Dienstzeit (Montags – Freitags von 08.00-17.00 Uhr) Schizophrenie Neurosen und Persönlichkeitsstörungen Körperverletzung Niedriges Alter

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Mit multidimensionaler Skalierung lassen sich die Beziehungen zwischen den für Selbstverletzungen positiv prädiktiven allgemeinen Variablen (Diagnose Neurose und Persönlichkeitsstörung, niedriges Alter) und der alloaggressiven Variable "Körperverletzung" im zweidimensionalen Raum graphisch darstellen (siehe Abb. 2).

KV

NIEDALT SELBST

NEUPST

Abb.2: Lage der prädiktiven Einzelvariablen für Selbstverletzungen im zweidimensionalen Raum mittels multidimensionaler Skalierung Legende: KV: SELBST: NEUPST: NIEDALT:

Körperverletzung Selbstverletzungen Neurose oder Persönlichkeitsstörung Niedriges Alter

78

GRUBE

Diskussion Die Vorhersagemodelle klären nur eng begrenzte Varianzanteile auf. Insbesondere bei Suizidhandlungen war die Vorhersage richtig positiver autoaggressiver Handlungen mäßig. Die reziproke Beziehung zwischen fremdaggressivem Verhalten und Suizidhandlungen überraschte nicht. Besonders bei depressiven Patienten war fast ausschließlich suizidales und kaum fremdaggressives Verhalten in der Aufnahmesituation zu beobachten. Dieses Ergebnis lässt sich als Bestätigung der Aggressionsumkehrhypothese [5, 25, 32] interpretieren. Denkbar wäre demgegenüber auch, daß die aggressive Energie nicht umgelenkt werden muß, sondern diese aufgrund der Ich-Schwäche Depressiver gar nicht primär als nach außen gerichtete Aggressivität entstehen kann, sondern direkt nach innen geht oder als Affekt in der Gegenreaktion des Therapeuten evoziert wird. Unsere Ergebnisse lassen eine Risikoeinschätzung für sich im Behandlungsverlauf ergebende suizidale Verhaltensweisen oder potentiell "gelingende" Suizidversuche nicht zu. Bemerkenswert ist der enge statistische Zusammenhang zwischen Fremdaggressivität – insbesondere Körperverletzungen – und Selbstverletzungen, der für forensisch-psychiatrische Populationen [7], Oligophrene [9, 13, 16, 23, 24] sowie Patienten mit emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen [26] und Intoxikationen [14, 19] beschrieben worden ist. Für unsere repräsentative Stichprobe stationär aufgenommener akutpsychiatrischer Patienten scheint trotz der heterogenen diagnostischen Zusammensetzung eine ähnlich enge Korrelation zwischen diesen beiden aggressiven Verhaltensweisen zu bestehen. Durch Hinzunahme anderer Variablen war die Sensitivität bei der Prädiktion von Selbstverletzungen zu erhöhen, dennoch behielt die Einzelvariable Körperverletzungen hierfür die größte Bedeutung. Als Bindeglied wäre die Intensität bzw. der Enthemmungsgrad des aggressiven Potentials plausibel. Möglicherweise ist weniger die spezifische psychopathologische und psychodynamische Invariantenbildung einzelner Krankheits-

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bilder erforderlich, sondern die Intensität der in akuten Krankheitsstadien sich am "Objekt" des eigenen Körpers entladende "nach außen" gerichtete aggressive Energie, die neben der eigentlichen Fremdaggressivität entsteht. Voraussetzung ist möglicherweise auch noch ein ausgeprägtes Entfremdungserleben, was mit einer "Anästhesierung" der Körperwahrnehmung einhergeht. Der Akt der Selbstverletzung wäre somit bei hoher energetischer Ladung in seiner Dynamik primär als eine fremdaggressive Handlung gegen den als fremd oder nicht vorhanden erlebten eigenen Körper zu interpretieren, der jedoch über das damit in Gang gesetzte Leiberleben in seinem Ergebnis zu einer "Selbstvergegenwärtigung" führt. Die "Außengerichtetheit" der Fremdaggressivität erfährt somit eine "Verinnerlichung", zumindest zeitweise. Die mit der Selbstverletzung verbundenen "autotherapeutischen" Wirkungen wie z. B. partielle Suizidprophylaxe, Entfremdungsgefühlen entgegen wirkenden Komponenten [3, 12] und Ich-Vitalität vergewissernde Erlebnisweisen [27] stellen möglicherweise wirkungsvolle Verstärker für diese Verhaltensweise dar. Darüberhinaus erzeugt eine selbstverletzende Handlung zunächst eher mitfühlende Reaktionen, im Gegensatz zu "offen" fremdaggressivem Verhalten [10]. In einem nächsten Schritt wollen wir die prädiktive Validität der beschriebenen Variablen in einer Verlaufsuntersuchung überprüfen, die vor allem den gesamten stationären Behandlungszeitraum mit einbezieht.

80

GRUBE

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BARBARA SCHNEIDER

Risikofaktoren für Suizid Einführung Risikofaktoren sind definiert als "pathogene Bedingungen, die in Bevölkerungsstudien bei der Untersuchung der Entstehungsbedingungen bestimmter Krankheiten statistisch gesichert wurden". Das wichtige Merkmal des Vorausgehens unterscheidet Risikofaktoren von anderen Faktoren wie Begleiterscheinungen oder Folgen des beobachteten "Outcomes", die korrelierende, aber nicht Risikofaktoren sind (Kraemer et al. 1997). Information über Risikofaktoren für vollendeten Suizid kann man aus zwei Arten von epidemiologischen Studien gewinnen: 1. Fall-Kontroll-Studien haben das Ziel, Faktoren zu identifizieren, die vermutlich kausal an der Krankheitsentwicklung (Suizidprozeß) beteiligt sind. Dazu werden Patienten mit manifester Krankheit bzw. vollendetem Suizid (Fälle) solchen Personen gegenübergestellt, die die Krankheit nicht haben (Kontrollen); es wird geprüft, ob sich die Gruppen hinsichtlich bestimmter interessierender Variablen unterscheiden. 2. Unabhängig von einer bereits bestehenden Krankheit ist mit personenbezogenen Kohortenstudien (Verlaufsstudien) eine Risikofaktoren-Einschätzung möglich. Eine wirkungsvolle Forschungsmethode, mit der man ein klares und präzises Bild der Lebenssituation, der Persönlichkeit, der psychiatrischen Diagnose und der erfolgten Behandlung eines Verstorbenen erhalten kann, ist die "psychologische Autopsie". Die Reliabilität der Methodik der psychologischen Autopsie wurde wiederholt nachgewiesen (z. B. Henriksson et al. 1993, Cheng et al. 2000). Diese Methode ist hinsichtlich post-mortem erhobe-

84

SCHNEIDER

ner Diagnosen (z. B. Kelly und Mann 1996) und Lebensereignisse (Brown und Harris 1982) validiert. In den letzten 10 Jahren ist eine sogenannte "zweite Generation" von Studien mit der Methodik der psychologischen Autopsie durchgeführt worden: es wurden standardisierte Interviews eingesetzt und lebende Kontrollen aus einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe mit den Suizidopfern verglichen. Im Folgenden werden die bisherigen Forschungsergebnisse zu Risikofaktoren für Suizid in einer kurzen Übersicht dargestellt.

Psychische Erkrankungen – Achse I-Störungen Bei 77 % (Harwood et al. 2001) bis 100 % (Dorpat und Ripley 1960) aller Suizidopfer wurde eine psychiatrische Erkrankung gefunden; dies zeigt an, daß eine psychiatrische Erkrankung zwar keine hinreichende, aber möglicherweise eine notwendige Bedingung für einen vollendeten Suizid ist. In Fall-Kontroll-Studien mit der Methode der psychologischen Autopsie hatten Suizidopfer signifikant häufiger als Kontrollen eine psychiatrische Achse I-Störung. Ältere Suizidopfer wiesen einen niedrigeren Anteil psychischer Krankheiten (77 % bei über 60 Jahre alten, Harwood et al. 2001) und häufiger affektive Störungen (bis 82 %, Waern et al. 2002) auf; bei jüngeren Suizidopfern lag ein höherer Prozentsatz von Schizophrenien und verwandten Erkrankungen (bis 19 %, Appleby et al. 1999) sowie von Störungen durch psychotrope Substanzen (bis 70 %, Shafii et al. 1988) vor. Wie in der Allgemeinbevölkerung, so nahm auch bei Suizidopfern die Prävalenz von Persönlichkeitsstörungen mit zunehmendem Lebensalter ab (Henriksson et al. 1995b). Harris und Barraclough (1997) belegten durch eine Metaanalyse, in die alle Studien zwischen 1966 und 1993 mit einem Verlaufszeitraum von mindestens zwei Jahren und mindestens 90 % nachbeobachteten Patienten einbezogen wurden, daß für nahezu alle psychischen Erkrankungen die Standardmortalitätsrate signifikant erhöht ist (Tab. 1).

85

RISIKOFAKTOREN FÜR SUIZID

Tabelle 1: Suizidrisiko bei verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen (ICD-9 bzw. DSM-III-R, Harris und Barraclough 1997) Zahl der Studien

N

SMR

Geistige Behinderung

5

3500

0,88

Unspezifische organische psychische Störung

4

4000

2,48*

Demenz

2

277

0

Opiatkonsum

9

7500 14,00*

Sedativa-, Anxiolytika-, Hypnotikakonsum

3

1500 20,34*

Alkoholkonsum

32

45000 5,86*

Polytoxikomanie

4

5000 19,23*

Schizophrenie

38

30000 8,45*

Major Depression

23

8000 20,35*

Bipolare affektive Psychose

14

3700 15,05*

Dysthymie

9

50000 12,12*

Neurosen nicht näher bezeichnet

8

9000

Angstneurose

1

10000 6,29*

Panikstörung

3

276

Eßstörungen

13

1300 23,14*

Persönlichkeitsstörung

5

3000

3,72*

10,00*

7,08*

SMR (Standardmortalitätsrate = beobachtete Suizide/erwartete Suizide bei gleichem Alter und Geschlecht); *: p